Von Hamburg nach Java: Studien zur mittelalterlichen, neuen und digitalen Geschichte [1 ed.] 9783737012164, 9783847112167


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Von Hamburg nach Java: Studien zur mittelalterlichen, neuen und digitalen Geschichte [1 ed.]
 9783737012164, 9783847112167

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Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter

Band 18

Begründet von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky Herausgegeben von Martin Baisch, Christoph Dartmann, Philippe Depreux und Jürgen Sarnowsky

Jochen Burgtorf / Christian Hoffarth / Sebastian Kubon (Hg.)

Von Hamburg nach Java Studien zur mittelalterlichen, neuen und digitalen Geschichte

Festschrift zu Ehren von Jürgen Sarnowsky Mit 12 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Hansischen Geschichtsvereins, der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und Professor Dr. Christoph Dartmanns, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Speicherstadt, Hamburg & Borobudur, Java. Fotos: Sebastian Kubon. Design: Kelly Donovan Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6231 ISBN 978-3-7370-1216-4

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Der Norden und die Hanse Reinhard Paulsen Die Legende von der Stadtgründung Hamburgs im 9. Jahrhundert

. . . .

17

Philippe Depreux Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris durch die Wikinger in den Jahren 885–887 . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Hans-Werner Goetz Das Bild der Preußen in früh- und hochmittelalterlichen Quellen vor dem Eingreifen des Deutschen Ordens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Oliver Auge Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter – Vier Beobachtungen zu einem angezeigten Perspektivenwechsel

93

. . . . .

Carsten Jahnke Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse . . . . . . . . . . . 115 Stephan Selzer Stadtgründung und -entwicklung in konsumgeschichtlicher Sicht: Königsberg im 13. und 14. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Dieter Heckmann Zur Bedeutung der Königsberger Pfundzollrechnungen von 1367 bis 1374 für die Hansegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

6

Inhalt

Roman Czaja / Cezary Kardasz Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Janusz Tandecki Ein Überblick über die Gesellenwanderungen in Polen im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Krzysztof Kwiatkowski Stadtbürger in Waffen – Ein Verzeichnis bewaffneter Einwohner der Stadt Heiligenbeil aus dem Jahr 1540 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Markus Friedrich Ein Hamburger Historiker der Täuferbewegung: Barthold Nikolaus Krohn (1722–1795) und seine Monographie über Melchior Hoffman (um 1495–ca. 1543) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Mittelmeerraum Helen J. Nicholson Queen Sybil of Jerusalem as a Military Leader . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Marie-Luise Heckmann Humilitas oder Ambitio? – Die Wahl Papst Innozenz’ III. . . . . . . . . . 277 Jochen Burgtorf William of St. Stephen’s Saterian (1296): Reflections on a Hospitaller Legal Treatise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Alan Forey Bernard of Fuentes: A Templar in Christian and Muslim Service

. . . . . 309

Christoph Dartmann Johanniter, Genuesen und die Mamluken. Ein genuesisches Boykottregime gegen Alexandria vom März 1316 . . . . . . . . . . . . . . 323 Anthony Luttrell Timur’s Capture of Hospitaller Smyrna (1402)

. . . . . . . . . . . . . . . 337

Frank Godthardt Die Interpretation des Defensor pacis während des Dritten Reichs . . . . . 349

Inhalt

7

Der Deutsche Orden Udo Arnold Konrad von Babenberg – vom Komtur zum Interimsmeister. Eine Deutschordens-Karriere in Zeiten des Umbruchs am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Sven Ekdahl Die Beschlagnahme der polnischen Getreidelieferung für Litauen in Ragnit durch Hochmeister Ulrich von Jungingen im Juni 1409. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des „Großen Krieges“ 1409–1411 . . . . . . . . . . . . 393 Mats Homann ‚Lange Bank‘ oder ‚Parade riposte‘? Zum Umgang des Deutschen Ordens mit gegen ihn gerichteten Klagen unter Hochmeister Michael Küchmeister (1414–1422) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Karl Borchardt Die Erhebungen zum Reichsfürsten für den Deutschmeister 1494 und für den Johannitermeister 1548 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Cordelia Heß / Christina Link Juden im Deutschordensland Preußen – eine Spurensuche

. . . . . . . . 443

Digital Humanities Sebastian Kubon Der Deutsche Orden in den Sozialen Medien – Hinführung zum living article www.derdeutscheordenimnetz.de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Annika Souhr-Könighaus Digital History – eine lohnende Perspektive auch für die Geschichte des Ordenslandes Preußen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 Rainer Hering Digital Dark Age – ein neues Mittelalter? Überlieferungssicherung und -interpretation im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481 Nico Nolden Digitalisierung der Geschichtswissenschaft durch Public History: Theoretische und methodische Reflexionen zur Entwicklung von Ausbildung und Wissenschaftspraktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497

8

Inhalt

Joachim Laczny Wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceanbieter für digitale Editionsprojekte – Chancen und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . 511

Reisen und Ferne Christian Hoffarth (Das) Fremde verdauen: Annäherungen an den Kannibalentopos in Ostasienberichten des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Juhan Kreem Es soll auch wahr sein, das Kapitän Drake aus India gekommen ist. Zwei Briefzeitungen aus dem Revaler Stadtarchiv – mit einem Quellenanhang . 553 Martin Krieger Die Dänen in Südostasien (17.–18. Jahrhundert). Struktureller Wandel im Schatten niederländischer Expansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Verzeichnis der Beitragenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

Einleitung

Rund 18 Stunden dauern im Jahr 2020 die kürzesten Flugreisen von Hamburg nach Java, eine Strecke, die Jürgen Sarnowsky in den vergangenen Jahren regelmäßig zurückgelegt hat. Über vier Jahrzehnte umspannt sein Wirken als Wissenschaftler, dessen weiter Horizont mit den genannten Orten in Europa und Asien nur näherungsweise angezeigt ist. Zwar stellen die Hansestadt Hamburg und die indonesische Insel Java geographische Extremwerte in der Vita Jürgen Sarnowskys dar, doch muss dem hier noch ein weiterer Ort hinzugefügt werden, ohne den die Biografie des Jubilars sowohl persönlich als auch wissenschaftlich unvorstellbar wäre, nämlich Berlin: Dort wurde Jürgen Sarnowsky 1955 geboren, dort studierte er ab 1975 an der Freien Universität Geschichte, Physik und Philosophie, dort wurde er 1985 promoviert und 1992 habilitiert, und dort war er zwischen 1982 und 1993 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent tätig. Nach Lehrstuhlvertretungen in Chemnitz-Zwickau und Hamburg folgte 1996 der Ruf auf die Professur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg, wo er zwischen 2002 und 2004 auch als Dekan des Fachbereichs Philosophie und Geschichtswissenschaft fungierte. Dass sich Jürgen Sarnowsky in Hamburg und darüber hinaus um die universitäre Lehre verdient gemacht hat, sieht man an der beträchtlichen Zahl seiner Schüler_innen, mit denen man ihn regelmäßig auf nationalen und internationalen Tagungen antreffen konnte, an etlichen akademischen Gutachten und Empfehlungsschreiben im In- und Ausland, aber auch an den von ihm initiierten Drittmittelprojekten und den damit verbundenen wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen. Die Liste der von ihm im Laufe der Jahre bekleideten leitenden Ämter ist beträchtlich, daher seien hier nur einige wenige genannt: Vorsitzender des Hansischen Geschichtsvereins, Vorsitzender der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, Mitglied der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, Mitorganisator und Mitherausgeber der ‚Ordines Militares. Colloquia Torunensia Historica‘

10

Einleitung

sowie Mitbegründer und Mitherausgeber der Reihe ‚Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter‘. In einer Würdigung des bisherigen wissenschaftlichen Werks Jürgen Sarnowskys dürfen wir an erster Stelle die großen Monografien nennen, und zwar zunächst Die aristotelisch-scholastische Theorie der Bewegung. Studien zum Kommentar Alberts von Sachsen zur Physik des Aristoteles (Münster 1989). Wie aus den Handschriftenkatalogen zahlreicher europäischer Archive und Bibliotheken hervorgeht, wurde Alberts von Sachsen um die Mitte des 14. Jahrhunderts verfasster Text an mittelalterlichen Universitäten nachhaltig rezipiert, und sein Autor gehörte zusammen mit Johannes Buridan und Nikolaus von Oresme zu einem wichtigen Netzwerk von Philosophen und Naturwissenschaftlern. Jürgen Sarnowskys Arbeit liefert wesentliche Erkenntnisse zu Alberts Karriere und Werk, zum Inhalt des Physik-Kommentars im Kontext der zeitgenössischen Diskussion und zu Alberts Rolle in der Geschichte der Impetustheorie. In der Folgezeit wandte sich Jürgen Sarnowsky den geistlichen Ritterorden des Spätmittelalters zu. In seinem Buch Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382–1454) (Köln 1993) diskutiert er die einschlägigen Ämter der Zentral- und Lokalverwaltung, die diversen Einkünfte des Ordens als Landesherr und geistliche Gemeinschaft sowie dessen Ausgaben für eigene Belange, Diplomatie und Kriegswesen. Durch seine systematische Auswertung der fragmentarischen Archivalien zum Rechnungswesen des Deutschen Ordens – gepaart mit einem umfangreichen Editionsanhang aus den Beständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin – stellt Jürgen Sarnowskys Werk Grundlagenforschung zur Finanzgeschichte und preußischen Landesgeschichte des Spätmittelalters dar. Da der Templerorden 1312 auf dem Konzil von Vienne aufgelöst worden war und damit für eine analoge Betrachtung nicht zur Verfügung stand, kam sodann der ‚andere‘ internationale Ritterorden an die Reihe, und zwar mit der Publikation von Macht und Herrschaft im Johanniterorden des 15. Jahrhunderts. Verfassung und Verwaltung der Johanniter auf Rhodos (1421– 1522) (Münster 2001). Mit seiner Untersuchung der normativen Texte, Ordensämter, Funktionsträgerkarrieren, Landesverwaltung auf Rhodos, Einkünfte und Ausgaben sowie Konflikte zwischen den Vertretern der einzelnen (nationalen) Ordenszungen – abermals gepaart mit einem Editionsanhang, diesmal aus den Beständen der Nationalbibliothek von Malta, – geht Jürgen Sarnowsky weit über die eigentliche Ordensgeschichte hinaus und zeigt uns die Johanniter als eine Gemeinschaft zwischen Osten und Westen, eingebunden in ein europäisches Netzwerk. Bei seiner Beschäftigung mit der Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit hat Jürgen Sarnowsky neben dem Fachpublikum seit geraumer Zeit auch eine breitere Leserschaft im Blick. Abgesehen von den drei Bänden in der Beck’schen Reihe ‚Wissen‘ – Der Deutsche Orden (München 2007, 2. Auflage 2012), Die

Einleitung

11

Templer (München 2009) und Die Johanniter (München 2011) – sowie der Synthese Die geistlichen Ritterorden. Anfänge – Strukturen – Wirkungen (Stuttgart 2018), seien hier vor allem zwei Werke genannt, die gleichzeitig Einblicke in andere Forschungsgebiete des Autors gewähren, nämlich England im Mittelalter (Darmstadt 2002) und Die Erkundung der Welt. Die großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Alexander von Humboldt (München 2015). Hinzu kommen etliche wissenschaftliche Aufsätze, Sammelbände, gedruckte Regestenwerke und Editionen sowie digitale Projekte, mit denen sich Jürgen Sarnowsky auch um die Erforschung der Geschichte Hamburgs, der Hanse und des Preußenlandes, aber auch die Verwaltungsgeschichte, die historischen Hilfswissenschaften und die Digital Humanities verdient gemacht hat. Rund 18 Stunden dauert ein Flug von Hamburg nach Java. Mindestens zwölf Jahrhunderte europäischer und außereuropäischer Geschichte umspannen die in diesem Buch versammelten, Jürgen Sarnowsky zugedachten Studien, die den denselben Weg durchmessen. Unter dem Rubrum ‚Der Norden und die Hanse‘ beginnt die Reise im Frühmittelalter mit Untersuchungen zu hamburgischen Gründungsmythen, zu kriegerischen Nordmännern vor Paris sowie zu Vorstellungen von den Fremden im Nordosten. Hieran schließen sich programmatische Überlegungen zur Bedeutung der Ostseeregion als Innovationsraum, ein gleichermaßen integrativer Beitrag zur Beziehung skandinavischer Städte zur Hanse sowie eine Reihe quellennaher Studien zur Geschichte der preußischen Hansestädte Königsberg und Danzig sowie Heiligenbeils im Spätmittelalter und der beginnenden Frühneuzeit an. Mehrere Beiträge in dieser Sektion stellen auf Beziehungen zwischen Osten und Westen ab, indem sie etwa die Kontakte von Danziger Bürgern mit niederländischen Schiffsleuten oder die Gesellenwanderungen in, aus und nach Polen in den Blick rücken. Biographisches und Historiographisches, das 16. und das 18. Jahrhundert werden schließlich in Analysen des Bildes von Melchior Hoffman beim Hamburger Historiker Barthold Nikolaus Krohn miteinander verbunden. Da das Mediterraneum in Jürgen Sarnowskys Publikationen zu den Johannitern natürlich eine wichtige Rolle spielt, führt die metaphorische Reise dieser Aufsatzsammlung dann weiter in den Mittelmeerraum. Besondere Akzente setzen die unter dieser Überschrift gefassten Beiträge auf die geistlichen Ritterorden und den langen Kampf um das Heilige Land. Mit der Königin Sybille von Jerusalem, dem gelehrten Johanniter William of St. Stephen und dem Templer Bernard of Fuentes treten dabei einige bislang vergleichsweise weniger beachtete Akteure ins Blickfeld. Doch auch neue Fragen zu berühmten Persönlichkeiten werden aufgeworfen: Neben einer Studie zu den Ursachen der Wahl Lothars von Segni bzw. Innozenz’ III. zum Papst im Jahr 1198 steht eine rezeptionsgeschichtliche Betrachtung des Bildes Marsilius’ von Padua in der Zeit des Nationalsozialismus.

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Einleitung

Eine eigene Sektion ist der Gemeinschaft gewidmet, der Jürgen Sarnowskys erste wegweisende Arbeiten in der Ritterordensforschung galten: dem Deutschen Orden. Die Aufsätze bewegen sich thematisch im Zeitraum zwischen dem Ende des 13. und der Mitte des 16. Jahrhunderts und decken somit einen Großteil der Existenz des Deutschordenslandes ab. Ihr Augenmerk gilt den hohen Ämtern des Ordens und einzelnen ihrer Inhaber wie etwa dem Komtur und Interimsmeister Konrad von Babenberg ebenso wie zentralen Episoden in der Geschichte der Ordensherrschaft, zumal der Vor- und Nachgeschichte der Schlacht bei Tannenberg. Eine Suche nach Spuren jüdischen Lebens im Ordensland Preußen beschließt die Sektion und verweist nachdrücklich darauf, dass bedeutende Fragenkomplexe in der Deutschordensforschung nach wie vor der Erschließung harren. Die großen Einsatzgebiete digitaler Methoden in den Geisteswissenschaften sowie die Schnittbereiche zwischen digitaler Welt und Geschichte thematisieren die Beiträge unter dem Stichwort ‚Digital Humanities‘. Sie handeln von Aneignungen der Geschichte des Deutschen Ordens in den sozialen Medien, von digitalen Werkzeugen für die historische Forschung, von Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung in Archiven und Bibliotheken sowie von den Möglichkeiten der Geschichtsvermittlung auf Grundlage neuer Medien und Techniken. Nur konsequent ist es freilich, dass die gewählten Beispiele zur Veranschaulichung der Materie ganz überwiegend wiederum den zentralen Themenkreisen des wissenschaftlichen Œuvres Jürgen Sarnowskys entstammen. Mit der Sektion ‚Ferne und Reisen‘ neigt sich die Tour d’Horizon schließlich ihrem Ende zu. Das Interesse der hier gruppierten Artikel gilt vormodernen Kontakten zwischen entfernten Ländern und Kulturen. Den Auftakt macht eine Studie zur Wahrnehmung des Fremden in Europa, namentlich zum Kannibalismustopos in Berichten über die ostasiatische Inselwelt. Es folgt eine Untersuchung zur Rezeption von Entdeckungsreisen, insbesondere den Expeditionen unter Francis Drake. Die endgültige Ankunft auf Java steht sodann unter dem Zeichen von Kolonialismus und Kolonialhandel, wenn das dänische Engagement in Südostasien im 17. und 18. Jahrhundert unter die Lupe genommen wird. Die in diesem Buch versammelten Beiträge zu Ehren von Jürgen Sarnowsky spiegeln in ihrer Vielfalt den weiten wissenschaftlichen Gesichtskreis ihres Adressaten wider. Ganz in seinem Sinne dürfte es sein, dass gleich mehrere der ihm zugeeigneten Beiträge mit Editionen bislang unveröffentlichter Archivalien aufwarten, hat er doch selbst stets mit großem Nachdruck und mitunter gegen wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Moden auf der Bedeutsamkeit der Quellenerschließung beharrt. Anspruch der vorliegenden Sammlung soll und kann es indes nicht sein, das Schaffen des Jubilars in seiner gesamten Bandbreite abzubilden. Allenfalls vermag sie, einige repräsentative Sichtachsen zu bahnen, die den Blick auf zentrale Felder seiner Arbeit freilegen, von ihm aufgeworfene

Einleitung

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Fragen und erlangte Erkenntnisse aufgreifen und somit eine zumindest näherungsweise Vermessung seines Wirkens ermöglichen. Ähnlich vielfältig wie die Beiträge selbst ist auch das Tableau der Beitragenden: Ein buntes Feld von Schüler_innen, Freund_innen und akademischen Wegbegleiter_innen Jürgen Sarnowskys hat sich zusammengefunden, um ihn und seine Arbeit zu würdigen. Sie sind ihm in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen und zu verschiedenen Zeiten begegnet, wovon nicht zuletzt auch das Trio der Herausgeber Zeugnis gibt. Der Kontakt zwischen Jürgen Sarnowsky und Jochen Burgtorf besteht nun schon seit einem Vierteljahrhundert und entstand passenderweise ‚auf Reisen‘, nämlich 1995 auf der damals noch längeren Zugfahrt zwischen Clermont und Paris. Beide hatten an einer Tagung der ‚Society for the Study of the Crusades and the Latin East‘ teilgenommen und dort ausgerechnet auch noch beide zu den hohen Würdenträgern im Zentralkonvent der Johanniter vorgetragen – Jürgen Sarnowsky zum 15./16. und Burgtorf zum 13./14. Jahrhundert. An jenem Gespräch im Gang des Zuges waren übrigens auch Karl Borchardt und Anthony Luttrell beteiligt. 2003 folgte Burgtorf der Einladung Jürgen Sarnowsky und Roman Czajas nach Torun´, wo sich 2011 – also gleichsam vier Tagungen später – Jochen Burgtorf und Jürgen Sarnowskys Hamburger Doktorand Sebastian Kubon kennenlernten. Jochen Burgtorf erklärte sich im Anschluss an die Tagung freundlicherweise sofort bereit, das Zweitgutachten im Promotionsverfahren von Sebastian Kubon zu übernehmen. Kennengelernt hatte Sebastian Kubon seinen Doktorvater Jürgen Sarnowsky schon viel früher, nämlich in der so genannten „Einführung in die Geschichtswissenschaft“ im ersten Semester (Wintersemester 2000/2001) an der Universität Hamburg. Diese war thematisch den Anfängen des Deutschen Ordens in Preußen gewidmet. Es folgten für Sebastian Kubon viele Jahre der Tätigkeit als Studentische Hilfskraft, Wissenschaftlicher Mitarbeiter vor der Promotion und schließlich als Postdoktorand bei Jürgen Sarnowsky, der ihm in diesen Jahren bei allen beruflichen und auch persönlichen Herausforderungen mit vielfachem Rat zur Seite stand. Auch Christian Hoffarth wurde von Jürgen Sarnowsky in Hamburg promoviert. Die beiden begegneten sich, nachdem Hoffarth im Jahr 2011 aus Heidelberg in den hohen Norden gezogen war und dort nach akademischem Anschluss suchte. Mit großer Weitherzigkeit nahm Jürgen Sarnowsky den Vaganten bei sich auf, dessen Interessenlage mit der mittelalterlichen Geistesgeschichte einem von Jürgen Sarnowskys Arbeitsschwerpunkten entsprach. Selbstlos und unermüdlich unterstützte Jürgen Sarnowsky seinen Doktoranden in den folgenden Jahren – sei es durch Gutachten für Stipendien und Empfehlungsschreiben, durch zahlreiche Fachgespräche oder durch allerlei wissenschaftliche Hinweise und Ratschläge. Aber auch für die persönlichen Sorgen und Nöte des Promovierenden

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Einleitung

hatte Jürgen Sarnowsky stets ein offenes Ohr. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler war von Beginn an immer sowohl eine akademische als auch ein freundschaftliche. Die COVID-19-Pandemie hat persönliche Kontakte in vieler Hinsicht zwar erschwert, doch nutzten die Herausgeber im Frühjahr 2020 das Videokonferenzsystem Zoom zu längeren Gesprächen zwischen den USA und Europa, bei denen der vorliegende Band im Mittelpunkt stand, und so ist dieser in gewisser Hinsicht eben auch ein Produkt der globalen Digital Humanities. Eine große Freude ist es uns, denjenigen Dank abzustatten, ohne die der erfolgreiche Abschluss der Festschrift unmöglich gewesen wäre: Mit großzügigen Zuschüssen beteiligten sich der Hansische Geschichtsverein, die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung sowie Professor Christoph Dartmann an den Druckkosten des Bandes. Die sinnbildliche Collage, die den Deckel dieses Buches ziert, entwarf Kelly Donovan, wofür wir ihr herzlich verbunden sind. Besonderer Dank gilt auch Carla Schmidt, Marie-Carolin Vondracek und dem Team des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für die überaus freundliche und professionelle Betreuung der Drucklegung. Auch im Namen der hier vertretenen Autor_innen wünschen wir Jürgen Sarnowsky alles Gute und viel Freude an Von Hamburg nach Java. Jochen Burgtorf (Fullerton) Christian Hoffarth (Kiel) Sebastian Kubon (Hamburg/München)

Der Norden und die Hanse

Reinhard Paulsen

Die Legende von der Stadtgründung Hamburgs im 9. Jahrhundert

Die Stadtarchäologie in Hamburg hat in neuerer Zeit anhand der Ausgrabungskampagne 2005–2006 auf dem Domplatz und einer kritischen Aufarbeitung der gesamten nach dem Zweiten Weltkrieg geleisteten archäologischen Forschung objektivierte Erkenntnisse zur Frühgeschichte Hamburgs vorgelegt. Stand und Auswertung der Faktenlage stellen die bisherige geschichtswissenschaftliche Erzählung über die Herausbildung Hamburgs in Frage. Die Archäologie deutet auf Geschichtsverzerrungen hin, die nur zu oft ihren Ursprung in ge- und verfälschten Urkunden sowie parteiisch-einseitigen Schriftquellen des Mittelalters haben.1 „Die frühe bremisch-hamburgische urkundliche Überlieferung ist selbst für mittelalterliche Verhältnisse ungewöhnlich korrumpiert und verdächtig.“2 Die Sichtweise in der Geschichtswissenschaft über die Früh- und Entstehungsgeschichte Hamburgs im 9. bis 11. Jahrhundert folgte jedoch nur zu oft kritikarm den Inhalten und Gewichtungen dieser Quellen. Kritische Stimmen waren in der Minderheit. Die überarbeiteten Auswertungen der Archäologie zeigen, dass das Bild von der Frühgeschichte Hamburgs durch einen „Mythos Hammaburg“ geprägt ist.3 Rainer Maria Weiss stellt fest, dass trotz der notwendigen Korrekturen „das mit ihnen verknüpfte tradierte Geschichtsbild im öffentlichen Bewusstsein nach wie vor dem Stand der Nachkriegszeit entspricht.“4

1 „Reliquien, Urkunden, Rechtstexte, Briefe und Abhandlungen wurden im Mittelalter in einem Ausmaß gefälscht, von dem sich der Laie kaum eine Vorstellung machen kann.“ Theo Kölzer, Urkundenfälschungen im Mittelalter, in: Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, hrsg. Karl Corino, Reinbek 1992, S. 15–26, hier S. 15. 2 Dieter Hägermann, Mission, Bistumsgründung und fränkischer Staatsaufbau zwischen Weser und Elbe, in: Bremen. 1200 Jahre Mission, hrsg. Ders., Bremen 1989, S. 9–31, hier S. 17– 18. 3 Mythos Hammaburg. Archäologische Entdeckungen zu den Anfängen Hamburgs, hrsg. Rainer-Maria Weiss, Anne Klammt, Kiel, Hamburg 2015. 4 Rainer-Maria Weiss, Mythos Hammaburg – Fakten und Fiktionen zur Frühgeschichte Hamburgs, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 17–53, hier S. 17.

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Reinhard Paulsen

Aus diesem Grunde sollen die Mythen über die frühe Hammaburg und die „erste Gründung Hamburgs“ im 9. Jahrhundert rekapituliert, historisch eingeordnet und auf ihrem Weg in die Jetztzeit beobachtet werden.

1.

Mythos Stadtgründer Karol I.

Zu Lebzeiten Karols I.5 spielte die Siedlung Hammaburg auf einem Geestsporn am nördlichen Rand der Elbniederungen nahe der Mündung der Alster in die Elbe keine irgendwie erkennbare Rolle. Der Archäologie ist es gelungen, für die Zeit Anfang des 9. Jahrhunderts getrennte, nacheinander errichtete und funktional unterschiedliche Ringanlagen unter dem heutigen Hamburger Domplatz herauszuarbeiten. Die älteste Anlage (Periode I) deutet auf eine sächsische Siedlung aus dem 8. Jahrhundert hin, wobei dieser frühe Ringgraben im Zusammenhang mit der alten sächsischen Stammes- und Sippenordnung als kleiner befestigter stormarnscher Adelssitz mit Palisadenbewehrung, eventuell als Kult-, regionaler Handels- oder Gerichtsplatz6 und wohl auch als Schutzbereich im Fall von Kämpfen für die umliegende Bevölkerung zu interpretieren ist. Die abseitige geographische Lage gibt keinerlei Hinweis auf einen frühen überregionalen Handelsplatz.7

5 In der gesamten Überlieferungs- und Wissenschaftstradition wurde Karol I. immer wie selbstverständlich zu Karl dem Großen/Carolus Magnus/Charlemagne erhöht und im Rahmen eines Karlskultes zum Stammvater eines christlichen Abendlandes ausgerufen. Einzig Gerhard Theuerkauf hat den Frankenkönig und ersten Kaiser des Mittelalters wissenschaftlich neutral gezählt (Gerhard Theuerkauf, Die Hamburger Region von den Sachsenkriegen Karls I. bis zur Gründung des Erzbistums (772–864), in: Domplatzgrabung in Hamburg, hrsg. Ralf Busch, Neumünster 1995, S. 9–19). Beinamen wie „der Fromme“, „der Kühne“, „der Kahle“ oder etwa „der Stammler“ kennzeichnen ihre Träger durch persönliche Eigenschaften. Der Beiname „der Große“ ist jedoch von historisch wertender Qualität und impliziert eine wissenschaftsfremde Bewunderung eines Herrschers. Ich orientiere mich neutral an den lateinischen Quellen, die von Karolus sprechen. Unter Verzicht auf die lateinische Endung scheint Karol die angemessene Benennung zu sein, also weder Charles (frz./engl.), Carlo (ital.) noch Karl (dtsch.). Entsprechendes gilt für seinen Sohn ‚Ludwig den Frommen‘ (siehe Anm. 8) 6 Karsten Kablitz, Die Ergebnisse der Ausgrabungen 2005–2006, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 67–85, hier S. 75. 7 Die Beschreibung Reinckes ist treffend: „Die uralten Flussübergänge liegen an anderen Stellen: elbaufwärts bei Arltenburg nach Bardowiek, elbabwärts von Dockenhuden hinüber zur Este und nach Buxtehude, von der Kaaksburg störabwärts und dann nach Stade. Bei Hamburg selber hat noch in späteren Zeiten das verwirrende Netz kleiner Wasserläufe und bewaldeter Marschinseln den Übergang erschwert. Hamburg liegt auch nicht, so weit wir sehen, an einer alten Verkehrsader des nordelbischen Landes.“ Heinrich Reincke, Hamburgs Geschichte, in: Hamburg. Einst und Jetzt, hrsg. Ders., Walter Hävernick, Gustav Schlotterer , Hamburg 1933, S. 1–102, hier S. 4.

Die Legende von der Stadtgründung Hamburgs im 9. Jahrhundert

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Für das Frankenreich ist das transalbingische Hamburg erst in den Jahren 817–822, also bereits unter Karols Sohn Hludovic I.8 von Interesse. Allem Anschein nach ist in dieser Zeit der alte sächsische und recht kleine Ringgraben eingeebnet und durch eine größere Wallgrabenringanlage ersetzt worden, die nun deutlich fortifikatorischen Charakter offenbarte (Periode II). Diese Hammaburg II existierte für ca. 25 Jahre bis zur Zerstörung durch eine dänische Flotte 845.9 Die Errichtung dieser Hammaburg II erklärt sich aus der Politik des karolingischen Staates an seinen Nordgrenzen. Auch wenn 804 die Sachsenkriege Karols I. einen vorläufigen, für die nordelbischen Sachsen fatalen Abschluss durch Deportationen fanden,10 hatte man Nordalbingien, d. h. das Land zwischen Elbe und Schlei, Nordsee und Slawen im Osten noch nicht dauerhaft erobern können. Für die dort siedelnden Sachsen bildete die Elbe die Reichsgrenze. Das 8 Eingedeutscht Ludwig (der Fromme). Benennung bei Rimbert durchgehend Hludovicus; bei Adam von Bremen Ludvicus (4x), Luduicus (1x), Ludewicus (3x). Ich folge mit Hludovic dem Zeitzeugen Rimbert, der zehn Jahre alt war, als der Kaiser starb. 9 Es handelte sich nicht, wie meist dargestellt, um einen unbestimmten „Wikingerüberfall“, sondern um den Rückzug einer großen Flotte des dänischen Herrschers Horik I. nach verlorenem Kampf gegen das Ostfrankenreich Hludovics II. (des Deutschen). Das vermelden die Annales Bertiniani für das Jahr 845: Nortmannorum rex Horicus sexcentas naves per Albim fluvium in Germaniam adversus Hludowicum dirigit. Quibus Saxones occurrentes, commisso praelio, domini nostri Iesu Christi auxilio victores efficiuntur. Unde digressi, Sclavorum quandam impetunt et capiunt civitatem. Annales Bertiniani, in: Quellen zur Karolingischen Reichsgeschichte, 2, hrsg. u. übers. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, 6), Berlin 1958 [im Folgenden: Ann. Bert.], Jahr 845, S. 66, Z. 1–5 ([Übers. überarb.; RP] „Der Normannenkönig Horik schickte 600 Schiffe über die Elbe nach Germanien gegen Hludovic aus. Die Sachsen traten ihnen entgegen und als es zum Kampf kam, blieben sie mit Hilfe unseres Herrn Jesus Christus die Sieger. Deshalb griffen jene auf dem Rückzug einen Ort der Slawen an und eroberten ihn“). Bei dem Slawenort kann es sich nach Zeit und Elblage nur um Hammaburg gehandelt haben. Die Archäologen konnten allerdings keine Hinweise finden, dass Hammaburg II eine slawische Anlage gewesen sein könnte. So stellt Torsten Kempke fest, dass „auf keinem einzigen Fundplatz im Hamburger Raum das slawische Material dominiert – regelrecht slawische Siedlungen sind dort demnach nicht nachweisbar.“ Torsten Kempke, Slawische Keramik im frühen Hamburg, in: Weiss, Klammt (wie Anm.3), S. 96–106, hier S. 102) Siehe auch Theuerkauf, Hamburger Region (wie Anm. 5), S. 15. 10 … omnes, qui trans Albiam et in Wihmuodi habitabant, Saxones cum mulieribus et infantibus transtulit in Franciam et pagos Transalbianos Abodritis dedit. Annales regni Fancorum, in: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, hrsg. u. übers. Reinhold Rau (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, 5), Darmstadt 1955 [im Folgenden: Ann. reg. Fr.], S. 9–155, hier Jahr 804, S. 78, Z. 32–34 („Alle Sachsen, die jenseits der Elbe und in Wigmodien [zwischen Elbe und Weser; RP] wohnten, siedelte er mit Frau und Kind in das Frankenland um und gab die transelbischen Gaue den Abodriten“). Es wird mit Sicherheit unmöglich gewesen sein, omnes Saxones, die gesamte Bevölkerung zwischen Weser und Schlei zu verschleppen. Was sollten im Übrigen Abodriten mit einem entvölkerten Land anfangen? Von einem Landmangel dieses slawischen Stammesverbandes ist nichts bekannt. Eine „Fremdherrschaft der Slawen im Auftrag des Frankenherrschers“, wie in der Forschung mitunter zu lesen ist, gibt die Quelle nicht her.

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Reinhard Paulsen

fränkische Großreich brachte nach 804 nicht die Mittel auf, den offenen Eroberungskrieg jenseits der Elbe fortzusetzen. Die Eroberungspolitik des karolingischen Staates gegenüber den Nordsachsen wurde 817 mit angepasster Taktik wieder aufgenommen. In Dithmarschen wurde zentral und verkehrsgünstig unter Führung des fränkischen Grafen Egbert die Ringburg Esesfelth an der Stör als militärischer Stützpunkt errichtet.11 Der fränkische Befehlshaber und seine sächsischen Reichsgrafen mit ihrem bewaffneten Bautross drangen offenbar in fremdes, noch unabhängiges Territorium ein, denn ansonsten hätte man wohl nordalbingische Bevölkerung zum Burgenbau gegen die Dänen verpflichtet.12 Zusammen mit der Burg wurde auch eine civitas Esesfelth13 errichtet. Es wurde also ein fränkischer Brückenkopf errichtet, der planmäßig der Einschüchterung der transelbischen Bevölkerung sowie der Umorganisierung des Landes gemäß den staatlichen Strukturen des Reiches im Süden und damit einer Einverleibung des Landes zwischen Elbe und Eider diente. Die Errichtung der Hammaburg II in dieser Zeit erklärt sich unter dem Blickwinkel von Militärstrategie und Grenzsicherung als ein weiterer fränkischer Brückenkopf auf der nördlichen Elbseite. Wie jede Burg benötigte auch die Hammaburg eine sie versorgende Nachbarschaft. Diese war durch die altsächsische Siedlung zwischen Burg und Alster gegeben. Die Hammaburg dürfte wie Esesfelth unter dem Befehl eines fränkischen Grafen gestanden haben, der von der umliegenden sächsischen Bevölkerung Abgaben und Dienstleistungen einforderte. Genau wissen wir das für die ersten Jahrzehnte nicht. Erst im Zusam11 Thorsten Lemm, Esesfelth und der Burgenbau des 9. bis 10. Jahrhunderts in Nordelbien, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 357–376. 12 Es darf bezweifelt werden, dass diese Burg allein zur Dänenabwehr – und damit zum Schutz eigenen Landes – errichtet wurde, wie es die Reichsannalen hinstellen. Man erfährt, dass herbeigeführte bewaffnete homines aus Gallien und Germanien den Ort und die Burg errichten und eine fränkische Besatzung stellen, nachdem der Platz occupatus est ab Egberto et comitibus Saxonicis. (Ann. reg. Fr. (wie Anm. 10), Jahr 809, S. 92, Z. 18–28), d. h. es ging um militärische Besetzung des Landes. 13 In den Quellen der Zeit werden Orte, Dörfer, Ansiedlungen und Befestigungen durchweg mit den Bezeichnungen civitas und urbs des antiken Latein bezeichnet, was modernen Menschen eine Vorstellung von „Stadt“ für kleine, eventuell befestigte Ansiedlungen im Sinne alter Bischofsstädte und städtisches Leben suggeriert. „Isidor [von Sevilla; RP] macht sehr deutlich, in welchen Zusammenhängen civitas und urbs verstanden werden sollen. Sie bezeichnen zwar ein und dasselbe, betonen aber je einen anderen Aspekt. Während civitas die Gemeinschaft der Bewohner in den Mittelpunkt stellt, ist mit urbs die Befestigung an sich gemeint“. Christian Frey, Burgen in den Schriftquellen des frühen Mittelalters, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 318–323, hier S. 319. Siehe auch: Edith Ennen, Die europäische Stadt des Mittelalters, 2. Aufl., Göttingen 1987, S. 103–105. Eine civitas Esesfelth oder civitas Hammaburg waren einfachste Ansiedlungen neben einer Fortifikation, die der gesamten civitas Schutz bot, wobei das Suburbium sicher zur Versorgung der Burgbesatzung beizutragen hatte.

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menhang mit dem erwähnten Angriff einer dänische Streitmacht im Jahr 845 ist von einem Grafen Bernharius die Rede, der zu jener Zeit das Kommando über die Hammaburg innehatte.14 Wenn man denn in der Errichtung der Hammaburg II die Grundsteinlegung für einen sich über 350 Jahre entwickelnden Handels- und Hafenort sehen möchte, so ergibt sich eindeutig: Es ist historisches Wunschdenken, dass Karol I. dabei irgendeine besondere Rolle gespielt hat, zumal er in der mutmaßlichen Zeit des Baus der Hammaburg II bereits mehrere Jahre tot gewesen sein dürfte (gest. 814). Dennoch ist für die heutige Stadt zu konstatieren: „In der historischen Überlieferung Hamburgs sowie im Stadtbild kommt Karl der Große relativ oft und an exponierter Stelle vor.“15 Ortwin Pelc dokumentiert diverse Standbilder Karols I. im Hamburger Stadtbild aus über fünf Jahrhunderten und weist nach, „dass in der hamburgischen Historiographie seit dem 17., insbesondere aber im 19. Jahrhundert versucht wurde, die Gründung Hamburgs auf Karl den Großen zurückzuführen“.16 Schon 1775 hat der Gelehrte Gottfried Schütze die bezweckte Sinnstiftung hinter dem Hamburger Gründungsmythos klar benannt: „Hamburg verehret einen Kayser als seinen Stifter, den wir die Ehre und den Stolz der Deutschen nennen können, und darf sich folglich seines Ursprungs nicht schämen.“17 Die deutsche Inanspruchnahme Karols I. als Stammvater des alten Reiches wurde von einem entsprechend gelagerten Karlskult des französischen Königtums wohl noch übertroffen, lag doch das Kerngebiet des Frankenreiches und damit des „christlichen Abendlandes“ in dem Gebiet des heutigen Nordfrankreich. Zum ideologischen Ausgangspunkt jedes Karlskultes gehörte die untrennbare Nähe und wechselseitige Verwobenheit zwischen Kirche und Staatsmacht. Ihre höchste Ausprägung erlangte sie 350 Jahre nach dem Tode des Frankenherrschers mit der Kanonisierung des Karlskultes durch die Heiligsprechung Karols I., also seiner offiziellen religiösen Verehrung.18 14 … comes, qui eo tempore praefecturam loci illius tenebat, illustris vir Bernharius … . Rimberti Vita Anskarii, in: Quellen des 9. Und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches, hrsg. u. übers. Werner Trillmich, Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, 11), Darmstadt 1961 [im Folgenden: Rim. Vit. Ansk.], c. 16, S. 16–133, hier S. 50, Z. 24. Zur Grafenfrage: Günther Bock, Hammaburg und Domkirche in den frühen Jahrhunderten Hamburgs – Versuch einer historischen Neubewertung, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 291–303. 15 Ortwin Pelc, Karl der Große und der Mythos von der Gründung Hamburgs, in: Mythen der Vergangenheit. Realität und Fiktion in der Geschichte, hrsg. Ders., Göttingen 2012, S. 13–40, hier S. 13. 16 Ebd., S. 40. 17 Zitiert nach ebd., S. 18 mit Literaturnachweis. 18 Die Heiligsprechung Karols wurde „am 29. 12. 1165 in Aachen durch den zuständigen Ortsbischof Rainald von Dassel in Gegenwart Kaiser Friedrich Barbarossas“ vorgenommen:

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Für Napoleon lag es nahe, die französische Variante des Kultes um Charlemagne zu instrumentalisieren und sich bei seiner Eroberung weiter Gebiete Europas als Erneuerer des Reichs Karols I. mit entsprechenden Herrschaftsansprüchen gegenüber dem deutschen Reich zu präsentieren.19 Die Kämpfe gegen französisch-napoleonische Besatzungsherrschaft und die deutsche Nationalstaatsidee im frühen 19. Jahrhundert wurden von mitunter fanatischem Franzosenhass begleitet20 und pflegten die romantisierende Verklärung des römischdeutschen Kaisertums,21 in der neben einem Friedrich I. (Barbarossa) auch ein Karol I. (der Große) eine zentrale Rolle spielte. Das NS-Bild Karols I. war zwiespältig. Hitler machte ihn zwar zu einem Mustergermanen, den Franken kreidete man jedoch „christlich-antike Fremdüberlagerung“ an, hielt es mehr mit den sächsischen Kaisern und pflegte im Rahmen völkischer Geschichtsverzerrung einen Kult des Widochind22, des sächsischen Widersachers Karols I.23 Mit der Westausrichtung nach 1945 und dem deutsch-französischen Ausgleich rückten das christliche Abendland und seine angeblich überlegenen Werte wieder in den Mittelpunkt. „Die vielbeschworene Einheitsidee wurzelte in den Weltchroniken des 12. Jahrhunderts und ihrer Auffassung vom ‚Universalreich‘ des Mittelalters.“24 Kaiser Karol I. wurde „zur geschichtlichen Symbolfigur der christlich-abendländischen Version der Europaidee stilisiert.“25 Es wird deutlich, dass Gründungsmythos und Karlsverehrung Hamburgs nur in dem größeren politisch-ideologischen Zusammenhang eines mythologisch verklärenden deutschen Reichsnationalismus verständlich werden.

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Matthias Pape, Der Karlskult an Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte, in: Historisches Jahrbuch 120 (2000), S. 138–181, hier S. 140 (mit Literaturnachweisen). „Aus der von Rom zugelassenen, später aber nie bestätigten Kanonisierung Karoli wurde nach dem Jahr 1200 das Fest des ‚hl. Kaisers und Märtyrers‘ […].“ Ebd., S. 141. Ebd., S. 142–161. Ich denke dabei vor allem an Ernst Moritz Arndt und den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn. Pape (wie Anm. 18), S. 156. In den Ann. reg. Fr. (wie Anm. 10) wird der Sachsenfürst Widochindus genannt, in anderen Quellen auch Widokindus. Helmold von Bosau schreibt Widukindus und Widekindus. Pape (wie Anm. 18), S. 163–166. Ausführlich: Sabine Kuhlmann, Der Streit um Karl den Großen, Widukind und den ‚Tag von Verden‘ in der NS-Zeit. Eine Kontroverse im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Forschung und ideologischer Instrumentalisierung, Stade 2010. Pape (wie Anm. 18), S. 167. Ebd., S. 170.

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Rimbert und der Hauptteil der Legende

Zu dem Mythos um die Entstehung Hamburgs gehören neben den weltlichen Fragen um die Errichtung der Hammaburg II vor allem kirchen- und missionsgeschichtliche Vorgänge. Mit seiner Vita Anskarii lieferte Erzbischof Rimbert den ersten Teil der späteren Gesamtlegende um Karols I. und Anskars26 Rolle bei der Gründung Hamburgs. Die offiziösen Annales regni Francorum berichten für das Jahr 809 aus dem Norden von dem Bau der fränkischen Burg Esesfelth an der Stör, erwähnen aber mit keinem Wort kirchliche Aktivitäten. Dafür weiß Erzbischof Rimbert in der Vita Anskarii von einer Kirchengründung Karols I. um 810 und der anschließenden Ernennung eines Missionspriesters namens Heridac für den ultimam partem ipsius provintiae, quae erat in aquilone ultra Albiam27 zu berichten. Rimbert nennt keinen Standort dieser zweiten Taufkirche Nordelbiens28 und damit der Wirkungsstätte des Priesters Heridac. Eine Kirche macht nur an einem zentralen Ort Sinn. In diesem Fall käme der neue fränkische Vorposten civitas Esesfelth in Frage, wobei alles auf die frühe nur 800 m von der Burg entfernte Kirche von Heiligenstedten hindeutet.29 Karol I. sah laut Rimbert in dieser Kirche den Ausgangspunkt für ein zukünftiges Erzbistum in Nordalbingien. Er habe die neue Kirche deshalb keinem an sich zuständigen Bistum zugeordnet, weil er sie für einen zu gründenden Erzbischofssitz reservieren wollte,30 was allerdings auf das Unding eines Erz26 In Öffentlichkeit und Forschung wird überwiegend von Ansgar gesprochen. Sein Nachfolger Rimbert nennt ihn in der Vita Anskarii ausschließlich Anskarius. Adam von Bremen benutzt zweimal Anscarius, ansonsten Ansgarius (12x). Ich folge der zeitnahen Schreibweise Rimberts. 27 Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), c. 12, S. 42, Z. 34–S. 44, Z. 25; Zitat S. 44, Z. 1–2 („das äußerste Gebiet selbigen Landesteils im Norden, jenseits der Elbe“). 28 Die Heridac-Kirche war nicht die älteste christliche Kirche in Nordelbien. Adam von Bremen erwähnt eine noch ältere Kirche in Meldorf in Dithmarschen, die schon vom Bremer Bischof Willerich betreut worden sei: Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae Pontificum, hrsg. u. übers. Trillmich, Buchner, (wie Anm. 14) [im Folgenden: Ad. v. Br.], c. I.14, S. 184, Z. 17–21. 29 Thorsten Lemm, Graf Ebert und Burg Esesfelth – Überlegungen zu Vorgehensweise und Auswirkung der fränkischen Annexion Nordelbiens, in: Individual and Individuality? Approaches towards an Archaeology of Personhood in the First Millennium AD, hrsg. Babette Ludowici, Stuttgart 2013, S. 217–232, hier S. 221. 30 … nemini episcoporum tuendam commisit, sed ad hoc reservare decrevit, ut ibi archiepiscopalem constitueret sedem, … . Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), c. 12, S. 44, Z. 2–4 („[Nordelbien; RP] hat er keinem der Bischöfe anvertraut, sondern vielmehr beschlossen, den Landesteil für einen einzurichtenden Erzstuhl aufzusparen“). Aus der Konkurrenz zu den Bistümern Bremen und Verden erklärt sich wohl, dass Rimbert betont, Hludovic I. habe den äußersten Landesteil im Norden keinem der an sich zuständigen Bischöfe – Bremen oder Verden – zugewiesen.

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bistums mit nur zwei Taufkirchen ohne Suffraganbistümer hinauslief, das nicht in der Lage sein würde, sich selbst zu unterhalten. Vorerst habe er Heridac zum unabhängigen Bischof weihen wollen, der sei aber vorher verstorben. Dann starb Karol selbst (814) und erst nach längerer Zeit habe sich sein Sohn und Nachfolger Hludovic I. an die angeblichen Pläne seines Vaters erinnert, Hamburg zur Erzdiözese zu machen. Rimbert schreibt bereits über die Zeit Anfang der dreißiger Jahre, als er Hammaburg zum ersten Mal ins Spiel bringt: in praefata ultima Saxoniae regione trans Albiam in civitate Hammaburg sedem constituit archiepiscopalem.31 Zu diesem Zweck habe der Kaiser durch seinen Bruder, den Erzkaplan Bischof Drogon von Metz, Anskar im Jahr 83132 feierlich zum Erzbischof weihen lassen.33 Anschließend habe er Anskar zum Papst nach Rom geschickt, damit Gregor IV. durch Urkunde und Verleihung des Palliums, also der Würde eines Metropoliten, Anskars Ernennung zum Erzbischof bestätigte. Dem kam der Papst, so Rimbert, nach und machte Anskar zugleich zu einem Missionslegaten für den Norden. Drei Jahre später, 834, habe der Kaiser die Ernennung durch ihn selbst und den Papst, warum auch immer, erneut bestätigt.34 Es gab also nach diesem Teil des Rimbert-Textes in Hamburg nie einen Bischofsitz.35 Durch den Erzbischof von Mainz erfährt man, dass es im Jahr 847 höchstens einen Bischof Anskar gegeben hat. In einem Schreiben an Hludovic II. zählte nämlich Hrabanus Maurus seine Suffraganbischöfe auf, unter denen ein Ansgario an achter Stelle aufgeführt wurde.36 Die Wahrheit scheint zu sein, dass es in den 30er und 40er Jahren des 9. Jahrhunderts weder einen Erzbischof Anskar noch eine Erzdiözese Hamburg oder Bremen oder Hamburg-Bremen gegeben hat. Im Gegensatz zu dem eben behandelten Kapitel 12 der Vita Anskarii zitiert Rimbert in Kapitel 23 in aller Ausführlichkeit wieder eine Verleihung des Palliums, also die Bestätigung der Erzbischofswürde an Anskar nach dreißig Jahren im Jahr 864 durch Papst Nikolaus I. Hamburg wurde in diesem Kapitel nicht als 31 Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), 12, S. 42, Z. 20–22 („[Hludovic I., RP] errichtete im oben erwähnten äußersten Gebiet Sachsens jenseits der Elbe in dem Ort Hammaburg einen Erzstuhl“). 32 Adam schreibt später „832“ (Ad. v. Br. (wie Anm. 28), c. I,16, S. 188, Z. 33). 33 Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), 12 S. 46, Z. 1–2. 34 Diese „Gründungsurkunde“ Hludovics I. „ist die mit Abstand am häufigsten gedruckte Urkunde des Kaisers, obwohl sie seit langem als Fälschung gilt.“ Theo Kölzer, Die gefälschte „Gründungsurkunde“ Kaiser Ludwigs des Frommen für Hamburg, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 257–261, hier S. 257. 35 Die Ernennungsurkunde Gregors IV. enthält demgegenüber den Widerspruch, „daß hier nur von einem Bisthum die Rede ist, daß auch Anskar nur Bischof genannt wird, da doch der Papst denselben entschieden als Erzbischof anerkennt.“ Karl Koppmann, Die ältesten Urkunden des Erzbisthums Hamburg-Bremen, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 5 (1866), S. 483–573, hier S. 498f. 36 Die Konzilien der karolingischen Teilreiche 843–859, hrsg. Wilfried Hartmann, MGH Conc. 3, Hannover 1984, S. 159f.

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altes Erzbistum, sondern als ein einfacher Bischofssitz geführt, der erst jetzt in den Rang eines Metropolitansitzes erhoben wurde: Ipsamque sedem Nordalbingorum Hammaburg dictam, in honore sancti Salvatoris sanctaeque eius intemeratae genetricis Mariae consecratam, archiepiscopalem deinceps esse decernimus.37 Der uns vorliegende Rimbert-Text enthält also Widersprüche und nicht zusammenpassende Aussagen. „Rimbert’s Vita“, so bringt es Eric Knibbs auf den Punkt, „aimed to solidify his claims to jurisdiction over Bremen, while emphasizing Hamburg as the proper see of the northern archdiocese.“38 Wir wissen heute, dass die entsprechenden Urkundenbelege Hludovics I. und Papst Gregors IV. von der Kirche gefälscht bzw. verfälscht worden sind,39 und dass schließlich Papst Nikolaus I. 864 auf der Grundlage eben dieser Dokumente ein Erzbistum Hamburg-Bremen bestätigte, in dieses das Kölner Suffraganbistum Bremen integrierte,40 an Anskar und dem ihn in Jahresfrist beerbenden Rimbert das Pallium verlieh und damit auch der Hamburger Gründungslegende zur historischen Glaubwürdigkeit verhalf. Das Erzbistum Hamburg-Bremen, so fasst Theuerkauf zusammen, „war seit dem letzten Drittel des 9. Jahrhunderts auf den Weg gelenkt worden, seine politischen Ziele auch durch Urkundenfälschungen argumentativ abzusichern.“41 Die Stadtarchäologie hat auf ihre Weise eindrucksvoll bestätigt, was die kritische Hinterfragung besagter Urkunden und Quellenwerke aufgedeckt hat, nämlich dass es nie eine Hamburger Erzdiözese und wohl auch nicht einmal eine nordelbische Diözese mit Sitz in Hammaburg gegeben hat. Solche Diözesen waren ohne große Sakralbauten, also Dome und klösterliche Zentren schwer denkbar. Die Stadtarchäologie aber stellt bezüglich Hammaburg II heraus, „dass jeder Hinweis auf eine sakrale Nutzung fehlt, der den Grabenbefund mit der Kirchengründung Anskars verbinden könnte. Von der älteren Hamburger Forschung wurde aber stets von einer Zusammengehö37 Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), 23, S. 72–78, Zitat S. 76, Z. 1–3 („Wir bestimmen, dass der zu Ehren des heiligen Erlösers und seiner unbefleckten Mutter Maria geweihte Bischofssitz der Nordalbingier mit Namen Hammaburg, fortan ein Erzbischofssitz sei“). 38 Eric Knibbs, Ansgar, Rimbert and the Forged Foundations of Hamburg-Bremen, Farnham, Burlington, 2011, S. 211. 39 Kölzer, „Gründungsurkunde“ (wie Anm. 34); Gerhard Theuerkauf, Urkundenfälschungen des Erzbistums Hamburg-Bremen vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 60 (1988), S. 71–140. 40 Dieser Vorgang wurde noch 890 von dem Kölner Erzbischof Herimann in einem Schriftverkehr mit den Päpsten Stephan V. und Formosus in Frage gestellt. „These documents lend the strong impression that the notion of an archdiocese at Hamburg had been all but forgotten by the 890s.“ […] „Stephan disagreed with Herimann’s attempts to minimize the significance of the pallium grant, while conceding that a grant of the pallium to a see that possessed no suffragans was of questionable legal significance.“ Knibbs, (wie Anm. 38), S. 212f., mit Quellennachweisen). Dabei bleibt ungeklärt, wie der Erzbischof von Mainz Hrabanus Maurus dazu kam, Anskar als seinen Suffraganbischof zu führen. 41 Theuerkauf, Urkundenfälschungen (wie Anm. 39), S. 140.

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rigkeit von Befestigung und Kirche ausgegangen.“42 Das trifft beispielsweise auf Heinrich Reincke zu, der die Erzählung Adams von Bremen zur Kirchengeschichte sogar noch ausweitet: „Das gesamte Gelände der Burg war vom Kaiser der Kirche in die Hand gegeben worden. An Stelle der Notkirche von 811 errichtete Anskar nunmehr einen ersten, wenn auch nur bescheidenen Dom von Stein.“43 Aus archäologischer Sicht hat „Ansgars Wirken in Hamburg keinerlei gesicherte Spuren hinterlassen“.44 Eventuell kommt als Standort einer kleinen Kirche Anskars „nur der ca. 80 m vom Nordtor der Befestigung entfernte Bereich der heutigen Kirche St. Petri in Betracht, was allein durch künftige Ausgrabungen zu überprüfen sein wird“.45 Mit der Zerstörung der rein weltlich genutzten Hammaburg II im Jahr 845 blieb der Ort für mehr als ein halbes Jahrhundert eine unbefestigte Siedlung. Das von den Dänen zerstörte Burgareal wurde in dieser Zeit umfassend planiert und aufgesiedelt. Diese Periode III ohne Befestigungen endete nach ca. 60 Jahren. „Die Siedlung wurde in der Zeit um 900 am Vorabend der Errichtung der Wall-Graben-Befestigung der Periode IVaufgegeben.“46 Auch die archäologische Erfassung der Innenbebauung der anschließend errichteten Hammaburg III47 ergab „keinerlei Hinweise auf einen Sakralbau des 10. Jahrhunderts“, der Nutzungszeit dieser befestigten Wehranlage, die ihrerseits „zu Beginn des 11. Jahrhunderts aufgegeben und geschleift worden ist.“48 Die Ringburg wurde nun durch einen nord-südlichen, das Geestplateau des Ortes abriegelnden Abschnittswall von gut 300 m Länge, den Heidenwall, ersetzt. Erst jetzt, in dieser Zeit ab dem zweiten Viertel des 11. Jahrhunderts, der Zeit der Erzbischöfe Unwan (1013–1029) und Bezelin Alebrand (1035–1043) ist Kirchenbautätigkeit (ein Dom, zunächst aus Holz, dann aus Stein) auf dem ehemaligen Burgplatz neben dem Heidenwall nachzuweisen.

42 Kablitz (wie Anm. 6), S. 75. 43 Reincke, Hamburgs Geschichte (wie Anm. 7), S. 7. Eine Übergabe Hammaburgs an die Kirche hat Reincke wohl Adams Text (siehe Zitat in Anm. 49) entnommen. Auch Klaus Richter geht 1982 noch von einer Bischofskirche Anskars „in der Mitte des Wallrunds der Hammaburg“ aus, allerdings von einer aus Holz: Klaus Richter, Hamburgs Frühzeit bis 1300, in: Hamburg. Geschichte einer Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, hrsg. Hans-Dietrich Loose, Hamburg 1982, S. 17–100, hier S. 36. 44 Weiss, Fakten und Fiktionen (wie Anm. 4), S. 30. 45 Ebd. 46 Kablitz (wie Anm. 6), S. 75. 47 Wir unterscheiden also zwischen Periode I (alte, sächsische Hammaburg I), Periode II (karolingische, von den Dänen zerstörte Hammaburg II), Entwicklungsperiode III (planiertes, aufgesiedeltes, unbefestigtes Areal) und der Periode IV im 10. Jahrhundert (Hammaburg III als Wall-Graben-Befestigung). Im 11. Jahrhundert wurde auch diese Ringburg beseitigt und durch den Heidenwall ersetzt. 48 Beide Zitate: Weiss, Fakten und Fiktionen (wie Anm. 4), S. 36.

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Adam von Bremen: Die Legende ist erstellt

Der Domkanoniker Magister Adam von Bremen schrieb sein Werk Gesta Hammaburgensis ecclesiae Pontificum ca. 200 Jahre nach Rimbert in den 70er Jahren des 11. Jahrhunderts zu der Zeit, als die erste Diözesankirche in Hamburg gerade gebaut worden war. In der Kontinuität der Kirchengeschichte Hamburgs gab es bei Rimbert eine Lücke, die Adam schloss: Quo tempore cum Sclavorum quoque gentes Francorum imperio subicerentur, fertur Karolus Hammaburg civitatem Nordalbingorum, extructa ibidem ecclesia, Heridago cuidam sancto viro, quem loci episcopum designavit, ad regendum commendasse.49

Magister Adam lokalisiert die frühe Heridac-Kirche nun kurzerhand in Hamburg. Außerdem habe Karol die Statthalterschaft über Hammaburg diesem Priester und designierten Bischof übertragen, womit ein weltlicher Graf als Befehlshaber ausscheidet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der Kaiser den Befehl über einen Ort mit Burg in einem Grenzmarkbereich einem militärisch unerfahrenen Kleriker anvertraut haben könnte. Dafür hatte der weltliche Herrscher eine Reihe von Grafen.50 Mit diesem Zusatzpunkt Adams ist der von Anskar selbst,51 Rimbert und Adam geflochtene Kirchenmythos um die Gründung und frühe Bedeutung Hammaburgs erstellt. Alles gehe auf Kaiser Karol I. zurück: Die Planung eines transelbischen Erzbistums für den Norden mit einem Hamburger Metropolitansitz und eine erste praktische Umsetzung durch die Gründung der HeridacKirche in Hamburg; Kaiser Hludovic I. habe die Pläne seines Vaters zusammen mit dem Papst in Rom weiterverfolgt und den Apostel des Nordens und Erzbischof von Hamburg Anskar gefördert, der schließlich das Bistum Bremen in sein Erzbistum Hamburg integrierte. Civitas und urbs Hammaburg fungierten also nach diesem Narrativ von Beginn des 9. Jahrhunderts an als bedeutender Ort und kirchliche Zentrale für die Missionierung der Länder nördlich der Elbe.

49 A.v.Br. (wie Anm. 28), c. I.14, S. 184, Z. 8–12 („Zu diese Zeit, als auch slawische Völker dem Reich der Franken unterworfen wurden, soll Karolus in Hammaburg, einem Ort der Nordalbingier, eine Kirche errichtet haben und die civitas einem geweihten Mann namens Heridag, den er als Bischof für diesen Ort vorsah, zur Verwaltung anvertraut haben.“). 50 In den Annales regni Francorum (Jahr 819) ist die Rede von einer Strafaktion gegen die Abodriten per praefectos Saxonici limitis et legatos imperatoris. Ann. reg. Fr. (wie Anm. 10), Jahr 819, S. 116, Z. 30 („durch die Befehlshaber des Grenzgebietes der Sachsen und die Gesandten des Kaisers“). Diese praefecti waren sicher u. a. die Befehlshaber der Grenzburgen. 51 So zumindest die Argumentation von Eric Knibbs, dessen Analyse der Urkunde Hludovics I. von 834 ergibt, dass abgesehen von einem richtigen Kern, „the rest of the material, comprising the long narratio and the donation of Turholt, is an early interpolation that can be attributed only to Ansgar or his supporters at Corvey.“ Knibbs, (wie Anm.38), S. 106.

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Diese Gründungslegende geistert bis heute durch die Geschichte. Sie erhielt noch im 12. Jahrhundert quellenähnliche Bestätigung durch Helmold von Bosau, der in seiner Chronica Slavorum die frühe Geschichte unter Karol und Hludovic fast im Wortlaut übernahm.52 Wenn es im Mittelalter um die Führung politischer und ideologischer Machtkämpfe ging, war der Klerus im Gegensatz zu den schriftunkundigen weltlichen Herrschaften in der Lage, mit der nur ihm zur Verfügung stehenden Welt der Schriftlichkeit die Wirklichkeit im eigenen Interesse kaum anfechtbar zurechtzubiegen.53 Jahrhunderte war es nicht möglich, kirchliche Würdenträger als machtorientierte Dokumentenfälscher zu entlarven. Innerkirchlich in den Kanzleien und Domkapiteln wird man sich angesichts der verbreiteten Fälschungspraxis gegenseitig nicht getraut haben. Vor der Gesellschaft wurde aber im übergeordneten Interesse der Schein ehrwürdiger, gottgewollter Integrität gewahrt. 1118 und 1123 sandte der Scholastiker und spätere Bischof von Oldenburg Vizelin dem Kloster Abdinghof/Paderborn Reliquien und Viten von Willehad, Anskar und Rimbert.54 Wer hätte es gewagt, solche Heiligen und Märtyrer, solche Vorbilder im Glauben und Fundamente der Kirche als Machtmenschen, Wahrheitsbeuger und skrupellose Kulturkämpfer zu enttarnen?55 52 Der Karol – Heridac – Hammaburg – Mythos: Helmold von Bosau, Chronica Slavorum Slawenchronik, hrsg. u. übers. Heinz Stoob, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe, 29), Darmstadt 1963 [in Folgenden: H. v. Bos.], S. 44, Z. 33–S. 46, Z. 6; Ad. v. Br. (wie Anm. 28), c. 14, S. 184, Z. 8–15. Der Anskar – Erzbischof – Hammaburg – Mythos: H. v. Bos., S. 48, Z. 9–15; Ad. v. Br. (wie Anm. 28), c. I.15– 16, S. 186–190. 53 Alfred Wendehorst, Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben?, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, hrsg. Johannes Fried, Sigmaringen 1986, S. 9–33. 54 Heinz Stoob in H. v. Bos. (wie Anm. 52), S. 175 Anm. 2. 55 Die Forschung zu Fälschungen im Mittelalter, befördert vor allem durch Horst Fuhrmann seit den 60er Jahren, fand 1986 einen Höhepunkt durch einen großen Kongress der MGH (Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, 16.– 19. September 1986, 5 Bde., Hannover 1988 mit über 150 Beiträgen). Rezensierend spricht Bernd Schneidmüller von „3730 Druckseiten über Lüge, Betrug, Täuschungen, Irrtümer, Vorspiegelungen falscher Tatsachen und Verfälschungen“, die „in der Ballung fast die Notwendigkeit zur Zusammenfassung von Wahrheiten“ erwecken (Bernd Schneidmüller, Zwischen frommer Lüge und schnödem Betrug: Fälschungen im Mittelalter, in: Archiv für Kulturgeschichte 73 (1991), S. 215–232, hier S. 217). Zu einer solchen Zusammenfassung findet die Forschung nicht und präsentiert „Wahrheiten“ in einer Spannweite von falsitas pia bis reprehensibilis. „The forgers’ defenders appear as upholders of all the other side allegedly seeks to subvert.“ (Elizabeth A. R. Brown, Falsitas pia sive reprehensibilis. Medieval Forgers and Their Intention, in: Fälschungen (wie oben), Bd.1, S. 101–119 hier S. 102). Man bearbeitet die Probleme der Fälschungen und ihrer Produzenten in einer solchen verwirrenden Breite von Ansätzen und Bewertungsmaßstäben, dass eine vereinheitlichende theoretische Grundierung der Fälschungsproblematik nicht erkennbar ist und nicht möglich erscheint. Von daher macht es Sinn, zumindest stichpunktartig das Grundverständnis zu den Fälschungen im Mittelalter in diesem Aufsatz zu umreißen. Die Feudalgesellschaft des christlichen

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Anskar und nordische Mission

Die Effektivität und Nachhaltigkeit fränkisch-karolingischer Unterwerfung fremder Völkerschaften bestand in einer Doppelstrategie aus einerseits direkter kriegerischer Aggression und andererseits religiöser Spaltung und kultureller Zersetzung. Beide Aspekte verschoben im Verlauf der politischen Entwicklung ihre wechselseitige Gewichtung, waren aber immer vorhanden, denn sie bedingten sich gegenseitig. Zu Zeiten der europäischen Eroberungen Karols I. und Abendlandes beruhte auf zwei Säulen – auf der weltlichen Macht eines Kriegeradels, den bellatores, und der geistlich-seelischen Macht einer klerikal organisierten Adelsabteilung, den oratores. Diese privilegierten Stände beherrschten zusammen in Funktionsteilung die Masse der laboratores, die arbeitenden entrechteten bäuerlichen Unterschichten dieser mittelalterlichen Klassenwelt. Klerus und Kirche fiel die Aufgabe zu, religiösen Glauben politisch als Staatsreligion zu instrumentalisieren. Ihre grundlegende Funktion bestand darin, eine Weltsicht zu verbreiten, in der die aristokratischen Bevollmächtigten der Gottheit den Menschen Unterwürfigkeit und Duldsamkeit mit dem Ziel predigten, die gesellschaftlichen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse zu ertragen, widerstandslos dem Beispiel heiliger Männer und Märtyrer nachzueifern und auf ihr späteres Seelenheil zu hoffen. Der Weltanschauung der römischen Papstkirche ist mit Fälschungsvorwürfen nicht beizukommen. Ihr gesamtes dogmenbasiertes Lehrgebäude ist per se eine gezielte Verfälschung der Welt und ihrer gesellschaftlichen Realität. Die Kirche besteht zwangsläufig aus Doppelmoral zwischen ideologischer Predigt und politischer machtbasierter Wirklichkeit. Sie muss permanent auf die Weiterentwicklung von Gesellschaft reagieren. Sie muss ihre Kernkompetenz der mentalpsychischen Lenkung der Menschen in gewünschte Bahnen aktualisieren, d. h. sie muss ihre an sich unverrückbaren gottgegebenen dogmatischen Lehren irgendwie glaubwürdig verändern, uminterpretieren und neu gewichten, um den Zugriff auf die Menschen über die Macht des Glaubens nicht zu verlieren. In der hier behandelten Zeit des 9. bis 11. Jahrhunderts standen die schriftliche Manipulation und Fälschung hoch im Kurs, denn sie waren noch kaum aufzudecken. Die Fälschungspraxis war das alleinige Geschäft entsprechend befähigter und ausgebildeter Kleriker, denn wer Urkunden fälschen, bzw. fromme Narrative oder erneuerte weltanschauliche Theorien in Umlauf bringen wollte, musste lesen und schreiben können. Als aristokratischer Zweckverband unterlag die Kirche den Machtkämpfen auf der obersten Ebene der Herrenklasse der Zeit. Die bedeutungsschwerste Auseinandersetzung war das prinzipielle Ringen zwischen weltlicher und geistlicher Macht, zwischen der Kriegeraristokratie und den Prälaten der Kirche des Abendlandes (Investiturstreit). In diesen Machtkämpfen warf der Klerus immer mit tiefgreifenden Fälschungen seine ganze intellektuelle Kompetenz in die Waagschale (Konstantinische Schenkung, pseudoisidorische Dekretale oder Decretum Gratiani). Auch innerhalb der Kirche, zwischen und auf den Ebenen der Kirchenhierarchie selbst, spielten sich Verteilungskämpfe um lukrativen Besitzzuordnungen und politische Machtstrukturen zwischen Äbten, Bischöfen, Erzbischöfen und der päpstlichen Kurie in Rom ab. Fälschungen waren in diesem Milieu der Scheinheiligkeit ein bevorzugtes Mittel der Auseinandersetzung und Methode der Übervorteilung. Es kann nicht um moralisierende, anklagende Entlarvungen oder wohlwollende Rechtfertigungen gehen. Der historischen Forschung stellt sich die oft kriminalistische emotionslose Aufgabe, die Methoden und Strukturen sichtbar zu machen, mit denen parasitäre Besitzeliten im Mittelalter ihre ständische Klassenherrschaft vollzogen und absicherten. Das Verdienst bisheriger Forschung besteht vor allem darin, die ausufernde Verbreitung und die skrupellose Gründlichkeit mittelalterlicher Fälschungspraxis aufgedeckt zu haben.

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seiner Sachsenkriege war das Handeln des fränkischen Kriegsherrn durch harte Kriegsführung und teilweise ungebremste Brutalität gekennzeichnet. Die oft gewaltsame christliche Bekehrung, d. h. Kapitulation und Unterwerfung durch Zwangstaufen, zeigt die christliche Mission der Zeit in ihrem wahren Licht. Die langfristig erfolgreichere, aber sehr mühselige und nicht ungefährliche Missionstaktik bediente sich hingegen gegenüber unabhängigen, militärisch noch nicht eroberten Ländern eines anderen Vorgehens. Es wurden gezielt einzelne befähigte Missionsprediger eingesetzt, deren Aufgabe wesentlich darin bestand, in der Fremde kirchliche Stützpunkte in der Art kleiner Taufkirchen und erste kleine Gemeinden mit Zustimmung eines heidnischen Fürsten in einer von alten Stammesreligionen geprägten Gesellschaft einzurichten. Diese kirchlichen Brückenköpfe eines planmäßigen Kulturkampfes bildeten gewissermaßen die Vorhut einer nachfolgenden großflächigen Unterwerfung und Besitznahme des Landes und seiner dann abgabepflichtig gemachten Menschen durch Burgen und Klöster sowie der Neuorganisation des Landes durch eigene Besitz- und Verwaltungseinheiten in Form von Grundherrschaften, Grafschaften und Kirchspielen. Ein solcher Missionar war ein von der päpstlichen Zentralmacht bestimmter, gebildeter, politisch-diplomatisch fähiger, standfester Glaubenskrieger. Ein für die Nordmission zuständiger Kleriker dachte sicher realistisch genug, nicht anzunehmen, durch vereinzelte Kirchengründungen wie im dänischen Haithabu oder Ribe und dem schwedischen Birka hoch im Norden eine ganze Bevölkerung bekehren zu können. Der Erfolg der Mission konnte sich noch nicht an der reinen Zahl der Getauften festmachen. Die Bedeutung der Missionsarbeit bestand vielmehr darin, die innere ideologische und kulturelle Spaltung in einen Stammesadel hineinzutragen, von dem in jener Zeit des 8. und 9. Jahrhunderts bereits Fraktionen mit abgehobenem Standesinteresse für einen privilegierten Rang in der fränkischen Adelshierarchie und der lateinischen Kirche empfänglich wurden. Wer die Götter wechselte und sich taufen ließ, dem eröffneten sich Herrschaftsperspektiven. Die fränkische Mission entwickelte sich gesellschaftlich von oben nach unten,56 denn, so Flaskamp: „Die Könige halten immer zu den Göttern, die ihrer Herrschaft günstig sind.“57 Die nordische Missionsarbeit Anskars wird in neueren Arbeiten kritisch als völliger Fehlschlag eingeschätzt.58 Der Erfolg von Verkündigung und missiona56 Franz Flaskamp, Die frühe Friesen- und Sachsenmission aus northumbrischer Sicht. Das Zeugnis des Beda, in: Archiv für Kulturgeschichte 51 (1969), S. 183–209, hier S. 194. 57 Ebd., S. 189. 58 „Wreckage of Ansgar’s mission“, „Failure of the Danish Mission, 834–848“. Knibbs, (wie Anm. 38), S. 223, 124ff. Mission ohne jegliche Breitenwirkung. „Die scharfe, ja überscharfe Ausleuchtung, die etwa Anskars Verkündigungsarbeit erfährt, übrigens zu Lasten des Reimser Erzbischofs Ebo, täuscht eine Erfolgsbilanz vor, die zu den Realitäten der Chris-

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rischem Wirken kann nur an den Aufgaben gemessen werden, die sich aus der Expansionsstrategie eines auf grundherrschaftliche Besitzverhältnisse gestützten christlich-karolingischen Staates für seine Missionsexperten stellten. Mit konzertierter weltlicher und kirchlicher Macht fasste man vor allem in der dänischen Stammeselite Fuß, in deren innere Auseinandersetzungen das fränkische Reich im 9. Jahrhundert immer auf diese oder jene Weise involviert war.59 Rimbert berichtet vom Scheitern der Schwedenmission 845, ut populus Sueonum furore zeli accensus praefatum Gauzbertum episcopum insidiose persequi coeperit und contumelia et opprobriis affectos a finibus suis expulerunt.60 Ein gewisser Missionserfolg wird sichtbar, wenn Rimbert zugleich klarstellt: Quod tamen non regio iussu factum, sed populari tantum conspiratione est perpetratum.61 Die machtpolitische Missionstaktik des fränkischen Staates scheiterte insofern in Skandinavien, als die dortige Adelselite später mit eigenem Erzbistum (Lund) das Christentum mit ihren eigenen Interessen verschmolz und die Macht der europäischen Papstkirche ausweitete. Die Weltanschauung der sich über Jahrhunderte ausbreitenden europäischen Feudalgesellschaft, des christlichen Abendlandes, wurde von der römisch-lateinischen Kirche und ihren oft heiliggesprochenen Protagonisten bestimmt.62 Die Papstkirche verteidigte mit ausgefeilten geistlichen und psychologischen Methoden und im späteren Mittelalter auch mit inquisitorisch-terroristischen Mitteln ihre absolute ideologische Vormacht und weltliche Machtposition. Humanismus, Protestantismus und Aufklärung verschoben zwar später die Gewichte innerhalb von Glauben und Kirchenmacht, allerdings nur als Anpassung an die Interessen neuer, aufstrebender, vorwiegend bürgerlicher Gesellschaftskräfte. Die ideologische Basis „christliches Abendland“ und die sich daraus ergebende angebliche zivilisatorische Überlegenheit Europas bildete immer die weltanschauliche Grundlage der herrschenden Klassen Europas bis in die Jetztzeit hinein.

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tianisierung Skandinavien im 9. Jahrhundert in krassem Widerspruch steht. Die schriftliche Überlieferung ist völlig einseitig, sie muss durch gleichsam negative Befunde ins Lot gebracht werden.“ Dieter Hägermann, Ulrich Weidinger, Bremische Kirchengeschichte im Mittelalter, Bremen 2012, S. 40–41. Volker Helten, Zwischen Kooperation und Konfrontation. Dänemark und das Frankenreich im 9. Jahrhundert, Köln 2011. Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), c. 17, S. 52 Z. 23–25 u. Z. 30f. („dass das Schwedenvolk voll Wut und Empörung den genannten Bischof Gauzbert heimtückisch zu verfolgen begann.“ Gauzbert und seine Begleiter „jagten sie mit Schimpf und Schande außer Landes“). Ebd., Z. 31f. („Wenigstens geschah das alles nicht auf königlichen Befehl, sondern nur infolge einer Verschwörung des Volkes.“). Ich folge mit dieser Einschätzung Robert Bartlett, The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change 950–1350, London u. a. 1993. Siehe auch: Reinhard Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland, Köln u. a. 2016, S. 578–586.

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In der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts führte die gesellschaftliche Grundprägung „christliches Abendland“ durchgängig zu Rechtfertigungsstrategien, wenn man auf Grund geschichtswissenschaftlicher Quellenarbeit auf Fälschungen stieß, aber vor einer Entlarvung kirchlicher Machenschaften zurückschreckte.63 Selbst in neuester Zeit finden sich Hinweise auf apologetische Wissenschaftsunterfütterung. Noch 2012 liest man bei Hägermann/Weidinger von „der christlichen Religion, Ausdruck auch höherer Zivilisation“.64 Wenn man unter „Zivilisation“ die Form gesellschaftlichen Zusammenlebens und den Ausdruck des Verhältnisses der Gesellschaftsmitglieder zueinander versteht, ist es angesichts globalisiert betrachteter Weltgeschichte eine gewagte These, die christliche Religion zum Merkmal höherer, d. h. höherwertiger Gesellschaftsformation zu erklären und damit das dogmatische Selbstbildnis einer jahrhundertealten Prälatenkirche wie selbstverständlich zu präjudizieren und zur Grundlage historischer Bewertung zu machen. Das führt zu realitätsfernen Disputen über Anskar und seine Bedeutung.65 Die Karriere dieses Klerikers in der Kirchenhierarchie stellte für die großen Fragen der Zeit ein eher zweitrangiges Problem dar – es sei denn, man folgt dem Selbstbild der Kirche und heroisiert ihn zum Heiligen, Märtyrer und Apostel des skandinavischen Nordens.

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Schlusswort

Der Gründungsmythos Hammaburg mit seinen zentralen Kultgestalten „Karl dem Großen“ und dem „Apostel des Nordens Anskar“ ist im Selbstverständnis und der öffentlichen Darstellung der Stadt Hamburg tief verwurzelt. Nach der 63 1866 meinte Karl Koppmann : „[…] eine Reihe von Fälschungen und Interpolationen kann nur aus dem Bestreben entstanden sein, das Recht, das man wirklich besaß, als durch eine ausschließlich von Hamburg ausgehende missionarische Thätigkeit erworben, und als von Anfang an in ununterbrochener Continuität und für jeden der bestrittenen Theile ausdrücklich, von den früheren Päpsten anerkannt, darzustellen.“ Koppmann (wie Anm. 35), S. 484. Durch Zirkelschlüsse schafft es Koppmann, gefälschte Quellen sich gegenseitig beglaubigen zu lassen: „Die Urkunde Gregor’s, das ist das Ergebnis, stimmt also fast vollständig mit derjenigen Nikolaus überein; diese ist durch Rimbert’s Abschift beglaubt und erhärtet wiederum durch diese Uebereinstimmung die Echtheit jener, die auch an und für sich nichts Anstößiges enthält, und durch die genannten Abweichungen von der späteren Bestätigung keinen Grund zum Verdachte giebt, sondern im Gegentheil weitere Beglaubigung empfängt.“ Ebd., S. 498. 64 Wenn damals u. a. skandinavische Bauern Wirtschaftszentren des Kontinents aufsuchten, machten sie „dabei Bekanntschaft mit der christlichen Religion, Ausdruck auch höherer Zivilisation.“ Hägermann, Weidinger (wie Anm. 58), S. 39. 65 „Auf wenige Fragen der karolingischen Kirchengeschichte gibt es so viele unterschiedliche Antworten wie auf die nach Anskars kirchlichem Status und der Gründung eines Erzbistums Hamburg Bremen.“ Henrik Janson, Ansgar und die frühe Geschichte des Erzbistums Hammaburg, in: Weiss, Klammt (wie Anm. 3), S. 262–279, hier S. 262.

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Gründungslegende waren es weltliche und christliche Zivilisationsbringer, die von der civitas und urbs Hammaburg aus die unbotmäßigen nordelbischen Sachsen unter das Joch Christi zwangen66 und dasselbe im skandinavischen Norden anstrebten. Die Akteure waren keine Heilsbringer, sondern ein sich Grundbesitz aneignender Hochadel. Reichsgrafen durchzogen an der Spitze von Kampftruppen erobertes Land, die das Vieh der Getauften requirierten und deren Vorratslager ausräumten. Bischöfe und Äbte nötigten die Produzenten zur Abgabe des Kirchenzehnten, auch wenn diesen kaum genug von ihren schwankenden Ernten und dem Vieh übrigblieb. Die Gesellschaft wurde von einer staatlichen und klerikalen Besitzelite geformt und befehligt,67 der diese Bevölkerung sub iugum Christi zwar alle Lebensgrundlagen lieferte, es aber nicht wagen durfte, gegen solche einseitigen Verhältnisse aufzubegehren. Eine Stadt wie Hamburg hat eine einem Gründungsmythos folgende Sinnstiftung nicht nötig. Ich sehe auf dem Geestsporn an der Alstermündung in die Elbe erste Hamburger, die in mühevoller Plackerei erst Ringgräben zuschaufelten und planierten, um anschließend neue Gräben auszuheben und Wälle hochzuziehen, die Wald rodeten und die Stämme für Palisaden und die Burgbefestigung herrichteten. Ich habe Menschen vor Augen, die ihre Hütten und Kähne bauten, die ihre Felder anlegen, sie bearbeiten und ihre Tiere versorgen mussten, damit sie durch den nächsten Winter kamen, die das Flussufer mit Pfählen befestigten, und mit der Tide kämpften, Knüppeldämme anlegten und eine kleine Holzkirche für ihr Seelenheil errichteten. Ich plädiere also für ein Hamburg derjenigen, die schon immer diese Stadt eigenhändig gebaut, vergrößert, verschönt und nach Katastrophen immer wieder neu aufgebaut haben – im neunten genauso wie im zwanzigsten Jahrhundert.

66 Rim. Vit. Ansk. (wie Anm. 14), c. 12, S. 42, 44, Z. 35,1 (omnem Saxoniam ferro perdomitam et iugo Christi subditam). 67 Hierzu: Hans-Werner Goetz, Die „private“ Grundherrschaft des frühen Mittelalters im Spiegel der St. Galler Traditionsurkunden, in: Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen in der frühmittelalterlichen Grundherrschaft (bis ca. 1000), hrsg. Brigitte Kasten, Stuttgart 2006, S. 111–137; Ludolf Kuchenbuch, Grundherrschaft im früheren Mittelalter, Idstein 1991; Dieter Hägermann, Der Abt als Grundherr. Kloster und Wirtschaft im frühen Mittelalter, in: Herrschaft und Kirche, hrsg. Friedrich Prinz, Stuttgart 1988, S. 345–385; Ludolf Kuchenbuch, Die Klostergrundherrschaft im Frühmittelalter. Eine Zwischenbilanz, in: Ebd., S. 297–343.

Philippe Depreux

Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris durch die Wikinger in den Jahren 885–887

Im Jahr 2020 hat die Freie und Hansestadt Hamburg die Finanzierung einer Forschungsgruppe zum Thema „Gewalt-Zeiten. Temporalitäten von Gewaltunternehmungen“ bewilligt, in der der „Messung von Zeit und Bewegung“ eine große Bedeutung beigemessen wird. Möge der Jubilar, der sich mit diesem Thema – wenn auch unter einem völlig anderem Blickwinkel – beschäftigt hat1 und dem das Interesse für Schlachten nicht fremd ist,2 diese kleine Überlegung über den feindseligen Auftritt von Menschen aus dem ihm vertrauten „Norden“ am Ort meiner alma mater (die Wikinger3 haben sowohl Paris als auch unser beider Wirkungsstätte Hamburg heimgesucht!4) als Dankeschön eines Kollegen 1 Jürgen Sarnowsky, Zur Messung von Zeit und Bewegung: Einige spätscholastische Kommentare zum Ende des vierten Buchs der aristotelischen Physik, in: Mensura. Maß, Zahl, Zahlensymbolik im Mittelalter, hrsg. Gudrun Vuillemin-Diem, Albert Zimmermann, Band 1 (Miscellanea mediaevalia, 16), Berlin/New York 1983, S. 153–161. Zur Bedeutung der Zeitwahrnehmung im Mittelalter siehe auch Arno Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, 28), Berlin 1990; Stefan Burkhardt, Tempus fugit? Zeit und Zeitlichkeit im Mittelalter, in: Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung, hrsg. Katja Patzel-Mattern, Albrecht Franz (Studien zur Geschichte des Alltags, 30), Stuttgart (2015), S. 55–76. 2 Jürgen Sarnowsky, Eroberungskriege I: Schlacht von Hastings. Das Ende Altenglands, in: Krieg im Mittelalter, hrsg. Gerd Althoff u. a., Darmstadt 2017, S. 49–54. 3 Im Folgenden wird stets von den „Wikingern“ gesprochen, weil dieser Begriff uns am Geläufigsten ist; stattdessen wird in den zeitgenössischen Quellen meistens von den „Normannen“ oder – präziser – von den „Dänen“ gesprochen; dazu siehe Horst Zettel, Das Bild der Normannen und der Normanneneinfälle in westfränkischen, ostfränkischen und angelsächsischen Quellen des 8. bis 11. Jahrhunderts, München 1977, S. 44. 4 Annales Fuldenses, a. 845, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Band 3: Jahrbücher von Fulda, Reginos Chronik, Notkers Taten Karls, hrsg. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 7), Darmstadt 1969, S. 32; Annales Bertiniani, a. 845, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Band 2: Jahrbücher von St. Bertin, Jahrbücher von St. Vaast, Xantener Jahrbücher, hrsg. Reinhold Rau (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 6), Darmstadt 1969, S. 64–66; dazu siehe Horst Ralf, Wikinger vor Paris und Hamburg: ein Vergleich der Ereignisse 845 und 885/886, in: Natur- und Landeskunde. Zeitschrift für Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg 110 (2003), S. 1–12.

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für die gute Arbeitsstimmung im Fachbereich Geschichte, die eben ein solches kollektives Forschungsvorhaben fördert, annehmen, auch wenn er selbst angesichts der anstehenden Emeritierung nicht an Bord gegangen ist. Die Belagerung von Paris in den Jahren 885 bis 887 spielt eine große Rolle in der französischen Meistererzählung der Königswerdung Odos, des Sohnes Roberts des Tapferen, der sich einst einen Namen durch die Abwehr gegen die Wikinger im Tal der Loire gemacht hatte;5 sie ist das „berühmteste“ Beispiel einer Stadtbelagerung durch die Wikinger.6 Neben den nach dem Kloster Saint-Vaast bei Arras benannten sehr zuverlässigen7 Annales Vedastini ist das Gedicht des Abbo von Saint-Germain-des-Prés bei Paris die Hauptquelle zu diesem Ereignis.8 Abbo schrieb einige Jahre im Nachhinein: Sein (möglicherweise leiblicher) „Bruder“ Gozlin habe ihn seit langem darum gebeten, die Geschehnisse der Belagerung von Paris durch die Wikinger niederzuschreiben und bei dieser Gelegenheit die Taten des dortigen Grafen, Odo, der zum König erhoben werden sollte,9 zu preisen.10 Möglicherweise wurde das Werk etwa zehn Jahre nach den Ereignissen verfasst.11 5 Reinhard Schneider, Odo, 888–898 in: Die französischen Könige des Mittelalters, von Odo bis Karl VIII., 888–1498, hrsg. Joachim Ehlers, Heribert Müller, Bernd Schneidmüller, München 1996, S. 12–21; Pays de Loire et Aquitaine de Robert le Fort aux premiers Capétiens. Actes du colloque scientifique international tenu à Angers en septembre 1987, hrsg. Olivier Guillot, Robert Favreau (Mémoires de la Société des Antiquaires de l’Ouest, 5, 4), Poitiers 1997. 6 Zettel, Das Bild der Normannen (wie Anm. 3), S. 257. Der Autor widmet einige Seiten der Taktik der Wikinger (S. 250–262); mehr als ein allgemeiner Überblick anhand von zerstreuten Beispielen ist in dieser Studie nicht zu finden. 7 Dazu siehe Olivier Guillot, Les étapes de l’accession d’Eudes au pouvoir royal, in: Media in Francia. Recueil de mélanges offert à Karl Ferdinand Werner à l’occasion de son 65e anniversaire par ses amis et collègues français, Paris 1989, S. 199–223. 8 Walther Vogel, Die Normannen und das fränkische Reich bis zur Gründung der Normandie (799–911) (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 14), Heidelberg 1906, S. 324, Anm. 6. 9 Abbon, Le siège de Paris par les Normands. Poème du IXe siècle, hrsg. Henri Waquet (Les Classiques de l’Histoire de France au Moyen Âge), Paris 1942 (fortan: Abbon, Le siège de Paris), S. 18 (I, v. 45–46), S. 30 (I, v. 45–46); ebd., S. 98–100 (II, v. 442–451). Der letzte Abschnitt (etwa 160 Verse) besingt die Regierung Odos: ebd., S. 100–112 (II, v. 452–618). Es sei auch auf eine partielle Übersetzung ins Deutsche und zwei Übersetzungen ins Englische hingewiesen: Abbo von Saint-Germain-des-Prés, Bella Parisiacae urbis, Buch I. Lateinischer Text, deutsche Übersetzung und sprachliche Bemerkungen von Anton Pauels (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, 15), Frankfurt a.M. 1984; Anthony Adams und Arthur George Rigg, A verse translation of Abbo of St. Germain’s Bella Parisiacae urbis, in: The journal of medieval Latin 14 (2004), S. 1–68; Nirmal Dass, Viking attacks on Paris. The Bella parisiacae urbis of Abbo of Saint-Germain-des-Prés (Dallas medieval texts and translations, 7), Paris 2007. 10 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 2 (Widmungsbrief): Tuae admodum mihimet acceptissime¸ germanitatis affectio sibimet dudum destinari crebro poposcit, ut bellorum Parisiace¸ polis, pre¸cellentissimi quoque principis ab examine regni hucusque Odonis, nostro

Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris

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Die Frage danach, ob dem Mönch aus Saint-Germain-des-Prés, der sich auch in theologischer bzw. pastoraler Hinsicht mit den Wikingerüberfällen auseinandergesetzt hat,12 zu trauen sei, ist nicht einfach zu beantworten. Allein die dichterische Gattung ist problematisch, denn es gehört zu diesem Genre, im Gegensatz zur Prosa, einfache Dinge in komplizierter Form zu beschreiben. Dennoch ist in Erwägung zu ziehen, dass es Abbos Anspruch war, zukünftigen Stadtverteidigern (tutores urbium) konkrete Beispiele zu geben.13 Wird jedoch nach der handschriftlichen Überlieferung geurteilt, blieb dieser Wunsch unerfüllt, denn die beiden ersten Bücher von Abbos Werk, die die Belagerung von Paris thematisieren, haben – im Gegensatz zum dritten Buch, das der moralischen Erbauung der Geistlichen gewidmet war – keine Rezeption außerhalb des Klosters erfahren.14 Die Belagerung von Paris dauerte Monate. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass die Wikinger die Stadt an der Seine heimsuchten.15 Diesmal siedelten sie sich vor der Stadt an. Nach einer mehrtägigen Schlacht Ende November / Anfang Dezember 885 und Anfang Februar 886 verwüsteten sie dann ganz Neustrien – anscheinend mit Paris als Rückzugsort;16 im folgenden Jahr waren sie erneut vor den Mauern und Brücken von Paris. Bevor Abbos Bericht, der im Fokus dieser Abhandlung steht, untersucht wird, sei die Zusammenfassung der Geschehnisse aus den Annales Vedastini zitiert: Durch diesen Sieg sehr übermütig geworden, zogen die Normannen vor Paris und griffen hier sofort einen Turm an; sie hofften aber, da er noch nicht vollständig befestigt war, ihn alsbald erobern zu können. Die Christen verteidigten ihn jedoch mannhaft, und der Kampf währte vom Morgen bis zum Abend; die Nacht unterbrach endlich den Kampf, und so kehrten die Normannen für diese Nacht zu ihren Schiffen zurück. Bischof Gauzlin aber und Graf Odo arbeiteten mit den Ihrigen diese ganze Nacht hindurch, um den Turm

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genitum labore codicellum didicit, tam contigui studiosa ingenioli quam fraterni insuper non inmemor flagri. Adams und Rigg, A verse translation (wie Anm. 9), S. 15. Abbo von Saint-Germain-des-Prés, 22 Predigten. Kritische Ausgabe und Kommentar, hrsg. Ute Önnerfors (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters, 16), Frankfurt a. M. 1985; Charles West, Fratres, omni die videtis cum vadit istud regnum in perdicionem: Abbo of Saint-Germain and the Crisis of 888, in: Reti medievali 17/2 (2016), S. 301–317. Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 4 (Widmungsbrief): Denique huius aeliminata directionis causa, aequum autumatur depromi geminas etiam opusculi inchoationis: quarum siquidem prima fuerit causa exercitationis […]; altera vero mansuri aliarum tutoribus urbium exempli. Zur Handschrift Paris, BnF, lat. 13833 siehe Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. XV– XVI; zur handschriftlichen Überlieferung von Buch III siehe Adams und Rigg, A verse translation (wie Anm. 9), S. 3. Siehe Vogel, Die Normannen und das fränkische Reich (wie Anm. 8), passim; siehe auch oben Anm. 3. Annales Fuldenses (wie Anm. 4), a. 886, S. 142.

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zur Vorbereitung für den Kampf noch mehr zu befestigen. Am andern Tage eilten die Normannen wieder herbei vor diesen Turm zum Sturm und es gab einen harten Kampf bis zum Sonnenuntergang. Aber, nachdem die Dänen viele der Ihrigen verloren hatten, kehrten sie zu ihren Schiffen zurück. Dann aber errichteten sie der Stadt gegenüber eine Burg und schickten sich zur förmlichen Belagerung an, bauten Kriegsmaschinen, versuchten Feuer anzulegen und setzten ihr ganzes Können ein, um die Stadt zu gewinnen; aber die Christen kämpften tapfer gegen sie und behaupteten sich in allem als Sieger.17

Nach einer Unterbrechung setzt der Annalist seinen Bericht zum Jahr 886 fort: Im Jahre des Herrn 886 am 6. Februar traf aber die Bewohner der Stadt ein schweres Missgeschick. Ein bedeutendes Wachsen des Flusses zerriss nämlich die kleinere Brücke. Als dies der Bischof hörte, sandte er noch in der Nacht von den Seinigen edle und tapfere Männer zum Schutz des Turmes, damit die Brücke mit anbrechendem Morgen wiederhergestellt würde. Den Normannen aber blieb dies durchaus nicht verborgen. Sie erhoben sich vor dem Morgenrot, eilten in größter Menge zu diesem Turm, umringten ihn von allen Seiten, damit man von der Stadt aus denen, die darin waren, keine Hilfe bringen könne, und machten sich daran, ihn zu erstürmen. Und da die, welche innerhalb des Turmes sich befanden, heftigen Widerstand leisteten, stieg das Geschrei der Menge bis zum Himmel, während der Bischof auf der Mauer der Stadt mit allen denen, welche in der Stadt waren, laut klagten und weinten, dass sie jenen nicht Hilfe leisten konnten, und da er nichts anderes zu tun vermochte, empfahl er sie Christo. Die Normannen aber gelangten im Sturm an das Tor des Turms und legten Feuer daran. Und die, welche darin waren, wurden, ihren Wunden und dem Feuer unterliegend, gefangen genommen, zur Schmach der Christenheit auf verschiedene Weise getötet und in den Fluss geworfen. Darauf zerstörten sie diesen Turm und setzten dann die Belagerung der Stadt fort.18

17 Annales Vedastini, in: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Band 2 (wie Anm. 4), p. 308–311 : Hac Nortmanni patrata victoria valde elati Parisius adeunt turremque statim aggressi valide obpugnant, et quia necdum perfecte firmata fuerat, eam se capi sine mora existimant. At Christiani viriliter eam defendunt, et factum est proelium a mane usque ad vesperum, noxque dirimit proelium; atque ita Nortmanni ea nocte regressi ad naves. Gauzlinus vero episcopus et Odo comes tota nocte cum suis laboravere, suam obfirmantes turrim ad praeparationem pugnae. Sequenti die iterum Nortmanni accurrunt ad ipsam turrim ad proelium, fitque gravis pugna usque ad solis occasum. Sed Dani multis suorum amissis rediere ad naves; indeque sibi castrum statuunt adversus civitatem eamque obsidione vallant, machinas construunt, ignem supponunt et omne ingenium suum apponunt ad captionem civitatis. Sed Christiani adversus eos fortiter dimicando in omnibus extitere superiores. 18 Ebd., S. 310f.: VIII. Idus Februarii contigit grave discrimen infra civitatem habitantibus. Nam ex gravissima inundatione fluminis minor pons disruptus est. Quo cognito episcopus delegit nocte illa ex suis viros nobiles et strenuos ad custodiam turris, ut mane facto pons restauraretur; quod Nortmannis minime latuit. Anteque auroram surgentes cum omni multitudine ad ipsam accurrerunt turrim eamque vallantes, ne adiutorium e civitate illis superveniret, obpugnare coeperunt. Illis vero qui intra turrim erant acriter resistentibus, fit clamor multitudinis usque in caelum, episcopo desuper muro civitatis cum omnibus qui in civitate erant nimis flentibus, eo quod suis subvenire non possent, et quia nil aliud agere poterat, Christo eos commendabat. At Nortmanni cum impetu portam ipsius turris adeunt ignemque subponunt, et hi qui infra erant fracti vulneribus et incendio capiuntur atque ad obprobrium Christi-

Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris

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Im Folgenden sollen hier die Rhythmen der kämpferischen Auseinandersetzungen im Gedicht über die Kriege bzw. Schlachten der Stadt Paris (Bella Parisiacis urbis19) im Fokus stehen. Abbo versteht es, nicht nur die Zeitlänge und den Wechsel von langwierigem Warten und plötzlicher Handlung zu schildern, sondern auch den Lärm und die Lautstärke der Kämpfe zu betonen (zum Beispiel: Des Öfteren wird in Abbos Darstellung geschrien)20. Der Dichter geht unterschiedlich mit der Zeitrechnung um. Eingangs datiert er die Ereignisse sehr vage von der Amtszeit des (nicht mit dem gleichnamigen Widmungsträger seines Gedichtes zu verwechselnden) Gozlin, des damaligen Bischofs von Paris21 (883/ 4–† 16. 04. 886); später im Gedicht datiert er den Auftakt der Kämpfe auf den genauen Tag.22 In der Erzählung Abbos ist auffällig, dass es hauptsächlich zwei Arten von Handlungen gibt, die beide abwechselnd ein und demselben Zweck dienen, nämlich die Wikinger zu bekämpfen: die bewaffnete Auseinandersetzung und das Wirken der Heiligen. Wenn Abbo nicht über das eine berichtet, erzählt er vom anderen. Am Auffälligsten ist es, wenn die Wikinger im Frühjahr 887 aus Burgund zurückkehren: Ihre Rückkehr wird in zwei Versen erwähnt;23 daraufhin berichtet Abbo über Wunder, die vom heiligen Germanus, dem Schutzheiligen seiner eigenen Abtei, erwirkt wurden;24 erst dann kehrt er zu seiner Erzählung (wörtlich: „Leier“) zurück25 und beschreibt, wie die Wikinger die durch Auszahlung eines Tributs geschlossene Vereinbarung nicht einhalten26 (ohne genauen Bezug auf die Chronologie lässt Abbo etwa ein Jahr in knapp 50 Versen verstreichen)27.

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anorum diversis interficiuntur modis atque in flumine praecipitantur. Indeque ipsam turrim destruunt. Post haec non cessant obpugnare civitatem. Zum Titel siehe Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. VIf. Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 20 (I, v. 64), S. 22 (I, v. 104), S. 24 (I, v. 118) usw. Es gibt noch weitere Laute, so bspw. „stöhnt“ der angegriffene Turm neben der großen Brücke von Paris: Ebd., S. 22 (I, v. 89). Ebd., S. 14 (I, v. 22–23): Tempore quo praesul Domini et dulcissimus heros / Gozlinus temet pastorque benignus alebat. Zu Gozlin siehe Adams und Rigg, A verse translation (wie Anm. 9), S. 22 Anm. 74. Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 28 (I, v. 169–171): Haec duo bella sui residens in limite currus / Ante November adest gelidus supplere Decembri / Solibus is caudam ternis quam caederet anni. Dazu siehe Edouard Favre, Eudes, comte de Paris et roi de France (Bibliothèque de l’École des Hautes Études. Sciences philologiques et historiques, 99), Paris 1893, S. 35. Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 92 (II, v. 347–348). Ebd., S. 92–94 (II, v. 349–387). Ebd., S. 94 (II, v. 388): Plectra revolvamus vocis post terga stuporum. Ebd., S. 94–98 (II, v. 389–441). In diesem Abschnitt spannt Abbo den Bogen von der Rückkehr der Wikinger aus Burgund im Mai 887 bis zur Belagerung von Meaux im Frühsommer 888. Dazwischen gibt es eine wichtige, politische Wende: Karl der Dicke stirbt und Odo wird zum König gewählt: Ebd., S. 98–100 (II, v. 442–451).

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Philippe Depreux

Am Anfang des ersten Buches, in dem die Ankunft der Wikinger geschildert wird, berichtet Abbo Tag für Tag über den Ablauf der Ereignisse.28 Am 24. November 885 erscheinen sehr viele Schiffe auf der Seine29 (laut Abbo waren es siebenhundert [!], ohne Berücksichtigung der kleineren Boote30 – eine völlig unglaubwürdige Zahlangabe31). Zunächst passiert nichts: Von einem plötzlichen – wie meistens postuliert bzw. in den Quellen behauptet32 – Überfall kann also nicht geredet werden. Erst am Tag nach ihrer Ankunft begibt sich Siegfried, der Anführer der Wikinger, zum Bischofspalast,33 um die Erlaubnis für die Weiterfahrt zu erlangen, ohne die Stadt anzugreifen.34 Der Bischof verweigert die Zustimmung. Daraufhin wird ihm vom Wikinger gedroht, jedes Jahr vom Krieg heimgesucht zu werden (Abbo lässt Siegfried in der Metapher eines Tagesablaufs sprechen: morgens sollen vergiftete Pfeile geschossen werden, abends – d. h. als Folge davon – soll es eine Hungersnot geben35). Er geht zu den Seinen zurück und versammelt sie.36 Erst am folgenden (also am dritten) Tag in der Morgenröte erfolgt der Angriff:37 Er dauert, wie der Annalist, sich einem Ausdruck aus dem Alten Testament bedienend berichtet, vom Morgen bis zum Abend – factum est proelium a mane usque ad vesperum.38 Abbos Darstellung ist poetischer: Sic caput Aurora rapuit perdente duellum … / Jam occidui medium vergebat ad ultima Tile / Climatis australis quoque Apollo secutus Olimpho.39 Die Quellen sind sich darin einig, dass die Wikinger aus ihren Booten ausgestiegen sind und vom festen Boden aus die Stadt angegriffen haben; sie übernachteten jedoch in ihren Booten. Während der Nacht ruhten die Pariser nicht, sondern reparierten und erhöhten 28 Ein Überblick über die Struktur der Erzählung findet sich in Adams und Rigg, A verse translation (wie Anm. 9), S. 7–10. 29 Der Tag ergibt sich aus der unter Anm. 22 zitierten Angabe. 30 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 14 (I, v. 28–30): Septies aerias centum praeter iuniores / Quamplures numero naves numerante carentes / (Extat eas moris vulgo barcas resonare). 31 Carroll M. Gillmor, War on the rivers: Viking numbers and mobility on the Seine and Loire, 841–886, in: Viator. Medieval and Renaissance studies 19 (1988), S. 79–109, hier S. 86f. 32 Zettel, Das Bild der Normannen (wie Anm. 3), S. 250f. 33 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 16 (I, v. 36–37): Urbem quo tetigere quidem Titane secundo, / Egregii Sigefredus adit pastoris ad aulam. 34 Ebd., S. 16 (I, v. 40–44). 35 Ebd., S. 18 (I, v. 57–59): Toxica, ni tamen his precibus ce¸das, tibi tela / Nostra ministrabunt castella die veniente, / Decedente famis pestem, hoc peragentque quotannis. 36 Ebd., S. 18 (I, v. 60): Haec ait atque dehinc abiit, sociosque coegit. 37 H. Waquet (ebd., S. 19, Anm. 3) geht davon aus, dass die gescheiterten Verhandlungen am frühen Morgen unmittelbar vor dem Angriff stattfanden: „l’entrevue avait dû avoir lieu vers six heures du matin“. Da Abbo erst danach vom Anbruch des Tages berichtet, halte ich es für wahrscheinlicher, dass eine Nacht zwischen Verhandlungen und Angriff liegt. 38 Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 885, S. 308 (1. Maccab. 9, 13: „Da ließ auch Judas die Trompeten blasen und zog gegen sie, und die Schlacht dauerte vom Morgen bis zum Abend und die Erde erbebte von dem großen Getümmel“). 39 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 18–20 (I, v. 60–77).

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Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris

sogar den Turm, der auf dem rechten Ufer der Seine die „große Brücke“ verteidigte (ungefähr da, wo der heutige Pont-au-Change steht40). Aus der Tatsache, dass auch der Autor der Annales Vedastini von diesem nächtlichen Eifer weiß, darf man schließen, dass diese ungewöhnliche Aktion zum Ruhm des Grafen und des Bischofs beigetragen hat.41 Der folgende Tag wird ebenso ganz dem Kampf gewidmet:42 Sowohl die Sonne als auch die Wikinger begrüßen den in der Nacht errichteten Turm,43 der in der folgenden Nacht erneut repariert wird.44 Der Annalist weiß nur von diesen beiden Tagen, an denen gekämpft wurde. Im Anschluss daran berichtet er vom Bau eines befestigten Lagers durch die Wikinger, die nun die Belagerung der Stadt beabsichtigen; er verschweigt die sich fortsetzenden Kämpfe nicht, fasst sie jedoch zusammen.45 Ganz anders ist es in Abbos Bericht dargestellt. Zwar sind die beiden ersten Tage wichtig (deswegen datiert er sie genau46), aber auch für die folgenden Tage setzt er seine Berichterstattung im täglichen Rhythmus fort. Sie kann folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Tag (24.11.) 2. Tag (25.11.)

Ankunft der Wikinger Verhandlungen

9 Verse 25 Verse

I, v. 27–35 I, v. 36–60

3. Tag (26.11.) Nacht

Erster, ganztägiger Angriff Verstärkung des Turmes durch die Pariser

17 Verse 6 Verse

I, v. 61–77 I, v. 78–83

4. Tag (27.11.) Nacht

Zweiter, ganztägiger Angriff Wiederaufbau des Turmes

84 Verse 1 Vers

I, v. 84–167 I, v. 168

5. Tag (28.11.)

Aufbau eines Lagers durch 4 Verse die Wikinger Verwüstung des Umlands durch 28 Verse die Wikinger

5. Tag (28.11.) 5. Tag (28.11.)

Bau von riesigen Rammböcken

16 Verse

I, v. 172–176 I, v. 177–204 I, v. 205–220

40 Favre, Eudes, comte de Paris (wie Anm. 22), S. 24f. 41 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 20 (I, v. 78–83): Nil prorsus species turris renitens erat adhuc / Perfecte¸, fundamentis tantum bene structis / Ac modicum ductis sursum factisque fenestris / Gaudebat; belli sed eadem nocte peracti / Altius haec circumductis crevit tabulatis; / Lignea sescuplae siquidem superadditur arci. Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 885, S. 310 : Gauzlinus vero episcopus et Odo comes tota nocte cum suis laboravere, suam obfirmantes turrim ad praeparationem pugnae. 42 Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 885, S. 310: Sequenti die iterum Nortmanni accurrunt ad ipsam turrim ad proelium, fitque gravis pugna usque ad solis occasum. 43 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 22 (I, v. 84–85): Sol igitur Danique simul turrim resalutant; / Praelia devotis jaciunt immania valde. 44 Ebd., S. 28 (I, v. 168): Nox comitans, turris studuit vulnus medicari. 45 Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 885, S. 310: Indeque sibi castrum statuunt adversus civitatem eamque obsidione vallant, machinas construunt, ignem supponunt et omne ingenium suum apponunt ad captionem civitatis. Sed Christiani adversus eos fortiter dimicando in omnibus extitere superiores. 46 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 28 (I, v. 169–171).

42 Nacht

Philippe Depreux

Vorbereitung der Waffen durch die Wikinger Ansturm gegen die belagerte Stadt und Kämpfe

3 Verse

I, v. 221–223

69 Verse

I, v. 224–292

Nacht 7. Tag (30.11.)

Schlaf und Kampf Massaker durch die Wikinger

8 Verse 11 Verse

I, v. 293–300 I, v. 301–311

7. Tag (30.11.)

I, v. 312–352

Nacht

Wirksame Anbetung der heiligen 41 Verse Maria Wache 2 Verse

I, v. 353–354

8. Tag (01.12.) 8. Tag (01.12.)

Erneuter Ansturm gegen Paris 38 Verse Anbetung des heiligen Germanus 31 Verse

I, v. 355–392 I, v. 393–423

Nacht 9. Tag (02.12.)

Wache 1 Vers Die Wikinger ziehen sich zurück 7 Verse

I, v. 424 I, v. 425–431

6. Tag (29.11.)

Pause 69.–71. Tag (31.01. – 02.02.) Erneuter, dreitägiger Ansturm gegen Paris, der mit dem Sieg der Pariser am Tag von Mariä Lichtmess endet; Verwüstungen und Kämpfe

1 Vers I, 432 165 Verse I, 433–597

Februar 886

63 Verse

Die Wikinger verwüsten die Gegend zwischen Seine und Loire

I, 598–660

Über den Zeitpunkt des erneuten Angriffes der Wikinger auf die Stadt sind sich die Quellen uneinig. Abbo datiert ihn auf Ende Januar/Anfang Februar; der Autor der Annales Vedastini spricht vom 6. Februar: An diesem Tag sei die kleinere Brücke (zwischen der Île de la Cité und dem linken Ufer der Seine) durch das steigende Wasser zusammengebrochen, was die Wikinger am folgenden Tag zu nutzen wussten, um den Kampf wiederaufzunehmen.47 Daraufhin sei der ostfränkische Herzog Heinrich zur Hilfe gerufen worden. Der Autor der Annales Fuldenses berichtet von einer noch etwas abweichenden Chronologie: Das Verstärkungsheer sei im Februar nach Paris geschickt worden und die Zeit der Scharmützel habe von der Fastenzeit (in diesem Jahr fiel Aschermittwoch auf den 9. Februar) bis zur Rogation (damals am 1. Mai beginnend) gedauert.48 Der Wechsel von Tag und Nacht nimmt einen wichtigen Platz in Abbos Bericht ein. Bei Tagesanbruch fangen die Kämpfe an (I, v. 61; I, v. 84–85; I, v. 224–228; I, v. 301–302; I, v. 355–356). Auch der Autor der Annales Vedastini hebt die Bedeutung der Morgenröte hervor, als er vom Ausbruch der Gewalt im Februar 886 47 Annales Vedastini (wie Anm 17), a. 886, S. 310. 48 Annales Fuldenses (wie Anm. 4), a. 886, S. 126. Zum Ostertermin am 27. März siehe Hermann Grotefend, Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, Hannover 2007 [14. Aufl.], S. 154.

Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris

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spricht, nachdem die kleinere Brücke zusammengebrochen sei.49 Die Nacht ist keine Zeit der Ruhe, sondern eine Zeit der Vorbereitung auf die Schlacht, zunächst seitens der Pariser, die den Turm befestigen (I, v. 78–83; I, v. 168), dann seitens der Wikinger, die ihre Waffen vorbereiten (I, v. 221–223). Obwohl einige sich ausruhen, kämpfen andere weiter, als die Stadt belagert wird;50 die Nacht ist eine Zeit der Wachsamkeit (I, v. 353–354; I, v. 424). Nur selten spricht Abbo von einem Überfall am hellen Tag. In einem solchen Fall spielt jedoch die Überraschung eine wichtige Rolle: Bischof Anschericus und Abt Ebolus waren am Mittagstisch, als sie den Kampfeslärm hörten.51 Der Beginn von Buch II bringt einen wichtigen Wechsel: Mit der Ankunft des ostfränkischen Herzogs Heinrich (aus der Familie der Popponen52) im Februar oder Anfang März 88653 werden nun die Wikinger über Nacht überfallen: Heinrich bricht in ihr Lager ein und beschlagnahmt viele Pferde54 (später im Gedicht wird über einen ähnlichen Fall berichtet55). Hier hört Abbo mit seiner tagesgenauen Erzählungsart auf: Er berichtet noch von einem missglückten Versuch der Wikinger, Graf Odo festzunehmen, als er mit ihrem Anführer verhandelt.56 Siegfried stellt fest, dass er nichts mehr zu gewinnen hat und ordnet den Rückzug an, während Heinrich nach Hause zieht.57 Eine Zeit lang bleiben die Wikinger vor der Stadt und versetzen das Lager auf das linke Ufer – unmittelbar vor die Abtei Saint-Germain-des-Prés.58 Abbo berichtet von den Meinungsverschiedenheiten unter den Wikingern: Siegfried möchte gehen, einige möchten weiterhin kämpfen und tun es auch, bis zum Rückzug gen Westen, nachdem von

49 Siehe oben Anm. 18. 50 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 38 (I, v. 297–298): Quis noctem quidam bello quidamque sopore / Praeteriere … 51 Ebd., S. 94–96 (II, v. 398–401). 52 Hubert Guillotel, Une autre marche de Neustrie, in: Onomastique et Parenté dans l’Occident médiéval, hrsg. Katharine S. B. Keats-Rohan, Christian Settipani (Prosopographica et genealogica, 3), Oxford 2000, S. 7–13; Simon MacLean, Kingship and politics in the late ninth century. Charles the Fat and the end of the Carolingian Empire (Cambridge studies in medieval life and thought, 4, 57), New York 2003, passim. 53 H. Waquet vermutet, dass Heinrich Anfang März 886 in Paris ankam (Abbon, Le siège de Paris [wie Anm. 9], S. 67 Anm. 1); Dass, Viking attacks on Paris (wie Anm. 9), S. 114, Anm. 102 übernimmt diese Datierung. 54 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 66 (II, v. 7–8): Sub nocte igitur quadam penetravit / Castra Danum, multos et equos illic sibi cepit. 55 Ebd., S. 78 (II, v. 168–172). 56 Ebd., S. 68 (II, v. 23–30). 57 Ebd., S. 68 (II, v. 31–34). Der Autor der Annales Vedastini berichtet schlicht über den mangelnden Erfolg Heinrichs, er richtete hier nichts aus und kehrte wieder in sein Land zurück; Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 886, S. 310–311: sed nil ibi profecit atque in suam rediit regionem. 58 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 68 (II, v. 35–40).

44

Philippe Depreux

den Parisern ein Tribut gezahlt wurde.59 Unmittelbar danach berichtet Abbo über den Tod des Bischofs von Paris am 16. April 886.60 Sein Tod sowie der Tod von Hugo Abbas am 12. Mai hätten die Christen sehr erschüttert.61 Abbo gewährt sich einige Freiheit mit der Chronologie, denn er erwähnt dabei auch den Tod des Erzbischofs von Sens, der eigentlich am 1. Februar 887 verstarb.62 Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass mehrere wichtige Prälaten sterben und dass die Wikinger darüber jubeln: Gaudia tunc hostes adipiscuntur sua laeti.63 Auch der Autor der Annales Vedastini weiß, über die Bedeutung des Todes Gozlins für die Pariser zu berichten – vor allem liefert er eine wichtige Angabe über die Informations- und Kommunikationsstrategie der Wikinger und über die Wichtigkeit des Zeitmanagements, was den Zeitpunkt der Bekanntgabe einer Information betrifft: Währenddessen aber wurde der Bischof von schwerer Krankheit befallen und beschloss sein Leben, und er wurde in der Stadt selbst in einem Holzsarg beigesetzt. Sein Tod blieb jedoch den Normannen nicht verborgen: Noch ehe sein Verscheiden den Einwohnern bekannt geworden war, wurde von den Normannen von draußen verkündigt, der Bischof sei gestorben. Nun verfiel das Volk, neben dem Tod seines Vaters auch durch die Belagerung ermattet, in unheilbare Niedergeschlagenheit64.

Im Frühling und Frühsommer bleiben die Wikinger vor Paris, aber anscheinend gibt es keine wesentliche Handlung – nur gelegentlich einige gegenseitige Provokationen und Scharmützel während dieser „drôle de guerre“, die laut Abbo zur Inszenierung der Wirkkraft des heiligen Germanus dient.65 Die Rückkehr des Grafen Odo, dem es gelungen war, der Stadt zu entfliehen, und die Schlacht, die dann stattfand, werden von Abbo nicht datiert.66 Das ist jedoch der Höhepunkt des Berichts, denn dort wurden der Mut und die Tapferkeit Odos auf die Probe

59 Ebd., S. 68 (II, v. 41–67). Zu dieser Praxis siehe Simon Coupland, The Frankish Tribute Payments to the Vikings and their Consequences, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 26/1 (1999), S. 57–75. 60 Das Todesdatum wird durch das Epitaph Gozlins überliefert, siehe MGH, Poetae Latini aevi Carolini, Band 4, hrsg. Paul von Winterfeld, Berlin 1899, S. 137. 61 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 70–72 (II, v. 68–76). 62 Ebd., S. 72 (II, v. 77). 63 Ebd., S. 72 (II, v. 78). 64 Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 886, S. 310–313: Dum haec aguntur, episcopus gravi corruit infirmitate, diem clausit extremum in loculoque positus est in ipsa civitate. Cuius obitus Nortmannis non latuit; et antequam civibus eius obitus nuntiaretur, a Nortmannis deforis praedicatur episcopum esse mortuum. Dehinc vulgus pertesi una cum morte patris obsidione inremediabiliter contristantur. 65 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 72–80 (II, v. 79–162, 178–194). 66 Es ist auch nicht möglich, sie aufgrund anderer Quellen genau zu bestimmen. Es wird vermutet, dass Odo die Stadt in der zweiten Maihälfte verlassen hatte, siehe Favre, Eudes, comte de Paris (wie Anm. 22), S. 55.

Der Faktor Zeit und seine Wahrnehmung: die Belagerung von Paris

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gestellt: Die Beschreibung dieser Schlacht ist die längste im ganzen Gedicht67 (120 Verse). Die Länge dieses Tages, an dem die Christen samt ihren Heiligen gegen die Wikinger kämpfen, wird deklamatorisch messbar: 30 Verse vom Aufgang der Sonne (II, v. 197–198) bis zu ihrem Höhepunkt (II, v. 227–228), 66 weitere Verse bis zu ihrer Untergang (II, v. 293–295) und noch 20 Verse bis zum Ausgang der Schlacht während der Nacht (II, v. 314). Auch der Autor der Annales Vedastini hebt die Heftigkeit dieser Schlacht hervor: Die Normannen wussten nämlich zum Voraus von seiner Rückkehr und stellten sich ihm vor dem Tore des Turmes entgegen; er aber spornte sein Pferd und bahnte sich, rechts und links die Gegner niederhauend, den Weg in die Stadt und wandelte die Trauer des Volkes in Freude. Kein Sterblicher aber kann aufzählen, was für Gefahren sie daselbst zu bestehen hatten und wie viel tausend Menschen in verschiedenen Kämpfen auf beiden Seiten dort blieben. Denn jene bedrängten diese Stadt ohne Unterlass mit dem verschiedensten Rüstzeug von Waffen, Maschinen und Mauerbrechern. Aber indem sie alle mit großer Inbrunst zu Gott schrien, wurden sie immer gerettet; und ungefähr acht Monate dauerte der Kampf in verschiedener Weise, ehe der Kaiser ihnen zur Hilfe kam.68

Im Anschluss an die Beschreibung der gewaltsamen, aber erfolgreichen Rückkehr Odos in die Stadt erwähnt Abbo in völliger Missachtung der Zeit- und Kommunikationsumstände die Entscheidung Kaiser Karls des Dicken, Truppen nach Paris zu schicken, um seine Ankunft vorzubereiten.69 Nach einem kurzen militärischen Intermezzo erscheint der Kaiser höchstpersönlich.70 Innerhalb von etwa 15 Versen springt Abbo vom Monat Mai bis Mitte oder Ende Oktober: Im Sommer 886 zieht Karl sehr langsam gen Westen: er hält sich in der Gegend von Metz, Laon und Noyon auf (im Juli hält er eine Reichsversammlung in Metz ab; im August ist er in Attigny und in Servais, dann im September in Quierzy).71 Die erste Urkunde, die seinen Aufenthalt in Paris dokumentiert, datiert vom 24. Oktober; dort blieb er mindestens bis zum 6. November.72 Alles beschleunigt sich: Nachdem er sein Lager in Montmartre eingerichtet hat und der Stadt einen neuen Bischof gegeben hat, erlaubt der Kaiser den Wikingern, gen Nordburgund 67 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 80–88 (II, v. 195–314). 68 Annales Vedastini (wie Anm. 17), a. 886, S. 312–313: Nortmanni eius reditum praescientes occurrerunt ei ante portam turris. Sed ille, amisso equo a dextris et a sinistris adversarios caedens, civitatem ingressus tristem populum reddidit laetum. Nemo tamen mortalium enumerare potest, qualia pericula ibi pertulerint, vel quot milia hominum in diversis praeliis ibi corruerint ex utraque parte; nam sine intermissione cum diverso apparatu armorum et machinarum arietumque ipsam concutiebant civitatem. Sed omnibus magna instantia ad Deum clamantibus semper liberati sunt. Nam ferme octo mensibus, antequam imperator eis subveniret, diversis modis proeliatum est. 69 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 88 (II, v. 315–318). 70 Ebd., S. 88–90 (II, v. 319–329). 71 BM² 1719a–1725. 72 BM² 1726–1733.

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Philippe Depreux

zu ziehen, entrichtet hohen Tribut und kehrt zurück – laut Abbo: um bald danach zu sterben (eigentlich verging noch mehr als ein Jahr: Karl verstarb am 13. Januar 888). Darüber berichtet der Dichter in nur einem Dutzend Versen! 73 Abbo erwähnt dann die Kälte, die alles zum Erstarren bringt, und wie das „träge“ Burgund unter den Wikingern leiden musste (schon Ende November waren sie in Sens und belagerten die Stadt) 74… bevor Dieselbigen erneut ihr Lager am selben Ort vor Paris errichten: Im Mai 887 war es soweit.75 Aus den hier zusammengestellten Beobachtungen geht also hervor, dass die Handlungen der Wikinger zwar wegen ihres Unwillens, sich an Vereinbarungen zu halten, in gewissem Sinne unberechenbar waren und dass die Überraschung (nicht nur früh am Morgen, sondern auch mitten am Tag) eine Rolle spielte, aber beide Parteien waren über die andere wohl doch informiert und der Wechsel von Zeiten des Beobachtens, Wartens und Langweilens und Zeiten des Agierens (zum Teil bedingt durch Naturereignisse – bspw. einer Überschwemmung oder der Kälte) war anscheinend Bestandteil der Taktik. Mittels ausführlich beschriebener (und zum Teil erfundener?) Anekdoten und der Erwähnung der Schutzheiligen von Paris, deren Reliquien in Prozessionen umher getragen werden, und die durch ihre Wunder wirken, gelingt es Abbo, diese Zeit des Ausharrens genauso wie die beschleunigte Zeit der Gewalt für den Leser spürbar zu machen und die Erinnerung an diese Sternstunde Pariser Geschichte mit Auswirkung auf das Werden Frankreichs wachzuhalten.

73 Abbon, Le siège de Paris (wie Anm. 9), S. 90 (II, v. 330–341). 74 Favre, Eudes, comte de Paris (wie Anm. 22), S. 64. 75 Ebd., S. 65.

Hans-Werner Goetz

Das Bild der Preußen in früh- und hochmittelalterlichen Quellen vor dem Eingreifen des Deutschen Ordens

Wer sich, wie mein Hamburger Kollege Jürgen Sarnowsky, so zentral mit dem Deutschen Ordensstaat in Preußen und mit vergleichender Ritterordensgeschichte befasst, richtet sein Augenmerk naturgemäß auf die Zeit der Ordensherrschaft in Preußen.1 Dazu könnte ich selbst, mit ganz anderen Schwerpunkten, wenig beitragen. Stattdessen soll hier, als sehr bescheidener Beitrag und Dank im Blick auf eine lange, stets gute und kollegiale, gemeinsame Arbeit am Historischen Seminar der Universität Hamburg, einem Aspekt der Vorgeschichte nachgegangen werden, der, wenn ich nichts übersehen habe, bisher noch unbearbeitet ist: Welches ‚Preußenbild‘, welche traditionellen Vorstellungen von den Preußen könnten den Ordensrittern denn bei der Eroberung des Landes bekannt gewesen sein?2 Dazu sollen die – insgesamt überschaubaren – Belege von den frühesten Nennungen bis zur Ankunft des Ordens in Preußen zusammengestellt und entsprechend ausgewertet werden.3

1 Zur Vermeidung moderner Missverständnisse benutzen die meisten neueren Darstellungen den (in dieser Schreibweise unmittelalterlichen) Begriff „Prußen“; die häufigste mittelalterliche Schreibform wäre Pruzzi. Der Einfachheit halber sei hier jedoch durchweg von „Preußen“ die Rede. Es versteht sich von selbst, dass damit keine Rückprojizierung späterer, neuzeitlicher oder gar hohenzollernscher Zustände impliziert sein kann. Man dürfte sonst noch viel weniger etwa von „Sachsen“ sprechen. 2 Einem wichtigen Teilaspekt des späteren Preußenbildes geht Michael Brauer, Die Entdeckung des ‚Heidentums‘ in Preußen. Die Prußen in den Reformdiskursen des Spätmittelalters und der Reformation (Europa im Mittelalter, 17), Berlin 2011, nach, mit der These, erst im 15. Jahrhundert würden aus den Heiden Barbaren und aus den Barbaren Vorfahren (ebd., S. 207–234). Das ist, wie die Belege in dieser Arbeit zeigen, so allerdings nur teilweise haltbar; vgl. unten Abschnitt VI. 3 Die Quellen werden in diesem Beitrag vielfach, soweit erreichbar, nach den (neueren) polnischen Editionen zitiert. Da diese nicht überall vorhanden sind, werden in Klammern zusätzlich mehrfach ältere (zumeist MGH-)Ausgaben genannt. Im Wortlaut zitiert wird nach der jeweils zuerst genannten Edition.

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I.

Hans-Werner Goetz

Der „Endpunkt“: Die Eroberung Preußens durch den Deutschen Orden und das Preußenbild Peters von Dusburg

Als der Chronist des Deutschen Ordens, Peter von Dusburg um 1326/1330 in seine Chronik eine rückblickende Beschreibung Preußens in heidnischer Zeit eingliederte, konnte er nicht nur genau die Grenzen Preußens beschreiben (Weichsel, Ostsee, Memel, Russland, Masowien und Herzogtum Dobrin),4 sondern er wusste auch von einer internen Gliederung in elf aus Völkernamen abgeleiteten Provinzen zu berichten, die jeweils unterschiedlich große Heereskontingente stellten: Kulmer Land und Löbau (bis dahin nahezu unbewohnt), Pomesanien, Pogesanien, Warmien (Ermland), Natangen, Samland, Nadrauen, Schalauen, Sudauen, Galind(i)en und Barten (Barterland). Am dichtesten bevölkert sei das reiche Samland, am sittsamsten, wohlhabendsten und mächtigsten Sudauen gewesen. Überall habe es feste Burgen (oder Städte) gegeben.5 Das ist das Wissen nach der Eroberung. 4 Peter von Dusburg, Chronica terrae Prussiae III, c. 2, ed. Jarosław Wenta, Słavomir Wyszomirski (Monumenta Poloniae historica n.s. 13 [fortan: MPH]), Krakau 2007, S. 49f.: Descriptio terrae Prussiae. Terra Prussiae pro terminis suis, infra quos constituta est, habet Wiselam, Mare Salsum, Memelam, terram Russiae, ducatum Masouiae et ducatum Dobrinensem. Die Weichsel (so fährt er fort) trennt Preußen von Polen und Pomeranien, die Memel von Russland, Litauen und Kurland. Zum Preußenbild Peters von Dusburg (und zur Kritik daran), zur Religion der heidnischen Preußen und ihrer Christianisierung vgl. Jarosław Wenta, Holy Islands and Their Christianization in Medieval Prussia, in: Islands and Cities in Medieval Myth, Literature and History. Papers Delivered at the International Medieval Congress, University of Leeds, in 2005, 2006 and 2007, hrsg. Andrea Grafetstätter, Sieglinde Hartmann, James Ogier (Beihefte zur Mediaevistik, 14), Frankfurt a.M. u. a. 2011, S. 37–54, hier S. 37–43; Edith Feistner, Krieg und Kulturkontakt: Zur ‚Ethnologie‘ der Prussen und Litauer bei Peter von Dusburg und Nikolaus von Jeroschin, in: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen: Leben und Nachleben, hrsg. Jarosław Wenta, Sieglinde Hartmann, Gisela Vollmann-Profe (Sacra Bella Septentrionalia, 1), Thorn 2008, S. 529–539. Zum Heidenbild bei Peter von Dusburg vgl. Brauer, Entdeckung (wie Anm. 2), S. 54–83 und 199–207, der, trotz des Titels der Arbeit, hier letztlich aber nach dem dahinter stehenden Heidentum der Preußen (Glaube, Götterwelt, Ritus, Sitten) fragt. Zum Heidentum und zu sakralen Orten vgl. auch Sławomir Wadyl, The Sacred Sphere of Prussian Life in the Early Middle Ages, in: Sacred Space in the State of the Teutonic Order in Prussia, hrsg. Jarosław Wenta, in cooperation with ´ ska (Sacra Bella Septentrionalia, 2), Thorn 2013, S. 39–58; Ewelina Magdalena Kopczyn Siemianowska, Sacred Places in the Research on Early Medieval Roads and Routes. The Prussian Case, in: ebd., S. 59–85. 5 Peter von Dusburg, Chronica terrae Prussiae III, c. 3 (wie Anm. 4), S. 50: Terra Prussiae in undecim partes dividitur. Prima fuit Colmensis et Lubouia, quae ante introitum fratrum domus Theutonicae quasi fuerat desolata. Secunda Pomesania, in qua Pomesani. Tertia Pogesania, in qua Pogesani. Quarta Warmia, in qua Warmienses. Quinta Nattangia, in qua Nattangi. Sexta Sambia, in qua Sambitae. Septima Nadrouia, in qua Nadrouitae. Octava Scalouia, in qua Scalouitae. Nona Sudouia, in qua Sodouitae. Decima Galindia, in qua Galinditae. Undecima Bartha et Plika Bartha, quae nunc maior et minor Bartha dicitur, in qua Barthi vel Barthenses habitabant. […] Sambia opulenta et populosa potuit habere quattuor milia equitum et 40 milia

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Als nach anfangs noch friedlichen, nicht sonderlich erfolgreichen Missionsversuchen im frühen 13. Jahrhundert und polnisch-preußischen Auseinandersetzungen in den frühen 1220er Jahren der Hochmeister des Deutschen Ordens, Hermann von Salza, von dem polnischen Herzog Konrad von Masowien 1225/26 um Hilfe bei der Preußenabwehr gebeten wurde und bevor der Orden das Land seit 1231 in einem langwierigen und von manchen Rückschlägen verzögerten, rund fünfzigjährigen Prozess erobern, christianisieren und besiedeln und allmählich eine Landesherrschaft errichten konnte,6 war man von solchem Wissen noch weit entfernt, auch wenn es schon vorher nicht nur kriegerische und missionarische Kontakte mit den heidnischen Preußen gegeben hatte. Was aber ist bis dahin in abendländischen Quellen überhaupt von diesem Volk bekannt bzw. welches Bild hatte man von den Preußen? 7

II.

Die Anfänge: die Mission Adalberts und Bruns

Früh- und hochmittelalterliche Kenntnisse über Preußen sind zwar äußerst spärlich, aber durchaus vorhanden. Dabei zeigen bereits die vielfältigen Lesarten des Volks- und Landesbegriffs (Pruzzi/Pruzzia, Pruzi/Pruzia, Pruci/Prucia, Prussi/Prussia, Prusi/Prusia, Prusci/Pruscia, Pruzsi/Prussia, aber auch Pruteni oder Prutheni, Singular Prutenus, vereinzelt auch Bruci, Brusci/Bruscia, Prutzia oder Pruozenses), an, dass Name und Schreibweise noch höchst unsicher und alles andere als verfestigt waren. Schon das deutet auf eine eher geringe Verpugnatorum. Sudowitae generosi, sicut nobilitate morum alios praecedebant, ita divitiis et potentia excedebant. Keine Landschaft brachte weniger als 2000 Ritter auf. 6 Zur Etablierung des Ordens in Preußen seit dem frühen 13. Jahrhundert vgl. Jürgen Sarnowsky, Der Deutsche Orden (Beck’sche Schwarze Reihe, 2428), München 2007 [2. Aufl. 2012], S. 11–42; ferner Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte, München 1981 [5. Aufl. 2012]; Udo Arnold (Hrsg.), Deutscher Orden 1190–1990, Lüneburg 1997, S. 93–114; Klaus Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart 2005 [2. Aufl. 2012], S. 39–41, 143–153; im Detail: William Urban, The Prussian Crusade, Lanham, NY, London 1980, S. 79–152, und Gerard Labuda, in: Marian Biskup, Gerard Labuda, Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen. Wirtschaft–Gesellschaft–Staat– Ideologie (Deutsches Historisches Institut in Warschau. Klio in Polen, 6), Osnabrück 2000 [poln. Fassung 1986], S. 138–185, 202–212. Eine neunbändige Gesamtgeschichte hat aus damaliger Sicht bereits im frühen 19. Jahrhundert Johannes Voigt, Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des deutschen Ordens, 1, Königsberg 1827 [ND Hildesheim 1968], vorgelegt. Auch wenn Voigt sein Werk „dem Vaterlande“ widmet (ebd., S. V), stellt es eine bis heute nicht wieder erreichte Leistung dar. Band 1 behandelt die gesamte Zeit bis zum Deutschen Orden, bietet für die frühere Zeit allerdings nicht eine Geschichte der Preußen, sondern des (späteren) Landes. Eine neuere Darstellung Preußens vor der Eroberung durch den Orden bietet Labuda (s. o.), S. 43–113. 7 Vollständigkeit können die im Folgenden zusammengestellten Belege nur beanspruchen, soweit die Quellen in den MGH ediert sind.

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trautheit mit diesem Volks- und Gebietsnamen. Neben Pruzzi (mit seinen verschiedenen Lesarten) wird, weit seltener, doch gleichbedeutend, auch Semland oder Samland (oder auch Sambia) verwendet, das (nach Peter von Dusburg) eigentlich nur eine der elf Regionen des Preußenlandes bildete. Den Griechen und Römern waren ‚Preußen‘ noch nicht, das Baltikum kaum bekannt.8 Während Plinius die Völker bis zur Weichsel aufzählt, sich bei deren Namen (Sarmaten, Vandalen, Skirern und Hirrern) aber schon unsicher ist, jedoch die ‚Bernsteininsel‘ (Glaesaria) erwähnt, die gern mit Ostpreußen identifiziert wird,9 weist Tacitus die ganze Gegend am Ozean (Ostsee) den ‚Aestiern‘ zu, die er den Germanen zurechnet, und auch er erwähnt Bernstein.10 Im frühen 5. Jahrhundert unterscheidet Orosius in seiner Weltbeschreibung im Osten nur noch das Alanenland (Alania), Dakien (oder Gothien) und Germanien.11 Solinus,12 auf den sich später vielfach Adam von Bremen stützt, im 4. Jahrhundert kennt das Volk ebenso wenig wie Isidor von Sevilla im westgotischen 7. Jahrhundert, der das ganze Gebiet zwischen Donau und Ostsee den Skythen zuweist,13 und auch dem wohl in der Mitte des 8. Jahrhunderts schreibenden, sogenannten Aethicus Ister ist die ganze Gegend noch gänzlich unbekannt:14 Griechen, Römer und Franken mögen bereits Nachrichten über die Gegend, vor allem die ‚Bernsteinküste‘ der Ostsee, hinterlassen haben, ‚Preußen‘ als Volk bezeugen sie jedoch noch nicht. Mit den in dieser Gegend siedelnden Aestiern aber sind anscheinend (noch lange) nicht nur die Bewohner Preußens, sondern der ganzen Ostküste des Baltischen Meeres gemeint.15

8 Alle Nachrichten der Frühzeit sind zusammengestellt bei Voigt, Geschichte Preußens (wie Anm. 6), S. 1–93; zu antiken Nachrichten auch A. Kolberg, Pytheas. Geographisch-historische Erörterungen über das Bernsteinland der ältesten Zeit, in: Zeitschrift für die Geschichte und Althertumskunde Ermlands 6 (1878), S. 442–520. Klaudius Ptolemaios, Handbuch der Geographie, 1, ed. Alfred Stückelberger, Gerd Graßhoff, Basel 2006, kennt Völker bis zur Weichsel (ebd., II, c. 11,14, S. 226/227, und II, c. 11,20, S. 228/229) sowie an der Weichsel (ebd., III, c. 5,20, S. 304/305); östlich der Weichsel benennt er unter anderem mit Sudenern (Sudauern) und Galinden bereits spätere, zumindest dem Namen nach aber ältere Teilvölker der Preußen (ebd., III, c. 5,21, S. 304/305). 9 Plinius, Naturalis historia IV, c. 27 (97), ed. Gerhard Winkler, München, Zürich 1988, S. 182/ 184. 10 Tacitus, Germania c. 45, ed. Allan A. Lund, Heidelberg 1988, S. 104/106. 11 Orosius, Historiae adversum paganos, ed. Marie-Pierre Arnaud-Lindet, 1, Paris 1990, hier I, c. 2,53, S. 25. 12 Solinus, De mirabilibus mundi, ed. Kai Brodersen, Darmstadt 2014. 13 Isidor von Sevilla, Etymologiae IX, c. 2 (zu den Namen der Völker) und XIV, c. 3f. (zu Asien und Europa), ed. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911. 14 Aethicus Ister, Kosmographie, ed. Otto Prinz (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 14), München 1993. 15 Man muss daher Vorsicht walten lassen gegenüber einem Großteil der Forschung, der die ‚Aestier‘ als Vorläufer der Preußen betrachtet.

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Eine gewisse Ausnahme bildet zur Zeit Alfreds des Großen lediglich ein kurzer, angelsächsischer Reisebericht Wulfstans (von Haithabu) nach Truso,16 der einiges von dieser Gegend an der Weichsel und von den Sitten des dortigen Volkes zu berichten weiß, das aber unter den Namen Witland oder Eastland („Ostland“) vom Wendland (westlich der Weichsel) trennt.17 Dass Wulfstan erstmals von ‚Preußen‘ schreibe,18 ist unrichtig. Ansonsten wird Preußen in historiographischen Berichten oder geographischen Exkursen19 weder überhaupt noch unter diesem Namen erwähnt. ‚Preußen‘ (Bruzi) begegnen – ohne jede nähere Kennzeichnung – erstmals wohl um 850 bei dem sog. Bayerischen Geographen, einer Beschreibung der Ostgrenze des Frankenreichs.20 Die ersten näheren Nachrichten über ‚Preußen‘ sind unter diesem Namen, soweit ich sehe, erst im Zusammenhang mit dem Märtyrertod des Bischofs Adalbert von Prag (983–997) überliefert, beschränken sich jedoch weithin darauf, 16 Meist mit Elbing identifiziert. Wulfstans Bericht ist in die unter Alfred dem Großen entstandene, angelsächsische Version der Historien des Orosius eingefügt und ergänzt dessen geographischen Überblick am Beginn der Historien; ed. Janet Bately, The Old English Orosius I, c. 1 (The Early English Text Society. Supplementary Series, 6), Oxford 1980, S. 16– 19. Bereits A. Kolberg, Wulfstans Seekurs für die Fahrten von Schleswig nach Truso an der warmischen Küste von Preußen im 9. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte und Alterthumskunde Ermlands 6 (1878), S. 1–80, suchte die Route nachzuzeichnen und zu verifizieren; ihm ging das dabei aber einzig um die Örtlichkeiten. Ausführlich zum Bericht und seinen wirtschafts- und verkehrsgeschichtlichen Hintergründen: Anton Englert, Athena Trakadas (Hrsg.), Wulfstan’s Voyage: The Baltic Sea Region in the Early Viking Age as Seen from Shipboard (Maritime Culture of the North, 2), Roskilde 2009. Edition mit Übersetzung und Kommentar zu Namen und Begriffen von Janet Bately, Wulfstan’s Voyage and His Description of Estland: the text and the language of the text, in: ebd., S. 14–28. Gegen Vorbehalte plädierte später auch Judith Jesch, Who was Wulfstan, in: ebd., S. 29–36, die Wulfstan aufgrund seines Namens für einen mit dem Baltikum vertrauten Angelsachsen hält, für die Historizität des Berichts. Hier geht es allein um die in den genannten Beiträgen kaum näher beachteten Vorstellungen von Land und Leuten. 17 Wulfstan beschreibt Estland als groß, mit vielen Städten oder Burgen, in denen jeweils Könige herrschten, und benennt Nahrungs- (und Handels-)güter wie Honig, Fischfang, Stutenmilch (als übliches Getränk für die Oberschicht) und Met (für die Ärmeren); Bier gebe es nicht, da genug Met vorhanden sei. Ferner werden Grabbräuche beschrieben: Die Toten lägen noch unverbrannt, je nach Stellung, ein bis zwei, manchmal sechs Monate da; während dieser Zeit werde gefeiert und getrunken; anschließend würde das Erbe in Wettkämpfen verteilt, wobei die Schnelligkeit der Pferde entschied. 18 So Wadyl, Sacred Sphere (wie Anm. 4), S. 40. 19 Vgl. dazu Hans-Joachim Witzel, Der geographische Exkurs in den lateinischen Geschichtsquellen des Mittelalters, Diss. Frankfurt a.M. 1952. 20 Ed. Rostislav Nový, Die Anfänge des Böhmischen Staates, 1. Teil: Mitteleuropa im 9. Jahrhundert (Acta Universitatis Carolinae philosophica et historica. Monographia, 26), Prag 1968, S. 141 (ed. Erwin Herrmann, Slawisch-germanische Beziehungen im südostdeutschen Raum von der Spätantike bis zum Ungarnsturm. Ein Quellenbuch mit Erläuterungen [Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 17], München 1965, S. 221): Bruzi plus est undique, quam de Enisa ad Rhenum. Danach würde der Geograph den Preußen also große Räume zugestehen.

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dass die Preußen den Missionar während einer Predigt umgebracht hätten. Adalbert selbst hatte seinen Märtyrertod wie auch die Rettung seiner Begleiter vorausgesagt. Nach der ältesten, früher Johannes Canaparius zugeschriebenen, aber wohl um 1000 im Bistum Lüttich verfassten (und anschließend in zwei weiteren Versionen von 1004 und 1025 in Italien überarbeiteten) Adalbertvita21 hat Adalbert zunächst geschwankt, ob er bei den (kürzlich abgefallenen) Liutizen oder bei den Preußen missionieren sollte; beide werden – mit stereotypen, wenngleich hier originell zusammengefügten Wendungen – als Barbaren und heidnische Götzenanbeter charakterisiert, und das werden die Hauptmerkmale auch in der Folgezeit bleiben. Ihr Gott sei der Bauch, wie der Autor (nach Phil 3,19) hinzufügt, und ihre Habsucht verknüpfe sich mit dem Tod.22 Die Ent21 Alle drei Versionen, über deren Entstehung noch keine endgültige Klarheit besteht, sind ediert von Jadwiga Karwasin´ska (MPH n.s. 4/1), Warschau 1962, S. 3–47 (Rezension A, noch Canaparius zugeschrieben), S. 51–67 (Rezension B), S. 71–84 (Rezension C); die Rezension A ist, unter wesentlicher Berücksichtigung der Aachener Handschrift und anderer Bewertung, neu ediert von Jürgen Hoffmann, Vita Adalberti. Früheste Textüberlieferungen der Lebensgeschichte Adalberts von Prag, Teil 2 (Europäische Schriften der Adalbert-StiftungKrefeld, 2), Essen 2005, S. 126–159. Ich folge der Rezension A bei Karwasin´ska und gebe Abweichungen der anderen (römischen) Rezensionen nur dort an, wo sie essentiell den hier behandelten Inhalt betreffen. Die Edition Hoffmanns weicht an den hier interessierenden Stellen nur in der Schreibweise von Karwasin´ska ab. Die Textkritik selbst ist strittig. Ob die älteste Version, wie lange angenommen, tatsächlich von Johannes Canaparius oder, wie Johannes Fried, Gnesen – Aachen – Rom. Otto III. und der Kult des hl. Adalbert. Beobachtungen zum älteren Adalbertsleben, in: Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“, hrsg. Michael Borgolte (Europa im Mittelalter, 5), Berlin 2002, S. 235–279, meint, von Notker von Lüttich stammt, hat auf die hier verfolgte Frage keine gravierenden Auswirkungen. Vgl. dazu Jürgen Hoffmann, Vita Adalberti Aquensis, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 57 (2001), S. 157–163; aber auch Canaparius wird weiterhin als Autor (zumindest der römischen Version) angenommen; vgl. etwa Pierluigi Licciardelli, Agiografia latina dell’Italia centrale, 950–1130, in: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, 5, hrsg. Guy Philippart (Corpus Christianorum. Hagiographies, 5), Turnhout 2010, S. 447–729, zu Johannes S. 585–593. Zum Adalbertbild der Viten vgl. Friedrich Lotter, Adalbert von Prag in der Darstellung der zeitgenössischen Lebensbeschreibungen, in: Kirchengeschichtliche Probleme des Preussenlandes aus Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. Bernhart Jähnig (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 16), Marburg 2001, S. 11–52. 22 Vita Adalberti, c. 27 (wie Anm. 21), S. 40: Inde aduersus diram barbariem prophanosque idolatras gladium predicationis acuens et aptans, cum quibus primum, cum quibus postmodum dimicare oporteret, animo deliberare ce˛pit: utrum Liuticenses, quos christianorum preda miserorumque hominum dampna pascunt, an Pruzzorum fines adiret, quorum deus uenter est et auaricia iuncta cum morte (Version C, S. 82: ipsorum statt Pruzzorum). Mit dem Preußenbild der Adalbertviten und der Passio befasst sich allein, allerdings nur unter dem speziellen Aspekt der Tiermetaphern, Miłosz Sosnowski, ‚Prussians as Bees, Prussians as Dogs‘: Metaphors and the Depiction of Pagan Society in the Early Hagiography of St. Adalbert of Prague, in: Reading Medieval Studies 39 (2013), S. 25–48, dessen Deutung der Metapherverwendung durch die Hagiographen, mit Rückgriff auf antike Literatur, von einem

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scheidung ‚zugunsten‘ der Preußen war letztlich durch den polnischen Herzog bewirkt, dem die benachbarte Gegend bekannt war und der den Missionar mit einem mit Soldaten bemannten Schiff ausrüstete, damit die Reise unbehelligt bliebe. Adalberts Ziel war es, „die Götter und Götzen Preußens zu bekämpfen“. Zunächst begab er sich nach Danzig an der polnischen Grenze am Meer, einer Stadt, die dank der Kaufleute gewiss bereits Kenntnis vom Christentum hatte und wo sich (angeblich) viele bekehren ließen.23 Während Adalbert die Messe las und „Christus dem Vater opferte“, sollte er, so der Autor, schon nach wenigen Tagen selbst ein Opfer Christi werden.24 Er, ein Slawe, Mönch und Bischof, sei als Apostel der Preußen gekommen, so predigte Adalbert in einem anderen Dorf, um ihnen das Heil und himmlische Freuden zu bringen, wenn sie ihre taubstummen Götzenbilder verließen und den wahren Schöpfer als den einzigen Gott erkannten.25 Dann aber habe die „heidnische Wut“ (paganicus furor) sie angegriffen; der „Heidenpriester“ (sacerdos idolorum) und zugleich Anführer – der Autor geht also davon aus, dass es heidnische Priester gab, denen eine führende Rolle zukam – habe Adalbert die ersten Wunden zugefügt, danach folgten die anderen seinem Beispiel.26 Auf diese Weise starb der Bischof am 23. April 997 seinen Märtyrertod, der ganz im Zentrum des Interesses der Vita stand. Man hatte also – zweifellos über den Polenherzog – Kenntnis von der Existenz der Preußen, doch erwähnenswert war allein ihr Heidentum (und ihre barbarische Grausamkeit). Weitere Informationen über das Volk erhalten wir nicht, doch wird von der Landschaft immerhin (nebenbei) berichtet, dass die Missionare auf

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Vergleich mit gefährlichen Hunden und Wölfen in den Viten hin zu eher ambivalenten Bienen in der Passio allerdings keineswegs zwingend ist. Vita Adalberti, c. 27 (wie Anm. 21), S. 40: Tandem alternanti pocior sentencia successit animo, ut quia he˛c regio proxima et nota fuerat duci predicto, Pruzie˛ deos et idola iret debellaturus. Dux uero, cognita uoluntate eius, dat ei nauem et ipsam pro pace itineris ter deno milite armat. Ipse uero adiit primo urbem Gyddanyzc (B: Gnesdon) [Danzig], quam ducis latissima regna dirimentem maris confinia tangunt. Ibi, diuina misericordia aduentum eius prosperante, baptizabantur hominum multe˛ caterve˛. Rezension C (S. 82) spricht vom dux Prussiae und nennt seinen Namen: Uolislaus. Ebd., S. 40f.: Ibi, missarum sollempnia ce˛lebrans, patri immolat Christum, cui non post multos illos dies se ipsum pro hostia fuerat oblaturus. Quicquid uero superfuit de eo, quod ipse et noui baptizati communicarunt, colligere iubet, et mundissimo panno inuolutum sibi seruabat pro uiatico deportandum. Ebd., c. 28, S. 42: ‚Sum natiuitate Sclauus (B, S. 65, C, S. 82: Sum ex Sclauonica gente oriundus), nomine Adalbertus, professione monachus, ordine quondam episcopus, officio nunc uester apostolus. Causa nostri itineris est uestra salus, ut relinquentes simulacra surda et muta, agnoscatis creatorem uestrum, qui solus, et extra quem alter deus non est; et ut credentes in nomine eius uitam habeatis, et in atriis inmarcessibilibus ce˛lestium gaudiorum pre˛mia percipere mereamini.‘ Ebd., c. 30, S. 45f.: Ad ultimum pausantibus cunctis affuit paganicus furor et irruerunt super eos impetu magno […]. Ipse enim, sacerdos idolorum et dux coniurate˛ cohortis, uelut ex debito prima uulnera facit. Deinde concurrerunt omnes et uulnera miscentes iram exsaturant.

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ihrem Weg zu den Dörfern dieser ländlichen Gegend Wälder und Sümpfe durchqueren mussten.27 Eine zweite Vita wurde von Brun von Querfurt verfasst, der Adalbert nicht mehr gekannt hatte, aber später (1009) selbst noch einmal bei den Preußen missionierte und hier seinerseits den Märtyrertod erlitt. Auch sein Bericht konzentriert sich ganz auf Adalbert. Brun will von einer Weissagung der Mutter wissen, dass Adalbert als Bischof über die Preußen gesetzt werde.28 Auch hier half der Polenherzog29 mit einem Schiff, das mit Soldaten bemannt war, „damit kein Heide ihn zu berühren wage“,30 gab es vorab Taufen und Wunder. Den heidnischen Preußen aber seien die drei Missionare, als sie ein kleines Dorf auf einer Halbinsel betraten, mit ihrer fremden Kleidung und unbekanntem Kult wie Fremde erschienen31 (was für die Landbevölkerung denkbar, in den Handelsstädten aber sicher nicht anzunehmen ist, doch auch auf dem Land hatte sich Adalberts Ankunft nach Brun schnell herumgesprochen). Bruns Bericht kulminiert ebenfalls in Adalberts Martyrium,32 bei dem ihm das Haupt abgeschlagen wurde, das der Polenherzog später zusammen mit dem Körper käuflich erwerben konnte:33 Bekehrt wurden die Preußen zwar nicht, zeigten sich aber geschäftstüchtig im Wissen um die religiösen Interessen der Christen. Näheres über das Preußenland (das Brun ja erst später aus eigener Anschauung bekannt wurde) verrät der Bericht darüber hinaus nicht.34 Nach der sehr kurzen, aber noch 27 Ebd., S. 45: Inde nemora et feralia lustra linquentes, sole ascendente ad meridiem, campestria loca adierunt. ´ ska (MPH s.n. 4/2), Warschau 28 Brun von Querfurt, Vita Adalberti, ed. Jadwiga Karwasin 1969, S. 1–41 (längere Version von 1004), S. 45–69 (kürzere Version von 1008), hier Vita Adalberti, c. 4, S. 5: Erzbischof Adalbert von Magdeburg weihte Woitech: Hec cum facta essent, non norunt; postea quando finito scole˛ duello domum redeunt, recordata est mater pueri, quia Pruzis episcopus gentium positus, cum idem Adelbertus super regnum patris iter ageret, deducit filium cum ungendis pueris, ut tunc primo eum crismate episcopus liniret. Zur politisch-geographischen Terminologie Bruns vgl. Knut Görich, Otto III. Romanus Saxonicus et Italicus. Kaiserliche Rompolitik und sächsische Historiographie (Historische Forschungen, 18), Sigmaringen 1993, S. 20–26. Seinem Thema gemäß, bleiben die Preußen dort aber unberücksichtigt. 29 Brun von Querfurt, Vita Adalberti, c. 24, S. 29: Dux itaque Bolezlauus diligebat eum. Quem monet, ut se adiuuet, uidens uideat, quomodo in terram Pruzorum nauigio maris iter exponat, propter que˛rendas animas et scindere uomere Dei incultas gentes. 30 Ebd., S. 30 (in Gnesen): Baptizat populum grandem nimis; inde nullas moras nectit, nauem ascendit, quam ne profanus quis tangere presumat, dux sollicitus multo milite armauerat. Non post multos dies carina secante terga maris, Deum nescientibus illabuntur Pruzorum terris. 31 Ebd., S. 30f.: Ergo miles Dei cum duobus sociis intrauerat paruum locum, qui circumlabente unda fluminis imitatur insule˛ uultum. Ibi aliquos dies steterunt et fama uolans paganorum auribus adduxit habere se hospites ignoto habitu et inaudito cultu. 32 Ebd., c. 26–33, S. 32–40. 33 Ebd., c. 34, S. 40. ´ ska 34 Nur kurz erwähnt Brun von Querfurt, Vita quinque fratrum, ed. Jadwiga Karwasin (MPH s.n. 4,3), Warschau 1973, S. 27–84, an zwei Stellen die Preußen im Kontext des Mar-

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zeitnahen ‚Passio Adalberti‘ aus dem frühen 11. Jahrhundert wurde Adalberts Leiche in den Fluss geworfen, trieb dort sechs Tage lang und wurde am siebten Tag wunderbarerweise wieder angespült, während das Haupt drei Tage lang von einem Adler bewacht worden war. Sein Leichnam wurde von Boleslaw heimgeführt und in der von Mieszko errichteten Kirche niedergelegt.35 Die zuerst wohl gegen 1008 abgefassten Quedlinburger Annalen beschränken sich auf die kurze Mitteilung des Märtyrertodes bei den Preußen.36 Die ältesten, kurz nach der Jahrtausendwende entstandenen Berichte wissen über die Preußen demnach kaum etwas zu berichten, das über das traditionelle Heiden- und Barbarenbild hinausgeht, und auch das beschränkt sich auf die Verehrung von Götzenbildern und weltliches Denken und Verhalten (Habsucht) bzw. auf Wildheit und Grausamkeit, die sich nicht zuletzt bei dem Martyrium Adalberts zeigen. Das Land scheint darin durch Wälder und Sümpfe sowie mehr oder weniger isolierte Dörfer gekennzeichnet, ohne einer gewissen Schönheit zu entbehren. Brun erweckt zudem noch den Eindruck einer Abgeschiedenheit der Preußen, denen die Missionare als vollkommen fremd erschienen. Einer Abriegelung des heidnischen Preußenlandes widersprechen jedoch die (allerdings viel späteren, zwischen 1260 und 1295 verfassten) Miracula s. Adalberti, die im Rückblick von einem adligen Preußen berichten, der des Handels wegen nach Pomeranien gereist war,37 sowie von einem anderen Preußen, der des Polnischen tyriums Adalberts: Vita quinque fratrum, c. 10, S. 52: Et dimissis Pruzis, quo propter nouum sanctum, Adalbertum occisum, iustior me causa duxisset, Nigris Ungris, quo tunc uersus in partes orientis nauim conscendi, sinistro opere et infirmo humero euangelium portare cepi; ebd., c. 13, S. 63: Et ut certa amittantur, qui nouo martyrio misera tempora beauit, sanctus Israelita, uere bonus Adelbertus, cum audire et occidere dedignati Pruzi eum a finibus expellerent suis, pro infortunio illo cepit infinita tristicia laborare et quare, ne eos lucrari posset, imprudenter ueniret, se ipsum increpare. 35 Passio Adalberti episcopi Pragensis, c. 3, ed. Miłosz Sosnowski, Anonimowa Passio s. Adalperti martiris (BHL 40) oraz Wiperta Historia de predictione episcopi Brunonis (BHL 1471b) – komentarz, edycja, przekład, in: Rocznik Biblioteki Narodowej 43 (2012), S. 5–74 (Edition S. 56–70), hier S. 68/70 (ed. Georg Waitz [MGH SS 15,2], Hannover 1888, S. 707f.; ed. August Bielowski [MPH] 1, Lwów 1864, c. 8, S. 156): Mira res et inaudibilis! Sex dies corpus almum in flumine, cui inmerserant, requieuit, septimo autem die piscino more defluit ad ripam, ubi inveniebatur; tribus uidelicet diebus caput in sude fixum ab aquila, ne ab ullo uolucrum tangeretur, custoditum, Pulslauo praefatus, dum a preeuntibus sanctum cadauer uenire cognosceret, cum infinita se comitantum frequentia obuiam iens, condigno honore suam deportari fecit in urbem ac in basilica, quam Misico, bone uir memoriae, Domino fabricauerat, reuerenter collocavit, ubi Deo praestante assiduis uirtutum in dies floret signis. Nach Sosnowski, Prussians (wie Anm. 22), S. 27, sind die erhaltenen beiden Handschriften nur eine Kurzform des ursprünglichen Textes. 36 Annales Quedlinburgenses, a. 996, ed. Martina Giese (MGH SSrG 72), Hannover 2004, S. 492: Adalbertus, episcopus de Praga civitate, a Prucis glorioso martyrio IX. Cal. Maii coronatur. ´ ski (MPH 4), Lwów 1884 [ND Warschau 37 Miracula s. Adalberti, c. 2, ed. Wojciech Ke˛trzyn 1961], S. 226 (ed. Georg Heinrich Pertz [MGH SS 4], S. 613): Circa idem tempus Prutenus quidam nobilis ex Pomeranis quorumdam causa negociorum venit in Sambiam terram,

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mächtig war, von Adalbert bekehrt wurde und ihn seinerseits die preußische Sprache lehrte.38 Dieses Bild wird auch durch den bis 1018 schreibenden, in jeder Hinsicht ausführlichsten Chronisten dieser Zeit, den Bischof Thietmar von Merseburg, in seiner Chronik nicht erweitert, der lediglich Adalberts Beauftragung zur Preußenmission durch den Papst und seinen Märtyrertod am 23. April (997) erwähnt. Die „in ihrer Gesinnung von Christus weit entfernten“, ihrem „alten, verkehrten Irrglauben“ anhängenden Preußen, die er nicht von ihrem Glauben hatte abbringen können, schlugen dem Bischof den Kopf ab, spießten ihn auf einen Pfahl und warfen den Leichnam ins Meer, während seine Begleiter, wie ihm im Traum bereits geweissagt worden war, sämtlich verschont blieben. Boleslaw aber kaufte den Preußen Haupt und Körper Adalberts gegen eine Geldsumme ab.39 Im Zusammenhang mit dem (gleichfalls durch Köpfen erfolgten) Märtyrertod Bruns von Querfurt im Grenzland von Russen und Preußen erwähnt Thietmar, dass die Preußen jenem zuvor das Predigen untersagt hatten. Wenn er davon spricht, dass Brun sich abmühte, „diese unfruchtbaren Äcker durch göttlichen Samen fruchtbar zu machen“, das „schauderhafte (Land), in dem nur Dornen sprossen“, sich aber nicht leicht auflockern ließ,40 klingt das zwar wie eine Anspielung auf scilicet in Pruscie partibus specialem, in qua ab incolis beatus martyr Adalbertus martyrium consumavit. 38 Ebd., c. 6, S. 232 (ed. Pertz, S. 614): Inde in Prusciam mare transiens, adiunxit se cuidam Pruteno, qui Polonicam linguam novit, quem ad fidem cito convertit. Qui hospicio beatum pontificem excipiens, ipsi reverenter sequebatur et de mandato eius christianum se esse ad tempus ab aliis occultabat. Ähnlich auch die schwer datierbare, vermutlich (frühestens) im zweiten Viertel des 12., spätestens in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandene Schrift De s. ´ ski (MPH 4), S. 218 (ed. Max Adalberto episcopo Pragensi, c. 13, ed. Wojciech Ke˛trzyn Perlbach [MGH SS 15,2], Hannover 1888, S. 1182): Quod uir sanctus audiens et illos inconuertibiles esse pernoscens, bonum certamen certare et cursum consumare gestiens, in Prusiam proficisci parat, ut illic aliquos Christo incorporari faciat et martirio mortem finiens uitam inueniat. A predicto igitur duce licentia petita, eius conductu nauigio in Prusiam perductus est. Adhesit autem cuidam Pruteno, qui lingue Polonice non erat ignarus, quem cito ad fidem conuertit atque ab eo linguam Prutenorum didicit. 39 Thietmar von Merseburg, Chronicon IV, c. 28, ed. Robert Holtzmann (MGH SSrG n.s. 9), Berlin 1935, S. 165: cum sibi commissos ab antique pravitatis errore monitis divini precepti amovere nequivisset, omnes excommunicans Romam ad excusandam se apud apostolicam venit. […] Postque cum permissu eiusdem patris Prucorum mentes a Christo alienas freno sancte predicacionis edomare temptaret, cuspide perfossus nono Kalendas Maii capitis abscisione optatum semper martirium solus ex suis percepit absque omni gemitu, ut in ipsa nocte in sompnis ipse vidit cunctisque fratribus predixit: ‚Putabam, inquiens, me missam celebrare solumque communicare.‘ Sed nefandi sceleris auctores eum iam expirasse cernentes, ad augmentum sui sceleris divineque ulcionis corpus pelago mersere beatum, caput sude conviciando figentes ac exultando redeuntes. Quod Bolizlaus, Miseconis filius, comperiens, data mox pecunia martiris mercatur inclita cum capite membra. Danach nahezu wörtlich: Annalista Saxo, a. 996, ed. Klaus Nass (MGH SS 37), Hannover 2006, S. 264f. 40 Thietmar, Chronicon VI, c. 95, S. 388: In duodecimo conversionis ac inclitae conversationis suae anno ad Pruciam pergens, steriles hos agros semine divino studuit fecundare; sed spinis

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die karge Natur des Landes, doch wird man die allegorischen Redewendungen41 nur bedingt auch wörtlich verstehen dürfen. Über den Märtyrertod Bruns von Querfurt ist neben Thiethmars Nachricht noch ein zeitnaher Bericht Wiperts, eines Weggenossen des Missionars, erhalten, der ihm in paganorum provincia que nuncupatur Pruscia gefolgt war.42 Der Bericht betont nicht nur erneut das Heidentum der Preußen, deren heidnische Idole Brun verbrennen ließ, während er selbst, auf Befehl des Königs Nethimar ins Feuer gesetzt, überlebte, sondern lässt auch Einzelheiten der politischen Struktur mit einem König an der Spitze und einem dux erkennen: Während der König sich angesichts des Wunders mit 300 Preußen taufen ließ, bewirkte der dux jenes Landes wenig später mit teuflischer Kraft das Martyrium des Bischofs und seiner Kapläne: Dem Bischof (Brun) habe er den Kopf abschlagen, die anderen aufhängen und Wibert selbst die Augen ausstechen lassen.43 pululantibus horrida non potuit facile molliri. Tunc in confinio predictae regionis et Rusciae cum predicaret, primo ab incolis prohibetur et plus euvangelizans capitur deindeque amore Christi, qui aeclesiae caput est, XVI. Kal. Martii mitis ut agnus decollatur cum sociis suimet XVIII. Nahezu wörtlich der Annalista Saxo, a. 1009 (wie Anm. 39), S. 311f., der Bruns Predigt und Tod an die Grenze zu Litauen und Russland verlegt (Cum igitur in confinio Ruscie et Litue predicaret); noch einmal wiederholt a. 1106, S. 531, anlässlich der Erwähnung seines Verwandten, des Sachsenherzogs (und späteren Königs) Lothar; ebenso Gesta episcoporum Halberstadensium (a. 1008), ed. Ludwig Weiland (MGH SS 23), Hannover 1874, S. 90, die zusätzlich die tierische Wildheit der preußischen Völker betonen (in eadem provincia a gentibus beluine feritatis Prucie multis suppliciis afflictus). 41 Auch wenn zahlreiche der hier verwandten Begriffe biblisch sind, lässt sich für die hier gebrauchten Wendungen allerdings kein Bibelvers ausfindig machen, Der in der FSGAAusgabe von Werner Trillmich gegebene Hinweis auf Mt 13,3–9 enthält nur sehr vage Anspielungen auf den Wortlaut. 42 Wipert, Hystoria de predicatione episcopi Brunonis cum suis capellanis in Pruscis et martirio eorum, ed. Sosnowski (wie Anm. 35 zur Passio Adalberti), S. 70 (ed. Georg Heinrich Pertz in der Einleitung zu den Adalbertviten [MGH SS 4], S. 579; ed. August Bielowski [MPH 1], Lwów 1864 [ND Warschau 1960], S. 229f.): Cognoscat Deo dilectus populus uniuersus, quod ego Vuipertus, Dei seruorum seruus, causa remissionis meorum peccatorum et domini mei sanctissimi et martiris Christi Brunonis episcopi iussione, mea omnia que habui contempsi mobilia et immobilia, et illum secutus fui in paganorum prouincia que nuncupatur Pruscia. Ille eciam pontifex et martir Christi Brunus, dimisso episcopatu una cum grege sibi credito, cum suis capellanis ambulauit Prusciam ad conuertendas paganorum gentes in christianitate sanctissima. Quorum nomina hec sunt: in primis dominus meus Brunus episcopus et martir Christi sanctissimus; nomina capellanorum, qui cum eo ad martirium uenerunt, hec sunt: Tiemicus, Aicus, Hezichus, Apichus, nouissime ego Uuibertus. 43 Ebd., S. 72: Que omnia ut rex Nethimer nomine audiuit dixit: ‚Nos deos habemus in quibus adoramus et confidimus. Uerbis autem tuis obedire nolumus.‘ Episcopus hoc audiens illius [regis] adportare iussit simulacra, et illo presente in igne proiecit cum uirtute maxima. Ignis uero accepit et deuorauit illa denique simulacra. Rex autem turbatus dixit indignatione maxima: ‚Accipite episcopum citissime et in ignem coram me proicite. Si illum ignis comburit et deuorat, cognoscite, quia illius est predicatio uanissima, denique si est aliter, in illum deum credam[us] uelociter.‘ [Brun aber ließ sich in seiner bischöflichen Kleidung samt seinem Sitz ins Feuer tragen, während die Kapläne sieben Psalmen sangen, und blieb unverletzt.] Rex

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Adalberts Märtyrertod bei den Preußen aber blieb seither fest im Gedächtnis des Abendlandes und wird in zahlreichen Geschichtswerken, wenn zumeist auch nur kurz, erwähnt;44 selbst etwas ausführlichere Berichte, wie die um 1080 entuero hoc uidens factum mirabile, cum trecentis uiris credidit deo uelociter et accepit baptismus penitentie. Dux postea illius terre ad episcopum equitauit, uirtute repletus diabolica, et illum episcopum cum capellanis fecit martirizare absque ulla querimonia. Episcopi caput iussit abscidi et capellanos omnes iussit suspendi et meos oculos eruere fecit. Jetzt aber würden sich über ihren Gräbern Kirchen erheben. Wenn der Bericht einigermaßen zeitgenössisch ist, wäre das kaum glaubhaft. 44 Ich gebe im Folgenden nur eine kurze Aufstellung der Belege, in denen die Preußen explizit für Adalberts Märtyrertod verantwortlich gemacht werden: Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum IV, c. 18, ed. Bernhard Schmeidler (MGH SSrG 2), Hannover, Leipzig 1917, S. 246: Apud illos martyrio coronatus est illustris Boemiorum episcopus Adalbertus (danach wörtlich: Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1, ed. Bernhard Schmeidler [MGH SSrG 32], Hannover 1937, S. 6); Chronicon Wirzeburgense, a. Otto II. 11, ed. Georg Waitz (MGH SS 6), Hannover 1844, S. 29: Sanctus Adalbertus episcopus de Praga civitate a Prucis martyrio coronatur (danach wörtlich: Frutolf von Michelsberg, Chronicon, a. 994, ed. Georg Waitz, ebd., S. 191; Honorius Augustodunensis, Summa totius, a. 984, ed. Roger Wilmans [MGH SS 10], Hannover 1852, S. 130; Gesta episcoporum Halberstadensium, wie Anm. 40, S. 89; Cosmas von Prag, Chronica Boemorum I, c. 31, ed. Bertold Bretholz [MGH SSrG n.s. 2], Berlin 1923, S. 55f. – so nur in der Handschrift A3; in den übrigen Handschriften heißt es: Postquam insignis signifer Christi, presul Adalbertus, retibus fidei cepit Pannoniam simul et Poloniam, ad ultimum, dum in Pruzia seminat verbum Dei, hanc presentem vitam pro Christo feliciter terminavit martirio IX. kal. Maii, feria VI –; Annales Wirziburgenses, a. 995, ed. Georg Heinrich Pertz [MGH SS 2], Hannover 1829, S. 242; Annales Magdeburgenses, a. 996 [Otto III. 13], ed. Georg Heinrich Pertz [MGH SS 16], Hannover 1859, S. 159; Chronica regia Coloniensis, a. 994 [Otto III, a. 10], ed. Georg Waitz [MGH SSrG 18], Hannover 1880, S. 32; Annales Gradicenses [Hradisch], a. 994, ed. Wilhelm Wattenbach [MGH SS 17, Hannover 1861], S. 647; ed. Josef Emler, in: Fontes rerum Bohemicarum 2, Prag 1874, [ND Hildesheim, Zürich, New York 2004], S. 588; Annales s. Aegidii Brunswicenses, a. 994, ed. Ludwig von Heinemann [MGH 30/1], Hannover 1896, S. 9). Ein etwas anderer Wortlaut findet sich in der knappen Nachricht der (erst 1306 entstandenen) Annales Osterhovenses (Osterhoven), a. 996, ed. Wilhelm Wattenbach (MGH SS 17), Hannover 1861, S. 539, aus Osterhoven: sanctus Adalbertus episcopus Bragensis martirizatus est a Pruzsis; anders auch Annales s. Pauli Virdunensis, a. 973, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 16), Hannover 1859, S. 500: Postea Otto admodum puer, cuius tempore Albertus de Braga a Bruzis martirizatur, und Carthuitius, Vita s. Stephani (König Stephan I. von Ungarn) I, c. 6 (Migne PL 151), Sp. 1212 AB: Et eodem anno [997] beatus episcopus Adalbertus, causa praedicandi verbum Dei, Prussiam ingressus, ibi palma martyrii coronatus est. Im Wortlaut abweichend auch, jeweils unterschiedlich, die polnischen Annalen: Annales Cracovienses breves, a. 997, ed. Richard Röpell, Wilhelm Arndt (MGH SS 19), Hannover 1866, S. 665, verfasst 1122: Beatus/sanctus Adalbertus [episcopus Bragensis] passus/martirizatus est in Prussia/Pruzia; Annales Heinrichowenses (Heinrichau), a. 977, ed. Wilhelm Arndt (MGH SS 19), S. 547 (ed. August Bielowski [MPH 3], Lwów 1878 [ND Warschau 1961], S. 705); im 13./ 14. Jh. die Annales Kamenzenses (Kamenz), a. 997, ed. Richard Röpell, Wilhelm Arndt (MGH SS 19), S. 581 (ed. August Bielowski [MPH 2], Lwów 1872 [ND Warschau 1961], S. 777). Diese Annalen erinnern, a. 1165, ed. Röpell, Arndt, S. 582 (ed. Bielowski, S. 778), noch einmal angesichts der Pommernmission Ottos von Bamberg an das Ereignis, machen beides jetzt aber zu gleichzeitigen Ereignissen: et sanctus Otto episcopus eiusdem civitatis, qui cum sancto Adelberto post conversionem Polonorum ad fidem, Pomoraniam ad Christum

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standene Gründungsgeschichte des Klosters Brauweiler,45 schildern nur Missionserfolge46 und die Art des Todes.47 In seiner Vita des Pommernmissionars Otto von Bamberg erinnert Ebo im 12. Jahrhundert (in einer Rede der polnischen Priester und Großen) daran, dass „unsere Brüder, die Preußen“, Adalbert, der ähnlich gepredigt habe, erschlagen hätten.48 Über die Preußen selbst erfährt man in diesen Nachrichten nichts weiter.

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convertit, sed postea solus sanctus Adelbertus Pruzziam predicando invasit et ibidem martyrium sumpsit. Später, aber auf früherer Grundlage (die Abfassungszeit der in vier verschiedenen, späten Versionen erhaltenen Annalen ist kaum mehr festzustellen): Annales Polonorum, a. 982, ed. Richard Roepell, Wilhelm Arndt (MGH SS 19), Hannover 1866, S. 617, zu Adalbert (zitiert nach Version 1, ähnlich 3 und 4): Demum per Poloniam transiens et eosdem in fide confirmans, in Prussiam veniens ibidem predicando fidem, martirio coronatur. In der nur in der Bearbeitung im Kloster Huy an der Maas (Neufmoustier bei Huy) überlieferten Weltchronik Alberichs von Troisfontaines aus der Mitte des 13. Jahrhunderts ist der Bericht ebenfalls leicht ausgeweitet: Chronicon a monacho novi monasterii Hoiensis interpolata, a. 1015, ed. Paul Scheffer-Boichorst (MGH SS 23), Hannover 1874, S. 781: Hoc tempore sanctus Adalbertus Pragensis episcopus cognomento Guiciheth apud Bructios, id est Prucios, martirizatur. Eher nebenbei erwähnt in der Vita Meinwerci c. 7, ed. Franz Tenckhoff (MGH SSrG 59), Hannover 1921, S. 11: Ipso anno imperator tempore quadragesimali orationis causa ad sanctum Athelbertum Slaviam intravit, ibique coadunata sinodo VII episcopia disposuit et Gaudentium monachum, fratrem beati Athelberti archiepiscopi, qui ante triennium a Prucis martirizatus fuerat, in Prago archiepiscopum constituit. In anderer Diktion: Otto von Freising, Chronicon VI, c. 26, ed. Adolf Hofmeister (MGH SSrG 45), Hannover, Leipzig 1912, S. 289: Huius diebus beatus Albertus Bragensis episcopus predicans Brucis martyrio coronatur. Später auch Alexander Minorita, Expositio in Apocalypsim 16, ed. Alois Wachtel (MGH QGG 1), Weimar 1955, S. 334: Ipso etiam tempore, scilicet anno DCCCCXCIVº, Prutenis aestum persecutionis et ignem tribulationis in Ecclesia Dei moventibus, beatus Albertus de Praga civitate ab ipsis blasphemis est martyrio coronatus. Brunwilarensis monasterii fundatorum actus, c. 10, ed. Georg Waitz (MGH SS 14), Hannover 1883, S. 131, zu Adalbert, ebenfalls mit dem Motiv des wachenden Adlers (in der Passio Adalberti, wie Anm. 35): Bracorum etenim [urbis] presul effectus, cum genti Pruzorum verbum vitae predicaret, a paganis septies perfossus et capite truncatus, tribus diebus ab aquila custoditus est, et primo apud Polanos tumulatus, sed postea a Bulezlao duce˛ ad sedem suam Bracham urbem summo cum honore est relatus (danach wörtlich: Chronica regia Coloniensis, wie Anm. 44, S. 32, in den Handschriften B1 und C2). Vgl. die allerdings erst nach 1270 verfassten Annales sanctae crucis Polonici, c. 5, a. 998, ed. Anna Rutkowska-Płachcin´ska (MPH n.s. 12), Krakau 1996, S. 8: Anno Domini millesimo minus duobus annis sanctus Adalbertus veniens Gneznam fidem catholicam in Polonia roboravit et plures Polonos et Prutenos ad fidem catholicam convertit predicando eis fidem christianam. Tandem in Prussia martirio coronatur per Prutenos. Vgl. die erst sehr spät am Ende des 15. Jahrhunderts überlieferten Annales Silesiaci compilati, a. 995, ed. Wilhelm Arndt (MGH SS 19), Hannover 1865, S. 537, nach denen die Preußen Adalbert für einen Zauberer hielten: et in navigio per terram Pomorie in Prussiam est perductus, quem Prutheni estimantes maleficiis incantacionum deservire, ipsum in loco officii celebrati capite absciso interfecerunt, cuius caput et corpus dux Boleslaus predictus a Pruthenis cum pecunia redemit et cum magna devocione in civitatem Gnesnensem portavit. Ebo, Vita Ottonis episcopi Babenbergensis II, c. 1, ed. Jan Wikarjak, Kazimierz Liman (MPH s.n. 7/2), Warschau 1969, S. 52 (ed. Rudolf Köpke [MGH SS 12], Hannover 1856, II, c. 3, S. 842): Non enim expedit nobis peregrinum nudipedem interficere, quia et fratres nostri Pruozenses

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Nur zwei Chroniken heben sich durch einen etwas ausführlicheren Bericht ab, nämlich die nach 1033 verfassten ‚Historiae‘ Rodulf Glabers sowie die älteste polnische Chronik des sog. Gallus Anonymus aus dem frühen 12. Jahrhundert. Rodulf weiß neben der Vorhersage des Martyriums und zahlreich vorgenommenen Taufen zu berichten, dass Adalbert einen nahe dem Fluss stehenden Baum, dem das ganze Volk abergläubisch zu opfern pflegte, entwurzeln ließ und genau an dieser Stelle einen Altar errichtete und weihte, um hier eine Messe abzuhalten, dabei aber von den Pfeilen der Gottlosen durchbohrt wurde. (Seinen Leichnam hätten seine Begleiter nach diesem Bericht, gegen alle anderen Nachrichten, in die Heimat zurückgeschafft.)49 Gallus Anonymus ging es vor allem um die Leistungen Boleslaws I. (Chrobry), der Adalbert bei seiner Mission gegenüber den heidnischen Pomeranen und Preußen unterstützte und dessen Leichnam den Preußen nach seinem Märtyrertod gegen Gold abkaufte,50 doch kommt der Autor später noch mehrfach auf die Preußen zu sprechen.51 ante annos aliquos Adelbertum quendam similia huic predicantem occiderunt, et ex eo omnis pressura et calamitas apprehendit eos totaque substantia eorum ad nichilum redacta est. 49 Rodulf Glaber I, c. 4,10, ed. John France, Oxford 1989, S. 22/24 (ed. Mathieu Arnoux [Miroir du Moyen Âge], Turnhout 1996, S. 58): Eodem ergo imperante, uenerabilis pontifex Adalbertus, ex prouintia que˛ lingua Sclauorum uocatur Bethem, in ciuitate Braga regens ecclesiam sancti martiris Vitisclodi, egressus ad gentem Bruscorum, ut eis uerbum salutis predicaret. Dumque apud eosdem plurimam egisset predicationem, multique ex eis conuerterentur ad fidem Christi, predixit suis, quoniam in eadem regione martirii coronam esset accepturus; ac ne pauerent, eis pariter indicauit, quia preter eum ibidem nemo ex eis erat perimendus. Contigit enim, ut die quadam, precipiente eodem episcopo, quedam profana arbor sita iuxta fluuium, cui etiam superstitiose immolabat uniuersum uulgus, uidelicet excisa conuelleretur. Constructoque ac sacrato in eodem loco altare, missarum sollempnia per se episcopus explere parauit. Qui dum in ipsis sacramentis peragendis esset constitutus, ictibus iaculorum ab impiis perfossus, tandemque sacrum sollempne peractum simulque presentis uite˛ imposuit terminum. Denique discipuli eius, accepto corpore sui domini, illud secum ferentes, in propriam sunt reversi patriam. Cuius etiam meritis usque in presens largiuntur hominibus plurima beneficia. ´ ski (MPH n.s. 2), Krakau 50 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum I, c. 6, ed. Karol Maleczyn 1952, S. 17: Ipse namque Selenciam, Pomoraniam et Prusiam usque adeo vel in perfidia persistentes contrivit vel conversas in fide solidavit, quod ecclesias ibi multas et episcopos per apostolicum, ymmo apostolicus per eum ordinavit. Ipse etiam beatum Adalbertum in longa peregrinacione et a sua rebelli gente Bohemica multas iniurias perpessum, ad se venientem cum magna veneratione suscepit, eiusque predicacionibus fideliter et institucionibus obedivit. Sanctus vero martir igne karitatis et zelo predicacionis accensus, ut aliquantulum iam in Polonia fidem pullulasse et sanctam ecclesiam excrevisse conspexit, intrepidus Prusiam intravit, ibique martirio suum agonem consumavit. Postea vero corpus ipsius ab ipsis Prusis Bolezlauus auri pondere comparavit et in Gneznen metropoli condigno honore collocavit. Zur Kritik an Gallus’ Nachrichten über Preußen vgl. Dariusz Adam Sikorski, Galla anonima wiadomosˇci o Prusach. Próba weryfikacji wybranych hipotez, in: Kwartalnik historyczny 110 (2003), S. 5–23; zu Gallus’ Bild der Preußen als Fremde vgl. Anna Aurast, Fremde, Freunde, Feinde. Wahrnehmung und Bewertung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und des Cosmas von Prag, Bochum 2019, besonders S. 77f., 98f., 110–112 und 122–124. 51 Vgl. unten Anm. 80, 82, 114, 125, 136, 137 und 150.

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Immer wieder erinnerte man, wie schon Brun und Gallus – in unterschiedlichen Versionen –, auch an den Erwerb der Reliquien durch den Polenherzog Boleslaw: Nach den (erheblich jüngeren) ‚Miracula Adalberti‘ wurden die heiligen Gebeine von heidnischen Händen fortgeschafft und von Barbaren bewacht, die unsicher gewesen seien, ob sie eine göttliche Strafe treffen würde oder ob sie sie verkaufen könnten.52 Als sie aber einen Finger des Heiligen im Bauch eines Fisches fanden, der in hellem Glanz leuchtete, brachten sie ihn dorthin, wo der Körper des Heiligen war, dessen Gelenke ebenfalls zu leuchten begannen, und sie fingen an, ihn zu verehren. Da sie aber wussten, wie wertvoll Boleslaw die Reliquien waren, schickten sie Boten zu ihm, dass sie seinen erschlagenen Gott besäßen, und boten ihm den Leichnam für eine hohe Summe an; der Herzog ließ sich sofort darauf ein.53 Im Umkreis des Reliquienerwerbs werden hier beiläufig Heidentum und Barbarentum der Preußen erwähnt, die den Heiligen für einen Gott der Christen hielten; dabei wird erneut aber auch ihr Geschäftssinn betont. Als ein Krieg zwischen Polen und Preußen ausbrach, brachte Boleslaw die Gebeine sicherheitshalber nach Gnesen.54 Auch Bruns Todes wird später noch 52 Miracula s. Adalberti, c. 8 (wie Anm. 37), ed. Ke˛trzyn´ski, S. 233f. (ed. Pertz, S. 615): Traduntur itaque sancta membra prophanis manibus asportanda; que cum disposicione superna reverenter ipsi barbari custodierunt, vel quia, si hoc non facerent, flagello divino percuti formidabant aut quia christianis ea vendere cogitabant. 53 Ebd.: Illi vero qui digitum sancti pontificis in piscis ventre repererunt, properanter, ut legitur, illos, aput quos veneranda membra esse noverant, adierunt, omnesque artus corporis sicut digitum lumine celesti conspiciunt radiare; ad quod spectandum miraculum tota villa confluens et stupens, corpus beatum tanto clarificatum prodigio deinceps ampliori reverencia confirmabant. Porro scientes Pruteni martyris gloriosi Adalberti reliquias principi christianissimo duci Polonie magno Boleslao preciosas existere, mittunt ad eum nuncios dicentes: ‚Noveris, illum deum tuum, quem interfecimus, apud nos esse. Si vis nobis dare magnam pecuniam, promittimus transmittere illum tibi.‘ Audiens hoc nobilissimus princeps, gavisus est gaudio magno et mittens precium postulatum, suscepit cum veneracione debita corpus sacrum. Dabei ereignete sich ein Wunder: Der Körper war leicht und der einstige Wirt des Heiligen in Preußen, dessen Mund zur Strafe nach innen gedreht war, wurde geheilt, als er im Kloster seine Schuld bekannte. Mit diesem Bericht, etwas ausgeschmückt, übereinstimmend, mög´ ski, licherweise sogar älter als die Miracula: De s. Adalberto, c. 18 (wie Anm. 38), ed. Ke˛trzyn S. 220 (ed. Perlbach, S. 1183); anders als bei Thietmar, Chronicon IV, c. 28 (oben Anm. 39), und den einschlägigen Berichten vom abgeschlagenen Haupt, war der Leichnam hier wieder ´ ski, S. 220 (ed. ganz, aber nur noch als Skelett erhalten. Zum Wunder ebd., c. 19, ed. Ke˛trzyn Perlbach, S. 1184). ´ ski, S. 235 (ed. Pertz, S. 1183): Post 54 Miracula s. Adalberti, c. 8 (wie Anm. 37), ed. Ke˛trzyn aliquantulum uero temporis orto bello inter paganos finitimos et Polonos, metuens princeps memoratus, ne forte aliquo sinistro bellorum eventu tantum thesaurum perdere posset, sacras reliquias cum ingenti gloria. 8. Idus Novembris in Gneznam transtulit, ubi per ipsius martyris gloriosi merita miracula multa fiunt. Danach Annales Magdeburgenses, a. 1009 (Heinrich ´ ski, II. 7) (wie Anm. 44), S. 164. Ähnlich De s. Adalberto, c. 20 (wie Anm. 38), ed. Ke˛trzyn S. 220f. (ed. Perlbach, S. 1184). Vgl. auch Gallus Anonymus I, c. 6 (oben Anm. 50); De translatione s. Adalberti, ed. Georg Waitz (MGH SS 15,2), Hannover 1888, S. 708, wonach umgekehrt der Polenherzog die Preußen um den Leichnam bat: Igitur, congregato exercitu,

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mehrfach gedacht, das grausame Abhacken seiner Hände und Füße sowie seines Hauptes betont.55

III.

Der Bericht Adams von Bremen als erstes Gesamtbild

Einen gewaltigen ‚Sprung‘ an einschlägigen Informationen bewirkt erst die 1075/ 1076 abgeschlossene Hamburgische Kirchengeschichte Adams von Bremen, die um der Geschlossenheit willen hier zunächst als Ganzes vorgestellt werden soll, bevor die einzelnen Aspekte in struktureller Gliederung anhand weiterer Quellen besprochen werden. „Hinter der Oder wohnen als erste die Pomeranen, dahinter die Polen, die zu ihrer Seite die Preußen haben, dahinter die Böhmen und im Osten die Russen,“ so beschreibt Adam selbst oder ein zeitnaher Kommentator (etwas grob) die ethnisch-geographische Welt des östlichen Europa und ordnete die Preußen hier nördlich der Polen an.56 In Kapitel II,22 beschreibt Adam anlässlich der Aufzählung der Slawenvölker und der Erwähnung ‚Jumnes‘ (Wollins), ihm zufolge der bedeutendsten Handelsstadt und angeblich größten Stadt Europas, den Weg von dort zu den Preußen: nach Demmin an der Peenemündung im Gebiet der Runen und weiter nach Samland im Besitz der Preußen.57 Im Zuge des Heiratsbündnisses zwischen dem Schwedenkönig Erich mit einer Tochter oder Schwester des Polenkönigs Boleslaw sowie dessen Paktes mit Otto III. aber habe, so Adam übertreibend, „der christlichste König Boleslaw […] das ganze Sla-

petit Poloniam, deinde suos legatos misit ad Prussiam, per quos Prussorum duci promisit immensam pecuniam, si ei sancti Adalberti redderet sacras reliquias. Nach den Annales Silesiaci compilati, a. 995 (wie Anm. 47), S. 537, nahm Otto III. später einen Arm Adalberts mit nach Rom: locum eundem deinde Otto III. in Polonia visitavit et ibi brachio sancti Adalberti recepto Romam veniens in ecclesia, ubi corpus sancti Bartholomei quiescit, collocavit. 55 Vgl. Chronicon Wirzeburgense, a. Heinrich II. 8 (wie Anm. 44), S. 29: Brun episcopus et monachus a Prucis multis suppliciis afflictus et manibus pedibusque abscisis, postremo capite plexus, caelos petiit (wörtlich Frutolf, Chronicon, a. 1008, wie Anm. 44, S. 193; Chronica regia Colonienses, a. 1008 [Heinrich II, a. 7], wie Anm. 44, S. 33); in verkürzter Form Gerhard, Chronicon Stederburgense, a. 1008, ed. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 16), Hannover 1859, S. 201 (vom Ende des 12. Jahrhunderts): Bruno episcopus a Prucis multis suppliciis affectus, coelos petiit; Annales s. Pauli Virdunenses, a. 1002 (wie Anm. 44), S. 500: Brun episcopus a Bruzis manibus et pedibus abscisis passus est. 56 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum II, c. 21, Schol. 14 (wie Anm. 44), S. 76: Trans Oddoram fluvium primi habitant Pomerani, deinde Polani, qui a latere habent hinc Pruzzos, inde Behemos, ab oriente Ruzzos. Diese Scholie findet sich aber nur in einigen Handschriften. 57 Ebd., II, c. 22, S. 80: Ab illa civitate [Iumne/Wollin] brevi remigio traiicitur hinc ad Dyminem urbem, quae sita est in hostio Peanis fluvii, ubi et Runi habitant. Inde ad Semland provinciam, quam possident Pruzi. Danach wörtlich Annalista Saxo, a. 983 (wie Anm. 39), S. 237.

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wenland, Russland und Preußen unterworfen, von denen der heilige Adalbert die Passion erlitt, dessen Reliquien jener nach Polen überführte.“58 Solchen Einzelnachrichten lässt Adam eine ausführliche Charakterisierung der Preußen im vierten Buch in seiner (angeblichen) Beschreibung Skandinaviens, tatsächlich aber der ganzen (potenziellen) Hamburger Kirchenprovinz folgen. Werden die Preußen bei der Beschreibung der Anrainer der Ostsee59 noch übergangen, so kommt Adam darauf wenig später bei der Beschreibung der slawischen Ostseeküste zu sprechen: Preußen (Semland) wird hier als die dritte bedeutende „slawische“ Ostseeinsel (hinter Fehmarn und Rügen) betrachtet. Sie grenzt an Russen und Polen und wird von den „Semen“ (Sembi) bzw. Preußen (Pruzzi) besiedelt, die Adam – im Gegensatz zu den mordsüchtigen Piraten Fehmarns und Rügens – als äußerst menschlich (humanissimi) beschreibt: Sie seien stets hilfsbereit gegenüber Schiffbrüchigen und den Opfern der Piraten.60 Gold und Silber würden sie verachten, hätten aber reichlich fremdländische Pelze, „deren Duft unserem Erdkreis das tödliche Gift des Hochmuts verschafft hat.“ Sie bedienen sich ihrer nämlich „zu unserer Verdammung“, wie Adam meint, „die wir nach Recht und Unrecht nach kostbarer Marderkleidung lechzen, als sei das die höchste Seligkeit“, und bieten sie uns willig im Tausch gegen bestimmte Wollstoffe an.61 Als Nahrung diene ihnen Viehfleisch,62 deren Milch 58 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum II, c. 35, Schol. 24 (wie Anm. 44), S. 95f.: Hericus rex Sueonum cum potentissimo rege Polanorum Bolizlao fedus iniit. Bolizlaus filiam vel sororem Herico dedit. Cuius gratia societatis Dani a Sclavis et Sueonibus iuxta impugnati sunt. Bolizlaus, rex christianissimus, cum Ottone tercio confederatus omnem Sclavaniam subiecit et Ruzziam et Pruzzos, a quibus passus est sanctus Adalbertus, cuius reliquias tunc Bolizlaus transtulit in Poloniam (nur in den Handschriften B1a, 3a und der CKlasse). Danach verkürzt Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 15 (wie Anm. 44), S. 30f. 59 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 12 (wie Anm. 44), S. 241. 60 Ebd., IV, c. 18, S. 244f.: Illae autem insulae, quae Sclavis adiacent, insigniores accepimus esse tres. Quarum prima Fembre vocatur. Haec opposita est Wagris, ita ut videri possit ab Aldinburg, sicut illa, quae Laland dicitur. Altera est contra Wilzos posita, quam Rani [vel Runi] possident, gens fortissima Sclavorum, extra quorum sentenciam de publicis rebus nihil agi lex est, ita [illi] metuuntur propter familiaritatem deorum vel potius demonum, quos maiori cultu venerantur quam ceteri. Ambae igitur hae insulae pyratis et cruentissimis latronibus plenae sunt, et qui nemini parcant ex transeuntibus. Omnes enim, quos alii vendere solent, illi occidunt. Tercia est illa, quae Semland dicitur, contigua Ruzzis vel Polanis; hanc inhabitant Sembi vel Pruzzi, homines humanissimi, qui obviam tendunt his ad auxiliandum, qui periclitantur in mari vel qui a pyratis infestantur. Danach (nur der letzte Halbsatz) Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 6. Zu Adams Sicht der Preußen und ihrer Lebensweise vgl. Timothy Barnwell, Fragmented Identities: Otherness and Authority in Adam of Bremen’s History of the Archbishops of Hamburg-Bremen, in: The Resources of the Past in Early Medieval Europe, hrsg. Clemens Gantner, Rosamond McKitterick, Sven Meeder, Cambridge 2015, S. 206–222, hier S. 217–222. 61 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 18 (wie Anm. 44), S. 245f.: Aurum et argentum pro minimo ducunt, pellibus abundant peregrinis, quarum odora

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und Blut sie in rohem Zustand bis zur Sättigung (oder auch: bis zum Rausch) trinken.63 Die Menschen seien von dunkler Hautfarbe mit rötlichem Gesicht, trügen lange Haare und würden sich hinter ihren unzugänglichen Sümpfen – die einzige Landesbeschreibung, die sich bei Adam findet – von niemandem beherrschen lassen.64 Tatsächlich wäre über die Sitten dieses Volkes viel Lobenswertes zu sagen, wenn sie nur Christen wären und die Missionare nicht auf unmenschliche Weise martern würden (wie eben Adalbert).65 „Bis zum heutigen Tag“ sei Christen – die dort also offenbar durchaus, vor allem sicherlich als Handel Treibende, verkehrten –, während sie alles andere mit ihnen gemeinschaftlich machten, der Zugang zu den (heidnischen) Hainen und Quellen strengstens verwehrt, weil Christen die heiligen Stätten verunreinigen (also entweihen) würden.66 Wie auch sonst in diesem Buch, stellt Adam bei seinen Beschreibungen der Völker also positive und negative Eigenschaften der Preußen nebeneinander, gewiss nach stereotypen Merkmalen, die das Heidnische und Barbarische ebenso wie das Fremdartige hervorheben, verbindet damit zugleich aber, wie so häufig, eine Kritik an der eigenen Gesellschaft. Gleichzeitig sind diese Merkmale jedoch merklich konkretisiert, wie bei der Hilfe gegen Piraten, der Ernährungsweise oder dem Handel mit Marderpelzen; Adams Quellen für diese Aussagen sind nicht bekannt.67 Tatsächlich erscheinen die Preußen hier, von ihrem Heidentum

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letiferum nostro orbi superbiae venenum propinavit. Et illi quidem uti stercora haec habent ad nostram, credo, dampnationem, qui per fas et nefas ad marturinam vestem anhelamus quasi ad summam beatitudinem. Itaque pro laneis indumentis, quae nos dicimus faldones, illi offerunt tam preciosos martures. Danach Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 6. Faldones mag eine Latinisierung von mhd. valde, Falte, sein. Iumentum ist das Zugtier, im Westen daher vor allem das Rind, doch mag hier – gerade in Abgrenzung davon – das Pferd bzw., wie aus dem Folgenden hervorgeht, die Stute, gemeint sein, wie auch Trillmich in der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe übersetzt. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 18 (wie Anm. 44), S. 245: Carnes iumentorum pro cibo sumunt, quorum lacte vel cruore utuntur in potu, ita ut inebriari dicantur. Danach Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 6. Die Nachricht erinnert immerhin an Wulfstans Bericht (oben Anm. 17). Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 18 (wie Anm. 44), S. 245: Homines cerulei, facie rubea, et criniti. Preterea inaccessi paludibus nullum inter se dominum pati volunt. Danach Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 6. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 18 (wie Anm. 44), S. 245: Multa possent dici ex illis populis laudabilia in moribus, si haberent solam fidem Christi, cuius predicatores immaniter persecuntur. Danach Helmold I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 6. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis pontificum ecclesiae IV, c. 18 (wie Anm. 44), S. 245: Usque hodie profecto inter illos, cum cetera omnia sint communia nostris, solus prohibetur accessus lucorum et fontium, quos autumant pollui christianorum accessu. Danach Helmold von Bosau, Chronicon I,1 (wie Anm. 44), S. 6. Es ist daher müßig, darüber zu spekulieren, worauf Adams Nachrichten, die meistens aus ‚zweiter Hand‘ stammen, beruhen, doch ist es gut vorstellbar, dass ein Reisender hier seine Erfahrungen mitgeteilt hat, die Adam dann verallgemeinert. Die Verunreinigung der Kult-

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abgesehen, insgesamt in einem positiveren Licht als weder davor noch danach wieder. Seine Beschreibungen sind ausführlicher aber nur von Helmold von Bosau aufgegriffen worden. Adam spricht nahezu alle Bereiche des Preußenbildes an: die geographische Abgrenzung, die sumpfige Beschaffenheit des Landes, den Charakter und die Lebensweise der Menschen, ihre Religion, den Fellhandel. Im Folgenden sollen die Nachrichten dieser und anderer Autoren bis zum Eingreifen des Deutschen Ordens nach solchen systematischen Gesichtspunkten durchsichtet werden.

IV.

Die geographisch-politische Lage Preußens

Recht häufig geben die Autoren (wie Adam) den Siedlungsraum der Preußen an und zeigen somit, dass sie dieses Volk räumlich einzuordnen wussten, auch wenn das zumeist nur durch Nennung ihrer Nachbarn und ohne nähere Landesbeschreibung erfolgt. Adams diesbezügliche Nachrichten (nördlich zwischen Pomeranen und Polen)68 bilden hier den Ausgangspunkt, aber nicht unbedingt die Vorlage. Helmold von Bosau präzisiert, am Südufer der Ostsee siedelten die Slawen, und zwar von Osten nach Westen Russen und Polen, die ihrerseits im Norden von den Preußen, im Süden von Böhmen, Mährern, Karantanen und Sorben umgeben seien.69 Wie Adam zählt er die Preußen also zu den Slawen. Die Nachbarschaft mit Polen aber führte immer wieder zu Kriegen zwischen beiden Völkern.70 In seiner Vita Ottos von Bamberg sieht Herbord im 12. Jahrhundert seinem Thema und seiner Perspektive gemäß die Preußen als nordöstliche Nachbarn der Pomeranen.71 Aus polnischer Perspektive benennt Gallus An-

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stätten durch Andersgläubige entspricht im Übrigen – in umgekehrter Richtung – aber auch christlichem, hier auf die heidnischen Preußen übertragenen Denken. Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum II, c. 21 (oben Anm. 56). Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 5: At litus australe Slavorum incolunt nationes, quorum ab oriente primi sunt Ruci, deinde Polani, habentes a septentrione Pruzos, ab austro Boemos et eos qui dicuntur Marahi sive Karinthi atque Sorabi. So die Miracula s. Adalberti, c. 8 (oben Anm. 54). Herbord, Dialogus de vita Ottonis episcopi Babenbergensis II, c. 1, ed. Jan Wikarjak, Kasimierz Liman (MPH s.n. 7,3), Warschau 1974, S. 60 (ed. Rudolf Köpke [MGH SS 20], Hannover 1868, S. 725): Itaque Pomerania post se in oceano Daciam habet et Rugiam insulam parvam sed populosam, super se autem, id est ad dexteram septentrionis, Flaviam habet et Prusciam et Rusciam, ante se vero, id est versus aridam, parva extremitate se attingentes fines respicit Ungarie ac Moravie. Zur Grenze ebenso Annales Magdeburgenses (wie Anm. 44), c. 7, S. 164. Grob „hinter Russland“ verortet Preußen, von der anderen Richtung her, später (nach der Eroberung) auch Wilhelm von Rubruc, Itinerarium, c. 13,2, ed. Anastasius van den Wyngaert, Itinera et relationes Fratrum Minorum saeculi XIII et XIV (Sinica Franciscana, 1), Quaracchi-Firenze 1929, S. 195: Ultra Rusciam ad acquilonem est Pruscia, quam nuper subiugaverunt totam fratres Teutonici, et certe de facili acquirerent Rusciam, si apponerent manum.

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onymus die heidnischen Pomeranen und Preußen wieder als (nördliche) Nachbarn der Polen.72 Die nach 1241 entstandene Chronik Alberichs von Troisfontaines (in der Bearbeitung aus Huy) wiederum siedelt Litauen zwischen Schweden, Preußen und Polen73 und an späterer Stelle Preußen jenseits von Polen und Pommern an,74 so dass sich insgesamt ein rundes Bild ergibt.75 Eine genaue Grenzbeschreibung bieten erst die bereits nach dem Eingreifen des Deutschen Ordens, wohl nach der Mitte des 13. Jahrhunderts erstmals zusammengestellten Schlesischen Annalen zum Jahr 1231: Die aus Russland kommende Memel bildete im Osten die Grenze zu den Samogiten (oder Schamaiten: Samagittae), Litauern und Kurländern (Curamanni), die Mosavia im Süden und die Stadt Dobrin grenzten gegenüber Polen und die Weichsel im Westen gegenüber den Pomeranen ab.76

72 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum prol. (wie Anm. 50), S. 7: Ad mare autem septemtrionale vel amphitrionale tres habet affines barbarorum gentilium ferocissimas naciones. Selenciam, Pomoraniam et Pruziam. Mit Selencia ist hier sicher nicht Schlesien, sondern wohl das Liutizenland gemeint. Zum ganzen Zitat vgl. unten Anm. 150. 73 Alberich von Troisfontaines, Chronicon, a. 1194 (wie Anm. 44), S. 872: Hiis diebus in Livonia, que est inter Sueciam et Pruciam et Poloniam, quidam abbas venerabilis Bertoldus nomine Cisterciensis ordinis Christum predicabat paganis cum omni instantia; qui etiam secundus factus episcopus post Maynardum, qui fuit ex regularibus et primus predicaverat in illa provincia, diu perseveravit et postmodum interfectus martirium promeruit. 74 Ebd., a. 1228, S. 921: In Prutia vero, que est ultra Poloniam et ultra Pomeraniam. 75 Eine grobe Abfolge der Ostseevölker bietet in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Roger Bacon, Opus maior, pars 4, dist. 4, c. 5, ed. Felix Liebermann (MGH SS 28), Hannover 1888, S. 572 (die Edition von Pia A. Antolic-Piper, Opus maius. Eine moralphilosophische Auswahl, Freiburg 2008, enthält diese Passagen nicht), nämlich, von Nord nach Süd, Estland, Livland, Kurland, Preußen, Pommern, hebt Kurland im Westen Lettlands also zusätzlich von Preußen ab: Et post in orientem versus est magnum mare predictum quod vocatur Mare Orientale, quia occeanus non se extendit ultra aliud mare; sed super latus aquilonare istius maris immediate post angulum Swecie est Estonia; deinde Livonia versus orientem illius maris; deinde Curonia seu Curlandia, declinando ad meridianum latus; postea Pruscia, magna terra in meridiano latere; deinde Pomerania; postea Libec, portus magnus et famosus, in confinio Dacie et Saxonie. 76 Annales Silesiaci compilati, a. 1231 (wie Anm. 47), S. 539: Prusia igitur ab oriente flumine Mimmel, quod longe per Rusiam superiore Sitia discurrens mari accipitur Gothico, Samagittas Lituanos et Curamannos ab ea dividit, a meridie Mosavia atque Dobrin Polonie terra, ab occidente Wissula, que Pomeraniam disterminat et Prusiam, ac in montibus Ungarie nascens, mare penes Danczk interfluit et mari tandem ipso a septemtrione clauditur universa. Wenn mit Dobrin nicht der Ort in Kujawien am Leslauer See, sondern nördlich Thorn gemeint ist, müsste Mosavia die Drewenz sein.

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V.

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Die Beschaffenheit des Landes

Die Nachrichten über Land und Leute77 sind zwar alles andere als üppig und präzise, sie spiegeln aber doch eine gewisse, wenngleich oft stereotype Kenntnis der Preußen wider. Der Charakter des Landes wird meist nur en passant gestreift. Dabei ist immer wieder von Ebenen und Wäldern – nach der ‚Passio Adalberti‘ kam Adalbert nahe der Stadt Cholinun (Kolna?) durch einen lieblichen Wald, in dem es eine schöne Ebene gab78 –, Sümpfen79 und Seen, die beide im Winter vereist waren – Boleslaw III. nutzte das nach Gallus als „Brücke“ für einen Kriegszug –,80 sowie von Wildnis81 die Rede. Es habe keinen anderen Zugang in das bewohnte Land außer über Seen und Sümpfe gegeben, die zusammen mit den Inseln einen natürlichen, uneinnehmbaren Schutz bildeten, obwohl es dort weder Burgen noch Städte gab.82 Niemand hätte es gewagt, mit einem Heer durch so viele Seen und Sümpfe zu marschieren.83 Dass die allegorischen „unfruchtbaren Äcker“ bei Thietmar nicht zwingend auf die Natur des Landes zu beziehen 77 Aus den dürftigen, über alle Zeiten verteilten, meist jedoch weit späteren Nachrichten stellt Voigt, Geschichte Preußens (wie Anm. 6), S. 541–573, ein Bild des „häuslichen und geselligen Lebens“ der Preußen zusammen. Die ausführliche Landesbeschreibung bei Voigt, ebd., S. 473–524, fragt nach der Beschaffenheit des Landes, nicht nach den Vorstellungen der Quellen. 78 Passio s. Adalberti episcopi Pragensis, c. 3 (wie Anm. 35), ed. Sosnowki, S. 60 (ed. Bielowski, S. 154; ed. Waitz, S. 706): Post hec uidelicet sumpto baculo paucis se comitantibus latenter quasi fugam moliens, Pruze˛ se intulit regioni. Urbi quoque Cholinun appropinquans, uenerat in quoddam nemus ciuitati propinquum, satis uenustum, in quo erat planities iocunda; eodemque die uigilia erat sancti Georgi martiris. 79 Vgl. Adam von Bremen, Gesta pontificum ecclesiae Hammaburgensis IV, c. 18 (oben Anm. 64). 80 Vgl. Gallus Anonymus, Chronica Polonorum III, c. 24 (wie Anm. 50), S. 153f., anlässlich von Winterfeldzügen Boleslaws (wo doch selbst die römischen Kaiser nie den ganzen Winter hindurch gekämpft hätten): Item inpiger Bolezlazuus yemali tempore non quasi desidiosus in otio requievit, sed Prussiam terram aquiloni contiguam, gelu constrictam introivit, cum etiam Romani principes in barbaris nationibus debellantes, in preparatis munitionibus yemarent, neque tota yeme militarent. Illuc enim introiens, glacie lacuum et paludum pro ponte utebatur, quia nullus aditus alius in illam patriam nisi lacubus et paludibus invenitur. 81 Die allerdings erst dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts angehörige Buch’sche Glosse zum Sachsenspiegel schreibt wörtlich: Do was Prutzen wiltnisse (Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse III, tit. 4,2, ed. Frank-Michael Kaufmann [MGH Font. iur. Germ. n.s. 7,3], Hannover 2002, S. 1219). 82 So Gallus Anonymus (wie Anm. 50), Chronica Polonorum III, c. 24, S. 154: Qui cum lacus et paludes pertransisset et in terram habitabilem pervenisset, non in uno loco resedit, non castella, non civitates, quia ibi nulla, sibi obsedit, quippe situ loci et naturali positione regio ista per insulas lacubus et paludibus est munita et per sortes hereditarias ruricolis et habitatoribus dispartita. 83 Ebd., II, c. 42, S. 112: Terra enim illa lacubus et paludibus est adeo communita, quod non esset vel castellis vel civitatibus sic munita; unde non potuit adhuc ab aliquo subiugari, quia nullus valuit cum exercitu tot lacubus et palludibus transportari.

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sind, wurde schon oben erwähnt,84 entspräche aber solchen Charakterisierungen. Adams Beschreibung des Charakters der Preußen wird außer von Helmold später nirgends mehr aufgegriffen, erweitert oder abgewandelt.85

VI.

Heidentum und Barbarentum

Nahezu alle Autoren betonen das noch lange Zeit anhaltende Heidentum der Preußen,86 nicht selten mit den stereotypen Merkmalen, mit denen das Mittelalter Heidnisches verbunden hat.87 Thietmar sieht die Preußen ganz von Christus entfremdet,88 Helmold erblickt in ihnen zu seiner Zeit überhaupt die einzigen, die noch nicht bekehrt werden konnten,89 Wipert schildert, dass er in einer Provinz der Heiden namens Preußen gewesen sei.90 Sie würden in ihrem „irrenden Unglauben“ den Himmel nicht kennen und Geschöpfe anstelle des Schöpfers verehren, heißt es in den tschechischen Annalen von Hradesch (Hradisco).91 Noch 1230 spricht Herzog Konrad von Masowien in seiner Urkunde, mit der er den Deutschen Orden mit dem Kulmer Land ausstattete und zur Eroberung und Mission des Landes aufrief, von „den Preußen und anderen Feinden des 84 Thietmar von Merseburg, Chronicon VI, c. 95 (oben Anm. 40). 85 Erneut weiß erst Peter von Dusburg, Chronica terrae Prussiae III, c. 5 (wie Anm. 4), S. 54, mehr über die Lebensweise zu berichten, indem er die von Adam betonte Gastfreundschaft bestätigt (zu der es aber auch gehört, den Gast betrunken zu machen). Ihre Frauen würden sie wie Sklaven halten, nicht mit ihnen am selben Tisch essen und anderen gegen Bezahlung anbieten. Ein Mord könne nur durch Blutrache gesühnt werden. 86 Nachrichten über Götterwelt, Glauben und Priestertum der heidnischen Preußen stellt, durchweg aus weit späteren Quellen, Voigt, Geschichte Preußens (wie Anm. 6), S. 574–616, zusammen; zur Religion kurz auch Labuda (wie Anm. 6), S. 79–82; Schlüsse über Religion und Lebensweise der Preußen aus späteren Nachrichten zieht Bernhart Jähnig, Das Schicksal der Prußen im Deutschordensland Preußen, in: Ders., Vorträge und Forschungen zur Geschichte des Preußenlandes und des Deutschen Ordens im Mittelalter. Ausgewählte Beiträge zum 70. Geburtstag am 7. Oktober 2011, hrsg. Hans-Jürgen und Barbara Kämpfert (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens, 34), Münster 2011, S. 287–303. 87 Vgl. dazu Hans-Werner Goetz, Die Wahrnehmung anderer Religionen und christlichabendländisches Selbstverständnis im frühen und hohen Mittelalter (5.–12. Jahrhundert), 1, Berlin 2013, S. 135–163. 88 Thietmar von Merseburg, Chronicon IV, c. 28 (oben Anm. 39). 89 Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 5: Omnes hee naciones preter Pruzos Christianitatis titulo decorantur; später (ebd., S. 6) noch einmal: Pruci necdum lumen fidei cognoverunt. 90 Wipert, Hystoria de predicatione episcopi Brunonis (oben Anm. 42). 91 Annales Gradicenses, a. 1141 (wie Anm. 44), S. 651: Eodem anno domus episcopus Heindricus ob amorem celestis patrie non veritus feritatem incredulorum convertit iter suum ad Pruzie terrae gentem, Dei caeli ignorantem et creaturam pro creatore colentem, quatinus ex ea, quos Deus ad eternam predestinavit vitam ceu fluctivagos pisces rete fidei comprehensos de erronea infidelitate ad indeficiens lumen perduceret.

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christlichen Namens“,92 Papst Gregor IX. wenig später von den „heidnischen Preußen, die es von sich wiesen, den wahren Gott und Herrn Jesus Christus anzuerkennen“ und mehr als zehntausend Dörfer, Klöster und Kirchen im Grenzgebiet niedergebrannt hätten,93 und selbst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sieht Roger Bacon in den baltischen Völkern immer noch Heiden94 und in Preußen und Litauern, nicht weit entfernt, „reines Heidentum“ erhalten, weil dort niemals gepredigt wurde und sie (wie auch die Litauer und andere Völker an den deutschen Grenzen) das Gesetz Gottes noch nicht angenommen hätten.95 Immer wieder ist von den pagani,96 gentiles,97 impii98 oder increduli99 die Rede. (Typische) heidnische Kennzeichen sind die schon bei Adam erwähnten Haine und Quellen als Kultplätze.100 Rodulf Glaber bezeugt einen „heidnischen Baum“ als Opferstätte der Gottlosen,101 die ältere Adalbertvita einen Priester.102 Solche stereotypen Indizien gelten für alle Heiden (zumal die mittelalterlichen Christen nur bedingt zwischen verschiedenen Kulten differenzieren wollten). Erst gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts sind, jetzt aus näherer Kenntnis heraus, konkretere Beschreibungen des Kultes erhalten. So berichten die Annales Silesiaci compilati, 92 Gregor IX., Registrum, ep. 411, ed. Georg Heinrich Pertz, Karl Rodenberg (MGH Epp. saeculi XIII e regestis pontificum Romanorum selectae 1), Berlin 1883, S. 331 (Urkunde Konrads von Masowien von 1230) (unten Anm. 187): Pruteni et alii Christiani nominis inimici. 93 Gregor IX., Registrum, ep. 460, ebd., S. 370, von 1232, an die Brüder vom Predigerorden in Böhmen: Ex litteris venerabilium fratrum nostrorum, Mazoviensis, Wratislaviensis episcoporum et capitulorum suorum necnon prudentium virorum relatu percepimus, quod pagani Pruteni verum Deum et dominum Iesum Christum agnoscere respuentes, ultra decem milia villarum in Prussie confinio positarum, claustra et ecclesias plurimas combusserunt. 94 Roger Bacon, Opus maior, pars 4, dist. 4, c. 5 (wie Anm. 75), S. 573: Pruceni, Curlandi, Livonii, Estonii, Semigalli, Leuconii sunt pagani. 95 Ders., Compendium studii philosophiae, ed. Felix Liebermann (MGH SS 28), Hannover 1888, S. 578: Scimus, non solum a longe, sed prope nos regiones maris esse, que in puro paganismo adhuc remanent, quibus nunquam fuit predicatum nec legem Dei receperunt, ut sunt Pruteni et Letewini et alii multi qui sequntur fines Alemannie. 96 Vgl. Miracula s. Adalberti, c. 8 (oben Anm. 54 und unten Anm. 98); Cosmas von Prag, Continuatio Wissegradensis, a. 1141, ed. Rudolf Köpke (MGH SS 9), Hannover 1851, S. 147 (unten Anm. 157): paganos qui vocantur Pruzi. ´ ski, S. 227 (ed. Pertz, S. 613): homo 97 Miracula s. Adalberti, c. 2 (wie Anm. 37), ed. Ke˛trzyn gentilis. 98 Vgl. Rodulf Glaber, Historiae I, c. 4,10 (oben Anm. 49); Miracula s. Adalberti, c. 8, ed. Ke˛trzyn´ski, S. 233 (ed. Pertz, S. 615): Pagani autem, ex indicio mulieris in virum impetu facto, multis eum verberibus afficiunt ac in vincula coniectum variis affligunt suppliciis, ut sanctas reliquias eis monstret. Denique relinquens mandatum Dei, derelictus est ab eo et traditus iuste potestati impiorum, satisfecit ipsorum voluntati. 99 Vgl. Annales Gradicenses, a. 1141 (oben Anm. 91). 100 Vgl. Adam von Bremen, Gesta IV, c. 18 (oben Anm. 66). 101 Vgl. Rodulf Glaber, Historiae I, c. 4,10 (oben Anm. 49). 102 Vita Adalberti, c. 30 (oben Anm. 26).

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eine Eiche bei Thorn sei von den Preußen wegen ihrer breiten Zweige und festen Wurzeln ganz besonders verehrt und mit Zaun und Graben umhegt worden. (Dieser religiöse Kultort sei von den Christen dann zerstört worden.) Ihr Ritus sei dem christlichen Glauben genauso fremd wie fern jeder ‚Menschlichkeit‘; in ihrem früheren heidnischen Irrglauben verstrickt, beteten sie den ganzen Himmels- und Erdschmuck an und hielten einige Wälder für so heilig, dass sie dort keinen Baum zu fällen oder morsche Bäume zu entsorgen wagten; sie glaubten aber an ein besseres Leben der Toten, ehrten deshalb die verstorbenen Verwandten, bei deren Tod sie den schönsten Sklaven, ein Pferd und Hunde sowie den Hausrat zusammen mit dem Verstorbenen verbrannten (?)103 und hielten außerdem viel von Wahrsagerei mittels der Seelen der Toten in der Nacht nach deren Tod.104 Im Rückblick berichtet auch der 1237 verstorbene Emo (von Huizinge), die jetzt bekehrten Livländer, Esten und Preußen, die noch zur Zeit Papst Innozenz’ III. nichts von Christi Inkarnation gewusst hätten, hätten heidnische Gottheiten, Dryaden (Baumgeister), Wald-, Berg- und Talnymphen, hinnides, satyrische Wesen und Faunen angebetet und in abgegrenzten Hainen, die niemand entweihen durfte, Quellen und Bäume, Berge und Hügel, Felsen und Höhlen verehrt.105 Die Belege zeigen deutlich, dass das Heidentum die ganze Zeit über und bis weit in das 103 Der Sinn scheint hier ganz unklar. Consumere meint zwar in erster Linie verzehren, doch mag hier auch die Nebenbedeutung ‚umbringen‘ bzw., da zusammen mit dem Toten, ‚vernichten‘, wahrscheinlich im Sinne von ‚verbrennen‘, zutreffen. Die Bedeutung ‚verschwinden lassen‘ könnte aber auch auf Grabbeigaben deuten, wie auch der Nachsatz nahelegt, der Verstorbene könnte das in der anderen Welt besser nutzen. 104 Annales Silesiaci compilati, a. 1231 (wie Anm. 47), S. 539: Christi milites Wissulam fluvium in terram Colmensem transfretarunt, et prope oppidum Thorun quercum, pre celeris nemoris huius amplam ramorum ac radicum suarum firmitate preelectam arborem, munierunt, quam statim fossa et sepe cum nonnullis propugnaculis circumdantes et in ipsius cacumine super ramos quasi habitaculi domum de lignis quorum non modica ibi aderat copia facientes […]. Horum ritus, sicuti, a christiana religione alienus, ita ab omni humanitate remotus fuit, ipsi namque prisco gentilitatis errore inbuti, omnem ornatum celi atque terre adorantes, nonnullas silvas adeo sacras esse arbitrabantur, ut nec ligna incidere nec vetustate quidem deiectas arbores inibi abducere permittebant, parentibus etiam liberi, dum condigna exequii iura mortis persolvebant, pulchriorem genitoris servum, equum, canes et aliam domus suppellectilem una cum defuncto consumpserunt, credebant enim, ut decedentes in alio seculo hiis multo gloriosius quam hic solebant uti. Consulebant eciam augures, ubi anime defunctorum prima nocte requiescerent in hospicio, hos et plures alios errores observabant, a quibus Dei voluntate per dictos milites Christi, sunt reducti et ad fidem conversi. 105 Emo, Chronicon, ed. Ludwig Weiland (MGH SS 23), Hannover 1874, S. 474: Temporibus eiusdem pontificis [Innozenz] populus aquilonaris, qui ambulabat in tenebris, vidit lucem magnam fidei catholicae. Nam gens Livorum, Hestonum, Pruzorum, variis erroribus delusa, ignorans Dei filium et incarnati verbi misterium, numina gentilium colebat, driades, amadriades, oreades, napeas, hinnides, satiros et faunos. Separabat enim sibi lucos, quos nulla securis presumpsit violare, ubi fontes et arbores, montes et colles, rupes et valles venerabantur, quasi aliquid virtutis et auspicii reperiri posset in eis. Nunc autem sanam doctrinam secuta et ad episcopum ac pastorem animarum suarum conversa, Iesum Christum, pontificibus suis obediens, ecclesias edificat ac frequentat, legibus christianis pro magna parte subiecta.

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13. Jahrhundert hinein ein wesentliches Kennzeichen der Preußen geblieben war.106 Die Weichsel, so heißt es noch zum Jahr 1207 in der Chronik Alberichs von Troisfontaines, würde Christen und Heiden strikt voneinander trennen.107 Im Zuge der Kreuzzugsideologie konnte der Polenherzog Konrad von Masowien die Preußen nicht nur als „Glaubensfeinde und Feinde des Kultes Christi“ bezeichnen, sondern sogar von „den Preußen und anderen Sarazenen“ schreiben.108 Dass die ‚Sarazenen‘ (die Muslime) als ‚Heiden‘ bezeichnet (und betrachtet) werden, ist weithin verbreitet,109 doch hier werden im Umkehrschluss (und in der Kreuzzugstopik) die Heiden zu Sarazenen gemacht, ein Zeichen für die ideologische Angleichung aller Kriege gegen Andersgläubige. Traditionell eng mit dem Heidentum verbunden110 ist die häufige Charakterisierung der Preußen als Barbaren111 – der ursprünglich ethnisch-kulturell abwertende Begriff wurde bereits seit der Spätantike auch auf Nichtchristen angewandt112 – und damit die Kennzeichnung nicht nur als ein „kulturloses“, sondern auch als wildes und äußerst grausames Volk (crudelissimi); der Hal106 Auch Peter von Dusburg, Chronica terrae Prussiae III, c. 5 (wie Anm. 4), S. 52–54, beschreibt ihr Heidentum im Rückblick konkreter. So hätten sie beispielsweise ihren Hohepriester, dem sie ein Drittel der Beute opferten, wie den Papst verehrt und auch an eine Auferstehung geglaubt, wenngleich nicht in der richtigen Weise. 107 Alberich von Troisfontaines, Chronicon (wie Anm. 44), a. 1207, S. 887, über die Anfänge des Christentums bei den Preußen (unten Anm. 130): Wisselam fluvium, paganos dividentem et christianos. 108 Gregor IX., Registrum (wie Anm. 92), ep. 414, S. 332, von 1230 (Urkunde Konrads von Masowien): Fratres quoque predicti bona fide repromiserunt mihi heredibusque meis, secundum Dei honorem et timorem contra Prutenos et alios Sarracenos nobis conterminos terram nostram impugnantes, quamdiu hostes fidei sunt et inimici cultus Christi, assistere et sine dolo ac fictione una nobiscum omni tempore militare. 109 Vgl. Goetz, Wahrnehmung anderer Religionen (wie Anm. 87), 1, S. 357–377. 110 Vgl. Gallus Anonymus, Chronicon Polonorum prol. (oben Anm. 72): barbarorum gentilium ferocissimas naciones. 111 So schon die Vita Adalberti, c. 27 (oben Anm. 22); Miracula s. Adalberti, c. 8 (oben Anm. 52); Gallus Anonymus, Chronica Polonorum prol. (oben Anm. 72); Annales Silesiaci compilati, a. 1194 (wie Anm. 47), S. 538, zu Konrad, dem Sohn des Polenherzogs Kasimir (unten Anm. 162): ab insultibus Pruthenorum, qui barbari erant; ebd., a. 1231, S. 539, zu einem polnischen Feldzug ins Kulmerland: primum ad expugnandum barbaros pedem fixerunt, a quo propugnaculo gentes barbarorum mira animi fortitudine, cum parva colleccione Christi fidelium copiosam multitudinem gentilium invadere et expugnare inceperunt et de Prusia eicere; Honorius III., ep. 266, S. 191, von 1225, zur Mission des Bischofs von Modena (unten Anm. 181): destinemus ad Prutenorum barbaras nationes ad predicandum eis nomen et fidem Dei ac domini Iesu Christi; Gregor IX., ep. 411 (wie Anm. 92), S. 328, von 1230, an die Brüder vom Deutschen Orden (Fratribus domus sancte Marie Teutonicorum in Teutonia et Prutenorum partibus constitutis): Sane dominus et redemptor noster, in cuius odium et contemptum populus barbarus Prutenorum graviter persequitur Christianos, qui iuxta ipsos existunt. 112 Zur mittelalterlichen Kennzeichnung der Heiden als Barbaren vgl. Goetz, Wahrnehmung anderer Religionen (wie Anm. 87), 1, S. 168–179.

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berstädter Bistumschronist spricht den Völkern Preußens eine geradezu „tierische Wildheit“ (feritas) zu,113 für Gallus Anonymus sind die Preußen ebenfalls „unvernünftige Tiere“,114 der Magdeburger Annalist hebt „die grausamsten Barbaren“ von den zwar nicht katholischen, aber doch wenigstens christlichen Russen ab.115 Die schlesischen Annalen schreiben noch später, ganz im Gegensatz zu Adam,116 die Preußen seien jeder Menschlichkeit fern.117 Nicht nur das Volk, das ganze Land ist für Gallus „barbarisch“,118 ja, nach den angrenzenden Völkern wird die ganze Ostsee, das „Skythenmeer“, noch zu Adams Zeiten als mare barbarum bezeichnet,119 und ebenso „barbarisch“ mutet die lateinischen Autoren die Sprache der Preußen an.120

VII.

Politisch-soziale Ordnung und Wirtschaftsbeziehungen121

Der Einschätzung der Preußen als ‚Barbaren‘ entsprechen, nicht weniger stereotyp, die Vorstellungen von einer unterentwickelten Lebens- und Gesellschaftsordnung, auch wenn sich dazu nur wenige Autoren äußern. Wie schon erwähnt, hätten die Preußen, so Gallus Anonymus, weder Städte noch Burgen gekannt,122 wohl aber habe Boleslaw III. auf seinem Feldzug dort viele Gebäude und Dörfer zerstört, eine gewaltige Beute gemacht und unzählige Gefangene

113 Gesta episcoporum Halberstadensium (oben Anm. 44); vgl. Gallus Anonymus, Chronica Polonorum II, c. 42: ferocitas (unten Anm. 125). 114 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum II, c. 43 (wie Anm. 50), S. 112, zu einem Wunder in Pomeranien: Nunc autem Pruzos cum brutis animalibus relinquamus et quandam relationem rationis capacibus, ymmo Dei miraculum referamus. 115 Annales Magdeburgenses, a. 1147 (Konrad III. 10) (wie Anm. 44), S. 188: Item frater ducis Poloniae cum viginti milibus armatorum exiverat. Cuius etiam frater maior cum infinito exercitu adversus Pruscos crudelissimos barbaros venit, et diutius ibi moratus est. Contra quos etiam Rutheni, licet minus catholici tamen christiani nominis karacterem habentes, inestimabili Dei nutu cum maximis armatorum copiis exiverunt. 116 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum IV, c. 18 (oben Anm. 60). 117 Annales Silesiaci compilati, a. 1231 (oben Anm. 104). 118 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum II, c. 42 (unten Anm. 136): in Prusiam, terram satis barbaram. 119 Vgl. Adam von Bremen, Gesta pontificum Hammaburgensis ecclesiae IV, c. 10 (wie Anm. 44), S. 238: idemque mare barbarum seu pelagus Sciticum vocatur a gentibus, quas alluit, barbaris. Danach Helmold von Bosau, Chronicon I, c. 1 (wie Anm. 44), S. 5f. 120 Vgl. Alberich von Troisfontaines, Chronicon, a. 1228 (wie Anm. 44), S. 921: Insuper principium artis grammatice, videlicet Donatum, in illorum barbaram linguam cum maximo labore transtulit. 121 Zur Darstellung der Verhältnisse (nicht des Preußenbildes) vgl. Labuda (wie Anm. 6), S. 83– 100. 122 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum III, c. 24 (oben Anm. 82).

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fortgeführt (aber keine Schlacht führen können).123 Über das Herrschaftssystem äußern sich die Autoren nicht näher. Für Adam von Bremen entbehrten die Preußen jeglicher Herrschaft: Sie würden gar keinen Herrn über sich dulden.124 Sine rege, sine lege, stellt ebenso plakativ wie eindrücklich Gallus Anonymus fest, würden sie weder von ihrem Unglauben (oder auch ihrer Treulosigkeit) noch von ihrer Wildheit ablassen:125 Ohne König und ohne Gesetz zu sein, entspräche dabei erneut nicht nur dem Barbarenklischee, sondern auch dem Heidenstereotyp, da den Heiden ein Religionsgesetz fehlt. Hingegen vermeldet die ‚Translatio Adalberti‘ ebenso beiläufig wie selbstverständlich, Boleslaw habe dem ‚Herzog‘ der Preußen eine immense Summe für die Reliquien Adalberts angeboten:126 Dass es zwar keinen König, aber (wie bei den Polen) einen dux als Herrscher über die Preußen gab, erscheint dem Autor selbstverständlich. Gallus spricht allgemein, nun aber im Plural, von principes,127 und auch Papst Honorius III. bezeugt später, in einem Brief von 1224, duces Prutenorum.128 Ganz beiläufig aber hatte schon Wipert im frühen 11. Jahrhundert sowohl einen König als auch einen dux erwähnt,129 und das bestätigt für die Zeit nach 1200 (rund 40 Jahre später schreibend) Alberich von Troisfontaines, indem er von der Bekehrung zunächst eines dux und anschließend dessen königlichen Bruders berichtet130 (und damit indirekt eine Herrschaftsteilung innerhalb der herrschenden Familie impliziert, wie sie in Polen seit der Teilung des Landes unter die Söhne Boleslaws III. üblich war). Beide nehmen also sogar eine gestufte Herrschaft mit Amtsträgern und somit eine entwickelte Organisation an. Die frühen Vorstellungen von der inneren Organisation der Preußen erscheinen insgesamt aber zu widersprüchlich, um auf ein sicheres Wissen schließen zu lassen.

123 Ebd., III, c. 24, S. 154: Igitur belliger Bolezlauus per illam barbaram nationem passim discurrens, predam inmensam cepit, viros et mulieres, pueros et puellas, servos et ancillas innumerabiles captivavit, edificia villasque multas concremavit, cum quibus omnibus in Poloniam sine prelio remeavit, quod prelium tamen invenire plus hiis omnibus exoptavit. 124 Adam von Bremen, Gesta pontificum Hammaburgensis ecclesiae IV, c. 18 (oben Anm. 64). 125 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum II, c. 42 (wie Anm. 50), S. 112: Adhuc ita sine rege, sine lege persistunt, nec a prima perfidia vel ferocitate desistunt. Zu Zweifeln an Gallus’ Nachrichten vgl. Sikorski, Galla Anonima (wie Anm. 50). 126 Translatio s. Adalberti (oben Anm. 54). Einen dux Prussiae bezeugen zeitnah schon die römische Vita Adalberti (Version C) (oben Anm. 23) sowie später der Bericht Wiperts, Hystoria de predicatione episcopi Brunonis (oben Anm. 43). 127 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum prol. (unten Anm. 150). 128 Honorius III., ep. 264 (unten Anm. 181). 129 Wipert, Hystoria de predicatione episcopi Brunonis (oben Anm. 42). 130 Alberich von Troisfontaines, Chronicon (wie Anm. 44), a. 1207, S. 887: De principio christianitatis in Prutia: Abbas Godefridus de Luckina, in Polonia cum monacho suo Philippo Wisselam fluvium, paganos dividentem et christianos, transivit et Pruthenis paulatim predicare incipiens, ducem Phalec ad fidem convertit et postmodum fratrem eius regem Sodrech.

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Dass die Vorstellung völliger Kulturlosigkeit nicht der Wirklichkeit entsprach (und man auch davon wusste), zeigen vereinzelte Berichte über gegenseitige Kontakte, aus denen vor allem hervorgeht, dass die Preußen mit anderen Völkern oder Regionen Handel trieben.131 Von einem Pelzhandel hatte bereits Adam von Bremen berichtet.132 Seit der Errichtung des Bistums Schleswig, so Adam (und danach der Annalista Saxo), fuhren von hier aus dauernd Schiffe ins Slawenland, nach Schweden und Samland bis nach Griechenland.133 Zum Jahr 1221 heißt es in der Chronik Alberichs von Troisfontaines, ein König David (der sagenhafte Priesterkönig Johannes, wie der Autor vorher erklärt hat) oder sein Sohn sei nach Russland in die Gegend der Kumanen gekommen und habe unzählige Russen und heidnische Preußen niedergemacht und die große Stadt Tornax oder Ornacia vollständig zerstört, zu der Kaufleute aus weit entfernten Gegenden reisten.134 Preußen mögen hier sowohl im russischen Heer gedient als auch dort Handel betrieben haben. Auch wenn dieser sagenhafte Bericht selbst jeder Glaubwürdigkeit entbehrt, verdichtet sich in der Vorstellung der Chronisten doch das Bewusstsein von Außenbeziehungen und intensivem Handel der Preußen.

VIII. Mythische Herkunft Der mythische Charakter ist wiederum wichtiger Bestandteil mittelalterlichen Geschichtsverständnisses, vor allem in Form von Herkunftssagen, die zumeist allerdings dem eigenen Volk gelten.135 Sie betreffen, jetzt von außen gesehen und eher beiläufig, aber auch die Preußen: Setzen Nachrichten über die Preußen erst im frühen 11. Jahrhundert ein, so führen spätere Herkunftsmythen sie auf weit frühere Zeiten zurück. Gallus Anonymus glaubt zu wissen, dass bereits Sachsen zu Schiff nach Preußen gelangt seien, dort Krieg gesucht, aber nicht gefunden 131 Vgl. Miracula s. Adalberti, c. 2 (oben Anm. 37). 132 Adam von Bremen, Gesta pontificum Hammaburgensis ecclesiae IV, c. 18 (oben Anm. 61). 133 Ebd., IV, c. 1, S. 228: Ex eo portu naves emitti solent in Sclavaniam vel in Suediam vel ad Semland usque in Greciam. Danach Annalista Saxo, a. 952 (wie Anm. 39), S. 176. 134 Alberich von Troisfontaines, Chronicon, a. 1221 (wie Anm. 44), S. 911: In isto quoque anno nunciatum est in Francia, quod idem rex David vel eius, ut quidam dicebant, filius iam venerat in Comaniam, que est ultra Hungariam et in partibus Russie. Ubi quasdam terras incredulorum destruxit et maxime Comanorum et habuit ibi fortissimum bellum per menses 5; de Russis etiam sibi resistentibus multa milia, de Prutenis quoque paganis absque numero interfecit; et quod magna civitas Tornax, id est Ornacia, ab eis destructa est, ad quam mercatores de longinquis partibus ibant. 135 Vgl. dazu im vergleichenden Überblick Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen (Orbis mediaevalis. Vorstellungswelten des Mittelalters, 7), Berlin 2006.

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hätten und deshalb zunächst zurückgekehrt seien.136 Als Karl der Große dieses Volk dann aber bedrängte, so fügt er ex relatione maiorum hinzu, die Sachsen sich jedoch weder unterwerfen noch den christlichen Glauben annehmen wollten, seien sie mit Schiffen ausgewandert, hätten Preußen erobert und den Namen dieses Landes angenommen.137 Die deutsche Kaiserchronik greift noch weiter zurück und will wissen, dass bereits Dietrich (von Bern), dem der römische Kaiser Zeno Länder zu Lehen übertragen habe, Gesandte aus allen Teilen der Welt empfangen habe, darunter auch der Preußen (in den jeweils einmaligen Schreibweisen Pruizen – so auch in der ältesten Vorauer Handschrift – und, in einigen jüngeren Handschriften, Pruozen).138 Den Höhepunkt aber bildet ein Mythos, der, anders als Gallus, nicht die Sachsen nach Preußen kommen lässt, sondern beiden Völkern eine gemeinsame Herkunft aus dem Heer Alexanders des Großen attestiert; die Preußen werden hier als ‚Nebenprodukt‘ in die Origo der Sachsen eingegliedert: Nach dem Tod Alexanders hätte sich ein Teil seiner Leute mit 300 (seetüchtigen) Schiffen auf den Weg gemacht, die bis auf 54 sämtlich untergegangen seien; achtzehn von ihnen seien nach Preußen gelangt und hätten es besetzt (12 hätten Rügen, 24 Sachsen bzw. das Land an der Elbe besetzt, eines davon habe sogar die Elbe überschritten und das waldreiche Holstein besiedelt). Diese Geschichte findet sich, soweit ich sehe, zuerst (aus unbekannter Quelle) in den 1232, vielleicht aber schon drei Jahrzehnte früher begonnenen Stader Annalen (Albert von Stade)139 und nahezu gleichzeitig, bis auf 136 Gallus Anonymus, Chronica Polonorum (wie Anm. 50), II, c. 42, S. 111: Saxones navigio venerunt in Prussiam. Igitur in Prusiam, terram satis barbaram, est ingresus, unde cum preda multa, factis incendiis pluribusque captivis, querens bellum nec inveniens est reversus. 137 Ebd., S. 111f. (gleich im Anschluss an den vorigen Text): Sed cum forte contigerit regionem istam in mencionem incidisse, non est inconveniens aliquid ex relatione maiorum addidisse. Tempore namque Karoli Magni, Francorum regis, cum Saxonia sibi rebellis existeret nec dominacionis iugum nec fidei christiane susciperet, populus iste cum navibus de Saxonia transmeavit et regionem istam et regionis nomen occupavit. Kritisch dazu Sikorski, Galla Anonima (wie Anm. 50). 138 Kaiserchronik, v. 14017–14027, ed. Edward Schröder (MGH Dt. Chron. 1), Hannover 1895, S. 335: Dô frowete sich der kaiser Zêne, / er lêch Dieterîche diu lêhen. / vil sciere er sich besante / von lande ze lande. / Riuzen unde Pomerân, / Pruizen [Pruozen in drei Hss] unde Pôlân, / Petsenære unt Valwen, / die Winde allenhalben, / Sclavenîe unt Criechen, / Affrikære kômen willeclîche / dem helede Dieterîche. 139 Annales Stadenses, a. 917, ed. Johann Martin Lappenberg (MGH SS 16), Hannover 1859, S. 311: Super origine eiusdem gentis varia est opinio. Quidam estimant, quia de Danis originem traxerint et Nordmannis. Dicunt alii, quod ab Anglis Britanniae incolis sint egressi. Invenitur etiam, quod reliquie fuerint Macedonum, et mortuo Alexandro per totum orbem sint dispersi. Et quia Alexander virtute eorum totam devicerat Asiam, eo defuncto, se illi terre amplius committere non audebant, sed cum 300 navibus recesserunt, que omnes perierunt, exceptis 54, quarum 18 Pruciam occupaverunt, 12 Ruiam, 24 applicuerunt ad Albiam, quarum una trans Albiam silvam incoluit et succidit, in qua postmodum sunt inventi, et Holzati appellati. Der Text ist eingefügt in dem Frutolf von Michelsberg entnommenen Bericht zu den Jahren 917 und 918 (wie Anm. 44, S. 176–178), findet sich dort aber noch

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das Schiff nach Holstein wörtlich ins Niederdeutsche übertragen, im Sachsenspiegel Eikes von Repgow.140 Es ist sicher kein Zufall, dass solche Ursprungsmythen erst spät, im 12. und vor allem im 13. Jahrhundert aufkamen, als die Eroberung Preußens auch die Frage nach deren Herkunft aufwarf, die aber doch nur nebenbei erwähnt wird. Überall spielte dabei eine Verbundenheit mit den Sachsen eine Rolle: in gemeinsamer Herkunft aus dem Heer Alexanders des Großen, aber auch in Erinnerung an deren von Karl dem Großen überwundenes Heidentum.

IX.

Mission und politische Auseinandersetzungen bis 1230

Das alles spielte sich fast durchweg vor dem Hintergrund politischer Auseinandersetzungen und Missionsversuche ab,141 die ganz im Mittelpunkt der historiographischen Berichte stehen. Das muss hier, auch wenn es um das Preußenbild nicht. Frutolf folgt vielmehr Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae I, c. 2, ed. HansEberhard Lohmann, Paul Hirsch (MGH SSrG 60), Hannover 1935, über die Herkunft der Sachsen aus Makedonien, der jedoch Preußen nicht erwähnt, während Frutolfs Bericht über Alexanders Tod (S. 62) und die eingefügte ‚Vita‘ des Herrschers (S. 75) nichts über die ausfahrenden Schiffe vermelden. 140 Sachsenspiegel, Landrecht § III,44,2, ed. Karl August Eckhardt (MGH Font. iur. Germ. n.s. 1), Göttingen 1955, S. 231: Do Allexander starf, do ne dorsten se sek nicht to dun in deme lande dorch des landes hat, unde scepeden mit drenhundert kelen; de verdorven alle 〈wante〉 oppe vir unde veftich. Der selven quamen achtene to Pruzen unde besaten dat; twelve besaten Rujan, vir unde twentich quamen her to lande. Wörtlich, aber in anderem Dialekt, auch in der Quedlinburger Handschrift, deren Text hier wegen der etwas leichteren Verständlichkeit ebenfalls angefügt sei: Sachsenspiegel, Landrecht § 140 (= III,44,2), Quedlinburger Hs., ed. Karl August Eckhardt (MGH Font. iur. Germ. 8), Hannover 1966, S. 70f.: Dô Allexander starb, dô ne dursten se sich nicht zu thûn in deme lande durch des landes hatz, unde scheppheden mit drenhundert kielen; die virturben alle upphe vier unde fumzich. Der selben quâmen achzêne zu Prûzen unde besazten daz; tzwelbe besazten Rujan, vîr unde zwensich quâmen her zu lande. Ähnlich, aber kurz auch die Sächsische Weltchronik, c. 13, ed. Ludwig Weiland (MGH Dt. Chron. 2), Hannover 1877, S. 78: Nach dem Tod Alexanders stritten die Fürsten um die Herrschaft und ihre Leute zogen in viele Länder. De sine todelden sich do unde tovoren in manich lant. Ir quam en del to Prucen unde en del to Ruian. Van deme selven here quamen och de Sassen here to lande unde vordreven och de weldigesten Doringe unde leten de armen sitten, dat se den acker buweden, unde buweden och borghe in deme lande to Sassen. 141 Einen kurzen Überblick über die Missionsversuche in Preußen vor dem Deutschen Orden und zu dessen Anfängen geben Bernhart Jähnig, Zisterzienser und Ritterorden zwischen geistlicher und weltlicher Macht in Livland und Preußen zu Beginn der Missionszeit, in: Ders., Vorträge und Forschungen (wie Anm. 86), S. 1–15 (Erstdruck in: Die Ritterorden zwischen geistlicher und weltlicher Macht im Mittelalter, hrsg. Zenon Hubert Nowak [Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 5], Thorn 1990, S. 71–86); László Pósán, Prussian Missions and the Invitation of the Teutonic Order into Kulmerland, in: The Crusades and the Military Orders. Expanding the Frontiers of Medieval Latin Christianity, hrsg.

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geht, zumindest kurz skizziert werden,142 weil daran ersichtlich ist, dass und wie die (erinnerungswürdigen) Kontakte (nach den Nachrichten über Adalbert und Brun) sich erst im frühen 13. Jahrhundert erheblich verdichtet haben. Einzelne Taufen mag es schon früh, zur Zeit Adalberts, gegeben haben, auch wenn deren Verheimlichung vor dem eigenen Volk anzeigt, wie gefährlich das für die Bekehrten werden konnte.143 Bis weit in das 13. Jahrhundert hinein blieben die Preußen jedoch heidnisch und selbstständig, haben aber immer wieder zu Bekehrungs- wie auch Eroberungsversuchen, vor allem vonseiten Polens, gereizt. Allerdings im weiten Rückblick berichten dänische Quellen sehr sagenhaft schon früh von dänischen Angriffen auf ‚Samland‘, das dort als Sembia bezeichnet wird. Der erst um 1200 schreibende Saxo Grammaticus will wissen, dass bereits Starkad (irgendwann im späten 9. Jahrhundert) siegreich gegen Kurland und Samland und alle Heere im Osten gekämpft habe.144 Ähnliches wiederholte sich noch mehrfach unter dänischen Sagenkönigen wie noch unter Knut dem Großen.145 Falls solche Nachrichten überhaupt einen wahren Kern besitzen –

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Zsolt Hunyadi, József Laszlovszky, Budapest 2001, S. 429–448; in größerem Rahmen kurz Brauer, Entdeckung (wie Anm. 2), S. 44–53. Ausführlich aufgearbeitet ist die Rolle der Päpste von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts durch Iben FonnesbergSchmidt, The Popes and the Baltic Crusades 1147–1254 (The Northern World, 26), Leiden, Boston 2007, die (ebd., S. 23–78) zeigt, dass es auch im 12. Jahrhundert (seit Eugenius III.) Missionsversuche im Baltikum gab, der es ansonsten aber nicht um die Mission, sondern um die päpstliche ‚Kreuzzugspolitik‘ im Wandel geht. Der folgende Überblick kann und will natürlich keine Gesamtdarstellung bieten, sondern beschränkt sich mit der Frage nach der zeitgenössischen Wahrnehmung auf solche Quellennachrichten, die explizit von „Preußen“ sprechen. Einen solchen Fall schildern die Miracula s. Adalberti, c. 6 (oben Anm. 38). Saxo Grammaticus, Gesta Danorum VI, c. 5,14, ed. Karsten Friis-Jensen (mit dänischer Übersetzung von Peter Zeeberg), Kopenhagen 2005, 1, S. 386: Qui simul aduersum Curetum, Semborum, Samgalorum omniumque postremo Orientalium exercitus pre˛liati claras late uictorias edidere. Ebd., VIII, c. 10,6, S. 548, zu Budle (Buthlus): Inde profectus Sembonum, Curetum compluriumque Orientis gentium cladem exercuit; ebd., IX, c. 4,23, S. 598, zu Regner; ebd., X, c. 5,1, S. 632, zu Harald, dem Sohn und Nachfolger Gorms des Alten († 935); danach hätten Dänen die Frauen der getöteten Sembier geheiratet; ebd., X, c. 14,1, S. 654, zu Knut (dem Großen); ebd., XI, c. 8,1, Bd. 2, S. 30, zu einem Sieg Knuts über Sembier und Esten; ebd., XI, c. 11,1, S. 38, zu Knuts Wunsch, die Reiche der Kuren, Sembier und Esten zu zerstören. Danach, gewissermaßen in ‚historischer‘ Zeit, versiegen die Nachrichten; im Kampf Eskils von Lund gegen Rügen und Pomeranien (ebd., XIV, c. 26,13f., S.296/298) werden ‚Sembier‘ nicht mehr erwähnt. Saxo endet mit Knut VI. (1185). Auch nach den (ebenfalls späteren) Annales Ryenses c. 84, ed. Erik Kroman, Danmarks middelalderlige Annaler, Kopenhagen 1980, S. 149–176, hier S. 160 (ed. Ellen Jørgensen, Annales Danici Medii aevi, Kopenhagen 1920, S. 68; ed. Johannes M. Lappenberg [MGH SS 16], Hannover 1869, S. 398) sollen bereits im frühen 10. Jahrhundert (zur Zeit des dänischen Königs Lothonoknut, um 920) dänische Auswanderer ganz Preußen unterworfen haben und wegen der Fruchtbarkeit des Landes „bis heute“ dort verblieben sein: Lothænæknut, filius Erici Barn. Iste bellicosus erat multum et versutus et regnauit 11 annis. Huius tempore quilibet tertius de seruis et p(opular)ibus

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dänische Angriffe auf die Ostseeanrainer sind ja keineswegs unwahrscheinlich und auf dänische Siedler könnten auch die Bodenfunde verweisen, doch wollten Saxos Nachrichten hier wohl auch die Ostseepolitik Waldemars I. historisch abstützen –, so enthalten sie jedenfalls keine näheren Nachrichten über Preußen selbst. Auch eine dänische Mission mag es bereits seit dem 11. und vor allem im 12. Jahrhundert gegeben haben.146 Polnische Angriffe sind, allerdings ebenfalls in späterem Rückblick, erst aus der Zeit Adalberts mit den Taten Boleslaw Chrobrys überliefert, einerseits defensiv zur erfolgreichen Abwehr der von Preußen unterstützten Angriffe der Russen auf Polen,147 andererseits offensiv mit Adams (übertriebener und ganz unzutreffender) Notiz, Boleslaw habe Russland und Preußen unterworfen.148 Gallus Anonymus schreibt Boleslaw später nicht nur die Bezwingung der Preußen, sondern auch die Errichtung zahlreicher Kirchen und die Einsetzung von Bischöfen zu; allerdings bezieht sich diese Nachricht in gemeinsamer Aufzählung gleichzeitig auf Preußen, Pomeranen und Schlesier.149 Pauschal aber will Gallus im Prolog seines Werks von einem ständigen, wenngleich vergeblichen Kampf dieses Polenherzogs (oder im Vorgriff auch aller Polenherzöge) gegen die heidnischen Preußen (und Pomeranen) wissen, die sich weder durch Predigt noch durch Zwang bekehren ließen; oft seien sie überwunden und bekehrt worden, jedoch immer wieder abgefallen und hätten Kriege gegen die Christen geführt.150

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hominibus exiuit de regno et uenientes totam Pruciam, Semigaliam et terram Karelorum aliasque quam plures terras subiugauerunt sibi et delectati terrarum ubertate noluerunt redire, sed ibi remanent usque in presentem diem. Vgl. (mit den Belegen, aber für das ganze Baltikum): Edgar Anderson, Early Danish Missionaries in the Baltic Countries, in: Gli inizi del cristianesimo in Livonia – Lettonia. Atti del colloquio internazionale di storia ecclesiastica in occasione dell’VIII centenario della chiesa in Livonia (1186–1986), Roma 24–25 giugno 1986, Vatikan 1989, S. 245–275. Die sehr spät überlieferten Nachrichten über eine dänische Mission in Kurland, die Christianisierung der ganzen Bevölkerung und die Errichtung eines Bistums in Kurland 1161, dessen erster Bischof Ernemord 1169 vom Papst geweiht wurde (ebd., S. 259–265) können so allerdings kaum zutreffend sein, zumal es einen dänischen König Abel, dem das Ganze zugeschrieben wird, nicht gegeben hat. So Herbord, Dialogus II, c. 3 (wie Anm. 71), ed. Wikarjak, Liman, S. 62f. (ed. Köpke, S. 776): [Sefridus]: Erant autem, cum quibus divisim diversis temporibus certamen habebat, e parte una Polonie Bohemi, Moravi, Ungari, ex alia Rutheni, gens crudelis et aspera, qui Flavorum, Pruscorum et Pomeranorum freti auxiliis, acrius diutiusque illi restiterunt. Sed frustra, quia tandem superati ab eo et contriti, post multas clades pacem ab eo postulare cum rege suo decreverunt. Adam von Bremen, Gesta pontificum Hammaburgensis ecclesiae II, c. 35 (oben Anm. 58). Gallus Anonymus, Chronica Polonorum I, c. 6 (oben Anm. 50). Gallus Anonymus, Chronica Polonorum prol. (wie Anm. 50), S. 7: Ad mare autem septemtrionale vel amphitrionale tres habet affines barbarorum gentilium ferocissimos naciones. Selenciam, Pomoraniam et Pruziam, contra quas regiones Polonorum dux assidue pugnat, ut eas ad fidem convertat. Sed nec gladio predicacionis cor eorum a perfidia potuit revocari, nec gladio iugulationis eorum penitus vipperalis progenies aboleri. Sepe tamen

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In weitem Rückblick nimmt auch die wohl erst nach der Heiligsprechung (1253) in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandene Vita des Bischofs Stanislaus von Krakau des Vincentius von Kielce die Nachricht des Gallus von einer Unterwerfung der fortan tributpflichtigen Preußen durch Boleslaw Chrobry auf 151 und berichtet anschließend von Adalberts Missionsversuchen und seinem Märtyrertod.152 Die ebenfalls späteren polnischen Annales sanctae crucis Polonici verkünden gar Boleslaws Unterwerfung der Russen und Griechen (!) gleich im ersten Jahr des Polenkönigs, der Ungarn im zweiten und der Sachsen und Preußen im dritten Jahr (1020)153 mit der Verwüstung ihres Landes.154 Boleslaws Heerführer Petrus, so später hingegen Herbord, habe jedoch von einem Angriff auf die Russen abgeraten, weil sie mit Preußen und Pomeranen unbesiegte, heidnische Verbündete hätten.155

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principes eorum a duce Poloniensi prelio superati, ad baptismum confugerunt; itemque collectis viribus fidem christianam abnegantes, contra christianos bellum denuo paraverunt. Es ist nicht ganz klar, ob sich diese Nachricht im Prolog nur auf Boleslaw Chrobry oder auf alle Polenherzöge bis zur Abfassung bezieht. Noch eine Fortsetzung der Annales sanctae crucis Polonici (wie Anm. 46), S. 84f., endet (nach dem Jahresbericht 1410!) mit gereimten Versen über die Treulosigkeit des Preußenvolkes, das immer wieder die Verträge brach: Dum fide fracta non servaverunt sua pacta / Incole terrarum Prutenorum sed amarum / Potum sensissent, si pacem non inissent / Et federa non ficta. Sunt hec verissime dicta. ´ ski (MPH 4), Vita et Miracula s. Stanislai episcopi Cracoviensis, c. 19, ed. Wojciech Ke˛trzyn Lwów 1884 [ND Warschau 1961], S. 267f. (ed. Max Perlbach [MGH SS 29], Hannover 1892, S. 504), aus Gallus Anonymus (wie Anm. 50), I, c. 11: Regnum autem suum non solum uiriliter gubernauit, sed et sua probitate Poloniam deaurauit. Ipse Bohemiam et Morauiam suo dominio subiugauit et in Praga sedem ducalem obtinuit et frenum tributi de manu ducum Bohemie et Morauie tulit. Ipse Pomeranos et Pruthenos adhuc in gentilitatis errore positos contriuit et sibi tributarios fecit. Ebd., S. 268 (ed. Perlbach, S. 504): Qui tempore modico transacto diuino inspiratus consilio commilitonem et socium suum fratrem Gaudencium loco sui archiepiscopum instituens et per Pomeraniam nauigio in Pruziam transiens et ibidem predicans uerbum fidei, consumatus in breui, a Pruthenis occisus optinuit a Domino palmam martirii. Ipse est Bolezlaus, qui episcopatus fundauit, donis regalibus dotauit ac limitauit. Die Jahresangaben sind jedoch wenig eindeutig, da Boleslaw Chrobry einerseits bereits seit 992 polnischer Herrscher war, sich andererseits aber erst 1025 zum König krönen ließ. Die nächste Nachricht betrifft erst dieses Jahr (1025) mit Boleslaws Tod. Annales sanctae crucis Polonici, c. 10–12, a. 1018 (wie Anm. 46), S. 11f. (in der MGHAusgabe, S. 679 fälschlich a. 1118): Boleslaus filius Meszkonis dictus Chabri rex Polonie supperavit Ruttenos seu Grecos et terram eorum devastavit et subiugavit regno suo, et granicias ultra Kyow limitavit. Anno vero secundo similiter Hungaros subiugavit et terram devastavit eorum. Et tercio anno Saxones indomitos rebelles et Prutenos subiugavit et terram eorum devastavit. Herbord, Dialogus II, c. 4 (wie Anm. 71), S. 65f. (ed. Köpke, S. 776): Habebat autem Petrum quendam milicie ductorem, virum acris ingenii et fortem robore, de quo dubium, utrum in armis an in consiliis maior fuerit, qui erat prefectus a duce super viros bellatores. Hic ascitus consilio: ‚Si suis tantum, inquit, Rutheni viribus dimicarent, illos a nobis conteri difficile non esset. Sed habent Flavos, habent Pruscos, habent etiam Pomeranos, gentem ydolatram in-

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Von den erwähnten dänischen Nachrichten abgesehen, folgt nach Boleslaw Chrobry eine ‚Sendepause‘ von nahezu anderthalb Jahrhunderten, die nur durch zwei kurze, erneut im Rückblick verfasste Nachrichten unterbrochen wird: Nach den Krakauer Annalen zum Jahr 1115 verwüstete Boleslaw III. Preußen.156 Rund 30 Jahre später (1141/1147) erwähnt ein Fortsetzer der Chronik des Cosmas von Prag einen neuerlichen, ebenso vergeblichen Missionsversuch des Bischofs Heinrich (II.) Zdik von Olmütz,157 eine Nachricht, die von zwei zeitgenössischen Briefen Papst Innozenz II. an diesen Bischof bestätigt wird; danach war die Mission der Wunsch des Bischofs, den der Papst zwar gewährte, ihn aber zur sicheren Vertretung in seinem Bistum durch ehrenwerte Personen wie auch zu einer baldigen Rückkehr mahnte.158 Ebenfalls 1147 soll ein Bruder des Polenherzogs wieder mit einem großen Heer gegen die Preußen gezogen sein.159 Später (1166) starb (oder fiel) Herzog Heinrich von Sandomierz (Sandomiria), der Sohn

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visam ac nimis indomitam. Quos omnes simul in arma provocare quam durum sit, inexperti non sumus, quamvis ante de his triumphos habuerimus.‘ Annales Cracovienses vetusti, a. 1115 (wie Anm. 44), S. 578: Bolezlaus tercius Pruziam vastat. Gallus Anonymus, Chronica Polonorum III, c. 24 (oben Anm. 80 und 82), berichtet von einem Winterfeldzug Boleslaws III. gegen Preußen, der aber weder zu einer Schlacht noch gar zur Eroberung führte. Ob es sich um denselben Feldzug handelt, ist kaum zu entscheiden. Cosmas von Prag, Chronica Boemorum, Cont. canonicorum Wissegradensis, a. 1141 (wie Anm. 96), S. 147 (Fontes rerum Bohemicarum 2, wie Anm. 44, Prag 1874, S. 235): Hic praesul Zdico Olomucensis ecclesiae accipiens crucem de sancto altari sancti Petri, lacrymans prae gaudio et cantans hanc antiphonam: ‚Qui vult venire post me, abneget semet ipsum et tollat crucem suam‘ (Markus 2,31), etc., ascendit equum cum suis contra paganos qui vocantur Pruzi, ut fidem sanctae Trinitatis eis insinuaret et baptizaret eos; quod tamen melius est silere de eius itinere, quoniam in vanum laboravit, et de eius reditu gaudere. Vgl. ebd., Cont. monachi Sazavensis, a. 1147, ebd., S. 159: Eadem tempestate verbiger Sdico episcopus Moraviensis adiit Pruzos cum Heinrico decano Pragensis ecclesiae ad predicationem, et eodem anno est reversus. Von der Mission des Bischofs Heinrich berichten auch die Annales Gradicenses (Hradisch), a. 1141 (oben Anm. 91). Preußisches Urkundenbuch (fortan: Preuß. UB), Politische Abteilung, 1: Die Bildung des Ordensstaates. Erste Hälfte, bearb. Rudolf Philippi im Auftrag der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 1882 [ND Aalen 1961], Nr. 2, S. 1 (ed. Migne PL 179, ep. 492, Sp. 564 BC), von 1141, an den mährischen Bischof Heinrich: Non decet episcopum ad pascendum gregem dominicum constitutum proprias oves ieiunas relinquere et alienis pabula ministrare. Si tamen paganis de Pruzia verbum Domini predicare et eos ad fidem Christi convertere desideras et fructum Ecclesiae Dei exinde proventurum existimas, opus est, ut per episcopatum tibi a Deo commissum honestas et discretas personas interim constituas, qui corrigenda corrigant et que statuenda fuerint ad honorem Dei stabiliant atque ovibus tibi a Deo commissis vite pabula sumministrent; ebd., Nr. 3, S. 2 (= Migne PL 179, ep. 493, Sp. 564f.), im gleichen Jahr an denselben Bischof gewährt der Papst die Mission (Prussia nur in der – modernen (?) – Überschrift): Verum si ad paganos, de quibus nos te significasti, transire iisque verbum Dei et fidem christianam annuntiare discretioni tue videtur utile, nobis placet, ita tamen, ut ad commissum tibi populum quam citius redire non negligas. Annales Magdeburgenses, a. 1147 (oben Anm. 115).

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Boleslaws III., in Preußen.160 Anders gelagert ist eine Nachricht aus der Zeit Friedrich Barbarossas, der zufolge (im Zuge des polnischen Erbfolgestreits) Preußen im polnischen Heer kämpften: Als Barbarossa 1157 einen Feldzug nach Polen unternahm, wurden diese nach eigenen Angaben der königlichen Kanzlei von Russen, ‚Parthern‘, Preußen und Pommern (also eigentlich ihren Dauerfeinden) unterstützt.161 Das alles bleiben verstreute Berichte. Erst zum Jahr 1194 folgt der – im Vorgriff allerdings den Verlauf der nächsten drei Jahrzehnte zusammenfassende – Bericht der Schlesischen Annalen, der Polenherzog Konrad, ein Sohn Kasimirs, habe Masowien von seinen Anhängern ausrauben lassen und den Preußen ungeschützt überlassen (deren zahlreiche Angriffe aber einer seiner ‚Höflinge‘ abgewehrt habe, bis der Herzog ihn heimtückisch blenden und erwürgen ließ); als auch die militärische Hilfe des Herzogs Heinrich von Schlesien keine Lösung brachte, sei das Gebiet auf Dauer hoffnungslos der Verwüstung der Preußen anheimgefallen. Dann aber habe Konrad von der Verteidigung Jerusalems durch die Deutschen Brüder der heiligen Maria vernommen und beschlossen, auf deren Hilfe zu vertrauen.162 160 Annales Polonorum, a. 1154 (wie Anm. 44), S. 626/627, zur Teilung des Reichs Boleslaws III. unter seine drei Söhne (unterschiedlich in allen vier Versionen, hier nach Version 1 zitiert): Senior Kazimirus obiit absque liberis, Hinricus interfectus est in Pruszia nec reliquit heredes, Liseko obiit absque liberis, Boleslaus Crispus similiter; ebd., a. 1161, S. 627 (nur in Version 3 und 4): Gethko episcopus Cracovie fit Matheo mortuo. Dux Sandomirie Henricus in bello occisus est in Prussia cum exercitu; Version 1 bringt diese Nachricht zu a. 1167, S. 628: Henricus dux cum exercitu suo interfectus est in bello in Prusia), und lässt Heinrich a. 1171, S. 629, noch einmal sterben: dux Hynricus Sandomiriensis ivit Ierusalem, qui sine prole obiit. Iste fundavit ecclesiam in Zagoscz, quam contulit Hospitalariis; qui tandem in Prussia occisus est sine exercitu. Zu 1167 auch die Annales Cracovienses compilati, a. 1167, ed. Richard Röpell, Wilhelm Arndt (MGH SS 19), Hannover 1866, S. 591: Henricus dux interfectus est cum exercitu suo in Pruzia in bello. Heinrich starb tatsächlich wohl 1166. 161 Der Kaiser selbst bestätigt das nach dem Feldzug in einem Brief an Wibald von Stablo vom September 1157: DF I 181 (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae. Friderici I diplomata 1), ed. Heinrich Appelt (unter Mitwirkung von Rainer Maria Herkenrath, Walter Koch, Josef Riedmann, Winfried Stelzer, Kurt Zeillinger), Hannover 1975, S. 304f.: Quo viso Poloni, vehementer exterriti, et iam nihil praeter exicium et destructionem terre˛ sperantes, munitissima castra Glogowa et Bitum et alia plura, que˛ prius ab hoste capta non fuerant, timore nostro incenderunt et ipsi, quamvis auxilio vicinarum gentium, Ruthenorum, Parthorum, Pruscorum, Pomeranorum maximum exercitum collegissent, a facie˛ nostra fugierunt. Danach sehr wortgetreu Rahewin, Gesta Friderici III, c. 3, ed. Georg Waitz, Bernhard von Simson (MGH SSrG 46), Hannover, Leipzig 1912], S. 169 (ed. Franz-Josef Schmale [FSGA 17], Darmstadt 1965, S. 400/402). 162 Annales Silesiaci compilati, a. 1194 (wie Anm. 47), S. 538: Iste Conradus (der Sohn Kasimirs, der sich mit seinem Bruder Leczko Polen geteilt hatte) habuit quendam christianum pro palatino in ducatu Mozavie, qui erat providus et sagax ac timens Deum, qui terram eandem ab insultibus Pruthenorum, qui barbari erant, protegebat et defendebat, quem dictus Conradus innocenter et temerarie per suos satellites fecit exoculare et tandem iugulare, et cum idem dux Dei adiutorio destitutus, terram suam ammodo dereliquit indefensam, et cum per

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Von 1206/1207 an setzt dann eine dichtere Nachrichtenwelle ein,163 nämlich mit einem erneuten Missionsversuch des Zisterzienserabtes Gottfried von Lekno (Luckina), bei dem es gemäß dem Bericht der Chronik Alberichs von Troisfontaines zwar auch einen weiteren Märtyrer gab, doch gelang nicht nur die Bekehrung eines Herzogs (und Königsbruders) wie dann auch des Königs selbst, sondern Gottfried sei zudem zum ersten Bischof in Preußen geweiht worden und habe später mit Christian einen Nachfolger erhalten.164 Die Erwähnung der beiden Fürsten entspricht sicherlich dem Blickwinkel mittelalterlicher Autoren, die vor allem die Herrschenden interessierten, sie dürfte zugleich aber ein Indiz dafür sein, dass auch die Preußenmissionare „von oben nach unten“ missionierten und sich zuerst an die Fürsten wandten. Ist Gottfrieds Bischofsweihe auch mehr als fraglich, so ist seine Mission gesichert: In einer zeitgenössischen Urkunde von 1206 bat auch Papst Innozenz III. die Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Kirchen Polens um Unterstützung des Klosters Lekno, ut ad paganos illos, qui circa vestras regiones existunt […], postularet transmitti.165 Die 1225/1230 entfrequentes incursus Pruthenorum terra eius devastaretur et depopularetur, coactus est invocare auxilium Heinrici ducis Slesie, et cum propter nimiam seviciam Pruthenorum terram suam protegere non valebat, terram ipsam gentibus crudeliter impugnandam et sine spe defensionis devastandam perpetua desolacione reliquit, et quantis ac qualibus flagiciis in terram Mazovie gens deseviat Pruthenorum, litterarum tenore nequit explanari, urbes enim et castrorum munitiones devastare, villas et pagos non cessavit incendio concremare. Devenit autem tunc fama ad ducem Conradum predictum, quomodo fratres beate Marie Theotonicorum Ierosolimitani terram sanctam a paganis sepe gladio defendebant, de qua non modicum pius princeps consolabatur, illorum opera atque bellandi usu faciliter de infidelium manibus eripi posse, confisus fuit. 163 Einen Überblick über Preußen im früheren 13. Jahrhundert gibt bereits Voigt, Geschichte Preußens (wie Anm. 6), S. 428–472; aus neuerer Sicht: Labuda (wie Anm. 6), S. 100–113; Boockmann, Der deutsche Orden (wie Anm. 6), S. 66–92, sowie die in Anm. 141 genannten Studien. Fast ausschließlich zur späteren Deutschordenszeit: Andrzej Radzimin´ski, Christianisierung, Umstände und Verlauf der Evangelisierung der Prußen im Deutschordensstaat in Preußen, in: Credo. Christianisierung Europas im Mittelalter 1: Essays, hrsg. Christoph Stiegemann, Martin Kroker, Wolfgang Walter, Petersberg 2013, S. 427–433. 164 Alberich von Troisfontaines, Chronicon, a. 1207 (vgl. oben Anm. 130), S. 887: Monachus Philippus ibi martirizatus est; et abbas Godefridus primus fuit episcopus regionis illius, et post eum fuit quidam episcopus nomine Christianus. Die Nachricht von einem Bischof Gottfried ist anderweitig nicht verbürgt und wenig wahrscheinlich, denn im Allgemeinen gilt Christian als erster Preußenbischof. In diesem Sinn auch Jähnig, Zisterzienser (wie Anm. 141), S. 8: Gottfried sei nicht geweiht worden. Die Christianisierung Preußens bestätigt später Emo (oben Anm. 105). 165 Die Register Innozenz’ III., Bd. 9: Pontifikatsjahr 1206/1207, bearb. Andrea Sommerlechner, mit Othmar Hageneder, Christoph Egger, Rainer Murauer, Herwig Weigl (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom. II. Abt.: Quellen, 1. Reihe), Wien 2004, ep. IX, 174, S. 316 (Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 4, S. 2– 4). Benannt sind die Heiden hier allerdings noch nicht. Zur Missionspolitik Innozenz’ III. im Baltikum, die für ihn jedoch nachrangig war, vgl. Fonnesberg-Schmidt, The popes (wie Anm. 141), S. 79–131.

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standene Petersberger (oder Lautersberger) Chronik aus dem Hauskloster der Wettiner bei Halle berichtet hingegen erst zum Jahr 1209 von den ersten Preußenpredigern.166 Zum gleichen oder eher zum nächsten Jahr erwähnen die dänischen Annalen einen dänischen Feldzug (Waldemars II.) „nach Preußen und Samland“ (ohne dessen Initiator zu nennen).167 Diese Berichte spiegeln zugleich das (wieder) erwachte dänische Interesse an Preußen wider.168 In diesem Jahr (1210) erlaubte auch Papst Innozenz III. nicht nur die Preußenmission Christians, Philipps und weiterer (zisterziensischer) Mönche (des Klosters Oliva bei Danzig, ursprünglich stammten sie aus Kolbatz in Pomeranien),169 sondern verkündete auch deren erste Erfolge („sie trug geeignete Frucht“), indem sich einige Fürsten und andere taufen ließen, und er befahl dem Erzbischof von Gnesen (Kietlicz), für die Seelsorge der Bekehrten zu sorgen, „bis die Zahl der Gläubigen dort durch die göttliche Gnade derart anwächst, dass sie einen eigenen Bischof erhalten können“.170 Die Missionserfolge waren demnach wohl immer 166 Chronicon Montis Sereni, a. 1209, ed. Ernst Ehrenfeuchter (MGH SS 23), Hannover 1874, S. 176: Primi predicatores genti Prutenorum missi sunt. Um diese Zeit herum scheint Gottfried gestorben zu sein. 167 Annales Lundenses, a. 1209, ed. Kroman (wie Anm. 145), S. 21–70, hier S. 61 (ed. Jørgensen, wie Anm. 145, S. 97; ed. Georg Waitz [MGH SS 29], Hannover 1892, S. 207): Hoc anno Waldemarus episcopus eiectus est de sede Bremensi et iterum excommunicatus; et expedicio facta est in Pruciam et Samland; Annales Waldemari(an)i, a. 1210, ebd. (ed. Kroman), S. 75–79, hier S. 78 (ed. Jørgensen, S. 98; ed. Waitz, S. 179): Expeditio facta est in Pruziam et Samland; wörtlich auch: Chronica Danorum Sialandie, ebd., S. 106–144, a. 1210, S. 110 (ed. Jørgensen, S. 168; ed. Waitz, S. 214), und Annales Ryenses, a. 1210, ebd. (wie Anm. 145), S. 169 (ed. Jørgensen, S. 99; ed. Lappenberg, S. 405). 168 Zur Expedition Waldemars II. vgl. Stella Maria Szacherska, Valdemar II’s expedition to Pruthenia and the Mission of Bishop Christian, in: Mediaeval Scandinavia 12 (1988), S. 44– 75, die den Bischof Christian als Verbündeten der Dänen, den Feldzug aber bald als gescheitert ansieht. 169 Zu Christians Herkunft aus Pomeranien und gegen Lekno (zugunsten von Kołbacz): Szacherska, Valdemar’s II expedition (wie Anm. 168), S. 59–65. 170 Innozenz III., Die Register Innozenz’ III., Bd. 13: 13. Pontifikatsjahr 1210/1211, bearb. Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl, gemeinsam mit Othmar Hageneder, Rainer Murauer, Reinhard Seliger (Publikationen des Historischen Instituts beim Kulturinstitut in Rom, II. Abt.: Quellen, Reihe 1, 13), Wien 2015, Nr. 126 (= Registrum, Bd. 13, ep. 128), S. 207f., an den Erzbischof von Gnesen, von 1210: In hac siquidem vinea laborare dilecti filii Christianus, Philippus et quidam alii monachi pio desiderio cupientes, illius dudum amore succensi qui neminem vult perire, ad partes Pruscie de nostra licentia in humilitate spiritus accesserunt, ut ibidem semen verbi Dominici seminando, in umbra infidelitatis et tenebris ignorantie positos ad semitam reducerent veritatis. Quod cum in terram bonam et fertilem cecidisset, fructum protulit oportunum et eius gratia preeunte, qui vocat ea, que non sunt, tanquam ea, que sunt, et ex lapidibus suscitat filios Abrahe, quidam magnates et alii regionis illius sacramentum baptismatis receperunt et de die in diem proficere dignoscuntur in doctrina fidei orthodoxe, sicut iidem monachi nuper ad sedem apostolicam venientes nostro apostolatui reserarunt. Cum igitur huiusmodi novella plantatio beneficio irrigationis indigeat, fraternitati tue presentium auctoritate mandamus, quatinus eisdem monachis et fratribus suis necnon et aliis de novo ad fidem conversis in ecclesiasticis sacramentis et aliis,

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noch bescheiden, und zwei Jahre später wiederholte der Papst seine Erlaubnis an dieselben Missionare, die nun „ins Innere des Landes“ vorgedrungen seien, um das Wort Gottes zu predigen, und er verglich ihre Tat mit den Ereignissen in Idumäa.171 Den ersten Bischof erhielten die Preußen nach der Petersberger Chronik dann 1215 mit eben diesem Missionar Christian.172 1218 soll auch der

que ad ampliandum Christiane religionis cultum spectare noscuntur, tamdiu curam officii pastoralis impendas, donec, divina faciente clementia, adeo ibidem numerus fidelium augeatur, ut proprium possint episcopum obtinere. Episcopos etiam et alios ecclesiarum prelatos ac terre magnates moneas sollicicius et inducas, ut pro Deo et propter Deum eis propicii ac favorabiles existentes, ubi dignum fuerit, gratiam, solacium et humanitatem impendant. Ob mit Philippus eine Verwechselung mit dem bei Alberich bezeugten Märtyrer vorliegt (oben Anm. 164) oder dessen Bericht falsch ist oder ob hier ein gleichnamiger Mönch gemeint ist, lässt sich kaum entscheiden. 171 Preuß. UB 1 (wie Anm. 158), Nr. 6, S. 5 (= Registrum XV, ep. 147; ed. Migne PL 216, Sp. 668f.), von 1212, an alle Äbte des Generalkapitels der Zisterzienser: Dilecti filii Christianus, Philippus ac eorum socii, vestri ordinis fratres, advertentes eos appellari beatos, qui seminant super aquas, et eos, qui frumentum abscondunt in propriis, maledici, faciente illo, qui ubi vult spirat, et nemo scit, unde veniat aut quo vadat, olim de nostra licentia inceperunt seminare in partibus Prussie verbum Dei, ut eundo et flendo mittentes semina sua, demum possent cum exultatione venire, portantes manipulos suos, confisi quod ille, qui venit, salvum facere quod perierat, in inferiores partes terre descendens, ut hominem ad regna celestia revocaret, qui omni creature suum iussit Evangelium predicari, sicut per prophetam promiserat, in virtute multa evangelizantibus daret verbum et ora in portis filie Sion laudantium adimpleret. Benedictus autem Deus, qui sperantes in sua misericordia non relinquens, speciosos fecit pedes evangelizantium pacem, evangelizantium bona, et expandens manus suas ad populum non credentem, non solum usque in Idumeam, verum etiam usque in Prussiam suum calceamentum extendit, dans gratiam fratribus memoratis, ut sint ministri Christi Iesu in gentibus, sanctificantes Evangelium Dei, ut fiat oblatio gentium accepta et sanctificata in Spiritu sancto. Der Vergleich mit Idumäa kann sich, vielleicht in bewusst doppeldeutiger Anspielung, auf die Wirkungsstätte Christi oder auf den Kreuzzug beziehen. 172 Chronicon montis Sereni, a. 1215 (wie Anm. 166), S. 186: Christianus primus post beatum Adelbertum genti Prutenorum episcopus consecratus est. In mehreren Briefen von 1216/1217 ermahnte der Papst (Innozenz III. oder schon Honorius III.) dazu, Bischof Christian zu unterstützen (Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 12, S. 8f.), und die Neubekehrten zu einem christlichen Lebenswandel (ebd., Nr. 13, S. 9f.). Honorius III. gab dem Bischof Christian 1218 die Erlaubnis zur Errichtung von Kathedralkirchen (ebd., Nr. 19, S. 40) und forderte in weiteren Briefen zur Unterstützung des Bischofs auf (ebd., Nr. 22–24, S. 16–18). Im gleichen Jahr verbot er den Handel mit Eisen, Waffen und Salz mit den heidnischen Preußen (ebd., Nr. 25, S. 18). 1219 entband er den Erzbischof von Gnesen von der Legation in Preußen (in Pruscie partibus fidei christianae legationis […] officium: ebd., Nr. 30, S. 21). Zum Vorgehen Christians und den Schwierigkeiten seiner Mission vgl. (vor damaligen Forschungsstand) Fritz Blanke, Die Missionsmethode des Bischofs Christian von Preußen, in: Altpreußische Forschungen 4 (1927), S. 20–42 (abgedr. in: Heidenmission und Kreuzzugsgedanke in der deutschen Ostpolitik des Mittelalters, hrsg. Helmut Beumann [Wege der Forschung, 7], Darmstadt 1963, S. 337–363). Zu der gegenüber Innozenz III. aktiveren Missionspolitik Honorius’ III. im Baltikum, der dennoch eine klare Linie fehlte, vgl. Fonnesberg-Schmidt, The popes (wie Anm. 141), S. 133–186, zu Preußen besonders S. 170–182; zur Kreuzzugspolitik dieses Papstes, jedoch ohne jeden Bezug auf Preußen) vgl. Thomas W. Smith, Curia

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Bischof Laurentius von Breslau mit dem Böhmenherzog nach Preußen aufgebrochen sein.173 Das Gros der Preußen blieb jedoch heidnisch und widersetzte sich der Einflussnahme. 1220 siegten die heidnischen Preußen erneut über die Polen.174 Seither häufen sich die Nachrichten über kriegerische Auseinandersetzungen, die in der Forschung nicht ganz zutreffend gern als ‚Kreuzzüge‘ bezeichnet werden.175 Dennoch blieben weitere Feldzüge weithin erfolglos, während preußische Gegenangriffe große Zerstörungen anrichteten. Während Bischof Christian von Honorius III. einzelne Privilegien,176 häufiger jedoch lediglich päpstliche Bestätigungen von Schenkungen erhielt,177 ihm Hilfe hingegen erst für die Zeit nach dem Ende des Jerusalemkreuzzugs in Aussicht gestellt wurde,178 und er sich im Zuge dieser Konflikte wohl aus Preußen zurückziehen musste, zogen im

173 174 175

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and Crusade. Pope Honorius III and the Recovery of the Holy Land 1216–1227 (Outremer. Studies in the Crusades and the Latin East 6), Turnhout 2017. Cosmas von Prag, Chronica Boemorum, Cont. canonicorum Pragensium, a. 1218 (wie Anm. 96), S. 170 (Fontes rerum Bohemicarum 2, wie Anm. 44, S. 283): episcopus Wratislaviensis Laurentius cum Theobaldo duce Bohemiae in Prussiam profecti sunt. Ebd., a. 1220, S. 170 (Fontes rerum Bohemicarum 2, S. 283): Poloni a Pruzis occisi sunt et a Ruthenis furore gladii interfecti et a fossoribus auri mactati miserabiliter interierunt. Zur stufenweisen Aneignung des Kreuzzugsmodells für die Preußenkriege vgl. Maria Starnawska, Military Orders and the Beginning of Crusades in Prussia, in: Hunyadi, Laszlovszky (Hrsg.), Crusades (wie Anm. 141), S. 417–428, die aber auch von „substitute Crusades“ spricht (ebd., S. 418). Auf die Forschungsdiskussion über den strittigen und von der jeweiligen Definition abhängigen Kreuzzugsbegriff kann hier nicht eingegangen werden. Für die Frühzeit sprechen die Urkunden Honorius’ III. jedenfalls gegen eine Deutung der Preußenkriege als Kreuzzüge. Tatsächlich rief Honorius III. in seinen Urkunden nämlich nirgends unmittelbar zu einem Kreuzzug auf, erlaubte aber zumindest die Verteidigung der Neubekehrten in Preußen und den Krieg contra ipsorum paganorum barbariem unter dem Kreuzzeichen (crucis signaculo insignire: Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 15, S. 11, von 1217) und die Abwehr der Heiden durch Jerusalemkreuzfahrer auf drei Jahre (ebd., Nr. 16, S. 11f., von 1217, an den Erzbischof von Gnesen): et dare nichilominus tibi licenciam retinendi crucesignatos provincie memorate per triennium contra predictorum paganorum barbariem pugnaturos) wie auch den geistlichen und militärischen Kampf gegen die Heiden zum Schutz der Neubekehrten durch an der Jerusalemfahrt verhinderte Kreuzfahrer (ebd., Nr. 20, S. 14f., von 1218): Cum igitur plures ex vobis existant, qui non disponunt suis humeris affigere signum crucis in terre sancte subsidium profecturi, eis in remissionem iniungimus peccatorum, quatinus in eorundem accedant auxilium contra barbaras nationes pro plantatione novella fidei christiane tam spiritualibus armis quam materialibus pugnaturi; ähnlich ebd., Nr. 21, S. 15f., für Kreuzfahrer aus den Kirchenprovinzen Mainz, Köln und Salzburg, und ebd., Nr. 29, S. 20f., vom gleichen Jahr); 1221 erlaubte der Papst dem Polenherzog (Lestko) die Preußenbekehrung anstelle eines Kreuzzugs (ebd., Nr. 39, S. 26). Vgl. ebd., Nr. 31, S. 22, von 1219 (Recht zur Verhängung von Kirchenbußen). Vgl. ebd., Nr. 42, S. 33; Nr. 43, S. 33; Nr. 44, S. 33f., alle von 1223. Vgl. ebd., Nr. 37, S. 24f., von 1220. Den Vorrang des 5. Kreuzzugs für Honorius vor der Preußenfrage betont danach auch Fonnesberg-Schmidt, The popes (wie Anm. 141), S. 144–149.

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nächsten Jahr zwei Pröpste aus Petersberg dorthin,179 kehrten (unter Absolution von diesem unter dem Kreuzzeichen begonnenen Unternehmen) jedoch ebenfalls schon bald wieder zurück.180 In den Jahren 1224 bis 1228 missionierte dann der Bischof Wilhelm von Modena, dessen Wunsch die Preußenmission schon lange gewesen sein soll und den Honorius III. auf Bitten der preußischen Gläubigen als päpstlichen Legaten dorthin sandte, „damit die immer noch in der Dunkelheit wandelnden Völker durch seinen Dienst und mit Gott als Urheber das große Licht sähen“.181 Spätestens 1228 kehrte auch er zurück,182 nachdem er (angeblich) viele Heiden bekehrt und auch die preußische Sprache erlernt hatte.183 In diesen Regionen seien jetzt nur noch fünf Provinzen zu erwerben gewesen, nämlich Preußen, Kurland, Litauen, Withlandia (Wirland in Ost-Estland?) und Samland.184 179 Chronicon montis Sereni, a. 1222 (wie Anm. 166), S. 199: Poppo Novi Operis et Otto Sancti Mauricii Hallenses prepositi 17. Kal. Iunii a Sereno Monte Pruziam profecti sunt. 180 Ebd., S. 200: Prepositus vero paucis post festum purificacionis diebus domum reversus est, absolucione profeccionis sue in Pruziam sub testimonio litterarum penitencionarii impetrata, quia ad subsidium terre illius cruce signatus erat. 181 Vgl. Honorius III., ep. 264 (MGH Epp. saec. XIII, wie Anm. 92), S. 189f. von 1225, an die Bischöfe Bonaventura von Rimini und Albert von Brixen (= Registrum Bd. 9, ep. 146): Cum curam extirpandi pravitatem hereticam de provincia Lombardie tibi, frater Brixiensis, et venerabili fratri nostro … Mutinensi episcopo commiserimus, et demum ipsum Mutinensem desiderantem ab olim portare nomen domini Iesu Christi coram ducibus et gentibus Prutenorum et nuper a fidelibus, qui sunt in partibus illis, instantissime postulatum illuc de fratrum nostrorum consilio duximus destinandum, ut populi adhuc ambulantes in tenebris per ministerium eius Deo actore videant lucem magnam; erneut Ders., ep. 266, ebd., S. 191, von 1225 (an dieselben): Gerentes de zelo et prudentia tua fiduciam specialem, te venerabili fratri nostro … Brixiensi episcopo duximus sociandum in cura extirpandi pravitatem hereticam de partibus Lombardie, cum venerabilem fratrem nostrum … Mutinensem episcopum, cui cum prefato Brixiensi curam commiseramus eandem, destinemus ad Prutenorum barbaras nationes ad predicandum eis nomen et fidem Dei ac domini Iesu Christi. Schon ein Jahr zuvor (1224) hatte Honorius III. allen kirchlichen und klösterlichen Amtsträgern die Ernennung des Bischofs Wilhelm von Modena zum päpstlichen Legaten für Livland, Preußen (Pruscie) und andere Länder mitgeteilt (Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 53, S. 39f. [= Register Honorius’ III., a. 9, Bd. 4, ep. 129]). 182 Vgl. Chronica regia Coloniensis, a. 1228 (wie Anm. 44), S. 261: Eadem etiam excommunicatione postea Aquenses ligat, pro eo quod episcopum Mutinensem, de Prucia post legationem suam redeuntem, dicti fautores imperatoris Aquisgrani ceperant et captum detinuerant, magna quantitate auri ablata. 183 So Alberich von Troisfontaines, Chronicon, a. 1228 (wie Anm. 44), S. 921: In Prutia vero, que est ultra Poloniam et ultra Pomeraniam, episcopus Mutinensis Guilelmus, missus a papa legatus, ingenio et sapientia sua, non fortitudine multos paganos ad fidem attraxit et linguam eorum ex magna parte didicit. 184 Ebd.: Erant autem hoc anno in illis partibus quinque tantummodo provincie paganorum acquirende, ista videlicet de qua agitur Prutia, Curlandia, Letonia, Withlandia et Samlandia. Bei Wulfstan war Witland identisch mit Eastland und meinte das Land nordöstlich der Weichsel (oben bei Anm. 17). In diesem Jahr gründete Bischof Christian noch einen neuen Orden der Milites Christi de Prussia. Nur grob aus der Zeit Friedrichs II. berichtet die

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Solche Nachrichten vermitteln einen Eindruck von den regen, zunehmend intensivierten, aber wenig erfolgreichen militärischen und Missionskontakten mit Preußen im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, schon vor dem Eingreifen des Deutschen Ordens, die von der auf diesen konzentrierten Forschung zumeist nur beiläufig und unvollständig erwähnt werden. In diesen Jahren begannen dann, nicht zuletzt aufgrund der Erfolglosigkeit solcher Unternehmungen sowie der Initiative des von den Preußen bedrängten Polenherzogs Konrad von Masowien, die viel behandelten und gut bekannten Kontakte mit dem Deutschen Orden,185 den Konrad 1225/1226 um Hilfe bei der Preußenabwehr bat. Angeblich 1226 stattete Kaiser Friedrich II. den Orden in der (in zwei ‚Originalen‘ überlieferten) Goldbulle von Rimini, im ‚Vorgriff‘ auf die (erst später erfolgende) Schenkung des Polenherzogs in einer Art ‚Zukunftsvision‘ mit Rechten in dem noch zu erobernden Land aus, das noch gar nicht seiner Herrschaft unterstand (bzw. wurden die in der Urkunde sehr konkret benannten Rechte, wie man heute annimmt, erst 1245 in die nur in dieser Form erhaltenen, zurückdatierten Fassungen der Urkunde eingefügt).186 1230 trat Konrad angesichts der preußischen Bedrohungen Polens dem Deutschen Orden das Kulmer Land ab (mit genauer Grenzbeschreibung nach Flüssen).187 Papst Gregor IX. bestätigte diese SchenSächsische Weltchronik, c. 383 (wie Anm. 140), S. 252 (zum Jahr 1237): Bi des selven keiser Vriderikes tiden erhof sic du cristenheit to Prucen. Bi sines vader keiser Heinrikes tiden ward Liflande kersten unde bedwungen van den Sassen. Sic erhoven oc bi des keiseres tiden twei geistlike levent, en der Barvoten unde en der Predegere. 185 Im weiten Rückblick von 1380 behandelt der Abt von St. Bertin Johannes Longus, Chronica s. Bertini, c. 41, pars 4, ed. Oswald Holder-Egger (MGH SS 25), Hannover 1880, S. 796, in seiner nur bis 1294 reichenden Geschichte des Klosters auch die Anfänge des Deutschen Ordens, der eigentlich Orden der Deutschen der seligen Maria heiße, jetzt aber allgemein die Herren Preußens und Livlands genannt würde; denn – so schreibt er vereinfachend bzw. geradlinig auf das Ergebnis hin ausgerichtet – als es Gott gefiel, die Christen aus dem Heiligen Land zu vertreiben, seien einige nach Livland, andere nach Preußen gekommen und hätten dort die Herrschaft ergriffen; ebd.: Ordo iste est ordo Alemannorum et ordo beate Marie Teuthonicorum, quia vix aliquem in fratrem recipiunt nisi de lingua Teuthonica, et vocant se Dei milites, sed a populo vocantur hodie et vere sunt domini Prucie et domini Livonie. Nam cum Domino placuit christicolas expelli de Terra Sancta, quidam istorum in Prucia, quidam vero in Livonia devenerunt et dictas patrias acquisierunt, et earum domini sunt effecti. 186 D F II 1158 (MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 14/5: Die Urkunden Friedrichs II., 1222–1226), bearb. Walter Koch unter Mitwirkung von Klaus Höflinger, Joachim Spiegel, Christian Friedl, Katharina Gutermuth, Wiesbaden 2017, S. 539–547. (Die Edition im Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 56, S. 41–43, ist dadurch überholt.) Inseriert auch im Rückblick in den Annales Silesiaci compilati, a. 1194 (wie Anm. 47), S. 538f. (nach der Warschauer Handschrift). 187 Im Register Gregors IX. (und nur hier erhalten), ep. 411 (MGH Epp. saec. XIII, wie Anm. 92), S. 330–332 (hier S. 331), von 1230 (Preuß. UB, wie Anm. 158, Nr. 78, S. 68–70): Eapropter ego Conradus divina miseratione dux Mazovie et Cuiavie cunctis presentibus et futuris presens scriptum inspecturis notum esse volo, quod cum Pruteni et alii Christiani nominis inimici magnam partem terrarum mearum ipsis adiacentium depredationibus, incendiis tam ec-

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kung im preußischen Grenzland in einem Brief an die Brüder vom Deutschen Orden in Preußen und erteilte dem Orden seinerseits den Auftrag zur Eroberung und Bekehrung des Landes und zum Schutz der Christen an den Grenzen, allerdings unter Wahrung der Rechte des Bischofs von Modena, dessen Aufgabe dem Papst folglich noch nicht als beendet galt.188 Zum folgenden Jahr verkünden clesiarum quam aliorum locorum, interfectionibus et captivationibus virorum, mulierum et parvulorum, peccatis hominum, qui Altissimum in vanitatibus suis irritaverunt exigentibus, miserabiliter divina permissione vastaverint […], dedi et contuli hospitali sancte Marie domus Theutonicorum et fratribus eiusdem ordinis domus totum et ex integro Colmen territorium cum omnibus suis attinentiis ab eo loco, ubi Drawanza [Drewenz] egreditur terminos Pruscie, et per descensum eiusdem fluminis usque in Wizlam [Weichsel], et in descensu Wizle usque ad Osam [Ossa], et per ascensum Ose usque ad terminos Pruscie, in veram et perpetuam proprietatem possidendum pleno iure cum omni libertate, fructu et utilitate. (Dem schließt sich noch die Pertinenzformel an.) Auch hier ist die Überlieferungslage undurchsichtig. Nach einer anderen Urkunde hatte Konrad bereits 1222 Kulm und viele Ländereien allerdings dem Bischof Christian geschenkt (Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 41, S. 27–32; nur inseriert in späteren Urkunden erhalten); und auch dem Deutschen Orden wurde schon 1228 die Verleihung des Kulmer Landes beurkundet (ebd., Nr. 64, S. 47, in einer weit kürzeren, aber originalen Urkunde), und noch einmal 1230 (ebd., Nr. 75, S. 55f., einem verlorenen Original). Offenbar sind verschiedene kürzere Versionen der Urkunde überliefert, die auch unter Fälschungsverdacht geraten sind; vgl. dazu Gerard Labuda, Über die Urkunden zur Gründung des Deutschen Ordens im Kulmerlande und in Preußen in den Jahren 1226–1234, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hrsg. Josef Fleckenstein, Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen, 26), Sigmaringen 1980, S. 299–316 (demzufolge, ebd., S. 306, dem Orden 1228 nur Teile und 1230 das ganze Kulmerland verliehen wurde); Ders., Über die Urkunden zur Gründung des Deutschen Ordens im Kulmerlande und in Preußen in den Jahren 1226–1234, in: Nowak (Hrsg.), Ritterorden (wie Anm. 141), S. 21–44; Marc Löwener, Itinerare als Hilfsmittel zur chronologischen Einordnung des Quellenmaterials – dargestellt am Beispiel der Herrschaftsbegründung des Deutschen Ordens in Preußen, in: Fremdheit und Reisen im Mittelalter, hrsg. Irene Erfen, Karl-Heinz Spieß, Stuttgart 1997, S. 165–176. 188 Gregor IX, Registrum, ep. 414 (wie Anm. 92), S. 328f., von 1230, an den Deutschen Orden (= Preuß. UB 1, wie Anm. 158, Nr. 72, S. 52f.); zum Anfang vgl. oben Anm. 108: Nuper siquidem dilectus filius Hermannus, magister domus sancte Marie Theutonicorum, in nostra proposuit presentia constitutus, quod nobilis vir C. dux Polonie castrum Colme cum pertinentiis suis et quedam alia castra in Prutenorum confinio, domui vestre pia liberalitate concessit, adiciens quicquid de terra illorum per vos et coadiutores vestros poteritis obtinere, quod utique gratum non modicum gerimus et acceptum, sperantes quod fideles existentes iuxta fines terre predicte cotidie periculo mortis expositi, per vos recipere debeant subsidium oportunum. Quia vero ibi sunt pietatis studia sollicitius exercenda, ubi exinde potest maioribus impietatibus obviari, caritatem vestram monemus et hortamur in Domino, vobis et omnibus adiutoribus vestris in remissionem peccaminum iniungentes, quatinus ad eripiendum de Prutenorum manibus terram ipsam, a dextris et a sinistris Dei armatura muniti, viriliter procedatis, ut favente divina gratia et vestro ministerio sacrosancta ecclesia, dilatato in partibus illis loco tentorii sui et funibus tabernaculorum eius extensis, numero et merito fidelium augeatur, vosque centuplum in via et vitam eternam in patria percipere debeatis; proviso ne contra terram illam, que venerabilem fratrem nostrum … Mutinensem episcopum dinoscitur recepisse, occasione huiusmodi procedatur. Data Perusii, II Idus Ianuar. pontificatus nostri anno tertio. Zur Missionspolitik Gregors IX. im Baltikum vgl. Fonnesberg-

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die Schlesischen Annalen bereits die Eroberung Preußens,189 während der Papst noch von widerspenstigen, die Christen bedrohenden Heiden spricht.190 Der Kampf sollte sich tatsächlich noch lange hinziehen, auch wenn die polnischen Annalen zum Jahr 1236 die Verwüstung des Preußenlandes durch die Deutschen innerhalb von drei Wochen verkünden.191 Diese und die weiteren Ereignisse der Eroberung, Christianisierung und Umstrukturierung Preußens durch den Deutschen Orden sind bestens bekannt und nicht mehr Teil dieser kleinen Studie. Erst im zweiten und dritten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts häufen sich also die Nachrichten über die Mission bei den Preußen und zeugen von recht massiven Auseinandersetzungen und Missionsversuchen, denen ohne militärische Eroberung aber nur geringer Erfolg beschieden war, bis sie in die Aktivitäten des Deutschen Ordens übergingen. Bereits vorher aber liefen (friedliche) Missionsund kriegerische Eroberungsversuche, wenn auch, wie es scheint, wenig koordiniert, parallel nebeneinander her, ein Verfahren, das der Deutsche Orden fortsetzen, zusammenführen und intensivieren sollte. Auffällig in unserem Zusammenhang ist aber etwas anderes: Trotz aller Verdichtung der auf Mission und Eroberung Preußens fokussierten Nachrichten enthalten die Berichte kaum etwas Nennenswertes oder Neues über die Preußen selbst und ihr Land:192 Falls das Wissen über Preußen im Zuge dieser Auseinandersetzungen sich tatsächlich vermehrt haben sollte, so findet das jedenfalls keinerlei schriftlichen Niederschlag.

189 190

191 192

Schmidt, The popes (wie Anm. 141), S. 187–224, zu Preußen 1230/1231 besonders S. 192– 202. Annales Silesiaci compilati, a. 1231 (oben Anm. 104). Vgl. Register Gregors IX. (wie Anm. 92), ep. 417, S. 337, von 1230, an alle Bischöfe der Provinzen Magdeburg, Bremen, Polen, Pomeranien, Mähren, Suravia, Holstein und Gotland: Ex litteris sane dilecti filii nobilis viri ducis Mazovie intelleximus, quod pagani Pruteni nomen Christi, quem ignorant, ad cuius cognitionem venire non volunt, exterminare tanquam prophanum de suis finibus per exterminium Christianorum ibidem existentium intendentes, ipsos vehementer impugnant, destruentes terram eorum, qui resistere pre paucitate non possunt, et personas etiam miserabiliter trucidantes. Annales Polonorum, a. 1236 (wie Anm. 44), S. 632/633 (Version 2–4, hier nach Version 2 zitiert): Theutoni intrant Prusiam, devastant tribus septimanis absque resistencia. Zwar soll der erste Preußenbischof Christian eine Chronik der Preußen verfasst haben, die aber nur aus sehr späten Quellen bekannt ist. Vgl. dazu Voigt, Geschichte Preußens (wie Anm. 6), Beilage 1, S. 617–631.

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X.

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Fazit

Was lässt sich nun aus dem Überblick über die Ausgangsfrage, das potenzielle Preußenbild beim Eintreten des Deutschen Ordens in diese Gegend, schließen? Dabei ist es selbstverständlich, dass man nicht das gesamte ‚Wissen‘ über die Preußen voraussetzen darf: Was hier gewissermaßen zu einem Gesamtbild ‚addiert‘ worden ist, wird (wenn überhaupt) jeweils nur in Teilen bekannt gewesen sein (und manches ist überhaupt erst in späteren Quellen überliefert, deren Vorlage wir nicht kennen). Doch bleibt das Bild in seinen Grundzügen die ganze Zeit über so erstaunlich kohärent, dass sich die wesentlichen ‚Kenntnisse‘ deutlich abzeichnen, vor deren geistigen Hintergrund sich Mission und Eroberung Preußens vollzogen haben: vor dem Deutschen Orden und durch den Deutschen Orden. Eine Erweiterung oder Modifizierung des Preußenbildes im Zuge der Intensivierung der Kontakte in den ersten drei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts ist in den Quellen nicht erkennbar und konnte allenfalls mündlich wirksam werden. Das christliche Bild von den Preußen änderte und erweiterte sich daher erst im Rückblick, als Preußen nicht mehr ‚preußisch‘ und die Heiden längst weitestgehend christianisiert waren. Umso wichtiger aber erscheint es, das traditionelle Bild der noch nicht christianisierten Preußen und damit das Bild vor und zur Zeit der Eroberung in den Blick zu nehmen. Danach wird man feststellen dürfen, dass eine historiographisch-ethnographische Kenntnis bzw. eine Kenntnisnahme über „Preußen“ (unter dieser Bezeichnung) erst relativ spät mit der (allerdings in der gesamten Folge breit rezipierten) Mission Adalberts von Prag einsetzte und auch fortan, mit Ausnahme der ethnographischen Beschreibung Adams von Bremen, dessen differenzierende Charakteristik der Preußen jedoch nur (in Teilen) noch von Helmold von Bosau aufgegriffen wird, allenfalls episodisch angesprochen wurde, letztlich aber die ganze Zeit über relativ konstant blieb. Kontakte, vor allem über Händler, hat es anscheinend in der ganzen Zeit gegeben; ein detaillierteres, verschriftlichtes Wissen haben sie, mit Ausnahme des frühen und recht isolierten, angelsächsischen Berichts Wulfstans, jedoch nicht vermittelt. Ein Handel mit Fellen (Adam) lässt den in den antiken Quellen hervorgehobenen Bernstein im Mittelalter ganz in den Hintergrund treten. Das Wissen über Land und Leute mag daher gering sein, ist aber (als Land der Wälder, Seen und Sümpfe) nicht nur ein Bild der stereotypen Wildnis, sondern durchaus zutreffend und hat sich im Prinzip noch lange nach der Eroberung durch den Orden in seinen Grundzügen nicht verändert. Die Kenntnisse der politischen und sozialen Organisation sind hingegen dürftig und zudem widersprüchlich; beiläufige Berichte über die Bekehrung einzelner Fürsten widerlegen zwar ein bei Adam und Gallus Anonymus angenommenes Fehlen jeglicher Herrschaftsstrukturen, doch scheint es im Bewusstsein christlicher Autoren bei den Preußen jedenfalls keine einheitliche

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politische Führung gegeben zu haben; nur bei Wipert und im Rückblick ist von einem Königtum zu Rede. Allenthalben klar bewusst (und wichtig) war den Autoren hingegen die geographische Einordnung der Preußen. Da Preußen bis zur Eroberung eine der wenigen noch vollkommen heidnischen europäischen Restlandschaften war, ist es wenig verwunderlich, dass dieses Heidentum und, damit verbunden, ein wildes, unzivilisiertes Barbarentum nicht nur bewusst war, sondern ständig hervorgehoben wurde und neben kriegerischen Auseinandersetzungen von Anfang an ganz im Mittelpunkt des christlichen Interesses stand. Genauere Kenntnisse über den Kult hatte man nicht oder hielt das üblicherweise nicht für erwähnenswert. (Ohne die diesbezüglichen Nachrichten Thietmars von Merseburg wäre auch über die Religion der Slawen aus den Schriftquellen kaum etwas bekannt.) Kultelemente, die erwähnt werden, entsprechen voll und ganz den üblichen Heidenstereotypen (und auch das ist durchweg ‚Normalität‘), wenn etwa von der Verehrung von und Opfern an heiligen Bäumen und Naturgegebenheiten in abgeschlossenen Hainen die Rede ist. Völlig unzutreffend dürften solche, später konkretisierten Vorstellungen gleichwohl ebenso wenig sein wie die beiläufige Erwähnung heidnischer Priester. Zusammenfassend lässt sich daher feststellen, dass das tradierte Preußenbild der 1230er Jahre zwar nur wenig Konkretes bietet und nicht um seinetwillen, sondern nur im Rahmen von Mission und Kriegen interessierte, aber jedenfalls keineswegs inexistent war, ja man suchte später sogar die Ursprünge der Preußen im Rahmen der üblichen, vorhandenen Herkunftsmythen aufzuweisen. Man hatte durchaus eine Vorstellung von den wilden, heidnischen Preußen in einer schönen, wilden Gegend (und damit auch davon, worauf man sich einließ), eine Vorstellung, die noch am Vorabend der Eroberung vorherrschend war und sich durch die zunehmenden Kontakte anscheinend keineswegs erweiterte. Dieses Bild muss nun keineswegs zutreffend sein und erscheint, trotz der differenzierenden, ethnographischen Charakteristik Adams von Bremen, besonders stereotyp im Hinblick auf das Heidentum und den ‚barbarischen‘ Charakter der Preußen als eines unzivilisierten Volkes. Es betont, aus langer Erfahrung heraus, aber auch den harten Widerstand gegen alle bisherigen Eroberungsversuche, ja geradezu eine Unbezwingbarkeit der Preußen. Nach zeitgenössischer Vorstellung würde nur eine rigorose Christianisierung daran etwas ändern können, und hier lag sicherlich ein Anhaltspunkt für die Betrauung des Deutschen Ordens mit dieser Aufgabe. Dass es keine leichte, schnell zu bewältigende Aufgabe sein würde, dürfte den Akteuren nach allen Erfahrungen sehr bewusst gewesen sein (und sollte sich in der Durchführung dann auch schnell bestätigen). Ebenso bewusst aber glaubte man in den 1220er und 1230er Jahren, dass die bis dahin durchweg friedlichen Missionsversuche nicht ausreichten, sondern nur eine

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militärische Eroberung auch die Bekehrung gewährleisten würde.193 Das christliche Preußenbild gibt, trotz mancher Berührungen, nicht die soziale Realität, sondern die christlichen Vorstellungen davon wieder, aber es bildet die wirkmächtige, geistige Grundlage, vor deren Hintergrund sich historisches Handeln vollzog und legitimierte. Zu erforschen, wie wirkmächtig es in den Auseinandersetzungen des Deutschen Ordens war und blieb oder wieweit es sich durch die Kontakte verändert hat, muss den Spezialisten dieser Epoche überlassen bleiben.

193 Zum Wandel der Missionsmethoden unter dem Deutschen Orden, der sich nicht auf Zisterzienser, sondern auf die seit 1227 in Danzig stationierten Dominikaner stützte, vgl. MarieLuise Favreau-Lilie, Mission to the Heathen in Prussia and Livonia: The Attitudes of the Religious Military Orders Toward Christianization, in: Christianizing Peoples and Converting Individuals. hrsg. Guyda Armstrong, Ian N. Wood (International Medieval Research, 7), Turnhout 2000, S. 147–154.

Oliver Auge

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter – Vier Beobachtungen zu einem angezeigten Perspektivenwechsel

Der mit dieser Festschrift geehrte Jürgen Sarnowsky hat sich in vielerlei Hinsicht intensiv und weiterführend mit der Geschichte der Ostseeregion befasst. Zu denken ist hierbei zuvorderst, aber nicht nur an seine zahlreichen Arbeiten zur Geschichte des Deutschen Ordens und der Hanse.1 Darüber hinaus hat er als akademischer Lehrer und als wissenschaftlicher Kollege wichtige Untersuchungen zur Geschichte der Ostseeregion angeregt.2 In diesem weiteren Kontext sind auch die im Folgenden abgedruckten Gedanken zu verorten. Denn erstmalig sind sie im April 2016 auf die freundlich-ermunternde Einladung Jürgen Sarnowskys im Hamburger Forschungskolloquium zur Diskussion gestellt worden. Es geht dabei um ein rezentes Forschungsproblem zur Geschichte des Ostsee-

1 Siehe z. B. Jürgen Sarnowsky, Die geistlichen Ritterorden (Geschichte der Christlichen Orden) Stuttgart 2018; Ders., Das Ende der mittelalterlichen Hanse, in: Ene vruntlike tohopesate: Beiträge zur Geschichte Pommerns, des Ostseeraums und der Hanse. Festschrift für Horst Wernicke zum 65. Geburtstag, hrsg. Sonja Birli, Nils Jörn, Christian Peplow, Haik Thomas Porada, Dirk Schleinert (Schriftenreihe der David-Mevius-Gesellschaft, 12) Hamburg 2016, S. 499–516; Ders., Der Deutsche Orden, 2., durchges. Aufl. (Beck’sche Reihe, 2428) München 2012; Ders., Die politischen Beziehungen der Hansestädte zu Frankreich im späteren Mittelalter, in: Les relations entre la France et les villes hanséatiques de Hambourg, Brême et Lübeck. Moyen-Âge–XIXe siècle, hrsg. Isabelle Richefort (Diplomatie et histoire) Brüssel 2006, S. 113–133; Ders., Verwaltung und Schriftlichkeit in den Hansestädten, hrsg. Ders. (Hansische Studien, 16) Trier 2006; Ders., Die Elbinger Kaufleute und der Deutschordenshandel um 1400, in: Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag, hrsg. Udo Arnold (Einzelschriften der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 22) Marburg 2001, S. 325–332; Ders., Kreuzzüge und Ritterorden in der neueren Forschung, in: Die Aktualität des Mittelalters, hrsg. Hans-Werner Goetz (Herausforderungen, historisch-politische Analysen, 10) Bochum 2000, S. 25–55; Ders., Die preußischen Städte in der Hanse, in: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), S. 97– 124. 2 Siehe z. B. Sebastian Kubon, Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393–1407) (Nova mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, 15) Göttingen 2016.

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raums, das sich aus der eigenen Beschäftigung mit der Region speist3 und zugleich als erste Ideensammlung auf dem Weg zu einem größeren Forschungsvorhaben gedacht ist. Konkret soll es um die Erörterung der Frage gehen, ob und inwieweit sich die Ostseeregion im Mittelalter als Innovationsraum charakterisieren lässt. Die Frage ordnet sich in einen aktuellen mediävistischen Diskurs zu Innovationen und Innovationsräumen ein, der maßgeblich vom Berner Historiker Rainer C. Schwinges4 beziehungsweise vom an der Heidelberger und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Forschungsvorhaben „Klöster als Innovationslabore“ unter Leitung von Gert Melville, Bernd Schneidmüller sowie ehemals Stefan Weinfurter bestimmt wird.5 Der Begrenztheit des zur Verfügung stehenden Raumes wegen sei bei der Beschäftigung mit dem Innovationsraum Ostseeregion im Folgenden auf lediglich vier Aspekte hingewiesen, die nach einem nötigen definitorischen Abschnitt in Augenschein genommen werden sollen. Diese Vierzahl ließe sich freilich spielend um weitere Punkte ergänzen.6 3 Siehe insbesondere Oliver Auge, Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit (Mittelalter-Forschungen, 28) Ostfildern 2009. – Siehe aber auch Ders., Hansestädte im Ostseeraum zwischen Autonomie und Landesherrschaft/Miasta hanzeatyckie pomie˛dzy autonomia˛ a władza˛ panów ziemskich, in: Annales UMCS. Sectio F Historia 72 (2017) [2018], S. 11–30; Nutzung gestaltet Raum. Regionalhistorische Perspektiven zwischen Stormarn und Dänemark, hrsg. Ders., Norbert Fischer (Kieler Werkstücke Reihe A: Beiträge zur schleswigholsteinischen und skandinavischen Geschichte, 44) Frankfurt a. M. 2017; Oliver Auge, Rasante Aufholjagd des ‚jüngeren‘ Nordens? Zur Entstehung und Entfaltung der Fürstenhöfe im südwestlichen Ostseeraum bis ca. 1350, in: Sangspruchdichtung um 1300. Akten der Tagung in Basel vom 7. bis 9. November 2013, hrsg. Gert Hübner, Dorothea Klein (Spolia Berolinensia, 33) Hildesheim 2015, S. 3–44; Glaube, Macht und Pracht. Geistliche Gemeinschaften des Ostseeraums im Zeitalter der Backsteingotik, hrsg. Ders., Felix Biermann, Christofer Herrmann (Archäologie und Geschichte im Ostseeraum, 6) Rahden/Westf. 2009; Oliver Auge, Ein Integrationsmodell des Nordens? Das Beispiel der Kalmarer Union, in: Fragen der politischen Integration im mittelalterlichen Europa, hrsg. Werner Maleczek (Vorträge und Forschungen, 63) Ostfildern 2005, S. 509–542 u. v. a. 4 Innovationsräume. Woher das Neue kommt – in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. Rainer Schwinges, Paul Messerli, Tamara Münger (Publikation der Akademischen Komission der Universität Bonn) Zürich 2001. – Siehe auch Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren Rainer Schwinges, hrsg. Christian Hesse, Klaus Oschema, Ostfildern 2010. 5 Innovationen durch Deuten und Gestalten. Klöster im Mittelalter zwischen Jenseits und Welt, hrsg. Gert Melville, Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter (Klöster als Innovationslabore, 1) Regensburg 2014. – Siehe auch Innovation in Klöstern und Orden des Hohen Mittelalters. Aspekte und Pragmatik eines Begriffs, hrsg. Mirko Breitenstein, Stefan Burkhardt, Julia Dücker (Vita Regularis. Ordnungen und Deutungen religiösen Lebens im Mittelalter, 48) Berlin 2012. 6 Im Anschluss an den Kolloquiumsvortrag wies Sebastian Kubon z. B. darauf hin, dass auch das Verwaltungs- und Registraturwesen des Deutschen Ordens als eine Innovation in dem im Folgenden gebrauchten Sinnzusammenhang zu verstehen sei. Für diesen Hinweis sei Herrn Kubon an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt.

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

1.

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Definitorisches: Ostseeregion und Innovationsraum

Der Terminus „Region“ eröffnet einen flexiblen, strukturbezogenen Zugang zu einem Raum.7 Räume werden mit seiner Hilfe nicht a priori etwa nach administrativ-politischen Gesichtspunkten eingeteilt, sondern funktional verstanden und nach Untersuchungsschritten definiert. Je mehr Überlappungen einzelne Interessenskreise ergeben, desto fester konstituiert sich die Vorstellung von einer Region, freilich mit in der Regel offen ausfransenden Rändern. Um es an der mittelalterlichen Rolle des Ostseeherings zu exemplifizieren: Beschäftigt man sich bloß mit dem Heringsfang, dann schaut man schwerpunktmäßig auf den Bereich zwischen Schonen und Rügen; betrachtet man hingegen den Handel mit diesem Hering, reicht der Blick plötzlich von Skandinavien bis ins Rheinland und weiter nach West- und Südeuropa.8 Die Ostseeregion ist mithin nicht stets klar umrissen. Sie deckt schwerpunktmäßig natürlich die Ostsee selbst und die unmittelbare Küstenregion ab, bezieht aber, je nach Fragestellung, auch Bereiche bis weit ins Landesinnere mit ein. Man mag die weiche Bezugsgröße der Region als zu diffus verteufeln; doch besteht andererseits in der damit verbundenen methodischen wie gedanklichen Offenheit eine große wissenschaftliche Erkenntnischance, weil man der Teleologie des Raums enthoben wird und das sogenannte mental mapping klar vor Augen geführt bekommt.9 Wie wichtig diese Option ist, zeigt sich an der eigenen Wahrnehmung und Sichtweise des Ostseeraums durch mittelalterliche Zeitgenossen wie etwa den prominenten Chronisten Gallus Anonymus. Er entfaltete in seiner vor 1115/16 verfassten Cronica et gesta ducum sive principum Polonorum, die als wichtigste Überlieferung zum hochmittelalterlichen Polen gilt, eine Vorstellung von der Welt und Mitteleuropa, 7 Dazu und zum Folgenden Ernst Hinrichs, Regionalgeschichte, in: Landesgeschichte heute, hrsg. Carl-Hans Hauptmeyer (Kleine Vandenhoeck-Reihe, 1522) Göttingen 1987, S. 16–34, hier S. 18f. und S. 22f. – Siehe dazu ebenfalls Karl Heinrich Pohl, „Im Spannungsfeld zwischen Landes- und Regionalgeschichte“. Einige einführende Überlegungen, in: Im Spannungsfeld zwischen Regional- und Landesgeschichte, hrsg. Reimer Witt (Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein, 74) Schleswig 2003, S. 7–17; Oliver Auge, Was meint und macht Regionalgeschichte an der CAU zu Kiel?, in: Mitteilungen der Gesellschaft für SchleswigHolsteinische Geschichte 90 (2016), S. 7–18, hier S. 10f. 8 Siehe dazu grundlegend Carsten Jahnke, Das Silber des Meeres. Fang und Vertrieb von Ostseehering zwischen Norwegen und Italien (12.–16. Jahrhundert) (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, 49) Köln 2000. 9 Siehe neben der in Anm. 7 zitierten Literatur zum sog. mental mapping Norbert Götz, Janne Holmén, Introduction to the Theme Issue: ‚Mental Maps: Geographical and Historical Perspectives‘, in: Journal of Cultural Geography 25 (2018) 2, S. 157–161; Die Ordnung des Raums. Mentale Landkarten in der Ostseeregion, hrsg. Norbert Götz, Jörg Hackmann, Jan HeckerStampehl (The Baltic Sea Region. Northern Dimensions – European Perspectives, 6) Berlin 2006; Peter Gould, On Mental Maps, Image and Environment. Cognitive Mapping and Spatial Behaviour, hrsg. Roger Downs, David Stea, New Brunswick 2005, S. 182–220.

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die sich von unserer dominanten West- und Südeuropa-Perspektive eklatant unterscheidet. In ihr stehen Polen und der Ostseeraum im Mittelpunkt.10 Der Begriff der Innovation ist allgemein zu einem viel- oder gar abgenutzten Modewort recht verschwommenen Inhalts verkümmert.11 In der Wissenschaft wird darunter in Fortführung von Ansätzen Joseph Alois Schumpeters zunächst einmal ein Prozess verstanden, in dessen Verlauf eine Erfindung (inventio) in eine Marktanwendung (innovatio) umgesetzt und schließlich verbreitet wird (diffusio).12 Eine wichtige Bedeutung in der so umrissenen Innovationsgeschichte kommt darüber hinaus dem Wechselspiel von Innovation und Imitation zu.13 Ausgehend von dieser zunächst ökonomisch-technischen Annäherung hat die Geschichtsforschung ihr Verständnis von Innovation weiterentwickelt, um zum Beispiel die verbreitete Vorstellung vom innovationsfeindlichen Mittelalter als falsch zu entlarven,14 fehlgeschlagene Innovationen angemessen zu würdigen und insbesondere dadurch das mit der Untersuchung von Innovationen oft

10 Gallus Anonymus, Polens Anfänge: Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen, übers. und hrsg. Josef Bujnoch (Slawische Geschichtsschreiber, 10) Styria 1978. – Diesen schönen Hinweis verdanke ich Adam Krawiec aus Poznan´ (Polen). 11 Tom Kehrbaum, Innovation als sozialer Prozess. Die Grounded Theory als Methodologie und Praxis der Innovationsforschung, Wiesbaden 2009, S. 17. – Siehe dazu insgesamt Christian Hesse, Klaus Oschema, Aufbruch im Mittelalter – Innovation in Gesellschaften der Vormoderne. Eine Einführung, in: Aufbruch im Mittelalter – Innovationen in Gesellschaften der Vormoderne. Studien zu Ehren Rainer Schwinges, hrsg. Christian Hesse, Klaus Oschema, Ostfildern 2010, S. 9–33, hier S. 9–11 (dort wird ein „Innovations-Hype“ erwähnt). 12 Zitiert nach Hesse, Oschema, Einführung (wie Anm. 11), S. 18. – Schumpeter selbst verwendete nicht den Terminus technicus der Innovation, sondern gebrauchte den Begriff der „neuen Kombination“. Siehe dazu Joseph Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 2. neu bearb. Aufl., München 1926, S. 103–198. 13 Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung (wie Anm. 12). 14 Hesse, Oschema, Einführung (wie Anm. 11), S. 14f. unter weiterem Verweis auf Gerhard Dohrn-van Rossum, Novitas – Inventores. Die „Erfindung der Erfinder“ im Spätmittelalter, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein im Mittelalter, hrsg. Hans-Joachim Schmidt (Scrinium Friburgense, 18) Berlin 2005, S. 27– 49; Elisabeth Vavra, Praxis der Technik, in: Enzyklopädie des Mittelalters 2, hrsg. Gert Melville, Martial Staub, Darmstadt 2008, S. 191–193 und nicht zuletzt Lynn White, The Expansion of Technology 500–1500 (Fontana Economic History of Europe, v. 1, section 4) London 1971; siehe zudem z. B. Ders., Cultural Climates and Technological Advance in the Middle Ages, in: Viator 2 (1971), S. 171–202; Guilds, Innovation, and the European Economy, 1400–1800, hrsg. Stephan Epstein, Maarten Prak Cambridge 2008; L’innovation technique au Moyen âge. Actes du VIe Congrès international d’archéologie médiévale, 1–5 octobre 1996, Dijon – Mont Beuvray – Chenôve – Le Creusot – Montbard, hrsg. Patrice Beck, Paris 1998; Steven Epstein, Regional Fairs, Institutional Innovation and Economic Growth in Late Medieval Europe, in: The Economic History Review: a Journal of Economic and Social History 47 (1994) 3, S. 459–482.

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kritiklos verbundene Fortschrittsparadigma hinter sich zu lassen.15 Als weiteres Kriterium fügte sie der Definition von Innovation unter anderem die Unterscheidung „innersystemischer Optimierungsabsicht“ von evolutionären Vorgängen, die eine eigene Wertigkeit innerhalb der Innovationsforschung erlangten, hinzu16 und erweiterte in diesem Kontext den Gegenstandsbereich auf Phänomene der politischen, sozialen und kulturellen Geschichte.17 Weitergedacht ist für die Geschichtswissenschaft ein ‚Innovationsraum‘ ein geographischer Bereich, der günstige und/oder langfristige Bedingungen zu Innovationen bietet.18 In einem solchen Raum finden Innovationen früher, besser, häufiger statt und werden rascher sowie dauerhafter rezipiert und umgesetzt als anderswo. „Ausgehend von der Tatsache, dass das von Menschen jeweils neu erworbene, angewendete und verbreitete Wissen […] raumwirksam und raumverändernd ist, kann man Innovationsräume […] auch als Vorsprungs- oder Führungslandschaften verstehen.“19 Für die Definition eines solchen Innovationsraums bedarf es eines Bündels aus natürlichen geographischen, demographischen, ökonomischen, technischen, sozialen, politischen, sprachlichen und kulturellen Kriterien.20 Die Ostseeregion wird von der mediävistischen, speziell der deutschen Mittelalterforschung nun wahrlich nicht als Innovationsraum beziehungsweise als Vorsprungs- oder Führungslandschaft im gerade skizzierten Sinn gezeichnet. Spätestens seit Peter Moraws Aufsatz „über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter“ von 1987 ist der deutschen Mediävistik vielmehr das Paradigma eines immensen Gefälles hinsichtlich der politischen und Verfassungsentwicklung, der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, des Kunst- und Literaturniveaus sowie des techni15 Hesse, Oschema, Einführung (wie Anm. 11), S. 23f.; Reinhold Bauer, Der ‚Flop‘ als Forschungsobjekt? Gescheiterte Innovationen als Gegenstand der historischen Innovationsforschung, in: Innovationskultur in historischer und ökonomischer Perspektive. Modelle, Indikatoren und regionale Entwicklungslinien, hrsg. Reinhold Reith (Innovationsmuster in der österreichischen Wirtschaftsgeschichte, 2) Innsbruck 2006, S. 39–56; Ders., Gescheiterte Innovationen. Fehlschläge und technologischer Wandel (Campus Forschung, 893) Frankfurt 2006. 16 Hesse, Oschema, Einführung (wie Anm. 11), S. 24f. unter Rückgriff auf Birgit BlättelMink, Kompendium der Innovationsforschung, Wiesbaden 2006, S. 39–46. 17 Hesse, Oschema, Einführung (wie Anm. 11), S. 25 mit der Feststellung in Anm. 58, dass „diese Konzentration [auf Vorgänge außerhalb von Wirtschaft und Technik, O. A.] derzeit die Forschungsansätze zu dominieren“ scheine. 18 Rainer Schwinges, Paul Messerli, Tamara Münger, Innovationsräume – eine Einführung, in: Innovationsräume. Woher das Neue kommt – in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. Dies. (Publikation der Akademischen Kommission der Universität Bonn) Zürich 2001, S. 13– 15. 19 Zitat aus ebd., S. 13. 20 Ebd.

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schen Fortschritts zwischen dem sogenannten älteren Europa im Süden und Westen des Kontinents und dem jüngeren Europa als dessen Mitte, Norden und Osten als Analysemodell eingeprägt.21 Moraw zufolge verlief die Schnittstelle zwischen den beiden Europas im mittelalterlichen Reich, da zu ihm sowohl Regionen gehörten, die dem höher entwickelten „älteren“ Teil zuzurechnen und mit Walter Schlesinger als „Germania Romana“ betitelt sind, als auch Bereiche, die man zum „jüngeren“ Europa zählt und die unter den Bezeichnungen „Germania Germanica“ sowie „Germania Slavica“ subsummiert werden.22 Gemäß dem konstatierten Entwicklungsgefälle, das im Reich und in Europa von West nach Ost und von Süd nach Nord verlief, wäre der nordöstliche Teil des mittelalterlichen Reiches, also die weitgehend an der Ostsee gelegene Germania Slavica als besonders benachteiligt und rückständig anzusehen, da hier gleich beide Gefälleachsen wie in einem Trichter zusammenliefen. Erstaunlich schnell setzte indes in diesem Teil Deutschlands eine Aufholjagd in den verschiedensten soziopolitischen und kulturellen Bereichen ein, was auch Moraw anerkennt.23 Nochmals mit Schumpeter ließe sich von der zentralen Rolle der Imitation bei der Implementierung von Innovationen in dieser Region etwa im Rahmen der sogenannten Ostsiedlung sprechen.24 Doch trotz einer respektablen Aufholjagd 21 Peter Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich im deutschen und europäischen Mittelalter. Ein Versuch, in: Hochfinanz, Wirtschaftsräume, Innovationen. Festschrift für Wolfgang von Stromer, 2, hrsg. Uwe Bestmann, Trier 1987, S. 583–626. – Siehe aber den wichtigen Hinweis, dass demgegenüber die völkisch-rassistische Geschichtsschreibung der NS-Zeit dieses später von Moraw so nachdrücklich konstatierte Entwicklungsgefälle geleugnet hat, um eine geschichtsklitternde Überhöhung der Bedeutung des Ostseeraumes zu erzielen. Vgl. dazu Reinhard Paulsen, Schifffahrt, Hanse und Europa im Mittelalter. Schiffe am Beispiel Hamburgs, europäische Entwicklungslinien und die Forschung in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, Neue Folge, 73) Köln u. a. 2016, S. 518. 22 Moraw, Entwicklungsunterschiede (wie Anm. 21), S. 588–592. 23 Ebd., S. 593. 24 Zur Ostsiedlung und den damit verbundenen Konsequenzen für die Politik- und Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozial- sowie Kulturgeschichte siehe Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970–1972, hrsg. Walter Schlesinger (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte, 18) Sigmaringen 1972; Walter Kuhn, Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 16) Köln 1973; Charles Higounet, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, übers. von Manfred Vasold (Dtv, 4045) München 1990; Klaus Zernack, Der hochmittelalterliche Landesausbau als Problem der Entwicklung Ostmitteleuropas, in: Preußen, Deutschland, Polen: Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hrsg. Wolfram Fischer, Michael Müller (Historische Forschungen, 44) Berlin 1991, S. 185–202; Eike Gringmuth-Dallmer, Wendepflug oder Planstadt? Forschungsprobleme der hochmittelalterlichen Ostsiedlung, in: Siedlungsforschung 20 (2002), S. 239–256 – Siehe dazu zusammenfassend Oliver Auge, Ostseeraum, in: Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, hrsg. Michael Borgolte, Berlin 2014, S. 193–207, hier S. 197–200.

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erreichte die Germania Slavica nach Moraws Einschätzung lange Zeit nicht das Niveau des Südens und Westens, was er an der Kirchenorganisation, dem Städtewesen und der Welt der Universitäten festmacht.25 Grundsätzlich wurde Moraw zufolge erst zum Ausgang des Mittelalters, ab etwa 1470, eine gewisse Ausgeglichenheit erlangt.26 Das wiederum habe zum größeren Zusammenhalt im Reich geführt, welchen Vorgang Moraw bekanntermaßen als „Verdichtung“ anspricht.27

2.

Ein innovationsgeschichtlicher Streifzug durch die mittelalterliche Geschichte der Ostseeregion

Moraws Vorstellung ist weitgehend akzeptiert. Doch anscheinend sind wir dazu angehalten, das Phänomen von Entwicklungsunterschied und -ausgleich differenzierter als bisher zu betrachten, wie der tiefergehende Blick auf den „Innovationsraum Ostseeregion“ zeigen kann.

2.1.

Früh- und hochmittelalterliche Handelszentren

Eine günstige Verkehrslage und enge kommunikative Verbindungen werden von der Forschung als zentrale Kennzeichen für Innovationsräume gesehen.28 Tatsächlich entwickelte sich in der Ostseeregion an derart begünstigten Plätzen im Früh- und Hochmittelalter eine ganze Reihe von Handelszentren, deren Größe, soziale und ökonomische Zusammensetzung sowie Vernetzung mit der Außenwelt deutlich innovative Akzente im Raum setzten. [Abb. 1 & 1a & 1b] Besonders gut entwickelte sich ab dem 8. Jahrhundert das geschützt an der Schlei gelegene Handelszentrum Haithabu im heutigen Schleswig-Holstein, nicht zuletzt weil sich hier, an der Schnittstelle zwischen Nord- und Ostsee, eine Drehscheibe des Fernhandels etablieren ließ, die neben dänischen, sächsischen und slawischen permanentes, also Dauerbewohnern, auch eine große Zahl von frequentantes, saisonalen Besuchern, unterschiedlichster regionaler Herkunft an-

25 Moraw, Entwicklungsunterschiede (wie Anm. 21), S. 594-–610. 26 Ebd., S. 611. 27 Ders., Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung: Das Reich im späten Mittelalter 1250–1490 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 3) Frankfurt am Main u. a. 1989. 28 Siehe dazu nochmals Schwinges, Messerli, Münger, Innovationsräume – eine Einführung (wie Anm. 18).

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Abb. 1: Lage von Haithabu und wichtige Verkehrswege (Abb.: Maixner, Haithabu, S. 134)

Abb. 1a: Schleswiger Landenge mit Lage von Haithabu und dem Verlauf des Danewerks (Abb.: Maixner, Haithabu, S. 24)

zog.29 Im 10. Jahrhundert zählte die Siedlung ca. 1.000 Einwohner; sogar Gäste aus dem muslimisch-arabisch geprägten Kulturraum sind bezeugt.30 Neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung vereinte Haithabu auch wichtige politische, administrative und kultische Funktionen in sich. In enger Verbindung zu Haithabu stand die archäologisch nunmehr bis vor 500 zurückdatierte, weitläufige Befes29 Birgit Maixner, Haithabu. Fernhandelszentrum zwischen den Welten. Begleitband zur Ausstellung im Wikinger Museum Haithabu, Schleswig 2010, S. 13–22. Siehe insgesamt auch Herbert Jankuhn, Haithabu. Ein Handelsplatz der Wikingerzeit, 8. Aufl., Neumünster 1986. 30 Dazu und zum Folgenden Jankuhn, Haithabu (wie Anm. 29), S. 135f., 204f.

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Abb. 1b: Haithabu (Abb.: Meier, Schleswig-Holstein, S. 140)

tigungsanlage des Danewerks, die die Schleswiger Landenge zwischen der Schlei und der Treeneniederung nach Süden hin abriegelte beziehungsweise die neuralgische Verkehrsverbindung auf der schmalen Landenge zwischen Nord- und Ostsee wirksam sicherte.31 Ähnliche Verhältnisse lassen sich bei einem weiteren Handelszentrum der Zeit beobachten: in Jumne an Stelle des heutigen Wollin/ Polen.32 Auch hierin zog es Menschen verschiedenster Herkunft, selbst aus dem byzantinischen Raum, um dort zu leben, einem Handwerk nachzugehen oder Handel zu treiben. Adam von Bremen nennt Jumne die zu seiner Zeit größte aller Städte Europas.33 Zur Absicherung ihres Handels mit der reichen Siedlung, die 31 Maixner, Haithabu (wie Anm. 29), S. 24–27. 32 Władysław Filipowiak, Handel und Handelsplätze an der Ostküste Westpommerns, in: Oldenburg – Wolin – Staraja Ladoga – Nowgorod – Kiew. Handel und Handelsverbindungen im südlichen und östlichen Ostseeraum während des frühen Mittelalters. Internationale Fachkonferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 5.–9. Oktober 1987 in Kiel (Bericht der Römisch-Germanischen Kommission, 69) Mainz 1988, S. 690–719, hier S. 702– 705; Ders., Die Bedeutung Wollins im Ostseehandel, in: Society and Trade in the Baltic during the Viking Age. Papers of the VII. Visby Symposium held at Gotlands Fornsal, Gotland’s Historical Museum, Visby, Aug. 15.– 19., 1983 (Acta Visbyensia, 7) Visby 1985, S. 121–138. Auch zum Folgenden. 33 Magistri Adam Bremensis Gesta Hammaburgensis ecclesiae Pontificum/Adam von Bremen: Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche, in: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches, 7., um einen Nachtrag erw. Aufl., bearb. Werner Trillmich, Rudolf Buchner (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 11), Darmstadt 2000, lib. 2,

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wohl mit dem Vineta der Sage gleichzusetzen ist,34 ließen sich Wikinger zwischen 940 und 970 in der Jomsburg nieder, die wahrscheinlich ein ganz ähnliches Erscheinungsbild wie Haithabu aufwies und in deren Hafen angeblich 300 Wikingerlangschiffe Platz fanden.35 Neueren Vermutungen zufolge soll sich die Jomsburg an der Stelle des heutigen Spandowerhagen im Peenemündungsgebiet befunden haben. Nicht weit von der Jomsburg entfernt zeugen umfängliche Grabungsbefunde in Menzlin bei Anklam von einem anderen dauerhaft besiedelten Handelsplatz der Wikinger, der im frühen und mittleren 9. Jahrhundert bestand.36 Für die Dauerhaftigkeit spricht neben den entdeckten Resten einer hölzernen Brücke über die Peene ein Brandgräberfriedhof mit acht schiffsförmigen Steinsetzungen und zwölf Steinkreisen, wie es zeitgleichen skandinavischen Sitten entspricht. Um 750 entstand zudem am Ufer des Wolchow nahe der Mündung in den Ladogasee an einer ähnlichen Schnittstelle zweier Handelsräume wie im Falle Haithabus der multiethnische Handels- und Handwerksplatz Staraja Ladoga, auch Aldeigjuborg genannt.37 Die längere Präsenz skandinavischer Fernhandelskaufleute lässt sich auch hier über ein Gräberfeld nachweisen. Die genannten Beispiele bringen allesamt nicht nur aufschlussreiche Belege für eng miteinander verzahnte Kontakträume und Beziehungen in den byzantinischarabischen Raum bei, was die landläufige „Westeuropafixierung“ der Forschung zwangsweise in Frage stellen muss.38 Sie zeugen zudem von gewissermaßen indigenen Impulsen oder Innovationen zur Urbanisierung mit großen sozialen, ökonomischen und kulturellen, auch politischen Konsequenzen. Mit anderen Worten: Stadtgeschichte im Ostseeraum ist natürlich weitaus älter als das nach

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cap. 22, S. 252: Est sane maxima omnium, quas Europa claudit, civitatum, quam incolunt Sclavi cum aliis gentibus, Grecis et Barbaris […]. Zu Vineta vgl. Roderich Schmidt, Jumne – Vineta – Wollin, in: Das historische Pommern: Personen – Orte – Ereignisse, hrsg. Ders. (Veröffentlichungen der historischen Kommission für Pommern, V. 41) 2. Aufl., Köln u. a. 2009, S. 70–72. Siehe dazu Lutz Mohr, Geschichte der Jomswikinger, der Jomsburg und des Gaues Jom in Pommern, 2. Aufl., Doberlug-Kirchhein 2009; Ders., Harald Krause, Die Jomsburg in Pommern. Geschichte und Technik einer verschollenen Wikinger-Seefeste, 2. Aufl., Essen 2002. – Siehe auch die Informationen unter https://de.wikipedia.org/wiki/Jomsburg (letzter Zugriff am 2. November 2018, 15:25 Uhr). Auch zum Folgenden. Vgl. Ulrich Schoknecht, Menzlin: ein frühgeschichtlicher Handelsplatz an der Peene. Mit einem Beitrag von Franz Joachim Ernst (Beiträge zu Ur- und Frühgeschichte der Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg, 10) Berlin 1977. Siehe dazu Anatol Kirpicˇnikov, Staraja Ladoga/Alt-Ladoga und seine überregionalen Beziehungen im 8.–10. Jahrhundert, in: Oldenburg – Wolin – Staraja Ladoga – Nowgorod – Kiew. Handel und Handelsverbindungen im südlichen und östlichen Ostseeraum während des frühen Mittelalters. Internationale Fachkonferenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 5.–9. Oktober 1987 in Kiel (Bericht der Römisch-Germanischen Kommission, 69) Mainz 1988, S. 308–337. Siehe zur Visualisierung des historischen Phänomens die anschauliche Karte in Maixner, Haithabu (wie Anm. 29), S. 134f.

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„westlichem“ Muster 1143 gegründete Lübeck und sie hat autochthone Wurzeln.39

2.2.

Klöster und monastisches Leben

Eine heute in der Staatsbibliothek in Berlin aufbewahrte theologische Handschrift, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts in Lund entstand und dann gegen Ende des Jahrhunderts nach Pommern in die Zisterzienserabtei Kolbatz gelangte, legt nicht nur Zeugnis darüber ab, wie präsent antike Vorstellungen wie zum Beispiel die der Planetensphären im Ostseeraum im Mittelalter gewesen sind.40 [Abb. 2] Sie macht exemplarisch auch darauf aufmerksam, dass man sich die Verbreitungswege nicht einfach nur in West-Ost- oder Süd-Nord-Richtung zu denken hat, sondern weitaus differenzierter. Das zeigt allein auch der Blick auf Lübeck, wo 1225 eine der ersten Franziskanerniederlassungen im Reich mit entsprechenden Rückwirkungen auf die weitere Entwicklung des Mendikantenordens südlich der Elbe entstand.41 Dänische Klöster, insbesondere die Zisterzienserniederlassung in Esrom, hatten bei der Ausbreitung des Klosterwesens und monastischen Lebens an der südlichen Ostseeküste eine enorme Bedeutung, wie Jens Olesen in einem Aufsatz von 2009 für die Beispiele der zwischen 1171 und 1199 gegründeten Klöster Dargun, Eldena, Kolbatz, Belbuck und Oliva ausgeführt hat.42 [Abb. 3] Das schlug sich zum Beispiel im Personal, in liturgi39 Siehe zum Phänomen auch Haithabu und die frühe Stadtentwicklung im nördlichen Europa, hrsg. Klaus Brandt, Michael Müller-Wille, Christian Radtke (Schriften des Archäologischen Landesmuseums, 8) Neumünster 2002. 40 Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat., fol. 149f (zu den Planetensphären speziell siehe ebenda, fol. 27r). – Vgl. zum Kloster Kolbatz Hermann Hoogeweg, Die Stifter und Klöster der Provinz Pommern, 2, Stettin 1925, S. 223–309; Justyna Gralak, Das Kloster Kolbatz, in: Klöster und Landschaften, Zisterzienser westlich und östlich der Oder. Begleitband zur Ausstellung der Europa-Universität Viadrina, 2. verb. Aufl., hrsg. Ulrich Knefelkamp, Wolfgang Redding, Frankfurt an der Oder 1999, S. 131–137; Ernst Bahr, Klaus Konrad, Kolbatz, in: Handbuch der Historischen Stätten Deutschlands, 12: Mecklenburg Pommern, hrsg. Helge bei der Wieden, Roderich Schmidt (Kröners Taschenbuchausgabe, 315) Stuttgart 1996, S. 219f. 41 Zur Veranschaulichung dient die hilfreiche Karte bei Hedwig Röckelein, Schriftlandschaften, Bildungslandschaften und religiöse Landschaften des Mittelalters in Norddeutschland (Wolfenbütteler Hefte, 33) Wiesbaden 2015, S. 64. – Siehe zur Lübecker Franziskanerniederlassung Frederieke Schnack, Heinrich Dormeier, Arne Gummert, Lübeck, Franziskaner, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hrsg. Oliver Auge, Katja Hillebrand, 2, Regensburg 2019, S. 71–123. 42 Jens Olesen, Der Einfluss dänischer Klöster auf den Ostseeraum, in: Glaube, Macht und Pracht. Geistliche Gemeinschaften des Ostseeraums im Zeitalter der Backsteingotik. Beiträge einer interdisziplinären Fachtagung vom 27. bis 30. November 2007 im Alfred Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald, hrsg. Oliver Auge, Felix Biermann, Christofer Herrmann

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Oliver Auge

Abb. 2: Die Handschrift entstand um Mitte des 12. Jahrhunderts in Lund und gelangte gegen Ende des 12. Jahrhunderts in das Zisterzienserinnenkloster Kolbatz (Abb.: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. theol. lat., 149f. fol. 27r)

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

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Abb. 3: Dänische Klostergründungen im südlichen Ostseeraum (Abb.: Petersohn, Ostseeraum, S. 448)

schen Abläufen oder der architektonischen Ausgestaltung nieder. Weitaus wichtiger für den hier interessierenden Zusammenhang ist aber die Tatsache einer monastischen Innovation aus dem hohen Norden, der Birgitten nämlich, die 1370 durch die Heilige Birgitta in Schweden gegründet worden sind und in Vadstena in Schweden ihre zentrale Klosterstätte hatten.43 Im heutigen Schleswig-Holstein existierte eine Niederlassung in Marienwohlde ab 1421; zeitgleich wurde bei Stralsund das Birgittenkloster Marienkron gestiftet.44 Die skandina(Archäologie und Geschichte im Ostseeraum, 6) Rahden/Westf. S. 49–58. – Siehe davor bereits Jürgen Petersohn, Der südliche Ostseeraum im kirchlich-politischen Kräftespiel des Reichs, Polens und Dänemarks vom 10. bis zum 13. Jahrhundert: Mission, Kirchenorganisation und Kultpolitik (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 17) Köln u. a. 1979, S. 447– 451. Auch zum Folgenden. 43 Siehe dazu z. B. Tore Nyberg, Der Birgittenorden als Beispiel einer Neugründung im Zeitalter der Ordensreformen, in: Reformbemühungen und Observanzbestrebungen im spätmittelalterlichen Ordenswesen, hrsg. Kaspar Elm (Ordensstudien, 6; Berliner historische Studien, 14), Berlin 1989, S. 373–396. 44 Heinrich Dormeier, Neue Ordensniederlassungen im Hanseraum. Lübecker Stiftungen zugunsten des Birgittenklosters Marienwohlde bei Mölln, in: Klöster, Stifte und Konvente nördlich der Elbe. Zum gegenwärtigen Stand der Klosterforschung in Schleswig-Holstein, Nordschleswig sowie den Hansestädten Lübeck und Hamburg, hrsg. Oliver Auge, Katja Hillebrand (Quellen und Forschung zur Geschichte Schleswig-Holsteins, 120) Neumünster

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Oliver Auge

Abb. 4: Birgitta von Schweden (1303–1373), Holzschnitt aus einem frühen deutschen Druck der Relevationes aus der Mohnkopfdruckerei Hans van Gethelens, Lübeck 1496 (Abb.: Faksimile des Germanistischen Seminars, CAU zu Kiel)

vischen Wurzeln sind ein markantes Alleinstellungsmerkmal des Ordens.45 Auch die Ordenstracht der Nonnen und Brüder war etwas Besonderes. Die Nonnen trugen zu Rock, Kutte, Kopftuch und Schleier eine charakteristische weiße Bügelkrone aus Leinwandstreifen, die mit fünf roten Flecken, dem Symbol für die fünf Wundmale Christi, versehen war.46 Unzeitgemäß war im 15. Jahrhundert die Art des Klosterlebens insofern, als die Ordensgründerin Doppelklöster für 2013, S. 261–366; Ders., Jens Christian Holst, Marienwohlde, Birgittinerinnen und Birgittiner, in: Klosterbuch Schleswig-Holstein und Hamburg. Klöster, Stifte und Konvente von den Anfängen bis zur Reformation, hrsg. Oliver Auge, Katja Hillebrand, 2, Regensburg 2019, S. 215–252; Tore Nyberg, Birgittinische Klostergründungen des Mittelalters (Bibliotheca historica Lundensis, 15) Lund 1965, S. 99–103. 45 In diesem Sinne etwa auch Dormeier, Neue Ordensniederlassungen (wie Anm. 44), S. 264. 46 Ebd., S. 266 (mit Abb. 2 auf S. 363) unter Rückgriff unter anderem auf Gunnel Wentzel, Birgittiner, in: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, 2, hrsg. Otto Schmidt, Stuttgart 1948, Sp. 750–767.

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

107

Mönche und Nonnen vorsah.47 Die Lebensbereiche sollten zwar streng voneinander getrennt sein, und auch der Gottesdienst in der Klosterkirche nicht gemeinsam stattfinden, aber im Prinzip wurden Mönche und Nonnen in einem Konvent vereint. Gemäß den Vorstellungen der Heiligen Birgitta sollte ein solches Kloster 60 Nonnen, 13 Priester (Zahl der Apostel einschließlich Paulus), vier Diakone (nach der Zahl der Kirchenväter) und acht Laienbrüder aufnehmen. Der Marienwohlder Konvent entsprach zeitweilig diesem Ideal.48 Noch stärker als durch diese in ihrer Zeit gewissermaßen extraordinäre Gemeinschaftsbildung unterschieden sich die Birgitten durch ihre Regel von anderen Orden: Sie orientierten sich nämlich an einer Regel, die im Unterschied zu den Consuetudines aller übrigen Orden nicht von Menschen unter göttlicher Eingebung niedergeschrieben, sondern der Heiligen Birgitta angeblich von Christus selbst diktiert worden war.49 [Abb. 4] Selbstbewusst propagierte die Ordensgründerin den unmittelbaren göttlichen Ursprung ihrer Regula Salvatoris und sah daher ihren Orden als – einzig wahre – Konkurrenzgründung zu den „verödeten Weinbergen“ der bestehenden Klostergemeinschaften, wobei die lose aneinandergereihten Vorschriften ihrer Erlöserregel den eigenen hohen Ansprüchen kaum gerecht wurden/werden konnten.50 Der Orden als skandinavische Innovation sui generis übte freilich eine große Attraktivität aus und verbreitete sich über ganz Europa.51

2.3.

Die gotische Minuskel

Kirchliche Einrichtungen, ob monastisch oder klerikal, wirkten im Mittelalter insgesamt als geistig-kulturelle Zentren mit großem Innovationspotential. Das zu Beginn dieses Beitrags genannte Akademienprojekt hebt auf diese Zusammenhänge ab. Auf einen in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Beleg hat 47 Dazu und zum Folgenden neben Dormeier, Neue Ordensniederlassungen (wie Anm. 44), S. 265 auch Tore Nyberg, Das Gesamtkloster als Rechtseinheit im Lichte der Klosteridee Birgittas, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonistische Abteilung 74 (1988), S. 357–390.; Ders., Birgittinische Klostergründungen (wie Anm. 44), S. 11–22; Hans Cnattingius, Studies in the Order of St. Bridget of Sweden, 1: The Crisis in the 1420s (Acta Universitatis Stockholmiensis; Stockholm Studies in History, 7) Stockholm 1963, S. 9. 48 Dormeier, Neue Ordensniederlassungen (wie Anm. 44), S. 265f. 49 Ebd., S. 267 mit Sancta Birgitta, Opera Minora, 1: Regula Salvatoris, hrsg. Sten Eklund (Samlingar. Svenska Fornskriftsällskapet. Serie 2. Latinska skrifter, 8,1) Uppsala 1975 bzw. Tore Nyberg, Analyse der Klosterregel der Heiligen Birgitta, in: Festschrift Altomünster 1973. Birgitta von Schweden, † 1373. Neuweihe der Klosterkirche nach dem Umbau durch J. Michael Fischer 1773, hrsg. Toni Grad (Schriftenreihe des Heimatmuseums Aichach, 1) Aichach 1973, S. 19–34. 50 So die Beurteilung bei Dormeier, Neue Ordensniederlassungen (wie Anm. 44), S. 267. 51 Vgl. dazu nochmals Nyberg, Birgittinische Klostergründungen (wie Anm. 44), S. 82–222.

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schon vor einiger Zeit Christine Magin von der Greifswalder Arbeitsstelle der Göttinger Inschriftenkommission aufmerksam gemacht.52 Mit inhaltlichen, schriftgeschichtlichen und stilistischen Argumenten hält sie im Unterschied zu der seit Friedrich Schlie vorgenommenen Datierung auf das späte 15. Jahrhundert53 ein Herstellungsdatum der stattlichen, rund zwei Meter hohen und eineinhalb Meter breiten Grabplatte des 1262 verstorbenen Schweriner Bischofs Rudolf I. zwischen 1292 und 1314 für plausibel.54 [Abb. 5] Auf dem Stein, der sich heute im nördlichen Chorseitenschiff des Schweriner Doms befindet, ist der Verstorbene im Mittelfeld als segnender Bischof zu sehen, umgeben von einem umlaufenden Schriftzug.55 Gerade dieser Schriftzug ist für unsere Zwecke interessant und weiterführend: Denn er ist in einer einfach gestalteten gotischen Minuskel ausgeführt, nicht in ihrer für das späte 15. Jahrhundert üblichen „schlankere(n), eng spationierte(n) und durchweg gebrochene(n) Spätform“.56 Bis zu Magins Neudatierung galt die Inschrift auf der Grabtumba des Mainzer Erzbischofs Peter von Aspelt aus dem Jahr 1320 als frühester epigraphischer Beleg für diese Schriftart in Deutschland, wobei dieselbe der Untersuchung Verena Kessels zufolge sogar erst auf die Zeit um 1340 zu datieren ist.57 Der Schweriner Befund zusammen mit weiteren Lübecker Inschriften um und kurz nach 131458 zeigt aber, dass die gotische Minuskel als die dann im Spätmittelalter dominante Inschriftentype offenbar im Norden durchaus schon früher Ver52 Christine Magin, Grabinschriften und Grabdenkmäler in städtischen Kirchen des Hanseraums: Überlegungen zu Formular- und Sprachwandel, in: Pfarrkirchen in den Städten des Hanseraums. Beiträge eines Kolloquiums vom 10. bis 13. Dezember 2003 in der Hansestadt Stralsund, hrsg. Felix Biermann, Manfred Schneider, Thomas Terberger (Archäologie und Geschichte im Ostseeraum, 1) Rahden/Westf. 2006, S. 169–182. 53 Friedrich Schlie, Kunstdenkmäler des Großherzogtums Mecklenburg-Schwerin, 2: Die Amtsgerichtsbezirke Wismar, Grevesmühlen, Rehna, Gadebusch und Schwerin, Schwerin 1896, S. 561. 54 Magin, Grabinschriften (wie Anm. 52), S. 174. – Zur Person vgl. Oliver Auge, Rudolf I., Bischof von Schwerin, in: Neue Deutsche Biographie 22, Berlin 2005, S. 188. 55 Zur Grabplatte als solcher siehe Klaus Krüger, Ich bin ein Gast auf Erden. Grabplatten in Mecklenburgischen Kirchen. Katalog zur Ausstellung, Hamburg 1995, Nr. 26. 56 Magin, Grabinschriften (wie Anm. 52), S. 174. 57 Die Inschriften der Stadt Mainz von frühmittelalterlicher Zeit bis 1650, ges. und bearb. Fritz Arens (Die Deutschen Inschriften, 2), Stuttgart 1958, S. 36f., Nr. 33. – Zur Neudatierung auf ca. 1340 vgl. Verena Kessel, Memorialfunktionen Mainzer Erzbischofsgräber von 1249 bis 1434, in: Kunst in Hessen und am Mittelrhein 34 (1994), S. 13–39, hier S. 16–18. – Vgl. zur bisherigen Beurteilung der Mainzer Inschrift als Erstbeleg in Deutschland auch Die Inschriften der Stadt Worms, ges. und bearb. Rüdiger Fuchs (Die Deutschen Inschriften, 29), Wiesbaden 1991, S. LXIX oder Die Inschriften des Landkreises Bad Kreuznach, ges. und bearb. Eberhard J. Nikitsch (Die Deutschen Inschriften, 34), Wiesbaden 1993, S. XLIX. 58 Magin, Grabinschriften (wie Anm. 52), S. 177. Siehe ferner Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck, 3: Kirche zu Alt-Lübeck. Dom. Jakobikirche. Ägidienkirche, hrsg. Lübecker Baubehörde, bearb. Johannes Baltzer, Friedrich Bruns, Lübeck 1920, S. 231, 235.

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

109

wendung fand als im Süden des Reichs. Womöglich handelt es sich sogar um eine epigraphische Innovation aus dieser Region in Übernahme bzw. Imitation nordfranzösischer Vorläufer – als überhaupt erster Beleg gilt eine Grabplatte aus Nordfrankreich, die auf das Jahr 1261 datiert ist59 – mit durchschlagender Wirkung für die weitere Inschriftenentwicklung im späten Mittelalter. Es würde sich mit Sicherheit lohnen, bei dieser Beobachtung anzusetzen und weiteres Quellenmaterial beizubringen, um diese spannende These zu verifizieren oder zu falsifizieren.60

Abb. 5: Grabplatte Rudolfs I. von Schwerin (vor 1204–1262) (Abb.: Rothkirch, Zeugen von Macht und Fürbitte, S. 26)

59 Vgl. dazu Renate Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache in Bau- und Künstlerinschriften, in: Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 3. Folge, 151, Göttingen 1986, S. 62–81, hier S. 64f. 60 Eine große Hilfe hierbei sind natürlich die nun zum Teil auch schon online verfügbaren Bände der Reihe „Die Deutschen Inschriften“.

110 2.4.

Oliver Auge

Hansische Handelspraktiken

Abb. 6: Hansestädte und Handelswege um 1400 (Abb.: Putzger, Historischer Atlas, S. 57)

Die kurze Erwähnung Lübecks schlägt die Brücke zum letzten hier zu betrachtenden Aspekt. Lübeck entfaltete sich im Verlauf des Mittelalters zum Haupt der Hanse, die geographisch schwerpunktmäßig in der Ostseeregion und im Norden des Reichs zu verorten ist.61 [Abb. 6] Die hansischen Kaufleute standen wie ihre anderen Kollegen vor dem Problem der Überwindung großer Distanzen, des Informationsflusses und der Ubiquität, zu verstehen als Erhältlichkeit eines Gutes oder einer Ware an jedem Ort.62 Zur Lösung bildeten die Hansekaufleute in innovativer Manier persönliche Handelsnetzwerke, die auf Vertrauen und Verwandtschaft sowie Prestige basierten, in letzter Konsequenz 61 Vgl. zur Geschichte Lübecks in der Hansezeit überblicksartig Erich Hoffmann, Lübeck im Hoch- und Spätmittelalter: Die große Zeit Lübecks, in: Geschichte Lübecks, hrsg. Antjekathrin Graßmann, 4. verb. u. erg. Aufl., Lübeck 2008, S. 81–339. Rolf Hammel-Kiesow, Die Hanse, 4. aktual. Aufl. (Beck’sche Reihe, 2131) München 2008, S. 75–77. – Zur Verbreitung der Hanse vgl. Matthias Puhle, Im Zeichen der ‚gemenen stede‘ – Die Organisation der Hanse, in: Die Hanse, hrsg. Rolf Hammel-Kiesow, Matthias Puhle, Siegfried Wittenburg, Darmstadt 2009, S. 53–90, hier S. 70f. 62 Statt vieler Carsten Jahnke, Moderne Netzwerkforschung in der regionalen Hansegeschichte, in: Hansegeschichte als Regionalgeschichte. Beiträge einer internationalen und interdisziplinären Winterschule in Greifswald vom 20. bis 24. Februar 2012, hrsg. Oliver Auge (Kieler Werkstücke Reihe A: Beiträge zur schleswig-holsteinischen und skandinavischen Geschichte, 37) Frankfurt am Main 2014, S. 47–58, hier S. 49–51; Ders., Die Hanse (Reclams Universal-Bibliothek, 19206) Stuttgart 2014, S. 102–104.

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

111

Abb. 6a: Vernetzung kurzfristiger Handelskontakte der Bergenfahrer (1360–1400) (Abb.: Burkhardt, Kaufmannsnetzwerke, S. 123)

aber einer sozialen Überwachung unterlagen.63 [Abb. 6a & 6b] Konkreter handelte es sich entweder um dauerhafte Vernetzungen von Handelspartnerschaften, kurzfristige Geschäftsbeziehungen und Geschäftsverbindungen auf Gegenseitigkeit. Ein Chef-Agenten-Verhältnis, wie es anderenorts vorkam, 63 Ders., Moderne Netzwerkforschung (wie Anm. 62), S. 51–53; Ders., Hanse (wie Anm. 62), S. 102–110; Hammel-Kiesow, Hanse (wie Anm. 60), S. 89f. – Weiterführend in dieser Hinsicht Carsten Jahnke, Netzwerke in Handel und Kommunikation an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert am Beispiel zweier Revaler Kaufleute, Habilitationsschrift Kiel 2004; Mike Burkhardt, Der hansische Bergenhandel im Spätmittelalter. Handel, Kaufleute, Netzwerke (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, 60) Köln u. a. 2009; und vor allem Stephan Selzer, Ulf-Christian Ewert, Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels, in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 135–161. Auch zum Folgenden. – Zur Einordnung in den Forschungszusammenhang siehe Oliver Auge, Vom Städtebund zur kaufmännischen Interessensgemeinschaft. Der Beitrag der Hansehistoriker zur Stadtgeschichtsforschung der letzten 20 Jahre, in: Städte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als Forschungsthema in den letzten zwanzig Jahren. Abhandlungen und erweiterte Beiträge der 30. wissenschaftlichen Konferenz des Archivs der Hauptstadt Prag, veranstaltet am 11. und 12. Oktober 2011 im Palais Clam-Gallas in Prag, hrsg. Olga Fejtová (Documenta Pragensia, 32.2) Prag 2015, S. 563–578, hier S. 571–573.

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Oliver Auge

Abb. 6b: Vernetzung kurzfristiger Handelskontakte der Bergenfahrer (1490–1510) (Abb.: Burkhardt, Kaufmannsnetzwerke, S. 124)

entwickelte sich im Bereich der Hanse dagegen nicht. Über den Informationsfluss aus diesen Netzwerken waren für die Hansekaufleute Warenverkehr und Handelsbedarf an entfernter Stelle vom heimischen Kontor aus nachvollziehbar und für die eigenen Geschäfte nutzbar. Diese kaufmännische Innovation, die dem verbreiteten Bild einer vermeintlichen innovatorischen Rückständigkeit der Hanse offenkundig widerspricht,64 verschaffte den Hansekaufleuten nach jüngeren Deutungen entscheidende Vorteile und schuf eine wesentliche Grundlage für den wirtschaftspolitischen Vorsprung, den sie lange Zeit innehatten und erfolgreich gegenüber der westeuropäischen und süddeutschen Konkurrenz zu behaupten vermochten.65

64 Wolfgang von Stromer, Der innovatorische Rückstand der hansischen Wirtschaft, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters. Festschrift für Herbert Helbig zum 65. Geburtstag, hrsg. Knut Schulz, Köln u. a. 1976, S. 204–217. – Zur beeindruckenden Wirkungsgeschichte dieses Beitrags auf die Hanseforschung vgl. Oliver Auge, Die Hanse in der Region und Regionalgeschichte, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 37 (2019), S. 37–56, hier S. 50–52. 65 Dazu nochmals prägnant Jahnke, Hanse (wie Anm. 62), S. 104, 108f. oder HammelKiesow, Ein starkes Netzwerk – Der hansische Handel, in: Die Hanse, hrsg. Ders., Matthias Puhle, Siegfried Wittenburg, Darmstadt 2009, S. 91–158, hier S. 114–118 („Erfolgsmodell Hanse“).

Die Ostseeregion als Innovationsraum im Mittelalter

3.

113

Fazit

Das von Peter Moraw gezeichnete Bild von Entwicklungsunterschieden und -ausgleich im Reich und in Europa bis zum Ausgang des Mittelalters mag in seiner Gesamtheit sicher weiterhin schlüssig erscheinen. Indes stehen markante Einzelbeobachtungen wie die hier kurz vorgestellten durchaus im Kontrast dazu, was zeigt, dass es, wie stets in der Wissenschaft, auch diese These zu relativieren und zu modifizieren gilt. Im Vorangegangenen wurde dies anhand der frühurbanen Zentren, des Klosterwesens, der Epigraphik sowie des hansischen Handels als schlagende Belege für den „Innovationsraum“ Ostseeregion zu zeigen versucht. Die Beispiele waren im Übrigen ganz bewusst aus unterschiedlichen Epochen und verschiedenen thematischen Bereichen ausgewählt, um allein dadurch zu verdeutlichen, dass es sich bei der Betrachtung innovatorischer Aspekte im Ostseeraum keineswegs nur um den Blick auf „Eintagsfliegen“ handelt! Im Ergebnis können die von Moraw in seinem Entwicklungsmodell gewiss überzeichneten Extreme bezüglich der Entwicklungsunterschiede durch derartige Falluntersuchungen auf ein realistisches ‚Normalmaß‘ hin zurechtgestutzt und kann so die von ihm beschriebene langwährende Ausgleichsbewegung bis 1470 sinnvoll differenziert werden. So ergibt sich ein neues Bild, auf dem dann der Süden und Westen Europas und des Reiches wohl weniger gut als bisher abschneiden, wohingegen der Norden und Osten besser als bislang gedacht erscheinen. Zu dieser angezeigten neuen Karte des Entwicklungsstands und Innovationspotentials in Europa und speziell im Bereich der Ostseeregion im Mittelalter gilt es künftig weitere Erkenntnisse hinzuzufügen, wofür die vielen fruchtbaren Resultate aus den Forschungsarbeiten Jürgen Sarnowskys hervorragend geeignet sind.

Carsten Jahnke

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

I.

Einleitung

Auf den Standardkarten zur hansischen Geschichte nimmt Skandinavien eine merkwürdige Zwitterstellung ein. Auf der einen Seite sind die drei Königreiche Norwegen, Dänemark und Schweden (mit Finnland) Leerstellen, mit denen die Hanse scheinbar gar nichts zu tun hatte. Auf der anderen Seite vermerken die Karten, dass die „Hanse“ neben dem Kontor von Bergen in Skandinavien noch ‚Faktoreien‘, ‚Privilegien‘ oder ‚Niederlassungen‘ besaß.

Abb. 1: G. Droysens Allgemeiner Historischer Handatlas, 1886, Karte 28.

Gustav Droysens Handatlas von 1886 nennt als besonders herausgehobene, hansische Orte: Flensburg, Svendborg, Kopenhagen, Malmö, Skanör u. Falsterbo,

116

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Helsingborg, Warberg und Stockholm.1 Bei Philippe Dollinger erscheinen Bergen, Tönsberg, Oslo, Lödöse, Landskrona, Malmö, Skanör, Falsterbo, Ystad, Simrishamn (wenn auch verstümmelt), Åhus, Rønne, Åbo (Turku) und Wiborg (Viipuri) als ‚hansische Faktoreien‘.2 Fast die gleichen Städte finden sich im Hanseband von Gisela Graichen und Rolf Hammel-Kiesow aus dem Jahr 2011, nur dass man hier als ‚kleinere Niederlassungen‘ Simrishamn und Wiborg gestrichen hat, die Karte dafür aber mit Rasborg (sic! gemeint ist hier Raseborg in Finnland), Næstved, Kalundberg (sic! gemeint ist hier Kalundborg auf Seeland), Nyborg und Ripen ergänzt hat, wobei die meisten Orte im folgenden Text nicht erwähnt werden.3 Quisquis ubique habitat – nusquam habitat.4 Wie war das Verhältnis ‚der Hanse‘ zu den skandinavischen Städten und welche ‚Privilegien‘ oder ‚Niederlassungen‘ hat es wirklich gegeben? Das soll die Frage der folgenden kurzen Skizze sein, die nicht alle Orte behandeln kann und die letzten Endes nur als Anregung für weitere, tiefergehende Forschungen verstanden werden soll.

II.

Skandinavien in der Historiographie der Hanse

Das vage und unbestimmte Verhältnis der Hansehistoriker zu den nördlichen Nachbarn hat eine lange Tradition und ist vor allem durch die politischen Umstände des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmt. Wie Kilian Baur zeigen konnte,5 diente vor allem Dänemark in der Meistererzählung der Hansehistoriker als „Hauptgegner der Hanse, dessen periodisch erneuerte Absichten gegenüber Norddeutschland sogar die Existenz der Gemeinschaft gefährdeten“.6 Mit einer Region, deren Herrscher nur danach trachteten, den guten, hansischen Kaufleuten Steine in den Weg zu legen, konnte kein gedeihlicher Handel stattfinden, zumindest kein bemerkenswerter oder durchgehender. Zwar finden sich Einzeluntersuchungen, doch bleibt die Haltung der deutschen Forschung eher im

1 Professor G. Droysen’s Allgemeiner historischer Handatlas in sechsundzwanzig Karten mit erläuterndem Text, ausgeführt von der Geographischen Anstalt von Velhagen & Klasing in Leipzig unter Leitung von Richard Andree, Bielefeld, Leipzig 1886, Karte 28. 2 Philippe Dollinger, Die Hanse, 4. Aufl., Stuttgart 1989, Karte 3. 3 Gisela Graichen, Rolf Hammel-Kiesow, Die deutsche Hanse, Eine heimliche Supermacht, Reinbek bei Hamburg 2011, Vorsatz. 4 Martial, Epigramm, VII, 73,6. 5 Kilian Baur, Freunde und Feinde. Niederdeutsche, Dänen und die Hanse im Spätmittelalter (1376–1513), (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, N. F. 76), Köln 2018, S. 15–35. 6 Dollinger, Hanse (wie Anm. 2), S. 150.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

117

Vagen, Skandinavien, mit Ausnahme von Bergen, lag bisher außerhalb des Fokus’ der gewöhnlichen Hanseforschung.7 Auch auf skandinavischer Seite ist man der Hanse gegenüber eher indifferent. In Dänemark wurde schon im 19. Jahrhundert propagiert, dass die Hanse Dänemark vollständig unterdrückt und ausgesogen hätte. „Dette Hansestædernes fordærvelige Herredømme gør der forklarligt, hvorfor den danske Borgerstand […] hele Middelalderen igjennem spillede en saa ubetydelig Rolle i Staten“8 und „at Landet, der saaledes var givet i Vold til fremmede rovgjærrige Kjøbmand, maatte udsuges og forarmes, at al Kraft og Dristighed maatte forsvinde af Kjøbstæderne, indlyser af sig selv.“9 Diese Idee beherrscht bis heute, wenn auch in etwas abgeschwächter Form, den Forschungszugang.10 Einig sind sich alle Seiten aber bei der Idee eines Gegensatzes von ‚Hanse‘ und den nordischen Königreichen. Skandinavien war in dieser Gedankenwelt kein Teil der ‚Hanse‘ und scheinbar – zumindest außerhalb von bestimmten ‚Faktoreien‘ oder ‚Kontoren‘ – kein Teil des hansischen Handels. Dies ist insofern merkwürdig, als Figuren wie der ‚niederdeutsche‘ Kaufmann und Malmös Bürgermeister Jørgen Kock schon immer in der Forschung bekannt gewesen sind und seit 1954 zum Beispiel das Kaufmannsbuch des Ditlev Enbeck, Kaufmann zu Malmö, gedruckt vorliegt, welches nicht nur auf Niederdeutsch geschrieben ist, sondern auch die Verknüpfung von hansischem und innerskandinavischem Handel bezeugt.11 Die Quellen und die Aussagen der Forschung stehen daher in einem merkwürdigen Gegensatz.

III.

Die rechtlichen Voraussetzungen

Bevor auf die einzelnen Regionen und Städte eingegangen werden soll, muss der rechtliche Hintergrund kurz erläutert werden. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die ‚Grenzen‘ der nordischen Königreiche mehr als durchlässig waren. Eine Einwanderung von Niederdeutschen nach Skandinavien aber auch

7 Siehe allerdings jetzt das Forschungsprojekt des Leibnizinstitutes „Between the North Sea and the Norwegian Sea: Interdisciplinary Studies of the Hanse“, welches von 2015 bis 2018 in Bremerhaven durchgeführt wurde. 8 Carl Ferdinand Allen, Haandbog i Fædrelandets Historie, 4. Aufl., Kjøbenhavn 1849, S. 180. 9 Ebd., S. 179. 10 Siehe Baur, Freund und Feinde, S. 15–35. 11 Malmøkøbmand Ditlev Enbeck og hans rengskabsbog, Et bidrag til Danmarks handelshistorie i det 16. århundrede, hrsg. Emilie Andersen, København 1954.

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Carsten Jahnke

von Skandinaviern in den Hanseraum, zumindest an den Küsten des Ostseeraumes, war selbstverständlich und alltäglich.12 Es muss zudem beachtet werden, dass, bedingt durch das Kirchenrecht, Kaufleute, die sich auch nur mittelfristig an einem Ort aufhielten, den dortigen Parochien und Leutpfarrern zugeordnet waren.13 Testamentarische Stiftungen und Verfügungen zeigen deutlich das enge Verhältnis der Kaufleute zu ihrer anderen, kirchlichen Heimat, in die sie auch etwa durch Bruderschaften und Gilden integriert waren.14 Im Orbis Catholicus gab es den Gegensatz von Hansekaufleuten und skandinavischen Bürgern nicht. Als dritter Punkt muss eine Besonderheit des schwedischen Stadtrechts erwähnt werden. Nach dem schwedischen Stadtgesetz, dem stadslag, musste bis 1471 die Hälfte aller Ratssitze einer schwedischen Stadt mit ‚deutschen‘ Bürgern besetzt werden.15 Allerdings gab es die Klausel, dass auch Schweden in den ‚deutschen‘ Teil des Rates eintreten durften, wenn es nicht genügend Deutsche gab. Von dieser Klausel wurde vor allem in kleineren Städten rege Gebrauch gemacht.16 In den anderen Reichen gab es diese feste Bestimmung nicht, allerdings war die Zusammensetzung zum Beispiel der Ratskreise in Dänemark durchaus heterogen.17 In den Städten gab es daher den von der Forschung propagierten Gegensatz von hansisch/nichthansisch erst einmal nicht.

IV.

Die Städte in Norwegen

1.

Bergen

Unter den norwegischen Städten nahm Bergen eine Sonderrolle ein, da hier das hansische Kontor eine starke Stellung einnahm.18 Die Stellung ging so weit, dass die deutschen Kaufleute in der Stadt das Patronatsrecht über zwei Stadtkirchen 12 S. u. a. Baur, Freunde und Feinde (wie Anm. 5), S. 104–176; Carsten Jahnke, The City of Næstved, A Port in Different Roles, in Bearbeitung; Tapio Salminen, Medeltiden i Vanda och Helsinga socken, Keuru 2015, S. 30–40. 13 Carsten Jahnke, Hansische Kaufleute und deren Religiosität außerhalb der Heimat, in: Zapiski Historyczne, Tom LXXXIV, Rok 2019, Zeszyt 1, S. 7–41, hier S. 9–15. 14 Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität, S. 23–34. 15 Magnus Erikssons Stadslag i nusvensk tolkning, hrsg. Åke Holmbäck, Elias Wessén (Rättshistoriska Bibliotek 7, Skrifter utgivna för rättshistorisk forskning, 2. Serie), Lund 1966, Konungsbalken II, S. 3f; Magnus Erikssons Stadslag, nach Manuskr. Holm B 154, http://pro ject2.sol.lu.se/fornsvenska/01_Bitar/A.L14.A-MESt.html, abgefragt 22. Nov. 2018. 16 Marko Lamberg, Dannemännen i stadens råd, Rådmanskretsen i nordiska köpstäder under senmedeltiden, Stockholm 2001, S. 57–60. 17 Ebd. 18 S. Justyna Wubs-Mrozewicz, Traders, Ties and Tensions. The Interaction of Lübeckers, Overijsslers and Hollanders in Late Medieval Bergen, Hilversum 2008; Mike Burkhardt, Der

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

119

erlangen und dieses teilweise bis ins 18. Jahrhundert behalten konnten.19 Diese Vorgänge sind bekannt und sollen an dieser Stellte nicht weiter vertieft werden.

2.

Tönsberg und Oslo

Tönsberg und Oslo lagen seit dem 13. Jahrhundert besonders im Fokus der Rostocker,20 die in der Gesellschaft der Wiekfahrer organisiert waren.21 Sie besaßen dort besondere Rechte,22 und erhielten 1452 und 1472 eine Ordnung.23 Die Rostocker durften Jtem at forne købmenn mwe frit selge oc købe gest meth gest oc holde oc haffue theres eyen kost brygge oc baghe till forne theres kost oc thesliges slacthe øxen kør oc annen fitthalie oc bliffue ther winthern ower till wintherlagh. Jtem skulle the oc mwe selghe oc købe meth bønder oc almwe i forne stædher wed skippund liisspund loth oc qwinthin hele oc halffue. Jtem clæde oc i alne tall.24 Aber auch Lübecker und andere trieben dort Handel.25 In den hansischen Privilegien wird seit 1294 festgelegt, dass die ‚Hansen‘ nur in Bergen, Tönsberg und Oslo Handel treiben dürften.26 Kaufleute hatten dort „kumpanie“,27 und

19 20 21

22

23

24 25 26 27

hansische Bergenhandel im Spätmittelalter. Handel – Kaufleute – Netzwerke (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, 60), Köln 2009; Arnved Nedkvitne, The German Hansa and Bergen, 1100–1600 (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, 70), Köln 2014. Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 25ff. Hildegard Thierfelder, Rostock-Osloer Handelsbeziehungen im 16. Jahrhundert. Die Geschäftspapiere der Kaufleute Kron in Rostock und Bene in Oslo (Abhandlungen zur Handelsund Sozialgeschichte, 1), Weimar 1958, S. 1–17. Hans Ulrich Römer, Das Rostocker Patriziat bis 1400 (Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Alterthumskunde, 96), 1932, S. 1–84, hier S. 73; Oscar Albert Johnsen, Der deutsche Kaufmann in der Wiek in Norwegen im späteren Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 53 (1928), S. 66–77. Diplomatarium Norvegicum 1–21, Christiania und Oslo 1849–1995, 3, Nr. 815, S. 592, Nr. 825, S. 600, Nr. 832, S. 606, Nr. 906, S. 659, Nr. 918, S. 669, sowie 6, Nr. 602, S. 637, 7, Nr. 451, S. 450, Nr. 503, S. 497. S. a. Hanserezesse, Die Rezesse und anderen Akten der Hansetage, Vol. I.1IV.2, Leipzig, München, Köln, Wien 1870–1970 (im Folgenden: HR), II.6, Nr. 248, § 5, S. 216, III.6, Nr. 582, § 3f., S. 544f., Nr. 611, S. 570, III.8, Nr. 524, S. 456, Nr. 819, § 9, S. 840, III.9, Nr. 667, S. 864 u. Anm. 2. Hansisches Urkundenbuch, Vol. 1–11, Halle, Leipzig, Weimar, München 1876–1916 (im Folgenden: HUB), 8, Nr. 1299, S. 142f.; Karl Koppmann, Zwei Ordnungen des Rats zu Rostock für seine Kaufleute in Oslo und Tönsberg, in: Hansische Geschichtsblätter 17 (1888), S. 163– 167. Diplomatarium Norvegicum, 6, Nr. 602, S. 637. S. u. a. Lübeckisches Urkundenbuch, Vol. 1–11, Lübeck 1858–1932 (im Folgenden: UBStL) 8, Nr. 741, S. 810. HR I.6, Nr. 70, §§ 14f., Nr. 262, §§ 90f., Nr. 275, S. 243. HR I.3, Nr. 302, S. 288f., hier S. 289: Ok so mach me wol schepe senden tho Thu˚nsberghe unde tho Alslo, de dar kumpanie heft.

120

Carsten Jahnke

besaßen jeweils zwei Älterleute28 und einen Staven.29 Die dortige Institution, de copman van der Dutschen henze nu to Anszlo unde to Tunszbergen in Norwegen wesende, besaß seit König Håkon Magnusson (1355–1380) eine privilegierte Stellung.30 Ihnen waren die gleichen Rechte wie den Rostockern eingeräumt. Spätestens seit 1362 versuchten beide Städte aber, die Rechte der ausländischen Kaufleute einzuschränken.31 Über die Integration der deutschen Kaufleute in die Kirchen der beiden Städte ist bisher nichts bekannt, allerdings wurden die Osloer Kaufleute in Brügge in die Privilegien der Hanse aufgenommen.32 Insgesamt kann festgehalten werden, dass die hansischen Kaufleute in Norwegen auf eine besondere Privilegierung achteten. An allen drei Orten besaßen sie zudem eine Organisation mit einem Staven und Ältermann, doch nur in Bergen wohnten sie an einem Ort zusammen. War das Kontor von Bergen durch Lübeck dominiert, besaßen die Rostocker großen Einfluss in Tönsberg und Oslo. Über ein Konnubium oder eine Einwanderung von niederdeutschen Kaufleuten nach Tönsberg und Oslo ist nichts bekannt, es muss aber existiert haben.

V.

Dänemark

1.

Næstved

Unter den dänischen Städten nahm Næstved im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert eine besondere Rolle ein, da der Ost-Westhandelsweg von Schleswig über Næstved nach Osten führte.33 Die Næstveder Kaufleute dieser Jahrhunderte waren aktiv und Aussenhandel treibend und integrierten sich in die Eliten der neuen, ‚deutschen‘ Städte.34 Mit der Umlegung der Handelswege im süd-westlichen Ostseeraum auf die Route Hamburg-Lübeck verminderte sich die Rolle Næstveds zu einem regionalen Versorgungshafen der wendischen Städte.35 Allerdings war die Bedeutung der Stadt so groß, dass sie in den Pfundzolllisten in Lübeck eine eigene Spalte erhielt.36 Die Bürger der Stadt standen im Konnubium

28 29 30 31 32 33 34 35 36

HR I.6, Nr. 262, § 91, S. 217. Thierfelder, Rostock-Osloer (wie Anm. 20), S. 8. HR II.7, Nr. 329, S. 497. HR 2.2, Nr. 590, S. 494f. Ebd. sowie Nr. 612, S. 516; HR III.6, Nr. 612, §§ 1, 3 & 13, S. 570–572; HUB 4, Nr. 37, S. 21–23. HR I.5, Nr. 392, § 26, 10, S. 296. Jahnke, Næstved (wie Anm. 12), in Bearbeitung. Ebd. Carsten Jahnke, Lübecks rolle i Danmarks handel i det 15. århundrede, im Erscheinen. Jahnke, Næstved (wie Anm. 12).

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

121

mit hansischen Familien;37 hansische Kaufleute handelten in der Stadt wie Næstveder in den Hansestädten.38 Besondere Privilegien für den Handel der Kaufleute in der Stadt sind nicht bekannt, doch wird 1431 betont, dass den steten vorbenomet unde deme gemeynen koffmanne der hensze desgelichen czugelosen hot czu gebruchen irer privilegien in seiinen dren richen mit kofenschatczs yn dissen sos benumeten steten: in Dennemarken czu Elbogen und Nestwet, in Sweden czum Stokholm unde Suderkope, in Norwegen czu Bergen unde Stafanger […], noch uszwisunge irer privilegien sunder ir keynerleye hindernisse adir vorbieten czuczuforen.39 Welcher Art die besonderen Privilegien hätten sein sollen, wird nicht weiter ausgeführt auch später nicht erwähnt.

2.

Kopenhagen

Abb. 2: Oluf Nielsen Kjøbenhavns Historie og Beskrivelse I: Kjøbenhavn i Middelalderen, Kbh. 1877. Die Deutsche Kompagnie liegt gegenüber dem Helligånd Hospital.

37 Hugo Stehkämper, Frühe Siegel der Stadt Næstved (1280), in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 94 (2004), S. 1205–1216, hier S. 1213; Baur, Freunde und Feinde (wie Anm. 5), S. 160f. und passim. 38 Jahnke, Næstved (wie Anm. 12). 39 HR II.1, Nr. 69, S. 47.

122

Carsten Jahnke

Der Abstieg Næstveds durch die Umlegung der Handelswege begünstigte den Aufstieg Kopenhagens. Diese Stadt errang im 14. Jahrhundert eine bedeutende wirtschaftliche Stellung, verstärkt auch durch die Entwicklung einer königlichen Residenz.40 In der Stadt gab es eine Gilde der deutschen Kaufleute, die 1382 von den Wismarer, Stralsunder und Stettiner Kaufleuten gegründet wurde und deren Älterleute aus diesen drei Städten stammen mussten.41 Im Jahr 1500 mietete die Dreifaltigkeitsgilde und Deutsche Kompagnie, deren Mitglieder dänische und niederdeutsche Namen trugen, einen Hof im Hafenviertel zwischen Fischmarkt und Lederstæde.42 Sie hatte 1454 das Recht erhalten, auch bei Auseinandersetzungen zwischen der Hanse und Dänemark ihr Seelgerät in ihrer Kapelle bei den Franziskanern zu behalten.43 Die Gilde wurde 1526 mit der dänischen Kaufleutegilde zusammengeschlossen, wobei die verheirateten Kaufleute in die dänische wechseln mussten, die deutsche dagegen zur „Kindergilde“ wurde.44 Die deutschen Kaufleute hielten die Winterlage in der Stadt.45 Neben der allgemeinen deutschen Gilde gab es dann zudem eine Gilde der Kopenhagenfahrer aus Deventer,46 und die Kampener besaßen dort eine eigene Gerichtsbarkeit.47 Die ‚deutschen‘ Kaufleute waren zudem derart in die Stadt integriert, wo sie circa sechs Prozent des Grundbesitzes besaßen,48 dass das um 1417 entstandene Stadtsiegel die Umschrift „S’ DER STED TO COPENHEVEN“ erhielt.49 Der Rat entschied in Seegerichtsangelegenheiten, auch hansischer Kaufleute,50 und die Bürger waren in Konnubium, familiär oder handelsmäßig mit den Kaufleuten der Hansestädte verbunden.51 So ist zum Beispiel Borchard von Hamelen von 40 Thomas Riis, Hvorfor blev København Danmarks hovedstad?, in: Struktur og Funktion. Festskrift til Erling Ladewig Petersen, hrsg. Carsten Due-Nielsen u. a., Odense 1994, S. 73– 80. 41 Camillus Nyrop, Danmarks Gilde- og Lavskraaer fra Middelalderen, Kjöbenhavn 1899–1900, 1, Nr. 86, S. 528–533. S. a. HR II.3, Nr. 205, § 17, S. 110. S. a. HR II.2, Nr. 419, § 9, S. 336. 42 HUB 11, Nr. 1184, S. 729f. Siehe die Mitgliederlisten von 1447, 1448 1503, 1504 und 1542 in: Medlemmerne i Hellig Trefoldigheds Laug udi Det Danske Kompagni eller Det kongelige Kjøbenhavnske Skydeselskab og Danske Borderskab 1447–1901, hrsg. v. N.P. Jensen, Kjøbenhavn 1904, S. 1–7. Zu den Kompagnien siehe Baur, Freund und Feinde (wie Anm. 5), S. 252–266. 43 HUB 8, Nr. 346, S. 230f.; HUB 11, Nr. 91, S. 65. S. a. Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 33. 44 Nyrop, Gilde- og Lavskraaer (wie Anm. 41), 1, Nr. 123, S. 801f. 45 HUB 4, Nr. 442, S. 185. 46 HUB 2, S. 213, Anm. 1. 47 HUB 2, Nr. 701, S. 308. 48 Lamberg, Dannemännen (wie Anm. 16), S. 60. 49 Poul Bredo Grandjean, Danske Købstæders Segl indtil 1660, København 1937, s. v. København III, S. 28 und Tafel 8c. 50 HR I.8, Nr. 555, S. 362f. HUB 10, Nr. 1012, S. 621f. 51 Gunnar Meyer, „Besitzende Bürger“ und „elende Sieche“. Lübecks Gesellschaft im Spiegel ihrer Testamente 1400–1449 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck,

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

123

1460 bis 1478 Bürgermeister in Kopenhagen,52 und die Bürgermeister und Ratsherren sind die leven bisunderen gunstighen guden vrunde des Brügger Kontores.53 Allerdings wird 1427 kurzfristig der Handel mit der Stadt auch boykottiert.54 Aus diesem Grunde ist es schwer, das Verhältnis der Stadt zur Hanse zu beurteilen. Im Jahr 1370 erhob die Stadt den hansischen Pfundzoll,55 1405 wird Danzig beauftragt, mit Kopenhagen wegen eines Boykottes Kontakt aufzunehmen56 und 1469 wird Kopenhagen explizit als Hansestadt benannt,57 obwohl keine Ladung der Stadt zu einem Tag bekannt ist. Die Rolle Kopenhagens kann daher doppelt beschrieben werden. Auf der einen Seite war die Stadt die Stadt des Königs, Ausland, mit speziellen Rechten und Einrichtungen für frequentates. Auf der anderen Seite waren niederdeutsche Kaufleute fest in das Stadtgefüge integriert. Diese platzierten die Stadt im dichten Gewebe des Handels- und Familiennetzwerkes im Ostseeraum.

3.

Die Städte der Schonischen Messen

Seit der Gründung der „deutschen“ Städte im Ostseeraum zu Beginn des 13. Jahrhunderts waren deren Kaufleute Gäste auf den Schonischen Messen, die von diesen maßgeblich mitentwickelt wurden.58 Aus vielen der temporären Messeorte entwickelten sich im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts Städte, in denen der temporäre Messecharakter mit den neuen urbanen Strukturen in Streit kam. Unter diesen Messeorten sind die Städte Malmö (deutsch Ellenbogen), Trelleborg, Ystad (Ustede) und Simrishamn (Sommershafn) sowie Landskrona von besonderem Interesse, wohingegen die Städte Skanör und Falsterbo als urbane Institutionen keine Bedeutung erlangten. Ausgangspunkt der ‚niederdeutschen‘ Aktivitäten an diesen Orten war der Besuch von temporären Messeplätzen. Auf diesen Plätzen konnten die Kaufleute Eigentum, Spatien, erwerben. Diese Spatien wurden im 13. Jahrhundert von den

52 53 54 55 56 57 58

Reihe B, 48), Rostock 2010, Edition, 1424/18 Hinric Villan; HUB 3, S. 241, Anm. 4. In der Straße der Deutschen, Thytheskemannegade, wohnte u. a. 1385 ein Kaufmann aus Deventer. HUB 4, S. 302, Anm. 3; HUB 7, Nr. 97, S. 50; HUB 8, Nr. 546, S. 363, Nr. 937, S. 565, Nr. 989, § 6, S. 593, HUB 9, S. 436, Anm. 1. Kjøbenhavns Diplomatarium, hrsg. Otto Nielsen, Kjøbenhavn 1879, 4, Nr. 81, S. 65f. u. 1, Nr. 165, S. 213f.; HUB 10, Nr. 28, S. 15. HUB 10, Nr. 2012, S. 621. HUB 6, S. 385, Anm. 1. Archiv der Hansestadt Lübeck (im Folgenden: AHL), Pfundzollquittungen, Nr. 1251. HR I.5, Nr. 241, § 4, S. 171. S. aber auch Nr. 255, § 7, S. 184. HUB 9, Nr. 663, S. 555–570, hier § 49, S. 563. Carsten Jahnke, „Das Silber des Meeres“. Fang und Vertrieb von Ostseehering zwischen Norwegen und Italien vom 12. bis zum 16. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, 49), Köln 2000, S. 62–177.

124

Carsten Jahnke

urbanen Entwicklungen ‚überrollt‘ und gingen in der Stadtstruktur auf, können aber zum Beispiel in Malmö noch bis ins 16. Jahrhundert hinein nachgewiesen werden.59 Der eine Teil der niederdeutschen Kaufleute kann daher als klassischer, temporärer Messebesucher bezeichnet werden, der sich nur zur Messezeit an diesen Orten aufhielt. Mit der Entwicklung der urbanen Institutionen und Strukturen blieben aber zahlreiche Kaufleute auch außerhalb der Messezeit im Herbst in diesen Städten. Hierbei organisierten sie sich in Gilden und kamen mit der städtischen Obrigkeit in Konflikt, da deren nicht-bürgerlicher Status bei gleichzeitig langer Anwesenheit die ökonomischen Interessen der Städte beeinträchtigte.60 Für die Kaufleute aber hatte die Winterlage den Vorteil, dass sie Handelskontakte mit dem Hinterland der Städte knüpfen und ihre Produktpalette erweitern konnten. Dieses Phänomen ist für Malmö besonders zu beachten. Hier wurde 1329 die „Deutsche Kompagnie“ gegründet und deren Schraa dem Rat in Lübeck vorgelegt.61 Diese Kompagnie besaß ein Giebelhaus in der Stadt, welches 1460 zum ersten Mal belegt ist.62 Allerdings brachen vor 1442 die Stettiner und schon vor 1385 die Rostocker aus, gründeten ihre eigenen Kompagnien und erwarben eigene Häuser.63 In den Kompagnien besaßen die Kaufleute ihre eigene Gerichtsbarkeit.64 Generell hatten vor allem Lübeck, Hamburg, Lüneburg, Rostock, Stralsund, Wismar und Stettin Interesse an einem Kompagniehandel in der Stadt.65 Diese Städte repräsentierten sich auch in der Hauptkirche der Stadt, wo sie unter anderem Fenster mit ihren und den kaiserlichen Insignien anbrachten und Kapellen unterhielten.66 Ähnliche Entwicklungen sind an den anderen Orten zu beobachten. In Ystad läßt sich die Gilde der deutschen Kaufleute im 14. Jahrhundert nachweisen, die ein Kompagniehaus mietete,67 in Simrishamn besaß die Gilde des „Deutschen Kaufmannes“ eine eigene Kapelle,68 und in beiden Orten repräsentierten sich die Kaufleute auch in den Kirchen.69 Für Trelleborg lassen sich solche Strukturen

59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 147f. Ebd., S. 146–171. Siehe z. B. HR III.9, Nr. 659, S. 850–855. Diplomatarium Danicum, Vol. I.1–IV.4, København 1957–1994, II.10, Nr. 118f., S. 122–125. Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 148. Ebd. Zu Rostock s. HUB 4, Nr. 841, S. 353f. Siehe auch Landsarkivet i Lund, Pergamentsbreve, Capitulum Lundense, 1548–09–28, Arrendekontrakt zwischen der Stettiner Kompagnie in Malmö und dem Domkapitel in Lund über ein Haus in Malmö. HUB 9, Nr. 636, § 8, S. 535. HR III.9, Nr 659, S. 850–855. Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 23ff. S. a. HUB 8, Nr. 191, S. 139, Stiftung der Stettiner Kapelle. Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 160. Ebd., S. 158. Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 23f. u. 28.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

125

aufgrund von Archivverlusten nicht nachweisen.70 Auch in dem 1410 als neue Hauptstadt Skandinaviens gegründeten Landskrona waren die hansischen Kaufleute präsent.71 Hier besaßen sie zuerst Häuser und Keller,72 bevor 1476 die deutschen Kaufleute einen ungünstig gelegenen Hof für ihre Kompagnie erwarben. Hier handelten vor allem Rostock, Stralsund, Lübeck, Wismar und Danzig.73 Die zwei Siegel des Kaufmannes werden heute in Rostock aufbewahrt.74 Innerhalb dieser Städte gab es also eine Reihe von hansischen Kaufleuten, die dort über längere Zeit Handel trieben, aber keinen Bürgerstatus erwarben. Als dritte Gruppe gab es dann aber auch die ‚niederdeutschen‘ Kaufleute als Bürger in den Messestädten, vor allem in Malmö. Hier machten sie 1519 circa sieben Prozent der grundbesitzenden Stadtbevölkerung aus.75 Unter diesen Bürgern befanden sich zahlreiche eingewanderte Kaufleute, die auch in den Rat aufstiegen, obwohl König Johannes 1483 die Aufnahme von ‚Ausländern‘ in die städtischen Räte verboten hatte.76 Ditlev Enbeke oder Jørgen Kock sind nur zwei dieser Malmöer Kaufleute mit niederdeutschem Hintergrund, 1454 gehört zum Beispiel Hans Wistede zum Rat und der Kaufmann Arnt Sperwer zu den Bürgern,77 und 1451 wurde der aus Köln stammende Kopenhagener Bürger Heinrich von Dryngenberg Stadtvogt in Malmö.78 Diese Gruppe eingewanderter Niederdeutscher bauten Malmö, wie Kopenhagen, effektiv in das Handels- und Familiennetzwerk im Ostseeraum ein.

4.

Lund

Zu den besonders beachtenswerten Orten Dänemarks gehört die Stadt Lund. Hier besaßen die reisenden Deutschen eine Kapelle in der Krypta der Laurentiuskirche,79 die als Parochiekirche für sie fungierte.80 Für die Deutschen dort gab

70 Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 162–164. 71 S. generell Wilhelm Stieda, Lübeck, Rostock und Landscrona, in: Hansische Geschichtsblätter 6 (1889), S. 211–218. 72 Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 165. 73 Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 166. 74 Stieda, Landscrona (wie Anm. 71), S. 216. 75 Lamberg, Dannemännen (wie Anm. 16), S. 60. 76 Ebd. 77 HUB 8, Nr. 349, S. 232. 78 William Christensen, Unionskongerne og Hansestæderne, 1439–1466, København 1895, S. 360, Anm. 1; HUB 8, Nr. 1123, S. 671f. 79 Johann Martin Lappenberg, Urkundliche Geschichte des hansischen Stahlhofes zu London, Hamburg 1851, S. 123. 80 Tabularium ecclesiæ Lundensis, in: Scriptores Rerum Danicarum Medii Ævi, hrsg. Jacob Langebek, 7, Hafniæ 1792, vom 31. Juli 1494, Abt. L, S. 255. Siehe hierzu den Bestäti-

126

Carsten Jahnke

es auch einen eigenen Vikar.81 Welche Bedeutung die Stadt im niederdeutschen Handelsgefüge einnahm, ist unklar. Doch hatte etwa der Lübecker Bürger Everd van Wezele enge Kontakte zur Stadt,82 und der Lübecker Gerardus de Boeris stand in Handelskontakt mit dem Erzbischof.83

5.

Åhus

Wie die erzbischöfliche Stadt Åhus in Schonen zu der Ehre gekommen ist, auf den oben erwähnten Karten als besonderer hansischer Ort zu gelten, ist unklar. Zwar erscheinen åhusianische Kaufleute gelegentlich in den hansischen Quellen und betreiben auch Heringshandel auf den Schonischen Messen, doch gibt es keinen Anhaltspunkt auf hansische Privilegien in der Stadt. Ganz im Gegenteil war den niederdeutschen Kaufleuten sogar der Gasthandel mit diesen in Malmö verboten worden,84 auch wenn natürlich hansischer Handel in der Stadt selbst vorging.85

6.

Bornholm

Im Gegensatz zu Åhus gab es auf Bornholm tatsächlich Niederlassungen und Gilden deutscher Kaufleute.86 Hier waren es vor allem die Greifswalder, Kolberger, Stettiner, Anklamer und preußischen Kaufleute, die Einrichtungen auf der Insel besaßen.87 Allerdings mangelt es der Insel an urbanen Strukturen. Die bekannten Gilden waren daher Ausdruck eines temporären Handelscharakters.

81 82 83 84 85 86 87

gungsbrief Bischof Asgers vom 18. Nov. 1310, in: Svensk Diplomatarium/Diplomatarium Suecanum, hrsg. Riksarkivet, Stockholm 1829–2018, 2, Nr. 1702, S. 638. Tabularium (wie Anm. 80): Donacio residente cripte pro vicario ejusdem. Meyer, „Besitzende Bürger“ (wie Anm. 51), Edition, 1402/8 Everd van Wezele. Meyer, „Besitzende Bürger“(wie Anm. 51), Edition, 1445/28 Gerardus de Boeris. Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 155. Friedrich Techen, Einige Handelsbriefe aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts im Ratsarchive zu Wismar, in: Hansische Geschichtsblätter 27 (1922), S. 170–186, hier S. 178–184. Lena Mühlig, Deutsche Kaufmannsgilden auf Bornholm, 1327–1525, in: Hansische Geschichtsblätter 131 (2013), S. 111–144. Ebd.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

7.

127

Aalborg

Außerhalb Schonens und Seelands war vor allem Aalborg für hansische Kaufleute von besonderer Bedeutung. Hier waren 1431/1441 die hansischen und die Aalborger Kaufleute sowie die Großproduzenten des Umlandes in der HeiligLeichnams-Gilde zusammengefasst worden, wobei der Gilde jeweils ein dänischer und ein deutscher Schaffer vorstanden,88 im Jahr 1493 zum Beispiel der bekannte Lübecker Bürger Hans Castorp.89 Zwanzig Prozent der bekannten Mitglieder der Gilde waren niederdeutschen Ursprungs.90 Diese Gilde kann als Ausgleichsmedium der verschiedenen Wirtschaftsinteressen gesehen werden. Gleichzeitig erlangten in Aalborg wie in Kopenhagen zahlreiche Niederdeutsche das Bürgerrecht.91 Aalborg als Zentrum des Herings- und Getreidehandels stand in regem, beiderseitigem Austausch mit den Hansestädten; aber auch hier kam es, wie in anderen dänischen Städten, zur Mitte des 15. Jahrhunderts zu ersten Einschränkungen des Gästehandels.92 Hier, wie in Kopenhagen und Malmö auch, konnte sich eine stärkere dänische Kaufmannschaft entwickeln, die mit den Hansestädten in so engem Kontakt stand, dass es kaum größere Klagen über den Handel selbst gab.

VI.

Schweden

1.

Lödöse (Ludehusen)

Die von circa 1050 bis 1646 existierende Stadt Lödöse im Grenzgebiet zwischen Norwegen, Dänemark und Schweden besaß besondere Handelsverbindungen in den Hanseraum.93 Dem Handel der Stadt waren so eigene Rubriken in den

88 Gilde- og Lavskraaer (wie Anm. 41), 1, Nr. 98, S. 613–706, hier § 1, S. 617. 89 Ebd., S. 637. S. a. Carsten Jahnke, Zu Ehren Gottes und zum Wohle der Kasse. Religiöse und soziale Netzwerke in den spätmittelalterlichen Hansestädten und deren Funktion, in: Raumbildung durch Netzwerke? Der Ostseeraum zwischen Wikingerzeit und Spätmittelalter aus archäologischer und geschichtswissenschaftlicher Perspektive, hrsg. Sunhild Kleingärtner, Gabriel Zeilinger (Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters, Beiheft 23), Bonn 2012, S. 165–182, 174–179. S. a. Archiv der Hansestadt Lübeck, NStB 1496, p. 218. 90 Danmarks byer i middelalderen, hrsg. Hans Krongaard Kristensen, Bjørn Poulsen, Aarhus 2016, S. 371. 91 Troels Fink, Flensborgs borgerskab i det 15. aarhundrede, in: Til Knud Fabricius, 13. august 1945, hrsg. H.H. Fussing, København 1945, S. 13–29, hier S. 28. 92 Jahnke, Silber (wie Anm. 58), S. 324f. 93 Siehe allgemein Erika Harlitz, Urbana system och riksbildning i Skandinavien. En studie af Lödöses uppgång och fall ca 1050–1646, Diss. Göteborgs Universitet 2010.

128

Carsten Jahnke

Pfundzollbüchern gewidmet,94 und es gab Handel und ein ausgeprägtes Konnubium zwischen den Kaufleuteeliten.95 Die Lödöser Kaufleute galten in Brügge als Mitglieder der Hanse am Kontor.96 Allerdings scheinen sie sich von ihren Kollegen zuhause auch abgegrenzt zu haben, denn 1460 erteilt Christian I. den Rostockern das Privileg, in Lödöse zu den gleichen Bedingungen wie in Stockholm Handel treiben zu dürfen.97 1487 erhalten die Amsterdamer unter anderem in Lödöse und Wiborg die Handelsfreiheiten, wie sie die Deutschen in diesen Städten besitzen.98 Davon, dass die Hanse dort ein Kontor oder eine Niederlassung besessen hätte, kann nicht die Rede sein, zumindest liegen hierüber bisher keine Informationen vor.

2.

Wisby

Die Entwicklung in Wisby ähnelt in vielerlei Hinsicht der der anderen schwedischen Städte. Die Sonderstellung dieser Stadt in der hansischen Forschung beruht dabei vor allem auf historiographischen Problemen.99 Die niederdeutschen Kaufleute waren in der Stadt in zweierlei Form präsent. Zum einen als durchreisende Kaufleute, frequentates, auf dem Weg nach Russland. Diese Kaufleute besaßen zwei eigene Pfarrkirchen, St. Marien und St. Jacobi,100 und waren, nachweisbar bis 1350, im Staven der deutschen Kaufleute organisiert.101 Da dieser Staven aber von Seiten der niederdeutschen Städte zunehmend als politische Bedrohung empfunden wurde, wurde er 1298 weitestgehend entmachtet.102 Gleichzeitig kam es zu einer merkbaren Einwanderung niederdeutscher Kaufleute in die Stadt, der manentes, die, wie überall in Schweden auch, einen Teil des Rates ausmachten und dort bis 1350 ihr eigenes Siegel führten.103 Die 94 AHL, Pfundzollbuch 1398, S. 96, 105, 188, 1399, S. 81, 1400, S. 110. S. Curt Weibull, Lübecks Schiffahrt und Handel nach den nordischen Reichen 1368 und 1398–1400, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 47 (1967), S. 4–98, bes. S. 36–44. 95 S. z. B. Das Lübecker Niederstadtbuch, 1363–1399, hrsg. Ulrich Simon (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, 56), Köln 2006 (im Folgenden: L-NStB), S. 60, 3; S. 365, 1; S. 459, 6; S. 1032, 1; UBStL 9, Nr. 239, S. 241. 96 HR I.5, Nr. 392, § 26, 10, S. 296. HR II.3, Nr. 249, S. 141. 97 HUB 8, Nr. 951, S. 572f. 98 HUB 11, Nr. 186, S. 149. 99 Carsten Jahnke, „Homines imperii“ und „osterlinge“. Selbst- und Fremdbezeichnungen hansischer Kaufleute im Ausland am Beispiel Englands, Flanderns und des Ostseeraumes im 12. und 13. Jahrhundert, in: Hansische Geschichtsblätter 129 (2011), S. 1–57, hier S. 29–47. 100 Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 18f. 101 Jahnke, Homines imperii (wie Anm. 99), S. 43f. 102 Ebd., S. 44ff. 103 Ebd., S. 39f.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

129

manentes waren in Konnubium und Handelsgeschäften eng mit den Hansestädten verbunden, und Wisby wird in der Forschung als selbstverständliche Hansestadt geführt.

3.

Kalmar

Weniger eindeutig ist die Situation in Kalmar. Auch hier gab es eine merkbare Einwanderung niederdeutscher Kaufleute in die Stadt sowie ein dauerhaftes Konnubium zwischen Kalmarer und Bürgern anderer niederdeutscher Städte.104 Der Rat bestand aus zwei Hälften, wobei unter den deutschen Ratsherren und Bürgermeistern unter anderen Jacob Gronewold,105 Hinrich Lippe,106 Hinrich van Remscher,107 Johannes Vogeler108 oder Hinrich Lasse109 bekannt sind. Im 14. Jahrhundert agiert die Stadt wie eine spätere Hansestadt und erhebt zum Beispiel 1368 das Pfundgeld,110 was ihr allerdings späterhin untersagt wird.111 Aber noch 1385 wird die Stadt für ihre Bekämpfung der Seeräuber entschädigt,112 und 1362 wird sie über die Beschlüsse der Städtetage informiert.113 1364 wird die Stadt indirekt auch als civitas in hansa bezeichnet.114 Der Kalmarer Rat sprach zudem Seegerichtsurteile auch für den hansischen Handel.115 Die Bemühungen um Teilhabe an der Hanse scheinen dabei von Kalmar ausgegangen zu sein. Diese werden 1396 aber jäh abgebrochen, als ein kalmarisches Friedeschiff von preußischen Friedeschiffen angehalten und dessen Besatzung aus ‚deutschen‘ Bürgern Kalmars116 ins Meer geworfen wurde, wo sie ertrank.117 Die „kalmarische Angelegenheit“, die die Hanse über Jahrzehnte beschäftigte und die 1401 mit einem Sühnevertrag zwischenzeitlich geregelt wurde,118 hat die Stadt aus dem aktiven Kreis der Hansestädte getrieben. Kalmar 104 S. u. a. L-NStB 1363–99, S. 121,3; 257,1; 347,2; 355,3; 367,1. AHL, Urkunden, Externa, Suecica, Nr. 157, 1380 Okt. 31 und hierzu L-NStB 1363–99, S. 458,7. Wilhelm Koppe, Das mittelalterliche Kalmar, in: Hansische Geschichtsblätter 67/68 (1942/43), S. 192–221, hier S. 211–218. 105 HUB 7, Nr. 99, S. 50. 106 L-NStB 1363–99, S. 337,1. 107 L-NStB 1363–99, S. 922,1. 108 AHL, Externa, Suecica, Kalmar, Privatsachen, Nr. 2, sowie UBStL 5, Nr. CDXLIX, S. 494f. 109 AHL, Externa, Suecica, Kalmar, Privatsachen, Nr. 2. 110 AHL, Pfundzollquittungen, Nr. 1258–1263. 111 HR I.1, Nr. 479, S. 433–437, § 30. 112 HR. I.2, Nr. 306, § 3, S. 362. 113 HR I.1., Nr. 276, S. 205f., hier § 4, S. 206. 114 HR I.1., Nr. 321, § 12, S. 277. 115 AHL, Externa, Suecica, Kalmar, Privatsachen, Nr. 9, 1464; HUB 4, Nr. 38, S. 22f. 116 Koppe, Kalmar (wie Anm. 104), S. 218. 117 HR I.4, Nr. 372–379, S. 355–362. 118 HR I.5, Nr. 21, S. 14f.

130

Carsten Jahnke

wurde seitdem nicht mehr als Hansestadt betrachtet.119 Der gegenseitige Handel blieb allerdings auch weiterhin bedeutend.120 In Kalmar waren es vor allem die manentes, die aus wirtschaftlichen und familiären Gründen eine Zusammenarbeit mit den niederdeutschen Städten angestrebt haben. Einrichtungen für frequentates sind nicht nachzuweisen, aber ein reger Zu- und Wegzug von und in die Hansestädte. Kalmar war somit bis 1396 und auch darüber hinaus eng in das niederdeutsche Handels- und Familiennetzwerk eingebunden.

4.

Die -köping-Städte

Weiter im Norden waren vor allem die Städte Söderköping und Nyköping in das hansische Handelssystem eingebunden.121 Söderköping war, wie viele andere große schwedische Handelsstädte auch, stark niederdeutsch geprägt und besaß den üblichen in Schweden und Niederdeutsche geteilten Rat.122 Zu den bekannten niederdeutschen Ratsleuten und Bürgermeistern gehören unter anderem Syfrid up der Trumme und Lorenz Tegeler,123 wie auch die Bürger im Konnubium mit den anderen Hansestädten verbunden waren.124 Der Handel der Stadt scheint vor allem nach Danzig ausgerichtet gewesen zu sein,125 wohingegen Lübeck eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben scheint.126 Einrichtungen deutscher Kaufleute in Söderköping sind bisher nicht nachzuweisen, unter Umständen auch durch große Archivverluste bedingt. Noch spärlicher sind die Angaben zu Nyköping. Auch hier ist ein Konnubium zwischen den Bürgern verschiedener Städte bekannt,127 allerdings sind Nieder119 S. z. B. HR I.4, Nr. 387, S. 369f. 120 S. z. B. Friedrich Bruns, Die Lübeckischen Pfundzollbücher von 1492 bis 1496, in: Hansische Geschichtsblätter 11 (1904/5), S. 109–131, hier S. 120. 121 S. generell: Göran Dahlbäck, Eisen und Kupfer, Butter und Lachs. Schwedische Produkte im hansischen Handel, in: Vergleichende Ansätze in der hansischen Geschichtsforschung, hrsg. Rolf Hammel-Kiesow (Hansische Studien, 13), Trier 2002, S. 165–173. 122 Carsten Jahnke, Art. „Söderköping“, in: Hanselexikon online, https://www.hansischerge schichtsverein.de/lexikon?buchstabe=s#anzeige, abgefragt 6. Dezember 2018. Sven Ljung, Söderköpings Historia intill 1568, Söderköping 1949, S. 122–135. 123 HUB 7, S. 523, Anm. 1. 124 Ebd. 125 HUB 7, Nr. 268, S. 133, Nr. 702, S. 354f; HUB 10, Nr. 153f., S. 95 sowie Nr. 947, S. 586 u. Nr. 984, S. 606. 126 HR III.4, Nr. 429, § 15, S. 579; Bruns, Pfundzollbücher, S. 120. 127 Z. B. AHL, ASA, Externa, Suecia, Nr. 85 u. 87, (1354); HUB 3, Nr. 55, S. 27, Anm. 1; Lars Karlén, Medeltid och äldre vasatid till omkring 1570, in: Nyköpings stads historia 1 (1973), S. 3–154, hier S. 53, 102ff.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

131

deutsche im Nyköpinger Rat bisher nicht nachgewiesen worden.128 Doch ist es beachtlich, dass der Pfundzoll von 1362–1363 auch in Nyköping erhoben wurde129 und 1380 der Nyköpinger Bürger Thiderik Wibrand am Kontor von Bergen vor den Älterleuten und Kaufleuten über Abrechnungsprobleme seiner Gesellschaft klagen konnte.130 In beiden Städten besaßen die niederdeutschen Kaufleute einen erkennbaren wirtschaftlichen und womöglich auch politischen Einfluss. Beide Städte waren daher nicht nur Handelspartner der Hansestädte, sondern durch diese Kaufleute in das politische und wirtschaftliche Netzwerk eingebunden.

5.

Stockholm

Der Einfluss der Niederdeutschen war in Stockholm besonders sichtbar. Diese hatten nicht nur zur Gründung der Stadt beigetragen,131 sondern stellten von 1323 bis 1471 ihren gesonderten Teil des Stockholmer Rates.132 Die Deutschen waren ein integrer Teil der Stadt und über ihre St. Gertruds-Gilde in die Nicolaikirche der Stadt eingegliedert.133 Die Bürger der Stadt waren durch Konnubium und Handelsgeschäfte sehr eng mit den anderen Hansestädten verbunden.134 1366 nimmt die Stadt mit einem Vertreter auf dem Lübecker Städtetag teil135 und wird im Kontor von Brügge im livländisch-gotischen Drittel als Mitglied geführt.136 Institutionen der frequentates sind dagegen in der Stadt nicht nachzuweisen. Stockholm ist Teil der hansischen Welt. Die Rolle der Stadt wird aber durch die Hauptstadtfunktion zunehmend beeinflusst.

128 Karlén, Medeltid (wie Anm. 127), S. 55. 129 Carsten Jahnke, Art. „Nyköping“, in: Hanselexikon online, https://www.hansischerge schichtsverein.de/lexikon?buchstabe=n#anzeige, abgefragt 6. Dezember 2018. 130 L-NStB 1363–99, S. 435,1. Wobei es nicht vollständig sicher ist, dass es sich hierbei um das schwedische und nicht um das dänische Nykøbing/Falster handelt. 131 Gunnar Bolin, Stockholms Uppkomst, Uppsala 1933, S. 239ff. 132 Walther Stein, Zur Geschichte der Deutschen in Stockholm im Mittelalter, in: Hansische Geschichtsblätter 11 (1904/5), S. 83–107, hier auch ein Abdruck der vorhandenen Rats- und Ämterlisten. 133 Jahnke, Kaufleute und deren Religiosität (wie Anm. 13), S. 23f. und 28ff. S., wenn auch eingeschränkt, Eberhard Weinauge, Die deutsche Bevölkerung im mittelalterlichen Stockholm, Leipzig 1942, S. 89–92. 134 Siehe, wenn auch eingeschränkt, Weinauge, Die deutsche Bevölkerung (wie Anm. 133), S. 19–117. 135 HR I.1, Nr. 376, Einleitung, S. 331. 136 Stein, Zur Geschichte (wie Anm. 132), S. 88f.

132 6.

Carsten Jahnke

Åbo (Turku) und Wiborg (Viipuri)

Abschließend soll noch auf die Städte Åbo und Wiborg eingegangen werden. Nach dem schwedischen Stadtrecht von 1350 durfte kein Auslandshandel nördlich einer Linie Stockholm-Åbo stattfinden, sodass sich hier der Nord- und Osthandel konzentrierte.137 Allerdings gab es deutliche Unterschiede zwischen Åbo und Wiborg. In Åbo waren im 14. Jahrhundert die Mehrzahl der bekannten Bürger niederdeutschen Ursprunges und in Konnubium mit den anderen Städten verbunden.138 Die Åboer Kaufleute waren offensichtlich an den Kontoren zu Brügge und Novgorod zugelassen,139 und die Waren der Bürger gehörten „in die Hanse“,140 allerdings mit Ausnahmen.141 Doch war Åbo zugleich ein Handelszentrum mit Russland, durch welches Boykotte der Hanse umgangen werden konnten, weshalb die Stadt des Öfteren mit Boykotten belegt wurde.142 Die Stadt nahm daher eine Zwitterstellung ein. Der Handel der Stadt war auf Reval, Danzig und Lübeck ausgerichtet, aber auch Köln besaß hier Handelsinteressen. Wiborg dagegen wurde immer als Ausland behandelt, auch wenn es ebenfalls niederdeutsche Kaufleute gab.143 Die Stadt unterlag häufigen Boykotten und der dortige Handel wurde mit Skepsis betrachtet und von Reval eingeschränkt.144

VII.

Die skandinavischen Städte und die Hanse

Der oben nur skizzenhaft angedeutete Durchgang durch die skandinavische Städtelandschaft zeigt deutlich drei wichtige Merkmale auf. Zum ersten war die Kaufmannschaft aller hier beschriebenen Seestädte durch Konnubium und Handelsverbindungen wie selbstverständlich in die Welt der Niederdeutschen integriert. Unter den Kaufleuten und ihren Verwandten in Skandinavien bestand kein nationaler Gegensatz. Ganz im Gegenteil waren der Zuzug in und aus den Städten sowie der Handel zwischen und unter den Städten der normale Alltag. In 137 Dahlbäck, Eisen (wie Anm. 121), S. 165. 138 Mika Kallioinen, Kauppias, Kaupunki, Kruunu, Turun porvariyhteisö ja talouden organisaatio varhaiskeskiajalta 1570–luvulle (Bibliotheca historica, 59), Helsinki 2000, S. 289– 305, 342 u. passim. 139 HUB 5, Nr. 1072, S. 558; HUB 8, Nr. 139, S. 105. 140 HUB 9, Nr. 558, hier S. 441. 141 HR I.4, Nr. 640, S. 579f. 142 HR I.7, Nr. 82, S. 40; Hr. I.8, Nr. 32, § 3, S. 21. 143 Robert Schweitzer, Die Wiborger Deutschen, in: Östra Finland. Det andra Finland, hrsg. Richard Palmgren, Kristina Ranki, Henrika Tandefelt (Historicus skriftserie, 11), Helsingfors 1994, S. 113–132. 144 HR I.2, Nr. 397, S. 354; HR I.6, Nr. 583, S. 581f.; HR I.7, Nr. 784, S. 529; HR I.8, Nr. 856, S. 559f.; Danziger Inventar, 1531–1591, hrsg. Paul Simson (Inventare Hansischer Archive des Sechzehnten Jahrhunderts, 3), München 1913, S. 254.

Das Verhältnis der skandinavischen Städte zur Hanse

133

politisch spannungsreichen Situationen wird ein ‚nationaler‘ Gegensatz thematisiert, dieser scheint im Alltag über lange Sicht aber eine geringere Bedeutung gehabt zu haben. Zum zweiten gab es in einigen Städten Einrichtungen für durchziehende, niederdeutsche Kaufleute, frequentates. Diese Institutionen waren, vielleicht mit Ausnahme von Bergen, parallel zur Einwanderung und Eingliederung der Niederdeutschen in die skandinavischen Städte entstanden. Wir finden Staven (aber nur in Norwegen sowie in Wisby) sowie Gilden der Kaufleute als Ausdruck einer organisierten Gruppe in Abgrenzung zur Stadtbevölkerung. Die manentes konnten dabei in einem Gegensatz zu den frequentates stehen. Zum dritten waren die Kaufleute durch ihre Integration in die niederdeutschen Netzwerke ein selbstverständlicher Teil der sich entwickelnden hansischen Strukturen. Die Kaufleute der Städte Norwegens, Dänemarks und Schwedens waren von alters her ein selbstverständlicher Teil des livländisch-gotländischen Drittels am Kontor zu Brügge,145 und die städtischen Räte in Kopenhagen, Kalmar, Wisby oder Stockholm haben zumindest im ausgehenden 14. Jahrhundert die aktive Zugehörigkeit zur Hanse gesucht. Die zunehmenden Spannungen zwischen den wendischen Städten und den Herrschern Skandinaviens sowie die Zentralisierung der Hanse im 15. Jahrhundert haben diesen Bemühungen aber ein Ende gesetzt. Skandinavien war – und das erscheint noch immer provozierend – ein Teil der frühen Hanse und blieb im weiteren Verlauf so eng mit ihr verbunden, dass die politischen Gegensätze das Fundament der Zusammenarbeit nicht aufheben konnten. Die hansischen Kaufleute waren überall zuhause – auch hier.

145 HR I.7, Nr. 487, § 20, S. 299.

Stephan Selzer

Stadtgründung und -entwicklung in konsumgeschichtlicher Sicht: Königsberg im 13. und 14. Jahrhundert

1.

Ökonomische Stadttypen

Folgende Skizze erprobt eine konsumgeschichtliche Sicht1 auf die Königsberger Stadtentwicklung,2 zumal Jürgen Sarnowsky durch einen Königsbergartikel der Hanseforschung bekannt geworden ist3. Eine konsumgeschichtliche Perspektive kann weiterführend wirken, weil stadtgeschichtliche Darstellungen die Entwicklungsmöglichkeiten einer frühen Siedlung zumeist recht allgemein aus der Gunst der Lage oder der vorteilhaften Privilegierung entwickeln.4 Doch brauchen Unternehmer stets nicht nur Verkehrswege und Rechtssicherheit, sondern immer auch Käufer ihrer Waren und Dienstleistungen.5 Daher differenziert Max Weber im Kapitel „Begriff und Kategorien der Stadt“ nach den verschiedenen Erwerbschancen einer Stadtbevölkerung oberhalb der wechselseitigen Bedarfsdeckung auf dem örtlichen Markt6. Dabei unterscheidet er idealtypisch zwischen

1 Vgl. Stephan Selzer, Die „Konsumentenstadt“. Angebot, Gebrauch, Verbrauch eines stadtgeschichtlichen Konzepts, in: Die Konsumentenstadt. Konsumenten in der Stadt des Mittelalters, hrsg. ders. (Städteforschung, A98), Köln u. a. 2018, S. 11–24. 2 Siehe im Folgenden stets Fritz Grause, Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, 3 Bde (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 10,1–3), Köln 1965–1971 (ND ³1996); 750 Jahre Königsberg. Beiträge zur Geschichte einer Residenzstadt auf Zeit, hrsg. Bernhart Jähnig (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 23), Marburg 2008. Vgl. noch Udo Arnold, Königsberg als Wirtschaftsstandort im Mittelalter. Ein Überblick, in: Preußische Landesgeschichte. Festschrift für Bernhart Jähnig zum 60. Geburtstag, hrsg. ders. (Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 22), Marburg 2001, S. 333–339. 3 Jürgen Sarnowsky, Königsberg, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos. Katalog zur Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte, hrsg. Jörgen Bracker, 1, Hamburg 1989, S. 288–290. 4 Vgl. z. B. Walther Franz, Geschichte der Stadt Königsberg, Königsberg 1934, S. 10, 34. 5 Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, 1: Die vorkapitalistische Wirtschaft, Hlbbd 1, 2. Aufl., München, Leipzig 1916, ND München 1987, S. 138. 6 Für Preußen siehe dazu Jürgen Sarnowsky, Märkte im mittelalterlichen Preußen, in: Hansische Geschichtsblätter 120 (2002), S. 51–72.

136

Stephan Selzer

Konsumentenstadt, Produzenten-/Gewerbestadt und Händlerstadt.7 Das Anschwellen der Bevölkerung beruht auf jeweils anderen Grundlagen: In einer Gewerbestadt sind Betriebe ansässig, die Waren produzieren, „welche auswärtige Gebiete versorgen.“ Hingegen kommt in einer Händlerstadt die Kaufkraft zwar ebenfalls her von „ortsansässigen Erwerbsbetrieben“, doch bei ihnen handelt es sich um Handelsfirmen, die „entweder fremde Produkte am örtlichen Markt mit Gewinn detaillieren (wie die Gewandschneider im Mittelalter) oder heimische oder doch (wie bei den Häringen der Hansa) von heimischen Produzenten gewonnene Waren mit Gewinn nach außen absetzen, oder fremde Produkte erwerben und mit oder ohne Stapelung am Orte selbst nach auswärts absetzen (Zwischenhandelsstädte).“ Demgegenüber beruhen die Entwicklungsmöglichkeiten einer „Konsumentenstadt“ vorrangig darauf, dass „deren Einwohner in ihren Erwerbschancen vorwiegend direkt oder indirekt von der Kaufkraft des fürstlichen und der anderen Großhaushalte abhängen.“8

2.

Die „Kaufmannsstadt“ im Samland 1241/42

Recht einzigartig ist im Falle von Königsberg, dass solche Fragen schon gestellt werden können, bevor die Stadt überhaupt existiert.9 Aus einem an Lübeck gerichteten Brief des Landmeisters Heinrich von Weida vom 31. Dezember 1241 oder 1242 wird deutlich, dass damals Planungen für die Gründung einer Stadt angelaufen waren: unam civitatem liberam Rigensium civium libertate aptam portui navium marinarum fundare in Samlandia, ubi locum inveneritis competentem.10 Für den Deutsche Orden ging es darum, in einer militärischen Krisensituation schlagkräftige Unterstützung zu gewinnen. Weniger deutlich ist demgegenüber, warum die Lübecker eine Stadt hätten gründen sollen. Denn jede Stadtgründung war zunächst einmal eines – teuer. Ein Stadtherr tat deshalb gut daran, nicht alle Kosten selbst tragen zu müssen, sondern zusätzliches Investitionskapital zu mobilisieren.11 Das wirft die Frage auf, wie die Lübecker sich den Rückfluss ihrer Investitionen vorgestellt haben könnten, wobei man diese Frage 7 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Tlbd 5: Die Stadt, hrsg. Wilfried Nippel (Max-Weber-Gesamtausgabe, Abt. I, 22.5), Tübingen 1999, S. 1–17. 8 Weber, Stadt (wie Anm. 7), S. 3f. 9 Vgl. Bernhart Jähnig, Castrum Preghore – Zur Vorgeschichte der Gründung von Königsberg, in: Königsberg, hrsg. ders. (wie Anm. 2), S. 15–26. 10 Preußisches Urkundenbuch, bearb. Rudolph Philippi u. a., 3 Bde, Königsberg 1882–1944, hier 1.1, S. 105, Nr. 140. 11 Vgl. Stephan Selzer, Nachgrabung auf dem Markt von Lübeck: Fritz Rörigs „Gründungsunternehmerthese“ in der deutschen Geschichtsforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Lübeckische Geschichte 96 (2016), S. 9–51.

Stadtgründung und -entwicklung in konsumgeschichtlicher Sicht

137

nach den materiellen Motiven heute nicht mehr dadurch zum Verschwinden bringen kann, dass man ein nationalpolitisches „Siedlungsprogramm der Lübecker“12 im Ostseeraum postuliert oder eine Lübecker Herrschaftsbildung im Sinne einer „Kolonialpolitik“ annimmt13. Anknüpfend an den Begriff portus liegt es nahe, die Planung eines Seehafens zu vermuten.14 Die Samlandstadt wäre dann als sicherer Hafenplatz gedacht gewesen, ihr Wohlstand wäre mit jedem Schiff übers Meer gekommen. Eine solche Stadt der „Seefahrer und Seehändler“15 hätte gleichsam in eine „Urlandschaft“ der Konsumption hineingeführt: Denn an solchen Plätzen machen die Reisenden gern oder notgedrungen Rast. Ihre Waren müssen hier umgeladen werden. Das wird zum Abschluß von Käufen und Verkäufen benutzt. So entsteht ein Markt, der dann auch wieder andere Marktbesucher anlockt. Alle diese Fremden müssen beherbergt und verpflegt werden. Sie wollen ihre Reiseausrüstung ergänzen. Sie beanspruchen allerhand Dienste von Handwerkern, Fuhrleuten, Schiffern, Packträgern usw. Das alles zusammen genügt schon, um eine Bevölkerung an den Ort zu ziehen, die sich ständig dort niederläßt, um aus dem örtlichen Verkehr ihren Lebensunterhalt zu ziehen.16

Ein anderer Erklärungsansatz hebt demgegenüber nicht auf eine reine Hafenfunktion ab, sondern rechnet mit der Erschließung des Hinterlandes als Motiv.17 Für die Plausibilität dieser Deutung ist entscheidend, wie groß das erschließbare Hinterland von den Lübeckern vorgestellt werden konnte.18 Wahrscheinlich wäre es beim Umfang ihres Engagements eine Fehlkalkulation gewesen, wenn die neue Stadt eine Mittelpunktfunktion nur für den Nahbereich entwickelt hätte. Marian Biskup hat errechnet, dass im Preußenland östlich der Weichsel im Jahr 1453 auf 700 km² nur eine Stadt kam.19 Das ist ein extrem großer Einzugsbereich, der aber 12 Christian Krollmann, Danzig-Elbing-Königsberg, in: Elbinger Jahrbuch 14.1 (1937), S. 47– 57, hier S. 47. Siehe zudem ders., Die Entstehung der Stadt Königsberg in Preußen, Königsberg 1939, 2. Aufl., 1941. 13 Fritz Gause, Die Gründung der Stadt Königsberg im Zusammenhang der Politik des Ordens und der Stadt Lübeck, in: Zeitschrift für Ostforschung 3 (1954), S. 517–536, hier S. 536. 14 Vgl. Klaus Friedland, Kaufmannsmetropolen nach Rigas Vorbild. Stadtgründungspläne genossenschaftlichen Rechts, in: Riga und der Ostseeraum. Von der Gründung 1201 bis in die Frühe Neuzeit, hrsg. Ilgvars Misans, Horst Wernicke (Tagungen Ostmitteleuropa-Forschung, 22), Marburg 2005, S. 87–94. 15 Erich Keyser, oppidum Kunigsbergk, in: Zeitschrift für Ostforschung 4 (1955), S. 351–360, hier S. 359. 16 Paul Sander, Geschichte des deutschen Städtewesens, Bonn 1922, S. 18. 17 Keyser, oppidum (wie Anm. 15), S. 351. 18 Vgl. Dieter Heckmann, Königsberg und sein Hinterland im Spätmittelalter, in: Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum des Mittelalters, hrsg. Zenon Hubert Nowak, Janusz Tandecki, Thorn 1998, S. 79–89. 19 Marian Biskup, Die Entwicklung des Netzes der altpreußischen Städte bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Acta Poloniae Historica 53 (1986), S. 5–27.

138

Stephan Selzer

gerade nicht die Wirtschaftskraft des Landstriches anzeigt, sondern darauf beruht, dass bei geringer Bevölkerungsdichte keine Zentralorte in einem engeren Raster existenzfähig waren.20 Für eine Samlandstadt als regionales Unterzentrum hätte man ein sicheres Entwicklungspotential wie später für Ortelsburg oder Gilgenburg prognostizieren dürfen.21 Deshalb ist argumentiert worden, dass der Erschließungsraum das litauische Hinterland hätte sein sollen. Dass Königsberg seit dem 15. Jahrhundert tatsächlich zum Umschlaghafen für Litauen wurde, trifft zu, beruhte aber auf dem politischen Ausgleich von 1398 und dem Ausbau des Deimekanals.22 Ob der Lübecker Wissenshorizont schon soweit reichte, ist zumindest unsicher. Sicher hingegen ist, dass die Lübecker – und mit ihnen ganz Europa – ein Produkt der samländischen Küste sehr gut kannten: Bernstein. Um ihn zu gewinnen, hätte es überaus lohnend erscheinen müssen, in eine Kaufmannsstadt mit völliger Freiheit des Kaufens und Verkaufens zu investieren.23 Zweifellos lag im Bernsteinhandel ein großes Geschäft: Der Verkaufserlös in der Regierungszeit Hochmeistes Friedrichs von Sachsen lag zwischen 1499 bis 1510 bei rund 6500 mk jährlich.24 Die Lübecker Pfundzollbücher der Jahre 1492 bis 1496 dokumentieren, dass sich der Wert der in Lübeck ankommenden Handelswaren aus dem Hafen Königsberg insgesamt auf 45.181 mk lüb belief.25 Somit lässt sich bei einem Kurs von 20 mk lüb zu 25 mk pr26 sagen, dass ein fiktives Lübecker Bernsteinmonopol knapp 60 % des Wertes aller jährlichen Importe aus Königsberg hätte ausmachen können.

20 Vgl. Grischa Vercamer, Siedlungs-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte der Komturei Königsberg im Deutschordensland Preußen (13.–16. Jahrhundert) (Einzelschriften der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 29), Marburg 2010. 21 Vgl. Georg Michels, Zur Wirtschaftsentwicklung von Kleinstädten und Flecken im Ordensland und Herzogtum Preußen (bis 1619): Gilgenburg, Hohenstein, Neidenburg, Ortelsburg, Willenberg (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 11), Lüneburg 1996. 22 Vgl. Jürgen Sarnowsky, Die Entwicklung des Handels der preußischen Hansestädte im 15. Jahrhundert, in: Hansestädte, hrsg. Nowak, Tandecki (wie Anm. 18), S. 51–78. 23 Kurt Forstreuter, Die ältesten Handelsrechnungen des Deutschen Ordens in Preußen, in: Hansische Geschichtsblätter 74 (1956), S. 13–27, hier S. 15f. 24 Lothar Dralle, Der Bernsteinhandel des Deutschen Ordens in Preußen, vornehmlich zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Hansische Geschichtsblätter 99 (1981), S. 61–72. Die Ankaufs- und Vertriebskosten wurden für die Überschlagsrechnung nicht berücksichtigt. 25 Die Lübecker Pfundzollbücher 1492–1496, bearb. Hans-Jürgen Vogtherr, 4 Teile (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, 41), Köln 1991, hier 1, S. 41, Tabelle 9. 26 Dieser (nicht völlig gesicherte) Kurs nach Henryk Samsonowicz, Untersuchungen über das Danziger Bürgerkapital in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, 8), Weimar 1969, S. 37.

Stadtgründung und -entwicklung in konsumgeschichtlicher Sicht

3.

139

Die Gründung von Königsberg 1255

Mit der Gründung von Königsberg durch den Deutschen Orden im Jahre 1255 geriet indes die Frage der ökonomischen Stadtfundierung aus den Köpfen der Lübecker in die praktische Probe. Jetzt war es aber der Orden selbst, der anderswo erwirtschaftetes Kapital in den Aufbau des Ortes investierte.27 Bezeichnend für den hohen Ressourceneinsatz ist dabei, dass schon für das Jahr 1257 belegt ist, dass ein Lagerplatz existierte, auf dem Steine bereitlagen: in qua nunc lapides iacent28. Dass die Ordensressourcen gut angelegt waren, zeigte sich im Jahre 1260, als die steinerne Burg der Belagerung der Pruzzen standhielt, während eine vorgelagerte Bebauung am späteren Steindamm zerstört wurde. Diese Siedlung und die ab 1265 um die Nikolaikirche entstehende Altstadt, die 1286 ihre Handfeste erhielt, wird man sich ökonomisch fundiert nicht als Stadt der Seereisenden, sondern in der Terminologie der älteren Stadtgeschichte als „Garnisonsstadt“29 vorzustellen haben. Denn dieser „Außenposten der abendländischen Christenheit“30 existierte ökonomisch vorrangig durch die Kaufkraft von Militärs, die einen Platzmarkt ermöglichten und damit Verdienstchancen eröffneten. So wird man sich den um 1299 genannten tabernator Arnold31 und andere Handwerker und Dienstleister als ökonomische Existenzen entwerfen dürfen, deren Geschäfte „wie Schwalbennester an die Burg, an das Palatium der reichen Grundherren geklebt waren.“32

27 Vgl. Bernhart Jähnig, Zur Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen vornehmlich vom 13. bis zum frühen 15. Jahrhundert, in: Zur Wirtschaftsentwicklung des Deutschen Ordens im Mittelalter, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 38), Marburg/Lahn 1989, S. 113–147. 28 Urkundenbuch des Bistums Samland, 1, hrsg. Carl Peter Woelky, Hans Mendthal (Neues Preußisches Urkundenbuch, Abt. 2, 2), Leipzig 1891, S. 16–19, Nr. 52, hier S. 17. 29 Vgl. Walther Grosse, Königsberg als Garnisonstadt, in: Königsberg. Ein Buch der Erinnerung, München 1956, S. 38–44. 30 Dieter Heckmann, Königsbergs Wandel vom preußischen Außenposten zum Mittelpunkt 1255–1466, in: 750 Jahre, hrsg. Jähnig (wie Anm. 2), S. 27–38, hier S. 27. 31 Urkundenbuch der Stadt Königsberg in Preußen, 1: 1256–1400, hrsg. Hans Mendthal (Mitteilungen aus der Stadtbibliothek zu Königsberg, 3), Königsberg 1910, S. 20f., Nr. 15, hier S. 21. 32 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 5), S. 179.

140

Stephan Selzer

4.

Stadtentwicklung im „take-off“ im 14. Jahrhundert

4.1

Gewerbe- und Handelsstadt?

Eine Kleinstadt, die sich während des gesamten Mittelalters eng an eine Burg des Deutschen Ordens anlehnte, war beispielsweise Neidenburg.33 Doch auf einer solchen Entwicklungsstufe verharrte Königsberg selbstverständlich nicht. Hingegen wuchs die Stadt in nicht vorhersehbarer Weise: So vergrößerte sich die Einwohnerzahl auf die einer mittelalterlichen Großstadt und wird für die Zeit um 1400 auf 10.000 Menschen geschätzt.34 Quantifizierbar ist die Zunahme der Siedlungsfläche:35 Die Königsberger Altstadt umfasste 10 ha (mit einer späteren Erweiterung 12 ha), womit der Ort sich in die Kategorie von Kleinstädten einordnet. Die Altstädte von Elbing und Thorn waren mit etwa 18 ha größer. Erst die Gründung der eigenständigen Städte Löbenicht (1299/1300) mit 6 ha und Kneiphof (1327) mit 7,8 ha brachte die drei Städte Königsberg auf knapp 26 ha. Darüber hinaus zeigt sich die Wachstumsdynamik an der Versteinerung des Stadtraums.36 Königsberg war im 14. Jahrhundert eine Stadt der Baustellen, eine „Boomtown“. Der moderne Begriff „take-off“, der für die Wachstumszeit von Lübeck im 13. Jahrhundert gewählt worden ist,37 passt ebenso für diese Königsberger Entwicklung 100 Jahre später. Doch wovon wurde diese Dynamik angetrieben? Im Raster der Weber’schen Idealtypen scheint die Charakterisierung von Königsberg als Gewerbestadt am wenigsten zu überzeugen. Ein starkes Exportgewerbe zeigen die Quellen gerade nicht.38 Gründete das Wachstum also vorrangig auf Kaufkraftzufluss durch Zwischenhandel? Das Material zeigt punktuell frühe Fernhandelskontakte.39 Doch zwangsläufig sind diese Zeugnisse fragmentarisch und belegen nur, dass 33 Vgl. Michels, Wirtschaftsentwicklung (wie Anm. 21), S. 109–143. 34 Die Zahl bei Sarnowsky, Königsberg (wie Anm. 3). 35 Die Angaben nach Thomas Lewerenz, Die Größenentwicklung der Kleinstädte in Ost- und Westpreußen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, 101), Marburg 1976, S. 260–264. Vgl. Heinz Stoob, Über Wachstumsvorgänge und Hafenausbau bei hansischen See- und Flußhäfen im Mittelalter, in: See- und Flußhäfen vom Hochmittelalter bis zur Industrialisierung, hrsg. ders. (Städteforschung, A 24), Köln 1986, S. 1–65, hier S. 9–12. 36 Vgl. Christofer Herrmann, Mittelalterliche Architektur im Preussenland. Untersuchungen zur Frage der Kunstlandschaft und -geographie (Studien zur internationalen Architekturund Kunstgeschichte, 56), Petersberg 2007, S. 516–522. 37 Andreas Ranft, Lübeck um 1250 – eine Stadt im „take-off“, in: Europas Städte zwischen Zwang und Freiheit. Die europäische Stadt um die Mitte des 13. Jahrhunderts, hrsg. Wilfried Hartmann, Regensburg 1995, S. 169–188. 38 Vgl. Walther Franz, Königsbergs Gewerbe im Mittelalter, Königsberg 1939. 39 Vgl. Richard Fischer, Königsberg als Hansestadt, in: Altpreußische Monatsschrift 41 (1904), S. 267–356.

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Königsberger Kaufleute im 14. Jahrhundert in Nord- und Ostseehäfen handelten, nicht aber in welchem Umfang sie das taten, sodass die Einschätzung recht gewagt anmutet, dass „Königsberg sehr regen Handel mit England, Holland und Skandinavien trieb […]“40. Mit Sicherheit ein bedeutender ortsansässiger fernhändlerischer Erwerbsbetrieb, an den sich „Speditions- und Transportgewerbe und die zahlreichen sekundären Groß- und Kleinerwerbschancen“ anlehnen konnten,41 war die Großschäfferei des Deutschen Ordens. An ihr verdienten Menschen vor Ort, wie beispielsweise der Böttcher, der dem Großschäffer für 3 ½ skot das Stück Bernsteinfässer fertigte.42 Letztlich ist jedoch die aus dem Fernhandel generierte Kaufkraft nicht bezifferbar. Das gelingt erst mit dem Einsetzen statistischer Quellen.43 Vorher ist die Bedeutung nur in Relation zu anderen Städten einzuschätzen. Innerhalb der sechs preußischen Hansestädte ist dies wiederholt geschehen.44 Dabei zeigen alle Indikatoren (wie Lastenverteilungen, Pfundzolleinnahmen45 oder die Teilnahmeintensität an Städtetagen46), dass Königsberg, so Jürgen Sarnowsky, „im Kreis der preußischen Hansestädte um 1400 nur geringe Bedeutung“ zukam.47 Auch das gesamthansische Material ist deutlich. So ist das Fehlen von Königsberger Ratsendeboten auf Hansetagen vor dem Jahr 1453 auffällig.48 Bereits bis 1410 sind Städte wie das preußische Braunsberg einmal oder das pommersche Stargard fünfmal genannt – wahrlich keine hansischen Schwergewichte.49 Auf 40 Franz, Geschichte (wie Anm. 4), S. 51. 41 Weber, Stadt (wie Anm. 7), S. 4. 42 Schuldbücher und Rechnungen der Großschäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen, 1: Großschäfferei Königsberg I (Ordensfoliant 141), hrsg. Cordelia Hess, Jürgen Sarnowsky (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 62,1), Köln u. a. 2008, S. 244, Nr. 1278, 246, Nr. 1291. 43 Vgl. Andrzej Groth, Warenumschlag am Frischen Haff. Eine Handelsstatistik der kleinen Seehäfen (1581–1712) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 64), Köln u. a. 2009. 44 Vgl. z. B. Jürgen Sarnowsky, Die preußischen Städte in der Hanse, in: Hansische Geschichtsblätter 112 (1994), S. 97–124. 45 Vgl. Markian Pelech, Zur Rolle Danzigs unter den preußischen Hansestädten bis 1410, in: Danzig in acht Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte eines hansischen und preußischen Mittelpunktes, hrsg. Bernhart Jähnig, Peter Letkemann (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußens, 23), Münster 1985, S. 61–76. 46 Vgl. Janusz Tandecki, Die Tagfahrten der preußischen Hansestädte bis 1454, in: Hansestädte, hrsg. ders., Nowak (wie Anm. 18), S. 25–34; Klaus Neitmann, Die „Hauptstädte“ des Ordenslandes Preußen und ihre Versammlungstage. Zur politischen Organisation und Repräsentation der preußischen Städte unter der Landesherrschaft des Deutschen Ordens, in: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), S. 125–158. 47 Sarnowsky, Königsberg (wie Anm. 3), S. 288. 48 Sarnowsky, Städte (wie Anm. 44), S. 112f. 49 Volker Henn, Hansische Tagfahren in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, in: Die hansischen Tagfahrten zwischen Anspruch und Wirklichkeit (Hansische Studien, 11), hrsg. ders., Trier 2001, S. 1–21, hier S. 21, Tabelle 2.

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den 139 Hansetagen zwischen 1408 bis 1516 sind dreimal Königsberger Ratsherren nachgewiesen. Im selben Zeitraum bringt es selbst das vom hansischen Kernraum weit entfernte schlesische Breslau auf viermalige Anwesenheit, bei den großen Ostseenachbarn von Königsberg lauten die Zahlen für Danzig 29 und für Riga 15 Teilnahmen.50 In Lübecker Zahlen lässt sich aus dem Pfundzollregister von 1368 errechnen, dass aus dem Danziger Hafen mehr als zwanzigmal wertvollere Produkte in Richtung Lübeck verschifft wurden als aus Königsberg, Elbing liefert noch etwa viermal so viel Wert an die Trave.51 Gesamthansische Vergleichszahlen liefert zudem die Auswertung der Brügger Steuerlisten der Jahre 1361 bis 1391. Unter den hier genannten Flandernhändlern wurden 55 preußische Kaufleute sicher identifiziert. Sie verteilen sich wie in Tabelle 1 gezeigt:52 Kulm

Thorn

Elbing

Braunsberg

Königsberg

Danzig

Preußen

0

21

8

2

2

17

5

4.2

Konsumentenstadt

So wird man gut daran tun, nicht mit dem einseitig auf Fernhandel erzogenen Blick der Hanseforschung auf Königsberg im „take-off“ zu blicken. Vielmehr ist nach Konsumenten zu suchen, die Erwerbschancen für die schnell wachsende Bevölkerung boten. Doch zur Residenzstadt wurde Königsberg bekanntlich nicht vor 1457,53 und erst mit den an fürstlichen Konsumstandards orientierten letzten beiden Hochmeistern in Preußen werden typische Nachfragestrukturen einer Hofökonomie sichtbar.54 Für das 14. Jahrhundert verhält es sich hingegen noch

50 Auszählung nach Dietrich W. Poeck, Die Herren der Hanse. Delegierte und Netzwerke (Kieler Werkstücke, E8), Frankfurt/Main u. a. 2010, S. 593–711. 51 Roman Czaja, Die Entwicklung des Handels der preußischen Hansestädte im 13. und 14. Jahrhundert, in: Hansestädte, hrsg. Nowak, Tandecki (wie Anm. 18), S. 35–50, hier S. 49, Tab. 1a–b. 52 Stephan Selzer, Von Nördlingen nach Thorn und von Brügge nach Danzig. Beispiele für Fernbeziehungen im spätmittelalterlichen Europa (mit Edition), in: Mra˛gowskie Studia Humanistyczne 3 (2001) [2003], S. 106–117, hier S. 111, Tab. 1. 53 Vgl. Bernhart Jähnig, Stadt und Hof am Beispiel von Königsberg, in: Preußenland 7 (2016), S. 7–29. 54 Vgl. Stephan Selzer, Fürstliche Ansprüche an der Peripherie des höfischen Europas. Die Hofhaltung des Hochmeisters Friedrich von Sachsen in Preußen (1498–1507), in: Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. Gerhard Fouquet u. a. (Residenzenforschung, 21), Ostfildern 2008, S. 55–76. Siehe zum Rechnungsmaterial Jürgen Sarnowsky, Die Finanzpolitik des Deutschen Ordens unter Friedrich von Sachsen, in: Zapiski historyczne 81,4 (2016), S. 117–132.

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anders, und so ist nach Impulsen durch die geballte Kaufkraft vieler Konsumenten zu suchen. 4.2.1 Konsumptionsfond I: Bischöfe von Samland Aus dem Bauboom des 14. Jahrhunderts erhalten hat sich bis heute der Königsberger Dom.55 Doch eine Bischofsresidenz war Königsberg niemals. Die Bischöfe von Samland residierten in dem kleinen Fischhausen.56 Doch kam bischöfliche Kaufkraft durchaus der städtischen Wirtschaft zugute. Das lässt sich nicht nur indirekt aus der Existenz eines bischöflichen Hauses auf dem Kneiphof erschließen.57 Denn in den Rechnungen der Königsberger Großschäffer erscheint der Bischof wiederholt als Kunde, der sich mit Wismarer Bier, welschem Wein und westeuropäischen Laken beliefern ließ.58 4.2.2 Konsumptionsfond II: Domkapitel von Samland Jedoch residierte das Domkapitel von Samland in Königsberg. Es war im Jahre 1294 mit sechs Priesterbrüdern des Deutschen Ordens eingerichtet worden, deren Zahl zeitweilig auf zehn stieg.59 Die Investitionstätigkeit der Domherren in Königsberg ist schon früh durch einen Streitfall belegt, der 1302 um ihren Toilettenneubau, den Danzker, geführt wurde.60 Doch fehlt es darüber hinaus an Schriftquellen, die uns die Domherren als Konsumenten zeigten. Es sei denn, man wollte den Skandal um Andreas Brachwagen konsumgeschichtlich deuten. Dann wäre der gegen den Domherrn im Jahre 1516 erhobene Vorwurf, aus einem Verhältnis mit einer Königsbergerin ein leibliches Kind zu besitzen, nicht nur als skandalös, sondern als wirtschaftsstimulierend zu betrachten. Denn in den Zeugenaussagen wird behauptet, dass Else pro Besuch 1 ß erhalten habe; zudem seien als Schweigegeld ein neuer Rock versprochen worden und für die Kinderbetreuung einer Amme 1 ½ mk zugeflossen.61 55 Vgl. Bernhart Jähnig, Der Weg zum evangelischen Königsberger Dom, in: Preußenland 8 (2017), S. 60–82. 56 Marc Jarzebowski, Die Residenzen der preußischen Bischöfe bis 1525 (Prussia sacra, 3), Thorn 2007, S. 132–192. Vgl. noch Bernhart Jähnig, Beziehungen der Bischofsstadt Fischhausen zur bischöflichen Residenz, in: Zapiski historyczne 82,2 (2017), S. 41–50. 57 Vgl. Jarzebowski, Residenzen (wie Anm. 56), S. 163. 58 Königsberg I, hrsg. Hess, Sarnowsky (wie Anm. 42), S. 245, Nr. 1284f., 247, Nr. 1295, 248, Nr. 1302, 249, Nr. 1312, 254, Nr. 1354. 59 Radosław Biskup, Das Domkapitel von Samland (1285–1525) (Prussia sacra, 2), Thorn 2007, S. 92–103. 60 UB Königsberg (wie Anm. 31), S. 24f., Nr. 18. 61 Adolf Friedrich Meckelburg, Der Prozeß der ungehorsamen Domherren in Königsberg, in: Neue Preußische Provinzial-Blätter, Reihe 3, Heft 8 (1861), S. 248–268, hier S. 255f. Vgl. Biskup, Domkapitel (wie Anm. 59), S. 325–327 Nr. 6.

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Doch wird man für eine strukturelle Einschätzung nicht von dieser, sondern besser von der Beobachtung ausgehen, dass in den vier preußischen Bistümern einzig die samländische Kathedrale in einer großen Stadt stand.62 Konsumgeschichtlich bedeutet das, dass preußische Domkapitel hinreichende ökonomische Impulse nur für die Entwicklung von Kleinstädten wie Kulmsee oder Marienwerder geben konnten. Die Entstehung einer Großstadt bewirkte geistlicher Konsum hier nicht, weil nicht nur die Kapitel kleiner waren, sondern es an der Ballung geistlicher Institutionen fehlte.63 So vergrößerte sich das Kaufkraftgefälle im Vergleich zu anderen Kathedralstädten noch, selbst wenn man es nur mit der Sakraltopographie von Hamburg vergleicht.64 Anders als an der Alster bestanden in Königsberg vor 1517 keine Bettelordensniederlassungen. Das einzige Kloster war das Haus der Nonnen von St. Marien im Löbenicht.65 Ob die Äbtissin mit ihren zwölf Nonnen über eine ähnlich hohe Kaufkraft verfügte wie das Johanniskloster in Harvestehude, wo um 1500 jährliche Ausgaben von rund 2700 mk lüb anzunehmen sind,66 ist leider nicht zu erkennen. 4.2.3 Konsumptionsfond III: Deutschordenskonvent Seit der Stadtgründung bestand ein großer Konvent des Deutschen Ordens.67 Seine Personenstärke lag 1437/38 bei 56 Rittern und 7 Priestern.68 Um die Haushaltgröße anzugeben, ist zudem das Gesinde hinzuzählen.69 Für die Or-

62 Biskup, Domkapitel (wie Anm. 59), S. 230. 63 Vgl. Bernhart Jähnig, Königsberg als Ort religiöser Erinnerung, in: Preußenland 4 (2013), S. 7–22. 64 Vgl. Jürgen Sarnowsky, Frömmigkeit und Kirche im spätmittelalterlichen Hamburg, in: Hanse und Stadt. Akteure, Strukturen und Entwicklungen im regionalen und europäischen Raum. Festschrift für Rolf Hammel-Kiesow zum 65. Geburtstag, hrsg. Michael Hundt, Jan Lokers, Lübeck 2014, S. 323–336. 65 Vgl. Walther Franz, Das Benediktinerinnenkloster St. Marien zu Königsberg, in: Altpreußische Forschungen 11 (1934), S. 168–187. 66 Silke Urbanski, Geschichte des Klosters Harvestehude „In valle virginum“. Wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung eines Nonnenklosters bei Hamburg 1245–1530 (Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte, 10), Münster 1996, S. 128f. 67 Vgl. Tomasz Torbus, Die Konventsburgen im Deutschordensland Preußen (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte, 11), München 1998, S. 116–121, 288– 294, 447–462. 68 Das Große Zinsbuch des Deutschen Ritterordens 1414–1438, hrsg. Peter Gerrit Thielen, Marburg 1958, S. 61f. Vgl. Dieter Heckmann, Zuwanderung und Integrationsprobleme in Königsberg in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Probleme der Migration und Integration im Preußenland vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, hrsg. Klaus Militzer (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 21), Marburg 2005, S. 71–86.

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densburg Elbing lässt sich für 1386 ein Faktor von zwei bis drei Dienstpersonen pro Ordensritter ermitteln.70 Damit kommt man für die Königsberger Burg auf 200 Personen, was der Kopfzahl eines mittleren Fürstenhofes entspricht. Zu ihrer Versorgung trugen die Landwirtschaft der Vorwerke und das Handwerk in der Vorburg bei. Aber niemals war ein solcher Konvent autark. Das in den Inventaren genannte Königsberger Bier, das fässerweise in Ordensburgen lagerte,71 war zweifellos nicht als Gratislieferungen dorthin gelangt.72 Vielmehr wird es, wie im Pflegeamt Seehesten um 1450,73 auf eigene Rechnung in Königsberg gekauft und transportiert worden sein. Andere Komture wickelten die notwendigen Zukäufe über örtliche Kaufleute ab.74 Doch im Falle von Marienburg und Königsberg übernahmen die Großschäffereien die Zufuhr vieler Produkte.75 So erscheinen einige für die Königsberger Ritter bestimmte Flandernimporte, zu dez huzes notrucht von Konigsberg, in den Abrechnungen des Brügger Liegers Johannes Plige.76 Vor 1396 war die Großschäfferei Königsberg für diese Pflichtlieferungen mit 1400 mk jährlich entschädigt worden.77 Später hatte sie diese Belastung aus ihren Gewinnen zu tragen. Ausgewählte Lieferungen stellt Tabelle 2 zusammen.

69 Vgl. Jürgen Sarnowsky, Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382– 1454) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 34), Köln u. a. 1993, S. 324–344, 352–357. 70 Vgl. Astrid Kaim-Bartels, Die Komturei Elbing im Spiegel der Elbinger Wirtschaftsordnung von 1386, in: Westpreußen-Jahrbuch 49 (1999), S. 53–64. 71 Das große Ämterbuch des Deutschen Ordens, hrsg. Walther Ziesemer, Danzig 1921, S. 174, 234, 296, 298, 312, 314. 72 Zu einer anderen Art der Bedarfsdeckung siehe Astrid Kaim-Bartels, Safran und Pfeffer als Zinsabgabe im mittelalterlichen Preußen, in: FS Bernhart Jähnig (wie Anm. 2), S. 355–363. 73 Amtsbücher des Deutschen Ordens um 1450: Pflegeamt zu Seehesten und Vogtei zu Leipe, hrsg. Cordula A. Franzke, Jürgen Sarnowsky (Preußisches Urkundenbuch. Beihefte 3), Göttingen 2015, S. 204f., 215, 220, 243, 246–248, 250, 254, 262, 283–285. 74 Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 118f. mit S. 814–824 Qu, 33. 75 Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 324–366. 76 Schuldbücher und Rechnungen der Großschäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen, 4: Liegerbücher Großschäfferei Königsberg (Ordensfolianten 150–152 und Zusatzmaterial), hrsg. Cordula A. Franzke (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 62.4), Berlin 2018, S. 276f., Nr. 611f. und 617, 301, Nr. 923. 77 Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 110f.

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138378 1402–142379 um 144680 12 Last Lüneburger Salz, 10 12 Last gros Salz, 10 6 Last Travensalz, 6 Last Baiensalz Last sagwyns Salz Last flämisches Salz 16 halbe Laken lundisch (=englisch), 6 halbe Laken aus Amsterdam, 5 Laken aus Hondschoote, 8 Laken aus Mecheln 90 Pf. Pfeffer 10 Pf. Safran

20 Laken aus Gistel, 11 Laken aus Poperinge, 11 Laken aus Mecheln

19 Laken aus Mecheln, 7 Laken aus Hondschoote

130 Pf. Pfeffer 6 Pf. Safran 3 t Mandeln 2 t Reis 5 Körbe Feigen 4 Körbe Rosinen

130 Pf. Pfeffer 5 Pf. Safran tuskan (= italienisch) 2 t Mandeln 2 t Reis 5 Körbe Feigen 4 Töpfe Rosinen

2 t Mandeln 3 t Reis 3 Körbe Feigen 3 Körbe Rosinen

400 Berger Fisch

400 Berger Fisch

9 Schock (= 540) Stockfisch

4.2.4 Konsumptionsfond IV: Oberster Marschall und Preußenreisende Trotz dieser Gratislieferungen wird in Abrechnungen sichtbar, dass direkte Aufträge an örtliche Handwerks- und Handelsbetriebe ergingen.81 So erfährt man beispielsweise, dass der Hauskomtur Michael Tussenfelder um 1430 Fisch „auf der Brücke“, also auf dem Fischmarkt am Pregelufer,82 kaufen ließ und Hafer bei Königsberger Bürgern bezog.83 Besonders umfangreich ist eine Rechnung des Jahres 1434/35.84 Sie ist von Jürgen Sarnowsky aufgeschlüsselt worden: 2385 mk beträgt die Gesamtsumme der verzeichneten Ausgaben.85 Was im Detail offenbar wird, ist ein gegenüber dem Konvent noch einmal gesteigertes Anspruchsniveau. Es reicht heran an die Formen ritterlich-höfischen Konsums, wie sie aus dem Marienburger Tressler78 Schuldbücher und Rechnungen der Großschäffer und Lieger des Deutschen Ordens in Preußen, 2: Großschäfferei Königsberg II (Ordensfolianten 142–149 und Zusatzmaterial), hrsg. Joachim Laczny, Jürgen Sarnowsky (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 62.2), Köln u. a. 2013, S. 541, Nr. ZM 21 = OF 1. 79 Ebd., S. 23–27 = OF 142 und Nachweise aus Folgebänden. 80 Ebd., S. 576–578, Nr. ZM 46 = OBA 28145. 81 Siehe dazu Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 136–140. 82 Vgl. allgemein Dieter Heckmann, Süßwasserfische als Vorrats- und Handelsgut im spätmittelalterlichen Preußen, in: Von Nowgorod bis London: Studien zu Handel, Wirtschaft und Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Festschrift für Stuart Jenks zum 60. Geburtstag, hrsg. Marie-Luise Heckmann, Jens Röhrkasten (Nova Mediaevalia, 4), Göttingen 2008, S. 317–340. 83 Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 139, 141, Anm. 33. 84 Ebd., S. 620–673, Tab. 101–116 (OBA 7219, I und II, 1r–10r = Teildruck bei Walther Ziesemer, Ein Königsberger Rechnungsbuch aus dem Jahre 1433–1435, in: Altpreußische Monatsschrift 53 (1916/17), S. 253–267). 85 Sarnowsky, Wirtschaftsführung (wie Anm. 69), S. 671, Tab. 116.

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buch belegt sind.86 Hartmut Boockmann hat diese Dinge bereits zu einer Zeit herausgearbeitet, als von Konsumgeschichte noch gar nicht die Rede war.87 Zu diesem Konsummuster gehört in der Rechnung von 1434/35 der Import von prestigeträchtigen Nahrungsmitteln von überregionaler Bekanntheit wie die Sorten Rheinwein, Rainfal (aus Rivoglio) und Romanier (aus Spanien und Südfrankreich), die über Danzig bezogen werden, aber auch der Bezug einer Tonne Hamburger Bier.88 Die Mengenangabe der vor kreude bezahlten Importe sind so präzise, dass man sie geradezu in ein Rezept für „Süßigkeiten aus dem finsteren Mittelalter“89 umformen möchte. Erhöhte Aufwandsnormen zeigen die Ausgaben für Seide zu einem Hut und für einen Fuchspelz an.90 Silberschmiedearbeiten werden wiederholt bezahlt.91 25 Dienern wird ein Hofgewand gestellt.92 Höfisches Personal erhält Trinkgelder, darunter der Herold Livland, ein Trompeter aus Elbing und der Lautenschläger des Meisters.93 Zudem ist die Teilnahme am Geschenkverkehr zwischen adeligen Höfen bezeugt, wofür beispielsweise eine Armbrust dient und Falken bezogen werden.94 Die Ausgabenstrukturen sind denen auf der Marienburg um 1400 so ähnlich, dass man zunächst vermuten könnte, dass 1434/35 für Hochmeister Paul von Rusdorf bezahlt worden sei. Doch zeigen einige Passagen, dass nicht er, sondern sein Nachfolger fürstengleich austeilen ließ.95 Konrad von Erlichshausen († 1449) amtierte in diesen Jahren als Oberster Marschall und besaß eine wichtige Funktion in der Ordensdiplomatie.96 Doch sein Mitteleinsatz war unter den seit 1309 in Königsberg wirkenden Ordensmarschällen nicht einzigartig. Die beim Amtswechsel aufgenommenen Inventare lassen in des marschalks keller bli-

86 Vgl. Werner Paravicini, Von der ritterlichen zur höfischen Kultur: Der Deutsche Orden in Preußen, in: ders., Edelleute und Kaufleute im Norden Europas, hrsg. Jan Hirschbiegel u. a., Ostfildern 2007, S. 389–423. 87 Vgl. hier nur Hartmut Boockmann, Alltag am Hof des Deutschordens-Hochmeisters, in: Alltag bei Hofe. 3. Symposium der Residenzenkommission, hrsg. Werner Paravicini (Residenzenforschung, 5), Sigmaringen 1995, S. 137–147. 88 Ziesemer, Rechnungsbuch (wie Anm. 84), S. 253, 255, 261. 89 Ebd., S. 264. Vgl. Hartmut Boockmann, Süßigkeiten im finsteren Mittelalter. Das Konfekt des Deutschordenshochmeisters, in: Mittelalterliche Texte, Überlieferung, Befunde, Deutungen, hrsg. Rudolf Schieffer (Monumenta Germaniae Historica, Schriften 42), Hannover 1996, S. 173–188. 90 Ziesemer, Rechnungsbuch (wie Anm. 84), S. 255, 265. 91 Ebd., S. 255f. und 266. 92 Ebd., S. 257. 93 Ebd., S. 254, 260, 267. 94 Ebd., S. 254, 257, 266. 95 Z. B. ebd., S. 255f., 258f. 96 Vgl. Klaus-Eberhard Murawski, Konrad von Erlichshausen (Ellrichshausen) 1441–1449, in: Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190–2012, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 40), Weimar 2014, S. 128–130.

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cken,97 wo nicht ausschließlich Kriegsmaterial aufgestapelt lag, sondern beispielsweise im Jahre 1422 jeweils ein Weinfass vom Rhein und aus Ungarn lagerten.98 Der Oberste Marschall bezog solche Waren über die ihm unterstellte Großschäfferei. So bestellte Werner von Tettingen (amtiert 1392–1404) ein noch größeres Spektrum an Importen als zur selben Zeit der Bischof von Samland.99 Importtuche, darunter Brüsseler Tuch in Weiß für einen Regenmantel, gingen an ihn.100 Zudem begegnet man Stockfischlieferungen über Lübeck,101 Metallwaren,102 Südfrüchten103 und vor allem Konfekt aus Flandern und Thorn104. Diese süßen Verführungen beweisen nicht Dekadenz, sondern erhöhten die militärische Schlagkraft des Ordens vielleicht noch. Denn der Oberste Marschall betreute die im 14. Jahrhundert zu hunderten für die Teilnahme an den Litauerkreuzzügen aus ganz Europa zuziehenden Preußenreisenden.105 Diese Edelleute kamen auf eigene Kosten. Bereits ihre Basisausgaben für Verproviantierung und Ausrüstung stimulierten die Nachfrage.106 Zudem verlangte eine ritterliche Lebensführung während der „Saison“ in Königsberg nicht selten ein die alltäglichen Normen sprengendes Konsumverhalten.107 Davon profitierten Gewerbetreibende, Händler und Dienstleister. Allein in der Edition der Reiserechnung des Heinrich von Derby machen die Expense hospicii apud Conyngburgh für seinen Aufenthalt zur Jahreswende 1390/91 zwölf eng bedruckte Seiten aus.108 Seine Ausgaben summieren sich auf rund 208 lb gr. fland., das sind mehr als 600 mk pr,109 und liefern in Kombination mit weiteren Reiserechnungen interessanten Stoff über Preise und Einkaufsorte.110

97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110

Ziesemer, Ämterbuch (wie Anm. 71), S. 1–37. Ebd., S. 18. Siehe oben bei Anm. 58. Königsberg I, hrsg. Hess, Sarnowsky (wie Anm. 42), S. 250 Nr. 1322. Ebd., S. 251 Nr. 1332. Ebd., S. 248 Nr. 1307–1309. Ebd., S. 249 Nr. 1310, 252 Nr. 1338, 253 Nr. 1342 u. 1344. Ebd., S. 249 Nr. 1311, 253 Nr. 1343 u. 1345. Vgl. Werner Paravicini, Die Preußenreisen des europäischen Adels, Teil 1–2 (Beihefte der Francia, 17/1–2), Sigmaringen 1989/1995, 3 [im Druck], 4 [in Vorbereitung]. Paravicini, Preußenreisen 2 (wie Anm. 105), S. 68–83. Paravicini, Preußenreisen 1 (wie Anm. 105), S. 272–344. Rechnungen über Heinrich von Derby’s Preußenfahrten 1390–91 und 1392, hrsg. Hans Prutz, Leipzig 1893, S. 54–65. Paravicini, Preußenreisen 2 (wie Anm. 105), S. 171f., Tab. 69–70. Vgl. allgemein Stephan Selzer, Die Einkäufe der Segeberger Augustinerchorherren zwischen Lübeck und Hamburg (1480/81 und 1484 bis 1486), in: Menschen, Märkte, Meere. Bausteine zur spätmittelalterlichen Wirtschafts- und Sozialgeschichte zwischen Hamburg, Lübeck und Reval, hrsg. ders. (Contributiones, 6), Münster 2018, S. 47–96.

Stadtgründung und -entwicklung in konsumgeschichtlicher Sicht

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Damit ist der wohl wichtigste, für die ältere Königsberger Stadtgeschichte eher verdeckte Konsumptionsfond benannt.111 Der beste Kenner der Preußenreisen, Werner Paravicini, meinte: Königsberg als die Stadt, in der man sich traf und ein reges gesellschaftliches Leben während langer Wartezeit entfaltete, wo man sich für den Kriegszug und für die Rückreise rüstete, muß von dem Geld der Fremden enorm profitiert haben […] Man wird die Ausgaben der Fremden nicht als alleinigen Grund für die Blüte anführen können. Aber das Außerordentliche an der Königsberger Entwicklung ist ohne die Litauerfahrten und Preußenreisen nicht zu erklären.112

5.

Fazit

„Alles (fast alles) war anders in Königsberg.“ – mit diesem Satz beginnt eine jüngere Darstellung der Stadtgeschichte.113 Die Ballung von Konsumenten, die ihre anderswo in Europa erwirtschafteten Einnahmen verzehrten, heben die Königsberger Konsumgeschichte des 14. Jahrhunderts tatsächlich heraus. Wenn man so will, war Königsberg damals doch eine Produzentenstadt und stellte ein Produkt her, das auswärtige Kaufkraft anzog: ritterliche Ehre. Gleichfalls wurde die Funktion als Zwischenhandelsstadt gestärkt. Denn für die Finanzierung ihrer preußischen Ausgaben erhielten die Edelleute vom Deutschen Orden oftmals Kredite, die sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat zurückzahlten.114 Für den Transfer zwischen Westeuropa und Preußen bediente sich der Orden einheimischer Fernhändler. Zwar stammten die geldmächtigeren Händler in diesem Kreditgeschäft aus Danzig und Thorn, aber auch Königsberger sind namhaft zu machen.115 Hier ist somit ein Realtyp für das gefunden, was Werner Sombart theoretisch so angenommen hat: Der Konsumtionsfonds kann von einem (oder wenigen) mächtigen Konsumenten oder von einer größeren Anzahl mittlerer oder kleiner Konsumenten zusammen gebracht werden: ein König kann ebenso gut eine Konsumtionsstadt gründen wie 1000 pensionierte Generäle.116 111 Siehe aber Fritz Gause, Königsberg als Hafen- und Handelsstadt, in: Studien zur Geschichte des Preußenlandes. Festschrift für Erich Keyser zu seinem 70. Geburtstag, hrsg. Ernst Bahr, Marburg 1963, S. 342–352, hier S. 343. 112 Paravicini, Preußenreisen 2 (wie Anm. 105), S. 313. 113 Jürgen Manthey, Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik, München 2005, S. 13. 114 Paravicini, Preußenreisen 2 (wie Anm. 105), S. 163–318. Vgl. Stuart Jenks, Die Finanzierung des hansischen Handels im Spätmittelalter am Beispiel von Preußen, in: Hansische Geschichtsblätter 128 (2010), S. 1–18. 115 Paravicini, Preußenreisen 2 (wie Anm. 105), bes. S. 212–217, Tab. 88, 235, Tab. 95, 241–243. 116 Sombart, Kapitalismus (wie Anm. 5), S. 143.

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Nicht erst 1000 Generäle, sondern schon 180 Preußenfahrer bildeten dreimal so viele Konsumenten, wie am bischöflichen Hof in Fischhauen lebten, 18-mal so viele Nachfragende, wie zehn Domherren des samländischen Domkapitels ausmachten, und die gleiche, allerdings wesentlich anspruchsvollere Verbraucherzahl, wie der Königsberger Ordenskonvent mit Gesinde zählte. Übersetzt man sich die Zahlen in einen Städtevergleich, so lässt sich sagen: Ohne die Preußenfahrer addierte sich ein regionales Unterzentrum wie Gilgenburg mit einer großen Ordensburg wie Balga, einer Domkapitelstadt wie Marienwerder und einer kleineren Zwischenhandelsstadt – Königsberg im 14. Jahrhundert wog indes weitaus schwerer.

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Zur Bedeutung der Königsberger Pfundzollrechnungen von 1367 bis 1374 für die Hansegeschichte

Im Jahre 1935 erschienen Georg Lechners hansische Pfundzolllisten des Jahres 1368.1 Diese gehören zu den Hauptquellen für die Kosten des Krieges der Hansestädte, die sich in der sogenannten Kölner Konföderation von 1367 gegen Waldemar IV. von Dänemark und seinen Schwiegersohn Hakon von Norwegen vor allem wegen ihrer als stark gefährdet eingeschätzten schonischen Handelsinteressen verbündet hatten.2 Im dritten Kapitel der Listen bemerkt der Herausgeber: Die Hoffnung, daß sich noch Pfundzollquittungen in größerer Zahl in den Archiven anderer Hansestädte finden würden, war trügerisch, eine Rundfrage bei allen in Frage kommenden Archiven verlief ergebnislos.3 Von daher beschränkte sich Lechner bei seinen Auswertungen im Wesentlichen auf Rechnungen aus Lübeck selbst und auf Quittungen, die aus Danzig, Wismar, Rostock, Stralsund, Stettin, Hamburg und aus den schonischen Vitten herrührten.4 Die ebenfalls im Jahre 1935 veröffentlichen Thorner Rechnungen5 gelangten Lechner wohl nicht mehr rechtzeitig vor der Drucklegung der eigenen Listen zur Kenntnis. Umgekehrt hat auch Leon Koczy, der Bearbeiter des Thorner Materials, Lechners Arbeit unberücksichtigt gelassen. Diesen Forschungsstand hat

1 Die hansischen Pfundzollisten des Jahres 1368 (18. März 1368 bis 10. März 1369), hrsg. Georg Lechner (Quellen und Darstellungen zur hansischen Geschichte, NF 10), Lübeck 1935. 2 Jochen Götze, Von Greifswald bis Stralsund. Die Auseinandersetzungen der deutschen Seestädte und ihrer Verbündeten mit König Valdemar von Dänemark 1361–1370, in: Hansische Geschichtsblätter 88 (1970), S. 83–122, und neuerdings Volker Henn, Die Städte an Zuiderzee und IJssel auf den Hansetagen, Hansische Geschichtsblätter 135 (2017), S. 185–219, hier S. 187 und 190. 3 Pfundzollisten (wie Anm. 1), S. 40. 4 Ebd., S. 41–45. 5 Materjały do dziejów handlu hanzy pruskiej z zachodem [Unterlagen zur Geschichte des preußischen Hansehandels mit dem Westen], wydał Dr. Leon Koczy, Rocznik Gdan´ski 7/8 (1933/1934), S. 276–331.

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noch Carsten Jahnke bei der Erstellung seiner Liste der Pfundzollrechnungen aus dem Ostseeraum, die er 1998 veröffentlicht hat, vorgefunden.6 Die Königsberger Pfundzollrechnungen zu den Jahren 1367 bis 1374 sind jedenfalls dem Vergessen anheimgefallen, obwohl diesen August Seraphim in seinem bereits 1909 erschienenen Katalog der Handschriften der Königsberger Stadtbibliothek eine knappe Beschreibung hat angedeihen lassen.7 Diese Stelle bietet zwar nicht die Gelegenheit, die zehn Seiten umfassende Königsberger Handschrift, die heute zum Fonds 943 der Russischen Staatsbibliothek zu Moskau gehört,8 zu edieren.9 Es gilt aber gleichwohl, im Folgenden auf diese vernachlässigte Quelle für die hansische Geschichte aufmerksam zu machen. Die von späterer Hand paginierten Königsberger Zollrechnungen sind, wie unter anderem die Überschrift copia conpuatacionis auf Seite 18 andeutet, abschriftlich überliefert. Bis auf vier Einträge zum Februar und März 1369 – ein Auszug aus einem Schreiben Elbings an Braunsberg, drei Kostenbuchungen in deutscher Sprache (S. 18) – und einiger Präzisierungen im Satzgefüge (S. 19 und 22) ist die Liste lateinisch abgefasst. Die Schriftmerkmale weisen auf die Abschrift eines einzigen Schreibers hin, der diese wohl noch 1374 oder bald danach gefertigt hat. Die Bindung in einen Lederumschlag mit schließenden Lederschnüren, die – soweit es sich an der zur Verfügung stehenden Bildaufnahme10 nachvollziehen lässt – noch aus spätmittelalterlicher Zeit herrührt, verhalf der Abschrift zum Bucheintrag. Die Absicht, die Pfundzollrechnungen in Buchform 6 Carsten Jahnke, Pfundzollrechnungen im Ostseeraum – Bestand und Fragen der Auswertung, in: Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum des Mittelalters, hrsg. Zenon Hubert Nowak, Janusz Tandecki, Torun 1998, S. 153–170, hier S. 163–170. 7 Handschriften-Katalog der Stadtbibliothek Königsberg i. Pr., unter Mitwirkung von Paul Rhode bearb. A[ugust] Seraphim (Mitteilungen aus der Stadtbibliothek Königsberg i. Pr., 1), Königsberg i. Pr. 1909, S. 95–101. 8 Er trägt die Signatur RSB Moskau, Fonds 943, Nr. 3, S. 14–24; dazu: Daria Barow-Vassilevitch, Die Königsberger Stadtbibliothek und ihre Spuren in Moskau, in: Von mittelalterlichen und neuzeitlichen Beständen in russischen Bibliotheken und Archiven. Ergebnisse der Tagungen des deutsch-russischen Arbeitskreises an der Philipps-Universität Marburg (2012) und an der Lomonossov-Universität Moskau (2013), hrsg. Natalija Galina u. a. (Deutsch-russische Forschungen zur Buchgeschichte, 3 = Sonderschriften der Akademie für gemeinnützige Wissenschaften zu Erfurt, 47), Erfurt 2016, S. 57–77. 9 Die Edition des Beiträgers ist inzwischen erschienen unter dem Titel Edition der Pfundzollrechnungen der Altstadt Königsberg für den hansischen Krieg gegen König Waldemar IV. von Dänemark zu den Jahren 1367–1374, in: studies on the Military Orders, Prussia, and Urban History: Essays in Honour of Roman Czaja on the Occasion of His sixtieth Birthday/ Beiträge zur Ritterordens-, Preußen- und Städteforschung. Festschrift für Roman Czaja zum 60. Geburtstag, edited by/hrsg. Jürgen Sarnowsky, Krzysztof Kwiatkowski, Hubert Houben, László Pósan, Attila Bárány, Debrecen 2020, S. 273–298. 10 Für die Beschaffung der Bildvorlagen sei an dieser Stelle Frau Dr. Daria Barow-Vassilevitch und den Herren Dr. Sergey Polekhov und Dr. Alexander Baranov nochmals gedankt.

Zur Bedeutung der Königsberger Pfundzollrechnungen von 1367 bis 1374

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aufzubewahren, scheint bereits der anonyme Kopist verfolgt zu haben, denn die Aufzeichnungen sind nicht, wie sonst bei Rechnungen üblich, in Schmalfolio, sondern im Folioformat überliefert.

Inhaltsbeschreibung Die Aufzeichnungen beginnen zum Jahr 1368 mit der namentlichen Auflistung der Schiffer und ihrer geleisteten resp. noch geschuldeten Zölle (S. 14). Es folgen in zwei voneinander getrennten Spalten (S. 15) eine Liste von Ausgaben für Elbinger Wäppner und eine Liste von Zahlungen an Schiffskinder, Zimmerleute, Pfeifer und Buben, für einen Bäcker, einen Schenken und einen Koch sowie für drei Heringsschiffer. Sowohl die Wäppner als auch die Schiffskinder und die meisten anderen Personen auf der zweiten Liste sind namentlich genannt. Wegen der gleichen Ausgaben für die einzelnen Wäppner lassen sich Soldzahlungen an diese Leute unschwer annehmen. Besondere Erwähnung verdient der Elbinger Wäppner Gereke Somer, nicht nur, weil er sich zu 1381 als Elbinger Hausbesitzer nachweisen lässt,11 sondern auch wegen einer gesonderten Vergütung pro diversis rebus im Zusammenhang mit Armbrüsten. Es dürfte ebenfalls bemerkenswert sein, dass die Schiffskinder, der Bäcker, der Schenk und der Koch mit 9½ Mark Sold eine halbe Mark weniger erhielten als die besoldeten Wäppner. In der Hinsicht waren diesen aber die Zimmerleute und die Gruppe der Pfeifer gleichgestellt. Am Ende der zweiten Liste hat der Schreiber überdies eine Ausgabe für ein in Vergessenheit geratenes Wurfgeschütz festgehalten. Die anschließenden Aufzeichnungen (S. 16) betreffen laut Überschrift Einnahmen, die nicht verrechnet worden sind (suscepta et non sunt conputata), die Abrechnungen mit Braunsberg, Elbing und der Stadt Kneiphof Königsberg vom November 1368 sowie eine Geldsendung nach Danzig für die Bezahlung der in Dänemark überwinternden Söldner. Bei den anschließenden Aufzeichnungen (S. 17) handelt es sich um Ausgaben für Königsberger Wäppner, die bei den meisten nur 9 Mark weniger 4 Scot je Person betrugen. Königsberg scheint den Unterschied in der Bezahlung zu den Elbinger Söldnern jedoch dadurch ausgeglichen zu haben, dass es seine Söldner zusätzlich mit Bekleidung ausgestattet hatte. Bei dieser handelte es sich möglicherweise um eine Art von Uniform, de panno, quo vestiti sunt nostri stipendiarii, wie es auf Seite 16 heißt. Als Vorbilder könnten die Livreen des Gefolges von Gastrittern aus Westeuropa gewirkt haben, die fast

11 Das Elbinger Stadtbuch, Bd. 2: 1361–1418 (1393), bearb. Hans W. Hoppe (Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Beiheft 3), Münster 1986, Nr. 1135.

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alljährlich von Königsberg aus in den Heidenkampf nach Litauen gezogen sind.12 Unter den Ausgaben für die Königsberger Wäppner sind zwei Zahlungen von 18 Mark und von 13 Mark für den nauta Hartwig Vector verbucht. Bei den 13 Mark handelt es sich um eine Rückzahlung von Geld, das Hartwig vorgestreckt (concessit) hatte. Auch bei den 18 Mark dürfte es sich nicht um den Sold für ein Schiffskind gehandelt haben. Nicht nur die Höhe der Zahlung, sondern auch der Umstand, dass in der Königsberger Abrechnung mit Braunsberg auf der Seite davor (S. 16) Hartwig als Gläubiger für Heringe und für einen Geldbetrag in Gestalt von 13 Nobeln aufgeführt ist, sprechen dagegen. Dort ist nämlich die anteilige Schuld der Stadt Königsberg mit 18 Mark angegeben. Insofern ist Hartwig Vector nicht als gewöhnliches Schiffskind, vielmehr als kapitalkräftiger Königsberger Heringsschiffer anzusprechen, der der Stadt mit Kredit und ihren Söldnern mit Nahrungsmittellieferungen ausgeholfen hat. Die Aufzeichnungen auf der Folgeseite (S. 18) beginnen mit den deutschsprachigen Abrechnungen zwischen Elbing, Braunsberg und Königsberg von Ende Januar 1369, die in der Art eines Ergebnisprotokolls festgehalten sind. Die anschließende lateinischsprachige Buchung zum 11. März betrifft die Verschickung eines Pferdes und die Sendung von 20 Goldstücken zur Tagfahrt nach Lübeck. Die drei deutschsprachigen Einträge danach handeln über Geldverluste der Altstadt und des Kneiphofs wegen des dänischen Königs und über Ausgaben für Fährdienste, Sold, einen Geldversand nach Köln und für Botenlohn. Auf der Folgeseite (S. 19) sind festgehalten: die Endabrechnungen mit dem Kneiphöfischen Rat über die Einnahmen und Ausgaben von den Koggen (liburni) zum 25. Nov. 1368, die Einnahme von bereits mit den Kneiphöfern abgerechnetem Geld vom 15. Febr. 1369, die Verbuchung eines dem Schiffer Augustinus geschuldeten Geldbetrages, die Ausgaben für die 1368 wegen der Auseinandersetzungen mit dem dänischen König zu Marienburg, Elbing und Braunsberg stattgefundenen Tagfahrten, die Endabrechnung zum Jahr 1369 mit Elbing und Braunsberg, Außenstände von Thorn und Kulm und die noch nicht mitgeteilten Schossleistungen von den drei Städten Königsberg, von Wehlau, Friedland, Schippenbeil, Bartenstein, Zinten, Kreuzburg, Fischhausen und Memel. Mit Ausnahme des undatierten Eintrags einer Geldschuld der Stadt Braunsberg ist die Seite danach (S. 20) leer geblieben. Obwohl die Folgeseite (S. 21) mit der Summenangabe eines in vier Jahren aufgelaufenen Zinses überschrieben ist, handeln die Einträge über Ausgaben und Einnahmen von den Hufen eines Peter Rodeman zum Jahr 1369 und über Kosten, die im selben Jahr für Tagfahrten und sonstige Reisen von Ratssendeboten angefallen sind. Die Seite danach (S. 22), die mit der Jahreszahl 1369 überschrieben ist, beinhaltet den Abfluss der angehäuften Schosszahlungen nach Marienburg, 12 Angedeutet von Werner Paravicini, Die Preussenreisen des europäischen Adels, 2 (Beihefte der Francia, 17/2), Sigmaringen 1995, S. 85 und 123.

Zur Bedeutung der Königsberger Pfundzollrechnungen von 1367 bis 1374

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die Verschickung des 1369 angefallenen Pfundzolls, dessen Summe noch durch eine wohl verzögert eingegangene Schosszahlung aufgestockt wurde, eine Geldschuld an den Elbinger Rat aufgrund einer Mitteilung des Danziger Rates aus dem Jahr 1374, die Verbuchung einer Teilzahlung des Schosses von Wehlau und Zinten mit dem Vermerk, durch welche Personen die Zahlung expediert worden ist, und mit einem Schuldeneintrag, die Verpfändung einer Geldsumme zum Jahr 1373, den Eingang einer Zahlung des Elbinger Rates bald nach dem 2. April 1374 sowie die Verbuchung einer Sondereinnahme nach dem Tod des Stadtdieners Paul mit der daraus gewährten Zuwendung für dessen Witwe. Die vorletzte Seite (S. 23), die mit „Ausgaben durch den Kämmerer Gerhard Frankenstein“ überschrieben ist, enthält Kosten für eine Reise des Boten Johannes Golnow, eine durch Frankensteins Amtsvorgänger Johannes Somer entgegengenommene Einnahme, den Tilgungsvermerk der Soldzahlung an einen gewissen Doring sowie den Eintrag einer Geldsendung an die vom dänischen König vergebene Vitte. Sämtliche dieser Kostenbuchungen hat der Schreiber ungültig gemacht. Die ersten Einträge der letzten Seite (S. 24) wiederholen deshalb die Ausgabe für die Reise von der vorherigen Seite, allerdings mit dem Zusatz, dass Frankenstein und sein Kumpan das Geld für Golnow am 20. März 1370 in einem Sack entgegengenommen hatten. Es folgen Einträge für Soldzahlungen an den Elbinger Tideke Strobeke, für Ausgaben zum Vorteil der schonischen Vitte, für den Versand von Geld nach Braunsberg zwecks Abrechnung und Soldzahlungen, für einen Geldversand nach Elbing zum Zwecke der Rechnungslegung sowie für einen zu Pferd nach Stralsund verschickten Geldbetrag. Die Eintragungen danach zum 27. März handeln über die Gesamtabrechnungen zwischen Königsberg, Elbing und Braunsberg, die Sonderausgaben für den im Namen aller preußischen Städte nach Dänemark entsandten Gerhard Seeland und schließlich über die Abrechnung mit dem Rat vom Kneiphof wegen einer Gesandtschaft nach Elbing, der Kosten für eine Barze, der Bezahlung für die Bewachung einer Kogge im Winter und für ihren Kapitän (capitaneo) sowie für die Entlohnung von Söldnern.

Vorgänge außerhalb der Pfundzolleinträge Wie es aus dieser knappen Inhaltsangabe ersichtlich sein dürfte, hat der Kopist zwischendurch zwei Eintragungen vorgenommen, die zwar in keinem ersichtlichen Zusammenhang mit dem Pfundzoll stehen, für ihn aber denkwürdig gewesen zu sein scheinen. Die erste Eintragung (S. 21) steht bei Buchungsposten zum Jahr 1369 und betrifft die Ausgaben und Einnahmen von den Hufen des Peter Rodeman: Zu den 29 Mark und 4 Scot Ausgaben bei der Erstübergabe kamen Ausgaben für die Bewachung, die Entlohnung der Ausschachtungsar-

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beiter, für Glas, für Fuhrdienste, für die Bezahlung der Zimmerleute und Dachdecker, für das Aufrichten des Hauses, für die Ausmessung der Hufen, für die Entlohnung der Landmesser und für andere, nicht näher gekennzeichnete Arbeiten hinzu. Dem gegenüber standen ab dem ersten Jahr Einnahmen von 12 Mark weniger 8 Scot aus der Haferernte je Hufe, im zweiten Jahr 2 ½ Mark je halbe Last Weizen, im dritten Jahr 6 Mark für Roggen und Wiesenflächen und im vierten Jahr 11 Mark für das Gleiche. Hinzu kamen 1 Mark Zinseinnahmen von einem Prußen und 2 Mark von den Wiesen des Peter Rodeman. Die Gesamteinnahmen von den Rodeman’schen Hufen beziffert der Schreiber zum Jahr 1369 auf 33 Mark und 1 Scot. Die Denkwürdigkeit dieses Eintrags dürfte weniger in dem Umstand gelegen haben, dass der Rat der Altstadt Königsberg eine neue Lokation in der Stadtmark erfolgreich auf den Weg gebracht hatte, sondern darin, dass er das Land mit einem Siedler besetzte, dessen ratsfähige Familie in der Nachbarstadt Kneiphof ansässig war.13 Den Schreiber freilich hatten wohl Zweifel ob des Sachzusammenhangs dieser Eintragung mit dem Pfundzoll geplagt, sonst hätte er jenen kaum kanzelliert. Derartige Zweifel bestanden beim Eintrag der Sondereinnahme offensichtlich nicht, obschon der Rat den größten Teil der Einnahme für Bauholz und Dielen verausgabt hat. Die Sondereinnahme in Form von Bargeld und Geschmeide im Wert von 14 Mark und 2 Scot kam nach dem Tod des Stadtdieners Paul zum Vorschein, gewiss infolge einer Anzeige seiner Witwe; denn dieser gestand der Königsberger Rat rund ein Fünftel des Geldes und des Schmucks wohl als eine Art von Finderlohn zu. Der Verdacht auf Unterschlagung von Vermögenswerten, dem der Königsberger Rat ungewollt Vorschub geleistet hatte, dürfte hier nicht auszuschließen sein; denn die Art und die Höhe der Zuwendung an Pauls Witwe lässt sich als eine Art von Eingeständnis deuten, mit der die Ratsherren eigene Versäumnisse in der Nachweisführung von Einnahmen und Ausgaben zu überdecken suchten. Treffen diese Überlegungen zu, dann hätte der Rat daraus die Lehre gezogen, vor allem seine Rechnungslegungen nachhaltiger zu verschriftlichen. Dies hätte wiederum für seinen Schreiber zur Folge gehabt, die Einzelaufzeichnungen von Rechnungen zu sammeln, zu ordnen und im Sachzusammenhang für ein noch anzulegendes Rechnungsbuch aufzuschreiben. Was einem Außenstehenden sicherlich sachlich abseits von den Pfundzollaufzeichnungen erscheint, dürfte für den Schreiber arbeitstechnisch sinnstiftend gewesen sein: Für ihn gab die Sondereinnahme zum Jahr 1369 den Anstoß für die Zusammenstellung seiner Pfundzollrechnungen. Insofern ließ er den Eintrag unkanzelliert stehen. 13 Dies freilich unter der Voraussetzung, dass der von 1443 bis 1454 als Ratmann des Kneiphofs belegte Nikolaus Rodemann ein Nachfahre war, Christian Krollmann, Die Ratslisten der drei Städte Königsberg im Mittelalter, Königsberg 1935, S. 51–55.

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Kostenbeteiligung der kleinen Städte und militärische Disziplinierungsmaßnahmen Die frühesten Buchungen in der Königsberger Pfundzollliste betreffen Einnahmen zum Jahr 1368. Von diesem Geld beglich die Altstadt Königsberg unter anderem zurückliegende Ausgaben, wie beispielsweise den Anteil der Nachbarstadt Kneiphof an den Kosten für die Teilnahme des Elbinger Ratssendeboten an der Städteversammlung im rheinischen Köln vom November 136714 (S. 24). Diese Kostenbeteiligung deutet an, dass die Altstadt die Aufgabe eines hansischen Vorortes für die kleinen Städte in ihrem Umland15 wahrzunehmen pflegte. Neben dem Kneiphof ließen sich Königsberg-Löbenicht, Wehlau, Schippenbeil, Bartenstein, Zinten, Kreuzburg, Fischhausen und Memel von der Altstadt vertreten. Ihr für die gemeinschaftlichen Zwecke gezahlter Schoss ist in der Pfundzollliste eigens vermerkt (S. 19). Daher ist wohl davon auszugehen, dass die genannten kleinen Städte schon vor 1367 Hansestädte und ihre Bürger Nutznießer der hansischen Privilegien waren.16 Der frühe Zeitpunkt und die hohe Anzahl der kleinen Städte des Königsberger Umlandes sorgen indes für Überraschung: Nach bisheriger Kenntnis galten neben der Altstadt lediglich der Kneiphof und erst nach dem zweiten Thorner Friedensschluss von 1466 auch der Löbenicht als Hansestädte.17 Der Vertretungsbereich, in dem die Altstadt Königsberg für die kleinen Städte ihres Umlandes handelte, deckte sich offensichtlich mit dem Zuständigkeitsgebiet des Obersten Marschalls des Deutschen Ordens auf der Königsberger Burg. Insofern liegt die Frage nahe, ob nicht auch Braunsberg, Elbing, Danzig, Kulm und Thorn ähnlich umrissene Vertretungsbereiche und -aufgaben für die kleinen Städte in ihrem Umland wahrnahmen; denn die anderen großen Städte treten mit der Altstadt Königsberg häufig als preußische Vertragspartner mit fremden Mächten auf.18 Eine Antwort vermittelt beispielsweise die Kostenumlage für die Besetzung 14 Die Recesse und andere Akten der Hansetage. 1256–1430, 1, hrsg. G[eorg] Waitz, Leipzig 1870 (ND Hildesheim, New York 1975), Nr. 413. 15 Siehe dazu Dieter Heckmann, Königsberg und sein Hinterland im Spätmittelalter, in: Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum des Mittelalters, hrsg. Zenon Hubert Nowak, Janusz Tandecki, Torun 1998, S. 79–89. 16 Mathias Puhle, Organisationsmerkmale der Hanse, in: Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos, hrsg. Jörgen Bracker, Volker Henn, Rainer Postel, 2. Aufl., Hamburg 1998, S. 196– 201. 17 Fritze Gause, Die Geschichte der Stadt Königsberg, 1, 3. Aufl., Köln, Weimar, Wien 1996, S. 141, und Roland Seeberg-Elverfeldt, Austrittsabsichten des Königsberger Löbenichts aus der Hanse, Hansische Geschichtsblätter 62 (1937), S. 200–2004, hier S. 201. 18 Deutlich im Vertrag von Falsterbo von 1368 Juli 25 mit dem schwedischen König Albrecht, Preußisches Urkundenbuch, I. Abt. Bd. 6, Lieferung 1: 1362–1366, hrsg. Klaus Conrad, Marburg 1986, Lieferung 2: 1367–1371, hrsg. Klaus Conrad, Marburg 2000, Nr. 684.

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von Stockholm durch die preußischen Städte und die Bekämpfung der Vitalienbrüder von 1395/1396. Für den Einzug der damals vom Hochmeister des Deutschen Ordens eigens genehmigten Sonderabgabe der kleinen Städte sorgten nämlich die großen preußischen Städte: Thorn für die Einnahmen aus dem Kulmerland und dem Hochstift Pomesanien, Danzig für Pommerellen und die Städte Marienburg und Neuteich, Elbing für die Komtureien Elbing, Christburg und Balga, Königsberg für das Marschallamt, das Hochstift Samland und die für die Gebietsämter Brandenburg und Rhein sowie Braunsberg für das Hochstift Ermland.19 Davon, dass die Königsberger Söldner im Vergleich zu ihren Elbinger Kameraden vermutlich uniformiert waren, war zwar schon die Rede, aber noch nicht von ihrer Disziplinierung. Die altstädtische Kämmerei scheint jedenfalls Vergehen mit Geldstrafen geahndet zu haben. Dementsprechend heißt es, dass Geld vom Sold derjenigen in Abzug gebracht werde, die aus Schonen ohne Erlaubnis ihrer Hauptleute zurückgekehrt oder entlassen seien, aber nicht heimgezogen sind. Die Stadt veranschlagte die Gesamtsumme der Strafgelder mit 18 Mark, mit denen sie ihren Gläubiger Hartwig Vector zufriedenzustellen gedachte (S. 16). Rätselhaft erscheint in dem Zusammenhang allerdings der Nachsatz Eandem vero pecuniam recipere debemus de panno, quo vestiti sunt nostri stipendiarii. Bedeutet dieser, dass die Königsberger Söldner nach Vertragende ihre Livreen für den Weiterverkauf durch die Stadt zurückzugeben hatten? Im gegebenen Falle hätte die Altstadt die Dienstbekleidung ihrer Wäppner einheitlich mit einer Mark und vier Scot freilich unter der Voraussetzung bewertet, dass ihre Söldner den Elbingern in der Vergütung gleichgestellt waren. Ähnliche Vergleiche mögen künftig weitere Aufschlüsse zeitigen.

19 Markian Pelech, Die Beisteuer der kleineren Städte an die Hansestädte des Deutschordenslandes Preußen im Jahre 1396, Preußenland 22 (1984), S. 8–11, hier S. 9. Für Pelech sind die kleinen Städte keine Hansemitglieder. Dem scheint jedoch die von ihm auf S. 9f. selbst beschriebene zögerliche Haltung des Hochmeisters zu widersprechen, die Steuerzahlungen anzuordnen. Die kleinen Städte dürften befürchtet haben, Maßnahmen mitzufinanzieren, von denen sie sich kaum Nutzen versprachen.

Roman Czaja / Cezary Kardasz

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts1

Das Interesse der Forschung an den Handelskontakten zwischen Danzig und den Schiffern aus Holland, Seeland und aus ostniederländischen Städten erwachte um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit Theodor Hirschs Abhandlung werden die niederländischen Partner in jeder Studie zur Geschichte des Danziger Handels im Mittelalter berücksichtigt.2 An diese Problematik knüpfte auch Jürgen Sarnowsky in seinen Untersuchungen zum Danziger Handel im 15. Jahrhundert an.3 Die besagte Thematik wurde nicht nur aus der Perspektive der Geschichte Danzigs, sondern auch im breiteren Zusammenhang behandelt: dem der Beziehungen zwischen der Hanse und den Städten aus den Grafschaften Seeland und Holland.4 Den Kontakten der niederländischen Kaufleute und Schiffer mit Danzig 1 Dieser Beitrag wurde im Rahmen des Förderprojektes „Der Seehandel der Stadt Danzig an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert“ („Handel morski Gdan´ska na przełomie XV i XVI stulecia“), Nr. 2014/13/D/HS3/03691, vorbereitet und finanziert vom Nationalen Zentrum der Wissenschaft in Polen. 2 Theodor Hirsch, Danzigs Handels- und Gewerbsgeschichte unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, Leipzig 1858, S. 129–139; Victor Lauffer, Danzigs Schiffs- und Warenverkehr am Ende des XV. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Westpreussischen Geschichtsvereins 33 (1894), S. 1–44; Charlotte Brämer, Die Entwicklung der Danziger Reederei im Mittelalter, in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 63 (1922), S. 33–95; Henryk Samsonowicz, Struktura handlu gdan´skiego w pierwszej połowie XV w. [Die Struktur des Danziger Handels in der 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts], in: Przegla˛d Historyczny 53 (1962), H. 4, S. 695–713; Ders., Handel zagraniczny Gdan´ska w drugiej połowie XV wieku (rejonizacja handlu na podstawie ksia˛g cła palowego) [Der Danziger Außenhandel in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Die räumliche Verteilung des Handels auf der Grundlage der Pfalkammerbücher], in: Przegla˛d Historyczny 47 (1956), H. 2, S. 283–352; Johannes Schildhauer, Zur Verlegung des See- und Handelsverkehrs im nordeuropäischen Raum während des 15. und 16. Jahrhunderts, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 4 (1968), S. 187–211. 3 Jürgen Sarnowsky, Die Entwicklung des Handels der preußischen Hansestädte bis 1454, in: Die preußischen Hansestädte und ihre Stellung im Nord- und Ostseeraum, hrsg. Zenon Hubert Nowak, Janusz Tandecki, Thorn 1998, S. 51–78, bes. S. 64–67. 4 Ernst Daenell, Die Blütezeit der deutschen Hanse. Hansische Geschichte von der zweiten Hälfe des XIV. bis zum letzten Viertel des XV. Jahrhunderts, 1–2, Berlin 1905–1906, hier 1, S. 350–474; Klaus Spading, Holland und die Hanse im 15. Jahrhundert (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte 12), Weimar 1973.

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hat besonders Dieter Seifert viel Aufmerksamkeit gewidmet.5 Rudolf Holbach hat den Versuch eines Überblicks über die Beziehungen der preußischen Städte mit den Niederlanden unternommen.6 Eine erschöpfende Monographie dieser Thematik bleibt aber nach wie vor ein aktuelles Forschungsdesiderat. In der bisherigen Forschung weckten Konflikte und Verhandlungen zwischen Danzig und anderen hansischen Städten einerseits und den holländischen und seeländischen Städten sowie dem Herzog von Burgund andererseits das größte Interesse. Die Forscher hoben zwar die Interessengemeinschaft zwischen den Danziger Kaufleuten und den niederländischen Kaufleuten und Schiffern hervor, unmittelbare Kontakte zwischen ihnen wurden freilich selten zum Forschungsgegenstand.7 Die Präsenz der niederländischen Kaufleute an der unteren Weichsel geht auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts zurück. In den 80er Jahren des 14. Jahrhunderts bestand bereits eine reguläre Schifffahrtsverbindung zwischen Amsterdam und den preußischen Häfen, die hauptsächlich von niederländischen Schiffen bedient wurde. Die Konvois der niederländischen Schiffe, die vornehmlich Tuch, Heringe und Baiensalz aus dem Westen mitführten, erschienen regelmäßig im späten Frühling und im Sommer auf der Ostsee. Danzig war für sie einer der wichtigsten Zielhäfen.8 Zwar weisen die Untersuchungen zur Entwicklung der Danziger Reederei im 15. Jahrhundert nach, dass ein beträchtlicher Teil des Warenangebots der preußischen Kaufleute auf Danziger Schiffen verfrachtet wurde.9 Ohne Zweifel macht sich aber im Laufe des 15. Jahrhunderts ein zunehmender Anteil der niederländischen und seeländischen Fracht an den preußischen Ausfuhren bemerkbar. Die Interessengemeinschaft zwischen Danzigern und niederländischen Kaufleuten wurde auch von der Möglichkeit 5 Dieter Seifert, Kompagnons und Konkurrenten: Holland und die Hanse im späten Mittelalter (Quellen und Darstellungen zur Hansischen Geschichte, 43), Köln 1997. 6 Rudolf Holbach, Die preußischen Hansestädte und die Niederlande, in: Die preußischen Hansestädte (wie Anm. 3), S. 91–112. 7 Walter Stark, Untersuchungen zum Profit beim hansischen Handelskapital in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abhandlungen zur Handels- und Sozialgeschichte, 24), Weimar 1985, S. 119–123, untersuchte die Handelskontakte von dem Danziger Kaufmann Johann Pisz nach den Niederlanden um 1430–1438; vgl. auch Holbach, Die preußischen Hansestädte (wie Anm. 6), S. 93. 8 Wilhelm Koppe, Revals Schiffsverkehr und Seehandel in den Jahren 1378/84, in: Hansische Geschichtsblätter 64 (1940), S. 111–152, hier S. 120–127; Seifert, Kompagnons und Konkurrenten (wie Anm. 5), S. 89; Holbach, Die preußischen Hansestädte (wie Anm. 6), S. 103; Stuart Jenks, Der hansische Salzhandel im 15. Jahrhundert im Spiegel des Danziger Pfundzollbuchs von 1409, in: „Vom rechten Maß der Dinge“. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Festschrift für Harald Witthöft zum 65. Geburtstag, hrsg. Rainer S. Elkar u. a., Ostfildern 1996, S. 257–284, hier S. 260. 9 Brämer, Entwicklung (wie Anm. 2), S. 46–53; Henryk Samsonowicz, Struktura (wie Anm. 2), S. 705.

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bestimmt, durch den Sund zu fahren, ohne auf die Vermittlung der wendischen Städte angewiesen zu sein. Der Ausbruch des Krieges zwischen den wendischen Städten Lübeck, Hamburg, Lüneburg, Wismar, Rostock und Stralsund gegen König Erich von Dänemark im Herbst 1426 führte zum Zusammenbruch des bisherigen Gleichgewichts in der Ostseeschifffahrt. Die Holländer und Seeländer bezogen während dieses Konflikts, ähnlich wie die preußischen und livländischen Städte, eine neutrale Position und wollten sich dem durch die wendischen Städte eingeführten Verbot der Schifffahrt durch Sund und Belt nicht unterordnen. Die Kaperung von niederländischen Schiffen wie auch die Vergeltungsmaßnahem seitens der holländischen und seeländischen Städte führten zu Auseinandersetzungen mit den wendischen Städten, die auch im hansisch-dänischen Frieden von Vordinborg 1435 nicht beigelegt werden konnten.10 Zusätzlich wurden die Beziehungen zwischen den Niederlanden und den Hansestädten durch den Krieg zwischen Burgund und England verkompliziert, da hansische Schiffe vor der Küste Flanderns beschlagnahmt wurden. Die preußischen Städte versuchten, im Konflikt zwischen der Hanse und den Holländern eine neutrale Stellung zu beziehen und verlangten die Aufhebung des Schifffahrtsverbots nach Flandern, Holland und Seeland. Die in den 30er Jahren des 15. Jahrhunderts unternommenen Versuche, den Konflikt auf dem Wege der Verhandlungen zu lösen, schlugen fehl und im Frühling 1438 brach ein Krieg zwischen den wendischen Städten einerseits und den Holländern und Seeländern andererseits aus. Die preußischen Städte positionierten sich in diesem Konflikt als eine neutrale Partei und trafen gemeinsam mit dem Hochmeister am 26. April 1438 die Entscheidung, die Schifffahrt gen Westen freizugeben; auch bot die preußische Seite den Holländern freien Verkehr und Geleit nach Preußen an. Die Neutralitätserklärung wurde nicht einmal durch die von den Holländern vorgenommene Kaperung von 22 Schiffen der preußisch-livländischen Baienflotte am 31. Mai 1438 zurückgenommen. Danzig verlangte zwar im Namen der preußischen Städte Entschädigung für die beschlagnahmten Schiffe und Güter, hatte aber freilich nicht vor, sich den wendischen Städten anzuschließen.11 Gemäß dem am 6. September 1441 in Kopenhagen geschlossenen Vertrag zwischen Preußen und den Ländern Holland, Seeland und Friesland sollten die preußischen und livländischen Kaufleute eine Entschädigung in Höhe von £ 9.000 gr. bekommen, die in vier Raten in Brügge bis 1445 zu zahlen war.12 Die für Dezember 1442 vorgesehene Rate in Höhe von £ 2.500 gr. 10 Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 242–250. 11 Spading, Holland und die Hanse (wie Anm. 4), S. 20; Holbach, Die preußischen Hansestädte (wie Anm. 6), S. 108; Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 283–287. 12 Hanserecesse von 1432–1476, 2, hrsg. Goswin Frhr. von der Ropp, Leipzig 1878, Nr. 494, S. 429–432.

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wurde freilich nicht gezahlt, und die niederländischen Kaufleute versuchten Verhandlungen über die Verlängerung der im Kopenhagener Vertrag vereinbarten Frist in die Wege zu leiten. Dieser Vorschlag wurde von den preußischen Städten abgelehnt, die, vom Hochmeister unterstützt, die Ausstellung der Handelserlaubnis in Preußen an die niederländischen Kaufleute von der Ratenzahlung abhängig machten.13 Angesichts erfolgloser Verhandlungen griffen die Danziger Kaufleute zu Gewalt. Anfang Juni 1443 wurden niederländische Schiffe und Waren als Bürgschaft für die fällige erste Rate beschlagnahmt.14 Die feste Verbindung der Handelsinteressen der Danziger mit denen der Kaufleute und Schiffer aus Holland, Seeland und Friesland bewirkte, dass es im Interesse keiner Seite lag, die Schiffe länger im Hafen aufzuhalten. Die Schiffer wollten in der Sommersaison noch rechtzeitig die Heringe holen. Aus diesem Grunde waren sie bereits Mitte Juni einverstanden, £ 1.250 gr. zu zahlen.15 Länger dauerten die Verhandlungen der niederländischen Kaufleute mit dem Rat der Rechtstadt Danzig und dem Danziger Komtur. Ihr Ergebnis war eine am 5. Juni 1443 geschlossene Übereinkunft, aufgrund derer die Kaufleute und Schiffer aus Holland, Seeland und Friesland sich verpflichteten, bis zum 29. September in Brügge £ 2.500 gr. zu zahlen. Im Falle der Nichteinhaltung dieses Versprechens sollten die Danziger Bürgen der Niederländer die fällige Rate am 1. oder 11. November 1443 zahlen. Die Kaufleute und Schiffer, die an dem Vergleich nicht beteiligt waren, sollten über den Pfundzoll zu der Zahlung beitragen. Im Gegenzug sicherten Komtur und Stadtrat von Danzig den Ankömmlingen aus den Niederlanden bis Weihnachten freien Handel im Ordensland zu.16 Aus dem Inhalt des Vergleichs geht hervor, dass ihm eine Bürgschaft seitens der Danziger Bürger für ihre niederländischen Handelspartner vorausging, von der die unten edierte Quelle Zeugnis gibt. Die im Archiv der Stadt Danzig erhalten gebliebene Liste der Bürger, die für die beschlagnahmten Schiffe und Waren der Holländer, Seeländer und Friesen gebürgt haben, wurde in der Forschung bereits ausgewertet. Auf ihr Vorhandensein machte Theodor Hirsch aufmerksam.17 Eine kurze Analyse ihres Inhalts wurde von Klaus Spading vorgenommen. Seiner Meinung nach belegt diese Quelle ein hohes Interesse der Danziger Kaufleute, insbesondere „der bedeutendsten Rats13 Ebd., S. 564; Spading, Holland und die Hanse (wie Anm. 4), S. 38; Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 339. 14 Nach der von den Holländern 1447 niedergeschriebenen Klage wurden 120 Schiffe im Hafen aufgehalten, darunter 40 große Schiffe der Baienflotte, Bronnen tot de geschiedenis van Ostzeehandel, hrsg. H. A. Poelman, 1–2 (Rijks Geschiedkundige Publication, 36), Gravenhage 1917, hier 2, Nr. 1853, S. 638; Hirsch, Danzigs (wie Anm. 2), S. 131. 15 Spading, Holland und die Hanse (wie Anm. 4), S. 39. 16 Bronnen tot de geschiedenis van Ostzeehandel (wie Anm. 14), 1, Nr. 1667, 1668, S. 474–476; Hirsch, Danzigs (wie Anm. 2), S. 131; Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 344f. 17 Hirsch, Danzigs (wie Anm. 2), S. 131, Anm. 294.

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und Handelsherren“, an der Zusammenarbeit mit den Holländern.18 Auf den hohen Anteil von Ratsmitgliedern unter den Bürgen wies auch Dieter Seifert hin, der darüber hinaus zusammenzählte, dass die fragliche Quelle Namen von über 50 Danziger Bürger enthält.19 Der vollständige Text der Quelle enthält Informationen, die in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigt wurden. Aufmerksamkeit verdient die Breite des sozialen Spektrums der Danziger Vertretung, die die Verhandlungen mit den niederländischen Partnern führte. Neben Ratsherren und Schöffen gehörten zu der Gruppe auch die Vertreter von Stadtbürgern, die infolge der Kaperung der preußisch-livländischen Flotte im Jahre 1438 Schaden erlitten hatten. Die am 1. Juli 1443 erzielte Übereinkunft und das ihr beigelegte Verzeichnis der Bürgen enthalten die Fristen und die Zahlungsbedingungen der fälligen Rate, die anschließend im Vergleich vom 5. Juli bestätigt wurden. Die Liste führt die Namen von 47 Danziger Bürgern auf, die mit ihren Immobilien und Waren für 209 niederländische Stadtbürger bürgten. Unter den Waren ist Holz entschieden in der Mehrheit. Die Analyse der sozialen Zusammensetzung der Bürgengruppe erlaubt eine gewisse Berichtigung der Annahme eines starken Engagements seitens der Ratsmitglieder für die Konfliktlösung. Tatsächlich stehen auf der Liste Namen von nicht weniger als zehn Ratsherren, die im Jahre 1443 Mitglieder eines 25-köpfigen allgemeinen Stadtrates waren.20 Davon waren fünf Ratsherren Mitglieder des sitzenden Rats. Als Bürgen treten ferner drei Schöffen auf.21 Insgesamt bürgten 13 Bürger, die 1443 der Danziger Führungsgruppe angehörten, für 76 Personen. Die übrigen Danziger Stadtbürger (34 Personen) bürgten für 133 niederländische Schiffer und Kaufleute. Durchschnittlich bürgte also ein Ratsherr bzw. Schöffe für sechs Personen, während vier Personen auf einen außerhalb der Führungsgruppe stehenden Bürger entfielen. Man kann jedoch daraus nicht auf größeres Engagement der Ratsherren und Schöffen für die Bürgschaften schließen, da die führende Rolle in der Konfliktlösung von sechs Kaufleuten gespielt wurde, die für 103 Personen, also nahezu die Hälfte der niederländischen Gäste bürgten.22 Es scheint also, dass es die Handelsinteressen und nicht die Beteiligung an der Macht waren, die für die Übernahme der Verantwortung für die Schulden der Holländer durch die Danziger Bürger den 18 Spading, Holland und die Hanse (wie Anm. 4), S. 40. 19 Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 342, 380. 20 Joachim Zdrenka, Rats- und Gerichtspatriziat der Rechten Stadt Danzig, 1, 1342–1525, Hamburg 1991, S. 119. 21 Seifert, Kompagnons (wie Anm. 5), S. 342, weist auf sieben Ratsherren hin. 22 Drei Ratsherren Arnt von Finkenberch (für zehn Personen), Bertold Burhammer (für 17 Personen), Meynert vom Steyne (für 21 Personen), ein Schöffe Johann Smerbart (für 16 Personen), darüber hinaus Albert Kornemarkt (für 26 Personen) und Eynwolt Wrige (für 13 Personen).

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Ausschlag gaben. Unter den Bürgen können wir zwei Gruppen von Danzigern unterscheiden. Die weniger zahlreiche Gruppe wurde von den namhaften Großhändlern gebildet, die weitreichende Kontakte zu zahlreichen Partnern aus den Niederlanden unterhielten. Zu der anderen Gruppe gehörten die Stadtbürger, die mit einzelnen Schiffern oder Kaufleuten aus Holland, Seeland oder Friesland zusammenarbeiteten. Zweifelsohne bezeugt die unten publizierte Quelle weite soziale Verbindungen der Handelsinteressen der niederländischen Schiffer und Kaufleute in der Stadt an der Mottlau.

Quellenanhang 1443 Juli 01. Danzig. Verzeichnis der Danziger Bürger, die 1443 für die Holländer, Seeländer und Friesen gebürgt haben. Orig. Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku [Staatsarchiv Danzig], Akta miasta Gdan´ska [Akten der Stadt Danzig], Dokumenty i korespondencja do roku 1525 [Urkunden und Korrespondenz bis 1525]. Ein Falzbogen im Format 22 x 30 cm, bestehend aus 21 Blättern. Die letzte Karte wurde ausgeschnitten. In das Heft wurden zwei lose Blätter eingefügt, S. 21/22 im Format 15,5 x 22,5 cm und S. 29/30 im Format 21,5 x 9 cm. Das ganze Heft ist mit ledernen Riemen zusammengebunden. Den Erhaltungsstand der Quelle kann man als gut einstufen, lediglich die Ränder sind etwas zerfleddert. Die Handschrift wurde in einem Papierumschlag aufbewahrt, auf dem mit einer für das 19. Jahrhundert üblichen Schrift der Inhalt genannt wurde: Verzeichniß der Preusischen Kaufleute, die sich 1443 für Holländer verbürgen. Auf dem Umschlag befinden sich auch zwei Stempel: Stadt Danzig mit der Signatur 300 Abt. U 19, Nr. 79 sowie Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku, Sign. 300, D/19, 79. Auf S. 1, in der linken unteren Ecke, findet sich das Siegel der Stadt Danzig mit der Signatur 300 Abt. U 19 Nr. 79, unten, hinzugefügt von einer für das 19. Jahrhundert typischen Hand, findet sich die Angabe: Blatt 1–13. Die ursprüngliche Nummerierung der Karten wurde vermutlich im 19. Jahrhundert vorgenommen und umfasste nur 13 beschriftete Karten. Im 20. Jahrhundert wurden an deren Stelle die Seitenzahlen bis 46 mit Bleistift eingetragen. Die folgenden Seiten sind unbeschriftet: 5–16, 22, 30, 36, 38–45. Auf den Seiten

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1–19 und 25 findet sich das Wasserzeichen: Ochsenkopf mit Augen und Nüstern im Format 4 x 3 cm.23 Die Quelle wird hier vollständig, ohne Kürzungen herausgegeben. Bei der Vorbereitung zum Druck wurden die Konventionen zur Herausgabe von Quellen von Walter Heinemeyer und Matthias Thumser berücksichtigt.24 Die möglichen Schreibfehler wurden mit [s] markiert. Stellen, die beim Entziffern der Handschrift zweifelhaft erscheinen, wurden mit [?] gekennzeichnet. Die Buchstaben u und v wurden entsprechend dem vokalischen oder konsonantischen Lautwert gesetzt. Sz wurde als ß wiedergegeben. Daten wurden wie in der Archivalie transkribiert. In eckigen Klammern findet sich die Auflösung in die moderne Datierung. Die Interpunktion wurde nach den heutigen Regeln umgesetzt. Die im Text gestrichenen Stellen wurden kursiv gesetzt.

23 https://www.piccard-online.de/detailansicht.php?klassi=002.003.001&ordnr=71307, 71369; (letzter Zugriff 12. 02. 2019). 24 Walter Heinemeyer, Richtlinien für die Edition mittelalterlichen Amtsbücher, in: Richtlinien für die Edition landesgeschichtlicher Quellen, hrsg. Walter Heinemeyer, Marburg-Köln 1978, S. 18–23; Matthias Thumser, Verfahrensweisen bei der Edition deutschsprachiger Geschichtsquellen (13.–16. Jahrhundert), in: Edition deutschsprachiger Quellen aus dem Ostseeraum (14.–16. Jahrhundert), hrsg. Matthias Thumser, Janusz Tandecki, Dieter Heckmann, Thorn 2001, S. 13–34.

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[S. 1] Towetenn dat im jare unses Hern XIIIIC unde XLIII des mandages vor Visitacionis Marie [01. Juli 1443] so heben de geordenereden van dem rade, scheppen und den beschedigeden overeyngedregen mit den Hollandern und Zelandern, Freslanda, alse van der borgetucht wegen de de coplude und schippern der verben [s] Lande Holland und Zeeland doen solen in disser nagescrevennen wise. Int erste, wer der erben Hollander und Zelander, Freslantb, borge werden wil, de sal dat vorborgen mit synen liggenden grunden und mit alle synen gudern, de so guͤ t syn alse de borgetucht to secht und dat sal gescheen vor gehegedemdinge unde dat sal men scriven by erve durch getuchnisß gehegdesdingen gelik eynem vorvolgedem pande unde were id sake dat silken gelt alse 2500 lb. up Michaelis negest komende [29. September] to Brugge nicht betalet werden, dat denne eyn islik syn gelt, dar he borge vor geworden is, inlegge und betale hir to Danczik ane allirleyg rechtganck gelik synes selves propere schult und vervolgedin pande up Aller Hilgen [1. November] off sunte Mertens dach [11. November] nast komende. [S. 2] Item her Meynert vam Steyne1 heft gelavet vo[n] der utsettinge vor syne gescrevennen Johann Petersß, Gillis Wittensß, Willamc Gocoppesß, Willam Godewerdesß2, Laurentcz Petersson, Wolter Gilebrechtsson, Vloress van Wold wonden vor elken vor 25 punt gr. Item Albert Cornemarket3 heft vorborget vor Wysse Bondersß van Czirchze4, von vor Pir Lemsß van Fflicien5 vor elken 25 lb. gr.

a b c

Über Zelandern hinzugeschrieben. Über Zelander hinzugeschrieben. Folgt Streichung goli.

1

1426 Schöffe, 1432–1452 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1430 und 1438 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 492 Mark. Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku [Staatsarchiv Danzig] (weiterhin zit. APGd.), 300, 43/1a, k. 143r; APGd., 300, 43/1b, k. 29r, 68v, 151r, 195r. Ksie˛gi małoletnich Głównego Miasta Gdan´ska z XV wieku [Minderjährigenbücher der Rechtstadt Danzig], hrsg. Marcin Grulkowski, Warschau 2017, Nr. II 22, 69a, 81, 102a, 119, 153, III 19–20a, 30a, 43, 49, 109a. Bronnen tot de geschiedenis van Ostzeehandel, hrsg. H. A. Poelman, 1–2 (Rijks Geschiedkundige Publication, 36), Gravenhage 1917, hier 2, Nr. 1693. Zwischen 1433 und 1440 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 542 Mark, 13 Pfund und 75 Gulden. APGd., 300, 43/1a, k. 244v, 275v; APGd., 300, 43/1b, k. 2r, 27r, 145v, 220v, 293v, 296v. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 69, 69a, 111b, 113, 185a, III 69, 69a; Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1176, 1278, 1290; 2, Nr. 1780, 1829 §1, 1832 § 2, 1853 §3, 2205, 2342, 2349. Zierikzee, Stadt in Seeland. Vlissingen, Stadt in Seeland.

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Everd Ferwer6 hot gelovet vor Herman Oruessen van Leiden7 unde vor Ghise Jacobsson8 van Leyden vor isliken vor 25 lb. gr. Item Arnt Finkenberch9 heft gelovet vor Jan Schreuel und Jacob d-van Kakel-d vor ellen 25 lb. gr. Item Johan Smerbart10 heft gelavet vor Geryt Piel vor 25 lb. gr. darup sal he enen terling wesper ut dem rathuse nemen werde wy onser dinge nicht ens, so sal Smerbart so vele geldes wedder in bringen also de terling laken is off de werde dor van. Item Willem Vogel11 heft gelovet vor Jacob Jan vane Gervleͤ t12 vor 25 lb. Item Franse Voss13 is borge vor Jan Symonsß14 und vor Jan Schulte vor elken vor 25 lb. gr. Item Franse lovet vor Wigtzer Claes Cleneswager und Jan Remlensß vor de beide vor 12 lb. 10 s. gr. Item Jan Leyn heft gelovet vor Claes van Ansted und Alffer Wilmsß vor 25 lb. gr.

d e

-d Über durchgestrichenes van kra hinzugeschrieben. Oben, hinzugeschrieben van.

6

Zwischen 1431 und 1440 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 614,25 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 50v, 175r; APGd., 300,43/1b, k. 164r, 197v, 233v, 274r, 296r; in dieser Zeit verschuldete er sich mit 312 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 157v, APGd., 300,43/1b, k. 266v; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1786. Leiden, Stadt in Holland. Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1693. 1434 Schöffe, 1439–1455 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1434 und 1439 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 1729,5 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 338r; APGd., 300,43/1b, k. 6v, 90v, 230r, 286v; in dieser Zeit verschuldete er sich mit 250 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 6r; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1779. 1442 Schöffe, 1444 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. III 152, 157; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1785. Bürger von Danzig, Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1760, 1789. Geervliet, Stadt in Holland. Zwischen 1436 und 1441 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 189,5 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 87r, 267v, 354r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 48. Schipper von Amsterdam, Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2148.

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[S. 3] Item Hans Hoyman15 heft gelovet von Cornelies Coman Jacobsß vor 8 [lb.] 6 s. 8 d. Item Albert Kornemarkt heft glovet vor Claes Poppensß, Jan Jacobsß vor de beide vor 16 lb. 13 s. 4 d. Item Enwolt heft gelovet vor Jan Posk vor 25 lb. gr. des sal he nemen 2 paxken laken on der dem rathuse dar lavet oc Enwolt vor so vorscrevennen is. Item de Junghe Hans Cluver heft gelovet vor Cleis Willem Ortsß vor 25 lb. gr. Item Herman Lunyng16 heft gelovet vor Claes Jansß van Monkedamme17 vor 25 lb. gr. Item Jacob Andriesß18 und Meynart Berndesß19 hir vor heft gelovet Johan Stargard20 des solen se eke enen terling laken tu syk nemen so boven gescrevennen stat vor elken lovet he vor 25 lb. gr. Item her Arnt Vinkenberch heft gelovet vor Bruͤ n Albertsß vor 25 lb. gr. Item her Johan vamme Hagen21 heft gelovet vor sinen gast Claes Jacob Woltersß vor 25 lb. Item Johanes Smerbart is borge vor Jan Gael und Jan Petersß vor de beide vor 12 lb. 10 s. Item Franse Voss is borge vor Albert Dier vor 6 lb. 5 s.

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Ebd., Nr. 2205. 1441 Schöffe der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1436 und 1441 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 82 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 68v, 354r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 89. Monnickendam, Stadt in der Nähe von Amsterdam. Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1693. Ebd. 1431 Schöffe, 1437 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1427 und 1435 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 171,5 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 54r, 87v, 282r; APGd., 300,43/ 1b, k. 24r. 1434 Schöffe, 1437–1446 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1434 und 1435 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 36 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 333v; APGd., 300,43/1b, k. 36r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 10a, 22, 26a, 27a; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205.

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Item her Meynard Kolner22 is borge vor Jan Albertsß vor 25 lb. gr. Item her Johan Stargard is borge vor Jacob Andriesson vor 25 lb. gr. Item de Junge Cluver heft gelovet vor Reyner Jansson von Wesp23 vor 25 lb. gr. Item de Junghe Cluver heft gelovet vorf Johan Betkensß vor 6 lb. 5 s. [S. 4] Item her Johan Stargard is borge vor Dirk de Vryse vor 12 lb. 10 s. Item her Meynart vamme Stene heft gelovet vor Cornelies Danqwartsß vor 6 lb. 5 s. Item her Johang Terrax24 is borge vor Lameken vor 8 lb. 6 s. 8 d. Item her Johan Stargart heft gelovet vor Meynart Berntsß vor 12 lb. 10 s. Item her Dideric Oldevelt25 borge vor Jakop Voppersß vor 8 lb. 6 s. 8 d. [S. 5–16 leer] [S. 17] Item Hans Cluver de Junghe borge vor Johan Bouwerß 6 lb. 5 s. dar op gescheppet 3,5 last. Item vor Reyner Johansß 20 last myn 1 quart von elken last sal geven 2 m. Suma 46,5 m. Item her Johan Terrax borge vor Lameke 12 last. f g

Folgt Streichung durchgestrichen Bolt [?]. Folgt Streichung Stargart.

22

1429 Schöffe, 1433–1435, Ratsherr, 1436 Bürgermeister der Rechtstadt Danzig. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 22, 23, 47, 81, 83a, 101–102a. Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1693. 1418 Schöffe, 1422–1428 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1430–1439 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 61,5 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 140v; APGd., 300,43/1b, k. 290v. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 25a, 35a, III 23. 1436–1440 und 1442 Schöffe, 1445–1457 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Najstarsze ksie˛gi kamlarskie Głównego Miasta Gdan´ska z XIV–XV wieku [Die ältesten Kämmereibücher der Rechtstadt Danzig aus dem 14. und 15. Jahrhundert], hrsg. Marcin Grulkowski, Warschau 2016, Nr. III 257a. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 69a, 113a, 118, 119, 129, 150a, 151, 192, III 12, 25b, 39, 96, 111, 143; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1785, 1793, 1906, 2205.

23 24 25

170

Roman Czaja / Cezary Kardasz

Suma 24 m. [S. 18] Item Claes Capit 13 lb. 30 gr. Item Huge Jansß Itemh Diderik de Rode26 heft gelovet vor schepper Peter Kiͤ l27 vor 9 lb. myn 3 gul[den]. Item vor Cleis Bulk vor 7 lb. gr. Item vor Gude Willem 8 lb. 13 s. 4 d. Item vor Cleis Tidemansß 7 lb. 13 s. 5 d. Elk lb. gr. gereket ap 7,5 m. Suma 32 lb. 21 gr. Item so heft he gescheppet dat in Hollant to h[ope] [?] hort 26 last gudes von der last 2 m. Suma 52 m. Suma in al an prusch gelt 292 m. 17 s. Item Reel Symonsß heft gelovet vor Dideric Johansß vor 7 lb. 3,5 gul[den]. Itemi Rel heft gescheppet dat in Hollant to h[ope] [?] hort 8 last gud. Suma 16 m. sol. Item Johan van Leien borge vor Olfert Jansß 27,5 last. Suma 55 m. Item Hans Scholle borge vor Cleis van Anstel 91,5 last. h i

Am linken Rand: +. Am linken Rand: +.

26 27

Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205. Ebd., 1, Nr. 1498, 1499.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Suma 183 m. Item noch dat he sulver heft gescheppet 15 last. Suma 30 m. [S. 19] Item her Bertolt Burhamer28 heft gelovet vor schipper Peter van Leiden vor 20 lb. 10 s. Item noch vor schipper Jan Ryser vor 11 lb. 4,5 gulden. Item noch vor Symon Hildebrandesß 10 lb. 4 gulden. Item noch vor Wilm und Cornelies Berstansß 11 lb. 2 s. 6 d. Item noch vor Wolter van Vlissingenj29 vor 5 lb. gr. Item Hope Vot 10 lb. gr. Item vor Anrt [s] Losenß 16 lb. gr. Item vor Willem Kater 16 lb. 12 gr. Item vor Wilbort Woltersß 13 lb. 6 s. 8 d. In al 136 lb. 2 gr. di maks 1020 m.k Item vor Cleis Willemortsß 25 lb. gr.

j k

Durchgestrichen: mit Enwolt Wrygen. Eintrag hinzugeschrieben auf rechter Kartenseite auf der Höhe der drei vorausgehenden Einträge.

28

1429 Schöffe, 1429–1433 Ratsherr. Zwischen 1430 und 1439 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 136 Mark, 105 Gulden. APGd., 300,43/1a, k. 157 r, 166v, 167v, 259v, 260v; APGd., 300,43/1b, k. 266v. Im Jahre 1433 verschuldete er sich zusammen mit Bernt Pleskow mit 600 Mark und 300 Rheingulden. APGd., 300,43/1a, k. 233r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 15, 25a; Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1290, 1363, 1370, 1376, 1383; 2, Nr. 1711, 1795, 1832 § 2, 1853 §3, 2205. Vlissingen, Stadt in der Provinz Seeland.

29

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Roman Czaja / Cezary Kardasz

Item vor Dideric Johansß 7 lb. 3,5 gul[den]. Item vor Jan Igenßl 9 last gud. Item her Bertolt van Suchten30 heft gelovet vor schipper Philips Pappensson vor 16 lb. 10 gr. Suma Bertolt van Suchten 120 m. 8 sc. Item Hinrik van Werden31 is borge vor schipper Claes Motesß vor 13 lb. 2 s. 6 d. Suma 98 m. 16,5 sc. Itemm Sander van Huet is borge vor schipper Aryan Heynensß vor 15 lb. 3 s. 4 d. Suma 114 m. minus 1f. Item Dirk de Rode heft gelovet vor schipper Peter Kyel vor 9 lb. minus 3 guld[en]. Item noch vor schippern Claes Buͤ lk vor 7 lb. gr. Item Evert Verwer heft gelovet vor schipper Claes Lambertsß vor 11 lb. gr.o Item vor Herman Omesß 25 lb. Item vor Gise van Leyden 25 lb. Suma 61 lb. Suma in gelde 457,5 m.

l m n o

Name infolge Durchstreichung unlesbar. Am linken Rand: +. Über dem Text hinzugeschrieben. Hinzugeschriebenes Zeichen: +.

30

1435 Schöffe, 1432–1444 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1433 und 1437 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 46 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 245r; APGd., 300,43/1b, k. 133r; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1711, 1870, 1872, 1882; Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 25. Bürger von Danzig. Hanserecesse von 1432–1476, 2, hrsg. Goswin Frhr. von der Ropp, Leipzig 1878, S. 526; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1939, 2205.

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Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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[S. 20] Item vor desse schippers heft gelovet her Meynart vamme Stene. Item Claes Cabbit 13 lb. 2 s. 6 d. Item Huge Jansson32 16 lb. 6 s. 8 d. Item Jacob Petersson 12 lb. 5 s. Item Jan de Grote 15 lb. 3 s. 4 d. Item Heyne Copluauensson 8 lb. 4 s. 4 d. Item Lambert Petersson 12 lb. 10 d.p Item Cornelies Symansson 8 lb. 15 s. Item Cornelies Bartolomesß 17 lb. 10 s.q Item Jan van der Warde rund Coppyn Heyner 11 lb. 13 s. 4 d. Item Peter Visscher 14 lb. 11 s. 8 d. Item noch vor schipper Claes Kopmannsß 9 lb. 7 s. 6 d. Item vor Cornelies Pirmorsß 9 lb. 8 s. 2 d. Suma is 148 lb. 7 s. 4 d. s

Suma 1113 m. minus 4 sc.s

Item noch vor Gilles Wittensß, Lanken, Claes Host, Jan Claesß33, Heyne Varvrer, Cornelies Pirmorsß dese hebn geschepet tu hope. Item 148,5 last komt up elke last 2 m.

p q r s

Hinzugeschriebenes Zeichen: +. Hinzugeschriebenes Zeichen: +. -r Hinzugeschrieben. -s Hinzugeschrieben.

32 33

Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1964. Ebd., Nr. 2032.

174

Roman Czaja / Cezary Kardasz

Maket 297 m. Item noch vor Cornelies Dankwartes heft geschepet 28,5 last elc last 2 m. is 57 m. Item Flores van Wanden 25 lb. maket 187,5 m. Item vor Wolter Gisebertsß 25 lb. suma 187,5 m. Item noch heft her Meynart selven schepet dat in Zelant tu Hues behort 40,5 last komt up elc last 2 m. suma 81 m. Item noch vor Wolter Gisebertsß 73,5 m. In al 1996 mr. 8 sc. [S. 21, loses Blatt, 15,5 x 22,5 cm] Notandum dat her Meynard vam Steyne is borge worden vor 9 parsonen als vor 198 punth 18 s. 4 d. by sulker underscheet, werd dat gelt alz de 250 lb. groten upp Michaelis negestkamende [29. September] tho Brugge34 in Flandern van den Hollandern und Zelandern etc. nicht betalt, so sall her Meynhard disse vorgeschrebene 198 punt 16 s. 4 d. upp Aller Hiligen [1. November] Sinte Martens dach [11. November] negestkamende hir betalen mit synen erven und alle synen gudern gelik eynem vorvolgen pande. Actum des avendes Marie Magdalene anno XLIII [22. Juli 1443] und dyt vorgeschrebene gelt sal betalen gelik syner egenen properen schult. Item zo heft her Meynard nach vorborget vor 5 personen alze vor 64 punth 9 s. 2 d. gelykt alz vorgeschreben steit. Notandum dat van disser ersten summe sal betalen Dirk Oldefelt 75 punth gr. in vormynenrunge der vorgeschrebene sume, alz by Dirks Oldevelt erve in der Brotbenkengasse steit geschreben. Actum feria sexta vor Katherine anno XLIII [22. November 1443]. Disse vorgeschrebene 75 punth hefft Dirk Oldevelt betalt, de by synem erve geschreben stunden. Actum Tome anno XLIIII [21. Dezember 1444].

t

Folgt Streichung vorvoldenn pand.

34

Brügge, Stadt in Belgien.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Item noch hebben her Bartholt Buranner, Marten Kogge35 und Eynwolt Wrige36 22 lb. 15 s. van dem vorgeschrebenen up genamen van Willan Jacobß. Item nach zo heft her Meynard vam Steyne van dissem vorgeschrebenen gelt dem Rade geantword 500 guden m. etc. [S. 22 leer] [S. 23] Item vor desse nageschrebene personen lavet her Arnt Vinkenberch. Item Jacob Jansson 15 lb. 3 s. 4 d. Item Dirk Jansson 18 lb. 7 s. 6 d. Item Lem Lemsson 12 lb. 16 s. 8 d. Item Gilles Petersson 13 lb. 2 s. 6 d. Item Willem Nagel 14 lb. Item Peter Hugensß37 6 lb. 8 s.u Item Cornelies Fylert 16 lb. 10 d. In al 95 lb. 18 s. 10 d. facit 719,5 m. Item so heft he gelovet vor Jan Schreuel vor Bruͤ n Albertsß vor de beide vor 50 lb. gr. So hebn geschepet Jan Schreuel, Jan van Worre, Brun Albertsß onder em 153 last komt ellc last 2 m. suma is 306 m. u

Am Rande: +.

35

Zwischen 1431 und 1441 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 415 Mark, APGd., 300,43/ 1a, k. 181v; APGd., 300,43/1b, k. 358r. Im Jahre 1438 gewährte er zusammen mit Hans Swarten englischen Kaufleuten ein Darlehen in Höhe von 866 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 197v. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. III 68, 69, 107, 107a. 1446 Schöffe, 1449–1473 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Zwischen 1437 und 1438 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 66 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 148v, 199v. Najstarsze ksie˛gi kamlarskie (wie Anm. 25), Nr. III 166; Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 109, 111, III 28; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1789, 2007, 2205. Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1566, 1646; 2, Nr. 1853 §2.

36

37

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Roman Czaja / Cezary Kardasz

In al 125,5 m. Item Jan de Gayer is vor 11 lb. 5 s. hir vor sal he setten 3000 holtes. Item vor Kopheynnesß vor 3500 lb. gr. hir vor sale he setten en sestich holtes. Suma dat holt 347 m. [S. 24] Item vor desse nageschrebene personen lovet Albert Kornemarkt. Itemv Cornelies Andriesß38 16 lb. 7 s. 8 d. Itemw Jan Pape39 16 lb. 7 s. 8 d. Itemx Jan Wissensß 20 lb. 8 s. 4 d. Itemy Lawe Jansß, Jacob Lawensß 16 lb. Itemz Claes Wittensß 12 lb. 16 s. 8 d. Itemaa Claes Clautsß 12 lb. 10 s. 10 d. Itembb Lem Berwoltsß 14 lb. Itemcc Lambert Petersß 4 lb.dd Itemee Dirk Peter Dircbsß 13 lb. 2 s. 6 d.

v w x y z aa bb cc dd ee

Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am rechten Rand: +. Am linken Rand: +.

38 39

Ebd., 1, Nr. 1290. Ratsherr von Lemgo. Hanserecesse (wie Anm. 31) 2,2, S. 368.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Itemff Willem Stuffe 14 lb. 10 s. Itemgg Merten Puet 14 lb. 10 s. Itemhh Cornelies Bartolomesß 17 lb. 10 s.ii Itemjj Lawe Peter Lemsß vor 17 lb. minus 20 d. Suma van desen schippern is 189 lb. gr. Item noch vor Loeff Claesß 17 lb. 4 s. hir vor settet he. Item vor Lowen Jansß 15 lb. 5 s. hir vor settet he 2300 holtes van Pademken holte. Item vor Cornelies Jansß 12 lb. 10 s. 10 d. hir vor heft he gesettet 2000 holtes van Komantken holte. Item vor Lappan 13 lb. 2 s. 6 d. hir vor settet he 2000 holtes van Kamantken holte. Itemkk vor Peter Mowesß 8,5 lb. hir vor settet he 8 molenstene by sunte Gerdrut40. Itemll noch is vor borge vor Wisse Bowensß vor 25 lb. dar tu heft Wisse geschepet mit Loen Dirxson und Lemlemsß Jan Bouensß tu hope 43 last komt up elke last 2 m. is 86 m. Itemmm noch is he borge vor Pirlemsß mit den 11 lb. de van Heyne Hugensß is 25 lb. gr.

ff gg hh ii jj kk ll mm

Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am rechten Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +. Am linken Rand: +.

40

Gertrudenhospital in dem vorstädtischen Neugarten. In der Nähe befanden sich eine Mühle und eine Lohmühle, s. Paul Simson, Geschichte der Stadt Danzig, 1, Danzig 1913, S. 372.

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Roman Czaja / Cezary Kardasz

Itemnn vor Claes Poppensß, Jan Jacobsß41 16 lb. 13 s. 4 d. und dartu hebn se 4 last ander [?] schepet is 8 m. Suma an lb. gr. dar he borge is 322 lb. 6 s. 8 d. und an marken is 94 m. Item dat lb. gr. gerekent vor 7,5 m. facit 261 m. Item noch vor Albert Cutensß 21 lb. 17 s. hir vor settet he 3500 holtes. [S. 25] Item Hinrik van dem Berge42 lovet vor schipper Claes Jansß vor 16 lb. 6 s. 8 d. Item noch vor schipper Peter Rosart vor 7 lb. 7 s. 6 d.oo Suma 23 lb. 14 s. 2 d. Suma in gelde 177 m.pp 19 sc. sol 122,5 m. sol. Item Hans Moldenhawer43 heft gelovet vor schipper Hincze Jacobsß vor 26 lb. 5 s. Item noch vor schipper Michel Petermoppersß vor 27 lb. 20 gr. Suma 58 lb. 6 s. 8 d. Suma 337 m. 15 sc.

nn Am linken Rand: +. oo Am rechten Rand: +. pp LXXVII über LVII hinzugeschrieben. 41 42 43

Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1853. Zwischen 1428 und 1436 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 24,75 Mar, APGd., 300,43/1a, k. 220v; APGd., 300,43/1a, k. 102r. Im Jahre 1428 verschuldete er sich, zusammen mit Hans Vorman, mit 32 Mark. APGd. 300,43/1a, k. 89v. Zwischen 1443 und 1440 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 243 Mark, APGd., 300,43/ 1b, k. 298v, 304v, darunter nahm er einen Schiffsanteil als Pfand (eyn achtendeyl schepe in schippe Molenvelt und alle dat gelt, dat van den schepes part gevallen mach). Im Jahre 1439 verschuldete er sich mit 110 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 277r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 76, 76a.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Item Brun van der Ebe heft gelovet vor schipper Merten Floresß vor 6 lb. 11 s. 3 d.qq Item noch vor schipper Symon Cappun vor 13 lb. 2 s. 6 d. Item vor Symon Alensß 16 lb. 10 gr. Suma 35 lb. 14 s. 7 d. Suma facit 268 m. 3 s. Item Franse Voss heft gelovet vor schipper Willem Swanensß vor 7 lb. gr. Item noch vor schipper Wolter Jacobsß vor 10 lb. gr. Item Marquart Knabe heft gelovet vor schipper Claes Lambertsß vor 11 lb. gr.rr Item noch vor schipper Jan Egbertsß vor 7 lb. 3,5 guld. Item noch vor schipper Jacob Jansß 7 lb. 16 s. 4 d. Suma 26 lb. 3 s. Suma 196 m.ss Item Jacob Lolner heft gelovet vor schipper Jan Rade vor 13 lb. 3,5 guld. Suma 100 m. minus 4 sc. [S. 26] Item her Johann vamme Hagen is borge vor schipper Herman Woltersß vor 10 lb. 4 guld. Item noch vor dem schippern van Enchusen44 vor 9 lb. 3,5 guld. Item vor Jakop Cleisß45 9 lb. gr. Item vor Willem Jan Berndesß 5 lb. minus 2,5 s. in al 33 lb. Item noch vor Willem Jan Berndesß 4 last gudes 10 s. qq rr ss

Am rechten Rand: +. Am rechten Rand: +. Weiter IIII sc. minus.

44 45

Enkhuizen, Stadt in Westfriesland. Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1853 §2.

180

Roman Czaja / Cezary Kardasz

In al 260 m. minus 3 fird. Item Dirk Aldevelt, Hans Smerbart hebn gelovet. Item irste schipper Wilm Duͤ n vor 14 lb. 11 s. 8 d. Item Jan Scheuert vor 14 lb. 11 s. 8 d. Item Gilles van Dart tt3 lb. 2 s. 6 d. Item Anthony van Dart 20 lb. 10 s. Item noch vor Jan Pirwellensß46 25 lb. gr. Item vor Wilm Jacobsß47 25 lb. gr. Item vor Wilm Godbartsß 25 lb. gr. Voruu desse 3 personen samt her Meyart vamme Stene. Item noch vor Jacob Foppersß 8 lb. 6 s. 8 d. Dar up heft he geschepet 17 last gudes. Suma de lb. gr. sunder Vopperß 127 lb. 15 s. 10 d. Suma in al 992,5 m. Item Hans Swarte heft vorborget vor schipper Dirk Jacobsß vor 18 lb. 2 gr. Item noch vor Claes Rasen 11 lb. 5 s. Item noch vor Jacob Berntsß 7 lb. 11 s. Item noch vor Jan Gertsß 7 lb. 13 s. tt Ausradiert: x. uu Am linken Rand eine Verbindungslinie zu dem drei Zeilen höher stehenden Item. 46 47

Ebd., Nr. 1829 §4d. Ebd., 2, Nr. 1693.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Suma 44 lb. 9 s. 2 d. Suma facit 333 m. 9 sc. [S. 27] Item Franse Voss is borge vor schipper Jacob Petersßvv 7 lb. 13 s. 4 d. Item noch vor Wolter Jacobsß und Jan Schulten 10 lb. gr. Item noch vor Jan Petersß 11 lb. 10 s.ww Item noch vor Gert Gertsß 6 lb. 15 s. Item noch vor Jacob Jansß 5 lb. 15 gr. Item noch vor Allart Jansß 7 lb. 13 s. 4 d. Suma 48 lb. 7 s. 11 d. Item noch vor Wigczen Clenswager und Jan Remlensß vor de beide 12 lb. 10 s. Item noch vor Albert Dier 6 lb. 5 s. Hir op so hebben sey beiede gescheppet als als [s] Albert Dir et Wiger 28 last minus 1 quart, facit 55,5 m. Suma 418 m. 14 sc. 1 s., sol 200 m. Item noch Enwolt vor Wolter van Vlissingen 5 lb. gr. Item Enwolt Wryge is borge vor Jan Posk vor 50,5 last is 101 m. Item Enwolt mit Merten Koggen vor Gert van Sparwolde vor 10 lb. 6 s. 5 d. Item noch vor Claes Heyne 8 lb. 10 s. Item noch vor Peter Woltersß 6 lb. 14 s. Item noch se beiden vor Gert van Sparwolde vor 5 last. vv Vor- und Nachname auf Rasur geschrieben. ww Auf Rasur.

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Roman Czaja / Cezary Kardasz

Item noch Gerbrant Heynensß 22,5 last. Item noch vor Jakopxx Andresß 71,5 last. Item vor Meynart Berndesß 32 last. Suma de lb. gr. 30 lb. 10 s. 5 d., facit 229 m. minus 2 sc. In al 592 m. minus 2 sc. [S. 28] Item Hans Smerbart heft vorborget vor Gert Pieler 25 lb. gr. Item vor Jan Petesß 12 lb. 10 s. Item noch vor Symon Jansß48 14 lb. 15 gr. Item noch vor Ysbrant Jansß 10 lb. 10 s. Item vor Jacob Mensen 10 lb. 5 s. 6 d. Item vor Tydeman Molbater 8 lb. 11 s. 2 d. Item noch vor Claes Remboltsß 4 lb. 14 s. 3 d. Item noch vor Wilm Jansß 7 lb. 17 s. 6 d. Item so heft he lovet vor Ysbrant van Dymen vor 20 last vor elke last 2 m. is 40 m. Suma de lb. gr. 93 lb.yy 9 s. 8 d. Suma in alzz 741 m. 2,5 sc. [S. 29 loses Blatt, 21,5 x 9 cm] Bertolt Burammer hefft gelovet und is burge gewurden vor schipper Peter van Leyden vor 20,5 lb. gr. flamesch.

xx yy zz

Folgt Streichung and. Oben, durchgestrichenes: 68 lb. Folgt Streichung 713 m. 15 sc.

48

Ebd., 2, Nr. 1992.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Bertolt Burammer, Merten Koggen und Eynwolt Wryge geloven vor Pyr Vischer vor Heyne Copmansß beide van Westenschouwen49 vor se beide 22 lb. 15 s. Item so geloven Bertolt Merten und Eynwolt Vorß vor Willem Jacobsß vor 52 gude m. van syner taxerynge. Bertolt Burammer hefft vorborget und gelovet vor Johan Ryser vor 11 lb. und 10 gulden. Bertolt Burammer hefft gelovet vor Claus Willem Artesß vor 25 lb. [S. 30 leer] [S. 31] Item Cleis Storͤ maaa50 heft gelovet vor schepper Cleis Heynneß vor 6 lb. 15 s. Item noch vor Willem Swanenß van Schulten wegen 7 lb. gr. Item noch vor Jan Schulten 25 lb. Suma 38 lb. 15 s. Suma facit 290 m. 15 sc. Item Jakop Drutseman51 heft gelovet vor Jan Symonsß als vor 25 lb. Item vor Arnt Petersß vor 9 lb. Item vor Herman Grawert vor 5 lb. 16 s. Item vor Dideric de Vreisen 12 lb. 10 s. Suma 52 lb. 6 s.

aaa Folgt Streichung Jakop Wulff Jako. 49 50

51

Westenschouwen, Dorf in Seeland. Im Jahre 1428 gewährte er ein Darlehen in Höhe von 13 Mark., APGd., 300,43/1a, k. 84r. In den Jahren 1428 und 1440 verschuldete er sich mit 13,75 Mark; APGd., 300,43/1a, k. 89r.; APGd., 300,43/1b, k. 322r; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205; Najstarsze ksie˛gi kamlarskie (wie Anm. 25), Nr. III 257c. 1444 Schöffe der Rechtstadt Danzig. Najstarsze ksie˛gi kamlarskie (wie Anm. 25), Nr. III 257c.

184

Roman Czaja / Cezary Kardasz

Suma 392 m. 8 sc. Item Jakop Wulff52 heft gelovet vor schepper Jan Baie 6 lb. 8 s. Item vor Arnt Isenß 14 lb. 11 s. 8 d. Item vor Hughe Hogelant 17 lb. minus 20 gr. Suma 37 lb. 18 s. Suma 284 m. 5 sc. [S. 32] Itembbb Cort van Dalen53 heft gelovet vor Jan Igensß 7 lb. 13 s. 4 d. Suma 57,5 m. Item Hans Ploch54 borge vor Mertin Jakopesßccc. Item vor Gilis Kosten 7 last gudes Suma 79 m. 2 sc. Item Johan Muser55 borge vor Coppensß 14 lb. 3 gr. Suma 105 m. 2 sc. Item Herman Lunyng borge vor Johan Cleisß 7 lb. 13 s. 4 d.

bbb Am linken Rand: +. ccc Folgt Streichung: 8 lb. 13 s. 5 d. 52 53 54 55

Im Jahre 1434 gewährte er ein Darlehen in Höhe von 5,5 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 297r. Im Jahre 1440 verschuldete er sich mit 27,5 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 338r. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 45, 45a, III 11; Hanserecesse (wie Anm. 31), 2,2, S. 195. 1451 Schöffe, 1453–1460 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 58a, 109c, III 89, 89a, 142; Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1278. Hans Plog [?], Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. III 100b. Zwischen 1436 und 1440 gewährte er Darlehen in Gesamthöhe von 226 Mark. APGd., 300,43/ 1b, k. 76r, 295r. Im Jahre 1439 verschuldete er sich mit 110 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 276r; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Item vor Cleis van Monekedamme 25 lb. gr. Dor op heft Cleis gescheppet 54 last. Suma in al 165,5 m. Item Herman Boner56 borge vor Jan Lambertsß 7 lb. 10 s. Suma 56 m. 1 fird. Item Heinrich Buk57 borge vor Brandeken van Surwolde 5 lb. gr. Suma 37,5 mr. [S. 33] Item Rennolt Nederhoff58 borge vor schepper Erik 12 lb. gr. Suma 90 m. Item her Meynart Colner vor Jan Albertß 79,5 last. Suma 159,5 m. Item Hinrich van Staden59 vor Jakop Jansß 22,5 last. Suma 45 m. Item Arnt Jakopsß borge vor Peter Poppenß 4 lb. 7 s. 6 d.

56 57 58

59

Danziger Kaufmann. Hanserecesse (wie Anm. 31), 2,2, S. 134, 148, 156, 206, 207; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205. 1426–1446 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1238, 1243, 1281, 1306, 1320, 1480 §8, 1484, 1491, 1492, 1494–1496, 1502, 1503, 1508, 1510, 1511; 2, Nr. 1729, 1936. 1439 Schöffe, 1443–1480 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Im Jahre 1434 gewährte er ein Darlehen in Höhe von 32 Rheingulden. APGd., 300,43/1a, k. 338r. Najstarsze ksie˛gi kamlarskie (wie Anm. 25), Nr. III 143, 257a. Ksie˛gi małoletnich (wie Anm. 1), Nr. II 69a, 81, 101, 164, III 2, 43; Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1576; 2, Nr. 1853 §3, 1870, 1870 §4, 1872, 1882, 1936 §9, 1999, 2200, 2205, 2355, 2390; H. Samsonowicz, Badania nad kapitałem mieszczan´skim [Untersuchungen zum bürgerlichen Kapital], Warschau 1960, S. 114. 1446 Schöffe, 1446–1459 Ratsherr der Rechtstadt Danzig. Im Jahre 1429 gewährte seine Mutter ein Darlehen in Höhe von 10 Mark. APGd., 300,43/1a, k. 109r.

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Item Arnt Jakopesß 30 last gudes borge her Arnt van Telchten.60 Suma 92 m. 20 sc. Item Hans Hoyman borge vor Cornelius Copman Jakopsß 8 lb. 6 s. 8 d., dor op heft he gescheppet 23 last 1 quart. Suma 42,5 m. Suma 46 m. 12 sc. Item her Bertolt Burhamer und Wryge und Mertin Kogge loven to gaden vor Willem Jakopsß vor 53,5 last. Item Repin 12 last gudes. Suma 24 m. [S. 34] Item Peter Heynenß 7 lb. gr. to pande op der Junge Stad61 by Jakop Proit 3 anker. Suma 52,5 m. Item Dankwert Lemsß 13 lb. 10 s. toddd pande op der Jungen Stat under melden 2700 holtes. Suma 100 m. und 5 fird. Item Giise van Leyden heft over 50 last. Item Droge Hughe heft sin takel geset vor 25 lb. gr. Itemeee Tideke Buk62 20 last gudes. [S. 35] Item Herman Omesß heft gelovet vor Kop Wilemsß vor 11 lb. 19 s. 2 d.

ddd Folgt Streichung: be. eee Am linken Rand: +. 60 61 62

1431 Schöffe, 1434–1457 Ratsherr der Rechtstadt Danzig; Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 1939, 2147. Jungstadt Danzig. Schiffer von Danzig, Bronnen (wie Anm. 2), 1, Nr. 1307.

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

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Item nach vor Mertin Fflorensß 6 lb. 11 s. 3 d. Item vor Peter Koen 13 lb. 2 s. 6 d. Item vor Jan Otgerdersß 13 lb. 3,5 gulden. Suma in al 43 lb. 18 s. 9 d. Item Jan Pyr Wellensß63 heft gelovet vor Willem Kost vor 16 lb. 12 gr. Suma ere beide suma mak 61 lb. mynus 3 gr. Suma facit 457,5 m. minus 6 s. Item vor desse suma sal her Bertolt van Suchten to pande setten 5000 holtes und Mertin Kogge 4000 holtes. Und wert sake, dat dat holt nicht so gut en were so hevet Herman Omesß und Jan Pir Wellensß gelovet dat gut to done. Item Wolter de Vlamyng heft gelovet vor Jan Symonß vor 13 lb., dar vor settet he to pande under Jakop Pentzin 15 last roggen borge Wryge. Suma 97,5 m. Item Andres von Wensß 23 lb. 10 s. dar vor settet he under Hinrich Buk 4200 wagenschos. Suma 176 m. 1 fird. Item Gert Vechtersß64 10 lb. 4 gulden dar vor settet he under dem Jungen Cluver 1800 holtes. Suma 77 m. 14 sc. [S. 36 leer] [S. 37] Item Arnt van Wyk heft gescheppet 135 last minus 1 quart. 63 64

Im Jahre 1441 gewährte er ein Darlehen in Höhe von 54 Mark. APGd., 300,43/1b, k. 359v. Bronnen (wie Anm. 2), 2, Nr. 2205.

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Item heft gelovet vor schepper Diderich Wilemsß 14 lb. Item vor Jan Heynenß 13 lb. 2 s. 6 d. Item Arnt van Wyk und Willem Gerdesß hebn to gader gelovet vor Jakop van Wensß 13 lb. 2 s. 6 d. Item Willem Gerdesß heft gelovet vor Pir Hugenß 9 lb. 12 s. Item vor Herman Grawert 8 lb. 14 s. Item Willem Gerdesß heft gescheppet 46 last gudes. Item Jakop Jan heft gelovet vor Jan Boie 9 lb. 12 s. 10 d. Item vor Pir Vosart 5 lb. 15 s. Item vor Pyr Arntsß 15 lb. 3 s. 4 d. Item vor Pyrman 16 lb. 10 gr. Item vor Kosten Petersß 12 lb. 5 s. Suma 58 lb. 17 s. Item so hevet he gescheppet 113 last gudes. Item Jakop van Brakel heft gescheppet 12 last gudes. Item to borge, dat Kornema[r]k[t] gescheppet hevet, dat in den bril to h[aben]? hort dat op Kop van Brakel stet 30,5 last. Item vor Gilis Petersß 28,5 last. Item vor Brun van der Eyke 16 last. [S. 38–45 leer] [S. 46] Schippers

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Claes Lambertsß, Peter Kuel, Willem Swanensß, Cornelies Symonsß, Wolter Jacobsß, Jan Egbertsß, Gilles Petersß, Willem Nagel, Peter Hugensß, Cornelies Fylert, Peter Kennensß, Willem Stuͤ ffe, Peter van Leiden.

Namenweiser Ziffern verweisen auf die Seiten der Archivalie (s. Edition). Albertsß (Albertß), Jan 3, 33 Albertsß, Bruͤ n 3, 23 Aldeuelt, Dirk 26 Alensß, Symon 25 Andriesson, Jacob → Andriesß Andriesß (Andriesson), Jacob (Jakop) Andriesß, Cornelies 24 Ansted, van Claes 2, 18 Anstel, van Cleis → Ansted van Arntsß, Pyr 37 Artesß, Claus Willem 29

3, 27

Baie, Jan 31 Bartolomesß, Cornelies 20, 24 Berge, van dem Hinrik 25 Berntsß, Jacob 26 Berndesß (Berntsß), Meynart 3, 27 Berndesß, Willem Jan 26 Berstansß, Cornelies 19 Berstansß, Wilm 19 Berwoltsß, Lem 24 Betkensß, Johan 24 Boie, Jan 37 → Baie Bondersß, Wysse (van Czirchze) 2 → Bowensß, Wisse Boner, Herman 32 Bouensß, Lemlemsß Jan 24 Bouwerß, Johan 17 Bowensß, Wisse 24 → Bondersß, Wysse (van Czirchze) Brakel, von Jakop (Kop) 37 Brakel, van Kop → Brakel, van Jakop Buk, Heinrich 32, 35 Buk, Tideke 34

190 Bulk (Buͤ lk), Cleis 18 Burhamer (Buramer), Bertolt her

Roman Czaja / Cezary Kardasz

21, 29

Dalen, van Cort 32 Danqwartsß (Dankwartes), Cornelies Dart, van Anthony 26 Dart, van Gilles 26 Dier, Albert 3, 27 Dircbsß, Dirk Peter 24 Dirxson, Loen 24 Drutseman, Jakop 31 Duͤ n, Wilm 26 Dymen, van Ysbrant 28

4, 20

Ebe, van der Brun 25 Egbertsß, Jan 25, 46 Erik (Schiffer) 33 Eyke, van der Brun 37 Varvrer, Heyne 20 Vechtersß, Gert 35 Ferwer, Everd 2 Vinkenberch (Finkenberch), Arnt her 2, 3, 23 Visscher (Vischer), Peter (Pyr) 20, 29 Vlamyng, de Wolter 35 Vlissingen, van Wolter 27 Floresß (Fflorensß), Merten 25, 35 Voge, Willem l 2 Voppersß, Jakop 4 Vorß, Eynwolt 29 Vosart, Pir 37 Voss, Franse 2, 3 25, 27 Vot, Hope 19 Vreisen (Vryse), de Dideric 4, 31 Vryse, de Dirk → Vreisen Fylert, Cornelies 23, 46 Gael, Jan 3 Gayer, de Jan 23 Gerdesß, Willem 37 Gertsß, Gert 27

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

Gertsß, Jan 26 Gervleͤ t, Jan Jacob 2 Gilebrechtsson, Wolter 2 Gisebertsß, Wolter 20 Gocoppesß, Willam 2 Godbartsß, Wilm → Godewerdesß Godewerdesß, Willam 2, 26 Grawert, Herman 31 Hagen, vamme Johan her 3, 26 Heyne, Claes 27 Heyne, Coppyn 20 Heynensß, Aryan 19 Heynensß, Gerbrant 27 Heynenß, Jan 37 Heynneß, Cleis 31 Heynenß, Peter 34 Hildebrandesß, Symon 19 Hogelant, Hughe 31 Host, Claes 20 Hoyman, Hans 33 Huet, van Sander 19 Hughe, Droge 34 Hugensß, Heyne 24 Hugensß (Hugenß), Peter (Pir) 23, 37, 46 Igensß, Jan 32 Isenß, Arnt 31 Jakopsß (Jakopesß), Arnt 33 Jacobsß, Dirk 26 Jacobsß, Hincze 25 Jacobsß, Jan 3, 24 Jacobsß, Wilm (Willem) 21,26, 29 Jacobsß, Wolter 25, 27, 46 Jacobsson, Ghise (van Leyden) 2 Jacobß, Willan → Jacobsß, Wilm (Willem) Jakopsß, Cornelius Copman 3, 33 Jakopesß, Mertin 32 Jan, Jakop 37 Jansson, Dirk 23

191

192 Jansson, Huge → Jansß, Huge Jansson, Jacob → Jansß, Jacob Jansson, Reyner (von Wesp) 3 Jansß, Allart 27 Jansß, Huge 18, 20 Jansß, Jacob 23, 25, 27 Jansß, Claes (Cleis) (van Monkedamme) Jansß, Cornelies 24 Jansß, Lawe 24 Jansß, Olfert 18 Jansß, Symon 28 Jansß, Wilm 28 Jansß, Ysbrant 28 Johansß, Dideric 18 Johansß, Reyner 17

Roman Czaja / Cezary Kardasz

3, 25, 32

Cabbit, Claes 18, 20 Kakel, van Jacob 2 Capit, Claes → Cabbit, Claes Cappun, Symon 25 Kater, Willem 19 Kennensß, Peter 46 ͤ Kil (Kyel), Peter 18, 19, 46 Claesß, Jan 20 → Cleisß Claesß, Loeff 24 Clautsß, Claes 24 Cleis van Monekedamme → Jansß Cleisß, Jakop 26 Cleisß, Johan 32→ Claesß Cleneswager, Wigtzer Claes → Clenswager, Wigczen Clenswager, Wigczen 2, 27 Cluver, Hans de Junghe 3, 17, 35 Cluver, Jungen → Cluver, Hans de Junghe Knabe, Marquart 25 Koen, Peter 35 Kogge, Merten (Marten) 21, 27, 29, 33, 35 Kolner, Meynard her 3 Komantken 24 Kopheynnesß 23 Copluauensson, Heyne 20 Kopmannsß, Claes 20

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

Copmansß, Heyne 29 Coppensß 32 Cornemarket (Kornemarkt), Albert Kost, Willem 35 Kosten, Gilis 32 Kuel, Peter → Kiͤ l (Kyel), Peter Cutensß, Albert 24

2, 3, 24

Lambertsß, Jan 32 Lambertsß, Claes 19, 25, 46 Lameken 4, 17 Lanken 20 Lappan 24 Lawensß, Jacob 24 Lemsß, Pir (van Fflicien) 2, 24 Leiden (Leyden), van Peter 19, 46 Leien, van Johan 18 Leyden, van Gise (Giise) 19, 34 Leyn, Jan 2 Lemsß, Dankwert 34 Lemsß, Lawe Peter 24 Lemsson, Lem 23 Lolner, Jacob 25 Losenß, Anrt [!] 19 Lunyng, Herman 3, 32 Mensen, Jacob 28 Merten, Bertolt 29 Molbater, Tydeman 28 Moldenhawer, Hans 25 Motesß, Claes 19 Mowesß, Peter 24 Muser, Johan 32 Nagel, Willem 23, 46 Nederhoff, Rennolt 33 Oldevelt, Dideric her 4, 21 Omesß, Herman 19, 35 Ortsß, Cleis Willem → Willemortsß, Cleis

193

194 Oruessen, Herman (van Leiden) Otgerdersß, Jan 35

Roman Czaja / Cezary Kardasz

2

Pademken 24 Pape, Jan 24 Pappensson, Philips 19 Pentzin, Jakop 35 Petermoppersß, Michel 25 Petersson, Gilles → Petersß, Gilis Petersson, Jacob → Petersß, Jacob Petersson, Lambert → Petersß, Lambert Petersson, Laurentcz 2 Petersß, Arnt 31 Petersß (Petersson), Gilis 23, 37, 46 Petersß (Petersson), Jacob 20, 27 Petersß (Petesß), Jan (Johann) 2, 3, 27, 28 Petersß, Kosten 37 Petersß (Petersson), Lambert 20, 24 Petesß, Jan → Petersß, Jan Piel (Pieler), Geryt 2, 28 Pieler, Gert → Piel (Pieler), Geryt Pirlemsß → Lemsß Pirmorsß, Cornelies 20 Pirwellensß, Jan 26, 35 Ploch, Hans 32 Poppensß, Claes 3, 24 Poppenß, Peter 33 Posk, Jan 3, 27 Proit, Jakop 34 Puet, Merten 24 Pyrman 37 Rade, Jan 25 Rasen, Claes 26 Remboltsß, Claes 28 Remlensß, Jan 2, 27 Repin 33 Rode, de Diderik 18, 19 Rosart, Peter 25 Ryser, Jan (Johan) 19, 29

Kontakte der Danziger Stadtbürger mit niederländischen Kaufleuten und Schiffern

Scheuert, Jan 26 Scholle, Hans 18 Schreuel, Jan 2, 23 Schulte, Jan 2, 27, 31 Smerbart, Johan (Hans) 2, 3, 26, 28 Sparwolde, van Gert 27 Staden, van Hinrich 33 Stargard, Johan her 3, 4 Steyne (Stene), vam Meynert her 2, 4, 20, 21, 26 Storͤ m, Cleis 31 Stuffe (Stuͤ ffe), Willem 24, 46 Suchten, van Bertolt he r 19, 35 Surwolde, van Brandeken 32 Swanensß (Swanenß), Willem 25, 31, 46 Swarte, Hans 26 Symansson (Symonsß), Cornelies 20, 46 Symonsß (Symonß), Jan 2, 31, 35 Symonsß, Reel 18 Telchten, van Arnt her 33 Terrax, Johan her 4, 17 Tidemansß, Cleis 18 Wanden, van Flores 2, 20 Warde, van der Jan 20 Wellensß, Jan Pyr → Pirwellensß, Jan Wensß, von Andres 35 Wensß, van Jakop 37 Werden, van Hinrik 19 Wiger 27 Willem, Gude 18 Willemortsß, Cleis 3, 19 Wilemsß, Diderich 37 Wilemsß, Kop 35 Wilmsß, Alffer 2 Wissensß, Jan 24 Wittensß, Claes 24 Wittensß, Gillis 2, 20 Wold, van Vloress → Wanden, van Flores Woltersß, Hermann 26 Woltersß, Claes Jacob 3

195

196 Woltersß, Peter 27 Woltersß, Wilbort 19 Worre, van Jan 23 Wrige (Wryge, Wrygen), Eynwolt Wulff, Jakop 31 Wyk, van Arnt 37

Roman Czaja / Cezary Kardasz

19, 21, 27, 29, 33, 35

Janusz Tandecki

Ein Überblick über die Gesellenwanderungen in Polen im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit

Die Gesellenwanderungen sind in Westeuropa schon im 14. Jahrhundert belegt und ab der zweiten Hälfte dieses Zeitalters bis in das 19. Jahrhundert auch für die bedeutenden Handwerkszentren auf dem Territorium des heutigen Polen (Danzig, Krakau, Thorn, Breslau). Dieser Umstand weckte bisher kein großes Interesse der polnischen Forscher.1 Die meisten Forschungsergebnisse stützen sich auf die erhaltenen Statuten der Zünfte und Gesellenbruderschaften, verschiedene Sammlungen von Urkunden, Stadt- und Zunftbriefe, Gerichtseinträge sowie Bücher, die von den Zünften und Gesellenbruderschaften geführt wurden und in die man u. a. die Namen der in den Meisterbetrieben eingestellten bzw. in die Bruderschaften aufgenommenen Gesellen notierte. Ursprünglich betrachtete man die zu Arbeitszwecken unternommenen Gesellenwanderungen in eine fremde Stadt als eine gewisse Verlängerung der Lehre, die die Lehrlinge häufig in den von ihren Familienhäusern weit entfernten Zentren aufnehmen mussten.2 Mit der Zeit boten die Wanderungen den jungen Gesellen auch die Möglichkeit, 1 Am häufigsten setzte man sich mit der Frage der Gesellenwanderungen am Rande allgemeinerer Untersuchungen zum Handwerk und zu den Zunftorganisationen, seltener in Spezialstudien auseinander, vgl. beispielsweise Feliks Kiryk, Z dziejów we˛drówek czeladników krakowskiego rzemiosła metalowego, in: Rocznik Dydaktyczno-Naukowy WSP Kraków 35, 1970, Prace Historyczne V, S. 47–62. 2 Als Beispiel dafür kann ein Lehrling aus Breslau angeführt werden, der 1402 seine Lehre in Freiburg (im Uechtland) in der Werkstatt des Tuchscherers Meister Hermann begann, Knut Schulz, Handwerk im spätmittelalterlichen Europa. Zur Wanderung und Ausbildung von Lehrlingen in der Fremde, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1996, S. 69–98, hier S. 79. Vgl. auch Ksie˛ga cechowa złotników krakowskich 1462–1566, bearb. Bogusław Dybas´, Janusz Tandecki, Warschau 2000, Złotnicy krakowscy XIV–XVI wieku i ich ksie˛ga cechowa, II, hrsg. ´ ski, passim sowie Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 60, wo die Angaben über Jerzy Pietrusin die Lehrlinge der Krakauer Goldschmiedezunft zu finden sind, die beinahe aus dem ganzen Territorium der Rzeczpospolita und aus von Krakau weit entfernten Zentren und sogar aus dem Ausland (Aberdeen, Augsburg, Bremen, Hamburg, Kaschau, Leutschau, Lübeck, Nürnberg, Olmütz, Prag, Saint Andrews, St. Gallen, Stade, Wien etc.) stammten; sowie Bronisław Geremek, O grupach marginalnych w mies´cie s´redniowiecznym, in: Kwartalnik Historyczny 77 (1970), H. 3, S. 539–554, hier S. 543f.

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Janusz Tandecki

sich überhaupt um eine Arbeitsstelle zu bewerben oder einen besseren Lohn zu finden (in vielen Städten überstieg die Anzahl der freigesprochenen Lehrlinge wesentlich die Nachfrage der lokalen Werkstätten nach Lohnarbeitern). Nichtsdestoweniger war ihr Entschluss, die jeweilige Stelle anzutreten, weiterhin davon bestimmt, ob sie die von ihnen bisher erworbenen Berufsfertigkeiten vertiefen, ihre Denkhorizonte erweitern oder auch neue Leute und Länder kennen lernen konnten. Schon im Mittelalter wurde die Pflicht der zusätzlich unternommenen Wanderung manchmal sogar als Strafe vorgesehen, besonders wenn das eigene Meisterstück misslungen war (so beispielsweise nach den Statuten der Danziger Drechsler von 1458, der Lademacher nach 1482, des Metallhandwerks im 16. Jahrhundert oder der Elbinger Bäcker des Vollkornbrotes) bzw. wenn ein Geselle ein Delikt begangen hatte. Dass die Gesellen bestimmte Werkstätten bzw. Städte mehr oder weniger massenhaft verließen oder boykottierten, was wir in Danzig, Krakau, Thorn oder Breslau beobachten konnten, ging auf ihre Konflikte mit den Meistern und den Kampf um die eigenen Bruderschaften, Wirtshäuser bzw. höhere Löhne zurück. Wenn sie ihre Arbeitsstelle wechselten, spielten Faktoren wie die Höhe des in einem Stadtzentrum angebotenen Lohnes, die darin vorgesehene Arbeitszeit oder die zu einem bestimmten Zeitpunkt geführten Kriege bzw. die die einzelnen Regionen heimsuchenden (Pest-)Epidemien eine entscheidende Rolle.3 Seit dem 15./16. Jahrhundert mussten die Gesellen einiger Berufskörperschaften auf dem Territorium des heutigen Polen obligatorisch auf Wanderschaft gehen, was ihnen erlaubte, die Fülle der Gesellenrechte zu erwerben und später auch die Meisterprüfung abzulegen. So war es in Krakau, wo seit 1490 die zweijährige Wanderung für die Maler und die vierjährige (seit der Mitte des 16. Jahrhunderts) für die Goldschmiede vorgesehen war. Wenig später wurde sie auch für die Blechner dieser Stadt eingeführt (drei Jahre), für die Schmiede und Messerschmiede ( jeweils 2 Jahre, nach 1625 bis auf 3 Jahre verlängert4) sowie für die Nadler, die nur ein Jahr wanderten. Auch im Thorner Statut der Drechslerzunft aus dem Jahr 1594 wurde eine mindestens dreijährige Wanderung vorge3 Knut Schulz, Die Handwerksgesellen, in: Unterwegssein im Spätmittelalter, hrsg. Peter Moraw, Berlin 1985, S. 71–92, hier S. 73; Ders., Handwerk (wie Anm. 2), S. 69–97; Wilfried Reininghaus, Migrationen von Handwerkern. Anmerkungen zur Notwendigkeit von Theorien, Konzepten und Modellen, in: Handwerk in Europa. Vom Spätmittelalter bis zur Frühen Neuzeit, hrsg. Knut Schulz, München 1999, S. 203f.; Jerzy Wyrozumski, Zwia˛zki czeladnicze w Polsce s´redniowiecznej, in: Przegla˛d Historyczny 68 (1977), H. 1, S. 1–14, hier S. 4f.; Janusz Tandecki, Struktury administracyjne i społeczne oraz formy z˙ycia w wielkich miastach Prus Krzyz˙ackich i Królewskich w s´redniowieczu i na progu czasów nowoz˙ytnych, Thorn 2001, S. 83, 131, 133f.; Maria Bogucka, Gdan´sk jako os´rodek produkcyjny w XIV–XVII w., Warschau 1962, S. 313, 328, 361f.; Rudolf Wissel, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, II, hrsg. Ernst Schraepler, Berlin 1974, S. 211f. 4 Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 49.

Ein Überblick über die Gesellenwanderungen in Polen

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sehen und zwar besonders, wenn die Gesellen Meister werden wollten.5 In Bromberg galt für die Tuchmacher eine zweijährige Gesellenwanderung. Im 17. Jahrhundert verpflichtete man dazu auch die lokale Schuhmacherzunft, aber nur die Meistersöhne, die die väterliche Würde erlangen wollten, zumal sie ihren Beruf in den Betrieben ihrer Väter erlernten.6 Der massenhaften Einführung der obligatorischen Gesellenwanderungen setzten sich bisweilen die Meister entgegen, die aus Eigeninteresse die Lohnarbeiter, die es immer weniger gab, möglichst lange in ihrem Betrieb behalten wollten. Daher bestätigen einige Statuten der Danziger, Krakauer oder Thorner Zünfte, dass diese Wanderung nur dann erlaubt war, wenn es an Ort und Stelle keine Arbeit mehr gab und nachdem man die Zunftältesten darüber benachrichtigt, die Erlaubnis der Zunft (des Meisters) erworben und manchmal sogar eine eigene Vertretung gefunden hatte.7 Es ist zu betonen, dass es in einigen Städten damals auch Zünfte gab, die keine Wanderungen forderten. Ein Teil von ihnen, der sich vermutlich vor der Verbreitung ihrer Technologie und Arbeitsmethoden infolge solcher Wanderungen bzw. vor dem Verlust der notwendigen Lohnarbeiter fürchtete, verbot auch manchmal seinen Gesellen, in andere Städte zu ziehen.8 Zur Verbreitung der Wanderungen (vor allem in Preußen, aber auch in anderen großen Städten der Rzeczpospolita) trug im 16. Jahrhundert der zunehmende Zustrom der auf den Beruf wohl vorbereiteten Gesellen aus Westeuropa (vor allem aus Deutschland) in die oben genannten Gebiete bei, mit denen die schlecht ausgebildeten ortsansässigen Gesellen aus einigen Berufskörperschaften, welche bisher keine Wanderungen unternahmen, um die Arbeitsstellen gewöhnlich mit wenig Erfolg konkurrierten.9 Um dies zu ändern, verankerte man in den seitdem herausgegebenen Zunftstatuten bzw. Ratsbeschlüssen immer häufiger eine solche Verpflichtung und wies manchmal detailliert darauf hin, in welche Richtung sich die Gesellen bestimmter Zünfte begeben sollten. Die Wahl ´ ski, Złotnicy krakowscy XIV–XVI wieku i ich ksie˛ga cechowa, I, Warschau 5 Jerzy Pietrusin 2000, S. 61, 141; Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 49f.; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 132; Bogucka, Gdan´sk (wie Anm. 3), S. 313. Auf ähnliche Lösungen stößt man in Stettin, wo z. B. in den Zünften der Gerber (1608), Böttcher (1608) und Buchbinder (1614) eine zweijährige Wanderung obligatorisch war, dagegen in vier anderen Körperschaften eine dreijährige, Rudolf Wissel, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit, I, Berlin 1919, S. 151. 6 Kaz˙dy syn magistrowski, niz˙ magistrem zostanie, we˛drowac´ powinien dwie lecie pod wina˛ 10 złotych. (Jeder Meistersohn, bevor er selbst Meister wird, sollte zwei Jahre lang wandern, andernfalls mit 10 Zloty büßen), Statuty i przywileje cechów bydgoskich z lat 1434–1770, hrsg. Tadeusz Esman, Zenon Guldon, Bromberg 1963, S. 63, 71. 7 Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 133; Maria Bogucka, Gdan´skie rzemiosła tekstylne od XVI do połowy XVII w., Breslau 1956, S. 45; Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 52. 8 Piet Lourens, Jan Lucassen, Gilden und Wanderung. Die Niederlande, in: Handwerk in Europa (wie Anm. 3), S. 65–79, hier S. 66f. 9 Stanisław Herbst, Torun´skie cechy rzemies´lnicze. Zarys przeszłos´ci, Thorn 1933, S. 65, 167.

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solcher Reiseziele war damals sowohl von beruflichen Fragen als auch von religiösen Angelegenheiten beeinflusst (einige Körperschaften hatten einen eindeutig katholischen bzw. protestantischen Charakter) sowie von der Nationalität bzw. der Sprache. Manchmal entschieden darüber ebenfalls die Privatangelegenheiten, wie etwa die sich in einer bestimmten Stadt aufhaltenden Verwandten eines Gesellen bzw. jener Personen, mit denen die Vertreter seiner Familie ihre Geschäfte führten. In den Statuten der Thorner Zünfte wies man beispielsweise immer wieder auf die beliebten deutschen Städte hin (bei Stellmachern und Rademachern im Ratsbeschluss von 1634; die deutschen Schneider hingegen weigerten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Wanderschaft in die Rzeczpospolita zu gehen) bzw. – in anderen Körperschaften – auf bestimmte Stadtzentren, die wegen des hohen Niveaus des darin geübten Handwerks berühmt waren und in die sich die Gesellen begeben sollten.10 Ähnlich war es in Krakau, wobei die Krakauer Gesellen meistens nach Schlesien und in die deutschen Länder wanderten (Zinngießer, Kannengießer).11 An dieser Stelle kann man hinzufügen, dass beispielsweise die Thorner Kupferschmiede für ihre Reiseziele die Zünfte in Krakau, Danzig, Breslau und Nürnberg sowie die Bergbaustädte im damaligen Ungarn, und die Scherer die Städte außerhalb von Preußen wählten.12 Nürnberg war auch ein beliebtes Wanderziel der Gesellen aus den schlesischen Städten.13 Vermutlich begab sich ein Teil von ihnen u. a. in die Werkstätten jener Meister, die aus den besagten Städten abstammten und sich in anderen Ländern niedergelassen hatten. Es ist schließlich bekannt, dass im 15. Jahrhundert in London ein Goldschmiedemeister aus Danzig tätig war.14 Die meisten Gesellen wanderten zu Fuß bzw. mit Wagen, falls sich die Gelegenheit ergab. Es kam auch vor, dass sie ihre Ziele nicht nur auf dem Landweg, sondern auch auf dem Wasserweg (per Schiff) erreichten. Während ihrer Wanderungen gingen die Gesellen meistens auf den bereits festgelegten, meistens schon mehr oder weniger genau beschriebenen Wegen, die in bestimmte Städte führten. Auf Wanderschaft begaben sie sich in der Regel allein, obwohl sich 10 Archiwum Pan´stwowe w Toruniu / Staatsarchiv in Thorn (fortan: AP Torun´), Cech stelmachów i kołodziejów (Die Zunft der Stellmacher und Rademacher), Sign. 1. 11 Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 54f. 12 Das Statut vom 5. IX. 1642, AP Torun´, Cech kotlarzy (Die Zunft der Kesselschmiede), Sign. 1; Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 25f. 13 Es ist beispielsweise bekannt, dass ein gewisser Erasmus Schleupner, Sohn eines Neisser Goldschmieds, 1517 Geselle in Nürnberg war und um 1524 Meister in Breslau wurde, Erwin Hintze, Die Breslauer Goldschmiede. Eine archivalische Studie, Breslau 1906, S. 104, 152. 14 Schulz, Handwerk (wie Anm. 2), S. 73. Dort auch mehr zum Thema der Chronik aus dem 16. Jahrhundert, in der man auf weitere Angaben über die Wanderung Wolfgang Vincentz’, eines Goldschmiedegesellen aus Breslau, nach Italien, Frankreich und Flandern stoßen kann, ebd., S. 74–76. Vgl. auch Jens Röhrkasten, Handwerker aus Zentraleuropa im spätmittelalterlichen England, in: Handwerk in Europa (wie Anm. 3), S. 89f.

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einige von ihnen, die aus denselben Handwerkszentren stammten, wegen der Gefahren oder auch nur aus Geselligkeit in größeren Gruppen zusammenfanden. Die Reisenden führten kein großes Gepäck mit sich, was die seit dem 16. Jahrhundert erhaltenen Inventare der verstorbenen Gesellen bezeugen. Gewöhnlich waren es ein paar Stück Kleidung, manchmal etwas billiger Schmuck oder Werkzeuge.15 Wie bereits erwähnt, war die Zeit einer solchen Wanderung nicht fest und hing theoretisch mit dem Schwierigkeitsgrad eines zu erlernenden Handwerks zusammen, doch in der Praxis war sie auch von verschiedenen anderen ökonomischen und sozialen Faktoren abhängig. In vielen Zünften wurde sie im Laufe der Zeit als ein zusätzliches Hindernis angesehen, das die Meisterkandidaten überwinden mussten (neben dem Mutjahr, also dem Zeitraum, in dem die Gesellen das Meisterrecht in einer bestimmten Werkstatt erlangen konnten, auch das Meisterstück oder verschiedene Gebühren etc.). Man kann allgemein sagen, dass die neuzeitlichen Wanderungen in der Regel von einem Jahr bis zu sechs Jahren dauerten. In den Thorner Handwerkskörperschaften beispielsweise, und zwar im Falle von sechs Zünften, dauerte eine obligatorische Gesellenwanderung meistens zwei Jahre. Eine sechsjährige Wanderung galt dagegen für die Berufskörperschaften der lokalen Chirurgen, Schmuckler und Kammmacher. Vier Körperschaften bestimmten ihre Dauer auf fünf Jahre, vier andere auf vier Jahre, und vier weitere auf drei Jahre. Die kürzeste, einjährige Wanderung forderten die Thorner Zünfte der Gerber und Leinweber. Ähnlich war es in Danzig, wo z. B. in den Statuten der Weißgerber von 1592 eine einjährige Wanderung genannt wurde, nach der der Geselle zu jenem Meister, bei dem er seine Lehre machte, zurückkehren sollte. Die Böttcher forderten eine zweijährige Wanderung (seit 1621) und die Tischler und Holzschnitzer (seit 1605) sowie die Büchsenschmiede (seit 1631) eine dreijährige. Mit der Zeit wurden gewisse Änderungen vorgenommen. Für die Meistersöhne war manchmal eine abgekürzte Wanderzeit vorgesehen. In jenen Zünften, in denen erwachsene Männer zur Lehre aufgenommen wurden (wie etwa bei den Thorner Zimmerern), wies man zusätzlich darauf hin, dass eine solche Person nach der Gesellenprüfung zunächst ein Jahr an Ort und Stelle arbeiten, danach auf Wanderschaft gehen musste und erst dann heiraten konnte.16 Die Angaben zu verheirateten Gesellen kommen auf dem Territorium Polens schon aus dem Mittelalter. In Krakau beispielsweise wurden sie in der Willkür der Weber von 1424 erwähnt, obwohl damals in vielen anderen Zünften verboten 15 Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 138. 16 Eine mindestens zweijährige Wanderung war in einigen Zünften in Bromberg und Krakau ´ ski, Złotnicy (wie obligatorisch, Statuty i przywileje (wie Anm. 6), S. 63, 71; Pietrusin Anm. 5), S. 61; Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 180; Bogucka, Gdan´sk (wie Anm. 3), S. 313.

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wurde, solche Personen einzustellen. In der Danziger Zunft der Schneider und – ein wenig später – auch der Thorner Schmiede wurde den Gesellen nach 1454 verboten, vor der Meisterprüfung zu heiraten, doch galt dies keinesfalls für die Zunftwitwen und Meistertöchter. Später – wegen fehlender Lohnarbeiter, was immer wieder vorkam – verzichteten die meisten Berufskörperschaften auf solche Einschränkungen von Eheschließungen der einzelnen Gesellen ( jedoch wurden legale Beziehungen gefordert).17 Die Ehefrauen der Gesellen sollten sich auch eines guten Rufes erfreuen. In Stettin beispielsweise durften sich 1489 die in der Stadt tätigen Kürschner und 1536 die Schneidergesellen weder mit unwürdigen Frauen ehelich verbinden noch von ihnen ins Wirtshaus begleitet werden.18 Auf ähnliche Regelungen stößt man auch in anderen Städten. In einigen Zünften kam es auch dazu, dass bisweilen den Verheirateten der Vorrang vor den einsamen Fremden eingeräumt wurde, um in einer Werkstatt eingestellt zu werden, was nicht bedeutet, dass die Gesellenfamilien, die nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen suchten, auf berufliche Möglichkeiten in anderen Stadtzentren ganz verzichteten.19 Am Ende der Neuzeit beobachten wir in einigen wenigen der Thorner Zünfte, dass die Gesellen, die kein Deutsch sprachen (wie etwa die Maurer) bzw. jene Personen, die sich entschieden, an Ort und Stelle zu arbeiten, von der Wanderpflicht befreit wurden. Manchmal gewährte man ihnen gegen eine Gebühr eine legale Möglichkeit, sich von dieser Pflicht zu befreien (wie bei den Thorner Bäckern). Manche Berufskörperschaften verlangten selten keine Gesellenwanderungen (z. B. die Thorner Bierbrauer).20 In einigen anderen Stadtzentren erlaubten die Statuten den Meistersöhnen und -schwiegersöhnen, aber manchmal auch anderen Gesellen, sich von dieser Pflicht freizukaufen. So war es seit 1597 in der Krakauer Zunft der Nadler sowie in anderen dortigen Körperschaften des Metallhandwerks.21 Der Geselle, der während seiner Wanderschaft in eine neue Stadt gelangte, meldete sich am häufigsten im Wirtshaus einer Gesellenbruderschaft (falls eine solche bestand) bzw. direkt beim Ältesten der Bruderschaft und falls es diesen nicht gab, beim jüngsten Zunftmeister, der diese Funktion erfüllte. Bei großer Nachfrage nach Lohnarbeitern wurden sie von den Meistern in einigen Stadt17 Die Gesellen, die z. B. in Danzig oder Thorn mit Frauen, mit denen sie nicht verheiratet waren, erschienen, konnten dort höchstens zwei Wochen lang arbeiten, Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 124. 18 Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 143–145. 19 Bogucka, Gdan´sk (wie Anm. 3), S. 319f.; Theodor Hirsch, Danzigs Handels- und Gewerbsgeschichte unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, Leipzig 1858, S. 327; Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 342, 447. 20 Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 25, 87, 98, 128, 133, 182. 21 Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 49f., 61.

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zentren (wie Danzig) schon in den Wirtshäusern ausgewählt. Hier, nachdem der Ankömmling nach seiner bisherigen praktischen Erfahrung befragt und mit den lokalen Gewohnheiten vertraut gemacht worden war, wurde er an eine bestimmte Werkstatt verwiesen. In der Regel begleiteten ihn zwei ortsansässige Gesellen, die bei der Vertragsschließung vermittelten. Der Vertrag trat nach einer zweiwöchigen Probezeit in Kraft. Diesen Vorgang, der mit Gebühren verbunden war, trug man in die in den Zünften geführten Protokollbücher ein. In manchen Körperschaften (z. B. bei den Danziger Böttchern und Lademachern) konnte der Vertrag, anhand dessen der Geselle zur Arbeit aufgenommen wurde, nur zu gewissen Zeiten geschlossen werden, z. B. einmal im Jahr zu Michaelistag. Ähnliche Gepflogenheiten findet man in vielen Städten (Elbing, Krakau, Thorn etc.). In den meisten Zünften musste der neu angekommene Geselle nicht nur einen im Mittelalter üblichen Lehr- und Geburtsbrief,22 sondern auch – in der Neuzeit – eine beglaubigte Urkunde vorzeigen, die sein gutes Benehmen am vorigen Arbeitsplatz bestätigte, oder genaue Grußworte aus dem Ort, wo er sich früher aufhielt, wiederholen. Falls er dabei einen Fehler beging, zahlte er eine Büße. Manchmal, bevor er in der Werkstatt eingestellt wurde, forderte man von ihm, sich in die Gesellenbruderschaft einzukaufen. Falls er nicht imstande war, dies zu tun bzw. sich weigerte, eine dieser Bedingungen zu erfüllen, konnte er durch den Meister nur für zwei Wochen eingestellt werden, was ihm ermöglichen sollte, Geldmittel für die weitere Wanderschaft zu sammeln. Gab es in den Werkstätten in einer Stadt keine freien Plätze mehr, musste der Geselle in der Regel auf weitere Wanderschaft gehen, obwohl er im Falle der Danziger Tischler und Holzschnitzer, aber auch der Elbinger Schneider, Seilmacher, Riemer und Leinweber nacheinander alle Werkstätten des genannten Handwerks für 14 Tage besuchen konnte, bis er in einer endlich einen freien Platz bekam.23 Obwohl die Gesellenwanderungen seit dem 15. Jahrhundert relativ verbreitet waren, bemühten sich manchmal die Zünfte und die Stadtobrigkeiten – insbesondere angesichts der fehlenden Lohnarbeiter – darum, die Gesellen daran zu hindern, auf die Arbeitsstellen zu verzichten und die einzelnen Produktionszentren zu verlassen. Dazu dienten u. a. zahlreiche Beschlüsse der Zunftstatuten, die die Bedingungen bestimmten, welche der Geselle, der die Stadt verlassen 22 Im 17. und 18. Jahrhundert wurden sie immer häufiger durch die sog. Kundschaften ergänzt, die häufig gedruckt und mit den Ansichten einer Stadt, wo sie ausgestellt wurden, versehen wurden, die auch die wichtigsten Angaben über die Geburt und Herkunft eines Gesellen anführten, Knut Schulz, Identität im Handwerk des spätmittelalterlichen Thorn, in: Ständische und religiöse Identitäten in Mittelalter und früher Neuzeit, hrsg. Stefan Kwiatkowski, Janusz Małłek, Thorn 1998, S. 132; Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 225. 23 AP Torun´, Cech murarzy (Die Zunft der Maurer), Sign. 1; Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 339f.; Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 22, 30f., 47, 180; Bogucka, Gdan´sk (wie Anm. 3), S. 323; Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 51; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 138f.

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wollte, erfüllen musste, um weder bestraft noch mit einem Steckbrief gesucht zu werden. Die Überredung anderer zur Wanderung war untersagt. Für den Gesellen, der die Stadt verließ, galt eine bestimmte Kündigungsfrist (mindestens zwei Wochen), und die Wanderung begann gewöhnlich samstags bzw. sonntags (einige Zünfte legten fest, dass die Gesellen nur zweimal jährlich auf Wanderschaft gehen konnten, z. B. am Michaelistag und zu Ostern). Die Gesellen, die der Zunft oder dem Meister eine Strafe zu bezahlen hatten oder andere finanzielle Verpflichtungen gegenüber den Eigentümern der Gesellenwirtshäuser hatten, durften die Stadt überhaupt nicht verlassen. Für die Übertretung solcher Beschlüsse drohten Geld- und Haftstrafen. Manchmal flohen die Gesellen vom Meister oder vor der Strafe, wofür sie in ein „schwarzes Buch“ eingetragen wurden. Man sandte dann an andere Zünfte die sog. Triebbriefe mit der Bitte, eine solche Person in jene Stadt, wo sie ihr Delikt begangen hatte, zurückzusenden, wo sie ihre Schuld büßen mussten. Dass die Gesellen ihre Werkstätte ohne Einwilligung des Meisters verließen, war manchmal eine allzu verbreitete Praxis. In der Krakauer Zunft der Schlosser und Uhrmacher beispielsweise trieb man dafür in den Jahren 1569 bis 1598 über 100 Personen hinaus. In einigen Zünften erlaubte man solchen verfolgten Gesellen, zwei Wochen lang zu arbeiten, während derer sie die Mittel für ihre weitere Reise sammeln konnten.24 Den Arbeitsvertrag des Meisters mit dem Gesellen unterzeichnete man in vielen Zünften nur zu bestimmten Zeiten (in der Regel am Michaelistag bzw. an Ostern und manchmal auch an Neujahr), gewöhnlich für die Zeitspanne von einem halben Jahr bis zu zwei Jahren. Seit dem 15. Jahrhundert galt in einigen Körperschaften (wie etwa bei den Thorner Schuhmachern), dass der Geselle, der seinen Vertrag mit dem Meister vorzeitig brach, in einer bestimmten Stadt keine Arbeit mehr bekommen konnte und in ein anderes Stadtzentrum umziehen musste. Die weitere Wanderung wurde manchmal auch als Strafe für die fehlende Bereitschaft, eine ständige Arbeit in der Stadt aufzunehmen, vorgesehen. (Der fremde Geselle konnte in der Regel dreimal seine Werkstatt wechseln, beim vierten Mal musste er die Stadt verlassen.) Es gab aber Situationen für bestimmte Gruppen der Lohnarbeiter, wie etwa in Preußen für die Seeleute und Schiffer an der Weichsel, denen nach dem Hochmeistergesetz von 1385 harte Strafen drohten, wenn sie das Schiff eigenmächtig verließen. Ihnen wurden Ohren oder Hände abgeschnitten.25 24 AP Torun´, Generalia 11; Cech ciesielski (Die Zunft der Zimmerer), Sign. 1 (1587 r.), Cech cajgmacherów (Die Zunft der Zeugmacher), Sign. 1; Cech piekarzy i piernikarzy (Die Zunft der Bäcker und Küchler), Sign. 4; Statuty i przywileje (wie Anm. 6), S. 58; Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 24; Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 226f.; Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), S. 59f.; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 137. 25 AP Torun´, Cech szewców (Die Zunft der Schuhmacher), Sign. 1; Codex diplomaticus Prussicus, hrsg. Johannes Voigt, 4, Königsberg 1853 [ND Osnabrück 1965], S. 38f.; Ksie˛ga ce-

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Der Lohn der Gesellen war nicht zu hoch (in einigen Zünften bestimmte man auch seine Höchstgrenze). Daher erlaubte man ihnen bisweilen, neben der Arbeit im Meisterbetrieb, auch kleine Zusatzarbeiten für sich zu leisten, wovon die Überlieferungen aus Schweidnitz (1361), Krakau (1394; etzwene grose unde nicht hoer unde flammische hosen auch unse preeysen von zween grossen) oder Stettin (1536) zeugen.26 Es ist zu bemerken, dass man damals gewöhnlich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitete, denn das Licht der Kerzen oder Öllampen war in der Regel bei der Arbeit unzureichend. Zudem wurde manchmal in den Zunft- oder Stadtvorschriften wegen der Brandgefahr untersagt, bei Kerzenlicht zu arbeiten, so beispielsweise 1335 bei den Schweidnitzer oder Liegnitzer Leinwebern, obwohl es auch solche Berufe gab (z. B. Riemer), bei denen die Arbeit bei Kunstlicht im Herbst und im Winter normal war.27 Die in den polnischen Archiven erhaltenen Urkunden, Briefe und Zunftbücher informieren meist über die Gesellen, die in den einzelnen Städte ankamen, erlauben aber in der Regel nicht, genau zu bestimmen, wohin und wie zahlreich sie sich in andere Orte begaben, wenn sie diese Städte verließen. Wir stoßen in den Archivalien auf wenige eindeutige Angaben zu diesen Fragen. Zum Vergleich kann man nur darauf hinweisen, dass z. B. die Kürschnergesellen, die 1470 im französischen Straßburg eingestellt wurden, u. a. aus Krakau, Liegnitz, Breslau und Görlitz kamen.28 Auch die Quellen aus Danzig, Krakau, Thorn und aus anderen untersuchten Stadtzentren informieren gewöhnlich nur darüber, wo die Gesellen herkamen, die in den lokalen Werkstätten eingestellt wurden. An dieser Stelle sollte man an die Untersuchungen Jerzy Pietrusin´skis anknüpfen, der die Namen von über 70 Goldschmiedegesellen bestimmte, die in den Jahren 1464 bis 1579 in den Krakauer Werkstätten eingestellt waren. Jedoch nur bei wenigen von ihnen nannte man ihren Abstammungsort (u. a. Braunschweig, Emden, Danzig, Hamburg, Holstein, Sankt Joachimsthal in Böhmen, Leutschau, Lenczyca, Neisse, Passau, Rawa, das rumänische Sibiu, Speier, Strezow, Stettin, Tarnow, Vilnius).29 Man kann nur vermuten, dass sich z. B. die Krakauer, Thorner und Danziger Gesellen größtenteils in diejenigen Städte begaben, woher jene Personen, die in den lokalen Werkstätten eingestellt wurden, stammten. Gewisse Er-

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chowa złotników (Das Zunftbuch der Goldschmiede), Nr. 456, 615; Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 350f.; Herbst, Torun´skie (wie Anm. 9), S. 21; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 133. Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 394f.; Jan Drabina, Z˙ycie codzienne w miastach s´la˛skich XIV i XV w., Breslau 1998, S. 38. Wissel, Handwerks, II (wie Anm. 3), S. 402–404. Ebd., S. 164. ´ ski, Złotnicy (wie Anm. 5), S. 774–778; vgl. auch Kiryk, Z dziejów (wie Anm. 1), Pietrusin S. 60f., der für Krakau auch Gesellen aus Ungarn, Tschenstochau und Lemberg nennt.

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gebnisse über die Gesellen, die z. B. in Thorn ankamen, liefert die Analyse der Archivalien aus dem Bestand des lokalen Archivs, die im sog. Katalog III berücksichtigt wurden. Man findet da nicht nur die Empfehlungsbriefe jener Personen, die in die lokalen Zünfte aufgenommen wurden, Geburtsbriefe, Lehrbriefe sowie Arbeitszeugnisse der Gesellen und Meister, sondern auch die Moralzeugnisse und Taufzeugnisse oder Empfehlungsbriefe, die gewöhnlich dem Thorner Rat vorgelegt wurden, die aber auch den Zünften zur Verfügung gestellt werden konnten, und zwar wenn die Gesellen die Stadtrechte erwerben oder verschiedene Vermögens- und Erbangelegenheiten erledigen wollten.30 Anhand der im genannten Katalog berücksichtigten Archivalien kann man feststellen, dass z. B. die 1399 in Thorn angekommenen Gesellen größtenteils aus den damaligen polnischen Gebieten (Polnisch Krone, Posen, Pyzdry) und aus Schlesien stammten (zwei Personen aus Neisse, eine aus Breslau und eine aus Schweidnitz) und nur einer von ihnen direkt aus dem Deutschordensstaat in Preußen. Sie befassten sich mit dem Metallhandwerk (Schmiedehandwerk (zwei Personen), Zinngießerei, Messermacherei und Schlosserei) sowie mit der Stellmacherei, Badekunst und Schuhmacherei.31 Im folgenden Jahr 1400 listete man im Katalog 65 solche Urkunden und Briefe auf, von denen sich aber nur elf direkt auf die Wandergesellen beziehen. Die letztgenannten kamen damals hauptsächlich aus Schlesien (zwei Personen aus Neisse und jeweils eine aus Brieg, Liegnitz und Breslau), Böhmen und Preußen ( jeweils zwei Personen) und jeweils eine Person aus Posen und Wien.32 Ähnliche, unvollständige Angaben findet man auch für die anderen Jahre des 15. Jahrhunderts. Die ersten detaillierteren Informationen über die Lehrlinge und Gesellen, die in Thorn ankamen, stammen erst aus den 1540er Jahren, als solche Personen immer häufiger in die Zunftbücher eingetragen wurden.33 Die meisten Angaben dieser Art beziehen sich auf die Goldschmiedezunft, was sich u. a. daraus ergab, dass in diesem Handwerk bestimmte Berufsfertigkeiten erforderlich waren, die man schon seit dem Mittelalter größtenteils auch während der Wanderungen in anderen Goldschmiedezentren erwerben konnte. Aufgrund des seit 1540 erhaltenen Protokollbuches der Meister der Thorner Goldschmiedezunft ist festzustellen, dass man hier bis 1597 89 Lehrlinge aufnahm, die nicht nur aus Thorn 30 Mehr zum Thema dieses Katalogs siehe u. a. Andrzej Radzimin´ski, „Listy cechowe“ ze zbiorów Archiwum Torun´skiego i ich przydatnos´c´ do badan´ genealogicznych mieszczan´stwa, Ziemia Dobrzyn´ska. in: Zeszyty Historyczne Dobrzyn´skiego Oddziału WTN 2 (1992), S. 141– 145; Schulz, Identität (wie Anm. 22), S. 132f. 31 AP Torun´, Katalog III, Sign. 4021, 4026, 4027, 4030–4033, 4035. 32 Ebd., Sign. 4939, 4040, 4045, 4055, 4063, 4066, 4067, 4070, 4071, 4075, 4088. 33 Aus der früheren Zeit finden sich nur einzelne Überlieferungen, wie etwa über einen Lehrling aus Preußen in der Kölner Barbierzunft, Klaus Militzer, Ein Lehrjunge aus Preußen, Preußenland 38 (2000), S. 44–46.

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und seiner nächsten Umgebung stammten, sondern auch aus Bromberg, Danzig, Marienburg, Riedtheim, Stralsund oder Weißenfels, von denen sogar 41 direkt nach der Freisprechung die Stadt verließen und 24 nach dem Abschluss der Ausbildungszeit in den Werkstätten der Thorner Goldschmiede blieben (die übrigen 24 Personen werden in den Quellen nicht genannt).34 Mehr wissen wir von den Goldschmiedegesellen, die damals nach Thorn zogen. In den Archivalien der lokalen Goldschmiedezunft erwähnte man für die Jahre 1548 bis 1600 383 Gesellen, deren Herkunft nur im Falle von 294 Personen bekannt ist. Unter ihnen findet man 16 Personen aus Danzig, neun aus Königsberg, sieben aus Augsburg, jeweils sechs aus Bremen und Nürnberg. Aus Hamburg kamen nach Thorn fünf Personen, jeweils drei aus Braunschweig, Dresden, Lüneburg, Riga, Warschau und Vilnius, jeweils zwei aus Glogau, Groningen, Guttstadt, Krakau, Krems, Lübeck, Metz, Marienburg, Straßburg, Trier, Breslau und Görlitz. Die Gesellen aus anderen Städten erschienen in der Thorner Zunft nur einzeln. Darunter stößt man u. a. auf die Fremden aus Antwerpen, Bamberg, Berlin, Delft, Erfurt, Güstrow, Leipzig, Osnabrück, Paderborn, Paris, Schwerin, Ulm, Wittenberg und Zürich. In den besagten Archivalien der Zünfte nannte man auch die Gesellen aus Holstein und Ungarn ( jeweils drei Personen), Siebenbürgen (zwei) sowie Bayern, Böhmen, der Lausitz, der Neumark und der Steiermark. Zahlreiche, aber doch einmalige Angaben beziehen sich auf die Gesellen aus den Städten Preußens bzw. der benachbarten Gebiete, wie etwa Braunsberg, Brest, Gilgenburg, Preußisch Friedland, Elbing, Lyck, Graudenz, Guben, Memel, Kolberg, Heilsberg, Lowitsch, Allenstein, Wormditt, Plozk, Posen, Reval, Stargard, Stettin und andere. Die übrigen in den Quellen bezeugten Gesellen der Goldschmiedezunft aus Thorn (179 Personen), deren Herkunft nicht genannt wurde, kamen vermutlich hauptsächlich aus Thorn und der nächsten Umgebung.35 Ähnlich war es auch in der Thorner Zunft der Barbiere und Chirurgen sowie der Schmiede36, obwohl die Gesellen vermutlich auch im 34 AP Torun´, Cech złotników (Die Zunft der Goldschmiede), Sign, 4; AP Torun´, Katalog III, passim; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 135. 35 AP Torun´, Cech złotników (Die Zunft der Goldschmiede), Sign, 4; AP Torun´, Katalog III, passim; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 135. Es ist auch bekannt, dass sich z. B. 1669 unter den in Stettin eingestellten Kürschnergesellen u. a. auch Personen aus Erfurt, Danzig, Hamburg, Königsberg, Stargard, Stockholm, Breslau sowie Ungarn (Ordenburg) befanden, Wissel, Handwerks, I (wie Anm. 5), S. 164f. Auch in einem Breslauer Ratsschreiben, in dem man über die Teilnehmer und die Ursachen eines Aufruhrs der Tischlergesellen berichtete, nannte man ca. 100 Gesellen aus verschiedenen Städten aus beinahe ganz Europa, darunter u. a. aus Brieg, Königsberg, Posen, Riga, Thorn, Warschau und Breslau sowie allgemein aus Livland und Russland, ebd. S. 165. 36 1617 wurden in die Bruderschaft 17 Gesellen aufgenommen, von denen nur drei aus Thorn, zwei aus Königsberg und die übrigen aus Pommerellen und der Region (Strasburg in Westpreußen, Danzig, Elbing, Radziejów), Schlesien (Glogau, Breslau, Zittau) sowie aus Stralsund, Zürich und wenigen kleineren Städten stammten, AP Torun´, Bractwo czeladnicze balwierzy i

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Falle einiger anderer lokaler Körperschaften häufig vor allem aus den benachbarten Handwerkszentren kamen.37 Man kann annehmen, dass sich die Goldschmiedegesellen – abgesehen von den typischen bereits erwähnten Faktoren – wegen des hohen künstlerischen Niveaus sowie des guten Rufes des lokalen Goldschmiedehandwerks in der besagten Zeit angespornt fühlten, in die Thorner bzw. Krakauer Werkstätten aus weiten Teilen Europas zu ziehen. Ähnlich war dies im Falle der Wundärzte. Nicht ohne Bedeutung war hier die Sprache: die Danziger, Krakauer oder Thorner Meister verständigten sich mit den Gesellen in der deutschen Sprache, konnten aber auch mehr oder weniger gut Polnisch (die Breslauer auch Böhmisch), was die Ankunft der Gesellen aus den polnischen, litauischen und anderen Gebieten begünstigen konnte, da sie häufig kein Deutsch sprachen.38 Um die Ergebnisse zu den Gesellenwanderungen zusammenzufassen: Die ersten mittelalterlichen Gesellenwanderungen, die zu Arbeitszwecken in andere Städte unternommen wurden, betrachtete man anfänglich als eine gewisse Verlängerung der Ausbildungszeit. Mit der Zeit boten die Wanderungen den jungen Gesellen auch die Möglichkeit, überhaupt eine Arbeitsstelle oder einen besseren Lohn zu finden, vor allem wenn dabei die zu vertiefenden Berufsfertigkeiten im Mittelpunkt standen oder auch nur die Möglichkeit, Land und Leute kennen zu lernen. Seit dem 15. Jahrhundert wurde eine zusätzliche obligatorische Wanderschaft auch als Strafe nach der misslungenen Meisterprüfung vorgesehen. Manchmal verließen die Gesellen ihre Werkstätte aufgrund von Konflikten mit den Meistern. Auch Kriege oder Epidemien, die einzelne Regionen heimsuchten, waren Gründe für die jeweilige Entscheidung, in einer Werkstatt zu bleiben oder die Stadt zu wechseln. Seit dem 15./16. Jahrhundert wurden die Wanderungen in einigen Zünften auf dem Territorium Polens auch zu einer statutenmäßigen obligatorischen Pflicht, deren Erfüllung erst erlaubte, sich voller Gesellenrechte zu erfreuen und nachher auch den Meistertitel zu erwerben. Zur Verbreitung der Wanderungen im 16. Jahrhundert trug auch der Zustrom der auf den Beruf wohl vorbereiteten Gesellen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern in die Rzeczpospolita bei. Zu diesem Zeitpunkt hatten chirurgów (Die Gesellenbruderschaft der Barbiere und Chirurgen), Sign. 3. 1632 bestand die Gesellenbruderschaft der Schmiede aus 16 Mitgliedern, von denen die einzelnen Personen u. a. aus Bautzen, Görlitz, Halle, Leipzig, Posen und Breslau kamen, AP Torun´, Bractwo czeladnicze kowali (Die Gesellenbruderschaft der Schmiede), Sign. 2. 37 Vgl. z. B. AP Torun´, Bractwo czeladnicze cajgmacherów i gremplarzy (Die Gesellenbruderschaft der Zay- und Bomsinmacher), Sign. 2; Cech tokarzy (Die Zunft der Drechsler), Sign. 3 u. a. 38 Tadeusz Chrzanowski, Marian Kornecki, Złotnictwo torun´skie. Studium o wyrobach cechu torun´skiego od wieku XIV do 1832 roku, Warschau 1988, S. 43f.; Tandecki, Struktury (wie Anm. 3), S. 136.

Ein Überblick über die Gesellenwanderungen in Polen

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nicht nur berufliche Faktoren, sondern auch konfessionelle und nationale (sprachliche) Fragen einen Einfluss auf die Wahl der Wanderziele. Es scheint auch, dass in der besagten Zeitspanne die Stadt- und Zunftobrigkeiten diese Erscheinung nicht immer positiv bewerteten und sich wegen der fehlenden Arbeitskräfte darum bemühten, die Gesellen daran zu hindern, ihre Werkstätte und die einzelnen Produktionszentren zu verlassen.

Krzysztof Kwiatkowski

Stadtbürger in Waffen – Ein Verzeichnis bewaffneter Einwohner der Stadt Heiligenbeil aus dem Jahr 1540*

Im Frühling 1538 wurde die bisher den Krimtataren gehörende Burg Otschakiw (tatar. Dschankerman ‚Neue Burg‘) von einer türkisch-osmanischen Besatzung übernommen, die höchstwahrscheinlich von der Festung Akkerman (dt. Weißenburg) kam. Infolgedessen wurde die Wehranlage in türkisch Özi bzw. Özö Kalesi (‚Dnepr-Feste‘) umbenannt.1 Diesem beschränkten und relativ klein an* Der vorliegende Beitrag wurde im Rahmen des vom Narodowe Centrum Nauki finanzierten (Programm HARMONIA 8, Registriernummer: 2016/22/M/HS3/00157) und unter der Leitung von Roman Czaja realisierten Projekts „Social and political order of the communal towns in the European peripheries from the 12th to 16th c.“ vorbereitet. In dem Text werden folgende Siglen benutzt: GStA PK = Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin; XX. HA = XX. Hauptabteilung (Historisches Staatsarchiv Königsberg); OF = Ordensfolianten; Ostpr. Fol. = Ostpreußische Folianten; EM = Etats-Ministerium; DARPS = Documenta ex Archivo Regiomontano ad Poloniam spectantia, I pars: 447 doc. (A.D. 1525–1548), ed. Carolina Lanckoron´ska (Elementa ad fontium editiones, XXX), Rom 1973; VI pars: HBA, B 2, 1538– 42, ed. Carolina Lanckoron´ska (Elementa ad fontium editiones, XXXVI), Rom 1975; XVIII ´ ska (Elementa ad fontium editiones, pars: HBA, B 4, 1539–1541, ed. Carolina Lanckoron XLVIII), Rom 1979; XXVI pars: Ostpr. Fol., vol. 42, 43, 51, 1539–1540, ed. Carolina Lancko´ ska (Elementa ad fontium editiones, LVI), Rom 1982; BHAPWP = Die Beziehungen ron Herzog Albrechts von Preußen zu Städten, Bürgertum und Adel im westlichen Preußen (1525– 1554). Regesten aus dem Herzoglichen Briefarchiv und den Ostpreußischen Folianten, Tl. 1, bearb. Ursula Benninghoven (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 48,1), Köln, Weimar, Wien 2006; Türkensteuer = Die Türkensteuer im Herzogtum Preußen 1540, hrsg. Hans H. Diehlmann, Bd. 1: Fischhausen – Schaaken – Neuhausen – Labiau (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 88/1), Hamburg 1998; Die Türkensteuer im Herzogtum Preußen 1540, hrsg. Hans H. Diehlmann, Bd. 2: Memel – Tilsit (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 88/2), Hamburg 2006; Die Türkensteuer im Herzogtum Preußen 1540, hrsg. Hans H. Diehlmann, Bd. 3: Ragnit – Insterburg – Saalau – Georgenburg (Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., 88/3), Hamburg 2008; AKR = Das alte Kulmische Recht mit einem Wörterbuch, hrsg. Christian K. Leman, Berlin 1838; Grimm = Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Der digitale Grimm, elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung, bearb. Hans-Werner Bartz, Frankfurt/Main 2004 (http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB; letzter Zugriff 27.02. 2020). 1 Vgl. dazu Andrzej Dziubin´ski, Stosunki dyplomatyczne polsko-tureckie w latach 1500–1572 w konteks´cie mie˛dzynarodowym, Breslau 2005, S. 121, 171f.; ders., Polsko-litewskie napady

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gelegten militärischen Unternehmen der Hohen Pforte am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres, an der Mündung des Dnepr, folgte einige Monate später, im Sommer desselben Jahres, ein viel größeres kriegerisches Unterfangen. Im Juli zog nämlich ein türkisch-osmanisches Heer gegen den moldauischen Hospodar Petru IV. Rares¸. Sultan Süleyman der Prächtige sah in den intensiven Interaktionen zwischen Gesandtschaften Petrus IV. und des Römischen Königs Ferdinand I. eine Gefahr für die osmanischen Interessen in Moldau.2 Der Heerzug endete mit der Einnahme der Residenzstadt Jassy (rum. Ias,i) und der Thronabsetzung Petrus. An seine Stelle setzte der Sultan seinen Schwager S¸tefan V. La˘custa als neuen Hospodar ein.3 Um zukünftig die politische Lage in Moldau besser kontrollieren zu können, stellten die Osmanen im Oktober 1538 den südöstlichen Teil Moldaus, Budschak, unter ihre direkte Verwaltung. Weniger als sechs Monate nach dem Einzug in Otschakiw (Özi) erschienen türkisch-osmanische Besatzungstruppen in der nächsten an der nordwestlichen Schwarzmeerküste gelegenen Burg, nämlich in Tehinia. Diese wurde dann ebenfalls umbenannt in türkisch Bender.4 Diese militärischen und politischen Veränderungen in der Region lösten ernste Bedenken und sogar echte Befürchtungen bei der Polnischen Krone aus. Der schon vorher, Anfang 1537, erneut eröffnete Krieg gegen Petru IV. Rares¸ hatte, trotzt wechselhaften Verlaufs, die reale Möglichkeit geschaffen, die politischen Verhältnisse in Moldau zugunsten des polnischen Königs zu beeinflusna tureckie pogranicze czarnomorskie w epoce dwu ostatnich Jagiellonów, in: Kwartalnik Historyczny 103 (1996), Nr. 1, S. 53–86, hier S. 54f.; Władysław Pociecha, Królowa Bona (1494–1557). Czasy i ludzie Odrodzenia, Bd. IV, Posen 1958, S. 215. 2 Nicolae Jorga, Geschichte des rumänischen Volkes im Rahmen seiner Staatsbildungen, Bd. I: Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Allgemeine Staatengeschichte, Erste Abteilung: Geschichte ´ ski, Stosunki (wie der europäischen Staaten, 34), Gotha 1905, S. 379, 380f.; auch Dziubin Anm. 1), S. 118. 3 Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches, größentheils aus bisher unbenutzten Handschriften und Archiven, Bd. II: Vom Regierungsantritte Suleiman des Ersten bis zur zweyten Entthronung Mustafa des Ersten 1520–1623, Pesth 1828 [2. Aufl. 1834], S. 152f.; Nicolae Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches nach den Quellen dargestellt, Bd. II (bis 1538) (Allgemeine Staatengeschichte, Erste Abteilung: Geschichte der europäischen Staaten, 37), Gotha 1909 [ND Darmstadt 1997], S. 424–426; ders., Geschichte des rumänischen Volkes (wie Anm. 2), S. 381–383; Zdzisław Spieralski, Jan Tarnowski 1488–1561, Warschau 1977, ´ ski, Stosunki (wie Anm. 1), S. 120–122; Władysław Dworzaczek, HetS. 293–295; Dziubin man Jan Tarnowski. Z dziejów moz˙nowładztwa małopolskiego, Warschau 1985, S. 89; Pociecha, Królowa Bona (wie Anm. 1), S. 215–217. 4 Jorga, Geschichte des Osmanischen Reiches (wie Anm. 3), S. 426; ders., Geschichte des rumänischen Volkes (wie Anm. 2), S. 381; André Clot, Soliman le Magnifique, Paris 1983, S. 161f.; Peter F. Sugar, Southeastern Europe under Ottoman Rule 1354–1804 (A History of East Central Europe, V), Seattle, London 1977 [3. Aufl. 1996], S. 52; Colin Imber, The Ottoman ´ ski, Empire 1300–1650. The Structure of Power, Houndmills, New York 2002; S. 121; Dziubin Stosunki (wie Anm. 1), S. 121; ders., Polsko-litewskie napady (wie Anm. 1), S. 57; Spieralski, Jan Tarnowski (wie Anm. 3), S. 295; Pociecha, Królowa Bona (wie Anm. 1), S. 217.

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sen. Ende August 1538, d. h. lediglich sieben Wochen vor dem Einzug der osmanischen Truppen in Jassy, belagerte ein polnisches Heer die Burg Chotin (poln. Chocim), eine der bedeutendsten in Moldau, und konnte letztendlich dem Hospodar einen für die Polnische Krone günstigen Friedensvertrag aufzwingen.5 Die moldauische Intervention Süleymans zusammen mit dem Unternehmen gegen Otschakiw beunruhigte den Krakauer Hof aus mindestens drei unterschiedlichen Gründen. Zum ersten verlor die Polnische Krone ihren Einfluss in Moldau. Zum zweiten besetzten die türkisch-osmanische Truppen zwei neue, gut befestigte Orte samt ihren umfangreichen Vorfeldgebieten (d. h. Budschak und die Pola Oczakowskie ‚Otschakiwer Felder‘, türk. Özö kırı), was die völlige osmanische Kontrolle über die Dnepr- und Dnistermündung bedeutete. Zum dritten konnte die persönliche Teilnahme des Sultans an dem Heerzug nach Moldau6 bei der politischen Elite Polens den Eindruck erwecken, dass in der nächsten Zukunft der Schwerpunkt der osmanischen militärischen Aktivität von Ungarn und der Mittel-Donau-Region nach Moldau und den ruthenischen Gebieten der Polnischen Krone verschoben werde. Alle drei Aspekte, sei es in ihrer objektiven Bedingtheit, sei es in ihrer subjektiven Wahrnehmung als imaginierte Sachlage, schufen Ende 1538 im Königreich Polen einen außerordentlich dynamischen Diskurs, der die dortigen politischen Eliten neben vielen innenpolitischen Themen intensiv in Anspruch genommen hat. Der polnische Landtag, Sejm, der zwischen Mitte Dezember 1538 und Mitte Februar 1539 in Krakau

5 Zu den polnischen Kriegsunternehmungen gegen Moldau 1537–1538 vgl. Jorga, Geschichte des rumänischen Volkes (wie Anm. 2), S. 380f.; Marek Plewczyn´ski, Wojny i wojskowos´c´ polska XVI wieku, Bd. I: Lata 1500–1548 (Bitwy Taktyka, 35), Zabrze 2011, S. 394–399; ders., Udział jazdy obrony potocznej w walkach na południowo-wschodnim pograniczu Rzeczypospolitej w latach 1531–1573, in: Studia i Materiały do Historii Wojskowos´ci 26 (1983), S. 111– 142, hier S. 114f.; Dworzaczek, Hetman (wie Anm. 3), S. 81–84, 88f.; Spieralski, Jan Tarnowski (wie Anm. 3), S. 274–293; Zygmunt Wojciechowski, Zygmunt Stary (1506–1548), Warschau 1946 [2. Aufl. 1979], S. 362–365, 378, 380f.; Tadeusz Korzon, Dzieje wojen i wojskowos´ci w Polsce, Bd. I: Epoka przedrozbiorowa, Lemberg, Warschau, Krakau 1912 [2. Aufl. 1923], S. 201f. 6 Der Heerzug war das fünfte militärische Unternehmen Süleymans auf dem Nieder-DonauGebiet und zugleich das erste, das östlich vom großen Karpatenbogen (d. h. in Richtung der südöstlichen Gebiete der Polnischen Krone) geführt wurde, vgl. Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat 1300–1922 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 30), München 2001 [2. Aufl. 2008], S. 26. Trotz des auf Lebensdauer Sultan Süleymans und des polnischen Königs Zygmunt I. 1533 geschlossenen Friedensvertrags (nicht eines Waffenstillstandes, was in der damaligen ´ ski, Stosunki türkisch-osmanischen diplomatischen Praxis unüblich war, vgl. dazu Dziubin (wie Anm. 1), S. 94–100; Wojciechowski, Zygmunt Stary (wie Anm. 5), S. 306–308; Roman Z˙elewski, Dyplomacja polska w latach 1506–1572, in: Historia dyplomacji polskiej, Bd. I: Połowa X w. – 1572, hrsg. Marian Biskup, Warschau 1980 [2. Aufl. 1982], S. 587–801, hier S. 657) konnte diese militärische Präsenz der Hohen Pforte an den südöstlichen Rändern des Königreichs Polen viele dort verunsichern.

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tagte,7 wurde zum Kommunikationsraum, in dem die oben erwähnten Bedenken zur Türken-Sache immer häufiger zu Befürchtungen wurden.8 Dahinter standen sowohl zielgerichtet betriebene politische Propagandaaktionen des Teiles der Eliten, der antiosmanisch gesinnt war, als auch neue Geschehnisse, die Anfang 1539 stattfanden sowie Nachrichten aus Moldau in Gestalt von verschiedensten Gerüchten. Denen zufolge hätten die Osmanen an der unteren Donau Vorbereitungen für einen neuen Heerzug nach Norden unternommen, indem sie eine Brücke über diesen Fluss errichtet hätten mit dem Ziel eines Angriffes über Moldau auf das Königreich Ungarn.9 Am 28. Januar 1539 schließlich heiratete per procura die Tochter des polnischen Königs Zygmunt I. Stary (‚des Alten‘), Izabela, den König von Ungarn János Szapolyai (dt. Johann Zápolya).10 Schon Mitte Januar ist ein krimtatarisches Heer in Podolien, den südöstlichsten Teil des Königreichs Polen, eingefallen.11 Man rechnete mit einem neuen tatarischen Heerzug im Sommer, der nach gängigen Vorstellungen König Zygmunt I. daran hindern sollte, seinem neuen Schwiegersohn zu Hilfe zu eilen.12 Wenn der Krakauer Hof überzogenen, durch antiosmanische Propaganda stimulierte Erwartungen selbst nicht ganz folgte, so unternahm Zygmunt I. nach dem Sejm-Abschluss doch eine ganze Reihe von Handlungen, die zur militärischen, finanziellen und auch politischen Stärkung der Polnischen Krone während des zu erwartenden schwierigen Sommers 1539 führen sollten.13 Was haben aber die soeben skizzierten Geschehnisse in Moldau mit der preußischen Stadt Heiligenbeil zu tun? Der Zusammenhang ist überaus eng, und 7 Wacław Uruszczak, Sejm walny koronny w latach 1506–1540, Warschau 1980, S. 68 (Tabelle 4), S. 193 (Tabelle 11). ´ ski, Stosunki (wie Anm. 1), S. 121f. und Anm. 206 auf S. 122. 8 Dziubin 9 DARPS I, 188, S. 86; vgl. Dworzaczek, Hetman (wie Anm. 3), S. 93; früher auch Max Toeppen, Zur Geschichte der ständischen Verhältnisse in Preußen (Besonders nach den Landtagsacten), in: Historisches Taschenbuch N. F. 8 (1847), S. 301–492, hier S. 329. 10 Pociecha, Królowa Bona (wie Anm. 1), S. 218; Spieralski, Jan Tarnowski (wie Anm. 3), ´ ski, Stosunki (wie Anm. 1), S. 125; Z˙elewski, Dyplomacja (wie Anm. 6), S. 299; Dziubin S. 662 ( jedoch mit falschem Datum: 1. Februar 1539). 11 Vgl. DARPS XVIII, 306, S. 8; DARPS XXVI, 1608, S. 19, 20; GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 66, S. 467–472, hier S. 471 (= Regest: BHAPWP I, 1266, S. 549); DARPS I, 188, S. 86; vgl. dazu kurz ´ ski, Udział jazdy (wie Anm. 5), S. 116, Anm. 14. Plewczyn 12 DARPS I, 188, S. 86. 13 Vgl. Archiwum Główne Akt Dawnych, Metryka Koronna, Libri Legationum 8, Bl. 17v–18v, hier Bl. 18r-v; Archiwum Główne Akt Dawnych, Metryka Koronna, Libri Inscriptionum 58, Bl. 112r-v (= Regesten: Matricularum Regni Poloniae Summaria, excussis codicibus, qui in Chartophylacio Maximo Varsoviensi asservantur, ed. Theodorus Wierzbowski, pars IV: Sigismundi I regis tempora compectans (1507–1548), vol. 3: Acta vicecancellariorum, 1533– 1548, Warschau 1915, Nrn. 19714f., S. 123); vgl. Spieralski, Jan Tarnowski (wie Anm. 3), S. 301; Plewczyn´ski, Udział jazdy (wie Anm. 5), S. 116; Jan L. Adamczyk, Fortyfikacje stałe na polskim przedmurzu od połowy XV do kon´ca XVII wieku, Kielce 2004, S. 80. Einige von diesen königlichen Handlungen wurden jedoch bisher in der Fachliteratur kaum beachtet.

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dahinter wirkt ein gesamteuropäisches Phänomen, das in der modernen Geschichtsschreibung ‚Türkengefahr‘ genannt wird.14 Ganz in diesem mentalen Denkmuster scheinen die polnische königliche Kanzlei und Zygmunt I. gewirkt zu haben, als sie ein Schreiben verfassten, das am 8. März 1539 nach Königsberg an den Herzog von Preußen Albrecht von Brandenburg-Ansbach geschickt wurde.15 In dem Brief rief der polnische König seinen Vasall zu Hilfeleistung gegen Türken und Tataren auf, indem er dem Empfänger nicht nur allgemein neue reale Geschehnisse an den südöstlichen Rändern seines Reiches vorstellte, sondern auch die Vision eines osmanischen Heerzugs tief in die Gebiete der Polnischen Krone und nach Preußen und Danzig hinein ausmalte.16 Derartige Propaganda sollte auf den Rezipienten psychologisch einwirken. Möglicherweise spiegelte sie zum Teil auch wirklich die oben erwähnten antitürkischen Befürchtungen in Polen wider. Der königliche Hilferuf wurde von Albrecht ernst genommen. In den darauf folgenden Wochen hat er eine ganze Reihe von unterschiedlichsten Handlungen vorgenommen, die dies belegen. In ihrer Gesamtheit, in der sich Albrechts weit verzweigtes Kommunikationsnetzwerk inner- und außerhalb des Herzogtums Preußen spiegelt, können diese hier nicht in allen Details erörtert werden, son-

14 Von der zahlreichen Literatur seien hier nur die einschlägigen Studien erwähnt, vgl. Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: the Renaissance Image of the Turk (1453–1517), Nieuwkoop 1967; Carl Göllner, Turcica. Die europäischen Türkendrucke des XVI. Jahrhunderts, Bd. III: Die Türkenfrage in der öffentlichen Meinung Europas im 16. Jahrhundert (Bibliotheca bibliographica Aureliana, 70), Bukarest, Baden-Baden 1976; Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600 (Campus Historische Studien, 35), Frankfurt, New York 2003; Piotr Tafiłowski, „Imago Turci“. Studium z dziejów komunikacji społecznej w Polsce (1453–1572), Lublin 2013. 15 DARPS I, 188, S. 86f. Den Inhalt des Briefes fasst Reinhold Heling kurz zusammen in der Einleitung zum ersten Band seiner Edition der Verzeichnisse der sog. Türkensteuer 1540, vgl. ders., Einführung, in: Türkensteuer 1, S. 15*–54*, hier 22*–23*. Es existiert auch eine deutsche Übersetzung des königlichen Schreibens, vgl. GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 997, Fol. 94r–96r. Gertrud Mortensen, Das Herzogtum Preußen im Jahre 1540. Erläuterungen zu 4 Karten, in: Historisch-geographischer Atlas des Preußenlandes, Lieferung 5: Erläuterungen zu den Karten, Register zur Karte der als adelig geltenden Familien mit Landbesitz im Herzogtum Preußen 1540, hrsg. Hans Mortensen, Gertrud Mortensen, Reinhard Wenskus, Wiesbaden 1978, S. 1–22, hier S. 1, hat den Brief irrtümlich auf den 9. März datiert. 16 DARPS I, 188, S. 86f.: Videmus [d. h. Zygmunt I.; Anm. von K. K.] itaque Regnum nostrum estate hoc non omnino vacuum fore a periculo, vel a metu potius periculi, ac ut ad arcendum impetum Christo opitulante pares esse possimus. Quoniam tamen solet Caesar Thurcarum ad subitos rerum casus et eventus consilia plerumque sua accommodare, neque quicquam ei tuto credi potest, qui non diutius fidem cuique servare consuevit, quam quoad id sua videt interesse, non possumus non anxio esse animo et sollicito, cum nos et gravi cum Tartaris bello distentos fore intelligamus, et in ipsis faucibus Regni nostri potentissimi hostis tam validum exercitum futurum videmus, qui ut ad nos allatum est non incerto rumore, Prussiae, praesertim vero Gedanensi portui, valde dicitur inhiare.

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dern harren weiterhin ihrer Erforschung.17 Hier sei nur darauf hingewiesen, dass Albrecht schon am 26. März in einem Brief an den Hauptmann von Mohrungen Peter Burggraf von Dohna seine Bereitschaft zur Hilfeleistung für den König von Polen mitgeteilt und dabei seinem Amtmann geboten hat, entsprechende Heerschauen aller Dienstpflichtigen auf seinem Amtsgebiet durchzuführen, damit sie in Bereitschaft blieben, um dem möglichen herzöglichen Aufgebot folgen zu können.18 Aus einer anderen Quelle weiß man, dass auch andere Amtsleute derartige herzögliche Briefe damals erhalten haben.19 Am 10. April berief der Herzog einen Landtag nach Königsberg zum 4. Mai ein, auf dem die Sache einer Hilfsleistung für Zygmunt I. besprochen und beraten werden sollte.20 Nach regen Diskussionen zwischen den herzöglichen Hofkreisen und den Adels-, Freien- und Städteabgesandten beschloss man dort, eine Reihe von Abgaben einzuziehen, die als schoß oder anlage bzw. anlagegelt bezeichnet wurden.21 In der modernen, kritischen Geschichtsschreibung wurden diese Abgaben „Türkensteuer“22 oder auch „Türkenpfennig“23 genannt.24 Die auf diese Art und Weise aufzubringenden Finanzmittel waren für die Vorbereitung eines militärischen Unternehmens gegen die osmanischen Türken bestimmt. In der preußischen Landesgeschichtsforschung ist die Frage der Türkensteuer relativ gut erforscht.25 17 Auf einige Aspekte der damaligen Geschehnisse habe ich bei einer anderen Gelegenheit hingewiesen, vgl. Krzysztof Kwiatkowski, Przygotowania do wojny tureckiej w Ksie˛stwie Pruskim pod koniec 4. dekady XVI stulecia – miscellaneum z´ródłowe z 1540 roku [im Druck]. 18 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 997, Fol. 92r–v, 97r–v (vgl. eine Kurzfassung bei Heling, Einführung (wie Anm. 15), S. 24*–25*). 19 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 66, S. 545–547 (= Regest: BHAPWP I, 1300, S. 564). 20 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 997, Fol. 98v (zunächst wurde das Datum auf den 11. Mai bestimmt), 102v (vgl. eine Kurzfassung bei Heling, Einführung (wie Anm. 15), S. 26*); dazu auch Toeppen, Zur Geschichte (wie Anm. 9), S. 330; Norbert Ommler, Die Landstände im Herzogtum Preussen 1543–1561, Bonn 1967, S. 54; Mortensen, Das Herzogtum Preußen (wie Anm. 15), S. 2. 21 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 997, Fol. 106r–v, 107r, 108r, 110r. 22 Vgl. u. a. Mortensen, Das Herzogtum Preußen (wie Anm. 15), S. 3, 4, 5; Heling, Einführung (wie Anm. 15), S. 26*, 32*, 35*, 38*. 23 Ommler, Die Landstände (wie Anm. 20), S. 58f. 24 Eine Zusammenstellung aller damals verabschiedeten Abgaben liefern Mortensen, Das Herzogtum Preußen (wie Anm. 15), S. 2f.; und neuerdings auch Grischa Vercamer, Einführung, in: Türkensteuer 3, S. 7*–30*, hier S. 11*. 25 Neben der in den Anm. 22 bis 24 aufgeführten Literatur vgl. auch die Karten, die im Rahmen des „Historisch-geographischen Atlas des Preußenlandes“ bearbeitet wurden: Die Bevölkerung im Herzogtum Preußen 1540, Entwurf: Hans Mortensen, Gertrud Mortensen, Bearbeitung: Peter Stein, Kartographie: Heinz Henze, Bernd Ristau, in: Historisch-geographischer Atlas des Preußenlandes, Lieferung 5; Als adlig geltende Familien mit Landbesitz im Herzogtum Preußen 1540, Entwurf: Hans Mortensen, Gertrud Mortensen, Bearbeitung: Hans Dobbertin, Peter Lütgen, Gertrud Mortensen, Kartographie: Heinz Henze, in: ebd.; Der vermessene Grundbesitz im Herzogtum Preußen 1540, Entwurf: Hans Mortensen, Gertrud Mortensen, Bearbeitung: Peter Stein, Susanne Gaschütz, Gertrud Mortensen, Kartographie: Heinz Henze, in: ebd.; Der Viehbestand im Herzogtum Preußen 1540, Ent-

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Es reicht hier zu erwähnen, dass das ganze Fiskalunternehmen einen größeren Umfang annahm und insgesamt von 1539 über 1540 bis in das Jahr 1541 andauerte. Die zahl- und dabei informationsreichen Akten,26 die infolge der Türkensteuererhebung entstanden sind, werden für Untersuchungen zur historischen Demographie, Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Preußens schon seit über hundert Jahren benutzt.27 Wenig bekannt blieben bisher die Handlungen des herzöglichen Verwaltungsapparats der Jahre 1539 bis 1541, die die militärische Ebene der Vorbereitungen zum Türkenkrieg betreffen. Der Forschungsstand zu den ‚millitary affairs‘ des Herzogtums Preußen um die Mitte des 16. Jahrhunderts ist als kümmerlich zu bezeichnen. Eine Ausnahme bilden hier relativ weit fortgeschrittene Untersuchungen zu den militärischen Interessen und Schriften Herzog Albrechts, die in den letzten Jahren durch die Entdeckung neuer Handschriften wieder Schwung bekommen haben.28 Die wichtigen strukturellen Fragen der wurf: Hans Mortensen, Gertrud Mortensen, Bearbeitung: Peter Stein, Kartographie: Heinz Henze, in: ebd. 26 Zu den fiskalischen Akten vgl. Heling, Einführung (wie Anm. 15), S. 36*–37* (hier eine Auflistung). 27 Heling, Einführung (wie Anm. 15), S. 39*–41*; Reinhard Wenzel, Einführung, in: Türkensteuer 2, S. 7*–36*, hier S. 12*–30* (in beiden Publikationen findet sich auch die ältere Fachliteratur). 28 Es seien hier nur die neuesten Publikationen zu diesem Thema erwähnt (dort findet man Hinweise auf ältere Studien, meist aus dem 19. Jahrhundert): Matthias Rogg, Die Kriegsordnung Albrechts des Älteren von Brandenburg, Herzog in Preußen / „Porza˛dek wojenny“ Albrechta Hohenzollerna, ksie˛cia Prus, in: Die Kriegsordnung des Markgrafen zu Brandenburg Ansbach und Herzogs zu Preußen Albrecht des Älteren – Königsberg 1555 – Ms. boruss. fol. 441 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz. Deutsch-polnische Textedition, hrsg. Hans-Jürgen Bömelburg, Bernhard Chiari, Michael Thomae, Braunschweig 2006, S. 19–27 / S. 137–145; Tadeusz M. Nowak, Die polnische Fassung der Kriegsordnung Albrechts vor dem Hintergrund der preußisch-polnischen Beziehungen / Polska wersja „Porza˛dku wojennego“ Albrechta na tle stosunków polsko-pruskich, in: ebd., S. 29–38 / S. 147– 156; Stefan Hartmann, Äußerungen Herzog Albrechts zum Militärwesen in bisher kaum bekannten Quellen – Kriegsbuch und Briefwechsel, in: Beiträge zur Militärgeschichte des Preussenlandes von der Ordenszeit bis zum Zeitalter der Weltkriege, hrsg. Bernhart Jähnig (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 25), Marburg 2010, S. 191–231; Bogdan Burliga, „Ordunki“ versus „arkebuzy dymia˛ce“. Tradycja i nowoczesnos´c´ w Ksie˛gach o rycerskich rzeczach (Kriegsordnung) ksie˛cia Albrechta von Hohenzollerna, in: Organizacja armii w nowoz˙ytnej Europie. Struktura – urze˛dy – prawo – finanse, hrsg. Karol Łopatecki, Zabrze 2011, S. 47–62; Everhardus Overgaauw, Die zweite „Kriegsordnung“ des Markgrafen Albrecht von BrandenburgAnsbach (um 1555). Eine Neuerwerbung der Staatsbibliothek zu Berlin, in: BibliotheksMagazin. Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 3 (2011), S. 62–68; Marie-Luise Heckmann, Wehrhafte Reformation? Die ältere Kriegsordnung Herzog Albrechts von Preußen, in: Preussen und Livland im Zeichen der Reformation, hrsg. Arno Mentzel-Reuters, Klaus Neitmann (Tagungsberichte der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 28), Osnabrück 2014, S. 93–132; Mats Homann, Drei Erschießungshilfen zur „Älteren Kriegsordnung“ Herzog Albrechts, in: ebd., S. 133–153;

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militärischen Organisation des Herzogtums Preußen blieben fast unerforscht. Den in all ihren verschiedenen Facetten viel besser bekannten militärischen Aspekten der Herrschaft des Deutschen Ordens in Preußen29 stehen wertvolle monographische Studien zum Landesdefensionswerk und anderen damit verbundenen Fragen gegenüber, die das letzte Viertel des 16. und die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts betreffen.30 Betrafen die Forschungen von Marian Biskup den sog. Reiterkrieg (1519–(1521)–1525) und nahm er dabei einige Elemente des damaligen Heerwesens des Deutschen Ordens und des Preußenlandes in den Blick, ohne jedoch die nachfolgenden Dekaden zu berücksichtigen,31 so beziehen auch die gründlichen siedlungsgeschichtlichen Studien von Grischa Vercamer in militärischer Hinsicht nur die diesbezüglichen Pflichten einzelner Bevölkerungsgruppen bzw. -schichten (darunter besonders die des Adels und der sogenannten Freien) ein,32 wobei hier aus verständlichen Gründen einige wichtige

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Karol Łopatecki, Twórczos´c´ wojskowa Albrechta Hohenzollerna. Uwagi nad trzema manuskryptami przypisanymi w latach 2009–2014 Albrechtowi Hohenzollernowi, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 59 (2015), S. 163–188; ders., Military Works of Albert of Hohenzollern. Comments on the Three Manuscripts Attributed to Albert of Hohenzollern in the Years 2009–2014, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 61 (2017), Special Issue, S. 245– 273; ders., Kriegsbericht und Memorial – the first military work of Albrecht Hohenzollern, in: Folia Toruniensia 18 (2018), S. 23–31. Vgl. dazu einführend Krzysztof Kwiatkowski, Wojska zakonu niemieckiego w Prusach 1230–1525 (korporacja, jej pruskie władztwo, zbrojni, kultura wojny i aktywnos´c´ militarna) (u. Mitarbeit v. Maria Molenda) (Dzieje Zakonu Niemieckiego, 3), Thorn 2016 (hier auch weitere Fachliteratur). Vgl. Christian Krollmann, Die Begründung des Defensionswerks im Herzogtum Preussen unter dem Markgrafen Georg Friedrich und dem Kurfürsten Joachim Friedrich, Berlin 1904; ders., Das Defensionswerk im Herzogtum Preussen, II. Teil: Das Defensionswerk unter dem Kurfürsten Johann Sigismund, Berlin 1909; Otto Zimmermann, Das Defensionswerk im Herzogtum Preußen unter dem Kurfürsten Georg Wilhelm, Königsberg Pr. 1933; Adolf Lampe, Der Milizgedanke und seine Durchführung in Brandenburg-Preußen vom Ausgang des 16. Jhs. bis zur Heeresreform nach 1807, Berlin 1951; teilweise auch Heinz Immekeppel, Das Herzogtum Preussen von 1603 bis 1618 (Studien zur Geschichte Preussens, 24), Köln, Berlin 1975, hier S. 55–59; neuerdings, aber nur vorige Studien zusammenfassend Sławomir Augusiewicz, Przebudowa wojska pruskiego w latach 1655–1660. U z´ródeł wczesnonowoz˙ytnej armii, Auschwitz 2014, S. 19–43. Marian Biskup, „Wojna Pruska“ czyli wojna Polski z zakonem krzyz˙ackim z lat 1519–1521. U z´ródeł sekularyzacji Prus Krzyz˙ackich, Allenstein 1991, S. 55–60, 404–408, 472–474, 479–484, 492f., 500–502; auch ders., Wojny Polski z Zakonem Krzyz˙ackim (1308–1521), Danzig 1993, S. 265f. Grischa Vercamer, Siedlungs-, Sozial- und Verwaltungsgeschichte der Komturei Königsberg in Preußen (13.–16. Jahrhundert) (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 29), Marburg 2010, S. 319–327, 337–339, 361, obwohl sich auch dieser Forscher vor allem auf die Ordenszeit konzentriert.

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Aspekte übergangen werden, wie vor allem andere soziale Grundlagen des Heerwesens und die organisatorische Ebene der militärischen Praxis.33 Eine erste Untersuchung der Aktenquellen, die im Laufe der Geschehnisse 1539 bis 1541 sowohl auf der lokalen als auch der zentralen Verwaltungsebene entstanden und bis heute erhalten sind, zeigt eindeutig eine ziemlich enge Verbindung des Türkensteuererhebungsvorgangs mit anderen Maßnahmen, die wahrscheinlich der herzöglichen Regierung eine aktuelle Übersicht über die militärische Leistungsfähigkeit des Landes und dadurch auch die Bestimmung des Heerespotenzials ermöglichen sollten. Die auf der militärischen Ebene unternommenen Maßnahmen bestanden in erster Linie aus den sogenannten herschauen bzw. musterungen der Landesbewohner unter dem Gesichtspunkt ihrer Bewaffnung und ihrer Bereitschaft zur Erfüllung militärischer Pflichten.34 Obwohl Musterungen vor allem den zum militärischen Dienst verpflichteten Adel, die sogenannten Freien und daneben auch Krüger und Schulzen betrafen, was wortwörtlich im schon erwähnten Brief vom 26. März 1539 so angeordnet wurde35 und sich in der beträchtlichen Anzahl der damals verfassten Verzeichnisse auch widerspiegelt,36 bleiben diese Dienstpflichtigen nicht die einzigen 33 Einzelne Bemerkungen von Wilhelm Guddat, Die Entstehung und Entwicklung der privaten Grundherrschaften in den Ämtern Brandenburg und Balga (Ostpreußen) (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, 96), Marburg/Lahn 1975, S. 231f., 246, die nur Dienstgüter im Kontext der Sozial- und Bevölkerungsgeschichte betreffen, bleiben hier nur am Rande zu erwähnen. Auch in dem Werk von Henryk Zins, Powstanie chłopskie w Prusach Ksia˛z˙e˛cych w 1525 roku. Walki społeczne w Prusach w pocza˛tkach reformacji i ich geneza, Warschau 1953, S. 138f., wurde die militärische Ebene des Bauernaufstands im Herbst 1525 nur ganz am Rande betrachtet. 34 Dazu vgl. Krzysztof Kwiatkowski, Zakon niemiecki jako „corporatio militaris“, Tl. I: Korporacja i kra˛g przynalez˙a˛cych do niej. Kulturowe i społeczne podstawy działalnos´ci militarnej zakonu w Prusach (do pocza˛tku XV wieku) (Dzieje Zakonu Niemieckiego, t. I), Thorn 2012, S. 260f.; ders., Wojska (wie Anm. 29), S. 227. 35 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 997, Fol. 92r–v: So ist an dich unnser ernster bvelch, das wollest die umersassen deines vorwaltenden Ampts vom Adel, Freihen, Schultzen, Krugern und allen anderen so uns vormag irre briff sigil und gutter zudinen verpfflicht ins erste fur dich fordern, unnd inen den inhalt solchs koniglichen briffs vorlesen und deutlichen vormelden auch alsdan von unsere wegen ernstlichen auff legenn, das ein ider in der Rustung, wie er uns zudinen schuldig ßize, desgleichen das die fur dich selbst, auch mit deiner rustung inhalts deiner pflicht alß geschickt seyest uff das die sambt den unterthanen mit aller bereitschafft auff welche zeit unnd wohin sie von uns oder den unsernn erforder werdenn, in gantzer volkomner gutter Rustung sich zugestellen, fertig unnd geschickt sein. 36 Vgl. z. B.: GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Bd. 30, H. 1, Bl. 1a, 2r–79v (Vorzceychnuß der herrschafften, adel, freyen, schultisenn vnnd krugern, auch der paurenn vnnd dorfschafften, instleut vnnd gertner inn den acht cammeremptern auff Samlandt besessen, auch wumit ein ider is sonderheit meinem gnedigsten hern mit mhan, pfert vnnd harnisch zu dienen schuldig, vom 14. Juni 1540 = Edition: Türkensteuer 1, S. 130–174); GStA PK, XX. HA, EM 55a, Nr. 1a, Bl. 9r–v (Muster Zettel des Ampts Insterburgk, von 1540); GStA PK, XX. HA, EM 83 m, Nr. 1, Bl. 25r–29v (Register der musterung so auf befelch m g h im Ampth Thaplaucken sontag Jubilate mith dem freihenn gehaldenn unnd besehen im 1539). Eine weitreichende Zusammenstellung

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Sozialgruppen, die in dem hier besprochenem Zeitraum überprüft und verzeichnet wurden. Auch die dörfliche Bevölkerung wurde in verschiedenen Amtsgebieten Musterungen unterzogen.37 Ob diese Praxis im ganzen Herzogtum durchgeführt wurde, kann hier nicht geklärt werden, doch gibt es Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass dieses Vorgehen in allen Verwaltungsbezirken üblich war. Von diesen intensiven Musterungen ist auch die Stadtbevölkerung nicht verschont geblieben. Die Quellendokumentation dafür ist im Vergleich am spärlichsten, doch sind einzelne Überlieferungen zu finden.38 Das Verzeichnis, das unten in kritischer Edition abgedruckt ist, ist ein Beispiel für solche seltenen Funde. Es stammt aus dem Jahr 1540 und betrifft die Einwohner von Heligenbeil, einer der preußischen Städte, die im westlichen Teil des alten preußischen Niederlandes, in der Nähe der damaligen preußisch-ermländischen Grenze, lag und zum Hauptamt Balga gehörte.39 Sie stand unter der direkten Herrschaft Bischofs Georg von Polenz, der das ganze Hauptamt Balga von Albrecht von Brandenburg-Ansbach am 25. Juli 1525 zum Lehen bekommen hatte.40 Heiligenbeil, das

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derartiger Verzeichnisse, Musterrollen und Musterzettel bei Kwiatkowski, Przygotowania (wie Anm. 17) [im Druck]. Vgl. Kwiatkowski, Przygotowania (wie Anm. 17) [im Druck]. Vgl. u. a. GStA PK, XX. HA, EM 83 m, Nr. 1, Bl. 135r–136v (Burger der Stadt Czinten irschiennen mit ihrer wehre am 1 tage Septembris Anno ut supra im 40 / Muster zedel der stadt Zinttenn). Vgl. Theodor Winkler, Heiligenbeil, Kr. Heiligenbeil, in: Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte, Bd. 1: Nordostdeutschland, im Auftrage der Konferenz der landesgeschichtlichen Kommissionen Deutschlands mit Unterstützung des Deutschen Gemeindetages hrsg. Erich Keyser, Stuttgart, Berlin 1939, S. 59–61; Emil J. Guttzeit, Heiligenbeil, in: Ost- und Westpreussen, hrsg. Erich Weise (Handbuch der historischen Stätten), Stuttgart 1966 [2. Aufl. 1981], S. 82f. Georg von Polentz, Georg von Polentz, der erste evangelische Bischof, Halle 1858, S. 60, Anm. 65; Adolf Rogge, Das Amt Balga. Beiträge zu einer Geschichte des Heiligenbeiler Kreises, Altpreußische Monatsschrift 5 (1868), S. 115–140; 6 (1869), S. 116–141, 463–508; 7 (1870), S. 97–139, 603–647, hier 7 (1870), S. 9, Anm. 3; ders., Beiträge zu einer Geschichte des Heiligenbeiler Kreises (Fortsetzung von „Das Amt Balga“), in: Altpreußische Monatsschrift 8 (1871), S. 315–336, 701–718; 9 (1872), S. 97–112; 10 (1873), S. 34–51, 353–366, 549–565, hier 10 (1873), S. 355; Emil J. Guttzeit, Schuldner und Gläubiger des Bischofs Georg von Polentz im Amte Balga 1551, in: Ostdeutsche Familienkunde 1 (1953), 1, S. 2–10; 2, S. 37–39 (= in: ders., Natangen. Landschaft und Geschichte. Gesammelte Beiträge (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, 106), Marburg/Lahn 1977, S. 238–265, hier S. 238); ders., Unser Heiligenbeil. Ein geschichtlicher Rückblick (Neubearbeitung), in: 700 Jahre Heiligenbeil 1301–2001. Eine Zeitreise von Swentomest über Heiligenbeil nach Mamonowo, zusammengest. u. bearb. Georg Jenkner, Leer [2001], S. 19–34, hier S. 21. Zum Bischof vgl. Tadeusz Oracki, Słownik biograficzny Warmii, Prus Ksia˛z˙e˛cych i Ziemi Michałowskiej od połowy XV do kon´ca XVIII wieku, t. 2 (Biblioteka Olsztyn´ska, 15), Allenstein 1988, S. 85f.; Peter G. Thielen, Georg von Polenz, * Gärtitz bei Döbeln 1478. † Balga 1550. 4. 28., in: Altpreußische Biographie, Bd. II (Maltitz – Z), hrsg. Christian Krollmann, fortg. Kurt Forstreuter, Fritz Gause, Marburg/Lahn 1967, S. 512f.

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zwar nicht weit vom Frischen Haff entfernt war (ca. 3 km), doch wegen der topographischen Lage keinen günstigen Wasserzugang hatte, war am Ende des vierten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts eine kleine Siedlung mit stadtrechtlichen Freiheiten und einigen städtischen Funktionen auf der wirtschaftlichen Ebene. Die Privilegien, nach denen die Stadt das kulmische Recht besaß und von denen entsprechende herrschaftliche Urkunden im Reiterkrieg, wahrscheinlich am 22. Mai 1520,41 verloren gingen, sind durch die hochmeisterliche Urkunde vom 23. Januar 1522 erneuert und bestätigt worden.42 Dies ermöglichte einen relativ schnellen und dynamischen Aufstieg der Stadt, in der sich einige Handwerksarten in den nächsten Jahrzehnten entwickeln konnten, darunter die Bierherstellung.43 Nichtsdestotrotz blieb die Siedlung eine kleine Stadtgemeinde von geringer demographischer Größe und entsprechend beschränktem wirtschaftlichen Einfluss. Das hier edierte Verzeichnis beinhaltet eine Liste der Einwohner von Heiligenbeil, in der auch ihre Bewaffnung berücksichtigt wurde. Damit ist sie als ein Ergebnis von einer Heerschau bzw. Musterung zu betrachten und kann als ‚Stadtbewaffnetenverzeichnis‘ fungieren, obwohl der Liste auch eine kurze Notiz zu gemeinschaftlichen Waffen der Stadt hinzugefügt wurde. Die Bezeichnung ‚Heerschau(ng)‘ (in einer seltsamen Form hersawiung) befindet sich auch in der 41 Die Stadt wurde von einer Heerestruppe des polnischen Königs während der Kriegshandlungen im Rahmen des sog. Reiterkriegs (1519–(1521)–1525) niedergebrannt, vgl. dazu Hugo Eysenblätter, Geschichte der Stadt Heiligenbeil, Königsberg 1896, S. 32; auch Guttzeit, Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 24; ders., Der heimatliche Raum und seine Bewohner. I. Die Besiedlung des heimischen Raumes, in: Der Kreis Heiligenbeil. Ein ostpreußisches Heimatbuch, hrsg. Emil J. Guttzeit, Leer 1975, S. 107–252, hier S. 194; ders., Heiligenbeil (wie Anm. 39), S. 82; ders., Heiligenbeil als Soldatenstadt in sechs Jahrhunderten, in: 700 Jahre Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 71–80, hier S. 71; Winkler, Heiligenbeil (wie Anm. 39), S. 60; und Biskup, „Wojna Pruska“ (wie Anm. 31), S. 169. Das in vielen Werken genannte Datum 23. April 1520 scheint jedoch ein Irrtum zu sein. 42 GStA PK, XX. HA, Perg.-Urk., Schiebl. XXVI, Nr. 241 (= Edition: Eysenblätter, Geschichte (wie Anm. 41), S. 35–37; Regest: Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198–1525, Pars II: Regesta Privilegiorum Ordinis S. Mariae Theutonicorum / Regesten der Pergament-Urkunden aus der Zeit des Deutschen Ordens, bearb. unter Mitwirkung zahlreicher Anderer Erich Joachim, hrsg. Walther Hubatsch, Göttingen 1948, Nr. 4067, S. 445); vgl. dazu Walter Kuhn, Die Handfesten von 1522 und 1560, in: ders., Die Vergangenheit Heiligenbeils, o. J., S. 9f. (= in: 700 Jahre Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 49f.); Guttzeit, Heiligenbeil (wie Anm. 39), S. 82; ders., Der heimatliche Raum und seine Bewohner. V. Die Städte Heiligenbeil und Zinten, in: Der Kreis Heiligenbeil (wie Anm. 41), S. 281–300, hier S. 284; Winkler, Heiligenbeil (wie Anm. 39), S. 59, 60. 43 Vgl. Eysenblätter, Geschichte (wie Anm. 41), S. 42; Emil J. Guttzeit, Das Bürgerrecht mußte erworben werden. Heiligenbeil als Handwerkerstadt, in: Jahrbuch für den Kreis Burgdorf. Heimatkalender für das Jahr 1960, S. 81–84 (= in: Das Ostpreußenblatt 22 (1971), 37, S. 10 = in: ders., Natangen (wie Anm. 40), S. 300–304, hier S. 303); ders., Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 27; ders., Der heimatliche Raum und seine Bewohner. V. Die Städte Heiligenbeil und Zinten (wie Anm. 42), S. 284.

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Überschrift des Verzeichnisses. Danach ist es am 14. Dezember 1540 verfasst worden. Nimmt man die Stadtgröße in Betracht,44 kann man annehmen, dass die Überprüfung aller Stadtbewohner an einem Tag stattgefunden haben könnte. Ob die Liste während einer Inspektion aller Wohngebäude entstanden ist oder die wehrhaften Stadtbewohner bei einer Versammlung, möglicherweise auf dem Markt, gelistet worden sind, lässt sich nicht verifizieren. Für die erste Möglichkeit spricht die Erwähnung von fünf Witwen sowie die Tatsache, dass einer der verzeichneten Stadteinwohner, ein gewisser Hans Muller, auf der Liste zweimal vorkommt und zwar an zwei ziemlich weit entfernten Stellen,45 was nur dadurch zu erklären wäre, dass die Musterung eben nicht auf einer Einwohnerversammlung stattgefunden hat. Außer den gerade erwähnten fünf Stadteinwohnerinnen sind im Verzeichnis nur Männer aufgenommen worden und zwar nur diejenigen, die über irgendeine Bewaffnung verfügten. Ein Vergleich mit einer ein bisschen älteren, doch aus demselben Jahr stammenden Steuerliste von Heiligenbeilern46 zeigt eindeutig, dass man die Einwohner ohne Waffen auf der Liste nicht berücksichtigt hat. (Es handelt sich um 21 am 10. Juli 1540 besteuerte und in der Liste vom 14. Dezember nicht erwähnte Personen.47) Die einzige Ausnahme bilden in dem Fall die fünf erwähnten Witwen. Dies ist ganz und gar aus dem Kontext des kulmischen Stadtrechts zu verstehen, wonach über die persönliche Bewaffnung und Aus44 Die Siedlung erstreckte sich ca. 350 m von Westen nach Osten und ca. 250 m von Süden nach Norden. Diese planmäßige Anlage von trapezförmiger Gestalt war von einer Haupt-, und wahrscheinlich zwei Neben- und drei bzw. fünf Querstraßen durchzogen, vgl. die älteste vorhandene Stadtansicht in: Christoph Hartknoch, Alt- und Neues Preussen oder Preussische Historien, Frankfurt, Leipzig 1684, S. 414; dazu auch Winkler, Heiligenbeil (wie Anm. 39), S. 59f. Die breite Hauptstraße ist in der Fachforschung als ein Bestandteil von der genetisch ältesten Raumordnung der städtischen Siedlungen in Preußen betrachtet worden, vgl. Roman Czaja, Miasta i przestrzen´ miejska w pan´stwie zakonu krzyz˙ackiego w Prusach, in: Zakon krzyz˙acki w Prusach i Inflantach. Podziały administracjne i kos´cielne w XIII–XVI ´ ski (Dzieje Zakonu Niemieckiego, II), Thorn wieku, hrsg. Roman Czaja, Andrzej Radzimin 2013, S. 81–106, hier S. 93, 94 (= englische Fassung: Towns and Urban Space in the State of the Teutonic Order in Prussia, in: The Teutonic Order in Prussia and Livonia. The Political and ´ ski, Thorn 2015, Ecclesiastical Structures 13th–16th C., ed. Roman Czaja, Andrzej Radzimin S. 79–107, hier S. 92). 45 Vgl. unten die Quellenedition. 46 Vgl. GStA PK, XX. Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 1r–6v (und wiederholt auf Bl. 10r–15v); vgl. Emil J. Guttzeit, Die Einwohner der Städte Heiligenbeil und Zinten in den Jahren 1539 und 1540, Altpreußische Geschlechterkunde. Blätter des Vereins für Familienforschung in Ostund Westpreußen 1 (1927) [ND Hamburg 1987], S. 50–53 (= in: 700 Jahre Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 51–53) (hier zitiert nach der älteren, besseren Ausgabe – es handelt sich lediglich um eine Auflistung (unter Berücksichtigung der Besitzarten) der Vor- und Nachnamen von Heiligenbeilern, die in einem Türkensteuerregister vorkommen; alle anderen Angaben der Quelle wurden nicht berücksichtigt). 47 Umgekehrt ist dem Listenvergleich auch zu entnehmen, dass man 21 Personen, die der Musterung unterzogen wurden, einige Monate früher nicht besteuerte.

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rüstung eines jeden Stadtbürgers nach seinem Tod im Fall des Fehlens männlicher Nachfolger für kürzere Zeit seine Frau verfügen sollte.48 Somit stellt das Verzeichnis ein Mittel zur Erkundung des ist-Standes und nicht des soll-Standes der Bewaffnung von den Einwohnern der Stadt Heiligenbeil dar. Es kann also von keinem reformgesteuerten Vorgehen die Rede sein, sondern von einer bloßen Maßnahme, die eine aktuelle Übersicht über das militärische Potenzial des Heiligenbeiler Stadtaufgebots bringen sollte. Davon, dass die ganze Angelegenheit nicht von Stadtbehörden ausgegangen war, sondern ein durch die herzögliche Verwaltung angeordnetes Unternehmen war und damit ganz in die oben analysierten Handlungen eingebettet war, zeugt eine Notiz, die am Ende des Verzeichnisses zu finden ist. Sie bezieht sich auf die Klage von Dienstpflichtigen über die Steuererhebung, die einem herzöglichen Amtmann vorgebracht wurde. Da diese Notiz sich innerhalb derselben Papierlage befindet, in der alle Eintragungen des Verzeichnisses gemacht wurden, bleibt zweifellos anzunehmen, dass man es hier mit einem Kommentar eines Abgesandten des Hauptmanns von Balga49 bzw. Bischofs Georg von Polenz zu tun hat und dass einer der beiden der Empfänger der Auflistung und zugleich Auftraggeber der Heiligenbeiler Musterung gewesen sein dürfte. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass der Mann, für den das Verzeichnis bestimmt war und der die Notizen angefertigt hat, der Hauptmann von Balga selbst gewesen ist, doch diese Vermutung müsste durch tiefergehende paläographische Untersuchungen geprüft werden. Berücksichtigt man eindeutige Unterschiede zwischen den zwei Schreiberhänden des Verzeichnisses – die erste hat die Auflistung niedergeschrieben und die zweite hat die zusammenfassende Notiz und die oben erwähnte Klage, die das Verzeichnis abschließt, hinzugefügt –, so kommt man zum Schluss, dass der erste Teil des Verzeichnisses aus der Feder eines Heiligenbeiler Stadtbeamten stammte, wahr48 AKR, B. IV, § XLVII–XLVIII, S. 117. Die Heerschau/Musterung aus dem Jahr 1519 zeigt eindeutig, dass die Bürgerwitwen in preußischen Städten auf dem Herrschaftsgebiet des Deutschen Ordens verpflichtet wurden, einen Bewaffneten an ihrer statt zu stellen, vgl. GStA PK, XX. HA, OBA 22935, Bl. 136r: Es seint auch etliche witwen, die sollen auch an ir stadt knecht verschaffen; vgl. Thomas Lewerenz, Die Größenentwicklung der Kleinstädte in Ostund Westpreußen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, 101), Marburg/Lahn 1976, S. 41. Einer Schrift vom Jahr 1543 ist zu entnehmen, dass eine Witwe (alte Pariksche) in Heiligenbeil zur Wache, d. h. zu einem militärischen Dienst auf den Stadtbefestigungen, verpflichtet war, vgl. GStA PK, XX. HA, EM 10a, Nr. 1, Bl. 4r–9v („Heiligenbeil. Gravamina mancherlei Ort betr. O. J.“), hier 6r; dazu Wilhelm Krimpenfort, Der Grundbesitz der Landstädte des Herzogtum Preußens (Marburger Ostforschungen, 35), Marburg 1979, S. 249. 49 Hauptmann des Amtes Balga war 1540 Georg von Canitz, vgl. Rogge, Beiträge (wie Anm. 40), S. 361; Emil J. Guttzeit, Die Verwaltung des heimischen Raumes, in: Der Kreis Heiligenbeil (wie Anm. 41), S. 305–387, hier S. 308. Möglicherweise könnte es sich auch um den Amtsschreiber handeln; diese Stelle bekleidete 1536 Georg Tilo, vgl. GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 141, Fol. 259v; danach Rogge, Das Amt Balga (wie Anm. 40), S. 103, Nr. 206.

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scheinlich des Stadtschreibers,50 und der Abgesandte des Hauptmanns von Balga bzw. der Hauptmann selbst nach Entgegennahme der Auflistung von den Stadtbehörden seine Einträge hinzugefügt und dann das ganze Schriftstück mit nach Balga genommen hat. Dieselbe Hand, die die Abschlussnotiz angefertigt hat, hat auch eine kurze Bemerkung über den Zustand der Geschosse verfasst.51 Da diese Informationen nur infolge einer Besichtigung des darin erwähnten Stadttores erlangt werden konnten, ist anzunehmen, dass der Abgesandte bzw. der Hauptmann sich die Stadtbefestigungen angeschaut hat. Möglicherweise geschah das sogar direkt nach der Entgegennahme der Auflistung von den Stadtbeamten, wahrscheinlich in ihrer Begleitung. Die Liste von den bewaffneten Stadteinwohnern ist in drei separate Teile gegliedert. Der zweite und der dritte Teil wurden mit einer Überschrift versehen. Betrachtet man alle zusammen, ist eine Dreiteilung der Heiligenbeiler zu erkennen. Im ersten Teil wurden die Stadtbewohner aufgelistet, die Höfe (d. h. Häuser auf den Hofstellen) innerhalb der Stadtbefestigung besitzen. Das ergibt sich aus der Überschrift des zweiten Teils, nämlich Budeneren. Wenn also in diesem Abschnitt der Auflistung die Besitzer der sog. Buden (Budener, Büdner), d. h. kleineren Parzellen mit kleineren Wohnhäusern verzeichnet wurden, so musste es sich im ersten Teil um die Eigentümer der größeren Wohngebäude handeln.52 Auffallend bleibt dabei, dass in der zusammenfassenden Notiz, die nach den vorigen Überlegungen vom Gesandten des Hauptmanns bzw. dem Hauptmann selbst verfasst wurde, die Hausbesitzer als burger bezeichnet und von Budenern eindeutig unterschieden wurden, obwohl diese Unterscheidung im militärischen Kontext keine Rolle spielte.53 Außerdem entsprach das in keinem Fall realen innerstädtischen Rechtsverhältnissen in Heiligenbeil. Denn den 50 Offensichtlich hatte auch solch kleine Stadt wie Heiligenbeil einen Schreiber, der die städtische Kanzlei führte. Selbst in dem besprochenen Verzeichnis kommt eine Witwe von einem namenlosen alten Stadtschreiber (Alde Stadt schreiberssche eyne wytwe) vor, vgl. unten: Quellenedition. 51 Zum Inhalt vgl. dazu die Überlegungen unten. 52 Die Einteilung in die Besitzer von Häusern, die auf den Hofstellen (auch ‚Erben‘ und ‚Höfe‘ genannt) gebaut wurden, und die Budener, die in den sog. Buden wohnten, d. h. in auf kleineren Parzellen oder sogar ohne anliegendes Grundstück errichteten Häusern, war im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Preußen üblich, vgl. Erich Keyser, Der bürgerliche Grundbesitz der Rechtstadt Danzig im 14. Jahrhundert, in: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 58 (1918), S. 1–70, hier S. 18–35; Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Ann. 48), S. 50–53; Czaja, Miasta (wie Anm. 44), S. 95f. (= ders., Towns (wie Anm. 44), S. 94); Roman Czaja, Krzysztof Mikulski, Sozialökonomische Aspekte des Grundeigentums in preußischen Städten im Mittelalter, in: Questiones Medii Aevi Novae 6 (2001) (Medieval Properties), S. 103–127, hier S. 105f.; zu den Höfen und Buden in Heiligenbeil vgl. Guttzeit, Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 25f. 53 Die Bewaffnung der Haus- und Budenbesitzer war nämlich gleich, vgl. unten: Quellenedition.

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kulmischen Rechtsnormen gemäß konnte jeder, der ein immobiles Eigentum (d. h. ein Grundstück) innerhalb der Stadtbefestigung besaß, das Bürgerrecht erwerben.54 Somit mussten auch die meisten Budener der Stadt Heiligenbeil das Bürgerrecht genossen haben. Die Notiz spiegelt damit eher die sozialen Vorstellungen des Abgesandten des Hauptmanns von Balga bzw. des Hauptmanns selbst wider, die mehr auf die sozialen Eliten fokussiert waren und damit weniger die gemeinschaftliche Dimension des städtischen Lebens berücksichtigten. Die dritte Stadtbewohnergruppe wurde als Gertheneren vor der Stadt bezeichnet, d. h. Leute, die keine Parzellen in der Stadt besaßen und nur über kleine Landgrundstücke (Gartenstellen) und darauf errichteten Häusern außerhalb der Stadtbefestigungen verfügten.55 Aus den oben erwähnten Gründen erfreuten sie sich höchstwahrscheinlich des Bürgerrechts nicht, wobei ihre Aufnahme ins Verzeichnis davon zeugt, dass sie zu militärischen Pflichten herangezogen werden konnten.56 Stellt man alle aufgelisteten Namen zusammen, so kriegt man folgende Zahlen: Am 14. Dezember 1540 wurden in Heiligenbeil insgesamt 77 Hausbesitzer (davon vier Witwen), 23 Budener (davon eine Witwe) und 13 Gärtner gemustert. Es handelt sich also um 113 Heiligenbeiler, von denen 100 innerhalb der Stadtbefestigung wohnten. Vergleicht man diese Angaben mit denen für das Jahr 144757 sowie 157558 und 160259 bezeugten Zahl von 88 Höfen bzw. Hofstellen (Erben), könnte man zur Schlussfolgerung kommen, die Stadtfläche sei 1540 zu ca. 90 % bebaut und benutzt gewesen. So eine Annahme würde aber die damaligen Verhältnisse vereinfachen. Ein anderes Stadteinwohnerverzeichnis vom 14. Mai 1575 beinhaltet nämlich viele Einträge, wo einzelne 54 AKR, B I, § III–IV, S. 16; vgl. Guido Kisch, Studien zur rechtlichen und sozialen Gliederung der ständischen Bevölkerung im Deutschordenslande, in: ders., Studien zur Rechts- und Sozialgeschichte des Deutschordenslandes (Forschungen und Quellen zur Rechts- und Sozialgeschichte des Deutschordenslandes, 1; Schriften des Kopernikuskreises Freiburg im Breisgau, 8), Sigmaringen 1973, S. 15–86, hier S. 36f., 39, 45, 77, 81–85. 55 Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 42, 52; Krimpenfort, Der Grundbesitz (wie Anm. 48), S. 24, 236–238. 56 Auf die Gleichstellung der Nichtbürger und Bürger (Vollbürger) hinsichtlich verschiedener Rechtspflichten in preußischen Städten im Spätmittelalter hat Kisch, Studien (wie Anm. 54), S. 82, hingewiesen. 57 GStA PK, XX. HA, OF 162b, Fol. 10v; vgl. Guttzeit, Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 26; Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 67. 58 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 1279, S. 67–77 (= Verzeichnis (keine richtige Quellenedition): Emil J. Guttzeit, Eine Einwohnerliste der Stadt Heiligenbeil aus dem Jahre 1575, in: Ostdeutsche Familienkunde. Zeitschrift für Familiengeschichtsforschung 6 (1958), S. 5–9, hier S. 6–8 (= [in:] 700 Jahre Heiligenbeil (wie Anm. 40)), S. 54–57 – eine neue, jedoch ohne Anmerkungen abgedruckte Version des Beitrags; vgl. Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 93. 59 Vgl. Guttzeit, Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 26; Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 44, 67. Die Quellenvorlage dazu konnte trotz breiter archivalischer Suche leider nicht verortet werden.

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Stadtbürger nur Teile der Höfe (Hofstellen), d. h. ½, 2/3 und ¾ bzw. mehr als einen Hof (5/4 und 7/4) besaßen.60 So kommen dort mehrmals die aus dem hier erörterten Verzeichnis bekannten Stadtbürger vor, die nur ½ bzw. ¾ Hof besaßen.61 Aus diesem Grund ist eine genaue Bestimmung der Zahl von bebauten und benutzten Hofstellen in Heiligenbeil im Jahr 1540 nicht möglich. Anhand der Steuerliste hat Thomas Lewerenz die Zahl der Bürgerhäuser im Jahr 1540 auf 71 bestimmt.62 Auf wie viel bebauten Hofstellen sie damals standen, ist jedoch nicht zu verifizieren. Im Jahr 1575 betrug die Zahl der Bürgerwohngebäude von unterschiedlicher Größe insgesamt 222 (158 Häuser und 64 Buden).63 Ähnlich unbestimmbar bleibt auch die Gesamtzahl der Stadteinwohner von Heiligenbeil im Jahr 1540. Für eine detaillierte Betrachtung der demographischen Angaben verfügt man noch über die oben erwähnte Steuerliste vom 10. Juli 1540,64 die zugleich eine bessere Bewertung der Informationen über die Bewaffnung der Stadtbewohner von Heiligenbeil ermöglicht. Diese Liste verzeichnet 69 Hausbesitzer (davon zwei Witwen)65 und 31 Budenbesitzer und Gärtner (davon drei Witwen),66 die eine gemeinsame Kategorie bilden. Daneben wurden auch diejenigen Heiligenbeiler aufgelistet, die keine Besitzabgabe zahlen mussten und nur zur Viehsteuer verpflichtet waren.67 Auf der Liste vom 10. Juli finden sich 14 Personen (davon eine Witwe) dieser Kategorie. Somit stimmt fast genau die Zahl von 113 Personen in dem Bewaffnungsverzeichnis mit 114 Personen aus der älteren Steuerliste überein. Bleibt die Zahl der aufgelisteten Einwohner zwar fast gleich, so stimmen jedoch nicht alle Namen überein. Aus dem Vergleich beider Verzeichnisse ergibt sich eine etwas höhere Gesamtzahl von Heiligenbeiler Grundstückbesitzern, nämlich 133 Personen, davon neun Witwen. Darunter befinden sich auf beiden Listen 86 Hausbesitzer (davon zwei Personen, die zugleich auch Buden, und drei, die entweder Buden oder Gartenstellen besaßen), 21 Budener, 13 Gärtner, sechs Einwohner, deren Zuordnung zur Budener- oder 60 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 1279, S. 67–77; zu halben Höfen und der Zersplitterung „ganzer“ Höfe vgl. Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 62–68; der die Zahl der Bürgergrundstücke in Heiligenbeil in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf ca. 160 schätzt (ebd., S. 67). 61 Vgl. Hans Bule (¾ Hof), Hans Bierwolff (½ Hof), Petter Müller (½ Hof): GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 1279, S. 67, 71, 74 (= Guttzeit, Eine Einwohnerliste (wie Anm. 58), S. 6, 7, 8). 62 Ebd., S. 93. 63 Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 93, 94, 180. 64 Vgl. Anm. 46. 65 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 1r–2v (mit der Überschrift: Die Schatzung von der behaussung der Stad Heÿlig Beyl im xxxix und xl jare; die zweite Überlieferung: Bl. 10r–11v). 66 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 3r-v (mit der Überschrift: Von der behausung der gertner und Budener; die zweite Überlieferung: Bl. 12r–v). 67 GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 4r–6r (mit der Überschrift: Die Schatzung vom viech vonn der nacht ij schilling; die zweite Überlieferung: Bl. 13r–15r).

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Gärtnergruppe nicht möglich ist, und sieben Personen, die nur als Steuerzahlende aufgelistet wurden. Über die Gesamteinwohnerzahl von Heiligenbeil im Jahr 1540 kann man nur spekulieren. Würde eine Familie bzw. ein Haushalt durchschnittlich vier bis fünf Personen umfassen,68 so könnte man die Gesamtbevölkerung Heiligenbeils auf ca. 500 bis 625 Menschen schätzen. Die Überschrift auf der Steuerliste 1540, mit der die Gruppe von Hausbesitzern bezeichnet wurde, deutet aber darauf hin, dass man zu den Hausbewohnern außer Familiengliedern (im Sinne von Blutsverwandten) noch Handwerksgesellen hinzurechnen sollte.69 Unbeachtet bleibt dabei noch die ungewisse Zahl von Mägden und anderen Hausgenossen der vermögendsten Stadteinwohner.70 Die Erwähnung von 13 Gärtnern im Bewaffnungsverzeichnis von 1540 falsifiziert die Annahme von Emil Johannes Guttzeit, der zufolge sich die Heiligenbeiler Vorstadt erst im 17. Jahrhundert gebildet habe.71 Der Anstieg der Zahl von 22 Haus- und Budenbesitzern im Jahr 152872 auf 100 im Jahr 1540 und von Gärtnern entsprechend von drei im Jahr 152873 auf 13 im Jahr 1540 kann man zweifellos als Indiz für einen Wiederaufbau und zugleich für eine gewisse Anziehungskraft der sich nach 1520 entwickelnden Stadt betrachten.74 Das Hauptziel der Heerschau/Musterung war, wie schon erwähnt, das Erfassen des ist-Zustandes der Anzahl der bewaffneten Stadteinwohner von Heiligenbeil. Im Verzeichnis wurden überwiegend Angriffswaffen berücksichtigt, doch nicht deswegen, weil nur derartige Bewaffnung für die Musternden von Belang gewesen wäre. Von 113 aufgelisteten Stadtbewohnern (davon 108 Bewaffneten) verfügten nur fünf Männer über Defensivwaffen. In allen fünf Fällen bestanden sie aus einem Harnisch und Zubehör, das als gewere bezeichnet wurden. Die Arten von Harnischen wurden nicht genauer bestimmt, so dass man 68 So z. B. Roman Czaja in seinem Werk zur Sozialtopographie Elbings (mit breiter Berücksichtigung älterer Studien), vgl. ders., Socjotopografia miasta Elbla˛ga w s´redniowieczu, Thorn 1992, S. 33f.; für die Städte im Hanseraum Heinrich Reincke, Bevölkerungsprobleme der Hansestädte, in: Hansische Geschichtsblätter 70 (1951), S. 1–33, hier S. 2f. (= in: Die Stadt des Mittelalters, hrsg. Carl Haase, Bd. III: Wirtschaft und Gesellschaft (Wege der Forschung, CCXLV), Darmstadt 1973, S. 256–302, hier S. 258). 69 Vgl. GStA PK, XX. Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 9r: Dye Schatczung von den handt werkers gesellen und mussigk gengers. 70 Dazu vgl. Reincke, Bevölkerungsprobleme (wie Anm. 68), S. 24 (= in: Die Stadt des Mittelalters (wie Anm. 68), S. 289f.); auch Czaja, Socjotopografia (wie Anm. 68), S. 33. 71 Guttzeit, Unser Heiligenbeil (wie Anm. 40), S. 26. 72 Ebd. Die Quellenvorlage (d. h. ein „Visitationsrezess“), die von Eysenblätter, Geschichte (wie Anm. 41), S. 34, erwähnt wurde, konnte nicht verortet werden. 73 Ebd. Zur Quellenvorlage vgl. Anm. 72. 74 Im Jahr 1519 betrug die Zahl der Bürger 54, vgl. GStA PK, XX. HA, OBA 22935, Bl. 110v–111r; Lewerenz, Die Größenentwicklung (wie Anm. 48), S. 93 (mit irrtümlicher Angabe von 64 Personen). Doch 1520 erfuhr die Stadt große Zerstörungen, vgl. Anm. 41; dazu auch Eysenblätter, Geschichte (wie Anm. 41), S. 34.

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nicht weiß, welche sich im Besitz der Heiligenbeiler befanden. Es konnte sich um eine von vielen Varianten eines Plattenharnisches mit Schirmen für Arme und Beine, in Form eines Voll- oder Halbharnisches, oder aber um eine Brigantine (d. h. eine Art von Schuppenpanzer) bzw. einen Krebsharnisch oder Kürass handeln.75 Unter dem Namen gewere sollte man hier einen Helm verstehen können, möglicherweise samt einem Stück von Blankwaffen (z. B. Schwert, Dolch, Dussack bzw. Kord). Somit dürfte man die Ausrüstung dieser fünf Stadteinwohner als schwere Bewaffnung betrachten, die zugleich zum Fuß- und Reiterkampf geeignet ist. Man hat es hier mit einigen der reichsten Bürger zu tun, und die Tatsache, dass sie Hausbesitzer waren, ist kein Zufall.76 Der am häufigsten vorkommende Typus bei der verzeichneten Bewaffnung bleibt der Spieß, der sich im Besitz von 82 Stadteinwohnern befand, von denen jeder zugleich auch über eine Hauswehr (Langes Messer, Bauernwehr) verfügte. Diese kommt auffallend häufig im Verzeichnis unter dem aus dem Polnischen abgeleiteten Namen korde (poln. ‚kord‘) vor,77 was als Ausdruck polnisch 75 Es fehlt an tiefgreifenden Forschungen zur Bewaffnung im Preußen um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Zu den um die Mitte dieses Jahrhunderts benutzten Harnischen (sowohl von Fußkämpfern als auch von Reitern), die teilweise auch im vorigen Jahrhundert in Gebrauch waren, aber auch über die nächsten Jahrzehnte weiter zum Kampf angelegt wurden vgl. Wendelin Boeheim, Handbuch der Waffenkunde. Das Waffenwesen in seiner historischen Entwicklung vom Beginn des Mittelalters bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1890 [ND Hildesheim 1984], S. 67–119, 145–157; Claude Blair, European Armour circa 1066 to circa 1700, London 1958, S. 94–107; 117–140; Ewart Oakeshott, European Weapons and Armour. From the Renaissance to the Industrial Revolution, Guildford 1980, S. 75–107; Liliane & Fred Funkcen, Historische Waffen und Rüstungen. Ritter und Landesknechte vom 8. bis 16. Jahrhundert. Mittelalter und Renaissance, München 2001, S. 168, 169 (Tafel), 170, 171 (Tafel), 187 (Tafel, Nr. 1), 257f., 259 (Tafel); 260, 261 (Tafel, Nrn. 1–3), 262; Georg Ortenburg, Waffe und Waffengebrauch im Zeitalter der Landsknechte (Heerwesen der Neuzeit, 1), Koblenz 1984, S. 27–33; Heinrich Müller, Albrecht Dürer: Waffen und Rüstungen, Berlin 2002, S. 90–113; für das nicht weit von Preußen entfernte Schlesien vgl. Mariusz Cies´la, Bron´ renesansowa na S´la˛sku, Ratibor 2008, S. 12–32; vgl. auch die Analysen von Lech Marek, Europejski styl. Militaria z Elbla˛ga i okolic (Acta Universitatis Wratislaviensis, 3543; Studia Archeologiczne, XLVII), Breslau 2014, S. 106–108, zu zwei aus Preußen stammenden Plattenharnischen aus dem ersten bis dritten Viertel des 16. Jahrhunderts. Zu den Harnischen und Harnischgarnituren, die im Kreis des Deutschen Ordens im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Benutzung waren, vgl. Andrzej Nowakowski, Arsenały zamków krzyz˙ackich w Prusach na pocza˛tku XVI stulecia, in: Studia nad kultura˛ materialna˛ wieków od XIV do XVI, hrsg. Tadeusz Poklewski (Acta Archaeologica Lodziensia, 32), Breslau u. a. 1986, S. 43–59, hier S. 46–53. 76 Vgl. unten: Quellenedition; GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Bd. 2, H. 1, Bl. 1r (Pawel Freudental, Lazar Wolff, Merten Knaster), 1v (Jacob Steinborn, Hans Roße) (= Guttzeit, Die Einwohner (wie Anm. 58), S. 51, 52, 53). 77 Zu den Korden (Hauswehre, Bauernwehre, Lange Messer) kann man nur auf die Forschungen zu benachbarten Ländern wie Schlesien oder Polen bzw. Litauen hinweisen, vgl. vor allem: Lech Marek, S´redniowieczne i nowoz˙ytne kordy ze S´la˛ska, in: Acta Militaria Mediaevalia 2 (2006), S. 189–206; und besonders ders., Bron´ biała na S´la˛sku, XIV–XVI wiek (Wratislavia

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sprachlicher Einflüsse auf die Bevölkerung Preußens im 16. Jahrhundert interpretiert werden könnte. Diese Waffe wurde auch bei 21 anderen Heiligenbeilern registriert und somit bildet sie die am häufigsten vertretene Waffenart in der besprochenen Auflistung. In militärischer Hinsicht war aber der Spieß im Vergleich zum Kord von viel größerer Bedeutung. Die Hauswehr, besonders in seiner kürzeren Variante, galt in erster Linie als alltägliche Leibwaffe, die man vor allem zur persönlichen Sicherheit im öffentlichen Raum neben dem Messer oder an seiner statt tagsüber dabei trug.78 Der Spieß diente dagegen nur zum Kampf auf dem Schlachtfeld. Wie die Spieße von Heiligenbeilern aussahen, bleibt schwer zu bestimmen.79 Drei von 108 gemusterten Männern besaßen eine andersartige Antiqua. Studia z dziejów Wrocławia, 10), Breslau 2008, S. 45–65 (in beiden Werken findet sich auch die ältere Fachliteratur); Marian Głosek, Bron´ biała, in: Uzbrojenie w Polsce s´redniowiecznej 1450–1500, hrsg. Andrzej Nowakowski, Thorn 2003, S. 25–42, hier S. 38f.; Aleksander Bołdyrew, Piechota zacie˛z˙na w Polsce w pierwszej polowie XVI wieku, Warschau 2011, S. 199; zu Litauen vgl. Gediminas Lesmaitis, Wojsko zacie˛z˙ne w Wielkim Ksie˛stwie Litewskim w kon´cu XV – drugiej połowie XVI wieku, tłum. Beata Piasecka, Warschau 2013, S. 98, 102; Juras’ M. Bochan, Uzbraenne vojska VKL drugoj palovy XIV – kanca XVI st., Minsk 2002, S. 118–122; 257f.; ders., Zbroja Vjalikaga knjastva Litojskaga 1385–1576, Minsk 2003, S. 35f.; ders., Uzbraenne nasel’nictva belaruskich zjamel’ y XIV–XVI stagoddzjach, Minsk 2012 S. 35–37; zu Preußen lediglich mein Kommentar: Krzysztof Kwiatkowski, Auf die reyse ken Danczke. Chełmin´ska zapiska dotycza˛ca kontyngentu wojskowego – przyczynek do zagadnien´ wojskowos´ci miejskiej strefy bałtyckiej w póz´nym s´redniowieczu, in: Pis´miennos´c´ pragmatyczna – edytorstwo z´ródeł historycznych – archiwistyka. Studia ofiarowane Profesorowi Januszowi Tandeckiemu w szes´c´dziesia˛ta˛ pia˛ta˛ rocznice˛ urodzin, hrsg. Roman Czaja, Krzysztof Kopin´ski, Thorn 2015, S. 499–531, hier S. 504, Anm. 13 auf S. 504f.; vgl. auch die Beobachtungen von Marek, Europejski styl (wie Anm. 75), S. 64f.; vgl. allgemein auch Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 270; Heribert Seitz, Blankwaffen. Ein waffenhistorisches Handbuch. Geschichte und Typenentwicklung im europäischen Kulturbereich, Bd. I: Von der prähistorischen Zeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, München 1965, S. 217, 220; Eduard Wagner, Hieb- und Stichwaffen, übers. v. Hanna BarthováKacˇirková, Prag 1975, S. 20, 94; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 142; Heinrich Müller, Hartmut Kölling, Europäische Hieb- und Stichwaffen aus der Sammlung des Museums für Deutsche Geschichte, Berlin 1981 [2. Aufl. 1982], S. 80; Müller, Albrecht Dürer (wie Anm. 75), S. 63–65; Włodzimierz Kwas´niewicz, Encyklopedia dawnej broni i uzbrojenia ochronnego, Warschau 2017, S. 229f. Zu einem Langen Messer (Bauernwehr) bzw. Kord, der in der Nähe Elbings in Bielica 2009 aufgefunden wurde und aus dem 15. oder 16. Jahrhundert stammt, vgl. Olgierd Ławrynowicz, Piotr Pudło, Nóz˙ bojowy czy kord? Kilka uwag na temat zabytku z Bielicy, pow. elbla˛ski, in: Rocznik Elbla˛ski 23 (2010), S. 47–54; zu dem in Siarzewo (auf dem preußisch-kujawischen Grenzgebiet) 2005 aufgefundenen und auf das 15. Jahrhundert datierten Kord, vgl. Olgierd Ławrynowicz, Piotr Strzyz˙, Póz´nos´redniowieczny kord z Siarzewa koło Ciechocinka, in: Acta Militaria Mediaevalia 11 (2015), S. 244f. ´ ski, Aparat kontroli i działania prewencyjne przeciw przeste˛pczos´ci 78 Vgl. Michał Rogozin kryminalnej w s´redniowiecznym Toruniu, in: Rocznik Torun´ski 33 (2006), S. 7–26, hier S. 10– 12. 79 Zu verschiedenen Spießarten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (darunter zu Schefflinen (Schefflineisen)) vgl. Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 316; Nowakowski, Arsenały (wie Anm. 75), S. 54f.; Müller, Kölling, Europäische Hieb- und Stichwaffen (wie

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Stangenwaffe. In zwei Fällen wurde sie als langer spyß bezeichnet, einmal als peucker spis. Es handelt sich um einen Spieß, dessen Schaft sich durch seine Länge von üblichen Spießlängen unterschied, indem er ca. 3,8 bis sogar 5,2 m erreichte. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde dieser lange Spieß immer häufiger aus dem Französischen ‚Pike‘ genannt80, wovon auch die Bezeichnung peucker spis zeugt. Um 1540 wurde die Waffe überwiegend von deutschen Landsknechten benutzt, die dank ihr eine höhere Effektivität im Kampf erreichen konnten.81 Betrachtet man das Vorkommen der Pike als argumentum e contrario, ist anzunehmen, dass die überwiegende Mehrheit der Spieße eine kürzere Stangenwaffenart darstellte. Dieser Waffentypus wird im besprochenen Verzeichnis durch die Hellebarde ergänzt,82 über die vier Stadtbewohner (immer zusammen mit einem Kord) als Waffe verfügten. Vereinzelt sind auf der Liste auch Schlagwaffen zu finden. Je einmal kommen ein Handbeil (handt beyll),83 eine Bindaxt (bynde axe),84 ein Flegel (eyßern fle-

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Anm. 77), S. 80, 82, 84; Funkcen, Historische Waffen (wie Anm. 75), S. 168, 169 (Tafel); Marek, Bron´ (wie Anm. 77), S. 86, 87f., 90–92, 290, Abb. 117a; S. 293, Abb. 120e. Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 320f. und Fig. 377 auf S. 321; Seitz, Blankwaffen (wie Anm. 77), Bd. I, S. 221f.; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 57; Ortenburg, Waffe (wie Anm. 75), S. 45; Müller, Kölling, Europäische Hieb- und Stichwaffen (wie Anm. 77), S. 80, 84; Funkcen, Historische Waffen (wie Anm. 75), S. 208, 210; Marek, Bron´ (wie Anm. 77), S. 131–133; Reinhard Baumann, Landsknechte. Ihre Geschichte und Kultur vom späten Mittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg, München 1994, S. 41. Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte, Tl. 4: Neuzeit. Vom Kriegswesen der Renaissance bis zu Napoleon, Berlin 1920 [ND Hamburg 2008], S. 67–69; Eugen von Frauenholz, Entwicklungsgeschichte des Deutschen Heerwesens, Bd. II: Das Heerwesen in der Zeit des freien Söldnertums, Tl. II: Das Heerwesen des Reiches in der Landsknechtszeit, München 1937, S. 53; Charles Oman, A History of the Art of War in the Sixteenth Century, London, New York 1937, S. 119–121; Seitz, Blankwaffen (wie Anm. 77), Bd. I, S. 229; Douglas Miller, The Landsknechts (Osprey, Men-at-Arms, 58), Oxford 1976 [ND Oxford 2004], S. 8–12, 35–36 und Schautafel D; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 60f.; Ortenburg, Waffe (wie Anm. 75), S. 90f.; Siegfried Fiedler, Kriegswesen und Kriegsführung im Zeitalter der Landsknechte (Heerwesen der Neuzeit, Abt. I: Das Zeitalter der Landsknechte, 2), Koblenz 1985, S. 85; Baumann, Landsknechte (wie Anm. 80), S. 126. Zu Hellebarden vgl. Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 330–342; Seitz, Blankwaffen (wie Anm. 77), Bd. I, S. 225–229; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 47f.; Nowakowski, Arsenały (wie Anm. 75), S. 55; Funkcen, Historische Waffen (wie Anm. 75), S. 170, 171 (Tafel), 206, 207 (Tafel), 208; Cies´la, Bron´ (wie Anm. 75), S. 49; Marek, Bron´ (wie Anm. 77), S. 107–126; und vor allem neuerdings John Waldman, Hafted Weapons in Medieval and Renaissance Europe. The Evolution of European Staff Weapons between 1200 and 1650 (History of Warfare, 31), Leiden, Boston 2005, S. 53–77, 99–104. Es handelt sich hier um ein leichtes, kurzstieliges Beil, das u. a. zum Holzhacken benutzt wurde, vgl. Grimm, Bd. 10, Sp. 364 (http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=handbeil; letzter Zugriff: 10. 03. 2019). Somit hatte es nur sekundär eine Funktion als Waffe. Damit ist eine Axt mit größerer Klinge gemeint, die den Zimmerleuten als Werkzeug zum Baumfällen diente, vgl. Grimm, Bd. 2, Sp. 31 (http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma= bindaxt; letzter Zugriff: 10. 03. 2019). Sie darf nicht als ein Kampfwerkzeug betrachtet werden,

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gel)85 und ein Kerbbeil (kerbe axe)86 vor, wobei in den ersten drei Fällen jeweils daneben auch ein Kord verzeichnet wurde. Der nur mit einem Kerbbeil bewaffnete Nyckola Dunin dürfte der am schlechtesten ausgerüstete Heiligenbeiler Einwohner gewesen sein. Zuletzt kam auch die Feuerwaffe als Waffentypus vor. Sieben Stadtbewohner waren mit einem Handrohr bewaffnet ( jeweils mit einem Kord als Nebenwaffe). Unter dem Namen handruer ist im Jahr 1540 entweder eine Handfeuerwaffe mit einer einfachen Holzstange gemeint, an der das Rohr befestigt wurde (Handbüchse), oder eine Arkebuse, die eine weit entwickelte Form darstellte, weil sie einen Schaft mit einem Kolben in seinem hinteren Teil hatte und auch mit einem Luntenschloss versehen war.87 Eine sichere Identifizierung bleibt in dieser Frage unmöglich. vgl. Marian Biskup, Wykaz sprze˛tu artyleryjskiego Zakonu Krzyz˙ackiego w Prusach z około 1523 roku, in: Komunikaty Mazursko-Warmin´skie 1–2 (167–168) (1985), S. 97–103, hier Quellenedition: Wykaz sprze˛tu artyleryjskiego Zakonu Krzyz˙ackiego w zamkach i miastach Prus Zakonnych, Warmii i Prus Królewskich [około 1523 r.], S. 101, 102. 85 Dazu vgl. Müller, Kölling, Europäische Hieb- und Stichwaffen (wie Anm. 77), S. 88; Marek, Bron´ (wie Anm. 77), S. 147, 362, Abb. 189; Marian Głosek, Bron´ drzewcowa i obuchowa, in: Uzbrojenie w Polsce s´redniowiecznej 1450–1500 (wie Anm. 77), S. 42–54, hier S. 53f. (doch nur das 15. Jahrhundert betreffend); ders., Póz´nos´redniowieczna bron´ obuchowa w zbiorach polskich, Warschau, Łódz´ 1996, S. 60; Andrzej Nadolski, Relikt póz´nos´redniowiecznej broni obuchowej z Re˛kownicy, woj. olsztyn´skie, in: Prace i Materiały Muzeum Archeologicznego i Etnograficznego w Łodzi, Seria Archeologiczna 25, Łódz´ 1978 [1979], S. 181–184. 86 Es handelt sich hier höchstwahrscheinlich um ein Werkzeug (wie ein Keineisen), das in erster Linie zum Zimmern benutzt wurde, vgl. Grimm, Bd. 11, Sp. 492–493 (http://www.woerterbuch netz.de/DWB?lemma=keineisen; letzter Zugriff: 10. 03. 2019); Sp. 557 (http://www.woerter buchnetz.de/DWB?lemma=kerbaxt; letzter Zugriff: 10. 03. 2019). 87 Vgl. Grimm, Bd. 10, Sp. 413 (http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=handrohr; letzter Zugriff: 10. 03. 2019); Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. Gesammelt auf Veranstaltung der Antiquarischen Gesellschaft in Zürich unter Beihilfe aus allen Kreisen des Schweizervolkes. Hrsg. mit Unterstützung des Bundes und der Kantone. Begonnen von Friedrich Staub und Ludwig Tobler und fortges. unter der Leitung von Albert Bachmann, Bd. VI: [R], bearb. Albert Bachmann, Heinrich Bruppacher, Eduard Schwyzer, Frauenfeld 1909, Sp. 1235 (https://www.idiotikon.ch/Register/faksimile.php? band=6&spalte=1235&lemma=Handro¯r; letzter Zugriff: 10. 03. 2019); zu Handbüchsen und Arkebusen vgl. Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 445–458; Arne Hoff, Feuerwaffen. Ein waffenhistorisches Handbuch, Bd. I (Bibliothek für Kunst und Antiquitätenfreunde, IX), Braunschweig 1969, S. 11–19; Jaroslav Lugs, Handfeuerwaffen: systematischer Überblick über die Handfeuerwaffen und ihre Geschichte, übers. Rudolf Winkler, Bd. I, Berlin 1956 [8. Aufl. 1986], S. 14–16; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 32–34; Ortenburg, Waffe (wie Anm. 75), S. 52–55; Funkcen, Historische Waffen (wie Anm. 75), S. 68, 69 (Tafel), 78, 198, 200, 201 (Tafel, Nrn. 1–3); Peter H. Kunz, Technische Entwicklung der Feuerwaffen 1200 bis 1900. Eine Zusammenfassung der wichtigsten historischen und technischen Daten in Texten, Zeichnungen und Bildern, Zürich 2008, S. 31, Abb. 2–26; S. 32, Abb. 2–28; S. 263–265, 294, Abb. 11–21; Thomas Meyer, Bogen, Armbrust, Hakenbüchse. Entwicklung und Technik der ´ ski, Fernwaffen des Mittelalters, Düsseldorf 2009, S. 42–44; für Preußen vgl. Grzegorz Z˙abin

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Noch rätselhafter erscheint die Waffe, die mit dem Namen hellenhocke bezeichnet wurde. Ob es sich vielleicht um eine Streithacke88 handelt, soll offenbleiben. Die Waffe findet sich unter den Heiligenbeilern ohnehin nur einmal verzeichnet. Betrachtet man die aufgelistete Bewaffnung der Stadteinwohner von Heiligenbeil zusammenfassend, so muss man zu dem Schluss kommen, dass das potentielle Stadtaufgebot, das man zur Befestigungsabwehr oder für einen Heerzug einberufen konnte, ein ausgesprochen schlecht bewaffnetes Kontingent abgeben würde. Zwar könnte die reine Zahlstärke mit 108 bewaffneten Männern – das dürfte ca. 20 % aller Einwohner Heilgenbeils entsprechen – schon als eine veritable Menschenmasse gelten, diese wäre jedoch bei einem Befestigungskampf oder in einer Schlacht fast wehrlos. Gegen eine nach Zahlen gleich starke Söldnertruppe mit durchschnittlichem Organisationsniveau wäre das Heiligenbeiler Aufgebot weder auf den Mauern noch im Felde konkurrenzfähig. Nichtsdestotrotz hätte die ganze Stadtgemeinde 1540 eine kleine Truppe mit 10 bis 15 Bewaffneten aufstellen können im Falle eines herzöglichen Heeresaufgebots. Dabei hätten sich die Verpflegungs-, Futter-, Pferdeausstattungs-, Transport-, Lagerausrüstungs- und Munitionskosten selbst für ein solch kleines Kontingent als die größeren Probleme im Vergleich zur Waffenausrüstung erweisen dürfen. Derartige Abhängigkeiten und die je nach den konkreten Umständen sich in ihrer Dynamik unterscheidenden Wechselwirkungen sind für die größeren preußischen Städte schon im 15. Jahrhundert zu beobachten.89 Im Wesentlichen lässt sich dieses Phänomens also aber auch um die Mitte des nächsten Jahrhunderts erkennen. Denkt man an das Gewohnheitsrecht, demgemäß jeder das Stadtbürgerrecht erwerbende und dabei einen Eid leistende Mann sich als eine bewaffnete und wehrhafte Person den Stadtbehörden zur Verfügung stellen können muss,90 so Not Only Barrels – Equipment for Firearms in the State of the Teutonic Order in Prussia, in: Ordines Militares Colloquia Torunensia Historica. Yearbook for the Study of the Military Orders 22 (2017), S. 165–249, hier S. 172; Biskup, Wykaz (wie Anm. 84), S. 99; auch Quellenedition, S. 101, 102. 88 Vgl. Boeheim, Handbuch (wie Anm. 75), S. 385 und Fig. 457 auf S. 383; Oakeshott, European Weapons (wie Anm. 75), S. 72f.; Głosek, Póz´nos´redniowieczna bron´ obuchowa (wie Anm. 85), S. 29f.; Kwas´niewicz, Encyklopedia (wie Anm. 77), S. 95f. 89 Darauf habe ich neuerdings hingewiesen, vgl. Krzysztof Kwiatkowski, Auf die reyse ken Danczke (wie Anm. 77), S. 524–528. 90 Zum Eid als einem Hauptelement der stadtbürgerlichen Bindung vgl. Gerhard Dilcher, Bürgerrecht und Bürgereid als städtische Verfassungsstruktur, in: Neubürger im späten Mittelalter. Migration und Austausch in der Städtelandschaft des alten Reiches (1250–1550), hrsg. Rainer Ch. Schwinges (Zeitschrift für historische Forschung, 30), Berlin 2002, S. 83–97; ders., Zum Bürgerbegriff im späten Mittelalter. Versuch einer Typologie am Beispiel von Frankfurt am Main, in: ders., Bürgerrecht und Stadtverfassung im europäischen Mittelalter, Köln, Weimar, Wien 1996, S. 115–182, hier S. 145–148; sowie die nach wie vor grundlegende

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muss man letztlich zu der Annahme kommen, dass man in Heiligenbeil um das Jahr 1540 an diesen für weiterhin gut erachteten alten Normen zwar formal festhielt, tatsächlich aber nur eine ‚imaginäre‘ Wehrgemeinschaft schuf. Die meisten Einwohner Heiligenbeils waren bewaffnet und trotzdem wehrlos! Die Vorstellung einer städtischen Wehrgemeinschaft, die selbst inneren Frieden und allgemeine Sicherheit gewährleisten kann, war um die Mitte des 16. Jahrhunderts stets eines der wesentlichsten Elemente der bürgerlichen Weltwahrnehmung, nicht nur in großen urbanen Zentren Preußens,91 sondern auch in den kleinen städtischen Siedlungen. Das analysierte Schriftstück bietet noch auf einen weiteren militärischen Aspekt Hinweise. Die schon besprochene Notiz, die von der Hand des Abgesandten des Hauptmanns von Balga bzw. des Hauptmanns selbst angefertigt worden ist, weist darauf hin, dass die Stadt nicht über eine gemeinschaftliche Waffenausrüstung verfügte. Weder verfügten die Stadtbehörden Heiligenbeils im Jahr 1540 über die kleineren Hackenbüchsen92 noch über die größeren Büchsenarten.93 Dieser Zustand war eine Folge der Kriegshandlungen des sogenannten Reiterkriegs der Jahre 1519 und 1520 und dauerte 20 Jahre an, was als Anzeichen für eine schlechte finanzielle Lage der Stadt betrachtet werden kann. ***

Studie von Wilhelm Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, Weimar 1958. Ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Zeugnis für die preußischen Städte sind die Artikel in der im Sommer 1503 erteilten Landesordnung des Hochmeisters Friedrich von Sachsen, vgl. Acten der Ständetage Preussens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, hrsg. Max Toeppen, Bd. V: 1458–1525, Leipzig 1886, Nr. 168, S. 476, 477. Sie deuten darauf hin, dass diese Norm des Gewohnheitsrechts damals in Preußen nicht immer eingehalten wurde. ´ , Przedstawianie s´wiata przez kronikarzy gdan´skich 91 Zu Danzig vgl. neuerdings Julia Moz˙dz˙en na przełomie XV i XVI wieku (Roczniki Towarzystwa Naukowego w Toruniu, 95,2), Thorn 2016, S. 58, 62, 181–183, die aber vor allem auf die mit Sicherheit und Friedensordnung verbundenen Elemente hinweist. 92 Dazu vgl. Lugs, Handfeuerwaffen (wie Anm. 87), S. 13f.; Volker Schmidtchen, Büchsen, Bliden und Ballisten. Bernhard Rathgen und das mittelalterliche Geschützwesen. Ein Betrag zur historischen Waffenkunde, in: Bernhard Rathgen, Das Geschütz im Mittelalter. Quellenkritische Untersuchungen. Erstmaliger Reprint der Ausgabe von 1928, hrsg. Volker Schmidtchen, Berlin 1987, S. V–XLVIII, hier S. XXIIf.; Kunz, Technische Entwicklung (wie Anm. 87), S. 30, Abb. 2–23; S. 31, Abb. 2–27; S. 106, Abb. 613a, S. 293, Abb. 11–18; S. 295, ´ ski, Not Only Barrels (wie Anm. 87), S. 173f. Abb. 11–22, 11–23 und 11–24; Z˙abin 93 Vgl. für die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts Z˙abin´ski, Not Only Barrels (wie Anm. 87), S. 176, 178, 179, 181–184; Funkcen, Historische Waffen (wie Anm. 75), S. 74, 75 (Tafel). Zu den in Elbing gefundenen Resten eines Bronzegeschützes aus dem 16. Jahrhundert vgl. Bernhard Rathgen, Die Pulverwaffe im Deutschordensstaate bis zum Jahre 1450, in: Elbinger Jahrbuch 2 (1922), S. 1–116, hier S. 109–116 (Anhang: Ein Alt-Elbinger Geschütz aus Peter Vischers Giesshütte); und nach ihm Marek, Europejski styl (wie Anm. 75), S. 36.

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Das hier besprochene Verzeichnis aus Heiligenbeil wurde auf vier Blättern Papier im Format Schmalfolio (33 cm × 10,5 cm) geschrieben, die nach Zusammenlegen durch Fadenheftung zu einem dünnen Heft zusammengebunden wurden. Auf den Blättern 132r–v / 133r–v findet sich ein Wasserzeichen. Es stellt eine Krone mit einkonturigem Bügel dar. Eine solche Form kennt man von anderen preußischen Handschriften, die u. a. in Königsberg und Elbing zwischen 1534 und 1544 entstanden sind.94 Das dort verwendete Papier wurde in Danzig geschöpft.95 Das ganze Heft wurde später in eine größere Aktenreihe eingebunden, die insgesamt zwei Papierumschläge, zehn lose Halbblätter, 17 Hefte mit verschiedener Blätterzahl, drei zur Hälfte gefaltete Blätter von verschiedenen Formatgrößen und zwei lose Schmalfolioblätter umfasst. Sowohl das besprochene Verzeichnis als auch das vorige und nachfolgende Heft haben keine zeitgenössische Foliierung. Alle drei Hefte und das nachfolgende Heft, die die Blätter von 123r bis 145v umfassen, sind aber miteinander durch Fadenheftung oben und unten in der Mitte der ausgefalteten aufeinanderliegenden Blätter gebunden. Sie bilden eine zusammenhängende Sammlung von Akten von 1539 bis 1540, die das Hauptamt Balga betreffen.96 Das Heiligenbeiler Verzeichnis ist das zweite Heft in der Reihe und befindet sich zwischen Bl. 131r und Bl. 134r.97 Eine durch die ganze Aktensammlung durchlaufende Stempelfoliierung stammt erst aus dem 20. Jahrhundert. Der auf sieben Seiten überlieferte Text, der von zwei Händen geschrieben wurde, wurde mit (neu)gotisch-deutscher Kurrentschrift geschrieben, die viele Merkmale der Konzeptschrift aufweist.98 Aus paläographischer Perspektive ist die charakteristische Schreibweise des Buchstaben „r“ am Wortende zu erwähnen, der einem „z“ ähnlich ist. Das häufig vorkommende Zeichen „ÿ“, ein weiches, langes „i“ (deutlich in dem Wort „spÿß“), deutet schon auf eine neue Etappe der Entwicklung hin, da es nicht mehr der bis ca. 1500 häufig auftretenden

94 Vgl. Wasserzeichen Krone. Findbuch I der Wasserzeichenkartei Piccard im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, bearb. Gerhard Piccard, Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Stuttgart 1961, S. 36, 76. 95 Ebd., S. 29. 96 Das erste Heft hat folgende Überschrift (Bl. 123r): 1540. Muster zcedel im ampt Balge gehalten freitag nach Catharin(a) den 26 Novembris anno etc. im xl; das dritte Heft (Bl. 135r): Burger der Stadt Czinten irschiennen mit ihrer wehre am 1 tage Septembris Anno ut supra im 40 / Muster zedel der stadt Zinttenn; das vierte Heft (Bl. 137r): Besessene wirt aller dorffer im Ampt Balge. 97 Auf der letzten, achten Seite (Bl. 134v) wurde nur eine spätere kurze Kanzleinotiz eingetragen, wahrscheinlich von einer anderen Hand, vgl. unten: Quellenedition. 98 Vgl. Friedrich Beck, Schrift, in: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, hrsg. Friedrich Beck, Eckart Henning, Köln, Weimar, Wien 1992 [5. Aufl. 2012], S. 225–276, hier S. 256f.

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Buchstabenhäufung „ij“ ähnelt.99 Zu bemerken ist auch ein häufiger Wechsel von Groß- und Kleinschreibung bei Eigennamen und Appellativen. *** Die hier als Anhang vorgelegte Quellenedition folgt den Richtlinien von Dieter Heckmann.100 Hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung wird in drei Fällen von den Vorgaben abgewichen. Bei den Wörtern Stad/Stadt und Anno wurden die Großbuchstaben buchstabengetreu wiedergegeben. Die Zusammen- und Getrenntschreibung wurde in allen Fällen textgetreu beibehalten. Es wurden auch einige diakritische Zeichen beachtet: „´ “ , „˙ “ , „¨ “ und „¯ “ über „y“. Der übliche Strich „ ͗ “ über „u“ findet keine Beachtung. Dabei hat die erste Hand einmal dieses Zeichen falsch eingetragen (Ku͗ aster), da es sich hier nicht um ein „u“, sondern um ein „n“ handelt.101

Quellenedition Verzeichnis der Bewaffnung der Stadtbewohner von Heiligenbeil am 14. Dezember 1540. Orig.: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, XX. Hauptabteilung (Historisches Staatsarchiv Königsberg), Etats-Ministerium, Abt. 83m, Nr. 1 („Dienste- und Dienstgelderverzeichnisse aus 14 Ämtern“, 1533, 1539, 1540, 1544), Bl. 131r–134v.

99 Dazu für das 15. Jahrhundert vgl. Dieter Heckmann, Leitfaden zur Edition deutschsprachiger Quellen (13.–16. Jahrhundert), in: Preußenland 3 (2012), S. 7–13, hier S. 10. 100 Ebd. 101 Vgl. unten: Quellenedition, Anm. p).

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[Bl. 131r] a–) Deze rustung unnd hersawiung Stad Heÿlige Beÿll am 14 decembris Anno etc. 40 Pawel Freudentael mit seiner harniß und gewere Hans Bule eyn spyß unnd korde Heynnerich Welczer eyn spýß und korde Hans Sweynnitz eyn korde Bartholmeus Amesgloch eyn spyß und korde b) Orban Kruger ein handt ruer und korde Peter Grunebergk eyn spyß und korde Der alde wollen weber eyn korde und handt beÿll Jorge Becker eyn spyß unnd korde c) Thomas Weyße eyn handt ruer und korde d) Bartholmeus Merten eyn langen spyß und kordee) Burchardt Hennyngk spýß unn korde f) Lazer Wolff mith harniß und gewere Matz Werner eyn spyß und korde Jorge Maraune spyß unnd korde Jacob Lorentz spyß unnd korde g) Andres Tather eyn handt ruer und korde Bartholmeus Becher spyß unnd korde Hans Muller spyß und korde Pawel Tyle eyn bynde axe und korde Peter Braunewaldt spyß unnd korde Thomas Leheman spyß unnd korde Heynnerich Maeß spyß unnd korde [Bl. 131v] Gorius Hocheveldt spyß und korde h) Kylian Capelle eyn hallebarthe und korde i) Hans Heynne eyn handt ruer und korde Benedicke Grunaw spÿß und korde a)–a) b) c) d) e) f) g) h) i)

Text von erster Hand geschrieben. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Das Wort ist in zwei Teile und in zwei Stufen am rechten Rand des Blatts eingetragen; die untere Eintragung ist unterstrichen. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich.

Stadtbürger in Waffen

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Alex Winckel eyn eyßern flegel und korde Lorentz Eycklaff spyß und korde Melcher Lemnicke spyßj) und korde k) Jorge Hesse eyn handt ruer und korde Mÿchel Koninssche eyne widtwe l) Greger Bartholdt eyn ruer und korde Lazer Waýner spyß und korde Bartholmeus Bock spyß und korde Thomas Eycklaff spyß und korde Hans Rademacher spyß und korde Hans Klawycke spyß und korde m) Jacob Kemer eyn ruer unnd korde Jorge Ganßewindt spyß unnd korde Nycklis Teichman spyß und korde Hans Hennýngk spÿß und korde Jorge Fromholft spyß unnd korde n) Hans Wille hellebarthe und korde Materne spÿß und korde Tyburtius Teichman spÿß unnd korde o) Mat(is) Bierwolff hellebarte und korde [Bl. 132r] Merten Knasterp) mit harnis und gewere Peter Scholtze spyß unnd korde q) Hans Bierwolff spyß unnd korde r) Hans Roße mit harnis und gewere Peter Mulle spyß und korde Merten Steinborn spiß unnd korde Lucas Korngarthe spÿß und korde Greger Marquardt spyß und korde Brosie Karlin spyß unnd korde Locheydissche spÿß und korde j) k) l) m) n) o) p) q) r)

Über dem Wort ist ein Längsstrich eingetragen, der gestrichen ist. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Der Nachnahme ist zwar eindeutig als Ku͗ aster eintragen, aufgrund des Vergleichs mit anderen Verzeichnissen hier jedoch verbessert, vgl. GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 911a, Nr. 2, H. 1, Bl. 1r; GStA PK, XX. HA, Ostpr. Fol. 1279, S. 72. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich, der gestrichen ist. Links und etwas unterhalb vom Wort findet sich ein Längsstrich.

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Krzysztof Kwiatkowski

Hans Holtzte spyß und korde Peter Herdtwich spy˙ ß und korde Nycklis Marquardt spyß und korde s) Jacob Steynborn mit harniß und gewer Thomas Merten spiß und korde Lorentz Hey¯denreich spiß und korde Thewes Muller spiß und korde Alde Stadt schreiberssche eyne wytwe t) Thomas Beincke eyn hellehocke und korde Phelip Scholtze spÿß und korde Aßman Bruchman spiß und korde Clementhe Bruchman spiß und korde u) Jorge Nagel eyn hellebarthe und korde [Bl. 132v] Nycklis Ko͗ tze spyß unnd korde Alde Konigsche eyne wydtwe Meýster spýß unnd korde Hans Koningk spyß unnd korde Lorentz Tysscher spyß unnd korde Adrian Scholtze spy˙ z unnd korde Bartholmeus Wylke spis und korde Budeneren Pawel Schuyt spies unnd korde Hans Muller peucker spis und korde Schafferatsche spyß und korde Andres Meyßner spı͗ ß und korde Jorgellicke spis unnd korde Hans Heydenreich spis unnd korde Greger Swetlingk spiß unnd korde Junckfer Barben eyne widtwe Clemente Preuße spis unnd korde Woytke spis unnd korde Knoppel spis unnd korde Hans Ungerman spis und corde [Bl. 133r] s) t) u)

Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich. Links vom Wort findet sich ein Längsstrich.

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Michel Engelke spis unnd korde Alde Putze spis unnd korde Jorge Glotdaw spis unnd corde Thewes Wolff langenv) spis unnd korde Nycklis Buthener spis unnd korde Bartholmeus Bomerenick spiß und korde Phelip Kuntze spiß unnd korde Hans Meyßner spiß und korde Dunine Nyckolae eyn kerbe axe Lorentz Tapper spis unnd korde Greger Klawicke spis undw) eyn korde Gerthneren vor der Stadt Orban Schreÿber spis unnd korde Myche Grube eyn ko˙ rde Thomas Czyncke spis unnd korde Jorge Ruiß spis unnd korde Greger Kruße spÿß unnd korde Stenczel Lyttaw spyß unnd korde Hans Bradtworsth spiß unnd korde Hans Hoppe spis unnd korde [Bl. 133v] Jacob Tulitz spis unnd korde Alde Merten spis unnd korde Peter Arndt spiß unnd korde Casper Kaler spis unnd korde Hans Freÿtag spis unnd korde–a) x–)

Ist kein geschoz bey der stat wider hacken ader annder buchssen, ist alles im krige wegk kommen.

Summa der stadt Heiligen Beil werhafftige v man in harnisch viij man mit handtrur iiij man mit hellebartten j man mit j langen spiß v) Das Wort ist übergeschrieben und durch das Zeichen + eingefügt. w) Die Wörter sind gestrichen. x)–x) Text von zweiter Hand geschrieben.

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Krzysztof Kwiatkowski

lvj burger mit ihrem spissen xxij budener mit ihrem spiessen xiij gertnery) Summa summarum aller werhafftigen jC ix man. [Bl. 134r] Es beclagen sich auch die jenigen so dinst pflichtigend vor dinsten zur z(weien) uf den landttag gegeben, das die jenigen so awsserhalben des ampts gesessen, nichtsz) geben, bíden sieaa) mich amptshalben, die ihrigen dazu vorhaben das dieselbigen i(hren) gleich werden machen, derwegen bide ich woller auch berichten, wie ich darkegen vorhalten soll.–x) [Bl. 134v] Heiligenbeillab)

y) z) aa) ab)

Nach dem Wort findet sich ein langer schräger Strich. Hier wurde gesessen gestrichen. Hier wurden die drei Zeichen amp gestrichen. Das Wort ist verkehrt geschrieben und von dritter Hand eingetragen.

Markus Friedrich

Ein Hamburger Historiker der Täuferbewegung: Barthold Nikolaus Krohn (1722–1795) und seine Monographie über Melchior Hoffman (um 1495–ca. 1543)1

Am 17. März 1751 wurden in der Hauptkirche St. Petri in Hamburg elf junge Mennoniten lutherisch getauft und in die Gemeinde aufgenommen. Carl Johann Heise, der Archidiakon an St. Petri, vollzog die Feier und hielt eine Taufrede, die kurz darauf angesichts der Bedeutung dieses Ereignisses auch gedruckt wurde.2 Bei den Getauften handelte es sich um die Kinder von Hermann Goverts. Die Familie Goverts gehörte seit dem frühen 17. Jahrhundert zur Elite der zahlenmäßig zwar überschaubaren, politisch und sozial aber einflussreichen und wirtschaftlich höchst potenten mennonitischen Gemeinde in Altona.3 Ein Vorfahre der Konvertiten, Ernst Goverts, hatte in der Gemeinde die Dompelaar Kirche bauen lassen und protegierte dort Jakob Denner (1659–1746), einen der prominentesten Geistlichen und Autoren der mennonitischen Kirche um 1700.4 Doch nach dieser Phase der Expansion, die mit dem Tode Denners endete, scheint sich die religiöse Identität etlicher Mennoniten Altonas abgeschwächt zu haben. Jedenfalls konvertierte nicht nur Hermann Goverts mit seiner Familie zum Luthertum, sondern auch sein Bruder Paul wechselte die Konfession und trat zum Reformiertentum über.

1 Ich bedanke mich sehr herzlich bei Frank Hatje und Anselm Steiger sowie bei den Herausgebern für die kritische Lektüre und zahlreiche weiterführende Hinweise. 2 Ich benutze eine zweite Auflage von 1780, vgl. Johann Heise, Tauf-Rede über Röm. 10, v. 10. Welche bey der Taufe Eilf in der Mennonistischen Gemeine in Hamburg gebohrner Kinder den 17den Merz des 1751sten Jahres in der Haupt-Kirche St. Petri vor dem Tauf-Stein gehalten worden, Nebst Jhrem abgelegten Glaubens-Bekenntniß herausgegeben von dem Verfasser Carl Johann Heise Archi-Diacono besagter Haupt-Kirche in Hamburg, 2. Aufl., Hamburg 1780. 3 Cornelius Krahn, „Goverts (Govertsen, Gowert, Govert) family.“, in: Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online. 1956. Web. 27 Nov 2018. http://gameo.org/index.php?title= Goverts_(Govertsen,_Gowert,_Govert)_family&oldid=120669. Zur Einordnung der Familie vgl. a. B. C. Roosen, Geschichte der Mennoniten-Gemeinde zu Hamburg und Altona, 2 Bde., Hamburg 1886/7, 2, S. 18, 47f. Speziell zur Konversion vgl. ebd., S. 48. Generell zu den Mennoniten in Altona und Hamburg v. a. Michael D. Driedger, Obedient Heretics. Mennonite Identities in Lutheran Hamburg and Altona during the Confessional Age, Aldershot 2002. 4 Vgl. Driedger, Heretics (wie Anm. 3), S. 45f.

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Markus Friedrich

Der Übertritt von Hermann Goverts und seinen Kindern im Frühjahr 1751 hatte eine ganz unvorhergesehene Konsequenz, und diese soll hier im Zentrum stehen. Er beeinflusste nämlich auch das Leben von Barthold Nicolaus Krohn (1722–1795), der ab 1760 als (letzter) Pastor an St. Marien-Magdalenen in Hamburg wirkte.5 Krohn war, auf vorerst nicht nachvollziehbaren Wegen, in den Monaten vor der Konversion der Familie mit der Katechese der drei älteren Goverts-Kinder beauftragt worden.6 Zum Zwecke dieser Unterweisung, so er5 Über das Leben von Barthold Nicolaus Krohn ist nur wenig bekannt. Sein Vater war kaiserlicher Notar, vgl. Krohn an Gerhard Maatschoen, 3. 9. 1752, Staats- und Universitätsbibliothek (im Folgenden: SUB) Hamburg Cod. theol. 1208, fol. 6r–v. Er war von offensichtlich kränklicher Konstitution. Krohn studierte, nach seiner Schulzeit auf dem Johanneum und dem Besuch des Akademischen Gymnasium in Hamburg, ab 1742 in Leipzig Theologie, ehe er 1745 an die Elbe zurückkehrte. In Altona wurde ihm eine Predigterlaubnis erteilt und er verdiente seinen Lebensunterhalt dort vor allem als Lehrer, vor allem für Griechisch. Seit den 1750ern versuchte er mehrmals, eine Pfarrstelle in Hamburg zu erlangen. St. Marien-Magdalenen war (mindestens) der dritte Versuch. Krohn war der letzte Pastor an St. Marien-Magdalenen, wo er noch einen neuen Altar einweihte, obwohl die Kirche dann 1803 abgerissen wurde. Vgl. zu St. Marien-Magdalenen grundlegend Frank Hatje, „Gott zu Ehren, der Armut zum Besten“. Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Hamburg 2002. Auch seine Wahl zum Pastor in St. Marien-Magdalenen ging knapp aus. Bei seiner Wahl hatte er nicht weniger als achtzehn Konkurrenten. Nach den Probepredigten lag Krohn nur auf Platz 2. Im nächsten Wahlgang lobt Mylius zunächst den Erstplatzierten, gibt dann aber seine Stimme Krohn, weil er sich doch seit längeren Jahren verdient gemacht – eine Anspielung auf sein literarisches Schaffen? Am Ende muss allerdings wegen Stimmengleichheit das Los für Krohn entscheiden (Staatsarchiv Hamburg, Heilig-Geist-Hospital und Marien-Magdalenenkloster II.A.I.11, Protokollum privativum, S. 135–137, 144f., 148f. (5. Februar, 21. Mai, 9. Juni 1760)). Einerseits scheint Krohn nicht über größere Geldmittel verfügt zu haben, da ihm 200 Reichtaler zu seiner Ausstattung vor Amtsantritt gewährt werden. (ebd., S. 150 (11. Juni 1760)), andererseits ist seine Korrespondenz voller Hinweise auf Ankäufe von Manuskripten und Büchern, und seine Büchersammlung, wiewohl nicht außergewöhnlich umfangreich, war doch beträchtlich (und enthielt durchaus heterodoxes bzw. atheistisches Material, etwa Abschriften des Traktats von den drei Betrügern oder de la Mettries L’Homme Machine) – womöglich hing beides ja miteinander zusammen. Generell galt Krohn als äußerst gelehrt und gerade in der griechischen wie zeitgenössischen Literatur sehr beschlagen; seine freie Zeit scheint er vor allem mit seinen Büchern verbracht zu haben. 1760 heiratete er Maria Elisabeth Berenberg, die Tochter eines Hamburger Senators; das Paar blieb ohne Kinder. Ihr Tod 1790 soll ihn sehr getroffen haben. Die Grundlage aller biographischen Artikel in den einschlägigen Lexika ist Johann Jacob Rambachs Lebensbeschreibung (lateinisch), in: Catalogus Bibliothecae, Praestantissimorum, Qui Ad Theologiam, Philologiam Et Historiam Spectant, Librorum Selectum Complectentis: Libros Collegit, Et Literariis Catalogum Animadversionibus Instruxit Bartholdus Nicolaus Krohn, 2. Aufl., Hamburg 1796, S. IX–XX. Vgl. insgesamt, vor allem zur 3821 Bände umfassenden Bibliothek Krohns, auch Friedrich Lorenz Hoffmann, Hamburgische Bibliophile, Bibliographen und Literaturhistoriker. I: Barthold Nicolaus Krohn, in: Serapeum 11 (1852), S. 161– 168. Ich danke Frank Hatje für seine eben zitierten Exzerpte aus den einschlägigen Akten. 6 Dies waren, laut der von Krohn selbst publizierten Liste, Elisabeth Christina (* 1734), Margareta Johanna (* 1737) und Hermann Friedrich (* 1741) gewesen. Warum er nicht auch noch einige weitere der jüngeren Kinder, die bis 1744 in jährlichem Abstand folgten, unterrichtete, ist nicht ganz klar.

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zählte Krohn selbst mehrfach, habe er begonnen, sich mit den Mennoniten zu beschäftigen. Nur wer in der Lage sei, die Unterscheidungslehren der Mennonistischen Taufgesinnten deutlich zu erkennen, richtig zu bestimmen und entscheidend zu beurtheilen, könne eine solche Katechese wirksam bewerkstelligen. Entsprechend habe er, Krohn, begonnen, sich in Geschichte und Dogmatik der Mennoniten einzulesen. Bald jedoch habe sich diese Recherche gewissermaßen verselbständigt, aus einem Werk der Pflicht wurde beynahe eine blosse Beschäfftigung des Vergnügens.7 Krohn wurde zum Historiker der Mennoniten und der gesamten Täuferbewegung. Das deutlichste Resultat dieser unvorhergesehenen Hinwendung zur Kirchengeschichtsschreibung ist ein 1758 in Leipzig bei Bernhard Christoph Breitkopf gedrucktes Buch, Krohns umfangreiche Monographie Geschichte der Fanatischen und Enthusiastischen Wiedertäufer vornehmlich in Niederdeutschland. Melchior Hofmann und die Secte der Hofmannianer.8 Auf 398 Textseiten entfaltete Krohn das Leben und die religiösen Anschauungen von Melchior Hoffman (um 1495–ca. 1543). Hoffman gilt heute als prominenter und einflussreicher Vertreter der „radikalen“ Reformation jenseits der staatskirchlich verfassten lutherischen oder reformierten Ausprägung.9 Er gilt als wichtiger Vermittler täuferischer Gedanken und religiöser Praktiken und als zentrales Zwischenglied für die Weitergabe solcher Ideen nach Holland zu Menno Simons. Hoffman wird zudem einerseits als wichtige Bezugsgröße für, andererseits aber auch als Alternative zu den militanten Zirkeln der Münsteraner Täuferbewegung gesehen. Im Rahmen der (insgesamt überschaubaren) modernen Hoffman-Forschung sowie in der Forschung zur frühen Täuferbewegung wird Krohns Buch gelegentlich in den Forschungsüberblicken als erste monographische Würdigung dieses wichtigen Akteurs positiv erwähnt.10 Doch eine Beschäftigung mit Krohns 7 Barthold Nicolaus Krohn, Geschichte der fanatischen und enthusiastischen Wiedertäufer vornehmlich in Niederdeutschland. Melchior Hofmann und die Sekte der Hofmannianer, Leipzig 1758, S. 3–6 zum Vorstehenden. Eine fast wortgleiche Version findet sich in Krohn an Gerhard Maatschoen, Amsterdam, 3. 9. 1751, SUB Hamburg Cod. theol. 1208, fol. 6r–v. Vgl. a. die Version der Konversionsereignisse bei Heise, Tauf-Rede (wie Anm. 2), fol. D3r–v: Auch hier wird die Konversion vorrangig als Ergebnis schrittweise gewonnener Einsicht in die lehrmäßige Fehlerhaftigkeit der mennonitischen Theologie präsentiert, nicht als Ergebnis von „Zwang oder Anlockung“. Heise betont, auch die Kinder der Goverts, jedenfalls die älteren, seien dergestalt inhaltlich „überzeugt“ worden. 8 Krohn, Hofmann (wie Anm. 7) Das Buch erschien bei Breitkopf in Leipzig. Im Folgenden zitierte ich dieses Werk direkt im Text durch eingeklammerte Seitenzahlen. 9 Von Zitaten abgesehen, folge ich in der Schreibweise des Nachnamens nicht Krohns Usus („Hofmann“), sondern dem modernen Gebrauch („Hoffman“). Die grundlegende Monographie zu Hoffman ist Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979. 10 Vgl. z. B. Kerstin Lundström, Polemik in den Schriften Melchior Hoffmans. Inszenierungen Rhetorischer Streitkultur in der Reformationszeit, Stockholm 2015, S. 11f. Deppermann (wie

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Oeuvre unter (kirchen)historiographiegeschichtlichen Prämissen hat bisher nicht stattgefunden. In der bisherigen Literatur zur (Kirchen)Geschichtsschreibung der Aufklärung taucht der Name Krohns nicht auf. Im Folgenden soll deshalb eine erste inhaltliche Analyse und historiographiegeschichtliche Einordnung des gedruckten Textes vorgenommen werden; eine ausführliche Rekonstruktion der reich überlieferten Entstehungsgeschichte des Buches wird andernorts erfolgen. Krohn verstand sein Hoffman-Buch eigentlich nur als ersten Teil, als Auftakt und Kostprobe einer umfangreichen Gesamtdarstellung der radikalen Reformation, wie auch der Obertitel der Publikation zu erkennen gibt. Doch obwohl sehr umfangreiche Vorarbeiten zu weiteren Teilen dieses Gesamtwerks vorhanden sind und obwohl Krohn noch etliche Jahre nach dem Erscheinen des Hoffman-Buchs weiter an seinem Projekt arbeitete, blieb es letztlich bei dieser einen Monographie. Aus verschiedenen Gründen gab Krohn die Arbeit spätestens um 1770 endgültig auf, wobei neben einer zunehmenden Auslastung durch seine kirchliche Arbeit auch eine gewisse Frustration über die insgesamt nur begrenzte, wiewohl verhalten positive Rezeption des Hoffman-Buchs mitgespielt haben mag.11 Spätestens 1764 hatte er die Schenkung seiner umfangreichen Arbeitsmaterialien an die städtische Bibliothek vereinbart, und 1782 erfolgte im Sinne eines Vorlasses tatsächlich die Übergabe mehrerer Dutzend Manuskriptbände.12 Doch wenngleich Krohns Hoffman-Buch also ‚nur‘ ein – immerhin sehr eindrucksvolles – Fragment viel größer dimensionierter Pläne blieb, so kann es doch einiges Interesse für sich beanspruchen. Denn Krohns Behandlung der Täufer zeichnet sich insgesamt durch mindestens drei Gesichtspunkte aus: erstens eine pointierte Historisierung der Christentumsgeschichte, näherhin der frühen Reformation; zweitens ist das Buch geprägt durch starke und kritische Quellen- und Literaturarbeit. Diese Aspekte kommen drittens zusammen in Krohns Anspruch auf Unpartheylichkeit, den er mit verschiedenen anderen Kirchenhistorikern seiner Zeit teilt und der beinahe als Signalbegriff einer erneuerten Kirchengeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert zu gelten hat.

Anm. 9), S. 26f. bietet auf etwa zehn Zeilen die fundierteste Würdigung. Das Werk enthalte zwar „zahlreiche Fehler“, doch zeichne es sich durch „umfangreiche Quellenkenntnisse“ aus. Der Autor habe eine „gewisse Sympathie“ für seinen Protagonisten. Dennoch: „Eine Einsicht in die eigentlichen Ursachen des Konfliktes zwischen Hoffman und den Reformatoren besaß er [sc. Krohn] freilich nicht.“ 11 Auch der Drucker Breitkopf, so scheint es, war durch die Rezeption des Hofmann-Buches nicht geneigt, die Kooperation mit Krohn unbedingt fortzusetzen. 12 Zur Situation um 1764 vgl. Krohn an [Johann Jakob Breitinger], Hamburg 29. 6. 1764, in Zentralbibliothek Zürich Ms Bodmer 21.51.

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1. Krohn ist durchgängig um eine deutliche Historisierung und Kontextualisierung seines Protagonisten und seiner Handlungen bemüht. Er bemüht sich nach Kräften, die Umstände und besonderen Rahmenbedingungen der historischen Situation am Beginn des 16. Jahrhunderts zu charakterisieren. Vor allem schildert er die Reformation selbst als eine sich erst entfaltende, noch ganz ergebnisoffene historische Situation, in der die Akteure noch nicht durchaus ihrer Sache u[nd] ihrer Meynungen gewiß waren.13 Nicht alle Themen waren bereits von Anfang an präsent und nicht zu allen Themen standen bei den frühen Reformatoren bereits die späteren Standpunkte fest. Das Problem der Kindertaufe gehörte laut Krohn zu diesen anfänglich noch unklaren Punkten, und deshalb haben Zwingli, Grebel, Mantz, Hubmayer sich mit einander über Dinge besprochen, die zum Artikel der Tauf gehörten und als verfiel die Materie leicht auf die Untersuchung der Kindertaufe.14 Durch eine solche Betonung der historischen Offenheit wird wenigstens in Ansätzen eine genuin historische Perspektive auf die zunehmende Konfrontation und Eskalation möglich. Die wachsende Entfremdung zwischen „magistraler“ und „radikaler“ Reformation kann als Ergebnis historischer Entwicklung nachvollzogen werden und erscheint nicht nur als theologischer Gegensatz wahrer und falscher Aussagen. Auch Melchior Hoffmans religiöse Positionierung kann dann als Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von inneren und äußeren, subjektiven und kontextuellen Faktoren gedeutet werden, als Ergebnis einer rekonstruierbaren Eskalation von Entfremdung von und Unzufriedenheit mit den anderen Reformatoren. Schon in der Einleitung seines Werkes arbeitet Krohn deutlich die durch äußere Umstände angetriebene Dynamik und Besonderheit der Ausbreitung des Täufertums heraus (Vorrede 17). Die Geschichte der Wiedertäufer, wie er sie zu erzählen gedenke, sei nämlich eine Geschichte ihrer Wanderung, näherhin ihrer immer wieder notwendigen Flucht. Aus dieser raumbezogenen Diagnose der Entwicklungsdynamik des Täufertums ergibt sich für Krohn dann auch das übergeordnete Einteilungsprinzip seiner Forschung und Darstellung: Er gliedert seine Narration in die „oberdeutsche“ und die „niederdeutsche“ Täuferbewegung. Doch Krohn hält eine solche geographische Einteilung nur für eine erste, grobe Orientierung. Mitnichten wolle er von einem Lande gleichsam zum andern voranschreiten (Vorrede 18), denn Geschichte im Allgemeinen und Kirchengeschichte im Speziellen sei trotz regionaler Spezifika keineswegs strikt an Landesgrenzen gebunden. Statt von solchen künstlichen Einteilungen werde historische Entwicklung vielmehr von Ursachen vorangetrieben, die sich eben gerade nicht einfach geographisch beschränken lassen. Als besonders wichtige „Ursache“ für die (kirchen-)geschichtliche Entwicklung identifiziert Krohn dann das 13 SUB Hamburg Cod. theol. 1187, fol. 1r. 14 SUB Hamburg Cod. theol. 1187, fol. 1r.

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Handeln einzelner Menschen (Vorrede 19f.). Den Motiven und Antrieben seiner Protagonisten wandte sich Krohn darum immer wieder zu und häufig präsentierte er – selbstverständlich möglichst fundierte – Spekulationen über ihre Gründe und Intentionen, gerade dort, wo er selbst das Handeln Hoffmans nicht verstehen konnte (259f.).15 Angesichts der stark auf Individuen ausgerichteten Erklärung für historische Entwicklungen war es nur konsequent, dass Krohn in seiner biographischen Rekonstruktion immer wieder genau auf die Möglichkeit und Gelegenheit persönlicher Beeinflussung seiner führenden Protagonisten achtete. Wer wen kannte und wer wen wo traf oder getroffen haben könnte, waren wichtige Fragen für den Hamburger Autor, denn hierin lag gegebenenfalls eine beachtenswerte Ursache für zukünftige Entwicklungen (z. B. 13f.).16 Nicht minder relevant für Krohns Vorstellung von historischer Entwicklung war es, bestimmte Ereignisse immer wieder durch das Zusammentreffen von handlungswilligen Individuen und äußeren Umständen zu erklären. Hellsichtig notierte Krohn zum Jahr 1530 und dem Augsburger Reichstag, dass damals durch die Türkengefahr eine ganz besondere Zuspitzung der Ereignisse und Stimmung geherrscht habe. Hoffman ließ sich hierdurch mitreißen. Wie andere Zeitgenossen auch, wurde er durch die äußeren Umstände in eine besonders intensive geistliche Haltung gedrängt: Der Krieg, den der Türke gegen die Christenheit führte, machte Hofmannen zum Propheten (249). Erscheint Melchior Hoffman in dieser Passage eher als Getriebener der Zeitumstände, so wusste Krohn jedoch auch zu berichten, dass sein Protagonist umgekehrt bisweilen ein recht geschicktes Kalkül der Zeitläufte aufwies. Mehr als einmal beobachtete Krohn, dass Hoffman vorteilhafte Umstände zielsicher zu ergreifen wusste (32). Bestandteil dieser Geschichtskonzeption, in der Individuen – beispielsweise die Täufer oder eben Melchior Hoffman – persönliche und intellektuelle Entwicklungen durchlaufen, durch spezifische Umstände beeinflusst werden und ihr Handeln an konkrete Kontexte anpassen, war es auch, eine Art milieubedingtes Lernen zu unterstellen. In Krohns Version der Ereignisse lernen die Protagonisten der Täuferbewegung, ihr Verhalten zu kalibrieren und anzupassen, sie lernen aus Fehlern und Irrtümern (v. a. 347). Die Geschichte der Reformation, bei Krohn betrachtet durch die Engführung auf die Täufer, war so gesehen die Geschichte wachsender menschlicher Erfahrung, einer kontext- und 15 Beispielsweise bei der Frage, weshalb Hofmann 1532 ein drittes Mal nach Straßburg ging, vgl. Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 254. 16 Ein prominentes Beispiel hierfür ist die ausgedehnte Debatte, ob und wann Hoffman mit Andreas Karlstadt zusammengetroffen war, vgl. Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 58–77. Vgl. auch die Erörterungen zur sympathiegetragenen Begegnung Hoffmans mit dem Grafen von Ostfriesland, ebd., S. 235–238, wo Krohn ausführlich diskutiert, weshalb Hoffman hier eigentlich auf so viel Wohlwollen traf.

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umstandsbezogenen Herausbildung von spezifischen sozialen und religiösen Verhaltensmodellen und Überzeugungen. Als weitere Implikation ergab sich aus dieser personen- und biographiezentrierten Konzeption von historischer Entwicklung eine besondere Aufmerksamkeit für ideen- und religionsgeschichtliche Filiationen. Krohn verstand die Geschichte des Täufertums insbesondere als Geschichte zwischenmenschlicher Begegnungen und Beeinflussungen, Konflikten und Entzweiungen. Vorgänge der Absonderung, der Übernahme von Führungsfunktionen, der Weitergabe sowie der alternativen Weiterentwicklung vorgängiger Gedanken spielen eine wichtige Rolle (z. B. 6f.).17 Krohn sortiert die Vielzahl der protestantischen Sekten deshalb nicht in erster Linie an Hand einer theologischen Systematik oder Taxonomie, sondern anhand eines genetischen Entwicklungszusammenhanges. Konkret wirft er einmal, gegen Ende seiner Studie, die Frage auf (385): Ob die Mennoniten des 18. Jahrhunderts mit Hoffman oder den anderen frühen Täufern gleichzusetzen seien? Die Frage war für die (Selbst)Positionierung der Mennoniten zweifellos wichtig, denn die richtige Selbstpositionierung vis-à-vis der nach wie vor kritisch beäugten radikalen Reformation war für die auf Integration, Wohlstand und Kooperation mit den Obrigkeiten angewiesenen Mennoniten von existentieller Bedeutung.18 Krohn weigert sich, diese Frage durch eine rein theologisch fundierte Taxonomie zu beantworten, man dürfe nicht sowohl auf die neuere Dogmatik und Moral der Mennonisten achten. Weshalb? Denn, die Frage ist bloß historisch, wie er in einer pointierten Bemerkung formulierte, in der sich nicht zuletzt ein gewisses Maß an Wissen um und Beharren auf epistemischer Eigenständigkeit einer kirchenhistorischen Betrachtungsweise zeigt.19 17 Krohn diagnostizierte angesichts seiner Aufmerksamkeit auf Verbreitungs- und Transformationsprozesse der Täuferbewegung auch ganz genau, dass diese sich inhaltlich und organisatorisch zusehends zersplitterte. Deutlich benannte er die negativen Konsequenzen und Schwächungen, die aus der Fragmentierung, die v. a. nach 1535 immer schneller vonstatten ging, resultierten (v. a. S. 326–333). 18 Vgl. hierzu die (knappen) Bemerkungen bei Michael Driedger, Expanding our Historiographical Vision, in: Grenzen des Täufertums. Neue Forschungen, hrsg. Anselm Schubert, Gütersloh 2009, S. 411–416, hier S. 411f. Vgl. Ders., Protestantische Heterodoxie als Deutungsproblem. Kategorisierungsversuche zwischen konfessioneller Identitätsfindung und postkonfessioneller Geschichtsschreibung, in: Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung, hrsg. Kerstin Armborst-Weihs, Judith Becker, Göttingen 2010, S. 177–194, hier S. 182. Vgl. a. Mirjam van Veen, Dutch Anabaptist and Reformed Historiographers on Servetus’ Death. Or: How the Radical Reformation Turned Mainstream and How the Mainstream Reformation Turned Radical, in: Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform, hrsg. Bridget Heal, Anorthe Kremers, Göttingen 2017, S. 162–172, bes. S. 162f. 19 Vgl. zur häufigeren Betonung, Dinge würden „nur historisch“ betrachtet, auch (mit Beispiel) Dirk Fleischer, Zwischen Tradition und Fortschritt. Der Strukturwandel der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung im deutschsprachigen Diskurs der Aufklärung, 2 Bde., Waltrop 2006, S. 408.

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Eingebettet in bzw. ermöglicht durch eine solche auf Kausalitäten, Koinzidenzen und Konflikte achtende Entwicklungsperspektive ist dann eine letztlich erstaunlich differenzierte und flexible Bewertung des Protagonisten. Ausdrücklich lobt der Autor Hoffmans geistige und geistliche Fähigkeiten, etwa seine rhetorische Brillanz und seine heilige Strenge in seinem Wandel (10). Anfangs, in seiner ersten gedruckten Schrift, sei Hoffmans Standpunkt noch ganz orthodox gewesen, zumindest sofern man von einigen wenigen missverständlichen Passagen absehe (11; 49–51). Dieser Schrift und überhaupt Hoffmans ersten öffentlichen Artikulationen hätte man durchaus moderat begegnen können. Doch, so beschuldigt Krohn die Gegner Hoffmans ganz ausdrücklich, die protestantische Geistlichkeit habe auf seine ersten öffentlichen Überlegungen gar zu grob reagiert (11). Durch unmäßige Entgegnung auf Hoffman sei dessen Stolz geweckt worden (9). Bemerkenswert ist, dass Krohn dabei auch anerkannte Protagonisten der lutherischen Kirche für ihre unglückliche Konfliktführung scharf kritisierte. Vor allem Nicolaus von Amsdorff misst Krohn erhebliche Schuld an der weiteren Entfremdung zwischen dem Luthertum und Hoffman zu: Es ist mir leid genug, daß ich ihn [sc. Amsdorff] so characterisieren muß; allein, warum hatte der Mann keinen bessern Character? (78).20 So entsteht das geistige Profil eines Menschen mit beträchtlichen natürlichen Anlagen, der in seiner zunächst etwas naiven21 Begeisterung für bestimmte Elemente der täuferischen Lehren gerade auch durch das unflexible Verhalten der frühen reformatorischen Kirche verhärtet worden sei. Durch das Ansetzen einer solch komplexen Kausalität kann Krohn die vergleichsweise vielschichtige und nüchterne, zugleich erklärungsmächtige Geschichte einer schrittweisen Radikalisierung präsentieren: so verfiel er immer tiefer, und ward endlich aus einem noch halb vernünftigen Schwärmer, ein ganz enthusiastischer Wiedertäufer (12). Es war laut Krohn nicht zuletzt die – eben nur teilweise selbst verschuldete – Existenz in dauernder Anfeindung und in unabläßige[m] Gezänke, die zu Hoffmans wachsender Verbohrung und Kritikunfähigkeit führte (146). Krohns Vorgehen konnte teilweise exkulpatorischen Tenor annehmen. So schneidet Hoffman vergleichsweise gut ab, wenn Krohn ihn mit zwei seiner engsten Vertrauten und Weggefährten vergleicht. Sowohl Melchior Rink als auch Berend Knipperdolling, zwei anderen Protagonisten der „radikalen Reformati20 Ausdrücklich betont Krohn an dieser Stelle zugleich, dass sich Luther mäßiger verhalten habe (80). Zugleich konstatiert Krohn hier auch, Luther habe vor Ausgange des 1528sten Jahres von Hofmanns Schwärmerey und Irrthümern nicht vollkommene Begriffe gehabt. Zur glühend positiven Darstellung gerade Luthers vgl. a. ebd., S. 126–128. Einmal immerhin ist, wenngleich sehr vorsichtig, aber auch Kritik am Handeln des Reformators zu lesen (137 Anm. A): Luther habe in einer Schrift gegen Hoffman sehr frey gedacht, was ein Fehler gewesen sei, der ihm freilich „von billigen Gemüthern leicht verziehen wird“. 21 Ihm fehlte das intellektuelle Korrektiv einer lateinischen Ausbildung, so Krohn (S. 9f.).

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on“, steht Krohn deutlich ablehnender gegenüber als Hoffman (21–27; 219–223). Besonders deutlich ist die mäßigende, geradezu entschuldigende Tendenz beim Vergleich von Hoffman mit den Münsteraner Täufern, insbesondere personifiziert durch Jan Matthijs (300–306). Hier entwirft Krohn geradezu das Szenario einer feindlichen Übernahme der vergleichsweise unschuldigen Hofmannianer durch den wollüstigen, geilen, unruhigen, eigensinnigen, stolzen, grimmigen, tyrannischen und ausschweifenden Matthijs (301).22 Deutlich diagnostiziert Krohn hier eine Entwicklung von Schwärmerei (Hoffman) hin zu Aufruhr (Münster) (305), und diese Differenz wurde klar zur Exkulpation Hoffmans eingesetzt (309). Auch sonst führt Krohns kontextualisierende Rekonstruktion der Ereignisse immer wieder dazu, dass er seinen Protagonisten vor (vermeintlich) falschen Anschuldigungen schützte. Nicht alle Exzesse, die im Beisein Hoffmans passierten, dürften ihm deshalb auch kausal zugerechnet werden. Hinsichtlich der öffentlichen Unruhe und Gewalt, die 1525 in Reval im Zusammenhang der ersten reformatorischen Predigt ausbrachen, notierte Krohn: man würde meines erachtens, Hofmann zu nahe treten, wenn man diesen Muthwillen ihm zur Last legen wollte (40). Und mit Blick auf einzelne, als täuferisch und fehlerhaft eingeschätzte Lehrinhalte Hoffmans betont Krohn mit erstaunlicher Nuancierung, dass man seinem Protagonisten sogar ein gewisses Verständnis entgegenbringen müsse. Habe nicht, so bemerkt Krohn mit Blick auf Hoffmans ausgeprägte Neigung zur allegorischen Bibelauslegung (49), so gar der sel. Luther, dieser so eifrige Freund und glückliche Ausleger des Wortverstandes, zu seiner Zeit der herrschenden Mode zu allegorisiren in etwas, doch mit der Einsicht, Richtigkeit, und mit dem guten Geschmacke, der ihm natürlich war, zu folgen nicht umhin gekonnt (50, Anm. B)? So war es wenigstens mit Blick auf einzelne Lehrinhalte eher ein gradueller denn ein grundsätzlicher Unterschied, der zur schrittweisen Absonderung Hoffmans und der Täufer vom Luthertum führte. Solche nuancierenden Beobachtungen zum Lehrgehalt Hoffmans (und anderer Täufer) finden sich in Krohns Buch durchgängig. Denn die Ideen- bzw. Theologiegeschichte der Täufer spielte für ihn eine durchaus wichtige Rolle. Die erhaltenen bzw. für Krohn bis 1756 zugänglichen Druckschriften Hoffmans stellen eine Art natürliche Gliederung des Buchs dar. Doch ungeachtet aller Versuche, durch systematisierende Rekonstruktion aus den Texten Hoffmans ein Lehrgebäude (85) zu extrahieren, blieb für ihn dennoch klar, dass sich der dogmatische und theologische Standpunkt seines Protagonisten im Lauf der Jahre erst entwickelte. Er achtete deshalb besonders auf Veränderungen in Hoffmans Standpunkten und sieht dessen Lehren als in schrittweiser Entfaltung 22 Eine derartige Anhäufung von negativen Epitheta findet sich nirgends im Text mit Bezug auf Hofmann selbst. Ganz offensichtlich arbeitet Krohn mit einer graduierten Vorstellung von Schlechtigkeit der Menschen.

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begriffen an. Ausdrücklich vergleicht er frühere und spätere Schriften auf der Suche nach Veränderungen und Zusätze[n], wodurch sich dieses Lehrgebäude [einer späteren Schrift] von jenem [einer früheren Schrift] unterscheidet, oder in welchen es mit jenem einstimmig ist (85). Was es brauchte, war eine Analyse der täuferischen Schriften im Modus einer historische[n] Erzählung, das heißt unter besonderer Betonung der Frage, wie und durch welche Veranlassung eine Schrift der andern gefolget ist, oder welches ihre bisonder absicht nur gewesen sey.23 Diese ideengeschichtliche Entwicklungsperspektive äußert sich konkret dann etwa in der Feststellung zu einem Standpunkt Hoffmans, dies sei ein Satz, den er [sc. Hoffman] vorher noch nicht behauptet hatte, ja der dem zuwidersprechen scheinet, was er ehemals […] gelehret hat (260). Man dürfe die theologischen Äußerungen eines derart getriebenen Menschen nicht als ein einziges vollkommen übereinstimmiges, und sich immer gleiches Ganzes ansehen, und [ihm] folglich, ohne einen Unterscheid der Zeiten, Oerter und Gelegenheiten zu machen, kein unverändertes und wohlverbundenes Lehrgebäude unterstellen (382). Zudem geht es Krohn bei diesem inhaltsbezogenen Nachvollzug der täuferischen Schriften ausdrücklich auch darum, diese Texte nicht einfach nur nach vermeintlich objektiv geltenden inhaltlichen Kriterien zu bewerten, sondern aus ihrer eigentümlichen Logik heraus zu verstehen. Man müsse der Art zu denken, in der jemand einen Text abgefasst hat, kundig sein, wolle man jemandes Meynung einsehen, beurtheilen und widerlegen (104). Auch die inhaltlich völlig verfehlten Aussagen von Täufern, so schiebt Krohn nach, hätten eine erkennbare, innere Argumentationsstruktur: Der ausschweifendeste Schwärmer folgt doch immer gewissen Regeln, wenn sie ihm gleich selbst verborgen seyn sollten (104). Bei weitem nicht alle protestantischen Historiker des Täufertums, so Krohn, hätten sich jedoch in der notwendigen Weise neutral und mit dem Willen um Verständnis auf die Gedanken der Täufer eingelassen. Hier äußert der Autor offen und harsch Kritik an der älteren Ketzergeschichtsschreibung: Aber, das wird man mir zu sagen erlauben, daß viele, welche für die Ketzergeschichte arbeiten, zu wenig von wahrer Menschenkenntniß und Einsicht in die Natur der Schwärmerey, und zuviel Eifer besitzen, von demjenigen etwas unerhörtes zusagen, von welchem sie nun einmal den Entschluß zu schreiben gefasset hatten. Ich habe mich bemüht, Hofmann immer nachzugehen, und sein Gebäude aus seinen Schriften oder doch aus seinen Aussagen also zu entwerfen, wie ich es fand, und sorgfältig zu bemerken, wo ich eine [inhaltliche] Hauptveränderung antraf. (382)

Auch ohne übertrieben aktualisierende Deutung kann man angesichts solcher Grundsatzäußerungen und angesichts von Krohns praktischer Durchführung seiner Darstellung festhalten, dass er in pointierter Weise den Anspruch vertrat

23 SUB Hamburg Cod. theol. 1177, Titelblatt.

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und umsetzte, seine durch die bisherige Kirchengeschichtsschreibung weitestgehend schlicht abgeurteilten Protagonisten vergleichsweise offen und ihren eigenen Ideen gemäß zu beurteilen. Angesichts dessen scheint die Darstellung gelegentlich fast so etwas wie Sympathie für den Protagonisten erkennen zu lassen. Gerade die Passagen über den Zusammenbruch der Bewegung nach Hoffmans Festsetzung in Straßburg, als seine Anhänger ohne Anführer und Inspiration von ihren Gegnern zurückgedrängt wurden, sind nüchtern und ohne triumphalistischen Tonfall gestaltet, fast so als empfinde Krohn Mitgefühl mit der Nutzlosigkeit aller weiteren Anstrengungen Hoffmans (268–270).24 Da passt es gut, dass er seinen Protagonisten angesichts der von diesem unabsichtlich zwar mitausgelösten, jedoch heftig abgelehnten militanten Radikalisierung in Münster, der er im Straßburger Gefängnis tatenlos zusehen musste, fast mitleidig charakterisierte: Man stelle sich die Unruhe vor, in welcher sich dieser Unglückliche befinden mußte (312). Und doch ist klar: Krohn war kein Freund der Täufer, auch wenn er speziell den Mennoniten durchgängig sehr moderat begegnete, und zwar sowohl in seinem gedruckten Buch als auch in seinem Briefwechsel.25 Viele neutrale oder einfühlsam klingende Passagen sind durch abwertende Urteile konterkariert. So vermischt sich Krohns zunächst vergleichsweise sachlich wirkende Konzeption der Täufergeschichte als einer historisch zu rekonstruierenden und rekonstruierbaren diachronen Entwicklung von Individuen, Gruppen und Standpunkten mit anti-täuferischen Vorurteilen, deren Formulierung zum Teil dezidiert auf Krohn zurückging und die eher aus dem Kontext von Polemik und Apologetik stammten.26 Bisweilen folgte auch Krohn dem polemisch gemeinten Vorwurf, gerade enthusiastische oder schwärmerische Positionen seien oft besonders ansteckend (271–278). Die Furcht vor der Suggestivkraft enthusiastischer Frömmigkeit war ein Grundzug des neuzeitlichen Christentums insgesamt, besonders jedoch des Aufklärungszeitalters.27 Die besondere Gefahr einer prophetisch argumentierenden religiösen Dringlichkeit fürchtete auch Krohn: 24 Vgl. etwa die dramatisierende, in ihrer Sympathiezuschreibung mindestens offene Passage: Die Partey der Hofmannianer war zu schwach; die Partey, die es mit den Predigern gegen dieselben hielte, war zu stark. Und also war es um das kleine Häuflein dieser schwärmerischen Wiedertäufer geschehen. (269). 25 Die Briefe sind in SUB Hamburg Cod. theol. 1208 und 1209. 26 So fehlt etwa die polemische Passage gegen den Pöbel als begeisterten Mitläufer schreyender Agitatoren (Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 33) völlig im vorbereitenden Manuskript SUB Hamburg Cod. theol. 1180, unpag. (hier das Folio-Blatt nach dem mit „4“ markierten QuartBlatt), das ansonsten die im Druck präsentierten Fakten und Literaturangaben im Wesentlichen enthält. Krohn übernimmt also das Faktengerüst aus der Literatur, doch die Wertung fügt er selbst nach Ende des Rechercheprozesses erst während der Schreibearbeit ein. 27 Michael Heyd, „Be sober and reasonable“. The Critique of Enthusiasm in the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, Leiden 1995.

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Man wird aber auch mit Betrübniß erkennen, wie es nur gar zu wahr sey, daß ein einziger Mensch von unruhigem Kopfe und schwärmerischem Geiste, allein schon fähig ist, tausende zu verrucken und die erstaunendesten Bewegungen unter dem Pöbel zu erregen, wenn er nur die Religion in seine Entwürfe mit hinein zu bringen weiß (274).

In anderen Hinsichten ist Krohns Urteil ebenfalls eindeutig negativ, etwa wenn er seinem Protagonisten Verschlagenheit und Verstellung vorwirft (110). Letztlich ist Hoffmans Meinung nichts als ein völliger Unsinn (132) oder Unsinnigkeit oder Träumerey (100) oder Enthusiasmus (z. B. 267). Und auch wenn Krohn kritisch gegenüber Amsdorff war, so betonte er doch auch, dass Hoffman diesen letztlich in seinen Schriften in dem Niederträchtigen und Ehrenrührigen doch deutlich übertraf (123). Der orthodoxe Lutheraner Krohn kann nicht anders, als im Täufertum letztlich nur ein Hinderniß für die lutherische Wahrheit zu sehen (5). So ergibt sich ein vielschichtiges Bild davon, wie ein lutherischer Kirchenhistoriker um 1750 die Frühgeschichte der radikalen Reformation wahrnahm und verstand. Zu allererst ist zusammenfassend festzuhalten, dass Krohn seine Protagonisten und ihr Schicksal in erheblichem Maße und zukunftsfähiger Weise als ein „historisches“ Phänomen wahrnahm. Er bettete Hoffman und die Täufer, soweit das ging, in ihre Zeit ein, billigte ihnen menschliche und intellektuelle Entwicklung zu und schilderte sie als Akteure, die nicht zuletzt durch die Reaktion ihrer Umwelt geformt und getrieben wurden. Die radikale Reformation, wiewohl Krohn sie inhaltlich ganz deutlich und unmissverständlich ablehnte, war nicht einfach nur das völlig fremde Andere; sie war in ihrer Entstehung erstaunlich dicht an die Entfaltung der eigentlichen, lutherischen Reformation angebunden. Einer solchen Perspektive kam Krohns stark biographisch orientierte Historiographie entgegen, die insbesondere individuelle Schicksale und die Widerfahrnisse einzelner Personen in den Vordergrund rückte. Dadurch entstand zugleich das Bild vom frühen Täufertum als einer vorwiegend durch persönliche Netzwerke geprägte, auf flüchtigen Bekanntschaften und Begegnungen basierende, bei allen menschlichen Verbindungen doch relativ fragmentierte Bewegung, die weder durch Landesgrenzen noch durch klare Lehrunterschiede eindeutig gegliedert werden könne. 2. Die in Deutung und Bewertung auf Vielschichtigkeit und differenziertes Urteil abzielende Darstellungsweise Krohns wird gestützt durch seinen vorsichtigen Umgang mit den verfügbaren Quellen und der Literatur. Das Werk ist geprägt durch teilweise sehr umfängliche Fußnoten, die überwiegend der Diskussion von Quellen und Literatur und somit der Begründung von Krohns eigenen Urteilen dienen. Schon in der Vorrede zu seinem Werk ging Krohn einerseits kritisch mit der bestehenden Literatur ins Gericht und kündigte andererseits an, sich vor allem auf die Schriften und Zeugnisse der Zeitgenossen und Protagonisten selbst

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stützen zu wollen (21f.). Beides wurde von Krohn relativ strikt voneinander geschieden. Von den ächten Quellen, die eigentlich die Historiographie zu tragen hatten, unterschied Krohn explizit die neueren Schriftsteller. Diese waren von minderem Aussagewert, höchstens wie ungewisse Spuren eines flüchtigen Wildes (71). Deshalb wollte Krohn die moderne Forschungsliteratur nach Kräften von den Zeugnissen der älteren Schriftsteller begleiten lasse[n] (ebd.). Generell war die Literaturlage zu Melchior Hoffman schlecht. Nur eine einzige Monographie zu ihm wusste Krohn zu nennen, Johann Gottlieb Hofmanns Disputatio Historica de Secta Hoffmannistarum von 1700.28 Doch wie so viele andere Werke, in denen nur am Rande oder en passant von Hoffman die Rede war, konnte auch diese Hochschulschrift Krohns Ansprüchen nicht genügen. Immer wieder zitiert Krohn Aussagen seiner Kollegen, um diese dann anschließend zu kritisieren und ggf. auch zu revidieren.29 Das konnte sowohl Fehler auf der Faktenebene betreffen als auch solche der Interpretation. Freilich bedeutete dieser durchgängig kritische Umgang mit der Literatur nicht, dass sich Krohn nicht immer wieder auch positiv auf andere Forschungen und Darstellungen bezogen hätte. Eine (kleine) Gruppe von Autoren und Werken empfand er vielmehr geradezu als positive Bezugsgröße. Dazu gehörten beispielsweise Hermann Hamelmann (1526–1595) oder Johann Gottfried Arndt (1713–1767), aus dessen Lifländischer Chronik Krohn mehrfach ganze Passagen nur mit wenigen Veränderungen und Zusätzen referierte (z. B. 65, Anm. E).30 Doch selbst solche Autoren, auf die sich Krohn ganz erheblich stützte, bleiben seiner Kritik ausgesetzt – an der eben zitierten Stelle verbessert Krohn zum Beispiel die aus seiner Sicht fehlerhafte Chronologie der Ereignisse bei Arndt. Dieser habe zwar selbst löblicherweise chronologische Richtigstellungen vorgenommen, dabei aber bisweilen doch die nötige Tiefe an Forschung vermissen lassen. Entsprechend dieser Mischung aus grundsätzlicher Wertschätzung und ständiger Kritikbereitschaft, mit der Krohn auch Referenzautoren betrachtete, unterschied er manchmal verschiedene Stufen von Richtigkeit forscherlicher Aussagen. So differenzierte er beispielsweise einmal in Bezug auf den von ihm generell sehr geschätzten Johannes Moller (1661–1725)31 zwischen zuverläßigen und historisch richtigen Aussagen (72–75). „Zuverlässigkeit“ scheint sich auf die 28 Johann Gottlieb Hofmann, Disputatio Historica de Secta Hoffmannistarum, Leipzig 1700. 29 Vgl. als typisches Beispiel Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 35f., Anm A: Jac. Perizonius begeht in seinen Commentariis Rerum per Europam gestarum ab ineunte Seculo XVI, usque ad CAROLI V. mortem (Lugd. Batav. 1710, 8) auf der 195 Seite, einen Fehler, wenn er Melchior Hofmannen von Schweden gleich nach Emden gehen läßt. Vgl. a. ebd., S. 188, Anm. A: zwei zitierte Autoren irren sich. 30 Johann Gottfried Arndt, Der Liefländischen Chronik Erster und Zweiter Teil, 1747/1753. 31 Dessen Artikel „Melchior Hofmann“ in der Cimbria literata hielt Krohn für den vollkommensten, den ich noch von Hofmannen gesehen habe, vgl. Johann Moller, Cimbria literata, Kopenhagen 1744, Teil II, S. 347–353.

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sachliche Verlässlichkeit zu beziehen, denn sie basiert auf tüchtige[n] Zeugen (73). Dies war auch sonst die entscheidende Kategorie für Krohn: zuverlässige Beweise, das hieß eine gute Wahl der Zeugen.32 Doch eine zuverlässige Basis für Sachaussagen alleine reichte für Richtigkeit noch nicht: Dazu brauchte es zudem noch eine glaubwürdige und genaue Bestimmung des Ortes und der Zeit, also eine raum-zeitlich exakte Verortung (74f.). Speziell die Chronologie der Ereignisse und ihre exakte Datierung waren ein besonders prägendes Anliegen für Krohn. Er verwandte viel Mühe darauf, in Zweifelsfällen eine korrekte Chronologie der Ereignisse zu entwickeln, was sich nicht nur in zahllosen einschlägigen Bemerkungen in seinen Arbeitspapieren zeigt. Auch in seiner gedruckten Geschichte Melchior Hoffmans äußert er sich immer wieder minutiös zu Datierungsfragen.33 Im Wesentlichen, so hielt Krohn angesichts der Lücken- und Fehlerhaftigkeit der bisherigen Täuferhistoriographie schon einleitend fest, diente ihm das gelehrte Schrifttum über die frühen Täufer vor allem als Fundgrube für Quellenangaben und Quellenzitate. Generell wollte Krohn Geschichtsschreibung vor allem an das Studium der Quellen binden. In den Schriften der Protagonisten sowie in den Briefen der Zeitgenossen hoffte Krohn die Wahrheit ohne Verkleidung zu finden (22). Wer dagegen ohne ächte Urkunden arbeiten musste, verfiel aus Quellenmangel leicht in sachliche Irrtümer, die Krohn dann manchmal allerdings nur als geringe Fehler werten wollte (153 Anm. B).34 Dabei scheint die ‚Schwere‘ der Fehler eines Autors relativ zu seinen Erkenntnismöglichkeiten kalibriert zu sein. Den erwartbaren Grad an Zuverlässigkeit bemaß Krohn implizit wohl nach der Zeit und dem Orte, da er [sc. ein Historiker] lebte, und nach der Gelegenheit, die er hatte, weniger Hauptfehler zu machen.35 32 Vgl. Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 216: Melch. Hofmann ging also [1529] von Straßburg, allein, wohin? das ist eine Frage, die so leicht nicht beantwortet werden kann, wenn sie die zuverläßigen Beweise haben soll, die der Geschichte ihr völliges Wesen geben. 33 Hierzu gibt es im gesamten Text sehr viele Einzelbeispiele, die oft eng mit detaillierten Erörterungen zu einzelnen Quellen verbunden sind, vgl. exemplarisch Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 224f. mit Anm. G, S. 227–230 mit Anm. K. 34 Andere Bewertungen an derselben Stelle fielen allerdings harscher aus, vgl. etwa großes Versehen oder womit wäre das zu entschuldigen, beides ebenfalls Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 153, Anm. B. 35 Dies hatte einen konkreten Autor zum Ziel, Hermann Hamelmann, vgl. Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 228f., Anm. K: Daß Rink in Emden, in der Kirche, öffentlich wiedergetauft habe, sagt Hermann Hamelmann, der nach der Zeit und dem Orte, da er lebte, und nach der Gelegenheit, die er hatte, weniger Hauptfehler hätte begehen und insbesondere die augenscheinlichsten Irrthümer in der Zeitrechnung vermeiden müssen, und den ich nicht ohne Furcht anführe, wofern sein Zeugniß nicht noch durch eine oder die andere glaubwürdige Aussage bekräftiget wird. Das gilt auch umgekehrt, wenn er eigentlich sehr glaubwürdigen Autoren in Einzelfällen widerspricht, vgl. seine positive Bewertung Bullingers als Historiographen der Täufer (der die Sahe gewiß richtig und genau hat wissen können und daher auch freylich ein grosses Vorurtheil vor sich hat) und eine Korrektur in einer konkreten Angelegenheit, Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 286f., Anm. D.

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Dieser Auffassung zufolge vermittelt die Lektüre der Quellen belastbares Wissen von den Standpunkten und Ereignissen der Zeit. Wo solche Sachhinweise der Quellen dagegen fehlen, kann der Kirchengeschichtsschreiber nur noch Muthmaassungen anbieten (75). Auch Krohn muss häufiger, als ihm lieb ist, zu solchen Konjekturen greifen. Ganze Abschnitte von Hoffmans Leben bleiben für ihn so gut wie unbekannt.36 An solchen Stellen greift auch er zur Argumentation mit Plausibilitäten oder argumentiert mit der (aus seiner Sicht) größeren Unwahrscheinlichkeit der gegenteiligen Vermutung (z. B. 112, Anm. D; 203, Anm. A). Auffällig ist, dass er solche Spekulationen narrativ immer sehr deutlich rahmt. Bisweilen sagt er ganz ausdrücklich, dass er nun zum Mittel von Mutmaßungen greift, und entschuldigt sich sogar bereits im Voraus für die wahrscheinlichen Fehler (75). Ganz korrekt notiert Krohn, wenn sich seine Rekonstruktion nicht auf Quellen, sondern nur auf Forschungsliteratur stützt (108, Anm. K). Andernorts markiert er das Fehlen einer belastbaren Quellengrundlage durch ostentatives Einschieben eines vielleicht oder es scheint oder wo ich nicht irre oder ich vermuthe oder ich muthmasse (u. a. 126; 133, Anm. E; 139, Anm. D). In solchen Momenten, in denen dem Historiker die Quellen fehlen, fühlte sich Krohn wie ein Wanderer, der sich ohne Wegweiser befindet, zwar wohl den Hauptort, den er nach einigen Meilen antreffen soll, kennet und so dann wiederum alle folgenden Wege weiß […] aber gegenwärthig in eine unbekannte Gegend geräth (70). Unsicherheit, Ungewißheit und Gefahr eines unglücklichen Irrthumes bedrängten den Historiker in solchen Momenten. Und das war für Krohn keine seltene Erfahrung, denn eines der größten Probleme der Täufergeschichte waren der eklatante Quellenmangel und die Verworrenheit der Quellenlage im Allgemeinen. Häufig erwähnt Krohn, dass er einschlägige Quellen nicht erhalten konnte (z. B. 103, Anm. E; 131; 140; 239; 247). Bisweilen wusste Krohn genau, wo sich solche fehlenden Stücke befanden, ohne jedoch Zugang zur entsprechenden Sammlung zu bekommen.37 Bisweilen wusste er jedoch nicht einmal genau, ob die vagen Hinweise auf weitere Texte, die er auffand, überhaupt stimmten. Oft war für ihn nicht eindeutig klar, welche Quellen und Schriften es von bzw. zu den Täufern überhaupt (noch) gab. Hier war Krohn hilflos den Ausführungen in der Literatur ausgeliefert, die mehrfach Schriften Hoffmans und seiner Zeitgenossen erwähnte, über deren genaue Art und Qualität Krohn dann aber nichts Näheres erfahren konnte (z. B. 142, Anm. E). Oft genug musste Krohn mit wenigen, fragmentarischen Sekundärzitaten

36 Das Jahr 1531 war ein solcher Abschnitt: Nichts ist mangelhafter und unfruchtbarer, als das, was ich von Melch. Hofmanns Verrichtungen, die in den größten Theil des 1731. [sic!] Jahres gehören, sagen kann, vgl. Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 251. 37 So identifiziert er Wolfenbüttel als Standort für eine von vier 1530 gedruckten HofmannSchriften, Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 250.

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arbeiten, die er aus der älteren und jüngeren Forschungsliteratur akribisch notierte (z. B. 247f.; 265f., Anm. A). Teil der Arbeit mit Quellen war die Bewertung ihres Wahrheitsgehaltes oder, genauer gesagt, die Einschätzung ihres Grads an Parteilichkeit. Krohn hat nie ein zusammenhängendes System zur Bewertung der Verlässlichkeit von Quellen entwickelt, doch einzelne Indizien lassen sich finden. Einmal notierte er etwa folgende isolierte Bemerkung: Schriftsteller erzählen oft etwas, ohne daß es mögl. gewesen ist, daß sie haben vorher sehen können, welche folgen daraus gezeit wären. daraus entsteht ein Kennzeichen ihrer Glaubwürdigkeit.38 Diese etwas kryptische Formulierung scheint letztlich auf das quellenkritische Prinzip des Anachronismus hinauszulaufen: Die Glaubwürdigkeit von Texten sinkt, wenn sie bereits die spätere Bedeutung der berichteten Ereignisse vorauszusetzen scheinen. Zudem wendet Krohn eine Art innere Kritik an, um die Plausibilität einzelner Behauptungen der Protagonisten in ihren Quellenschriften zu prüfen. Das wird besonders deutlich an einer 1529 von Melchior Hoffman gegenüber Johannes Bugenhagen erhobenen Beschuldigung, dieser habe nach dem Kolloquium von Flensburg für eine Beschlagnahmung von Hoffmans Privatbesitz gesorgt (189–191). Letztlich ist Krohn geneigt, Hoffmans Version der Ereignisse zu glauben und Bugenhagens Zurückweisung dieser Behauptung für Unwahrheit zu halten. Hier interessiert allein Krohns Vorgehensweise. Was Krohn gegen Bugenhagen einnimmt, ist, dass dieser nicht beweisen konnte, dass Hoffman mit seiner Behauptung Unrecht hatte: Wo ist [bei Bugenhagen] der Beweis, daß Hofmann nicht geplündert und beraubet sey? Hätte Hoffman wirklich Unrecht gehabt, so hätte Bugenhagen doch Hoffmans Unterstellung widerlegen müssen, doch das habe er in den fraglichen Textstellen nicht getan, denn er habe nur einige Details von Hofmanns Bericht, nicht aber dessen Grundtenor infrage gestellt. Es ist die Art, mit welcher Bugenhagen hierin Hofmannen Lügen strafen will, die ihn am Wahrheitsgehalt von Bugenhagens Aussage zweifeln lässt (190). Die innere Struktur der Quellen, ihre Stoßrichtung und argumentativen Vorgehensweisen, werden in die Quellenkritik entscheidend miteinbezogen. Der Überlieferungsgeschichte bestimmter Quellen und Aussagen billigte Krohn bei der Quellenkritik einerseits besondere Bedeutung zu, ohne sich jedoch andererseits diesem Kriterium allzu formalistisch zu verschreiben. Angesichts der Frage, ob der St. Gallener Bürger Thomas Schugger als Schüler Hoffmans anzusehen sei oder nicht, spezifiziert Krohn einerseits, dass die Autoren, die sich für diese These anführen lassen, insgesamt sehr schlechte Zeugen seien, weil sie direkt voneinander abhängig seien (220 Anm. B). In formaler quellenkritischer Hinsicht ist der Grad an Verlässlichkeit dieser Nachrichten also gering. Dennoch sieht sich Krohn genötigt, der dort zu findenden Sachaussage von Schuggers 38 So die Formulierung in SUB Hamburg Cod. theol. 1177, Titelblatt (Rückseite).

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Schülerschaft zu vertrauen, und zwar aus drei Gründen: Er könne diese (schlechten) Zeugen nicht widerlegen; diese Sachaussage ist kontextuell plausibel; diese Sachaussage würde andere Aspekte von Hoffmans Biographie leichter verstehen lassen. So differenziert Krohn also de facto zwischen quellenkritischer Überlieferungsgeschichte und quellenkritischer Prüfung von Einzelaussagen. Es ist also einerseits die überlieferungsgeschichtliche Gesamteinschätzung von Autoren und ihren Werken durchaus eine Leitlinie für den Umgang mit ihren Aussagen, ohne dass dadurch andererseits der Umgang mit jeder einzelnen Behauptung determiniert würde. Im Zuge seiner quellenkritischen Bemühungen befasst sich Krohn immer wieder auch ausführlich mit den Entstehungsbedingungen und funktionalen Intentionen einzelner Schriften und Quellen. Beispielsweise rekapitulierte er im Detail die Entstehung und den druckgeschichtlichen Hintergrund von Bugenhagens – maßgeblicher – Edition der Akten des Flensburger Kolloquiums zwischen ihm und Hoffman, die 1529 in Wittenberg herauskam (202–207). Deutlich rekonstruiert Krohn den polemischen Kontext, in dem dieser Abdruck des Gesprächsprotokolls stand. Er skizziert nuanciert den präzisen Ort dieser Aktenedition im Ablauf des polemischen Streitgeschehens. Krohn weist ein ausgeprägtes Gespür dafür auf, dass gerade in längeren Streitensembles sehr genau auf die relative Position einzelner polemischer Kommunikationsakte geachtet werden müsse.39 So betont er zum Beispiel auch, dass die scharf polemische Rhetorik der zweiten Schrift auf die Aggression durch Amsdorff zurückzuführen sei (82). Alle diese Vorfälle haben ihren Einfluß, so notierte Krohn einmal zur konkreten Gestalt einer Schrift von Hoffman (207). Deshalb ist auch nicht alles, was Hoffman – und seine Gegner – sagen oder drucken, historiographisch und theologisch von gleichem Stellenwert. Nicht jeder kontroverstheologische Streit, so scheint Krohn zu sagen, drehte sich wirklich um religiöse Zentralelemente. Stattdessen stritt man manchmal auch nur um vergleichsweise oberflächliche Grillen (138). Dazu passt auch, dass er an anderer Stelle einmal deutlich betonen konnte, die täuferischen Sonderlehren gehörten im geringsten nicht zum wesen der Religion […], weil alle ihre Streitigkeiten auf Nebendinge gezogen sind.40 3. Die inhaltliche Nuancierung und die handwerkliche Sorgfalt gemeinsam bildeten das Fundament für die historiographische Unpartheylichkeit, nach der Krohn ganz ausdrücklich strebte. Dies war ein Zentralbegriff der (Kirchen-) Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, und er wurde von allen Seiten nicht 39 Vgl. z. B. seine Rekonstruktion längerer Streitschriftenwechsel in SUB Hamburg Cod. theol. 1177, fol. 100r und passim. Zur oben verwendet Begrifflichkeit („Streitensemble“) vgl. Martin Gierl, Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997. 40 SUB Hamburg Cod. theol. 1190a, S. 16 (Nr. 2).

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zuletzt dazu genutzt, die eigene Variante von Historiographie durch affirmativen Rekurs auf eine an sich unstrittige moralische und methodische Maxime zu legitimieren.41 Insgesamt existierten mehrere Varianten des UnparteilichkeitsGestus. Auf der einen Seite stand Gottfried Arnold mit seiner Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie, die das Prinzip prominent zum Programm erhoben hatte.42 Dabei ist für Arnold unverkennbar, dass er selbst die Kirchengeschichte sehr wohl an einem ihm eigenen, ausgesprochen kirchenkritischen Standpunkt maß, nämlich von einer Position radikaler religiöser Innerlichkeit aus. Unpartheilichkeit bedeutete für Arnold letztlich eine Distanzierung von allen Formen verfasster Kirchlichkeit. Ihm entgegen stand ein Unparteilichkeits-Programm, das insbesondere mit dem Namen von Johann Lorenz Mosheim verbunden ist. In dieser Spielart bedeutete Unparteilichkeit nicht eine völlige Ablehnung aller organisierten Religiösität, sondern meinte eher das moralische Gebot konfessioneller Moderation im Umgang mit der Pluralität verfasster religiöser Parteien.43 Der historiographische Mittelweg, den Mosheim hier anvisierte, wollte die Kirchengeschichtsschreibung von zwei gleichermaßen kritisierten Übeln befreien: von orthodoxer Apologetik des historisch Gewordenen genauso wie von seiner heterodoxen Anklage (etwa bei Arnold). Vor allem ging es Mosheim also darum, Kirchengeschichte aus einer normativen Indienstnahme zu befreien.44 Das konnte am besten geschehen, wenn historische Ereignisse hinsichtlich ihrer Ursachen und prägenden Einflüsse analysiert, nicht aber auf „richtig“ oder „falsch“ hin bewertet werden.45 Und diese Kausalitäten, die die historische Entwicklung der Kirche vorantrieben, waren vorwiegend innerweltlich, d. h. im menschlichen Handeln und seinen Umständen zu suchen.46 Zu den hier zen41 Ziel der Begriffsverwendung sei es gewesen, „to claim the moral high ground“, so John Christian Laursen, What is Impartiality? Arnold on Spinoza, Mosheim on Servetus, in: Heresy in Transition. Transforming Ideas of Heresy in Medieval and Early Modern Europe, hrsg. Ian Hunter, John Christian Laursen, Cary J. Nederman, Aldershot 2005, S. 143–154, hier S. 154. 42 Vgl. z. B. Fleischer (wie Anm. 19), S. 60–64. 43 Laursen (wie Anm. 41). 44 Vgl. Martin Mulsow, Eine „Rettung“ des Servet und der Ophiten? Der junge Mosheim und die häretische Tradition, in: Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theologie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte, hrsg. Ders. u. a., Wiesbaden 1997, S. 45–92, v. a. S. 55–58. 45 Bernd Moeller, Johann Lorenz Mosheim und die Gründung der Göttinger Universität, in: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hrsg. Ders., Göttingen 1987, S. 9–40, hier v. a. S. 19. 46 Dies bedeutete freilich gerade keine Absage an die göttliche Providenz, denn diese erweise sich gerade im unvorhersehbaren, wirkmächtigen Zusammenfluss innerweltlicher Kausalfaktoren, vgl. hierzu Ekkehard Mühlenberg, Göttinger Kirchenhistoriker im 18. und 19. Jahrhundert, in: Theologie in Göttingen (wie Anm. 45), S. 232–255, hier S. 244f. Vgl. Fleischer (wie Anm. 19), S. 406f.

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tralen Elementen dieses ‚aufklärerischen‘ Programms gehörte die zunehmende Abtrennung der „historischen Forschung in der Theologie von deren Dogmatik“, die nämlich, so wurde nun akzentuiert, „verschiedenen wissenschaftlichen Verfahren“ folgten.47 Um diese neue Sachlichkeit umzusetzen, spielte für die Kirchengeschichte im Gefolge Mosheims insbesondere die Sammlung und nüchtern-kritische Bewertung aller zugänglichen Quellen eine herausragende Rolle. Die moralische Dimension verband sich mit methodischer Konsequenz; die Verbindung aus beidem wurde im 18. Jahrhundert als „pragmatische“ (Kirchen-)Geschichtsschreibung bekannt. Mosheim scheint für Krohn einerseits keine besondere Rolle als Referenzpunkt gespielt zu haben. So finden sich nur ganz wenige explizite Zitate von oder Bezugnahmen auf Mosheim in Krohns Schriften.48 Von einer Kontaktaufnahme, die in den letzten Lebensjahren Mosheims immerhin theoretisch noch möglich gewesen wäre, ist nichts bekannt. Und doch war Krohn wenn nicht mit Mosheim selbst, so doch mit dessen unmittelbarem Umfeld gut verbunden. Sein insgesamt wichtigster Mentor und Ansprechpartner war Jacob Wilhelm Feuerlein (1689– 1766), ein jüngerer Kollege Mosheims an der Universität Göttingen. Feuerlein war Theologieprofessor und praktizierender Kirchenhistoriker, und es bestand ein dichter und reger brieflicher Austausch, der über die Historiographie hinaus auch zahlreiche Themen des alltäglichen Lebens betraf.49 Wenngleich auch Feuerlein seinen (ehemaligen) Kollegen Mosheim gegenüber Krohn kaum erwähnt, besteht doch kein Zweifel, dass er dessen Gedanken genau kannte und sie auch nach Hamburg vermittelte. In seiner als Brief an Krohn gestalteten Vorrede erklärte und verteidigte Feuerlein – mit Blick auf das vorliegende Hoffman-Buch, aber zugleich mit allgemeinerem Anspruch – das Projekt einer Ketzer- und Täufergeschichte. Dort findet sich folgender zentraler Passus: Ein critischer Geschichtsschreiber wird sich sehr wol in acht nehmen, daß er nicht aus parteyischen und unzuverläßigen Zeugnissen unschuldige Leute verketzere, oder ihre Fehler vergrössere; vielmehr wird er alles, was zu ihrer Entschuldigung dienen kann, wol überlegen, bey dem Gleichgewicht einander wiedersprechender Zeugnisse sich des Urtheilens enthalten, oder die Gelindigkeit darinnen vorwalten lassen.50

Krohn selbst hatte an der Ausarbeitung dieses Vorworts Anteil gehabt, und so darf es auch als Ausdruck seiner Position zur Kirchengeschichte verstanden 47 Walter Sparn, Vernünftiges Christentum. Über die geschichtliche Aufgabe der theoretischen Aufklärung im 18. Jahrhundert in Deutschland, in: Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, hrsg. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1985, S. 18–57, hier S. 26 (leicht umformuliert). Vgl. a. ebd., S. 28f. 48 Z. B. SUB Hamburg Cod. theol. 1183, fol. 1r. 49 Zahlreiche Briefe sind enthalten in SUB Hamburg Cod. theol. 1208 und 1209. 50 Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), Schreiben an den Verfasser (Feuerlein), S. 10 (separate Paginierung).

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werden. Auch ohne den Namen Mosheims prominent im Munde zu führen, stand der Hamburger Täuferhistoriker, vielleicht zusätzlich angeregt oder bestärkt durch Feuerlein, in dieser neueren historiographischen Tradition. Einige Jahre später, 1764, formulierte er dann auch selbst in entsprechender Weise: Es sei doch klar, daß ein Geschichtsschreiber sich es nicht müße merken laßen, daß er einer gewißen Religions confession zu gethan sey; wenn damit näml. angezeigt werden soll, daß es ihn nicht partheyisch mache, und ihn verleite, die historische Wahrheit zu verstellen, daß er von einer gewißen Confession ist.51

Die persönliche konfessionelle Identität des Historikers dürfe nicht dessen sachliches Urteil über die Vergangenheit beeinflussen. Dass sich Krohn daneben auch in stärker technischen und inhaltlichen Perspektiven von einer kirchenhistoriographischen Auffassung à la Mosheim leiten ließ, zeigt beispielsweise auch die skrupulöse Gründlichkeit Krohns hinsichtlich der Quellen- und Literaturarbeit. Auch die besondere Aufmerksamkeit auf die vorwiegend innerweltlichen, insbesondere biographischen Antriebskräfte der Geschichte lässt sich als Entsprechung zu Mosheim werten.52 Mit Mosheim verband Krohn schließlich die grundlegende Einsicht, „daß Kirche veränderlich ist“ und dass ihre Geschichte deshalb als eine historische Entwicklung zu erzählen sei.53 Noch ein letzter Punkt zeigt, dass Krohn und sein Werk (zusammen mit Feuerlein) in das Fahrwasser der mit Mosheim verbundenen, erneuerten pragmatischen Kirchengeschichte einzuordnen sind. Feuerlein fuhr nämlich direkt im Anschluss an die eben zitierte Passage fort: die Regul aber, de mortuis nonnisi bene, kann in der gesammten Historie und allen Arten derselben so gar nicht gelten, daß vielmehr nicht allein gute und lobenswürdige Handlungen zur Nachahmung, sondern auch böse und tadelswürdige Thaten, und zwar diese häufiger als jene, zur Verabscheuung in den Historien beschrieben werden müssen.54

Bei allem Beharren auf Critik und Unpartheylichkeit konnte und wollte Feuerlein in seiner Einleitung weder eindeutige moralische und dogmatische Positionen aufgeben noch die Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Ketzertum infrage stellen. Dass auch (oder: gerade) diese skrupulös und nuanciert vorgehende 51 Krohn an [Johann Jakob Breitinger], Hamburg 29. 6. 1764, in Zentralbibliothek Zürich Ms Bodmer 21.51. 52 Die göttliche Providenz, oder auch nur die dezidierte Frage danach, spielte in Krohns Buch kaum eine sichtbare Rolle. Zur Rolle biographischer Perspektiven bei Mosheim vgl. Bernd Moeller, Johann Lorenz Mosheim und die Gründung der Göttinger Universität, in: Theologie in Göttingen (wie Anm. 45), S. 9–40, hier S. 21. 53 Mühlenberg (wie Anm. 46), S. 233. 54 Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), Schreiben an den Verfasser (Feuerlein), S. 10 (separate Paginierung).

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Ketzergeschichte pädagogische und paränetische Funktionen haben und die Strahlkraft der Orthodoxie nur befördern sollte, war dabei auch für Feuerlein klar. Mosheim sah das ganz ähnlich: Das Projekt einer kritisch prüfenden, argumentierenden und moderat urteilenden Historiographie war bei ihm immer eingebettet in ein umfassendes Programm von Theologie und Frömmigkeit.55 Florian Neumann hat gezeigt, dass „Mosheims Kirchengeschichte […] eine Fortsetzung der Predigt mit anderen Mitteln“ war.56 Und auch für Krohn hatte, wie schon mehrfach gesehen, die Unparteilichkeit entsprechend ihre Grenzen, oder, genauer gesagt, ein tagesaktuelles Ziel. Mehrfach – zwar jeweils nur kurz, doch mit sehr präzise gestalteten und pointiert formulierten Worten57 – ging Krohn nämlich nahtlos und aktualisierend über von seiner historischen Rekonstruktion in eine Polemik gegen Graf Zinzendorf und die Herrnhuter: Es ist unstreitig damals [sc. am Beginn der Reformation] manchen Seelen, die um ihr wahres Heil bekümmert gewesen, und unter diese Verführer [sc. die Täufer] gefallen sind, eben das wiederfahren, was in unsern Tagen manchen guten einfältigen Herzen begegnet ist, die, aus Mangel der Gabe der Prüfung und einer geistlichen Erfahrung den Zinzendorfischen Schwärmern und Seelenmördern in die Hände gerathen sind und zum Theil nur gar zu spät ihre Verführung und ihren Verfall beseufzen und beweinen.58

Auch bei Krohn war das Bemühen um eine neue historische Umgangsweise mit der theologischen und kirchlichen Vergangenheit also an eine letztlich als pastoral zu bezeichnende Perspektive gebunden. Für Feuerlein wie Krohn – und genauso wie für Mosheim – war der Übergang von Kirchengeschichtsschreibung etwa zum Predigtamt fließend, und der „Nutzen“ einer erneuerten Methodik und Quellenforschung lag nicht zuletzt im Bereich der Apologetik. Es war für Feuerlein (und damit für Krohn) klar, daß Ketzereyen und Ketzer, an und für sich

55 Hierzu z. B. Moeller, Mosheim (wie Anm. 52), v. a. S. 15–20. 56 Florian Neumann, Mosheim und die westeuropäische Kirchengeschichtsschreibung, in: Johann Lorenz Mosheim (wie Anm. 44), S. 111–146, hier S. 115. 57 Vgl. a. die kurze Bemerkung SUB Hamburg Cod. theol. 1189, fol. 171r. 58 Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), S. 276f. Vgl. ebd., S. 359, Anm. I. Dieser Vergleich dürfte Krohn wohl nicht von selbst gekommen sein, vielmehr wurde er ihm von Jacob Wilhelm Feuerlein kurz vor Abschluss des Buchmanuskripts nahegelegt, vgl. den Brief von Feuerlein an Krohn, Göttingen 1. 10. 1756, SUB Hamburg Cod. theol. 1208, fol. 64r. Feuerlein hatte von einer entsprechenden Abhandlung des Rigaer Schulrektors Johann Loder erfahren, der sich mit „Die Herrenhutherey in Liefland“ befasst und dabei explizite Vergleiche zwischen Hoffman und Zinzendorf angestellt hatte. Abgedruckt ist dieser Text in Johann Gottlieb Biedermann (Hg.), Altes und Neues von Schulsachen, Teil III, Halle 1753, S. 196–215, v. a. S. 202–207. Dieser Text beginnt mit einer pointierten Verteidigung theologischen Expertentums, was dann insbesondere gegen die ‚Laientheologien‘ vom Schlage Hoffmans oder Zinzendorfs gewendet wird. Auf den angegebenen Seiten finden sich insbesondere zahlreiche Zitate aus Hoffmans Schriften, die Loders Text für Krohn zusätzlich wertvoll machten.

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betrachtet, einer so mühsamen Untersuchung und Beschreibung nicht werth seyn.59 Hier schließt sich dann auch der Kreis zum Beginn. Denn Krohns Interesse zumindest an der Täufergeschichte – und, darüber allerdings ist nichts Näheres bekannt, womöglich auch an der Kirchengeschichte generell – war ja aus einem apologetischen bzw. katechetisch-paränetischen Anlass geboren worden: Die Befassung mit der Vergangenheit entstammte der Notwendigkeit, die Kinder der Familie Goverts auf den rechten religiösen Weg zu bringen. Und, so betonte zumindest Archidiakon Heise in seiner Taufpredigt, es sei nicht zuletzt der – dank Krohn eben womöglich vergleichsweise stark historisch grundierte – Unterricht über die Wahrheit Gottes gewesen, der die Kinder überzeuget, und zur Annehmung der Evangelischen Wahrheit geneigt gemacht habe.60 Ob dieser biographische Ursprung von Krohns Faszination für die Täufergeschichte sein Verständnis von Kirchengeschichtsschreibung tatsächlich direkt beeinflusst hat, sei dahingestellt – doch bezeichnend für die weiterhin sichtbare, wenngleich moderat vorgetragene, religiöse Rahmung gerade auch der ‚modernen‘ aufgeklärten Historiographie wäre es.

59 Krohn, Hofmann (wie Anm. 7), Schreiben an den Verfasser (Feuerlein), S. 9 (separate Paginierung). 60 Heise, Tauf-Rede (wie Anm. 2), S. 30. Dort leider keine weiteren Details zur Katechese.

Mittelmeerraum

Helen J. Nicholson

Queen Sybil of Jerusalem as a Military Leader

Queen Sybil of Jerusalem (1186–1190), queen in her own right, is not known as a great military leader. She is more famous for her marriage to a man who was thoroughly hated by some of her most powerful and influential nobles and who lost her kingdom and his freedom to the Muslim ruler Saladin in 1187. However, by the time of her death she had ransomed her husband from Saladin, the Third Crusade was underway with the siege of Acre, and the ground had been laid for the eventual re-establishment of a much-reduced Kingdom of Jerusalem or Kingdom of Acre that would endure for almost another century. These small gains were partly due to the general-ship of King Guy, but arguably also due to Sybil’s own determination to continue the fight against Saladin after her husband’s defeat at Hattin. This chapter seeks to establish Sybil’s actions between Guy’s capture at Hattin on July 4, 1187, and his release from captivity at least ten months later, in late spring or early summer 1188, and to explore how far she was involved in military leadership during this period.1 It is not inherently unlikely that Queen Sybil was involved in military action, for in the twelfth century Latin Christian noble and royal women routinely took 1 For the life of Sybil of Jerusalem, see Bernard Hamilton’s study of her brother, King Baldwin IV: Bernard Hamilton, The Leper King and His Heirs: Baldwin IVand the Crusader Kingdom of Jerusalem, Cambridge 2000, p. 211–234; id., Women in the Crusader States: The Queens of Jerusalem, 1100–1190, in: Medieval Women, ed. Derek Baker (Studies in Church History Subsidia, 1), Oxford 1978, p. 161–174, at p. 171–172; Sarah Lambert, Queen or Consort: Rulership and Politics in the Latin East, 1118–1228, in: Queens and Queenship in Medieval Europe: Proceedings of a Conference Held at King’s College London, April 1995, ed. Anne J. Duggan, London 1997, p. 153–169, at p. 159–162; Natasha R. Hodgson, Women, Crusading and the Holy Land in Historical Narrative, Woodbridge 2007, p. 65, 71, 77–80, 128, 214–215, 226–227. For a discussion of Sybil’s reputation during her lifetime and in the following century, see Helen J. Nicholson, “La roine preude femme et bonne dame”: Queen Sybil of Jerusalem (1186–1190) in History and Legend, 1186–1300, in: The Haskins Society Journal 15 (2004; published 2006), p. 110–124. I am currently writing a biography of Queen Sybil for Routledge’s “Rulers of the Latin East” series. A shorter version of the present chapter, entitled Defending Jerusalem: Sybil of Jerusalem as a Military Leader, appeared in Medieval Warfare Magazine 9.4 (October/November 2019), p. 6–13.

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on military roles. Her grandmother, Queen Melisende of Jerusalem, had fought against her own elder son, Baldwin III, to maintain some control over the government of the Kingdom of Jerusalem; and although she came to terms and retired from the government, she obtained favourable terms and continued to exercise political influence.2 Bernard Hamilton has observed that, in 1157, while Baldwin was campaigning in Antioch, “Melisende took a military initiative,” recovering the cave-fortress of el-Hablis from the Muslims.3 One of Sybil’s auntsby-marriage (wife of her father’s half-brother Geoffrey of Anjou), Matilda “the Empress,” is famous for her military campaigns against her cousin Stephen of Blois, king of England, although she did not take part in military action herself.4 The wife of Sybil’s cousin King Henry II of England, Eleanor of Aquitaine, had (during her first marriage, to King Louis VII of France) taken part in the Second Crusade, led a rebellion against Henry II in 1173, and in 1202 defended Mirabeau castle against the forces of her nephew Arthur of Brittany.5 However, Sybil’s contemporaries did not have much to say about her military activity. Contemporaries and modern scholars have focussed on the career of her husband Guy of Lusignan, particularly the question of his responsibility for the defeat of the Christian army at Hattin in 1187.6 R. C. Smail demonstrated that contemporary depictions of Guy were influenced by political divisions within the Kingdom of Jerusalem as much as by Guy’s own military expertise or lack of it.7 These political considerations also influenced contemporary depictions of 2 Hans Eberhard Mayer, Studies in the History of Queen Melisende of Jerusalem, in: Dumbarton Oaks Papers 26 (1972), p. 93, 95–182, at p. 169. 3 Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 152–155; see Mayer, Studies (as n. 2), p. 174. 4 Marjorie Chibnall, The Empress Matilda: Queen Consort, Queen Mother, and Lady of the English, Oxford 1991, p. 97. 5 Ralph V. Turner, Eleanor of Aquitaine: Queen of France, Queen of England, New Haven, London 2009, p. 2, 77–98, 195, 216–227, 292. 6 René Grousset, Histoire des Croisades et du Royaume franc de Jérusalem, Paris 1935, new ed. with preface by Jean Richard, Paris 1991, vol. 2, p. 766, 769, 778, 781, 793, 795, 797; Steven Runciman, A History of the Crusades, London 1951–1952, vol. 2, p. 424, 439, 450–451, 454, 455; Marshall W. Baldwin, The Decline and Fall of Jerusalem, 1174–1189, in: A History of the Crusades, ed. Kenneth M. Setton, vol. 1: The First Hundred Years, ed. Marshall W. Baldwin, 2nd ed., Madison 1969, p. 590–621, at p. 596–597, 599–603, 605–614; Raymond C. Smail, The Predicaments of Guy of Lusignan, 1183–87, in: Outremer: Studies in the History of the Crusading Kingdom of Jerusalem Presented to Joshua Prawer, ed. Benjamin Z. Kedar, Hans Eberhard Mayer, Raymond C. Smail, Jerusalem 1982, p. 159–176. See also Bernard Hamilton, The Elephant of Christ: Reynald of Châtillon, in: Religious Motivation: Biographical and Sociological Problems for the Church Historian; Papers read at the Sixteenth Summer Meeting and the Seventeenth Winter Meeting of the Ecclesiastical History Society, ed. Derek Baker (Studies in Church History, 15), Oxford 1978, p. 97–108; reprinted in: Monastic Reform, Catharism and the Crusades (900–1300), ed. Bernard Hamilton (Variorum Collected Studies Series, 97), London 1979, no. XIII. 7 Smail, Predicaments of Guy of Lusignan (as n. 6).

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Sybil’s career, but were further complicated by contemporary gender stereotypes: contemporaries depicted Sybil in the light of how they believed a wife and noblewoman should act, rather than assessing her as a ruler or a military commander.8 Sybil was born before 1161, the eldest child of Agnes of Courtenay and Amaury (or Amalric), later king of Jerusalem, 1163–1174.9 Her father sent her to be brought up in the convent of Bethany near Jerusalem, where his aunt Yveta, sister of his mother Melisende, was abbess.10 As it became clear that her younger brother Baldwin, the prospective heir to the kingdom, was suffering from a debilitating disease identified as leprosy and would not live long, it was essential that Sybil, who was next in line to the throne of Jerusalem, should marry. Her husband would have to father her children – the future heirs to the throne, lead the army – which Sybil should not do, as it could endanger her child-bearing capability, lead negotiations with the kingdom’s Muslim neighbours, and rule as king. Probably those involved in choosing her a husband had in mind a similar arrangement in government as that which had operated under Sybil’s grandparents, Melisende of Jerusalem and Fulk of Anjou.11 First her father and then her brother tried to find her a suitable husband, a man of high noble rank to whom she was not related within the prohibited degrees. Following a series of failed negotiations and the death of her first husband William “Longsword” of Montferrat in 1180, Sybil married Guy of Lusignan.12 Although the English cleric and royal official Roger of Howden wrote that Sybil married Guy, videns … quod Gwido iste decorus esset (seeing that that Guy was good-looking), Bernard Hamilton has pointed out that “the marriage of the king’s sister and heir was a matter of state. Sibylla was not free to marry whom she

8 Her lack of visibility is reflected in the fact that modern English-language scholars have not yet agreed on how to render her name in English. Variants include “Sibyl” (for example, in Hamilton, Leper King (as n. 1)); “Sibylla” (in Malcolm Barber, The Crusader States, New Haven, London 2012); “Sybil” (in Kevin James Lewis, The Counts of Tripoli and Lebanon in the Twelfth Century: Sons of Saint-Gilles (Rulers of the Latin East, 1), Abingdon 2017); and “Sybilla” (in John Gillingham, Richard I (Yale English Monarchs), New Haven, London 1999). Given that her husband’s name is consistently rendered in its modern English equivalent as “Guy,” I will use the modern English spelling “Sybil” here. 9 For what follows, see Hamilton, Leper King (as n. 1), p. 24, 26, 30–31, 39–41, 101, 109–110, 118, 125–126, 139–141, 147, 150–158, 167, 194–197, 207, 217–221, 231–232; for an analysis of Sybil’s succession and authority as queen, see also Lambert, Queen or Consort (as n. 1), p. 159–162. 10 Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 164. 11 Ibid., p. 149. 12 Ibid., p. 164, 167.

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chose: the final decision rested with the king and his advisors.”13 Her marriage to Guy was arranged by her brother the king, and Hamilton argues further that it was on the advice of the siblings’ politically astute mother.14 Guy was the son of Hugh the Brown, one of the leading nobles of Poitou in western France, and he was a younger brother of Aimery of Lusignan, the royal constable of Jerusalem. He was thus of good birth, although not royal. As prospective heirs to the kingdom, Sybil and Guy received the lordships of Jaffa and Ascalon. As King Baldwin IV’s illness worsened, he could no longer govern, and in autumn 1183 Guy became regent of the Kingdom of Jerusalem. However, Guy quickly became very unpopular with some members of the nobility, and after only a few months Baldwin IV deposed him as regent. He then bypassed Sybil and Guy as heirs to the throne, having Sybil’s infant son Baldwin crowned as his heir and appointing as regent Count Raymond III of Tripoli, his nearest adult blood relative after Sybil.15 Baldwin IV tried to annul the marriage, but this failed when Guy and Sybil took refuge in their city of Ascalon. Baldwin IV died in 1185, and his infant nephew Baldwin V outlived him by no more than thirty-six months. On the death of Baldwin V, Sybil and Guy claimed the throne of Jerusalem: Sybil was crowned, and then she crowned Guy.16 They were supported by some of the leading nobles of the kingdom, but Guy’s enemies, led by the powerful Ibelin family, tried to persuade Sybil’s younger half-sister Isabel to take the throne with her husband Humphrey of Toron. Humphrey refused. Sybil’s reign was short, and she and Guy issued few charters together.17 In 1187 Saladin, ruler of Egypt and Damascus, invaded the Kingdom of Jerusalem. He

13 Roger of Howden, Gesta regis Henrici secundi: The Chronicle of the Reigns of Henry II and Richard I, A.D. 1169–1192, known commonly under the name of Benedict of Peterborough, ed. William Stubbs (Rolls Series, 49), London 1867, vol. 1, p. 343; Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 166. 14 Ibid., p. 167. 15 Ibid., p. 169–170. On the laws and customs governing regency in the kingdom see Jonathan Riley-Smith, The Feudal Nobility of the Kingdom of Jerusalem, London 1973, p. 185–186. 16 Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 170; Roger of Howden, Gesta regis Henrici secundi (as n. 13), vol. 1, p. 358–359; Ralph of Diceto pointed out that Guy was consecrated king of Jerusalem because his wife was the only daughter and heir of King Amaury: Ralph of Diceto, Ymagines historiarum, in: Radulfi de Diceto Decani Lundoniensis opera historica: The Historical Works of Master Ralph de Diceto, Dean of London, ed. William Stubbs (Rolls Series, 68), London 1876, vol. 2, p. 3–174, at p. 47. See also De expugnatione terræ sanctæ per Saladinum, Libellus, in: Radulphi de Coggeshall Chronicon Anglicanum [et alia], ed. Joseph Stevenson (Rolls Series, 66), London 1873, p. 209–262, at p. 211. At the time of writing the new critical edition of this text by Keagan Brewer and James H. Kane had not yet been published. 17 Die Urkunden der lateinischen Ko¨ nige von Jerusalem, ed. Hans Eberhard Mayer (Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum Latinorum Hierosolymitanorum), Hannover

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defeated the military forces of the kingdom, led by King Guy, at Hattin on July 4, 1187. Guy was taken prisoner. What did Sybil do then? Ralph of Coggeshall, monk and later abbot of the Cistercian abbey of Coggeshall in Essex, England, recorded that Sybil went to her city of Ascalon with her household and two daughters. She reinforced it with food and warriors to defend the city against Saladin, but in the following year she at last surrendered the city in return for the release of her husband, and so she liberated him from Saladin’s prison: Regina vero, Guidonis regis uxor, recepit se cum familia et duabus filiabus suis in civitate Aschalona, et eam munivit victualibus et bellatoribus; sed postmodum anno sequenti tradidit civitatem Salaadino pro redemptione mariti sui, et sic liberavit eum a carcere Saladini.18

In fact, Ascalon was surrendered to Saladin on September 4, 1187: the date is certain because the Itinerarium peregrinorum 1 refers to an eclipse which occurred on the day of the surrender.19 Roger of Howden also observed that Sybil surrendered Ascalon in exchange for her husband’s release: Eodem anno Sibylla regina Jerusalem dedit Saladino Scalonam pro redemptione Widonis de Lezinun, regis Jerusalem, mariti sui

but he placed this siege even later, in the spring of 1189.20 The author of the so-called “Latin Continuation of William of Tyre” (based largely on the Itinerarium Peregrinorum 1 at this point, but with additions from Roger of Howden), described Sybil’s command role at Ascalon as a long, drawnout struggle. He set the beginning of Saladin’s attack on Ascalon at the correct point in time, in the late summer of 1187 before Saladin marched on Jerusalem, but made the siege last until early spring 1188. As Saladin made his initial advance on the city, the author of the “Latin Continuation of William of Tyre” explained that the queen was in command:

2010, nos. 473, 474, 476, 477, 478, 479, 480, *481, 482 (p. 798, 800, 807, 810, 814, 817, 820, 821, 824). 18 Ralph of Coggeshall, Chronicon anglicanum, in: Radulphi de Coggeshall Chronicon Anglicanum [et alia], ed. Joseph Stevenson (Rolls Series, 66), London 1873, p. 1–208, at p. 22. Gervase of Canterbury, The Historical Works of Gervase of Canterbury, ed. William Stubbs (Rolls Series, 73), London 1870–1880, vol. 1, p. 374, uses the same phrase about Ascalon: victualibus et bellatoribus bene praemunita fuit, but does not mention Sybil. 19 William Stubbs in Roger of Howden, Chronica Magistri Rogeri de Houedene, ed. William Stubbs (Rolls Series, 51), London 1868–1871, vol. 3, p. cvi note 5. 20 Roger of Howden, Gesta regis Henrici secundi (as n. 13), vol. 2, p. 93; virtually the same words in Roger of Howden, Chronica (as n. 19), vol. 3, p. 20.

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Regina enim cum filiabus suis illic erat, et urbem, quantum temporum patiebatur angustia et moles miseriarum, viris, armis et victualibus communierat21 (for the queen was at that place with her daughters, and she had strengthened the city with men, arms, and provisions as much as the short time and the mass of miseries allowed).

But this author does not record that Ascalon fell to Saladin in September 1187. Instead, Saladin returned to attack it after the fall of Jerusalem in October that year: Sed quia in Aschalona reginam quasi inclusam reputavit, et iam spem conceperat se illam pro regis liberatione adepturum, tantummodo per urbem transitum faciens et civium animos pretemptans, cum eos in proposito resistendi fixos reperiret (but because he thought that he had the queen effectively shut up in Ascalon, and he had already conceived a hope of obtaining it in return for the king’s freedom, only making a transit past the city and testing the citizens, since he had discovered that they had a fixed intention of resisting him)

– he then went to besiege Tyre instead.22 Subsequently, after retreating from Tyre in the winter of 1187/1188, this author has Saladin returning a third time to besiege Ascalon. Finding that it was too well defended to be captured by assault, he offered to release the king, Guy, and a hundred knights in return for the city. Regina autem timens, ne id regi faceret, quod Rainaldo de Castellum feceret, habita deliberatio adquievit placito, ita tamen, ut sibi et omnibus christianis, qui exire vellent, cum omnibus suis liber exitus et salvus daretur conductus. (However, the queen, fearing lest [Saladin] would do to the king what he did to Reynald of Châtillon [that is, behead him], after deliberation acquiesced in his will, on condition however that she and all Christians who wished to leave should be given free exit with all that was theirs and safe conduct.)23

This was agreed, and the queen left the city: Egressa itaque regina ad comitem Tripolitanum, qui eam benigne recepit et humanissime tractavit. (Therefore, the queen went out to the count of Tripoli, who received her benignly and treated her most humanely.)24

21 Die lateinische Fortsetzung Wilhelms von Tyrus, ed. Marianne Salloch, Leipzig 1934, p. 74 (book 1, chap. 15). For the sources of this work see James H. Kane, Between Parson and Poet: A Re-examination of the Latin Continuation of William of Tyre, in: Journal of Medieval History 44.1 (2018), p. 56–82. 22 Lateinische Fortsetzung, ed. Salloch (as n. 21), p. 78 (book 2, chap. 1). 23 Ibid., p. 89 (book 2, chap. 9). 24 Ibid., p. 90 (book 2, chap. 9). This count of Tripoli was the successor to Raymond III.

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In fact, other sources record that Sybil went north only after the surrender of Jerusalem and Guy was not released until late spring or summer 1188. No other contemporary or near-contemporary writer mentioned Sybil’s defence of her city, not even the author of the Itinerarium peregrinorum 1, who mentioned her role later in the defence of the kingdom. Nevertheless, as Ascalon was her city it would have been reasonable for her to defend it. The contemporary Muslim commentators confirm that Saladin had King Guy brought before the walls of the city in chains, and made him urge the defenders to surrender.25 This would have had the most impact if Guy’s wife were commanding the defence. Sybil’s defence of Ascalon also fits in with her next probable location, as the Muslim historians ‘Ima¯d al-Dı¯n and Ibn al-Athı¯r agree that Sybil was in Jerusalem during Saladin’s siege.26 Ibn al-Athı¯r recorded that after the surrender of Ascalon early in September, Saladin sent the defenders, “women and children and their property to Jerusalem and fulfilled the terms he had given them”.27 If Sybil were among them, this would explain how she came to be at Jerusalem during the siege of the city. Ibn al-Athı¯r stated that after Jerusalem fell, Saladin “set free the queen of Jerusalem, whose husband, now a captive of Saladin, had become king of the Franks through her and ruled as her deputy. He also released her wealth and her retinue. She sought permission to go to her husband, at this time confined in the citadel at Nablu¯s. Saladin gave her permission, so she went to him and remained there with him.”28

However, the Muslim writers indicated that Sybil played no role in the defence of Jerusalem. According to them, the Patriarch of Jerusalem “revered by the Franks and more important than their king” led the defence, and negotiations for surrender were conducted by Balian of Ibelin. Ibn al-Athı¯r depicts Saladin rejecting the peace overtures of “several of their great men and notables” who approached him to ask for terms; only Balian was able to obtain terms of surrender by threatening that the inhabitants of Jerusalem would destroy the Muslim holy sites and then go down fighting to the last man. Saladin then agreed to allow the Franks to ransom themselves.29 25 Ibn al-Athı¯r, The Chronicle of Ibn al-Athı¯r for the Crusading Period from al-Ka¯mil fi’lta’rı¯kh, part 2: The years 541–589/1146–1193: The Age of Nur al-Din and Saladin, trans. Donald S. Richards (Crusade Texts in Translation, 15), Farnham 2007, p. 329; ‘Ima¯d al-Dı¯n, in: Abou Chamah, Le Livre des Deux Jardins, in: Recueil des historiens des croisades, Historiens orientaux, vol. 4, ed. l’Académie des inscriptions et belles-lettres, Paris 1898, p. 1–522, at p. 312–313. The translation in ‘Ima¯d al-Dı¯n al-Isfaha¯nı¯, Conquête de la Syrie et de la ˙ does not include this section of the Palestine par Saladin, trans. Henri Massé, Paris 1972, work. 26 ‘Ima¯d al-Dı¯n, in: Abou Chamah, (as n. 25), p. 332; Ibn al-Athı¯r, Chronicle (as n. 25), p. 333. 27 Ibid., p. 330. 28 Ibid., p. 333. 29 Ibid., p. 332–334; ‘Ima¯d al-Dı¯n, in: Abou Chamah (as n. 25), p. 332.

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The Chronique d’Ernoul et de Bernard le trésorier and the “Old French Continuation” of William of Tyre’s history, known as “Eracles,” which reached their current forms no earlier than the 1230s, agreed with the Muslim writers: the most active leader of the siege was Balian of Ibelin, the leading member of that noble family, while the Patriarch Eraclius was also influential, as were the Templars and Hospitallers.30 As the grand master of the Hospital had died at the battle of the Spring of the Cresson on May 1, 1187, and the grand master of the Temple had been in Saladin’s prison since the battle of Hattin it is questionable what influence these two Orders could have exercised. In any case, according to these works, after Ascalon had been surrendered to him Saladin had sent Guy of Lusignan to Nablu¯s and told Sybil to join her husband there: “for he did not wish that she should be in the city when he should go there to besiege it,” and the queen did so.31 This conflicts with the accounts of the contemporary Muslim writers, who agree that Sybil was in Jerusalem during the siege and went to Nablu¯s only after Jerusalem had surrendered.32 Ralph Diceto, Dean of London, recorded that Eraclius Patriarch of Jerusalem, Balian of Nablus, and Reginald lord of Sidon negotiated the terms of surrender and handed over Jerusalem to Saladin.33 The Libellus de expugnatione terrae sanctae per Saladinum depicted the Patriarch, Barisan (Balian), Rainier of Nablu¯s, and Thomas Patricius as involved in the defence of the city and negotiations with Saladin, and was scathing about the terms, declaring pereant isti mercatores pessimi (may those worst of merchants perish) who had sold the holy city as Christ had been sold.34 Neither of these writers mention Sybil as present in the city. 30 Chronique d’Ernoul et de Bernard le Trésorier, ed. L. de Mas Latrie, Paris 1871, p. 175–176, 214–230; La Continuation de Guillaume de Tyr (1184–1197), ed. Margaret Ruth Morgan (Documents relatifs à l’histoire des Croisades, 14), Paris 1982, p. 65–73. For the date, see Peter Edbury, Ernoul, Eracles, and the Beginnings of Frankish Rule in Cyprus, 1191–1232, in: Medieval Cyprus: A Place of Cultural Encounter, ed. Sabine Rogge, Michael Grünbart (Schriften des Instituts für Interdisziplinäre Zypern-Studien, 11), Münster 2015, p. 29–51, at p. 31, 34. 31 Hodgson, Women (as n. 1), p. 151, citing Continuation de Guillaume de Tyr, ed. Morgan (as n. 30), p. 62; Chronique d’Ernoul, ed. L. de Mas Latrie (as note 30), p. 185. 32 Ibn al-Athı¯r, Chronicle (as n. 25), p. 333; ‘Ima¯d al-Dı¯n, in: Abou Chamah (as n. 25), p. 332. 33 Ralph of Diceto, Ymagines historiarum (as n. 16), p. 56. 34 De expugnatione terræ sanctæ per Saladinum, Libellus, ed. Stevenson (as n. 16), p. 245, 246, quotation at p. 248. The Libellus claims that its author was a witness of Saladin’s conquest and was wounded by an arrow through the middle of his nose during the siege of Jerusalem (ibid., p. 230, 243, 245), but the status of this account remains doubtful because the Libellus also contains errors that suggest its author or authors did not have first-hand knowledge of all events. In particular, it records that Brother Jacquelin de Mailly, who died at the battle of the Spring of the Cresson on May 1, 1187, was the Marshal of the Temple, whereas he was not: ibid., p. 215; Jochen Burgtorf, The Central Convent of Hospitallers and Templars: History, Organization, and Personnel (1099/1120–1310) (History of Warfare, 50), Leiden 2008, p. 576.

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However, the near-contemporary author of the Itinerarium Peregrinorum 1, followed by the “Latin Continuation of William of Tyre,” recorded that the Patriarch Eraclius and Queen Sybil were pre-eminent, or in command, in the city of Jerusalem while it was under siege from Saladin and surrendered only because the cowardly and fearful common people urged them to do so.35 These two works do not mention Balian of Ibelin’s role in negotiating the surrender terms. In summary: the most contemporary and nearest to eyewitness Latin Christian account, that of the Itinerarium peregrinorum 1, states that Queen Sybil took a leading role in the defence of Jerusalem – as was proper, as she was the queen and Jerusalem was her city. The contemporary Muslim writers agree that she was there, but indicate that she did not play an active role in the command of the city’s defence. Other near-contemporary western Latin Christian writers did not mention her presence or role. The much later Chronique d’Ernoul and “Eracles” went out of their way to explain that she was not in the city because Saladin had taken specific measures to ensure she was not. How can we account for these differences? The various sources indicate a leadership divided between the Patriarch, the Templars and Hospitallers (neither Order having a grand master in place), Balian of Ibelin, and Queen Sybil. The Chronique d’Ernoul and “Eracles” imply that Balian’s was the leading voice, because he went to negotiate with Saladin. In the Latin Christian West, kings would meet as equals on neutral ground to negotiate, for example on a river, on an island, or at a border.36 Yet this was not the custom in the Muslim Levant. When Richard of England suggested a face-to-face meeting with Saladin, Saladin replied (in the words of his qadi, Baha¯’ al-Dı¯n Ibn Shadda¯d): “When princes meet, their subsequent enmity is disgraceful. When something is arranged, then it is good to meet … [but not] … until something is settled and a firm basis established. At that point there can be a meeting which will be followed by friendship and love.”37 35 Das Itinerarium peregrinorum: Eine zeitgenössische englische Chronik zum dritten Kreuzzug in ursprünglicher Gestalt, ed. Hans Eberhard Mayer (Schriften der Monumenta Germaniae Historica, 18), Stuttgart 1962, p. 263, 264; later revision in Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi, auctore, ut videtur, Ricardo, canonico Sanctae Trinitatis Londoniensis, ed. William Stubbs, in: Chronicles and Memorials of the Reign of Richard I, ed. William Stubbs (Rolls Series, 38), London 1864–1865, p. 3–450, at p. 20, 21 (book 1, chap. 8–9); translated in: Helen J. Nicholson, Chronicle of the Third Crusade: A Translation of the Itinerarium Peregrinorum et Gesta Regis Ricardi (Crusade Texts in Translation, 3), Aldershot 1997, p. 37, 38; Lateinische Fortsetzung, ed. Salloch (as n. 21), p. 75 (book 1, chap. 16). 36 Julia Barrow, Chester’s earliest regatta? Edgar’s Dee-rowing revisited, in: Early Medieval Europe 10, no. 1 (2001), p. 81–93; Paul Dalton, Sites and Occasions of Peacemaking in England and Normandy, c. 900–c. 1150, in: Haskins Society Journal 16 (2005), p. 12–26. 37 Thomas Asbridge, Talking to the Enemy: The Role and Purpose of Negotiations between Saladin and Richard the Lionheart during the Third Crusade, in: Journal of Medieval History 39, no. 3 (2013), p. 275–296, at p. 279, quoting Baha¯’ al-Dı¯n Ibn Shadda¯d, The Rare and

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Saladin did not deal face-to-face with enemy commanders, but expected to deal with an intermediary of lower status. In any case, a wise commander should not go in person to negotiate surrender terms with the enemy general, as this would not only be demeaning but also extremely risky. Instead, a commander seeking surrender terms would normally send a leading subordinate. At Jerusalem in the autumn of 1187 Balian was that subordinate, rather than being commander of the defence of Jerusalem. The Muslim writers would not have mentioned Sybil as overall commander of Jerusalem because it would have been demeaning for Saladin to be fighting against a woman and damaged his image as the ideal Muslim ruler who should protect the vulnerable, including noble women. In addition, I know of no examples from the twelfth century of Muslim rulers acknowledging a woman as a negotiator on behalf of a kingdom; she could negotiate only for the release of her husband or son.38 Again, the Chronique d’Ernoul and “Eracles” would not have credited Sybil with any agency in this siege. The author(s) wrote from the point of view of the Ibelin family, who hated Sybil because she had prevented their obtaining control of the throne, and who also needed to acquit themselves of the charge of bringing about this crisis through their opposition to King Guy and Queen Sybil and through their ally Raymond of Tripoli’s alliance with Saladin early in 1187.39 In contrast, I would argue that the Itinerarium Peregrinorum 1 was written at the siege of Acre between November 1190 and January 1191 expressly to urge the Anglo-Norman crusade to come from Sicily to Acre as quickly as possible to save the English king’s interests in the Holy Land: so it emphasised Sybil’s role as legitimate queen, heir of Fulk of Anjou, and active defender of Jerusalem.40 These divergent interests mean that it is now impossible to determine exactly what Sybil’s role was during the siege of Jerusalem, but given the statement of Itinerarium Peregrinorum 1, followed by the “Latin Continuation,” that she was Excellent History of Saladin or al-Nawa¯dir al-Sulta¯niyya wa’l-Maha¯sin al-Yu¯sufiyya, trans. ˙ 7), Aldershot ˙2002, p. 193–194. Donald S. Richards (Crusade Texts in Translation, 38 See Helen J. Nicholson, The True Gentleman? Correct Behaviour towards Women according to Christian and Muslim Writers: From the Third Crusade to Sultan Baybars, in: Crusading and Masculinities, ed. Natasha R. Hodgson, Katherine J. Lewis, Matthew M. Mesley (Crusades Subsidia, 13), Abingdon 2019, p. 100–112. Saladin negotiated with Queen Sybil only for the release of her husband: ‘Ima¯d al-Dı¯n al-Isfaha¯nı¯, Conquête de la Syrie (as n. 25), ˙ réunit à son époux: p. 106. In contrast, in p. 105–106: pour la reine, il la traita selon son rang, la the 1270s, Sultan Baybars acknowledged Isabel of Ibelin as ruler of Beirut: Peter Malcolm Holt, Early Mamluk Diplomacy, 1260–1290: Treaties of Baybars and Qala¯wu¯n with Christian Rulers, Leiden 1995, p. 44. 39 Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 166, 170; Edbury, Ernoul, Eracles (as n. 30), p. 34. 40 Helen J. Nicholson, The Construction of a Primary Source: The Creation of Itinerarium Peregrinorum 1, in: Cahiers de Recherches Médiévales et Humanistes / Journal of Medieval and Humanistic Studies 37 (2019), p. 143–165.

Queen Sybil of Jerusalem as a Military Leader

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one of the leading commanders, and the admission by the Muslim sources that she was in Jerusalem during the siege, it is possible that she did play a command role in Jerusalem, taking advice from the Patriarch, the Templars and Hospitallers, and Balian of Ibelin – who was sent out to negotiate with Saladin. As Balian was Sybil’s step-father (he had married the dowager queen, Maria Comnena, second wife of Sybil’s father King Amaury), it would have been reasonable for him to act on Sybil’s behalf. According to the Itinerarium peregrinorum 1, after the surrender of Jerusalem Sybil set off with the Templars, Hospitallers, and Patriarch Eraclius and a large group of exiles for the city of Antioch by way of Nablu¯s, where Saladin allowed her a brief meeting with Guy – in contrast to the longer stay indicated by the Muslim writers. Sybil apparently intended to embark for Europe but could not get a ship; the Itinerarium peregrinorum 1 stated that Conrad of Montferrat, who had taken over the defence of the port of Tyre, had her ship carried away to Tyre.41 As Conrad was Sybil’s brother-in-law through her first husband, William of Montferrat, we might expect that he would have co-operated with the queen, but the contemporary sources, all implacably opposed to Conrad, make no mention of it. The Itinerarium peregrinorum 1 does not state what Sybil did immediately after failing to embark for the West, only implying that she continued on her way to Antioch. Hamilton suggested that Saladin permitted Sybil to stay in Tripoli with her step-mother Maria Comnena, and that Sybil remained in Tripoli until she was joined by Guy on his release in 1188.42 This would not conflict with the “Latin Continuation’s” statement that she went to the count of Tripoli. Guy was at last released in spring or early summer 1188.43 According to the Itinerarium peregrinorum 1, he met Sybil at the island of Arwad near Tortosa, from where they went to Antioch and then Tripoli, gathering an army.44 Guy led the army to Tyre, where Conrad refused to admit him. Guy then proceeded to besiege the important city and port of Acre, which had been captured by Saladin in July 1187.45 The armies of the Third Crusade joined Guy and Sybil at Acre, and the siege continued for two years until the city was recaptured in July 1191. A few writers mentioned Sybil in passing at the siege of Acre. Roger of Howden wrote in his Gesta that Gwydo rex Jerosolimitanus cum regina et filiabus suis hospitatus est in Thorono subtus versus mare, versus caput montis (Guy, king 41 Itinerarium peregrinorum, ed. Mayer (as n. 35); Itinerarium peregrinorum, ed. Stubbs (as n. 35), p. 23 (book 1, chap. 10); see also Nicholson, Chronicle of the Third Crusade (as n. 35), p. 39. 42 Hamilton, Women in the Crusader States (as n. 1), p. 172. 43 Itinerarium peregrinorum, ed. Mayer (as n. 35), p. 268 (lines 12–15). 44 Ibid., p. 268–269; Itinerarium peregrinorum, ed. Stubbs (as n. 35), p. 25–26 (book 1, chap. 11); Nicholson, Chronicle of the Third Crusade (as n. 35), 42. 45 Roger of Howden, Chronica (as n. 19), vol. 3, p. 20.

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Helen J. Nicholson

of Jerusalem, was lodged at Turon with the queen and his daughters, between the sea on one side and the mountain top on the other).46 Yet she was not recorded as taking any active role. Most writers mentioned her only because she and her two surviving daughters Alice and Maria died during the siege, in late summer or early autumn 1190.47 With his wife dead, Guy no longer had a claim to the throne of Jerusalem; he was deposed as king, and Conrad of Montferrat was elected king in his place. Guy later became ruler of Cyprus. So, Sybil died while the war raged around her, having never given up the battle. The extent of her active involvement in that battle remains debatable, as contemporaries concealed her actual role in the course of promoting their individual agendas. That said, the evidence set out in this survey has shown that Sybil probably played a military command role in the defence of her kingdom, at least in the defence of Ascalon and possibly also Jerusalem. Both Muslim and Latin Christian primary sources agree that she was responsible for the successful negotiation of her husband’s release, and she accompanied her husband in his campaign to recover the city of Acre.

46 Roger of Howden, Gesta regis Henrici secundi (as n. 13), vol. 2, p. 95; similar in Roger of Howden, Chronica vol. 3, p. 22. 47 William of Newburgh, Historia rerum anglicarum, in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II, and Richard I, ed. Richard Howlett (Rolls Series, 82), London 1884–1889, vol. 1, p. 1–408, at p. 363 (book 3, chap. 24); Ambroise, Estoire de la Guerre Sainte, ed. Gaston Paris, Paris 1897, lines 3897–3904; Ambroise, The History of the Holy War: Ambroise’s Estoire de la Guerre Sainte, ed. Marianne Ailes, Malcolm Barber, Woodbridge 2003, vol. 1, lines 3891– 3898, vol. 2, p. 86; Ambroise states that Sybil and the two daughters of King Guy, dreiz heirs de la terre (ibid., line 3900), died just after the end of August 1190 (ibid., line 3892: Aprés haust); Itinerarium peregrinorum, ed. Mayer (as n. 35), p. 335, 336; Itinerarium peregrinorum, ed. Stubbs (as n. 35), p. 95, 97 (book 1, chap. 45–46); Nicholson, Chronicle of the Third Crusade (as n. 35), p. 101, 102; Roger of Howden, Gesta regis Henrici secundi (as n. 13), vol. 2, p. 141, 147 (“in the same year Sibylla queen of Jerusalem, wife of King Guy, and her two daughters, died in the siege of Acre”); Roger of Howden, Chronica (as n. 19), vol. 3, p. 70; Ralph of Diceto, Ymagines historiarum (as n. 16), p. 86; Lateinische Fortsetzung, ed. Salloch (as n. 21), p. 129 (book 3, chap. 14); L’Estoire de Eracles Empereur et la Conqueste de la Terre d’Outremer, in: Recueil des Historiens des Croisades, Historiens Occidentaux, vol. 2, ed. l’Académie des inscriptions et belles-lettres, Paris 1859, p. 1–481, at p. 151, 154 (book 25, chap. 10, and the variant readings C and G). “Eracles” places Sybil’s death shortly after July 15, stating that she died en cele saison. Kedar considers that Sybil must have died in October 1190 just before Conrad of Montferrat’s challenge to Guy of Lusignan over the kingdom of Jerusalem; see Benjamin Z. Kedar, The Patriarch Eraclius, in: Outremer: Studies in the History of the Crusading Kingdom of Jerusalem Presented to Joshua Prawer, ed. Benjamin Z. Kedar, Hans Eberhard Mayer, Raymond C. Smail, Jerusalem 1982, p. 177–204, at p. 204. See also Hans Eberhard Mayer, The Crusades, trans. John Gillingham, 2nd ed., Oxford 1988, p. 144; Sidney Painter, The Third Crusade: Richard the Lionhearted and Philip Augustus, in: A History of the Crusades, ed. Kenneth M. Setton, vol. 2: The Later Crusades: 1189–1311, ed. Robert Lee Wolff, Harry W. Hazard, 2nd ed., Madison 1969, 45–85, at p. 65–66.

Marie-Luise Heckmann

Humilitas oder Ambitio? – Die Wahl Papst Innozenz’ III.

Als sich Papst Innozenz III. unmittelbar nach seiner Wahl am 8. Januar 1198 mit einem Rundschreiben an die Christenheit richtete, wollte er seine Erhebung offenkundig in erster Linie als legitim rechtfertigen. Deshalb erinnerte er zunächst an die Beisetzung seines Vorgängers. Die Kardinäle aller drei Ränge hätten sich hernach an einen abgeschlossenen Ort begeben, um eine freie und (von Außeneinflüssen) sichere Beratung abzuhalten. Nach der Messe zum Heiligen Geist sei dann das Votum aller erfragt worden, und da hätten sich ihre Augen auf die Unzulänglichkeit Lothars von Segni gerichtet. Sie hätten gehofft, gleichsam im Sack des Benjamin den silbernen Becher zu finden, und das, obgleich viele von ihnen an Alter, Rang und Verdienst durchaus zum Gipfel einer solchen Würde hätten berufen werden können. Schon Petrus habe indes seine persönliche Schwäche durch dreimalige Verleumdung angezeigt, und so habe sich auch Lothar von Segni erst nach einigem Zögern der göttlichen Vorsehung gebeugt.1 In der Abhandlung „Über das Elend des menschlichen Daseins“, die Lothar von Segni im Winter 1194/1195 verfasst hat, heißt es über den Karrieristen: „Der Ehrgeizling lebt in ständiger Furcht und ist bestrebt, nichts zu sagen und zu tun, was geeignet sein könnte, ihn in den Augen der Menschen herabzusetzen. Er heuchelt Bescheidenheit und mimt Ehrbarkeit, er gibt sich leutselig und wohlwollend, er ordnet sich den anderen gehorsam unter, erweist allen Ehre und verbeugt sich vor aller Welt. Bei den Versammlungen geht er ein und aus, sucht jene auf, die mächtig sind, erweist ihnen Ehre und umarmt sie, schmeichelt ihnen und spendet ihnen Beifall. Er ist eifrig und behände, wo er zu gefallen glaubt, zurückhaltend und gelassen, wo er zu missfallen meint.“2

1 Die Register Innocenz’ III., 1, hrsg. Othmar Hageneder u. a. (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom 2/1, 1–12), Graz, Wien 1964, S. 3–5, Nr. 1. 2 Lotario de Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des menschlichen Daseins II 26, bearb. und übers. Carl-Friedrich Geyer, Hildesheim 1990, S. 80. Vgl. Lotario de Segni, De miseria conditionis humane II 26, hrsg. Michele Maccarone, Lucca 1955, S. 59. Die Übersetzung wurde für den Lesefluss leicht modifiziert.

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Marie-Luise Heckmann

Welche dieser beiden Eigenschaften, echte Demut oder versteckter Ehrgeiz, humilitas oder ambitio, ausschlaggebend für die Erhebung Lothars von Segni zum Papst im Jahre 1198 war, dieser Frage in der Festschrift für meinen langjährigen Freund Jürgen Sarnowsky nachzugehen, ist mir eine besondere Freude, nachdem er sich selbst in einem Artikel zum Tod des Großmeisters der Johanniter mit Blick auf die Rituale des Herrschaftsübergangs in einer weiteren geistlichen Korporation geäußert hat.3

Alter, Rang oder Verdienst? Alter, Rang oder Verdienst – die Frage, warum sich ausgerechnet der jüngste und als Kardinaldiakon vergleichsweise unbedeutende Kandidat Lothar von Segni hat durchsetzen können, hat die Forschung schon seit langem beschäftigt. Es wurden für diese Erhebung nicht nur politisch gefärbte Konstellationen im Kardinalskolleg,4 sondern auch bestimmte Karrieremerkmale5 sowie spezifische persönliche Bindungen6 ins Feld geführt. Eine umfassende prosopographische Untersuchung des Kardinalskollegs7 legt allerdings die Erkenntnis nahe, dass auch die Anciennität (also das Eintrittsalter) eine Rolle für die Konsensbildung unter den Papstwählern gespielt hat. Diese Vermutung wird nachfolgend zunächst anhand 3 Jürgen Sarnowsky, Der Tod des Großmeisters der Johanniter, in: Die Spiritualität der Ritterorden im Mittelalter, hrsg. Zenon Hubert Nowak (Ordines Militares, 7), Torun´ 1993, S. 205– 215; ND in: Jürgen Sarnowsky, On the Military Orders in Medieval Europa. Structures and Perceptions (Variorum Collected Studies Series), Farnham/Surrey, Burlington 2011, Nr. XIX. Vgl. auch Ders., The Oligarchy at Work. The Chapters General of the Hospitallers in the XVth Century (1421–1522), in: Autour de la première croisade, hrsg. Michel Balard (Byzantina Sorbonensia, 14), Paris 1996, S. 267–276, ND in: Ders., On the Military Orders., Nr. VI. 4 Karl Wenck, Die römischen Päpste zwischen Alexander III. und Innozenz III. und der Designationsversuch Weihnachten 1197, in: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht, hrsg. Albert Brackmann, München 1926, S. 415–474. 5 Volkert Pfaff, Die Kardinäle unter Papst Coelestin III., in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 41 (1955), S. 58–94; ebd. 52 (1966), S. 332–369; ebd. 75 (1989), S. 401– 407. Vgl. Peter Classen, Rom und Paris. Kurie und Universität im 12. und 13. Jahrhundert, in: Ders., Studium und Gesellschaft im Mittelalter, hrsg. Johannes Fried (MGH Schriften, 29), Stuttgart 1983, S. 127–169; Werner Maleczek, Die Brüder des Papstes. Kardinäle und Schriftgut der Kardinäle, in: Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia, hrsg. Klaus Herbers, Jochen Johrendt (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, NF 5), Berlin u. a. 2009, S. 331–372, bes. S. 343–346. 6 Olivier Hanne, De Lothaire à Innocent III. L’ascension d’un clerc au XIIe siècle (Le temps de l’histoire, 72), Aix–Marseille Université 2014, S. 87–158. 7 Werner Maleczek, Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216 (Publikationen des Historischen Instituts beim Österreichischen Kulturinstitut in Rom, 1/6), Wien 1984.

Humilitas oder Ambitio? – Die Wahl Papst Innozenz’ III.

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einer quantitativen Analyse überprüft und sodann in einer qualitativen Auswertung um die Aspekte Familiarität, Weihegrad (Ordo) und Karriere ergänzt.

Lebens- und Dienstalter Schaut man auf das Lebensalter, so war Lothar von Segni bei seiner Ernennung tatsächlich erst knapp 38 Jahre alt war, während fast alle übrigen Kardinäle bereits den Beginn des fünften Lebensjahrzehnts überschritten hatten. Nur Johannes von Salerno war etwa genauso alt wie er selbst. Die Grafik von Thomas Frenz zeigt, dass insgesamt nur vier Päpste bei Amtsantritt noch jünger waren als Lothar von Segni.8 Eine andere Erwägung betrifft die so genannte Lex beati Petri. Hiernach verkürzt die Erhebung zum Papst die weitere Lebenserwartung spürbar im Vergleich zu anderen Klerikern. Kein Papst sollte, so der Kardinal Petrus Damiani in einem Alexander II. gewidmeten Traktat, jemals das „Dienstalter“ des Apostels Petrus von 25 Jahren erreichen.9 Innozenz III. konnte bei seinem Ableben immerhin auf einen Pontifikat von achtzehn Jahren zurückblicken, während der Durchschnitt (von 213 Päpsten, die zwischen 30/33 und 1534 regierten) bei rund sieben Jahren liegt.10 Um länger zu überleben, soll Innozenz III. seine Lebensführung bald nach Amtsantritt durch eine bewusste Gesundheitsvorsorge und das Vermeiden jahreszeitlicher Krankheitsrisiken umgestellt haben.11 Doch galt die Lex beati Petri auch für die Kardinäle? Als Ausgangspunkt für die Analyse diene eine tabellarische Übersicht über das Kardinalskolleg vom Tod Clemens’ III. bis zum Tod Innozenz’ III. Die Kardinäle werden hierin entsprechend ihrem Eintrittsalter bei der ersten Erhebung aufgelistet. Angefügt sind gegebenenfalls die Erhebungsjahre zum Kardinalpriester, zum Kardinalbischof 8 Thomas Frenz, Papst Innozenz III. Weichensteller der Geschichte Europas?, in: Papst Innozenz III. als Weichensteller der Geschichte Europas. Interdisziplinäre Ringvorlesung an der Universität Passau, 5. 11. 1997–26. 5. 1998, hrsg. Ders., Stuttgart 2000, S. 7–19, bes. S. 8. 9 Zur Lex Petri vgl. Agostino Paravicini–Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit (C.H. Beck Kulturwissenschaft), München 1997, S. 21–34. 10 Grundlage der Berechnung: Bernhard Schimmelpfennig, Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike bis zur Renaissance, 3. Aufl., Darmstadt 1988, S. 337–347. Vgl. Bernd-Ulrich Hergemöller, Die Kindlein spotten meiner schier. Quellen und Reflexionen zu den Alten und dem Vergreisungsprozeß im Mittelalter (Hergemöllers historiographische Libelli, 4), Hamburg 2006, S. 32–36. 11 Agostino Paravicini-Bagliani, La mobilità della corte papale del secolo XIII, in: Itineranza pontificia. La mobilità della Curia papale del Lazio (XII–XIII), a cura di Sandro Carocci (Nuovi studi storici, 61), Rom 2003, S. 3–80; Annette Kehnel, Päpstliche Kurie und menschlicher Körper. Zur historischen Kontextualisierung der Schrift „De miseria humane conditionis“ des Lothar von Segni (1194), in: Archiv für Kulturgeschichte 87 (2005), S. 27–52, bes. S. 44–47.

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Marie-Luise Heckmann

Abb. 1: Das Wahlalter der Päpste (Grafik von Thomas Frenz)

oder gar zum Papst sowie in allen Fällen das Todesjahr. Anders als in der Analyse durch Werner Maleczek werden auswärtige Kardinäle in die Sortierung miteinbezogen. Mit einer eigenen Farbe hervorgehoben werden die jeweils etwa gleichzeitig kreierten Kardinäle.12 Die Tabelle wird anschließend in mehreren Einzelschritten ausgewertet. Eine erste Auswertung ergibt, dass die aufgeführten 71 Kardinäle (mit 16a) zwischen 1144 und 1216 eingesetzt wurden. Der erste unter ihnen verstarb 1191 (Nr. 19), der letzte im Jahre 1254 (Nr. 69), womit der Sterbezeitraum – statistisch betrachtet – beinahe exakt dem Erhebungszeitraum von sechs Jahrzehnten entspricht. Im Durchschnitt waren die Kardinäle rund 18 Jahre im Dienst (Gesamtverweildauer von 1303 Jahren/Anzahl von 71 Kardinälen). Die kürzeste Amtsdauer der in der Liste aufgeführten Kardinäle beträgt nur ein bis eineinhalb Jahre (Nr. 40 bzw. Nr. 24). Der dienstälteste Kardinal Hyacinth Bubonis (Nr. 1) konnte hingegen bei seinem Ableben auf die längste Amtsdauer im Kollegium überhaupt, nämlich auf 46 Jahre Dienstzeit unter elf Päpsten sowie elf Gegenpäpsten, zurückblicken. Cölestin III. kannte aus eigenem Erleben noch Papst 12 Grundlage der Tabelle: Maleczek, Kardinalskolleg (wie Anm. 7), S. 59–62. Die Nachweise für die einzelnen Kardinäle finden sich in der letzten Spalte; diese werden auch den späteren Aussagen zu diesen Namen zugrunde gelegt. Der Zisterzienser Gerard de Sessa, dessen Kardinalswürde unsicher ist, bleibt von der Zählung ausgenommen. Vgl. ebd., S. 125.

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Humilitas oder Ambitio? – Die Wahl Papst Innozenz’ III. Nr.

Name

KD

1

Hyacinth Bubonis = Cölestin III. Konrad von Mainz Johannes von Anagni Gratian Wilhelm von Reims Roger von Benevent Soffred Albin Gerard Pandulf Octavian Adelard von Verona Melior Petrus Dia(co)nus Roffrid von Montecassino Jordan von Fossanova Johannes Malabranca Bernard von St. Peter Gregor von Crescentio Johannes Felix Petrus von St. Peter Gregor von St. Aposteln Johannes von Viterbo–Tuscania Petrus Galloccia Rufin von Rimini Nikolaus Gregor Cecarello Romanus Gregor von St. Angelus Guido Lothar von Segni = Innozenz III. Cinthius Aegidius Hugo Johannes von Salerno Bobo von St. Theodor Cencius Savelli = Honorius III. Fidantius Johannes von St. Paul Petrus von Capua Gerard (Zisterzienser) Hugolin = Gregor IX.

1144

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 16a 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vor 1159 1178

1182 1182 1182 1182 1182

KP

KB

Papst / Tod

Biogramm

1191/1198

68-70

1188 1188

1200 1196 1205 1202 1221 1208/1210 1196 1208 Nach 1210 1206 Nach 1212 1197 1206 1210

67f. 70f. 71-73 68 68 73-76 76f. 78f. 79f. 80-83 68 83-85 85f. 68

1193 1200

1206 1192 1204 1207

86-88 88f. 89f. 90-92

1194 1191 1202

92 92f. 93f.

1199

1210/1211

94f.

1190

1211 1191/1192 1200 1211 1194 1202

95f. 96 96f. 97f. 98 98f.

1165 1167

1166 1190

1179 1180 1193 1185

1189

1189 1185

1185 1185

1188 1188 1188 1188 1188 1188 1188

1189

1188

1189

1188 1190 1190/91 1190 1190 1190

1191

1190 1190

1191

1206

1221 1198/1216

99-101 101-104

1190 1190 1190 1190 1193 1193

1191

1217

1217 1194 1206 1208 1199 1216/1227

104-106 106f. 107 107-109 111 111-113

1193 1200 1199

1205

1197 1214 1214 nach 1199

113f. 114-117 117-124 125f.

1227/1241

126-133

1193 1193 1193 1198 1198

1206

282 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Marie-Luise Heckmann Guido von Paredo Benedikt Johannes Anselm von Neapel Leo Branceleon Mattheus Guido Petrileon Guala Richeri Johannes Ferentin Nikolaus Petrus Roger Gregor von Galgano Johannes Colonna Octavian Petrus von Sasso Stephan Langton Ubert von Pirovano Pelagius Angelus Bertramn Petrus Collivaccin Robert von Corson Stephan von Fossanova Gregor von Crescentio Raineri von Viterbo Romanus Stephan Comes Thomas von Ebulo

1200 1200 1200 1200 1204 1204 1204

1201

1200 1213

1200 1202 1221 1211 1212 1204

1204 1204 1206 1206 1206

1205 1216 1217 1206 1206

1206 1206/07 1212 1212 1212

1211 1217 1216 1212 1213

1213

1217

1216 1216 1216 1216 1216

1236 1228 1216

1206 1216 1213 1211 1224 1205 1228 1227 1215 1218/1219 1206 1212 1224 1245 1234 1219 1228 1211 1230 1215 Nach 1221 1219/1220 1219 1227

133f. 134-136 136f. 125 137-139 137 140f. 141-146 146f. 147-150 150 150f. 151-153 154-162 163 163f. 164-166 153f. 166-169 169f. 170f. 172-174 175-179 179-183

1226

183f.

1250 1242/1243 1254 1239

184-189 189-195 195-201 201-203

Abb. 2: Die Kardinäle unter Cölestin III. und Innozenz III.

Innozenz II. (1130–1143), dem er wahrscheinlich auch die Berufung zum Kardinal verdankte. Möglicherweise war er zudem bereits unter einem der vier Amtsvorgänger jenes Papstes als Subdiakon tätig gewesen. Das persönliche Gedächtnis des neuen Amtsinhabers von 1191 reichte somit im Extremfall bis zu Paschalis II. (1099–1118), zumindest aber bis Gelasius II. (1118–1119), Calixt II. (1119–1124) oder Cölestin II. (1124) zurück. Cölestins Erfahrungsschatz berührte damit selbst noch die Anfänge des Kardinalskollegs, das sich bekanntlich seit dem späten Investiturstreit entwickelt hatte.13 Das kollektive Gedächtnis des Kardinalskollegs umfasste folglich bis zu vier Generationen der Amtserfahrung, wenn man eine Generation mit 25 Jahren ansetzt. Interessanter als diese Angaben ist indes die Auswertung der Tabelle im diachronen Längsschnitt. Unter Berücksichtigung der wegen Erhebung zum Papst oder auf Grund des eigenen Todes ausgeschiedenen Kardinäle wird dafür 13 Neuerer Überblick: Ulrich Schludi, Die Entstehung des Kardinalkollegiums. Funktion, Selbstverständnis, Entwicklungsstufen (Mittelalter-Forschungen, 45), Ostfildern 2014, S. 115– 179.

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1P 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 16a 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

1P 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 21 22 23 25 26 27 28 29 → 30 31 33 34 35 → 36 37 38 39

30 P 2

5 6 7 9 10

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35 ? → 36 38 39

30 P 4 6 7 9 10 11 12 14 15 16 17 18 22 23 26 29 31 33 34 → 36 38 39 → 41 42 43 44 45 46 47

30 P 6 7 10 11 12 15 18 22 23 26 29 31 34 → 36 38 39 → 41 42 43 44 45 46 48 49 50 51 53 54 55 56 57 58 59

30 P 6 10 12 22 23 26 29 31 → 36 38 39 → 41 42 43 44 45 46 48 49 50 51 53 54 55 56 57 58 59 60

30 P 6 29 31 → 36 → 41 42 43 46 48 49 50 51 54 55 57 58 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

36 P 6 29 31 → 41 (P) 42 46 48 49 51 54 55 57 58 60 62 63 64 65 66 67 68 69 70

∑ 34

∑ 34

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∑ 29

∑ 27

∑ 23

Abb. 3: Das Kardinalskollegium nach Amtszeiten (zu ausgewählten Stichdaten)

eine vierjährige Bilanzierung benutzt. Im Falle einer neuen Papsterhebung gilt das Datum des Todes des Amtsvorgängers, ansonsten der 31. Dezember des jeweiligen Berichtsjahres als Stichtag. Die überlebenden Kardinäle werden dabei jeweils neu nach Altersrang sortiert. Pfeile zeigen den Aufstieg der Päpste Cölestin III., Innozenz III., Honorius III. und Gregor IX. an. Die an Dienstalter äquivalenten Kardinäle sind mit ein und derselben Farbe unterlegt.14 Mit eckigen 14 Mit ihm gemeinsam wurde möglicherweise der Zisterzienser Gerard (Nr. 40) erhoben, der aber schon vor 1202 verstorben sein dürfte und deshalb in der vorliegenden Statistik nicht

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Klammern markiert werden die Mitbewerber Lothars von Segni im Jahre 1198. Durch Streichung gekennzeichnet sind hingegen die Kardinäle, die an der Wahl von 1198 nicht teilgenommen haben, mit einem Fragezeichen werden diejenigen versehen, deren Anwesenheit in Rom für diesen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden kann. Welche Schlussfolgerungen hinsichtlich der Chancen zur Papstwahl ergeben sich aus der Tabelle? Zunächst ist festzuhalten, dass die Gesamtanzahl der Kardinäle zwischen 18 und 34 schwankt. Die 18 Erhebungen, die Innozenz III. zwischen 1200 und 1206/1207 tätigte (Nr. 40–60), sind wohl als Reaktion auf die Schrumpfung des Kardinalskollegs auf nur 28 Mitglieder bei Amtsantritt bzw. 29 Mitglieder im Jahre 1202 zu verstehen. Die Gesamtzahl ließ sich aber angesichts von unregelmäßig eintretenden Todesfällen nur kurzfristig um drei Kardinäle auf 33 Amtsträger (1206) erhöhen und ging danach erneut auf 29 (1210), 27 (1214) bzw. 23 Personen beim Ableben des Papstes (1216) zurück. Diese unregelmäßigen Schwankungen erhöhten möglicherweise die Erhebungschancen der beiden tatsächlichen Nachfolger von Papst Innozenz. Beide stiegen nämlich im Verlauf von 24 (Cencius Savelli) bzw. 14 Jahren (Hugolin von Ostia) bis in die Gruppe der dienstältesten Kardinäle auf. Cencius Savelli war dabei etwa genauso lange im Dienst wie der vom Dienstalter hier weit vor ihm rangierende Petrus Galloccia. Cencius amtierte indes nicht nur als Kanoniker am Kollegiat-Stift Maria Maggiore, sondern war auch als Kämmerer und Leiter der päpstlichen Kanzlei tätig. Da ihn aber erst Cölestin III. zum Kardinal erhoben hatte, stand Cencius mit drei weiteren Kardinälen, die mit ihm gemeinsam 1193 ins Amt gekommen waren, bis zum Amtsantritt von Innozenz auf der allerletzten Rangstufe. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ein weiterer Amtsbruder, den Cölestin wohl am selben Tag wie Cencius Savelli ernannt hatte, bereits im Jahre 1197 verstorben war.15 Das Weihealter war hingegen im Fall Lothars von Segni wenig relevant für die Papstwahl. Er gehörte zu einer Alterskohorte von insgesamt elf Kardinälen, die Papst Clemens III. im Jahr 1190/1191 erhoben hatte. Diese verminderte sich zwischen 1191 und 1194 um drei Kardinäle (Nr. 24, 31f.). Die verbliebene AchterGruppe (Nr. 25, 28f., 31, 32f.) stieg innerhalb des weiteren Pontifikats von Cölestin III. vom letzten Rang auch lediglich bis ins letzte Drittel der Alterspyramide auf. Als Lothar von Segni im Jahre 1194 dem Kardinalbischof von Porto und Santa Rufina (1191–1212) die Abhandlung „Über das Elend des menschlichen Daseins“ widmete, stand er nach dem Dienstalter nur an 27. Stelle von 33 lebenden Kardinälen (von denen 28 an der Kurie tätig waren). Petrus Galloccia erfasst wird. Vgl. Maleczek, Kardinalskolleg (wie Anm. 7), S. 125f. Zu den Zahlen unter Cölestin und Innozenz ebd., S. 287–291. 15 Ebd., S. 111–113.

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nahm zu diesem Zeitpunkt hingegen den 20. Rang ein. Vor seiner eigenen Wahl war Lothar dann aufgrund weiterer Sterbefälle immerhin auf den 26. Rang unter 28 Kardinälen (davon 23 an der Kurie tätig) aufgerückt, während Petrus – ein bedeutender Mitbewerber – nach wie vor an 20. Stelle stand.16 Als aber Innozenz III. achtzehn Jahre später aus dem Leben schied, war sein Nachfolger Honorius III. (= Cencius) auf die dritte (bzw. unter Einbeziehung eines auswärtigen Kardinals auf die vierte) Altersstufe vorgerückt. Betrachtet man nun die Kardinäle, die zur jeweiligen Familia eines päpstlichen Patrons gehörten, als zusammengehörige Gruppe, so zeigt sich, dass die Anzahl der durch Cölestin III. kreierten Kardinäle in der Zeit von 1194 bis 1216 von fünf auf nur noch ein Mitglied (nämlich besagten Cencius) zurückgegangen war. Hugolin von Ostia, der kurz nach der Wahl seines Großonkels Innozenz III. zum Papst selbst zum Kardinal ernannt worden war, hatte hingegen gleich zu Beginn nur einen ranggleichen Mitbewerber. Dieser war 1198 gemeinsam mit ihm erhoben worden, schied aber schon kurz nach 1199 – gleichsam „vor der Zeit“ – aus dem Leben. Gerard (Nr. 40) taucht deshalb in der Übersicht erst gar nicht auf. Cencius († 1227) selbst trat das hohe Amt 1216 an. Hugolin folgte ihm schließlich 1227 als Papst nach († 1241 als Gregor IX.).17 Als eine günstige Voraussetzung, um Einfluss im Kardinalskolleg auszuüben und womöglich selbst zum Papst aufzusteigen, erscheint im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts folglich tatsächlich das Dienstalter. Geprüft wird nun die Relevanz der Zugehörigkeit zu einer päpstlichen Familia.

Familiaritas Was bedeutete familiaritas eigentlich für die Zeitgenossen des ausgehenden 12. und frühen 13. Jahrhunderts? Sofern der Ausdruck familia für eine Gruppe von Hörigen oder Halbfreien, die einem Kloster oder seltener einem Bischof anhängen, steht, ist er seit dem Hochmittelalter,18 häufiger dann seit der Stauferzeit belegt.19 Der substantivische Ausdruck familiaris bzw. im Plural familiares ist hingegen erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in den erzählenden Quellen 16 Ebd., S. 95f., 101–104. 17 Grundlage dieser Analyse: Ebd., S. 63–65. Vgl. Pfaff, Kardinäle (wie Anm. 5). 18 Charles Du Fresne Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis Bd. 2–3, Paris 1884 (ND Graz 1954), S. 407f. (familia, familiares). 19 In den Diplomen Friedrichs I. finden sich etwa 90 Belege für Hörigengruppen (familiae), in den Diplomen Heinrichs VI. mindestens 8 Belege, in den Diplomen Friedrichs II. mindestens 25 Belege. Zugang: MGH DD Fr. I, hrsg. Heinrich Appelt, 1, Hannover 1975, S. 493, 2, 1979, S. 665, 3, 1985, S. 503, 4, 1990, S. 687f. (familia, familiaris, familiaritas).

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nachweisbar.20 Seit dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts taucht er auch in der urkundlichen Überlieferung auf. In den Diplomen Friedrichs I., Heinrichs VI. und Konstanzes steht er als Bezeichnung für ihre engsten Vertrauten.21 Sei es als Anrede, sei es in der Narratio, verfestigt sich die Paarformel familiaris et fidelis noster schließlich in den Urkunden Friedrichs II.22 In Sizilien galt seit der Regierungszeit Wilhelms II. des Guten (1166–1189) nicht zuletzt eine Schutzgemeinschaft, die auf einer besonderen Beziehung zum König oder Fürsten beruhte, als familiaritas.23 Die Arengen kaiserlicher Urkunden heben die Gründe dieser Stellung hervor – so etwa eine Urkunde von 1161, die unter den Reichsfürsten ausdrücklich zwischen Verwandten und Vertrauten des Kaisers unterscheidet,24 oder auch zwei Diplome von 1161 bzw. 1178, die die Vertrautheit am Hof bzw. die Offenheit gegenüber Fremden im Spiegel materieller Gaben hervorheben.25 Das Formelbuch des Passauer Domkanonikers und päpstlichen Legaten Albert Behaim enthält auch eine Vorlage aus der päpstlichen Kanzlei (secreta secretorum). Diese ordnet die Vertrautheit (familiaritas) auf einer ganzen Skala von Beziehungen zwischen zwei Personen ein: Die Spannweite der Skala reicht dabei von Gerechtigkeit (iusticia), Zutrauen (confidentia) und Großzügigkeit (largitas) bis hin zu Vertrautheit (familiaritas) und Freundschaft (amicicia). Freundschaft umfasst dabei Rat (consilium) wie Hilfe (iuvamen).26 Der Ausdruck familia bzw. familiaris findet sich auch in den Briefen der Päpste Honorius III. und Gregor IX. sowie einem Schreiben mehrerer Kardinäle an den Papst. Im ersten und im dritten Fall geht es um Gruppen von Schutzbefohlenen, im zweiten Fall um einen einzelnen Vertrauten.27 20 Annales Pegavienses, hrsg. Georg Heinrich Pertz (MGH SS 16), Hannover 1859, S. 241, 25 (Verwandte oder Vertraute), 243, 49/53 (Vertrauter), 248, 1 (Vertrauter als Gesandter nach Rom), 251, 32 (Belohnung eines Vertrauten), 252, 57 (mit seinen fünf Dienstleuten), 253, 34– 39 (Wiederaufnahme des Erzbischofs von Magdeburg unter die Reichsfürsten in Vertrautheit und Ehre). 21 DD Fr I (wie Anm. 19), S. 116, Z. 42f., Nr. 70, S. 120, Z. 30f., Nr. 305, S. 48, Z. 10f., Nr. 576, S. 112, Z. 38–113, 1, Nr. 620, S. 159, Z. 27, Nr. 654 (Rat der kaiserlichen Familiaren), S. 273, Z. 43, Nr. 732, S. 80, Z. 27f., Nr. 851; DD Konst., S. 40, Z. 20, Nr. 11, S. 76, Z. 29, Nr. 23, S. 180, Z. 36f., Nr. 58, S. 190, Z. 7, Nr. 60; DD H VI., BB 349. 22 Rund 20 Belege. 23 Du Cange, Glossarium (wie Anm. 18), S. 408 (familiaritas). 24 DD Fr I (wie Anm. 19), S. 174, Z. 20–23, Nr. 338. 25 Ebd., S. 146, Z. 4–7, Nr. 339, S. 283, Z. 1–4, Nr. 737. 26 Das Brief- und Memorialbuch des Albert Behaim, hrsg. Thomas Frenz, Peter Herde (MGH Briefe des späteren Mittelalters, 1), München 2000, S. 258–340, Nr. 73, bes. S. 274, Z. 14–18. 27 MGH Epistol. saeculi XIII e regestis Pontificum Romanorum selectae 1, hrsg. Karl Rodenberg, Berlin 1883, S. 10f., Nr. 13 (1217, P 5433: Honorius III. an den Grafen von Orlamunde), bes. S. 11: Unde cum tu familiaribus tuis carere non possis nec sine ipsis votum peregrinationis implere, a nobis humiliter postulasti, ut saltim de familia tua specialibus, qui quasi pars tui corporis esse vedentur, dare licentiam dignaremur, ut tecum in Livoniam transire valeant, voto peregrinationis Terre sancte in aliud commutato …, S. 529f., Nr. 11 (1215, Kardinäle an den

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Die Bedeutung von familiaris schwankt insgesamt zwischen Schützling, Vertrautem, Bedienstetem und Gefolgsmann. Die Verwendung des Ausdrucks familiaris bzw. familiares in den um 1208 entstandenen Gesta Innocentii III entspricht diesem Wortgebrauch und ergänzt ihn um den Aspekt der Gewalttätigkeit, wenn es um herrenlose Familiaren geht. Im weltlichen Bereich bezieht sich die Bezeichnung vor allem auf Personen aus der nahen Umgebung Heinrichs VI. bzw. seiner Gemahlin Konstanze, wie zum Beispiel Markward von Anweiler.28 Im geistlichen Bereich heißen hingegen alle Mitglieder des päpstlichen Haushalts familiares. In beiden Fällen ist es somit die Beziehung zum Hausherrn, die die Angehörigen eines Haushalts verbindet. Im weltlichen wie im geistlichen Bereich war offenkundig die Aussicht auf sozialen Aufstieg die Haupttriebfeder, sich einer solchen Personengruppe anzuschließen. Eine vergleichbare Wortbedeutung für familiaritas wird bei dem englischen Chronisten Roger von Hoveden greifbar. Die familiaritas unter Geistlichen hat für ihn ihren Hintergrund in der bischöflichen Haushaltung. Die Dienstleute, die unter dem Schutz des Bischofs stehen, erhalten eine kleine Pfründe oder Entlohnung und hoffen auf kirchlichen Aufstieg. Sie bleiben ihrem Schutzherrn lebenslang eng verbunden.29 Eine Gemeinschaft, die auf Macht und Ehre bzw. auf Dienst und Treue gegenüber einem Herrn verwies und dem Schutz einer Person oder Sache diente, entsprach der sozialgeschichtlichen Entwicklung: Sowohl das Königreich Sizilien als auch die Königreiche England und Frankreich verfügten am Ende des 12. Jahrhunderts über kleine, freie Landbesitzer, und auch im Deutschen Reich stellten die (teilweise unfreien) Ministerialen eine soziale Schicht dar, aus der sich Vertraute für besondere Aufgaben rekrutieren ließen.30 Ob Lothar von Segni einer Kardinalsfamilie angehörte, lässt sich nur schwer nachweisen, da die Quellen eine solche Gruppierung für seinen Pontifikat noch nicht ausdrücklich nennen. Immerhin verfügte Lothar über langjährige Beziehungen zu dem Kardinal Octavian. Hierfür ist zunächst auf die in Frankreich Papst), bes. S. 30: Et ut possint omnia executioni mandari, mittimus ad pedes sanctitatis vestre Romanum et Nicolaum familiarem mei Stephani cardinalis, qui hiis omnibus interfuerunt et omnia plene noverunt …, S. 520–530, Nr. 636 (1235 April–Mai, Frieden zwischen der Stadt Rom und der Kirche), bes. S. 522: Prima, quod omnes clerici et ecclesiastice persone, qui sunt in Urbe et extra, et familie domini pape ac cardinalium conveniuntur tantum sub iudice ecclesiastico … 28 Gesta Innocentii III Cap. XXXVI–XL, MPL 216, Sp. LXIID–LXXXB; hrsg. Gress-Wright, PhDiss. [Xerocopy] Ann Arbor 1999, S. 51–60. 29 The Ordinal of the Papal Court from Innocent III to Boniface VIII and Related Documents, hrsg. Stephen Joseph Peter van Dijk, compl. Joan Hazelden Walker (Spicilegium Friburgense, 22), Freiburg, Üchtland 1975, S. 298f. Vgl. Paravicini-Bagliani, Leib des Papstes (wie Anm. 9), S. 85. 30 Als Beispiel sei an die Freilassung des Familiaren Markward von Anweiler erinnert. Vgl. dazu Ingeborg Seltmann, Heinrich VI. Herrschaftspraxis und Umgebung, Erlangen 1983, S. 137 (gemäß Ursberger Chronik).

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entstandenen Kontakte zu Stephan von Tournai, Albert von Morra (dem späteren Papst Gregor VIII.) und dem Kardinal Octavian zu verweisen.31 Einem beiläufigen chronikalischen Hinweis ist dabei zu entnehmen, dass Lothar von Segni von Paris nach England gereist war, um am Grab des Märtyrers Thomas Beckett zu beten.32 Er befand sich bei seiner Reise wahrscheinlich im Gefolge des Kardinals Octavian. Ihm folgte er nach dessen Erhebung zum Kardinalbischof als Kardinaldiakon von Sankti Sergius und Bacchus, und beide verband überdies eine lebenslange besondere Freundschaft (familiaritas).33 Die familia, die Innozenz selbst als Papst begründete, lässt sich erstmals 1203/ 1208 in den Gesta Innocentii III greifen. Aus ihr gingen nach Aussage des anonymen Biographen acht Kardinäle (Nr. 41, 46, 38, 39, 50, 51, 55, 56) sowie 17 Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte hervor.34 Außerdem gelten noch mindestens zwei weitere Kardinäle (Nr. 63, 67) als päpstliche Familiaren. Insbesondere an den Ernennungen Hugolins von Ostia (Nr. 41) und Octavians des Jüngeren (Nr. 56) wird deutlich, dass Innozenz III. die Wirkungskraft nicht nur der Familiarität, sondern auch von Weihegrad und Anciennität durchaus kannte, versuchte er ihnen doch durch eine frühzeitige Beförderung eine starke Stellung im Kollegium zu geben. Die Wirkungskraft des Dienstalters zeigt sich demgegenüber im Alltagsleben der Kardinäle. Stimmte das Weihealter überein, so saßen die Kardinäle desselben Weihegrades in der Kirche, der Audientia, dem Konsistorium oder einem Konzil eng beieinander. Sie stimmten nach dem Dienstalter ab, durften in der Reihenfolge ihres Amtsantrittes im Konsistorium und Konzil das Wort ergreifen und hatten in dieser Weise auch ihre Ehrerbietung gegenüber dem Papst respektive den rang- und dienstälteren Kardinälen zu erweisen.35 Dreh- und An-

31 Hanne, Lothaire (wie Anm. 6), S. 90–92. 32 Willelmi Chronica Andrensis, hrsg. Johannes Heller (MGH SS 24), Hannover 1879, S. 738. Vgl. John C. Moore, Pope Innocent III. (1160/61–1216). To Root Up and to Plant (The Medieval Mediterranean, 47), Leiden, Boston 2003, S. 7f. Mit abweichender Chronologie Ders., Lotario dei Conti di Segni (Pope Innocent III) in the 1180s, in: Archivum Historiae Pontificiae 29 (1991), S. 255–258. 33 Hanne, Lothaire (wie Anm. 6), S. 139. 34 Gesta Innocentii III Cap. CXLVI–CXLVIII (wie Anm. 28), Sp. CCXIIA–CCXXVA; hrsg. Gress-Wright (wie Anm. 28), S. 352f. Zum beweglichen Nachlass vgl. Brenda M. Bolton, Qui fidelis est in minimo. The Importance of Innocent III’s Gift List, in: Pope Innocent III and his World, hrsg. John Clare Moore u. a., Aldershot 1999, S. 114–140. Zur mutmaßlichen Unterkunft der päpstlichen Familia vgl. Anna Maria Voci, Nord o Sud? Note per la storia del medioevale Palatium apostolicum apud Sanctum Petrum e delle sue capelle (Capellae Apostolicae Sixtinaeque Collectanea Acta Monumenta, 2), Città del Vaticano 1992, S. 84–88. 35 Sacrarum Caeremoniarum sive Rituum Ecclesiasticorum Sanctae Romanae Ecclesiae Libri Tres, bearb. Agostini Patrizi, hrsg. Christoforo Marcello, Venedig 1516 (ND Venedig 1582), hier I 8, Cap. 2–3, 7–8, 17, I 9, Cap. 1, 1516 (ND 1582), fol. 65r–66v, 67rv, 71rv, 74rv.

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gelpunkt war dabei die Reihenfolge, in der die Kardinäle den Papst wählten.36 Auch die Kardinalsunterschriften unter päpstlichen (Schutz-)Urkunden waren seit dem zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts nach Rang getrennt, beachteten aber innerhalb einer Rangstufe das Eintrittsalter: Die Namen der Kardinalbischöfe standen hinter dem Namen des Papstes in der Mitte, die der Kardinalpresbyter links und die der Kardinaldiakone rechts darunter.37

Ordo und Karriere Diese Beobachtungen geben Anlass, die Auswertung um die Aspekte Amtstitel (Ordo) und Karriere zu erweitern. Die nachfolgende Übersicht zeigt die Karriereverläufe mit Blick auf das Dienstalter und den Amtstitel (Weihegrad). Die Farben stehen erneut für die verschiedenen Alterskohorten, mit Anführungszeichen werden angehende Päpste gekennzeichnet, während Sternchen und Pfeile Karrieresprünge in einen höheren Kardinals-Ordo wiedergeben. Diese Aufstiegsmomente hingen übrigens ausschließlich von der Entscheidung des amtierenden Papstes ab. Eckige Klammern stehen wiederum für die Mitbewerber Lothars von Segni im Jahre 1198. Wie man an Abb. 4 ablesen kann, hat Innozenz’ III. bei der Berufung und Beförderung von Kardinälen mehr Rücksicht auf Familiarität, Verwandtschaft und das eigene Unterscheidungsvermögen als auf das Dienstalter oder den Weihegrad eines Kardinals genommen. Es kam im Extremfall zur Erhebung des völlig unbekannten Nikolaus (Nr. 51), eines Kaplans, den der Papst gleichsam über Nacht 1204 zum Kardinalbischof und zu seinem Vertrauten machte. Selbst der spätere Papst Cencius Savelli (Nr. 36) musste letzteren akzeptieren, obgleich 36 Vgl. Josef Klotzner, Kardinal Dominikus Jacobazzi und sein Konzilswerk. Ein Beitrag zur Geschichte der konziliaren Idee (Analecta Gregoriana B, 6), Rom 1948, S. 116–118. Zur Datierung des Kommentars in die Jahre 1512–1523 ebd., S. 68f.; zur Benutzung des Caeremoniale ebd., S. 114f., Anm. 23. Hier auch Hinweise auf Hostiensis und Johannes Andreae als ältere Vorlagen. Zu Unterscheidungen im mittelalterlichen Kardinalskolleg vgl. John Anthony Watt, The Constitutional Law of the College of Cardinals. Hostiensis to Johannes Andreae, in: Mediaeval Studies 33 (1971), S. 127–157, bes. S. 151 (Hostiensis, Apparatus 1.6.6: Vorschlagsrecht der Kardinalbischöfe bei der Papstwahl, Rücksicht auf den Rang eines jeden Ordo in sedibus et votibus bei einem Kompromiss). 37 Maleczek, Kardinalskolleg (wie Anm. 7), S. 320; Ders., Die eigenhändigen Unterschriften der Kardinäle, ein Spiegelbild ihrer Persönlichkeit?, in: Päpstliche Herrschaft im Mittelalter. Funktionsweisen, Strategien, Darstellungsformen, hrsg. Stefan Weinfurter, Ostfildern 2012, S. 239–299, bes. S. 295 (Unterschriften mehrerer Kardinäle, darunter die Lothars von Segni, unter JL 17014, 1193 VI 10); Ders., Eigenhändige Unterschriften vom 8. bis 13. Jahrhundert, in: Urkunden, Schriften, Lebensordnungen. Neue Beiträge zur Mediävistik, hrsg. Andreas Schwarcz, Katharina Kaska, Wien, Köln, Weimar 2015, S. 161–192, bes. S. 187f. Vgl. auch Schludi, Entstehung (wie Anm. 13), S. 72–105.

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1P 2 KB 3 8 11 23 5 KP 6 12 14 15 22 27 31 * → 29 *→7 * → 17 * → 38 4 KD 13 9 10 16 18 21 25 26 "30" 32 33 34 35 "36" 37 39

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30 P 23 KB 22 *** → 51 * → 38 ** → 29 ***→ "41" * → 42 6 KP 7 12 15 31 17 39 45 43 46 * → 53 9 KD 10 26 34 "36" 44 48 49 50 54 55 56 57 58 59

30 P 23 KB 22 51 38 29 "41" 42 6 KP 12 31 39 45 43 46 53 * → 57 * → 58 10 KD 26 "36" 44 48 49 50 54 55 56 59 60

30 P 51 KB 29 "41" 42 * → 43 ** → 60 6 KP 31 57 58 * → 49 * → 50 ** → 64 ** → 65 "36" KD 46 48 54 55 61 62 63 66 67 68 69 70

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∑ 23 (24)

Abb. 4: Das Kardinalskollegium nach Weihegrad und Amtszeit (zu ausgewählten Stichdaten)

zu diesem Zeitpunkt bereits sieben dienstjüngere Kardinäle an ihm vorbeizogen waren.38 Bis 1206 kamen noch fünf weitere Kreaturen des Papstes hinzu. Wer waren diese Kardinäle? Haben vielleicht die am Aufstieg Gehinderten 1216 Cencius Savelli zum Papst gewählt? Wer hat somit seine Enttäuschung geteilt? Die 1214–1216 ernannten Kardinäle kamen von außerhalb (Nr. 62, 64), aus der Kapelle (Nr. 61), der Familia (Nr. 63, 67) oder der Verwandtschaft des Papstes (Nr. 69), in zwei Fällen auch aus dem Umfeld eines anderen Kardinals (Nr. 66, 38 Zu Nikolaus vgl. Maleczek, Kardinalskolleg (wie Anm. 5), S. 146f.

Humilitas oder Ambitio? – Die Wahl Papst Innozenz’ III.

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70). Honorius III. hat sechs bis sieben Kardinäle nach seinem Amtsantritt zu Kardinalbischöfen promoviert, doch nur Cinthius (Nr. 31) war ebenso wenig wie er selbst unter Innozenz III. aufgestiegen.39 Der Wahlvorschlag für Honorius III. kam folglich nicht aus der Zweiergruppe der mutmaßlich Enttäuschten. Er war vielmehr das Werk von zwei Kompromissären, denen das Kardinalkollegium einen entsprechenden Auftrag erteilt hatte.40 Bei dem einen handelte es sich um den schon mehrfach genannten päpstlichen Protegé Hugolin (Kardinalbischof von Ostia), bei dem anderen um einen stadtrömischen Kleriker und Verwandten Innozenz’ II. (1130–1143), der – einmalig in der Titulatur – als Kardinalbischof von Preneste amtierte. Beide scheinen bei ihrer Entscheidung trotz der eigenen steilen Karriere die Anciennität stärker als die Familiarität bzw. die natürliche Verwandtschaft berücksichtigt zu haben. Im Kardinalskollegium standen sich zu diesem Zeitpunkt im Übrigen fünf Kardinalbischöfe, acht Kardinalpriester und neun Kardinaldiakone gegenüber. Die Hypothese, dass 1198 mehrere von der eigenen Karriere enttäuschte Kardinäle Lothar von Segni zum Papst erhoben haben, erweist sich hingegen durchaus als plausibel. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass 1) nur 18 bis 20 Kardinäle überhaupt an dieser Wahl teilnahmen, 2) es außer Lothar von Segni 14 weitere Kardinaldiakone gab, die nach ihrer Ernennung nicht weiter aufgestiegen waren, 3) ein Kardinalbischof, fünf Kardinalpriester und ein bis drei Kardinaldiakone nicht oder wahrscheinlich nicht an der Wahl teilgenommen haben. In diesem Fall gibt es sogar eine zeitgenössische Quelle, mit deren Aussagen sich die aufgestellte Hypothese überprüfen lässt. Der englische Chronist Roger von Hoveden († 1201), ein vergleichsweise gut informierter, wenn auch etwas geschwätziger Zeitgenosse,41 beschreibt die Wahl Lothars von Segni zum Römischen Pontifex mit kurzen, aber einprägsamen Sätzen. Hiernach war der hoch betagte Papst Cölestin III. (1191–1198) einige Monate vor seinem Tod so stark erkrankt, dass er Johann von Sankt Paul (Nr. 38) zu seinem Nachfolger einsetzen wollte. Im Gegenzug bot er seinen Rücktritt an. Dieses Ansinnen stieß aber im Kardinalskolleg auf wenig Zustimmung. Wenig später formierten sich stattdessen mehrere Fraktionen mit eigenen Kandidaten. Genannt werden vier Männer: der Kardinalbischof Octavian von Ostia († 1206, Nr. 11), der Kardinalbischof Petrus Galloccia von Porto († 1211, Nr. 23), der Kardinaldiakon Gratian von 39 Nr. 6, 29, 31, 48, (54), 62 und 63. Eine Selbstwahl (Nr. 36) bleibt ebenfalls nicht ausgeschlossen. Nr. 40, 45, 50 und 54 gehörten zur Familia Innozenz’ III. und dürften deshalb kaum für Cencius votiert haben. 40 Olga Joelsen, Die Papstwahlen des 13. Jahrhunderts bis zur Einführung der Conclaveordnung Gregors X (Historische Studien, 178), Berlin 1928, S. 13 (nach Buoncompagno). 41 So hält ihn Helene Tillmann, Papst Innocenz III. (Bonner historische Forschungen, 3), Bonn 1954, S. 2, sogar für unglaubwürdig.

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Sankt Cosmas und Damian († 1205, Nr. 4) und der angebliche Kardinalpriester (eigentlich Kardinaldiakon) Jordan von Fossanova († 1206, Nr. 16).42 Alle vier konnten wegen fortgeschrittenen Lebensalters nur noch bei der anstehenden Wahl auf Erfolg hoffen. Sie standen nach Macht und Rang auf verschiedenen Stufen der sozialen Hierarchie. Die beiden erstgenannten Kardinäle nahmen die obersten Stufen der Rangordnung ein, während Jordan von Fossanova aus einem einflussreichen Grafengeschlecht des Latium stammte und von Cölestin III. mit wichtigen Gesandtschaften betraut worden war. Gratian führte immerhin den Ordo der Kardinaldiakone an. Unter Innozenz III. sollte er dann aber ebenso wenig hervortreten wie Jordan, den man unter Cölestin noch für seine Unbestechlichkeit gelobt hatte. Vielleicht wird er aus diesem Grund unter den Kandidaten von 1198 genannt. Octavian war hingegen mit Lothar von Segni verwandt, Petrus Galloccia gehörte zu dessen näherem Umfeld. Als Cölestin dann am 8. Januar 1198 im Alter von rund 92 Jahren verstarb, versammelten sich, so Roger von Hoveden, sogleich mehrere Kardinäle zur Neuwahl im Septizonium. Eine weitere Gruppe trug inzwischen den Verstorbenen zu Grabe, unter ihnen Octavian und Lothar von Segni. Nachdem sich beide Gruppen wieder vereinigt hatten, kam es mindestens zu zwei Wahlgängen. Es stellt sich die Frage, wer bei dem oder den ersten Wahlgängen gewählt worden war, weshalb gerade die beiden jüngsten Kardinäle übrigblieben und warum im letzten Wahlgang ausgerechnet Lothar die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte. Es spricht viel dafür, dass es zu einer Absprache zwischen den beiden Kardinalbischöfen Octavian und Petrus Galloccia als Kompromissären kam. Sofern weder einer von ihnen noch einer der sieben anwesenden Kardinalpriester eine ausreichende Stimmenanzahl unter den 12 bis 14 anwesenden Kardinaldiakonen finden konnte, blieb den Papstmachern wohl nichts anderes übrig, als zwei Kardinaldiakone zu benennen. Vielleicht gingen also in diesem Moment die beiden ebenfalls als Kandidaten erwähnten Kardinaldiakone Gratian und Jordan ins Rennen. Als diese scheiterten, kamen dann zwei weitere Namen ins Spiel: zum einen Johannes von Salerno, ein asketisch veranlagter und diplomatisch versierter Mönch aus Montecassino (Nr. 34), zum anderen Lothar von Segni, ein in Frankreich ausgebildeter, aber noch nicht weiter hervorgetretener Sprössling eines einheimischen Adelsgeschlechts (Nr. 30). Es handelte sich um zwei an Lebensalter „blutjunge“ und nach dem Dienstalter weit hinten rangierende Kandidaten. Der Wunsch nach einer Abkehr von der bisherigen Gerontokratie ist

42 Roger von Houedene, Chronica, hrsg. William Stubbs, 4 (Rerum Britannicarum Medii Ævi Scriptores, 51), London 1871 (ND Nendeln/Liechtenstein 1964), S. 32f.

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angesichts beider Namen fast mit den Händen greifbar,43 und die verfügbaren Stimmen mussten nun gebündelt werden. Johannes von Salerno konnte schließlich, so der Chronist Roger von Hoveden, zehn Stimmen auf sich vereinen, verzichtete aber zu Gunsten des mit vermutlich zehn bis zwölf Stimmen etwa gleich aufliegenden Mitbewerbers Lothar von Segni.44 Ausschlaggebend für den Verzicht war möglicherweise der Vorwurf der Simonie, denn man sagte Johannes nach Aussage Roger von Hovedens Geldgier nach, auch wenn dies kaum zu einem Benediktinermönch zu passen scheint. Dasselbe gilt vielleicht auch für eine Anekdote bei Caesarius von Heisterbach. Hiernach geleiteten zwei Engel Jordan von Fossanova nach dem Tod vor den Richterstuhl Christi, weil er sich zu Lebzeiten kaum an die Ordensregel gehalten habe und geldgierig gewesen sei.45

Das Papstwahlverfahren Seit dem Dritten Laterankonzil von 1179 musste ein Papst mit mindestens zwei Dritteln der möglichen Stimmen gewählt werden. Wahlberechtigt waren fortan nur Kardinäle, wobei kein Unterschied zwischen Kardinalbischöfen, Kardinalpriestern und Kardinaldiakonen gemacht wurde. Das Vorschlagsrecht hatten oft die Kardinalbischöfe. Das Konklave, also die völlige Abschottung der Wähler von der Außenwelt, wurde hingegen erst seit 1274 bzw. 1294 zum festen Bestandteil des Wahlverfahrens. Die electio quasi per inspirationem, also die spontane, einmütige und mündliche Wahl, die unter der Einwirkung des Heiligen Geistes stehen soll, die electio per compromissum, welche eine mündlich getätigte, unter Gruppen ausgehandelte Vorauswahl von Kandidaten vorsieht, bzw. die electio per scrutinium, also die gleiche und geheime Wahl mit Hilfe eines Stimmzettels, wurden sogar erst unter Papst Gregor XV. (1621–1623) verbindlich gemacht. Diese Unterscheidung beruhte allerdings auf langjährigen Erfahrungen, die die Kardinäle als Wahlgremium gemacht hatten. So war der Wahl Lothar von Segnis,

43 Lothar von Segni hat dem Alter in seiner Jugendschrift De miseria conditionis humanae von 1193/1194 ein ganzes Kapitel gewidmet. Vgl. Marie-Luise Heckmann, Lebensentwurf, Mahnschrift oder Zeitklage? Die Abhandlung De miseria conditionis humanae Lothars von Segni (Papst Innozenz’ III.), in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 154 (2018), S. 243–257. 44 Houedene, Chronica, S. 174f. Trifft die angesprochene Interpretation zu, so wären die ersten Beförderungen durch Innozenz III. seinen ehemaligen Wählern zugutegekommen (Nr. 18, 22, 42, 45, 43, 46, mit etwas Verzögerung auch Nr. 38 und 37). Unberücksichtigt blieben hingegen sechs Kardinaldiakone von 1198 (Nr. 9, 10, 31, 33, 34, 36). Von ihnen hat nur Cencius Savelli (Nr. 36) den Pontifikat Innozenz’ III. überlebt. 45 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum. Distinctio 12, caput 22, 2, hrsg. Joseph Strange, Köln 1851, S. 332.

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wie hoffentlich plausibel gemacht werden konnte, wohl ein Kompromiss vorausgegangen, ehe schließlich der Stimmzettel zum Einsatz kam.

Ambitio oder Humilitas? Wiewohl Anciennität, Weihegrad, Verwandtschaft und Familiarität somit wichtige Voraussetzungen waren, um einen Kardinal gewichtig und vielleicht sogar papabile zu machen, mussten augenscheinlich noch weitere Eigenschaften, spezifische Verhaltensweisen, besondere persönliche Beziehungen, manchmal auch eine wenig weitsichtige Personalauswahl, Neidgefühle und eine besondere Abstimmungssituation hinzukommen, damit ein Kardinal tatsächlich zum Papst gewählt wurde. Zu den Eigenschaften eines Kardinals gehörten unter Cölestin III. und Innozenz III. in erster Linie eine adlige Herkunft, die Zugehörigkeit zu einem römischen Stift, ein Studium an einer höheren Schule, Lebenserfahrungen im Ausland (vor allem in Frankreich oder England) sowie bedeutende Gesandtschaftsaufträge. Der Karriereweg aus einem Domkapitel, einer außerhalb Roms gelegenen Stiftsgemeinschaft oder einem Kloster über Kanzlei, Kammer oder das – von Innozenz wohl erstmals formalisierte – Familiarenkolleg in den Kardinalsrang erschien oft als vorgezeichnet. Der Sprung auf den Papstthron war hingegen nur dann erfolgreich, wenn die Kardinalbischöfe, denen bei beiden Wahlen das Vorschlagsrecht zugefallen sein dürfte, die Stimmungslage richtig erfassten.46 Denn sei es leibliche oder geistliche Verwandtschaft, sei es das Patronat durch einen ranghohen Kardinal oder sei es die Unterstützung durch eine Kanonikergemeinschaft bzw. einen Orden – es bedurfte letztlich eines ad hoc gebildeten einflussreichen Personenverbands, um auch die letzte Stufe der kirchlichen Karriereleiter zu erklimmen.47 Im Falle der Papstwahlen von 1198 und 1216 wirkte offenkundig die Erfahrung der ausklingenden Pontifikate (Gerontokratie bzw. zahlreiche Neuberufungen) als entscheidender Stimmungshintergrund, um eine Mehrheit für einen Kandidaten zustande zu bringen. Ob humilitas oder ambitio, ob echte Demut oder versteckter Ehrgeiz bei diesen beiden Wahlen den Ausschlag gab, bleibt letztlich unentschieden, auch wenn sich die Waagschale etwas in Richtung Respekt vor einem karrieretechnisch Benachteiligten zu heben scheint.

46 Vgl. auch Pfaff, Kardinäle [Teil 1] (wie Anm. 5), S. 63f. 47 Meistens handelte es sich bei dem Kern einer solchen „Seilschaft“ um eine Familie aus Rom oder Mittelitalien. Vgl. auch Maleczek, Kardinalskolleg (wie Anm. 7), S. 291–293.

Jochen Burgtorf

William of St. Stephen’s Saterian (1296): Reflections on a Hospitaller Legal Treatise

“One of the community’s few scholars” and “a learned historiographer” – this is how Jürgen Sarnowsky describes the author of the Saterian in a synopsis of Hospitaller history – and then he tells us his name: “Guillaume de Saint-Estène or Guglielmo di Santo Stefano (his origins are unclear),”1 thus taking a neutral position in a scholarly debate that has been raging for well over a century. Anthony Luttrell and others claim that the individual in question was an Italian and should be called “Guglielmo di Santo Stefano,” largely because he and other Hospitallers, who went by the same last name, spent time or held positions in Lombardy.2 Katja Klement and others, based on the manuscripts associated with the same Hospitaller, assume that he was a Frenchman who read and presumably wrote French, at a time when some form of French was the language used in the 1 Jürgen Sarnowsky, Die Johanniter: Ein geistlicher Ritterorden in Mittelalter und Neuzeit, München 2011, p. 12, 77; English translations mine. Abbreviations used in this chapter: BNF fr. (Bibliothèque Nationale de France, fonds français); DG (Decretum Gratiani: Kirchenrechtssammlung, https://geschichte.digitale-sammlungen.de/decretum-gratiani/online/angebot, a joint project of the Monumenta Germaniae Historica and the Bayerische Staatsbibliothek, München). 2 Anthony Luttrell, Fourteenth-Century Hospitallers Lawyers, in: Traditio 21 (1965), p. 449– 456, at p. 450; id., The Hospitallers’ Historical Activities, 1291–1400, in: Annales de l’ordre souverain militaire de Malte 24 (1966), p. 126–129, at p. 126; id., Notes on Foulques de Villaret, Master of the Hospital, 1305–1319, in: Guillaume de Villaret: Des Hospitaliers de Saint-Jean de Jérusalem, de Chypres et de Rhodes hier aux Chevaliers de Malte aujourd’hui, Paris 1985, p. 73– 90, at p. 89 (with note 19); id., Templari e Ospitalieri in Italia, in: Templari e Ospitalieri in Italia: La chiesa di San Bevignate a Perugia, ed. Mario Roncetti, Pietro Scarpellini, Francesco Tommasi, Perugia 1987, p. 1–11, at p. 7; id., The Hospitallers’ Early Written Records, in: The Crusaders and Their Sources: Essays Presented to Bernard Hamilton, ed. John France, William G. Zajac, Aldershot 1998, p. 135–154, at p. 136, 139; id., The Hospitallers’ Early Statutes, in: Revue Mabillon, New Series, 14 (= 75) (2003), p. 9–22, at p. 11 (with note 18). See also Guillaume de Saint-Estève: Comment la sainte maison de S. Johan de Jérusalem commença, ed. Charles Kohler, in: Recueil des Historiens des Croisades, Historiens Occidentaux, vol. 5, Paris 1895, p. cxxi–cxxv, 422–427, at p. cxxi (with note 2); Alain Beltjens, Guillaume de SaintEstène, in: Prier et combattre: Dictionnaire européen des ordres militaires au Moyen Âge, ed. Nicole Bériou, Philippe Josserand, Paris 2009, p. 416.

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Hospitaller provinces of Provence, Auvergne, and (you guessed it) France, and should therefore be called something like “Guillaume de Saint-Est(i)ène.”3 Not to transcend Jürgen Sarnowsky’s “A or B” solution, but simply to save space and because I have yet to see conclusive, rather than circumstantial evidence in the matter, this chapter uses “William of St. Stephen” as a compromise.4 That said, there is a broad scholarly consensus, joined by Léopold Delisle, Joseph Delaville Le Roulx, Alan Forey, Jonathan Riley-Smith, and Helen Nicholson, that William of St. Stephen was indeed an extraordinary man.5 He was not just literate, in that he was able to read and did, in fact, read, but he also composed texts himself, and this was not the standard operating procedure for members of the medieval Military Religious Orders.6 Between 1278 and 1283, while in Acre in the Kingdom of Jerusalem, William commissioned a collection of Hospitaller statutes in Old French; this manuscript is now in the Vatican Library (Codex Vaticanus Latinus 4852), and the scribe was probably one John of Antioch.7 3 Katja Klement, Von Krankenspeisen und Ärzten: Eine unbekannte Verfügung des Johannitermeisters Roger des Moulins, 1177–1187, im Codex Vaticanus Latinus 4852 (Dr. iur. Dissertation, Paris-Lodron-Universität), Salzburg 1996 (typescript), p. 96. See also Léopold Delisle, Maître Jean d’Antioche, traducteur, et frère Guillaume de Saint-Etienne, hospitalier, in: Histoire littéraire de France, ed. Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, vol. 33, Paris 1906, p. 1–40, at p. 22–23. The manuscripts associated with William of St. Stephen give his name as follows: Vatican City, Biblioteca Apostolica Vaticana, Codex Vaticanus Latinus 4852 (G. de Saint Estiene, Regulae Hospitalis S. Joannis Hierosolymitani, in lingua gallica, ms. s. XIII, post a. 1278/ante a. 1283), fol. 140v: frere Guillaume de saint Estiene frere de lospital de saint Johan de Jerusalem; Chantilly, Musée Condé, Ms. 433, formerly 590 (Cicéron, La Rhétorique, traduction française, ms. s. XIII, a. 1282), fol. 12v: frere Guillaume de saint estiene frere de la sainte maison de lospital de saint Johan de Jherusalem. See also Paris, Bibliothèque Nationale de France, fonds français 6049 (G. de Saint Est(i)enne, Règles de Saint-Jean de Jérusalem, ms. s. XIV, a. 1330?, henceforth BNF fr. 6049), fol. 144v: comandor de Chipre frere Guillaume de saint esteine. 4 For the extant documentary evidence on William of St. Stephen, see Jochen Burgtorf, The Central Convent of Hospitallers and Templars: History, Organization, and Personnel (1099/ 1120–1310) (History of Warfare, 50), Leiden 2008, p. 686–687. 5 Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 22–40; Joseph Delaville Le Roulx, Les statuts de l’ordre de l’Hôpital de Saint-Jean de Jérusalem, in: Bibliothèque de l’Ecole des Chartes 48 (1887), p. 341–356, at p. 351; Alan Forey, The Military Orders: From the Twelfth to the Early Fourteenth Centuries (New Studies in Medieval History), London 1992, p. 191; Jonathan Riley-Smith, The Knights Hospitaller in the Levant, c.1070–1309, Basingstoke 2012, p. 15 et passim; Helen J. Nicholson, The Knights Hospitaller, Woodbridge 2001, p. 93. 6 See Alan Forey, Literacy and Learning in the Military Orders during the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: The Military Orders, vol. 2: Welfare and Warfare, ed. Helen J. Nicholson, Aldershot 1997, p. 185–206. 7 On this manuscript, see Katja Klement, Alcune osservazioni sul Vat. Lat. 4852, in: Studi Melitensi 3 (1995), p. 229–244; ead., Von Krankenspeisen und Ärzten (as n. 3); ead., Gottes Gastgeber: Die vatikanische Handschrift Vat. Lat. 4852, Norderstedt 2010. See also Gianmaria Silvan, Regulae Hospitalis Sancti Johannis Hierosolimitani, in: Romei e giubilei: Il pellegrinaggio medievale a San Pietro (350–1350), ed. Mario D’Onofrio (exhibition catalog, Rome, Palazzo Venezia, October 29, 1999–February 26, 2000), Milan 1999, p. 379; Susan B.

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Around the same time, William asked this very John of Antioch to produce an Old French translation of Cicero’s “Rhetoric,” a combination of the latter’s De inuentione and the so-called Rhetorica ad Herennium which was in those days ascribed to Cicero, and this spectacularly illuminated manuscript is now in the archives of the Château de Chantilly (Musée Condé, Ms. 433, formerly 590).8 William subsequently did spend some time in Lombardy, but by 1296 he was back in the East, on Cyprus, where he compiled another collection of Hospitaller statutes and wrote the Saterian.9 A copy of this collection that includes the Saterian was completed on Rhodes around 1330 and is now in Paris (Bibliothèque Nationale de France, fonds français 6049, henceforth BNF fr. 6049).10 By 1299, William was serving as Hospitaller commander on Cyprus, one of the top officials in his Order’s central convent, but he lost the office in 1303 and then disappears into the fog of the past.11 The complete Saterian exists only in this one copy, the aforementioned BNF fr. 6049, an octavo format codex of just over three hundred parchment folios with twenty-five lines of Gothic minuscule writing per page, produced by what appears to be one hand in brown ink, with some decorated initials and headings in red and blue ink.12 While originally composed and copied in the eastern Mediterranean (i. e., Cyprus and Rhodes), the codex was later rediscovered on Malta

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Edgington, Administrative Regulations for the Hospital of St. John in Jerusalem Dating from the 1180s, in: Crusades 4 (2005), p. 21–37; Beltjens, Guillaume de Saint-Estène (as n. 2), p. 416; Jonathan Rubin, Learning in a Crusader City: Intellectual Activity and Intercultural Exchanges in Frankish Acre, 1191–1291 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought), Cambridge 2018, p. 188–189. On this manuscript, see Institut de France (Musée Condé), Chantilly: Le Cabinet des Livres, Manuscrits, vol. 2: Belles-Lettres, Paris 1900, p. 4–6; Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 2–3; Jaroslav Folda, Crusader Art in the Holy Land: From the Third Crusade to the Fall of Acre, 1187–1291, Cambridge 2005, p. 412–413. See Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 687. On this manuscript, see Delaville Le Roulx, Statuts (as n. 5), p. 347–352; Cartulaire général de l’ordre des Hospitaliers de S. Jean de Jérusalem, ed. Joseph Delaville Le Roulx, Paris 1894–1905, vol. 1, p. lxxxiii; Bibliothèque Nationale de France, Département des Manuscrits, Catalogue des Manuscrits Français, vol. 5: Ancien Fonds, no. 5526–6170, Paris 1902, p. 205– 206; Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 22–40; Silvio Melani, Un gran maestro nella tempesta: Guilhem de Villaret e il capitolo generale degli ospitalieri del 1300, in: Milites Pacis: Military and Peace Services in the History of Chivalric Orders, Proceedings of the Conference: The Monks of War, the Monks of Peace: Military and Peace Services in the History of Chivalric Orders, Turku, June 25–26, 2001, ed. Luigi G. de Anna, Pauliina de Anna, Eero Kuparinen, Turku 2003, p. 38–63, at p. 38; Jochen Burgtorf, Die Pariser Sammlung des Johanniters Wilhelm von St. Stefan: Bibliothèque Nationale, fonds français 6049 (ms. s. XIV), in: Die Rolle der Schriftlichkeit in den geistlichen Ritterorden des Mittelalters: Innere Organization, Sozialstruktur, Politik, ed. Roman Czaja, Jürgen Sarnowsky (Ordines Militares Colloquia Torunensia Historica, 15), Torun´ 2009, p. 253–276. See Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 687. Burgtorf, Pariser Sammlung (as n. 10), p. 255.

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and transferred to Paris in the sixteenth century by one Jean Quentin, a Hospitaller official and later law professor at the Sorbonne.13 It eventually found its way into the French National Library, perhaps as a consequence of the Order’s secularization following the Revolution. The texts of BNF fr. 6049 are predominantly in Old French and include several tables of content, “miracles” (i. e., legends about the Hospital’s origins), reflections on the Order’s historical (i. e., nonlegendary) beginnings, lists of the Order’s masters, liturgical practices, prayers, statutes of general chapters, papal confirmations of the Order’s Rule, “customs” (usances), “judgments” (esgarts), a crusade treatise by Charles II of Anjou (1292), an explanation of the Order’s seals, a list of the Hospital’s high offices, documents pertaining to some Hospitallers’ opposition against Master Odo of Pins (1295), letters opposing the decision of Master William of Villaret to hold a general chapter in the West (1299), and a legal treatise, the Saterian.14 According to BNF fr. 6049, William of St. Stephen completed the Saterian on Cyprus in 1296.15 It is about eighty folios in length (fol. 217r–298r) and consists of two parts, namely, a primarily historical part (fol. 220v–265r) and a legal part (fol. 265r–298r). Some scholars use the term Saterian just for the legal part,16 but while it is true that the term Saterian does not surface until the treatise’s legal part (fol. 270v), there are several reasons why it should be applied to both parts together. Firstly, on fol. 217r, following the remainder of an undated usance, there is a dramatic break in the manuscript’s text in the form of a beautifully decorated initial “C” which spans four lines, serving as the signal that something new is about to start and announcing that “this book [was] made [by] William of St. Stephen, commander of Cyprus” – Cest lieure fist frere Guillaume de saint estenne adonc comandor de chipre (fol. 217r).17 Secondly, this is followed by a 13 Ibid., p. 270–273. 14 On the Saterian, see Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 32–40; Luttrell, Fourteenth-Century Hospitallers Lawyers (as n. 2), p. 450; id., Hospitallers’ Early Written Records (as n. 2), p. 139, 146; id., Hospitallers’ Early Statutes (as n. 2), p. 20; Gilles Grivaud, Literature, in: Cyprus: Society and Culture, 1191–1374, ed. Angel Nicolaou-Konnari, Chris Schabel, Leiden, 2005, p. 219–284, at p. 253; Riley-Smith, Knights Hospitaller (as n. 5), p. 15. 15 BNF fr. 6049, fol. 298r. 16 See, for example, Delaville Le Roulx, Statuts (as n. 5), p. 352, and Burgtorf, Pariser Sammlung (as n. 10), p. 264 (revised by the findings of this present chapter). The official archival catalog also considers just fol. 265r–298r the “Livre saltérian:” BNF, Catalogue (as n. 10), p. 206. 17 In the quotes from BNF fr. 6049 included here – since it is not the point of this chapter to present a critical edition of the Saterian (which I am currently preparing) – abbreviated words have been spelled out, words clustered together have been separated, syllables written apart have been joined to form intelligible words, and obvious scribal errors have been corrected. It is evident that the individual who copied the Saterian in the early fourteenth century, presumably from William of St. Stephen’s 1296 autograph, was not always careful and did not always fully comprehend what he was, in fact, copying; see Burgtorf, Pariser Sammlung (as

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table of contents (fol. 217v–220v) which contains the rubrics (headings) with folio references for all subsequent folios up until fol. 296v, and it is on fol. 296v that the book’s epilogue begins. Thirdly, the book’s epilogue concludes by saying: “and thus, by the grace of Jesus Christ, are concluded the two parts that are the entirety of this book which we call ‘Saterian’ because, just as the law that deals with many and diverse things is therefore called ‘Saterian,’ so do we call this book ‘Saterian’ because it speaks of many and diverse things; which was completed on Cyprus, in the year 1296 of our Lord’s incarnation, in the month of September; thanks to God.”18 In a transitional paragraph that connects the first, historical part of the Saterian to the second, legal part, William of St. Stephen announces that this second part will deal with three subject matters, namely, “the types of law; judgment[s]; and justice and injustice” – des manieres de droit & de jugement et ausi […] de iustice & de iniustice (fol. 265r). To provide an impression of how the Saterian’s author operates, I devote the remainder of this chapter to the section that deals with the types of law (fol. 265r– 277r), and to recap its position in the overall treatise, one could refer to it as Saterian, part 2 (of 2), section 1 (of 3). William starts off this section by paraphrasing the beginning of the first chapter (distinctio prima) of the twelfthcentury Decretum Gratiani: “The Decretum says at the beginning that the human race is governed by the law of social mores. And it says that the law of nature is that which is contained in the Law and the Gospel, by which it is commanded to everyone that he do to the other that which he would have the other do to him. And maintaining that he not do to the other that which he would have the other not do to him.”19 It should be noted that the Decretum Gratiani’s actual wording distinguishes between “natural law and social mores” but does not use the phrase “law of social mores:” Humanum genus duobus regitur, naturali uidelicet iure et moribus.20 William saw social mores as laws in their own right; after all, while the Hospitallers did eventually write down a fair share of their Order’s “customs” (usances), they still relied on the esgart de freres (“the judgment of the brothers”) n. 10), p. 256. All English translations included above, unless otherwise indicated, are mine (as are, therefore, all respective errors), and they attempt to stay close to the Old French manuscript’s original wording and syntax. 18 BNF fr. 6049, fol. 297v–298r: Et Ensi par le grace de Jhesu xrist sont terminees les .ij. parties qui sont le compliment de cest lieure loquel nos apelons salterian. Car si com est la loy que traite de plusors & diuerses choses por ce est apelee Saterian ausi se liure por que le parole de plusors & diuerses choses apellons nos saterian. Laquel fu complie en Chipre. Lan del incarnation nostre seignor. M.C.C.XC.VI. dou mois de setembre. Deo gratias. 19 Ibid., fol. 265v: Le decret dit au comensament que lumain lignaige est gouerne par droit de meurs. Et dit que droit de nature est celui qui est contenu en la loy & en lauengile por quoy il est comande a chascun que il face a autre ce que il ueaut len face a lui. Et deffent que len ne fface a autre que il ueaut que len ne face a lui. 20 DG, distinctio prima. On William’s use of the Decretum Gratiani, see Forey, Literacy and Learning (as n. 6), p. 196.

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to arbitrate cases in which written laws were either insufficient or nonexistent, necessitating the convent’s collective memory to step up and weigh how related issues had been dealt with in the past to come to a ruling in the present. Also, while the Decretum Gratiani does cite the positive wording of the Golden Rule (“do unto others,” etc.) according to Matthew 7:12 – Omnia quecunque uultis ut faciant uobis homines, et uos eadem facite illis21 – William adds the negative wording (“do not do unto others,” etc.). The Saterian, thus, should not be viewed as a mere compilation; it is an intertextual discourse between legal ideas available to the author, Hospitaller realities, and the author’s respective interpretations and interests. William now turns to the actual subject at hand, namely, the types of law “according to what [Marcus] Tullius [Cicero] says in his book on rhetoric” – selonc tulles […] en son lieure de rectorique (fol. 265v). While William may have derived his ideas here from the Pseudo-Ciceronian Rhetorica ad Herennium (generally dated to the 80s of the first century BC), the Rhetorica’s first two books closely resemble Cicero’s De inuentione (written around the same time),22 and thanks to John of Antioch’s respective Old French translation, William would have been intimately familiar with these texts.23 Thus, from these instructions for aspiring orators, William paraphrases the genealogy of the law.24 Law originates in nature (uient de nature), some of its key principles eventually become customs (parvenues en acostumance), and some of these customs are eventually affirmed by written laws (afermees par loy) (fol. 265v–266r). Natural law comes to us “by a natural virtue, not by opinion or guidance” – par une uertu naturel non pas selonc opinion ou cuidance (fol. 266v) – and according to Cicero, so William tells us, it encompasses religion (religion), piety (pitie),25 gratitude (gracie), revenge (vengement), reverence (reverence), and truth (uerite) (fol. 266v). For each of these six features of natural law William then provides the Ciceronian definition, followed by a more or less direct example from his Order’s history or its historical context. Thus, William casts the Order of the Hospital as a natural-law phenomenon. As for religion (i. e., the first natural-law feature), “by this law, which is in the fear of God, were moved those wise men who started our House in the way which

21 DG, distinctio prima. 22 James J. Murphy, Rhetoric in the Middle Ages: A History of Rhetorical Theory from Saint Augustine to the Renaissance, Berkeley 1974, reprinted 1981, p. 18–19. 23 Chantilly, Musée Condé, Ms. 433, formerly 590 (as n. 3). 24 Cicero, De inventione, De optima genere oratorum, Topica, ed. and trans. Harry Mortimer Hubbell, Cambridge (Massachusetts) 1949, p. 228–233 (book 2, chap. 22). 25 The Old French pitie is misspelled as partie in BNF fr. 6049, fol. 266v. See Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 36 (with note 3).

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you have heard earlier.”26 The Hospitallers used the term religion (alongside maison and, much less frequently, ordre) to refer to their community, and it was part of the arenga of their important papal privilege Christianae fidei religio (since 1137),27 so it comes as no surprise that the Saterian considers this naturallaw feature as foundational. As for piety (i. e., the second natural-law feature), “it admonishes us that we devoutly guard the service toward our country or our fathers and our mothers and cousins and neighbors, and it says the same for our ‘next’ [i. e., those near us], especially the sick or those in need; because this service is a thing owed naturally, not [merely] where it is a human command.”28 Caring for the sick and those in need had been the Hospitallers’ original mission, and it is noteworthy that the Order’s later military identity is nowhere to be found in William’s discussion of his community’s natural-law features; the Order’s militarization was not unnatural, but it was not original. To quote Jonathan RileySmith, “the Hospitallers [were owned] by their patients.”29 As for gratitude (i. e., the third natural-law feature), “by this law was moved in part the Caliph who granted the request of those who made it [i. e., the request], who started our House, and who were near him.”30 In the Saterian’s first, historical part, William had already made it clear that he viewed the stories of the Hospital’s miraculous and ancient origins as inventions of those engaged in fundraising (fol. 223v).31 Meanwhile, that a Muslim ruler would be moved by gratitude toward those – even if they were Latin Christians, who were engaged in 26 BNF fr. 6049, fol. 266v: De cestui droit lequel est en la timor de dieu furent esmeu ceaus prodeshomes qui comencerent nostre maison. en la maniere que uos aues oy deuant. 27 Rudolf Hiestand, Papsturkunden für Templer und Johanniter: Neue Folge, Vorarbeiten zum Oriens Pontificius II (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, 135), Göttingen 1984, p. 104–135 (Christianae fidei religio). See Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 188–189. 28 BNF fr. 6049, fol. 266v: nous amoneste que nos gardons deuotament office uers nostre pais o uer nous peres & nos meires & cosins & prochans. Et ce meismes dit len al preusme especialment malades ou besoignos. Quar office est une chose deue naturelment. non pas ou cil ordenement humain. 29 Jonathan Riley-Smith, Templars and Hospitallers as Professed Religious in the Holy Land (The Conway Lectures in Medieval Studies, 2008), Notre Dame 2010, p. 61. 30 BNF fr. 6049, fol. 267r: De celui droit fu esmeu en partie le Chaliphe qui latroia a la proieire que ceaus li firent qui comencerent nostre maison. Et qui estoient enuiron luy. 31 William’s rejection of his Order’s foundation legends has attracted considerable scholarly attention. See Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 27; Helen J. Nicholson, Templars, Hospitallers, and Teutonic Knights: Images of the Military Orders, 1128–1291, Leicester 1993, p. 113; Alain Demurger, Chevaliers du Christ: Les ordres religieux-militaires au Moyen Âge, XIe–XVIe siècle, Paris 2002, p. 194; Beltjens, Guillaume de Saint-Estène (as n. 2), p. 416; Riley-Smith, Templars and Hospitallers as Professed Religious (as n. 29), p. 67; Sarnowsky, Johanniter (as n. 1), p. 77; Riley-Smith, Knights Hospitaller (as n. 5), p. 16. For the Hospitallers’ early history, see Rudolf Hiestand, Die Anfänge der Johanniter, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, ed. Josef Fleckenstein, Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen, 26), Sigmaringen 1980, p. 31–80.

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the service to the sick and those in need, seemed natural to him. After all, even Saladin was so impressed by the Hospital’s operations in Jerusalem that he permitted ten of its brothers to continue their charitable work for one more year after he had conquered the city in 1187.32 Granted, William had collected the materials pertaining to his Order’s history, spirituality, and law (copied in BNF fr. 6049) under the impression of the 1291 Mamluk conquest of Acre – a recent and traumatic event for his community – and even included a crusade treatise authored by Charles II of Anjou in 1292 (fol. 183v–190r),33 but if two centuries of caring for the sick and those in need in the Near East had taught the Hospitallers anything, it was constructive agency in an intercultural, shared-space environment.34 As for revenge (i. e., the fourth natural-law feature), “by this law were thieves ordered to be hanged, and the other punishments according to the various misdeeds.”35 Nicholas Morton has pointed out that disciplinary stipulations in the Military Religious Orders were “highly detailed” but that “it is not clear how well known they were” among members “or how uniformly they were applied.”36 Naturally (pun intended), this was one of William’s chief concerns: to preserve, systematize, and make accessible his Order’s rule, statutes, and customs. As for reverence (i. e., the fifth natural-law feature), “by this law are honored those who have preferment, the bailiffs by regions and cities, and the religious offices, and those who are knowledgeable in sciences, or those who are full of great discernment or have any noble virtue, or are of great lineage or are very old, and such similar things.”37 Scholars routinely emphasize the importance of hi-

32 Letter of the Templar grand preceptor Terricus to King Henry II of England (1188), in Gesta regis Henrici secundi Benedicti abbatis: The Chronicle of the Reigns of Henry II. and Richard I. A.D. 1169–1192, Known Commonly under the Name of Benedict of Peterborough, vol. 2, ed. William Stubbs (Rolls Series, 49.2), London 1867, p. 40–41. 33 George Ioan Bra˘tianu, Le conseil du roi Charles: Essai sur l’internationale chrétienne et les nationalités a la fin du moyen âge, in: Revue historique du sud-est européen 19 (1942), p. 291– 361. See Burgtorf, Pariser Sammlung (as n. 10), p. 260–261, 268. For the context, see Cornel Bontea, The Theory of the Passagium Particulare: A Commercial Blockade of the Mediterranean in the Early Fourteenth Century? in: A Military History of the Mediterranean Sea: Aspects of War, Diplomacy, and Military Elites, ed. Georgios Theotokis, Aysel Yıldız (History of Warfare, 118), Leiden 2018, p. 202–219. 34 See, for example, Jochen Burgtorf, Experiments in Coexistence? The Religious Military Orders and Condominia in Northern Syria (1260–1291), in: Ordres militaires et territorialité au Moyen Âge entre Orient et Occident, ed. Marie-Anna Chevalier, Paris 2020, p. 31–48. 35 BNF fr. 6049, fol. 267r: par cestui droit furent ordenes les lerrons estre pendus et les autres tormens diuers selonc les diuers mesfais. 36 Nicholas Morton, The Medieval Military Orders, 1120–1314, Harlow 2013, p. 102. 37 BNF fr. 6049, fol. 267r–267v: par cestui droit sunt honore ceaus qui ont les prelations les baillies par les regions & cites. & les offices religions & ces qui sont sachant en sciences. ou ceaus qui sunt plains de grant descretions ou ont aucune noble uertu. ou sont de grant lignage ou sont mout anciens & teles choses sembables.

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erarchy in the Military Religious Orders,38 and their members’ vow of obedience permeated all levels of this hierarchy all the way up to the master who served as Christ’s lieutenant.39 This makes William’s list of “honorable” individuals all the more revealing, as it seems to privilege knowledge and intellect over lineage and seniority. And perhaps the author was tacitly referring to himself here: from what we know, he was not nearly as prominent or noble as the two leading Hospitallers of the late 1290s – namely, the Order’s master, William of Villaret, and its grand preceptor of the West, Boniface of Calamandrana – yet without William of St. Stephen and his scholarly activities, we would know a lot less about these two individuals and the Order as a whole.40 Finally, as for truth (i. e., the sixth naturallaw feature), “by this law are put behind [us] all lies and all false testimonies, and all things done or said against truth and against reason.”41 William completed his Saterian in 1296, and the 1290s were a time of crisis for the Order of the Hospital, characterized by opposition against its masters (first Odo of Pins, then William of Villaret), by complaints at the papal Curia, by reform proposals, and so forth.42 Fact-finding and, by implication, truth-seeking were very much the Saterian’s underlying principles. William then moves from natural law to customary law, paraphrasing Cicero “that law of custom is such when the guide in the matter has been approved by [great] age, by the will of all, without [having become codified] law” – que droit de costume si est se cuide len cele chose a lancienete43 a conprouee par sa uolente de tous sens loy (fol. 267v). A typical custom, so William, is the closing of the city gates at night and keeping watch in the streets (fol. 267v). His respective examples in the Order of the Hospital include the activities that take place during the convent’s weekly chapter meetings, such as consultations with the “wise broth38 See, for example, Demurger, Chevaliers du Christ (as n. 31), p. 112. 39 See Jochen Burgtorf, Stellvertretung in den geistlichen Ritterorden des Hochmittelalters: Konzepte, Personen und Zeichen, in: Stellvertretung im Mittelalter: Konzepte, Personen und Zeichen im interkulturellen Vergleich, ed. Claudia Zey (Vorträge und Forschungen, 88), Ostfildern 2020 (forthcoming). 40 See Guillaume de Villaret: Des Hospitaliers de Saint-Jean de Jérusalem, de Chypres et de Rhodes hier aux Chevaliers de Malte aujourd’hui, Paris 1985; Melani, Gran maestro (as n. 10), p. 38–63; Jochen Burgtorf, A Mediterranean Career in the Late Thirteenth Century: The Hospitaller Commander Boniface of Calamandrana, in: The Hospitallers, the Mediterranean, and Europe: Festschrift for Anthony Luttrell, ed. Karl Borchardt, Nikolas Jaspert, Helen J. Nicholson, Aldershot 2007, p. 73–85; Burgtorf, Pariser Sammlung (as n. 10), p. 268. 41 BNF fr. 6049, fol. 267v: par cestui droit sont mises ariers toutes mensonges & tous faus testimoing. et toutes choses faites ou dites. contre uerite et contre raison. 42 See Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 151–161; Alan Forey, A Proposal for the Reform of the Hospital in the Late Thirteenth Century, in: Ordines Militares, Colloquia Torunensia Historica: Yearbook for the Study of the Military Orders 21 (2016), p. 7–19. 43 The Old French lancienete is misspelled as latienere in BNF fr. 6049, fol. 267v. See Delisle, Maître Jean d’Antioche (as n. 3), p. 37 (with note 2).

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ers” (sages freres) or reprimands, but also the marshal’s right to order water (i. e., place the brothers on water as a disciplinary measure) (fol. 268r). Non-written customary law, William continues, can also manifest itself as a covenant, as a decision, or as equity – couenant & juge & egal (fol. 268r). An example for a Hospitaller covenant is “when two brothers come together to exchange their equipment or horses; after the accord of the two, the bailiff ’s permission admits that it is firm, [and] this permission is to the brothers like the law among laymen.”44 When it comes to customary-law decisions, for which the Hospitallers utilize the esgart de freres (“the judgment of the brothers”), William cautions that “it often happens that different judges give to one [and the] same thing seemingly different decisions” – souent auient que le diuers juges donent .i. meisme fait & semblables diuerses sentences (fol. 269r). This can, for example, depend on “the things judged, the number of things judged, the times, and the occasions” – les choses guiees les nonbrez des choses iugees les tens & les achaisons (fol. 269v). As for equity, William muses that “in our chapter, one can speak [to] any matter of amendment or [to any matters] which are of common benefit” – en nostre chapitre len peut dire aucune chose de adresament ou qui sont comun profit (fol. 270v).45 While William had discarded his Order’s foundation myths, he was rather interested in portraying his community’s legal practices as congruent with Ciceronian definitions and ideals. Moving on to written or codified law, William once again paraphrases Cicero (but, in actuality, the Rhetorica ad Herennium) and defines this type of law as “that which is established and confirmed by order to the people” – ce qui est establi & conferme par comandement au pueble (fol. 270v).46 He then cites examples of codified law, namely, consular, Julian, tribunitial, and Cornelian law (fol. 270v), thus summarizing the respective section of the Decretum Gratiani, which, in turn, is based on Isidore of Seville’s Etymologiae (completed by ca. AD 625).47 It is here that the name of William of St. Stephen’s treatise actually makes its first appearance: “There are other laws which have their own names, like that which is called ‘Saterian,’ and they are so called because they talk about many

44 BNF fr. 6049, fol. 268v: .ij. freres couenansent de changier lor harnois ou lors chevaus, Apres lacort des deus couient a ce ferme le congie dou bailli lequel congie est es freres come la loy entre les seculiers. See Riley-Smith, Knights Hospitaller (as n. 5), p. 189. 45 See ibid., p. 274 (with note 49). 46 See [Cicero], Ad C. Herennium de ratione dicendi: Rhetorica ad Herennium, ed. and trans. Harry Caplan, London 1964, p. 92–93 (book 2, chap. 13). 47 DG, distinctio II, C. VI. See Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, ed. Wallace M. Lindsay, Oxford 1911, book 5, chap. 15. For an English translation of the Etymologiae, see The Etymologies of Isidore of Seville, trans. Stephen A. Barney, Wendy J. Lewis, Jennifer A. Beach, Oliver Berghof, with the collaboration of Muriel Alla, Cambridge 2006.

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things together and separately.”48 In the Decretum Gratiani, the term appears as lex satyra – literally “satire law,” “saturated law,” or “replete law” – and is defined as follows: “The satire law is that which speaks of various things at the same time, named from a plenty of things and as if [taken] from the fullness: therefore writing satire is to fashion diverse poetry, such as Horace, Juvenal, and Persius.”49 Gratian had taken this definition straight out of Isidore’s seventh-century Etymologiae.50 Traveling further back in time – as if the prestigious pedigree of the Roman satirists Juvenal (second century AD), Persius (AD 34–62), and Horace (65–8 BC) were not enough – we can trace the definition back to a dictionary, De uerborum significatu (“On the Meaning of Words”), authored by the secondcentury AD grammarian Sextus Pompeius Festus (who, in turn, had taken it from a first-century BC work of the same title by Marcus Verrius Flaccus), and this particular definition is rather “tasty:” “Just as satire is a type of dish put together from various things, the law is formed from many other laws.”51 William reminds us that the sum is greater than its parts, or, to quote Aristotle (albeit out of context), “all things which have a plurality of parts […] are not a total aggregate but a whole of some sort, distinct from the parts.”52 So, if William of St. Stephen’s Saterian seems like “a little much” to you, then its title suggests that this impression was either intended, or that its author was fishing for compliments, or – all satire aside – that William did, in fact, view the Order of the Hospital’s history, spirituality, and law as a remarkable composite. I think it was all of the above. The Hospitallers’ codified laws, William proceeds to tell us, are their statutes (establissements), and he then finds them a home in his legal taxonomy by talking about ecclesiastical law (fol. 271r). According to Isidore, the Latin equivalent of the Greek word “canon” is “rule” (or regle in William’s Old French text), and there are two types of canons, namely, special ones, that are decisions of the popes and Church Fathers, and general ones, that are statutes of councils (fol. 271r).53 The special canons are called “private laws,” and some of them pertain to laymen, others to the Church; and privileges are called such because 48 BNF fr. 6049, fol. 270v: autres lois sont qui lor propre nom si come est cele qui apelee Sateriane. & sont ensi apelees por ce que parlent de plusors choses ensemble & diuerses. 49 DG, distinctio II, C. VII: Satyra uero lex est, que de pluribus simul rebus eloquitur, dicta a copia rerum et quasi a saturitate: unde et satyram scribere est poemata uaria condere, ut Oratii, Iuuenalis et Persii. 50 Isidori Etymologiarum Libri, ed. Lindsay (as n. 47), book 5, chap. 16. 51 Sexti Pompei Festi De verborum significatu quae supersunt cum Pauli Epitome, ed. Wallace M. Lindsay, Leipzig 1913, p. 416 (book 18): Satura, et cibi genus ex variis rebus conditum est, et lex multis aliis legibus conferta. See Charles du Fresne Du Cange, Glossarium mediae et infimae Latinitatis, ed. D. Pierre Carpenter, G. A. Louis Henschel, Léopold Favre, vol. 7 (R–S), Niort 1886, p. 317 s.v. “satura.” 52 Aristotle, The Metaphysics: Books I–IX, ed. and trans. Hugh Tredennick, London 1933, p. 422–423 (book 8, chapter 6). 53 See Isidori Etymologiarum Libri, ed. Lindsay (as n. 47), book 6 chapter 16.

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they pertain to private matters (fol. 271v).54 Again paraphrasing Isidore (de quoi Ysidres dit), William tells us that law is either prescriptive or proscriptive (fol. 271v),55 that it is intended to prevent people from doing bad things for fear of punishment (fol. 271v),56 and that it is “not for private benefit but for the common benefit of all” – par nul priue profit mais par le comun a tous (fol. 272r).57 Citing “Against Two Letters of the Pelagians” by St. Augustine (354–430), William emphasizes that law ideally should have a timeless quality (fol. 272r).58 Natural law, therefore, takes precedence over all other law due to its age and its dignity, and it expresses itself en la loy & leuangeli – in the Old and New Testament (fol. 272v). Morals, too, derive from natural law (fol. 272v), and natural law does not change (fol. 273r). William then moves from legal taxonomy to legal history. Customary law, he informs us, came into being during the early Old Testament period when there were relatively few people on Earth (fol. 273r–273v), followed eventually by statutory law and its famous lawgivers, namely (according to Isidore’s Etymologiae and the Decretum Gratiani), Moses (Moises) for the Hebrews, Menes (Mercurius) for the Egyptians, Solon (Salon) for the Athenians, and Lycurgus (Ligurius) for the Spartans; as well as Numa Pompilius (Num Pompilio), the Decemviri (.x. homes), Pompey (Pompe), Caesar (Cesar), Constantine (Costantine), and Theodosius (Theodore) for the Romans (fol. 273v–274r).59 William concludes his section of the different types of law by stressing that any customary law or statutory law or anything that has come down to us either by custom or in written form (ou par costumes ou par escriptures) and is contrary to natural law is, in fact, uaines – “vain” or “useless,” a statement that he finds confirmed by an impressive number of authorities that he then proceeds to paraphrase, namely, the decretals, St. Augustine, Pope Nicholas (r. 858–867), St. Cyprian (the thirdcentury martyr and bishop of Carthage, d. 258), and St. Gregory (ca. 540–604, pope from 590) (fol. 274v–276r). While William does not quite anticipate the Lutheran sola scriptura principle, he does quote twice (albeit indirectly, via other authorities) Libosus of Vaga, a third-century bishop, who famously said (in William’s Old French): nostre sire dit en lauangile Je sui uerite. Il nen doit onques Je suis costume – “our Lord says in the Gospel, ‘I am truth.’ He never said, ‘I am

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See ibid., book 5 chapter 18. See ibid., book 5 chapter 19. See ibid., book 5 chapter 20. See ibid., book 5 chapter 21. See Nicene and Post-Nicene Fathers: First Series, vol. 5: St. Augustine, Anti-Pelagian Writings, ed. Philip Schaff, New York 2007, p. 406 (book 3, chap. 10). 59 See Isidori Etymologiarum Libri, ed. Lindsay (as n. 47), book 5 chapter 1; DG, distinctio VII, C. I–II.

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custom’” (fol. 276r; also fol. 275v).60 Thus, according to William, any tradition that is not based in God’s truth and thus, by extension, also not natural law, ought to be rejected. Yet, given all these learned opinions that he has just cited, William muses: Why discuss these things? And then he answers his own question: “They are foreign to our House and ill-known by us, and the [different] types of law are not found [explained] in our texts.”61 William is on an educational mission – his very own didactic crusade – and he finds himself justified in this endeavor by a statement in the Hospitaller Rule: “our Rule commands that all things should be tended to and judged by law.”62 He probably refers to the Hospitaller Rule’s stipulation that “concerning all other sins and things and complaints, they [i. e., the Hospitallers] shall decide and judge in chapter [by rendering a] lawful judgment.”63 Lawful judgment can only be rendered, and justice in accordance with God’s will can only be served, when those participating in it know their historical, legal, and spiritual parameters and boundaries. To clearly delineate those is the purpose of William of St. Stephen’s Saterian.64 While we have only been able to consider one third of the Saterian’s second, legal part in this chapter – and, thus, are missing out, for example, on William’s Aristotle references (fol. 288r, 294r) – we do have to ask: Who was the intended audience? Who was supposed to read this treatise and take it to heart? On March 17, 1296, the Hospitaller Master Odo of Pin died in Limassol on Cyprus.65 He had been the target of overblown allegations of misconduct and mismanagement by some of his Order’s top officials, including its grand preceptor of the West, Boniface of Calamandrana, and its prior of St. Gilles, William of Villaret.66 His successor, elected on March 26, 1296, ended up being none other than one of his 60 See Richard P. C. Hanson, Tradition in the Early Church, Eugene 1962, p. 141. 61 BNF fr. 6049, fol. 276v: eles sunt estranges de nostre maison & mesconues de nos & les manieres de droits ne ant trouees en nos escris. 62 Ibid., fol. 277r: nostre regle comande totes choses estre gardee & iugees par droit. 63 See Cartulaire général, ed. Delaville Le Roulx (as n. 10), vol. 1, p. 62–68 (doc. 70: Rule), at p. 66 (chap. 14): de touz autres pechiez et choses et clamors jugent et esgardent en chapistre droit jugement. 64 See also Riley-Smith, Knights Hospitaller (as n. 5), p. 122. William’s didactical aspirations can also be seen at the end of the Cicero translation that he commissioned in 1282: Chantilly, Musée Condé, Ms. 433, formerly 590 (as n. 3), fol. 164r: Frere Guillaume par cest escrit poez avoir general conoissance de largumentacion de logique & auques emple savoir des leus se vos estudiez curiousement. Et ce vos vindra trop a savoir la diference entre largumentacion & les leus de logique & largumentacion & les leus de rethorique. Et par ceste conoissance vos enserez assez plus outil en toutes questions & nomeement es questions sanz circonstances. Quar en ce proprement a trop grant mestier rethorique de largumentation de logique. 65 Chroniques d’Amadi et de Strambaldi, ed. René de Mas Latrie, Paris 1891–1893, vol. 1, p. 233. See Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 606. 66 For the context, see Alan Forey, Constitutional Conflict and Change in the Hospital of St. John during the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Journal of Ecclesiastical History 33 (1982), p. 15–29, at 20–26; Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 151–161.

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former accusers, William of Villaret,67 at the time still residing in the West. The brothers of the central convent in Limassol wrote to their new master on April 3, 1296,68 and this letter has come down to us as a document in the Saterian’s first, historical part (fol. 252r–254r). Using a famous New Testament metaphor (Matthew 20:1–16, etc.), the brothers compared the master to the guardian of a vineyard (gardien de la uigne) who was supposed to tend to the crop and tear out the weeds so that the crop could flourish and produce good fruit (fol. 252v). In past times, so the brothers, this had not been done well, and the order’s crop, particularly its good statutes and customs, had not been tended to (fol. 252v). The Saterian itself would be completed a few months later, in September 1296 (fol. 298r), and we have every reason to believe that its author, William of St. Stephen, was also the author of the central convent’s letter of April 3, 1296 – not just because he included it in his Saterian but because it sounds just like him.69 In his Saterian, William of St. Stephen assessed his Order according to the legal traditions established by Aristotle, Cicero, the Church Fathers, Isidore of Seville, Gratian, and others. And while he cast aside the legends of his community’s miraculous origins in the Old Testament days of the Maccabees, he did emphasize its “real” history, going back to its establishment in Jerusalem prior to the First Crusade. What is more, combining legal and historical matters with spiritual insights, he constantly reminded his fellow Hospitallers of the biblical principles (from both the Old and the New Testament) that had to guide their legislation, their judgments, and their determination of justice and injustice, such as, “serve the Lord with fear” (Psalm 2:11); “listen, you who judge the earth” (Wisdom 6:2); “when your brother has sinned against you, rebuke him between you and him alone” (Matthew 18:15); “who is the son who is not chastised by his father” (Hebrews 12:7); “do to the other that which you would have the other do to you” (Matthew 7:12); and “those who believed in God had one heart and one soul” (Acts 4:32).70 William wrote the Saterian as a cautionary “welcome” to the Order’s newly elected master, drawing attention to something he considered even more fundamental than caring for the sick or those in need, something without which even the fight to recover the Holy Land for Latin Christendom would ultimately be meaningless, namely, righteousness in the eyes of God. 67 BNF fr. 6049, fol. 255r. Cartulaire général, ed. Delaville Le Roulx (as n. 10), vol. 3, p. 681 (with note 2), and Burgtorf, Central Convent (as n. 4), p. 691, erroneously reference BNF fr. 6049, fol. 245. 68 Cartulaire général, ed. Delaville Le Roulx (as n. 10), vol. 3, p. 681–683 (doc. 4310). 69 See Riley-Smith, Templars and Hospitallers as Professed Religious (as n. 29), p. 53. 70 BNF fr. 6049, fol. 281v: serues nostre seignor en timor; fol. 278r: ozes soies enseigne uos qui jugies la tere; fol. 283r: Quant ton frere ai pechie deuant toi. chastie lo entre toi & lui sol; fol. 286v: qui est celui fiz qui non est chastie de son pere; fol. 265v: face a autre ce que il ueaut len face a lui; fol. 274r: ceaus qui uoient en dieu auoient . i. Cuer & une arme.

Alan Forey

Bernard of Fuentes: A Templar in Christian and Muslim Service

Several clauses in Templar regulations specify the penalties to be imposed on brothers who threatened to desert to the infidel.1 Their inclusion suggests that it was not an uncommon happening. Few Templars, however, are reported to have actually gone over to the Muslims in the East, and some of these accounts are of questionable validity. According to the English chronicler Roger of Hoveden, a Templar named Robert of St Albans not only entered the service of Saladin but was also quickly made leader of the Muslim forces and promised Saladin’s niece in marriage; he is said to have led an attack on Jerusalem, although this was repulsed.2 As the Templar is fully named, it is possible that the report has its origins in the desertion of a Templar of this name, but as it stands the story is wholly implausible. In his account of Louis IX’s Egyptian crusade, Matthew Paris refers to a Templar named Ferrando, who during the Fifth Crusade had sided with the Muslims after being deprived of a horse which he did not want to lose; his action was said to have led to the loss of Damietta.3 Yet in his earlier coverage of 1 La règle du Temple, ed. Henri de Curzon, Paris 1886, p. 157, 244, 309 (§ 240, 455, 596); Il Corpus normativo templare: Edizioni dei testi romanzi con traduzione e commento in italiano, ed. and trans. Giovanni Amatuccio, Galatina 2009, p. 134, 232–234, 326 (§ 17, 140, 47); The Catalan Rule of the Templars: A Critical Edition and Translation from Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón, Cartas Reales, MS 3344, ed. and trans. Judi Upton-Ward, Woodbridge 2003, p. 42 (§ 92). The following abbreviations are used: ACA (Barcelona, Archivo de la Corona de Aragón); CRD (Cancillería Real, Cartas Reales Diplomáticas); ORM, Perg. (Ordenes Religosas y Militares, San Juan de Jerusalén, Pergaminos); Perg. (Cancillería Real, Pergaminos); R. (Cancillería Real, Registro). 2 Chronica Magistri Rogeri de Houedene, ed. William Stubbs (Rolls Series, 51), London 1868– 1871, vol. 2, p. 307; Gesta Regis Henrici secundi Benedicti abbatis, ed. William Stubbs (Rolls Series, 49), London 1867, vol. 1, p. 341–342. For a similarly implausible account of a Templar or Hospitaller who supposedly married the widow of al-Mu‘azzam, sultan of Damascus, and acted as guardian of the latter’s sons, see Chronique d’Ernoul et de Bernard le trésorier, ed. Louis de Mas Latrie, Paris 1871, p. 458; Albrici monachi Triumfontium Chronicon, ed. Paul Scheffer-Boichorst (Monumenta Germaniae historica, Scriptores, 23), Hanover 1874, p. 631–950, at p. 925. 3 Matthæi Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Chronica majora, ed. Henry R. Luard (Rolls Series, 57), London 1872–1883, vol. 5, p. 387.

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the Fifth Crusade, based on Roger of Wendover, this incident is not mentioned: Matthew Paris merely takes from Oliver of Paderborn a report about a different apostate, who was not said to be a Templar.4 During the Templar trial, an English Templar named Henry Danet accused the Catalan brother Hugh of Ampurias of abandoning the castle of Ruad in 1302, of going over to the Muslims shortly before the stronghold fell, and of also rejecting the Christian faith.5 Yet Hugh of Ampurias had been captured earlier when Tripoli fell in 1289 and had spent some five years in captivity, without renouncing his faith;6 and it is clear from his evidence that Henry Danet had no liking for Catalan Templars.7 The claim probably has its origins in the fact that Hugh negotiated the surrender of Ruad, and that, although the Templars there had been promised safe-conduct, they were imprisoned.8 Reports that a Templar sergeant called Leo, who had acted as a negotiator during the siege of Safet in 1266, betrayed his colleagues, and adopted the Islamic faith are, however, found in both Christian and Muslim sources, and are therefore more plausible.9 Credence should probably also be given to state4 Matthæi Parisiensis Chronica majora, ed. Luard (as n. 3), vol. 3, p. 45–46; Oliver of Paderborn, Historia Damiatina, in: Die Schriften des Kölner Domscholasters, späteren Bischofs von Paderborn und Kardinalbischofs von S. Sabina Oliverus, ed. Hermann Hoogeweg, Tübingen 1894, p. 159–280, at p.198–199 (chap. 22). 5 The Proceedings against the Templars in the British Isles, ed. and trans. Helen J. Nicholson, Farnham 2011, vol. 1, p. 182, 301. On Henry Danet, see Helen J. Nicholson, The Testimony of Brother Henry Danet and the Trial of the Templars in Ireland, in: In laudem hierosolymitani: Studies in Crusades and Medieval Culture in Honour of Benjamin Z. Kedar, ed. Iris Shagrir, Ronnie Ellenblum, Jonathan Riley-Smith (Crusades Subsidia, 1), Aldershot 2007, p. 411– 423. 6 Cronaca del Templare di Tiro (1243–1314): La caduta degli stati crociati nel racconto di un testimone oculare, ed. Laura Minervini, Naples 2000, p. 196–198 (chap. 241); Heinrich Finke, Papsttum und Untergang des Templerordens, Münster 1907, vol. 2, p. 1–2 (doc. 1); id., Acta Aragonensia: Quellen zur deutschen, italienischen, französischen, spanischen, zur Kirchenund Kulturgeschichte aus der diplomatischen Korrespondenz Jaymes II. (1291–1327), Berlin 1908–1922, vol. 3, p. 514; ACA, CRD, Jaime II, cajas 137–142, Templarios 26. 7 Proceedings against the Templars, ed. Nicholson (as n. 5), vol. 1, p. 302–303. 8 Cronaca del Templare, ed. Minervini (as n. 6), p. 310 (chap. 401–402). A French Templar accused brother Gerard of Villiers of deserting Ruad shortly before it fell: Le procès des Templiers, ed. Jules Michelet, Paris 1841–1851, vol. 1, p. 39. On Hugh of Ampurias, see PierreVincent Claverie, La contribution des templiers de Catalogne à la défense de la Syrie franque (1290–1310), in: Egypt and Syria in the Fatimid, Ayyubid and Mamluk Eras, vol. 3: Proceedings of the 6th, 7th, and 8th International Colloquium organized at the Katholieke Universiteit Leuven in May 1997, 1998 and 1999, ed. Urbain Vermeulen, Jo Van Steenbergen (Orientalia Lovaniensia Analecta, 102), Leuven 2001, p. 171–192, at p. 174–175, 178, 184–185. 9 L’Estoire de Eracles Empereur et la Conqueste de la Terre d’Outremer, in: Recueil des Historiens des Croisades, Historiens Occidentaux, vol. 2, ed. l’Académie des inscriptions et belleslettres, Paris 1859, p. 1–481, at p. 454–455 (book 34, chap. 9); Majus Chronicon Lemovicense a Petro Coral et aliis conscriptum, in: Recueil des historiens des Gaules et de la France, vol. 21, ed. Joseph-Daniel Guigniaut, Natalis de Wailly, Paris 1855, p. 761–788, at p. 773–774; Cronaca del Templare, ed. Minervini (as n. 6), p. 108–110 (chap. 111); Ayyubids, Mamlukes, and

Bernard of Fuentes: A Templar in Christian and Muslim Service

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ments in Templar regulations that a brother called Luke, who was accused of sodomy, escaped to Muslim lands, and that another brother at Acre, named George, fled to the Muslims for unspecified reasons, although he was apprehended by the Templars and imprisoned.10 There are even fewer reports of Templars who deserted to Muslim lands in the Western Mediterranean. Admittedly, in 1308, at an early stage of the proceedings against the Templars, William of Plaisians, Philip IV’s minister, informed the pope that outside France few Templars had offered to clear themselves, and that many in the Iberian Peninsula had gone over to the Muslims.11 This assertion clearly became widely known, for in an undated letter Bernard, count of Armagnac, wrote to the Aragonese ruler James II to say that he had heard that the king of Granada was planning to invade Aragonese lands cum ingenti Sarracenorum, Iudeorum et Templariorum nunc ad legem Sarracenam conversorum multitudine: he wanted to know if the report was true, and offered assistance.12 Yet the claims about flight at the time of the arrest of the Templars receive no support from Spanish sources and may be dismissed as a piece of French propaganda against the Order. Bernard of Fuentes, a Templar in the Aragonese province, did, however, later flee and go to Tunis, and his career can be fairly closely followed.13 When, during the Templar trial, he was interrogated in February 1310 he said that he had been received into the Order as a knightly brother by the Aragonese provincial master Berenguer of San Justo twenty years earlier: he was then twenty years old.14 The figures cannot be taken as being exact, especially as both are in round numbers.15 Yet Bernard, like many knightly recruits in the West, was clearly soon sent out to the East, for in August 1291 the master Theobald Gaudin gave him permission to

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Crusaders: Selections from the Ta¯rı¯kh al-Duwal wa’l-Mulu¯k of Ibn al-Fura¯t, ed. and trans. Ursula Lyons, Malcolm C. Lyons, historical introduction and notes by Jonathan RileySmith, Cambridge 1971, vol. 2, p. 95; Histoire des sultans mamlouks, de l’Égypte, écrite en Arabe par Taki-Eddin-Ahmed-Makrizi, vol. 1 (part 2), trans. Étienne Quatremère, Paris 1837, p. 30 (in this account the negotiator is not identified as a Templar). Règle du Temple, ed. Curzon (as n. 1), p. 297–298, 312 (§ 573, 603); Corpus normativo, ed. Amatuccio (as n. 1), p. 306, 336 (§ 25, 66); Catalan Rule, ed. Upton-Ward (as n. 1), p. 70, 96 (§ 164, 198). Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 2, p.140, 145 (doc. 87–88). Ibid., vol. 2, p. 188 (doc. 105). According to La Chronique Métrique attribuée à Geffroy de Paris, ed. Armel Diverrès, Paris 1956, p. 177 (lines 4543–4546), some Templars escaped and went to Muslim lands. The chronicler places this statement among the events of the year 1312, but flight was not likely at that time, as Templars in the Iberian Peninsula were absolved: the comment was probably based on William of Plaisians’s assertion. As it is not known where he was born, I have put Fuentes in the Spanish form. A letter sent in his name (see below) was written in Catalan, but it was presumably the work of a scribe. Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 2, p. 372 (doc. 157). Berenguer of San Justo had been replaced as provincial master by June 1291: Alan J. Forey, The Templars in the Corona de Aragón, London 1973, p. 421.

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return to the West from Nicosia because of infirmity.16 This was only shortly after Acre had fallen, and Bernard may have been wounded when helping to defend the city, though he had managed, like other Templar survivors, to escape to Cyprus, probably via Sidon.17 Back in the Aragonese province, he witnessed a document issued by the commander of Tortosa early in 1293, when he was presumably a member of that convent, but by the summer of the following year he was commander of the convent of Corbins.18 He had been quickly promoted: Templar knights in the Aragonese province were often not given the charge of a commandery until they had been brothers for ten or more years.19 He was then commander of Peñíscola at some date before 1299,20 and by the summer of that year he had become commander of Mallorca, a post which he held until the spring of the following year.21 In 1301, he was again commander of Corbins, and for a time was acting castellan of Monzón, while in 1302 he was not only commander of Corbins but also had charge of the nearby house of Gardeny, which then lacked a commander.22 In 1303, he was transferred back to Mallorca and stayed there until at least the summer of 1304.23 But by the time of the beginning of proceedings against the Order he appears to have returned to Corbins, for documents drawn up shortly after the trial refer to him as formerly commander of Corbins.24 Short periods of office and the transfers from one house to another were common in Templar provincial administration. The evidence of his activities as the head of a house relate mainly to the administration of the property of a commandery, including the leasing of land, the farming of revenues, the appointment of guardians for minors, and in16 ACA, Perg., Jaime II 19; published in a footnote in Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 1, p. 21 note 3. 17 Marie-Luise Faveau-Lilie, The Military Orders and the Escape of the Christian Population from the Holy Land in 1291, in: Journal of Medieval History 19, no. 3 (1993), p. 201–227, at p. 209–210. 18 Laureà Pagarolas i Sabaté, Els Templers de les Terres de l’Ebre (Tortosa): De Jaume I fins a l’abolició de l’orde (1213–1312), Tarragona 1999, vol. 2, p. 193–195, 197–198 (doc. 169, 171); Alan J. Forey, Letters of the Last Two Templar Masters, in: Nottingham Medieval Studies 45 (2001), p. 145–171, at p. 161–162 (doc. 4). 19 Alan J. Forey, Templar Knights and Sergeants in the Corona de Aragón at the Turn of the Thirteenth and Fourteenth Centuries, in: As ordens militares e as ordens de cavalaria na construção do mundo ocidental, ed. Isabel Cristina Ferreira Fernandes, Lisbon 2005, p. 631–642, at p. 636–638. The information given there about Bernard of Fuentes needs amendment. 20 ACA, Perg., Jaime I 2180. 21 Àngel M. Rodríguez Carreño, El territori de Pollença sota l’orde del Temple (1298–1304), Pollença 2000, p. 184, 186–187, 276–277 (doc. 12). 22 ACA, ORM, Perg., Gardeny 227–228, 2244D, 2244H. 23 Rodríguez Carreño, Territori de Pollença (as n. 21), p. 204, 216, 282–284 (doc. 21–22, 24– 25). 24 Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 2, p. 226–227 (doc. 121); ACA, R. 241 fol. 50v.

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volvement in disputes.25 Like other commanders in the Aragonese province, he was also expected to provide, in addition to his responsion, extra money for the Templars in the East after they had lost their estates in the Holy Land.26 But Aragonese Templars were still engaged in warfare on the frontier in Spain, and as a knight Bernard presumably participated in some campaigns and raids. Resort to force could, however, also occur during disputes within Christian territories. In 1301, the Templars were resisting the payment of a tax which the bishop of Lérida had sought to impose on the Order’s churches in aid of the newly-established studium generale at Lérida, and the bishop claimed that during the dispute men acting on the orders of Bernard of Fuentes, as lieutenant of the castellan of Monzón, had forced the vicar of Binaced out of his church and taken him to Pueyo de Santa Cruz, where – it was said – only Muslims lived; the prelate further asserted that Bernard had threatened other vicars with beheading and had held the rector of the church of Almunia de San Juan captive in Monzón. The Templars challenged these claims, but there seems to have been violence on both sides.27 In the following year Bernard was among a group of Templars who protested against the provincial master’s wish to reach a settlement with the bishop.28 Templars were, of course, not only concerned with the Order’s business: they were often used by secular rulers. In 1303, Bernard of Fuentes was thus asked by James II to lend a royal representative 2,000 shillings for the purchase of Muslim slaves in Mallorca for the Crown.29 When James II ordered the arrest of the Aragonese Templars in 1307, brothers sought to resist in some half-dozen castles, where most Templars from the province gathered. The largest garrison was that of Monzón: Bernard was among seventy-two brothers who at one time were defending the stronghold.30 In February 1308, he led a group which attacked messengers who were trying to deliver letters from the king and the inquisitor: the envoys had to resort to handing them over to a sister of a nearby hospital.31 In September 1308, James II granted Bernard of Fuentes and his fellow Templar Dalmau of Timor a safe-conduct, so 25 ACA, ORM, Perg., Gardeny 227–228, 2244D; Rodríguez Carreño, Territori de Pollença (as n. 21), p. 184, 186–187, 204, 211, 213–216, 276–277, 282–284 (doc. 12, 21–22, 24–25). 26 ACA, CRD, Jaime II, Templarios 310. 27 ACA, ORM, Perg., Gardeny 2244D, 2244G; see also Francisco Castillón Cortada, Discusiones entre los obispos de Lérida y los Templarios de Monzón, in: Ilerda 36 (1975), p. 41– 96, at p. 96. 28 ACA, ORM, Perg., Gardeny 2244H. 29 ACA, R. 334 fol. 172v, 173; Mariano Gaspar Remiro, El negocio de Ceuta entre Jaime II de Aragón y Aburrebia Solaiman, sultán de Fez, contra Mohamed III de Granada, Madrid 1925, p. 88–90. 30 ACA, CRD, Jaime II, Templarios 546. 31 ACA, Perg., Jaime II 2512. For the king’s letter, dated January 19, 1308, see Maria Vilar Bonet, Els béns del Temple a la Corona d’Aragó en suprimir-se l’orde (1300–1319), Barcelona 2000, pp. 148–149 (doc. 32).

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that they might discuss surrender terms with the king.32 This was not the only contact between James and the besieged at Monzón in 1308,33 but nothing was achieved, and Monzón was the last castle to surrender: it did not pass into royal hands until the beginning of June 1309.34 Bernard of Fuentes, together with Bertrand of Fals, had, however, deserted their colleagues some weeks earlier and surrendered to the king.35 By April 10, Bernard, then in custody, had petitioned James II to allow his former esquire to continue to receive the corrody which had been granted by the Templars.36 Templars who passed into royal hands were usually held under guard in Templar commanderies, and in April 1309 James instructed Artal of Luna, who had command of the siege of Monzón, to send Bernard and Bertrand of Fals to Novillas, near the Navarrese border.37 Some years later, however, Bernard claimed that he had been sent to Alcolea, in the commandery of Monzón. It was from there, he asserted, that he was transferred to Lérida, to be interrogated by the local bishop.38 Like all Templars in the Aragonese province, Bernard denied the main accusations against the Order.39 He later stated that he had then returned to Alcolea. It is not clear when he decided to flee. In the early period of their captivity, Aragonese Templars enjoyed considerable freedom of movement, especially those who had been defending Monzón,40 but there were two occasions when James ordered that all Templars were to be put in chains. The first was in July 1310, when the king acted on the request of those conducting the inquiries against the Order in Aragon, and most Templars remained chained for some three months. The second was in August 1311, after Clement V had ruled that torture should be used to extract confessions.41 In July 1310, James had sought to maintain secrecy and to ensure that all Templars were chained on the same day, but in 1311 he merely stated that Templars were to be put in chains, without stipulating any precautions. Possibly Bernard had heard rumours of the im32 33 34 35 36 37 38

ACA, R. 291 fol. 141v. Alan J. Forey, The Fall of the Templars in the Crown of Aragon, Aldershot 2001, p. 27–28. Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 26. ACA, R. 291 fol. 227. Ibid., fol. 221v. Ibid., fol. 227. Ángeles Masiá de Ros, La Corona de Aragón y los estados del Norte de África: Política de Jaime II y Alfonso IV en Egipto, Ifriquía y Tremecén, Barcelona 1951, p. 490–492 (doc. 186). 39 The Lérida proceedings are summarised in Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 2, p. 364–376 (doc. 157), from Barcelona, Archivo Capitular, codex 124 A. 40 Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 92–93. For the terms agreed when Monzón surrendered, see Vilar Bonet, Béns del Temple (as n. 31), p. 174–178 (doc. 59). 41 Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 85, 95–97; ACA, R. 291 fol. 277v–278, 305v; Regestum Clementis papae V, Rome 1885–1892, vol. 6, p. 439 (doc. 7526); Antonio Benavides, Memorias de D. Fernando IV de Castilla, Madrid 1860, vol. 2, p. 788–789 (doc. 540).

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pending torture and had escaped then. Certainly in November of that year he was assisting Ibn al-Lihyani in the latter’s campaign to establish himself as ruler of Tunis.42 In several documents of the year 1313, Bernard was referred to as the alcalde of the Christian militia serving Ibn al-Lihyani in Tunis, but he was in fact acting as deputy of the Catalan noble William Raymond of Moncada who was in Sicily at the time.43 In several treaties, the right of the Aragonese kings to nominate the alcalde in Tunis had been recognised.44 Yet it is unlikely that James had any part in the appointing of Bernard, for the right did not pass uncontested, and the Aragonese king’s demand for the acceptance of this right was not included in the Aragonese/Tunisian treaty which was drawn up in 1314.45 William Raymond of Moncada had not been a royal nominee, as he had forfeited the king’s favour by supporting Frederick of Sicily against James in the battle of Cap d’Orlando in 1299, and in the negotiations leading up to the 1314 treaty James stated that he would not recognise him as alcalde.46 James had in any case been instructed by Clement V in 1307 to arrest all the Aragonese Templars,47 and at the end of the trial the pope ruled that fugitives should surrender themselves within a year: those who failed to do so were to be excommunicated, and Templars who remained excommunicate for a year were to be condemned as heretics.48 James could therefore hardly appear to be favouring a Templar fugitive. 42 Masiá de Ros, Corona de Aragón (as n. 38), p. 490–492 (doc. 186). Ibn al-Lihyani entered Tunis on November 14: Histoire des Berbères et des dynasties musulmanes de l’Afrique septentrionale par Ibn-Khaldoun, trans. William McGuckin de Slane, Algiers 1852–1856, vol. 2, p. 439. 43 ACA, R. 241 fol. 50v; Masiá de Ros, Corona de Aragón (as n. 38), p. 490–492 (doc. 186); Louis de Mas Latrie, Traités de paix et de commerce et documents divers concernant les relations des chrétiens avec les arabes de l’Afrique septentrionale au moyen âge, Paris 1866–1872, Supplément, p. 55 (doc. 26). On William Raymond of Moncada, see Maria-Teresa Ferrer i Mallol, Nobles catalans arrelats a Sicília: Guillem Ramon I de Montcada, in: Mediterraneo medievale: Scritti in onore di Francesco Giunta, Soveria Mannelli 1989, vol. 1, p. 418–431. 44 Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), vol. 2, p. 286–290 (doc. 4); Hussein Fancy, The Last Almohads: Universal Sovereignty between North Africa and the Crown of Aragon, in: Medieval Encounters 19, no. 1–2 (2013), p. 102–136, at p. 129–132. In 1299, James II appointed Berenguer of Cardona: Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), Supplément, p. 46–48 (doc. 21– 23). 45 Ibid., vol. 2, p. 306–310 (doc. 14). 46 Ibid., Supplément, p. 51–55 (doc. 25). It is not known when William Raymond of Moncada was appointed as alcalde. 47 Jaime Villanueva, Viage literario a las iglesias de España, Madrid 1803–1852, vol. 19, p. 317– 319 (doc. 48); Benavides, Memorias de D. Fernando IV (as n. 41), vol. 2, p. 619–621 (doc. 415). 48 Villanueva, Viage literario (as n. 47), vol. 5, p. 221–224 (doc. 7); Benavides, Memorias de D. Fernando IV (as n. 41), vol. 2, p. 855–857 (doc. 579); Regestum Clementis papae V (as n. 41), 7, p. 303–305 (doc. 8784); Conciliorum Oecumenicorum Generaliumque Decreta: Editio Critica, ed. Giuseppe Alberigo et al., Turnhout 2006–2016, vol. 2 (part 1), p. 323–325.

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Although Bernard of Fuentes was acting as head of the Christian militia, his activities in 1313 were of a diplomatic, rather than a military, character.49 Towards the end of January 1313, the Tunisian ruler Ibn al-Lihyani sent Laurence of Berga with a letter to James II: in this he not only asked the Aragonese king to approve the peace recently negotiated between Tunis and Mallorca but also stated that he had instructed Bernard of Fuentes to write to James. He asked the latter to give credence to what Bernard stated.50 In his letter, dated January 31, 1313, Bernard wrote about the agreement between Mallorca and Tunis and about the alleged readiness of the Tunisian ruler to convert to Christianity.51 But he had also by then heard of the decisions made at the Council of Tarragona in November 1312 about the fate of the Aragonese Templars: they were absolved and provision was made for them to live with pensions in former houses of the Order in Aragon and Catalonia. The archbishop of Tarragona had also, in accordance with Clement V’s ruling in May 1312, summoned fugitives to appear before him. In his letter, Bernard therefore also sought to ingratiate himself with James, in preparation for a return to Aragonese lands and residing there as an ex-Templar. He claimed that he was the first of the brothers besieged in Monzón to submit to the king, and that he had never been a rebel against the Church or against James.52 James acknowledged Bernard’s letter on May 9 and said that his reply to Ibn al-Lihyani was being taken back to Tunis by Laurence of Berga; but he did not comment on Bernard’s personal situation.53 The latter’s opportunity to take his personal matters further came, however, when he was named as an envoy to James II by Ibn al-Lihyani in the summer of 1313 to negotiate a peace between Tunis and Aragon.54 By the time Bernard arrived in the Peninsula, James II had 49 It was not unusual for alcaldes to be used as envoys: Dominique Valérian, Les agents de la diplomatie des souverains maghrébins avec le monde chrétien (XIIe–XVe siècle), in: Anuario de Estudios Medievales 38, no. 2 (2008), p. 885–900, at p. 888–890. 50 Los documentos árabes diplomáticos del Archivo de la Corona de Aragón, ed. and trans. Maximiliano A. Alarcón y Santón, Ramón García de Linares, Madrid 1940, p. 282–284 (doc. 127); Andrés Giménez Soler, Documentos de Túnez, originales ó traducidos, del Archivo de la Corona de Aragón, in: Anuari de l’Institut d’Estudis Catalans 3 (1909–1910), p. 210–259, at p. 229–231 (doc. 12); see also ACA, CRD, Jaime II, caja 38, 4701. For the treaty with Mallorca, see Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), vol. 2, p. 188–192 (doc. 5). Bernard of Fuentes was present in Tunis when this treaty was agreed in January 1313. 51 Masiá de Ros, Corona de Aragón (as n. 38), p. 490–492 (doc. 186). 52 In fact, Raymond of Molina had abandoned his colleagues at Monzón by the early part of February 1309: ACA, R. 291 fol. 201v–202. Michael Lower, Ibn al-Lihyani: Sultan of Tunis and Would-be Christian Convert (1311–1318), in: Mediterranean Historical Review 24, no. 1 (2009), p. 17–27, at p. 20, argues that Bernard, like William Raymond of Moncada, had fought on Frederick’s side against James in 1299, and that his comment about not being a rebel related to that. But in 1299 Bernard was commander of Corbins. In his letter, he was referring to Templar resistance to James’s attempts to arrest the members of the Order. 53 ACA, R. 240/2 fol. 204v–205. 54 ACA, CRD, Jaime II, caja 37, 4620.

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already dispatched his own envoy, William Olomar, to conduct peace negotiations with Tunis,55 and on October 12 James announced that he was therefore sending Bernard back to Tunis.56 By then, however, with royal assistance, Bernard had been able to make provision for himself in Aragon. On September 23, James wrote to the bishop of Lérida, saying that Bernard had to return speedily to Tunis and that, because of the need for haste, Bernard could not easily appear before the bishop to receive absolution. He therefore asked the prelate to delegate the archdeacon of Besalú, who was trained in both canon and civil law, or some other suitable person from the church of Barcelona to act for him.57 On the same day, he wrote to the archbishop of Tarragona, asking him to support this request.58 By October 11, Bernard had received absolution from the archdeacon and had been assigned accommodation in the house of Gardeny with a generous pension of 3000 shillings a year, which was to be paid from the revenues of the commandery of Monzón.59 Bernard had, however, to report back to Ibn al-Lihyani, and therefore could not immediately take advantage of these arrangements. He was in Tunis when the peace agreement between the two rulers was drawn up on February 26, 1314.60 The date on which Bernard returned to the Peninsula is not known, but he was there in May 1315 when James ordered that his arms and equipment should be restored to him.61 By the next month, however, he was back in Tunis.62 It was in fact not uncommon for ex-Templars to leave the houses to which they had been assigned in 1312: in 1313, Raymond of San Justo went to fight against Robert of Naples, and a few years later a group of former Aragonese Templars participated in a campaign against Granada led by the Castilian Infante Peter, while in 1323 some ex-Templars took part in the expedition to Sardinia.63 After the trial, former Templars were expected to lead a life which was devoid of purpose, and it not surprising that some sought to engage in more appealing activities. In most instances James allowed brothers to keep their pensions while participating in such campaigns, but in June 1315 he ordered that Bernard of Fuentes should be 55 Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), Supplément, p. 51–55 (doc. 25). James had written again to Bernard in July, informing him of the dispatch of William Olomar, but the letter had presumably not arrived before Bernard set out: ibid., Supplément, p. 55 (doc. 26.I). 56 Ibid., Supplément, p. 57–58 (doc. 27.II). 57 Finke, Papsttum und Untergang (as n. 6), vol. 2, p. 226–227 (doc. 121); ACA, R. 241 fol. 50v. Bernard did, however, have time to visit Perpignan during his stay: Charles-Émmanuel Dufourcq, L’Espagne catalane et le Maghreb aux XIIIe et XIVe siècles, Paris 1966, p. 501. 58 ACA, R. 241 fol. 50v. 59 ACA, R. 274 fol. 79v–80; on the size of Templar pensions, see Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 213–214. 60 Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), vol. 2, p. 306–310 (doc. 14). 61 ACA, R. 276 fol. 46–47. 62 Ibid., fol. 64v. 63 Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 222, 227.

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deprived of his.64 The king stated that this was partly because Bernard had not sought royal permission to return to Tunis, but he also referred to other unspecified reasons.65 It is possible that these included concerns about appointments to the post of alcalde, as Bernard was said to be again in the service of the Tunisian ruler, although there is apparently no evidence about his position at this time. The loss of his pension was, however, sufficient to bring Bernard back to the Peninsula, where it was restored in June 1316.66 Yet he did not live long to enjoy it, for he was dead by the early part of the following year. All that remained to be done was the disposal of his goods: his horse was assigned to the Infante Alfonso, and a tent and jenet saddle passed into royal hands, while the money of his pension reverted to the royal treasury.67 The surviving sources not only provide details of Bernard’s career but also throw some light on his personality and attitudes. He seems to have been quick to resort to violence, as is apparent in the dispute with the bishop of Lérida in 1301 and his treatment of messengers to Monzón in 1308. But he also displayed a strong instinct for self-preservation and self-advantage. He was one of only a handful of Templars who abandoned their colleagues during the sieges of Templar castles and presumably hoped to receive better treatment by doing so.68 Later, as has been seen, it may have been the fear of torture which prompted his flight: in this he had few imitators.69 His actions concerning his pension and his continued links with Tunis were similarly motivated by self-interest. Yet most interesting is his transition from membership of an Order whose purpose was to fight Muslims to being the acting head of the Christian militia in the service of the Muslim ruler of Tunis. It could, of course, be pointed out that migration to Muslim lands was Bernard’s only secure way of avoiding torture and any subsequent penalty which might be imposed: he could have fled to other Christian lands and sought to remain incognito, but there would always have been the possibility of being detected. But Bernard not only fled to Tunis but joined the ruler’s militia. His motives in entering the Temple are, of course not known: in some instances the decision was made by the family rather than by the

64 ACA, R. 276 fol. 64v. The pension was assigned to a Templar who had returned from Cyprus after the trial. 65 ACA, R. 277 fol. 189v. 66 Ibid., fol. 189v, 238. 67 ACA, R. 278 fol. 92v–93, 112, 139v–140. 68 Apart from those already mentioned, James of Garrigans had deserted those defending Miravet: Alan J. Forey, The Templar James of Garrigans: Illuminator and Deserter, in: The Military Orders, vol. 3: History and Heritage, ed. Victor Mallia-Milanes, Aldershot 2008, p. 107–114. 69 On the few who escaped while in custody, see Forey, Fall of the Templars (as n. 33), p. 97.

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individual.70 Although in the past desertions to Islam by Templars had apparently been few, it should also be remembered that by the time of Bernard’s flight to Tunis, the Temple was no longer functioning as a military-religious Order, and he, like many other Templars, may have felt that he had been betrayed by the Church, although he did not convert to Islam. It should further be noted that among Westerners in contact with Islam the religious divide was not always the determining factor in relations between Christians and Muslims. Those who lived in areas remote from Islam tended to see the situation in more simple terms: this is illustrated by the comment made by the Templar master James of Molay who said, when interrogated in 1307, that he and many other young Templar knights – these would have been mostly recruited in France – were anxious to fight when they had been sent to the East, but in time they came to realise that it was necessary for the Templar master to abide by a truce with the Muslims.71 In the Holy Land, rulers were ready to make truces with Muslim states and to ally with them. In this they were imitated by the militaryreligious Orders, as seen in an agreement between the Templar master William of Beaujeu and Qala¯wu¯n in 1282.72 In the Iberian Peninsula, where the Orders did not enjoy so much independence, they were expected to observe truces with Muslims made by Christian kings, who also made alliances with Muslim powers.73 Members of the military-religious Orders in Spain at times found themselves fighting alongside Muslim troops: in 1304, the Aragonese provincial master of the Templars led a raid into Granada, on which he was accompanied by a Muslim contingent under the command of al-‘Abba¯s Ibn Ra¯hu¯, who was in the service of James II. In a report on the campaign to James, the master praised the conduct and loyalty of his Muslim ally.74 It was not uncommon for Iberian rulers 70 Alan J. Forey, Recruitment to the Military Orders (Twelfth to Mid-Fourteenth Centuries), in: Viator 17 (1986), p. 139–171, at p. 162–171; Alessandro Barbero, Motivazioni religiose e motivazioni utilitarie nel reclutamento degli ordini monastico-cavallereschi, in: ‘Militia Christi’ e crociata nei secoli XI–XIII, Milan 1992, p. 717–727. 71 Procès des Templiers, ed. Michelet (as n. 8), vol. 2, p. 44–45. 72 Peter Malcolm Holt, Early Mamluk Diplomacy, 1260–1290: Treaties of Baybars and Qala¯wu¯n with Christian Rulers, Leiden 1995, p. 66–68. See also Jochen Burgtorf, “BloodBrothers” in the Thirteenth-Century Latin East? The Mamluk Sultan Baybars and the Templar Matthew Sauvage, in: Communicating the Middle Ages. Essays in Honour of Sophia Menache, ed. Iris Shagrir, Benjamin Z. Kedar, Michel Balard, Abingdon 2018, p. 3–14. 73 On the military orders’ stance on truces, both in the Holy Land and the Iberian Peninsula, see Alan J. Forey, The Participation of the Military Orders in Truces with Muslims in the Holy Land and Spain during the Twelfth and Thirteenth Centuries, in: Ordines Militares, Colloquia Torunensia Historica: Yearbook for the Study of the Military Orders 17 (2012), p. 41–52. 74 Andrés Giménez Soler, Caballeros españoles en Africa y africanos en España, in: Revue hispanique 12, no. 42 (1905), p. 299–372, at p. 365–369; Finke, Acta Aragonensia (as n. 6), vol. 3, p. 122–125 (doc. 54). Bernard of Fuentes did not take part in this expedition: he was then commander of Mallorca, and it was not until July 1304 that he was proposing to cross to the mainland: Rodríguez Carreño, Territori de Pollença (as n. 21), p. 284 (doc. 25). On non-

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at this time to engage Muslim troops,75 and similarly by the time of Bernard’s flight to Tunis, Christian militias had long been established in the Muslim states of North Africa.76 As has been seen, these had the support of Christian kings, who benefited financially and could use the militias as a means of gaining influence over North African rulers. These militias included numerous exiles, for those out of favour within Christian Spain commonly sought refuge in Muslim lands. Nor were they condemned in practice by the Church. Admittedly, in the later twelfth century the canonist Huguccio had maintained that Christians could give such service in a just war if they had been conquered or if they were under the jurisdiction of a non-Christian prince or if they were in captivity, and at the turn of the century Alanus Anglicus had argued that Christians could fight for infidels if they had been enslaved in war or if they held lands of them.77 Yet, in a letter to Spanish prelates in 1214, Innocent III condemned only those Westerners who fought against Christians;78 and Raymond of Penyafort, when answering on Gregory IX’s behalf questions posed by friars in North Africa, stated that Christian soldiers serving Muslim rulers should not be excommunicated unless they were harming the Holy Land or other Christians.79 In 1233, Gregory did threaten to withdraw Christians from the service of the Moroccan ruler if the

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hostile relations between military orders and Muslims, see Nikolas Jaspert, Military Orders at the Frontier: Permeability and Demarcation, in: The Military Orders, vol. 6, 2: Culture and Conflict in Western and Northern Europe, ed. Jochen Schenk, Mike Carr, Abingdon 2017, p. 3–28, at p. 11–14. Faustino D. Gazulla, Las compañías de Zenetes en el Reino de Aragón (1284–1291), in: Boletín de la Real Academia de la Historia 90 (1927), p.174–196; Brian A. Catlos, Mahomet Abenadalill: A Muslim Mercenary in the Service of the Kings of Aragon (1290–1291), in: Jews, Muslims and Christians in and around the Crown of Aragon. Essays in Honour of Professor Elena Lourie, ed. Harvey J. Hames, Leiden 2004, p. 257–302; Hussein Fancy, The Mercenary Mediterranean: Sovereignty, Religion, and Violence in the Medieval Crown of Aragon, Chicago 2016. Studies on these include José Alemany, Milicias cristianas al servicio de los sultanes musulmanes del Almagreb, in: Homenaje á D. Francisco Codera en su jubilación del profesorado, Zaragoza 1904, p. 133–169; Simon Barton, Traitors to the Faith? Christian Mercenaries in al-Andalus and the Maghreb, c. 1100–1300, in: Medieval Spain: Culture, Conflict and Coexistence: Studies in Honour of Angus MacKay, ed. Roger Collins, Anthony Goodman, Basingstoke 2002, p. 23–45; Carmen Batlle, Noticias sobre la milicia cristiana en el Norte de Africa en la segunda mitad del siglo XIII, in: Homenaje al profesor Juan Torres Fontes, Murcia 1987, vol. 1, p. 127–137; María D. López-Pérez, Emigrer pour faire la guerre: la présence militaire catalano-aragonaise au Maghreb médiéval, in: La circulation des élites européennes: Entre histoire des idées et histoire sociale, ed. Henri Bresc, Fabrice d’Almeida, Jean-Michel Sallmann, Paris 2002, p. 56–79. Frederick H. Russell, The Just War in the Middle Ages, Cambridge 1975, p. 121, 198. Madrid, Archivo Histórico Nacional, Códice 996B fol. 44. Raymundiana, seu: Documenta quae pertinent ad S. Raymundi de Pennaforti vitam et scripta, ed. François Balme et al., Rome 1898–1901, vol. 2, p. 35. The interpretation given by Fancy, Mercenary Mediterranean (as n. 75), p. 92, is misleading.

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latter refused to accept Christianity, and in 1251 Innocent IV made a similar threat if adequate protection was not provided for the families of Christians serving in Moroccan armies.80 Yet these popes were not condemning the employment of Christian mercenaries in North Africa, and the threats were not implemented, while in 1290 Nicholas IV merely instructed those in Christian militias in North Africa to conduct themselves in a seemly manner and abstain from any behaviour which brought the Christian faith into disrepute: he held out the possibility that they might in this way bring some Muslims to the Christian faith.81 It may, of course, be pointed out that these troops were normally used in North Africa only against rival Muslim powers: this provision was included in a number of treaties between Christian and Muslim rulers and, according to Ibn Khaldu¯n, they were not sent against Christian forces for fear that they would be disloyal.82 The papacy had, of course, frequently issued prohibitions on trade in war-materials with Muslims, but this was to prevent the latter from using them against Christians. The Christian militias were therefore in a different category. Yet, even though the militias were normally employed against Muslims, it might nevertheless have been argued that, if successful, Christian militias could be strengthening a North African ruler, who might then become an increased threat to the Iberian Peninsula. Rival Muslim armies in North Africa also at times included Christians on both sides: Christians were confronting Christians in the service of Muslim rulers.83 Yet concerns of these kinds were not expressed by the papacy, and no strong opposition to these Christian militias was voiced. Relations between Christian and Muslim were thus not always characterised by hostility and conflict. Although Bernard of Fuentes is the only Templar who is known to have fled to North Africa, his actions were not out of keeping with the accepted norms of the time, and his role as alcalde of the Christian militia would 80 Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), vol. 2, p. 10, 16–17 (doc. 10, 17); Karl-Ernst Lupprian, Die Beziehungen der Päpste zu islamischen und mongolischen Herrschern im 13. Jahrhundert anhand ihres Briefwechsels (Studi e Testi, 291), Vatican City 1981, p. 128–129, 204–205 (doc. 13, 37); Les registres d’Innocent IV, ed. Élie Berger, Paris, 1884–1921, vol. 2, p. 208–209 (doc. 5172–5174); La documentación pontificia de Inocencio IV (1243–1254), ed. Augusto Quintana Prieto, Rome 1987, vol. 2, p. 638, 642–643 (doc. 712, 718, 719); Clara Maillard, Protection des chrétiens en terre d’Islam et discussion entre papes et souverains musulmans: Le cas singulier des mercenaires de Maroc, in: Religious Minorities in Christian, Jewish and Muslim Law (5th–15th Centuries), ed. Nora Berend, Youna Masset, Capucine Nemo-Pekelman, John Tolan, Turnhout 2017, p. 317–331. 81 Mas Latrie, Traités de paix (as n. 43), vol. 2, p. 17–18 (doc. 18); Documentos de Nicolás IV (1288–1292) referentes a España, ed. Santiago Domínguez Sánchez, León 2009, p. 300 (doc. 284). On the papacy’s attitude, see Michael Lower, The Papacy and Christian Mercenaries of the Thirteenth-Century North Africa, in: Speculum 89, no. 3 (2014), p. 601–631. 82 Fancy, Mercenary Mediterranean (as n. 75), p. 85; Ibn Khaldu¯n, The Muqaddimah: An Introduction to History, trans. Franz Rosenthal, 2nd ed., Princeton 1967, vol. 2, p. 80–81. 83 Barton, Traitors to the Faith (as n. 76), p. 31.

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probably not have aroused undue surprise among his Aragonese contemporaries, especially in view of the circumstances which had led to his flight to Tunis.

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Johanniter, Genuesen und die Mamluken. Ein genuesisches Boykottregime gegen Alexandria vom März 1316

Das Ende der Kreuzfahrerstaaten auf dem asiatischen Festland, das die Eroberung Akkons durch die Truppen des mamlukischen Sultans al-Ashraf Khalil im Mai 1291 besiegelte, bedeutete einen tiefen Einschnitt in die Geschichte der Johanniter. Nach dem Verlust der letzten Stützpunkte in Palästina musste der Ritterorden seine Rolle neu definieren und tat dies, indem er die Herrschaft über die Insel Rhodos übernahm.1 Von dort aus, so die Erwartung, sollte der Orden zu militärischen Kampagnen zur Rückgewinnung des Heiligen Lands beitragen. Anders als die anderen großen Ritterorden – der Deutsche Orden hatte bereits im 13. Jahrhundert sein Betätigungsfeld im südlichen Ostseeraum gefunden, die Templer wurden auf Betreiben König Philipps IV. von Frankreich durch Papst Clemens V. und das Konzil von Vienne im März 1312 aufgehoben – blieben so die Johanniter den Bestrebungen um die Sicherung christlicher Positionen in der Levante verbunden.2 Wegen der Lage ihres Herrschaftszentrums Rhodos an den wichtigsten Seerouten zwischen Palästina, Alexandria, Zypern, der kleinasiatischen Küste, Konstantinopel und dem westlichen Mittelmeerraum wurden die Johanniter zu einer maritimen Macht. Damit wurden sie zugleich in die zahllosen Konflikte zwischen den mediterranen Seemächten involviert, die das gesamte Spätmittelalter hindurch andauern sollten. Neben regional verankerten Kräften 1 Jürgen Sarnowsky, Art. ‚Rhodes‘, in: Prier et combattre. Dictionnaire européen des ordres militaires au Moyen Âge, hrsg. Nicole Bériou, Philippe Josserand, Paris 2009, S. 789–793. Die Geschichte der Johanniter hat Jürgen Sarnowsky in mehreren Publikationen breit und vielfältig untersucht und dargestellt. Vgl. hier nur Jürgen Sarnowsky, Macht und Herrschaft im Johanniterorden des 15. Jahrhunderts. Verfassung und Verwaltung der Johanniter auf Rhodos (1421–1522) (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter, 14), Münster 2001; Ders., Die Johanniter. Ein geistlicher Orden in Mittelalter und Früher Neuzeit (Beck’sche Reihe. Wissen, 2737), München 2011; zusammenfassend zuletzt Ders., Die geistlichen Ritterorden. Anfänge – Strukturen – Wirkungen (Geschichte der christlichen Orden), Stuttgart 2018. 2 Auf diesen Umstand, der als Erfolg der Johanniter gewertet werden könne, verweist Anthony Luttrell, The Hospitallers of Rhodes. Prospectives, Problems, Possibilities, in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hrsg. Josef Fleckenstein, Manfred Hellmann (Vorträge und Forschungen, 26), Sigmaringen 1980, S. 243–266, hier S. 251.

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spielten dabei Seefahrer aus den italienischen Hafenstädten Venedig und Genua eine zentrale Rolle.3 Insbesondere zu den Genuesen war das Verhältnis zu Beginn der Landesherrschaft der Johanniter auf Rhodos zeitweise recht gespannt, wie sich verschiedenen Quellen aus dem Umfeld neuer Kreuzzugsbemühungen zu Beginn des 14. Jahrhunderts entnehmen lässt.4 In ihnen erscheinen die Handelstätigkeiten und die maritime Gewalt der Genuesen als besonders markante Herausforderung für den Erfolg christlicher Maßnahmen zur Rückeroberung Palästinas. Die folgenden Ausführungen verfolgen das Ziel, auf der Grundlage einiger Traktate zur Rückgewinnung des Heiligen Lands dieses Bild nachzuzeichnen und zugleich zu differenzieren. Denn auch die Kommunalregierung von Genua entwarf im Jahr 1316 ein Boykottregime, das zu einer ökonomischmilitärischen Schwächung der Mamluken beitragen sollte. Inwiefern die Genuesen mit ihren Vorschriften denselben Zielen verpflichtet waren wie die Johanniter und andere Akteure, kann erst der Vergleich der verschiedenen Boykottregimes aufzeigen.5 Dabei sollen auf den folgenden Seiten die Überlegungen im Zentrum stehen, die um die maritimen Aktivitäten christlicher Seefahrer und Fernhändler im östlichen Mittelmeerraum kreisen. Dadurch, so die Hoffnung, lässt sich nachzeichnen, dass die Konfrontation zwischen einerseits den Genuesen und andererseits Johannitern und anderen Akteuren, die sich um wirksame Maßnahmen gegen die Mamluken bemühten, keineswegs so eindeutig war, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

3 David Abulafia, Das Mittelmeer. Eine Biographie, übers. Michael Bischoff, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2013. 4 Die Genuesen hatten sich zwar an der Kampagne zur Eroberung von Rhodos beteiligt, beide Seiten gerieten dann aber in Konflikt miteinander wegen der strittigen Übernahme genuesischer Handelsgüter durch die Johanniter. Dabei sind zwei Episoden dokumentiert: einerseits die Übernahme der Ladung eines Schiffes, das während der Kämpfe auf Rhodos von Konstantinopel aus Nachschub bringen sollte, aber nach Famagusta fuhr und dort entladen wurde, andererseits das Aufbringen eines Handelsschiffs bei Messina, das Waren von Alexandria nach Genua transportierte. Zum ersten Zwischenfall vgl. Peter W. Edbury, The Kingdom of Cyprus and the Crusades, 1191–1374, Cambridge u. a. 1991, S. 118; zum zweiten Zwischenfall vgl. Julius Leonhard, Genua und die päpstliche Kurie in Avignon (1305–1378). Politische und diplomatische Beziehungen im 14. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 2013 (zugl.: Augsburg, Univ., Diss., 2011), S. 88; Mike Carr, The Hospitallers of Rhodes and their Alliances against the Turks, in: Islands and Military Orders c. 1291–c. 1798, hrsg. Emanuel Buttigieg, Simon Phillips, Farnham, Burlington, VT 2013, S. 167–176, hier S. 168. Siehe auch unten bei Anm. 33–34. 5 Benjamin Z. Kedar, L’Officium Robarie di Genova. Un tentativo di coesistere con la violenza, in: Archivio storico italiano 143,3 (1985), S. 331–372, verweist S. 344 auf Handelsinteressen der Genuesen: Sie hätten lediglich einen partiellen Boykott unterstützt, um ihre eigenen Interessen am Warenexport aus Ägypten nicht zu gefährden. Vgl. auch die kurzen Bemerkungen bei Eliyahu Ashtor, Levant Trade in the Middle Ages, Princeton 1983, S. 19f.; ebd., S. 28–30, betont Ashtor die Bedeutung des Handels zwischen dem Schwarzen Meer, Konstantinopel und Alexandria für genuesische Kaufleute.

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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Entscheidend für die neue Rolle der Johanniter war die Hoffnung, vermittels eines Landungsunternehmens oder vermittels einer Seeblockade gegen die Mamluken Palästina erneut unter die Kontrolle lateinischer Christen zu bringen. Derartige Pläne kursierten in der europäischen Öffentlichkeit bereits unmittelbar vor dem Verlust Akkons.6 Insbesondere die Päpste Nikolaus IV. (1288–1292) und Clemens V. (1305–1314) engagierten sich mit Nachdruck für Versuche, ein erfolgreiches Vorgehen gegen die Mamluken zu koordinieren. Neben zahlreichen diplomatischen Initiativen zeugen vor allem Traktate von diesen Koordinationsbemühungen, in denen Strategien zur Rückgewinnung des Heiligen Lands entworfen werden. Einer der frühesten Traktate stammt von Fidenzio von Padua, einem Franziskaner, der selbst mehrere Jahre in Palästina gelebt hatte.7 Im Umfeld des Zweiten Konzils von Lyon hatte ihm Gregor X. den Auftrag erteilt, in einem Gutachten darzulegen, wie die Mamluken zu besiegen und wie die christliche Herrschaft im Nahen Osten zu organisieren sei.8 Der Liber recuperationis Terre Sancte wurde aber erst unmittelbar vor der Eroberung Akkons fertiggestellt. In ihm griff der Autor unter anderem die Anweisung des Lyoneser Konzils auf, kein christlicher Kaufmann dürfe mit den Mamluken Handel treiben. Bei Fidenzio steht diese Forderung im Rahmen einer umfangreichen Strategie, die Mamluken zugleich von Land wie von See aus unter Druck zu setzen. Auf dem Meer sollten dreißig bis fünfzig Galeeren kreuzen, die mit bewaffneten Fußsoldaten besetzt sein sollten.9 Sie könnten auf Inseln wie zum Beispiel Zypern, Aruad (vor Tartu¯s) ˙ ˙ und Rhodos oder auch in Akkon stationiert sein, günstiger sei es aber, sie direkt vor der ägyptischen Küste kreuzen zu lassen.10 Den Einsatz dieser Schiffe begründet Fidenzio mit militärischen Aktionen und mit dem Unterbinden des Außenhandels der Mamluken. Zunächst könnten die Schiffe eingesetzt werden, um Angriffe auf christliche Siedler in der Levante zu verhindern und ihre Nachschubwege übers Meer zu sichern.11 Sollten die Sied-

6 Zu den Traktaten, wie das ‚Heilige Land‘ zurückzugewinnen sei, vgl. Anthony Leopold, How to Recover the Holy Land. The Crusade Proposals of the Late Thirteenth and Early Fourteenth Centuries, Aldershot u. a. 2000; zentrale Texte versammelt: Projets de croisade (v. 1290–v. 1330), hrsg. Jacques Paviot (Documents relatifs à l’histoire des croisades, 20), Paris 2008. 7 Fidenzio von Padua, Liber recuperationis Terre Sancte, in: Projets, hrsg. Paviot (wie Anm. 6), S. 53–169. 8 Zum Traktat und seiner Entstehung ebd. S. 15–19; Leopold, How to Recover (wie Anm. 6), S. 16–18; Luca Demontis, Quomodo terra sancta recuperari potest. Fidenzio da Padova, Raimondo Lullo e il ‚superamento‘ della crociata, in: Antonianum 90 (2015), S. 545–561, S. 546–555. 9 Fidenzio von Padua, Liber recuperationis (wie Anm. 6), § 63, S. 138 (Größe der Flotte); § 77, S. 77 (Besatzung der Schiffe). 10 Ebd. § 76, S. 144. 11 Ebd. § 65, S. 139.

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lungen belagert werden, sei es möglich, ihnen rasch Hilfe zukommen zu lassen.12 Des Weiteren könnten sie Angriffe auf christliche Seefahrer unterbinden, die ja immer wieder von „Piraten“ aus den Reihen der „Sarazenen“ überfallen würden.13 Darüber hinaus könnten von einer solchen Flotte aus mamlukische Stützpunkte an den Küsten angegriffen werden, die sich kaum vollständig würden sichern lassen. Dies böte zugleich den Vorteil, dass Kontingente des Sultans im eigenen Territorium gebunden würden und deswegen nicht für einen Angriff auf christliche Stützpunkte zur Verfügung stünden.14 Neben diesen militärischen Szenarien nennt der Liber auch handelspolitische Vorteile: Zunächst entgingen dem Sultan hohe Einkünfte aus den Importzöllen für Einfuhren, die Fidenzio auf ein Drittel des Warenwerts und auf die hohe Summe von mehr als tausend Florenen täglich taxiert.15 Zugleich könnte eine Seeblockade die Mamluken von lebenswichtigen bzw. militärisch unerlässlichen Importen abschneiden, so dem Import von Eisen, Kupfer, Blei und anderen Metallen, sowie von Holz, Öl und Honig.16 Eigens weist der Text auf den Nachschub an Sklaven hin, die die Mamluken zur Aufrechterhaltung ihrer Militär- und Staatsordnung aus dem Schwarzmeergebiet importierten.17 Einen weiteren Vorteil sieht der Verfasser darin, den Transithandel aus dem Indischen Ozean, insbesondere von Pfeffer und anderen Gewürzen, in die christlichen Häfen wie die von Kleinarmenien umzuleiten und so die Handelsroute durch das Rote Meer austrocknen zu können. Dies trüge erneut zu einer Reduzierung der Zolleinnahmen des Sultans bei.18 Schließlich ließen sich die Exporte aus Ägypten selbst unterbinden, die vor allem aus Leinen, Zucker und hochwertigen Tuchen bestünden.19 Insgesamt schreibt der Liber vor allem der Handelsblockade ein großes Potenzial zu, die Mamluken zu schwächen. Einige in ihrem Reich tätige Christen hätten dem Verfasser gesagt: Wenn die christlichen Händler nicht mehr mit ihren Waren nach Ägypten reisen, wird Ägypten besiegt sein.20 12 Ebd. § 73, S. 143. 13 Ebd. § 74, S. 143. Zur Problematik des Begriffs Piraten, der in der Mediävistik zuletzt intensiv diskutiert worden ist, vgl. programmatisch Gregor Rohmann, Jenseits von Piraterie und Kaperfahrt. Für einen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Gewalt im maritimen Spätmittelalter, in: Historische Zeitschrift 304 (2017), S. 1–49; vgl. auch die Beiträge in: Merchants, Pirates, and Smugglers. Criminalization, Economics, and the Transformation of the Maritime World (1200–1600), hrsg. Thomas Heebøll-Holm, Philipp Höhn, Gregor Rohmann (Discourses of Weakness and Resource Regimes, 6), Frankfurt a. M., New York 2018. 14 Fidenzio von Padua, Liber recuperationis (wie Anm. 6), § 71f, S. 142f. 15 Ebd. § 66, S. 140. 16 Ebd. § 67, S. 140. 17 Ebd. § 70, S. 142. 18 Ebd. § 68, S. 140f. 19 Ebd. § 69, S. 141. 20 Ebd. § 75, S. 144.

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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Auch die Johanniter, genauer ihr Großmeister Foulques de Villaret, beteiligten sich mit eigenen Traktaten an der Debatte um geeignete Strategien zur Rückgewinnung des Heiligen Lands. 1306, also in dem Jahr, in dem sie mit militärischen Kampagnen auf der Insel Rhodos begannen, die schließlich vier Jahre später ganz in ihre Hände fallen sollte, verfasste ihr Großmeister eine Informatio et instructio super faciendo generali passagio pro recuperatione Terre Sancte, auf die kurz darauf eine weitere, wesentlich detailliertere Denkschrift folgen sollte.21 In Grundlinien folgen beide Traktate der Argumentationslinie, die bereits Fidenzio entwickelt hatte: Man solle vor einem großen Kreuzzug zunächst mit einer kleineren Flotte das östliche Mittelmeer unter Kontrolle bekommen, um einerseits den mediterranen Handel der Mamluken zu unterbinden und sie andererseits durch eine Nadelstichtaktik zu zermürben. Zu diesem Zweck, so die Informatio, solle zunächst eine Flotte aus 26 Galeeren entsandt werden, die vor allem die Schiffe der Christiani perversi aufbringen solle, die mit Alexandria und Ägypten handelten. Für diese Flotte seien der König von Zypern, die Templer und die Johanniter selbst zuständig.22 In einem zweiten Schritt sollten dann fünfzig oder sechzig Schiffe zur Aufnahme von Rittern mit ihren Pferden und Fußsoldaten ausgerüstet werden, um durch Raids die Mamluken zu verunsichern und ihre Kontingente an den Küsten des Mittelmeers zu binden. Damit ließe sich eine günstige Ausgangsposition für eine großangelegte Militärexpedition schaffen, in der ein Kreuzfahrerheer über See an die Küsten Palästinas gebracht werden könne, um das Heilige Land zurückzuerobern.23 Weitaus detaillierter fallen die strategischen Vorschläge aus, die der vermutlich 1307–1308 vom selben Großmeister in Zusammenarbeit mit anderen Autoren verfasste Traktat Coment la Terre sainte puet estre recouvree par les Crestiens enthält.24 Nachdem dort die erheblichen Risiken eines groß angelegten Kreuzzugs zu Lande wie zu Wasser erörtert werden, folgt auch hier der Vorschlag, durch gezielte Maßnahmen im östlichen Mittelmeer die Eroberung des Heiligen Lands vorzubereiten.25 Diesmal wird angeregt, zunächst auf fünf Jahre eine Flotte aus 60 Galeeren auszusenden, die während der achtmonatigen Saison von Rhodos oder Zypern aus agiert. Auf den Schiffen sollten 1000 Ritter und 3000 21 Foulques de Villaret, Informatio et instructio super faciendo generali passagio pro recuperatione Terre Sancte, in: Projets, hrsg. Paviot (wie Anm. 6), S. 189–198. Zum Traktat ebd. S. 24–26; Leopold, How to Recover (wie Anm. 6), S. 27f. 22 Foulques de Villaret, Informatio (wie Anm. 6), S. 192f. 23 Ebd. S. 193f. 24 Foulques de Villaret et alii, Coment la Terre sainte puet estre recouvrée par les Crestiens, in: Projets, hrsg. Paviot (wie Anm. 6), S. 221–233. Zu diesem Traktat ebd. S. 27f.; Leopold, How to Recover (wie Anm. 6), S. 28. Vgl. auch die abweichende Edition von Benjamin Z. Kedar, Sylvia Schein, Un projet de ‚passage particulier‘ proposé par l’ordre de l’Hôpital, 1306–1307, in: Bibliothèque de l’École des chartes 137 (1979), S. 211–226. 25 Foulques de Villaret et alii, Coment la Terre (wie Anm. 24), S. 224–227.

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Fußsoldaten stationiert sein.26 Neben den Überfällen auf mamlukische Küstenorte27 steht hier vor allem die Handelsblockade im Mittelpunkt. Erneut werden die Einnahmen des Sultans taxiert – hier wenigstens 40000 Florenen pro Monat – und wird der Vorteil thematisiert, durch die Unterbindung des Handels diese Einnahmequelle auszutrocknen und damit die Finanzierung von Truppen zu erschweren. Auch in diesem Traktat wird die Erwartung artikuliert, der Transferhandel aus dem Indischen Ozean könne auf eine Route verlegt werden, die vom Golf von Persien aus über Land nach Kleinarmenien führe.28 Und zugleich beinhaltet auch dieser Text Hinweise auf Exportwaren wie Leinen und Importwaren wie Holz, Eisen und andere Metalle sowie Lebensmittel wie Öl und Käse, deren Einfuhr für Ägypten unerlässlich sei.29 Für die Johanniter eröffnete sich durch die Eroberung von Rhodos die Chance, dauerhaft im östlichen Mittelmeer präsent zu sein und sich an den Maßnahmen zur Isolation der Mamluken zu beteiligen. In der Umbruchsphase, in der die Templer aufgehoben wurden, sicherte das möglicherweise den Fortbestand des Johanniterordens. Zugleich geriet er aber in die Auseinandersetzungen zwischen den maritimen Mächten. Vor allem Genuesen und Venezianer konkurrierten nicht nur um den Fernhandel zur See, sondern nutzten auch militärische Interventionen, um ihre Positionen abzusichern und auszubauen. Erst 1298 waren beide Hafenstädte in der Seeschlacht von Curzola aufeinandergetroffen, an der knapp 200 Schiffe beteiligt waren. In diesem wie in den anderen Seekriegen zwischen Genua und Venedig kulminierte eine beständige Konkurrenz, die vor allem auf eine Kontrolle der Warenströme zwischen dem Schwarzen Meer, der Ägäis, dem östlichen Mittelmeer und den italienischen Küsten zielte.30 Eine Blockade der Mamluken, die aus der Perspektive des päpstlichen Handelsembargos und der Kreuzzugstraktate als effiziente Maßnahme zur Rückgewinnung des Heiligen Lands erschien, bedeutete daher aus der Perspektive der Seestädte eine massive Beschränkung ihrer ökonomischen Tätigkeiten. Daher verwundert es nicht, dass die Hafenstädte nicht nur als Ausgangspunkte für den Seeweg einer Kreuzfahrerflotte thematisiert wurden, sondern auch als Heimat der Christiani perversi oder falsi, die ihre Handelsinteressen über alles stellten. In einem Traktat, den König Heinrich II. von Zypern dem Konzil von Vienne übersandte, wird das direkt adressiert: Die Erfahrung zeige, dass Genuesen ebenso wie Ve26 27 28 29 30

Ebd. S. 228. Ebd. S. 231. Ebd. S. 229. Ebd. S. 229–231. Neben Abulafia, Mittelmeer (wie Anm. 3), zusammenfassend Ermanno Orlando, Venezia e il mare nel Medioevo (Universale paperbacks il Mulino, 666), Bologna 2014; Antonio Musarra, Genova e il mare nel Medioevo (Universale paperbacks il Mulino, 690), Bologna 2015.

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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nezianer und Pisaner bei der Überwachung eines Boykotts die eigenen Mitbürger schonten und lediglich die Konkurrenten an der Weiterfahrt hinderten, um sich möglichst ein Handelsmonopol zu verschaffen.31 Auch in diesem Traktat werden die üblichen Chancen einer Blockade der Mamluken vorgestellt, wobei zusätzlich auf den Holzbedarf der ägyptischen Landwirtschaft verwiesen wird, die auf ein funktionierendes Bewässerungssystem angewiesen sei, das auf einem Netz hölzerner Bewässerungsanlagen beruhe.32 Für die Rolle der Genuesen und ihr Verhältnis zu den Johannitern ist dieser Traktat besonders interessant, denn er erwähnt auch einen direkten Konflikt zwischen beiden Seiten:33 Im vergangenen Winter hätten Galeeren der Johanniter bei Messina ein Schiff aus Genua aufgebracht, das mit Gewürzen und anderen Waren aus Alexandria beladen gewesen sei. Zur Durchsetzung des päpstlichen Handelsverbots sei dieses Schiff nach Rhodos umgeleitet worden. Die Genuesen hätten daraufhin eine Gesandtschaft zum Großmeister geschickt, um ihn zur Rückgabe des Schiffs und seiner Ladung aufzufordern. Dieser habe ihnen aber erläutert, dass die Wegnahme des Schiffs mit seiner Ladung legitim gewesen sei, schließlich habe man im Auftrag des Papstes gehandelt. Statt sich aber, wie vom Großmeister gefordert, an den Papst zu wenden, hätten die Genuesen zwei Galeeren in die Gewässer um Rhodos entsandt und dort mehrere Schiffe der Johanniter gekapert. Unter den gekaperten Schiffen sei auch eins gewesen, auf dem unter anderem mehrere Ordensbrüder und 25 Pferde gewesen seien. Die Genuesen hätten das Schiff ans kleinasiatische Festland gefahren und einen Großteil der Beute dort verkauft. Die Schilderung dieses Traktats geht nicht auf die weiteren Verwicklungen ein, die auf diese Überfälle folgten: Die Genuesen verbündeten sich nämlich im Anschluss gegen die Johanniter mit dem Emir von Mentesche namens Masud, der Rhodos angreifen sollte. Die Johanniter kamen diesem Angriff aber zuvor und zerstörten die Flotte des Emirs in einem blutigen Gemetzel.34 Besonders scharf fällt das Urteil über die Genuesen in Wilhelms von Ade Tractatus quomodo Sarraceni sunt expugnandi aus, der etwa um 1320 entstanden sein dürfte.35 Dort wird ausgeführt, dass die Genuesen, insbesondere ein See31 Heinrich II. von Zypern, Informatio, in: Projets, hrsg. Paviot (wie Anm. 6), S. 281–292. Zum Traktat vgl. ebd. S. 33f.; Leopold, How to Recover (wie Anm. 6), S. 36; kurz auch Edbury, Kingdom of Cyprus (wie Anm. 4), S. 133f. 32 Heinrich II. von Zypern, Informatio, in: Projets, hrsg. Paviot (wie Anm. 6), S. 283. 33 Ebd., S. 284. 34 Carr, Hospitallers (wie Anm. 4), S. 168. Auch der Venezianer Marino Sanudo Torcello spielt kurz auf diesen Zwischenfall an: Marino Sanudo Torsello, The Book of the Secrets of the Faithful of the Cross. Liber Secretorum Fidelium Crucis, übers. Peter Lock (Crusade Texts in Translation, 21), Farnham/Burlington, VT 2011, hier Buch I,7, S. 62. 35 William of Adam, How to Defeat the Saracens = Guillelmus Ade, Tractatus quomodo Sarraceni sunt expugnandi, hrsg. und übers. Giles Constable u. a., Washington, DC 2012.

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fahrer namens Seguranus Salvago, für den Handel mit Alexandria verantwortlich seien. Seguranus und seine Verwandten segelten sogar unter der Flagge Mohameds und des Sultans und sie allein trügen die Verantwortung für den Transport vieler tausend christlicher und heidnischer Knaben, die in die Sklaverei verkauft worden seien. Ihrem Vorbild eiferten Mitglieder aus allen Familien der Oberschichten Genuas nach.36 Als Gegenmittel schlägt Wilhelm die übliche Seeblockade vor; darüber hinaus sollten alle Könige und Stadtgemeinden diejenigen, die Waren nach Alexandria transportierten, ins Exil schicken, ihre Häuser zerstören und ihren Besitz enteignen. Jeder Alexandrinus sollte ohne Furcht vor Strafe seiner Waren beraubt werden, wo immer man ihn antreffe.37 Eine besondere Bemerkung ist es Wilhelm von Ade schließlich wert, dass die Kommune von Genua sogar ein eigenes städtisches Amt eingeführt habe, das denjenigen Entschädigungen zahle, die von einem Genuesen ausgeraubt worden seien, obwohl sich ihre Heimatstadt oder ihr Heimatland nicht mit der ligurischen Hafenstadt im Kriegszustand befunden habe. Die Entschädigungsforderungen könne jeder, ob Christ, Jude oder Muslim, anonym geltend machen. Dieses sogenannte officium Robarie sei so mächtig, dass niemand sich getraue, alexandrinische Schiffe aufzuhalten, denn es zwinge denjenigen, der das Schiff aufgebracht habe, dazu, die Opfer seines Überfalls zu entschädigen.38 Nimmt man diese Berichte zusammen, müssen die Genuesen als Hauptverantwortliche dafür erscheinen, dass die christlichen Maßnahmen zur Handelsblockade der Mamluken beständig unterlaufen wurden. Verfolgt man aber den Seehandel zwischen Genua und Alexandria sowie die Korrespondenz mit der Kurie, ergibt sich ein weitaus differenzierteres Bild. Genuesen waren zweifellos trotz päpstlicher Verbote am Handel mit Alexandria beteiligt. Ein umfangreicher Vertrag zwischen dem mamlukischen Sultan Qalawun und Alberto Spinola als Gesandtem der Kommune Genua aus dem Jahr 1290 regelt zum Beispiel die Sicherheit, Bewegungsfreiheit und die Handelsprivilegien, die jeder Genuese im Mamlukenreich genießen sollte. Zugleich seien alle Untertanen des Sultans und alle Sklaven der Mamluken vor jedem Angriff auf ihre Person oder ihr Leben zu schützen.39 Auch mahnten die Päpste die Kommunalregierung und auch den Erzbischof von Genua mehrfach, den Handel mit Alexandria zu unterbinden. 36 Ebd. S. 32–35. Zu Seguranus Salvago vgl. Benjamin Z. Kedar, Segurano-Sakra¯n Salvaygo. Un mercante genovese al servizio dei sultani mamalucchi, c. 1303–1322, in: Ders., The Franks in the Levant, 11th to 14th Centuries (Variorum collected studies series, 423), Aldershot u. a 1993, Stück Nr. XXI (Reprint ohne neue Paginierung). 37 William of Adam, How to Defeat (wie Anm. 35), S. 32–35. 38 Ebd. S. 36–39. Zum Officium Robarie vgl. Kedar, Officium (wie Anm. 5); Emily Sohmer Tai, Honor Among Thieves. Piracy, Restitution, and Reprisal in Genoa, Venice, and the Crown of Catalonia-Aragon, Diss. masch., Cambridge MA 1996, S. 419–508. 39 Liber iurium reipublicae Genuensis, 2, hrsg. Ercole Ricotti (Historiae patriae Monumenta, 9), Torino 1857, Nr. 96, S. 243–248 (1290.05.13).

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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Unterhalb dieser Führungsebene der städtischen Politik lässt sich ein differenzierteres Bild gewinnen. Benjamin Z. Kedar hat in einem Beitrag von 1985 auf den Überfall von zwei genuesischen Galeeren unter dem Kommando der Brüder Giuliano und Raffa Cattaneo della Volta auf ein Schiff aufmerksam gemacht, auf dem zwei Kaufmänner aus Siena und Ancona mit Waren aus Alexandria in die Adria fahren sollten.40 Der Fall ist dadurch dokumentiert, dass der Sieneser Kaufmann Vieri, Sohn des verstorbenen Cola di Oliviero Barote, in der Folgezeit den Versuch unternahm, in Genua auf Entschädigung für die Verluste zu klagen, die die Genuesen ihm und seinen Mitreisenden zugefügt hatten. Die Details des Überfalls in den Gewässern um Kefalonia – in seinem Schriftsatz schildert Vieri, er sei auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt worden und habe dort eine über dreiwöchige Robinsonade überstanden – werden nicht recht deutlich. Aus der geraubten Ladung, die vor allem aus Pfeffer und Zucker bestand, und aus parallelen Informationen aus Genua schließt Kedar, dass es sich vermutlich um Waren gehandelt hat, die Vieri aus Alexandria nach Ancona transportieren wollte. Die vermeintlichen Seeräuber aus Genua haben sich jedenfalls mit Erfolg an die Kurie gewandt mit der Argumentation, sie seien nicht von der Kommune von Genua in Haftung zu nehmen wegen eines Angriffs auf ein Schiff aus Ancona, denn sie hätten sich nur daran beteiligt, die päpstlichen Boykottmaßnahmen durchzusetzen. Selbst wenn diese Notiz sich nicht auf den Vorfall beziehen sollte, an dem der Sieneser Kaufmann beteiligt war, spricht die Überlieferung nach Kedar dafür, dass die beiden Genuesen geradezu ein Geschäftsmodell darauf aufgebaut hatten, sich auf die Jagd von Boykottbrechern zu machen und Schiffe mit Ware aus Alexandria aufzubringen.41 Die Politik der genuesischen Kommune war, folgt man Kedar weiter, nicht einheitlich. So verlangten die Vorsteher des officium de robariis – des Amtes zur Gewährleistung von Entschädigungszahlungen, das Wilhem de Adam so vehement kritisiert hatte – von ihrem Erzbischof Aufklärung über die Flotte, mit deren Unterstützung in den Jahren 1309–1310 Rhodos für die Johanniter erobert worden war.42 Offensichtlich befürchteten die Vertreter der Kommune erhebliche Probleme durch die neue Präsenz der Johanniter im östlichen Mittelmeer. Im selben Jahr 1311, in dem diese Korrespondenz stattfand, beklagte sich auch Papst Clemens V. bitter, die Genuesen hätten in ihre Statuten zwar Regelungen eingetragen, die das päpstliche Handelsverbot umsetzen sollten, aber es fehle in der 40 Hier und im Anschluss Kedar, Officium (wie Anm. 5), S. 339–342. Die Klage des Senesen ist ediert von Giuliano Catoni, La brutta avventura di un mercante senese nel 1309 e una questione di rappresaglia, in: Archivio storico italiano 132 (1974), S. 65–77, die Edition S. 72– 77. 41 Ähnlich hat sich bereits in den 1290er Jahren der Genuese Martino Zaccaria vor den Küsten Zyperns betätigt: Edbury, Kingdom of Cyprus (wie Anm. 4), S. 103. 42 Kedar, Officium (wie Anm. 5), S. 342f.

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ligurischen Metropole jeder Wille, diese Normen auch durchzusetzen.43 Diese Klage ist vor dem Hintergrund der verschärften Embargopolitik zu sehen, die Clemens V. 1308 im Zusammenhang mit der Etablierung der Johanniter auf Rhodos etabliert hat. Nach Georg Christ war erst seit diesem Zeitpunkt jeder Import wie Export aus dem Mamlukenreich untersagt, und die Johanniter sollten dieses vollständige Embargo durchsetzen, um so dem Papst eine selbständige Kreuzzugspolitik unabhängig vor allem von den französischen Königen zu ermöglichen.44 Vor dem Hintergrund dieser komplexen Gemengelage von Interessen der Kurie und verschiedenen kirchlichen Akteuren, der Kommune von Genua in ihrer Auseinandersetzung mit anderen mediterranen Mächten wie den schwer zu kontrollierenden Aktivitäten ihrer Bürger erließ die Stadtregierung im März 1316 einen Erlass, der den genuesischen Handel mit Alexandria unterbinden sollte. Er findet sich in der Zusammenstellung der Beschlüsse des sogenannten Officium Gazarie, einer städtischen Behörde, die für die Schifffahrt zwischen Genua und dem Schwarzen Meer sowie dem östlichen Mittelmeer zuständig war.45 Dieses Amt war ab 1313 etabliert worden und übernahm in der Folgezeit weitgehend die Koordination seerechtlicher Vorgaben für den genuesischen Fernhandel. Wichtigste Quelle für seine Aktivitäten ist der Liber Gazarie, eine Sammlung von Beschlüssen, die bis in die 1340er Jahre fortgeführt wurde. Sie enthalten unter anderem das Deuetum Alexandrie vom 19. März 1316.46 Es beinhaltet im Kern das bereits lange vom Papst erteilte Verbot, einerseits Eisen und Holz sowie Waffen und waffenfähiges Material nach Ägypten zu exportieren, und andererseits das Verbot, männliche oder weibliche Sklaven dorthin zu fahren oder zu verkaufen.47 Damit hält sich das Dekret im Rahmen der älteren päpstlichen Vorgaben, fällt aber weit hinter die vollständige Handelsblockade zurück, die die Kreuzzugstraktate vorschlagen und die Clemens V. 1308 verhängt hatte. 43 Ebd. S. 343f. 44 Georg Christ, Kreuzzug und Seeherrschaft. Clemens V., Venedig und das Handelsembargo von 1308, in: Maritimes Mittelalter. Meere als Kommunikationsräume, hrsg. Michael Borgolte, Nikolas Jasper (Vorträge und Forschungen, 83), Ostfildern 2016, S. 261–282. Zu den Embargos vor 1323 vgl. Ashtor, Levant Trade (wie Anm. 5), S. 17–44; Sophia Menache, Papal Attempts at a Commercial Boycott of the Muslims in the Crusader Period, in: Journal of Ecclesiastical History 63 (2012), S. 236–259. 45 Zum Officium Gazarie und der Kodifikation seiner Beschlüsse vgl. Christoph Dartmann, Die Genuesen und das Schwarze Meer – Raumerfassung und Raumpraxis am Beispiel des ‚Liber Gazarie‘, in: Entre mers – Outre-mer. Spaces, Modes and Agents of Indo-Mediterranean connectivity, hrsg. Nikolas Jaspert, Sebastian Kolditz, Heidelberg 2018, S. 179–200. 46 Der ‚Liber Gazarie‘ ist ediert als Imposicio officii Gazarie, in: Leges municipals, hrsg. Aloysius Cibrarius, Fridericus Sclopis (Historiae patriae Monumenta, 2), Turin 1838, Sp. 305–430, das sogenannte Deuetum Alexandrie vom 19. März 1316 ebd. Sp. 371–376 mit einer Ergänzung vom 30. Dezember 1317. 47 Ebd. Sp. 372.

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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Die Maßnahmen des Officium Gazarie bekommen allerdings ein ganz eigenes Profil, wenn man die Vorgaben zu ihrer Umsetzung zusammenstellt. Entscheidend erschien den Genuesen vor allem der Verkehr von der Krim bzw. aus dem Schwarzen Meer durch den Bosporus. Deswegen wurden die wichtigsten genuesischen Stützpunkte in der Region, die Hafenstadt Caffa (heute Feodossija) auf der Krim sowie der konstantinopolitanische Vorort Pera (heute Galata) jenseits des Goldenen Horns, zu Schlüsselstellen für die Durchsetzung der Verbote. Die Vorsteher der lokalen Verwaltung, der Konsul von Caffa und der Podestà von Pera, werden damit beauftragt, die dort anlegenden Schiffe zu überprüfen und von den Schiffsführern und den Kaufleuten Sicherheiten entgegenzunehmen, damit sie nicht gegen den Boykott verstoßen. Das gelte für jedes Schiff, für das ein Verstoß vermutet oder wenigstens für möglich gehalten werden kann. Darüber hinaus soll der Podestà von Pera von jedem Schiff aus Genua, das ins Schwarze Meer fahren möchte, die gleiche Sicherheit als Unterpfand einfordern. Die Regelungen seien monatlich in Pera und Caffa öffentlich auszurufen.48 Zusätzlich soll die Klausel, dass jeder Vertrag unwirksam sei, der gegen die Boykottregelungen verstößt, ihre Durchsetzung erleichtern.49 Diese Maßnahmen werden mit einem mehrstufigen Sanktionsregime unterfüttert, dass zunächst Kaufleute, Schiffsführer und Matrosen betreffen sollte, die an verbotenem Handel beteiligt waren.50 Darüber hinaus wurden der Podestà von Pera und der Konsul von Caffa ebenfalls mit empfindlichen Geldstrafen bedroht, sollten sie es versäumen, die geschilderten Maßnahmen zu ergreifen. Schließlich werden auch Sonderklauseln erlassen, die die Verfolgung von Verstößen gegen die Handelsblockade erleichtern: Sollten solche Verstöße in Genua angezeigt werden, seien sie unmittelbar und ohne aufwändiges Gerichtsverfahren zu bestrafen, wenn die Vorwürfe plausibel seien.51 Die Traktate, die zur Vorbereitung einer Rückeroberung Palästinas eine Seeund Handelsblockade Ägyptens bzw. der Mamluken vorschlagen, erwecken den Eindruck, es habe eine weitgehend geschlossene Front der Kräfte gegeben, die sich um die Durchsetzung dieses Boykotts bemühten: Papsttum, Johanniter und das Königreich Zypern. Demgegenüber hätten Akteure aus italienischen Hafenstädten, insbesondere aus Genua, diese Maßnahmen aus Gewinnstreben regelmäßig torpediert. Aus dieser Perspektive erscheint die Konfrontation zwischen den Genuesen und den Johannitern als beinahe zwangsläufige Konsequenz aus der politischen Konstellation. Es lässt sich aber nachzeichnen, dass die Interaktion zwischen den beteiligten Kräften weitaus komplexer war – analog zu 48 49 50 51

Ebd. Sp. 372f. Ebd. Sp. 373. Ebd. Sp. 374. Ebd. Sp. 374f.

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Christoph Dartmann

einem Papsttum, das neben grundsätzlichen Verboten des Handels und Transports regelmäßig auch Ausnahmegenehmigungen erteilte und von ihnen profitierte, hat auch die Kommunalregierung Genuas zumindest normative Vorgaben gemacht, die Alexandria und die Mamluken vom Seehandel abschneiden sollten.52 Zugleich sind auch Genuesen zu fassen, die sich an Maßnahmen zur Implementierung der Handelssperre beteiligten – und damit nicht zuletzt auch lukrative Gewinne anstrebten. Die Regelungen des Officium Gazarie zur Durchsetzung eines Boykotts von Alexandria sind in dieser Hinsicht eine Schlüsselquelle für die Ambivalenz maritimer Strategien zwischen religionspolitischen Maximalforderungen und handfesten materiellen Interessen. Die Bestimmungen des Deuetum Alexandrie erweisen sich inhaltlich als wenig innovativ. Sie beschränken sich darauf, den Handel mit Metallen, Holz, Waffen bzw. waffenfähigem Material und Sklaven zu untersagen, zielen also lediglich darauf, das militärische Potenzial der Mamluken zu schwächen. Die weitaus weiterreichenden Überlegungen, den Export aus wie den Transithandel durch Ägypten auszutrocknen und dadurch das Mamlukensultanat ökonomisch in die Knie zu zwingen, werden vom Officium Gazarie nicht aufgegriffen. Ein ganz eigenes Profil gewinnen aber die Mechanismen, mit denen die Kommunalregierung von Genua den Boykott durchzusetzen versucht. Sie entwirft ein Kontroll- und Strafregime, das sich auf die genuesischen Stützpunkte in Caffa auf der Krim sowie in Pera bei Konstantinopel stützt. Diese beiden zentralen Anlaufpunkte erscheinen geeignet, sämtlichen Handel aus dem Schwarzen Meer zu kontrollieren. Eine Verbindung von präventiv eingeforderten Zahlungen zur Gewährleistung von Strafzahlungen bei Verstößen gegen die Regelungen, der Überprüfung in den Häfen von Caffa und Pera und der regelmäßigen Publikation mit Strafandrohungen, die nicht nur Geschäftsleute und Seefahrer, sondern auch die zur Überwachung verpflichteten Amtsträger betreffen, lässt die Implementierung der Verordnungen realisierbar erscheinen. Die Traktate zur Wiedererlangung des ‚Heiligen Lands‘ setzen hingegen lediglich darauf, die gängigen Schifffahrtsrouten zu überwachen. Die Durchsetzung des Boykotts verliefe nach diesem Modell gemäß den verbreiteten Gepflogenheiten gewaltsamer Güterwegnahme zur See, die in Forschungen zu maritimer Gewalt zuletzt intensiv diskutiert worden sind.53 Wie die oben angesprochenen Beispiele – das Auf52 Das Schwanken päpstlicher Positionen und Maßnahmen unterstreicht Menache, Papal Attempts (wie Anm. 44). 53 Vgl. noch einmal Rohmann, Jenseits von Piraterie (wie Anm. 13); Merchants, hrsg. HeebøllHolm, Höhn, Rohmann (wie Anm. 13). Grundsätzlich auch: Seeraub im Mittelmeerraum. Piraterie, Korsarentum und maritime Gewalt von der Antike bis zur Neuzeit (Vorträge einer vom 5. bis 7. Mai 2011 an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführten internationalen Konferenz „Gefährdete Konnektivität – Piraterie im Mittelmeerraum“), hrsg. Nikolas Jaspert, Sebastian Kolditz (Mittelmeerstudien, 3), München, Paderborn 2013.

Johanniter, Genuesen und die Mamluken

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bringen eines genuesischen Schiffs durch die Johanniter samt den Gegenmaßnahmen der ligurischen Hafenstadt wie auch der Überfall auf die Kaufleute aus Siena und Ancona – mustergültig erschließen, war ein solcher Übergriff auf See oft der Ausgangspunkt für aufwändige Verfahren zur Klärung von Entschädigungsansprüchen und Legitimationen: Die Überfallenen konnten versuchen, den Seeraub als Piraterie zu disqualifizieren und dadurch entweder vom Verantwortlichen selbst oder von den Herrschaftsträgern, denen letzterer verpflichtet war, Entschädigung zu erwirken. Diejenigen hingegen, die aktiv geworden waren, beriefen sich auf legitime Rechtfertigungen für ihre Gewalttat; die Durchsetzung eines päpstlichen Handelsboykotts gegen die Mamluken lieferte dafür eine hervorragende Erklärung. Daneben blieb immer noch der Weg, durch Gegenangriffe das Geraubte zurückzuerlangen. Insofern waren die päpstlichen Boykottaufrufe wie auch die in den Traktaten entwickelten Konzepte zur Durchsetzung der Handelsverbote geeignet, die Spirale von Gewalt und Gegengewalt weiter zu beschleunigen, die die mediterrane Seefahrt im Hoch- und Spätmittelalter prägte. Demgegenüber beschränkte sich das Boykottregime des Officium Gazarie auf eine Kontrolle und Bestrafung der eigenen Seefahrer. Dazu sollten die Machtstrukturen genutzt werden, die die ligurische Hafenstadt seit dem Hochmittelalter im östlichen Mittelmeerraum etabliert hatte und die sie zu Beginn des 14. Jahrhunderts enger an die Regierung der Mutterstadt zu binden versuchte.54 So sehr sich ihre Interessen unterschieden, beteiligten sich doch Johanniter und Genuesen am gleichen Bemühen von Akteuren aus den lateinischen Christenheiten, feste Machtstrukturen im östlichen Mediterraneum zu institutionalisieren. Im Fall von Genua handelte es sich um ein Netz von Stützpunkten, die auf wichtigen Handelsrouten zwischen Italien, dem östlichen Mittelmeer und dem Schwarzen Meer lagen und insgesamt zum Aufbau von transmarinen staatlichen Strukturen führten. Im Fall der Johanniter führte das maritime Engagement zur Etablierung ihrer Landesherrschaft auf Rhodos. Auch wenn das Ziel der hier untersuchten Überlegungen – eine erneute Herrschaftsbildung in Palästina – nicht erreicht wurde, kann die Stabilisierung von staatlichen Strukturen durch Genuesen und Johanniter, die bis zu den Eroberungen der Osmanen an der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit Bestand hatten, als Erfolgsgeschichte bewertet werden.

54 Vgl. dazu Christoph Dartmann, Die Etablierung transmaritimer Staatlichkeit als Reaktion auf Migration und Mobilität im spätmittelalterlichen Mediterraneum. Das Beispiel der Kolonialstädte Genuas, in: Die bewegte Stadt. Migration, soziale Mobilität und Innovation in vormodernen Großstädten, hrsg. Jörg Oberste, Susanne Ehrich (Forum Mittelalter. Studien, 10) Regensburg 2015, S. 99–111.

Anthony Luttrell

Timur’s Capture of Hospitaller Smyrna (1402)

Jürgen Sarnowsky published his account of the Hospitallers at Izmir or Smyrna from 1344 to 1402 in 1991 and 1992; it was based on the Hospital’s archives now on Malta but it did not cover the final siege of 1402, on which that archive apparently provides no information.1 This study is based on a decision to avoid or reject much non-contemporary material. The main source for Timur’s attack on Smyrna is the Timurid historian Sharaf al-Dı¯n Yazdı¯ who in 1419/1420 was summoned by Timur’s son and successor Sha¯hrukh to supervise and compose an official history of Timur. Yazdı¯’s work was begun in about 1420, possibly completed in about 1429, and given final publication in 1436. Yazdı¯ used the earlier historian Niza¯m al-Dı¯n Sha¯mı¯ who had accompanied Timur on his campaign and ˙ who wrote in 1404. Yazdı¯ also used Timur’s official chancery diaries in Uyghur and Persian, and his work was very thoroughly revised.2 Yazdı¯ wrote that he had visited Smyrna with a companion who recited to him the history of the place;3 that was probably before 1419 while he was travelling with his teacher Sa¯ʿin al-Dı¯n ˙ Turka.4 Yazdı¯’s information was sometimes vague but was apparently trustworthy. Muʿı¯n al-Dı¯n Natanzı¯’s Muntakhab al-tava¯rı¯kh-i Muʿı¯nı¯ gave a short but ˙

1 Jürgen Sarnowsky, Die Johanniter und Smyrna 1344–1402, in: Römische Quartalschrift 86 (1991), p. 215–251; 87 (1992), 47–98. Further detail in Jean Richard, Les Marchands génois de Famagouste et la défense de Smyrne, in: Oriente e Occidente tra medioevo ed età moderna: Studi in onore di Geo Pistarino, vol. 2, ed. Laura Balletto, Genova 1997, p. 1059–1071, and Michel Balard, Les Hospitaliers et Smyrne (1344–1402), in: Entre Deus e o rei: O mundo das Ordens Militares, ed. Isabel Cristina Ferreira Fernandes, vol. 2, Palmela 2018, p. 747–754, but both ignore the documents published by Sarnowsky. Evrim Binbas¸ most generously provided much assistance to the author of this chapter. 2 Sharaf al-Dı¯n Yazdı¯, Zafarna¯ma, in: Cherefeddin Ali, Histoire de Timur Bec, trans. François Pétis de la Croix, vol. 4, Paris 1722; detailed study in I˙lker Evrim Binbas¸, Intellectual Networks in Timurid Iran: Sharaf al-Dı¯n ‘Alı¯ Yazdı¯ and the Islamic Republic of Letters (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge 2016. 3 Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 53. 4 Binbas¸, Intellectual Networks (as n. 2), p. 39.

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vivid description of the siege.5 Natanzı¯ was not an eyewitness to the events but he ˙ wrote his chronicle in 1413, and he was most certainly aware of Sha¯mı¯’s chronicle.6 Natanzı¯’s chronicle, as well as Sha¯mı¯’s Zafarna¯ma, were used by ˙ ˙ another giant of Timurid historiography, Ha¯fiz-i Abru¯, who included a relatively ˙ ˙ detailed account of the conquest of Smyrna in his Zubdat al-tava¯rı¯kh. Although Ha¯fiz-i Abru¯ wrote his work circa 1426, he was part of Timur’s army of conquest ˙ ˙ which invaded Anatolia and conquered Smyrna; his account was among the most reliable Timurid sources on that conquest.7 The Greek chronicler Ducas wrote somewhat later in about 1462; his chronology was repeatedly inaccurate but he grew up and served in the Eastern Aegean world, and he too seems reasonably reliable;8 an Italian translation of Ducas added some further detail.9 The area of the castle by the sea at Smyrna was built over during the nineteenth century, and the topography of the 1402 siege, treated in the appendix below, depends on the very detailed study of Wolfgang Müller-Wiener.10 Regrettably, many publications in many languages could not be utilized in this approximation to the subject. *** The Hospitallers of Rhodes, the brethren of the military-religious Order of Saint John, took part in the Latin capture from the Turks of Aydin of the castle by the sea at Smyrna in 1344 and, increasingly, in its subsequent defence. This activity was a means of blocking, at least partially, Turkish aggression on the Aegean; the Latins did not take the castle on the hill a little way inland. In 1374, the pope confided the defence of Smyrna entirely to the Hospital. After the Ottoman victory at Kossovo in 1389, Sultan Bayezid began a series of conquests of Turkish emirates in Anatolia that threatened the Hospitaller’s tenure at Smyrna. The situation became critical after a major earthquake damaged the fortifications in 1391, and in 1392 it was decided to restrict the outer defence line of Smyrna’s civitas. Funds were made available, especially to pay the mercenary garrison, and 5 Mu‘ı¯n al-Dı¯n Natanzı¯, Muntakhab al-tava¯rı¯kh-i Mu‘ı¯nı¯, ed. Jean Aubin, Tehran 1957, p. 389– ˙ 391. 6 John E. Woods, The Rise of Tı¯mu¯rid Historiography, in: Journal of Near Eastern Studies 46, no. 2 (1987), p. 81–108, at 89–93. 7 Ha¯fiz-i Abru¯, Zubdat al-Tava¯rı¯kh, ed. Sayyid Kama¯l Ha¯jj Sayyid Jawa¯dı¯, Tehran 2001–2002, ˙ 2, ˙ p. 975–978. ˙ vol. ˘ 8 Ducae Istoria Turco-Byzantina (1341–1462), ed. Vasile Grecu, Bucharest 1958. 9 Ducae Historia italice interprete incerto, in: Ducae Michaelis Ducae Nepotis Historia Byzantina, ed. Immanuel Bekker, Bonn 1834, p. 347–512. 10 Wolfgang Müller-Wiener, Die Stadtbefestigungen von Izmir, Sig˘acik und Çandarli: Bemerkungen zur mittelalterlichen Topographie des nördlichen Jonien, in: Istanbuler Mitteilungen 12 (1962), p. 59–114, at p. 59–96 and plates at back of volume.

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the situation was eased by a truce which followed the capture of two sons of the Turkish subas¸ı or governor of Smyrna in about 1394. Stone walls and probably towers date to the time of the Hospitaller Master Fr. Juan Fernández de Heredia who ruled from 1377 to 1396. Following Bayezid’s victory over the Latin crusade at Nikopolis on the Danube in 1396, he returned to his Anatolian expansions, and in 1402 the Hospital’s ruling council on Rhodes determined that the defence of Smyrna against Ottoman attacks should take precedence over operations against the Turks on mainland Greece. In 1402, some sort of pallisade was constructed, presumably to defend the Greeks and other inhabitants of the borgo which had developed outside the fortified castle.11 Bayezid’s renewed assault on Smyrna never materialized because his conquests in Eastern Anatolia brought him into conflict with the great Mongol conqueror Timur who defeated Bayezid near Ankara in July 1402, capturing the sultan and leaving the Ottoman state divided by fraternal struggles between Bayezid’s sons. Timur had made some contacts with Western Europe, mainly commercial in intent. After Ankara he threatened an invasion of Europe, but lacked the shipping to cross from Anatolia; he also let it be thought that he intended to invade Mamluk Egypt, but no Mongol army had ever been able to cross the desert and reach Cairo. The reality was that the traditionally seven-year Mongol campaign was approaching its close, and Timur’s fighting force must have been depleted; he needed to return to Samarkand, and he planned an invasion of China. Timur had no design to administer Anatolia or to incorporate it into his empire. Instead he replaced in their emirates the former rulers whom Bayezid had largely expelled. What Timur wanted was booty; he dispatched his generals in various directions to plunder, massacre, and enslave, and he himself marched towards Menteshe, the emirate south of Smyrna and Aydin, where his army was to reunite in a comparative mild area in which it could spend the winter.12 Timur had, however, one specific objective. His historian Yazdı¯ related that Timur heard that Smyrna had never been taken by any Muslim, which was not correct since Umur of Aydin had captured it in 1328/1329, or paid tribute; that Murad and Bayezid had several times with powerful armies failed to capture the castle from the Hospitallers; that it was a holy place for the Greeks and contained many Ifranj or European Latins; and that its capture was a religious obligation. Ha¯fiz-i Abru¯ gave a more realistic account. He said that Smyrna was the main ˙ ˙ 11 Anthony Luttrell, Elizabeth A. Zachariadou, Sources for Turkish History in the Hospitallers’ Rhodian Archive 1389–1422, Athens 2008, p. 41–44, 93–102, 127–132. 12 Marie-Mathilde Alexandrescu-Dersca, La campagne de Timur en Anatolie (1402), Bucharest 1942, reprinted with addenda, London 1977; Anthony Luttrell, Timur and Mentes¸e 1389–1407, in: Mentes¸eog˘ulları Tarihi 25–27 Nisan 2012 – Mug˘la, ed. Adnan Çevik, Murat Keçis¸, Ankara 2016, p. 107–112.

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gateway of Christian powers into Anatolia and that Timur’s main objective in invading Anatolia was to disrupt the north-south trade routes and revive the eastwest trade connection.13 For Timur, his attack on Bayezid was difficult to justify because it was aimed against a Muslim ruler who was not a successor to the earlier Mongol empire. Timur justified his attacks on other Muslim rulers by saying that he was simply restoring the Mongol empire, but Bayezid’s territory had never been part of that empire, and so Timur was unable to employ that argument. An attack against a prominent castle controlled by a Christian power provided him with the required justification for his campaign in Anatolia.14 Yazdı¯’s claim that Bayezid had besieged Smyrna for seven years was evidently an exaggeration.15 Andrea de Redusiis de Quero, who died in 1428, had a somewhat similar story, claiming that when Timur asked Bayezid why the Turks had not taken Smyrna, Bayezid replied that neither he, nor his father, grandfather, or ancestors had ever captured it because it was impregnable and strongly defended.16 In reality Bayezid had very little incentive to conquer Smyrna and was more interested in trade with the Mamluks in Syria and Egypt. The government on Rhodes had intelligence agents in Anatolia following Timur’s movements,17 but when news of Timur’s approach reached Smyrna or Rhodes is uncertain. Yazdı¯ stated that the Hospital had sent to Europe for reinforcements and that Smyrna was well garrisoned and provisioned.18 It had in fact been strengthened to resist Bayezid. In 1402, the Hospital’s Admiral, Fr. Buffilo Panizzati, had twice inspected the defences, and in September Fr. Domenico de Alamania was sent to persuade the Genoese on Chios not to make an alliance with Timur and also to go to Samos to persuade those Turks who had fled there not to ally with Timur. A handful of Hospitaller brethren led maybe 100 or more mercenaries, probably Latins, under the command – by February 1402 – of the Aragonese Fr. Iñigo de Alfaro who, as the lieutenant of the Hospital’s Drapier, was a senior officer on Rhodes.19 Ha¯fiz-i Abru¯ added that, upon hearing of the ˙ ˙ approach of the Timurid army, the captain summoned reinforcements from 13 Ha¯fiz-i Abru¯, Zubdat al-Tava¯rı¯kh (as n. 7), vol. 2, p. 976. ˙ ˙ Salman, Timur’un Batı Anadolu’daki Faaliyetleri, in: Ölümünün 600: Yılında Emir 14 Hüseyin Timur ve Mirası Uluslararası Sempozyumu, ed. Abdulvahap Kara, Ömer I˙s¸biler, Istanbul 2007, p. 186–187. 15 Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 46. 16 Andrea de Redusiis de Quero, Chronicon Tarvisinum ab a. 1368 usque ad a. 1428, in: Rerum Italicarum Scriptores, ed. Ludvico A. Muratori, vol. 19, Milan 1731, cols. 741–866, at col. 801. 17 Luttrell, Zachariadou, Sources for Turkish History (as n. 11), p. 157. 18 Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 48–49. 19 Sarnowsky, Johanniter und Smyrna, part 2 (as n. 1), passim; Luttrell, Zachariadou, Sources for Turkish History (as n. 11), p. 44, 55, 100–101. Alfaro is on the western borders of Aragon.

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Rama¯n, Galata, Samos, Cyprus, Janjak, and other places, and that when the Timurid army arrived there were about 2000 soldiers in the castle.20 That was a confused estimate which probably included some refugees as well as the garrison. There was a Greek and Latin population in the borgo21 while Christians from the surrounding area sought refuge there from Timur. Ducas mentioned refugees from Tire, Ephesus, Nif which was probably Nymphaion, and other towns.22 From Tire, Timur sent envoys to Smyrna, according to Yazdı¯ who wrote that one of them presented the Hospitallers with a choice between converting to Islam, submitting and paying tribute, or death; however, if they wished to remain Christians and pay tribute they could do so.23 A Latin source stated that the envoy was a Christian bishop;24 he might have been the Dominican Francis of Tabriz or another of the Dominican associates whom Timur used as envoys to the Latins.25 Ducas stated that Timur demanded the city’s surrender “several times,”26 but for members of a Latin religious Order conversion, tribute, or surrender were beyond question. In any case, the Hospitallers must have known that Timur’s methods were extremely brutal and that his promises could not be trusted. On the Hospitallers’ refusal, Timur left Tire in heavy rain, probably in November. His armies marched slowly and he reached Smyrna on December 2, 1402, though Yazdı¯ left it uncertain when hostilities commenced.27 Timur’s forces would, initially, easily have overcome the palisade and the shortened outer defences of the borgo, but the inner castle, with its stone walls and towers, was much stronger. The castle was, very approximately, triangular in shape. Its curved western wall, some 140 metres long, was protected by the sea; that wall had a central tower and a tower at each end. There was possibly a stretch of earth or sand between this wall and the sea. The inner keep at the castle’s southwest corner controlled the entrance to a safe inner harbor to its south. The southern wall of the triangular fortress, about 100 metres in length, had a gateway in its centre. The east wall, also about 110 metres long, had an oblong projecting tower at each end and one at its centre; there was a moat outside it which led into the sea at both ends. At the castle’s south-west corner, protecting the entrance to the inner harbour, was the inner keep. A mole may have projected into the harbour mouth towards another mole which came towards it from the other side 20 21 22 23 24 25

Ha¯fiz-i Abru¯, Zubdat al-Tava¯rı¯kh (as n. 7), vol. 2, p. 976. ˙ ˙ Sarnowsky, Johanniter und Smyrna, part 2 (as n. 1), passim. Ducae Istoria, ed. Grecu (as n. 8), p. 73. Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 48. Theodoricus de Nyem, De scismate libri tres, ed. Georg Erler, Leipzig 1890, p. 172–173. Anthony Luttrell, Timur’s Dominican Envoy, in: Studies in Ottoman History in Honour of Professor V. L. Ménage, ed. Colin Heywood and Colin Imber, Istanbul 1994, p. 209–229. 26 Ducae Historia italice interprete incerto, ed. Bekker (as n. 9), p. 386. 27 Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 49.

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of the mouth of the inner harbour. The harbour mouth may have been some 180 metres across, but any mole or moles would have reduced that distance.28 Yazdı¯ stated that the sea castle was surrounded by the sea on three sides and was very strongly constructed of squared stones, the landward side being protected by a deep moat built with lime and cement. He wrote that Timur’s men assaulted the landward walls and gates with arrows, siege engines, mining operations, and Greek fire. Timur then built three-legged constructions close to each other in the water which were connected by planks so that they reached the castle’s seaward walls; these constructions were used to attack the castle while cutting off reinforcements from the sea. Though the water may well have been shallow, it is doubtful whether these constructions stretched all along the western curtain; possibly they ran across the mouth of the inner harbour, either by extending an existing mole or by joining two moles and thus preventing shipping from approaching the castle, while giving Timur’s troop access to the earth or sand in front of the west wall. The initial assault to the walls was commanded by the grand commander Sha¯h Malik.29 Yazdı¯ reported that Timur’s subordinates, Mı¯ra¯n Sha¯h, his second son, and Mirza Muhammed Sulta¯n, his grandson and heir ˙ apparent, arrived from Magnesia, with more troops. Timur was there in person, and in pouring rain came a general assault. The Hospitallers replied with arrows and stones as the attack continued without pause from morning to night and into the next day. The moat was filled with bundles of sticks and wood soaked in naphtha. The sappers ignited their mines, and the walls collapsed, killing some defenders. Timur’s troops entered the castle and few escaped. Some defenders threw themselves into the sea and reached Christian vessels offshore, but a good many drowned. The houses of both town and castle were razed to the ground and their materials thrown into the sea. Timur’s captive, the Ottoman Sultan Bayezid, was astonished. Some large two-masted caracas then arrived “from Europe,” probably from Rhodes or Chios, with men and provisions but retired after being bombarded with Christian heads. Yazdı¯ stated that the siege lasted only two weeks, which presumably included preparations for the main assault.30 Sharaf al-Dı¯n Yazdı¯’s official Timurid history was broadly confirmed by various Christian sources. According to Ducas, Timur’s men threw stones into 28 Frederick W. Hasluck, Heraldry of the Rhodian Knights, Formerly in Smyrna Castle, in: Annual of the British School at Athens 17 (1910–1911), p. 145–150, fig. 1; Müller-Wiener, Stadtbefestigungen (as n. 10), passim, fig. 3; and Topographical Appendix below. Square towers were constructed on Rhodes between circa 1380 and 1396: Albert Gabriel, La cité de Rhodes, MCCCX–MDXXII: Topographie, Architecture Militaire, vol. 1, Paris 1921, p. 10–11, 66–70. 29 Ha¯fiz-i Abru¯, Zubdat al-Tava¯rı¯kh (as n. 7), vol. 2, p. 977. ˙ ˙¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 46–53; Histoire des conquêtes de Tamerlan: Intitulée Zafarna¯ma 30 Yazdı ˙ ˙ urı¯ de par Niza¯muddı¯n Sˇa¯mı¯, aves des additions empruntées au Zubdatu-t-Tawa¯rih-i Ba¯ysung ˙ ˘ Ha¯fiz-i Abru¯, ed. Felix Tauer, vol. 1, Prague 1937, p. 268. ˙ ˙

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the sea and blocked the mouth of the inner harbour, the defenders towing out their galleys and other ships just in time. Timur’s troops then crossed the mouth of the harbour and appeared “near” the moat, probably in front of the southern wall of the castle.31 Natanzi and Ha¯fı¯z-i Abru¯ said that Timur constructed a bridge ˙ ˙ by using large beams.32 The defenders fought bravely, and their arrows filled the moat with the attackers’ corpses onto which Timur’s men mounted scaling ladders. The captain and the remaining Hospitallers retreated “inside,” perhaps into the inner keep in the south-west of the castle, and then in confusion they boarded the galleys which were drawn up to the citadel. Timur’s constructions could not cut off the whole castle from the sea and were probably limited to the area of the inner keep at the mouth of the inner harbour. Over 1000 Christian men, women, and children from outlying regions had sought safety into the castle, and some swam out to the galleys but were beaten back by the men aboard. The galleys then sailed away, leaving the refugees to be beheaded after which their heads were built into a tower.33 The Italian version of Ducas varied somewhat. It said that Timur called on the defenders to surrender several times, while Christians from Tire, Ephesus, and elsewhere sought refuge in Smyrna castle, and it claimed that the Ottoman sultan Bayezid had besieged the castle for a year and had failed to take it by cunning, force, or starvation. By the second day of action, the stones thrown into the sea had “made the mouth of the harbour into dry land.” As the defences collapsed, the galleys came close to the castle, and the defenders retreated onto them in disorder, the captain and Hospitallers being the last to leave. The city was ruined to its foundations while the number of slaughtered Christians was “about 1200.” The survivors sailed towards Rhodes.34 They may initially have retreated to nearby Chios, possibly on Genoese ships; on October 6, 1403, Fr. Iñigo de Alfaro’s proctor acknowledged receipt of 80 florins owed him by a Mallorcan who had been imprisoned for this debt.35 The Latin West took only limited notice.36 King Marti of Aragon wrote to Pope Benedict XIII on March 5, 1403, that he had news from Byzantine ambassadors, from the Master of Rhodes, and from others that nothing but smoke and ashes remained of Smyrna and of “other castles and towns of the said Master and his 31 Ducae Istoria, ed. Grecu (as n. 8), p. 72–74. 32 Natanzı¯, Muntakhab (as n. 5), p. 390; Ha¯fiz-i Abru¯, Zubdat al-Tava¯rı¯kh (as n. 7), vol. 2, p. 977. ˙ This sad scene was also mentioned by Natanzı¯, ˙ Istoria, ed. Grecu (as n. 8), p. ˙72–74. 33 Ducae ˙ Muntakhab (as n. 5), p. 390, but not by Ha¯fiz-i Abru¯; Natanzı¯ also mentioned that the Muslims ˙ ˙ ˙ plundered the city and took many weapons, goods, and textiles as booty. 34 Ducae Historia italice interprete incerto, ed. Bekker (as n. 9), p. 386–388. 35 Gian Giacomo Musso, Navigazione e commercio genovese con il Levante nei documenti dell’Archivio di Stato di Genova (sec. XIV–XV), Rome 1975, p. 108. 36 Joseph Delaville Le Roulx, Les Hospitaliers à Rhodes jusqu’à la mort de Philibert de Naillac (1310–1421), Paris 1913, p. 286–287.

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Order.” Marti seems to have confused the Greeks who took refuge in Smyrna with other places which he mistakenly thought the Order held.37 The Aragonese chronicler Martín de Alpartil gave an account which he had from Fr. Iñigo de Alfaro who went with him as two papal nuntii on a mission to the king of Sicily in 1406. Fr. Iñigo claimed that he and the garrison fought well at Smyrna, that the damage to the harbour prevented ships, possibly sailing vessels rather than oared galleys, from entering it; and that the population fled on Genoese ships whose captain prevented Fr. Iñigo from leaving his galley: Et [Tabarlanus] a fratre Didaco de Alpharo, qui capitaneus erat Mirre, accepi, quod ita ordinate die nocte pugnaberat, per certas oras distinguens in pugnando suas gentes, quod nunquam obsessis requiem dabant. Et portum dicte civitatis Mirre ita destruxit, quod vasa intrare non poterant. Cum tamen gentes Mirre in vassis Genuensium aufugissent, predictus capitaneus Mirre intrans in quadam galea Genuensium pro gentibus recuperandis et reducendis, capitaneus Ianuensium non permisit capitaneum Mirre galeam exire, et sic Mirra fuit non permissit capitaneum Mirre galeam exire, et sic Mirra fuit capta per Tabarlanum. A later passage in Alpartil’s chronicle claimed that all the Christians except Fr. Iñigo the captain, presumably those left in the town and castle, were killed, and also that, against the captain’s wishes, the Genoese did not allow those Christians who had reached the ships to leave the galleys.38 The story that Fr. Iñigo de Alfaro was unwillingly removed by a Genoese galley, presumably arrived from Chios, may have been merely an excuse. Fr. Iñigo played some part in Aragonese affairs after 1402.39 In 1413 it was stated, presumably with exaggeration, that he was eighty years of age,40 yet he was still alive, though old and ill, in 1435.41 An account by Theodore of Niem, which wrongly had Bayezid killed at Ankara and placed Smyrna in Graecia, read: Tamen quidam Cathalanus, qui pro eodem hospitali illius erat capitaneus, si vexillum dicti Tamerlani super illo collocare voluisset rogatu cuiusdam episcopi Christiani, Tamerlanus illud nullatenus destruixisset, sed quia dictus Cathalanus illud aut fastu seu alias recusavit facere, 37 Antoni Rubió i Lluch, Diplomatari de l’Orient català (1301–1409): Collecció de documents per a la història de l’expedició catalana a Orient i dels ducats d’Atenes i Neopàtria, Barcelona 1947, p. 695. 38 Martín de Alpartir, Cronica Actitatorum temporibus Benedicti XIII Pape, ed. José Ángel Sesma Muñoz, María del Mar Agudo Romeo, Zaragoza 1994, p. 109, 129, 153. 39 Delaville Le Roulx, Hospitaliers à Rhodes (as n. 36), p. 284 note 2; Josep Alanyà i Roig, Procés inquisitorial contra el Castellà d’Amposta fra Pedro Roiç de Moros a la cúria pontifícia del Papa Benet XIII (1414–1418), in: Anuario de estudios medievales 32, no. 1 (2002), p. 199– 292, at p. 217–218, 221, 224, 231, 275, 280–281; Pierre Bonneaud, Le prieuré de Catalogne, le couvent de Rhodes et la Couronne d’Aragon 1415–1447, Millau 2004, p. 122, 225, 258–260, 264, 400. 40 Alanyà i Roig, Procés inquisitorial (as n. 39), p. 275. 41 Valletta, National Library of Malta, Archives of the Order of St. John, cod. 351, fol. 164–164v.

Timur’s Capture of Hospitaller Smyrna (1402)

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dictus Tamerlanus hoc aegre ferens et vim viribus accumulans tandem dictum castrum cepit et destruxit totaliter, adeo quod etiam, ut ipsimet fratres dicti hospitalis aiunt, cum centum milibus florenorum auri in statum pristinum reduci non posset.42 One of Theodore’s sources was apparently Timur’s envoy Johannes of Sulta¯niyya who had however left Anatolia before the siege of Smyrna.43 Andrea ˙ de Redusiis retailed the story of Timur filling Smyrna harbour with stones and wood.44 The Sienese merchant Beltramo de Mignanelli, who was in Syria at the time, recorded a version which stated that the Hospitallers fought strenuously and that the walls were so extensively mined and in great part destroyed that resistance became impossible, but claimed that the Hospitallers, out of fear and mistrust of their Greek “subjects” within the castle, made a pact which preserved their honour and surrendered the castle. Mignanelli added the story that Timur told Bayezid that, while Bayezid and his father Murad had failed to take the castle, “I took it quickly.”45 Some Hospitallers are likely to have been killed, though there is no record or indication in the Hospital’s surviving registers or elsewhere of any particular Hospitaller having died at Smyrna. Mignanelli is the only known source to have mentioned a pact to surrender with “honour,” while the other known accounts all describe a confused flight to the ships as Timur’s troops entered the castle, which would have left no opportunity for a negotiated surrender on terms.46 Yazdı¯ recorded that the Turks of the inland castle at Smyrna were treated well by Timur.47 Both Latins and Turks slaughtered and captured prisoners on occasion, at Nicopolis in 1396 for example, but for Timur cruelty became a means of conquest and government. In taking a town it was standard practice for Timur first to offer terms accompanied by threats, and later to enslave prisoners or kill them and build towers with their heads.48 The Hospitallers could not surrender or pay tribute to Timur, and their castle at Smyrna was eventually lost to the Ottomans. The Latins at New and Old Phocaea, together with those of Lesbos, did pay tribute to Timur.49 Timur’s unforeseen assault on the Hospitallers’ weak 42 Theodoricus de Nyem, De scismate libri tres (as n. 24), p. 172–173. The bishop was possibly Francis, Bishop of Nakhichevan. 43 Luttrell, Timur’s Dominican Envoy (as n. 25), p. 211–212. 44 Andrea de Redusiis de Quero, Chronicon Tarvisinum (as n. 16), col. 801. 45 Nelly Mahmoud Helmy, Tra Siena, l’Oriente e la Curia: Beltramo di Leonardo Mignanelli e le sue opere, Rome 2013, p. 338. 46 The acceptance of Mignanelli’s claim in Luttrell, Zachariadou, Sources for Turkish History (as n. 11), p. 53, should probably be revised. 47 Yazdı¯, Zafarna¯ma (as n. 2), p. 56–59. 48 Jean Aubin, Comment Tamerlan prenait les villes, in: Studia Islamica 19 (1963), p. 83–122, but without discussing Smyrna. 49 Alexandrescu-Dersca, Campagne de Timur (as n. 12), p. 90.

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position at Smyrna placed them entirely on the defensive. Beltramo Mignanelli to some extent apart, the varied sources agreed that the brethren’s initial resistance amounted to a form of brave pugnacity in what rapidly became an indefensible situation.50

Topographical Appendix Any interpretation of the written sources concerning the siege depends on a reconstruction of the topography, but Timur destroyed much of the castle, and the site was built over in modern times so that knowledge of it largely depends on the early accounts. The sources agreed that Timur razed the castle to the ground. Ducas wrote that, in about 1405/1406, the Hospitallers began to build a great tower there, but that Bayezid’s son Mehmed razed their new building to the ground,51 and in 1407 it was reported that Suleyman intended to build a fortilicium de muro at Smyrna, presumably on the same site.52 Timur probably did not completely destroy the castle, or at least left its foundations in place so that it was rebuilt on the original site and plan. Subsequent descriptions, plans, and drawings attest a medieval-type castle which might have preserved portions of the walls of 1402. The castle became land bound as its harbour was filled in and the coastline moved away from it, and all trace of it was destroyed in 1872. However its plan was clearly shown on Luigi Storari’s map of 1857.53 Storari wrote of a small sea-gate, una piccola porticella che guarda il mare, which survived in 1854 and through which he supposed Hospitallers escaped to the galleys at the end of the siege; he also mentioned the papal arms in white stone placed on a merlo above the main entrance.54 The hypothetical reconstruction of the castle plan by Müller-Wiener, using the original of Luigi Storari’s plan, assumes that the rebuilt castle as shown by Storari was similar to that of 1402. Given the configuration of the land and the frequency with which the Turks rebuilt or repaired fortifications in a style rather close to the original, that seems a reasonable assumption, whether or not the castle was largely or entirely razed to the ground in 1402. The pre-1344 Byzantine castle, itself probably on ancient foundations, had been rebuilt and expanded between 50 See Anthony Luttrell, Hospitaller Pugnacity: 1306–1421, in: The Military Orders, vol. 7: Piety, Pugnacity and Property, ed. Nicholas Morton, London 2018, p. 322–328. 51 Ducae Istoria, ed. Grecu (as n. 8), p. 105–108. 52 Luttrell, Zachariadou, Sources for Turkish History (as n. 11), p. 72 note 199. 53 Reproduced in Müller-Wiener, Stadtbefestigungen (as n. 10), fig. 2, together with later views of the castle. 54 Luigi Storari, Guida con cenni storici di Smirne, Turin 1854, p. 20–21, 45.

Timur’s Capture of Hospitaller Smyrna (1402)

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1344 and 1346 by the Latins who dug a moat which led into the sea.55 It was restored by the Hospitallers thereafter, and in particular following the earthquake of 1389 and again in 1402. Storari’s plan suggests a small late-medieval, pre-gunpowder design with square towers. Whether the pallisade of 1402 was a fence or a wall is uncertain. It probably reinforced the circuit of the town or civitas, an area evidently outside the stone walls of the castle, for in April 1392 the Hospitallers at Avignon voted 4000 florins to shorten this circuit in order to facilitate its defence: quod ambitus seu circuitus civitatis Smirnarum restringatur, et fortificetur civitas ad hunc finem, quod tueri et deffendi tuitius valeat et cum minoribus expensis.56 A miniature of 1467 attributed to the artist Bihza¯d, which was painted in a manuscript of Yazdı¯’s history and which presumably derived from it, showed Timur on horseback superintending sappers at work and archers firing arrows, while a second miniature pictured the main castle gate with a moat and a wooden drawbridge, scaling ladders and a temporary assault bridge.57

55 Paul Lemerle, L’émirat d’Aydin, Byzance et l’Occident: Recherches sur La geste d’Umur pacha, Paris 1957, p. 40–42; Kenneth M. Setton, The Papacy and the Levant: 1204–1571, vol. 1, Philadelphia 1976, p. 207. The arms from the castle, photos in Müller-Wiener, Stadtbefestigungen (as n. 10), plate 18 (1–2), datable between circa 1381 and 1396, apparently include the arms of Baux and Aubert; Marie de Baux was at Smyrna during the crusade of 1346 and Pope Innocent VI (1352–1362) was Étienne Aubert who in 1359 ordered measures de muranda et turribus munienda at Smyrna: Setton, Papacy and the Levant (as n. 55), p. 209, 234. 56 Sarnowsky, Johanniter und Smyrna, part 2 (as n. 1), p. 77. 57 Thomas W. Arnold, Bihza¯d and His Paintings in the Zafar-Nama¯h MS., London 1930, plates XI–XII.

Frank Godthardt

Die Interpretation des Defensor pacis während des Dritten Reichs

I. Marsilius von Padua, der Autor des Defensor pacis („Verteidiger des Friedens“),1 gilt als einer der wichtigsten und originellsten Denker der politischen Philosophie des Mittelalters.2 Manche Forscher betrachten Marsilius als ersten Vertreter der Lehre von der Volkssouveränität und einige sogar als Vorläufer der modernen Demokratietheorie.3 Es überrascht daher, dass der Defensor pacis im nationalsozialistischen Deutschland bei Geisteswissenschaftlern zustimmende Bewertungen erfuhr. Nach einer vorangehenden historischen Verortung des Defensor pacis und einer kurzen Charakterisierung seiner politischen Theorie wird ihre Deutung und Bewertung durch den Philosophen Wilhelm Schneider-Windmüller und die Historiker Richard Scholz und Friedrich Bock das Thema dieses Essays sein. Marsilius von Padua nahm in seinem Defensor pacis, den er 1324 an der Universität von Paris abgeschlossen hat, Stellung in einem Konflikt, der später als letzter Kampf zwischen Kaiserreich und Papsttum bezeichnet wurde.4 Die Aus1 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, hrsg. Richard Scholz, 2 Teile (MGH Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum seperatim editi, 7,1–2), Hannover 1932/33. 2 Umfassende Darstellungen der jüngeren Zeit sind The World of Marsilius of Padua, hrsg. Gerson Moreno-Riaño (Disputatio, 5), Turnhout 2006 [erschienen 2007]; A Companion to Marsilius of Padua, hrsg. Gerson Moreno-Riaño und Cary Nederman (Brill’s Companion to the Christian Tradition, 31), Leiden/Boston 2012; Gianluca Briguglia, Marsilio da Padova (Pensatori, 31), Rom 2013. Meine von Jürgen Sarnowsky betreute Dissertation erschien unter dem Titel Frank Godthardt, Marsilius von Padua und der Romzug Ludwigs des Bayern. Politische Theorie und politisches Handeln (Nova Mediaevalia, 6), Göttingen 2011. 3 Jüngst etwa Filimon Peonidis, Marsilius of Padua as a Democratic Theorist, in: Roda da Fortuna. Revista Eletrônica sobre Antiguidade e Medioevo. Electronic Journal about Antiquity and Middle Ages 5 (2016), S. 106–124; vgl. zu dieser Tradition von Interpretationen Conal Condren, Democracy and the Defensor Pacis. On the English Language Tradition of Marsilian Scholarship, in: Il pensiero politico 13 (1980), S. 301–316. 4 Hilary Seton Offler, Empire and Papacy. The Last Struggle, in: Transactions of the Royal Historical Society, 5th series, 6 (1956), S. 21–47.

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einandersetzung zwischen dem in Avignon residierenden Papst Johannes XXII. (1316–1334) und dem römisch-deutschen König Ludwig (IV.) dem Bayern (1314–1347) über die Notwendigkeit einer päpstlichen Approbation der Königswahl fand ihren ersten Höhepunkt in der Exkommunikation des Königs durch den Papst verbunden mit dessen Weigerung, Ludwig als rechtmäßigen Herrscher anzuerkennen und zum Kaiser zu krönen. Im zweiten Höhepunkt des Konflikts ließ sich Ludwig IV., nun geleitet auch von seinem Berater Marsilius, 1328 in Rom ohne Papst zum Kaiser krönen, erließ danach ein Absetzungsurteil gegen Johannes XXII. und setzte schließlich selbst – allerdings ohne langen Bestand – einen Franziskaner als Nikolaus V. zum neuen Papst ein. Dem Anspruch auf päpstliche Vollgewalt (plenitudo potestatis) gegenüber allen Teilen der Kirche und auch gegenüber den weltlichen Herrschaften setzte Marsilius seine Lehre von den souveränen politischen Gemeinschaften entgegen. Allein deren jeweiliger populus, die Gemeinschaft ihrer Bürger (universitas civium), könne politische Befugnisse erteilen und legitimieren. Insbesondere die Gesetzgebung und die Einsetzung der Regierungen stünden vollständig und ausschließlich der Gemeinschaft der Bürger zu. Keine andere Instanz, insbesondere keine kirchliche, dürfe aus eigenem Recht politische Befugnisse besitzen. Von diesem Grundgedanken ausgehend ist Marsilius’ politische Theorie auf keine Verfassungsform festgelegt, sie kann im Einklang mit Republiken ebenso wie mit Königreichen und dem Sonderfall des römisch-deutschen Kaiserreichs stehen. Wie, vom wem oder wie oft die Regierungen bestimmt oder gewählt oder abgesetzt werden, wer in welchen Fällen an der Gesetzgebung beteiligt ist, sei eine Frage der in den politischen Gemeinschaften je unterschiedlichen Festlegungen oder Traditionen, von einer je eigenen Varietät von Übertragungen von politischen Befugnissen und Ermächtigungen, diese müssten jedoch immer auf die Einwilligungen der Gemeinschaft der Bürger zurückgeführt werden können. Seit der Entstehung des Christentums hätten sich im Lauf der Geschichte mehrere politische Gemeinschaften gebildet, deren Bürger und Regierungen in Marsilius’ Zeit (nahezu) vollständig aus Gläubigen bestehen. In diesen communitates fidelium iam perfectae, wie Marsilius sie nennt, seien Organisation und Ämterbesetzung der christlichen Kirchengemeinschaft daher politische Fragen, weil es sich bei Bürgern und Gläubigen innerhalb eines vollkommenen und christlichen Gemeinwesens um denselben Personenkreis handele.5 Eine autonome Selbstorganisation der Kirche ist danach obsolet und im Widerspruch zur Zuständigkeit der Gemeinschaft der gläubigen Bürger. Die Regierungen der einzelnen politischen Gemeinschaften sollen zuständig sein für die Organisation und Ämterbesetzungen in ihren jeweiligen Teil-Kirchen. Die universalen kirchlichen Instanzen, der Papst und das Generalkonzils, sollen vom römisch-deut5 DP II, 17, §§ 8 und 9, hrsg. Scholz (wie Anm. 1), S. 362–363.

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schen Kaiser ernannt und einberufen werden, dem allein die zwingende Gewalt (coactiva potestas) zur Wahrung der Glaubenseinheit der Christen zugeschrieben wird. Die drei ausgewählten deutschen Wissenschaftler unterscheiden sich in Fachzugehörigkeit, Lebensalter, Reputation und innerer Nähe zum Nationalsozialismus und ebenso in ihrer Interpretation des Defensor pacis. Was erfahren wir über Marsilius’ politisches Denken, das uns – ausgerechnet – die Interpretation während des Dritten Reichs lehren kann?6

II. Wilhelm Schneider-Windmüller (1908–1969) wurde 1929 an der Universität Freiburg im Fach Philosophie promoviert. Seine Dissertation, die von dem katholischen Philosophen Martin Honecker betreut worden ist, handelt über „Die Quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin in ihrer philosophiegeschichtlichen Beziehung zu Augustinus“.7 Er war 24 Jahre alt, als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde. Zu dieser Zeit arbeitete er als Dozent an der Pädagogischen Akademie Bonn, die schon bald vom nationalsozialistischen Kultusminister Preußens in Hochschule für Lehrerbildung umbenannt wurde. Am 1. Mai 1933 wurde er, wie so viele andere Deutsche, die sich bereits in den ersten Monaten des Dritten Reichs darum beworben hatten, als Mitglied in die NSDAP aufgenommen.8 Für die neue nationalsozialistische Regierung hatte die Ausbildung von Volksschullehrern eine hohe politische Bedeutung, und während des Dritten Reichs war der Anteil von Mitgliedern des NSDAP unter den Professoren und Dozenten höher als an anderen staatlichen Einrichtungen.9

6 Frühere Versionen dieses Essays habe ich auf dem International Medieval Congress in Leeds 2017 und auf der internationalen Konferenz „Marsilius of Padua between History, Philosophy and Politics“ in Leuven 2018 vorgestellt. 7 Ein Jahr später unter demselben Titel gedruckt, Wilhelm Schneider, Die Quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin in ihrer philosophiegeschichtlichen Beziehung zu Augustinus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen 27/3), Münster 1930. Im Laufe der folgenden drei Jahre hat er seinem Namen den Mädchennamen seiner Mutter hinzugefügt, Universitätsarchiv Bonn, MNF-Prom 172 (Akte der späteren Promotion in Chemie, s. u.). 8 Berlin, Bundesarchiv (BArch), R 9361-IX Kartei / 38920163 (NSDAP-Gaukartei); R 9361-VIII Kartei / 20471255 (NSDAP-Zentralkartei). 9 Alexander Hesse, Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 90–92. In Hesses Personenverzeichnis der hauptamtlich Lehrenden fehlt Schneider-Windmüller allerdings, wohl weil er keine volle Stelle besaß.

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1934 publizierte Schneider-Windmüller seine Abhandlung über „Staat und Kirche im Defensor Pacis des Marsilius von Padua“,10 die er jedoch bereits 1931 verfasst hatte, worauf er im Vorwort eigens hinweist. Im Druck erschien sie jedoch unverändert, nicht einmal die Bibliographie war aktualisiert worden: Als Ausgabe des Defensor pacis führte Schneider-Windmüller lediglich die Edition des Engländers Charles Previté-Orton von 1928 auf, obwohl inzwischen der Deutsche Richard Scholz seine zweibändige kritische Edition des Werkes in den Jahren 1932 und 1933 vorgelegt hatte.11 Im Vorwort von 1934 stellt er nun, ganz im sprachlichen Duktus der neuen Zeit, eine Verbindung zwischen Marsilius’ politischer Theorie und der Politik des beginnenden Dritten Reichs her: Wenn der Verfasser sich jetzt zur Herausgabe entschloß, so geschah dies, weil ähnliche Gedanken, besonders auch über das Verhältnis von Staat und Kirche, heute wieder lebendig geworden sind. Eine einheitliche und zielbewusste Staatsführung, wie sie auch Marsilius trotz seines demokratischen Standpunkts verlangt, haben wir ja seit der nationalsozialistischen Revolution endlich erhalten. Die Rückführung der Kirchen auf die eigentlichen kirchlichen Belange hat der Nationalsozialismus ja nun auch bewirkt. Es ist dies schon eine Hauptsorge des Marsilius gewesen. Bezüglich der Stellung des Klerus im Staate hat Marsilius die Grenzen viel enger gezogen, als es heute der Fall ist.12

Schneider-Windmüller zieht hier im Zusammenhang mit der Frage nach dem rechten Verhältnis von Staat und Kirche zwei Verbindungen zwischen der nationalsozialistischen Regierung und dem mittelalterlichen Philosophen. Die eine Verbindungslinie ist die „Einheitlichkeit“ der Regierung, für die sich SchneiderWindmüller offenbar auf Marsilius’ Forderung nach unitas der obersten Regierungsgewalt beziehen will.13 Die Forderung, dass es nur eine einzige oberste Regierungsgewalt in einer politischen Gemeinschaft geben dürfe, ist eine zentrale Aussage in Marsilius’ „Verteidiger des Friedens“, womit er sich gegen jede beanspruchte oder verwirklichte Beteiligung an der weltlichen Regierung vor allem durch die Kirche oder den Papst wendet. In Schneider-Windmüllers Adaption erscheint diese unitas als „einheitliche und zielbewusste Staatsführung“, die sich allerdings vielmehr auf seine nationalsozialistischen Gegenwart mit dem „Führerprinzip“ und der „Gleichschaltung“ aller staatlichen Ebenen und der politischen Willensbildung bezieht. Dies 10 Wilhelm Schneider-Windmüller, Staat und Kirche im Defensor Pacis des Marsilius von Padua, Bonn 1934. 11 Das bemerkte in seiner Rezension bereits Ernst Wolf, Neuere Arbeiten zur Kirchengeschichte des Mittelalters (Schluß), in: Theologische Rundschau, Neue Folge 10 (1938), S. 221– 242, hier S. 240, Anm. 3. 12 Schneider-Windmüller, Staat und Kirche (wie Anm. 10), Vorwort, S. 3. 13 DP I, 17, hrsg. Scholz (wie Anm. 1), S. 112–121. Das Thema ist Marsilius wichtig genug, um es in der Auflistung der wichtigsten Ergebnisse seines Nachdenkens am Ende des Werkes noch einmal zu betonen, DP III, 2, § 11, hrsg. Scholz (wie Anm. 1), S. 605.

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scheint auch ihm zunächst im Widerspruch zu Marsilius’ „demokratischem Standpunkt“ zu stehen, letztendlich will er es aber doch damit vereinbar wissen. Die Auflösung dieses Widerspruchs erreicht er, indem er die nationalsozialistische Machtübernahme als „Revolution“ charakterisiert. Der Begriff der „legalen Revolution“ bezeichnete offiziell den 1934 abgeschlossenen, in Etappen vollzogenen Prozess der Machtkonzentration bei der neuen Reichsregierung, die durch Übertragungen nahezu aller politischen Kompetenzen der Reichs- und Länderebene auf die Reichsführung erreicht wurde. Die zweite Verbindungslinie ist die „Rückführung der Kirchen auf die eigentlichen kirchlichen Belange“. Schneider-Windmüller thematisiert nun die ersten Maßnahmen der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, vor allem mit Blick auf die katholische Kirche.14 Im Juli 1933 schloss der Heilige Stuhl nach vorangegangenen Verträgen mit Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) schließlich auch auf der Ebene des Reichs ein Konkordat, das bis heute kontrovers bewertet wird.15 Die nationalsozialistische Regierung erreichte mit diesem Vertragsabschluss, den politischen Einfluss der katholischen Kirche zu eliminieren, indem Priestern und Ordensleuten die Mitgliedschaft in Parteien verboten und alle kirchlichen Organisationen auf allein religiöse Aufgaben beschränkt wurden, während die katholische Kirche ihr Eigentum und ihre Unabhängigkeit von staatlicher Einflussnahme auf ihre innere Organisation und Personalangelegenheiten sichern wollte.16 Dagegen wendet sich Schneider-Windmüller: „Bezüglich der Stellung des Klerus im Staate“ bliebe die nationalsozialistische Kirchenpolitik hinter den Forderungen des Marsilius von Padua zurück. Demgegenüber fordert er eine konsequentere Unterordnung der Kirchen unter den Staat. Die Orientierung dafür könne der mittelalterliche Philosoph geben: Eines scheint mir auch für unsere Zeit aus seinen Erörterungen sehr beachtenswert, dass es doch die gleichen Menschen sind, die als Staatsvolk und als Kirchenvolk zusammengefaßt sind. Wenn deshalb das Wohl des Volkes höchstes Ziel der Staatslenker sein soll, so kann auch die Kirche kein anderes Ziel haben, als zum Wohl des Volkes zu wirken. Im einzelnen bestehen natürlich starke Unterschiede zwischen der Zeit des 14 Die meisten Darstellungen und Untersuchungen beschränken sich auf nur eine Konfession. Die beiden in Deutschland vorherrschenden Kirchen werden gemeinsam dargestellt von Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977; Olaf Blaschke, Die Kirchen und der Nationalsozialismus (Reclams Universalbibliothek, 19211), Stuttgart 2014; Christoph Strohm, Die Kirchen im Dritten Reich (C. H. Beck Wissen), 2., durchgesehene Auflage, München 2017. 15 Vgl. Scholder, Kirchen (wie Anm. 14), S. 482–524; Hubert Wolf, Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich, 2., durchgesehene Auflage, München 2009, S. 172– 203. 16 Blaschke, Kirchen (wie Anm. 14), S. 96–97.

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Marsilius von Padua und unserer heutigen Zeit. Aber beide sind Zeiten geistigen Aufbruchs und geistiger Neuorientierung. So lohnt es sich schon, einmal nach verwandten Gedanken zu suchen. Bonn, 30. Januar 1934!17

Mit dem Datum des Jahrestages der „Machtergreifung“ ist dies der kühne Aufruf eines jungen Dozenten, einen mittelalterlichen Denker zur Korrektur der als unzulänglich empfundenen Kirchenpolitik der NS-Regierung zu empfehlen. Aber dann folgt der unveränderte Text der Abhandlung von 1931. Und darin ist, anders als man nach dem schneidigen Vorwort erwarten muss, keine Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Ideologie zu erkennen. Unerwartet ist auch, dass Schneider-Windmüller nicht einmal Zustimmung zu Marsilius’ Forderung einer untergeordneten Stellung der Kirche in den politischen Gemeinschaften zeigt. Seine Schlussfolgerung aus seiner eigenen Studie erscheint vielmehr widerstrebend: „Nach den bisherigen Ausführungen scheint Marsilius die Kirche völlig dem Staate unterzuordnen. Aber er vertritt doch keine völlige Unterwerfung der Kirche unter die Oberhoheit des Staates.“18 Für die Zurückweisung einer „völligen Unterwerfung der Kirche“ zieht Schneider-Windmüller in seiner Abhandlung wie im Vorwort Marsilius’ Grundgedanken von der Identität von Bürgern und Gläubigen in der communitas fidelium perfecta heran. Ganz anders als im Vorwort heißt es in der Studie jedoch: „So ist das Verhältnis von Staat und Kirche bei Marsilius in letzter Linie bestimmt durch seine Lehre vom souveränen demokratischen Staat und durch seinen demokratischen Kirchenbegriff.“19 Die unterschiedlichen Aussagen im Vorwort und der eigentlichen Abhandlung werfen Fragen auf. War Schneider-Windmüller seit der „Machtergreifung“ ein überzeugter Nazi oder gab er nur vor, einer zu sein? In jeden Fall wurde Schneider-Windmüller im Juli 1934 wahrscheinlich wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ als Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung Bonn entlassen.20 Eine große Anzahl von Professoren und Dozenten dieser Institutionen im ganzen Reich wurde in der Anfangszeit des Dritten Reiches entlassen, viele von ihnen auch neue Mitglieder der NSDAP seit dem 1. Mai 1933. Schneider-Windmüller 17 18 19 20

Schneider-Windmüller, Staat und Kirche (wie Anm. 10), Vorwort, S. 3. Schneider-Windmüller, Staat und Kirche (wie Anm. 10), S. 29. Ebd., S. 32. Mit der Entscheidung der Spruchkammer vom 23. August 1947 wurde Schneider-Windmüller milde als Mitläufer eingestuft und zu einer Geldstrafe von 360 Reichsmark verurteilt. Der frühere Direktor der Pädagogischen Akademie Bonn, Professor Georg Raederscheidt, der aus politischen Gründen selbst als Direktor abgesetzt worden war, hatte in einem Schreiben vom 10. April 1947 an die Spruchkammer erklärt, Schneider-Windmüller sei aus den gleichen Gründen im Juli 1934 entlassen worden, Landesarchiv Baden-Württemberg, Abteilung Staatsarchiv Freiburg, D 180/2, Nr. 210406. Zu Raederscheidt vgl. Hesse, Professoren (wie Anm. 9), S. 593–595.

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beendete sofort die Zahlung seiner Mitgliedsbeiträge und wurde im August 1934 offiziell aus der Partei ausgeschlossen.21 Sein Beitritt zur NSDAP und seine Identifizierung auf der Titelseite seines Marsilius-Buches als Dozent an der Hochschule für Lehrerbildung Bonn könnten auch zur Selbstdarstellung als politischer zuverlässiger Volksschullehrerdozent gedient haben. Das würde auch erklären, warum er unter dem Druck der drohenden Personalentscheidungen ein anbiederndes Vorwort verfasste, und ebenso, warum er eine gründliche Überarbeitung des Textes im nationalsozialistischen Sinne entweder aus echter Überzeugung unterlassen wollte oder aus Zeitmangel unterlassen musste. Welchen Unterschied macht es, ob Schneider-Windmüllers Vorwort von 1934 eine echte, neu erworbene Überzeugung darstellte oder nur ein nationalsozialistisches Engagement vortäuschte? Kaum einen, meine ich. Im ersten Fall war Schneider-Windmüller damals überzeugt gewesen, dass Marsilius so interpretiert werden sollte. Und im zweiten Fall muss er die Aussagen seines Vorworts, auch die, die offenkundig seiner Abhandlung widersprachen, zumindest als eine unter den Umständen des nationalsozialistischen Deutschlands ebenfalls mögliche Interpretation des Defensor pacis angesehen haben. Für seine berufliche Stellung hat es ihm nicht geholfen. Nun arbeitslos begann er ein neues Studium. Dieses Mal ein Fach, das eher geeignet war, den Lebensunterhalt zu sichern: Chemie. Nach dem Abschluss, als er eine neue Stellung brauchte, hat er allerdings die Wiederaufnahme in die NSDAP beantragt, die ihm nach Begleichung der aufgelaufenen Mitgliedsbeiträge seit Juni 1934 am 22. Januar 1937 auch gewährt wurde.22 Unter widrigen Umständen erhielt er den zweiten Doktorgrad erst 1943.23 Nach praktischen Tätigkeiten als Chemiker lehrte er in Freiburg im Breisgau nochmals an einer Pädagogischen Hochschule, diesmal Naturwissenschaften.24 Weitere Publikationen zu Marsilius von Padua oder im Bereich der Philosophie legte Schneider-Windmüller nicht mehr vor. Er starb 1969 mit 61 Jahren.25

21 BArch R 9361 II – 1125817. 22 Ebd. 23 Wilhelm Schneider-Windmüller, Beitrag zur Kenntnis reaktionsträger Carbonylgruppen, Diss., Math.-naturwiss. F., Bonn 1943. 24 Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1968, hrsg. Pädagogische Hochschule Freiburg/Br. [o. O und o. J.], Verzeichnis der hauptamtlichen Professoren und Dozenten, S. 5. 25 Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft, hrsg. Görres-Gesellschaft, Köln 1970, S. 52 verzeichnet zum Jahr 1969 seinen Tod.

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III. Richard Scholz (1872–1946), einer der renommiertesten Marsilius-Kenner, war bereits 61 Jahre alt, als die Nationalsozialisten an die Macht kamen. Bis zu seinem Ruhestand 1937 arbeitete er an der Universität Leipzig als Bibliothekar und außerordentlicher Professor. Bevor er die zwei Bände seiner kritischen Edition des Defensor pacis 1932 und 1933 veröffentlichte, hatte er bereits 1903 eine Monografie über die „Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII.“ und 1914 – nach zwei Jahren Forschung als Stipendiat des Preußischen Historischen Instituts in Rom – sein zweibändiges Werk über „Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern“ mit zahlreichen Editionen publiziert.26 Viele Aufsätze in diesem Forschungsfeld folgten, besonders zur Zeit Kaiser Ludwigs des Bayern. Anders als Wilhelm Schneider-Windmüller war Scholz nie Mitglied der NSDAP.27 Aber er hat gemein mit Schneider-Windmüller, dass er ebenfalls als einer von etwa 900 Unterzeichnern einer Sammlung von Texten auftrat, die unter dem Titel „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ publiziert wurden.28 Die Texte dieser Broschüre gehen zurück auf eine Versammlung deutscher Professoren und Dozenten an der Universität Leipzig am Vortag der Volksabstimmung über Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund, die am 12. November 1933 gemeinsam mit der Reichstagswahl abgehalten wurde. Darin enthalten sind ein Manifest mit dem Titel „Ruf an die Gebildeten der Welt“ und der Abdruck der Reden einer Reihe prominenter Professoren, darunter der Philosoph Martin Heidegger und der Mediziner Ferdinand Sauerbruch, die auf der Leipziger Versammlung gehalten worden waren. Die Veröffentlichung richtete sich an Wissenschaftler und Professoren im Ausland und sollte die Politik der nationalsozialistischen Regierung in dieser Frage erklären und unterstützen. Dafür wurden alle Texte ins Englische, Spanische, Französische und Italienische 26 Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz’ VIII. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Anschauungen des Mittelalters (Kirchenrechtliche Abhandlungen, 6/8), Stuttgart 1903; Ders., Unbekannte kirchenpolitische Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern (1327–1345), Bd. 1: Analysen, Bd. 2: Texte (Bibliothek des KöniglichPreussischen Historischen Instituts in Rom, 9–10), Rom 1911–1914. 27 Ein Nachweis über eine Mitgliedschaft findet sich weder in der Zentralkartei noch in der entsprechenden Gaukartei der NSDAP. Das könnte daran liegen, dass – wie in vielen anderen Fällen – ein Verlust vorliegt. Jedoch hat Scholz in einem zu einer Korrespondenz gehörigen Formular keinen Eintrag bei der Frage nach einer NSDAP-Mitgliedschaft gemacht, die in diesem Zusammenhang vorteilhaft, ihr Verschweigen aber verdächtig gewesen wäre, BArch R 4910–13276. 28 Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat, überreicht von Nationalsozialistischen Lehrerbund/Sachsen, Dresden 1933, S. 129 (Schneider-Windmüller), S. 136 (Scholz).

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übersetzt. Am Ende folgte die nach Hochschulen gegliederte Namensliste der Unterzeichner. In Scholz’ wissenschaftlichen Publikationen bis 1933 und einige Zeit danach deutet noch nichts darauf hin, dass er Sympathie für den Nationalsozialismus empfand. In späterer Zeit jedoch zeigten seine Veröffentlichungen eine Annäherung an Teile der nationalsozialistischen Ideologie. Diese wenig bekannte Tatsache wurde in einen Nachruf auf Scholz, welcher von dem renommierten Mediävisten Hermann Heimpel verfasste wurde,29 nach dem Krieg geradezu verschleiert.30 Heimpel erklärt darin, dass sich Scholz mit der Zeit Ludwigs des Bayern und Marsilius von Padua „bis an die Schwelle des zweiten Weltkrieges“ beschäftigt habe,31 womit gesagt ist: nicht länger als bis zum Ausbruch des Krieges. Heimpels unscheinbare Aussage ist jedoch nicht zutreffend. Scholz publizierte auch noch nach dem Beginn des Weltkriegs zur Zeit Ludwigs des Bayern, darunter zwei Editionen von Traktaten von Konrad von Megenberg und Wilhelm von Ockham in den Jahren 1941 und 1944.32 Von größerer Bedeutung im Hinblick auf Heimpels Nachruf sind jedoch die Aufsätze, die Scholz für die erst 1938 gegründete nationalsozialistisch ausgerichtete Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft verfasste. Heimpel wusste davon, er selbst schrieb den ersten Beitrag.33 Im Geleitwort der Herausgeber heißt es, dass sich die Träger der neuen Zeitschrift „zutiefst mit der neuen deutschen Wirklichkeit des geeinten Volkes und des wiedererstandenen Reiches verbunden wissen und von dort her alle entscheidenden Antriebe ihrer Arbeit empfangen“.34 Ihr Inhalt sollte aus den „Kerngebieten des deutschen Geisteslebens“ bestehen: „Geschichte und Dichtungsgeschichte, Philosophie, Kunst und Musik, Volkskunde und Rassenkunde werden im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stehen.“35 Bis zur kriegsbedingten Einstellung der Zeitschrift 1944 veröffentlichte Scholz drei Beiträge, der erste von 1938 befasste sich besonders auch mit Marsilius von Padua: „Politische und weltanschauliche Kämpfe um den Reichsgedanken am

29 Heimpel war von 1934 bis 1941 als ordentlicher Professor ebenfalls in Leipzig. 30 Hermann Heimpel, Nachruf Richard Scholz, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 264–266. 31 Ebd., S. 265. 32 Konrad von Megenberg, Planctus ecclesiae in Germaniam, bearb. Richard Scholz (MGH C 2: Staatsschriften des späteren Mittelalters, II/1), Leipzig 1941; Richard Scholz, Wilhelm von Ockham als politischer Denker und sein Breviloquium de principatu tyrannico (Schriften des Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde, 8), Leipzig 1944. 33 Hermann Heimpel, Das erste Reich. Schicksal und Anfang, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 1 (1938/39), S. 3–25. 34 Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 1 (1938/39), Zum Geleit, S. 2. 35 Ebd., S. 1. Neben einigen Beiträgen zur Volkskunde erschien zur „Rassenkunde“ nur einmal ein Literaturbericht, im selben, ersten Jahrgangsband, S. 556–562: Hans Kleiner, Erb- und Rassenkunde.

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Hofe Ludwigs des Bayern“.36 In diesem Aufsatz will Scholz den Wechsel vom herkömmlichen Narrativ der Zeit Ludwigs des Bayern „Kaiser und Papst“ zu einem neuen, nämlich „Kaiser und Reich“, vollziehen.37 Nun davon ausgehend, dass das römisch-deutsche Kaiserreich keineswegs das politische Ideal des Marsilius sei, präsentiert Scholz hier die wohl früheste Version der generischen Auslegung der politischen Theorie des Marsilius. Diese könne ebenso auf andere politische Gemeinschaften als das Kaiserreich angewandt werden, sogar auf nichtchristliche Staaten. Worauf es ankomme, sei die „Idee des autonomen, autoritären Staates“.38 Das, was vielen bei Marsilius als Volkssouveränität erscheine, und auch seine „‚demokratischen‘ Gedanken“ vertrügen sich, so Scholz, „im Ganzen des Systems doch sehr gut mit der Idee des autoritären Führerstaats“, sei es „unter einem allmächtigen römischen Kaiser oder auch einer Stadtherrschaft nach Art der italienischen Signorien.“39 Marsilius’ Lehre über das Verhältnis von Staat und Kirche bezeichnet Scholz als „Staatskirchentum“,40 er vertritt jedoch die Auffassung, dass wohl manche der kirchenpolitischen Maßnahmen Kaiser Ludwigs, die von der Forschung in Marsilius’ Sinne verstanden wurden, durchaus ohne einen Einfluss des Defensor pacis erklärt werden können, nämlich „als Wiederaufnahme der salisch-staufischen Kirchenpolitik, d. h. jenes ursprünglich deutschen Staatskirchentums, wie es in den ältesten germanischen Rechtsanschauungen über das Verhältnis von Kirchlichem und Weltlichem schon vorhanden zu sein scheint.“41 Auch Scholz zog also einige Linien zwischen Marsilius und dem Deutschen Reich seiner Gegenwart, vor allem hinsichtlich der von ihm nun offenkundig begrüßten autoritären Herrschaftsform. Anders als Schneider-Windmüller sprach er jedoch keine Empfehlungen für die nationalsozialistische Regierung hinsichtlich ihrer Kirchenpolitik aus. Über Schneider-Windmüllers „kleine Arbeit“ schreibt Scholz 1937 in der Historischen Zeitschrift, sie sei „doch nur ein bescheidener Beitrag, der dem historischen Problem nicht Genüge tun kann, so dankenswert der Versuch ist, lebendige Verbindungslinien zu ziehen zu den Bedürfnissen und Anschauungen

36 Richard Scholz, Politische und weltanschauliche Kämpfe um den Reichsgedanken am Hofe Ludwigs des Bayern, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 1 (1938/39), S. 298–316. Die beiden anderen Beiträge: Germanischer und römischer Kaisergedanke im Mittelalter, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 3 (1940/41), S. 116–142; Weltstaat und Staatenwelt in der Anschauung des Mittelalters, in: Zeitschrift für deutsche Geisteswissenschaft 4 (1941/42), S. 82–100. 37 Scholz, Politische und weltanschauliche Kämpfe (wie Anm. 36), S. 298. 38 Ebd., S. 301. 39 Ebd. 40 Ebd., S. 302. 41 Ebd., S. 303.

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der Gegenwart.“42 Die Anpassung an den herrschenden Zeitgeist, die Scholz bei seiner Interpretation der politischen Theorie des Marsilius bis spätestens 1938 vollzog, zeigt sich auch im Vergleich mit früheren Aussagen. In seinem Aufsatz über „Marsilius von Padua und die Idee der Demokratie“ von 1908 heißt es noch: „Es ist bekanntlich eine Demokratie mit monarchischer Spitze, die Marsilius als politisches Ideal vorschwebt.“43 Seine Theorie von der politischen Gemeinschaft sei „eine konsequent durchgeführte, demokratische Konstruktion, die Volkssouveränitätslehre mit ihren äußersten Konsequenzen.“44 Im Jahr 1942, mitten im Weltkrieg, nahm Scholz an der ersten MarsiliusKonferenz teil, die anlässlich des 600. Todestages des Philosophen von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Padua organisiert wurde. Scholz, der bei dieser Konferenz von der Universität Padua mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet wurde, war der einzige Nicht-Italiener. In seinem Vortrag über „Marsilius von Padua und Deutschland“ betont Scholz die seit Jahrhunderten bestehende „Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Deutschland und Italien und verweist auf die Bedeutung, die das „germanische Blut“ für den „Aufbau des italienischen Volkes“ seit dem vierten Jahrhundert gehabt habe.45 Auf Kaiser Ludwig den Bayern habe der Italiener Marsilius und sein Defensor pacis vor allem während des Romzugs und bei den großen Fragen zum Kaisertum und Papsttum Einfluss gehabt.46 Differenziert stellt Scholz dann die schwindende Bedeutung des Philosophen in den letzten Regierungsjahren des Kaisers in Deutschland dar und gibt Ausblicke auf die Wirkung des Defensor pacis in den folgenden Jahrhunderten.47 Wenn auch im Ton zurückhaltender als SchneiderWindmüller und nur in Andeutungen zieht auch Scholz in seinem Resümee die Verbindung von Marsilius zu seiner eigenen Zeit: „ [A]uch heute noch kann er Erkenntnis geben über staatliche Autorität, über Bewahrung des Staats vor schädlichen Kräften und die Scheidung dessen, was dem Staate gebührt, von dem Nichtstaatlichen.“48 Offenbar bekennt sich Scholz hier nicht nur zum autoritären Staat, sondern auch zur Unterordnung der Kirchen unter diesen.

42 Richard Scholz, Marsilius von Padua und die Genesis des modernen Staatsbewußtseins, in: Historische Zeitschrift 156 (1937), S. 88–105, hier S. 93. 43 Ders., Marsilius von Padua und die Idee der Demokratie, in: Zeitschrift für Politik 1 (1908), S. 61–94, hier S. 68. 44 Ebd., S. 71. 45 Richard Scholz, Marsilius von Padua und Deutschland, in: Marsilio da Padova. Studi raccolti nel VI centenario della morte, a cura di professori Aldo Checcini e Norberto Bobbio, Padua 1942, S. 3–35, hier S. 3. 46 Ebd., bes. S. 10–11. 47 Ebd., S. 11–32. 48 Ebd., S. 35.

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IV. Friedrich Bock (1890–1963) war 43 Jahre alt, als Hitler Reichskanzler wurde. Nach einigen Jahren als Lehrer an einer Volksschule hatte er 1925 eine Dissertation über das von Kaiser Ludwig dem Bayern gegründete Kloster Ettal abgeschlossen.49 Danach arbeitete er als Lehrer am Reformrealgymnasium in Falkensee bei Berlin, wo er bald zum Schulleiter befördert wurde. Etwa zur gleichen Zeit begann er im Auftrag der Monumenta Germaniae Historica an der Edition der Constitutiones Kaiser Ludwigs des Bayern für die Jahre seit 1331 zu arbeiten. Publiziert wurde von ihm jedoch wegen späterer Auseinandersetzungen mit verschiedenen Präsidenten der Monumenta kein einziger Band.50 Bock wurde, wie SchneiderWindmüller, am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP.51 Unter den hier behandelten Wissenschaftlern war Bock derjenige mit der stärksten nationalsozialistischen Überzeugung. Im Oktober 1933 siedelte Bock nach Rom um, wo er als Zweiter Sekretär das Preußische Historische Institut, das vier Jahre später in Deutsches Historisches Institut umbenannt wurde, praktisch leitete. Er war für das Tagesgeschäft des Instituts verantwortlich, da der Direktor des Instituts, zu dieser Zeit Paul Fridolin Kehr, in Personalunion Präsident der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica war und in Berlin residierte.52 Seine Forschungen, oft auf Beständen des Vatikanischen Archivs und italienischer Archive beruhend, konzentrierte Bock auf die politische und Verwaltungsgeschichte der Päpste und Italiens zur Zeit Ludwigs des Bayern.53 Aus diesem Bereich entstand eine Serie von Zeitschriftenaufsätzen, die in Bocks umfassender Monografie von 1943 eine Zusammenfassung erfuhren: „Reichsidee und Nationalstaaten. Vom Untergang des alten Reiches bis zur Kündigung 49 Gedruckt als Friedrich Bock, Die Gründung des Klosters Ettal. Ein quellenkritischer Beitrag zur Geschichte Ludwigs des Bayern, in: Oberbayerisches Archiv 66 (1929), S. 1–116. Vgl. zur Biografie auch die offenherzige Darstellung von Gottfried Opitz, Nachruf Friedrich Bock, in: Historische Zeitschrift 201 (1965), S. 522–524. 50 Erst viel später wurden die ersten Dokumente Kaiser Ludwigs aus dieser Zeit von Ruth Bork, die in Ost-Berlin für den DDR-Zweig der Monumenta arbeitete, im Jahr des Mauerfalls 1989 publiziert, vgl. Eckhard Müller-Mertens, Nachruf Ruth Bork, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 47 (1991), S. 373. 51 BArch R 9361-IX Kartei / 3351387 (NSDAP Gaukartei); R 9361-VIII Kartei / 2890811 (NSDAP Zentralkartei). 52 Zur Institutsgeschichte während Bocks Amtszeit vgl. knapp Walther Holtzmann, Das Deutsche Historische Institut in Rom, in: Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westphalen. Geisteswissenschaften, Heft 46 (1955), S. 7–43, hier S. 32–33; Reinhard Elze, Das Deutsche Historische Institut in Rom. 1888–1988, in: Das Deutsche Historische Institut in Rom. 1888–1988, hrsg. Ders. und Arnold Esch, Tübingen 1990, S. 1–31, hier S. 19–21. 53 Vgl. auch Gerd Tellenbach, Nachruf Friedrich Bock, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 42/43 (1963), S. XI.

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des deutsch-englischen Bündnisses im Jahre 1341“.54 Mit diesem Buch unternahm Bock eine Gesamtdeutung der politischen Geschichte des römisch-deutschen Reichs dieser Zeit im europäischen Kontext. Im Hinblick auf die Zeit und Politik Ludwigs des Bayern bezieht Bock sich bei verschiedenen Anlässen auch auf Marsilius von Padua. Allerdings beurteilt er den Einfluss des Marsilius auf die Politik des Kaisers als nur gering. Den Kaiser stellt Bock, anders als die Forschung vor ihm, nicht länger als schwachen und beeinflussbaren Herrscher dar, sondern im Gegenteil als willensstark und umsichtig.55 Der zentrale Gedanke der Monografie ist Bocks Auffassung von einer Expansionspolitik der französischen Könige gegenüber dem römisch-deutschen Reich, bei der die Päpste als williges Werkzeug gedient hätten. Nach Bocks Ansicht von diesem mittelalterlichen Kampf zwischen Frankreich einerseits und Deutschland und dem ghibellinischen Italien andererseits – die sicher auch in lebendiger Verbindung zu seiner eigenen Zeit steht – stand Marsilius zwar auf der Seite Deutschlands und Reichsitaliens, sei für den Kaiser aber nur von geringem Nutzen gewesen. Marsilius erscheint zudem als ein bloßer Vertreter der sogenannten ghibellinischen Staatstheorie, die Bock, trotz der Bedeutung für sein Narrativ, nie expliziert.56 Lediglich als eine Theorie des politisch autonomen Staates, der vor allem von der Kirche unabhängig sein will, und deren Herkunft in Sizilien zur Zeit der Staufer läge, stellt er sie uns vor.57 Die umfassende politische Theorie des Marsilius, die besonders auch eine politisch begründete Ekklesiologie enthält, interessiert Bock nicht, wie er selbst ausdrücklich sagt.58 Er spielt die Rolle von Marsilius aus zwei Gründen herab: Zum einen will er Geschichte als Kampf der Völker und Mächte schreiben. Die universalen Themen, die Marsilius dagegen in seinen Schriften vor allem angesprochen hat, verlieren dadurch an Bedeutung. Zum anderen will er Ludwig den Bayern als entschlossenen Anführer darstellen, der mit der ghibellinischen Staatstheorie vertraut ist und danach handelt. Eine Beratung durch Marsilius von Padua erscheint daher unnötig und im Widerspruch zur postulierten autonomen Herrscherpersönlichkeit. So zieht der aktivste Nationalsozialist der drei hier behandelten deutschen Geisteswissenschaftler die dünnste Verbindungslinie zwischen Marsilius und Deutschland, was sowohl die Zeit Kaiser Ludwigs IV. als auch die eigene Zeit des Nationalsozialismus betrifft. 54 Friedrich Bock, Reichsidee und Nationalstaaten. Vom Untergang des alten Reiches bis zur Kündigung des deutsch-englischen Bündnisses im Jahre 1341, München 1943. 55 Ganz ähnlich ausgerichtet und mit nationalem Pathos ein Jahr zuvor Karl Wimmer, Kaiser Ludwig der Bayer im Kampfe um das Reich, München 1942. 56 Bock, Reichsidee (wie Anm. 54), S. 239–241. 57 Ebd., S. 147–150. 58 Ebd., S. 239.

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Nach dem Krieg wurde Bock denazifiziert und verlor seine Stellung. Als Privatgelehrter wandte er sich nun der Regionalgeschichte vor allem im Bereich Niedersachsen zu. Unter den wenigen Publikationen zu seinen alten Forschungsinteressen ist ein kurzer Beitrag von 1960 über die neu erschienene Literatur zu Kaiser Ludwig dem Bayern.59 Darin verteidigt er zum letzten Mal entschieden die Thesen seiner Monografie von 1943. Bocks Monografie fand eine interessante Rezension durch Richard Scholz, der kurz nach dem Krieg im Februar 1946 starb. Darin widerspricht Scholz Bock in jedem zentralen Punkt seines Buchs.60 In dieser letzten Publikation weist er Bocks Narrativ dieser Periode als eines Kampfes zwischen Völkern und weltlichen Mächten zurück zu Gunsten des älteren Paradigmas der Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Kaisertum. Zudem kehrt er zurück zu seinen früheren Überzeugungen von Marsilius’ Bedeutsamkeit als politischer Theoretiker und als wichtiger Berater Kaiser Ludwigs. Bock habe, hebt Scholz hervor, die Schrift des Marsilius von Padua „in ihrer Originalität und grundsätzlichen Bedeutung bei weitem nicht richtig gewürdigt.“61

V. Vor allem seit den Studien von Conal Condren und Cary Nederman hat sich die Einsicht verbreitet, dass Marsilius von Padua nicht eine bestimmte Verfassung oder Regierungsform favorisiert, sondern eine generische politische Theorie aufstellt.62 Aber auch Scholz wies bereits 1938 und 1942 darauf hin, dass die Grundsätze des Defensor pacis „auf die verschiedensten Verfassungsformen, auch in Deutschland, angewandt werden“ können.63 Ganz unterschiedlich verfasste politische Gemeinschaften können durch Marsilius’ Theorie legitimiert sein. Die Beschäftigung mit der Interpretation des Defensor pacis während des Dritten Reichs führt schließlich zu Fragen, die bisher kaum eine Rolle spielten. Wie entstehen verschiedene Verfassungen oder politische Systeme, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit mit der Theorie des Marsilius im Einklang stehen? 59 Friedrich Bock, Bemerkungen zur Beurteilung Kaiser Ludwigs IV. in der neueren Literatur, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 23 (1960), S. 115–127. 60 Richard Scholz (†), Rezension von: Friedrich Bock, Reichsidee (wie Anm. 48), in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 332–334. Wann diese postum veröffentlichte Rezension verfasst wurde, noch zur Zeit des Nationalsozialismus oder danach, konnte ich nicht feststellen. 61 Ebd., S. 334. 62 Condren, Democracy and the Defensor Pacis (wie Anm. 3); der Begriff „generic political theory“ bei Cary J. Nederman, Community and Consent. The Secular Political Theory of Marsiglio of Padua’s Defensor Pacis, Lanham 1995, bes. S. 19–21. 63 Scholz, Marsilius von Padua und Deutschland (wie Anm. 45), S. 34.

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Dafür spielt etwas eine zentrale Rolle, das in der bisherigen Forschung vermutlich unterschätzt wurde: die mannigfaltigen Übertragungen unterschiedlicher politischer Befugnisse von der Gemeinschaft der Bürger auf je verschiedene Institutionen der politischen Gemeinschaft, die der Verfassung eines Staates erst eine Form geben. Mit Marsilius’ Blick etwa auf das politische System des römischdeutschen Reichs im Spätmittelalter sind dafür zwei prominente Beispiele die Delegation der Befugnis, die oberste Regierung der politischen Gemeinschaft, nämlich den König und Kaiser, zu wählen, auf sieben Kurfürsten und die Delegation der Befugnis, Gesetze für die gesamte politische Gemeinschaft zu geben, an den Kaiser.64 Marsilius unterlässt es jedoch, diese für die Ausgestaltung einer politischen Verfassung zentralen Akte der Übertragungen von Befugnissen und Ermächtigungen zu erörtern. Wer genau, zu welcher Zeit, nach welchen Regeln welche Befugnisse in welchem Umfang übertragen hat und warum, erfährt man von Marsilius kaum. An diesem wichtigen Punkt bleibt Marsilius’ Theorie dunkel. Sind die Interpretationen des Defensor pacis von Schneider-Windmüller und Scholz gerechtfertigt, nach denen er auch das Konzept eines „Führerstaats“ umfassen und eine als nationalsozialistisch begriffene Kirchenpolitik begründen können soll? Die angebliche „legale Revolution“ der Anfangsphase des Dritten Reiches, die zu einer umfassenden Gleichschaltung des politischen Systems führte, scheint mit Marsilius’ Theorie der mannigfaltigen Delegationen politischer Kompetenzen im Einklang stehen zu können. Ein grundsätzlicher Unterschied ist jedoch der Grundsatz des Defensor pacis, nach dem jede verliehene politische Befugnis von der Gemeinschaft der Bürger widerrufen werden können muss. Dagegen ist es ein wesentliches Merkmal des nationalsozialistischen Staates, dass gerade dies ausgeschlossen werden muss – mit allen Mitteln, die dem totalitären Staat zu Gebote stehen. Zudem steht das einmal etablierte Führerprinzip dem selbst entgegen. Die omnikompetente und unbegrenzte politische Befugnis, die unwiderruflich an die Spitze des Staates übertragen worden ist, kann nur noch – in ungefährlichen Partikeln – von oben nach unten delegiert werden. Marsilius’ Forderung, dass die Kirche ein untergeordneter Teil der politischen Gemeinschaft sein muss, gilt nur für eine communitas fidelium perfecta, die aus einem gläubigen christlichen Volk und einer gläubigen christlichen pars principans besteht. Für das Dritte Reich trifft das nicht zu. Die Einheit der Kirche bestand seit der protestantischen Reformation in Deutschland nicht mehr, und eine nicht unerhebliche Minderheit hatte, insbesondere während des Dritten 64 Diese Delegation ist jedoch nicht notwendigerweise umfassend und die daraus entstehende Befugnis, Gesetze zu erlassen, besitzt die oberste Regierung in einem Gemeinwesen daher nicht notwendigerweise ausschließlich.

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Reichs, die Kirchen verlassen. Und da die nationalsozialistische Führung ein neues Heidentum propagierte und dem Christentum feindlich gegenüberstand, konnte sie, nach marsilianischen Maßstäben, ohnehin keine Autorität über die deutschen Kirchen haben. Diese waren vielmehr, wie die Kirche vor Konstantin, zur Autonomie verpflichtet und berechtigt. Es scheint jedoch, dass die Elastizität von Marsilius’ politischer Theorie, auf die Richard Scholz aufmerksam gemacht hat und die sich Wilhelm SchneiderWindmüller mehr oder weniger bewusst zunutze gemacht hat, nicht gegen eine nationalsozialistische Lesart immun war. Diese Fehlinterpretation seiner mittelalterlichen politischen Theorie in einer fernen und fremden Zukunft hatte Marsilius nicht voraussehen können.

Der Deutsche Orden

Udo Arnold

Konrad von Babenberg – vom Komtur zum Interimsmeister. Eine Deutschordens-Karriere in Zeiten des Umbruchs am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts

Die zweite Hälfte des 13. und die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts waren für den Deutschen Orden eine Zeit des Umbruchs, eine Zeit, die ihn zwang, sich räumlich wie ideologisch neu aufzustellen. Die vorherige Nähe zum staufischen Kaiserhaus endete mit dessen Aussterben, das Reich versank für die nächsten Jahrzehnte bis zu Rudolf von Habsburg in Kämpfen um die Führung. Aufgrund der vorangegangen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst hatten sich im Orden Parteiungen entwickelt, die mühsam wieder zusammengeführt werden mussten.1 Hinzu kam der Zerfall der Kreuzfahrerherrschaften im Heiligen Land, gipfelnd in dem Verlust Akkons 1291; das gesamte Deutschordenskontingent fand bei der Verteidigung der Stadt den Tod. Bereits zuvor hatten sich im Orden wiederum zwei Lager gebildet, deren geographische Pole Mittelmeerraum und Preußen hießen. Parallel zum Niedergang im Heiligen Land festigte der Orden seine Herrschaft in Preußen, so dass diese Region als Zentrum einschließlich Sitz des Hochmeisters tragfähig für die Zukunft des Ordens erschien. Exponent dieser Neuausrichtung war Konrad von Feuchtwangen, der aus seiner Laufbahn alle Regionen des Ordenseinsatzes aus eigener Anschauung kannte.2 Er hatte es 1 Vgl. Udo Arnold, Der Deutsche Orden zwischen Kaiser und Papst im 13. Jahrhundert, in: Die Ritterorden zwischen geistlicher und weltlicher Macht im Mittelalter, hrsg. Zenon Hubert Nowak (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 5), Torun´ 1990, S. 57–70. Abstand zu nehmen ist allerdings von meiner dortigen Darstellung eines Schismas in der Ordensleitung (S. 66f.), da es Wilhelm von Urenbach als Gegenhochmeister gegen Günther von Wüllersleben (1249–1252) und Poppo von Osterna (1252–1256) offenbar nicht gegeben hat; vgl. Hubert Houben, Der Deutsche Orden in Apulien (12.–15. Jahrhundert), in: Globale und internationale Aspekte in der Entwicklung des Deutschen Ordens. Vorträge der Tagung der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens in Würzburg 2016, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 82 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 18), Weimar 2019, S. 28–72, hier S. 55 mit Anm. 130; dazu demnächst ders., Kam es 1249 im Deutschen Orden zu einem Hochmeisterschisma?, in: Deutschordensforschung aus internationaler Perspektive (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 85), Weimar 2020 (im Satz). 2 Vgl. Udo Arnold, Konrad von Feuchtwangen, in: Preußenland 13 (1975), S. 2–34; polnisch: Konrad von Feuchtwangen, in: Udo Arnold, Zakon krzyz˙acki z Ziemi S´wie˛tej nad Bałtyk, Torun´ 1996,

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verstanden, ein preußenorientiertes Netzwerk aufzubauen, das in Opposition zum amtieren Hochmeister Burkhard von Schwanden (1283–1290) stand und nicht bereit war, jenen bei der Verteidigung Akkons zu unterstützen. Das Ergebnis war der Rücktritt Schwandens vom Amt und sein Wechsel in den Johanniterorden.3 Feuchtwangen wurde sein Nachfolger, aber eine Verlegung der Ordenszentrale nach Preußen gelang auch ihm nicht; dies sollte erst 1309 unter seinem zweiten Nachfolger Siegfried von Feuchtwangen erfolgen.4 Doch auch dann dauerte es noch ungefähr zwei Jahrzehnte, bis der Hochmeistersitz Marienburg gefestigt war.5 S. 60–101. Ders., Deutschmeister Konrad von Feuchtwangen und die ”preußische Partei” im Deutschen Orden am Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in: Aspekte der Geschichte. Festschrift für Peter Gerrit Thielen zum 65. Geburtstag am 12. Dezember 1989, hrsg. Udo Arnold/ Josef Schröder/Günther Walzik, Göttingen 1990, S. 22–42; Wiederabdruck in: Udo Arnold, Deutscher Orden und Preußenland. Ausgewählte Aufsätze anläßlich des 65. Geburtstages, hrsg. Bernhart Jähnig/Georg Michels (Einzelschriften der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung, 26), Marburg 2005, S. 187–206; polnisch: Mistrz niemiecki Konrad von Feuchtwangen i jego ”stronnictwo pruskie” w zakonie krzyz˙ackim pod koniec XIII i na pocza˛tku XIV wieku, in: Arnold, Zakon krzyz˙acki, S. 102–129. Alle folgenden Angaben zu Konrad von Feuchtwangen beziehen sich auf diese beiden Aufsätze und werden nicht nochmals einzeln nachgewiesen. 3 Vgl. Klaus Militzer, Burchard von Schwanden, in: Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190–2012, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 40 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 6), Weimar 22014, S. 38–41; russische Ausgabe Moskau 2015. 4 Vgl. ders., From the Holy Land to Prussia: the Teutonic Knights between Emporers and Popes and their Policies until 1309, in: Mendicants, Military Orders, and Regionalism in Medieval Europe, hrsg. Jürgen Sarnowsky, Aldershot 1999, S. 71–81; Wiederabdruck in: ders., Zentrale und Region. Gesammelte Beiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen, Livland und im Deutschen Reich aus den Jahren 1968 bis 2008 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 75 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 13), Weimar 2005, S. 16–25; Udo Arnold, Z Wenecji do Malborka. Wielcy mistrzowie zakonu krzyz˙ackiego pod koniec XIII i na psza˛tku XIV wieku, in: ”Rzez gdanska” z 1308 roku w s´wie˛tle najnowszych badan´. Materiały z sesji naukowej 12–13 listopada 2008 roku, hrsg. Błaz˙ej S´liwin´ski, Gdan´sk 2009, S. 43–49; erweiterte Fassung: Von Venedig nach Marienburg. Hochmeister und Deutscher Orden am Ende des 13./Beginn des 14. Jahrhunderts, in: Kirche und Gesellschaft im Wandel der Zeiten. Festschrift für Gabriel Adriányi zum 75. Geburtstag, hrsg. Hermann-Josef Scheidgen/ Sabine Prorok/Helmut Rönz, Nordhausen 2012, S. 75–90; Klaus Militzer, Die Übersiedlung Siegfrieds von Feuchtwangen in die Marienburg, in: Ritterorden in Umbruchs- und Krisenzeiten, hrsg. Roman Czaja/Jürgen Sarnowsky (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 16), Torun´ 2011, S. 47–61. 5 Vgl. für diese Übergangszeit Ulrich Niess, Hochmeister Karl von Trier (1311–1324). Stationen einer Karriere im Deutschen Orden (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 47), Marburg 1992; Simon Helms, Luther von Braunschweig. Der Deutsche Orden in Preußen zwischen Krise und Stabilisierung und das Wirken eines Fürsten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 67), Marburg 2009; Udo Arnold, Die Marienburg auf dem Weg zum Machtzentrum des Deutschen Ordens, in: Castrum sanctae Mariae. Die Marienburg als Burg, Residenz und Museum, hrsg. Arno Mentzel-Reuters/Stefan Samerski (Vestigia Prussica, 1), Göttingen 2019, S. 47–78.

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In diese Umbruchszeit fällt das Wirken Konrads von Babenberg. Er wurde nicht Hochmeister, auch wenn er in die Führungsgruppe der (Groß-)Gebietiger aufstieg. Normalerweise wissen wir über die Gebietiger im 13. Jahrhundert weniger, da sie in der Chronistik nicht genannt werden und als Urkundenaussteller seltener in Erscheinung treten, allenfalls als Zeuge. Als solcher ist Babenberg jedoch öfter nachzuweisen. Konrad von Babenberg stammte aus der Bamberger Ministerialenfamilie von Hallstadt,6 wenige Kilometer nördlich von Bamberg gelegen. Ob ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem 1257 in Bozen genannten Deutschordensbruder Siegfried (Seifried) von Babenberg besteht, ist völlig ungewiss;7 Babenberg ist schließlich nur die Herkunftsbezeichnung für den Raum Bamberg. Konrad dürfte nicht später als etwa 1260 geboren sein.1287 ist er erstmals als Komtur zu Würzburg nachweisbar. Aufgrund der Herkunftsregion könnte er durchaus auch in Würzburg investiert worden sein. Münnerstadt als Eintrittsort hätte in gleicher Entfernung von Hallstadt gelegen, doch befand sich die deutlich jüngere Kommende zum Zeitpunkt des vermuteten Eintritts von Konrad noch im Aufbau.8 Arno Herzig nimmt Konrad bereits 1271 und 1274 im Amt des Würzburger Komturs an, ebenso am 8. April 1288.9 Dann müsste er deutlich früher geboren sein. Zurückhaltender hinsichtlich einer Amtszeit in den 70er Jahren, da allein der Vorname Konrad genannt ist, sind Dieter Wojtecki und Dieter Weiss; sie nehmen nur die Jahre 1287 und 1288 an.10 Diese Jahre fallen in die Amtszeit Konrads von Feuchtwangen als Deutschmeister (1284–1291), der die Ballei Franken mitverwaltete – einen Landkomtur hatte Feuchtwangen nach seinem

6 Vgl. Dieter Wojtecki, Der Deutsche Orden im württembergischen Franken. Zur Entwicklung, Besitz- und Personalgeschichte der Kommenden Mergentheim, Heilbronn und Horneck im 13. Jahrhundert, in: Württembergisch Franken 60 (1976), S. 55–113, hier S. 99f. 1293 Februar 12 wird er auch als Cunradus de Halstat betitelt, während sonst stets von Babenberg die Rede ist; vgl. Hessische Urkunden, hrsg. Ludwig Baur, Bd. 1: Starkenburg und Oberhessen, Darmstadt 1860, ND Aalen 1979, Nr. 280. 7 Vgl. Originalurkunde vom 19. Mai 1257 im Deutschordenszentralarchiv; Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs in Wien. Regesten. Nach dem Manuskript von Marian Tumler hrsg. Udo Arnold, 1 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 60/1 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 11/1), Marburg 2006, Nr. 436. 8 Vgl. Ekhard Schöffler, Die Deutschordenskommende Münnerstadt. Untersuchungen zur Besitz-, Wirtschafts- und Personalgeschichte (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 45), Marburg 1991, S. 13f. 9 Arno Herzig, Die Deutschordenskommende Würzburg im Mittelalter (1219–1549). Ihre Stellung als bischöfliche „Hauskommende“ und Komturspfründe, in: Mainfränkisches Jahrbuch für Kunst und Geschichte 18 (1966), S. 1–120 (auch als Separatdruck), S. 99. 10 Vgl. Wojtecki (wie Anm. 6) und Dieter J. Weiss, Die Geschichte der Deutschordens-Ballei Franken im Mittelalter (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, IX, 39), Neustadt/Aisch 1991, S. 493.

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Aufstieg zum Deutschmeister nicht ernannt. Babenberg wurde also von Feuchtwangen als Komtur in Würzburg eingesetzt. Am 1. Mai 1288 wird Babenberg anlässlich der Güterübertragung, die zur Errichtung der Kommende Winnenden führte, bereits als Landkomtur von Franken geführt. Diese Stiftung nahm Deutschmeister Konrad von Feuchtwangen entgegen.11 Nach dem Wechsel Feuchtwangens vom Amt des Landkomturs von Franken in das Amt des Deutschmeisters 1284 war das fränkische Landkomturamt unbesetzt geblieben, ebenso das Amt des Landkomturs von Thüringen-Sachsen. Auf einem Kapitel in Frankfurt 1287 setzte offenbar Hochmeister Burkhard von Schwanden durch, dass für Thüringen und Sachsen, zuvor eine gemeinsame Ballei, die nun in zwei Balleien getrennt wurde, jeweils ein neuer Landkomtur ernannt wurde. Klaus Militzer meint, dass Feuchtwangen damit durchaus einverstanden gewesen wäre, weil er in Zukunft zwei Landkomture würde einsetzen können.12 Allerdings berücksichtigt er nicht, dass gleichzeitig dem Deutschmeister die Einkünfte dieser vorher unbesetzten Ämter entzogen wurden, womit das Einverständnis doch eher gering gewesen sein dürfte. Für Anfang Mai 1288 nimmt Militzer mit Blick auf die Übertragung des Archidiakonats Zschillen an den Orden am 8. Mai wieder ein Kapitel in Frankfurt an.13 Im Hinblick darauf, dass Konrad von Babenberg bereits eine Woche zuvor anlässlich der Errichtung der Kommende Winnenden als Landkomtur von Franken neben dem Deutschmeister als Stiftungsempfänger auftaucht, kann man annehmen, dass Feuchtwangen der Einsetzung eines Landkomturs seitens des Hochmeisters durch einen mit Schwanden verbundenen Amtsträger zuvorkam. Damit würde man Babenberg als Vertrauten des Deutschmeisters Konrad von Feuchtwangen ansehen können; als solcher wurde er bislang noch nicht erkannt. Lange konnte Babenberg sich dieses Amtes jedoch nicht erfreuen. Bereits am 4. April 1290 ist Gottfried von Hohenlohe erstmals als Landkomtur von Franken nachgewiesen.14 Gottfried dürfte durch seine Herkunft aus hohem Adel gut vernetzt gewesen sein. Außerdem hatte seine Familie durch die Stiftung der Kommende Mergentheim 1219 einen wesentlichen Grundstein für die Ballei Franken gelegt,15 sein Vorfahr Heinrich war dadurch bis in das Amt des Hoch11 Württembergisches Urkundenbuch, 9, Stuttgart 1907, ND Aalen 1978, Nr. 3743; ein Ausstellungsort ist nicht genannt. Vgl. auch Weiss (wie Anm. 10), S. 105. 12 Vgl. Klaus Militzer, Die Entstehung der Deutschordensballeien im Deutschen Reich (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 16), Marburg 21981, S. 76. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. Hohenlohisches Urkundenbuch, hrsg. Karl Weller, 1, Stuttgart 1899, Nr. 505. 15 Vgl. Bernhard Klebes, Der Deutsche Orden in der Region Mergentheim im Mittelalter. Kommende, Stadt- und Territorialherrschaft 1219/20 – ca. 1525 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 58), Marburg 2002.

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meisters aufgestiegen (1244–1249).16 Feuchtwangen musste offenbar dem Druck nachgeben, den wohl um 1280 eingekleideten, aber erst zwei Jahre zuvor erstmals als Deutschordensbruder in den Quellen aufscheinenden Hohenloher mit einem hohen Amt in dessen Herkunftsregion Franken zu versorgen.17 Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies auf Verlangen des Hochmeisters Burkhard von Schwanden geschah, mit dem Feuchtwangen Anfang März 1290 in Erfurt gemeinsam auf einem Hoftag König Rudolfs von Habsburg war; die damals von Schwanden vorgenommene Stärkung Marburgs durch Unterstellung der Komturei Griefstedt auf Kosten der Ballei Thüringen stieß offenbar nicht auf Feuchtwangens Zustimmung, er fehlt trotz seiner Anwesenheit unter den Sieglern. Babenberg jedenfalls hatte seinen Platz als Landkomtur von Franken zu räumen, ohne dass ersichtlich wäre, wohin er gegangen sein könnte. Erst ab dem 19. Mai 1292 bis zum 7. April 1294 sehen wir Konrad von Babenberg wieder als Amtsträger in Frankfurt. Dabei ist umstritten, ob als Komtur oder nur als Hauskomtur unter dem Komtur Anselm von Witzelbach, doch gehe ich vom Amt des Komturs aus.18 Inzwischen war Feuchtwangen jedoch, wohl seit dem Herbst 1291, Hochmeister. Das Amt des Deutschmeisters ließ er bis 1294 vakant, es diente wahrscheinlich als finanzieller Rückhalt für den Hochmeister, der seit dem Verlust der restlichen Besitzungen im Heiligen Land völlig mittellos geworden war. Frankfurt, eine der bedeutenden Niederlassungen, unterstand unmittelbar dem Deutschmeister, nicht der Ballei Franken.19 Damit aber besaß Feuchtwangen direkten Einfluss auf die Frankfurter Kommende, wo er offensichtlich Babenberg einsetzte. Wenn wir daraufhin die Urkunde vom 7. April 1294 genauer ansehen, stellen wir fest, dass Babenberg als Zeuge zwar hinter dem Hochmeister und dem Landkomtur von Thüringen Helwig von Goldbach rangiert, aber vor dem 16 Vgl. Udo Arnold, Heinrich von Hohenlohe, in: Die Hochmeister (wie Anm. 3), S. 24–26. 17 Gottfried war als 14jähriger dem Orden beigetreten, wodurch mittels päpstlichem Dispens sein Vater die eigentlich Gottfried zugedachte Margarethe von Truhendingen heiraten konnte; vgl. Hohenlohisches Urkundenbuch (wie Anm. 14), Nr. 483 von 1288 August 30. 18 Wojtecki (wie Anm. 6) sieht ihn als Komtur, Jörg Seiler, Der Deutsche Orden in Frankfurt. Gestalt und Funktion einer geistlich-ritterlichen Institution in ihrem reichsöffentlichen Umfeld (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 61), Marburg 2003, S. 525 als Hauskomtur. Doch genau für diese Jahre gibt es in der Amtszeit des Komturs Anselm von Witzelbach eine Lücke; ebd., S. 504. Eine Einordnung als Komtur von Frankfurt wäre also durchaus möglich. Darüber hinaus nennt ihn die pfalzgräfliche Urkunde von 1292 Mai 19 eindeutig commendator; Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt, hrsg. Johann Friedrich Boehmer, neu bearb. Friedrich Lau, Bd. 1: 794– 1314, Frankfurt/M. 1901, Nr. 610 (Druck). Die Urkunde von 1293 Februar 12 betitelt ihn als Cunradus des Halstat [dazu s. Anm. 6] domus ordinis s. Marie theuton. in Sassinhusen. Danach dürfte Babenbergs Position als Komtur eigentlich unzweifelhaft sein. 19 So schon vorsichtig für die frühe Zeit Militzer, Entstehung (wie Anm. 12), S. 135; deutlicher Seiler (wie Anm. 18), S. 443.

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Komtur von Marburg Konrad von Mandern und allen anderen Thüringer Komturen, und mit jenen gemeinsam unter dem Titel commendatores geführt ist; das dürfte ebenfalls gegen das Amt eines Hauskomturs sprechen.20 Was in der Zwischenzeit mit dem vorherigen Frankfurter Komtur Anselm von Witzelbach geschah, ist genauso offen wie die Zeit von 1290 bis 1292 für Babenberg. Doch 1294 musste Feuchtwangen, wohl auf Druck der Gebietiger, wieder einen Deutschmeister einsetzen, Gottfried von Hohenlohe, seit dem 21. August 1294 bis zum 6. Januar 1297 als Deutschmeister nachweisbar.21 Daraufhin hatte Babenberg sein Amt in Frankfurt, welche Kommende dem Deutschmeister unterstand, zu räumen, denn der zwischenzeitlich nicht als solcher amtierende Anselm von Witzelbach urkundete am 20. Mai 1294 erneut als Komtur von Frankfurt.22 In jenem Jahr 1294 scheinen Mitglieder der Ordensleitung in Venedig gewesen zu sein. Zumindest legen das zwei Ablassurkunden nahe. Während Ablässe ansonsten eher am Sitz des Papstes oder am begünstigten Ort bzw. in dessen Umgebung erworben wurden – wobei die Aussteller Kardinäle, Erzbischöfe oder Bischöfe waren, seltener der Papst –, fallen zwei in Venedig am 29. Juni und 14. Juli 1294 ausgestellte Ablässe auf, beide zugunsten Rothenburgs ob der Tauber, von wechselnden Ausstellern.23 Auf wessen Bitte dies geschah, muss offen bleiben, denn Genaueres über Personen aus der Ordensleitung in Venedig zu diesem Zeitpunkt lässt sich nicht sagen. Der Hochmeister gehörte jedenfalls nicht dazu. Zwar ist er am 19. Januar 1294 in Venedig nachweisbar, aber bereits drei Monate später, am 7. April, sehen wir ihn in Erfurt, in Venedig ist er nicht mehr gewesen. Doch Babenberg besaß offenbar das Vertrauen des Hochmeisters, Konrad von Feuchtwangen scheint ihn an sich gezogen zu haben. Denn am 20. Oktober 1294 tritt er in einer von Feuchtwangen ausgestellten Urkunde, in der es um Rechte der Kommenden Donauwörth und Lauterbach ging, hinter Bertram, dem ehemali20 Urk. im Geheimen Staatsarchiv Preuß. Kulturbesitz, XX. HA: Histor. Staatsarchiv Königsberg, LII 26; Druck der Urkunde erstmals bei August Rudolph Gebser, Geschichte der Domkirche zu Königsberg und des Bisthums Samland, Königsberg 1835, S. 48f.; danach Urkundenbuch des Bisthums Samland, hrsg. Carl Peter Woelky und Hans Mendthal, Leipzig 1891–1905, Nr. 164; Regest: Urkundenbuch der Deutschordensballei Thüringen, hrsg. Karl H. Lampe (Thüringische Geschichtsquellen NF, 7), Jena 1936, Nr. 557 (mit weiteren Nachweisen); Regesta historicodiplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198–1525, Pars II: Regesta Privilegiorum Ordinis S. Mariae Theutonicorum, bearb. v. Erich Joachim, hrsg. Walther Hubatsch, Göttingen 1948, Nr. 336. 21 Vgl. Militzer, Entstehung (wie Anm. 12), S. 170. 22 Vgl. Seiler (wie Anm. 18), S. 504. 23 Vgl. Axel Ehlers, Die Ablasspraxis des Deutschen Ordens im Mittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 64), Marburg 2007, Aufstellung S. 416–456, hier S. 432, Nr. 3407f.: 1294 Juni 29 und August 14; vgl. auch Die Urkunden der Reichsstadt Rothenburg 1182–1400, hg. v. Ludwig Schnurrer, 2 Bde., Neustadt/Aisch 1999, Teilbd. I, Nr. 177f. (ausführliches Regest).

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gen Komtur von Lauterbach, und Berthold, dem ehemaligen Komtur von Donauwörth, und vor dem Laien(-bruder) Marquard als Zeuge auf.24 Leider enthält die Überlieferung keinen Ausstellungsort, doch dürfte er in der Ballei Franken gelegen haben, wenn es nicht sogar Donauwörth war. Die damalige Funktion der ehemaligen Komture Bertram und Berthold ist ebenfalls unklar. Babenberg allerdings scheint zum Gefolge des Hochmeisters gehört zu haben, vielleicht auch der Laienbruder Marquard.25 Konrad von Feuchtwangen band Babenberg anschließend noch enger an sich: Er wurde Trapier. Damit gehörte er nun zum innersten Kreis und begleitete den Hochmeister auf seiner letzten Reise nach Preußen. Da Feuchtwangen sie bereits im Frühsommer 1295 antrat, muss Babenberg zu jener Zeit schon Trapier gewesen sein. Als solchen finden wir ihn unter den Zeugen einer in Marienburg ausgestellten Urkunde vom 31. Januar 1296,26 ebenso am 14. Mai 1296 in Thorn als domus capitanee Veneciensis traparius.27 Wie, wann und wo die Ernennung zum Trapier stattfand, ist unklar. Eigentlich müsste die Ernennung eines Großgebietigers regelkonform im jährlichen Großkapitel erfolgt sein, doch für jene Umbruchszeit kann von regelkonformem Vorgehen kaum ausgegangen werden. Auch ist Feuchtwangen seit Januar 1294 nicht mehr in Venedig nachgewiesen, ein Großkapitel dürfte aber in Deutschland nicht stattgefunden haben. Auf jeden Fall geschah die Ernennung nach dem 20. Oktober 1294, denn die genaue Titulierung der Komture als ehemalig (quondam) und die Stellung Babenbergs ohne Titel in der Zeugenreihe hinter den Komturen spricht dafür, dass er zu dem Zeitpunkt noch nicht Trapier war. Babenberg hat den Hochmeister nach Preußen begleitet, auch auf dessen Rückreise. Feuchtwangen starb unterwegs, wohl am 4. Juli 1296 in Prag. Angesichts seines nahenden Todes hat er offenbar seinen Vertrauten Babenberg als Statthalter eingesetzt, wie es die Gewohnheiten des Ordens vorschrieben: Swanne 24 Zweifach überliefert: Staatsarchiv Augsburg (ehem. Neuburg a. d. Donau), Geistliche Ritterorden, Deutschorden, Donauwörth, Lit. 1, S. 423f. und Deutschordenzentralarchiv Wien, Hs. 161, Kopialbuch der Kommende Donauwörth, fol. 114r; für ein Foto der letzteren danke ich herzlich Herrn Mag. Bernhard Huber. Druck: Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 212f.; bei Militzer, Entstehung (wie Anm. 12) irrtümlich auf November 19 datiert. – Zur unklaren Entwicklung der Kommende Lauterbach und ihrem Aufgehen in der Kommende Donauwörth vgl. Weiss (wie Anm. 10), S. 56f. 25 Die Identifikationsüberlegungen von Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 213, Anm. 6 scheinen mir nicht auf einen Laienbruder zuzutreffen. 26 Preußisches Urkundenbuch 1/2, hrsg. August Seraphim, Königsberg 1909, ND Aalen 1961, Nr. 654; die Registerbenennung als Trapier in Preußen dürfte unzutreffend sein, da es das Amt dort erst mit der Übersiedlung des Hochmeisters nach Preußen gab; vgl. Bernhart Jähnig, The List of Dignitaries and Officials of the Teutonic Order in Prussia, in: The Teutonic Order in Prussia and Livonia. The political and ecclesiastical Structures. 13th–16th century, hrsg. Roman Czaja/Andrzej Radzimin´ski, Torun´ 2015, S. 291–345, hier S. 306. 27 Urkundenbuch des Bisthums Culm, bearb. Carl Peter Woelky, 1, Danzig 1885, Nr. 145.

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der hôhe meister disses ordenes von den sûchen, die gewisse vorboden des tôdes sint, des entsebet, daz ime sîn ende nêhet, sô mac er eime brûdere, deme man des getrûwen mac, daz er gûtes unde beweretes lebenes sî, sîne stat unde daz insigel bevelhen dem meistere, der nâch im kunftic ist, zu behaltene.28 Damit war Konrad von Babenberg eine Rolle zugefallen, die er kaum erwartet haben dürfte – er war Interimsmeister. Denn sô der meister gestirbet, sô sulen alle die brûdere gehôrsam sîn deme selben brûdere, der des meisteres stat unde daz insigel hat entphangen.29 Nach der Beisetzung Feuchtwangens in der böhmischen Kommende Drobowitz reiste Babenberg nach Venedig, zum Hauptsitz des Ordens. Ihm oblag es nun, das Wahlkapitel dorthin einzuberufen. In der Zwischenzeit galt er als höchster Ordensvertreter. Als solcher tritt er im März 1297 in Padua auf bei der Verpachtung von Ordensgütern.30 Im Wahlkapitel hatte er den ersten Wähler zu benennen. Wenn das durch anschließende Kooptation sich zusammensetzende dreizehnköpfige Wahlkapitel vollständig war, sollte er noch eine Ermahnung aussprechen, dass man den Würdigsten wähle. Nach vollzogener Wahl musste er den, der dâ ist erwelt, vur den alter vûren unde sal ime dâ vor allen den brûderen daz ambeth der meisterschefte mit dem vingerlîne [Ring] unde mit dem insigel antwerten und bevelhen unde sal in des manen, daz er alsô der berihtunge des hûses unde dem ordene vor sî, daz er sicherlîche an dem iungesten urteile muge vor Gote stên unde lôn entphâhen nâch sînen werken. Der neue Meister hatte anschließend den Priester und den Interimsmeister zu küssen.31 Des letzteren Aufgabe war damit abgeschlossen. Am 3. Mai 1297 wurde Gottfried von Hohenlohe zum neuen Hochmeister gewählt.32 Damit hatte er eine erfolgreiche Karriere im Orden absolviert, die Hoffnungen der Familie und seiner selbst beim Ordenseintritt dürften sich erfüllt haben. Doch das Netzwerk innerhalb des hohen Adels hatte sicher ebenfalls eine Rolle bei der Wahl gespielt, so dass Babenberg als möglicher Hochmeisterkandidat keine Chancen hatte. Diese Verbindungen Hohenlohes zeigen sich 28 Die Statuten des Deutschen Ordens, hrsg. Max Perlbach, Halle/Saale 1890, Gewohnheiten 1, S. 90. 29 Ebd., Gewohnheiten 2, S. 90. 30 Archivio di Stato di Padova, CRS, Gesuiti, 167 Nr. 8: 1297 III 11–19, Babenberg als preceptor et commendator und locum tenens des Hochmeisters; für den Hinweis danke ich herzlich Kristjan Toomaspoeg, Lecce/Rom. 31 Statuten (wie Anm. 28), Gewohnheiten 6, S. 95. Den Wahlvorgang referiert auch Carl August Lückerath, De electione magistri, in: Preußenland 9 (1971), S. 33–47; vergleichend Christian Vogel, Meisterwahlen in den mittelalterlichen Ritterorden – Johanniter, Templer und Deutscher Orden im Vergleich, in: Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 17), Torun´ 2012, S. 137–153. 32 Vgl. Klaus Militzer, Der Hochmeister Gottfried von Hohenlohe, in: 800 Jahre Deutscher Orden 1190–1990. Deutschordens-Museum e. V. Bad Mergentheim. Jahrbuch 1 (1990), S. 49–57, hier S. 49; ders., Gottfried von Hohenlohe, in: Die Hochmeister (wie Anm. 3), S. 46–49, hier S. 46.

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deutlich im ersten Dokument, welches Gottfried noch am Tage seiner Wahl ausstellte: Er nahm Graf Engelbert von Sayn und seine Gemahlin Jutta in die Gebetsgemeinschaft des Deutschen Ordens auf.33 Wie die Hohenlohe so waren auch die Sayn bereits lange mit dem Orden verbunden. Heinrich III. von Sayn – Teilnehmer des Kreuzzugs gegen Damiette (1217–1221), wobei er den Orden kennen gelernt haben dürfte – und seine Gattin Mechtild von Landsberg schenkten in den 20er Jahren des 13. Jahrhunderts den Grundstock für die Kommende Ramersdorf 34 wie auch später wesentliche Komplexe für die Kommende Trier mit Rachtig an der Mittelmosel.35 Mechtilds Mutter war eine Kusine Landgraf Ludwigs IV. von Thüringen, des Gemahls der hl. Elisabeth, die Verbindung nach dem Tod Elisabeths 1231 zu deren Kindern war eng. Heinrich von Sayn wurde von dem despotischen Beichtvater Elisabeths, Ketzerverfolger und Inquisitor Konrad von Marburg der Ketzerei angeklagt, was Konrad 1233 das Leben kostete, wohl durch Heinrichs Mannen.36 Mit Heinrichs Bruder Eberhard hatte die Familie in der Mitte des 13. Jahrhunderts ein bedeutendes Mitglied in der Führungsspitze des Ordens gestellt.37 Ein Bruder Friedrich von Sayn soll laut der Jüngeren Hochmeisterchronik zur Zeit Gottfrieds von Hohenlohe im Christburger Konvent gelebt haben;38 in der Sayner Genealogie konnte ich ihn allerdings nicht verorten.

33 Vgl. Ulrich Niess, Hochmeister Gottfrieds (1297–1303) erste Urkunde – ein Nachtrag zum Hohenlohischen Urkundenbuch, in: Württembergisch Franken 78 (1994), S. 293–299, Druck S. 294, Abb. S. 295; Regest: Mittelrheinische Regesten, hrsg. Adam Goerz, 4, Koblenz 1886, Nr. 2638. 34 Vgl. Heinrich Neu, Die Deutschordenskommende Ramersdorf. Geschichte eines rheinischen Hauses des Deutschen Ritter-Ordens, Bonn 1961, S. 15f.; zuletzt Udo Arnold, Ramersdorf, in: Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Klöster bis 1815, hrsg. Manfred Groten u. a., Bd. 1 (Studien zur Kölner Kirchengeschichte, 37/1), Siegburg 2009, S. 429–436. 35 Vgl. Rüdiger Schmidt, Die Deutschordenskommenden Trier und Beckingen 1242–1794 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 9), Marburg 1979, S. 92–100. 36 Vgl. Peter Segl, Konrad von Marburg, in: Neue Deutsche Biographie 12 (1979), S. 544–546. 37 Eberhard von Sayn war als Großkomtur Stellvertreter des Hochmeisters Heinrich von Hohenlohe gewesen, ebenso Deutschmeister und Visitator in Preußen und vertrat den Hochmeister im Ostseeraum; vgl. Militzer, Entstehung (wie Anm. 12), S. 48f. sowie Visitationen im Deutschen Orden im Mittelalter. Teil I: 1236–1449, hrsg. Marian Biskup und Irena Janosz-Biskupowa unter der Redaktion von Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 50/1 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 10/1), Marburg 2002, Nr. 2. 38 Vgl. Jüngere Hochmeisterchronik, hrsg. Theodor Hirsch, in: Scriptores rerum Prussicarum, 5, hrsg. Theodor Hirsch/Max Töppen/Ernst Strehlke, Leipzig 1874, ND Frankfurt/M. 1965, S. 43–148, hier S. 110. Eine bislang nur elektronische Neuedition der als Kopie des Originals identifizierten Handschrift 392 des Deutschordenszentralarchivs Wien (dort fol. 115 r) durch Rombert Stapel, Croniken van der Duytscher Oirden, 2016, S. 103; dazu ders., The Late Fifteenth-Century Utrecht Chronicle of the Teutonic Order: Manuscripts, Sources, and Authorship, Proefschrift Universiteit Leiden (masch.), 2017.

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Inwieweit Konrad von Babenberg hilfreich bei der Wahl Gottfrieds von Hohenlohe gewesen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Es kann zumindest bezweifelt werden, dass er ein enger Freund des neuen Hochmeisters war, schließlich hatte er seinetwegen zweimal ein Amt aufgeben müssen und war vielleicht bei der Wahl zum Hochmeister sogar ein Konkurrent gewesen. Doch Hohenlohe bzw. das Großkapitel hat ihn nach der Hochmeisterwahl zum Großkomtur und damit zum Stellvertreter des Hochmeisters gemacht, ein offensichtliches Anerkenntnis für seine Rolle als Interimsmeister. Am 22. und 23. Mai 1297 fanden in Padua Verhandlungen über verschiedene Besitzungen statt, wobei er als commendator magnus mansionis Allemanorum urkundete.39 Drei Wochen später, am 10. Juni, wird er ebenfalls preceptor et commendator magnus genannt.40 Allerdings bereitet ein Titelzusatz in beiden Urkunden gewisse Probleme: tenens locum magistri generalis. Man würde normalerweise daraus auf Abwesenheit des Hochmeisters schließen. Klaus Militzer ist jedoch der Meinung: „Über die Zeit bis 1298 ist über Gottfrieds Amtsführung wenig bekannt. Es hat den Anschein, als ob die Ordensbrüder den Hochmeister im Haupthaus festhielten und infolgedessen zur Untätigkeit verdammten, da ein Kreuzzug, der den langen Aufenthalt in Venedig gerechtfertigt hätte, nicht in Sicht war. In Venedig hatte der Hochmeister nach dem Verlust des Heiligen Landes eben keine Aufgabe, die seiner Stellung angemessen gewesen wäre.“41 Diese Untätigkeit war nach Militzers Ansicht das Ergebnis von Gesetzen, die der Hochmeister auf Druck des Kapitels hatte erlassen müssen: Vom Deutschmeister, dem Landmeister von Preußen oder dem Landmeister von Livland musste eine Einladung an den Hochmeister erfolgen, der die anderen beiden Meister zuzustimmen hatten. Das Kapitel musste ebenfalls seine Zustimmung geben, damit der Hochmeister über die Alpen reisen durfte, wollte er nicht sein Amt verlieren.42 Hohenlohe hätte also in Venedig gesessen, während der Prokurator 39 Kurt Forstreuter, Der Deutsche Orden am Mittelmeer (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 2), Bonn 1967, S. 252. 40 Ebd., S. 211 und 252; vgl. auch Piotr Cierzniakowski, Origine, sviluppo territoriale e amministrativo dell’Ordine dei Cavalieri Teutonici in Lombardia e nella Marca Trevigiana (1208– 1325), in: Studi e fonti del Medioevo vicentino e veneto 1 (2002), S. 53–70, hier S. 64. In der Sache stimmen die Autoren überein, in den Quellennachweisen differieren sie; das wird sich nur durch Einsicht im Staatsarchiv Padua klären lassen. 41 Militzer, Der Hochmeister (wie Anm. 32), S. 51. 42 Vgl. Statuten (wie Anm. 28), S. 145. Diese zeitlich nicht eindeutig zuzuordnenden Bestimmungen sind mit Gewissheit nach dem Tod Feuchtwangens entstanden. Strittig ist, ob sie als Wahlkapitulation Gottfrieds von Hohenlohe (1297) anzusehen sind oder als solche Siegfrieds von Feuchtwangen (1303). Den Hohenlohe-Ansatz nehmen an Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 194f.; Arnold, Konrad von Feuchtwangen (wie Anm. 2), S. 29, polnisch S. 85f.; Klaus Militzer, Von Akkon zur Marienburg. Verfassung, Verwaltung und Sozialstruktur des Deutschen Ordens 1190–1309 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 56 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deut-

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des Haupthauses – ein in den Statuten nicht vorgesehenes, aber doch wohl inzwischen wichtiges Amt im Haupthaus43 – gemeinsam mit dem Großkomtur Babenberg und dem Spittler Wolfram nach Padua reiste. Doch war dem wirklich so? Nach der Wahl Anfang Mai 1297 hören wir von Hohenlohe nichts mehr. Er taucht erst am 24. Februar 1298 wieder auf als Schiedsrichter in einem hohenlohischen Familienstreit um eine Burg und ein Dorf in der Nähe von Giebelstadt in Franken.44 Diese Funktion hat er, auch aufgrund der übrigen Beteiligten, gewiss nicht in Venedig ausgeübt, er war bereits wieder in seiner Heimat. Das könnte sehr wohl dafür sprechen, dass er bald nach seiner Wahl nach Norden aufgebrochen ist. Das stünde allerdings mit den einschränkenden Gesetzen, die er erlassen haben soll, im Widerspruch. Sollten diese Gesetze doch erst auf Siegfried von Feuchtwangen zurückgehen, gerade aufgrund der ständigen Abwesenheit Hohenlohes von Venedig? Mir scheint inzwischen die Argumentation von Ulrich Nieß hierfür plausibler, gleichwohl ist zu bedenken, dass die Gesetze dann auf einem Wahlkapitel in Preußen erlassen worden wären. Auch das hätte eine Logik für sich: Der Hochmeister hätte vom jeweiligen Meister eingeladen werden müssen, hätte nicht aus eigenem Entschluss bei einem anderen Meister erscheinen können, der somit deutlich mehr Handlungsfreiheit erhielt. Sollten die Gesetze aber in Venedig von Hohenlohe erlassen worden sein, dann könnten die preußischen und livländischen Vertreter bei der Wahl die anschließende hochmeisterliche Reise nach Norden durchgesetzt haben. Allerdings hätte es dann noch immer ein Jahr gedauert, bis der Hochmeister schließlich in Preußen ankam. Wie dem auch sei, die Interpretationsmöglichkeiten um den Zeitpunkt jener Gesetze scheinen noch nicht erschöpft zu sein. Gottfried von Hohenlohe ist jedenfalls als Deutschmeister zur Hochmeisterwahl Anfang Mai 1297 nach Venedig gekommen, wahrscheinlich jedoch unmittelbar anschließend als Hochmeister wieder nach Norden aufgebrochen. Im Februar 1298 ist er in Franken nachweisbar und von dort nach Preußen weitergereist, wo er am 15. Juni in Thorn urkundete. Der Titelzusatz für Babenberg im Mai/Juni 1297, tenens locum magistri generalis, wäre damit also völlig gerechtfertigt. Anschließend verlieren wir Babenberg aus den Augen. Erst am 3. August 1299 finden wir ihn in einer Urkunde des Hochmeisters wieder, der vom tesaurarius in schen Ordens, 9), Marburg 1999, S. 159f.; ders., Gottfried von Hohenlohe, in: Die Hochmeister (wie Anm. 3), S. 46–49, hier S. 46. Den Feuchtwangen-Ansatz nehmen an der Herausgeber der Statuten Perlbach sowie Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 23f.; ders., Siegfried von Feuchtwangen, in: Die Hochmeister (wie Anm. 3), S. 51–56, hier S. 52. 43 Vgl. Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 212f.; in beiden Urkunden wird er vor dem Großkomtur und dem Spittler genannt. 44 Hohenlohisches Urkundenbuch (wie Anm. 14), Nr. 593.

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Veneciis Reinhard von Sunthausen begleitet wird. Die Urkunde ist ausgestellt in Wien, Babenberg wird als erster Zeuge genannt, gemäß seinem neuen Rang als preceptor Pruscie, Landmeister von Preußen.45 Der preußische Landmeister Meinhard von Querfurt urkundete zuletzt am 21. Dezember 1298,46 wenig später ist er gestorben. Daraufhin wurde offenbar Konrad von Babenberg von Hohenlohe zum Landmeister ernannt. Ob diese Ernennung darauf zurückgeht, dass Babenberg auch Hohenlohe bei dessen 1298 erfolgter Reise nach Preußen begleitete, wie er seinerzeit Feuchtwangen begleitet hatte, und für den Hochmeister als Kenner der dortigen Probleme galt, ist ungewiss; in den genannten preußischen Urkunden Hohenlohes taucht er als Zeuge nicht auf. Die preußischen Brüder waren mit dem Hochmeister und der Politik, die den Orden nach wie vor an den Mittelmeerraum band und in ihren Augen die preußischen Interessen nicht gebührend berücksichtigte, jedenfalls nicht einverstanden. Sie hatten sich darüber schon im Juni 1299 deutlich beschwert.47 Daher konnte sich Hohenlohe auch mit der Ernennung des „Landfremden“ Babenberg aus seiner Umgebung, der als Vertrauter des Hochmeisters und vielleicht als Vertreter der mittelmeerischen Orientierung des Ordens gegolten haben mochte, gegenüber den Brüdern in Preußen nicht durchsetzen.48 Babenberg selber dürfte dementsprechend sein preußisches Amt nie angetreten haben, er ist wohl nicht wieder in Preußen gewesen. Bereits am 2. Dezember 1299 urkundete Ludwig von Schippe(n)/Schüpf als Landkomtur in Preußen, von Babenberg ist dort nicht mehr die Rede.49 Schüpf dürfte von den preußischen Brüdern gewählt worden sein. Er ist erstmals 1287 als Bruder, dann als Komtur in Brandenburg (ab 1290) und Elbing (ab 1296) nachgewiesen.50 Die preußischen Brüder bezogen offensichtlich einen deutlichen Konfrontationskurs gegenüber dem Hochmeister, auch wenn sie in Schüpf einen aus dem Hohenlohischen stammenden Bruder gewählt hatten – wohl die ausgestreckte Hand in Richtung des Hochmeisters. Die missglückte Landmeisterernennung war eine Schlappe für den Hochmeister, nicht für Babenberg. Hohenlohe hielt ihn im engeren Führungskreis des Ordens. Der Spittler Wolfram war Großkomtur geworden, vielleicht nach der Ernennung Babenbergs zum preußischen Landmeister, und das Spittleramt nicht sofort neu besetzt. Babenberg wurde jedenfalls Wolframs Nachfolger als 45 Vgl. Preußisches Urkundenbuch (wie Anm. 26), Nr. 725. 46 Ebd., Nr. 702, letzter Nachweis. 47 Vgl. ebd., Nr. 713; vgl. die Datierung auf 1299 bereits bei Henri Simonsfeld, Zur deutschen Geschichte aus Venedig, 1: Urkunden den Deutschen Orden betreffend, in: Forschungen zur deutschen Geschichte 21 (1881), S. 495–507, hier Nr. 32, S. 501 (Regest), S. 502f. (Druck), S. 503– 507 Datierungsdiskussion. 48 Vgl. Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 17f. 49 Vgl. Preußisches Urkundenbuch (wie Anm. 26), Nr. 726. 50 Vgl. ebd., Register sowie Jähnig, List (wie Anm. 26), S. 311, 315.

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Spittler.51 Als solcher trat er am 30. Juni 1300 bei einem Darlehensgeschäft mit einem Zyprer, Johannes Barixanus, auf.52 Walther Hubatsch ging davon aus, dass sich Babenberg dazu in Zypern aufgehalten habe. Hans Eberhard Mayer dagegen nimmt Venedig an, da der Notar presbiter ecclesie Sancti Thome53 war und das Geschäft in venezianischer Währung abgewickelt wurde.54 Am 3. Dezember 1300 finden wir den Ordensmarschall Heinrich von Trabach in Famagusta auf Zypern, der von Laurentius Barixanus, dem Bruder des Johannes Barixanus, die nicht unerhebliche Summe eintrieb. Der Marschall war in Begleitung des frater Iachinus [Joachim] miles ordinis Teotonicorum.55 Am selben Tag traten bei einem weiteren Geschäft des Lorenz Barixanus mit einem Genuesen dieselben Zeugen auf, wiederum an erster Stelle frater Iachinus.56 Sollte die Vermutung Kurt Forstreuters zutreffen, dass es sich bei Trabach um Heinrich von Tyerbach (Thierbach) handelt, dann war mit dem als Landkomtur von Sizilien der Jahre 1292–1296 Nachgewiesenen57 sicher ein deutlicher Vertreter der mittelmeerischen Fraktion beteiligt. Hielt sich der Marschall aber nur allein des Geldes wegen in Zypern auf ? Hans Eberhard Mayer weist darauf hin, dass es um 1300 eine neue Kreuzzugsbegeisterung gegeben habe, um das verlorene Heilige Land zurückzuge-

51 Vgl. Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 211f. 52 Walther Hubatsch, Der Deutsche Orden und die Reichslehnschaft über Cypern, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 1955, (Nr. 8), S. 245–306, Urkunde Nr. 8, S. 294f. Die Namen der Urkunde sind offenbar verderbt. Hubatsch liest abweichend vom älteren Druck in Revue de l’Orient latin, 1, Paris 1893, S. 325f. für den Spittler statt Conrad de Baubemberes anhand des Mikrofilms aus dem Staatsarchiv Genua Baubenbers. – Das Stück ist inzwischen vollständig ediert von Valeria Polonio, Notai genovesi in Oltremare. Atti rogati a Cipro da Lamberto di Sambuceto (3 luglio 1300–3 agosto 1301) (Collana storica di fonti e studi, 31), Genova 1982, Nr. 140, S. 156f.; sie liest Banbenbres. Eine Auswertung bei Hans Eberhard Mayer, Eine fehlgedeutete Grabinschrift zur Geschichte des Deutschen Ordens auf Zypern, in: Archiv für Diplomatik 59 (2013), S. 25–34, hier S. 28f. 53 Dabei dürfte es sich wegen des Titels presbiter wohl nicht um das Zisterzienserkloster San Tommaso dei Borgognoni auf der Insel Torcello in der Lagune von Venedig handeln, sondern um die heute nicht mehr als solche genutzte Pfarrkirche San Tomà (San Tommaso Apostolo) in der Stadt; zum Kloster vgl. Balduino Gustavo Bedini, Breve prospetto delle abazie cisterciensi d’Italia, dalla fondazione di Citeaux (1098) alla metà del secolo decimoquarto, Roma 1964, ND Frosinone 1987, S. 104f.; zur Pfarrkirche vgl. Marcello Brusegan, Le chiese di Venezia. Storia, arte, segreti, curiosità, Roma 2007, S. 273f. 54 Das vermutete auch schon Militzer, Von Akkon (wie Anm. 42), S. 398, Anm. 53. 55 Vgl. Hubatsch (wie Anm. 50), Nr. 8; Polonio (wie Anm. 52), Nr. 140; Mayer (wie Anm. 52), S. 28f. 56 Vgl. Polonio (wie Anm. 52), Nr. 141. 57 Vgl. Kristjan Toomaspoeg, Les Teutoniques en Sicile (1197–1492) (Collection de l’École Française de Rome, 321), Roma 2003, S. 483 und Register.

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winnen.58 Der Beitrag von Sylvia Schein, auf den sich Mayer stützt, enthält weitere, nicht aufgegriffene, in unserem Zusammenhang jedoch interessante Angaben.59 Im Dezember 1299 fiel der mongolische Khan Mahmud Ghazan in Syrien ein, ein Teil seiner Truppen drang bis Gaza vor und trieb die Mamelucken unter Sultan al-Malik an-Nasir bis Ägypten zurück. Bereits im Oktober hatte Ghazan an die Meister der Templer und der Johanniter sowie an Heinrich II. von Lusignan, König von Zypern, geschrieben, um Hilfe für sein Vorgehen zu erhalten, allerdings ohne Reaktion. Auch auf sein zweites Schreiben vom November 1299 erhielt er keine Antwort – man konnte sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Ghazans Verbündeter, König Hethum II. von Kleinarmenien, besuchte auf dem Rückzug von Kairo für zwei Wochen Jerusalem. Zwar zog sich Ghazan im Februar mit einem Großteil seiner Truppen wieder nach Persien zurück, so dass die Mamelucken von Ägypten erneut nach Syrien vorstoßen konnten, doch von Ende Januar bis Ende Mai 1300 war das Heilige Land in Händen des mongolischen Herrschers. Erst im Juli 1300 schifften sich Heinrich II. von Lusignan, sein Bruder Amalrich von Tyrus und die Meister der Templer und Johanniter mit wenigen Schiffen ins Heilige Land ein, kehrten jedoch bald nach Zypern zurück. Dort erreichte sie erneut eine Nachricht Ghazans, er wolle einen weiteren Feldzug starten, zu dem man sich in Armenien treffen sollte. Amalrich mit 300 Kriegern, Templer und Johanniter mit ebenfalls 300 Mann brachen zur Eroberung Tortosas auf. Die Stadt bot einen möglichen Ansatz zum Erfolg. Die Templer hatten sich zwar im August 1291, zweieinhalb Monate nach dem Verlust Akkons, aus der Zitadelle von Tortosa zurückziehen müssen, doch konnten sie sich auf der nur etwa 3 Kilometer südwestlich der Stadt vorgelagerten kleinen Insel Aruad/Ruad (Arwa¯d) halten, die sie zu einer Festung ausgebaut hatten. Im gemeinsamen Vorgehen und in der Hoffnung auf mongolische Unterstützung gelang es, im November 1300 für kurze Zeit nochmals Tortosa zu besetzen. Im September 1302 jedoch mussten sich die Kreuzfahrer und Ritterorden unter erheblichen Verlusten zurückziehen, auch von Aruad.60 Die Kenntnis über die Vorgänge des Jahres 1300 erreichte recht rasch Europa. Sylvia Schein meint, dass die Nachrichten über die Eroberung des Heiligen 58 Mayer (wie Anm. 52), S. 29 nach Sylvia Schein, Gesta Dei per Mongolos 1300. The Genesis of a non-event, in: The English Historical Review 94 (1979), S. 805–819. Weitere Hintergrundinformationen, die u. a. das Suchen von Johannitern und Templern nach zukünftiger Orientierung zeigen, bei Karl Borchardt, On Hospitaller initiatives in the western Mediterranean, 1291– 1301, in: Communicating the Middle Ages. Essays in Honour of Sophia Menache, hrsg. Iris Shagrir, Benjamin Z. Kedar, Michel Balard, London/New York 2018, S. 24–38. 59 Vgl. Schein (wie Anm. 58), S. 810–814. 60 Es war die letzte militärische Aktion der Templer; vgl. dazu auch Joachim Rother, Das Martyrium im Templerorden. Eine Studie zur historisch-theologischen Relevanz des Opfertodes im geistlichen Ritterorden der Templer (Bamberger Historische Studien, 16), Bamberg 2017, S. 491f.

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Landes durch Khan Ghazan über Zypern zuerst nach Venedig gelangten, von dort sich in der Lombardei und Rom sowie schließlich in Deutschland verbreiteten. Sie vermutet, dass das erste offizielle Schreiben dazu vom Dogen Pietro Gradenigo am 19. März 1300 an Papst Bonifaz VIII. gerichtet wurde.61 Somit ist sicher auch der Deutsche Orden in Venedig unmittelbar informiert worden, er musste reagieren und konnte sich der nun aufkommenden Kreuzzugsbegeisterung nicht entziehen. Ende des Jahres 1300 war, wie bereits gesagt, der Marschall in Famagusta, ein Zusammenhang mit dem Vorgehen Lusignans, der Templer und Johanniter ist mehr als wahrscheinlich. Der Marschall war offenbar zur Vorbereitung einer entsprechenden Aktion auch des Deutschen Ordens auf Zypern. Schließlich hatte der Orden im Heiligen Land ebenfalls genügend verloren, um an einem Rückgewinn interessiert zu sein, und die Umstände schienen der mittelmeerischen Partei des Ordens entgegen zu kommen. Hans Eberhard Mayer sieht den Marschall noch am 24. Februar 1301 auf Zypern, als die Ordensbrüder Arnold und Benedikt eine in Famagusta liegende venezianische Galeere anmieteten.62 Die Galeere „Sancta Lucia“ sollte von dem Schiffsführer Marino Segnolo aus Venedig fratri Arnaldo et fratri Benedetto, fratribus domus conventus Alamanorum, den procuratoribus et factoribus dicte domus, übergeben werden. Als Ziel der „Sancta Lucia“ war Tortosa vorgesehen, doch ein anderes Ziel konnte möglich sein, falls die militärischen Entwicklungen dies forderten.63 Arnold und Benedikt waren offenbar die Beauftragten des Ordens, vom Marschall ist dagegen nicht die Rede. Der angesprochene Konvent dürfte auch nicht in Famagusta gelegen, sondern es wird sich um Venedig gehandelt haben. Der Marschall hatte im Dezember 1300 das Geld eingetrieben, ein Vierteljahr später machten seine Abgesandten die Überfahrt über das Mittelmeer fest – der Orden musste sich beeilen, nicht wesentlich hinter Templern und Johannitern zurückzustehen, war doch Tortosa bereits im November 1300 rückerobert worden. Dazu bedurfte er der Venezianer, wie bereits oft zuvor, besaß der Deutsche Orden im Mittelmeerraum doch nicht in größerem Umfang eigene, hochseetaugliche Schiffe,64 im Gegensatz zu den Johannitern, die zu der 61 62 63 64

Vgl. Schein (wie Anm. 58), S. 814. Vgl. Mayer (wie Anm. 52), S. 29. Vgl. Polonio (wie Anm. 52), Nr. 245. Jürgen Sarnowsky, The Military Orders and Their Navies, in: On Land and by Sea, hrsg. Judi Upton-Ward (The Military Orders, 4), Aldershot 2008, S. 41–56, stellt S. 43 fest, dass man vor 1291 wenig von Deutschordensschiffen im Mittelmeerraum wisse. Sein Verweis auf die Statuten des Ordens – ebd., Anm. 17 – liefert den Hinweis, dass dem Großkomtur die schif (naves omnes) unterstanden. Allerdings handelt es sich bei dieser Vorschrift um eine Übernahme aus der Templerregel; vgl. Statuten (wie Anm. 28), Gewohnheiten 28, S. 106. Diese Normvorschrift hat im Mittelmeerraum offenbar nur eine geringere Realisierung in Form eigener Schiffe des Ordens gefunden, während sich die Situation in Preußen deutlich anders entwickelte, allerdings nicht gemäß jener Norm hinsichtlich der Zuständigkeit des Großkomturs; vgl. Sarnowsky, S. 43–45,

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Zeit mindestens 10 Galeeren auf Zypern stationiert hatten, während die Templer im Frühjahr 1300 ein Schiff von einem Genuesen charterten,65 wahrscheinlich zusätzlich zu eigenen Schiffen. Anfang des Jahres 1302 erfahren wir wieder von einer wichtigen Verwaltungshandlung in Venedig, die auf ein Mitglied der Ordensleitung – vielleicht den damaligen Großkomtur Wolfram – zurückgehen dürfte: Der Orden lässt sich sein erstes päpstliches Schutzprivileg von 1191 sowie das allgemeine Belästigungsverbot und Freistellung der Ordenskapläne gegenüber den Bischöfen von 1216 oder später transsumieren, also zwei seiner wichtigsten päpstlichen Privilegien. Dem folgt am Jahresende ein Transsumpt des päpstlichen Zehntverbots gegenüber dem Orden von 1221, drei Monate später ein Transsumpt des freien Gütererwerbs, der freien Klerikeraufnahme und des freien Begräbnisrechts von 1221, also grundlegende Privilegien für den Gesamtorden.66 Die Einbindung Hochmeister Gottfrieds von Hohenlohe in diese venezianischen Transsumierungsvorgänge ist mehr als fraglich. Denn seit dem Auftreten 49. Marie-Luise Favreau-Lilie, Der Deutsche Orden in Venedig, in: Von Preußenland nach Italien. Beiträge zur kultur- und bildungsgeschichtlichen Vernetzung europäischer Regionen, hrsg. Mark Mersiowsky/Arno Mentzel-Reuters (Innsbrucker Historische Studien, 30), Innsbruck 2015, S. 21–40, hier S. 29, weist auf ordenseigene Schiffe in apulischen Häfen hin; Nachweise hatte sie bereits früher erbracht: Marie-Luise Favreau-Lilie, The military orders and the escape of the Christian population from the Holy Land in 1291, in: Journal of Medieval History 19, 1993, S. 201–227, hier S. 205 u. 207; für den Hinweis danke ich Frau Favreau-Lilie herzlich. Dem bin ich im Folgenden genauer nachgegangen: Bei der Belagerung von Damiette im Vierten Kreuzzug (1217–1219) wird ein navis Theutonicorum genannt; 1231 kommt ein Schiff des Ordens von Brindisi nach Akkon; 1276 lief ein Segelschiff des Ordens vor Tyrus auf ein Riff und sank (ebd., S. 207 Anm. 11 mit Nachweisen aus erzählenden Quellen). 1267 erfolgt durch den Richter von Barletta eine Ausfuhrerlaubnis nach Akkon cum Navi eiusdem domus [des Ordens in Barletta] que dicitur sanctus Antonius in portu Baroli existenti; Codice diplomatico del regno di Carlo I e II d’Angiò dal 1265 al 1303, Teil II/1, hrsg. Guiseppe del Giudice, Napoli 1869, Nr. IX, S. 56–62, hier S. 60; auch genannt bei Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 11 Anm. 5. Die weiteren Belege betreffen allerdings ausschließlich Ausfuhrerlaubnisse für den Orden, ohne Hinweis auf ordenseigene Schiffe. Im Gegenteil scheint der Zusatz in einer Erlaubnis sogar gegen ordenseigene Schiffe zu sprechen: proviso quod infra … navim …nullum de nostris hostibus … feratur; I registri della cancelleria angioina, hrsg. Riccardo Filangieri, Bd. III (Testi e documenti di storia napoletana pubblicati dall’Accademia Pontaniana III), Napoli 1951, Nr. 715, S. 239 (22. Januar 1270). Dies scheint die anfangs angeführte Aussage von Sarnowsky zu bestätigen. Hinzuzufügen wäre, dass der Deutsche Orden jedoch zu Handelszwecken in seiner Ballei Koblenz über eigene Schiffe sowie einen Schiffsmeister verfügte; vgl. De oorkonden van Pitsenburg, commanderij van de Duitse Ridderorde te Mechelen (1190–1794), hrsg. A[lfred] Jamees, Bd. II, Antwerpen 1993, Nr. 388 zu 1309 Januar 22 und öfter sowie Klaus van Eickels, Die Deutschordensballei Koblenz und ihre wirtschaftliche Entwicklung im Spätmittelalter (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 52), Marburg 1995, S. 250, Anm. 152 und S. 256. 65 Vgl. Sarnowsky (wie Anm. 64), S. 45 und 47. 66 1302 Januar 31 (zwei), 1302 Dezember 21, 1303 Februar 27; vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs (wie Anm. 7), Nr. 1184f., 1203, 1208 (Regesten).

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im August 1299 in Wien ist er wohl nicht mehr nach Venedig zurückgekehrt, sondern hielt sich in den deutschen Balleien auf. „Gottfried ließ sich also weder auf die Vorstellungen der preußischen Fraktion ein, noch von den Anhängern eines Kreuzzugs in Venedig einnehmen.“67 Allerdings versuchte er, zur Beilegung des Streits zwischen der Stadt Riga, dem Erzbischof von Riga und dem Orden beizutragen, der 1297 ausgebrochen war und zur Beteiligung der heidnischen Litauer auf Seiten Rigas und einer empfindlichen Niederlage des Ordens 1298 geführt hatte.68 Mitte 1302 reiste er selber über Preußen nach Livland. Ohne auf Details einzugehen: Die Reise endete mit Hohenlohes Resignation und der Wahl Siegfrieds von Feuchtwangen als neuem Hochmeister 1303. Die Urkunde, die die Bischöfe von Kulm und Pomesanien am 18. Oktober 1303 über das Resignationskapitel in Elbing ausstellten, enthält sogar den Hinweis auf eine Aussage Hohenlohes, er habe bereits vor zwei Jahren den Rücktritt erwogen.69 Inwieweit dies wirklich zutrifft, mag dahingestellt bleiben – sein späteres Vorgehen, bis zu seinem Tod 1310 als „Gegenhochmeister“ im Reich aufzutreten, spricht nicht dafür. Jedenfalls dürfte die starke Ausrichtung der venezianischen Ordensführung auf das Heilige Land – ein Aufbäumen gegen die letztlich doch aussichtslose Situation im Mittelmeerraum – mit ein Grund gewesen sein für die Absetzung Gottfrieds von Hohenlohe, von dem die Brüder in Preußen und Livland sich nicht gebührend unterstützt sahen. Die Vorgänge der Jahre 1300 bis 1302 im Heiligen Land einerseits, die Reise des Hochmeisters nach Preußen andererseits zeigen noch deutlicher als bisher angenommen die Spaltung des Ordens zwischen den Polen Mittelmeerraum und Ostseeraum. Daran änderte auch die Beteiligung des Großkomturs und des Tresslers an jenem Elbinger Kapitel nichts. Wer aber waren diese nicht mit Namen genannten Amtsträger? Konrad von Babenberg war nach der Wahl Hohenlohes 1297 Großkomtur geworden, doch 1300 sehen wir ihn als Spittler, seine Stelle hatte der vorherige Spittler Wolfram eingenommen. Wolfram urkundete am 15. Januar 1301 und am 16. Februar 1302 als Großkomtur und Hochmeisterstatthalter in Padua und Venedig.70 Am 8. April 1302 empfing er in Görz die Bestätigung der Besitzungen in Brixeney (Precenicco): fratri Wolframino magno commendatori gerenti vices maioris magistri.71 Am 14. Juli 1303 wird jedoch in Padua durch den 67 Militzer, Der Hochmeister (wie Anm. 32), S. 53. 68 Vgl. Heinz von zur Mühlen, Livland von der Christianisierung bis zum Ende seiner Selbständigkeit (etwa 1180–1561), in: Baltische Länder, hrsg. Gert von Pistohlkors (Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1994, S. 26–172, hier S. 69f.; Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 16. 69 Preußisches Urkundenbuch (wie Anm. 26), Nr. 805: Addidit [Hohenlohe] etiam et dicebat, quod hoc [den Rücktritt] ipsum ante biennium conceperit, quod tunc facto teste complevit. 70 Vgl. Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 252f. 71 Überliefert als Transsumpt von 1358, April 27 im Deutschordenszentralarchiv Wien; vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs (wie Anm. 7), Nr. 1190 (Regest). Darauf verweist

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dortigen Komtur ein Haus verpachtet im Auftrag domini fratris Henrici dicti Cliber, commendatoris et preceptoris magistri ordinis s. Marie fratrum Alemannorum, tenens locum magistri generalis dicti ordinis.72 Eigentlich kommt nur er als Teilnehmer des Elbinger Kapitels in Frage, dessen genaues Datum wir nicht kennen. Der außerdem beteiligte Tressler könnte Reinhard von Sunthausen gewesen sein, der den Hochmeister bereits 1299 in Wien begleitet hatte, wenngleich der zeitliche Abstand zum Elbinger Kapitel recht groß ist. Der Marschall hielt sich Ende des Jahres 1300 in Famagusta auf; ob er bei den Kämpfen um Tortosa beteiligt war, wissen wir nicht. Und von Konrad von Babenberg als Spittler hören wir seit jenem Geldverleih Mitte des Jahres 1300 nichts mehr. Ein Haupthaus mit dauerhaft geregeltem „Geschäftsbetrieb“ stellte Venedig offensichtlich nicht dar, der wichtigste Mann vor Ort dürfte der Prokurator Bertold gewesen sein, der zwischen 1297 und 1312 immer wieder auftritt.73 Dieses Amt ist bereits 1281 in Akkon nachgewiesen.74 Der Prokurator dürfte der Nachfolger des Kastellans von Montfort gewesen sein, der dort eine den Großgebietigern ähnliche Position besessen hatte.75 Nach seiner Wahl in Elbing 1303 reiste der neue Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen sehr rasch nach Venedig, den wann und von wem auch immer erlassenen Gesetzen hinsichtlich seiner Bewegungsfreiheit unterworfen. In diese Zeit fällt die Transsumierung weiterer wichtiger Papstprivilegien in Venedig. Im November 1303 ist es eine ganze Serie: das Asylrecht des Ordens von 1220, die Gleichstellung mit Templern und Johannitern von 1221, das Verbot zur Erhebung von Novalzehnten von 1224 sowie das Verbot von Exkommunikation und Interdikt gegen den Orden von 1221. Zwei Tage nach diesen in der Ordensniederlassung selber vorgenommenen Transsumierungen folgt im Benediktinerkloster San Gregorio, ganz in der Nähe der Deutschordensniederlassung,76 die Transsumierung des Verbots zur Zahlung von Sustensationsgeldern an päpstliche Legaten von 1258. Im Mai 1304 folgt erneut das Zehntverbot gegenüber dem

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auch Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 137, Anm. 5; er nennt als Namen Belframinus, identifiziert ihn richtig mit Wolfram. Wie er auf die Namensform Belframinus kommt, ist unklar, da sowohl das Transsumpt als auch das damalige Regestenwerk (Die Urkunden des DeutschOrdens-Centralarchives zu Wien. In Regestenform hrsg. Ed. Gaston Graf von Pettenegg, Prag/ Leipzig 1887, Nr. 820) eindeutig Wolframinus lesen. Nach einer anderen Überlieferung, die sich anhand der dortigen Quellenangabe nicht verifizieren ließ, erfolgte der Druck bei Mario Giovanni Battista Altan, Precenicco, i conti di Gorizia, i cavalieri teutonici e la sua comunità (La Bassa, 17), Udine 1981, S. 89f., der Beltramin liest. Vgl. Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 253. 1306 ist er als Bruder in der Ballei Etsch, 1309 als Komtur von Lengmoos nachgewiesen; vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs (wie Anm. 7), Nr. 1252 und 1288 (Regest). Vgl. die Daten bei Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 213. Vgl. ebd., S. 212f. Vgl. Statuten (wie Anm. 28), Gewohnheiten 8, S. 97. Zum Kloster vgl. Brusegan (wie Anm. 53), S. 226f.

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Orden an die Amtskirche, im Oktober 1304 das Privileg Alexanders IV. von 1257 mit der Anerkennung aller von seinen Vorgängern erteilten Privilegien, Immunitäten und Freiheiten, unter Vorbehalt der geistlichen Rechte.77 Es handelt sich bei allen Stücken um grundlegende päpstliche Privilegien, die die Ordensleitung in Venedig zur Verfügung hatte und die einem Auftraggeber zur Transsumierung gerade zu jener Zeit offenbar besonders bedeutend schienen. Doch wer war der Auftraggeber der Transsumpte? Im Transsumpt vom 13. November 1303 wird als Petent ein Deutschordenspriester Heinrich genannt, in den beiden Transsumpten von 1304 ist nur die Rede von den Brüdern des Ordens in Venedig. Dagegen nennen die vier Urkunden vom 11. November 1303 den Petenten und die Anwesenden: Es geschah auf Bitten des Landkomturs von Sizilien Burchard von Hasenburg (1301–1308) sowie der Anwesenden fratris Syffridi de Vuccotheangen magistri generalis et fratris Karoli magni commendatoris ordinis praetaxati ac ipsorum fratrum, fratris Theodorici de Coldic, fratris Henrici thesaurarii, fratris Hermanni sacerdotis, fratris Nicholai clerici, fratris Henrici de Forborg etiam ordinis eiusdem ac etiam Bernardi clerici des Guasfalia et Iohannis de Colonia. Siegfried von Feuchtwangen war im Sommer 1303 in Elbing zum Hochmeister gewählt worden, Mitte November befand er sich also schon in Venedig, offensichtlich nicht alleine. Der ihn begleitende Großkomtur Karl dürfte Karl von Trier gewesen sein,78 Heinrich Klieber hatte offenbar sein Amt abgeben müssen. Dietrich von Kolditz kennt Forstreuter für 1274/75 in Preußen;79 er muss auf77 1303 XI 11; Originale im Archivio di Stato di Palermo, TM Nr. 427–430; vgl. Toomaspoeg (wie Anm. 57), Regest Nr. 429–432, S. 697–699; Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 212, datiert 1304; dazu Anm. 84. Transsumiert werden: 1220 XII 16; Druck: Tabulae Ordinis Theutonici, hrsg. Ernst Strehlke, Berlin 1865, neu hrsg. Hans Eberhard Mayer, Toronto 1975, Nr. 307; Regest: Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs (wie Anm. 7), Nr. 55. 1221 I 9; zwei Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; Druck: Tabulae, Nr. 309; Regest: Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 56; das Stück ist ob seiner Bedeutung mehrfach überliefert. 1224 VI 22 (als Erneuerung von 1221); Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; Druck: Tabulae, Nr. 393; Regest: Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 146. 1231 III 29 (als Erneuerung von 1221); Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; Regest: Tabulae, Nr. 451; Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 196. 1303 XI 13; Original im Archivio di Stato di Palermo, TM Nr. 431; vgl. Toomaspoeg (wie. Anm. 57), Regest Nr. 433, S. 699. Transsumiert wird 1258 VI 11; zwei Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; Druck: Tabulae, Nr. 583; Regest: Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 494. 1304 V 10; Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 1230 (Regest). Transsumiert wird 1244 IV 20; Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; Regest: Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 279. 1304 X 25; Or. im Deutschordenszentralarchiv Wien; vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs, Nr. 1235 (Regest). Transsumiert wird 1257 III 6; Druck: Tabulae, Nr. 537. 78 Das vermutet bereits Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 212; ihm folgt Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 21. 79 Vgl. Preußisches Urkundenbuch (wie Anm. 26), Nr. 319 (1274 I 8) und Nr. 331 (1275 V 17), als Ritterbruder in Christburg.

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grund seiner Stellung in der Petentenreihe im Kapitel in Elbing zum Spittler oder Trapier ernannt und könnte als erfahrener „Preuße“ dem neuen Hochmeister mitgegeben worden sein. Ob in dem Tresler Heinrich noch Reinhard von Sunthausen zu sehen ist, muss offen bleiben. Burchard von Hasenburg ließ auch in der Folgezeit wesentliche Papst- und Kaiserurkunden für seine Ballei Sizilien transsumieren; so war er dazu 1305 und 1306 auch dreimal in Barletta.80 Die übrigen Genannten sind nicht näher einzuordnen. Jedenfalls sehen wir hier eins der wenigen Aktionszeugnisse des Hochmeisters Siegfried von Feuchtwangen. Babenberg jedoch taucht in der Führungsriege nicht auf. Die Nähe Venedigs zu Rom bedingte gerade in diesen unruhigen Zeiten eine intensivere Befassung des Ordensvertreters in Rom, des Generalprokurators, mit Aufträgen an die Kurie. Ohne sie im einzelnen aufzuzählen, ist jedenfalls die Zahl der Papsturkunden aus jener Zeit, vermutlich auf Anweisung des Hochmeisters durch den Generalprokurator vermittelt, nicht unerheblich. An einem Stück lässt sich der hochmeisterliche Auftrag mit Sicherheit festmachen: Am 4. Juni 1304 betraut Benedikt IX. elf Empfänger in Köln, Basel, Palermo, Trani, Korone, Venedig, Wien, Trier, Neuenburg, Würzburg und Mechelen mit dem Schutz des Ordens, er ernennt sie zu Konservatoren.81 Während wir davon vor allem aus dem Papstregister wissen, haben sich doch zwei der damaligen Urkunden im Original erhalten: im Deutschordenszentralarchiv Wien das Exemplar, welches für den Abt des Schottenklosters in Wien bestimmt war, und das Exemplar, welches der Kantor in Basel erhalten sollte. An ihnen lässt sich der Weg der Privilegien verfolgen. Der Generalprokurator erhielt offenbar einen Auftrag des Hochmeisters; die von ihm beschafften Privilegienausfertigungen gelangten dann an den Hochmeister nach Venedig zur Weiterleitung. Zwei von ihnen haben die Empfänger nicht erreicht: Das Exemplar für den Schottenabt in Wien ist – auf welche Art auch immer – im Archiv der österreichischen Deutschordensballei in Wien gelandet,82 das Exemplar für den Kantor in Basel blieb in Venedig, wo es 80 Vgl. Kristjan Toomaspoeg, Die Urkunden des Deutschen Ordens in Italien, in: Das „Virtuelle Archiv des Deutschen Ordens“. Beiträge einer internationalen Tagung im Staatsarchiv Ludwigsburg am 11. und 12. April 2013, hrsg. Maria Magdalena Rückert, Stuttgart 2014, S. 113–128, hier S. 114. 81 Vgl. Le Registre de Benoit XI, hrsg. Charles Grandjean (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome, 2), Paris 1905, Nr. 922 ; Druck der Baseler Urkunde: Hans Prutz, Eilf Deutschordens-Urkunden aus Venedig und Malta, in: Altpreußische Monatsschrift 20 (1883), S. 385–400, Nr. 11 (mit irrigem Datum Juni 3); ausführlich dazu und Druck der Wiener Urkunde nach dem Original im Deutschordenszentralarchiv Wien: Kurt Forstreuter, Conservatoren des Deutschen Ordens, in: Von Akkon bis Wien. Studien zur Deutschordensgeschichte vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift zum 90. Geburtstag von Althochmeister P. Dr. Marian Tumler O.T. am 21. Oktober 1977, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 20), Marburg 1978, S. 29–42, hier S. 32–34. Aus dem Papstregister in mehreren regionalen Regestenwerken aufgenommen, ohne sie hier im einzelnen nachzuweisen. 82 Vgl. Die Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs (wie Anm. 7), Nr. 1231.

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sich heute noch befindet.83 Auch dies ist ein Zeugnis der Tätigkeit der venezianischen Ordenszentrale. Karl von Trier ist nicht lange Großkomtur geblieben, sondern hat wieder sein Landkomturamt in Lothringen übernommen.84 Als Großkomtur sehen wir 1306/ 83 Vgl. Riccardo Predelli, Le reliquie dell’Archivio dell’Ordine teutonico in Venezia, in: Atti del reale istituto Veneto di scienze 64/2 (1905), S. 1379–1463, Nr. 76. 84 Die Transsumierungen gemäß Anm. 74 werden von Toomaspoeg (wie. Anm. 57), Regest Nr. 429–432, S. 697–699 und Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 212 unterschiedlich datiert: Toomaspoeg auf 1303, Forstreuter auf 1304. Die Datierung von Forstreuter wurde übernommen – vor Erscheinen der Arbeit von Toomaspoeg – von Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 21 und zuletzt von Karol Polejowski, Charles of Trier in the Teutonic Order until 1305, in: W słuz˙bie zabytków, hg. v. Janusz Hochleitner und Karol Polejowski, Malbork 2017, S. 139–150, hier S. 148, woraus sich für Karl von Trier ergäbe, dass er 1304 März 4 noch als Landkomtur in Metz urkundet (Niess, S. 21 mit Anm. 76) und erst anschließend im Laufe des Jahres (vor November) 1304 Großkomtur wurde, um das Amt bereits im nächsten Jahr wieder zu verlieren – Reisezeiten von Lothringen nach Venedig und zurück eingerechnet also nur für wenige Monate Großkomtur war, Nieß nimmt maximal 1 ½ Jahre an. Die bei Toomaspoeg vorhandene Reihenüberlieferung spricht für 1303 als Jahr der Transsumierung und einen Irrtum bei Forstreuter, wenngleich die Indiktionsdatierung der Urkunde in der Überlieferung in Palermo sowohl 1303 als auch 1304 zulassen würde (Mitteilung von Kristjan Toomaspoeg, April 2018). Möglicherweise wurde bei der von Nieß zitierten, wohl nicht gedruckten Urkunde von 1304 März 4 in den Archives Départementales de la Moselle in Metz der Metzer Jahresanfang (mos Metensis) zum 25. März nicht berücksichtigt, sodass die Urkunde auf 1305 zu datieren wäre. Daraus ergäbe sich für Karl von Trier: Sommer 1303 im Großkapitel in Elbing zum Großkomtur bestimmt – ob in Anwesenheit oder nicht, lässt sich nicht sagen –, als solcher im November 1303 in Venedig, im März 1305 aber wieder als Landkomtur von Lothringen in Metz. Das Amt des Landkomturs für Karl von Trier im Jahre 1305 ist nicht bezweifelt, es geht nur um den genaueren Termin. Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 25 beruft sich auf eine bei Heinrich Lempfried, Die Deutschordenskomturei Metz, Saargemünd 1887 (Beilage zum Jahresbericht des Gymnasiums zu Saargemünd 1887, Programm-Nr. 478), S. 23f. ohne Datum für 1305 angeführte Urkunde aus dem damaligen Staatsarchiv (heutigen Landeshauptarchiv) Koblenz, auch schon bekannt bei Johannes Voigt, Geschichte des Deutschen RitterOrdens in seinen zwölf Balleien in Deutschland, Bd. 1, Berlin 1857, S. 247, die er aber nicht finden konnte. Sie müsste sich aufgrund der 1912 von Koblenz erfolgten Abgabe eigentlich in Metz finden lassen. Datiert ist jedoch eine Urkunde Karls von Trier als Landkomtur von Lothringen 1305, September 23 im Landeshauptarchiv Koblenz 55 A 4 Nr. 604; vgl. Die Deutschordensurkunden des Landeshauptarchivs Koblenz. Balleien Koblenz und Lothringen (1174–1807), hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 76 = Veröffentlichungen er Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 14), Weimar 2016, Nr. 3109. 1305 als Amtsdatum Karls von Trier als Landkomtur von Lothringen wäre also dadurch voll gesichert. In diesem Zusammenhang ist auch der Zeitpunkt der Wahl Siegfrieds von Feuchtwangen auf dem Großkapitel in Elbing 1303 anzusprechen. Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 19 sowie ders., Siegfried von Feuchtwangen, in: Die Hochmeister (wie Anm. 3), S. 51–56, hier S. 51 geht vom Wahldatum Mitte Oktober aus. Dabei stützt er sich auf die Urkunde von 1303, Oktober 18, in der die Bischöfe Hermann v. Kulm und Christian v. Pomesanien (electus) die Rücktrittsumstände Gottfrieds v. Hohenlohe darstellen; Preußisches Urkundenbuch (wie Anm. 26), Nr. 805; Hohenlohisches Urkundenbuch (wie Anm. 14), Nr. 728. 44. Dieser Wahltermin würde schon aus zeitlichen Gründen die Anwesenheit Karls von Trier im November 1303 in Venedig nicht möglich machen. Militzer, Der Hochmeister Gottfried von Hohenlohe (wie Anm. 32), S. 53 ist vorsichtiger und lässt sehr wohl auch

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07 Marquard von Mässing, einen Parteigänger Konrads von Feuchtwangen und Vertreter der „preußischen Partei“ innerhalb des Ordens.85 Sicher hat er die Pläne einer Verlegung des Hochmeistersitzes nach Preußen weiter gefördert. Trotzdem gab es gleichzeitig nochmals ein Aufbäumen der Mittelmeerfraktion im Orden, die Feuchtwangen 1307 veranlasste, ein Kontingent an Brüdern von Venedig nach Zypern zu schicken, welches durch die Ballei Apulien mit Pferden ausgerüstet und verpflegt wurde, wozu Robert von Anjou als Vikar König Karls II. die Erlaubnis zollfreier Ausfuhr aus Apulien gab.86 Außerdem schon den Sommer 1303 als möglichen Wahltermin zu. Das nahm bereits Johannes Voigt, Geschichte Preußens, Bd. IV, Königsberg 1830, S. 173–175 mit Anm. 1 auf S. 174f. an mit dem sicher zutreffenden Argument, dass die Urkunde der beiden Bischöfe eine Reaktion auf die Bemühungen Hohenlohes gewesen sei, seinen Rücktritt zu widerrufen – er versuchte, im Reich weiterhin als Hochmeister aufzutreten. Zur Stärkung seiner Position begab sich Hohenlohe dazu auch an den Königshof, was von Militzer, Der Hochmeister Gottfried von Hohenlohe (wie Anm. 32), S. 57, Anm. 66 (entgegen seiner Aussage ebd., S. 54, wo er 1304 annimmt) auf den Herbst 1303 datiert wird. Der Sommer als Wahltermin für Siegfried von Feuchtwangen wird indirekt gestützt durch die Daten für Bischof Christian von Pomesanien, der bei dem Rücktritt Hohenlohes und der Wahl Feuchtwangens zum Hochmeister in Elbing anwesend gewesen sein dürfte – wie Bischof Hermann von Kulm war Christian von Pomesanien Deutschordenspriester – und den Akt im Oktober 1303 bestätigte: Christian wurde 1303 zwischen April 16 und Mai 16 zum Bischof gewählt und war vorher Kaplan des preußischen Landmeisters und Propst des samländischen Domkapitels gewesen, eng mit dem Orden verbunden; vgl. Mario Glauert, Das Domkapitel von Pomesanien (1284–1527) (Prussia Sacra, 1), Torun´ 2003, S. 420–422. Mit der Datierung der Hochmeisterwahl in den Sommer 1303 ist die Zeit bis zum Auftreten von Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen und Großkomtur Karl von Trier in Venedig im November 1303 auch hinsichtlich der Reisezeit von Elbing oder aus Lothringen nach Venedig hinreichend, so dass man an der oben geäußerten Ämterfolge Karls von Trier festhalten könnte: seit 1295 Landkomtur von Lothringen, im Sommer 1303 im Elbinger Großkapitel zum Großkomtur ernannt, im März 1305 wieder Landkomtur von Lothringen. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass bei dem Pachtvertrag von Padua Mitte Juli 1303 Heinrich Klieber als Großkomtur noch in Venedig war, gerät das Datengerüst ins Schwanken. Die Entfernung von Venedig nach Elbing dürfte kaum schneller als in zwei Monaten zu bewältigen gewesen sein, und von Mitte Juli bis zum Auftauchen des neuen Großkomturs Karl von Trier in Venedig Mitte November sind es nur vier Monate. Das ließe sich nur erklären, dass Klieber nicht nach Preußen gereist ist und im Elbinger Kapitel durch Karl von Trier ersetzt wurde, wofür auch das Umsetzen Kliebers in die Ballei Etsch spräche. Die andere Möglichkeit wäre, dass Klieber nach Preußen reiste – was den Wahltermin des Hochmeisters in den Herbst 1303 verschieben würde – und die Transsumpte doch auf den 11. November 1304 zu datieren wären, damit die Amtszeit Karls von Trier als Großkomtur recht kurz wäre. Solange keine neuen Quellen gefunden sind, bleiben uns jedenfalls beide Möglichkeiten und ein offenes Terminszenario. 85 Vgl. Arnold, Deutschmeister Konrad von Feuchtwangen (wie Anm. 2), S. 32 bzw. S. 202 bzw. S. 118. 86 Vgl. Hubatsch (wie Anm. 52), S. 283; Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 57; Udo Arnold, Der Deutsche Orden und Venedig, in: Militia Sacra. Gli ordini militari tra Europa e Terrasanta, hrsg. Enzo Coli/Maria De Marco/Francesco Tommasi, Perugia 1994, S. 145–165, hier S. 152; Wiederabdruck in: ders., Deutscher Orden und Preußenland (wie Anm. 2), S. 207– 224, hier S. 215f. Abschrift der verbrannten Urkunde im Deutschordenszentralarchiv Wien, Abt. Welschland 125, fol. 400 rv; vgl. Hubert Houben, Zur Geschichte der Deutschordensballei

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wurde der Orden von anderer Seite eingeplant für die Wiedereroberung des Heiligen Landes: Der Großmeister der Johanniter sah in einem Memorandum an Papst Clemens V. die Beteiligung des Deutschen Ordens vor,87 und Clemens V. forderte dementsprechend den Orden am 20. September 1308 dazu auf.88 Houben vermutet allerdings, dass der Orden sich nicht personell, sondern nur finanziell beteiligt habe.89 Das änderte aber letztlich nichts daran, dass die Umstände den Hochmeister 1309 zwangen, aus Venedig nach Marienburg zu übersiedeln – auch die Mittelmeerfraktion hatte einsehen müssen, dass ein Verbleib in der Lagunenstadt für die Ordensleitung nicht mehr zu verantworten war. Die einst so günstige Situation der Stadt für den Orden war Vergangenheit: Die Nähe der Ordensleitung zur Kurie war mit der dauerhaften Übersiedlung des Papstes von Rom nach Avignon im März 1309 nicht mehr gegeben, einen Monat später folgte das Interdikt gegen Venedig. Und genau in dieser Zeit, zu Ostern 1309 (Ende März/Anfang April) befand sich der Hochmeister bereits in Wien.90 Venedig als Ordensniederlassung wurde daraufhin immer bedeutungsloser.91 Von Konrad von Babenberg hören wir nach seinem Auftreten als Spittler in Venedig im Jahre 1300 nichts mehr – so plötzlich, wie er als Komtur in Würzburg auftauchte, so plötzlich verschwindet er auch wieder aus den Quellen. Zwar

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Apulien. Abschriften und Regesten verlorener Urkunden aus Neapel in Graz und Wien, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 107 (1999), S. 50–110, hier S. 100f., Nr. 32 (Druck). Während Hubatsch und Forstreuter auf 1306 datieren, nimmt Houben aufgrund der Indiktion 1307 Juli 5 an (anno Domini millesimo trecentesimo sexto, die quinto Iulii, quinte indictionis), auch im Hinblick auf ein Archivinventar des 18. Jahrhunderts aus Brindisi mit zugehörigen Stücken. Die königliche Ausfuhrgenehmigung entsprach der üblichen Praxis, mit der eine Konkurrenz im Handel vermieden wurde, weil die Ausfuhr sich damit nur auf Eigenbedarf und karitative Ziele bezog; vgl. Favreau-Lilie, The military orders (wie Anm. 64), S. 223f. Von Venedig aus wäre nur ein Transport auf venezianischen Schiffen möglich gewesen, da die Stadt diesen Bereich monopolisiert hatte. Außerdem verfügte der Orden dort nicht über die nötigen Ressourcen. Vgl. Joseph Delaville Le Roulx, Cartulaire général de l’Ordre des Hospitaliers de St. Jean de Jérusalem (1100–1300), 4, Paris 1906, ND München 1980, Nr. 4681, datiert auf ca. 1305; dazu auch Niess, Hochmeister Karl von Trier (wie Anm. 5), S. 29. Vgl. Regestum Clementis papae V ex Vaticanis archetypis, hrsg. Robert Fourtier, 3, Rom 1886, Nr. 3219 von 1308 IX 20; Forstreuter, Mittelmeer (wie Anm. 39), S. 57; Bullarium Cyprium, Bd. II: Papal Letters Concerning Cyprus 1261–1314, hrsg. Christopher Schabel (Texts and studies on the history of Cyprus, 64, 2), Nicosia 2010, Nr. q-48, S. 363. Vgl. Hubert Houben, Between Sicily an Jerusalem: The Teutonic Knights in the Mediterranean (Twelfth to Fifteenth Centuries), in: Islands and Military Orders, ca. 1291 – ca. 1798, hrsg. Emanuael Buttigieg und Simon Phillips, Farnham 2013, ND London 2016, S. 155–163, hier S. 162. Vgl. Sophia Menache, Clement V (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, IV, 36), Cambridge 1998, S. 26; Arnold, Marienburg (wie Anm. 5), S. 62. Insgesamt zum Orden in Venedig s. Arnold, Der Deutsche Orden und Venedig (wie Anm. 83); Favreau-Lilie, Der Deutsche Orden in Venedig (wie Anm. 64).

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nennt ihn Karl Heinrich Lampe für 1304 bis 1306 erneut als Komtur von Frankfurt, doch scheint es sich um eine Verwechslung mit Konrad Lumpo von Flörsheim zu handeln92 – ein konkreter Beleg für Konrad von Babenberg findet sich nach 1300 nicht mehr. Ob er nach 1300, also unter Hochmeister Gottfried von Hohenlohe, noch ein Amt ausgeübt hat, muss offen bleiben. Falls sein Geburtsjahr wirklich um 1240 bis 1245 lag, könnte er auch unabhängig von personellen Änderungen innerhalb der Ordensspitze altersbedingt gestorben sein; doch auch ein Tod in jüngerem Alter wäre sehr wohl möglich. Im Amt des Spittlers haben wir nach 1300 Nachweislücken. Ob Dietrich von Kolditz 1303 Spittler oder Trapier war, lässt sich nicht sagen. Doch in den vier venezianischen Urkunden vom 11. November 1303, in der Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen, Großkomtur Karl von Trier, Kolditz (als Spittler oder Trapier) und der Tressler Heinrich aufgeführt sind, fehlt Babenberg – normalerweise hätte man ihn in dieser Amtsträgerreihung erwarten dürfen. Das aber bedeutet, dass das Elbinger Kapitel von 1303 ihn nicht mehr als Amtsträger bestimmt hat oder dass er inzwischen verstorben war. In den 14 Jahren seines sicher nachgewiesenen Wirkens hatte Konrad von Babenberg Höhen und Tiefen einer Laufbahn im Umbruchszeitalter des Ordens erlebt, teilweise als Mitglied der Ordensleitung in unterschiedlichen Funktionen – Trappier, Großkomtur, Spittler, zwischenzeitlich sogar als Interimshochmeister. Wie weit allerdings seine Gestaltungsmöglichkeiten gingen, welchen Einfluss er auf die Entwicklung des Ordens hatte, entzieht sich unserer Kenntnis. Offensichtlich gefördert von Hochmeister Konrad von Feuchtwangen dürfte er ein treuer Parteigänger von dessen Politik gewesen sein. Feuchtwangens Nachfolger Gottfried von Hohenlohe bediente sich seiner ebenfalls, wenngleich der schwächere Hohenlohe auch für Konrad von Babenbergs Karriere nicht dauerhaft und zukunftsträchtig Weichen stellen konnte. Die widersprüchlichen Kräfte im Orden mit den Polen Mittelmeerraum und Ostseeraum waren zu intensiv und behinderten sich gegenseitig. Trotz der relativ wenigen Zeugnisse und einer nicht sehr langen Zeit war es aber möglich, durch Zusammenführung verstreuter Quellensplitter einem Ordensritter aus der zweiten Reihe ein wenig Kontur zu geben. Dabei bietet er ein sonst im 13. Jahrhundert nicht nachgewiesenes Beispiel für einen Interimsmeister, der eigentlich nur aus der Theorie der Ordensregel bekannt ist.

92 Urkundenbuch der Deutschordensballei Thüringen (wie Anm. 20), Nr. 557, Anm. 4; Lumpo ist bei Seiler (wie Anm. 18), S. 504 als Komtur für 1300–1316 genannt, allerdings nur für das erste und letzte Jahr nachgewiesen.

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Amtsdaten Konrads von Babenberg93 1260 oder früher 1287 III 24–1288 IV 8 1288 V 1–1289 nach IX 29 1292 V 19–1294 IV 7 1294 X 20 1296 I 31 und V 14 [1296 VII 4–1297 V 3] 1297 V 22 und 23 und VI 10 1299 VIII 3 1300 VI 30

geboren94 Komtur von Würzburg Landkomtur von Franken Komtur von Frankfurt-Sachsenhausen frater (Oberster) Trapier Interimsmeister Großkomtur Landmeister von Preußen (Amt nicht ausgeübt) (Oberster) Spittler

Amtsdaten Gottfrieds von Hohenlohe um 1265 um 1280 (mit 14 Jahren) 1288 VIII 30 1290 IV 4–1294 1294 VIII 21–1297 I 6 1297 V 3–1303 Mitte X oder Sommer 1310 X 19

geboren Ordenseintritt erste urkundliche Erwähnung als frater Landkomtur von Franken Deutschmeister Hochmeister (Rücktritt) gestorben

93 Die genannten Anfangs- und Enddaten beziehen sich auf urkundliche Nachweise; der Zeitraum der jeweiligen Amtsausübung kann früher wie später umfangreicher gewesen sein. Ausgenommen ist die Zeit als Interimsmeister, die sich eindeutig nach dem Todesdatum Feuchtwangens als Hochmeister und dem Wahldatum von dessen Nachfolger Hohenlohe richtet. 94 Der Ansatz des Geburtsdatums hängt davon ab, ob man mit Herzig (wie Anm. 9) den nur mit Vornamen genannten Würzburger Komtur Konrad 1271 und 1274 mit Babenberg identifiziert, was jedoch aufgrund der Häufigkeit des Namens Konrad im 13. Jahrhundert problematisch ist. In diesem Fall müsste das Geburtsjahr um 1240–1245 liegen.

Sven Ekdahl

Die Beschlagnahme der polnischen Getreidelieferung für Litauen in Ragnit durch Hochmeister Ulrich von Jungingen im Juni 1409. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des „Großen Krieges“ 1409–1411

Die Nachricht von der Niederlage des Deutschen Ordens in der Schlacht bei Tannenberg 1410 verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch ganz Europa. Zu den Multiplikatoren gehörte der Reichsvikar Sigmund von Luxemburg, König von Ungarn, der am 20. August seinen bekannten Aufruf, Hilfe für den Deutschen Orden zu leisten, erließ. Er enthielt eine Empfehlung für den Überbringer, den Gesandten und „treuen Ritter“ Wenzel von Miska, der nähere Auskunft über die Geschehnisse erteilen könne. So geschah es, dass die Fürstenhöfe in Mittel- und Westeuropa von Wenzel von Miska besucht wurden und Nachrichten über den großen Kampf in Preußen erhielten. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass er es war, der an den Hof des französischen Königs Karl VI. kam und in der sogenannten „Chronik des Mönchs von Saint-Denis“ als Gewährsmann erwähnt wird.1

Der Bericht in der „Chronik des Mönchs von Saint-Denis“ Verfasser dieser wohlbekannten Chronik war Michel Pintoin, ein im Zeitgeschehen gut informierter Mönch aus dem Kloster Saint-Denis bei Paris, der den offiziellen Auftrag erhalten hatte, eine Chronik über Karl VI. zu schreiben. Seine Darstellung der Ereignisse des Jahres 1410 enthält unter anderem eine recht ausführliche Schilderung der Schlacht bei Tannenberg aus ordensfreundlicher Sicht mit zwar sehr übertriebenen Zahlen- und fehlerhaften Zeitangaben, aber doch mit einer in ihren Grundzügen zutreffenden Beschreibung des Schlachtverlaufs, wobei die Bedeutung der „Flucht der Litauer“ mit ihren Folgeerschei1 Sven Ekdahl, Die Schlacht bei Tannenberg 1410. Quellenkritische Untersuchungen, 1: Einführung und Quellenlage (Berliner Historische Studien, 8; Einzelstudien, 1), Berlin 1982, S. 183–185; ders., Grunwald 1410. Studia nad tradycja˛ i z´ródłami. Tłumaczenie Maciej Dorna, Kraków 2010, S. 181–183. Zustimmung zu dieser Annahme bei Loïc Chollet, Les Sarrasins du Nord. Une histoire de la croisade balte par la littérature (XIIe–XVe siècle), Neuchâtel 2019, S. 266.

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nungen als Wendepunkt des Kampfes besonders hervorgehoben wird.2 Als Gewährsmann wird auf einen ausgeschickten Gesandten verwiesen, der offenbar vom Hof des ungarischen Königs gekommen war. Wir können davon ausgehen, dass es sich um den genannten Wenzel von Miska gehandelt hat. Die genannte Chronik enthält einen der frühesten ordensfreundlichen Berichte über Tannenberg.3 Bemerkenswert ist die Hervorhebung einer wichtigen Ursache für den im August 1409 begonnenen Krieg zwischen dem Deutschen Orden einerseits und König Władysław Jagiełło von Polen und Großfürst Vytautas (poln. Witold; auf Deutsch auch Witowt) von Litauen andererseits. Der Bericht ist in der bisherigen Forschung entweder gar nicht oder nur am Rande und ungenügend beachtet worden. In diesem Beitrag zu Ehren von Jürgen Sarnowsky soll deshalb etwas näher darauf und auf andere Quellen, die das Thema betreffen, eingegangen werden. Nach Michel Pintoin hatte ihm sein Gewährsmann geschildert, dass der polnische König in einer Ladung Getreide, die für seinen Vetter („Bruder“), den litauischen Großfürsten, vorgesehen war und durch Preußen transportiert wurde, Panzer und Kriegsmaterial versteckt hatte, womit 300 Männer hätten bewaffnet werden können. Da es verboten war, Heiden (im damaligen französischen Sprachgebrauch „Sarrazenen“ genannt) mit Waffen zu versehen, hätten die Herren von Preußen diese beschlagnahmt und verteilt; und „dies lieferte den Anlass für die tödliche Zwietracht“: Nuper rex Cracovie christianus, fratris sui regis Sarraceni vallidis victus precibus, bladorum copiam per Prusciam mittere disposuerat et infra loricas et instrumenta bellica abscondi fecerat, unde trecenti viri armari poterant. Quod cum ad noticiam dominorum Pruscie pervenisset, attendentes id fore illicitum christianis, quod armis muniant Sarracenos, illa, servando modum communem, retinuerunt ac distribuerunt ad placitum; et hoc mortalis discordia fomitem ministravit.4

Wir können festhalten, dass es sich nach dieser ordensfreundlichen Darstellung um eine große Menge Waffen gehandelt habe, dass die Schuldfrage zu Ungunsten 2 Vgl. Sven Ekdahl, The Turning Point in the Battle of Tannenberg (Grunwald/Zˇalgiris) in 1410, in: The Lithuanian Quarterly Journal of Arts and Sciences 56,2 (2010), S. 53–72, hier S. 65f. Vgl Sylvain Gouguenheim, Tannenberg. 15 juillet 1410, Paris 2012, S. 151–153 und Chollet, Les Sarrasins du Nord (wie Anm. 1), S. 268f. 3 Chronique du religieux de Saint-Denys, contenant le règne de Charles IV, de 1380–1422, publiée en latin pour la première fois par M.L. Bellaguet, précédée d’une introduction par M. de Barante, 1–6 (Collection de documents inédits sur l’histoire de France, Première série, Histoire politique, 16), hier 4, Paris 1842, S. 334, 336; französische Übersetzung ebd, S. 335, 337. Druck auch in Scriptores rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der Preußischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft, hrsg. Theodor Hirsch, Max Toeppen, Ernst Strehlke, 3, Leipzig 1866, auch ND Frankfurt am Main 1965, S. 453f. 4 Wie vorige Anm. Französische Übersetzung des betreffenden Abschnitts bei Chollet, Les Sarrasins du Nord (wie Anm. 1), S. 267.

Die Beschlagnahme der polnischen Getreidelieferung für Litauen in Ragnit

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Jagiełłos eindeutig geklärt sei und dass dieser Vorfall eine große Rolle als auslösender Faktor für den Kriegsausbruch 1409 gespielt habe. Es stellt sich nun die Frage, wie zuverlässig die Angaben sind und ob es andere Quellen gibt, die hierüber etwas aussagen. Zunächst jedoch ein allgemeiner Überblick.

Hungersnot in Litauen 1408 und 1409 Wie aus dem in der bisherigen Forschung viel zu wenig beachteten Buch von Zenonas Ivinskis über die Geschichte des Bauernstandes in Litauen hervorgeht, herrschte bereits 1408 und noch mehr Anfang des nächsten Jahres in Oberlitauen (Auksˇtaiten) Mangel an Brotkorn.5 Die Einwohner gingen nach Samaiten (auch Zˇemaiten etc.), welches anscheinend von der Missernte weniger betroffen war, um dort Korn anzukaufen. Die von dem dortigen Deutschordensvogt Michael Küchmeister, dem späteren Hochmeister, getroffenen Sperrmaßnahmen gegen den Getreideankauf und der daraus entstandene Briefwechsel mit Vytautas in der ersten Jahreshälfte 1409 zeigen, dass die Not sehr groß war. Um dem entgegenzuwirken, entschloss sich Jagiełło, den Litauern polnisches Getreide aus Kujawien zu schenken, und Vytautas erhielt vom Hochmeister Ulrich von Jungingen die Genehmigung, es auf Schiffen durch Preußen und Samaiten nach Kaunas (dt. Kauen, poln. Kowno) transportieren zu lassen. In Ragnit wurden die Schiffe jedoch auf Befehl des Hochmeisters gestoppt und die Getreideladung, ebenso wie andere Güter, beschlagnahmt. Viele Fragen sind mit diesem Vorgang verbunden. Fangen wir damit an, nach anderen Quellen als der Chronik des Mönchs von Saint-Denis zu suchen.

Die Angaben im Tresslerbuch des Ordens Eine von der Propaganda beider Seiten völlig unabhängige Quelle ist das Tresslerbuch des Deutschen Ordens, das die Jahre 1399 bis 1409 umfasst und eine Fülle von Informationen zu den unterschiedlichsten Themen liefert, so auch in unserem Fall. Nach einer Eintragung, die wohl auf Juni 1409 zu datieren ist, waren es insgesamt fünf Schiffe, deren Ladungen in Ragnit beschlagnahmt wurden. Zwei von ihnen gehörten den Schiffern Furenbrand und Bemekrafft und führten ausschließlich Getreide, und zwar Roggen mit einer Gesamtmenge von 47 5 Zenonas Ivinskis, Geschichte des Bauernstandes in Litauen von den ältesten Zeiten bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts. Beiträge zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Bauernstandes in Litauen im Mittelalter (Historische Studien, 236), Berlin 1933, auch ND Vaduz 1965, S. 70f.

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Last minus 19 Scheffel, während die anderen mit unterschiedlichen Gütern beladen waren. Peter Schonseke hatte in seinem Schiff 23 Last und 2 (Holz)tonnen Salz, was insgesamt 53 Tonnen Salz entsprach, und außerdem 3 große Packen mit Tuch. Niclos Cluge führte 3 Packen Tuch, eine Glocke im Wert von 43 Mark, einen Kessel im Wert von 18 Mark, 2 Ringharnische (panczer) und 2 große Zinnkannen. Im fünften Schiff des Mertin Busch gab es 7 Packen Tuch, 4 Ringharnische und 2 Fässer mit Rüstungsteilen von Harnischen (blechharnisch).6 Von dem Schiffer Furenbrand heißt es, dass er aus Thorn stammte, und das dürfte auch auf die vier anderen Genannten zutreffen. Wie später gezeigt werden soll, waren es Schiffe aus Thorn, die dort beladen worden waren. Im Tresslerbuch wird auch die jeweilige Entlohnung der Schiffer für die Fracht aufgeführt: 26 Mark, 18 Mark, 11 Mark und 4 Scot, 11 Mark und ½ Firdung, 12 Mark. Diese Angaben entkräften die vom Deutschen Orden nach der Schlacht von Tannenberg aufgestellte Behauptung in der Chronik des Michel Pintoin, dass 300 Mann mit den beschlagnahmten Ringharnischen und Rüstungsteilen hätten bewaffnet werden können. Es handelte sich lediglich um 6 Ringharnische und 2 Fässer mit Harnischteilen. Obwohl mir nicht bekannt ist, wie viele Harnischteile in ein Fass hineinpassen, kann man wohl vermuten, dass höchstens 10 Mann damit eingekleidet werden konnten. Zusammen mit den Ringharnischen wären es dann insgesamt Schutzwaffen für höchstens 30 Mann gewesen, also ein Zehntel der von dem Chronisten genannten Zahl.

Korrespondenz bis zur Beschlagnahme der Schiffsladungen in Ragnit Bereits im Januar 1409 gab es Auseinandersetzungen zwischen dem Vogt in Samaiten und dem litauischen Großfürsten. Letzterer beklagte sich am 24. des Monats beim Hochmeister Ulrich von Jungingen über das unnachbarliche Verhalten des Vogts, der Ausfuhrverbote für viele Produkte aus Samaiten verhängt hatte, für Pferde, Vieh, Ziegen, Honig und Korn.7 Nicht einmal bereits gekauftes und dort gelagertes Korn durfte ausgeführt werden. Der Vogt hatte den Litauern untersagt, ihre Kaufleute nach Samaiten ziehen zu lassen. In einem Antwortschreiben zeigte sich der Hochmeister entgegenkommend, denn er erlaubte den 6 Das Marienburger Tresslerbuch der Jahre 1399–1409, hrsg. E[rich] Joachim, Königsberg 1896, auch Nachdruck Kniess, Bremerhaven 1973, S. 594f. (vgl. S. 557). Siehe auch die Auszüge aus dem Tresslerbuch in CEV (wie folgende Anm.), S. 960–976, hier S. 975f. 7 Codex epistolaris Vitoldi Magni Ducis Lithuaniae 1376–1430 (Monumenta Medii Aevi Historica res gestas Poloniae illustrantia, VI:I; Wydawnictwa Komisyi Historycznej Akademii Umieje˛tnos´ci w Krakowie, 52), hrsg. Antonius Prochaska, Cracoviae 1882, auch ND New York, London 1965, Nr. 391, S. 166f., hier S. 166. – Die Edition wird im Folgenden CEV zitiert.

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Litauern, mit Schiffen oder Wagen nach Samaiten zu kommen, um dort Korn zu kaufen und auszuführen. Der Brief ist nicht erhalten geblieben, wird jedoch inhaltlich in der Antwort des Großfürsten vom 9. April wiedergegeben.8 Darin heißt es, dass der Hochmeister doch wisse, dass die Litauer keine solchen Schiffe hätten, in denen Korn verfrachtet werden könne. Deshalb bittet er um eine Mitteilung, ob es möglich wäre, Schiffe in seinem Land, also Preußen, zu mieten, um das gekaufte Korn darin zu transportieren. Ferner heißt es, dass der König von Polen den Litauern so viel Getreide aus Kujawien geben wolle, wie sie wünschten. Er erbittet Auskunft darüber, ob sie in Thorn Schiffe mieten könnten, um das Getreide auszuführen, und ob der Hochmeister einen Transport mit ihnen bis nach Kaunas (dt. Kauen) genehmigen würde.9 Am 6. Mai teilt der Großfürst in einem weiteren Brief mit, dass die an den Hochmeister gesandten Boten inzwischen zurückgekehrt seien und dessen positive Reaktion mitgeteilt hätten. Für diese danke er sehr. Er werde Leute nach Thorn senden, um dort Schiffe zu mieten, und bittet um eine entsprechende Benachrichtigung an den Komtur von Thorn, damit man dort wisse, dass dies mit dem Willen des Hochmeisters geschehe.10 Im Mai begann aber ein von dem litauischen Großfürsten geschürter Aufstand in Samaiten gegen die Herrschaft des Deutschen Ordens, der die Ausführung dieser Aktion vereitelte. Ende des Monats wurde der an der Memel gelegene Ordenshof Christmemel erobert und niedergebrannt, viele Leute erschlagen und Kriegspferde (hengste) und Vieh weggeführt.11 Die Bemühungen um eine Befriedung brachten keinen Erfolg.12 Thomas Possecke, Kumpan des Vogts im 8 CEV (wie vorige Anm.), Nr. 393, S. 168–170, hier vor allem S. 169. 9 Ebd.: [Lieber] herre meister, ir wu[st]it wol, das unsir luthe solliche schiffe nicht enhabn dorinne sie korn h[e]r off [much]ten furen. Hirumbe geruchet uns vorschre[i]ben, ob sie ouch schiffe in euwirm lande mogen vormiten, das korn, das sie koufin werden, dorinne czu furen. Auch der herre konig czu Polan, welde uns seines getraides van der Koye geben, wie vil wir des begerten. Geruchet uns ouch vorschreiben, ab wir czu Thorun mogen lassen schiffe vormiten das getraide czu furen, und ab irs wellet durchlassin bis ken Cawen. 10 CEV, Nr. 396, S. 172–174, hier S. 173f.: Auch ir habt uns geschrebin ee denne die unsir botzen czu uns wedir qwamen und sie habin uns ouch gesait, das euwir erwirdikeit uns gunnen wil di schiffe lassin vormiten das getraide herof her czu brengen etc. Des danken wir euwir erwirdikeit mit fleisse, und wir wellin ken Thorun zenden die czu miten, und wir bitten, das ir dem kompthur czu Thorun wellet schreibin, wenne imand der unszer in den zachen do hen kompt, das man euwirn willen ken uns dort czu Thorun mochte wissin. 11 CEV, Nr. 400, S. 177f. (Bericht des Vogts in Samaiten an den Hochmeister vom 31. Mai 1409). Vgl. Johanns von Posilge, Officials von Pomesanien, Chronik des Landes Preussen […],in Scriptores rerum Prussicarum, 3, hrsg. Ernst Strehlke, S. 79–388, hier S. 300f. 12 Hierzu u. a. Robert Krumbholz, Samaiten und der Deutsche Orden bis zum Frieden am Melno-See, in: Altpreußische Monatsschrift 26 (1889), S. 193–258; 27 (1890), S. 1–84, 193–227, hier S. 72f. und 80f.; Josef Pfitzner, Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann (Schriften der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität in Prag, 6), Brünn u. a. 1930, S. 123– 144; B[ronius] Dundulis, Zˇemaicˇiu˛ sukilimai priesˇ teutonisˇkuosius paverge˙jus 1401 ir

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Samaiten, berichtete am 6. Juni in einem Brief an den Hochmeister, dass der König (gemeint ist Vytautas) zwei seiner Bajoren nach Samaiten gesandt hatte und dass diese die Bevölkerung zum Aufstand gegen die Ordensherrschaft aufwiegelte. Ihre Namen waren Geilemin Nadaps sone und Trumppe Sagotten sone.13 Der Name des von Vytautas in Samaiten als Hauptmann eingesetzten litauischen Adligen Rambaudas Valimantaitis lautet in einem Brief Küchmeisters an den Ordensmarschall Friedrich von Wallenrode vom 16. Juni Rammold14 und wird vom Marschall am 21. Juni an den Hochmeister als Ramollt weitergegeben.15 Es findet sich beispielsweise auch die Benennung Rambold.16 Weitere Litauer, die nach Samaiten gesandt worden waren, werden in einem Brief des Hauskomturs von Ragnit vom 16. Juni an seinen Komtur genannt: Vasibutas (Wasebüth), Klasusigaila (Clawsigal von Rossieyn), Gintautas (Gettoth kemmerer vom Birsten), Galminas (Galeminne von Erogel).17 Von besonderem Interesse in unserem Fall ist der in Königsberg am 21. Juni abgefasste Bericht des Ordensmarschalls an den Hochmeister, weil wir durch ihn einen Terminus ante quem für die Beschlagnahme der Schiffe in Ragnit haben, das heißt das Ereignis hat sich nachweislich etliche Tage vor diesem Datum abgespielt.18 Der Marschall beruft sich auf Aussagen von Otto (Otthe) Kykoll, Diener des Komturs von Brandenburg, der am selben Tag von einem Besuch beim litauischen Großfürsten nach Königsberg gekommen war und vieles zu berichten hatte. Er war nach Litauen gesandt worden, um dort zurückgelassenes Kriegsgerät des Ordens (harnush) vom Feldzug gegen Moskau ein Jahr zuvor

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1409 m. [Der Aufstand der Samogitier gegen die deutschen Unterdrücker 1401 und 1409], in: Vilniaus Valstybinio V. Kapsuko vardo Universiteto Istorijos-filologijos fakulteto Mokslo darbai, II, Vilnius 1955, S. 118–147, hier S. 142; William Urban, Tannenberg and After. Lithuania, Poland, and the Teutonic Order in Search of Immortality. Revised edition, Chicago 2003, S. 126–132 („The Samogitian Revolt of 1409“); Sławomir Józwiak, Krzysztof Kwiatkowski, Adam Szweda, Sobiesław Szybkowski, Wojna Polski i Litwy z zakonem krzyz˙ackim w latach 1409–1411, Malbork 2010, S. 52–69 (von Józwiak/Szweda); Mecˇislovas Jucˇas, Grunwald 1410, tłumaczenie Jan Jurkiewicz, Kraków 2010, S. 118–130. Siehe auch Chollet, Les Sarrasins du Nord (wie Anm. 1), S. 267. CEV, Nr. 404, S. 179f. CEV, Nr. 411, S. 183f, hier S. 183. Nach Küchmeister hat er dem Marschall diesen Namen bereits früher mitgeteilt. CEV, Nr. 414, S. 186–188, hier S. 187: Item spricht Ottho, das Ramollt houbtman sie gesaczt czu Samaithen im lande, und herczog Wythawd hat im gloubt czwei thusend man czu hulffe czu senden, wen di herren dar komen mit dem herre czu reisszen. CEV, Nr. 398, S. 175–177, hier S. 175. CEV, Nr. 412, S. 184–186, hier S. 185. Die heutige litauische Schreibweise der Namen findet sich bei Mecˇislovas Jucˇas, The Battle of Grünwald. Transl. by Albina Strunga, ed. by Joseph Everatt, Mindaugas Sˇapoka, Vilnius 2009, S. 47f. CEV, Nr. 414, S. 186–188.

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abzuholen.19 Wichtig ist die Aussage, daz herczog Wythawd do van noch nichten wuste, das die schiffe mit rocken und mit andern der ruesszen gutte czu Ragnith sint off gehalden.20 Was mit „dem Gut der Russen“ gemeint ist, wird nicht ganz klar. Anderen Quellen zufolge handelte es sich um Handelsgüter, wohl solche, die für Russen bestimmt waren. Wichtig ist vor allem, dass wir nun die Zeit für die Beschlagnahme der Ladungen etwas näher bestimmen können. Wenn man die Zeit für die Reise des über die Beschlagnahme informierten Kykolls hin und zurück nach Litauen abzieht, dürften die Schiffe in der zweiten Juniwoche in Ragnit von einer Weiterfahrt nach Kaunas (Kauen) behindert worden sein.

Spätere Korrespondenz und Klageschriften In einer Instruktion vom 15. Juni für den Komtur von Thorn, der zusammen mit dem Komtur von Althaus zu Gesprächen mit dem polnischen König gesandt werden sollte, finden sich die Ansichten des Hochmeisters darüber, wie der Verrat (das vorretnis) der Samaiten gegenüber dem Orden dargestellt werden sollte. Er sei ohne Kriegserklärung (entsagunge) und ohne Schuld des Ordens erfolgt. Als die Boten des Königs beim Hochmeister waren, habe dieser noch geglaubt, dass der Aufstand ohne Wissen und Willen des Vytautas erfolgt sei. Erst nach dem Besuch der Boten habe er erfahren, dass Vytautas einen Hauptmann in Samaiten eingesetzt hatte. Der Hochmeister bittet den König, als christlicher Herrscher den Verrat nicht zu unterstützen.21 Wir finden hier einen zentralen Punkt in der künftigen Argumentation Ulrichs von Jungingen: sein Handeln gegenüber dem litauischen Großfürsten, das heißt die Beschlagnahme der Schiffsladungen in Ragnit, sei von der Tatsache bestimmt worden, dass dieser einen litauischen Hauptmann und andere Leute in Samaiten eingesetzt und sich somit als Unterstützer des Aufstands gegen den 19 Ebd., S. 186: Als Otthe was gesand noch dem harnushe czu herczog Wythawd das obirm iare do gebleben waz noch ruschen reissze, […]. 20 Ebd., S. 187. 21 CEV, Nr. 409, S. 181–182. Die Boten sollten u. a. dem König folgendes sagen: Als leczt euwir erbarn sendboten bei unszerm homeister czum Elblinge waren [Elbing, 9.–10. Juni], do sagte her in von dem vorretnisse, das die Samaithen ane alle entsagunge und sundir schult, an dem orden und der cristenheit getan hetten, uns woste nicht andre czu der czeit, wenn das is ane wissen und willen herczog Wytawts gescheen were, noch sulchen fruntlichen brifen, die sie bis an dese czeit unter ir enander geschreben haben. Ader dor noch, als euwer erbaren boten von unszerm homeister schiden, wart im czu wissen, wie das herczog Wytowt einen houptman in Samayten gesaczt habe. Wer das also us deme unser homeister dirkennet, sint das her sich der lande undirwindet, das das vorretnissz mit sime wissen und vorhengnisse sei gescheen. Dorumme gnediger herre, so bittet her euwir gnade, das irs tut durch got und durch des ordens und der cristenheit ere wille und dem vorretnissz nicht beileget, als her euch des als andern cristen konigen und forsten genczlich czu getruwet.

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Orden gezeigt habe. Zuerst habe sich der Aufstand zugetragen, woraufhin die Beschlagnahme erfolgt sei, nicht umgekehrt. Die Argumente beider Seiten finden sich klar formuliert in zwei Schriftstücken, von denen hier zunächst ein Brief von Vytautas an den Hochmeister angeführt werden soll. Es handelt sich dabei um eine Antwort auf einen unbekannten Brief Ulrichs von Jungingen und nicht um einen Absagebrief (Kriegserklärung), wie in den „Regesta historico-diplomatica“ behauptet.22 Der Text ist unvollständig erhalten und eine Datierung nicht vorhanden. Möglicherweise ist es dieser Brief, auf den der Orden in seiner Denkschrift vom November 1409 Bezug nimmt (siehe unten). In dem Fall wäre er etwa Mitte Juli verfasst worden.

Argumente des litauischen Großfürsten Vytautas beklagt in seinem Schreiben, dass der Hochmeister den Seinen nicht erlaubt habe, dringend benötigtes Getreide nach Litauen zu bringen, um es dort zu verkaufen. Er hätte auch gehofft, eine oder zwei Schiffsladungen Korn als Geschenk vom Hochmeister zu bekommen, so wie er es getan hätte, falls der Orden seinerseits Bedarf daran gehabt hätte. Außerdem habe der König von Polen Korn nach Litauen unter Geleit des Ordens gesandt, das aber beschlagnahmt worden sei, obwohl es nach schriftlichem Versprechen des Hochmeisters ohne Verzug nach Kaunas (heruf) verfrachtet werden sollte. Vytautas hätte gedacht, Korn vom Orden geschenkt zu bekommen, aber nicht das Korn, das ihm gehörte, zu verlieren: Item von getraides wegen, do wir euch also ofte hatten geschreben, und ir vornomet, das wir sein bedorften; wir getruweten wol, nicht alleine, das ir den euwirn dirlawbt hett korn in unser lant furen czuvorkoufen, sunder ouch, das ir euwres kornes ein adir czwe schiff geschict hett, und uns hett mete begobet, als wir ken euch in dem adir grossirm, wenne ir bedurfende weret, williclichen gerne gethon hetten, und solden wir ouch unser lant gar hoch bekommert haben. Und dor obir uns hat der herre konig korn gesant undir euwirm geleite, als noch unser ritter Conrad Frankenberg euwirn brif hat, dorinne ir habt im geschrebin, das ir das korn heruf tag und nacht woldet lassen fordern; das korn habt ir uns lassen nemen, und wir hetten getruwet me, ir hett uns euwirs kornes gegeben, denn das unser lassen nemen.23

22 Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum 1198–1525. Pars I: Regesten zum Ordensbriefarchiv, 1: 1198–1454, bearb. unter Mitwirkung zahlreicher Anderer von Erich Joachim, hrsg. Walther Hubatsch, Göttingen 1948, Nr. 1227. Im Folgenden zitiert: OBA, Nr. 23 CEV, Nr. 425, S. 192f., hier S. 192.

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Der genannte Brief mit der Zusicherung des Hochmeisters zum Geleit für die Getreideschiffe durch das Ordensland ist nicht erhalten geblieben, aber es gibt keinen Grund, die Richtigkeit dieser Aussage von Vytautas zu bezweifeln.

Argumente des Hochmeisters und des Ordens In einer Denkschrift des Deutschen Ordens über die Ereignisse, die zum Krieg mit Polen-Litauen geführt haben, und über die Vertragsverhandlungen bis zum Abschluss des Waffenstillstands mit Polen am 8. Oktober 1409, findet sich ein Abschnitt über die Beschlagnahme der Schiffsladungen mit Getreide in Ragnit. Von der Gedenkschrift gibt es sowohl deutsche als auch lateinische Fassungen.24 Eine längere lateinische Übersetzung ist im „Codex epistolaris Vitoldi“ abgedruckt.25 Der entsprechende, noch nicht gedruckte Abschnitt über das Schiffsembargo in der deutschen Fassung soll unten wiedergegeben werden.26 Die Niederschrift dürfte im November 1409 erfolgt sein, denn ein zeitlicher Abstand zu dem Waffenstillstand am 8. Oktober ist ersichtlich. Wir finden darin viele Angaben, die die Ausführungen in den anderen angeführten Quellen ergänzen. Auf die Korrespondenz zwischen dem Hochmeister, dem litauischen Großfürsten und dem polnischen König wird eingegangen und die Briefe werden erwähnt, ebenso die verschiedenen Boten und Gesandtschaften. Nach Aussage Ulrichs von Jungingen hat er am 30. Mai Mitteilung vom Aufstand der Samaiten erhalten, jedoch nicht glauben können, dass Vytautas damit zu tun habe.27 Am 9. Juni seien die Sendboten Jagiełłos zum Hochmeister nach Elbing gekommen und hätten ihm die schriftlichen Klagepunkte des Königs überreicht.28 Sie seien ebenso schriftlich beantwortet und den Boten mitgegeben worden. Daraufhin habe der Hochmeister den Komtur von Thorn und den Komtur von Althaus als Botschafter nach Polen gesandt. Die entsprechende Instruktion des Hochmeisters für den Thorner Komtur (vom 15. Juni) ist er24 Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert, 1 (1398–1437), zweite verbesserte Aufl., hrsg. Erich Weise, Marburg 1970, S. 77f. 25 CEV, S. 976–1000, hier S. 985f. 26 Die Überschrift lautet: Die sache czwusschen herczog Wytouten und dem orden und das vorretnisse, das die Samayten an dem orden und der ganczen cristinheit haben getan, hat sich alzo dirfolgit, als hirnoch geschreben anno etc. nono. OBA, Nr. 1223, Bl. 1r. 27 Ebd., Bl. 2v: […] und am donrstage noch Pfingesten quam dem homeister eyn geschrey, wy das sich dy Samayten hetten ummegethan und sunder alle scholt und entsagunge des ordens lute und ouch us andern landen cristengloubegen gemord und geslagen unvorsehns und ungewarnet in gutem frede, dy czur Memil an dem strande off der fisscherie logen; […]. Es wurde zwar behauptet, dass dieses mit herczog Wytouten wissen und antragen erfolgte, do doch der homeister keynen glouben czu der czit czu wolde keren, und her keyne schult czu im woste, sundir alle gut. 28 Ebd., Bl. 3v.

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halten geblieben.29 Der König sollte gebeten werden, die Samaiten nicht zu unterstützen. Während der Zeit, als die Ordensgesandten in Polen waren, habe der Hochmeister „wahre Mitteilungen“ erhalten, dass Vytautas seinen Hauptmann, seine Kämmerer und Anwälte in Samaiten eingesetzt und damit das Land sich untergeordnet hätte.30 Erst daraufhin hätte der Hochmeister die Beschlagnahme der Schiffe in Ragnit veranlasst.31 In der Gedenkschrift findet sich eine ausführliche Verteidigung dieser Maßnahme des Hochmeisters. Sie zeigt, dass der Deutsche Orden sich nun ‚moralisch‘ bedrängt fühlte und es deshalb erforderlich fand, die Gründe für sein Agieren zu erläutern. Der Komtur von Thorn habe demnach auf Befehl des Hochmeisters die Schiffe mit deutscher Besatzung in Thorn gemietet, um Roggen aus Kujawien zusammen mit anderen Kaufmannsgütern (kouffenschacz) durch das Ordensland nach Kaunas zu verfrachten. Dann habe aber der Hochmeister erfahren, dass Vytautas seinen Hauptmann und seine Kämmerer nach Samaiten gesandt und sich dieses Land ganz und gar untertänig gemacht hätte. Aus Sorge um das Wohlergehen seiner Leute, der Schiffsbesatzungen, denen vielleicht auf der Weiterreise nach Kaunas Schaden hätte zugefügt werden können, wenn sie dem Hauptmann, den Kämmerern oder den Samaiten in die Hände gefallen wären, habe er deshalb die Schiffe in Ragnit beschlagnahmen lassen. Anschließend habe er an den polnischen König geschrieben, dass dieser den Roggen und die Kaufmannsgüter mit denselben Schiffen und Leuten zurückbekommen könne, wenn er dies wünsche. Die Denkschrift legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass Vytautas Darstellung der zeitlichen Reihenfolge der Ereignisse in einem Brief, der dem Hochmeister in Schlochau übergeben worden sei, unrichtig wären. Darin war behauptet worden, dass Ulrich von Jungingen mit den Feindseligkeiten, das heißt dem Schiffsembargo in Ragnit, begonnen hätte. Das Gegenteil sei jedoch der Fall gewesen. Durch das Itinerar des Hochmeisters 1407–1410 wissen wir, dass er sich am 25. Juli („Jacobi“) 1409 anlässlich eines Treffens mit dem Herzog von Stettin in Schlochau befunden hat.32 Es kann angenommen werden, dass es der oben an29 CEV, Nr. 409, S. 181f. 30 OBA, Nr. 1223, Bl. 4r: Bynnen der czit, als nu dy kompthur by dem herren konige woren, qwam dem homeister warhafftige czitunge, das sich herczog Witowd des landis czu Samayten undirwunden hette und dorin synen houptman, syne kemerer und anewalden gesaczt und etliche gysel von den baiorin und besten des landis genomen obir das land, dy der homeister mit namen dem herren konige von Polan beschreben sante. 31 Ebd., Bl. 4v, 5r. 32 Damian Szweda, Itinerary of the Grand Master Ulrich von Jungingen (1407–1410), in: War in History. The History of Polish and General Military Science, hrsg. Andrzej Niewin´ski (Seria Homo Militans, 6), S. 39–63, hier S. 56. Ich danke Herrn Marcin Skrobek, Łódz´, für den Hinweis auf diese Arbeit.

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geführte Brief mit den Argumenten der litauischen Seite ist, auf den in der Denkschrift Bezug genommen wird. Der betreffende Abschnitt lautet in der deutschen Fassung: [Blatt 4v] Is ist gescheen, das der herre konig czu Polen herczog Wytouten eyne nemliche summa rocken off der Coyaw hatte gegeben, czu deme der kompthur von Thorun mytte des ordens luthe von Thorun mit iren schiffen umbe befelunge des homeisters, dy den rocken von Thorun durch des ordens land ken Kauwen und sust andir kouffenschacz solden gefurth haben. Als nu der homeister worhaffticlich vornam, das sich herczog Wytoud des landes czu Samayten gancz und gar undirwunden hette, synen houptman und kemerer in das land hatte gesatczt und gysel us dem lande genomen, dy nu der homeister wuste mit namen, und dem konige ire namen hatte geschreben, als oben geschreben ist, do irsten mit guten truwen und nicht ee lys der homeister den rocken und kouffenschacz czu Ragnith offhaldin, das her teth umbe syner lute willen, dy den rocken und kouffenschacz mit iren schiffen henuff furten, dy her do nicht wogen torste, sunder besorgite sich irre, ab sy dem houptman, kemerern adir Samayten in dy hende komen weren, das sy lichte mit gefenknisse und sust ungutlichen weren gehandilt, und schreib das von stadan dem herren konige czu Polan und dirbot sich dorczu, weres, das her den rocken und kouffenschacz wedir czurucke welde haben, her welde in mit denselben luthen und schiffen, dy vormols von syner bevelunge dorczu gemitet woren, wedir umb laßen furen, vorwert welde her in nicht lassen furen, umb der sachen willen obengeschreben, her worde denne syner luthe, dy den rocken und kouffenschacz furten, bas gesichert. Dornoch schreib herczog Withowt dem homeister, der briff im czu Slochow wart, wy her nicht czum erstin angehaben hette, sunder do her dirfur und vornam, das der homeister den rocken und kouffenschacz czu Ragnith hatte uffgehalden, do irsten saczte her synen houptman und kemerer in das land, und nicht ee. [Blatt 5r] Das das abir sich nicht also dirfolget hat, ist dorus offenbar: Weres, das der homeister den rocken und kouffenschacz vor ufgehalden hette, ee denn heuptman und kemerer in das land gesaczt weren, wy hette der homeister den heuptman und kemerer und ouch dy geizel dem herren konige mit namen mocht haben geschreben bynnen der czeit, als syne boten, die kompthur von Thorun und vom Aldenhuse, noch czum konige woren, als vorgeschreben ist, adir wovon hette der homeister die mit namen gewost, is were denn, das sie czuvorn in das land gesaczt weren und im von den synen us Samaiten her geschreben, und doch der rocke und kouffenschacz dornoch, als die boten wedirqwamen, wart ufgehalden.33

33 OBA, Nr. 1223, Bl. 4v und 5r.

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Folgen Nicht nur die beiden Getreideladungen mit einer Gesamtmenge von annähernd 47 Last Roggen, sondern auch die genannten beschlagnahmten Kaufmannsgüter, nämlich 53 Tonnen mit Salz, 13 Packen Tuch, 1 Glocke, 1 Kessel, 2 Zinnkannen, 6 Ringharnische und 2 Fässer mit Rüstungsteilen, gehörten dem polnischen König. Dieser hat jedoch vermutlich nichts davon zurückerhalten, obwohl der Hochmeister es ihm nach eigener Aussage angeboten hat.34 Nach Angabe des Wenzel von Miska gegenüber dem französischen Chronisten Michel Pintoin wurden die Waffen vom Orden verteilt, was auch für den Roggen und die anderen Güter zutreffen dürfte. Der in der Denkschrift genannte Brief des Hochmeisters an den polnischen König mit der Erwähnung der Namen der in Samaiten von Vytautas eingesetzten Litauer ist mir nicht bekannt; er würde, falls erhalten, sicherlich zur Klärung wichtiger Fragen beitragen. Als die polnische Burg Bromberg am 28. August 1409 vom Deutschen Orden erobert wurde, fanden die Ordenssöldner dort 20 Last Salz, das von zwei auf der Weichsel mit Beschlag belegten Thorner Schiffen stammte. Vermutlich war die Konfiskation des Salzes eine Vergeltungsmaßnahme der Polen für das Embargo der Schiffe in Ragnit im Juni.35 Posilges Fortsetzer erwähnt die Aufbringung dieser Schiffe aus Thorn durch dy von Bromburg,36 und weitere Details finden sich in einem Brief des Komturs von Tuchel, Heinrich von Schwelborn, an den Hochmeister vom 31. August.37 Daraus geht hervor, dass das Salz auf der Burg dem polnischen König gehörte. Nun forderten die Ordenssöldner einen Anteil an diesem Salz, einer Kostbarkeit, aber dies wurde vom Komtur mit der Begründung abgelehnt, die polnische Burgbesatzung hätte sich nicht den Söldnern, sondern dem Deutschen Orden ergeben. Er und der Komtur von Schlochau wollten jedoch dem Hochmeister die endgültige Entscheidung in dieser Streitfrage überlassen. Wie diese lautete, ist nicht bekannt.38 Leider haben wir auch keine Ant-

34 Ebd., Bl. 4v (siehe oben). 35 Sven Ekdahl, Soldtruppen des Deutschen Ordens im Krieg gegen Polen 1409, in: Le Convoi Militaire (Fasciculi Archaeologiae Historicae, 15), hrsg. Tadeusz Poklewski-Koziełł, Łódz´ 2002 (2003), S. 47–64, hier S. 59. 36 Johanns von Posilge, Officials (wie Anm. 11), S. 302: Dy von Bromborg hatten nuwlich dovor den von Thorun czwe schiff mit salcze genomen uf der Wysel. Und der konig tate nicht hiebie mit den synen und nymant wuste, wo her was uff dy cziit in syme lande. 37 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin. XX. Hauptabteilung, Historisches Staatsarchiv Königsberg, Ordensbriefarchiv, Nr. 1123. 38 Es heißt ebd.: Ouch, gnedyger her meyster, als wir nu daz hus czu Bramburg gewonnen und dy sich uns dirgobyn, do funde wir uff dem huse wol 20 leste salczis, und daz gehorte dem konynge. Nu wolden die soldener ire teil dovon habin; do sproche wir neyn. Syntemol daz sich dy vom huse uns dirgoben und deme orden, so meynte ich, daz sy keyn teil am salcze hetten. Sundirlichen so habe wirs, der kompthur von Slochow und ich, lossyn besteen byss an euwer

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wort auf die Frage, ob die beiden von den Brombergern auf der Weichsel aufgebrachten Schiffe aus Thorn identisch sind mit den in Ragnit beschlagnahmten Schiffen von Furenbrand und Bemekrafft. Denkbar und möglich ist es auf jeden Fall. Die Indizien sprechen dafür. Die Beschlagnahme der Schiffe in Ragnit wurde von den beiden Parteien unterschiedlich beurteilt und dargestellt. Das betrifft nicht zuletzt die Frage, wann sie stattgefunden hat. Während die litauische Seite das Schiffsembargo früh ansetzt, hat diese nach der Denkschrift des Ordens erst während des Aufenthaltes der Komture von Thorn und Althaus beim polnischen König, das heißt nach Mitte Juni, stattgefunden. Die Wahrheit liegt dazwischen. Wir erinnern uns, dass die zweite Juniwoche als Termin am wahrscheinlichsten ist. Die von Zenon Hubert Nowak entdeckte und veröffentlichte Kriegserklärung Ulrichs von Jungingen an Władysław Jagiełło vom 6. August 1409 ist kurzgehalten, bezichtigt lediglich den polnischen König der Unterstützung der Samaiten und geht nicht auf Details ein.39 Auf jeden Fall ist es offensichtlich, dass der Vorfall in Ragnit eine wichtige Ursache für das Zerwürfnis zwischen den polnischen und litauischen Herrschern und dem Orden am Vorabend des Kriegsausbruchs 1409 gewesen ist. Nach dem Bericht in der Chronik des Mönchs von Saint-Denis hat er den Anlass für die tödliche Zwietracht geliefert: et hoc mortalis discordia fomitem ministravit. Sehr interessant ist die Tatsache, dass in der oben genannten Denkschrift des Deutschen Ordens keinerlei Angaben über versteckte und beschlagnahmte Waffen für die Heiden vorhanden sind. Die von Wenzel von Miska vorgetragene Propaganda des Ordens gegen die Heiden konnte gewiss eine Wirkung in Mittelund Westeuropa entfalten, war aber im östlichen Mitteleuropa, wo eine Zusammenarbeit mit den Litauern öfter vorkam, weniger effektiv. Sie wurde deshalb vom Orden gegen die Anklage des Verrats der Samaiten und deren Unterstützung durch die Litauer und die Polen als Hauptargument ausgetauscht. Dem Hochmeister sei es unter diesen Umständen um das Wohlergehen der Schiffsbesatzungen gegangen. czukumpfft. Ader was euwern genaden duncket, daz wir dobye thun sullen, daz welle wir gerne thun. 39 Zenon Hubert Nowak, Akt rozpoczynaja˛cy „Wielka˛ wojne˛“. List wypowiedni wielkiego mistrza Ulryka von Jungingen z 6 sierpnia 1409 roku, in: Komunikaty Mazursko-Warmin´skie, 1976, 1, S. 79–85. Auch mit deutscher Übersetzung: Der Akt, der den ‚Großen Krieg‘ begann. Der Absagebrief Ulrichs von Jungingen vom 6. August 1409, in ders., Przyczynki z´ródłowe do historii zakonu krzyz˙ackiego w Prusach; Quellenbeiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen (Towarzystwo Naukowe w Toruniu, Fontes 105), hrsg. Roman Czaja, Torun´ 2011, S. 23–37. – Ergänzend hierzu Krzysztof Kwiatkowski, Okolicznos´ci wypowiedzenia wojny królowi polskiemu Władysławowi II przez wielkiego mistrza zakonu niemieckiego Ulricha von Jungingen w sierpniu 1409 roku, in: Zapiski Historyczne 74,3 (2009), S. 7–35.

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Długosz und von ihm abhängige Chronisten. Schlussfolgerung In seinen Annales geht auch der polnische Geschichsschreiber Jan Długosz (1415–1480) auf dieses Thema ein, aber, wie so oft, mit Zusätzen und Deutungen, die von den zeitgenössischen Quellen widerlegt werden. Wichtig und glaubwürdig ist jedoch seine Behauptung, dass das Schiffsembargo in Ragnit den Anlass für den Krieg der folgenden Jahre zwischen Polen und Litauen einerseits und dem Deutschen Orden andererseits gewesen sei.40 Nach Długosz ereignete sich der Vorfall allerdings bereits im Jahr 1408(!) und die Anzahl der beschlagnahmten Getreideschiffe wird mit nicht weniger als 20(!) angegeben.41 Man fragt sich, ob er in diesem Fall einfach schlecht informiert war oder ob er aus irgendeinem Grund diese unrichtigen Angaben der Nachwelt übermitteln wollte. Auf jeden Fall wird durch diese erhöhte Zahl das Schuldkonto des Ordens gesteigert. Die Behauptungen sind zwar von der Forschung korrigiert worden,42 finden sich aber in vielen von Długosz abhängigen Chroniken des 16. Jahrhundert wieder und begegnen beispielsweise auch in der Quellensammlung von Daniłowicz.43 Besonders interessant ist die ausführliche Beschäftigung mit dem Thema durch Lucas David (1503–1583), denn er bemüht sich, die Quellen beider Seiten kritisch zu untersuchen und zu bewerten. Seine Überlegungen betreffen außer politischen, rechtlichen und moralischen Fragen unter anderem auch die Ladekapazität verschiedener Schiffe, die Wasserwege an der Weichselmündung sowie Kosten und Getreidepreise. Zwar erwähnt auch er unter Hinweis auf einen von Długosz abhängigen Chronisten die angeblich 20 Schiffe, hält die Zahl aber nicht unbedingt für zuverlässig, denn es heißt: […] etliche Schiffe, wie Cromerus sagt sollen [es] 20 gewesen seyn, […].44 Dagegen gibt der als Autorität angesehene deutsche Historiker Johannes Voigt in seiner bekannten „Geschichte Preußens“ die Anzahl der Schiffe nach Długosz ohne Bedenken mit 20 wieder.45 40 [Jan Długosz] Joannis Dlugossii Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, hrsg. C. [Krzysztof] Baczkowski et alii, Varsaviae 1997, S. 22. 41 Ebd., S. 21–23. 42 Vgl. Rozbiór krytyczny Annalium Jana Dlugosza [T. I:] z lat 1385–1444. Opracowali: Stanisław Gawe˛da, Krystyna Pieradzka, Julia Radziszewska, Krystyna Stachowska pod kierunkiem Jana Da˛browskiego (PAN, Oddział w Krakowie, Prace Komisji Nauk Historycznych, 7), Wrocław, Warszawa, Kraków 1961, S. 78. 43 Ignaz Daniłowicz, Skarbiec diplomatów papiezkich, cesarskich, krolewskich, ksia˛z˙e˛cych; uchwał narodowych, postanowien´ róz˙nych władz i urze˛dów posługuja˛cych do krytycznego wyjas´nienia dziejów Litwy, Rusi litewskiej i os´ciennych im krajów, hrsg. Jan Sidorowicz, 1, Wilno 1860, Nr. 887 (unter dem Jahr 1408), S. 361. 44 Lucas David, Preußische Chronik […]. Achter und letzter Band, hrsg. Daniel Friedrich Schütz, Königsberg 1817, S. 159f. 45 Johannes Voigt, Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens, 7, Königsberg 1836, auch Nachdruck Hildesheim 1968, S. 35f.

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Von einer Erörterung der Behandlung des Themas in der jüngeren historischen Forschung soll und muss hier abgesehen werden. Viel ist unter allen Umständen nicht zu berichten, denn die Angelegenheit ist meist stiefmütterlich behandelt und auch in neueren einschlägigen Werken bisweilen sogar völlig außer Acht gelassen worden.46 Zutreffend ist Josef Pfitzners übersichtliche Darstellung der immer angespannteren Lage zwischen Litauen/Samaiten und dem Deutschen Orden zu jener Zeit, die hier wiedergegeben werden soll: „1409 häuften sich die Klagen noch mehr. Nachrichten von Spionen (Warnern) aus Litauen verrieten dem Orden bereits die gereizte Kriegsstimmung, die sich in nationalen Tönen äußerte. Gerade aus Witolds Munde sollen sie gefallen sein, dahin lautend, man müsse alle Deutschen vertreiben, selbst gegen Königsberg ziehen und alle ins Wasser werfen. Nunmehr überhäuften die gegnerischen Parteien einander mit Vorwürfen. Die Grenzen wurden gesperrt; vor allem verhinderte der Orden die Getreidezufuhr auf der Memel nach Litauen. Gerade das war für Litauen eine überaus empfindliche Stelle, an der der Orden rührte. Für den Orden bewährte sich nun der Besitz der Memelmündung vortrefflich. Litauen hinwieder wurde in solchen Augenblicken schmerzlich vor Augen geführt, was ihm fehle, da es die Mündung seines ureigenen Stromes nicht besitze. Die Drohung, man müsse den Orden überhaupt aus dem Lande jagen, ließ schon deutlich erkennen, daß den Litauern die samaitische Frage nunmehr in einem etwas anderen Lichte zu erscheinen begann als bisher. Bisher hatte Litauen nur das eine Interesse an Samaiten, daß es der Orden nicht besitzen dürfe. Aber die Gründe hierfür blieben ziemlich verhüllt, während der Orden sich dessen wohl bewusst war, warum er gerade Samaiten besitzen wollte. Die Spannungen ließen sich nicht mehr friedlich ausgleichen. Erst die Tannenberger Schlacht wirkte da einigermaßen reinigend.“47 – Mit dem Wort „reinigend“ spielt Pfitzner auf die Bestimmungen im ersten Thorner Frieden an. Darin wurde Samaiten Jagiełło und Vytautas auf Lebenszeit zugesprochen. *** Die Beschlagnahme der mit polnischem Roggen und mit polnischen Kaufmannsgütern geladenen Schiffe für Litauen im Juni 1409 und die Verteilung des Getreides und der anderen Güter auf Befehl des Hochmeisters Ulrich von Jungingen war demnach ein Politikum ersten Ranges. Man kann sich die aufgebrachte Reaktion nicht nur des litauischen Großfürsten, sondern auch des polnischen Königs auf diese Mitteilung gut vorstellen. Die Aussage in der Chronik von Michel Pintoin, des Mönchs von Saint-Denis, dass das Ereignis den Anlass 46 Vgl. einige der in Anm. 12 genannten Arbeiten. 47 Pfitzner, Großfürst Witold (wie Anm. 12), S. 130f.

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für die tödliche Zwietracht und somit auch für den Ausbruch des „Großen Krieges“ im August 1409 geliefert habe, sollte nicht unterschätzt und allzu leichtfertig übergangen werden.

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‚Lange Bank‘ oder ‚Parade riposte‘? Zum Umgang des Deutschen Ordens mit gegen ihn gerichteten Klagen unter Hochmeister Michael Küchmeister (1414–1422)

Auf dem Konstanzer Konzil klagte Bischof Andreas von Posen mehrfach über die ausbleibende Bußzahlung durch den Deutschen Orden, die ihm nach dem vom römisch-deutschen König Sigismund verantworteten Ofener Schiedsspruch von 1412 zustand.1 Er sandte in dieser Sache einen Knecht zum Hochmeister des Ordens, Michael Küchmeister.2 Offenbar blieb dies jedoch ohne Erfolg, schließlich berichtete der Generalprokurator des Deutschen Ordens an der Kurie, Peter von Wormditt, der sich anlässlich des von 1414 und bis 1418 stattfindenden Konzils in Konstanz aufhielt, in einem Brief vom 15. Dezember 1415 von den Beschwerden des Bischofs: Der Hochmeister „mache nur Worte; dorumb so dirkenne her [der Bischof, M. H.], das hers nicht anders von uch [dem Hochmeister, M.H.] moge gehaben denne mit dem rechten etc.“3 Der Bischof befürchtete also offenbar, dass der Hochmeister eine Klärung des Streitfalles bewusst durch leere Versprechungen verzögere und nur durch ein Verfahren auf bzw. vor dem Konzil dazu bewegt werden könne, diese Strategie zu verlassen und entsprechend des Schiedsspruches zu zahlen. Diese Befürchtung war nicht unbegründet. Einige Briefe des Generalprokurators an den Hochmeister liefern Hinweise auf das bewusste Aussitzen bestimmter Konflikte. Gerade der angesprochene Konflikt zwischen Posener Bischof und Hochmeister, in dem sich der Generalprokurator mehrfach eindeutig dafür aussprach, die berechtigt einge1 Beispielsweise direkt vor Sigismund am 13. Juli 1415: gnediger koning, is ist no irkand noch euwer bevelunge, das ir euwer orteil, das ir habeth usgesprachen czu Ungern als von dem bisschove und kirchen czu Lesslaw und och von meyner wegin, also bitte ich euch, gnediger koning, das ir dasselbe orteil volfulgen wellet durch der gerechtikeit willen, Die Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens an der Kurie, zweiter Band: Peter von Wormditt (1403–1419), bearb. Hans Koeppen (Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung, 13), Göttingen 1960, Nr. 121, S. 252. Die Art der Präsentation der Inhalte der Briefe in der Mischform von Regest, Paraphrase und Quelltext macht im Folgenden bisweilen die etwas eigenwillige Konstruktion notwendig, den Quelltext kursiv, alle Zusammenfassungen des Bearbeiters jedoch nicht kursiv zu zitieren und Anführungszeichen zu setzen. 2 Vgl. Berichte (wie Anm. 1), Nr. 136, S. 286. 3 Ebd.

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forderte Zahlung zu leisten,4 liefert weitere Beispiele. Es sei nur ein einziges aufgeführt, als Peter nämlich betreffend seine Tätigkeit in diesem Streitfall am 5. März 1416 schrieb: ich halde in [den Bischof] uff von tage czu tage myt worten uff euwer entwert.5 Ähnlich agierte der Prokurator in einer anderen Streitsache des Ordens. Hier war der Gegner des Ordens der Bischof von Leslau: Und ich habe die sache vaste ufgehalden und vorczogen.6 An dieser Stelle stechen das Bewusste des Verzögerns und – daran lässt die Formulierung kaum einen Zweifel – die Interpretation dieses Vorganges als persönlicher Erfolg des Prokurators heraus.7 Peter musste sein kostspieliges Tun auf dem Konzil gegenüber dem Hochmeister rechtfertigen;8 entsprechend dokumentierte er ausführlich die eigenen diplomatischen Erfolge.9 In Einzelfällen sind zudem die Instruktionen des Hochmeisters überliefert. Am 17. Juli 1417 schrieb Michael Küchmeister an den Generalprokurator in Antizipation eines Treffens mit dem Bischof von Posen: Ouch tut bynnen der czit im gerichte nicht wedir den bisschoff, und lasset die sache in gedolt hangen, es sei denn, daß der Bischof syne sache wedir uns do arbeiten wurde vor den richtern [Konzilsrichtern, M.H.].10 Wenn es also auf dem Konzil zu keinen Aktivitäten des Bischofs kommen sollte, sei zunächst auch vom Generalprokurator nichts zu unternehmen – die Streitsache wäre dann temporär still gestellt, gewissermaßen neutralisiert. 4 Entsprechende Hinweise finden sich im Verlaufe des Konzils immer wieder. Vgl. (ohne Garantie für Vollständigkeit) Berichte (wie Anm. 1) Nr. 127, Nr. 136, Nr. 155, Nr. 158, Nr. 169, Nr. 171, Nr. 194, Nr. 218. 5 Berichte (wie Anm. 1), Nr. 151, S. 313. 6 Berichte (wie Anm. 1), Nr. 155, S. 317. 7 Ein vergleichbarer Hinweis auf die eigene Leistung findet sich betreffend die Auseinandersetzung mit dem Bischof Andreas von Posen im Zuge einer Rekapitulation des Konfliktverlaufes in einem Brief vom 10. August 1416: Und der romissche konig vorczog die sache und wolde uch umb die busse nicht brengen. Und als her von hynnen czoch, do beful hers dem concilio. Und das concilium beful es den 4 richtern concilii. Und vor den so habe ich die sache mit kriege und mit fruntschaft uffgehaldem ein gancz jor, Berichte (wie Anm. 1), Nr. 171, S. 353. 8 Vgl. zu den finanziellen Problemen im Zusammenhang mit dem Konstanzer Konzil bereits Robert Krumbholtz, Die Finanzen des Deutschen Ordens unter dem Einfluss der Polnischen Politik des Hochmeisters Michael Küchmeister (1414–1422), in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8 (1892), S. 226–272. 9 Vgl. zum Beispiel, wie er die Polen gegenüber König Sigismund in Fragen der Anerkennung eines Schiedsrichters in die Defensive drängte, Berichte (wie Anm. 1), Nr. 121, S. 251–256 (vgl. hierzu auch knapp Hans Koeppen, Peter von Wormditt. Gesandter des Deutschen Ordens am päpstlichen Hof, in: Das Preußenland als Forschungsaufgabe, Eine europäische Region in ihren geschichtlichen Bezügen, Festschrift für Udo Arnold zum 60. Geburtstag, hrsg. Bernhart Jähnig und Georg Michels (Einzelschriften der Historischen Kommission für ostund westpreußische Landesforschung, 20), Lüneburg 2000, S. 17–36, hier: S. 33); besonders auch bei der Zurückweisung der Verantwortung des Ordens für die Satira des Dominikaners Johannes Falkenberg, Berichte (wie Anm. 1), Nr. 258, S. 490–497. 10 Berichte (wie Anm. 1), Nr. 208, S. 408.

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Doch lassen sich in der Kommunikation zwischen Konstanz und der Marienburg neben dieser Verschiebung der Reaktion auf einen späteren Zeitpunkt (fast selbstverständlich) auch andere Strategien im Umgang mit Konflikten beobachten. Besonders in der angesprochenen Auseinandersetzung mit dem Bischof von Posen mahnte der Generalprokurator – wie bereits angedeutet – fortwährend ein Entgegenkommen des Hochmeisters an.11 Dies führe zur besten Lösung aus Sicht des Ordens, weil zum einen das Recht auf der Seite des Bischofs sei und ein Urteilsspruch dem Orden nur zusätzlich schade und zum anderen, weil auf diese Weise ein wichtiger Gegenspieler des Ordens auf dem Konzil zufrieden gestellt werden könnte, was wiederum eine Vergrößerung des Handlungsspielraumes der Ordensgesandtschaft in Konstanz erwarten lasse.12 In diesem Fall blieb die unmittelbare Reaktion bloß die Vorstellung einer Ideallösung des Prokurators, weil die erwünschten Antworten des Hochmeisters ausblieben. Außerdem kam es durchaus vor, dass die Gegenseite gute Argumente vorbringen konnte, wodurch eine Fortführung des Konfliktes auf thematisch identischer Ebene aus Ordenssicht13 nicht vorteilhaft zu sein versprach. Als ein signifikantes Beispiel dafür kann die ausbleibende Reaktion der Ordensgesandtschaft auf das Betreiben der polnischen Delegation angeführt werden, eine Abordnung des Konzils nach Samaiten zu entsenden, um dort die Taufe durchzuführen bzw. durchzusetzen, was der Orden in diesem zwischen den Konfliktpartnern umstrittenen Territorium vorher nicht in eindeutigem Maße geschafft hatte.14 Peter meinte, dass der Orden, wenn er widerspräche, in den Verdacht gerate, die Verbreitung des Christentums nicht zu unterstützen.15 Im Ergebnis bedeutete dies pointiert zusammengefasst: Wider die toufe turre wir nicht sprechen.16 11 Vgl. die aufgeführten Belegstellen in Anm. 4. 12 Exemplarisch ein Brief vom 15. Dezember 1415: Berichte (wie Anm. 1), Nr. 136, S. 286: Es geet alhie im gerichte ungelt doruff, und letzten Endes erhalte der Bischof doch recht, und der HM müsse die Buße bezahlen. Ir vindet luͤ te, die sie an uch werden fordern. Er selber könne gegen das Recht nicht angehen und wolle später keine Schuld haben. Wir haben keynen Polan, der also hefticlich wider uns ist alhie als her. Und das machet alles das gelt. Were her des sicher, her were als heftig wider uns nicht. Zu den hier vorliegenden Implikationen bezüglich personenbezogenen Handlungsspielräumen vgl. Mats Homann, Der Blick des Deutschen Ordens auf das Konstanzer Konzil – die Briefe des Generalprokurators Peter von Wormditt und des Hochmeisters Michael Küchmeister, in: Tagungsband „Der Deutsche Orden und das Konstanzer Konzil“ (eingereicht). 13 In diesem Fall aus der Sicht des Generalprokurators Peter von Wormditt. 14 Vgl. in aller Kürze Karol Górski, Probleme der Christianisierung in Preußen, Livland und Litauen, in: Die Rolle der Ritterorden in der Christianisierung und Kolonisierung des Ostseegebietes, hrsg. Zenon Hubert Nowak (Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica, 1), Thorn 1983, S. 9–34, hier: S. 31. 15 Vgl. Berichte (wie Anm. 1), Nr. 159, S. 329. Hierbei handelt es sich um einen Brief Peters vom 1. Mai 1416 an den Livländischen Meister Siegfried Lander von Sponheim. 16 Berichte (wie Anm. 1), Nr. 151, S. 313.

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Es sind damit zwei gegensätzliche Arten der Antwort auf Klagen durch den Deutschen Orden auf dem Konstanzer Konzil angesprochen: Einerseits das bewusste Aufschieben einer Lösung der Konfliktsituation (gewissermaßen auf die ‚lange Bank‘) und andererseits das unmittelbare Reagieren, in den angesprochenen Beispielen zumeist durch strategisch einzusetzendes Entgegenkommen. Wie, wann und warum diese beiden Strategien von Aufschub und Antwort im Deutschen Orden während der Amtszeit des Hochmeisters Michael Küchmeister Anwendung fanden, soll im Folgenden untersucht werden. Gerade unmittelbare Reaktionen werden aber häufig neben der oben beschriebenen Art des Entgegenkommens auch in einer besonderen Form vorgefunden, die sich in Anlehnung an den in der Sprache des Fechtsports geläufigen Terminus als ‚Parade riposte‘ bezeichnen lässt, also Konstellationen betrifft, in denen auf eine gegen den Orden gerichtete Klage mit einer Gegenklage geantwortet wurde. Letztere sollen als stärker konfliktives Handeln im Folgenden eingehender betrachtet werden. Im Zuge der Untersuchung wird dabei der Fokus außerdem von Konstanz ins Preußenland verschoben und die Person des Hochmeisters als zentraler Akteur innerhalb des Ordens in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Es geht also darum, wie Michael Küchmeister während seiner Amtszeit als Hochmeister auf gegen den Orden gerichtete Klagen reagierte. Damit lässt sich das Vorhaben in zwei Forschungsfelder einordnen: (1.) in die (kaum noch im Ganzen zu überblickende) mediävistische Konfliktforschung und (2.) in die Erforschung der Geschichte des Deutschen Ordens unmittelbar nach der Schlacht bei Tannenberg/Grunwald vom 15. Juli 1410. Die jeweiligen Implikationen sollen im Folgenden, gemeinsam mit der Formulierung einiger Desiderate, kurz aufgezeigt werden: (1.) Die Beschäftigung mit Konflikten hat in der Mediävistik eine lange Tradition.17 Insbesondere in der deutschen Forschungstradition entfalten die Arbeiten von Gerd Althoff ihre Wirkung, indem Fragen nach Ritualen der Konfliktaustragung oder nach der Gültigkeit bestimmter Spielregeln der Konfliktlösung zentrale Bezugspunkte darstellen.18 Es geht dann auch um Räume und 17 Vgl. zum Beispiel die ausführlichen Beschäftigungen mit der Geschichte der Konfliktforschung bei Steffen Patzold, Bedrohte Ordnungen, mediävistische Konfliktforschung, Kommunikation: Überlegungen zu Chancen und Perspektiven eines neuen Forschungskonzepts, in: Aufruhr – Katastrophe – Konkurrenz – Zerfall. Bedrohte Ordnungen als Thema der Kulturwissenschaft, hrsg. Ewald Frie und Mischa Meier (Bedrohte Ordnungen, 1), Tübingen 2014, S. 31–60, bes. S. 37–44; auch Gerd Althoff, Hinterlist, Täuschung und Betrug bei der friedlichen Beilegung von Konflikten, in: Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hrsg. Oliver Auge u. a. (Mittelalter-Forschungen, 20), Ostfildern 2010, S. 19–29, der Widersprüche gegen seine Thesen von den Spielregeln mittelalterlicher Konfliktaustragung diskutiert. 18 Gerd Althoff, Konfliktverhalten und Rechtsbewußtsein. Die Welfen im 12. Jahrhundert, in: Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde,

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Zeiten: Wo lassen sich welche Mechanismen im Umgang mit Konflikten beobachten? Wo und wann sind sie vergleichbar und wo und wann nicht? Welche Bedeutung kommt regionalen Besonder- oder Gegebenheiten bei der Charakterisierung von Konflikten zu? Welche Entwicklungen lassen sich im Verlaufe des Mittelalters ausmachen?19 Alle diese Fragen und Perspektiven zielen auf generalisierbare Beobachtungen der Form, der Ausgestaltung und der Austragung von Konflikten. Man wagt sich damit aber schon einen Schritt zu weit vor. Es stünde zunächst an, sich damit zu beschäftigen, was einen Konflikt in seinen verschiedenen Dimensionen, oder zeitlich ausgedrückt: Etappen, auszeichnet. Dabei stehen nicht nur terminologische Aspekte – wann liegt ein Konflikt, wann ein Streitfall, wann eine Auseinandersetzung vor? – zur Debatte,20 sondern es wäre auch von Interesse, klarer die jeweiligen Komponenten eines Konfliktes zu erfassen. Das beträfe zum einen den Verlauf von Konflikten: Welche Phasen lassen sich analytisch fassen und wie können sie bestimmt werden? Dabei spielten dann selbstverständlich auch Fragen nach ritualisiertem Konflikthandeln eine Rolle. Bislang hat bei der Untersuchung von Konflikten eine starke Ausrichtung auf ihre Lösung stattgefunden; sie hat also als am intensivsten untersuchte Konfliktphase zu gelten.21 In der hier folgenden Untersuchung wird Darmstadt 1997, S. 57–84, hier: S. 57–59, bemerkt, dass lange „eine prozeßorientierte und -fixierte Sicht auf die Konflikte“ die Forschung dominiert habe (ebd., S. 59). 19 Vgl. Althoff (wie Anm. 17), S. 27f., der die Frage nach der Reichweite der Gültigkeit von Spielregeln der Konfliktführung als schwierig klassifiziert und anschließend auf Ergebnisse erster regionaler Differenzierungen verweist; vgl. auch Knut Görich, Kommentar, in: Verwandlungen des Stauferreichs. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, hrsg. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter und Alfred Wieczorek, Darmstadt 2010, S. 210–217; mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung der lokalen Verhältnisse Christoph Dartmann, Konflikte in Ober- und Mittelitalien, in: Verwandlungen des Stauferreichs. Drei Innovationsregionen im mittelalterlichen Europa, hrsg. Bernd Schneidmüller, Stefan Weinfurter und Alfred Wieczorek, Darmstadt 2010, S. 179–191. 20 Leider nicht einmal in diesem Aufsatz konsequent angewandt wird die plausible, von Martin Kintzinger getroffene Unterscheidung zwischen Konkurrenz und Konflikt, wonach die Konkurrenz als Ausgangspunkt von Konflikten einen latenten Zustand darstelle, der Konflikt hingegen ein aktueller sei. Martin Kintzinger, Kontakt und Konflikt. Herausforderungen der Diplomatie im Spätmittelalter, in: Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hrsg. Oliver Auge u. a. (Mittelalter-Forschungen, 20), Ostfildern 2010, S. 275–297, hier: S. 276. 21 Es ließen sich viele Beispiele anführen. Beispielhaft sei wieder auf Gerd Althoff (wie Anm. 17) verwiesen; zudem aktuell(er) und in weiterem Sinne näher am hier behandelten Thema: Thomas Krämer, Dämonen, Prälaten und gottlose Menschen. Konflikte und ihre Beilegung im Umfeld der geistlichen Ritterorden (Vita regularis, 64), Berlin 2015, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Konfliktbeilegungen; auch Florian Dirks, Konfliktaustragung im norddeutschen Raum des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Fehdewesen und Tagfahrt (Nova Mediaevalia, 14), Göttingen 2015, legt seinen Fokus stark auf die Konfliktlösung; außerdem Klaus Neitmann, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230–1449. Studien zur Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaates (Neue Forschungen zur brandenburg-preußischen Geschichte, 6), Köln 1986.

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hingegen ein Moment fokussiert, der für den Einstieg in einen Konflikt von zentraler Bedeutung ist: Nachdem ein Kläger seine Klage an den Beklagten herangetragen hatte, entschied dieser durch seine Reaktion, ob und wie in einen Konflikt eingetreten wurde bzw. für den Fall, dass der Konflikt bereits länger bestand, wie er Fortsetzung fand. Zum anderen bedarf es weiterer Untersuchungen zu Konflikthierarchien, die sowohl die Zuständigkeiten in Konfliktfällen bei hierarchischen Ordnungssystemen als auch die Bedeutsamkeit der Opponenten berücksichtigen. Konkret beinhaltet dies beim Deutschen Orden die Frage danach, für welche Konflikte der Hochmeister zuständig war bzw. wann er delegierte. Außerdem gilt es zu betrachten, ob Konflikte bevorzugt behandelt und gelöst wurden und ob jeweils andere Strategien des Umgangs mit den potentiell konfliktauslösenden oder -vertiefenden Klagen zu identifizieren sind. Allgemein und etwas platt gefragt: Gab es ‚große‘ und ‚kleine‘ Konflikte?22 (2.) Nach der vermeintlichen ‚Blütezeit‘23 des Deutschen Ordens um 1400 und dem ebenso vermeintlichen ‚Wendepunkt‘24 (zum Schlechten) durch die Niederlage bei Tannenberg im Juli 1410 trat Michael Küchmeister das Amt des Hochmeisters an. Allerdings geschah dies nicht unmittelbar, folgte doch zunächst Heinrich von Plauen auf den im Kampf getöteten Hochmeister Ulrich von Jungingen. Erst nach der Absetzung Heinrichs von Plauen im Zusammenhang mit einem von ihm initiierten Angriff gegen Polen-Litauen erfolgte am 9. Januar 1414 die Wahl des an der Absetzung beteiligten vormaligen Obersten Marschalls Michael Küchmeister zum Hochmeister.25 Seine Amtsführung wird in der Forschung – darauf hat bereits Sebastian Kubon hingewiesen – fast durchweg negativ beurteilt, wobei insbesondere seine zurückhaltende Politik im durch den Friedensvertrag von Thorn (vom 1. Februar 1411) nicht abschließend befriedeten 22 Sogar – wenngleich offenbar auf das Zeitliche bezogen – als Superlativ im Titel der älteren, inhaltlich sehr problematischen Arbeit von Paul Nieborowski, Der Deutsche Orden und Polen in der Zeit des größten Konfliktes, 2. Aufl. Breslau 1924; in den Briefen des Generalprokurators finden sich zudem Hinweise, dass er selber große und kleine Konflikte unterschied. So schrieb er dem Hochmeister am 12. April 1416: Der lantkompthur czu Elsassen hat alleyne 4 sachen vor dem concilio. Die groste ist myt den von Strospurg, die den orden wider got unde recht us der stat getreben han. Und unser hus aldo steit ledig. So han ich die Rigissche sache und die 2 sachen myt dem von Lesslaw und myt hern Andres unde eyne von Poczen und die groste myt den Polen, also das ich nicht ledig gee. Berichte (wie Anm. 1), Nr. 155, S. 318f. 23 Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Label liefert Sebastian Kubon, Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad von Jungingen (1393–1407) (Nova Mediaevalia, 15), Göttingen 2016. 24 Vgl. Marian Biskup, Wendepunkte der Deutschordensgeschichte, in: Beiträge zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 1, hrsg. Udo Arnold (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 36; Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 1), Marburg 1986, S. 1–18, hier: S. 10. 25 Vgl. Wilhelm Nöbel, Michael Küchmeister. Hochmeister des Deutschen Ordens 1414–1422 (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 5), Bad Godesberg 1969, hier vor allem S. 59–69.

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Verhältnis zu Polen-Litauen Kritik hervorruft.26 Um Strategien und Positionen des Hochmeisters im Umgang mit Polen-Litauen besser fassen und so das von der Forschung bislang gezeichnete Bild überprüfen zu können, ist der Blick auf das Agieren des Hochmeisters im Konflikt zu richten. Auch aus dieser Perspektive verspricht die Reaktion auf Klagen ein Schlüsselmoment zu sein, in dem Strategien hochmeisterlichen Handelns deutlich werden. Was fehlt, und hier verbinden sich beide Forschungsfelder, sind differenzierte Darstellungen der Arten der Konflikte zwischen Deutschem Orden und PolenLitauen.27 Zumeist wird nur im Singular von dem „Konflikt“ zwischen den angesprochenen Parteien geschrieben,28 ohne die verschiedenen Ausprägungen (kriegerische Auseinandersetzungen, Schiedsverfahren unter Beteiligung Sigismunds, Streit um die Frage des Besitzes der Dörfer Neuendorf, Morin und Orlau etc.) des Verhältnisses ernst zu nehmen und die verschiedenen Konfliktfälle jeweils in ihrer Spezifik zu betrachten. Die vorhandenen Untersuchungen blicken intensiv lediglich auf die Rhetorik im Umfeld dieses konfliktreichen Verhältnisses29 und in Bezug auf das Konstanzer Konzil auf die dortige Auseinandersetzung im Rahmen eines Traktatenstreites.30 26 Vgl. die Aufarbeitung des Forschungsstandes bei Sebastian Kubon, Hochmeister Michael Küchmeister und die Konflikte des Deutschordenslandes Preußen mit Polen-Litauen. Krisen ohne Ende oder eine Phase der Konsolidierung? Vorüberlegungen zu einer Studie mittelalterlicher Außenpolitik, in: Bulletin der polnischen historischen Mission 11 (2016), S. 359–379, hier vor allem: S. 361–364; differenzierter als viele andere in der Bewertung des Hochmeisters Nöbel (wie Anm. 25), zum Beispiel im Kontext des Hungerkrieges, in dem Küchmeisters Taktik den Orden gerettet habe. Ebd., S. 83. 27 Vgl. für den hier betrachteten Zeitraum unter Einbeziehung von Fragen der Konfliktforschung Wiesław Sieradzan, Der Thorner Frieden von 1411 und die Prozesse zwischen dem Deutschen Orden und Polen als Beispiel der Bewältigung zwischenstaatlicher Konflikte im Spätmittelalter, in: Konfliktbewältigung und Friedensstiftung im Mittelalter, hrsg. Roman ´ ski, Thorn 2012, S. 135–149. Allerdings sind Czaja, Eduard Mühle und Andrzej Radzimin die Ausführungen eher als erste ‚Probebohrungen‘ mit einigen problematischen Annahmen (z. B. dass Streitigkeiten im Mittelalter v. a. durch Kriege und Schlachten entschieden worden seien, ebd., S. 136) anzusehen. 28 Als beispielhaft kann der Aufsatz von Laszlo Pósán, Der Konflikt zwischen dem Deutschen Orden und dem polnisch-litauischen Staat auf dem Konstanzer Konzil, in: Das Konzil von Konstanz und Ungarn, hrsg. Attila Bárány unter Mitarbeit von Balász Antal Bacsa (Memoria Hungariae, 1), Debrecen 2016, S. 65–83, gelten, in dem mehrfach übergeordnet von „dem Konflikt“ die Rede ist, konkrete Streitfälle aber zumeist gleichfalls als Konflikte bezeichnet werden. 29 Vgl. Paul Srodecki, Schilt der cristenheite i scutum christianitatis – spory polsko-krzyz˙ackie a retoryka przedmurza/ tarczy na pocza˛tku XV wieku, in: Unia w Horodle na tle stosunków polsko-litewskich. Od Krewa do Zare˛czenia wzajemnego Obojga Narodów, hrsg. Sławomir ´ ski, Warschau 2015, S. 147–163; Annika Souhr, „Von jeher fredeschilt der ChrisGórzyn tenheit“. Rückgriffe auf die eigenen Ursprünge im auswärtigen Schriftverkehr des Deutschen Ordens in Krisenzeiten, in: La mémoire des origines dans les ordres religieux-militaires au Moyen Âge. Actes des journées d’études de Göttingen (25–26 juin 2009), hrsg. Philippe Josserand und Mathieu Olivier (Vita regularis, 51), Berlin 2012, S. 237–268; auch: Katrin

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Für vieles, was hier angedeutet und teilweise als Desiderat formuliert wurde, können die folgenden Beobachtungen nicht mehr als Annäherungen darstellen. Es werden erste Hinweise auf Tendenzen erkennbar, deren umfassende Interpretation in einem Gesamtbild andernorts zu leisten sein wird. Für diese Annäherung an die Beantwortung der zur Rede stehenden Fragen sind die ausgehenden Briefe des Deutschen Ordens, insbesondere die des Hochmeisters, am besten geeignet. Sie sind – wenngleich offensichtlich nicht vollständig – in den Briefregistern des Ordens überliefert.31 Für den hier untersuchten Zeitraum ergibt sich zudem die Herausforderung, dass die Ordensfolianten (OF) 8–11, die Briefregister enthielten, seit 1945 als verschollen zu gelten haben.32 Deshalb muss, wenn aus der Zeit vor 1945 keine Drucke, Abschriften oder Nennungen in der Literatur vorliegen, auf die kurzen und teilweise defizitären Regesten des Findbuchs 66 des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zurückgegriffen werden, die der damalige Archivdirektor Rudolf Philippi in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anfertigte.33 In den übrigen Fällen konnten die angesprochenen Sekundärüberlieferungen einbezogen werden; außerdem sind die Ordensfolianten 8 und 9 über ein von Sebastian Kubon, Annika Souhr-Könighaus

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Bourrée, Gewalt gegen Bekehrte? Der Konflikt des Deutschen Ordens mit Polen-Litauen nach 1945, in: Schwertmission, Gewalt und Christianisierung im Mittelalter, hrsg. Hermann Kamp und Martin Kroker, Paderborn 2013, S. 181–204; Andreas Rüther, Geheimdiplomatie – Schauprozess – Medienkrieg. Polen-Litauen und der Deutsche Orden um die Zeit des Konzils von Konstanz (1414–1418), in: Bulletin der polnischen historischen Mission 8 (2013), S. 43–74 (auch mit Konzilsbezug). Vgl. Hartmut Boockmann, Johannes Falkenberg, der Deutsche Orden und die polnische Politik. Untersuchungen zur politischen Theorie des späteren Mittelalters. Mit einem Anhang: Die Satira des Johannes Falkenberg (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 45), Göttingen 1975; Stefan Kwiatkowski, Der Deutsche Orden im Streit mit Polen-Litauen. Eine theologische Kontroverse über Krieg und Frieden auf dem Konzil von Konstanz (Beiträge zur Friedensethik, 32), Stuttgart/Berlin/Köln 2000; Jürgen Miethke, Heiliger Heidenkrieg? Theoretische Kontroversen zwischen Deutschem Orden und dem Königreich Polen vor und auf dem Konstanzer Konzil, in: Heilige Kriege, Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendungen: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hrsg. Klaus Schreiner unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 78), München 2008, S. 109–125; Paul Srodecki, „Murus et antemurale pollens et propugnaculum tocius christianitatis“, Der Traktatenstreit zwischen dem Deutschen Orden und dem Königreich Polen auf dem Konstanzer Konzil, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 109 (2015), S. 47–65. Vgl. hierzu umfassend Sebastian Kubon/Jürgen Sarnowsky, Einleitung, in: Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens: die Ordensfolianten 2a, 2aa und Zusatzmaterial. Mit einem Nachdruck von Kurt Lukas, Das Registerwesen der Hochmeister des Deutschen Ritterordens, maschinenschriftl. Phil. Diss. Königsberg 1921, hrsg. und bearb. Sebastian Kubon und Jürgen Sarnowsky (Beihefte zum Preußischen Urkundenbuch, 1), Göttingen 2012, S. 13–77. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 17 und S. 59, zur Notwendigkeit des Rückgriffes auf Mehrfach- und Sekundärüberlieferungen; zu den Regesten Philippis S. 36f.

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und Jürgen Sarnowsky erarbeitetes Regestenwerk aufgrund der Einbeziehung aller bekannten relevanten Überlieferungsträger bestmöglich erschlossen.34

1.

Aufschieben – die ‚lange Bank‘

Anders als im Fall der oben angeführten ordensinternen Kommunikation zwischen Generalprokurator und Hochmeister bestand die Möglichkeit der Kommunikation des Wunsches nach einer Verschiebung der Behandlung einer Streitsache nach außen nur in sehr engen Rahmen. Sie wurde nur in zwei Konstellationen realisiert: 1. Ein Treffen der Konfliktparteien stand ohnehin unmittelbar bevor. In mehreren Briefen verwies der Hochmeister, nachdem er sich zunächst meist mit dem Gegenstand der Klage beschäftigte, darauf, dass alles Weitere dazu auf der anstehenden Tagfahrt bzw. beim anstehenden Treffen besprochen und geregelt werden könne. Dabei konnten die Konfliktfälle sehr unterschiedlich gelagert sein und ganz verschiedene Akteure involvieren. So finden sich beispielsweise entsprechende Hinweise im Zusammenhang mit Zahlungsforderungen des polnischen Marschalls Zbigniew von Brest, die erst nach einem Treffen mit Władysław-Jagiełło und dem gleichfalls Ansprüche anmeldenden litauischen Großfürsten Vytautas beantwortet wurden.35 An anderer Stelle versuchte der Hochmeister den Bischof von Dorpat als Unterstützer dafür zu gewinnen, die Freunde des ermordeten Johans von Dolen bis zu einem späteren Tage in Danzig zu vertrösten, auf dem der Fall dann gelöst werden sollte.36 Ähnlich gelagerte Vorgehen können im Einzelfall auch in der Kommunikation mit WładysławJagiełło,37 den Hansestädten Lübeck und Stralsund (hier unter Einbeziehung eines Gesandten)38 und dem Bischof von Heilsberg39 ausgemacht werden. Allen diesen Beispielen ist gemein, dass das gemeinsame Treffen als geeigneter vor34 Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens II: die Ordensfolianten 8, 9 und Zusatzmaterial. Mit einem Anhang: Die Abschriften aus den Briefregistern des Folianten APG 300, R/Ll, 74, hrsg. und bearb. Sebastian Kubon, Jürgen Sarnowsky und Annika SouhrKönighaus (Beihefte zum Preußischen Urkundenbuch, 2), Göttingen 2014 (im Folgenden kurz: RBDO II). 35 Vgl. OF 8, Nr. 4, RBDO II (wie Anm. 34), S. 76. 36 Vgl. OF 8, Nr. 196, RBDO II (wie Anm. 34), S. 176; in diesem Brief antizipierte der Hochmeister sogar, dass die Freunde sich möglicherweise nicht bis zum angesprochenen Tage gedulden würden und kündigte entsprechend eine Neubewertung der Lage für diesen Fall an. 37 Vgl. OF 8, Nr. 250, RBDO II (wie Anm. 34), S. 208. 38 Vgl. OF 10, Nr. 297, Findbuch 66 der XX. Hauptabteilung (Historisches Staatsarchiv Königsberg) des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz Berlin (im Folgenden kurz: Findbuch 66), S. 127. 39 Vgl. OF 10, Nr. 156, Findbuch 66, S. 126.

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gestellt wurde als eine Fortsetzung der Konfliktaustragung über den Austausch von Briefen. Es wurden also vor allem pragmatische Gründe kommuniziert und ein Aussitzen wie in den einleitend vorgestellten Fällen war nicht vorgesehen. 2. Für die Konfliktlösung bzw. Entscheidungsfindung wichtige Personen waren abwesend. Aus einem Brief des Hochmeisters an den Pfalzgraf Ludwig bei Rhein vom 22. März 1416 geht hervor, welch problematische Rückwirkungen Michael Küchmeister von einer Verstärkung der Gesandtschaft des Ordens auf dem Konstanzer Konzil erwartete. Er könne außer dem Komtur von Thorn keinen weiteren Gebietiger nach Konstanz schicken, weil gegenwärtig in Preußen Krieg drohe.40 Die Abwesenheit einer größeren Anzahl an Gebietigern, so ließe sich schlussfolgern, schade der Verteidigungs-, bzw. Kampfbereitschaft des Ordens.41 Entsprechend erklärt sich der an Sigismund gerichtete Wunsch vom 4. März 1417, die Sachen des Ordens auf dem Konzil schnell zu einem Ende zu bringen, aus der Tatsache, dass der Hochmeister sich doch gezwungen sah, eine Stärkung der Gesandtschaft durch die Entsendung weiterer Gebietiger vorzunehmen.42 Diese Maßnahme führte dann auch zu einer Aufschiebung einer Verständigung im Konflikt mit den Hansestädten über die Erhebung des Pfundzolles.43 In einem Brief an die Ratssendeboten der Hansestädte vom 11. Juni 1417 stellte der Hochmeister diesen Zusammenhang explizit her, indem er darauf verwies, ohne die auf Wunsch Sigismunds in Konstanz verweilenden Gebietiger keine Entscheidungen treffen zu können und folgerichtig bat er darum, bis zu ihrer Rückkehr nach Preußen Geduld zu haben.44 Andere Fälle offenbaren strukturelle Ähnlichkeiten, auch wenn sie vom Gegenstand des Streites her sehr unterschiedlich sind: Als Beispiel sei die Bitte des Hochmeisters an den Herzog von Stolp zu nennen, eine Grenzbesichtigung bis zur Wiederkehr des Komturs von 40 OF 8, Nr. 188, RBDO II (wie Anm. 34), S. 172f.; der Generalprokurator wies jedoch mehrfach auf die politische Notwendigkeit hin, die Gesandtschaft in Konstanz zu bestimmten Momenten personell aufzustocken, vgl. z. B. Berichte (wie Anm. 1), Nr. 140, Nr. 192 (in Erwartung der Rückkehr Sigismunds zum Konzil), Nr. 211 (in Erwartung der Papstwahl). 41 Vgl. auch Neitmann (wie Anm. 21), S. 39. 42 Vgl. Berichte (wie Anm. 1), Nr. 200, S. 392f.; OF 8, Nr. 300, RBDO II (wie Anm. 34), S. 233; vgl. zudem den Brief vom 5. März, OF 8, Nr. 301, RBDO II (wie Anm. 34), S. 233f., in dem er Sigismund bat, die „Gesandtschaft vor Ablauf des Friedens wieder nach Preußen zurückkehren zu lassen.“ (Ebd., S. 233.) 43 Vgl. zum Verhältnis des Deutschen Ordens zur Hanse und zur Pfundzollfrage: Günter Ketterer, Die Hanse und der Deutsche Orden, in: Hansische Geschichtsblätter 90 (1972), S. 15–39; Jürgen Sarnowsky, Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382–1454) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 34), Köln/ Weimar/Wien 1993, hier: S. 71–85, unter besonderer Berücksichtigung des Amtes des Pfundmeisters. 44 Vgl. OF 8, Nr. 344, RBDO II (wie Anm. 34), S. 248f.; Formulierung im obigen Text in Anlehnung an das Regest.

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Schlochau zu verschieben.45 Hier wie oben enthält der Vorgang die Antizipation der Änderung der Situation, sodass die Konfliktlösung am Ende dieses zunächst unbestimmten Zeitraumes sinnvoll(er) durchzuführen sei. Die Gebietiger würden ebenso zurückkehren wie der Komtur von Schlochau und erst dann sollten die Fragen nach dem Pfundzoll bzw. den Grenzen des Ordenslandes verhandelt werden. Auch in diesen Fällen spielte die persönliche Präsenz wichtiger Akteure – allerdings nicht die des Hochmeisters wie auf den meisten der im ersten Punkt angesprochenen Tagen – eine wichtige Rolle bei der Konfliktlösung. Wenn sie zum Zeitpunkt des Abfassens der Briefe nicht gewährleistet war, konnte nur ein Verschieben in Frage kommen. Erneut ist eine pragmatische Legitimierung eines solchen Vorgehens zu erkennen und kein Aussitzen intendiert. Weitere Gründe für die Verschiebung eines Konfliktes bzw. einer Konfliktlösung auf die lange Bank konnten das Nicht-Wissen des Hochmeisters oder seine Handlungsohnmacht darstellen. Michael Küchmeister verwies am 24. Februar 1414 gegenüber Vytautas auf ein früheres Schreiben, in dem er dem Großfürsten mitgeteilt habe, nichts von in Danzig aufgehaltenen Gütern litauischer Untertanen zu wissen. Anschließend schlug er dann die Lösung bei einer bereits verabredeten gemeinsamen Tagfahrt vor.46 Hier ist das Aufschieben also bereits erfolgt und mit einem vormaligen und inzwischen aufgehobenen Nicht-Wissen erklärt. Wiederum der ordensinternen Kommunikation zu entnehmen ist ein Versuch, Wissen bewusst zu negieren. Denn in einer Instruktion für die Gesandtschaft des Ordens auf dem Konzil aus dem Januar 1416 ordnete der Hochmeister an „bzgl. des Mordbrenners, von dem sie ihm geschrieben hätten, jedes Wissen zu verneinen“47. Der Zweck dieser Handlung ist nicht unbedingt in einem Aufschieben zu sehen, doch konnte es ohne Zweifel eine Konsequenz der Verneinung des Wissens darstellen. Sobald in einem Konflikt – egal, ob als Vorwand oder authentisch – angegeben wurde, nichts zu wissen, war die Lösung aufgeschoben, weil es zunächst galt, Informationen einzuholen. Ähnlich verhielt es sich mit einer Handlungsohnmacht. Als der Hochmeister an Heinrich von Gunthersberg schrieb, dass er aufgrund einer Offensive des polnischen Königs nicht in der Lage sei, etwas in dem Konflikt zwischen Heinrich und dem Vogt der Neumark zu unternehmen,48 kam dies einem Aufschieben des Konfliktes gleich.

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Vgl. OF 10, Nr. 149, Findbuch 66, S. 95. Vgl. OF 8, Nr. 1, RBDO II (wie Anm. 34), S. 75. OF 8, Nr. 178, RBDO II (wie Anm. 34), S. 166f., Zitat: S. 167. Vgl. OF 8, Nr. 69, RBDO II (wie Anm. 34), S. 115.

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Dieser Konflikt wurde damit auch deutlich niedriger in seiner Bedeutsamkeit eingestuft als der militärische Konflikt mit Władysław-Jagiełło.49

2.

‚Parade riposte‘

Johannes Burkhardt stellt in einem Aufsatz über „Sprachen des Friedens und Friedenssprachen“ in der Frühen Neuzeit fest, dass die Konfliktrhetorik immer die eigene Friedensliebe präsentiere und entsprechend dem nicht friedliebendem Gegner die Schuld am Kriege zugeschoben werde, während bei der Anwendung von Friedensrhetorik beide Kontrahenten gleichermaßen als friedliebend dargestellt würden.50 Denkt man diesen Befund weiter und will seine Anwendbarkeit auf die hier zu untersuchenden Konstellationen überprüfen, kommt man dazu, Reaktionen im Stile einer ‚Parade riposte‘ zu erwarten. Schließlich ist der Gegner durch das Vorbringen der Klage bereits in Vorleistung getreten, sodass eine Gegenklage zur Umkehrung der Schuldfrage ein probates Mittel der Konfliktrhetorik zu sein verspricht.51 Tatsächlich lassen sich solche Muster – das ist oben bereits angedeutet worden – in zahlreichen Entgegnungen des Hochmeisters auf gegen den Orden gerichtete Klagen ausmachen. Sie gilt es in ihren Grundzügen zu charakterisieren: Häufig begegnete Michael Küchmeister den Vorwürfen gegen den Orden, einzelne seiner Amtsträger oder seine Untertanen, indem er den identischen Vorwurf gegen den Kläger richtete. Als zum Beispiel der polnische König sich beim Hochmeister darüber beklagte, dass der Orden auf dem Konstanzer Konzil Lästerungen gegen die Königin Hedwig ausstoße, wies Michael Küchmeister den Vorwurf zunächst zurück, um sich anschließend seinerseits über die Lästerungen der polnischen Gesandten auf dem Konzil zu beklagen.52 Der Klagegegenstand konnte auch bei Fällen der ‚Parade riposte‘ variieren und war auch nicht auf 49 Inwiefern in den aufgeführten Fällen Vorwände gefunden werden, um einer unmittelbaren Konfliktlösung aus dem Weg zu gehen, kann nur Spekulation bleiben bzw. müsste im Rahmen einer stärker auf den Einzelfall zielenden Studie untersucht werden. 50 Johannes Burkhardt, Sprachen des Friedens und Friedenssprache. Die kommunikativen Dimensionen des vormodernen Friedensprozesses, in: Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen, hrsg. Martin Espenhorst (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universitätsgeschichte, Beiheft 91), Göttingen 2012, S. 7–23, hier: S. 20. 51 Ob hier Ehre und speziell Ehrverletzungen eine Rolle spielten, wäre weiter zu untersuchen. Verortet man allerdings Ehre mit allen positiv oder negativ wirkenden Implikationen im öffentlichen Raum, muss sie bei der hier betrachteten quasi-privaten Korrespondenz zunächst hintenanstehen. Vgl. zur Thematik allgemein: Verletzte Ehre. Ehrkonflikte in Gesellschaften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hrsg. Klaus Schreiner und Gerd Schwerhoff (Norm und Struktur, 5), Köln/Weimar/Wien 1995. 52 Vgl. OF 9, Nr. 96, RBDO II (wie Anm. 34), S. 317.

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immaterielle Vorwürfe (wie Lästerungen) beschränkt. Die Geldforderungen von Herrn Bonow, dem Verweser des Stifts Kammin, behandelte der Hochmeister im März 1415 abschlägig und begründete dies auch damit, dass der Kläger selbst Schulden beim Orden habe.53 Deutlich am häufigsten fand die ‚Parade riposte‘ jedoch im Kontext von Fragen nach Übergriffen gegen oder von Ordensuntertanen Anwendung. Da von diesen Problemen häufig Grenzregionen betroffen waren, konnte es auch vorkommen, dass die Konflikte von den vor Ort agierenden Vertretern der Streitparteien ausgingen und dann auf höherer Ebene diskutiert wurden. So sah sich der Hochmeister häufig gezwungen, auf Vorwürfe gegen den Vogt der Neumark Sander von Machwitz mit Verweisen auf die Schäden, die den Ordensuntertanen zugefügt worden seien, zu antworten.54 Ähnlich verfuhr er, als Władysław-Jagiełło sich wegen der Klagen des Hauptmannes Jaroslaus von Nakel gegen den Komtur zu Tuchel an ihn wandte. Er schrieb nach der Aufzählung einiger Vorfälle zu Lasten der Ordensuntertanen über die Notwendigkeit, sich dagegen zu wehren: Do das geschrei den unsirn dirschal, quomen sie an di selben und wiwol di unsirn obirweldigten und gelobde des gefengnisse von in ufnomen, dennoch huben diselben misseteter widdir an uf di unsirn czu slan und taten den unsirn sulchen gedrang, das di unsirn sich irer andirweith dirweren musten und sie obirwinden.55

Wenn weitere Personen auf höherer Ebene jenseits der eigentlichen Konfliktparteien involviert wurden, reichte es nicht, nur gegenüber dem Gegner die Schuld zu relativieren, indem man ihm vorwarf, zunächst mit den Schädigungen begonnen zu haben. Nachdem sich zum Beispiel die Herzogin von Stolp mit ihrer Klage gegen Ordensuntertanen auch an Sigismund und Władysław-Jagiełło gewandt hatte, bestand die Notwendigkeit, auch gegenüber diesen die eigene Unschuld zu beteuern. Ein solcher Brief an den polnischen König ist bekannt56 und – wie zu erwarten – gleicht er in der Argumentation der direkten Entgegnung im Brief an die Herzogin:57 Es wird klargestellt, dass die Untertanen der Herzogin die Räubereien verübten, bevor die Ordensuntertanen dann (zu Recht) reagierten, indem sie zum Ausgleich ihrerseits die Untertanen der Herzogin schädigten.58 53 Vgl. OF 8, Nr. 123, RBDO II (wie Anm. 34), S. 142. 54 Vgl. OF 8, Nr. 167, RBDO II (wie Anm. 34), S. 162; OF 8, Nr. 169, RBDO II (wie Anm. 34), S. 163; OF 8, Nr. 270, RBDO II (wie Anm. 34), S. 220; OF 8, Nr. 357, RBDO II (wie Anm. 34), S. 253f.; zu Klagen gegen den Vogt auch OF 8, RBDO II (wie Anm. 34), Nr. 36, S. 93f., OF 8, Nr. 47, RBDO II (wie Anm. 34), S. 102f., z. B. von Władysław-Jagiełło OF 9, Nr. 35, RBDO II (wie Anm. 34), S. 280f. 55 Codex Epistolaris Vitoldi, bearb. Antoni Prochaska (Monumenta medii aevi historica res gestas Poloniae illustrantia, Bd. 6, Teil 1), Krakau 1882 [ND Warschau 1965], Nr. DCCXCIV, S. 419. 56 Vgl. OF 11, p. 49f., Findbuch 66, S. 186. 57 Vgl. OF 11, p. 41f., Findbuch 66, S. 186. 58 Vgl. ebd.

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Hiermit sind zumindest implizit mehrere Funktionen angesprochen, die eine Verteidigung im Stile einer ‚Parade riposte‘ haben konnte. Voraussetzung für eine ‚Parade riposte‘ war, dass der Orden, seine Vertreter oder seine Untertanen bereits gehandelt hatten. Die Gegenvorwürfe dienten also als nachträgliche Legitimation für bereits erfolgte Aktionen oder Reaktionen des Ordens, die von Opponenten beklagt wurden. Sie besaßen demnach eine erklärende oder rechtfertigende Funktion in Bezug auf die Ereignisse und eine relativierende Funktion in Bezug auf die Klagen. Wiederholte der polnische König die schon vorher von polnischer Seite vorgebrachte Klage gegen die Inbesitznahme von Pferd und Vieh von dem Haus Draheim durch den Komtur von Schlochau, wies der Hochmeister am 21. Juli 1416 im Einklang mit der hier diskutierten Strategie im Umgang mit Klagen in seiner Antwort darauf hin, dass die Untertanen (nicht der Komtur!) nur für eine äquivalente Vergeltung der selbst erlittenen Schäden gesorgt hätten.59 Das Verhalten des Komturs erfuhr Unterstützung und wurde gerechtfertigt und die Klage – nicht in ihrem Gegenstand, aber in ihrer Stoßrichtung gegen den Orden – relativiert. In den Grundzügen ähnlich, aber doch in der Art der Gegenklage verschieden, stellt sich ein anderer Fall dar, der zwischen Hochmeister und polnischem König besprochen wurde: Es stand ein konkreter Akt der Gewaltanwendung zur Debatte. Der polnische König beschwerte sich über die Tötung eines Mannes durch Erhängen, die durch den Komtur von Nessau veranlasst worden sei. Der Hochmeister bestätigte in seiner Antwort vom 10. August 1416 die Tötung, betonte aber, dass diese mit Recht geschehen sei.60 Dieser Verweis auf die Rechtmäßigkeit des Hängens sollte den Orden vor Schuld bewahren und der Angriff konnte auf diese Weise pariert werden. Die Gegenklage allerdings konnte kein vergleichbares Vergehen ins Feld führen und nannte „verschiedene Räubereien und Gewalttätigkeiten, die von Untertanen des Königs gegen die des Ordens ausgeführt worden seien.“61 Leider liegt hier nur das knappe FindbuchRegest vor, sodass die Qualität der Gegenklage nur unzureichend mit der von polnischer Seite beklagten Tötung ins Verhältnis gesetzt werden kann. Dennoch bleibt diese ‚Parade riposte‘ ungewöhnlich, weil sie zwar das thematische Feld der ursprünglichen Klage über die Gewaltanwendung aufgreift, sich aber (vermutlich) qualitativ deutlich anders darstellte. Eine andere Funktion besaß eine spezielle Spielart der ‚Parade riposte‘, die sich zwar kaum als klassisch bezeichnen lässt, aber grundlegend in der Art des Umgangs mit der eingegangenen Klage vergleichbar ist. Denn in manchen Fällen wurde nicht der Gegner mit einem Gegenvorwurf konfrontiert, sondern es fand 59 Vgl. OF 8, Nr. 230, RBDO II (wie Anm. 34), S. 195f. 60 Vgl. OF 8, Nr. 241, RBDO II (wie Anm. 34), S. 203. 61 Ebd.

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eine Umleitung der Klage auf einen Dritten statt. Nachdem sich beispielsweise der Herzog Wenzlau von Crossen beim Hochmeister über die Behandlung seiner Gesandten in der Neumark beschwerte, entgegnete Michael Küchmeister, dass die Täter in Polen zu finden seien.62 Hier und in vergleichbaren Auseinandersetzungen – zum Beispiel mit dem englischen König63 oder im Zuge eines schleppend verlaufenden Gefangenenaustausches mit dem Hauptmann zu Nakel64 – kam es zu einer Weiterleitung der Schuld an den polnischen König Władysław-Jagiełło. Präziser ließe sich in diesen Fällen sogar von einer Umleitung der Schuld bzw. dem Versuch der Umleitung der Schuld schreiben, da der Kläger ursprünglich ein Fehlverhalten auf Ordensseite identifizierte. Bei diesem Vorgehen wurden die einzelnen Konflikte zum Verhältnis zwischen Polen und Deutschem Orden in Bezug gesetzt, indem es offensichtlich auch darum ging, den Polen durch die Weiterleitung der Vorwürfe zu schaden.65

3.

Weitere Wege der Reaktion

Es ist klar, dass mit den beiden hier prioritär betrachteten Arten der Antwort auf gegen den Orden vorgebrachte Klagen längst nicht alle auftretenden Reaktionen erfasst werden können. Die damit angesprochenen weiteren Wege der Reaktion können an dieser Stelle nur grob skizziert, teilweise sogar nur genannt werden. Eine genauere Untersuchung – gerade auch im Verhältnis zu den ausführlicher besprochenen Strategien – müsste das hier ansatzweise entworfene Bild komplettieren. 1.) Überaus häufig kam es vor, dass der Hochmeister schlicht eine Zurückweisung der mit der Klage verbundenen Vorwürfe vornahm.66 Eine Gegenklage

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Vgl. OF 10, Nr. 256, Findbuch 66, S. 116. Vgl. OF 11, p. 130–132, Findbuch 66, S. 163. Vgl. OF 8, Nr. 108, RBDO II (wie Anm. 34), S. 134f. Ob es sich bloß um Rhetorik handelte oder tatsächlich die Einschätzung bestand, zu Unrecht bei gleichzeitiger Begünstigung der eigentlich verantwortlichen Polen beschuldigt worden zu sein, muss an dieser Stelle ebenfalls offenbleiben. Eingehender wäre zudem zu überprüfen, inwiefern sich offene Briefe von der hier überwiegend untersuchten quasi-internen Kommunikation unterschieden. 66 Vgl. auch hier, aber sicher nicht vollständig: OF 8, Nr. 14, RBDO II (wie Anm. 34), S. 81; OF 8, Nr. 48, RBDO II (wie Anm. 34), S. 103; OF 8, Nr. 50, RBDO II (wie Anm. 34), S. 104; OF 8, Nr. 230, RBDO II (wie Anm. 34), S. 195f. (vor allem Klagepunkte drei und vier); OF 8, Nr. 233, RBDO II (wie Anm. 34), S. 198; OF 9, Nr. 13, RBDO II (wie Anm. 34), S. 268; OF 9, Nr. 32, RBDO II (wie Anm. 34), S. 279; OF 9, Nr. 84, RBDO II (wie Anm. 34), S. 311; OF 10, Nr. 245, Findbuch 66, S. 113; OF 10, Nr. 249, Findbuch 66, S. 114; OF 10, Nr. 58, Findbuch 66, S. 135; OF 10, Nr. 340, Findbuch 66, S. 139; OF 10, Nr. 86, Findbuch 66, S. 140; OF 10, Nr. 103, Findbuch 66,

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musste damit nicht zwangsläufig verbunden sein, was – so eine vorsichtige Hypothese – eher auf ein authentisches als auf ein kalkulierendes Reagieren hindeutet: Nur wenn es tatsächlich ein vergleichbares Vergehen auf der Seite des Gegners gab (oder es zumindest vorstellbar war), griff der Hochmeister zum Mittel der ‚Parade riposte‘. In den übrigen Fällen musste die bloße Zurückweisung genügen. Eine besondere Form der Zurückweisung stellt die Erklärung dar, die seltener vorkam und darauf aufbaute, dass die Klage gegen den Orden auf einem Missverständnis beruhe.67 Zudem nahm der Hochmeister, wenn der Deutsche Orden bereits handelnd aktiv wurde, bisweilen auch eine Rechtfertigung dieser Handlung (bei ausbleibender Gegenklage) vor.68 2.) Auf einige wenige Klagen reagierte der Hochmeister, indem er Beweise für die erhobenen Forderungen einforderte.69 Dies betraf immer Schuldforderungen, wodurch erkennbar wird, dass in diesem Bereich leichter über die Berechtigung einer Klage befunden werden konnte, weil sich die Schuld objektiv feststellen ließ. Betreffend die Schuldforderungen Nickels von Heynicz verwies der Hochmeister z. B. gegenüber dem Markgrafen von Meißen darauf, dass die Register des Ordens die Gegenstandslosigkeit der erhobenen Schuldforderungen dokumentierten und ggf. andere Beweise dargebracht werden müssten.70 3.) Es erfolgte jedoch nicht immer eine Ablehnung der eingehenden Klagen. Zahlreiche Beispiele zeugen davon, dass der Hochmeister durchaus zu einem Entgegenkommen bereit sein konnte71 und im Einzelfall auch seinem Bedauern über durch Ordensuntertanen verursachte Schäden Ausdruck verlieh.72 Gegenüber dem polnischen König ist ein solches Verhalten nicht zu beobachten, wohl aber bei einzelnen Klagen des litauischen Großfürsten oder den Herzögen Janusz und Johann von Masowien. In einem Brief an Vytautas vom 10. Oktober 1418

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69 70 71

72

S. 147; OF 11, p. 155, Findbuch 66, S. 171; OF 11, p. 387f., Findbuch 66, S. 177; OF 11, p. 22f., Findbuch 66, S. 179; OF 11, p. 285f., Findbuch 66, S. 200. Vgl. die Beispiele OF 10, Nr. 206, Findbuch 66, S. 105; OF 10, Nr. 278, Findbuch 66, S. 121f.; OF 11, p. 6 (30. Sept. 1419), Findbuch 66, S. 165. Vgl. OF 8, Nr. 151, RBDO II (wie Anm. 34), S. 154; OF 8, Nr. 198, RBDO II (wie Anm. 34), S. 178; OF 8, Nr. 333, RBDO II (wie Anm. 34), S. 244f.; OF 9, Nr. 36, RBDO II (wie Anm. 34), S. 281f.; OF 10, Nr. 213, Findbuch 66, S. 106; OF 11, p. 20, Findbuch 66, S. 180; OF 11, p. 213, Findbuch 66, S. 191; OF 11, p. 338f., Findbuch 66, S. 218; OF 11, p. 95f., Findbuch 66, S. 219. Vgl. OF 8, Nr. 286, RBDO II (wie Anm. 34), S. 227f.; OF 8, Nr. 317, RBDO II (wie Anm. 34), S. 239; OF 10, Nr. 242, Findbuch 66, S. 113; OF 11, p. 149, Findbuch 66, S. 169. Vgl. OF 11, p. 149, Findbuch 66, S. 169. Vgl. OF 8, Nr. 110, RBDO II (wie Anm. 34), S. 135; OF 10, Nr. 210, Findbuch 66, S. 105f.; OF 10, Nr. 85, Findbuch 66, S. 139; OF 10, Nr. 346, Findbuch 66, S. 141; OF 11, p. 132f., Findbuch 66, S. 163; OF 11, p. 17f., Findbuch 66, S. 174; OF 11, p. 78f., Findbuch 66, S. 212 (hier mit Betonung der Kulanz). Vgl. OF 11, p. 18, Findbuch 66, S. 174f.

Zum Umgang des Deutschen Ordens mit gegen ihn gerichteten Klagen

425

äußerte Michael Küchmeister sein Bedauern über Vorfälle an der Grenze bei Tuchel zwischen dem Orden und dem polnischen König.73 Der Hochmeister bat Vytautas außerdem darum, „dass er deshalb keinen Schaden an dem ihm zu erteilenden Geleite erfahre.“74 Hier erfolgte die Äußerung des Bedauerns offensichtlich unmittelbar zweckgebunden, um die Sicherheit durch die Fortdauer der Gültigkeit der Geleitserteilung zu garantieren. Es ist also ein pragmatischer Einsatz anzunehmen. Ob damit eine generalisierbare Beobachtung für jede Form des Entgegenkommens getroffen wurde, ließe sich erst bei einer detaillierteren Untersuchung der verschiedenen Beispiele feststellen.75 In diesem Zusammenhang sei auch noch darauf verwiesen, dass in seltenen Fällen auch unmittelbar Maßnahmen zur Lösung des Konfliktes ergriffen oder weitergehende Untersuchungen der vorgebrachten Klagen, die vermutlich nicht auf ein Aufschieben abzielten, eingeleitet wurden.76 Es sind damit sicher nicht alle Vorgänge im Zusammenhang mit der Beantwortung von gegen den Orden vorgebrachten Klagen abschließend eingeordnet und erfasst. Im Einzelnen ist auch die hier vorgenommene analytische Trennung sicherlich etwas unscharf; dennoch sind wichtige Strategien des Umgangs mit diesen Klagen identifiziert und für die ‚lange Bank‘ und ‚Parade riposte‘ auch einigermaßen umfangreich dargestellt. Die zahlreichen untersuchten Einzelfälle zeigen eindeutig, dass Michael Küchmeister ganz verschieden auf eingehende Klagen reagierte. Dies ist bereits als Hinweis auf den Gebrauch situationsgebundener und pragmatischer Strategien im einzelnen Konfliktfall zu werten. Dass das latente Konkurrenzverhältnis zu Polen eine prägende Rolle spielte, war zu erwarten und wird zum Beispiel durch die Umleitung von Vorwürfen deutlich dokumentiert. Trotzdem erfolgte auch diese Umleitung der Klagen nicht reflexartig, sondern offensichtlich nur, wenn es möglich war bzw. Anlässe bestanden. Das Pragmatische ist fortwährend zu beobachten und betraf nicht immer nur die Art der Entgegnung auf die Klage, sondern ggf. auch das Verfahren selbst (wie bei der bis zur nächsten Zusammenkunft vertagten Besprechung des Klagegrundes). In diesem Zusammenhang sei abschließend noch auf einen wichtigen Aspekt der Konflikthierarchien eingegangen. Es konnte nämlich durchaus geschehen, dass der Hochmeister keine Entscheidung traf oder konkret 73 Vgl. OF 10, Nr. 78, Findbuch 66, S. 129. 74 Ebd., Zitat aus dem Regest des Findbuchs 66. 75 Dabei ginge es darum zu untersuchen, ob es Verbündete oder (Handels-)Partner gab, auf die man unbedingt angewiesen war und folglich eine Verärgerung durch den Ausdruck von Bedauern und Entgegenkommen verhinderte. 76 Vgl. OF 10, Nr. 22, Findbuch 66, S. 107; OF 10, Nr. 117, Findbuch 66, S. 148; OF 11, p. 3, Findbuch 66, S. 166; OF 11, p. 164, Findbuch 66, S. 171; OF 11, p. 17f., Findbuch 66, S. 174; OF 11, p. 53, Findbuch 66, S. 189.

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antwortete, sondern dass er die Konfliktlösung anderen – in der Regel Komturen – überantwortete. Die Klagen des Herzogs Johannes von Masowien über den Pfleger zu Neidenburg habe er etwa dem Komtur zu Osterode zur Untersuchung übertragen.77 Auch in anderen überlieferten Fällen, die wiederum den Komtur zu Osterode,78 den Komtur von Thorn79 und den Vogt der Neumark80 betrafen, ging es jeweils darum, eine Untersuchung oder Verhandlungen durchzuführen. Tendenziell spielten sich die Konflikte dabei auf hierarchisch niedrigerer Ebene ab, das heißt, dass zum Beispiel der polnische König ebenfalls nicht direkt beteiligt war. Am ehesten direkte Relevanz im polnisch-preußischen Verhältnis besaß dabei vermutlich die Klage des Hauptmannes zu Jungleslau, Mathias von Labisschin, der sich darüber beschwerte, dass der Großschäffer von Königsberg seine Güter mit Beschlag belegt habe,81 doch bewegte auch sie sich noch im Rahmen einer persönlichen Auseinandersetzung, quasi im Eins-gegen-eins. Der Hochmeister sah sich hier also offenbar nicht zuständig, bzw. übertrug die Untersuchung an die vor Ort befindlichen Amtsträger des Ordens, die sicherlich eine solche Untersuchung auch einfacher durchführen konnten, weil sie schlicht geographisch dichter an den entsprechenden Streitigkeiten dran waren. Trotz der Plausibilität aus pragmatischen Gründen ist es zulässig, von Konflikthierarchien zu sprechen. Die Abgabe von Klagen durch den Hochmeister ist ein eindeutiges Indiz.82

77 78 79 80 81 82

Vgl. OF 10, Nr. 22, Findbuch 66, S. 107. Vgl. OF 11, p. 4, Findbuch 66, S. 167. Vgl. OF 11, p. 3, Findbuch 66, S. 166. Vgl. OF 10, Nr. 162, Findbuch 66, S. 136. Vgl. OF 11, p. 3, Findbuch 66, S. 166. Dass es Hinweise gibt, wonach auch die Gesandtschaft des Ordens auf dem Konstanzer Konzil größere und kleinere Konflikte unterschied, ist bereits oben in Anm. 22 vermerkt und belegt worden.

Karl Borchardt

Die Erhebungen zum Reichsfürsten für den Deutschmeister 1494 und für den Johannitermeister 1548

I.

Einleitung

Neben weltlichen Magnaten zählten geistliche Große, vor allem Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte, die meist aus den gleichen Familien stammten wie ihre weltlichen Gegenüber, von Anfang an zur Führungsschicht in den Monarchien des lateinischen Europa. Im 11. Jahrhundert sahen kirchliche Reformbewegungen das kritisch, weil Leistungen für die Herrscher das Kirchengut oder wenigstens dessen Erträge für weltliche Zwecke entfremdeten. Obere neuer Orden, die aus den Reformbewegungen erwuchsen, wurden deshalb gewöhnlich nicht in gleicher Weise zu den Fürsten gerechnet wie viele Äbte und manche Äbtissinnen benediktinischer Prägung. Das galt nicht erst für die Bettelorden des 13. Jahrhunderts, sondern schon im 12. Jahrhundert für Zisterzienser, Prämonstratenser und Ritterorden. Zum einen waren solche Oberen neuer Orden des Öfteren soziale Aufsteiger. Zum anderen mag man bei den Bettelorden als Erklärung an das Armutsideal denken, bei Cluniazensern, Prämonstratensern und Zisterziensern an ihre Ausrichtung auf Gebet, Gottesdienst und Almosen. Bei den geistlichen Ritterorden dagegen bestanden an sich keine Bedenken, ihr Personal und ihre Mittel zum militärischen Kampf für eine gute Sache einzusetzen. Allerdings war Templern, Johannitern und dem Deutschorden grundsätzlich nur der Kampf gegen Feinde des Glaubens gestattet. Hilfe für einen Herrscher, einen Landesherrn oder auch eine Stadt bei innerchristlichen Auseinandersetzungen schloss das aus – es sei denn, man erklärte die Feinde zu schlechten, abtrünnigen Christen. Ob der Hochmeister des Deutschordens durch Kaiser Friedrichs II. zu Rimini 1226 datierte Goldbulle zum Reichsfürsten wurde, ist eine Kontroverse mit langer Tradition,1 die Jürgen Sarnowsky sowohl als Ritterordens- wie auch als 1 Tomasz Jasin´ski, Kruschwitz, Rimini und die Grundlagen des preußischen Ordenslandes (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 63 = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 8) Marburg 2008, S. 113–117; Marian Dygo, Wielki mistrz Zakonu Krzyz˙ackiego i Rzesza w s´wietle Złotej Bulli z Rimini Fryderyka II (1226), in: Przegla˛d historyczny 78, 1987, S. 517–531.

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Karl Borchardt

Preußenforscher sehr genau kennt. Wenn es um Leistungen für das Reich ging, wollte der Hochmeister gewöhnlich nicht zu den Reichsfürsten zählen; anders sah es aus, wenn das Reich Preußen oder Livland unterstützen sollte. Im Hinblick auf die 1312 aufgehobenen Templer und auf die Johanniter stellten sich solche Fragen nicht. Dazu waren ihre Ordensmeister geographisch und sozial zu weit entfernt vom Sacrum Romanum Imperium nördlich der Alpen.2

II.

Die Urkunden von 1494 und 1548

Nachfolgend geht es um den Deutschmeister und den Johannitermeister in Deutschland, die beiden für das engere Reichsgebiet nördlich der Alpen zuständigen Oberen. Ersterer wurde 1494 durch König Maximilian I., letzterer 1548 durch dessen Enkel Kaiser Karl V. förmlich zum Reichsfürsten erhoben. Die beiden Texte sind im Anhang abgedruckt. Ihr Wortlaut stimmt im Wesentlichen überein. In beiden Fällen handelt es sich um eine Belehnung mit Regalien3 und Lehen des Reiches, die fast gleichlautend aufgezählt werden: Städte, Schlösser, Märkte, Dörfer und Güter, Mannschaften, Herrschaften, geistliche und weltliche Lehenschaften (d. h. Patronatsrechte, Grundherrschaften), Erze, Bergwerke, Salzbrunnen (nur 1548), Fischereien, Wildbänne, Gewässer, Werde (nur 1494, Wörthe, Inseln zwischen Flüssen oder in stehenden Gewässern), Weiden (nur 1548), Zölle, Weggelder, Hochgerichte und Gerichtsbarkeiten. Gerechtfertigt wurde die Belehnung wie üblich mit treuen Diensten, welche die früheren Meister den Kaisern, Königen und dem Reich geleistet hätten und welche sie und ihre Nachfolger auch künftig leisten würden. Dafür leistete 1494 der Deutschmeister Andreas von Grumbach (im Amt seit 1489, † 1498), 1548 der Johannitermeister Georg Schilling von Cannstatt (im Amt seit 1546, † 1554) seinen Lehnseid. Allen ihren Mannen, Amtleuten, Bürgermeistern, Räten, Bürgern, Vögten, Gemeinden, Hintersassen und Untertanen wurde befohlen, dem Meister gehorsam zu sein, ihn in seinen Rechten zu schützen und ihm keinen Abbruch zu tun. Beide Meister wurden in der jeweiligen Urkunde als Fürst bezeichnet. Das war die entscheidende Neuerung. Von einer Erhebung in den Fürstenstand und damit verbundenen neuen Vorrechten jedoch war nicht ausdrücklich die Rede. Ferner wurden 2 Jürgen Sarnowsky, Macht und Herrschaft im Johanniterorden des 15. Jahrhunderts: Verfassung und Verwaltung der Johanniter auf Rhodos (1421–1522) (Vita regularis, 14) Münster/ Westfalen u. a. 2001; ders., Die Templer (Beck’sche Reihe, 2472), München 2009; ders., Die Johanniter. Ein geistlicher Ritterorden in Mittelalter und Neuzeit (Beck’sche Reihe, 2737), München 2011. 3 Zur Regalienleihe jetzt Andreas Schmidt, „Bischof bist Du und Fürst“. Die Erhebung geistlicher Reichsfürsten im Spätmittelalter – Trier, Bamberg, Augsburg (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, 22), Heidelberg 2015, S. 553–561.

Die Erhebungen zum Reichsfürsten

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dem Reich keineswegs neue Güter zu Lehen aufgetragen und als Lehen zurückempfangen. Auf den ersten Blick unterschieden sich die beiden Urkunden also kaum von früheren Verleihungen an die Ordensoberen, z. B. König Sigismunds Leihe des Blutbanns 1422 in des Ordens Städten, Schlössern und Dörfern an den Deutschmeister Eberhard von Seinsheim4 oder Kaiser Karls V. Privilegienbestätigung 1540 für den Johannitermeister Johann von Hattstein.5 Die beiden Rechtsakte 1494 und 1548 hatten politische Hintergründe. Dabei stand 1494 eher die Ordensgeschichte, 1548 mehr die Reichsgeschichte im Vordergrund. 1494 ergriff der Deutschmeister die Initiative, denn seit 1466, als der Hochmeister mit Polen den Thorner Frieden schloss, hatte er sich immer stärker Preußen entfremdet; der engere Bezug zum Reich sollte das kompensieren und neuen Rückhalt schaffen.6 Im Herbst 1494 lässt sich eine deutschmeisterliche Gesandtschaft an den König erschließen, weil Maximilian damals König Ferdinand von Aragon bat, dem Orden sein Haus in Palermo zurückzugeben.7 Maximilian befand sich in den Niederlanden, plante aber schon den 1495 in Worms durchgeführten Tag zur Reichsreform,8 in dessen Kontext er Graf Eberhard den Älteren (r. seit 1459, † 1496) von Württemberg zum Herzog von Württemberg erhob. Anders als beim Deutschmeister wurden die Güter und Herrschaften Eberhards zu lehen versamelt, verainigt und also samentlich zu einem herzogtum geordnet, gemacht, erhaben und aufgericht sowie als Herzogtum Württemberg konstituiert.9 Anders als der Deutschmeister erhielt Eberhard zudem weitere

4 Nürnberg 1422 August 9: Regesta Imperii 11/1: Die Urkunden Kaiser Sigmunds (1410–1437), bearb. Wilhelm Altmann, Innsbruck 1897, S. 349 Nr. 4953. 5 Antwerpen 1540 Mai 24: Das Teutsche Reichs-Archiv, Pars specialis, Vom Teutschen und Johanniter-Orden, hrsg. Johann Christian Lünig, Leipzig 1711, S. 90–92. 6 Hanns Hubert Hofmann, Der Staat des Deutschmeisters. Studien zu einer Geschichte des Deutschen Ordens im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte, 3) München 1964, S. 105–116. 7 Löwen, o. D.: Regesta Imperii 14/1/1: Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493–1519, bearb. Hermann Wiesflecker, Wien u. a. 1990, S. 108 Nr. 1012. Zum Deutschorden in Worms auch Bernhard Demel, Zur Reichspolitik des livländischen Ordenszweiges in den Jahren 1521 bis 1561/62, in: Ordines Militares 20, 2015, S. 145–172, hier S. 149f. 8 Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 2: Reichsreform und Kaiserpolitik 1493–1500 Entmachtung des Königs im Reich und in Europa, München 1975, S. 201–248. 9 Worms 1495 Juli 21: Stuttgart, Hauptstaatsarchiv, A 602 Nr. 711; Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe 5–1/2, bearb. Heinz Angermeier, Göttingen 1981, S. 914–919 Nr. 1168, besonders S. 915; Regesta Imperii 14/1/1 S. 255 Nr. 2154; 1495: Württemberg wird Herzogtum. Dokumente aus dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart zu einem epochalen Ereignis. Begleitbuch zur Ausstellung des Hauptstaatsarchivs Stuttgart im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart vom 20. Juli bis 3. Oktober 1995, bearb. Stephan Molitor, Stuttgart 1995, S. 82–85 Nr. 11.

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Karl Borchardt

Privilegien in eigenen Urkunden, darunter für sich, seine Erben und Untertanen die Befreiung von auswärtigen Gerichten.10 Dagegen stand 1548 klar das Interesse des Kaisers im Vordergrund. Karl V. kannte Georg Schilling persönlich und schätzte sein Engagement im Mittelmeerraum gegen die Türken. Georg war 1517 nach Rhodos gereist und hatte 1522 mitgeholfen, die Stadt zu verteidigen. Auch hatte er an Karls Expeditionen 1535 nach Tunis und 1541 nach Algier teilgenommen. Versorgt mit Ordenskommenden im Reich wurde Georg 1534 Großbailli, also Oberhaupt der deutschen Zunge auf Malta, verwaltete die Stadt Tripolis, 1530–1551 ein Außenposten des Ordens an der afrikanischen Küste, und folgte 1546 dem verstorbenen Johann von Hattstein als Prior oder Meister von Deutschland.11 Vor allem aber wollte Karl V. nach seinem Sieg über die Protestanten 1546/47 die altgläubigen Kräfte im Reich stärken.12 Dazu dienten auf dem Reichstag 1548 in Augsburg drei Fürstenerhebungen, außer am 29. Februar für den Johannitermeister auch für den Abt von Kempten Wolfgang von Grünenstein (im Amt seit 1535, † 1557) und am 24. Mai für den Burggrafen Heinrich IV. von Meißen († 1554). Letzterer war in Böhmen begütert und hatte den Habsburgern gegen den Schmalkaldischen Bund gute Dienste geleistet.13

III.

Fürstenerhebungen des späteren Mittelalters

Anders als bei Fürstenerhebungen im Mittelalter üblich, fehlten 1494 und 1548 alle Formulierungen, welche die Neuerung festschrieben und begründeten. Dass der fürstliche Rang der beiden Meister neu war, wurde gar nicht gesagt. Beide mussten auch keine eigenen Güter dem Reich zu Lehen auftragen, um sie als Fürstentum zurück zu empfangen. Dabei war der Fürstenstand, wie er sich in der 10 Reichstagsakten 5–1/2 (wie Anm. 9) S. 902 Nr. 1169–71, S. 923f. Nr. 1176. 11 Tade Matthias Spranger, Georg Schilling von Cannstatt, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 17, Herzberg 2000, Sp. 1208–1210; Michael Galea, Die deutschen Ordensritter von Malta, San Gwann 1996, S. 41–51; Wolf-Dieter Barz, Georg Schilling von Cannstatt, ein deutscher Johanniter auf Malta, in: Der Johanniterorden in Baden-Württemberg 69, 1984, S. 5–15. 12 Horst Rabe, Reichsbund und Interim. Die Verfassungs- und Religionspolitik Karls V. und der Reichstag zu Augsburg 1547/48, Köln u. a. 1971, S. 305, 438; Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, hrsg. Luise Schorn-Schütte (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 203), Gütersloh 2005, u. a. die Beiträge von Horst Rabe S. 127–146 und Horst Carl S. 147–165. 13 Thomas Klein, Die Erhebungen in den weltlichen Reichsfürstenstand 1550–1806, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 137–192, hier S. 145, separat in: Walter Heinemeyer, Vom Reichsfürstenstande, Köln u. a. 1987. 1548 Mai 24: Berthold Schmidt, Burggraf Heinrich IV. zu Meißen, Oberstkanzler der Krone Böhmen und seine Regierung im Voigtlande, Gera 1888, S. 186–193.

Die Erhebungen zum Reichsfürsten

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Stauferzeit verfestigte, vor allem durch solche Fürstenlehen gekennzeichnet.14 Grafen und Herren, Äbte, Äbtissinnen und Pröpste mochten zwar vom Reich belehnt werden, wurden dadurch aber noch nicht Fürsten.15 Dazu bedurfte es vielmehr seit dem Ende des 12. Jahrhunderts einer förmlichen Erhebung. Für das spätere Mittelalter zählt man knapp 30 solcher Akte; sie blieben damit eher selten.16 Als Beispiele für die üblichen Formulierungen seien hier angeführt 1235 Lüneburg-Braunschweig, 1292 Hessen und 1348 Mecklenburg. Der Welfe Otto († 1252) wurde 1235 mit dem Herzogtum Lüneburg-Braunschweig belehnt. Er trug seine Eigengüter Lüneburg und Braunschweig dem Reich zu Lehen auf und empfing sie von Kaiser Friedrich II. als Fürstentümer zurück: Quapropter cum consilio, assensu et assistentia principum civitatem Brunswich et castrum Luneburch cum omnibus castris, hominibus et pertinentiis suis univimus et creavimus inde ducatum et imperiali auctoritate dictum consanguineum nostrum Ottonen ducem et principem facientes ducatum ipsum in feodum imperii ei concessimus ad heredes suos filios et filias hereditarie devolvendum et eum solempniter iuxta consuetudinem investivimus per vexilla …17 Seit der Ausbildung der Kurfürsten in der Mitte des 13. Jahrhunderts benötigte man zudem deren Willebriefe. Sie wurden ausgestellt 1292, als Landgraf Heinrich von Hessen die Burg Boineburg 14 Grundlegend Julius Ficker, Vom Reichsfürstenstande. Forschungen zur Geschichte der Reichsverfassung zunächst im XII. und XIII. Jahrhundert, 1, Innsbruck 1861; hrsg. Paul Punschart, 2/1, Innsbruck 1911, Bd. 2/2 und 2/3, Graz, Leipzig 1921 und 1923. Zum Folgenden besonders Karl-Friedrich Krieger, Fürstliche Standesvorrechte im Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 91–136, separat in: Heinemeyer, Vom Reichsfürstenstande (wie Anm. 13). Zuletzt weiterführend Brigitte Kasten, Zum Gedankengut der Fürstenerhebungen im 12. und 13. Jahrhundert, in: Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert, hrsg. KarlHeinz Spiess (Vorträge und Forschungen, 76), Ostfildern 2013, S. 159–186. 15 Grundlegend Julius Ficker, Vom Heerschilde. Ein Beitrag zur deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, Innsbruck 1862. Einschränkend Karl-Friedrich Krieger, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (ca. 1200–1437) (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF 23), Aalen 1979, S. 119f.; Thomas Brückner, Lehnsauftragung, jur. Diss., Würzburg 1998, S. 31–34 mit Anm. 158–187; Wilhelm A. Eckhardt, Die Heerschildordnung im Sachsenspiegel und die Lehnspyramide in hessischen Urkunden, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 54 (2004), S. 47–67. 16 Steffen Schlinker, Fürstenamt und Rezeption. Reichsfürstenstand und gelehrte Literatur im späten Mittelalter (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte, 18), Köln u. a. 1999, S. 53– 224; Dieter Mertens, Der Fürst. Mittelalterliche Wirklichkeiten und Ideen, in: Der Fürst. Ideen und Wirklichkeiten in der europäischen Geschichte, hrsg. Wolfgang Weber, Köln u. a. 1998, S. 67–89, hier S. 71. 17 Mainz 1235 August o. T.: Historia diplomatica Friderici secundi, 4/2, hrsg. Jean-Louis-Alphonse Huillard-Bréholles, Paris 1855, S. 754–757. Dazu Hans Patze, Karl-Heinz Ahrens, Die Begründung des Herzogtums Braunschweig im Jahre 1235 und die „Braunschweigische Reimchronik“, in: Blätter für deutsches Landesgeschichte 122 (1986), S. 67–89, separat in: Heinemeyer, Vom Reichsfürstensande (wie Anm. 13).

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und die Stadt Eschwege dem Reich zu Lehen auftrug, sie durch König Adolf von Nassau zurückempfing und damit zum Fürsten erhoben wurde. Heinrich war der Erbe der 1247 im Mannesstamm ausgestorbenen Landgrafen von Thüringen, deren Fürstentum an die Wettiner gefallen war.18 Gegenüber Albrecht II. (r. seit 1329, † 1379) und seinem Bruder Johann I. von Mecklenburg (r. seit 1344, † 1392/ 93) verzichtete 1348 Herzog Rudolf von Sachsen auf alle seine Rechte. Daraufhin belehnte König Karl IV. 1348 die beiden nobiles Albertus et Iohannes fratres de Magnopoli von Reichs wegen mit der Herrschaft Mecklenburg, deren Zubehör aufgezählt wurde. Zugleich wurden sie und ihre Erben Reichsfürsten und Herzöge von Mecklenburg: … predictos Albertum et Iohannem fratres de Magnopoli, nostros et imperii fideles, et heredes ipsorum illustravimus ac illustramus et hodie in Dei nomine in veros principes et duces Magnopolenses ereximus, decoramus et erigimus perpetuo de plenitudine regie potestatis, volentes expresse quod supradicti Albertus et Iohannes ac heredes ipsorum duces Magnopolenses exnunc inantea omni dignitate, nobilitate, iure, potentia, libertate, honore et consuetudine, quibus alii sacri Romani imperii principes et nominatim duces iure vel gratia freti sunt, gaudere debeant et potiri.

Zugesichert wurden den neuen Herzögen und ihren Leuten die üblichen Regalien und Vorrechte, besonders hinsichtlich des Gerichtsstandes, und der Schutz des Reiches.19 Schon im Mittelalter kamen allerdings Fürstenerhebungen vor (1310 Henneberg, 1363 Burggraf von Nürnberg, 1366 Nassau), bei denen ähnlich wie 1494 und 1548 keine bisherigen Allodien dem Reich zu Lehen aufgetragen wurden und kein neues Reichsfürstentum entstand.20 Die drei Begünstigten wurden Fürstengenossen, gefürstete Grafen. Von bloßen Personalisten sollte man nicht sprechen, denn nicht nur der Fürst, sondern auch seine Lande und Leute erhielten Vorrechte, besonders hinsichtlich des Gerichtsstandes, wie sie Fürsten und Fürstentümer genossen.21 Graf Berthold VII. von Henneberg (r. seit 1284, † 1340) erhielt durch König Heinrich VII. aus dem Hause Luxemburg 1310 für sich, seine Kinder und seine Erben die Rechte von Fürsten, omnia iura principum tam in ingressu quam in egressu ad imperialem deliberationem, in sententiis

18 Frankfurt am Main 1292 Mai 11. MGH Const. 3 S. 464f. Nr. 476. Willebriefe des Erzbischofs Gerhard von Mainz, des Pfalzgrafen Ludwig bei Rhein und des Markgrafen Otto mit dem Pfeile, ferner Markgraf Ottos des Langen von Brandenburg und des Herzogs Albrecht von Sachsen, Frankfurt 1292 Mai 10: ebd. S. 465f. Nr. 477f. 19 Prag 1348 Juli 8, lateinisch und deutsch: Meklenburgisches Urkundenbuch, hrsg. Verein für Meklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 10: 1346–1350, Schwerin 1877, S. 194–200 Nr. 6860 A+B. 20 Schlinker, Fürstenamt (wie Anm. 16), S. 224–237. 21 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 14), S. 101–111, konzentriert sich auf Prozesse der Fürsten; Prozesse fürstlicher Untertanen müssten einmal genauer untersucht werden.

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conveniendis, dictandis, pronuntiandis, in iure civili et plebiscito, quod vulgo dicitur lantrecht. Außerdem sollten die Grafen und ihre Leute alle Rechte hinsichtlich des Gerichtsstandes genießen, welche andere Fürsten und deren Leute ebenfalls genossen.22 Ähnliches erlangten 1363 Burggraf Friedrich V. von Nürnberg (r. seit 1357, † 1398) und 1366 Graf Johann I. von Nassau zu Weilburg (r. seit 1344, † 1371) aus der walramischen Linie seines Hauses durch Kaiser Karl IV. Einleitend erklärte Karl IV. 1363, die Burggrafen von Nürnberg seien schon immer den Fürsten gleichgeachtet worden. Nur aus Unachtsamkeit sei ihnen dieser Rang verloren gegangen. Auch sei das Burggraftum Nürnberg schon immer ein nobile membrum des Sacrum Imperium gewesen. Deshalb sollten Friedrich und seine Erben künftig wieder alle Rechte von Fürsten besitzen: … imperpetuum illustrium principum sacri imperii iuribus, dignitatibus, libertatibus et honoribus gaudere et potiri debeant in iudiciis et in omnibus aliis causis et negociis, quecunque sint, aut quibus valeant specialibus nominibus appellari.23 Zu den anschließend genannten fürstlichen Rechten zählten insbesondere der Gerichtsstand, die Regalien und der Schutz ihrer Güter. Hinzu kamen kurfürstliche Willebriefe.24 Gegenüber Johann von Nassau verzichtete der Kaiser 1366 auf eine historische Rechtfertigung und berief sich auf ein inzwischen existent gewordenes Kollegium gefürsteter Grafen: … te carissimum consanguineum nostrum et heredes tuos legitimos in perpetuum Dei invocato nomine illustramus, honoramus, libertamus, exaltamus et illustres principescomites creamus, ordinamus et facimus, ut videlicet principes-comites existatis et in collegio principum-comitum, qui vulgari theutonico gefürstete graffen dicuntur, inantea computamini.25 22 Frankfurt am Main 1310 Juli 25: Hennebergisches Urkundenbuch, hrsg. Karl Schöppach, 1: 993–1330, Meiningen 1842, S. 48f. Nr. 84. Zugleich mit sechs Willebriefen des Erzbischofs Peter von Mainz, des Erzbischofs Heinrich von Köln, des Erzbischofs Balduin von Trier, des Pfalzgrafen Rudolf bei Rhein, des Markgrafen Waldemar von Brandenburg und des Königs Johann von Böhmen, ebd. S. 49f. Nr. 85–90. 23 Nürnberg 1363 März 17: Monumenta Zollerana, hrsg. Rudolph Freiherr von Stillfried, Traugott Maercker, Bd. 4: Urkunden der Fränkischen Linie 1363–1378, Berlin 1858, S. 1–4 Nr. 1. Ebd. S. 5–8 Nr. 2. 24 König Wenzel von Böhmen, Prag 1364 März 10: ebd. S. 26f. Nr. 21. – Markgraf Ludwig der Römer von Brandenburg, Herzog Rudolf von Sachsen, Pfalzgraf Ruprecht bei Rhein, Pyrn 1364 April 4: ebd. S. 29f. Nr. 24 drei gleichlautende Stücke. – Erzbischof Kuno von Trier, Prag 1365 Dezember 29: ebd. S. 81f. Nr. 73. – Erzbischof Johann von Mainz, Ehrenfels 1371 November 25: ebd. S. 216 Nr. 186. – Erzbischof Friedrich von Köln, Mainz 1372 Juni 1: ebd. S. 225 Nr. 194. 25 Würzburg 1366 September 25: Das Teutsche Reichs-Archiv, Pars specialis, Continuatio 2, 2. Fortsetzung, hrsg. Johann Christian Lünig, Leipzig 1712, S. 458f.; Willebriefe ebd. S. 460f. Erzbischof Gerlach von Mainz, Würzburg 1366 Oktober 26, König Wenzel von Böhmen, Ehrenbreitstein 1368 November 16, Ruprecht von der Pfalz, Heidelberg 1369 Dezember 19, Rudolf von Sachsen, Bingen 1370 Februar 5.

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1363 und 1366 entstand also kein neues Fürstentum, doch anders als die beiden Ordensmeister 1494 und 1548 erhielten die Begünstigen ausdrücklich den Fürstenrang.

IV.

Fürstenerhebungen der frühen Neuzeit

Die beiden Urkunden von 1494 und 1548 unterschieden sich andererseits auch von dem, was im weiteren Verlauf bei frühneuzeitlichen Fürstenerhebungen üblich und notwendig wurde. Insbesondere fehlten hier jegliche Angaben bezüglich Sitz und Stimme im Kollegium der Fürsten auf dem Reichstag. Dabei war es keine Frage, dass die beiden Ordensmeister dem Reichstag angehörten, anders als bei den im 16. Jahrhundert aufkommenden reinen Personalisten. Beim Wiener Fürstentag 1515 erhob nämlich Kaiser Maximilian I. anlässlich seines Friedensschlusses mit den Jagiellonen Nikolaus Radziwill († 1521), den Großkanzler König Sigismunds von Polen, für seine Person zum Reichsfürsten.26 Da polnische und litauische Herren kaum auf Reichstagen erscheinen und dort abstimmen würden, war dies ein eher zeremonielles Zugeständnis ohne weitere Folgen. Die Formierung des Kollegiums der Reichsfürsten auf dem Reichstag hatte allerdings zur Folge, dass bei neuen Fürstenerhebungen und sogar bei fürstlichen Erbteilungen sich die Mehrheitsverhältnisse ändern konnten. Deshalb wurde 1582 in Augsburg erklärt, dass es künftig durch Erbteilungen keine neuen Fürstentümer mehr geben sollte.27 Alle Regierungsberechtigten in einem Fürstentum mussten dessen Stimme auf dem Reichstag gemeinsam führen. Nicht verhindern konnte man jedoch, dass der Kaiser von seinem Recht der Fürstenerhebung weiterhin kräftig Gebrauch machte. Nur waren damit nicht mehr automatisch Sitz und Stimme auf dem Reichstag verbunden.28 Beispiele sind Arenberg-Ligne 1576/1601 und Liechtenstein 1608. Beide Häuser verdankten ihre Rangerhöhung der Nähe zu den habsburgischen Höfen in den Nieder26 Klein, Erhebungen (wie Anm. 13), S. 172 mit Anm. 126, 128: 1515 Nikolaus Radziwill († 1521), Gonia˛dz und Medele Herzogtum; 1547 Nikolaus der Schwarze, Johann und Nikolaus der Rote Radziwill, Birz˙ und Dubinki Herzogtum, 1553 Szydłowiec Grafschaft. Zur Situation 1515 Hermann Wiesflecker, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit, 4: Gründung des habsburgischen Weltreiches. Lebensabend und Tod 1508–1519, Wien 1981, S. 154–220. 27 Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte. Ein Studienbuch, neu bearb. Heinz Lieberich, 18. Aufl., München 1988, S. 345, 347; Ficker, Vom Reichsfürstenstande (wie Anm. 14), 1, S. 265f. 28 Klein, Erhebungen (wie Anm. 13), S. 137–192; Harry Schilp, Die neuen Fürsten, in: Liechtenstein – Fürstliches Haus und staatliche Ordnung. Geschichtliche Grundlagen und moderne Perspektiven. Seiner Durchlaucht Fürst Franz Josef II. von und zu Liechtenstein zum 80. Geburtstag, hrsg. Volker Press, Dietmar Willoweit, Vaduz u. a. 1987, S. 249–292.

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landen respektive in Österreich, erlangten Sitz und Stimme auf dem Reichstag jedoch erst im 18. Jahrhundert.29 Neuernannte Fürsten bedurften seit 1641 einer förmlichen Zulassung auf dem Reichstag. Mit § 197 des „Jüngsten Reichsabschieds“ 1654 wurde einigen Häusern die Fürstenerhebung nur ad personam anerkannt, bis sie sich mit ohnmittelbaren Fürstmässigen Reichs-Gütern versehen hätten: (Hohen)Zollern, Eggenberg, Lobkowitz, Salm, Dietrichstein, NassauHadamar, Piccolomini, Auersperg.30 Aufgrund dieses Modus Vivendi folgten bis zum Ende des Alten Reiches weitere Fürstenerhebungen, teils für Grafen und Herren aus dem Reich, teils für Familien aus habsburgischen Erblanden: Ostfriesland, Fürstenberg, Waldeck, Schwarzenberg, Oettingen, Liechtenstein, Porcia, Thurn und Taxis, Schwarzburg, Löwenstein-Wertheim, Hohenlohe, Isenburg, Kaunitz, Reuß, Anhalt, Leiningen und Looz. Betreffend die Vertretung auf dem Reichstag hielt der Deutschorden gegenüber den Johannitern einen erheblichen Vorsprung. Seit den Reformen unter Kaiser Maximilian I. an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert formierte der Reichstag für seine Abstimmungen drei Kollegien, Kurfürsten, Fürsten und Städte. Gemäß ihren Urkunden von 1494 und 1548 errangen sowohl der Deutschmeister als auch der Johannitermeister einen Platz auf der geistlichen Bank des Fürstenkollegs mit einer Virilstimme. Der Hoch- und Deutschmeister nahm den 5. Platz ein,31 der Johannitermeister den 30. Platz. Der Unterschied erklärt sich durch die Vereinigung der beiden Ämter des Hoch- und des Deutschmeisters. Der Hochmeister folgte sofort auf die beiden Erzbischöfe von Salzburg und Besançon. Damit hatte er den Vorrang vor allen Bischöfen.32 Als der Hochmeister Albrecht von Brandenburg im April 1525 zum Luthertum übertrat und seinem Onkel, dem katholischen polnischen König Sigismund, den Le29 Klein, Erhebungen (wie Anm. 13), S. 140–191. 30 Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. Karl Zeumer, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 446–465 Nr. 200, hier S. 462: die Hochgebohrne Eitel Friederich von Hohenzollern, Johann Anthon, Hertzogen zu Crumaw und Fürsten zu Eggenberg, und Wentzeln, Fürsten und Regierern des Hauses Lobkowitz, vor sich und ihre Erben, nachdem sie obberührte Conditiones erfüllet, wie ingleichem die auch Hochgebohrne Fürsten, Leopold Philipps Carl, Fürsten von Salm, Maximilian, Fürsten von Dietrichstein, weyland Johann Ludwigen, Fürsten zu Nassau-Hadamar und dessen Erben, Octavio, Fürsten von Piccolomini, Hertzogen zu Amalfi, folgends aus dem Hauß Nassau diejenige, welche nach erstgemeldten Fürsten von Uns, laut Unserer den 26. jüngst verflossenen Monats Februarii an die Chur- und Fürstliche Collegia ertheilter Resolution in Fürsten-Stand erhoben worden, ingleichen Johann Weickhard, Fürsten von Awersperg etc. Dazu Mitteis, Lieberich (wie Anm. 27), S. 345, 347. 31 Albrecht nahm seinen Platz 1523/24 wahr: Axel Herrmann, Der Deutsche Orden unter Walter von Cronberg (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, 35), Bonn 1974, S. 21–23, besonders S. 22 mit Anm. 91. 32 Dies führte zu einem bis zum Ende des Alten Reiches nie geklärten Streit mit Bamberg, das als exemtes Bistum den Vorrang gegenüber dem Hochmeister beanspruchte: Demel (wie Anm. 7), S. 147f.

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henseid leistete, galt das Hochmeisteramt aus altgläubiger und reichischer Sicht als vakant. Um die Nachfolge konkurrierten der Deutschmeister Walther von Cronberg (im Amt seit 1526, † 1543) und der Landmeister von Livland Wolter von Plettenberg (im Amt seit 1494, † 1535). Kaiser Karl V. ernannte 1527 Walther von Cronberg zum Administrator des Hochmeistertums. Auf dem Reichstag in Augsburg belehnte er am 26. Juli 1530 Walther von Cronberg sogar mit Preußen, aber auch Wolter von Plettenberg mit Livland.33 Im Gegensatz dazu rangierte der Johannitermeister dort, wo auch der Deutschmeister geblieben wäre, wenn er nicht das Hochmeisteramt übernommen hätte, nämlich unter den Klöstern, die auf die Bischöfe folgten. Immerhin hatte der Johannitermeister unter den Ordensleuten den vierten Platz, nach den Äbten von Fulda und Kempten sowie dem Propst von Ellwangen. Weder der Hoch- und Deutschmeister noch der Johannitermeister war beteiligt an den beiden Kuriatstimmen der schwäbischen oder der rheinischen Prälaten, wo knapp 60 Institutionen – meist Benediktiner, Zisterzienser und Prämonstratenser – auf dem Reichstag mitwirkten. Zu den rheinischen Prälaten zählten jedoch auf Rang 2 die Ballei Koblenz, auf Rang 3 die Ballei Elsass und Burgund des Deutschordens. Balleien hatten in Deutschland auch die Johanniter,34 aber keine von ihnen war auf einer der beiden Prälatenbänke vertreten. Die weltliche Fürstenbank hatte vier Kuriatstimmen, und zwar für die Grafen der Wetterau, Schwabens, Frankens und Westfalens. Unter den schwäbischen Grafen saß wegen der Kommende Altshausen an dritter Stelle der Deutschordenslandkomtur von Elsass und Burgund. Der Unterschied gegenüber den Johannitern fällt auf. Mit größerem ökonomischem Potential lässt er sich ausweislich der

33 Burgos 1527 Dezember 6, gedruckt Brandenburgische Usurpazions-Geschichte in den Fränkischen Kreis-Landen, [Nürnberg] 1797, S. 146–148, Nr. 78. – Augsburg 1530 Juli 26, gedruckt ebd. S. 149–152, Nr. 79. Dazu Demel (wie Anm. 7), S. 151–159; Herrmann (wie Anm. 31), S. 33–132, 214–219, hier besonders S. 69 mit Anm. 165, S. 93f.; Hofmann, Staat des Deutschmeisters (wie Anm. 6), S. 188–202; Ficker, Vom Reichsfürstenstande (wie Anm. 14) 1, 1861, S. 370–372. 34 Karl Borchardt, Die Johanniter und ihre Balleien in Deutschland während des Mittelalters, in: Regionalität und Transfergeschichte: Ritterordenskommenden der Templer und Johanniter im nordöstlichen Deutschland und in Polen seit dem Mittelalter, hrsg. Christian Gahlbeck, Heinz-Dieter Heimann, Dirk Schumann (Studien zur brandenburgischen und vergleichenden Landesgeschichte, 9; Schriften der Landesgeschichtlichen Vereinigung für die Mark Brandenburg, NF 4) Berlin 2014, S. 63–76; Jürgen Sarnowsky, Vorgeschichte und Anfänge der Reformation in der Ballei Brandenburg des Johanniterordens, in: The Military Orders and the Reformation. Choices, State Building and the Weight of Tradition, Papers of the Utrecht Conference, 30 September–2 October 2004, hrsg. Klaus Militzer, Johannes Adriaan Mol, Helen Nicholson (Bijdragen tot de geschiedenis van de Ridderlijke Duitsche Orde, Balijevan Utrecht, 3), Hilversum 2006, S. 119–138.

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Reichsanschläge wohl nur zum Teil erklären. Als ein Beispiel dafür sei eine Liste vom Juni 1548 auf dem Augsburger Reichstag angeführt:35 Leistungen in fl Deutschmeister

Romzug

Reichskammergericht

Baugeld

2688

90

450

2112 528

55 150

275 750

Ballei Elsass Ballei Österreich

960 528

150 150

750 750

Ballei Etsch

528

150

750

Johannitermeister Ballei Koblenz

Was Anzahl und Einkünfte der Ordenshäuser anging, waren beide Gemeinschaften durch die Reformation ungefähr gleich stark betroffen. Wie im Mittelalter, so bewegten sie sich machtmäßig auch in der frühen Neuzeit im Reich auf vergleichbarem Niveau.

V.

Schlussbemerkung

Die zwei Urkunden von 1494 und 1548, mit denen der Deutschmeister und der Johanniter zu Reichsfürsten wurden, fielen in eine Übergangsphase, als unter Maximilian I. und Karl V. die Reichsverfassung neu strukturiert wurde. Im späteren Mittelalter wirkten sich Erhebungen zu Fürsten oder zu Fürstengenossen vor allem hinsichtlich der Gerichtsbarkeit aus. In der frühen Neuzeit kamen Fragen nach Sitz und Stimme auf dem Reichstag oder der Mitwirkung in den Reichskreisen hinzu. Genauer zu untersuchen wäre, wieweit die Erhebungsurkunden tatsächlich vor Gerichten und außerhalb der Gerichte eingesetzt wurden. Wie hervorzuheben ist, erhielten mit ihnen nicht allein die beiden Ordensoberen, sondern auch ihre Leute und Güter alle Vorrechte, welche Fürsten und fürstlichen Untertanen zustanden.36 Der Schutz der Regalien und der Güter der beiden Orden wurde dadurch verstärkt. Dies war wichtig gegenüber den werdenden Territorien im Reich, insbesondere gegenüber lutherischen oder calvinistischen Landesherren, die katholische Ordensgemeinschaften nur zu gerne enteigneten. Neue Reichsfürstentümer entstanden 1494 und 1548 nicht, auch wenn sich in Mergentheim wie in Heitersheim kleine Residenzen ausbil-

35 Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, 18: Der Reichstag zu Augsburg 1547/48, bearb. Ursula Machoczek, Teilbd. 3, München 2006, S. 2255–2275, Nr. 282, hier S. 2261 und 2265. 36 Krieger, Standesvorrechte (wie Anm. 14); Schlinker, Fürstenamt (wie Anm. 16), S. 272– 305.

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deten.37 Von einem einheitlichen Fürstenstand, dem die beiden Ordensmeister seither angehörten, wird man kaum sprechen dürfen; die Fürsten blieben viel zu verschieden, als dass sie gemeinsam hätten handeln können.38 Dennoch sollte man die Bedeutung der Fürstenerhebung für die Gesellschaft des Reiches und für die beiden Ritterorden nicht unterschätzen.

Edition 1) König Maximilian I. belehnt den Deutschmeister Andreas von Grumbach als Fürsten mit seinen Regalien. Löwen, 1494 September 16 Registereintrag Wien, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Reichsregister 10/1 fol. 23r–v unter der Überschrift Teutsch orden regalien; Regesta Imperii 14/1/1, bearb. Hermann Wiesflecker, Wien u. a. 1990, S. 108, Nr. 1011. Die Ausfertigung dürfte im Bauernkrieg 1525 auf Burg Horneck vernichtet worden sein: Hofmann, Staat des Deutschmeisters (wie Anm. 6), S. 110 mit Anm. 135. Wir Maximilian et cetera bekennen offentlich mit diesem brieff und thun kunt allermeniglich, das der erwirdig unnser und des Reichs furst und lieber andechtiger Endres von Grumbach, meister Teutschordens in Teutschen und Wellischen Landen, fur uns komen ist und hat uns demutiglich angeruffen und gepetten, das wir ime sein und seins ordens regalien lehen an allen und iglichen stetten, schlossen, merckten, dorffern und guttern, manschafften, herschafften, lehenschafften, geistlichen und weltlichen, mit ertzen, bergkwercken, fischeryen, wiltpennen, wassern, werden, zollen, weggelt, hohengerichten, gerichtszwengen mit iren rechten, wirden und allen andern regalien gerechtigkeiten, wie die in dem Heiligen Romischen Reich inn Teutschen und Wellischen Landen gelegen sein und von uns und dem Heiligen Reich zu lehen geen, gnediglich zuverlyhen 37 Bernhard Demel, Mergentheim. Residenz des Deutschen Ordens 1525–1809, in: Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte 34/35, 1975/76 [1978], S. 142–212; Norbert Hofmann, Mergentheim, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch, Teilbd. 2, hrsg. Werner Paravicini, bearb. Jan Hirschbiegel, Jörg Weitlaufer (Residenzenforschung, 15/1), Ostfildern 2003, S. 376–378; Walter Gerd Rödel, Heitersheim, in: ebd. S. 264f.; Heitersheim 1806. 200 Jahre Herrschaftsübernahme Badens im Johanniter-/Malteserfürstentum, hrsg. Wolf-Dieter Barz, Münster/Westfalen 2006. 38 So Peter Moraw, Fürstentum, Königtum und „Reichsreform“ im deutschen Spätmittelalter, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 122 (1986), S. 117–136, hier S. 119f., separat in: Heinemeyer, Vom Reichsfürstenstande (wie Anm. 13).

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und damit zu belehnen. Des haben wir gutlich angesehen solich sein vleissig und zimlich bete, auch steett trewe und nutzlich dinst, die er und sein vorforderen uns und unsern vorfaren Romischen Keysern und Konigen und dem Heiligen Reich offt und dick gethan haben und der itztgemelt meister und orden uns und dem Reich hinfur wol thun sollen und mogen, und darumb mit wolbedachtem mute, gutem rate unser und des Reichs khurfursten, fursten, graven, edelen und getrewen und rechter wissenn dem vorgnanten meister Teutschordens alle und igliche regalien und lehen an allen und iglichen stetten, slossen, merckten, dorffernn, gutternn, manschafften, herschafften, lehenschafftenn, geistlich und weltlich, mit ertzen, bergkwercken, fischeryen, wiltpennen, wassernn, werden, zollen, weggelt, hohengerichten, gerichtszwengen mit iren rechten, wirden und allen andernn regalien und gerechtigkeiten, wo die inn dem Heiligen Romischen Reich inn Teutschen und Wellischen Landen gelegen sein, nichts auszgenomen, gnediglich geliehen haben und lyhen ime die ausz Romischer koniglicher macht wissentlich in crafft diesz brieffs, was wir ime daran von recht, pillichkeit und gnaden zuverlyhen haben sollen oder mogen. Also das er und sein nachkomen die von uns und dem Heiligen Reich in lehenswyse innhaben und besitzen, nutzen, niessen und gebrauchen mogen, auch entpfahen und verdienen sollen inn allermasz, wie sein vorfarn meister Teutschordens biszher gethan haben, von meniglich unverhindert. Der vorgnant Endres von Grumpach, meister Teutschordens, hat uns auch darauff gewonlich glopt und eyde gethan und als Romischem Konig von solcher regalien und lehen wegen getrewe, gehorsam und gewertig zusein, fur sein rechten naturlichen hern zuhalten, zudienen und zuthun alles, das ein getrewer furst des Heiligen Reichs von solcher lehen wegen von recht oder gewonheit zuthun schuldig und pflichtig ist. Und gepieten darauff allen und iglichen des obgnanten ordens mannen, amptleuten, burgermeistern, raten, burgern, vogten, gemeinden, hintersessen und unterthanen, inn was wirden, stadts oder wesens die sein, ernstlich mit diesem brieff, das sie dem vorgnanten von Grumpach meister inn allen und iglichen sachen und geschefften sein und seins ordens regalien, lehen, gericht und herlichkeit berurende als irm rechten, ordenlichen, naturlichen hern one alle irrung und widderrede gehorsam und gewertig sein, und sunst allen andern unnsern und des Reichs unterthanen und getrewen, das sie ine by den obgemelten unnser lehenschafft blyben, ine der wie vorsteet geniessen und gebrauchen lassen und darinn keyn irrung noch verhinderung thun, als liebe ire iglichem sy unser und des Heiligen Reichs swere ungnade zuvermeiden. Das meynen und wollen wir ernstlich mit urkunde dieszs brieffs besiegel[t] mit unnserm koniglichen anhangendem insiegel. Geben zu Loven am sechzehenden tag Septembris anno et cetera nonagesimo quarto.

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2) Kaiser Karl V. belehnt den Johannitermeister Georg Schilling von Cannstatt als Fürsten mit seinen Regalien. Augsburg, 1548 Februar 29 Ausfertigung Pergament Karlsruhe, Generallandesarchiv, Rep. 20 Johanniter Urkunden Nr. 20. Rotes Siegel in brauner Wachsschale an schwarz-goldenen Schnüren anhängend. Wir Karl der funnfft von Gots gnaden Romischer Kaiser, zu allenn tzeithen merer des Reichs, Kunig in Germanien, zu Castilien, Arragon, Leon, baider Sicilien, Iherusalem, Hungern, Dalmatien, Croatien, Nauarra, Granaten, Toleten, Valentz, Gallicien, Mayorica, Hispalis, Sardinien, Corduba, Corsica, Murcien, Giennis, Algarbien, Algetziren, Gibraltar, der Canarischen und Indianischen Insulen, unnd der Terre Firme des Oceanischen Mers et cetera, Ertzherzog zu Osterreich, Hertzog zu Burgundt, zu Lothrickh, zu Brabant, zu Steyr, zu Kernnten, zu Crain, zu Limpurg, zu Lutzemburg, zu Geldern, zu Calabrien, zu Athen, zu Neopatrien und Wirtemberg et cetera, Grave zu Habspurg, zu Flanndern, zu Tyrol, zu Görtz, zu Barcinon, zu Arthois, zu Burgundt, Pfaltzgrave zu Hennigaw, zu Hollanndt, zu Seelandt, zu Pfierdt, zu Kiburg, zu Namur, zu Roszilien, zu Ceritania unnd zu Zutpfen, Lanndgrave zu Elsaß, Marggrave zu Burgaw, zu Oristani, zu Gociam undt des Hailigen Romischen Reichs Furst zu Schwaben, Cathalonia, Asturia et cetera, Herre zu Frießlanndt, auf der Windischen Marckh, zu Portenaw, zu Biscaya, zu Molin, zu Salins, zu Tripoli unnd zu Mecheln et cetera, bekhennen offentlich mit disem brieve unnd thuen khundt allermeniglich. Wiewol wir allen unnd yegelichen unnsern und des Hailigen Reichs unnderthanen und getrewen unnser kayserliche gnad unnd guetigkeit mitzutaillen genaigt sein, yedoch so seind wir gegen denen, so unns und dem Hailigen Reiche als die nechsten glider die burden und sorgfeltigkait desselben Reichs mit stetten unnd getrewen diensten helffen tragen, sy mit sonnderlichen unsern kayserlichen gnaden zufursehen mer bewegt. Wann nun auf heut dato ditz brieves vor unnser kayserlichen mayestat erschinen ist der erwirdig unnser und des Reichs furst und lieber andechtiger Georg Schilling von Canstatt, maister Sanct Johanns ordens in Teutschen Lannden, und uns diemuetigclich angeruffen und gepetten hat, das wir ime seine und seines ordens regalien unnd lehen an allen unnd yegelichen stetten, schlossen, merckten, dorffern und guetern, manschafften, herschafften, lehenschafften, gaistlichen unnd weltlichen, mit berckwercken, ertzen, saltzprunnen, vischereyen, wildtbennen, wassern, waiden, zollen, weggelten, hohen unnd andern gerichten, gerichtszwenngen mit iren rechten, eeren, wirden unnd allen anndern regalien, rechten, gerechtigkaiten, wo die im Hailigen Romischen Reiche gelegen sein, nichts davon außgenomen, so von unns und dem Hailigen

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Reiche zu lehen ruren, zu lehen zuverleihen unnd zu raichen gnedigclich geruechten. Des haben wir angesehen solch sein diemuetig zimblich bitt, auch die annemen, getrewen unnd nutzlichen dienste, so er, seine vorfarn unnd orden unns und unsern vorfaren am Reiche Romischenn Kaysern unnd Kunigen unnd dem Hailigen Reiche offt willigclich unnd unverdrossenlich gethan haben unnd der yetzgemelt maister unnd orden uns und dem Reiche hinfüro wol thuen mögen und sollen, und darumb mit wolbedachtem mute und gutem rathe unnser und des Reichs churfürsten, fursten, graven, edlen unnd getrewen unnd rechter wissen dem vorgenanten Georgen Schilling alle unnd yegeliche seine unnd seines ordens regalien und lehen an allen unnd yegelichen stetten, schlossen, merckten, dörffern, guettern, manschafften, herschafften, lehenschafften, gaistlichen unnd weltlichen, mit berckwercken, ertzen, saltzprunnen, vischereyen, wassern, waiden, zollen, weggelten, hohen und nidern gerichten, gerichtszwanngen mit iren rechten, eeren, wirden unnd allen andern regalien, rechten unnd gerechtigkaiten, wo die in dem Hailigen Romischen Reiche gelegen sein, nichts außgenomen, zu lehen gnedigclich geraicht unnd gelihen haben, raichen unnd leihen ime die auch also von romischer kayserlicher machtvolkhomenhait wissentlich in crafft ditz brieves, was wir ime daran von recht, billichait unnd gnaden zu verleihen haben sollen oder mögen. Also das er die von unns und dem Hailigen Reiche lehennsweise innhaben, besitzen, nutzen, niessen, geprauchen unnd verdienen soll unnd moge in aller massen, wie seine vorfaren maister Sanct Johanns ordens die bishere inngehabt, besessen, genossen unnd gebraucht haben von allermenigclich unverhindert. Der vorgenannt unnser furst hat unns auch darauf gewöndlich glubd unnd ayde gethan, unns als Romischen Kayser von solcher regalien unnd lehen wegen getrew, gehorsam und gewertig zu sein, für seinen rechten naturlichen herren zu halten, zu dienen unnd zu thuen alles, das ain getrewer furst des Hailigen Reichs ainem Romischen Kayser pflichtig unnd schuldig ist. Unnd gepieten darauf allenn unnd yegelichen des obgenannten ordens mannen, ambtleuthen, burgermaistern, rethen, burgern, vogten, gemainden, hindtersessen unnd underthanen, in was standts oder wesens die sein, ernnstlich unnd vestigclich mit disem brieve, das sy dem vorgenannten maister in allen unnd yegclichen sachen unnd geschefften sein unnd seines ordens regalien, lehenn, gericht unnd herligkait berurendt als irem rechten, ordenlichenn, naturlichen herren one alle irrung unnd widerrede gehorsam unnd gewertig seyen, und sonst allen anndern unsern und des Reichs underthanen und getrewen, das sy ine bey den obgemelten unnsern lehenschafften beleiben, ine dero wie obsteet geniessen unnd gebrauchen lassen unnd darinnen kain irrung noch verhinderung thuen, als lieb ainem yegelichen seye unnser und des Reichs schwere ungnad unnd straff zuvermeiden. Mit urkhundt ditz brieves besigelt mit unnserm kayserlichen anhanngenden insigel. Geben in unnser unnd des Reichs stat Augspurg am mitwochen den letzten tag des monats February nach Christi unnsers lieben herren

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gepurde funffzehenhundert unnd im achtunndviertzigisten, unnsers kayserthumbs im achtunndzwaintzigisten unnd unserer reiche im drewunnddreyssigisten jaren. Unterschrieben Carolus. Unter der Plica links Vidit Maximilianus archidux. Auf der Plica in der Mitte innen Regalia pro magistro ordinis sancti Ioannis Hierosolimitani. Auf der Plica rechts außen Ad mandatum caesareae et catholicae maiestatis proprium / Obernburger.

Cordelia Heß / Christina Link

Juden im Deutschordensland Preußen – eine Spurensuche

Das judenfreundlichste Territorium des Reichs? Dass der Deutsche Orden aus Gründen der religiösen Homogenität aktiv die Ansiedlung von Juden in seinen Territorien verhindert hätte, kann mittlerweile als Fehleinschätzung gelten.1 Entgegen früheren Annahmen hatte der Landesherr niemals ein Verbot gegen die Einreise und Ansiedlung von Juden erlassen. Vielmehr darf die weitgehende Abwesenheit von antijüdischen Texten in den Bibliotheken und dem Umfeld des Deutschen Ordens als interessante Ausnahme im spätmittelalterlichen Mainstream gelten, ebenso wie die Abwesenheit von Nachrichten über antijüdische Pogrome und Vertreibungen im Zusammenhang mit der Pest, Hostienschändungslegenden oder Ähnlichem. Wie aus anderen Beispielen bekannt, brauchte es für derartige Anschuldigungen nicht einmal eine ansässige jüdische Bevölkerung. Auch jüdische Reisende oder angeblich von Juden angestiftete Personen konnten Opfer antijüdischer Verfolgung werden.2 Zudem durchzogen antijüdische Motive und Anspielungen viele der theologischen, laiendidaktischen und historiographischen Texte der Zeit und bildeten einen ideologischen Hintergrund, auf dem Gewaltausbrüche nahezu jederzeit geschehen konnten – selbst in Regionen, in denen es keine residente jüdische Bevölkerung gab, wie in den nordischen Ländern,3 oder in solchen, aus denen Juden und Jüdinnen vertrieben worden waren, vor allem in England.4 Von all 1 Vgl. Cordelia Hess, The Absent Jews: Kurt Forstreuter and the Historiography of Medieval Prussia, New York, Oxford 2017. 2 Vgl. dies., Jews and the Black Death in Fourteenth-Century Prussia: A Search for Traces, in: Fear and Loathing in the North. Jews and Muslims in Medieval Scandinavia and the Baltic Region, hrsg. Cordelia Hess, Jonathan Adams, Berlin, Boston 2015, S. 109–126. 3 Yvonne Friedman, Reception of Medieval European Anti-Jewish Concepts in Late Medieval and Early Modern Norway, in: The Medieval Roots of Antisemitism: Continuities and Discontinuities from the Middle Ages to the Present Day, hrsg. Jonathan Adams, Cordelia Hess, New York 2018, S. 59–72. 4 Anthony Bale, The Jew in the Medieval Books: English Antisemitisms, 1350–1500, Cambridge 2006.

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diesen etwa seit dem 13. Jahrhundert in Nord- und Westeuropa regelmäßig vorkommenden Verfolgungen und Anfeindungen ist in Preußen zur gleichen Zeit wenig zu finden. Die Frage nach einer jüdischen Präsenz in Preußen wurde von der Forschung lange nicht beachtet – da sie ja als beantwortet galt. Eine Neubewertung des Themas scheint uns daher dringend erforderlich und zwar aus zwei Gründen: Erstens übernahm die Forschung jahrzehntelang unhinterfragt die These, dass der Deutsche Orden eine aktive Anti-Judenpolitik betrieben habe, eine Annahme, die im Kern selbst antisemitische Aspekte enthält bzw. auf antisemitische Grundannahmen und mangelnde Quellenkritik zurückgeführt werden kann. Aus dieser Nicht-Existenz einer aktiven antijüdischen Politik ergibt sich dann aber zwangsläufig die Frage, warum nicht ähnlich wie in Polen oder der Mark Brandenburg jüdische Familien sich in den Städten ansiedelten, die bestehenden Verbindungen mit dem Landesherrn ausbauten und Kredite vergaben, den eigenen Rechtsstatus verhandelten und durch Steuerzahlungen befestigten. Preußen scheint in Bezug auf das Verhältnis des religiösen Ordens als Landesherren zur nicht-christlichen Bevölkerung eine absolute Ausnahme darzustellen – wegen der nahezu vollständigen Abwesenheit von Konflikten zwischen Christen und Juden in allen bekannten Quellengruppen inklusive der theologischen und didaktischen Literatur. Ein derart konfliktfreies Zusammenleben kann entweder darauf beruhen, dass es eben kein Zusammenleben gab – was, wie der erwähnte Vergleich zu anderen Territorien zeigt, in denen hermeneutische Juden5 in den Quellen eine absent presence bildeten, ebenfalls eine Ausnahme wäre –, oder es muss andere Faktoren für diese Außerordentlichkeit geben. Ohne abschließende Lösungen bieten zu können, wollen wir hier anhand der genannten Aspekte der Frage etwas näherkommen, weshalb sich in Städten wie Danzig, Thorn, Königsberg und Kulm keinerlei Quellen über jüdische Gemeinden erhalten haben. In diesem Beitrag möchten wir Forschungswege aufzeigen, wie man zu Erkenntnissen über jüdisches Leben im Territorium des Deutschen Ordens gelangen kann und diese andiskutieren. Wenn wir die lange angeführte, mittlerweile aber widerlegte Erklärung ausschließen, es habe wegen eines Verbotes schlicht keine Juden gegeben, bleiben zwei Hypothesen, die wiederum unterschiedliche Fragestellungen nach sich ziehen: erstens die Annahme, dass es dauerhaft Juden im Deutschordensland gegeben haben muss, und daraus folgend das Suchen von Spuren jüdischen Lebens in den verfügbaren Quellen. Oder zweitens die Annahme, dass Juden in 5 Als „hermeneutische Juden“ bezeichnet Jeremy Cohen die Figur des Juden, wie sie in der christlichen, vor allem franziskanischen Theologie und Polemik entworfen und popularisiert wurde, im Gegensatz zu realen Personen jüdischen Glaubens. Jeremy COHEN, Living Letters of the Law. Ideas of the Jew in Medieval Christianity. Cambridge 1999.

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geringer Anzahl und vielleicht jeweils nur für wenige Generationen in Preußen lebten, aber keine oder nur wenige Spuren in den schriftlichen Quellen hinterlassen haben. An diese zweite Erklärung schließt sich aber direkt die Frage an, warum Juden das preußische Territorium mieden. Für beide Fragen ist es notwendig, die Bereiche abzustecken, aus denen Aufschluss über die eventuelle Existenz oder Nicht-Existenz jüdischen Lebens in Preußen gewonnen werden kann. Eine erste Quellengattung, die sich dafür anbietet sind Stadtbücher. Eine Untersuchung der edierten preußischen Stadtbücher hat zunächst ergeben, dass hier zwar Juden vorkamen, jedoch keine Informationen über ihren Aufenthaltsstatus und ihr Umfeld, zudem ist nicht in allen Fällen klar, ob und wie Personen jüdischen Glaubens bezeichnet wurden.6 Dennoch wären weitere unedierte Stadtbücher in Augenschein zu nehmen. Darüber hinaus bieten sich vor allem an: – archäologische Quellen – Informationen über jüdische Gemeinden in angrenzenden Regionen – Quellen in Zusammenhang mit dem Judenregal der Landesherren – die Stadtrechte, vor allem das Kulmer Recht und die ihm zugrundeliegenden Quellen des Magdeburger Rechts Auch auf dieser Grundlage wird sich aber die Frage, ob es Juden in Preußen gegeben hat oder nicht, und wenn nein, warum nicht, nicht abschließend klären lassen.

Archäologische Quellen und jüdische Quellen Für viele Bereiche der mittelalterlichen aschkenasischen Geschichte gibt es sowohl archäologische Befunde als auch schriftliche Quellen aus den jüdischen Gemeinden selbst – Chroniken, Rechtstexte etc. Die Gewährleistung eines Begräbnisses gemäß den religiösen Vorschriften und andere infrastrukturelle Probleme, die sich aus der Koexistenz der Religionen ergaben, wurden für die jüdische Seite in den Responsen entschieden. Diese Texte enthalten Fragen, entweder über reale Fälle oder Musterfälle, die an Rabbiner geschickt wurden und in denen um die dogmatisch richtige Entscheidung gemäß der halacha gebeten wurde. Leider sind derartige Responsen aus Preußen nicht erhalten, dagegen in großer Anzahl aus Polen und Litauen.7 Andere jüdische Quellen sind über die preußischen Städte ebenfalls nicht bekannt. 6 Hess, The Absent Jews (wie Anm. 1), S. 233ff. 7 Eine vollständige Katalogisierung der mittelalterlichen Responsen aus dem aschkenasischen Raum strebt das Projekt der LMU München unter Leitung von Eva Haverkamp an. Siehe

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Zum weitgehenden Schweigen der Schriftquellen kommt das Fehlen von archäologischen Befunden vor allem über Friedhöfe oder einzelne Grabstätten. Da die Quellenlage zumindest die zeitweilige Präsenz jüdischer Kaufleute in Thorn und Danzig belegt, stellt sich die Frage, was geschah, wenn einer von ihnen in Preußen starb. Eine Grablegung auf dem christlichen Friedhof scheint unwahrscheinlich, Transport in andere Städte mit jüdischen Friedhöfen auch. An einzelnen Körpern ist aber natürlich nicht abzulesen, ob sie wegen ihrer Religion oder aus anderen Gründen (Selbstmord, Mord und Verstecken der Leiche) außerhalb der christlichen Friedhöfe begraben wurden – wenn sie überhaupt gefunden wurden, ohne Hinweise in den schriftlichen Quellen. Jüdische Friedhöfe fanden sich, im Gegensatz zu christlichen Grabstätten, im Mittelalter meist außerhalb der Stadtmauern, was auch in den Gegenden des Reichs mit dichterer jüdischer Bevölkerung zu einer schlechten archäologischen Quellenlage geführt hat. Insgesamt tendiert die neuere archäologische Forschung dazu, bestehende Ergebnisse bezüglich religiöser Identität als mehr fluide, hybrid und dynamisch zu interpretieren als früher – ohne dass bereits abschließende Ergebnisse über die konkrete Nutzung und Um-Nutzung von Grabstätten erzielt worden wären.8

Jüdische Gemeinden in angrenzenden Regionen Wenn es in Preußen jüdische Gemeinden oder kleinere Gruppen von Juden und Jüdinnen gegeben haben sollte, ist es wahrscheinlich, dass sie direkt aus den angrenzenden Gebieten in Polen, Schlesien und der Mark Brandenburg eingewandert waren. Besonders kleine Gemeinden wären zur Deckung bestimmter notwendiger religiöser und ritueller Bedürfnisse, wie die Begleitung durch einen Rabbiner, Gerichtsbarkeit, koschere Schlachtung oder Produktion bzw. Einkauf von koscherem Wein, auf benachbarte Gemeinden angewiesen. Auf der polnischen Seite finden sich die frühesten umfassenden Erkenntnisse über auch kleine jüdische Gemeinden in der Kronmetrik.9 Seit 1512 gab es eigens eingesetzte Steuereintreiber für die polnischen Juden.10

https://www.jgk.geschichte.uni-muenchen.de/jgk_mittelalter/forschungsprojekt-responsa/ index.html. 8 Gabor Thomas u. a., Religious Transformations in the Middle Ages: Towards a New Archaeological Agenda, in: Medieval Archaeology 61,2 (2017), S. 300–329. 9 Hanna Zaremska, Juden im mittelalterlichen Polen und die Krakauer Judengemeinde (Klio in Polen, 17), Osnabrück 2013. 10 Jürgen Heyde, „Jüdische Freiheit“ oder: Integration und Autonomie in Polen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 57 (2008), S. 34–51, ibid. 46–47.

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Besonders nah am Deutschordensgebiet lag Bydgoszcz/Bromberg, das im 14. Jahrhundert vom polnischen König Kasimir III. das Magdeburger Recht erhalten hatte und in dem zumindest jüdische Kaufleute lebten, was vor allem aus Quellen belegt ist, die Konflikte und den Versuch der Ausgrenzung durch die städtischen Autoritäten dokumentieren. Im Jahr 1484 bekam Bydgoszcz die Genehmigung, Wochenmärkte am Samstag abzuhalten, was die Teilnahme jüdischer Kaufleute effektiv verhinderte.11 In Bydgoszcz gab es jedoch noch einen weiteren Hinweis auf christlich-jüdische Koexistenz, nämlich mehrere Interventionen des Starosten zugunsten von Juden. Eine dieser Quellen belegt die Migration, kurzfristig oder dauerhaft, der Bydgoszczer Jüdin Sara im Jahr 1525 nach Danzig.12 Sowohl Danzig als auch Bydgoszcz erhielten Mitte des 16. Jahrhunderts das Privileg de non tolerandis Iudaeis. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts begannen einige Städte in Polen, vom König dieses Privileg einzufordern, das ihnen eine Ausnahme von der toleranten Ansiedlungspolitik aus dem Statut von Kalisch zugestand, nämlich Juden die Ansiedlung zu verweigern bzw. die Entscheidung darüber aus der Verantwortung des Landesherren in die der Stadträte zu geben. In vielen Fällen führte das Privileg lediglich dazu, dass die Juden in den Vorstädten oder in benachbarten Städten siedelten.13 Spätestens seit dem 15. Jahrhundert bestand auch eine nicht unbedeutende Gemeinde in Inowroclaw/Jung Leslau,14 die als infrastrukturelle Unterstützung für Glaubensgenossen im Deutschordensgebiet hätte dienen können. Ähnliches lässt sich für Gnesen vermuten, dessen mittelalterliches Stadtarchiv jedoch bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts völlig zerstört wurde.

Das Judenregal Die Landesherrschaft des Deutschen Ordens in Preußen basierte auf der sogenannten Goldbulle von Rimini aus dem Jahr 1226. Friedrich II. verfügte darin quod idem magister et successores sui iurisdictionem et potestatem illam habeant et exerceant in terris suis, quam aliquis princeps imperii melius habere dinoscitur in terra sua15 – der Hochmeister Herrmann von Salza und seine Nachfolger 11 Aron Heppner, Isaak Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen: Nach gedruckten und ungedruckten Quellen, Koschmin 1909, S. 323f. 12 Ebd., S. 323. 13 Judith Kalik, Scepter of Judah: The Jewish Autonomy in the Eighteenth-Century Crown Poland, Leiden 2009. 14 Heppner, Herzberg (wie Anm. 11), S. 429–431. 15 Goldbulle von Rimini 1226, in: Dokumente und Materialien zur ostmitteleuropäischen Geschichte, hrsg. Herder-Institut, Themenmodul „Deutscher Orden und Preußen im Mit-

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sollten demnach Gerichtsbarkeit und Obrigkeit in Preußen innehaben, „wie sie kein Reichsfürst in seinem Lande besser haben kann“.16 Ausdrücklich in der Urkunde erwähnte fürstliche Hoheitsrechte, die dem Orden verliehen wurden, sind die Erhebung von Zöllen, Einrichtung von Märkten, Produktion von Münzen, Festlegung von Steuern und Gesetzen, Ausbeutung von Edelmetall- und Salzvorkommen sowie die Gerichtsbarkeit. Etwa in der Zeit der Abfassung der Goldbulle von Rimini bildete sich neben diesen Regalien ein weiteres heraus: das sogenannte „Judenregal“. Der rechtliche und insbesondere auch der fiskalische Status von Juden wurden seit dem Hochmittelalter durch die sogenannte Kammerknechtschaft bzw. das sich daraus herleitende Judenregal bestimmt. Sowohl der Kaiser als auch die Herrscher der angrenzenden Territorien, wie Böhmen, Polen oder Ungarn, betrachteten die jüdische Bevölkerung als unmittelbar ihnen zugeordnet und verfügten über Abgaben und Zölle der Juden. Dieses Regal wurde wie auch andere königliche Rechte an einzelne Landesherren oder Städte verliehen bzw. auch verpachtet oder verkauft.17 Auch der Deutsche Orden hatte später in einzelnen Besitzungen das Judenregal inne, etwa in Mergentheim.18 Man kann daher davon ausgehen, dass der Orden basierend auf diesem Privileg auch in seinem preußischen Herrschaftsbereich über das Judenregal verfügte, woraus sich ein Recht auf eine Erhebung von Steuern, Abgaben und Zöllen von jüdischen Einwohnern und Gästen ableitete. Für die Markgrafschaft Brandenburg führt Spangenberg in seiner Untersuchung der Hof- und Zentralverwaltung auch Einnahmen aus dem Judenregal auf: einerseits Einnahmen direkt aus dem Judenzins, der etwa für Juden in Stendal bei 5 m. pro Jahr, für Juden in Salzwedel bei 6 m. pro Jahr lag; andererseits Einnahmen aus der Verpfändung dieses Zinses an Städte und Adlige.19

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telalter“, bearb. Marcus Wüst, URL: https://www.herder-institut.de/resolve/qid/1751.html (Zugriff am 05. 01. 2019). Ebd. Die Frage, inwieweit das Deutschordensland Preußen in das Heilige Römische Reich eingegliedert war, ist schwer zu beantworten. Im Wesentlichen geht die Forschung heute davon aus, dass der Herrschaftsbereich des Ordens außerhalb des Lehnsverbandes des Reiches lag, jedoch eng mit diesem verbunden war; vgl. u. a. Bernhart Jähnig, „Herzogshut und Königskrone“ – Von den mittelalterlichen Territorien zur werdenden Großmacht der frühen Neuzeit, ein Überblick, in: Preußenland und Preußen. Polyzentrik im Zentralstaat, hrsg. ders, Jürgern Kloosterhuis, Wulf D. Wagner (Tagungsberichte der Historischen Kommission für Ost- und Westpreußische Landesforschung, 19), Osnabrück 2016, S. 11–44, hier S. 20ff. Jana Pacyna, Mittelalterliche Judenrechte. Norm und Anwendung im Magdeburger Rechtskreis (1250–1400) (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts, 8), Halle (Saale) 2015, S. 14. Hess, Absent Jews (wie Anm. 1), S. 154. Hans Spangenberg, Hof- und Zentralverwaltung der Mark Brandenburg im Mittelalter, Leipzig 1908, S. 324ff.

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Nun verfügte der Deutsche Orden über eine bekanntermaßen gut strukturierte und dokumentierte Verwaltung. Jürgen Sarnowsky hat die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens anhand des erhaltenen Verwaltungsschriftgutes umfassend aufgearbeitet. In seiner Aufstellung der Einnahmen im Ordensland sind eine Judensteuer oder ein jüdischer Leibzoll nicht aufzufinden. Lediglich ein Zinsverzeichnis aus der Neumark von 1445 weist 12 schock groschen von den juden aus.20 Für die Neumark sind wir über jüdische Gemeinden ohnehin gut informiert.21 Der Orden nahm hier nach Übernahme der Landesherrschaft also ganz selbstverständlich das Judenregal wahr – und zwar nicht nur in Form von Zinseinnahmen, sondern auch in Form von diplomatischer und juristischer Unterstützung für im Ausland inhaftierte jüdische Einwohner der Neumark.22 Wo verbergen sich jedoch Abgaben von jüdischen Personen in der Buchführung des Ordens? Sind jüdische Abgaben, wie ja auch in der Neumark, Teil von summarisch geleisteten städtischen Zinszahlungen und werden dort einfach nicht separat ausgewiesen? Auch hier ist ein Blick in die städtischen Rechnungsbücher erforderlich, um zu klären, ob zumindest vereinzelt die Zinserhebung im Detail aufgezeichnet wurde. Die edierten Stadtbücher haben darüber bislang keinen Aufschluss geben können. Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass der Orden auf dieses lukrative Recht verzichtet haben könnte.

Stadtrechtsquellen Zaremska schildert in ihrer Untersuchung zu Juden in Polen im Mittelalter, wie die Einwanderung von Juden in den verschiedenen polnischen Gebieten sich Hand in Hand mit dem hoch- und spätmittelalterlichen Landesausbau vollzog. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die sich in den neu erschlossenen Gebieten boten, seien natürlich auch für jüdische Kaufleute attraktiv gewesen.23 Da eine Ansiedlung von Juden die oben geschilderten fiskalischen Möglichkeiten mit sich brachte, waren die Herrschaftsträger auch gerne bereit, Juden in ihren Städten anzusiedeln. Im 13. Jahrhundert wurden in Polen, Böhmen und Ungarn Judenstatuten erlassen, die diesen Willen dokumentieren.24 Besonders das sogenannte Statut von Kalisch und dessen Bestätigung durch Kasimir den Großen, 20 OBA 8706, 2r; vgl. Jürgen Sarnowsky, Die Wirtschaftsführung des Deutschen Ordens in Preußen (1382–1454) (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 34), Köln 1993, Tab. 57. 21 Vgl. etwa die Einträge über Soldin und Königsberg in der Neumark in Klaus-Dieter Alicke, Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum, 3 Bde, Gütersloh 2008. 22 Vgl. Hess, Absent Jews (wie Anm. 1), S. 257. 23 Zaremska (wie Anm. 9), S. 55f. 24 Ebd., S. 63, 113.

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die Ritualmordlegenden verboten und die jüdisch-christliche Koexistenz auf eine gesicherte Grundlage stellten, beförderten die Ansiedlung jüdischer Gemeinden in den polnischen Städten.25 Auch innerhalb dieser Städte bestand der Bedarf, die rechtlichen Verhältnisse der Juden zu regeln. Den Stettiner Juden wurde im Zuge dieses Landesausbaus das gleiche Recht verliehen, zu dem die Juden in Magdeburg lebten. In Schlesien dagegen lebten Juden gemäß dem Recht der Stadt, in der sie sich ansiedelten.26 Das Ordensland ist eines der Gebiete, die vom mittelalterlichen Landesausbau geprägt wurden. Der Deutsche Orden betrieb nach der Eroberung Preußens parallel zur Missionstätigkeit auch eine intensive Siedlungspolitik. Die Voraussetzungen und Mittel waren dabei denen in anderen Regionen Ostmitteleuropas sehr ähnlich. Auch die rechtlichen Grundlagen, derer man sich bediente, waren ähnlich. Den Städten in Preußen wurde in der Regel – mit wenigen Ausnahmen wie etwa Elbing – das Kulmer Recht verliehen, das als Variante des Magdeburger Rechts angesehen werden kann.27 Magdeburger Recht war im Rahmen der Siedlungsvorgänge in Ostmitteleuropa das am weitesten verbreitete Stadtrecht und regelte, auch in seinen Varianten, zum Beispiel als Breslau-Neumarkter Recht, das Leben in vielen Städten der Nachbarreiche des Ordenslandes. Aus der Anwendung ähnlicher Rechtsnormen kann natürlich nicht auf die ethnische oder religiöse Zusammensetzung der Gesellschaft geschlossen werden, die diese Normen anwendete. Dennoch ermöglicht der Blick auf diese gemeinsamen rechtlichen Bedingungen die Feststellung, dass es zumindest nicht an diesen gelegen haben kann, dass Juden sich vielleicht nur in geringer Zahl in Preußen angesiedelt haben. Städte im Magdeburger Rechtskreis, deren Rechtsstatus Jana Pacyna analysiert hat,28 waren dort durchaus Teil der Stadtgemeinschaft und noch nicht einmal zwingend vom Bürgerrecht ausgeschlossen.29 In Berlin etwa sind Juden als Bürger belegt.30 Der Hallenser Jude Samuel besaß in der Stadtgemeinde großen Einfluss,31 und Juden waren in vielen Städten gemäß

25 Ebd., S. 113. 26 Ebd., S. 125. 27 Vgl. Danuta Janicka, Art. Kulmer Handfeste, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Aufl. 2004ff., 3, 24. Lfg., Sp. 307–309, zit. n. HRGdigital, URL: https:// www.hrgdigital.de/HRG.kulmer_handfeste (29. 04. 2019). 28 Pacyna (wie Anm. 17). 29 Ebd., S. 21. 30 Bürgerbuch der Stadt Berlin (1453–1700) im Landesarchiv Berlin, A Rep. 500. Edition: Das älteste Berliner Bürgerbuch 1453–1700, hrsg. Peter v. Gebhardt (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 1; Quellen und Forschungen zur Geschichte Berlins, 1), Berlin 1927. 31 Pacyna (wie Anm. 17), S. 50.

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Stadtrecht an der Stadtverteidigung – etwa der Bewachung der Tore und Mauern – und an der Gerüftefolge beteiligt.32 Die Quellen und Rechtsbücher aus dem Magdeburger Rechtskreis geben in gewissem Maße Aufschluss über jüdisches Leben in den Städten und seine Umstände. Dabei wurden Rechtstexte ausgetauscht, bearbeitet, den lokalen Gegebenheiten angepasst und immer wieder ergänzt. Auch in Preußen waren diese Texte in Umlauf. Drei der Rechtsbücher, die im Magdeburger Rechtskreis entstanden, stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Preußen selbst und spiegeln daher vermutlich in besonderer Weise die Rechtsverhältnisse dort wider. Das sind der sogenannte Alte Kulm die Magdeburger Fragen und die IX Bücher Magdeburger Rechts. Dabei handelt es sich jeweils um systematische Sammlungen von Schöffenrecht, das aus zahlreichen verschiedenen Quellen, unter anderem dem Sachsenspiegel, kompiliert wurde.33 Der Alte Kulm ist eine systematische Sammlung von Schöffensprüchen, die am Ende des 14. Jahrhunderts (vor 1394) aus schlesischen Rechtsquellen, insbesondere dem Magdeburg-Breslauer systematischen Schöffenrecht und verschiedenen Magdeburger Schöffenurteilen für Kulm zusammengestellt wurde.34 Wie andere Rechtsbücher, die der Gruppe des systematischen Schöffenrechts zugeordnet werden, enthält auch der Alte Kulm Bestimmungen zur Gewährschaftspflicht von Juden35 und zur Beweisführung im Rahmen einer Klage um Geld bzw. bei Kapitalverbrechen36. Bei der Frage der Gewährschaftspflicht wurden Juden, bei denen gestohlene Ware entdeckt wurde, die sie „in gutem Glauben“ erworben hatten, von der Pflicht befreit, das Gut zurückzuerstatten. Die Bestimmung zur Beweisführung regelte die Frage der „Beweislast“: Klagte ein Jude gegen einen Mann, dass dieser ihm Geld schulde, so konnte dieser mit einem einfachen Eid seine Unschuld beweisen. Der Jude wäre in diesem Fall derjenige, der weitere Zeugen beizubringen hätte – eine Bestimmung, die allerdings nicht von Regelungen für Christen im Magdeburger Weichbildrecht abweicht.37 Damit enthält der Alte Kulm mit einer Ausnahme alle Bestimmungen, die auch in anderen Varianten des systematischen Schöffenrechts vorhanden sind, die in Regionen mit großen Judengemeinden entstanden sind.38 Interessant ist dabei die Feststellung, dass der Bearbeiter des Alten Kulm sehr wohl Anpas32 Zaremska (wie Anm. 9), S. 109. 33 Pacyna (wie Anm. 17), S. 163. 34 Inge Bily, Wieland Carls, Katalin Gönczi, Sächsisch-magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur Geschichte des Rechts und seiner Sprache (Ivs saxonico-maidebvrgense in oriente, 2), Berlin, Boston 2011, S. 90. Edition: G. K. Leman, Das alte culmische Recht mit einem Wörterbuche, Berlin 1838 (erneut Aalen 1969), S. 13–198, S. 249–368. 35 G. K. Leman, Das alte culmische Recht (wie Anm. 34), II, 81. 36 Ebd., III, 75. 37 Vgl. Pacyna (wie Anm. 17), S. 165ff. 38 Vgl. die Tabelle ebd., S. 226.

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sungen seiner Vorlagen an den Gebrauch vor Ort vornahm: Namen und Bezeichnungen im Text wurden an das Gebiet um Kulm angepasst.39 Ist es vorstellbar, dass er die Bestimmungen zu den Juden in seinen Text übernommen hätte, wenn es keinen Bedarf dafür gegeben hätte? Als Magdeburger Fragen wird eine systematische Sammlung von Sprüchen der Magdeburger Schöffen für Thorn bezeichnet, die am Ende des 14. Jahrhunderts vermutlich in Preußen zusammengetragen wurden.40 Dieses Rechtsbuch enthält zwei Bestimmungen, die Juden betreffen: zum einen zur Frage der Zuständigkeit weltlicher oder geistlicher Gerichte für Juden oder Gäste;41 zum anderen in Zusammenhang mit einem Fall von Beschimpfung eines Juden durch einen Christen.42 Zahlreiche Handschriften dieses Rechtsbuches sind bis heute erhalten und unter anderem in Thorn und Danzig – also im Deutschordensland – überliefert. Die IX Bücher des Magdeburger Rechts sind eine Kompilation aus Magdeburger Schöffenurteilen für Kulm, dem Alten Kulm, den Magdeburger Fragen, der Glosse zum Sächsischen Landrecht und weiteren Rechtsbüchern. Sie wurden zwischen 1400 und 1402 vom Thorner Stadtschreiber Walter Ekhardi zusammengestellt. Nach dem Königsberger Notar Albert Poelmann, der 1574 einen Druck des Werkes veranlasste, werden sie auch Poelmannsche Distinktionen genannt. Der ursprüngliche Text der IX Bücher liegt nicht in einer wissenschaftlichen Edition vor, der wohl ursprüngliche Königsberger Kodex gilt als verloren. Dies ist umso bedauerlicher, als die im Druck zugängliche Poelmann’sche Druckfassung eine erhebliche Umarbeitung des Textes darstellt. Im Jahr 1865 hat Emil Steffenhagen eine „Quellenkunde des Deutschen Rechtes als Prolegomenon zu einer neuen Ausgabe“ vorgelegt und darin die verschiedenen Be- und Umarbeitungen des Textes sowie die vorliegenden Handschriften und Drucke und deren zahlreiche Unterschiede beschrieben.43 Die Poelmann’sche Druckfassung von 1574 enthält insgesamt 55 Distinktionen mit Bezug zu Juden. Articulus 15 wird eingeleitet Hie wollen wir sagen von mancherley Judenrecht, das sich etlicher massen in Schuldrecht zeuhet, als man die in etlichen Landen leget, als zumal noth ist zu wissen und nimmt also keinen 39 40 41 42

Bily, Carls, Gönczi (wie Anm. 34), S. 90. Edition: Die Magdeburger Fragen, hrsg. Jakob Friedrich Behrend, Berlin 1865. Ebd., I, 2, 13. Ebd. I, 4, 7. Der Kläger in diesem Fall, der Christ, der einen Juden als „Hurensohn“ beschimpft hat, bestreitet dies nicht und verteidigt sich mit dem Argument, dass ja alle Leute die Juden so bezeichnen würden. Der Christ wurde durch das Gericht zu einer Buße verurteilt, deren Zahlung er jedoch verweigerte. Hier fällt ein Schlaglicht auf den allgemein verbreiteten Antisemitismus, der von dem Beklagten als vermeintliche Rechtfertigung angeführt wurde. Das Gericht folgte dem aber nicht, sondern verhalf dem Juden zu seinem Recht. 43 Emil Steffenhagen, Die IX Bücher Magdeburger Rechtes oder die Distinctionen des Thorner Stadtschreibers Walther Ekhardi von Bunzlau, Königsberg 1865.

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Bezug auf lokal ansässige Juden, sondern auf die Notwendigkeit, Judenrecht insgesamt zu kennen.44 Die ersten 29 Distinktionen befassen sich mit Pfandrecht und Borgkauf. Es schließen sich prozessrechtliche Bestimmungen an, die etwa die Frage der Zuständigkeit von Gerichten betreffen, insbesondere bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen. Des Weiteren werden jüdische Gerichte angesprochen, jüdische Kirchen und Schulen (Synagogen), die unter Schutz gestellt werden. Hier wird also eine etablierte und gut ausgestattete jüdische Gemeinde angesprochen und nicht etwa nur durchreisende jüdische Gäste. Zudem wird ein Judeneid wiedergegeben (Art. 15, Dist. 44). Es finden aber auch antijüdische Stereotype Eingang in den Text, indem ausdrücklich die Entführung christlicher Kinder durch Juden zur Beschaffung von deren Blut angesprochen wird (Art. 15, Dist. 41) – allerdings wird auch für die Entführung jüdischer Kinder durch Christen die Todesstrafe angedroht.45 Diese letztgenannten Artikel regeln die immer wieder vorkommenden Ritualmordbeschuldigungen, die in Polen vom König direkt unterbunden wurden und hier durch einen formaljuristischen Rahmen legitimiert werden. Artikel 16 führt dann weitere Bestimmungen an, die sehr viel stärker als die beiden oben genannten Rechtsbücher das Verhältnis zwischen Christen und Juden reglementieren und beispielsweise die Beschäftigung von Christen durch Juden (Art. 16, Dist. 4) und die gemischtreligiöse Ehe zwischen beiden Gruppen untersagen (Art. 16, Dist. 7, wo darüber hinaus Juden verpflichtet werden, an Karfreitag im Haus zu bleiben und Fenster und Türen geschlossen zu halten – ein Hinweis auf die im Spätmittelalter im Zusammenhang mit der Passionsfrömmigkeit eskalierende antijüdische Stimmung, die sich oft an Ostern konzentrierte). Daneben sind auch hier Pfandrecht und Fragen der Klagegewähr sowie von tätlichen Angriffen zwischen Vertretern der beiden Religionsgruppen Thema. Die genannten Distinktionen entstammen alle der Druckfassung aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es ist aus den Steffenhagen’schen Bemerkungen kaum ersichtlich, inwieweit diese auch in der Urfassung von Ekhardi enthalten waren. In der ersten Umarbeitung von 1408 waren die betreffenden Distinktionen dann in den meisten erhaltenen Handschriften aufgeführt.46 Interessant ist ein Blick auf die zweite Bearbeitung des Buches, die im Jahr 1444 in Königsberg durch Johannes Lose vorgenommen wurde. In dieser zweiten Redaktion erläutert der Autor das dis buch ist geczogin vs vil bewerthen worhaften keiserlichen buchern, also man denne lesinde wol wirt vornemen vnd wil 44 Albert Poelmann, Die IX Bücher des Magdeburgischen oder sechssischen Rechten, Königsberg 1574, 9. Buch, Art. 15. 45 Hess, Absent Jews (wie Anm. 1), S. 238. 46 Steffenhagen (wie Anm. 43), S. 14.

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etczliche artikele dor hindene lasin vmme der ersamikeit willin etczlicher luthe, wenne eyn spigel der sachsin vil artikel vnd capittel jnne helt, dy in etczlichin landin vnd sunderlich in prusin nicht notdorft sint noch gehaldin werdin Alzo von kampfe, von der Juden rechte von morgingabe von Gerade, von heergewete, von museteil […] vnd von vil andern sachin, dy sich im lande zcu prusin jn keyne noetdorf zcien und irlowffin47. Es handelt sich also um eine Umarbeitung, die die IX Bücher an die preußischen Verhältnisse anpassen möchte. Die Artikel 15 und 16 des neunten Buches entfielen denn auch gänzlich in dieser Redaktion. Die Themen Hergewedde und Gerade beispielsweise erübrigten sich, weil das Kulmer Recht in Anlehnung an flämisches und schlesisches Recht Söhne und Töchter im Erbrecht gleichstellte. Die Tatsache, dass kein Bedarf bestand, jüdisches Recht in diese spezifisch preußische Version des Textes aufzunehmen, stellt uns wieder vor das Ausgangsproblem: Gab es keine Juden, auf die man das Recht hätte anwenden können – schließlich handelt es sich um eine Redaktion aus Königsberg, also sehr viel weiter entfernt von den oben genannten polnischen jüdischen Gemeinden? Galten abweichende Bestimmungen? Oder existierte gar eine rechtliche Gleichheit von Juden und Christen, die diese Artikel obsolet machten? Guido Kisch hat festgestellt, dass Juden bei allem, was nicht gesondert ausdrücklich für sie geregelt wurde, automatisch „mitgemeint“ waren. Bestimmungen, die also nicht explizit Juden oder Christen unterschieden, hätten demnach beide Gruppen als voll rechtsfähige Personen eingeschlossen. Eine Differenzierung erfolgte laut Kisch lediglich bei speziellen Fragen, die in engem Zusammenhang mit religiösen Belangen standen – etwa dem Eid als bedingter Selbstverfluchung vor Gott.48 Besteht vielleicht auch hierin eine Erklärung für das „Verschwinden“ von Juden in den preußischen Quellen? Waren sie zu gut integriert, um dort genannt zu werden und zu wenige, um eine eigene abgesonderte Gruppe darzustellen? Die wenigen vorhandenen Rechtsquellen zeugen vor allem von dem Versuch, das Zusammenleben von Juden und Christen zu regeln. Die Stadtrechtsquellen nehmen zwar antijüdische Topoi auf, die speziell preußischen Redaktionen weisen jedoch häufig eine Tilgung dieser Passagen auf.

47 Zitiert nach ebd., S. 23. 48 Pacyna (wie Anm. 17), S. 170.

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Schlussbemerkung Die Fragestellung nach Juden in Preußen lässt sich einbetten in die übergeordnete Frage nach Juden im Ostseeraum insgesamt.49 In jüngerer Zeit hat sich etwa Jan Lokers der Frage der postulierten Judenfeindlichkeit des Hanseraumes zugewandt. Dies stellt eine interessante Parallele dar zur vermeintlichen Judenfeindlichkeit des Deutschen Ordens. Für den Hanseraum konstatierte er, dass hansische Binnenstädte wie Braunschweig, Magdeburg oder insbesondere Köln durchaus über große jüdische Gemeinden verfügt hätten. In den Küstenstädten fände man eher kleinere Gruppen von Juden. Abschließend fragt Lokers, ob es sich hierbei um eine Auswirkung von etablierten Wirtschaftsstrukturen handelt, von unterschiedlichen Formen der Kreditfinanzierung oder von abweichenden Organisationsformen im Land- und Seehandel.50 Insgesamt kann ein großer Nachholbedarf der Forschung bei der Frage der jüdischen Geschichte im Ostseeraum und speziell in Preußen konstatiert werden. In diesem Beitrag konnten nur Wege aufgezeigt und spezielle Forschungsansätze andiskutiert werden. Es ist jedoch unseres Erachtens wichtig, die Aufmerksamkeit von Forscher*innen wieder neu auf diese Frage zu lenken, damit sie beim Quellenstudium aufmerksam werden auf mögliche Spuren jüdischen Lebens. Allzu lange haben Grundannahmen die Forschung implizit geprägt, die von einer als notwendig und unausweichlich angesehenen Feindschaft zwischen christlichen und nicht-christlichen Bevölkerungsgruppen ausgingen.

49 Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, in dem Anders Andrén eine Neubewertung existierender archäologischer Quellen für den skandinavischen und norddeutschen Raum vornehmen wollte, hat keine relevanten Ergebnisse gebracht. Vgl. den Abschlussbericht von Mats Roslund, „Böckernas Folk“ – islamiska och judiska perspektiv på medeltidens Europa, abrufbar unter https://www.rj.se/anslag/2012/bockernas-folk-islamiska-och-judiska-per spektiv-pa-medeltidens-europa. 50 Jan Lokers, Men bedervet erer ok nicht? Juden in Hansestädten. Probleme und Perspektiven der Forschung, in Am Rande der Hanse, hrsg. Klaus Krüger, Andreas Ranft, Stephan Selzer (Hansische Studien, 22), Trier 2012, S. 105–133.

Digital Humanities

Sebastian Kubon

Der Deutsche Orden in den Sozialen Medien – Hinführung zum living article www.derdeutscheordenimnetz.de

Muss der Deutsche Orden als „halb-vergessene Antiquität“1 betrachtet werden? Aus den Schulbüchern in Deutschland ist er jedenfalls längst verschwunden und auch an den deutschen Universitäten muss die Beschäftigung mit diesem Thema mittlerweile leider wohl eher als eine Liebhaberei betrachtet werden. Dennoch ist weiterhin eine rege Produktion an wissenschaftlicher Literatur und Sachbüchern zu diesem Thema zu beobachten, herrscht z. B. an aktuellen Überblickswerken – im Gegensatz zu vor 20 Jahren – in verschiedenen Sprachen kein Mangel mehr.2 In der Gutenberg-Galaxis ist der Deutsche Orden also weiterhin fest etabliert. Jedoch: Auch im Internet und genauer in den verschiedenen Sozialen Medien (im weitesten Sinne) findet Geschichte statt. Beiträge zum Deutschen Orden finden sich nunmehr auch dort in mannigfaltigster Form und Ausprägung. Nun könnte man beklagen, wäre man ein laudator temporis acti, dass für die (akademische) Jugend – horribile dictu – offensichtlich nicht die Frage ist, welche der angesprochenen Einführungswerke aus der Leihbücherei oder besser noch der örtlichen Staatsbibliothek ausgeliehen werden, sondern eher, welche der Sozialen Medien genutzt werden, um sich auch über dieses Thema zu informieren oder – auch das soll es geben – sich unterhalten zu lassen in einer Art ‚Edutainment‘. Dieser Umstand ist allerdings weniger beklagenswert, sondern vielmehr positiv zu werten, zeigt er doch, dass der Deutsche Orden in der Turing-Galaxis angekommen ist und das Verdikt einer „halb-vergessene(n) Antiquität“ deutlich zu harsch wäre. Prima vista finden sich in den Sozialen Medien dabei einige zunächst eher skurril anmutende Suchergebnisse. Es soll jedoch im Folgenden keineswegs nur eine Art Blütenlese aus den Tiefen des Internets betrieben werden, ist doch 1 So das Diktum zur Hanse von Georg Sartorius aus dem Jahre 1795. 2 An dieser Stelle sei nur der Band von Jürgen Sarnowsky selbst hervorgehoben, der eine ebenso knappe wie konzise Einführung in die Geschichte des Deutschen Ordens bietet und neuerdings sein Buch über die geistlichen Ritterorden, in dem der Deutsche Orden natürlich eine prominente Rolle spielt: Jürgen Sarnowsky, Der Deutsche Orden, München 2007; ders., Die geistlichen Ritterorden. Anfänge – Strukturen – Wirkungen, Stuttgart 2018.

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letztlich das Ziel der Beschäftigung mit den Geschichtsproduktionen und -rezeptionen, die sich in den Sozialen Medien finden lassen, auf die – trotz aller sich auf den ersten Blick vielleicht einstellenden Irritationen – Potentiale und die möglichen Forschungsperspektiven, die sich aus der gründlichen Analyse (vielleicht gerade) solcher Beiträge ergeben könnten, hinzuweisen. Dieser Beitrag hat dabei nicht zuletzt eine an den klassischen Historischen Grundwissenschaften ausgerichtete Perspektive, wenn neben die dort etablierten Disziplinen weitere digitale Geschichtssorten3 als gleichberechtigte Untersuchungsgegenstände gestellt werden sollen, mit der Aufforderung an die allgemeine Geschichtswissenschaft – die Geschichtsdidaktik hat manchen Themen hingegen schon mehr Aufmerksamkeit gewidmet – sich mit diesen zu beschäftigen und nicht erst abzuwarten, bis bspw. Twitter gedruckt vorliegt. Fragen, wie z. B. Geschichte mit und auf Münzen distribuiert wurde und wird, unterscheiden sich strukturell und in ihrer historischen Bedeutung kaum von den Fragen, wie dies z. B. auf Instagram geschieht, wenn die spezifischen Eigenlogiken dieser Medien der Geschichte bzw. Geschichtssorten zum Gegenstand der Untersuchung erhoben werden. Hier die medienspezifischen Besonderheiten zu fassen und für die historische Analyse nutzbar zu machen, muss Aufgabe von modern aufgefassten Historischen Grundwissenschaften und einer theoretisch fundierten Public History sein. Das ist aber angesichts der kaum vorhandenen Vorarbeiten in diesem Bereich nicht im Rahmen eines Festschriftbeitrags zu leisten. Es geht hier vielmehr darum, an einem spezifischen Fallbeispiel, dem Deutschen Orden, Geschichtsproduktionen, die sich in verschiedenen Sozialen Medien zu diesem Thema finden, zu sammeln und erste Gedanken dazu zur Diskussion zu stellen. Die zentrale Fragestellung ist dabei folgende: Wo wird auf den Deutschen Orden in den verschiedenen Medien rekurriert? Hier soll zunächst eine Auswahl vorgestellt werden, die interessante Einsichten bieten kann. Mit den Sozialen Medien (im weitesten Sinne) der Stunde Twitter,4 Instagram, TikTok und Pinterest soll ein Anfang gemacht werden. Daran anknüpfend soll anhand der Funde reflektiert werden a) welches Bild vom Deutschen Orden und seiner Geschichte dort evoziert wird und b) welche Erkenntnismöglichkeiten sich für Konsument*innen und Historiker*innen in diesen Medien bieten. Hier wird daher eine tour de force durch unwegsames und kaum betretenes Terrain – ähnlich der litauischen Wildnis am Rande des mittelalterlichen Preußenlandes – gewagt, in der sich die Historischen Grundwissenschaften in moderner Ausrichtung mit der in 3 Vgl. zu diesem Konzept Thorsten Logge, Geschichtssorten als Gegenstand einer forschungsorientierten Public History, in: Public History Weekly 6 (2018) 24, DOI: dx.doi.org/10.1515/phw2018-12328 [letzter Zugriff 29. 06.2020]. 4 Jürgen Sarnowsky ist auch auf Twitter unter dem handle @Caoursin aktiv. Dort veröffentlicht er u. a. Kurzregesten der Urkunden der Threse des Staatsarchivs Hamburg.

Der Deutsche Orden in den Sozialen Medien

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Deutschland sich erst langsam etablierenden Disziplin Public History am spezifischen Fallbeispiel des Deutschen Ordens verbinden. Es wäre natürlich absurd, wenn eine solches Unterfangen dem sogenannten „Papierdigma“5 verhaftet bleiben müsste und nur Links in die Anmerkungen gesetzt würden, die dann aber nicht einfach angeklickt werden könnten, sondern abgeschrieben werden müssten, sodass als Ausweg für eine solche Situation nur die dichte Beschreibung der entsprechenden Fundstücke aus den Sozialen Medien bliebe, die die eigene Anschauung aber natürlich nicht wirklich ersetzte. Man müsste in einem solchen Fall eine Schere zwischen methodischem Anspruch und Eigenlogik des untersuchten Gegenstandes konstatieren. Schließlich hat der Untersuchungsgegenstand bekanntlich immer eine ihm eigene Methode. In diesem Fall liegt daher eine hybride Herangehensweise nahe: Nach dieser begründenden Hinführung zum Thema wird der Analyseteil inklusive Methodik dieses Beitrags zu Geschichte in den Sozialen Medien ins Netz selbst verlagert. Hier soll dann ein living article entstehen, der auch später noch sukzessive ergänzt wird und der auch weitere Erscheinungsformen von der Geschichte des Deutschen Ordens in den anderen, oben nicht genannten Sozialen Medien berücksichtigen kann. Dies entspricht auch dem Vorgehen, das Jürgen Sarnowsky selbst vielfach gewählt hat, präsentiert er doch schon seit vielen Jahren geisteswissenschaftliche Inhalte im Internet, sobald der Gegenstand dies nahelegt. Auch hybride Verfahren, in denen Teilergebnisse von historischer Forschung digital im Netz und andere Teile in klassisch analoger Form erscheinen, sind bei ihm ein schon seit langem bewährtes Vorgehen (vgl. u. a. das Virtuelle Preußische Urkundenbuch und das Virtuelle Hamburgische Urkundenbuch).6 Ein solches in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft leider immer noch nicht alltägliches Verfahren soll mit diesem Beitrag erprobt werden.7 Der Analyseteil dieses Artikels findet sich unter der Adresse www.derdeutscheordenimnetz.de. Diese Seite wird zum 65. Geburtstag des durch die Festschrift Gefeierten am 16. 11. 2020 freigeschaltet.

5 Vgl. zur Herkunft des Begriffs Martin Warnke, Theorien des Internet zur Einführung, Hamburg 2011, S. 152. 6 http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkundenbuch/ [letzter Zugriff 29. 06. 2020]; http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/hamburgisches_ub/HambUB.html [letzter Zugriff 29. 06. 2020]. 7 Als hervorragendes Beispiel für dieses Verfahren sei genannt Ina Serif, Der zerstreute Chronist. Zur Überlieferung der deutschsprachigen Chronik Jakob Twingers von Königshofen, in: Mittelalter. Interdisziplinäre Forschung und Rezeptionsgeschichte, 5. Dezember 2015, Stand 11. Oktober 2019, http://mittelalter.hypotheses.org/7063 [letzter Zugriff 01. 07. 2020].

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Sebastian Kubon

Annika Souhr-Könighaus

Digital History – eine lohnende Perspektive auch für die Geschichte des Ordenslandes Preußen?

Digitalisierung, digitale Vernetzung und digitale Bereitstellung von Wissen sind in den letzten Jahren zu zentralen Schlagworten und Forderungen in den Geisteswissenschaften geworden. Mithin wurde die Digitalisierung auch als „ubiquitäres Phänomen“1 bezeichnet. Nicht zuletzt der Verband der Historiker und Historikerinnen befasst sich in der Arbeitsgemeinschaft Digitale Geschichtswissenschaft mit der Frage, wie „die Potenziale der Digital Humanities bzw. eHumanities zu vermessen, zu nutzen und sichtbar zu machen sind“2, und auch unter Archivaren und Archivarinnen wird intensiv darüber diskutiert, was der sogenannte Digital Turn für die Arbeit der Archive bedeute.3 Dabei reichen die zu diesem Thema geführten Diskurse von „digitalen Heilserwartungen“4 für die Geschichtswissenschaft bis hin zu der simpleren Frage, wie Wissen und Forschung digital und global verbreitet und vernetzt werden können. Dementsprechend handelt es sich bei dem Begriff „Digital Humanities“ um einen komplexen und vielseitig interpretierbaren Begriff. Ein umfängliches theoretisches Gerüst lässt sich aus der Fülle an Umschreibungen 1 Rüdiger Hohls, Digital Humanities und digitale Geschichtswissenschaften, in: Clio Guide – Ein Handbuch zu digitalen Ressourcen für die Geschichtswissenschaften, hrsg. Laura Busse u. a. (Historisches Forum, 23), 2., erw. und aktualisierte Auflage, S. A.1–1–B.1–34, DOI: 10.18452/19244, hier: S. 1 A, auch veröffentlicht unter https://guides.clio-online.de/guides/ar beitsformen-und-techniken/digital-humanities/2018 (Stand: 2019) [letzter Zugriff: 2019–04– 30]. 2 Vgl. hierzu die Beschreibung der AG Digitale Geschichtswissenschaft auf der Homepage des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands unter https://www.historikerver band.de//arbeitsgruppen/ag-digitale-gw.html [letzter Zugriff: 2019–04–26]. 3 Vgl. dazu das Schwerpunktthema einer jüngeren Ausgabe des Archivars: Der Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 71,1 (2018) sowie den Tagungsband des 85. Deutschen Archivtags 2015: Transformation ins Digitale. 85. Deutscher Archivtag 2015 in Karlsruhe, Red. Monika Storm in Verbindung mit Eberhard Fritz u. a. (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 20), Fulda 2017. 4 Jan Hodel, Rez. zu Digital Humanities, hrsg. David Gugerli, Zürich 2013, in: H-Soz-Kult, 20. 05. 2014, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-2176 [letzter Zugriff: 2019– 03–10].

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Annika Souhr-Könighaus

und Anwendungsfällen bisher nur schwer ableiten,5 und dies hat zur Folge, dass „viele Historikerinnen und Historiker […] sich nicht eingehender damit [mit den Digital Humanities] beschäftigen, weil vieles an diesem Thema unklar, diffus und unbekannt erscheint.“6 „Hinzu kommt, dass die Einstiegshürden in viele Anwendungsfelder der Digital Humanities […] immer noch hoch“7 sind und sich computerbasierte Verfahren, wie z. B. eine computergestützte Hermeneutik, in der Geschichtswissenschaft noch längst nicht etabliert zu haben scheinen.8 Möchte man Digital Humanities dennoch definieren, kann man einem Ansatz von Guido Koller folgen, der die Diskussionen und Ansätze zu dieser Thematik in seiner 2016 vorgelegten Darstellung präzise zusammenfasst und die Digital Humanities wie folgt beschreibt: „Wenn wir den Einsatz von Computern, den Gebrauch von automatisierten Methoden und die Bearbeitung digitaler Objekte wie Daten, Dokumenten, Bildern oder Tönen in den Geisteswissenschaften kombinieren, erhalten wir eine Umschreibung für den Begriff der Digital Humanities. Er bezeichnet also ein wissenschaftliches Praxisfeld, das sich gegenwärtig aus der Verbindung von traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden einerseits und digitalen, informationstechnischen Verfahren andererseits entwickelt.“9

Digital History umschreibt Koller demgegenüber als ein Praxisfeld, das auf den „Gebrauch digitaler Medien und computergestützter analytischer Verfahren für die Produktion und Vermittlung historischer Forschungsergebnisse“ abstelle, sich an den Methoden der Digital Humanities orientiere und auf Vorläufern in der Fachinformatik, den Informationswissenschaften und der Computerlinguistik begründet sei.10

5 Guido Koller, Geschichte digital. Historische Welten neu vermessen. Stuttgart 2016, S. 11. Die Literatur zu diesem Thema ist ebenso umfangreich. Da es hier nicht darum gehen soll, diese zu skizzieren oder aus den verschiedenen Ansätzen ein theoretisches Modell abzuleiten, kann für den Forschungsstand an dieser Stelle auf die gute Darstellung und die Zusammenfassung bei Koller, Geschichte, verwiesen werden. Hilfreich ist ebenfalls die auf dem von Jörg Wettlaufer betreuten Blog digihum.de zusammengestellte Bibliographie aus dem Bereich Digital Humanities/e-Humanities für die historische Forschung vgl. digihum.de, http://digihum.de/digihist [letzter Stand: 2019–05–01]. 6 Pascal Föhr, Rez. zu Guido Koller, Geschichte digital. Historische Welten neu vermessen, Stuttgart 2016, in: H-Soz-Kult, 21. 03. 2019, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbue cher-26116 [letzter Zugriff: 2019–04–26]. 7 Michael Zozmann, De regimine principum 2.0. Zur Anwendung von Methoden der Digital Humanities in der Mediävistik am Beispiel einer semantischen Untersuchung von zwei Fürstenspiegeln aus der Zeit um 1300, Diss. Universität Bielefeld 2018, S. 5, veröffentlicht unter https://pub.uni-bielefeld.de/record/2920835 [letzter Zugriff: 2019–04–27]. 8 Vgl. Zozmann, De regimine (wie Anm. 7), S. 5. 9 Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 10f. 10 Ebd., S. 11.

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Demnach basiert eine Digitale Geschichtswissenschaft sowohl auf einer ITgestützten Analyse zur Erforschung historischer Fragestellungen als auch auf einer auf digitalen Medien basierenden Vermittlung und Verbreitung von Forschungsergebnissen. Entsprechend lässt sich unter Digital Humanities auch die Verbreitung von Wissen über Blogs und Social Media11 subsumieren oder der Einsatz von Online-Tutorials fassen. Die zentralen Anwendungsfälle einer digitalen Geschichtswissenschaft bestehen gegenwärtig vor allem im Erfassen, Aufbereiten, Vernetzen und Vermitteln von Quellen im Internet (auch interdisziplinär).12 Mit der digitalen Bereitstellung von Quellen und Wissen im Netz geht eine immer schnellere Verbreitung von Forschungsergebnissen einher. Dies wiederum bedingt, dass neben der kleineren Forschungsgemeinschaft zunehmend auch ein breiteres Publikum erreicht wird und die Kommunikation über Geschichte auch über soziale Netzwerke und Blogs13 und insofern öffentlicher vollzogen wird. Ein sehr gutes Beispiel für den großen Nutzen eines auch über Blogs und Tweets vollzogenen Austausches bietet nicht zuletzt der Digital Humanities Blog digihum.de.14 Neben einschlägiger Literatur zum Thema werden dort u. a. Informationen über Workshops, Tagungen und Projekte geteilt und bereits entwickelte tools der Digital Humanities beschrieben und verlinkt.15 Für die Geschichtswissenschaft sind neben der digitalen Zugänglichkeit von Archivgut im Internet auch digitale Editionen von besonderem Interesse, da sie, wie Michael Bender in seiner Dissertation zutreffend betont, die „erweiterten Erschließungsmöglichkeiten des digitalen Mediums nutzen“.16 Auch wenn sich computergestützte Analyseverfahren in der Geschichtswissenschaft noch nicht durchgesetzt haben (obschon in zunehmendem Maße mit digitalen Quellen und digitalen Hilfsmitteln gearbeitet wird), wurde bereits verschiedentlich geprüft, inwiefern der ‚Digital Turn‘ die traditionellen Forschungsmethoden verändern könnte17 oder, etwas vorsichtiger formuliert, inwiefern digitale Techniken die klassische Quellenarbeit unterstützen oder verändern. Pascal Föhr etwa hat sich in seiner Dissertation mit Fragen der Histo-

11 Vgl. aus diesem breiten Spektrum exemplarisch Thomas Wolf, Blogs in deutschen Archiven. Ein kommentierter Überblick, in: Der Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 71 (2018), S. 37– 40 oder Andrea Rönz, Social Media in deutschsprachigen Archiven – Der momentane Stand der Dinge, in: Der Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 71 (2018), S. 41–43. 12 So auch Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 11 und 64. 13 Vgl. oben Anm. 11. 14 Vgl. digihum.de, http://digihum.de [Letzter Zugriff: 2019–05–01]. 15 Vgl. http://digihum.de/tools [Letzter Zugriff: 2019–05–01]. 16 Michael Bender, Forschungsumgebungen in den Digital Humanities: Nutzerbedarf, Wissenstransfer, Textualität, Berlin 2016, S. 39. 17 Vgl. dazu auch Digital Humanities, hrsg. David Gugerli u. a., Zürich 2013.

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rischen Quellenkritik im digitalen Zeitalter beschäftigt,18 und nicht zuletzt Michael Zozmann hat anhand der Auswertung zweier Fürstenspiegel aus der Zeit um 1300 untersucht, welche neuen Auswertungsmöglichkeiten sich aus digitalisiert vorliegenden Quellen ergeben.19 Hierzu zählen u. a. die Quantifizierung von Wortwendungen zur Identifikation einschlägiger Textpassagen sowie die Erfassung einzelner Sätze und Suchbegriffe zur Fokussierung semantischer Zusammenhänge einschließlich der jeweiligen Visualisierung.20 Daneben befanden sich bereits technische Verfahren zur Umsetzung einer digitalen Paläographie im Einsatz.21 Wie eingangs bereits erwähnt, beschäftigen sich auch die Archive als diejenigen Gedächtnisinstitutionen, die den gesetzlichen Auftrag haben, Archivgut dauerhaft zu sichern und zugänglich zu machen, zunehmend mit Fragen der digitalen Bereitstellung von Quellen und der damit einhergehenden Wissensvermittlung.22 Ein wichtiges Thema bilden dabei u. a. Fragen zur ‚Digitalität‘, das Konzept ‚der Offenen Archive,‘23 Formen der Vernetzung, „eine Erinnerungskultur, die sich des digitalen Mediums bedient“,24 oder auch Erschließungsstandards und Normdateien.25 Was bedeutet all dies für die Erforschung des Ordenslandes Preußen? Inwieweit lässt sich die Annahme von Guido Koller, dass es in der Geschichtswissenschaft künftig darum gehen werde, „historische Welten digital zu vermessen und digital zu interpretieren“,26 auch auf das Ordensland Preußen übertragen? Dies ist keine neue Frage. Denn auch für die Überlieferung des Deutschen Ordens wurde schon verschiedentlich die Frage gestellt, inwiefern die Nutzung digitalisierter Quellen zu neuen Perspektiven und Ansätzen zur Er18 Vgl. Pascal Föhr, Historische Quellenkritik im Digitalen Zeitalter, Diss. Universität Basel 2018, veröffentlicht unter https://edoc.unibas.ch/64111/1/Föhr_Pascal-Historische_Quellen kritik_im_Digitalen_Zeitalter-2018.pdf [letzter Zugriff: 2019–04–26]. 19 Vgl. Zozmann, De regimine (wie Anm. 7). Vgl. ebd. für weitere einschlägige Literatur zur Anwendung computergestützter Analyseverfahren. 20 Vgl. ebd., S. 230f. 21 Vgl. zu den Chancen, insbesondere aber auch zu den noch bestehenden Grenzen der digitalen Paläographie Thorsten Schlauwitz, Das päpstliche Kanzleiwesen im 12. Jahrhundert. Automatische Schreiberidentifizierung in der praktischen Anwendung, in: Papstgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue Zugangsweisen zu einer Kulturgeschichte Europas, hrsg. Klaus Herbers, Viktoria Trenkle (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 85), Köln, Weimar, Wien 2018, S. 69–93. 22 Vgl. oben Anm. 3. 23 Vgl. u. a. Bastian Gillner, Offene Archive: Archive, Nutzer und Technologie im Miteinander, in: Der Archivar. Zeitschrift für Archivwesen 71,1 (2018), S. 13–21. 24 Gabriele Stüber, Schöne neue Archivwelt? Chancen und Risiken digitaler Wahrnehmung, in: Transformation, Red. Storm (wie Anm. 3), S. 159–168, hier: S. 166. 25 Vgl. Karsten Kühnel, Funktionen als Räume für institutionelle Episoden – Normdateien nach ISDF, in: Transformation, Red. Storm (wie Anm. 3), S. 159–168, 135–151. 26 Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 7.

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forschung der Geschichte des Deutschen Ordens führen könnte. Zum Beispiel wurden Perspektiven für den Einsatz der Digital Humanities bei der Edition von Amtsbüchern beschrieben,27 und im Rahmen einer am Staatsarchiv Ludwigsburg abgehaltenen internationalen Tagung im Jahr 2013 wurden die Digitalisierung von Quellen zur Geschichte des Deutschen Ordens und Facetten eines auf dieser Grundlage möglichen virtuellen Archivs beleuchtet.28 Exemplarisch hervorgehoben sei der Beitrag von Georg Vogeler zu den Potentialen einer digitalen Diplomatik des Deutschen Ordens.29 Darauf aufbauend soll auch im Folgenden skizziert werden, inwiefern Ansätze und Fragestellungen aus dem Bereich der Digital Humanities für die preußische Landesgeschichte lohnend sein könnten. Welche Bereiche der Geschichte des Ordenslandes ließen sich ggf. tatsächlich neu vermessen, welche Perspektiven können beschrieben werden? Da digitale Ansätze nur dann zur Anwendung kommen können, wenn eine digitale Infrastruktur, sprich digitalisierte Quellen und durchsuchbare Editionen, zur Verfügung stehen, soll dabei ein wesentlicher Schwerpunkt auf der Frage liegen, welche Voraussetzungen hierfür bereits geschaffen wurden. In einem ersten Schritt soll daher dargestellt werden, welche digitalen Angebote für die Erforschung des Ordenslandes Preußen bereits zur Verfügung stehen. Darauf aufbauend soll dann der vorsichtige Versuch unternommen werden, Perspektiven der Digital Humanities für die Erforschung der Geschichte des mittelalterlichen Preußen zu beschreiben. Dabei wird ausdrücklich nicht der Anspruch erhoben, theoretische Ansätze für eine Digitale Geschichte Preußens zu entwickeln oder aus der Fülle an theoretischen Angeboten ein adäquates Analysemodell zur computergestützten Interpretation der preußischen Landesgeschichte zu entwerfen. Im Wesentlichen soll es sich um eine Sachstandanalyse handeln, die ausblickend einige Ideen für eine digitale Geschichte des Ordenslandes zu skizieren versucht.

27 Vgl. Cordula Franzke, Joachim Laczny, Digital Humanities und eine Edition von Amtsbüchern – Die Verwaltungstätigkeit des Deutschen Ordens im ländlichen Raum Preußens, in: Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des späten Mittelalters, hrsg. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia, 16), Göttingen 2016, S. 91–105. 28 Vgl. dazu Das „Virtuelle Archiv des Deutschen Ordens“: Beiträge einer internationalen Tagung im Staatsarchiv Ludwigsburg am 11. und 12. April 2013, hrsg. Maria Magdalena Rückert, Stuttgart 2014. 29 Georg Vogeler, Potentiale und Desiderate einer digitalen Diplomatik des Deutschen Ordens, in: Archiv, hrsg. Rückert (wie Anm. 28), S. 19–35.

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Zum Sachstand der digitalen Infrastruktur für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Preußens

Auf der Suche nach digitalisierten Quellen zur mittelalterlichen Geschichte des Deutschen Ordens wird man schnell fündig. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Plattform Monasterium (www.monasterium.net)30, auf der archiv- und länderübergreifend Urkundenbestände verschiedener Provenienz zugänglich gemacht werden. Mit der „Sammlung Deutscher Orden“ wurde hier der Versuch unternommen, „das weit zerstreute Zentralarchiv des Deutschen Ordens zumindest auf virtueller Ebene zusammenzuführen.“31 Ein verdichtetes digitales Angebot zur preußischen Geschichte im Mittelalter wurde auf dem von Jürgen Sarnowsky erarbeiteten Open-Access-Portal zur Landesgeschichte Ost- und Westpreußens zusammengestellt. Es handelt sich hierbei um ein Projekt der Arbeitsstelle für die digitale Edition mittelalterlicher Quellen/des Zentrums „Geisteswissenschaften in der digitalen Welt“ an der Universität Hamburg.32 Neben ausgewählter Forschungsliteratur, Digitalisaten des Pomesanischen Urkundenbuchs und weiterführenden Links werden dort einschlägige Quellenprojekte frei zugänglich verfügbar gemacht. Besonders hervorzuheben ist das in Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung entstandene Virtuelle Preußische Urkundenbuch. In dieser „virtuellen Fortsetzung des (bis zum Jahr 1371 im Druck vorliegenden) Preußischen Urkundenbuchs“33 werden bereits gedruckte, aber auch bisher ungedruckte Quellen zur preußischen Landesgeschichte auf einem digitalen Quellenportal als Regest oder Edition (kostenlos) zur Verfügung gestellt.34 Im Gegensatz zu anderen Editionsvorhaben, deren langwieriger Bearbeitungsprozess vielfach ein längeres Warten auf die Bereitstellung der Ergebnisse bedingt, bildet das Virtuelle Preußische Urkundenbuch noch keinen endgültigen Stand ab und kann beliebig um weitere Stücke 30 Monasterium.net, https://icar-us.eu/cooperation/online-portals/monasterium-net [letzter Zugriff: 2019–05–12]. 31 Karl Heinz, Die virtuelle Urkundensammlung zum Deutschen Orden im Rahmen von Monasterium.Net, in: Archiv, hrsg. Rückert (wie Anm. 28), S. 15–18, hier: S. 17. 32 Preußische Landesforschung, https://www.oa.uni-hamburg.de/datenbanken/preussischelandesforschung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 33 Virtuelles Preußisches Urkundenbuch, http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkun denbuch/beschreibung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. Vgl. die Projektbeschreibung ebd. 34 Vgl. zum Virtuellen Preußischen Urkundenbuch auch Jürgen Sarnowsky, Das virtuelle Preußische Urkundenbuch – neue Wege der Kooperation für Internet-Editionen, überholte Fassung in: Mediävistik und Neue Medien, hrsg. Klaus van Eickels u. a., Ostfildern 2004, S. 169–76; aktuelle Fassung in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 19 (2004, erschienen 2005), S. 257–66 sowie Joachim Laczny, Das „Virtuelle Preußische Urkundenbuch“. Eine Zwischenbilanz, in: Archiv, hrsg. Rückert (wie Anm. 28), S. 106–122.

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der unterschiedlichsten Quellengattungen und der verschiedensten Provenienzen erweitert werden.35 So wird es auch als ausdrückliches Ziel ausgewiesen, eine möglichst breite Erfassung „der gedruckten und ungedruckten Quellen zur Geschichte Preußens und des Deutschen Ordens [zu erreichen], auch unter Aufnahme von Rechnungsbüchern, Briefen und weiterem Material.“36 Einen Schwerpunkt der präsentierten Quellen bilden die Bestände des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Daneben finden jedoch auch die Überlieferungen weiterer Archive des In- und Auslands, z. B. des Staatsarchivs Danzig, Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku, des Staatsarchivs Thorn, Archiwum Pan´stwowe w Toruniu, des Public Record Office in London oder des in Privatbesitz befindlichen Gutsarchivs zu Prassen Berücksichtigung.37 Daneben werden einschlägige Editionen in das Angebot integriert. Zu nennen sind hier insbesondere der von Johannes Voigt herausgegebene Codex Diplomaticus Prussicus oder das Hansische Urkundenbuch.38 Der besondere Vorzug dieses digitalen Angebots besteht somit auch darin, dass eine digitale Bereitstellungsform geschaffen wurde, auf der die reichhaltige, geographisch weit verstreute Überlieferung des Ordenslandes verknüpft und zentral sowie orts- und zeitunabhängig zugänglich gemacht werden kann. Auch zahlreiche Quellen, die bereits in älteren, mitunter schwer zugänglichen Zeitschriften veröffentlicht wurden, lassen sich auf diese Weise zentral zusammenführen.39 Technisch umgesetzt wurde das Virtuelle Preußische Urkundenbuch mit statischem HTML.40 Auch wenn heutzutage weiterentwickelte technische Möglichkeiten im Bereich digitaler Editionen und Bereitstellungsformen zur Verfügung stehen (die Onlinefreischaltung des Virtuellen Preußischen Urkundenbuchs erfolgte bereits 1999), „stellt diese Art der Vorgehensweise eine schnelle und verhältnismäßig zuverlässige Bereitstellung der gewünschten Informationen […] sicher.“41 Abhängig von dem perspektivisch tatsächlich erreichten Umfang der auf dem Portal verfügbaren Quellen und letztlich auch 35 Vgl. die Projektbeschreibung unter http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkunden buch/beschreibung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 36 http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkundenbuch/beschreibung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 37 Vgl. dazu die Beschreibung der ausgewählten Archive und Archivalien: http://www.spaetmit telalter.uni-hamburg.de/Urkundenbuch/archivuebersicht.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 38 Vgl. dazu die Projektbeschreibung: http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkunden buch/beschreibung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01] sowie Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 107. 39 Vgl. dazu die Projektbeschreibung: http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Urkunden buch/beschreibung.html (Stand: 2017) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 40 Vgl. zur technischen Realisierung sowie zu bereits vorgenommenen Anpassungen ausführlich Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 106–108. 41 Ebd., S. 108.

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abhängig von der Frage, ob die Quellen mehrheitlich als Regest oder als digitale Edition aufbereitet werden, verspricht eine solche digitale Verknüpfung von Quellen eine gute Voraussetzungen für neue Fragestellungen und neue methodische Herangehensweisen. Einen wichtigen Beitrag zur Forschungsdiskussion über digitale Editionen leistet auch die von Christina Link und Jürgen Sarnowsky im Rahmen eines DFGProjekts realisierte und im Netz angebotene Digitale Edition Die mittelalterlichen Schuld- und Rechnungsbücher des Deutschen Ordens um 1400. Eine synoptische Edition im Internet.42 Kern der Edition bilden die in den Ordensfolianten (OF 141 bis 155) überlieferten Schuld- und Rechnungsbücher der Großschäffereien des Deutschen Ordens sowie des flandrischen Liegers der Königsberger Großschäfferei.43 Neben der Möglichkeit eines strukturierten Sucheinstiegs über den Datenbestand bietet die digitale Technik die Möglichkeit, die sich oft über mehrere Schuldbücher erstreckenden Schulden in einem Datensatz zusammenzufassen, der wiederum auf die einzelnen Einträge in den jeweiligen Folianten verlinkt. Im Gegensatz zu der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Edition von Carl Sattler44 kann die auf dem Fortschreiben von Schulden in mehreren Büchern basierende Arbeitsweise der Schäffer auf diese Weise besser nachvollzogen werden.45 Druckfassungen bleibt dabei lediglich die Möglichkeit, mit Verweisen zu arbeiten. Digitale Techniken hingegen ermöglichen komplexe Verknüpfungen. Im Fall der in Rede stehenden Schuldbücher ermöglichen Verlinkungen die parallele Betrachtung der entsprechenden Einträge, „so dass ein unmittelbarer Vergleich von Veränderungen und Zusätzen sprachlicher wie inhaltlicher Natur möglich wird.“46 Hier wurde bei der technischen Entwicklung auf das Content-ManagementSystem „MyCoRe2.0“ zurückgegriffen, das, wie von Joachim Laczny beschrieben, zwar große Potentiale im Bereich der Nutzungsmöglichkeiten bietet, sich bei der tatsächlichen Umsetzung sowie insbesondere vor dem Hintergrund der nach-

42 Die mittelalterlichen Schuld- und Rechnungsbücher des Deutschen Ordens um 1400. Eine synoptische Edition im Internet, hrsg. Christina Link, Jürgen Sarnowsky, veröffentlicht unter http://www.schuredo.uni-hamburg.de/content/main/proj_descr.xml (Stand: 2009) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. Vgl. auch hier zur technischen Umsetzung, Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 108. 43 Schuld- und Rechnungsbücher, hrsg. Link, Sarnowsky (wie Anm. 42), http://www.schu redo.uni-hamburg.de/content/main/proj_descr.xml (Stand: 2009) [letzter Zugriff: 2020–05– 01]. 44 Vgl. Carl Sattler, Die Handelsrechnungen des Deutschen Ordens, Leipzig 1887. 45 Vgl. Schuld- und Rechnungsbücher, hrsg. Link, Sarnowsky, http://www.schuredo.uni-ham burg.de/content/main/proj_descr.xml (Stand: 2009) [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 46 Ebd.

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haltigen Pflege und Wartung jedoch als außerordentlich aufwendig erwiesen habe.47 Einen anderen Ansatz verfolgt die von der Universitätsbibliothek der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn (Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu) betriebene, EU-geförderte Digitale Bibliothek Kujawsko-Pomorska Biblioteka Cyfrowa.48 Auf dieser Online-Plattform werden keine eigenen digitalen Quelleneditionen oder vergleichbare Forschungsarbeiten umgesetzt, sondern für die Kultur und Geschichte Kujawiens und Pommerellens einschlägige in Druck vorliegende Quelleneditionen, Monografien, Zeitschriften, Standardwerke, Handschriften, Inkunabeln etc. in digitalisierter Form im Internet zugänglich gemacht.49 Insbesondere die im Ausland oftmals nur schwer zugänglichen älteren Fachzeitschriften können so schnell und bequem eingesehen werden. Aber auch gedruckte Editionen wurden digitalisiert und auf diese Weise in das Onlineangebot integriert. Exemplarisch genannt seien die „Acten der Ständetage Preußens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens“,50 aber auch die „Handfesten der Komturei Schlochau“51 oder die von Max Perlbach herausgegebenen Regesten bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts.52 Hervorzuheben ist, dass die Digitalisate nicht nur angezeigt, sondern darüber hinaus über umfangreiche Metadaten, einschließlich Schlagwörtern, strukturiert und erschlossen werden. Selbstverständlich gibt es noch zahlreiche Archivbestände, die von den bisherigen Digitalisierungsbestrebungen noch nicht berücksichtigt werden konnten. Es wurde bereits verschiedentlich darauf hingewiesen, dass zur Erforschung des Deutschen Ordens und des Ordenslandes Preußen eine ausgesprochen umfangreiche Quellenlage zur Verfügung steht, die sich auf zahlreiche Archive in Europa verteilt.53 Trotz zahlreicher Editionen und Regestenwerke sind wichtige Bestände noch nicht über Editionen oder gedruckte Regestenwerke erschlossen.54 Es stellt sich somit die Frage nach digitalen Einstiegsmöglichkeiten für die 47 Vgl. Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 109. 48 Kujawsko-Pomorska Biblioteka Cyfrowa, http://kpbc.umk.pl/dlibra [letzter Zugriff: 2019– 04–28]. 49 Vgl. dazu die Projektbeschreibung: Kujawsko-Pomorska Biblioteka Cyfrowa http://kpbc. umk.pl/dlibra/text?id=library-desc [letzter Zugriff: 2019–04–28]. 50 Acten der Ständetage Preußens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, 5 Bde, hrsg. Max Toeppen, Leipzig 1878–1886. Online verfügbar unter http://kpbc.umk.pl/dlibra/publication? id=9559&from=&dirids=1&tab=1&lp=6&QI= [letzter Zugriff: 2019–01–02]. 51 Handfesten der Komturei Schlochau nebst einigen verwandten Urkunden, für den Druck bearb. und hrsg. Paul Panske, Danzig 1921. 52 Preußische Regesten bis zum Ausgange des dreizehnten Jahrhunderts, hrsg. Max Perlbach, Königsberg 1876. 53 Vgl. dazu Jürgen Sarnowsky, Die Quellen zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen, veröffentlicht unter http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/Landesforschung/Litera tur/Quellen.html [letzter Zugriff: 2020–05–01]. 54 Vgl. ebd. (hier: Editionsvorhaben und Desidarata).

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Nutzung der aus dem Ordensland überlieferten Archivbestände. Einschlägige Bestände zur Geschichte der preußischen Städte sind in den polnischen Staatsarchiven zu Danzig, Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku, und Thorn, Archiwum Pan´stwowe w Toruniu, überliefert. Recherchierbar sind die Bestände beider Archive mit der archivübergreifenden Datenbank szukajwarchiwach.pl. Auch Digitalisate ausgewählter Quellen sind darüber bereits zu erreichen, wie beispielsweise die im Staatsarchiv Danzig überlieferten mittelalterlichen Missivbücher.55 Darüber hinaus finden sich wichtige Quellen städtischer Provenienz aus den genannten Archiven auf einem weiteren Onlineangebot. Im Rahmen des Projekts Preußische Bücher im Internet56 wurden Stadtbücher aus dem Ordensland Preußen als digitale Editionen und mittels Volltextsuche durchsuchbar online zugänglich gemacht. Die Inhalte von 17 städtischen Amtsbüchern sind auf diese Weise öffentlich zugänglich, darunter u. a. Schöffen- und Rechnungsbücher.57 Digitale Angebote bestehen indes nicht nur für die Überlieferungen der preußischen Städte. Für die Geschichte des Deutschen Orden in Preußen findet sich die zentrale Überlieferung im ehemaligen Staatsarchiv Königsberg, dessen Bestände heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz als XX. Hauptabteilung verwahrt werden.58 In letzterem wurde vor einiger Zeit mit der Digitalisierung ausgewählter Bestände begonnen, die nunmehr online in einem Digitalen Forschungssaal unter der Creative Commons-Lizenz BY-SA-NC, unter

55 Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku (weiter APG) 10/300/27 Akta miasta Gdan´ska – Missiva. Vgl. den Auszug aus der Datenbank szukajwarchiwach.pl: https://szukajwarchiwach.pl/10/ 300/27/?q=missiva+XSKANro:t&wynik=17&rpp=15&page=2#tabJednostki [letzter Zugriff: 2019–05–12]. 56 Preußische Bücher im Internet. Ein Projekt der Stiftung für die polnische Wissenschaft und der Wissenschaftlichen Gesellschaft zu Thorn, http://www.ksiegipruskie.bydgoszcz.ap.gov. pl/projekt/de/index.php (Stand: 2010–2011) [letzter Zugriff: 2019–04–30]. 57 Vgl. dazu die Übersicht unter http://www.ksiegipruskie.bydgoszcz.ap.gov.pl/projekt/de/ zrodla.php (Stand: 2010–2011) [letzter Zugriff: 2019–04–30]. Auf die Überlieferungen der weiteren preußischen Städte kann hier nicht weiter eingegangen werden. 58 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, XX. Hauptabteilung Staatsarchiv Königsberg (weiter: GStA PK, XX. HA), Vgl. auch dazu Sarnowsky, Quellen (wie Anm. 53) (hier: Das historische Staatsarchiv Königsberg) sowie Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens: die Ordensfolianten 2a, 2aa und Zusatzmaterial, Mit einem Nachdruck von Kurt Lucas: Das Registerwesen der Hochmeister des Deutschen Ritterordens, maschinenschriftl. Phil. Diss. Königsberg 1921, hrsg. und bearb. Sebastian Kubon, Jürgen Sarnowsky (Beihefte zum Preußischen Urkundenbuch, 1), Göttingen 2012, S. 27–33; Kurt Forstreuter, Das Preußische Staatsarchiv in Königsberg: ein geschichtlicher Rückblick mit einer Übersicht über seine Bestände (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung, 3), Göttingen 1955 sowie Jürgen Sarnowsky, Das Historische Staatsarchiv Königsberg und die Erschließung seiner Bestände, in: Archiv, hrsg. Rückert (wie Anm. 28), S. 93–105.

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Gebrauch des Browser-Webdienstes DFG-Viewer genutzt werden können.59 Aus der XX. Hauptabteilung steht für den Digitalen Forschungssaal bereits der 18 Verzeichnungseinheiten umfassende Bestand Manuskripte60 zur Verfügung. Fasst man die oben kurz skizzierten Diskurse zu dem aufkommenden Forschungsfeld der Digital History zusammen, lassen sich daraus zwei wesentliche Anwendungsfelder ableiten. Erstens die digitale Verbreitung und öffentliche Präsentation von Quellen und Forschungsergebnissen sowie zweitens IT-gestützte Analyseverfahren zur Untersuchung historischer Fragestellungen.61 Mit den beschriebenen digitalen Angeboten, zum Beispiel mit dem der virtuellen Urkundensammlung auf Monasterium.net, dem Virtuellen Preußischen Urkundenbuch, dem Angebot digitaler Quellen auf der Digitalen Bibliothek Kujawsko-Pomorska oder dem Digitalen Forschungssaal des Geheimen Staatsarchivs wurden für die Präsentation und Verbreitung von Quellen zur Geschichte des mittelalterlichen Preußen bereits wichtige Grundlagen im Bereich der technischen Infrastruktur gelegt und ein erster Rahmen für die „Verbindung von traditionellen geisteswissenschaftlichen Methoden einerseits und digitalen, informationstechnischen Verfahren andererseits“62 geschaffen.

2.

Perspektiven der Digital Humanities für die Erforschung des Ordenslandes

Ein Ausbau der digitalen Angebote, die Digitalisierung weiterer Archivbestände und die kontinuierliche Erarbeitung digitaler Editionen wäre für die Erforschung des Ordenslandes zweifelsohne in hohem Maße ertragreich. Dies liegt nicht nur an der ausgesprochen umfangreichen Überlieferung und der mitunter erst randständigen wissenschaftlichen Beachtung einzelner Bestände, sondern nicht zuletzt auch an der weiten geographischen Verteilung der überlieferten Quellen sowie der disparaten Verfügbarkeit bereits vereinzelt vorliegender Editionen (z. B. in älteren Zeitschriften o. ä.).63 Eine Erweiterung der digitalen Angebote würde es darüber hinaus erlauben, einzelne Aspekte der Geschichte des Ordenslandes mit IT-gestützten Analyse59 Vgl. dazu die Seite des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz: https://www.gsta. spk-berlin.de/digitalisierte_archivalien_1612.html (Stand: 2019) [letzter Zugriff: 2019–04– 29]. 60 GStA PK, XX. HA, Msc. 61 Vgl. dazu erneut Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 10f. 62 Ebd., S. 10f. 63 Vgl. Sarnowsky, Quellen (wie Anm. 53) (hier: Editionsvorhaben und Desiderata). Auf die Möglichkeiten der Zusammenführung der Gesamtüberlieferung verweist auch Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 30.

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verfahren zu untersuchen. Auf wichtige Perspektiven und Potentiale wurde diesbezüglich bereits eingegangen. Für die Urkundenüberlieferung des Deutschen Ordens etwa verwies Georg Vogeler auf Methoden der digitalen Diplomatik, z. B. auf eine computergestützte Mustererkennung zur Identifikation von Schreibern,64 auf die Möglichkeit der schnellen Visualisierung65 von Quellen oder auch auf den allgemeinen Vorzug, dass sich Daten über digitale Techniken unterschiedlich darstellen und unter kombinierbaren Suchkriterien recherchieren lassen.66 Auch die Edition von Amtsbüchern wurde bereits im Kontext der Digital Humanities betrachtet. Cordula Franzke und Joachim Laczny verwiesen dabei auf den großen Nutzen der Quelleneditionen in XML, etwa im Sinne verschiedener Möglichkeiten der Nachnutzung oder auch bezüglich des darin begründeten Analysepotentials für unterschiedliche Fragestellungen.67 Überdies wurde auf die Bedeutung Geographischer Informationssysteme zur Ermöglichung topographischer Zu- und Einordnungen im Zusammenhang mit digitalen Beständen eingegangen.68 Neben Urkunden und Amtsbüchern bilden die in verschiedenen Archiven verwahrten Briefbestände eine wichtige Quellengrundlage zur Geschichte des Ordenslandes Preußen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die umfangreichen Empfängerüberlieferungen des Deutschen Ordens69 und der großen preußischen Städte Danzig und Thorn70 sowie die entsprechenden Registerüberlieferungen.71 64 65 66 67 68 69

Vgl. Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 22f. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. Franzke, Laczny, Digital Humanities (wie Anm. 27), passim. Vgl. ebd. sowie Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 110. GStA PK, XX. HA, Ordensbriefarchiv. In Regesten erschlossen durch Erich Joachim (Bearb.), Regesta Historico-Diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum, 1198–1525, hrsg. Walther Hubatsch, Pars I, Bde 1–3; Pars II, Registerband zu I–II, Göttingen 1948–1973. 70 Die Empfängerüberlieferung der Stadt Thorn wird im Staatsarchiv Thorn (Archiwum Pan´stwowe w Toruniu) Akta Miasta Torunia, Katalog 1 verwahrt. Die Briefe des Deutschen Ordens sind in Regestenform erschlossen. Vgl. dazu Katalog dokumentów i listów krzy´ ski, z˙ackich Archiwum Pan´stwowego w Toruniu, 1 (1251–1454), hrsg. Andrzej Radzimin Janusz Tandecki, Warszawa 1994; Katalog dokumentów i listów krzyz˙ackich oraz dotycza˛cych wojny trzynastoletniej z Archiwum Pan´stwowego w Toruniu, 2 (1454–1510), hrsg. ´ ski, Janusz Tandecki, Warszawa 1998. Die Empfängerüberlieferung der Andrzej Radzimin Stadt Danzig wird im Staatsarchiv Danzig (Archiwum Pan´stwowe w Gdan´sku) verwahrt: Akta miasta Gdan´ska 300 D. Für diese Bestände liegen nach einer Recherche in der oben unter Anm. 55 genannten Recherchedatenbank noch keine Digitalisate vor. Vgl. zu den in Rede ´ ski, Janusz Tandecki, Die Urkunden und stehenden Beständen auch Andrzej Radzimin Briefe des Deutsche Ordens in den polnischen Archiven, in: Archiv, hrsg. Rückert (wie Anm. 28), S. 82–92. 71 Zur Registerüberlieferung des Deutschen Ordens vgl. u. a. Regesten, hrsg. Kubon, Sarnowsky (wie Anm. 58) sowie Regesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens II: die Ordensfolianten 8,9 und Zusatzmaterial. Mit einem Anhang: die Abschriften aus den Brief-

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Für die Darstellung und Auswertung dieser größtenteils noch nicht edierten und teilweise kaum hinreichend erschlossenen Bestände wären digitale Techniken sehr hilfreich. Die „Masse der Überlieferung“72 ließe sich auf diese Weise strukturiert erschließen und präsentieren. Im Rahmen computergestützter Präsentationsformen ließen sich beispielsweise auch die Register- und Empfängerüberlieferungen virtuell zusammenführen und somit neuen inhaltlichen Fragestellungen zuführen. Nicht zuletzt Beziehungen und Netzwerke ließen sich digital gut abbilden und entsprechend unter neuen Gesichtspunkten auswerten. Wege und Schwerpunkte der schriftlichen Kommunikation innerhalb des Ordenslandes wären auf diese Weise visualisierbar.73 Zur Erforschung der aus dem Ordensland überlieferten Korrespondenzbestände wäre der Einsatz computergestützter Auswertungsverfahren sicherlich auch dann vielversprechend, wenn man nicht die rein inhaltliche Auswertung von Briefen in den Vordergrund stellte, sondern eine erweiterte quellenkundliche Analyse und die Briefe dabei als „historische Erscheinung eigenen Rechts“74 verstünde. Durch den gezielten Einsatz computergestützter Verfahren ließen sich z. B. kanzleimäßige Wortwendungen oder Formalismen, Varianten und Abweichungen im Kanzleigebrauch,75 typische Formeln oder Anreden76 leichter erfassen, quantifizieren und im Sinne weiterer Auswertungsmöglichkeiten gezielt visualisieren.77 Das „Regelwerk der Kanzleikorrespondenz“78 ließe sich auf diese Weise besser beschreiben und interpretieren. Weiterführende Fragestellungen könnten auf der Grundlage digital gestützter Verfahren bearbeitet werden.79 Auch im Bereich der inhaltlichen Auswertung ließen sich typische Wendungen und Wortgebräu-

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77 78 79

registern des Folianten APG 300, R/LI, 74, hrsg. und bearb. Sebastian Kubon, Jürgen Sarnowsky, Annika Souhr-Könighaus (Beihefte zum Preußischen Urkundenbuch, 2), Göttingen 2014. Zur Registerüberlieferung der Stadt Danzig vgl. oben Anm. 55. Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 30 für die Urkundenüberlieferung zur Geschichte des Deutschen Ordens. Vgl. ebd. Julian Holzapfl, Kanzleikorrespondenz des späten Mittelalters in Bayern. Schriftlichkeit, Sprache und politische Rhetorik, München 2008, S. 20. Vgl. dazu auch ebd., S. 108. Vgl. allgemein zum Anrede- und Titularwesen des Deutschen Ordens nicht zuletzt Dieter Heckmann, Vom eraftigen zum erwirdigen: Die Selbstdarstellung des Deutschen Ordens im Spiegel der Anreden und Titulaturen (13.–16 Jh.), in: Selbstbild und Selbstverständnis der geistlichen Ritterorden, hrsg. Roman Czaja, Jürgen Sarnowsky (Ordines Militares. Colloquia Torunensia Historica, XIII), Torun´ 2005, S. 219–225. Vgl. auch dazu Zozmann, De regimine (wie Anm. 7), S. 230f. Holzapfl, Kanzleikorrespondenz (wie Anm. 74), S. 108. Das Regelwerk der aus dem Ordensland Preußen überlieferten Briefbestände ist Teil eines Dissertationsprojekts der Verfasserin (Arbeitstitel: „Briefliche Kommunikation im Ordensland Preußen“). Im Rahmen dieser Arbeit sollen auch Teile der im Staatarchiv Danzig (APG) überlieferten Briefbestände erschlossen und teilweise ediert werden.

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che in den Korrespondenzen zur Fokussierung semantischer Zusammenhänge gezielt erfassen.80 Auch hier böte die Bearbeitung digitalisierter und durchsuchbarer Quellentexte zweifelsohne eine sinnvolle Ergänzung zu der herkömmlichen Textanalyse.81 Dies mag ebenso für die weitere Erforschung der Ordenschronistik gelten. In Anlehnung an die von Michael Zozmann vorgelegte Studie über Fürstenspiegel könnte unter dem angepassten Einsatz IT-gestützter Verfahren geprüft werden, inwiefern durch die gezielte Konzentration auf einzelne Wörter oder Wendungen sowie deren Verteilung in den jeweiligen Textkorpora auch für historiographische Quellen neue Perspektiven und Fragestellungen entstehen könnten.82 Ohne auf die nötigen Werkzeuge hierfür bereits verweisen zu können, erscheint es darüber hinaus lohnend, vielversprechende hilfswissenschaftliche Ansätze im Kontext digitaler Möglichkeiten aufzugreifen. So könnte geprüft werden, ob die von Dieter Heckmann aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten der Datierung deutschsprachiger Quellen mithilfe von Konsonantenhäufungen83 (oder vergleichbare Ansätze) sich computergestützt unterstützen ließen, etwa hinsichtlich der hierfür zu ermittelnden Art, Anzahl oder Wortstellung84 der jeweiligen Konsonantenhäufungen in den Texten, sofern die notwendigen Grundlagen an digitalen Quellen und die erforderlichen technischen Tools zur Verfügung stünden.85 Zu prüfen wäre sicherlich auch, inwiefern die Erforschung des Ordenslandes öffentlicher und diskursiver vollzogen werden könnte, zum Beispiel in Form von Blogs, die in der Historiographie sowohl ein wissenschaftliches als auch ein

80 Hierfür gäbe es mehrere Ansatzpunkte. Exemplarisch genannt seien z. B. die gezielten schriftlichen Rückgriffe des Deutschen Ordens auf die eigenen Ursprünge, deren Häufung mithin als Gradmesser für das Vorhandensein von Krisen gesehen werden kann. Vgl. dazu u. a. Hartmut Boockmann, Johannes Falkenberg, der Deutsche Orden und die polnische Politik (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 45), Göttingen 1975 oder Annika Souhr, „Von jeher fredeschilt der Christenheit“. Rückgriffe auf die eigenen Ursprünge im auswärtigen Schriftverkehr des Deutschen Ordens in Krisenzeiten, in: La mémoire des origines dans les ordres religieux-militaires au Moyen Âge. Die Erinnerung an die eigenen Ursprünge in den geistlichen Ritterorden im Mittelalter (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter, 51), hrsg. Philippe Josserand, Mathieu Olivier, Münster 2012, S. 237–268. 81 Vgl. dazu auch Zozmann, De regimine (wie Anm. 7), S. 233 sowie zum methodischen Vorgehen ebd., S. 235ff. 82 Vgl. ebd., S. 232. Auf die Übertragbarkeit seiner Methode auf andere Fragestellungen verweist der Autor selbst, vgl. ebd. S. 38. 83 Vgl. Dieter Heckmann, Möglichkeiten und Voraussetzungen zur Datierung deutschsprachiger Texte mit Hilfe von Konsonantenhäufungen in: Preußenland 34 (1996), S. 44–47. 84 Ebd., S. 47. 85 Auch Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 30 weist darauf hin, dass die technischen Mittel zur Umsetzung der Digital Humanities noch nicht immer zur Verfügung stehen.

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darüber hinausgehendes Publikum zu erreichen vermögen86 und nicht zuletzt als „Recherche-Journale“87 Verwendung finden könnten. Denn groß angelegte Projekte zur digitalen Onlinebereitstellung großer Archivbestände sind sicherlich nur im Verbund und als Gemeinschaftsarbeit zu realisieren.88 Das oben beschriebene Virtuelle Preußische Urkundenbuch ist hierfür ein gutes Beispiel, da die verfügbaren Daten von zahlreichen Bearbeitern und Bearbeiterinnen (einschließlich studentischer Arbeitsgruppen) erarbeitet wurden.89 Es bleibt daher zu hoffen, dass dieses Projekt auch langfristig die nötige Unterstützung und Beteiligung erfährt und eine Lösung für eine kontinuierliche und nachhaltige Pflege des Datenbestands gewährleistet wird.90 Vergleichbare Projekte, die ihren Schwerpunkt beispielsweise stärker auf die Überlieferung der großen polnischen Staatsarchive Danzig und Thorn legten, wären von ebenso großer Bedeutung. Auch die zahlreichen Quellen, die bereits als Einzelstücke ediert wurden, könnten webbasiert erfasst, chronologisch oder thematisch geordnet und stets „auf dem neuesten Stand gehalten werden“.91 Angesichts der vielseitigen Projekte, die Quellen zur preußischen Geschichte unter Zuhilfenahme webgestützter Technologie zugänglich machen, scheint vor allem eine Bündelung dieser wertvollen Vorhaben wünschenswert, da als Einzellösung realisierte Plattformen und Datenbanken leider dazu neigen, langfristig nicht adäquat gepflegt werden zu können.92 Auf Portalen wie dem der Preußischen Landesforschung93 könnten Quellenpräsentationen mit wissenschaftlichen Forschungsergebnissen angereichert und verknüpft werden. Zahlreiche Bearbeiter und Bearbeiterinnen könnten sich daran beteiligen.94 Es ist dem Vorschlag Georg Vogelers, Urkunden aus verschiedenen Archiven zu einem „Corpus der Urkunden des Deutschen Ordens“ zusammenzuführen, daher unbedingt beizupflichten.95 Ähnlich wie im Falle des Virtuellen Preußischen Urkundenbuchs könnten dabei jedoch nicht nur Urkunden, sondern auch weitere Quellengattungen Berücksichtigung finden. 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 71. Ebd. Vgl. dazu Sarnowsky, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 171. Auf den Wert digitaler Editionsprojekte für die Lehre weist auch Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 110, hin. Zur Problematik der nachhaltigen Sicherung und Pflege des Datenbestands und somit nicht zuletzt zur Zukunft dieses verdienstvollen Projekts vgl. ebd., S. 109f. Sarnowsky, Quellen (wie Anm. 53) (hier: Editionsvorhaben und Desiderata). Vgl. dazu auch Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 68 sowie zur Nachhaltigkeit digitaler Angebote Laczny, Urkundenbuch (wie Anm. 34), S. 109f. Vgl. oben Anm. 32. Für eine entsprechende Bündelung spricht sich auch Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 30, aus und schlägt vor, die „Sammlungen der Urkunden aus Deutschordensarchiven in Monasterum.net zum Kern eines Corpus der Urkunden des Deutschen Ordens“ zu gestalten. Vogeler, Diplomatik (wie Anm. 29), S. 30.

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Wie bereits eingangs beschrieben, handelt es sich bei der Digital History um ein ausgesprochen weites Feld. Zur Entwicklung neuer technischer Tools und einschlägiger „Kompetenz-Sets“96 zur computergestützten Analyse, die tatsächlich als „kognitive Schnittstelle zwischen Menschen, Maschinen und Programmen“97 eingesetzt werden können, wie es Guido Koller beschreibt, bedarf es zweifelsohne größerer, interdisziplinär zusammengesetzter Forschungsgruppen98 und eines hohen Maßes an „experimentelle[m] Denken“.99 Es bleibt zu hoffen, dass diese Entwicklung vor der preußischen Landesgeschichte nicht Halt macht und das große, mitunter noch schwer fassbare Potential der Digital Humanities auch zur weiteren Erforschung des Ordenslandes beizutragen imstande sein möge. Die zur Verfügung stehende Quellenlage und die schon getätigten großen Leistungen beim Aufbau der nötigen digitalen Infrastruktur scheinen hierfür günstige Voraussetzungen zu bilden. Auch für die Erforschung des Ordenslandes Preußen bergen Open Access zu den Quellen und die damit einhergehende „Entgrenzung der Zugänglichkeit“100 eine große Chance. Keinesfalls sollten die Ansätze aus dem Bereich der Digital Humanities jedoch in Konkurrenz, sondern vielmehr in Ergänzung zu den klassischen Methoden der Geschichtswissenschaften verstanden werden.101 Denn für die Erstellung digitaler Editionen ebenso wie für deren Nutzung bleiben Kenntnisse in den historischen Grundwissenschaften von unerlässlicher Bedeutung. Die bereits erarbeiteten Grundlagen für eine digitale Geschichte Preußens sollten an dieser Stelle dargestellt und gewürdigt werden, wobei nicht alle in diesem Bereich bestehenden Angebote berücksichtigt werden konnten. Da Ansätze und Methoden der Digital Humanities für die Erforschung des Deutschen Ordens bereits verschiedentlich zur Anwendung kommen, wurden diese in Auswahl ebenfalls skizziert, bevor abschließend der Versuch unternommen wurde, mit wenigen Beispielen weitere Perspektiven der Digital History für die Geschichte des Ordenslandes in Aussicht zu stellen. Abschließend kann sicherlich auch für die Geschichte des Ordenslandes konstatiert werden, dass in Hinblick auf Verfahren der Digital History vermutlich keine „digitalen Heilserwartungen“102 angebracht sind (oder nötig waren). Ein

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Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 67. Ebd., S. 67. Vgl. dazu auch die Forderung von Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 72. Ebd., S. 67. Eva Schlotheuber, Digitalisierung für wen? Wissenschaft und Archive im Dialog, in: Kompetent! – Archive in der Wissensgesellschaft. 86. Deutscher Archivtag in Koblenz, Red. Monika Storm (Tagungsdokumentationen des Deutschen Archivtags, 21), Fulda 2018, S. 51–54, hier: S. 53. 101 Vgl. ebd. S. 54 sowie ähnlich Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 69. 102 Hodel, Rez. zu Digital Humanities (wie Anm. 4) [letzter Zugriff: 2019–03–10].

Digital History – eine lohnende Perspektive

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„experimentelles Denken“103 mit Blick auf Web-Technologien in Ergänzung klassischer Methoden, gleichsam als „hybride“104 Geschichte, erscheint für die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Preußens jedoch allemal lohnend.

103 Koller, Geschichte (wie Anm. 5), S. 67. 104 Ebd., S. 11.

Rainer Hering

Digital Dark Age – ein neues Mittelalter? Überlieferungssicherung und -interpretation im digitalen Zeitalter

I.

Jürgen Sarnowsky in der digitalen Welt

Der international angesehene Mittelalterhistoriker Jürgen Sarnowsky hat sich privat und akademisch früh für die Veränderungen der digitalen Welt geöffnet und die Chancen dieser neuen Technologie für die Geschichtswissenschaft erkannt. Zu seinen Schwerpunkten zählen neben den geistlichen Ritterorden im mittelalterlichen Europa, den Hanse-, landes-, wirtschafts-, sozial- und stadtgeschichtlichen Forschungen, der Geistes- und Bildungsgeschichte des Mittelalters sowie England im Mittelalter gerade auch Hilfswissenschaften, digitale Edition und e-Learning.1 Bereits seit 1999 leitete er in Kooperation mit der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung und dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, das Projekt Das virtuelle Preußische Urkundenbuch. Für die Jahre von 1382 bis 1525 wird eine auf Veröffentlichungen der ungedruckten Stücke aufbauende Sammlung von Regesten und Volltexten angelegt, die in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern und mit Studierenden zu einer virtuellen Fortsetzung des gedruckten Preußischen Urkundenbuchs führen soll.2 Von 2007 bis 2008 führte Jürgen Sarnowsky das Projekt Die Bereitstellung und Interpretation von Quellen in den Neuen Medien durch, das eine Verbindung zwischen der Arbeit mit den Quellen, dem zentralen Arbeitsgebiet der Geschichtswissenschaft, und den Neuen Medien schuf. Besonders für die grundlegenden Veranstaltungen der Geschichtswissenschaft, aber auch für benachbarte Wissenschaften wurden Module entwickelt, die quellenkritische Aspekte der Geisteswissenschaften vermitteln, parallel dazu medienanalytische Kompetenzen aufbauen und den Studierenden die Möglichkeit zur Anwendung des 1 https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/mittelalter/personen/sarnowsky. html (11. 02. 2019). 2 http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/spaetmittelalter/VirtuellesPreussischesUrkun denbuch.html (14. 02. 2019).

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Erlernten bieten.3 Das von ihm initiierte digitale Hamburgische Urkundenbuch beispielsweise zeigt, dass Editionen so schneller und als Kooperationsprojekte leichter möglich sind – zugleich sind die editorischen Ergebnisse viel unmittelbarer und weltweit kostenfrei greifbar, was die internationale Forschung nachdrücklich fördert.4 Jürgen Sarnowsky ist Gründungsmitglied und Geschäftsführender Direktor des Zentrums Geisteswissenschaften in der digitalen Welt, das seit 2005 als loser, interdisziplinär ausgerichteter Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Hamburg besteht. Es erstrebt eine grundlegende Modernisierung der Geisteswissenschaften durch eine systematische Einführung neuer Methoden und Zugänge mit Hilfe neuer Medien. Dafür ist die methodisch fundierte Auseinandersetzung mit der Präsentation und Nutzung von wissenschaftlichen Inhalten in den Neuen Medien erforderlich. Auch in der akademischen Lehre sollen digitale Medien verstärkt eingesetzt werden.5 Im Jahr 2006 veranstaltete Jürgen Sarnowsky zusammen mit dem Althistoriker Christoph Schäfer und dem Staatsarchiv Hamburg eine Fachtagung zum Thema Forschen in der digitalen Welt, deren Beiträge zeitnah online und im Druck publiziert wurden.6 In diesem Pionierwerk ging es um die historischen Fächer und die digitalen Informationssysteme, Perspektiven der Quellenerschließung, Datenstandards in der Erschließung historischer Dokumente, fachspezifische Indexierung von historischen Dokumenten, digitale Erschließung und Sicherung von aktuellen archäologischen Befunden, digitale Urkundenbücher zur mittelalterlichen Geschichte, Konzepte zur Bereitstellung digitalisierter frühneuzeitlicher Quellen, Archive und ihre Angebote in der digitalen Welt, Informationstransfer zwischen Verwaltung und Wissenschaft, Nutzung von Digitalisaten sowie die Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen. So früh wie nur Wenige hat Jürgen Sarnowsky, der auch studierter Physiker ist, die Chancen der digitalen Welt für sein Fachgebiet erkannt und aktiv umgesetzt.

3 http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/spaetmittelalter/BIQ.html (11. 02. 2019). 4 Jürgen Sarnowsky, Hospitaller Sources – a Project for a Source Book in the Internet, in: International Medieval Research 8 (2002), S. 8–15; ders.: Das virtuelle Hamburgische Urkundenbuch, in: Hansische Geschichtsblätter 123 (2003), S. 192–202. 5 http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/g-dig (14. 2. 2019). 6 Forschung in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen, Tagung des Staatsarchivs Hamburg und des Zentrums „Geisteswissenschaften in der digitalen Welt“ an der Universität Hamburg am 10. und 11. April 2006, hrsg. Rainer Hering u. a. (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, 20), Hamburg 2006. Das Buch ist kostenfrei online zugänglich: http://hup.sub.uni-hamburg.de/voll texte/2008/77/pdf/HamburgUP_HeringEtAl._Forschung.pdf (25. 03. 2019).

Digital Dark Age – ein neues Mittelalter?

II.

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Dark Ages

Jürgen Sarnowskys Forschungsgebiet, das Mittelalter, wird oft als „finsteres“ oder „dunkles“ Zeitalter bezeichnet. Natürlich trifft das nicht zu, auch wenn sich dieses Vorurteil außerhalb der Geschichtswissenschaft nach wie vor hartnäckig hält. Mitverantwortlich sind dafür wohl Einflüsse der Renaissance, die die Antike idealisierte. Mit dem Ausdruck werden, so besagt es der eigene Wikipedia-Artikel Dunkle Jahrhunderte (Mittelalter), „Zeitabschnitte bezeichnet, für die nur wenige Quellen zur Verfügung stehen. Der Mangel an schriftlichen Nachrichten, numismatischen und teilweise auch archäologischen Funden erschwert die historische Erforschung und Bewertung dieser Zeiten.“7 Nun zählen Zukunftsprognosen nicht zu den Aufgaben der Historikerinnen und Historiker, doch stellt sich angesichts der rapide fortschreitenden Digitalisierung die Frage, wie es denn langfristig mit der Überlieferung unserer Gegenwart aussieht. Leben wir in einem Digital Dark Age? Bahnt sich gar ein „neues Mittelalter“ an?

III.

Digitalisierte Gesellschaft

Das digitale Zeitalter, in dem wir leben, prägt alle Bereiche der Gesellschaft, selbstverständlich auch die öffentlichen und privaten Verwaltungen. Die Menschen können immer schneller kommunizieren: Innerhalb von Sekunden schicken sie Texte und Abbildungen, vollständige Bücher und komplette Filme – also Dokumente großen Umfangs – um die ganze Welt. Im Jahr 2017 wurden in jeder Minute 527.000 Snapchat-Fotos verschickt und 3,6 Millionen Google-Suchanfragen durchgeführt, täglich wurden 12 Millionen Petabytes Daten generiert. Zum Vergleich: Diese Datenmenge engspricht dem 2.300-fachen der in der Library of Congress in Washington verwahren Informationen, und das sind nicht wenige: 38,5 Millionen Bücher, 70 Millionen Handschriften, 14,2 Millionen Fotos.8 Unser Alltag ist heute nur noch schwer ohne Computer, E-Mail, SMS und Internet möglich. Das Web ist eine „absolute Verpflichtung, weil es ohne nicht mehr geht“, wie der Philosoph Maurizio Ferraris betont.9 Innerhalb weniger 7 https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkle_Jahrhunderte_(Mittelalter) (26. 12.2018). S. Ulrich Köpf, Mittelalter, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., 5, Tübingen 2002, Sp. 1350–1357. 8 Adrian Lobe, Wir steuern auf ein digitales Dark Age zu, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16. 4. 2018, S. 19; vgl. Digitalisierungsbericht 2015. Digitale Weiten, analoge Inseln – Die Vermessung der Medienwelt, hrsg. Medienanstalten-ALM GbR, Berlin 2015. 9 Maurizio Ferraris, Das Web: Saugt es uns aus – oder saugt es uns auf ?, in: Neue Zürcher Zeitung vom 30. 6. 2018, S. 28f., das Zitat S. 29.

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Jahre hat sich überall auf der Erde eine einschneidende Veränderung vollzogen. Diese hat auch Auswirkungen auf die Überlieferung und deren langfristige Sicherung. Welche Unterlagen, die heute auf Computern, CD-ROMs, USB-Sticks, mobilen Endgeräten und externen Festplatten gespeichert sind, werden in zehn, zwanzig, fünfzig oder einhundert Jahren noch vorhanden und lesbar sein? Und wie werden sie ausgewertet werden können?10 Der Begriff Digitalisierung bezeichnet im Allgemeinen den Prozess der Einführung digitaler Systeme in allen Bereichen der Gesellschaft. Davon zu unterscheiden ist die konkrete Bedeutung des Umwandelns analoger Informationen in digitale Formate. Neben originär digital entstandenen Daten („Born Digitals“) gibt es also auch im Original analog vorliegende digitalisierte Informationen. Die voranschreitende Digitalisierung verändert Arbeitsweisen und Vermittlungsmethoden auch an den Hochschulen sowie gerade in der Archivlandschaft, die vor große Herausforderungen gestellt wird. Sie eröffnet neue Möglichkeiten und Chancen beim Erhalt des kulturellen Erbes, bei dessen Erschließung, Präsentation und Auswertung. Charakteristisch für die Digitalisierung ist, dass die digital vorliegenden Daten informationstechnisch, das heißt auf Basis dafür bereitgestellter technischer Dienstleistungen und Funktionen, verarbeitet werden können. Grundprinzip ist, festgelegte Codes zur Datenübertragung zu benutzen. Bereits seit dem 19. Jahrhundert werden Universalcodes verwendet, zum Beispiel beim Morsen. Die technische Grundlage für die Speicherung und Verarbeitung von Digitaldaten waren unter anderem Flipflop-Schaltung, die Elektronenröhre und der Transistor. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gewannen die immer leistungsfähigeren Mikroprozessoren zentrale Bedeutung.11 Wir haben es also mit einem Übergang und nicht mit einem Neuanfang zu tun.12 Die Auswirkungen dieser technischen Entwicklung sind auch für die Geschichtswissenschaft enorm, weil sie alle Lebensbereiche betrifft und insofern sich die Quellenüberlieferung grundlegend ändert, denn unsere Gegenwart wird schneller als gedacht bereits Vergangenheit – und der Historiker zum Zeitzeugen. Dieser Alterungsprozess ist nicht neu, aber seine (gefühlte) Geschwindigkeit hat in den letzten Jahrzehnten durch den technischen Wandel rapide zugenommen. Diese Veränderungen werden oft auch als „digitale Revolution“ bezeichnet, sie 10 Vgl. nestor Handbuch. Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung, Version 2.0 Juni 2009, hrsg. Heike Neuroth u. a., Boizenburg 2009, bes. Kapitel 8 (o. P.). 11 Einen knappen Überblick zur technischen Entwicklung der Digitalisierung bieten Ulrich Metschies, Als die Daten laufen lernten, in: Kieler Nachrichten Nr. 272 vom 22. 11. 2018, S. 7; George Dyson, Auf die digitale folgt die analoge Revolution, in: Neue Zürcher Zeitung vom 12. 1. 2019, S. 23. 12 Silke Göttsch-Elten, En passant. Zur kulturellen Figur des Übergangs, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 114 (2018), S. 7–24.

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sei „vielleicht eine der größten Umbrüche in der Menschheitsgeschichte, eine regelrechte Zeitenwende“, so der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Martin Stratmann.13 Ein Drittel der Deutschen fühlte sich 2018 durch die immer digitaler werdende Gesellschaft überfordert.14 Anhand einiger Schlaglichter sollen die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen im Blick auf die Quellenlage dargestellt werden: Sprache verändert sich kontinuierlich – und vielfach wird dieser Prozess als Niedergang negativ konnotiert. Bereits Karl Kraus (1874–1936) beklagte vor einem Jahrhundert die aus dem Verlust der Sprachkultur resultierende, geringer werdende Vorstellungskraft der Menschen, die die Auswirkungen von Nachrichten sich nicht mehr vorstellen könnten. Darin sah er eine Ursache für den Ersten Weltkrieg. Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider führt diese Überlegung weiter in die Gegenwart und bedauert, dass die zunehmende Automatisierung vieler Alltagsfunktionen für Menschen nicht mehr nachvollziehbar sei. Die „immer tiefer ins Leben und in den Alltag hinwirkende [sic!] digitale Technologie gibt unserer Vorstellung nichts mehr zu tun.“15 Im digitalen Zeitalter werden immer mehr Informationen generiert und gesammelt, was neben den technischen Möglichkeiten einer wachsenden Überwachungsmentalität und einem Ausbau des Kontroll- und Präventivstaates seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhundert geschuldet ist. Hintergrund ist auch eine gestiegene Terrorgefahr und intensivierte Verbrechungsbekämpfung. Legal werden immer mehr private Daten gesammelt und verknüpft, Profile erstellt und ausgewertet.16 Big Data ist ein zentrales Stichwort – es werden immer größere Datenmengen produziert; genannt seien nur die sozialen Netzwerke, aber auch die Verwaltungen im öffentlichen Bereich wie in der Privatwirtschaft. Zudem werden immer mehr Texte digitalisiert und im Internet angeboten. Sie können für die (historische) Sozialforschung von Interesse sein. Ihr Verständnis und ihre Auswertung erfordern aber ein entsprechendes methodisches Instrumentarium.17 In allen Lebensbereichen entstehen immer mehr Daten, zum Beispiel im Gesundheitsbereich. Bereits im Bereich der Krankenversicherungen besteht ein Trend zu immer größeren Datensammlungen und der Verknüpfung von medizinischen Informationen unterschiedlicher Herkunft zum Beispiel von Ärzten 13 14 15 16

Zitiert nach Ulrich Wilhelm, Ein neuer Wurf, in: Chrismon 3/2019, S. 46f., hier S. 46. www.tagesschau.de/inland/digitalisierung-107.html (18. 4. 2018). Manfred Schneider, Erleben statt Lesen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13. 11. 2018, S. 15. Helmut Stadler, Lasst uns unsere Geheimnisse!, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24. 3. 2018, S. 17. 17 Peter Farago, Big Data für die Sozialforschung nutzen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. 11. 2018, S. 18; Adrian Lobe, Big Data und Big History, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. 5. 2018, S. 21.

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und Krankenhäusern. Das mag für die individuelle Behandlung sinnvoll sein, bietet aber auch andere Auswertungs- und Kontrollmöglichkeiten mit gegebenenfalls repressiven Konsequenzen für einzelne Menschen.18 Darüber hinaus können auch große Konzerne der IT-Branche gesundheitliche Daten sammeln, zum Beispiel über die Apple Watch, die am Handgelenk getragen Schritte und Pulsschlag erfasst. Facebook hat einen Algorithmus entwickelt, der Aussagen in sozialen Netzwerken auf Suizidgefahr hin untersucht. Google hat auf der Basis von Künstlicher Intelligenz eine Software geschaffen, die Krankheitsverläufe und sogar den Todeszeitraum von Patienten bestimmen können soll. Werden Krankheiten so immer früher erkennbar? Werden Menschen dann zu Verhaltensänderungen gedrängt? Das Leben aller Menschen soll noch umfassender digital erfasst werden. Wird das Individuum immer mehr zur Summe seiner Daten? Entsteht so „ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet“, wie Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski vermuten?19 Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf das Menschenbild insgesamt und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das menschliche Leben?20 Algorithmen, die die Wahrnehmung der Menschen steuern sollen, gewinnen immer mehr an Bedeutung. Sie filtern die digitalen Angebote – egal ob Werbung oder Information, ob Nachricht oder Fake –, die die Menschen erreichen, und lernen durch deren Internetverhalten ständig hinzu. Das Flatiron Institute in New York arbeitet sogar an einem perfekten Algorithmus.21 Dadurch wird die Informationswahrnehmung massiv beeinflusst, ohne dass es den Rezipienten bewusst wird. Während man bei einer Tageszeitung oder Zeitschrift die politische Schwerpunktsetzung kennt und so die Beiträge sowie 18 Alexander Sturm, Digitalisierung soll Medizin voranbringen, in: Kieler Nachrichten Nr. 19 vom 23. 1. 2018, S. 6; Digitalisierte Patienten – verkaufte Krankheiten. Elektronische Gesundheitskarte und die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, Köln 2011. 19 Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski, Die App weiss, wann du stirbst, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22. 2. 2019, S. 19 dort das Zitat; Dies., Google vergisst den Regenschirm nie, in: Ebd. vom 18. 3. 2019, S. 19; Stefan Betschon, Künstliche Intelligenz als Idiot savant, in: Neue Zürcher Zeitung vom 20. 3. 2019, S 37. Ein ehemaliger Google-Ingenieur soll sogar eine Kirche der künstliche Intelligenz gegründet haben (Adrian Daub, So glauben sie im Silicon Valley, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1. 2. 2018, S. 19; vgl. Wolfram Klingler, Der neue radikale Maschinenkult, in: Ebd. vom 9. 1. 2018, S. 19). 20 Yvonne Hofstetter, Neue Welt. Macht. Neue Menschen. Wie die Digitalisierung das Menschenbild verändert, in: Der Neue Mensch (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 10247), Bonn 2018, S. 135–150. Vgl. 3TH1CS. Die Ethik der digitalen Zeit, hrsg. Philipp Otto, Eike Gräf (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 10181), Bonn 2018. 21 Sarah Pines, Wo alle Algorithmen zusammenfliessen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1. 3. 2019, S. 21; Cathy O’Neil, Angriff der Algorithmen. Wie sie Wahlen manipulieren, Berufschancen zerstören und unsere Gesundheit gefährden (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 10209), Bonn 2018.

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Kommentare einschätzen kann, ist das im Internet in der Regel nicht der Fall. Algorithmen sorgen dafür, dass immer wieder aus einer bestimmten Richtung Informationen angeboten werden, sodass eine Vielfalt von Meinungen unbemerkt ausgeblendet wird. Darüber hinaus kommen viele Meldungen von USPlattformen, die nicht zwischen wahren und falschen Informationen differenzieren. Die neuen sozialen Medien, in denen jeder Einzelne sehr leicht und schnell Aussagen ohne jegliche inhaltliche Prüfung, wie sie zum Beispiel bei Leserbriefen in Periodika der Fall ist, verbreiten kann, tragen dazu bei, dass die Qualitätsmedien es schwer haben, sich inhaltlich und wirtschaftlich auf dem Markt zu behaupten. Immer weniger Menschen informieren sich durch Printmedien oder Rundfunk- und Fernsehnachrichtensendungen.22 Im Internet-Zeitalter ist das Ringen um die öffentliche Meinungsmacht also unübersichtlicher geworden. Sicherlich hat es in der Geschichte immer auch gezielte Falschmeldungen gegeben. Doch die Vielfalt der Informationskanäle im digitalen Zeitalter, auf denen keine Kontrolle der verbreiteten Fakten mehr erfolgt oder die mit Absicht „alternative Fakten“ bzw. Gerüchte streuen, hat zugenommen. Oft ist es nicht nachvollziehbar, ob eine inhaltliche Prüfung überhaupt stattgefunden hat. Unklar bleibt auch, wie viele Menschen wirklich ein Video angesehen oder eine Botschaft gelesen haben; die gern angegebenen Klickzahlen sind da nicht valide, zumal Follower gekauft werden können und Roboter in der Lage sind, Tweets in großer Masse weiterzuverbreiten und somit die angebliche Reichweite zu verfälschen. Bots haben einen hohen Anteil an der Verbreitung von Unwahrheiten. Auch das kann die Rezeption deutlich verändern.23 Computer werden zu sozial handelnden Subjekten und bestimmen immer mehr die Grenzen menschlichen Handelns. Maschinen kommunizieren mit Maschinen. Die „Digitalisierung der Lebensführung“ lässt das Private öffentlich werden, die Trennung beider Bereiche verschwimmt noch stärker. Gerade junge Menschen werden immer stärker zur Selbstdarstellung und Selbstvermarktung im Internet animiert – dabei steht die „expressive Kompetenz“ im Mittelpunkt. Der Medienwissenschaftler Norbert Bolz spricht in diesem Zusammenhang von „Sozialpornographie“. Der Marktplatz des Mittelalters ist im 21. Jahrhundert die digitale Wolke.24 22 Wilhelm (wie Anm. 13), S. 46f. 23 Rainer Stadler, Viele Halbwahrheiten über Fake-News, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15. 1. 2019, S. 12; Stefan Betschon, Warum Lügen im Internet gut gedeihen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 14. 3. 2018, S. 38f., hier S. 39; Philipp Hübl, Ich mach mir die Welt so, wie sie mir gefällt, in: Neue Zürcher Zeitung vom 29. 3. 2019, S 19. 24 Norbert Bolz, Wir leben bereits in der Maschine, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26. 3. 2018, S. 19. 2018 wurde festgestellt, dass 95 Prozent der Jugendlichen ein Smartphone besitzen und durchschnittlich fünf Stunden am Tag für Computerspiele und Internetkonsum sowie soziale

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Kopieren und Plagiieren sind in der digitalen Welt deutlich einfacher, aber auch leichter nachvollziehbar geworden – nicht nur im universitären Bereich.25 Zugleich werden die individuellen Ausdrucksmöglichkeiten durch einheitlich gestaltete Profilmasken und Emoticons normiert.26 Dadurch werden die Anforderungen an die Literarkritik größer. Texte sind nicht aus einem Guss, inhaltliche Spannungen, Widersprüche und Brüche lassen das deutlich werden. Daher gilt es, unterschiedliche Schichten herauszuarbeiten und die Quellen zu ermitteln. Ist diese Methode zum Beispiel in der biblischen Exegese eine Selbstverständlichkeit, so könnte sie nun auch in der Geschichtswissenschaft stärkerer Berücksichtigung bedürfen. Darüber hinaus: Durch viele, vor allem aus rechtsextremer Perspektive geführte Desinformationskampagnen ist die grundsätzliche Glaubwürdigkeit von Medienvertretern infrage gestellt worden und der qualitativ hochwertige Journalismus in eine Krise geraten.27 Geprüft werden muss auch, ob ein System möglicherweise gehackt worden ist, sodass Daten manipuliert wurden.28 Mehr noch: Unwahrheiten wirken tendenziell neuartig und werden daher schneller weiterverbreitet. Das menschliche Gehirn nimmt eher schlechte Nachrichten auf als gute und schafft so ein Weltbild, das tendenziell eher skeptisch bis negativ ausgerichtet ist. Hintergrund ist, dass man positive Meldungen eher nach und nach, negative aber zumeist plötzlich aufnimmt – und negative Meldungen für wichtiger hält. So hinterlässt zum Beispiel ein Terroranschlag eine tiefere Wirkung als die Nachrichten über den Rückgang von Kriminalität. Menschen denken, so der Evolutionsbiologe Matt Ridley, „in relativen, nicht in absoluten Kategorien. Was zählt, ist immer, wie gut man im Vergleich zu anderen dasteht“.29 Eine gesellschaftliche Polarisierung nimmt offensichtlich zu. Verstärkt wird diese durch das Phänomen, dass der oft auf Neid basierende Hass viel schneller und ungefiltert große Verbreitung findet. Im Internet ist es einfach, anonym eine große Zahl von Adressaten zu erreichen. Durch diese Öffentlichkeit überwindet

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Medien aufwänden; 2,6 Prozent der 12- bis 17-Jährigen gelten als abhängig von sozialen Medien. Vgl. Leonie Bartsch, Haben wir die Jugend an das Digitale verloren?, in: Die Welt kompakt vom 15. 3. 2018, S. 28. Felix Philipp Ingold, Auch Plagiieren ist eine Kunst, in: Neue Zürcher Zeitung vom 4. 8. 2018, S. 27. Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski, Vergib mir deine Punkte, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26. 2. 2018, S. 19. Georg Mascolo, Die Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus, in: Kompetent! – Archive in der Wissensgesellschaft. 86. Deutscher Archivtag in Koblenz, Red. Monika Storm (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 21), Fulda 2018, S. 23–30. Bernhard Pörksen, Das Netz ist zum Schlachtfeld geworden, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. 1. 2019, S. 21. Matt Ridley, Vor lauter Luxus kriegen wir Angst. Menschen meinen zu wissen, wie schrecklich die Welt sei, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. 2. 2019, S. 21; Betschon (wie Anm. 23) S. 38.

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der Hass das Ohnmachtsgefühl und kann den Neid in ein Ressentiment überführen – ohne dass eine Konfrontation erforderlich ist oder mit einer Gegenaggression gerechnet werden muss. Zudem findet diese risikolose Häme oft noch Zuspruch von Gleichgesinnten und erweckt ein Gefühl von Gemeinschaft.30 Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz lässt es schwieriger werden, zu erkennen, ob im Internet verbreitete Positionen überhaupt von real existierenden Menschen verfasst worden sind. Bestimmte Systeme sind inzwischen in der Lage, selbstständig zusammenhängende Texte zu schreiben, als ob sie von Menschen stammten. In Teilen können sie auch Geschriebenes verstehen, Inhalte zusammenfassen oder sogar Antworten geben. Das Sprachsystem GPT-2 beispielsweise kann aufgrund einer Überschrift einen Nachrichtentext mit passenden Zitaten formulieren.31 Für die Geschichtswissenschaft bedeutet das alles: Es wird qualitativ und quantitativ immer schwieriger, sich der Vergangenheit anzunähern und sie aus den überlieferten Quellen seriös rekonstruieren zu können. Die digitale Quellenkritik gewinnt noch mehr an Bedeutung und wird aufwändiger und differenzierter sein müssen. Hier ist die Geschichtswissenschaft in Forschung und Lehre gefordert, sich in Anlehnung an die technische und gesellschaftliche Entwicklung dieser Aufgabe kontinuierlich zu stellen.

IV.

Archivierung digitaler Unterlagen

Was wird von der riesigen Flut von Informationen, von Texten, Fotos und Filmen, die im digitalen Zeitalter in jeder Sekunde produziert und vielfach für alle zugänglich im Internet präsentiert werden, in der Zukunft übrig bleiben? Wird die durch Kopierer, Fax und Computer schon seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts rapide wachsende Flut von Überlieferung noch weiter und letztlich ins Unermessliche steigen? Oder wird kaum noch etwas vorhanden sein, weil die Volatilität dieser Informationen ihre Haltbarkeit auf weniger als eine Generation verkürzt? Wird eine Gesellschaft noch bereit sein, die hohen Kosten für ihren Erhalt aufzubringen? Wird die Tatsache, dass nahezu jede und jeder alles ins Internet stellen kann, zu einer Demokratisierung der historischen Überlieferung führen? Oder wird sie gerade durch ihre Unstrukturiertheit und Quantität, durch die immer schwieriger werdende Unterscheidung zwischen wichtig und unwichtig und die Jahr für Jahr exponentiell steigenden Kosten genau das Gegenteil

30 Rainer Paris, Die Einsamkeit nagt an ihnen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 1. 3. 2019, S. 22. 31 Jochen Siegle, Ein Sprachsystem schreibt Geschichte(n), in: Neue Zürcher Zeitung vom 27. 2. 2019, S. 37.

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bewirken?32 Was wird nach dem Tode einer Person mit deren digitalen Daten passieren?33 Elektronische Dokumente unterscheiden sich von herkömmlichen Papierdokumenten vor allem durch ihre Volatilität.34 Die Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts aufkommenden Floppy Discs als Speichermedium der Computer wurden bis in die neunziger Jahre genutzt. Die von 1976 bis ins 21. Jahrhundert gebräuchliche VHS-Kassette hält gut 30 Jahre. Die Compact-Disc, die sich ab 1981 durchsetzte, hält zehn bis zwanzig Jahre, je nach Qualität in der Herstellung und Lagerung. Seit dem Jahr 2000 werden vor allem USB-Sticks und SD-Speicherkarten verwendet, deren Haltbarkeit auf zehn bis dreißig Jahre eingestuft wird. Als Medien der Zukunft zur Speicherung von Informationen sind derzeit die Holographic Versatile Disc (HDV), ein holographisches Speichermedium, das durch einen Laser beschrieben und gelesen wird, sowie eine biologische Speicherung bzw. DNA-Speicherung im Gespräch.35 Doch diese im Vergleich zu Papier und Pergament ausgesprochen kurze Haltbarkeit ist nicht das einzige Problem. Elektronische Dokumente sind per se virtuell und können ohne technische Hilfsmittel weder wahrgenommen noch gelesen werden. Die digitalen Informationen sind als Bits auf Datenträgern gespeichert. Diese Informationseinheit Bit hat entweder den Wert „0“ oder den Wert „1“. Eine gewisse Menge dieser Nullen und Einsen bilden den Bitstream. Über die Lebensdauer dieser Bitstreams kann man noch keine verlässlichen Aussagen treffen. Wenn man einen Bitstream nicht mehr korrekt interpretieren kann, dann ist die Information verloren, auch wenn die eigentlichen Daten, also der Bitstream selbst, noch physisch vorhanden sind.

32 Zum Folgenden: Wulf Pingel, Digitale Archivierung als Herausforderung, in: Die Gemeinde. Zeitschrift für die kommunale Selbstverwaltung in Schleswig-Holstein 69 (2017), S. 103–108; Rainer Hering, Archivieren in der digitalen Welt, in: Schleswig-Holstein. Die Kulturzeitschrift für den Norden, Mai/Juni 2014, S. 28–29; Ders., Change Management und Archive. Archivische Aufgaben im Rahmen der Implementierung von Dokumentenmanagementsystemen in der Verwaltung – Das Beispiel ELDORADO in Hamburg, in: Digitales Verwalten – Digitales Archivieren. 8. Tagung des Arbeitskreises „Archivierung von Unterlagen aus digitalen Systemen“ in Hamburg, hrsg. Ders., Udo Schäfer (Veröffentlichungen des Staatsarchivs der Freien und Hansestadt Hamburg, 19), Hamburg 2004, S. 167–182. 33 Felix Simon, Die Toten übernehmen das Internet, in: Neue Zürcher Zeitung vom 15. 2. 2018, S. 21; Digitales Vermächtnis gestalten, in: c’t Nr. 8/2017, S. 106–129. 34 Die folgenden Ausführungen basieren auf Rainer Hering, Vom Stein zum Stick. Der Wandel der menschlichen Überlieferung, in: „Aller Ehre werth und nicht leicht zu ersetzen …“. Sprache – Dichtung – Überlieferung. Symposion der AEET in Hansühn am 23. 2. 2018, hrsg. Hermann Cölfen (†), Sevgi Filiz, Karl Helmer, Gaby Herchert (Schriftenreihe der Arbeitsstelle für Edition und Editionstechnik [AEET], 8), Duisburg 2019, S. 9–25. 35 Vgl. Neuroth u. a. (wie Anm. 10); Guido Kleinhubbert, Hilmar Schmundt, Vergessene Generation, in: Der Spiegel Nr. 26/2018, S. 100–104.

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Auch das Web muss archiviert werden – immer mehr Informationen werden ausschließlich dort angeboten. Öffentliche Verwaltungen, aber zum Beispiel auch Vereine und Firmen, haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Faltblättern und Broschüren informiert – im 21. Jahrhundert sind diese Medien durch das Internet weitgehend verdrängt worden.36 Ton-, Bild- und filmische Aufzeichnungen sind ebenso wie multimediale und interaktive Kunst digital zu überliefern und stellen hohe Anforderungen an Archive, Bibliotheken wie Museen.37 Wie geht man mit dieser komplexen, ja komplizierten Situation um? Muss man diese Daten wirklich dauerhaft erhalten? Im privaten Bereich, auch in der Privatwirtschaft, sind die Aufbewahrungsfristen überschaubar, zumeist sind es die zehn Jahre, die das Steuerrecht vorgibt. Ein solcher Zeitraum ist mit den genannten digitalen Speichermedien problemlos zu gewährleisten. Doch im öffentlich-rechtlichen Bereich gelten andere Fristen, da ja die Rechtssicherung relevanter Dokumente für die jeweiligen Behörden wie die der Bürgerinnen und Bürger über Jahrhunderte zu gewährleisten ist. Die Personenstandsunterlagen oder die Eintragungen in den Grundbüchern haben auch nach mehr als einhundert Jahren noch Rechtskraft und werden im archivischen Alltag oft für rechtliche Zwecke vorgelegt. Die öffentlichen Verwaltungen arbeiten immer mehr mit elektronischen Akten und digitalen Verfahren, zum Beispiel bei der Registerführung in den Gerichten. Onlinezugangs- und E-Governmentgesetze erfordern die medienbruchfreie Bearbeitung im Geschäftsgang. Daher ist ein Ausdruck auf alterungsbeständigem Papier keine Alternative, zumal dies bei Datenbanken und komplexen Umweltdaten gar nicht möglich ist, weil bestimmte Informationen nur im Moment der digitalen Recherche existieren. Es gibt also keine Alternative zur dauerhaften Speicherung digitaler Unterlagen, auch wenn sie sehr kostspielig ist. Zur Sicherung gegen äußere Einflüsse sollten die Daten räumlich getrennt auf mindestens zwei unterschiedlichen Trägertypen internationalen Standards aufbewahrt werden. Eine eindeutige, allseits akzeptierte technische Lösung gibt es nicht. Diskutiert werden die Verfahren der Migration der Daten etwa alle fünf Jahre, der Emu36 Michael Homberg, Das Internet ist reif fürs Archiv, in: Neue Zürcher Zeitung vom 24. 4. 2018, S. 19; Steffen Fritz, Praxisreport: Verfahren zur Evaluierung der Archivierbarkeit von Webobjekten, in: ABI Technik Nr. 2/2015, S. 117–120. 37 Nadia Al-Khalaf, Wer stoppt den Verfall der Gegenwart?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 7 vom 9. 1. 2018, S. 11; Winfried Bergmeyer, Anforderungen an digitale Filmarchive. Nestor-Kriterien für eine vertrauenswürdige und sichere Langzeitarchivierung von digitalen Ressourcen (http://files.dnb.de/nestor/veranstaltungen/2009-05-27_bergmeyer.pdf, 17. 3. 2019); zum Kontext: nestor – Materialien 8: nestor – Kompetenznetzwerk Langzeitarchivierung/Arbeitsgruppe Vertrauenswürdige Archive – Zertifizierung: nestor-Kriterien, Kriterienkatalog vertrauenswürdige digitale Langzeitarchive, Version 2, 2008, Frankfurt am Main 2008 (http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0008-2008021802, 17. 3. 2019).

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lation – des künstlichen Erzeugens der ursprünglichen Umgebung – oder das Vorhalten aller Geräte und Programme in einer Art Computermuseum. Die Hardware sollte vor Licht geschützt werden – ideal ist ein Helligkeitswert von 50 Lux. Die Raumtemperatur sollte unter 20° C, die relative Luftfeuchtigkeit unter 50 Prozent liegen. Dadurch werden der Zerfall von Plastik und Gummi verlangsamt und die Wahrscheinlichkeit von Korrosion gesenkt. Darüber hinaus wird erwogen, die digitalen Daten auf dem langhaltbaren Mikrofilm auszubelichten. Bei Bedarf können sie später über einen Scanner wieder redigitalisiert werden. Ein wesentlicher Vorteil dieses Verfahrens ist, dass die als Bilder gespeicherten Informationen nicht in neue Formate überführt werden müssen. Zudem sind die Erhaltungskosten relativ gering. Dennoch werden an die Ablagestruktur der Primär- und der Metadaten bestimmte Anforderungen für eine spätere Redigitalisierung gestellt. Zudem muss mit einer Fehlerquote gerechnet werden. Ziel ist es, die Archivbedarfe an das zunehmende Aufkommen digitaler Verwaltungs- und Justizunterlagen anzupassen. Archivwürdige digitale Daten müssen übernommen, unabhängig von ihrer ursprünglichen Systemumgebung gespeichert und für universelle Nutzungen durch Verwaltung und Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden können. Dabei sind sowohl internationale (ISO 14721) als auch nationale (DIN 31645 und 31644) Normen zu beachten.

V.

Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft

Die oben angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse müssen von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen und in der Quelleninterpretation berücksichtigt werden. Dabei sollten auch scheinbar auf der Hand liegende Befunde sorgfältig geprüft werden. Die Einordnung und Bewertung von Fakten ist unerlässlich – in der Gegenwart wie in der Vergangenheit.38 Aus technischen wie aus sprachlichen Gründen gewinnt die Quellenkritik weiter an Bedeutung. Die historischen Grundwissenschaften und die Archivwissenschaft werden immer bedeutsamer und müssen kontinuierlich fortgeschrieben und ihre Ergebnisse an den Hochschulen vermittelt werden. So verstärkt zum Beispiel die zunehmende 38 Die Geschichtswissenschaft – wie die Geisteswissenschaften insgesamt – bietet Orientierungswissen und die Vermittlung von Erkenntnissen, sodass sie eine notwendige Ergänzung technischer Fächer darstellt, vgl. Markus Zürcher, Der dreifache Nutzen der Geisteswissenschaften, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13. 2. 2019, S. 14. Zu Recht wird vor einer unkritischen Technikgläubigkeit auch im Wissenschaftsbereich gewarnt (Thomas Wagner, Varianten des Weltuntergangs, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. 2. 2018, S. 22). Siehe auch Jürgen Sarnowsky, Was sind und zu welchem Ende studiert man Geisteswissenschaften? https://mittelalter.hypotheses.org/8040 aktualisiert am 27. 05. 2016 (17. 03. 2019).

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Verbreitung von mobilen Endgeräten den Trend, dass immer mehr englischsprachige Begriffe und immer mehr Abkürzungen in unsere Überlieferung einziehen. Diese müssen künftig – wie Abkürzungen oder Formeln in mittelalterlichen Urkunden – entschlüsselt werden. Auch das Formular einer Email oder einer SMS ist ein anderes als das eines Briefes oder eines Telegramms. Die Archivwissenschaft berücksichtigt dies bereits in der Aktenkunde.39 Eine wichtige Erkenntnis ist, dass sich im digitalen Zeitalter auch die Form der (wissenschaftlichen) Informationsaneignung verändert hat. Stand bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die systematische, hierarchische Suche im Vordergrund, so dominiert in der digitalen Welt das flache Suchmaschinenprinzip, zumeist beschränkt auf die ersten zwanzig Treffer. Das birgt die Gefahr, dass Informationen nicht gefunden bzw. nicht im Kontext, in dem sie entstanden sind, gesehen werden. In Archiven befindliche Angaben beispielsweise sind ohne ihre hierarchische Positionierung nicht angemessen zu interpretieren. Die Kompetenz, Findbücher – seien sie analog oder digital – zu lesen, kann nicht mehr vorausgesetzt werden. Außerdem hat sich das generelle Leseverhalten verändert, es ist nicht mehr breit angelegt und zielt eher auf kurze Texte, die durch Abkürzungen in sozialen Medien noch komprimiert werden. Als optimale Lesezeit gelten 3,5 bis 7 Minuten. Und dabei ist Lesen gerade im digitalen Zeitalter eine Schlüsselkompetenz für die gesellschaftliche Teilhabe.40 Zudem birgt die kontinuierliche Abrufbarkeit von im Internet, also extern, vorhandenem Wissen die Gefahr, dass ein unabhängig davon gelagertes Wissensangebot, auch im menschlichen Gedächtnis, geschwächt wird („Google effects on memory“).41 Dies muss sowohl im Angebot der Archive wie in universitären Lehrveranstaltungen berücksichtigt werden. Mehr noch: Ordnungsstrukturen, wie der Aktenplan, lösen sich auf, sodass Entscheidungsprozesse und die Zusammenhänge von Informationen immer schwieriger zu rekonstruieren sein werden. An die Stelle einer Akte treten immer

39 Moderne Aktenkunde, hrsg. von Holger Berwinkel, Robert Kretzschmar, Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Institut für Archivwissenschaft, 64), Marburg 2016; Robert Kretzschmar, Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert: Archivische Bewertung, Records Management, Aktenkunde und Archivwissenschaft, in: Archivar 63 (2010), S. 144– 150; ders., Werkzeug, Forschungsfeld, Lehrfach? Zur Bedeutung der Historischen Hilfswissenschaften für die Archive, in: Quellenarbeit und Schriftgutverwaltung – Historische Hilfswissenschaften im Kontext archivischer Aufgaben, hrsg. Karsten Uhde (Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, 48), Marburg 2009, S. 151–176, bes. S. 172f. 40 Felix Philipp Ingold, Das weisse Blatt ist eine Illusion, in: Neue Zürcher Zeitung vom 17. 2. 2018, S. 32; Katrin Hörnlein, Wozu brauchen Kinder noch Bücher?, in: Die Zeit Nr. 13 vom 21. 3. 2019, S. 65f. 41 Christoph Riedweg, In der Rede liegt die Kraft, in: Neue Zürcher Zeitung vom 20. 3. 2019, S. 23.

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mehr einzelne, unverbundene Vorgänge, deren Zusammenhang nur noch schwer nachvollziehbar ist. Der Kontext bildet auch im digitalen Zeitalter den Rahmen für seine Deutung. Es ist eben nicht egal, in welchem Zusammenhang ein Schriftstück entstanden oder überliefert worden ist. Seine Zuordnung zu einer Akte ist ebenfalls interpretationsrelevant. Gefragt werden muss dabei nicht nur nach dem, was überliefert ist, sondern gerade auch nach dem, was nicht vorhanden ist – und vor allem: Aus welchen Gründen ist es nicht mehr vorhanden? Sind die erwarteten Unterlagen gar nicht entstanden? Sind sie nicht oder nicht am erwarteten Ort gespeichert worden? Sind sie nicht dem zuständigen Archiv angeboten worden? Oder hat dieses sie nicht für archivwürdig befunden? Zudem: Im Bereich der Neueren und Neuesten Geschichte wird vergleichsweise selten nach der Echtheit eines Schriftstückes gefragt. Die angeblichen Hitler-Tagebücher stellten eine herausragende, intensiv in der Öffentlichkeit diskutierte Ausnahme dar. Der Verwahrort von Unterlagen in einem Archiv reicht zumeist als Garantie für eine ungebrochene und unveränderte Überlieferung aus. Wie aber ist das im digitalen Zeitalter? Wie leicht elektronisch gespeicherte Unterlagen verändert werden können, ist nur zu gut bekannt.42 Pascal Föhr hat die Anforderungen an eine historische Kritik digitaler Quellen formuliert. Neue Quellentypen und -arten, der komplexe Prozess der Quellensicherung und -überlieferung erfordern es, die interpretative und hermeneutische Arbeit mit informationstechnischen Methoden zu verbinden und sich die erforderlichen zusätzlichen Kompetenzen anzueignen.43 Zusammenfassend lässt sich festhalten: Archiv- und Geschichtswissenschaft, Archive und Hochschulen müssen sich noch intensiver austauschen und enger zusammenarbeiten, zum Beispiel in interdisziplinären Projekten, um ein angemessenes Verständnis der Vergangenheit zu ermöglichen.44

42 Rainer Hering, Digitale Welt – digitale Quellen. Herausforderungen für die historische Forschung, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 147 (2011 [2012]), S. 149–158, bes. S. 149f. 43 Pascal Föhr, Historische Quellenkritik im digitalen Zeitalter. Phil. Diss. Basel 2018, zusammenfassend bes. S. 305. Vgl. Guido Koller, Geschichte digital. Historische Welten neu vermessen, Stuttgart 2016. 44 Rainer Hering, Bewertung und Auswertung. Auswirkungen archivischer Arbeit auf die historische Überlieferungsbildung, in: Scrinium. Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen und Archivare 57 (2003), S. 76–87; ders., Archive und Universitäten, in: Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut – Kulturerbe – Wissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar, hrsg. Gerald Maier, Clemens Rehm (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, A 26), Stuttgart 2018, S. 317–328.

Digital Dark Age – ein neues Mittelalter?

VI.

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Schluss

Dass Jürgen Sarnowsky schon 65 Jahre alt wird und der dienstliche Ruhestand heranrückt, ist angesichts seiner erfrischenden Jugendlichkeit kaum vorstellbar. Wird es keine gemeinsamen mündlichen Prüfungen und Disputationen mehr geben? Gewiss wird er auch künftig aktiv auf Tagungen präsent sein und an der Forschung teilnehmen. Die digitale Welt lässt das auf vielen Ebenen möglich werden, sodass man auch künftig auf Sonderdrucke hoffen kann – wenngleich eher in digitaler Form.

Nico Nolden

Digitalisierung der Geschichtswissenschaft durch Public History: Theoretische und methodische Reflexionen zur Entwicklung von Ausbildung und Wissenschaftspraktiken

1.

Die Ermächtigung der Welt

Als Menschen lernten, durch die Schrift Gedanken festzuhalten, löste sich das Erinnerungsvermögen vom Individuum. In Büchern festgehaltenes Wissen überdauerte Generationen unverändert, sofern das Trägermedium überdauerte. Gesellschaften organisieren ihr Gedächtnis stets über externe Speichermedien und kulturelle Praktiken.1 Archive sichern das verschriftlichte Wissen, das den Zeitgenossen als wertvoll erschien, Abschriften dezentralisieren es und schufen Keime einer Kulturgeschichte von Orten des Wissens.2 Als sich die Buchkultur verfeinerte, schuf sie die Grundlage der modernen Geschichtswissenschaft – vielleicht besser: einer ‚Geschichtswissenschaft der Moderne‘. Denn den Wissenschaftsbetrieb bestimmen noch immer traditionelle Grundregeln, wie sie diese Buchkultur im 19. Jahrhundert prägte: Forschende sichern ihr Wissen, indem sie untereinander auf ihre Schriften verweisen. Solche Wissenschaftspraktiken aber, die unter den damaligen historischen Bedingungen entstanden, müssen nicht notwendig heute noch sinnvoll sein. Seit den 1990er Jahren vollzogen sich fundamentale Veränderungen. Digitale Datennetze verbanden Forschungsinstitute weltweit. Nach Martin Schmitt prägen Eigenschaften des frühen ARPANet bis heute das Internet.3 Manuel Castells sah das Informationszeitalter einer Netzwerkgesellschaft anbrechen.4 Zuvor bereisten Forschende den Globus, um Wissen aus Sammlungen anzulesen. Nun vernetzten Rechenzentren das Wissen rund um die Welt ortsunabhängig. Datenbanken standardisierten Zugriffe und erlaubten Suchanfragen nach spezifischen Interessen. Je mehr Wissen in die Datennetze einging, umso mehr 1 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 5. Aufl., München 2010, S. 19. 2 Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013. 3 Martin Schmitt, Internet im Kalten Krieg. Eine Vorgeschichte des globalen Kommunikationsnetzes, Bielefeld 2016. 4 Manuel Castells, The Information Age, 1: The Rise of the Network Society, Cambridge 1996.

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emanzipierten sich Anfragen von Personen und Arbeitszeiten. Wissen floss zusehends zeitunabhängig. Waren die Wissensnetze ursprünglich nur an Großrechnern verfügbar, liegt heute das Internet mit Smartphones buchstäblich in unserer Hand. Die Diversifizierung von Zugriffsgeräten stellt Wissen für so viele Personen bereit wie nie zuvor. Wie sie aber zu ermächtigen sind, sinnvoll damit umzugehen, blieb unterbelichtet. Sollen die Potentiale der Digitalisierung jedoch adäquat genutzt werden, müssen die vielfältigen technischen Optionen zielgerichtet, effizient und methodisch sinnvoll eingesetzt werden. Sind diese Fragen schon für bisherige Entwicklungen unzureichend gelöst, entstehen bereits neue Herausforderungen: Digitale Spiele etwa nutzen die Prinzipien digitaler Datennetze und entwickeln sie fort.5 Spielende erkunden komplexe Spielwelten eigenständig handelnd und nach ihren Interessen (Performanz). Spielwelten organisieren räumliche und netzwerkartige Wissensangebote, die auf das Handeln der Spielenden nach Verhaltensregeln reagieren (Prozeduralität). Jüngste Formen von Virtueller Realität (VR) lassen sich mit der Körperbewegung lenken, begreifen und begehen. Koppelte das Buch einst die Erinnerungsfähigkeit vom Individuum ab, kehrt mit VR nun die körperliche Erfahrbarkeit in die Wissensräume zurück.6 Alle technischen Formen, ob nun Bücher, das Internet, digitale Spiele oder VR-Erfahrungen, verarbeiten historische Inhalte von geschichtswissenschaftlichen bis zu populärhistorischen Niveaus. Aleida Assmann folgend, lässt sich ohne solche Speichermedien kein generationen- und epochenübergreifendes Gedächtnis aufbauen, was zugleich bedeutet, „daß sich mit dem wandelnden Entwicklungsstand dieser Medien auch die Verfaßtheit des Gedächtnisses mitverändert.“7 Jede technische Form besitzt spezifische Eigenschaften für den Umgang mit Geschichte (Medialität) und folgt bestimmten etablierten Gebräuchen der Darstellung (Authentizität). Aus diesen Gründen wäre die Digitalisierung nicht nur für den Transport historischer Informationen zu durchdenken, sondern auch für Wissenschaftspraktiken. Konsequenzen daraus müssten systematisch in die akademische Ausbildung eingehen. Dafür aber fehlt ein Bewusstsein, wie sich eine konsequente Digitalisierung auswirkt. Dieser Beitrag führt über Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb auf Kernprinzipien der Digitalisierung für die Geschichtswissenschaft. Als Lösungsweg schildert er die Ausbildung und die Forschungskultur der Hamburger Public History. Vier Beispiele für Projektkurse verdeut5 Janet H. Murray, Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge 1998, S. 71–91, bes. S. 86. 6 Felix Schröter, Walk a Mile in My Shoes. Subjectivity and Embodiment in Video Games, in: Subjectivity Across Media. Interdisciplinary and Transmedial Perspectives, hrsg. Maike Sarah Reinerth, Jan-Noël Thon, London 2016, S. 196–213, hier S. 197, 201. 7 Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 1), S. 19.

Digitalisierung der Geschichtswissenschaft durch Public History

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lichen, dass die Digitalisierung keine Parallelwelt bleiben darf, sondern die Praktiken für eine digitalisierte Geschichtswissenschaft entwickeln muss.

2.

Von digitaler zu digitalisierter Geschichtswissenschaft

Die Digitalisierung vernetzt also orts- und zeitunabhängig, diversifiziert Zugriffswege, begünstigt performative und prozedurale Prozesse und ermöglicht sogar Körperlichkeit. Ihr Fortschreiten lässt sich hier nicht vollständig darstellen, wohl aber ihre Effekte erfahrungsbasiert verdeutlichen. Seit seiner Berufung 1996 auf die Hamburger Mittelalter-Professur förderte Jürgen Sarnowsky das Netzwerk Geschichtswissenschaft in der digitalen Welt (GDig). Es publizierte Grundlegendes zur Digitalisierung der Mittelalter-Forschung und reflektierte etwa Standardisierungen kritisch, eben weil sie normierend wirken.8 Früh veröffentlichte Sarnowsky ungedruckte Quellen in einem Webportal zum Spätmittelalter.9 Die Digitalisierung machte Quellen und historische Sekundärtexte verfügbar und durchsuchbar. Im GDig kooperierte er mit dem Althistoriker Christoph Schäfer. Weil die Zugänglichkeit wuchs, konnten wir als Studierende bei dessen LehrDVDs mit Schnittsoftware und 3D-Konstruktion experimentieren. Die Projekte unterstreichen die Vergänglichkeit des Digitalen, denn erlernte Software veraltete rasch, und die Originalseite ist abgeschaltet.10 Zerbrechen Verlinkungen, zeugen sie von der Labilität der Datennetze. Über Schäfer stieß ich zum Team von Sarnowsky, wo ich bei digitalen Editionen zwischen dem geschichtswissenschaftlich Wünschenswerten und informatisch Machbaren vermittelte.11 Die Editionen nehmen die Kerneigenschaften von Datenbanken und Nutzerperspektiven ernst, denn die Quellen sind mit differenzierten Funktionen und Klassifikationen durchsuch- und vergleichbar. Als kleines Team spürten wir jedoch die Grenzen der Digitalisierung: Leider blieb die Programmierung nicht gewährleistet, weshalb Updates der Serverumgebung Mittel banden, um die Angebote zu migrieren. Stets trat administrative Unsicherheit zutage. Als Bernd8 Forschung in der digitalen Welt. Sicherung, Erschließung und Aufbereitung von Wissensbeständen, hrsg. Rainer Hering u. a., Hamburg 2006, online unter: http://bit.ly/1RhuXvm (Letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 9 Jürgen Sarnowsky, Das späte Mittelalter, 1999-, online unter: http://bit.ly/2R1fl1D (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 10 Antike Multimedial via Wayback Machine des Internet Archive (Snapshot 5. 3. 2016), online unter: http://bit.ly/2SZqL8d (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 11 Die mittelalterlichen Statuten des Johanniter-Ordens, hrsg. Jyri Hasecker, Jürgen Sarnowsky, Hamburg 2006, online unter: www.josta.uni-hamburg.de; Die mittelalterlichen Schuld- und Rechnungsbücher des Deutschen Ordens um 1400, hrsg. Christina Link, Jürgen Sarnowsky, Hamburg 2007, online unter: http://www.schuredo.uni-hamburg.de (letzte Zugriffe: 13. 3. 2020).

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Ulrich Hergemöller aus dem Dienst schied, gingen dessen Nachschlagewerke vom Netz, bis Sarnowsky sie übernahm.12 Erst nach einer technischen Überarbeitung waren sie wieder online. Eine adäquate Digitalisierung bewahrt deshalb nicht bloß Daten, sondern sichert die Kontinuität ihrer Nutzung. Dafür fehlt ein Überblick durch Portalseiten, die aktiv ihre Bestände auf Revisionen überwachen. Stets fordert die Digitalisierung, Alternativen zu überdenken. Trotz unserer Vorarbeiten wurde etwa keine Online-Fassung zur Edition der Ratsthrese Hamburgs bewilligt. Als Kompromiss veröffentlichten wir ein PDF im Open Access, das immerhin Volltext und Index durchsuchen lässt.13 Was hier geschildert wurde, legt Folgen der Digitalisierung für die Geschichtswissenschaft offen: Verfügbarkeit, Auffindbarkeit, Standardisierung, Vernetzung, Zugänglichkeit, Kurzlebigkeit, Labilität, Versionierung, Nutzerabhängigkeit, Kollaboration, Prozesshaftigkeit, Kontinuität, Alternativen, Offenheit. Weitere Entwicklungen wie Semantic Web sind da noch nicht einbezogen.14 Pointiert argumentierte Wolfgang Schmale, dass die Digitalisierung die Geschichtswissenschaft nicht technologisch ergänzt, sondern als Paradigmenwechsel ihr Wesen erweitert.15 Digitale und analoge Teilsphären stünden jedoch bislang nebeneinander.16 Vergleichbar wirken die Prinzipien der Globalgeschichte, wie ich an digitalen Spielen aufzeigte.17 Digitales ist keine parallele Disziplin, sondern muss beide Sphären in einer digitalisierten Geschichtswissenschaft vereinen. Methoden und Prozesse, Strukturen und Institutionen sind zu überdenken. Theoretische Konzepte wie Authentizität und Medialität etwa sind mit Performativität und Prozeduralität zu verknüpfen. Dafür müssen Historikerinnen und Historiker Software verstehen, die Anlage von Hardware kennen, das Wesen digitaler Spezifika erkennen, dafür Handlungskompetenzen in Praxisfeldern erwerben und an geschichtswissenschaftliche Theorie und Methodik rückkoppeln. 12 Bernd-Ulrich Hergemöller, Nicolai Clarus, Glossar zur Geschichte der mittelalterlichen Stadt, 2010, online unter: https://www.glogemis.uni-hamburg.de; Bernd-Ulrich Hergemöller, Promptuarium Ecclesiasticum Medii Aevi (ProEMA), 2007, online unter: https:// www.proema.uni-hamburg.de (letzte Zugriffe: 13. 3. 2020). 13 Hamburgs Gedächtnis – die Threse des Hamburger Rates I: 1350–1399, hrsg. Jeanine Marquard, Nico Nolden, Jürgen Sarnowsky, Hamburg 2014, online unter: http://bit.ly/1sUN HTe (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 14 Jörg Wettlaufer, Der nächste Schritt? Semantic Web und digitale Editionen, in: Digitale Metamorphose. Digital Humanities und Editionswissenschaft, hrsg. Roland Kamzelak, Timo Steyer, 2018, online unter: http://bit.ly/2DmUAtI (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 15 Wolfgang Schmale, Digitale Geschichtswissenschaft, Wien 2010, S. 23. 16 Ebd., S. 41, 45. 17 Nico Nolden, Keimzellen verborgener Welten. Globalisierungsprozesse beim MMORPG The Secret World als globalhistorische Zugriffswege, in: Weltmaschine Computerspiel. Digitale Spiele als globalgeschichtliches Phänomen, hrsg. Josef Köstlbauer u. a., Wien 2018, S. 181– 201.

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Nur wenige Ausbildungsstätten begegnen gezielt diesen Herausforderungen. Ab dem Jahr 2000 prägte Manfred Thaller eine „Historisch-kulturwissenschaftliche Informatik“ in Köln. 2015 pensioniert, stellt sie sein Nachfolger Øyvind Eide allgemeiner geisteswissenschaftlich auf.18 Prägend für den deutschsprachigen Raum ist auch Ingo Kropacˇ an der Historischen Fachinformatik in Graz.19 Als von Thaller inspirierten Autodidakten bezeichnet sich Georg Vogeler.20 Nach vielen digitalen Geschichtsprojekten bezog er 2016 die Grazer Professur für Informationsmodellierung in den Digital Humanities.21 In Berlin fokussiert die Historische Fachinformatik von Rüdiger Hohls die Anwendung digitaler Instrumente, nicht deren Produktion.22 Dort entsteht zurzeit eine Professur für Digital History. Entsprechend bleiben spezialisierte Personen so überschaubar wie die Standorte. Projekte der Digitalisierung verlangen aber ausgebildete Historikerinnen und Historiker, die sowohl digitale Technologien als auch Geschichtswissenschaften methodisch begreifen. Da die technischen Möglichkeiten zunehmen, wächst der Hunger aller Geisteswissenschaften nach ihnen. Mittlerweile bietet DARIAH-DE dafür eine digitale Forschungsinfrastruktur.23 Die Mittelalterforschung schuf mit monasterium.net und EditMOM ein mächtiges Werkzeug, um Archivmaterial kollaborativ zu bearbeiten.24 Um solche Instrumente aber lokal in Forschung und Lehre zu implementieren, bedarf es geeigneten Personals vor Ort. Zugleich verkomplizieren sich die Technologien, weshalb SpezialistInnen sich weiter spezialisieren. Ihr Angebot wird knapper, ihre Dienste teuer. Fachkräfte müssen wiederum helfen, die Spaltung in Teilsphären zu überwinden. Weil viele Verantwortliche tun, als könnten (und müssten) Studierende sich die Fertigkeiten nebenbei anlernen, sind die Fortschritte zäh.

18 Historisch-Kulturwissenschaftliche Informationsverarbeitung, Univ. Köln, online via Wayback Machine unter: http://bit.ly/3aQo0OW (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 19 Historische Fachinformatik und Dokumentation, Univ. Graz, online unter: http://bit.ly/ 2U13p1Z (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 20 Dagmar Weidinger, „Eine völlig neue Art des Arbeitens“, in: Wiener Zeitung 6. 1. 2018, online unter: http://bit.ly/2Sq1DHd (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 21 Zentrum für Informationsmodellierung, Univ. Graz, online unter: http://bit.ly/2FDjvvp (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 22 Historische Fachinformatik, HU Berlin, online unter: http://bit.ly/2R0IfiD (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 23 DARIAH-DE. Dienste und Werkzeuge, SUB Göttingen, online unter: http://bit.ly/2U51Wrh (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 24 Benjamin Burkard, EditMOM. Ein spezialisiertes Werkzeug zur kollaborativen Urkundenerschließung, in: Digitale Diplomatik. Neue Technologien in der historischen Arbeit mit Urkunden, hrsg. Georg Vogeler, Köln 2009, S. 255–270; Monasterium.net. Das virtuelle Urkundenarchiv Europas, hrsg. ICARUS. [Wien] [2006ff.], online unter: http://www.monaste rium.net/ (letzter Zugriff: 13. 3. 2020).

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3.

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Ausbildung für eine längst angebrochene Zeit

In diese Lücken der Ausbildung stößt gezielt meine Projektlehre. Günstige Voraussetzungen dafür implementierte Thorsten Logge an der Public History in Hamburg, deren Fortentwicklung ich mitgestaltete.25 Mit der Intention, Studierende sollten Allgemeine Berufsqualifizierende Kompetenzen erwerben, schufen die Bologna-Reformen den ABK-Bereich.26 Dort füllten Studierende Word- und Excel-Dokumente bei inhaltsleeren Trockenübungen, trainierten Fußnoten und erstellten Tabellenkalkulationen für ihre berufliche Qualifikation. Einblicke in praktische Beschäftigungsverhältnisse sollten sie in kommunikative Dienstleistungen vermitteln. Rückblickend entstand eine technokratische und praxisferne Herangehensweise, deren Personaleinsatz kostenintensiv war und dennoch die Bedürfnisse der Studierenden, des Wissenschaftsbetriebs sowie privatwirtschaftlicher Berufsfelder verfehlte. Fernab von Wissenschaftlichkeit und Studienfach, ohne didaktisches Konzept und wegen der finanziellen Belastung lehnten Studierende wie Lehrende den Bereich ab.27 Mit dem „Geschichtsbureau“ konzipierten Lehrende und freie HistorikerInnen 2011 einen Gegenentwurf.28 Als fruchtbar erwiesen sich Vorarbeiten der 1970er Jahre, die ein Projektstudium im Fach Geschichte einrichteten.29 Es implementierte Forschendes Lernen als didaktische Methode, stärkte Theorie und Methode in der Geschichtswissenschaft und integrierte einen kritischen Gesellschafts- und Praxisbezug. Studierende sollte es befähigen, Wissensbestände eigenständig zu erschließen sowie wissenschaftliches Arbeiten und dessen Bedeutung für die Praxis kritisch zu reflektieren. Seit die Hamburger Public History das Konzept „Geschichtsbureau“ 2013/14 auf den Fachbereich Geschichte anpasste, atmet sie diesen Geist. Als alleinstellendes Merkmal basiert die im Stu-

25 Nico Nolden, Morgendämmerung. Anbruch einer neuen Zeit für mich, für dieses Blog und für den Fachbereich Geschichte, in: Keimling 9. 4. 2014, online unter: http://bit.ly/1qiQWm4 (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 26 Thorsten Logge, Jörn Lindner, Ulrike Senger, Hamburger Modell geschichtswissenschaftlicher Projektlehre. Allgemeine Berufsqualifizierende Kompetenzen (ABK) – Geschichtsbureau – Public History, in: Projektlehre im Geschichtsstudium. Verortungen, Praxisberichte und Perspektiven, hrsg. Ulrike Senger, Yvonne Robel, Thorsten Logge, Bielefeld 2015, S. 260–303, hier S. 273f. 27 Ebd., S. 273. 28 Cordula Franzke, Claudia Kemper u. a., Das „Geschichtsbureau“ – Kompetenzwerkstatt für das Historische Seminar der Universität Hamburg, in: PAradigma. Beiträge aus Forschung und Lehre aus dem Zentrum für Lehrerbildung, Fach- und Hochschuldidaktik 2011/12, S. 272– 293. 29 Thorsten Logge, Vergessene Lehren? Ansätze zur Projektarbeit in der Geschichtswissenschaft an der Universität Hamburg in den 1970er Jahren, in: Projektlehre (wie Anm. 26), S. 32– 47, hier S. 32.

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dium zu erwerbende Beschäftigungsfähigkeit auf Wissenschaftlichkeit.30 Wissenschaftlicher Anspruch und Berufspraxis versteht sie nicht als Gegensätze, Forschendes Lernen wertet die praktischen Felder auf und reflektiert Praktiken des Wissenschaftsbetriebes. Diese Public History vereint Lehre und Forschung konsequent, weil ihre Lehrinnovationen einen Ort der Selbstreflexion schaffen, indem sie Geschichtssorten produziert und die Ergebnisse wieder als Forschungsgegenstand reflektiert.31 Bei der Beschäftigung mit historisch arbeitenden Professionen erwerben Studierende wissenschaftliche Handlungskompetenzen in den Feldern und stärken kritisch-analytische Fertigkeiten. Eigenständig verschiedene Geschichtssorten zu produzieren, fördert erfahrungsgestützte Reflexionen über den Umgang mit Geschichte im öffentlichen Raum und über die vom Transportmedium abhängigen Bedingungen der Produktion, der Darstellungsgebräuche und der Rezeption. Studierende erkennen dadurch, wie die mediale und adressatenbezogene Aufbereitung fachwissenschaftliche Wissensbestände transformiert. Alle Orientierungsfelder an Professionen – von der akademischen Wissenschaft, über Geschichtsagenturen, das Archivwesen, den Journalismus bis hin zur Games-Entwicklung – betrifft die Digitalisierung substantiell. Anspruch und Vorgehen führen daher zu einer intensiven Beschäftigung mit der Digitalisierung und ihrer Reflexion für wissenschaftliche Arbeitsstrukturen und -prozesse.

4.

Aufschlussreiche digitale Spielerei

Thorsten Logge suchte nach Spezialisten, die mit geschichtswissenschaftlicher Perspektive auf digitale Spiele blicken, ein breites Verständnis für Methoden und Theorien mitbringen und an weitere mediale Felder anknüpfen. Mit einem Lehrauftrag begann 2013 eine konstruktive Zusammenarbeit.32 Das Seminar untersuchte die Offenheit digitaler Spiele darauf, was sie für historische Inszenierungen im Verhältnis zu wissenschaftlichen Deutungen bedeutet. Studierende entwickelten methodische Ansätze und präsentierten ihre Ergebnisse in der „Nacht des Wissens 2013“. Seit 2009 behandele ich in einem Blog vielfältige 30 Logge, Lindner, Senger, Hamburger Modell (wie Anm. 26), S. 260. Zur Verortung der Public History in Deutschland: Thorsten Logge, Public History in Germany. Challenges and Opportunities, in: German Studies Review 39.1 (2016), S. 141–153. 31 Logge, Lindner, Senger, Hamburger Modell (wie Anm. 26), S. 300f.; Thorsten Logge, „History Types“ and Public History. Geschichtssorten als Gegenstand einer forschungsorientierten Public History, in: Public History Weekly 28. 6. 2018, online unter: http://bit.ly/ 2AX9hSP (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 32 Geschichte im Computerspiel. Vereinbarkeit des Unvereinbaren – Der Umgang von digitalen Spielen mit der Geschichte, Veranst.-Nr. 54–510, Sommersemester 2013.

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historische Blickwinkel.33 Auf Grundlage dieser Vorarbeiten beantragten Logge und ich das GameLab und die Ludothek erfolgreich aus fakultären Mitteln, die für alle Bemühungen um digitale Spiele eine Infrastruktur etablierten.34 Außercurricular führte zudem die AG Games Studierende, Forschende und EntwicklerInnen auch überregional zu innovativen Fragen zusammen.35 Leider forderte die Abschlussphase meiner Dissertation die AG als Tribut. 2018 eingereicht, würdigt die Studie die geschichtswissenschaftliche Forschung an digitalen Spielen, markiert ihre Lücken und schließt sie mithilfe von Nachbardisziplinen und zahlreichen Beispielen.36 Den Ansatz der erinnerungskulturellen Wissenssysteme erprobt eine Fallstudie am Online-Rollenspiel The Secret World.37 So sehr ich das Ende der AG bedaure, gründete ich mit anderen Forschenden aus ihr den Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS), der seit 2016 grenzübergreifend Interessierte im deutschsprachigen Raum verbindet.38 Wie in der Hamburger Public History intendiert, wenden meine Projektseminare stringent ein historisches Leitthema mithilfe von Theorie und Methodik auf ein Medienumfeld an. Für den Begriff „Medium“ folgen sie einem weiten Verständnis als ein Transportmittel für historische Inszenierungen. Zwar fokussieren meine Projektkurse digitale Spiele, setzten sie jedoch stets in Relation zu Formaten wie Videos oder Ausstellungen, um die Spezifika des Umgangs mit Geschichte zu kontrastieren. Sie versetzen die Teilnehmenden in ein forderndes Umfeld, das mit Forschendem Lernen, Projektarbeit und problembasiertem Lernen im universitären Alltag ungewohnt ist. Zugleich ist die Arbeitsdichte hoch und das Management der Projekte ist zu erlernen. Dafür richte ich prinzipiell trans- und intra-kollaborative Gruppen ein. Die Kollaboration am selbst gewählten Projekt wirkt innerhalb der Gruppen disziplinierend, untereinander diszipliniert ein übergreifendes Seminarziel, wie etwa eine öffentliche Ausstellung. Ein erfolgreicher Projektkurs setzt den Spagat voraus, die Leistungsbereitschaft hochzuhalten und gleichzeitig genügend Raum zur Selbstfindung zuzu33 Keimling. Innovationen in digitalen Spielen und im Digital Game-Based Learning, hrsg. Nico Nolden, Hamburg 2009ff., online unter: https://keimling.niconolden.de (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 34 Nico Nolden, GameLab Public History, 21. 11. 2018, online unter: http://bit.ly/2SxsTDK; ders., GameBox Advance. An der Fakultät für Geisteswissenschaft der Universität Hamburg entsteht ein GameLab, in: Keimling 10. 8. 2014, online unter: http://bit.ly/1mAj5BI (Letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 35 Nico Nolden, Die AG Games (Projektarchiv, 2014–2017), 27. 11. 2018, online unter: http://bit. ly/2QlyjzG (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 36 Nico Nolden, Geschichte und Erinnerung in Computerspielen. Erinnerungskulturelle Wissenssysteme, Berlin 2019. 37 The Secret World (FunCom/FunCom, Electronic Arts), 2012ff. 38 gespielt | Blog des Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele (AKGWDS), 2016ff., online unter: https://gespielt.hypotheses.org (letzter Zugriff: 13. 3. 2020).

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gestehen. Dabei unterstützt externe Expertise aus Praxisfeldern, indem die Studierenden aus dem Dialog mit Partnerinnen und Partnern eigene Schlüsse ziehen. In dem Konstrukt sind soziale und arbeitsbezogene Prozesse der Gruppen zeitaufwändig zu moderieren, im Sinne von Cognitive Apprenticeship lerne ich aber entlang des studentischen Forschergeistes stets mit. Sie üben Handlungskompetenzen für praktische Felder ein, lernen, Differenzen zu moderieren, geschichtliche Projekte zu entwickeln, zu managen und zu präsentieren und fühlen sich in ihre Talente ein.

5.

Digitalisierung, beispielhaft

Die Projektkurse verfolgen vier Strategien: Sie schärfen an Geschichtssorten ein analytisches Instrumentarium, vollziehen deren Produktionsbedingungen nach, nutzen ihre Eigenschaften gezielt für Präsentationen und schulen so die Rezensionsfähigkeit. Folgende Beispiele verdeutlichen, wie die Strategien zugunsten einer zeitgemäßen geschichtswissenschaftlichen Ausbildung im Lichte der Digitalisierung wirken. Produktionsprozesse untersuchte 2015 ein Projektseminar an einer HandyApp, die Auswärtige im Hamburger Stadtkern animieren sollte, historische Informationen via Push-Nachrichten zu rezipieren.39 Studierende der Public History und der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) kooperierten ideenreich im Austausch beider Studienkulturen. Sie erkundeten bei mir geschichtswissenschaftliche Aspekte, bei den Prof.es Maika Büschenfeldt und Hardy Gundlach informationstechnische bzw. -ökonomische und bei Anne Kathrin Thüringer und Roman Kern von der Agentur Kontur Medien journalistische. Die Studierenden entwickelten Konzepte, mit digitalen Spielen zu motivieren, mittels Text zu führen und Quellen zu nutzen sowie visuelles Material, Soundscapes und Reenactments einzubinden. Die App hinterfragten sie auf technische und journalistische Gepflogenheiten als Geschichtssorte. Zum Beispiel war ertragreich, mit Foucault auf Datenbanken zu blicken, da diese mit historischen Informationen in diskreten Zuständen gefüllt werden. Unreflektiert modellierte Informationen nivellieren historische Unschärfen und trennen wie ein Filter historisch Sagbares von Unsagbarem. Wichtig für die Digitalisierung war zu erkennen, dass die technische Form Zugriffe auf historische Gegenstände beschränkt oder – klug modelliert – ermöglicht.

39 Von Elfenbeintürmen und Geschichtspornografen. Wege zur medialen Aufbereitung von Geschichte im 21. Jahrhundert, Veranst.-Nr. 54–526, Wintersemester 2015/16.

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Das zweite Beispielprojekt analysierte 2016 Geschichte in digitalen Spielen und reflektierte ihre Präsentation.40 Die Studierenden wählten fünf Videospiele der Ludothek.41 Zunächst erprobten sie Darstellungsformen für ein Video, das den Gewohnheiten der Plattform Youtube entspricht. Ihre individuelle Fragestellung mussten sie in eine stimmige Leitfrage ihrer Gruppe zusammenführen. Diese Leitfragen wiederum bündelte der Kurs zu einem Ausstellungskonzept. Neben den Fertigkeiten, die Analyse, die Software und die Webplattformen zu beherrschen, forderte dabei besonders das Gruppen-Management heraus. Einige Partnerinnen und Partner unterstützten systematisch die Reflexion: Die Historikerin Fridrun Freise brachte historische Narrativität ein, der Games-Entwickler Johannes Kristmann erörterte modellhafte Geschichte und Einblicke in die Rezeptionsformen gab Didaktiker Daniel Giere. Mareike Ottrand, Professorin für Game Design an der HAW Hamburg, teilte ihre Erfahrungen mit Ausstellungen von digitalen Spielen. Ebenso vielfältig handelte das Seminar von Methoden, mit der Digitalisierung umzugehen: Quellenkritisch zentral war, wie der Charakter digitaler Spiele darstellbar bleibt, wenn die Aufzeichnung sie in andere Geschichtssorten überführt. Ihre spezifischen Eigenschaften kontrastierten die Studierenden mit dem Videoformat, den Ausstellungstafeln und der Ausstellung. Hinzu kamen technische, finanzielle, administrative und rechtliche Aspekte: Technische Vorgaben für den Upload der Videos in die universitäre Plattform Lecture2go verzerrten den audiovisuellen Eindruck des Ausgangsmaterials.42 Um die Beiträge öffentlich und in schulischen Kontexten aufzuführen, erörterten wir mit der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) eine Altersfreigabe „ab 6 Jahren“.43 Die Studierenden erlangten Erstkontakte mit Urheber-, Nutzungs- und Verwertungsrechten, wie die Abtretung von Nutzungsrechten an Video-Plattformen, das Einverständnis zur Vermarktung und die nachhaltige Präsenz der Fachvideos. Administrativ entstanden bezüglich der Ausstellung Probleme: Die Fakultät für Geisteswissenschaften förderte zwar aus dem Innovationsfonds Ausstellungstafeln und Reisekosten. Sie verfügt aber nicht über Räumlichkeiten, um ein Studierendenprojekt auszustellen. Das

40 „Ach, erzähl mir doch nichts!“ Erzählstrukturen und modellhafte Geschichte in digitalen Spielen, Veranst.-Nr. 54–523, Wintersemester 2016/17. 41 Assassin’s Creed IV. Black Flag 2013; Bioshock 2007; Civilization V 2010; Mafia III 2016; Red Dead Redemption 2010. 42 Public History. Videoreihe via Lecture2go. Online unter: http://bit.ly/2HnZX01 (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 43 Mitteilung zur USK-Prüfung – Nr.: 42998/17 Nolden Kurs Uni Hamburg, 5 Fachvideos Geschichte in Games vom 5. 5. 2017.

Digitalisierung der Geschichtswissenschaft durch Public History

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Hamburger Play-Festival gab der Ausstellung im Herbst 2017 schließlich einen prominenten Platz.44 Im Sommer 2017 produzierten Studierende eigenhändig digitale Spiele zu zeithistorischen Fragen der Migration.45 Die traditionelle Narratologie aus der Historik wurde mithilfe geisteswissenschaftlicher Disziplinen erweitert, um interaktive digitale Narrative zu fassen. Daraus entstand ein erzählerisches, technisches und spielmechanisches Spektrum, wie digitale Spiele mit historischen Narrativen umzugehen vermögen. Eine Gruppe verwendete das Werkzeug RPG Maker im GameLab, um eine Familiengeschichte bosnischer Flüchtlinge zu gestalten, die in den 1990er Jahren vor St. Pauli in Wohnschiffen untergebracht waren. Wie Newsgames Inhalte pointiert inszenieren, erläuterte hierzu der Berliner Entwickler Eric Jannot. Jeweils unterschiedlich verwendeten zwei Gruppen das Werkzeug Twine. Als verzweigte interaktive Erzählung entstand so ein Zeitreiseabenteuer in historische Episoden der Hamburger Speicherstadt, das sich an Teenager richtet. Die andere Gruppe untersuchte die narrative Gestalt des Online-Rollenspiels The Secret World und ergänzte die darin angelegten Geschichten. Via Twine realisierte sie extern Missionen zur deutschen Immigration nach Neuengland im 19. Jahrhundert, weil Online-Rollenspiele inhaltliche Modifikationen nicht erlauben. Die vierte Gruppe nutzte mit Curious Stories ein experimentelles Werkzeug für prozedurales Erzählen, das Johannes Kristmann vorstellte. Mit zufallsgenerierten Ereignissen, basierend auf recherchierten Situationen, inszenierte sie drei Tage bis zum Altonaer Blutsonntag 1932. Das Spiel über den Weg ins „Dritte Reich“ konfrontiert Spielende mit politischen Grundeinstellungen und getroffenen Entscheidungen. Zufällige, alternative Spielverläufe verdeutlichen die Unbestimmtheit historischer Prozesse. Alle Projekte identifizierten so Mehrwerte der Digitalisierung für das historische Erzählen. Ab Oktober 2018 bereitete das einjährige Lehr- und Forschungsprojekt Repositorium HistoGames digitale Spiele für den Geschichtsunterricht auf.46 Ausgehend von geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen Leitfragen erkundeten Studierende der Hamburger Geschichtsdidaktik und der Public History gemeinsam die Charakteristika digitaler Spiele und entwickelten Prototypen für Handreichungen, um die Spiele in der Sekundarstufe I einzusetzen.47 Im Folge44 Erzählstrukturen und modellhafte Geschichte in digitalen Spielen. Ausstellung auf dem Festival Play17, Hamburg 2.–4. 11. 2017. Online unter: http://bit.ly/2VJeMxg (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 45 Netze spinnen. Geschichtswissenschaften und Storytelling in der digitalen Welt, Veranst.Nr. 54–523, Sommersemester 2017. 46 Nico Nolden, Geschichtsunterricht – auf ’s Spiel gesetzt? Das Repositorium HistoGames, in: gespielt 31. 10. 2018, online unter: http://bit.ly/2TbIzNa (letzter Zugriff: 13. 3. 2020). 47 Repositorium HistoGames – Videospiele für den Geschichtsunterricht, Veranst.-Nr. 54–524, Wintersemester 2018/19; Assassin’s Creed Odyssey 2018; Assassin’s Creed Unity 2014;

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semester bereiteten sie ihre Materialien für den Unterricht an Partnerschulen auf und setzten sie im Kernpraktikum ihrer Ausbildung ein.48 Dieses Vorgehen verbessert die Medienbildung angehender Lehrender, weshalb die Maßnahme zur Lehrerprofessionalisierung (L3Prof) an der Universität Hamburg das Projekt finanzierte. Die Studierenden der Public History profitierten, weil sie lernten, digitale Spiele ihren Eigenschaften gemäß Dritten zu erläutern. Als Beobachter der Lehramtsausbildung, analysierten sie ferner den Geschichtsunterricht selbst als ein Medium, das einen spezifischen Transport als Geschichtssorte bedingt. Prototypen und andere Ergebnisse veröffentlicht das Projekt zum freien Download.49 Das Projekt zielte auf die Digitalisierung der Geschichtswissenschaft und die Herausbildung einer schulischen Praxis.

6.

Evolutionsfähigkeit von Geschichtskultur und -wissenschaft

Projektkurse sind organisatorisch aufwändig, herausfordernd zu koordinieren und im Ablauf fragil. Der Lehraufwand macht sie teuer. Externe Kräfte einzubinden, ist aber essentieller Bestandteil im didaktischen Konzept. Diese Ausbildung nimmt die wissenschaftliche Erkundung von historisch arbeitenden Professionen und die Reflexion der Digitalisierung ernst. Angesichts von Komplexität und Aufwand ergänzt das Konzept den universitären Regelbetrieb, kann ihn aber nicht ersetzen. Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb führten in diesem Beitrag auf Anforderungen der Digitalisierung an die geschichtswissenschaftliche Ausbildung und damit zur Lehr- und Forschungskultur der Hamburger Public History. Beispiele für Projektkurse verdeutlichten, wie die Digitalisierung hilft, nicht nur den Transport historischer Informationen für Geschichtssorten zu durchdenken, sondern Praktiken für eine digitalisierte Geschichtswissenschaft bezüglich Analyse, Produktion, Präsentation und Rezension zu entwickeln. Eine zeitgemäße Ausbildung sollte daher systematisch in diese herausfordernde Lage versetzen. Viel besser kann sich die Geschichtswissenschaft so Geschichtssorten jenseits des Textes öffnen. Historikerinnen und Historiker müssen nicht nur lernen, adäquat zu analysieren und zu rezensieren. Sind spezifische mediale Eigenschaften erst identifiziert, können sie diese gezielt für wissenschaftliche Projekte Battlefield 1 2016; Europa Universalis IV 2013; GTA V 2013; Total War: Empire 2009; Valiant Hearts. The Great Wars 2014. 48 Evaluation historischen Lernens – digitale Spiele im Geschichtsunterricht und der Unterricht als Medium, Veranst.-Nr. 54–522, Sommersemester 2019. 49 Teaching Staff Resource Center (TSRC) für nicht-textuelle Geschichtssorten. Digitale Spiele, Hamburg 2019ff., hrsg. v. Thorsten Logge, Andreas Körber, online unter: https://geschichts sorten.blogs.uni-hamburg.de/category/games/ (letzter Zugriff: 13. 03. 2020).

Digitalisierung der Geschichtswissenschaft durch Public History

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nutzen, weil sie die Folgen für historische Inszenierungen erkennen. Dafür gibt die Hamburger Public History eine didaktisch durchdachte Orientierung aus wissenschaftlicher Perspektive, von der Studierende wie Lehrende, aber auch die Externen aus Praxisfeldern profitieren. Dieses Vorgehen reflektiert nicht nur mediale Anwendungsfelder geschichtswissenschaftlich, vielmehr werden geschichtswissenschaftliche Praktiken kontinuierlich durch diese überprüft. Nimmt man ernst, was Aleida Assmann über die „Verfaßtheit“ des historischen Gedächtnisses einer Gesellschaft schrieb, die auf angepassten Speichermedien beruht, so müssen sich geschichtswissenschaftliche Praktiken dem anpassen. Dieser Beitrag schlug einen Bogen von Texten über Datennetze zu Datenbanken, weiter zu digitalen Spielen bis hin zu Virtueller Realität. Sie alle setzen historische Inszenierungen ein und fügen der digitalen Sphäre spezifische Eigenschaften hinzu wie Orts- und Zeitunabhängigkeit, Diversifizierung, Performativität, Prozeduralität und Körperlichkeit. Das Nebeneinander von digitaler und analoger Geschichtswissenschaft überwand der beschriebene Paradigmenwechsel bislang noch nicht. Wenn Historikerinnen und Historiker bewusster mit den diversen Geschichtssorten umgehen, erwächst eine tatsächlich digitalisierte Geschichtswissenschaft. Inhaltlich hat die Postmoderne bereits aufgezeigt, wie fluide historisches Wissen ist. Historikerinnen und Historiker berücksichtigen dies für ihre Studiengegenstände selbstverständlich. Public History bietet nun den Transmissionsriemen, um die Geschichtswissenschaft selbst endlich in Bewegung zu versetzen. Möglich, dass sie dereinst beantworten wird, warum das Medium Text so dominant bleibt.

Joachim Laczny

Wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceanbieter für digitale Editionsprojekte – Chancen und Herausforderungen*

Ein Auszug aus dem am 7. Februar 2018 in Berlin ausgearbeiteten, vorläufigen Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD: Digitale Kompetenzen für alle Bürgerinnen und Bürger in einer modernen Wissensgesellschaft […] Wir brauchen eine Ausbildungs- und Forschungsoffensive in allen Digitalisierungsfeldern. Als besonders wichtig erachten wir Innovation, digitale Souveränität und Interdisziplinarität. […] Dazu kommen weitere Forschungsschwerpunkte wie künstliche Intelligenz, Data Science, Digital Humanities sowie Blockchaintechnologie, Robotik und Quanten-Computing.1

Explizit wird auf bundespolitischer Ebene, neben anderen Forschungsschwerpunkten, den Digital Humanities (DH) ein gewisser Stellenwert für eine moderne Wissensgesellschaft während der geplanten Regierungstätigkeit eingeräumt. Unverkennbar sind die DH, auch bezeichnet als E-Humanities oder digitale Geisteswissenschaften, deren „Gründungsmythos“ sich zur Mitte des letzten Jahrhunderts auf den Jesuiten Roberto Busa und dessen Forschungen zu Thomas von Aquin zurückführen lässt, nicht mehr auf das Publikationswesen von Fachbeiträgen und -tagungen der DH-Fachcommunity beschränkt, sondern folglich in der politischen Agenda angekommen.2

* Der Beitrag basiert auf einer schriftlichen Arbeit in gekürzter Form, die 2018 im Rahmen der theoretischen Referendarsausbildung an der Bibliotheksakademie Bayern verfasst wurde. 1 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 39–41, https:// www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf ?file=1, http://www. csu.de/common/csu/content/csu/hauptnavigation/dokumente/2018/Koalitionsvertrag_2018. pdf, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_20182021_Bund_final.pdf (Stand 07. 02. 2018, Zugriff 28. 02. 2018). 2 S. Manfred Thaller, Geschichte der Digital Humanities, in: Digital Humanities, hrsg. Fotis Jannidis u. a., Stuttgart 2017, S. 3–12. doi:10.1007/978-3-476-05446-3_1; Ders., Digital Humanities als Wissenschaft, in: ebd., S. 13–18. doi:10.1007/978-3-476-05446-3_2.

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Joachim Laczny

Ebenso findet außerhalb der geschichtswissenschaftlichen bzw. der DHFachwelt eine Rezeption der methodisch neuartigen Ansätze im Bereich DH statt, wie zuletzt in der Technology Review Online, wonach eine Studie demonstriert, was in Zukunft mit Data-Mining-Verfahren noch aus Archiven herausgeholt werden könnte. Allerdings zeigt sich auch, dass Menschen Fehler machen: Stimmen die Stichworte nicht oder fehlen Daten, sind Historiker weiterhin auf andere Recherchemethoden angewiesen.3

Deutlich wird indessen an dieser Stelle nicht nur auf Potentiale, sondern auch auf Grenzen von Data-Mining-Verfahren, auch das GIGO-Prinzip der Informatik einbeziehend,4 hingewiesen, denen letztendlich nur mit grundlegenden Methoden bzw. Kompetenzen der Geschichtswissenschaft zu begegnen sei. Als Kulturgüter verwahrende Institutionen, nicht nur für Projekte mit Bezug auf die DH, können in erster Linie die Archive und Bibliotheken angeführt werden. Das Archivwesen widmet sich mittlerweile verstärkt den Auswirkungen der vielfältigen Digitalisierungsaspekte und Vernetzungsmöglichkeiten, wie denen von Schnittstellen, der Langzeitarchivierung (LZA) durch Bibliotheken, der Bereitstellung von Digitalisaten und der Nutzerwahrnehmung im digitalen Raum durch Social Media.5 Auch die Verwendung der Gemeinsamen Normdatei (GND) stößt auf Interesse.6 Aber nicht nur andersartige Publikationswege mittels OpenAccess (OA), sondern auch eine enge Zusammenarbeit von Archivarinnen und Archivaren mit der quellenbasierten Geschichtswissenschaft in Forschung und Lehre sind von besonderer Bedeutung.7 3 Technology Review Online, Data Mining nach historischen Ereignissen, https://heise.de/-394 0803 (Stand 29. 01. 2018, Zugriff 28. 02. 2018). 4 „Garbage in – garbage out“. John Drury Clark, Ignition! An informal history of liquid rocket propellants, New Brunswick, N. J. 1972, S. 97. 5 S. Matthias Razum, „Tear down this wall“. Offene Schnittstellen für die vernetzte Forschung, in: Recherche und Weiterverarbeitung. Beiträge einer Sektion auf dem 51. Deutschen Historikertag 2016 in Hamburg, hrsg. Rainer Hering u. a. (Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg), Stuttgart 2017, S. 36–45. S. zuletzt Elisabeth Niggemann, Digitales Kulturerbe sichern und bereitstellen, in: Archive heute – Vergangenheit für die Zukunft. Zum 65. Geburtstag von Robert Kretzschmar, hrsg. Gerald Maier u. a., Stuttgart 2018, S. 229– 239; Wolfgang Zimmermann, Archiv 3.0: Archive nach der Digitalisierung. Visionen – Erwartungen – Perspektiven, in: ebd., S. 265–271; Peter Müller, Zwischen Suchmaschinen, Portalen und Social Media-Plattformen. Überlegungen zum Nutzermarketing der Archive im Internetzeitalter, in: ebd., S. 285–304. 6 S. Thekla Kluttig, Gemeinsame Normdatei und Archive. Was soll das?, in: Nachlässe – neue Wege der Überlieferung im Verbund. Gemeinsame Frühjahrstagung FG 1 und FG 6 für alle Fachgruppen im VdA; 7. Mai 2013, Staatsarchiv Chemnitz, hrsg. Clemens Rehm u. a. (Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs Reihe A, Archivverzeichnisse, Editionen und Fachbeiträge, 17), Halle (Saale) 2014, S. 85–88. 7 S. Rainer Hering, Präsenz durch Publikationen. Open-Access-Publishing als Perspektive für Archive, in: Recherche (wie Anm. 5), S. 63–73; Ders., Archive und Universitäten, in: Archive heute (wie Anm. 5), S. 317–328, hier S. 317–319.

Wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceanbieter für digitale Editionsprojekte

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Auch viele Bibliotheken, allen voran wissenschaftliche, begleiten zahlreiche, digitale Transformationsprozesse, sodass, exemplarisch angeführt, [u]nter nationalen Gesichtspunkten [..] die Digitalisierung aller mittelalterlichen Handschriften und Inkunabeln auf deutschem Gebiet (Regionalprinzip) und aller im deutschsprachigen Raum oder in Deutsch gedruckten, heute auf dem Gebiet der Bundesrepublik befindlichen Werke, soweit sie nicht dem Urheberrecht unterliegen (gemischtes Regional- und Sprachprinzip), das Ziel [ist.]8

Um dieser Absicht näher zu kommen, ist derzeit für mittelalterliche Handschriften an Bibliotheken eine neue Plattform im Aufbau befindlich.9 Zahlreiche weitere Maßnahmen und Projekte, wie die Nutzung der Software Goobi, des IIIFStandards (International Image Interoperability Framework), der digitalen Rekonstruktion von Fragmenten und verschiedenartiger Portallösungen,10 ließen sich vertieft analysieren, hingegen soll hier nicht vorwiegend der Stand der Imagedigitalisierung zur Erstellung digitaler Faksimiles betrachtet werden. Zwar stellen diese nicht selten die Grundlage – oftmals frei verfügbar – für eine digitale Edition dar,11 doch ist das Augenmerk gezielt auf das Serviceangebot der Bibliotheken für digitale Editionsprojekte, oftmals in Strategiepapieren verankert bzw. an Standorten etabliert, zu lenken.12 Jedoch ist das

8 Thomas Stäcker, Historisches Kulturgut – neue Aufgaben. Konversion des kulturellen Erbes für die Forschung. Volltextbeschaffung und -bereitstellung als Aufgabe der Bibliotheken, in: o-bib 1 (2014), S. 220–237, hier S. 223. doi:10.5282/o-bib/2014H1S220–237. 9 S. Jeanette Lamble, Digitale Zukunft für das historische Schrifterbe. Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert nationales Web-Portal für Handschriften aus Mittelalter und Neuzeit, Berlin, http://blog.sbb.berlin/handschriftenportal/ (Stand 23. 01. 2018, Zugriff 28. 02. 2018). 10 S. exemplarisch Christian Hänger u. a., Alte Drucke in neuem Gewand. Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz der freien Digitalisierungsplattform Goobi an der UB Mannheim, in: B.I.T. online 18 (2015), S. 231–239; Matthias Wehry, Digitale Rekonstruktion von historischem Bibliotheksgut. Projektvorstellung Leibniz-Fragmente und Massendigitalisierung von Flachware, in: o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 4, 4 (2017), S. 189–198, hier S. 192–197. doi:10.5282/o-bib/2017H4S189–198; Markus Brantl, Neuer Standard für Zusammenarbeit, Nutzerfreundlichkeit und Forschung. Das International Image Interoperability Framework (IIIF), in: Bibliotheksmagazin Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und München 1 (2016), S. 24–27; Klaus Ceynowa u. a., Das bayerische Kulturportal bavarikon. Digital, vernetzt, spartenübergreifend, in: Handbuch Kulturportale. Online-Angebote aus Kultur und Wissenschaft, hrsg. Ellen Euler u. a., Berlin, Boston 2015, S. 292–300, hier S. 295. 11 S. Stäcker, Kulturgut (wie Anm. 8), S. 224–226; Malte Rehbein, Digitalisierung, in: Digital Humanities (wie Anm. 2), S. 179–198. doi:10.1007/978-3-476-05446-3_12. 12 Thaller, Digital Humanities (wie Anm. 2), S. 11. S. exemplarisch SUB Göttingen, Strategie der SUB Göttingen 2018–2021 – vorläufige Version, „3. Publikationsservices ‚Sichtbarkeit Göttinger Forschung stärken‘ […] Service für Digitale Editionen“, https://www.sub.uni-goet tingen.de/wir-ueber-uns/portrait/strategie-2018-2021/ (Zugriff 28. 02. 2018); National University of Ireland, Galway, Library. Digital Scholarly Editions, http://library.nuigalway.ie/sup port/researchsupport/digitisationcentre/digitisingtosupportscholarship/digitalscholarlyedi tions/ (Zugriff 28. 02. 2018).

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Angebot an virtuellen Infrastrukturen für digital basierte geisteswissenschaftliche Forschung und insbesondere digitale Editionen [..] aktuell so vielfältig wie die Diskussionen sowohl um geeignete Editionsumgebungen als auch um Definitionen, Standards, Methoden, Potenziale sowie Grenzen, Bewertungssysteme oder Langzeitarchivierung und -verfügbarkeit von digitalen Editionen.13

Das Zusammenspiel zwischen einer Bibliothek als Servicedienstleister und der kritischen Editionswissenschaft ließe sich einleitend durchaus bis in die Zeit des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts rund um die erste kritische Homer-Ausgabe am Museion im ägyptischen Alexandria ausführlich nachzeichnen und weitere, kritische Editionsprojekte und deren Entstehungszusammenhang über die letzten Jahrhunderte könnten ins Zentrum gerückt werden.14 Indessen soll im Weiteren der Fokus auf born digital-Editionen der letzten Jahre ruhen, wobei etwaige Retrodigitalisierungen von zuvor gedruckten Editionswerken ausgenommen bleiben.15 Aufgrund der aktuellen Entwicklungen definieren Bibliotheken angesichts vielfältiger Informationsangebote im Netz ihre Rollen als Informationsdienstleister wie als Forschungs- und Gedächtniseinrichtungen neu. Ihre traditionellen Aufgaben von Erwerbung, Erschließung und Benutzung nehmen in einem wesentlich entgrenzten Wissensraum, den das Internet konstituiert, einen neuen Charakter an. Es geht längst nicht mehr nur darum, Quellen und Forschungsliteratur zu erwerben, zu katalogisieren und langfristig für die Benutzung zugänglich zu machen. Quellen und Literatur können, sofern es keine urheberrechtlichen Schranken gibt, durch die Bibliothek selbst im Internet als digitale Editionen angeboten werden. […] Denn eines ist sicher: digitale Editionen brauchen Institutionen, die helfen[,] sie zu erstellen, sie zugänglich zu machen und sie dauerhaft zugänglich zu halten.16

Der Definition folgend sind Bibliotheken heute nur selten als alleinig Betreuende von Editionsprojekten auszumachen, da diese Projekte vorwiegend an Archiven, Universitäten und Akademien angesiedelt sind.17 Ergänzend ist anzumerken, 13 Workshop-Programm: Virtuelle Infrastrukturen für digitale Editionen. Entwicklungen, Perspektiven und Projekte. 12.–14. November 2015, https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/pu blic-docs/Bibliothek/Veranstaltungen_Ausstellungen/Flyer_Workshop_Digitale_Editionen_ 2015_web.pdf (Zugriff 28. 02. 2018). 14 S. Egert Pöhlmann, Einführung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur, Band 1, Altertum, Darmstadt 1994, S. 27–28, 31–32; Elmar Mittler u. a., Edition und Forschungsbibliothek, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 9–22, hier S. 10–13. 15 S. Mats Dahlström, Editing Libraries, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 91–106, hier S. 103–104. 16 Mittler u. a., Edition (wie Anm. 14), S. 14, 21. 17 S. Otto Pöggeler, Die historisch-kritische Edition in der Wissenschaftsorganisation, in: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte, hrsg. Walter Jaeschke, Hamburg 1987, S. 27–37; Bodo Plachta u. a., Überlieferung, Philologie und Repräsentation. Zum Verhältnis von Editionen und Institutionen, in: Text und Edition. Po-

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dass digitale Editionsprojekte oft dazu neigen, „noch komplexer zu werden als ihre traditionellen Vorgänger.“18 Von daher gilt es, für die zahlreichen Aufgaben und Arbeitsbereiche Mitarbeitende mit sehr spezifischen Kompetenzen zu gewinnen. Digitale, kritische Editionen stellen eines der herausragenden Themenfelder der DH dar und sind nach Sahle „digitale wissenschaftliche Ausgaben, mit denen Grundlagenmaterial für die weitere Forschung bereitgestellt wird.“19 Die Zielsetzung und Methode für die Erstellung einer Digitalen Edition bzw. Scholary Digital Edition (SDE) hängt vom Fachhintergrund ab, sodass sich die Ergebnisse beispielsweise zwischen den Literaturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft stark unterscheiden. Im Gegensatz zu einer gedruckten Edition folgt die digitale Edition einer grundsätzlichen Offenheit, sodass sich das Produkt in einem steten Prozess befindet und dieses nicht als finalisiert anzusehen ist. Dieser Prozess bringt gleichzeitig Herausforderungen hinsichtlich des Bearbeitungsstandes und der Zitierbarkeit mit sich. Trotzdem wird durch die Einbindung von Faksimiles eine zuvor ungeahnte Multimedialität, verbunden mit wissenschaftlicher Transparenz, erreicht.20 Für die Bibliothekswelt lassen sich anhand der „Kriterien für die Besprechung digitaler Editionen“ aus dem Jahr 2014 relevante Aspekte für eine Zusammenarbeit mit Editorinnen und Editoren identifizieren, wie die ausgewählten Merkmale „Erschließungsinformationen zur Beschreibung und Vernetzung“, „Referenzierbarkeit und Zitation“, „Technische Schnittstellen“, „Spin-offs und Exportformate“, „Grunddaten“, „Rechte und Lizenzen“ und „Dauerhafte Nutzbarkeit“ veranschaulichen.21

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sitionen und Perspektiven, hrsg. Rüdiger Nutt-Kofoth u. a., Berlin 2000, S. 11–35; Bodo Plachta, Edition und Bibliothek, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 23–36, hier S. 27. S. exemplarisch Cordula A. Franzke u. a., Digital Humanities und eine Edition von Amtsbüchern. Die Verwaltungstätigkeit des Deutschen Ordens im ländlichen Raum Preußens, in: Konzeptionelle Überlegungen zur Edition von Rechnungen und Amtsbüchern des späten Mittelalters, hrsg. Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia, 16), Göttingen 2016, S. 91– 105, hier S. 96–105. doi:10.14220/9783737006774.91. Patrick Sahle, Digitale Edition, in: Digital Humanities (wie Anm. 2), S. 234–249, hier S. 244. doi:10.1007/978-3-476-05446-3_17. Ebd., S. 237. S. ebd., S. 240. S. Ders., Kriterienkatalog für die Besprechung digitaler Editionen. Version 1.1, unter Mitarbeit von Georg Vogeler und den Mitgliedern des IDE, https://www.i-d-e.de/publikationen/ weitereschriften/kriterien-version-1-1/ (Stand 06.2014, Zugriff 14. 02. 2018). S. ferner Modern Language Association of America, Guidelines for Editors of Scholarly Editions, https://www. mla.org/Resources/Research/Surveys-Reports-and-Other-Documents/Publishing-and-Scho larship/Reports-from-the-MLA-Committee-on-Scholarly-Editions/Guidelines-for-Editorsof-Scholarly-Editions (Stand 29. 06. 2011, Zugriff 28. 02. 2018).

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Daneben veröffentlichte das „Fachkollegium Literaturwissenschaft“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Ende 2015 Empfehlungen mit Kriterien als Grundlage für die Antragstellung und Begutachtung für wissenschaftliche Editionen in der Literaturwissenschaft, wonach [n]icht für jedes Editionsprojekt [..] eine digitale Veröffentlichungsform erwartet [wird] – in jedem Fall jedoch eine Sicherung und Bereitstellung der Textdaten in digitaler Form. […] Je nach Editionskonzept und Methodik sind höhere Anforderungen und Spezifizierungen möglich, die jedoch, sobald sie mit höheren Kosten verbunden sind, entsprechende Begründungen erfordern. Dies kann von Beginn an die Zusammenarbeit mit geeigneten Institutionen (Bibliotheken, Archiven, spezialisierten Forschungszentren) empfehlenswert machen. Diese Institutionen können auch die langfristige Archivierung der Daten übernehmen.22

Hinsichtlich der Zugänglichkeit der digitalen Editionen über die Projektlaufzeit hinaus ist über gängige bibliothekarische Nachweissysteme unter Einhaltung der Standards für bibliothekarische Metadaten sowie über gängige Schnittstellen der Datenaustausch zu gewährleisten.23 Unabhängig von der Form der Veröffentlichung soll der Text als XML/TEI-Datei (eXtensible Markup Language, Text Encoding Initiative) einem vertrauenswürdigen Repositorium zur freien Nachnutzung für wissenschaftliche Zwecke bereitgestellt werden.24 Mehrmals werden in den oben bereits erwähnten DFG-Förderkriterien Bibliotheken als kompetente Ansprech- bzw. potentielle Projektpartner hervorgehoben.25 Zwar bleibt festzuhalten, dass zahlreiche Entwicklungen in Bezug auf digitale Editionen seitens der Forschung nicht abschließend erörtert bzw. die Nachhaltigkeit berücksichtigend vollendet sind, wie Aspekte um eine „Diskussion der Datenmodelle“, um „Editionen als Daten, die an Schnittstellen bereitgestellt werden“ oder um den „Begriff und [das] Konzept der Edition im Auflösen der Grenzen“ zu einem digitalen Archiv oder einer virtuellen Forschungsumgebung veranschaulichen.26 Dennoch sind als Potentiale für digitale Editionsprojekte

22 Fachkollegium Literaturwissenschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Informationen für Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen. Förderkriterien für wissenschaftliche Editionen in der Literaturwissenschaft, S. 2–3, http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/ grundlagen_dfg_foerderung/informationen_fachwissenschaften/geisteswissenschaften/foer derkriterien_editionen_literaturwissenschaft.pdf (Stand 11.2015, Zugriff 28. 02. 2018). 23 S. ebd., S. 3. 24 S. ebd., S. 4, 6. Das hier erwähnte „TEI Simple“ wurde durch das TEI Consortitum auf die Verwendung für gedruckte Dokumente eingegrenzt und lautet „TEI simplePrint“. S. Förderkriterien (wie Anm. 22), S. 6; TEI. Customization, http://www.tei-c.org/Guidelines/Cus tomization/index.xml (Zugriff 28. 02. 2018). 25 S. Förderkriterien (wie Anm. 22), S. 2–4. 26 S. Sahle, Digitale Edition (wie Anm. 18), S. 248.

Wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceanbieter für digitale Editionsprojekte

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nicht nur Data oder Text Mining für aktuelle bzw. zukünftige Bestrebungen zu erkennen.27 Zahlreiche Editionen werden sich vermehrt durch offene, dynamische und vernetzte Charakteristika bzw. Inhalte auszeichnen, welches auch Herausforderungen nicht nur für die Darstellungsweise, sondern vor allem auch für weitere Analysen im geisteswissenschaftlichen Kontext und die nachhaltige Nutzbarkeit mit sich bringt.28 Folglich ergibt sich ein Paradoxon für die Bibliothekswelt, wonach offen bleibt, ob the role of the library in future is to provide permanent access to editions that shift under our feet, to provide the permanency of change?29

Diesem Phänomen könne nach Boot und van Zundert durch eine redundante Implementierung sowie automatisierte Vervielfältigung und Versionierung der mit den Editionen verbundenen Webkomponenten bzw. -services data sources, processing services und interfaces begegnet werden, um somit die Nachhaltigkeit sicherzustellen.30 Diesem theoriegeleiteten Ansatz und Anspruch stehen jedoch letztendlich nicht nur die begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen der jeweiligen Institutionen entgegen,31 sodass im Folgenden die für diese Komponenten zu setzenden Schwerpunkte bzw. entsprechenden Kompromisslösungen seitens einer Kulturgüter verwahrenden Institution zu identifizieren sind.32

27 S. Heike Neuroth, Die wissenschaftliche Bibliothek im Kontext von Forschungsinfrastrukturen, in: Evolution der Informationsinfrastruktur. Forschung und Entwicklung als Kooperation von Bibliothek und Fachwissenschaft, hrsg. Dies. u. a., Glückstadt 2013, S. 325– 344, hier S. 327; Bastian Drees, Text und Data Mining. Herausforderungen und Möglichkeiten für Bibliotheken, in: Perspektive Bibliothek 5, 1 (2016), S. 49–73. doi:10.11588/pb. 2016.1.33691. 28 S. Peter Boot u. a., The Digital Edition 2.0 and the Digital Library. Services, not Resources, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 141–152, hier S. 143–145; Dahlström, Editing Libraries (wie Anm. 15), S. 105. 29 Boot u. a., Digital Edition (wie Anm. 28), S. 150. 30 S. ebd., S. 150, 145. 31 S. Mittler u. a., Edition (wie Anm. 14), S. 21, Anm. 40; Reinhard Altenhöner, Trau, schau, wem. Zur Authentizität und Langzeitverfügbarkeit digitaler Objekte, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 153–170, hier S. 169. Ferner s. Patrick Sahle u. a., Jenseits der Daten. Überlegungen zu Datenzentren für die Geisteswissenschaften am Beispiel des Kölner ‚Data Center for the Humanities‘, in: LIBREAS. Library Ideas 23, 2 (2013), S. 76–96, hier S. 85. doi:10.18452/9043. 32 S. Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd), AG Datenzentren – Geisteswissenschaftliche Datenzentren im deutschsprachigen Raum. Grundsatzpapier zur Sicherung der langfristigen Verfügbarkeit von Forschungsdaten, S. 13–14 (Stand 01. 08. 2017). doi:10. 5281/zenodo.1134760.

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Insbesondere gilt es, kritisch das Aufgabenfeld und Rollenverständnis einer Bibliothek im Zusammenhang mit den DH zu hinterfragen, denn, nach Thaller aus 2012, ist es extremely welcome, that librarians nowadays take an active interest in providing access to digital information. But does the way, in which this digital information is handled, not have to come out of an understanding of the analytical requirements, which can only be derived from an understanding what on the level of analysis – not skills – is defined by and defines the Digital Humanities? An understanding, that has to come out of the Humanities themselves, not the libraries – nor any other type of repository.33

Teilweise konträr zu dieser Aussage definierte Stäcker ein Jahr zuvor folgende bibliothekarische Zielsetzungen im Zusammenhang mit digitalen Editionsprojekten: Die Bibliothek vermittelt das nötige editorische Wissen durch gezielte Schulungen und Einweisung in geeignete Instrumente (XML Editoren wie oXygen, Nutzung von TextGrid u. ä.) und sorgt für die Publikation der kodierten Texte auf ihren Servern. Sie übernimmt als konkrete Dienstleistung jedoch nicht nur die Betreuung der technischen Herstellung der Edition im engeren Sinne, sondern auch die – – – – – – – – – – – –

bibliographische Ermittlung und Beschreibung, Beschaffung und Publikation digitaler Faksimiles, Beschaffung des Rohtextes durch Abschreiben, Herstellung des Basistextes (Grundkodierung), Formulierung von Skripten (XSLT, XQuery) zur Präsentation und Suche, Bereitstellung der technischen Infrastruktur (Publikation und Recherche, Distribution), Langzeitarchivierung, Zitierfähigkeit, Aggregation, Bereitstellung von Webservices, Bereitstellung einer Kommunikations- und Annotationsplattform, …

Ziel ist letztlich die Schaffung einer virtuellen Forschungsumgebung auch für die Kultur- und Geisteswissenschaften, die das Konzept der Forschungsbibliothek um die digitale Dimension erweitert.34

Dementsprechend ist deutlich das Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen und Erwartungen der forschenden DH-Fachwelt im Bereich der digitalen Edi-

33 Manfred Thaller, Controversies around the Digital Humanities. An Agenda, in: Historical Social Research 37, 3 (2012), S. 7–23, hier S. 11. doi:10.12759/hsr.37.2012.3.7–23. 34 Thomas Stäcker, Creating the Knowledge Site. Elektronische Editionen als Aufgabe einer Forschungsbibliothek, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 107–126, hier S. 125.

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tionen und eines potentiellen Serviceangebots durch das Bibliothekswesen erkennbar. Inwieweit im Rahmen eines Editionsprojekts etwaige Forschungsdaten vorzuhalten und zu veröffentlichen sind, wie oftmals durch fördernde Institutionen erwünscht,35 wird derzeit in der geschichtswissenschaftlichen Fachwelt, auch im Hinblick auf DH-Projekte, intensiv ausgelotet.36 Laut des Positionspapiers des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) zur Schaffung nationaler Forschungsdateninfrastrukturen (NFDI) sieht „die Geschichtswissenschaft [..] deshalb die Notwendigkeit, nicht nur die digitalen Forschungsergebnisse, sondern in enger Zusammenarbeit mit den bewahrenden Institutionen, wie Archiven und Bibliotheken, das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft insgesamt nachhaltig zu sichern und zu pflegen.“37 Der Begriff Forschungsdaten im geschichtswissenschaftlichen Kontext ist somit nicht nur auf Daten im Zusammenhang einer Edition beschränkt, wie die Dokumentation einer Editionsrichtlinie exemplarisch zeigt.38

35 S. exemplarisch Deutsche Forschungsgemeinschaft, Leitlinien zum Umgang mit Forschungsdaten, http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/antragstellung/forschungsda ten/richtlinien_forschungsdaten.pdf (Zugriff 28. 02. 2018); Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen, Grundsätze zum Umgang mit Forschungsdaten, http://www.allianz initiative.de/de/handlungsfelder/forschungsdaten/grundsaetze.html (Zugriff 28. 02. 2018) sowie die Empfehlungen European Commission Directorate-General for Research & Innovation, H2020 Programme. Guidelines to the Rules on Open Access to Scientific Publications and Open Access to Research Data in Horizon 2020, Version 3.2, S. 5, http://ec.europa.eu/rese arch/participants/data/ref/h2020/grants_manual/hi/oa_pilot/h2020-hi-oa-pilot-guide_en. pdf (Stand 21. 03. 2017, Zugriff 28. 02. 2018). Ferner s. Rat für Informationsinfrastrukturen (RfII), Leistung aus Vielfalt. Empfehlungen zu Strukturen, Prozesse und Finanzierung des Forschungsdatenmanagements in Deutschland, http://www.rfii.de/?wpdmdl=1998 (Stand 2016, Zugriff 28. 02. 2018). 36 S. Andreas Aschenbrenner u. a., Forschungsdaten-Repositorien, in: Handbuch Forschungsdatenmanagement, hrsg. Stephan Büttner u. a., Bad Honnef 2011, S. 101–114, hier S. 101; Sahle u. a., Jenseits (wie Anm. 31); Peter Andorfer, Forschungsdaten in den (digitalen) Geisteswissenschaften. Versuch einer Konkretisierung (DARIAH-DE working papers), http:// nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:gbv:7-dariah-2015-6-6 (Stand 2015, Zugriff 28. 02. 2018); Patrick Sahle u. a., Datenzentren für die nachhaltige Forschung in den Digital Humanities. Panel-Abstract. DHd 2016, Leipzig, 7.–12. März 2016, http://dhd2016.de/ boa.pdf (Zugriff 28. 02. 2018); Sven Bingert u. a., Herausforderungen und Perspektiven für ein geisteswissenschaftliches Forschungsdatenzentrum, in: Bibliothek Forschung und Praxis 41, 3 (2017), S. 279–290, hier S. 282–288. doi:10.1515/bfp-2017–0036. 37 Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, Positionspapier des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) zur Schaffung nationaler Forschungsdateninfrastrukturen (NFDI), S. 2, https://www.historikerverband.de/fileadmin/_ vhd/Stellungnahmen/Positionspapier-NFDI_VHD_final.pdf (Zugriff 28. 02. 2018). 38 S. Altenhöner, Trau (wie Anm. 31), S. 167; Sahle, Digitale Edition (wie Anm. 18), S. 241; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, Positionspapier (wie Anm. 37), S. 3–4.

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Forschungsdatenmanagement (FDM), LZA, wie auch die Formulierung von Qualitätsstandards für Repositorien für DH-Projekte, unterliegen ebenfalls im bibliothekarischen Umfeld einer näheren Betrachtung. Für die Fachwissenschaft sind vor allem inhaltliche Aspekte von Bedeutung, wohingegen für das FDM Dateiformate bzw. einzusetzende technische Lösungen im Zentrum stehen.39 Zudem beinhaltet das FDM, neben einer dauerhaften Finanzierung des Services, die Berücksichtigung von rechtlichen und ethischen Grundsätzen, die Veröffentlichung von Policies und entsprechenden Zuständigkeiten sowie die Strukturierung der Forschungsdaten, verbunden mit der Erstellung von Metadaten, welches eine eindeutige Referenzierbarkeit einschließt.40 Erstrebenswertes Ziel ist es, eine Nachvollziehbarkeit von Forschungsergebnissen und deren Nachnutzbarkeit zu gewährleisten, wobei unterdessen rechtliche Herausforderungen nicht unbeachtet bleiben dürfen.41 Mittels LZA sollen Daten auf unbestimmte Zeit vorgehalten und gepflegt werden, um deren Zugänglichkeit und Verwendbarkeit über technische Entwicklungsveränderungen hinaus sicherzustellen.42 Dieses schließt die Garantie der Erhaltung des Bitstreams, sowie gegebenenfalls die notwendige Migration der Dateiformate oder gar die Emulation von Systemumgebungen ein.43 Grundsätzlich sind damit die Voraussetzungen vorhanden, um nicht nur Editionstexte als born digital-Materialien, sondern auch unmittelbar damit im Zusammenhang stehende digitale Materialien auf unbestimmte Zeit abrufbereit vorzuhalten.44 Hinzu treten Repositorien als Speicherumgebung, welche für die Anforderungen einer Zielgruppe modifiziert sind. Entsprechende Qualitätsnachweise sollten durch die Bibliothek veröffentlicht werden, um gleichzeitig durch Informationsmaterialien und Veranstaltungen die digitale Editionen erstellende 39 S. Jakob Voß, Was sind eigentlich Daten?, in: LIBREAS. Library Ideas 23, 2 (2013), S. 4–11, hier S. 9. 40 S. Cordula Franzke, Repositorien für Forschungsdaten am Beispiel der Digital Humanities im nationalen und internationalen Vergleich, in: Perspektive Bibliothek 6, 1 (2017), S. 2–33, hier S. 7–8. doi:10.11588/pb.2017.1.42164. 41 S. Maxi Kindling, Qualitätssicherung im Umgang mit digitalen Forschungsdaten, in: Information. Wissenschaft & Praxis 64, 5 (2013), S. 137–148, hier S. 139; Altenhöner, Trau (wie Anm. 31), S. 168; Tobias Hillegeist, Rechtliche Probleme der elektronischen Langzeitarchivierung wissenschaftlicher Primärdaten, Göttingen 2012. 42 S. Hans Liegmann u. a., Einführung, in: nestor Handbuch. Eine kleine Enzyklopädie der digitalen Langzeitarchivierung. Version 2.3, hrsg. Heike Neuroth u. a., Göttingen 2010, Kap. 1:1–10, hier Kap. 1:2–1:3; Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd), Datenzentren (wie Anm. 32), S. 7. 43 S. Frauke Schade, Praxishandbuch Digitale Bibliotheksdienstleistungen. Strategie und Technik der Markenkommunikation, Berlin 2016, S. 50; Stefan E. Funk, Digitale Erhaltungsstrategien. Einführung, in: nestor Handbuch (wie Anm. 42), Kap. 8:1–2, hier Kap. 8:2. 44 S. Henry M. Gladney, Long-Term Digital Preservation. A Digital Humanities Topic?, in: Historical Social Research 37, 3 (2012), S. 201–217, hier S. 214. doi:10.12759/hsr.37.2012.3.201– 217; Altenhöner, Trau (wie Anm. 31), S. 156–161.

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DH-Fachcommunity für die Thematik trusted repository zu sensibilisieren.45 Grundsätzlich sollten daher im Vorwege eines Editionsprojektes detaillierte Aspekte, wie Transfer- und Prüfwege, aber auch konkrete Aufgaben des Repositorienbetreibers vereinbart werden.46 Zunächst ist eine Separierung des kritischen Editionstextes von einer Präsentationsschicht, wie Webseitendarstellung, notwendig.47 Digitale Editionen wurden in der Aufbauphase zu Anfang der 2000er Jahre häufig in statischem HTML konzipiert und werden heute noch fortgeführt, wie das Virtuelle Preußische Urkundenbuch.48 Aktuelle Entwicklungen beachtend, ist jedoch die Erstellung des Editionstextes als XML-Datei und ausgezeichnet nach den Regeln der TEI wünschenswert.49 Ausgehend von der aktuellen Fassung der TEI-P5 entstanden oftmals für unterschiedliche Forschungsvorhaben spezifische Anwendungsformen.50 Beispielhaft seien die Anpassungen TEI Lite (Basis Elemente), TEI simplePrint (Drucke) und MS (Handschriften) angeführt.51 Auch sind die zuletzt überarbeiteten Best Practices for TEI in Libraries für das bibliothekarische Umfeld bedeutsam.52 Von CLARIN-D (Common Language Resources and Technology Infrastructure) und der DFG wird für historische Texte als TEI-Format das DTABasisformat empfohlen, doch auch an Bibliotheken finden spezifische Weiter-

45 S. ausführlich Franzke, Repositorien (wie Anm. 40), S. 12–17. 46 S. Altenhöner, Trau (wie Anm. 31), S. 168. 47 S. Malte Rehbein u. a., Reading Environments for Genetic Editions, in: Scholarly and Research Communication 4, 3 (2013), S. 1–21. doi:10.22230/src.2013v4n3a123. 48 S. Stefan Cramme, Editionen in einer bildungshistorischen Forschungsbibliothek, in: Bibliothek und Wissenschaft 44 (2011), S. 81–90, hier S. 85; Stuart Jenks, Das digitale Preußische Urkundenbuch, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 17 (2000), S. 181–191; Jürgen Sarnowsky, Das virtuelle Preußische Urkundenbuch. Neue Wege der Kooperation für Internet-Editionen, in: Mediaevistik und neue Medien, hrsg. Klaus van Eickels u. a., Stuttgart 2002, S. 173–180; Ders., Das virtuelle Preußische Urkundenbuch. Neue Wege der Kooperation für Internet-Editionen, in: Beiträge zur Geschichte Westpreußens 19 (2004), S. 257–266; Joachim Laczny, Das „Virtuelle Preußische Urkundenbuch“. Eine Zwischenbilanz, in: Das „Virtuelle Archiv des Deutschen Ordens“. Beiträge einer internationalen Tagung im Staatsarchiv Ludwigsburg am 11. und 12. April 2013, hrsg. Maria Magdalena Rückert, Stuttgart 2014, S. 106–112, hier S. 107–108. 49 S. Georg Vogeler u. a., XML, in: Digital Humanities (wie Anm. 2), S. 128–146. doi:10.1007/ 978-3-476-05446-3_9. 50 S. TEI P5. Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange. Version 3.3.0, http:// www.tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/ (Stand 31. 01. 2018, Zugriff 28. 02. 2018). 51 S. TEI: Customization (wie Anm. 24). 52 S. Best Practices for TEI in Libraries. A guide for mass digitization, automated workflows, and promotion of interoperability with XML using the TEI, http://www.tei-c.org/SIG/Libraries/tei inlibraries/ (Zugriff 28. 02. 2018).

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entwicklungen der Standards statt,53 wobei „ein besonderer Schwerpunkt [..] bei elektronischen Editionen von eigenen Beständen“54 liegen kann. Die Zitierfähigkeit der Dokumente ist durch Persistent Identifier, wie PURL (Persistent Uniform Resource Locator), URN (Uniform Resource Name) oder DOI (Digital Object Identifier), sicherzustellen, wobei ein möglichst granularer Verweis bereitzustellen ist,55 neben dem Nachweis der bibliografischen Angaben der digitalen Edition durch entsprechende Metadaten in Verbundkatalogen. Eine Gliederung in deskriptive Metadaten für das Auffinden der Edition, in technische Metadaten mit Angaben zum Dateiformat und zur Kodierung sowie in administrative Metadaten zur Dokumentation der Nutzungsrechte, wäre zunächst denkbar. Vor allem sind die Entwicklungen zur Ablösung des MARC-Formats (MAchine-Readable Cataloging) durch BIBFRAME (Bibliographic Framework) hinsichtlich des Semantic Web in diesem Zusammenhang beachtenswert.56 Als weiteres Exportformat ist METS/MODS (Metadata Encoding & Transmission Standard/Metadata Object Description Schema) anzuführen. Daneben ist mittels einer OAI-Schnittstelle in Verbindung mit dem Protocol for Metadata Harvesting (OAI-PMH) die Abrufmöglichkeit von Daten uneingeschränkt wünschenswert.57 Über diese Zugangsmöglichkeit für Forschende wäre auch ein Abruf der Datenbestände für die Sammlung, Bewahrung und Verwaltung von Netzpublikationen durch Pflichtexemplarbibliotheken in Deutschland gewährleistet.58

53 S. Deutsches Textarchiv u. a., DTA-Basisformat, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/ba sisformat/ (Zugriff 28. 02. 2018); HAB Wolfenbüttel, Dokumentation der von der HAB zur Verfügung gestellten Ressourcen, http://diglib.hab.de/rules/documentation/ (Zugriff 28. 02. 2018); Joris van Zundert, If You Build It, Will We Come? Large Scale Digital Infrastructures as a Dead End for Digital Humanities, in: Historical Social Research 37, 3 (2012), S. 165–186, hier S. 173, 175. doi:10.12759/hsr.37.2012.3.165–186. 54 HAB Wolfenbüttel, Wolfenbütteler Digitale Bibliothek, http://diglib.hab.de/ (Zugriff 28. 02. 2018). 55 S. Kathrin Schroeder, Persistent Identifer (PI). Ein Überblick, in: nestor Handbuch (wie Anm. 42), Kap. 9:22–45; Christa Schöning-Walter, Der Uniform Resource Name (URN), in: ebd., Kap. 9:46–56; Jan Brase, Der Digital Objekt Identifer (DOI), in: ebd., Kap. 9:57–65. 56 S. Roy Tennant, MARC Must Die, in: Library Journal 127, 17 (2002), S. 26–27; Keith P. DeWeese, Dan Segal, Libraries and the semantic web (Synthesis lectures on emerging trends in librarianship, 3), San Rafael, Calif. 2015, S. 5–23, 34–35. doi:10.2200/S00615ED1V01Y20141 1ETL003; Sally H. McCallum, BIBFRAME and Linked Data for Libraries, in: Linked data for cultural heritage, hrsg. Ed Jones u. a., Chicago 2016, S. 105–123, hier S. 114–120; Library of Congress, Overview of the BIBFRAME 2.0 Model, https://www.loc.gov/bibframe/docs/bibfra me2-model.html (Stand 21. 04. 2016, Zugriff 28. 02. 2018). 57 S. The Open Archives Initiative Protocol for Metadata Harvesting. Protocol Version 2.0, https://www.openarchives.org/OAI/openarchivesprotocol.html (Stand 08. 01. 2015, Zugriff 28. 02. 2018). 58 S. Eric W. Steinhauer, Die Sammlung, Bewahrung und Verwaltung von Netzpublikationen durch Pflichtexemplarbibliotheken in Deutschland, in: Bibliotheksdienst 49, 12 (2015), S. 1101–1113, hier S. 1110. doi:10.1515/bd-2015-0133.

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Grundsätzlich ist eine möglichst weitreichende Lizensierung des digitalen Editionstextes als XML-Datei, wie durch eine Creative Commons-Lizenz (CC) BYSA anzustreben, um somit eine Vervielfältigung und Weiterverbreitung sowie ein Remixen, Verändern und mit darauf aufbauenden Projekten, und zwar für beliebige Zwecke – sogar kommerziell – im Sinne eines Freien kulturellen Werkes zu ermöglichen.59 Auch hierdurch wird der Göttinger und Berliner Erklärung sowie den DFG- und EU-Bestrebungen, zuletzt im EU-Horizon 2020-Programm, zum Open Access Rechnung getragen.60 Eine Auswahl an – neben den grundsätzlichen – bibliografischen Metadaten bietet u. a. der Catalogue of Digital Editions mit Angaben, wie zu „Repository of Source Material(s)“, „XML(-TEI) transcription to download“ und zur „Creative Commons License“, an.61 Aber auch das Angebot einer API (Application Programming Interface) wird in der Datenbank nachgewiesen. Innerhalb eines XML-Dokuments sind Verweise bzw. die Integration von Fremddaten, wie zu GND-, ORCID-Datensätzen oder Lexikonartikeln, über konstante Verlinkungen anzusetzen, um einen nachhaltigen Zugriff zu ermöglichen und damit, neben der FAIR-Empfehlung hinsichtlich Interoperable, auch den Bestrebungen für Open Linked Data zu entsprechen.62 59 S. Creative Commons. Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Deutschland (CC BY-SA 3.0 DE), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/ (Zugriff 28. 02. 2018); Definition of Free Cultural Works, v.1.1. Definition/De, https://freedomdefi ned.org/Definition/De (Stand 04. 08. 2017, Zugriff 28. 02. 2018). 60 S. Göttinger Erklärung zum Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft vom 5. Juli 2004, http://www.urheberrechtsbuendnis.de/GE-Urheberrecht-BuW-Mitgl.pdf (Stand 05. 07. 2004, Zugriff 28. 02. 2018); Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen vom 22. 10. 2003, https://openaccess.mpg.de/68053/Berliner_Erklaerung_dt_Version_072006.pdf (Stand 22. 10. 2003, Zugriff 28. 02. 2018); Deutsche Forschungsgemeinschaft, Positionspapier der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Ausschuss für Wissenschaftliche Bibliotheken und Informationssysteme. Die digitale Transformation weiter gestalten – Der Beitrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu einer innovativen Informationsinfrastruktur für die Forschung, http://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/programme/lis/po sitionspapier_digitale_transformation.pdf (Stand 03. 07. 2012, Zugriff 28. 02. 2018); European Commission Directorate-General for Research & Innovation, H2020 Programme (wie Anm. 35). 61 S. Catalogue of Digital Editions, https://dig-ed-cat.eos.arz.oeaw.ac.at/ (Zugriff 28. 02. 2018); Greta Franzini u. a., A Catalogue of Digital Editions, in: Digital Scholarly Editing. Theories and Practices, hrsg. Matthew James Driscoll u. a., Cambridge 2016, S. 161–182. doi: 10.11647/OBP.0095.09; Patrick Sahle, A catalog of Digital Scholarly Editions. V 3.0, http:// www.digitale-edition.de/ (Stand 22. 03. 2017, Zugriff 28. 02. 2018). 62 S. Mark D. Wilkinson u. a., The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship, in: Scientific Data 3 (2016). doi:10.1038/sdata.2016.18; Tim Berners-Lee, Linked Data, https://www.w3.org/DesignIssues/LinkedData.html (Stand 18. 06. 2009, Zugriff 28. 02. 2018); Sarah Hartmann u. a., GND und ORCID. Brückenschlag zwischen zwei Systemen zur Autorenidentifikation, in: Bibliotheksdienst 51, 7 (2017), S. 575–588. doi:10.1515/ bd-2017-0062.

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Ein potentielles Serviceangebot einer Bibliothek für digitale Editionsprojekte wird durchaus als Kooperationsmöglichkeit seitens der Editorinnen und Editoren aufgefasst, da [t]he conjunction of originals/reproductions with reading and study aids would traditionally be seen as the normal product of scholarship, in other words, not a primary responsibility of a library. The present understanding emerging between libraries and scholars is that mutually reliant cooperation should be developed in the overlapping field of their respective expertise and interests. Consequently, reading environments for genetic editions call for joint library-and-scholarship enterprises: an innovative field much desired from both sides.63

Zudem sind im Umfeld der universitären Lehre durch Bibliotheken unterstützende Angebote, wie für die Erstellung und Veröffentlichung eines digitalen Editionstextes im Rahmen eines Seminars oder eines Dissertationsprojektes, zu eruieren. In der Anfangsphase eines Projekts können bibliothekarisch angebotene Lehr-Lernumgebungen, einführend in die Thematiken XML-TEI P5,64 LZA und FDM, sowie vertiefende Recherchekompetenz zu elektronischen Medien angeboten werden.65 Ergänzend wären Veranstaltungsangebote für Einblicke in das Literaturverwaltungsprogramm Citavi vorstellbar.66 Vor allem vor einer Antragstellung bzw. zu Beginn eines Editionsprojektes ist der enge Austausch zwischen den am Editionsvorhaben Beteiligten und den Bibliotheksmitarbeitenden zwingend geboten, um etwaige lizenzrechtliche Vereinbarungen, Serviceangebote und Grenzen mit diesen auszuloten. Sofern eine hybride Publikationsform durch das Editionsprojekt angestrebt wird, wäre die Veröffentlichung durch einen Universitätsverlag, welcher oftmals an eine universitäre Bibliothek angegliedert ist, naheliegend, und wäre somit auch im Serviceportfolio für digitale Editionen zu verorten. Dabei ist die Bibliothek durch die Bereitstellung eines entsprechenden Angebots mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert, wobei die nachhaltige 63 Rehbein u. a., Environments (wie Anm. 47), S. 18. 64 S. Learn the TEI, http://www.tei-c.org/Support/Learn/ (Stand 22. 02. 2016, Zugriff 28. 02. 2018). 65 S. Katie Gibson u. a., Traversing the Gap. Subject Specialists Connecting Humanities Researchers and Digital Scholarship Centers, in: Digital humanities in the library. Challenges and opportunities for subject specialists, hrsg. Arianne Hartsell-Gundy u. a., Chicago, Ill. 2015, S. 3–17, hier S. 6–16. 66 S. Almut Breitenbach, SUB Göttingen. Citavi 5 für historisch arbeitende Disziplinen, https://www.sub.uni-goettingen.de/fileadmin/media/texte/benutzung/Literaturverwaltung/ Citavi_historisches_Arbeiten_20160421.pdf (Stand 12.2016, Zugriff 28. 02. 2018); Dies., SUB Göttingen. Citavi-Praxistipps für die Geisteswissenschaften: Mit Textausgaben arbeiten, https://www.sub.uni-goettingen.de/fileadmin/media/texte/benutzung/Literaturverwaltung/ Citavi_Praxistipp_Textausgaben.pdf (Stand 12.2016, Zugriff 28. 02. 2018).

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Betreuung etwaiger, auf die Forschungsfragen eines Projektes erstellten Präsentationsebenen, wie Webauftritte, einer digitalen Edition die größte Aufgabe darstellt und diese abschließend nicht gelöst ist.67 Die LZA der Datenebene des Editionstextes, wie mittels Ex Libris’ Rosetta, sowie das FDM stellen hingegen für Bibliotheken keine unlösbaren Aufgaben dar. Um der Herausforderung des nachhaltigen Umgangs mit der heterogenen Landschaft an Präsentationsebenen zu begegnen, könnte als ein Servicebereich die Bereitstellung eines allgemeinen Viewers für XML/TEI-Daten im Repositorium einer Bibliothek in Betracht gezogen werden. Mittels des DFG-Viewers ist bereits eine Durchsuchbarkeit von Volltexten im XML-Schema ALTO möglich, hingegen ist die Anzeige von TEI-Datensätzen auf deskriptive Metadaten, vorwiegend derer von digitalisierten Handschriften, beschränkt.68 Im Zuge der IIIFEntwicklungen ist auch die standardisierte Einbindung von TEI-Texten in Viewern, wie Mirador, projektiert.69 Wohlwissend wird hierdurch eventuell ein Verlust in der Darstellung im Gegensatz zur durch die Editorinnen und Editoren im Rahmen eines Projektes erstellten Präsentationsebene in Kauf genommen, jedoch wäre eine nachhaltige, rudimentäre Zugänglichkeit der, auch von Menschen prinzipiell lesbaren, TEI-Datendatei über einen Viewer gewährleistet. Neben der Bereitstellung von Schnittstellen für den Zugang zu Datendateien, hierbei die jeweiligen Zugriffsberechtigungen beachtend, sind einhergehend umfassende Dokumentationen der Zugriffsmöglichkeiten über Schnittstellen, wie REST (Representational State Transfer), auf die durch Forschungsprojekte überlassenen Datenbestände durch die betreuenden Bibliotheken zu ermöglichen.70 Darüber hinaus können seitens der Bibliothek potentielle Anwendungsszenarien ausführlich für die Forschenden aufgezeigt werden, um Aus-

67 S. Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd), Datenzentren (wie Anm. 32), S. 13–14, 25. 68 S. DFG-Viewer. Volltext-Funktionen im DFG-Viewer – SRU-/ALTO-Anwendungsprofil – Version 1.0, http://dfg-viewer.de/fileadmin/groups/dfgviewer/SRU-ALTO-Anwendungspro fil_1.0.pdf (Stand 01.2016, Zugriff 28. 02. 2018); Library of Congress, ALTO (Analyzed Layout and Text Object), https://www.loc.gov/standards/alto/ (Stand 26. 05. 2016, Zugriff 28. 02. 2018); DFG-Viewer. TEI-Anwendungsprofil für digitalisierte Handschriften – Version 1.0, http://dfg-viewer.de/fileadmin/groups/dfgviewer/TEI-Anwendungsprofil_1.0.pdf (Stand 04.2014, Zugriff 28. 02. 2018). 69 S. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz u. a., Handschriftenportal (HSP). Antrag zur Entwicklung eines zentralen Onlineportals für Erschließungs- und Bilddaten zu Buchhandschriften, S. 27, http://www.handschriftenzentren.de/wp-content/uploads/2016/ 05/beschreibung_des_vorhabens.pdf (Zugriff 28. 02. 2018). 70 S. exemplarisch Victor Westrich u. a., Der Weg zu den Forschungsdaten. Ein Beispielguide für die Nutzung der REST-Schnittstelle der Regesta Imperii mithilfe von Python, http://mittel alter.hypotheses.org/11794 (Stand 22. 02. 2018, Zugriff 28. 02. 2018).

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wertungen, u. a. mittels der Programmiersprache Python, zu demonstrieren.71 Somit können nicht nur Transformationsprozesse von TEI-/XML-Dateien und XSL in verschiedene Formate erreicht werden.72 Grundlegend verbleibt es, die Auffindbarkeit der digitalen Editionen in Katalogen zu gewährleisten, wobei ein Ausbau bzw. eine Weiterentwicklung des Catalogue of Digital Editions in Erwägung gezogen werden könnte. Darüber hinaus bietet eine enge Zusammenarbeit mit Editionsprojekten hinsichtlich der Datenpflege und des Ausbaus der GND, speziell für Personendaten und Geografika, ein bisher nicht ausgeschöpftes Potential.73 Grundsätzlich gilt es, „zu einer ausgewogenen Balance von befristeter Projektförderung und dauerhafter Institutionalisierung zu gelangen“,74 wobei laut der „AG Datenzentren“ die „vorhandenen institutionellen, konzeptionellen und technischen Nachhaltigkeitsstrategien ihrer Mitglieder ein[zu]beziehen“75 sind, um somit aufgebaute Strukturen zu manifestieren und die vorhandenen Kompetenzen zu erhalten. Insbesondere im universitären Umfeld beeinflussen nicht nur hochschulpolitische Aspekte die Aufgabenzuordnung zur Bereitstellung von Serviceleistungen durch Datenzentren oder Bibliotheken, denn [i]n universities, libraries are a standing department, and a library’s operational budget is part of the daily expenses of the university. By building digital humanities support into the infrastructure of a library, a university can use existing financial, physical, and human resources to promote this new initiative. This arrangement can ensure stable, persistent support for digital humanities. Nevertheless, the „sacrifice“ made by these 71 S. exemplarisch für die Geschichtswissenschaft The Programming Historian. Lesson Index, https://programminghistorian.org/lessons/ (Stand 20. 02. 2018, Zugriff 28. 02. 2018). 72 S. M. H. Beals, Transforming Data for Reuse and Re-publication with XML and XSL, https:// programminghistorian.org/lessons/transforming-xml-with-xsl (Stand 25. 06. 2017, Zugriff 28. 02. 2018). 73 S. Cramme, Forschungsbibliothek (wie Anm. 48), S. 87; Plachta, Edition (wie Anm. 17), S. 36; Esther Scheven, Geokoordinaten in Bibliotheksdaten. Grundlage für innovative Nachnutzung, in: o-bib 2, 1 (2015), S. 35–46. doi:10.5282/o-bib/2015H1S35–46; Lisa M. McFall, Beyond the Back Room, in: Supporting Digital Humanities for Knowledge Acquisition in Modern Libraries, hrsg. Carlo Inglese u. a. (Advances in Library and Information Science), Hershey, PA 2015, S. 21–43, hier S. 27–38. doi:10.4018/978-1-4666-8444-7.ch002; Heidrun Wiesenmüller u. a., Mehr aus der Schlagwortnormdatei herausholen. Implementierung einer geographischen Facette in den Online-Katalogen der UB Heidelberg und der UB Mannheim, in: B.I.T. online 14, 3 (2011), S. 245–252; Petra Maier, Digital Humanities und Bibliothek als Kooperationspartner. Faktoren einer aktiven Unterstützung im Bereich der Metadaten (DARIAH-DE working papers), S. 16, http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl? urn=urn:nbn:de:gbv:7-dariah-2016-5-6 (Stand 2016, Zugriff 28. 02. 2018). 74 Stellungnahme der DHd AG Datenzentren und des DHd-Verbands zur Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), S. 2, http://dig-hum.de/sites/dig-hum.de/files/DHd_ NFDI_Stellungnahme_2017-07-31.pdf (Stand 31. 07. 2017, Zugriff 28. 02. 2018). 75 Ebd., S. 3.

Wissenschaftliche Bibliotheken als Serviceanbieter für digitale Editionsprojekte

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libraries should be recognized. Most often, when libraries shift their priorities to support digital humanities, they must give up or scale down other services, such as those related to physical collections, including shelf management, collection development, and counter services.76

Inwiefern Bibliotheken und weitere Partner sich an Citizen Science-Editionsprojekten von Bürgerinnen und Bürgern in gemeinsamer Forschungstätigkeit mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beteiligen, ist an anderer Stelle ausführlich zu analysieren, zumal, neben dem wissenschaftlichen Anreiz, auch die positive Wahrnehmung einer Bibliothek im öffentlichen Raum durch diese Form der Projektarbeit nicht zu unterschätzen ist.77 Nicht erst seit den Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2017, welche auch den Fokus auf eine moderne Wissensgesellschaft richteten, rückt der Forschungsschwerpunkt DH verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Auch das Bibliothekswesen ist dem Spannungsfeld im digitalen Transformationsprozess zwischen den Anliegen und Erwartungen der forschenden DH-Fachwelt, nicht nur im Bereich der digitalen Editionen und bibliothekarischen Serviceangebote im Rahmen der begrenzten Ressourcen, verhaftet. Ungeachtet dieser sich etablierenden Serviceangebote der Bibliotheken für digitale Editionen, verbunden mit entsprechenden Chancen und Herausforderungen, bleibt weiterhin grundsätzlich den DH vorbehalten, dass [a]ber auch die neuen, heute noch nicht absehbaren Entwicklungen [..] daraufhin untersucht werden müssen, wieweit sie geeignet sind, ‚als Werkzeuge den Zeitaufwand für die Bewältigung von Routineaufgaben signifikant verringern können‘ und wieweit sie ‚einen methodisch völlig neuen Zugang ermöglichen‘.78

Folglich obliegt den Bibliotheken, die Entwicklungen in den Digital Humanities als potentielle Kooperationspartner zu rezipieren, entsprechende Serviceleistungen zu eruieren und zu entwickeln bzw. zu modifizieren, um diese letztendlich für Forschende nachhaltig zur Verfügung zu stellen.

76 Shun Han Rebekah Wong, Digital Humanities. What Can Libraries Offer?, in: portal: Libraries and the Academy 16, 4 (2016), S. 669–690, hier S. 688. doi:10.1353/pla.2016.0046. 77 S. exempl. Eva Bunge, Vivien Petras, Ulla Wimmer, Citizen Science in der Bibliotheksarbeit. Möglichkeiten und Chancen – Innovationspreis 2017 (B.I.T. online Innovativ, 63), Wiesbaden 2017, S. 35–40, 45–51; University College London, Welcome to Transcribe Bentham!, http://www.transcribe-bentham.da.ulcc.ac.uk/td/Transcribe_Bentham (Zugriff 28. 02. 2018); Transcribe Europeana. 1914–1918, https://transcribathon.com/en/ (Zugriff 28. 02. 2018). 78 Thaller, Geschichte (wie Anm. 2), S. 11.

Reisen und Ferne

Christian Hoffarth

(Das) Fremde verdauen: Annäherungen an den Kannibalentopos in Ostasienberichten des Spätmittelalters

1.

Einleitung Und sicher ist es auch eine sehr befremdende Erscheinung, daß ein Volk, welches zum Theil ein ackerbauendes ist, zum Theil Viehzucht treibt, welches in festen, schön gebauten Häusern wohnt, eine bestimmte Verfassung hat und nach Gesetzen regiert wird, von denen manche sehr weise und human sind, welches künstliche Zeuge webt und die Kunst versteht, nach eigenen Schriftzügen zu lesen und zu schreiben, welches also auf keiner ganz niedrigen Stufe der Civilisation steht, und das einen von Natur gutmüthigen Charakter und manche bürgerliche Tugenden besitzt; daß ein solches Volk dennoch dem Anthropophagismus ergeben ist und seine Mitbrüder schlachtet und verzehrt!1

Bereits kurz nach seinem Tod wurde der außerhalb von Fachkreisen heute nur noch wenig bekannte preußisch-sächsische Naturforscher Franz Junghuhn (1809–1864) von seinem ersten Biographen mit dem Ehrentitel „Humboldt von Java“ ausgezeichnet.2 Zwar mögen die vielfachen Wiederholungen dieser Formel bis in die jüngste Zeit bisweilen eher ihrer rhetorischen Griffigkeit sowie verlegerischem Kalkül geschuldet sein denn dem Wunsch nach einer exakten Charakterisierung Junghuhns; doch lässt sich nichtsdestoweniger tatsächlich eine große epistemologische und ideologische Nähe zwischen Junghuhns naturkundlichen und ethnographischen Studien und Abhandlungen und denen seines Vorbilds Alexander von Humboldt konstatieren.3 Anders als bei der Mehrzahl europäischer Entdeckungsreisender vor und nach ihnen war Junghuhns wie 1 Franz Junghuhn, Die Battaländer auf Sumatra. Bd. 2: Völkerkunde, Berlin 1847, S. 155. 2 H[enri] Rochussen, Levensberigt van dr. F. W. Junghuhn, in: Natuurkundig Tijdschrift voor Nederlandsch Indië 28 (1865), S. 342–356, hier S. 347: „J. was waarlijk de Javasche Humboldt […].“ Aufgenommen im Titel der jüngsten biographischen Darstellung in monographischer Form: Renate Sternagel, Der Humboldt von Java. Leben und Werk des Naturforschers Franz Wilhelm Junghuhn 1809–1864, Halle 2011. 3 Vgl. Ulbe Bosma, Franz Junghuhn’s Three-Dimensional and Transcendental Java, in: The Role of Religions in the European Perception of Insular and Mainland Southeast Asia: Travel Accounts of the 16th to the 21st Century, hrsg. Monika Arnez, Jürgen Sarnowsky, Cambridge 2016, S. 175–206, hier S. 178–181.

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Humboldts Blick auf das Fremde nicht, oder jedenfalls nicht erstrangig, von imperialistisch-kolonialistischen Vorurteilen geprägt.4 Vielmehr begegneten beide dem Andersartigen im Allgemeinen mit großem Einfühlungsvermögen und kultureller Offenheit und bemühten sich um rationalisierende Deutungen und Einordnungen. Angesichts dessen mag es durchaus verwundern, wenn Junghuhn in seiner Beschreibung der Batak auf Sumatra mit solcher Schärfe auf den Widerspruch zwischen seines Erachtens erheblichen kulturellen Errungenschaften auf der einen und kannibalistischen Praktiken auf der anderen Seite abhebt. Zwar erläutert er im Weiteren, dass der Kannibalismus unter den Batak zu seiner Zeit per Gesetz nur noch im Sinne eines institutionalisierten Strafinstruments gestattet gewesen sei,5 und verweist somit gewissermaßen auf eine vernunftgemäße Grundlage des ‚Unvernünftigen‘. Ganz anders als Humboldt, der in Konfrontation mit Berichten über Kannibalismus in Südamerika kulturrelativistisch argumentierte und sich eines Urteils letzthin enthielt,6 schließt er daran jedoch höchst eindringliche Beschreibungen des Vollzugs der Anthropophagie an, aus denen in aller Deutlichkeit Abscheu und Verständnislosigkeit sprechen.7 Leider, so Junghuhn, habe er im Übrigen auch lernen müssen, dass die Batak dem Menschenfleisch doch auch einen absoluten Wohlgeschmack, der nach ihrer Meinung selbst den des Schweinefleisches übertrifft, zuerkennen und es der Mehrzahl nach g e r n essen.8 Diese Ausführungen Junghuhns lesen sich wie die Kolportage eines Topos, der seit dem Mittelalter zum Standardrepertoire europäischer Beschreibungen der ostasiatischen Inselwelt zählte. Genau wie der gefeierte Naturwissenschaftler Mitte des 19. Jahrhunderts betonte bereits der anonyme Verfasser des weitverbreiteten fingierten Reiseberichts des Ritters Jean de Mandeville 400 Jahre früher den Vorzug, den die Bewohner Sumatras – bei ihm: Lamary – dem Menschenfleisch vor jedem anderen gegeben hätten.9 Dabei konnte er sich auf eine noch wesentlich ältere Tradition stützen, die in der außereuropäischen Gedankenwelt

4 Vgl. ebd. 5 Junghuhn, Battaländer (wie Anm. 1), S. 156–158. 6 Alexander von Humboldt, Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents, bearb. Hermann Hauff, 4, Stuttgart 1860, S. 18: „Den Eingeborenen wegen des abscheulichen Brauchs, von dem hier die Rede ist, Vorwürfe zu machen, hilft rein zu nichts; es ist gerade, als ob ein Brahmane vom Ganges, der in Europa reiste, uns darüber anließe, daß wir das Fleisch der Tiere essen.“ 7 Vgl. Junghuhn, Battaländer (wie Anm. 1), S. 158–160. 8 Ebd., S. 160. 9 Vgl. Mandeville’s Travels, translated from the French of Jean d’Outremeuse. Edited from ms. Cotton Titus C.XVI, in the British Museum, 2 Bde, hrsg. Paul Hamelius, London, New York, Toronto 1916–1919, S. 119.

(Das) Fremde verdauen

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bis ins 9. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann,10 in der europäischen mindestens bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Schon immer verbanden sich die europäischen Erzählungen über menschenfressende Inselvölker in Ostasien zudem, wie noch bei Junghuhn, mit Berichten über Elemente zivilisatorischer Fortschrittlichkeit.11 Es ist nicht nur diese Eigentümlichkeit des langlebigen Motivs des Kannibalismus in Ostasien, die Rätsel aufgibt. Bereits die bloße Tatsache seiner Existenz scheint erklärungsbedürftig. Hinter anderen im europäischen Spätmittelalter sich herausbildenden Narrativen über anthropophage Gewohnheiten gewisser fremder Menschengruppen nämlich stehen – worauf noch näher einzugehen sein wird – recht offensichtliche Impulse und Intentionen. Eine ähnlich naheliegende Erklärung dafür, weshalb den Indigenen der Sundainseln und anderen ostasiatischen Völkern Kannibalismus zugeschrieben wurde und weshalb dieser Aspekt in beinahe allen Texten über die Region prominent figurierte, gibt es hingegen nicht.12 In Anbetracht dessen soll im Folgenden nach der Bedeutung und den Funktionen ebenjenes Motivs in der europäischen Literatur des Spätmittelalters bis an die Wende zur Frühen Neuzeit gefragt werden. Naheliegend ist es freilich, dieser Frage in einer Festschrift zu Ehren von Jürgen Sarnowsky nachzugehen, der sich seit einer Reihe von Jahren wie kein Zweiter die Erforschung der europäischen Wahrnehmung Südostasiens in Mittelalter und Früher Neuzeit sowie der frühen

10 Vgl. Hirosue Masahi, European Travelers and Local Informants in the Making of the Image of „Cannibalism“ in North Sumatra, in: Memoirs of the Research Department of the Tokyo Bunko 63 (2005), S. 41–64, hier S. 42. 11 Vgl. Kathrin-Christine Situmorang, The Organisation of Trade in North Sumatra. Batak Traders and Trading Networks, Diss. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität 2011, S. 38 mit Anm. 71. Vgl. auch die Geschichte des Mythos eines mächtigen Herrschers auf Java und seines Reiches bei Jürgen Sarnowsky, Der mächtige König von Java. Mythen über Südostasien in frühen europäischen Reiseberichten, in: Mythen der Vergangenheit. Realität und Fiktion in der Geschichte. Jörgen Bracker zum 75. Geburtstag, hrsg. Ortwin Pelc, Göttingen 2012, S. 97–109. 12 Integrale Untersuchungen über Zuschreibungen von Anthropophagie an fremde Menschengruppen im Mittelalter stellen erstaunlicherweise ein Desiderat dar. Weitläufigere Einsichten bieten aus unterschiedlichen Blickrichtungen Geraldine Heng, Empire of Magic. Medieval Romance and the Politics of Cultural Fantasy, New York 2003, S. 17–61; Heather Blurton, Cannibalism in High Medieval English Literature, New York, Basingstoke 2007; Hedwig Röckelein, „Kannibalismus“. Zur Geschichte einer Ausgrenzungsstrategie in der europäischen Kultur, in: Europa und das Fremde. Die Entwicklung von Wahrnehmungsmustern, Einstellungen und Reaktionsweisen in der Geschichte unserer Kultur, hrsg. Jörg Calließ (Loccumer Protokolle, 11), Loccum 1998, S. 185–204; Merrall Llewelyn Price, Consuming Passions. The Uses of Cannibalism in Late Medieval and Early Modern Europe, New York, London 2003.

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Kontakte und Austauschprozesse zwischen den Regionen zur Aufgabe gemacht hat.13

2.

Antike Topoi, Apokalyptik, Imperialismus

Bereits in der antiken Ethnographie stellten anthropophage Praktiken einen gängigen Topos in Beschreibungen ferner Völker dar. Die Historien Herodots aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ermöglichen einen guten Überblick über dessen Verbreitung und Ausformung. Entsprechend den von ihm zusammengetragenen Quellen schrieb Herodot unter anderem den Massageten und Issedonen östlich des Kaspischen Meeres, den Androphagen in Nordeuropa sowie den Padaiern in Indien unterschiedliche Formen des Kannibalismus zu.14 Auffällig ist hierbei zum einen, dass die aus griechischer Sicht grauslichsten Sitten durchweg Menschengruppen nachgesagt wurden, die man an der äußersten Peripherie der bekannten Welt vermutete. Dies fügt sich zu einem nicht nur bei Herodot erkennbaren Weltbild, das von Griechenland als Spitze und Zentrum ausgehend in konzentrischen Kreisen sich ausdehnende, immer weiter hinabführende Zivilisationsstufen annahm.15 Zum anderen wurden kannibalistische Gebräuche insbesondere nomadischen Völkern unterstellt.16 Geht man

13 Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang nicht allein Sarnowskys eigene Publikationen, sondern auch die von ihm angeregten Studien und Abschlussarbeiten. Eine vollständige bibliographische Erfassung muss an dieser Stelle unterbleiben. S. aber beispielhaft: Jürgen Sarnowsky, Duarte Barbosa’s View of Religions, in: The Role, hrsg. Arnez, Sarnowsky (wie Anm. 3), S. 13–33; ders., Der mächtige König (wie Anm. 11); ders., ‚Powerful Heathen and Mohammedan lords‘. Early Portuguese reports on religion and society on Java and its neighboring islands, in: Wahrnehmung und Realität. Vorstellungswelten des 12. bis 17. Jahrhunderts, hrsg. ders. (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, 17), Göttingen 2018, S. 359–369; Wolfgang Höll, Das Bild des Südasienhandels in ausgewählten Reiseberichten des frühen 16. Jahrhunderts, in: Perzeption und Rezeption. Wahrnehmung und Deutung im Mittelalter und in der Moderne, hrsg. Joachim Laczny, Jürgen Sarnowsky (Nova Mediaevalia. Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter, 12), S. 269–298; Birgit Steude, Waffen und Ausstattung der indigenen Bevölkerung Süd- und Südostasiens in der Wahrnehmung von Reiseberichten: Ludovico de Varthema und Tomé Pires im Vergleich, in: ebd., S. 299–336. S. auch die entsprechenden Teile in Jürgen Sarnowsky, Die Erkundung der Welt. Die großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Humboldt, München 2015 sowie Materials for the Medieval and Early Modern History of Indonesia, hrsg. ders., http://www.spaetmittelalter.uni-hamburg.de/java-history (zuletzt aufgerufen 20. 5. 2020). 14 Vgl. Heidi Peter-Röcher, Kannibalismus in der prähistorischen Forschung. Studien zu einer paradigmatischen Deutung und ihren Grundlagen, Bonn 1994, S. 126–133. 15 Vgl. ebd., S. 128. 16 Vgl. hierzu Gerhard Baudy, Der kannibalische Hirte. Ein Topos der antiken Ethnographie in kulturanthropologischer Deutung, in: Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur

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davon aus, dass der Verzehr von Menschenfleisch als ultimativer Kulturbruch verstanden wurde, so passt auch dies in das angedeutete Schema, galt doch Sesshaftigkeit als Marker einer überlegenen kulturellen Entwicklung.17 Die Vorstellungswelt des Mittelalters scheint hinsichtlich der Anthropophagen in weiten Teilen den antiken Vorbildern gefolgt zu sein. Sie verbannte die Menschenfresser gemeinhin an den Erdrand, wo sie als Teil einer formidablen Galerie von monstra und Wunderwesen ihr barbarisches Dasein als Nahrung europäischer Phantasie und radikales Gegenbild zur empfundenen kulturellen Höhe des europäischen Christentums fristeten.18 Daneben existierte ein stets abrufbares Deutungsmuster, das es ermöglichte, verhasste Randgruppen wie etwa Juden und häretisierte Gemeinschaften innerhalb der eigenen Lebenswelt mit dem Stigma des Kannibalismus zu belegen.19 Nur in Ausnahmefällen erfuhr das Motiv von diesen abweichende Aufladungen und gewann im Rahmen außergewöhnlicher, gleichsam die gesamte christianitas betreffender Erfahrungen neue Bedeutung. Eine solche Erfahrung stellte der Einfall der Mongolen nach Europa in der Mitte des 13. Jahrhunderts dar. Schon in den frühesten Augenzeugenberichten wie etwa demjenigen Ivos von Narbonne, der in der Chronica maiora des Matthäus Parisiensis dokumentiert ist, werden die bis kurz davor in Europa gänzlich unbekannten Mongolen als erbarmungslose Menschenfresser dargestellt.20 Dieses Klischee pflanzte sich in den folgenden Berichten und in der Chronistik bis weit über das 13. Jahrhundert hinaus fort und durchlief, wie

17 18

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und Kulturwissenschaften, hrsg. Annette Keck, Inka Kording, Anja Prochaska, Tübingen 1999, S. 221–242, hier S. 222, Anm. 4. Vgl. Reinhold Bichler, Robert Rollinger, Herodot, 4. Aufl., Hildesheim, Zürich, New York 2014, S. 52–54. Zu den antiken Traditionen entstammenden Wunderwesen, die im Mittelalter in Bestiarien und Reisetexten beschrieben wurden und auf Karten die Ränder und Außengebiete der bekannten Welt bevölkerten, s. einleitend Rudolf Wittkower, Marvels of the East. A Study in the History of Monsters, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 5 (1942), S. 159–197; John Block Friedman, The Monstrous Races in Medieval Art and Thought, Cambridge 1981; Rudolf Simek, Monster im Mittelalter. Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen, 2. verb. Aufl., Wien, Köln, Weimar 2019. Zu den unter diese sich einreihenden Menschenfressern s. bes. ebd., S. 206f. Vgl. Peter-Röcher, Kannibalismus (wie Anm. 14), S. 140–153. S. Matthæi Parisiensis, Monachi Sancti Albani, Chronica Majora, hrsg. Henry Richards Luard (Rerum Britannicarum Medii Ævi Scriptores, 57), 4, London u. a. 1877, S. 273. Zu den Berichten über Kannibalismus bei den Mongolen s. Felicitas Schmieder, Menschenfresser und andere Stereotype gewalttätiger Fremder – Normannen, Ungarn und Mongolen (9.– 13. Jahrhundert), in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, hrsg. Manuel Braun, Cornelia Herberichs, München 2005, S. 159–179; Gregory Guzman, Reports of Mongol Cannibalism in the Thirteenth Century, in: Discovering New Worlds. Essays on Medieval Exploration and Imagination, hrsg. Scott D. Westrem, New York 1991, S. 31–68.

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Felicitas Schmieder herausgearbeitet hat,21 durch systematische Annäherungen zwar einen Wandel, ging aber auch durch diese keineswegs verloren.22 Darin unterscheidet sich das Bild von den Mongolen im mittelalterlichen Europa von demjenigen anderer feindseliger Fremder wie etwa der Ungarn und Normannen, die gelegentlich ebenso als Kannibalen stereotypisiert worden waren. Neben der Tatsache, dass letztere im Gegensatz zu dem Steppenvolk aus dem Osten den christlichen Glauben annahmen und daher im vorrangig nach religiösen Kategorien differenzierenden Weltbild der Europäer fortan keine Charakterisierungen extremer Alterität mehr herausforderten,23 dürfte vor allem das beispiellose Grauen, das die mongolische Kriegsführung in Europa evozierte, für die Verstetigung und den außergewöhnlich weiten Wirkungsradius des Topos der menschenfressenden Mongolen verantwortlich gewesen sein.24 Noch Christoph Kolumbus ging gegen Ende des 15. Jahrhunderts von der Existenz anthropophager Völker im Reich des mongolischen Großkhans aus und fand diese prompt in Bewohnern der karibischen Inseln, die er bekanntermaßen für Teile Ostasiens hielt.25 Damit bereitete er das Feld für den zweiten Komplex, auf dem der Topos der menschenfressenden Fremden im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit größte Wirkungsmacht entfalten sollte. Für den Verlauf der europäischen Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents war die Vorstellung von kannibalistischen Gebräuchen unter den Ureinwohnern von immenser Bedeutung.26 Dies erwies sich in besonderem Maße im Umfeld des sogenannten Disputs von Valladolid Mitte des 16. Jahrhunderts. In dessen Rahmen berief sich die Partei um Juan Ginés de Sepúlveda, die für die Legitimität der gewaltsamen Aneignung der neuentdeckten Länder und der kriegerischen Unterwerfung der Indios argumentierte, auf das anthropophage Treiben derselben als Ausweis ihrer unverbesserlichen Wildheit, ihrer Unfähigkeit zur An-

21 Vgl. Schmieder, Menschenfresser (wie Anm. 20), S. 171–176. 22 So erweist es sich etwa bei Hans Schiltberger im 15. Jahrhundert nach wie vor als sehr lebendig. S. Reisen des Johannes Schiltberger aus München in Europa, Asien und Afrika von 1394 bis 1427. Zum ersten Mal nach der gleichzeitigen Heidelberger Handschrift herausgegeben und erläutert von Karl Friedrich Neumann, München 1859, S. 105. 23 Vgl. Schmieder, Menschenfresser (wie Anm. 20), S. 167. 24 Vgl. Johannes Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243,1 (1986), S. 287–332, hier S. 290–298. 25 Vgl. Folker Reichert, Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), S. 1–63, hier S. 39f; Johannes Gießauf, Wo der Mensch dem Menschen am besten schmeckt. Betrachtungen zum Bild der Asiaten als Anthropophagen, in: Zentralasiatische Studien 38 (2009), S. 167–184, hier S. 167f. 26 S. Ca˘ta˘lin Avramescu, An Intellectual History of Cannibalism, Princeton, Oxford 2003, S. 106–124.

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nahme des christlichen Glaubens und ihrer Unmenschlichkeit.27 Genährt wurde das Stereotyp des amerikanischen Menschenfressers nicht zuletzt von erfolgreichen Reiseberichten wie denjenigen Hans Stadens und Jean de Lérys, welchen letzteren noch Claude Lévi-Strauss als ethnographisches Ideal in höchsten Ehren halten sollte.28 Beide Gruppen, sowohl die Mongolen als auch die amerikanischen Indios, erfüllten – zumindest in signifikanten Teilen – die aus dem Altertum tradierten Kriterien, die Zuschreibungen von Kannibalismus nahelegten. Beide lebten in bzw. stammten aus Regionen der Erde, die für die Europäer weitgehend eine terra incognita darstellten, und schienen grundsätzlich in einem unzivilisierten, barbarischen Zustand zu verharren. Die Mongolen praktizierten zudem eine nomadische Lebensweise. Neben die Tradition traten in beiden Fällen unmittelbare, höchst wirkmächtige Impulse und Intentionen: in Bezug auf das scheinbar unaufhaltsame Heer der Mongolen die helle Angst und, daraus folgend, aus der christlich-eschatologischen Weltdeutung gespeiste apokalyptische Assoziationen; hinsichtlich der Indios starke kolonialistisch-ökonomische Begehrlichkeiten und die Notwendigkeit ihrer Legitimierung. Während die antik-traditionellen Prämissen im Spätmittelalter aus europäischer Sicht durchaus auch ein Stück weit auf die Bewohner Südost- und Ostasiens zutrafen, stehen die in Betracht zu ziehenden Berichte indes in keinem vergleichbaren zeitgeschichtlichen Kontext, der in ähnlicher Weise einen kollektiven Primärimpuls für die Attribuierung besagter Menschengruppen als Anthropophagen antizipieren ließe. Eine Annäherung an das Phänomen kann daher nur auf Grundlage einer genauen Musterung der entsprechenden Texte gelingen. Wie in vielen anderen Belangen des europäischen Asienbildes kann auch in diesem Fall das Werk Marco Polos als Urdokument gelten. Auf dieses muss daher zunächst der Fokus gerichtet werden. Anschließend werden die aus ihm zu gewinnenden Erklärungsansätze sodann an einer Reihe späterer Texte geprüft und konkretisiert, wodurch schließlich auch Entwicklungslinien in der Geschichte des europäischen Topos vom kannibalistischen Orient sichtbar werden sollten.

3.

Die Wunder der Welt als Wegbereiter

Welche Regionen Marco Polo, dessen Divisament dou monde die ersten erfahrungsbasierten Beschreibungen Ostasiens aus europäischer Perspektive bietet,29 tatsächlich aus eigener Anschauung kennengelernt hat, lässt sich nicht mit letzter 27 Vgl. ebd., S. 114f. 28 S. Claude Lévi-Strauss, Tristes tropique, Paris 1955, bes. S. 87. 29 Vgl. Sarnowsky, Der mächtige König (wie Anm. 11), S. 97.

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Sicherheit entscheiden. Ursächlich hierfür ist unter anderem, dass seine Beschreibungen von Ländern und Leuten stets ein Gemisch aus Fakten, Mythen und Hörensagen bilden. Die Frage, ob er diesen oder jenen Ort wirklich besucht hat, ist daher auch nicht zwangsläufig ein Indikator für die Realitätsnähe oder -ferne seiner Darstellung. Gerade deshalb und da unser Interesse nicht dem Problem womöglich realhistorisch existierender anthropophager Praktiken im vormodernen Asien gilt,30 sondern sich vielmehr auf europäische Deutungsmuster richtet, ist die Verifizierbarkeit von Marco Polos angeblicher Reiseroute für das Folgende lediglich von sekundärer Bedeutung. Kannibalismus ist in Marco Polos Beschreibungen südost- und ostasiatischer Völker eine wiederkehrende Figur.31 Unterschiedliche Formen der Anthropophagie schreibt er den Bewohnern Cipangus, sprich Japans, verschiedenen Gruppen auf Sumatra sowie einem bestimmten Volk auf der Insel Angaman zu. Das Inselreich Cipangu kannte Marco Polo, wie er offen zugibt, ausschließlich aus Erzählungen anderer.32 Dementsprechend gravitieren seine Einlassungen auf Aspekte, die seinen mongolischen Gesprächspartnern am nächsten liegen mussten. In diesem Licht erscheint Cipangu vor allem als Objekt fehlgeschlagenen Eroberungsbestrebens. Neben flüchtigen Bemerkungen zu den Bewohnern, denen bescheinigt wird, schön zu sein und gefällige Manieren zu haben,33 sowie Beschreibungen des vermeintlichen märchenhaften Reichtums des isolierten Landes gilt die Aufmerksamkeit des Divisament über längste Strecken vor allem dem Geschehen rund um die Invasionsversuche unter Kubilai Khan im späteren 13. Jahrhundert. Ein abschließender Passus geht sodann näher auf die Religion der Japaner ein, die Marco Polo mit seinem Begriff für den Buddhismus als Götzendienst identifiziert. Während er über den buddhistischen Glauben

30 Die von William Arens Buch „The Man-Eating Myth“ (1979) ausgelösten Diskussionen haben zu einer grundsätzlichen wissenschaftlichen Skepsis gegenüber allen vermeintlichen Zeugnissen anthropophager Praktiken in Geschichte und Gegenwart geführt. Vor diesem Hintergrund geht etwa Masahi (wie Anm. 10) davon aus, dass in Küstennähe lebende Gruppen auf Sumatra bewusst die Legende von Kannibalen im Landesinneren verbreitet hätten, um selbst die einträgliche Rolle von Mittelsmännern zwischen diesen und fremden Händlern spielen zu können. 31 Zum Kannibalismus-Topos bei Marco Polo s. insgesamt Marion Steinicke, Apokalyptische Heerscharen und Gottesknechte. Wundervölker des Ostens in abendländischer Tradition vom Untergang der Antike bis zur Entdeckung Amerikas, Diss. Berlin 2002, S. 153–155. 32 S. Marco Polo, Die Wunder der Welt. Il Milione, übers. Elise Guignard, Berlin 2018 (zuerst: Zürich, 1983), S. 254. Zu Marco Polos Beschreibung Cipangus s. Folker Reichert, Zipangu. Marco Polos Japan und das europäische Weltbild zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: ders., Asien und Europa im Mittelalter. Studien zur Geschichte des Reisens, Göttingen 2014, S. 387– 404. 33 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 247.

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anderswo aber durchaus positiv und weitgehend vorurteilsfrei referiert,34 hebt er in Bezug auf Cipangu die vielköpfigen Götterbilder in der Gestalt von Tieren sowie die Zeremonien zu deren Verehrung hervor, die derart teuflisch [sind], daß ich in unserem Buche gar nicht darauf eingehen will, die Abscheulichkeiten würden Christenohren beleidigen.35 Unmittelbar darauffolgend und den Bericht über Cipangu insgesamt beschließend, erklärt er zuletzt: Wenn die Heiden dieser Insel einen Fremden in ihrer Gewalt haben, der kein Lösegeld bezahlen kann, dann laden sie alle ihre Verwandten und Freunde ein mit den Worten: „Ich möchte, daß ihr zum gemeinsamen Mahle in mein Haus kommt.“ Der Gastgeber läßt den Gefangenen töten und verspeist ihn gemeinsam mit den Geladenen. Und stellt euch vor: sie kochen die Leiche und behaupten dann, Menschenfleisch sei weitaus das beste Fleisch.36

In dieser Darstellung Japans und seiner Bewohner sind bereits eine ganze Reihe von Elementen angelegt, die nicht nur bei Marco Polo selbst in Beschreibungen anderer Völker wiederkehren, sondern auch in späteren europäischen Ostasienberichten prominent figurieren. Dabei lassen sich mehrere Felder differenzieren, auf denen das Kannibalismusmotiv unterschiedliche Funktionen erfüllt. Auffällig ist zunächst die eingangs bereits in Bezug auf Franz Junghuhns Bild der Batak herausgestellte Verknüpfung kannibalischer Gepflogenheiten mit dem Zugeständnis zivilisatorischer Höhe. Die Japaner sind laut Marco Polo nicht etwa wilde, Menschenfleisch verschlingende Bestien wie zum Beispiel die Mongolen Ivos von Narbonne, sondern ein zur Ratio befähigtes, distinguiertes Volk, das ganz bewusst den Brauch des Exokannibalismus pflegt. Hieraus spricht nicht nur eine motivgeschichtliche Eigenständigkeit von Marco Polo und Rustichello da Pisa, mit dessen Hilfe ersterer nach seiner Rückkehr nach Europa im genuesischen Gefängnis den Text verfasste, sondern auch eine Neigung zu ethnographischer Differenziertheit (nicht zu verwechseln mit Realismus), die – wie im Weiteren zu sehen sein wird – den spätmittelalterlichen Ostasientexten insgesamt zu eigen ist. Der Kannibalismus fungiert in diesem Fall zunächst gewissermaßen als Kontrapunkt, durch den die Darstellung einer fremden Menschengruppe Komplexität und Tiefenschärfe gewinnt. Das im Divisament angezeigte kulturelle Niveau der Japaner lässt diese indes nicht etwa, wie vielleicht angenommen werden könnte, dem Selbstbild des christlichen Europas näher rücken. Dafür sorgen die erwähnten, als hochgradig

34 Viel zitiert ist Marco Polos Lob des Siddharta Gautama: „[…] wäre er ein Christ gewesen, er würde ein großer Heiliger geheißen, zusammen mit unserm Herrn Jesus Christus.“ Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 300. Zu Marco Polos Einordung und Darstellung des Buddhismus s. Johannes Witte, Das Buch des Marco Polo als Quelle für den Buddhismus, Berlin 1916. 35 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 253. 36 Ebd.

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befremdlich gekennzeichneten religiösen Charakteristika. Der Götzendienst der Japaner mutet in Marco Polos Darstellung vollkommen inkompatibel nicht allein mit dem Christentum, sondern mit jeglicher Religion an, der der Lateineuropäer eine vernunftmäßige Grundlage zubilligen konnte. Auf einer zweiten Ebene können die anthropophagen Sitten daher auch als Bestätigung einer totalen religiösen – und das heißt im Mittelalter immer: kulturellen – Alterität, der durch nichts beizukommen ist, verstanden werden; dies umso mehr, als der Verzehr von Menschenfleisch nicht etwa auf Notsituationen zurückgeführt oder gar als eucharistische Handlung imaginiert wird,37 sondern als reueloser, ja feierlicher Akt, der den Beteiligten höchsten Genuss bereitet. Die Anthropophagie steht somit für die Unmöglichkeit, Cipangu in den eigenen Deutungshorizont einzugliedern, zumal auch Erkenntnis durch eigenes Erfahren, geschweige denn kultureller Austausch aufgrund der Gefahr durch den Kannibalismus schlicht als undenkbar erscheinen. Jener markiert mithin sowohl in konkreter Hinsicht, bezogen auf die gescheiterte mongolische Eroberung, als auch epistemologisch die Grenzen des Aneigenbaren. Ebendiese Facette spiegelt sich zunächst in verkürzter Form in Marco Polos Erzählung über Sumatra wider, das er als Klein-Java bezeichnet.38 Nach seinem Verständnis fanden sich auf der Insel acht Königreiche, von denen er sechs selbst besucht zu haben behauptet. Bei dreien von diesen wiederum, namentlich Ferlec, Samatra und Dagroian, weiß er von kannibalischen Bewohnern zu berichten. Sowohl in Ferlec als auch in Dagroian handelt es sich bei den menschenfressenden Wilden erneut um Götzendiener, werden also die grausamen Gebräuche nach demselben Muster wie im Bericht über Cipangu mit der Religion in Verbindung gebracht.39 Dass es sich dabei nicht etwa um Zufall handelt, sondern die Verbindung in der Tat als sinnhaft gedacht ist, findet sich darin bestätigt, dass Marco Polo an der Küste Ferlecs auch zum Islam bekehrten Gruppen begegnet 37 In der Forschung wurde des Öfteren die Meinung formuliert, dass die Idee des Kannibalismus einem Christenmenschen des Mittelalters grundsätzlich nicht ferngestanden habe, da sie im Hoc est corpus meum der Eucharistiefeier regelmäßig vergegenwärtigt worden sei. S. z. B. Schmieder, Menschenfresser (wie Anm. 20), S. 174; Blurton, Cannibalism (wie Anm. 12), S. 6–8 u. ö; Price, Passions (wie Anm. 12). Die gedankliche Verbindung von Anthropophagie und liturgischem Ritus forderte nicht nur zu kontinuierlichen Debatten über das Verständnis des letzteren heraus, sondern konnte potentiell auch erstere als vertraute, sinnhafte Handlung erscheinen lassen. 38 Ob der venezianische Kaufmannssohn die großen Sunda-Inseln tatsächlich betreten hat, ist in der Forschung umstritten. Zwar scheint einiges dafür zu sprechen, dass er als Teil einer mongolischen Schiffsbesatzung um 1292/93 auf der Fahrt von China nach Persien durch den Südwestmonsun tatsächlich für einige Zeit an der Küste des nördlichen Sumatra festgehalten wurde (vgl. Jørgen Jensen, The World’s most Diligent Observer, in: Asiatische Studien 51 (1997), S. 719–728), viele der Informationen, die er über die Inseln gibt, stammen aber gleichwohl aus zweiter Hand und erweisen sich allenfalls als bedingt zuverlässig. 39 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 260, 264.

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sein will, die ausdrücklich vom Bergvolk der Kannibalen, das lebt wie die Tiere40, abgegrenzt werden. Ganz explizit als im Glauben begründet stellt er den üblen Brauch41 der Bewohner Dagroians dar, die ihre letal Kranken töteten und auffräßen. Vorstellungen von der Tötung Kranker und dem Verzehr ihrer Körper bei fremden Völkerschaften finden sich bereits im Altertum, bei Herodot etwa in Bezug auf die Padaier.42 Die Übertragung des auch im Mittelalter weitverbreiteten Mythos auf eine buddhistische Gruppe erlaubt es Marco Polo nun aber, mit einer Erklärung für diese Sitte aufzuwarten. Freilich dürfte diese seinem christlich-europäischen Publikum hochgradig grotesk erschienen sein und damit der Kannibalismus-Erzählung eine umso befremdlichere Wirkung verliehen haben: Würde man das Fleisch der Toten verwesen lassen, so würde dieses von Würmern gefressen werden, die anschließend aus Nahrungsmangel sterben müssten, worunter in der Überzeugung der Götzendiener die Seele des Verstorbenen größte Qualen zu leiden hätte. Indem die Hinterbliebenen den Körper des Verschiedenen verspeisten, ersparten sie seiner unsterblichen Seele jenes Leid.43 Doch sollte ein Leser daraus nicht etwa den Schluss ziehen, das Verzehren von Menschenfleisch in Dagroian sei gleichsam als ein Akt der Selbstaufopferung zum Wohle der Verstorbenen zu verstehen. Denn derselben Gruppe schreibt Marco Polo schließlich auch noch eine exokannibalistische Praxis zu, die derjenigen auf Cipangu entspricht: sooft die Eingeborenen eines Menschen habhaft werden, der nicht aus ihren Landen stammt und sich nicht loskaufen kann, töten und verspeisen sie ihn.44 Auch in diesem Fall erfüllt der Kannibalismus fraglos die Funktion eines radikalen Differenzmarkers, der den vor allem durch den Glauben konstituierten Wall zwischen europäischem Beobachter und ostasiatischen Beobachteten ins Unüberwindbare steigert. Irritierend mag dabei zunächst die Tatsache sein, dass laut Marco Polo die Kannibalen von Dagroian im Unterschied zu den Einwohnern Cipangus versichern, sie seien Untertanen des Großkhans45, also aus Sicht des mongolischen Gesandten, als den der Divisament seinen Protagonisten darstellt,46 nicht grundsätzlich außerhalb des Greifbaren lagen. Das in Genua abgefasste Werk Marco Polos und Rustichello da Pisas war aber freilich an ein italienisches Publikum gerichtet, für dessen Einordnung einer fernöstlichen 40 Ebd., S. 260. 41 Ebd., S. 264 42 S. Herodot, Historien. Deutsche Gesamtausgabe, übers. August Horneffer, neu hrsg. u. erl. Hans-Wilhelm Haussig, Stuttgart 1959, c. 3,99, S. 226. 43 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 264. 44 Ebd., S. 265. 45 Ebd., S. 264. 46 Vgl. Marina Münkler, Marco Polo. Leben und Legende, München 1998, S. 49–54.

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Menschengruppe auf einer ‚Skala der Fremdheit‘ es kaum einen Unterschied gemacht haben dürfte, ob jene angeblich dem mongolischen Großreich zugehörte oder nicht. Dennoch mag die Geschichte der Kannibalen Sumatras und insbesondere Dagroians für eine lateineuropäische Leserschaft in gewisser Weise leichter verdaulich gewesen sein als die Anekdote über die Menschenfresser von Cipangu, konnte doch immerhin das Verspeisen unheilbar Kranker in ein bestehendes Repertoire von Toposwissen eingeordnet werden. Auf einer dritten Ebene dient das Kannibalismusmotiv bei Marco Polo demnach also auch dazu, der Erwartungshaltung seines Publikums Genüge zu tun, indem es altbekannte Mythen verifiziert. Es ist dies nicht zuletzt wohl eine Strategie zur Steigerung der Glaubwürdigkeit des Textes insgesamt.47 In ganz ähnlicher Weise dürfte auch Marco Polos Erzählung über die Bewohner der Insel Angaman auf befriedigende Wiedererkennungseffekte abgezielt haben. Die Beschreibung des Heidenvolk[s], das Köpfe wie Hunde und Zähne und Augen ebenfalls wie Hunde48 hat, musste bei einem gebildeten europäischen Publikum zwangsläufig Erinnerungen an die Kynokephalen wecken: Hundsköpfige Tier-Mensch-Mischwesen zählten bereits in der Antike und über das gesamte Mittelalter hinweg zum engsten Kern der imaginären Wundervölker, die die äußeren Randgebiete der bekannten Welt besiedelten.49 Dass die Hundsköpfigen von Angaman als Menschenfresser auftreten, die jeden, der nicht ihres Stammes ist, verzehren,50 bestätigt im Übrigen einmal mehr die Rolle des Kannibalismus als Markstein an der Grenze des Fassbaren. Zugleich ist damit freilich auf die Verwobenheit der verschiedenen Funktionsebenen des Kannibalismusmotivs verwiesen, die es in den nachfolgenden Ausführungen anhand späterer Fernostberichte näher zu beleuchten gilt.

4.

Ethnographie, Grenzen, Mythen

Marco Polos Erzählung über den Orient wurde noch zu seinen Lebzeiten unter anderem ins Lateinische übersetzt und entfaltete seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts eine vieldimensionale literarische und intellektuelle Wirkungsgeschichte.51 Insbesondere für Reiseschriftsteller aller Couleur wurde der Divisa47 Vgl. dazu Felicitas Schmieder, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 16), Sigmaringen 1994, S. 60 m. Anm. 82. 48 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 268. 49 Vgl. Wittkower, Marvels (wie Anm. 18), passim; Simek, Monster (wie Anm. 18), S. 224f. 50 Polo, Wunder (wie Anm. 32), S. 268. 51 Vgl. Reichert, Columbus und Marco Polo (wie Anm. 25), S. 6–18.

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ment bald stilistisch wie inhaltlich zum Vorbild. Dementsprechend lassen sich denn auch die europäischen Erzählungen über Kannibalismus in Ostasien mindestens bis ins frühe 16. Jahrhundert weithin als Variationen und Zuspitzungen der bei Marco Polo angelegten Muster lesen. Dabei können, wie sich im vorherigen Abschnitt herauskristallisierte, im Wesentlichen drei Einsatzbereiche unterschieden werden, die sich als ‚ethnographisch‘, ‚demarkativ‘ und ‚mythologisch‘ beschreiben lassen. Eine gezielte Sichtung der Quellen wird verdeutlichen, in welchen Kontexten welche dieser Funktionen in den Vordergrund tritt, wie die Felder zueinander sowie zu den einzelnen Texten in Beziehung stehen und wie sie das europäische Bild von Ostasien beeinflussten. Die Bewohner Lamoris im Norden Sumatras charakterisiert der franziskanische Missionsreisende Odorico von Pordenone zunächst mit Motiven, die dem biblischen Narrativ vom Zustand der Welt vor dem Sündenfall entnommen sein könnten.52 Alle Menschen dort, Männer wie Frauen, sind gänzlich unbekleidet. Für diese Sitte rechtfertigen sie sich gegenüber dem Missionar mit Verweis auf Adam, der von Gott nackt geschaffen worden sei. Odorico hingegen werfen sie vor, durch das Bekleiden seines Körpers gegen Gottes Willen zu verstoßen.53 Des Weiteren besteht unter den Lamorianern eine Frauen- und Gütergemeinschaft, sie produzieren Aloe und Campher, und das Land verfügt über reiche Goldvorkommen.54 Neben diesen geradezu utopistischen Elementen steht allerdings der Bericht über exzessive und grässliche anthropophage Praktiken: Sie essen dort Menschenfleisch wie wir hier Schaf- und Rindfleisch essen.55 Das bösartige und abscheuliche Geschlecht, so Odorico, handelt mit fremden Kaufleuten, die von weither anreisen, um die Produkte der Insel zu erwerben, wofür sie als

52 Zu Odorico s. Andrea Tilatti, Odorico da Pordenone, viaggiatore, in: Dizionario biografico degli Italiani 79 (2013), http://treccani.it/enciclopedia/odorico-da-pordenone_(DizionarioBiografico) (zuletzt aufgerufen 20. 5. 2020); Folker Reichert, Die Asienreise Odoricos da Pordenone und die Versionen seines Berichts. Mit Edition der Aufzeichnungen nach dem mündlichen Bericht des Reisenden, in: Erkundung und Beschreibung der Welt: Zur Poetik der Reise- und Länderberichte, hrsg. Xenja von Ertzdorff, Gerhard Giesemann, Rudolf Schulz, Amsterdam, New York 2003, S. 457–509; ders., Eine unbekannte Version der Asienreise Odoricos da Pordenone, in: ders., Asien und Europa (wie Anm. 32), S. 231–272. 53 Odorico da Pordenone, Relatio de mirabilibus orientalium Tatarorum. Edizione critica, hrsg. Annalia Marchisio (Edizione Nazionale dei Testi Mediolatini d’Italia, 41), Florenz 2016, S. 161f.: In hac vero contrata est immensus calor et in tantum quod omnes, tam homines quam mulieres, vadunt nudi, in nullo se cooperientes; hii de me multum truffabantur, quia dicebant Deum Adam fecisse nudum et ego me malo suo velle vestire volebam. 54 Ebd., S. 162: In hac contrata omnes mulieres sunt posite in communi, ita quod nemo potest dicere: „Hec est uxor mea“ vel „hic est maritus meus“ […]. Tota etiam terra posita est in communi […]. Hec tamen terra de se bona est; nam magnam copiam habet cranium, blade et risi, magnamque copiam auri, lignorum aloe, ganfare et aliorum multorum que ibi nascuntur. 55 Ebd.: Hec autem gens pestifera est et nequam, nam carnes humanas ita comedunt illic sicut hic comenduntur bovine vel ovine.

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Gegenwert Kinder mitbringen, die auf Lamori wie Vieh geschlachtet und gegessen werden.56 Aus diesen Passagen, die durchaus Ansätze einer vergleichenden Ethnologie aufweisen, spricht eine krasse Ambivalenz. Zwar verweist Marion Steinicke zu Recht darauf, dass das vorliegende Motivgemisch im spätmittelalterlichen Europa regelmäßig an religiös abweichlerische und häretisierte Gruppierungen herangetragen wurde.57 Nacktheit, Güter- und Frauengemeinschaft sowie Kannibalismus bildeten somit ein homogenes Bündel diffamierender Topoi, mittels dessen die generelle Alterität und der hochgradig tadelnswerte zivilisatorische Status der Bewohner Lamoris vor Augen gestellt würden. Doch Einiges scheint gegen diese Lesart zu sprechen. Zum einen gehörte Odorico von Pordenone mutmaßlich den sogenannten Spiritualen seines Ordens an,58 denen die universelle Rückkehr der Welt zum Lebenswandel im status innocentiae als Ideal galt.59 Nacktheit, Gütergemeinschaft und der Überfluss der Natur sind tragende Säulen dieses prälapsarischen Zustandes. Zum anderen beschließt Odorico seine Beschreibung Lamoris mit dem Hinweis, dass es weitere gute wie schlechte Dinge über die Insel zu erzählen gäbe, womit er wohl auch impliziert, bereits sowohl Gutes als auch Schlechtes berichtet zu haben.60 Angesichts dessen wird man kaum fehlgehen, die erwähnten urständlichen Aspekte als Signifikanten einer positiv gedachten Seite der beschriebenen Gesellschaft in Lamori zu begreifen. Es scheint also, dass die potentiellen Widersprüchlichkeiten in Odoricos Schilderungen der Indigenen Sumatras nicht aufgelöst werden können und als solche stehenbleiben müssen. Wie schon in Hinblick auf Marco Polos Cipangu angesprochen, ist hier augenscheinlich die Herausbildung eines ethnographischen Deutungs- und Beschreibungsmusters zu beobachten, das nicht mehr zwangsläufig auf eine letztgültige moralische Synthese gerichtet ist. Noch sehr viel deutlicher tritt diese Bereitschaft zur Akzeptanz der Möglichkeit moralischer Uneindeutigkeit einer Kultur, ja geradezu ein schelmisches Vergnügen daran, in der Bearbeitung von Odoricos Lamori-Bericht bei ‚Mandeville‘ vor Augen. Dieser lässt die Eingeborenen nun regelrecht ihre moralischreligiöse Überlegenheit über all diejenigen feiern, die Kleider tragen, Privatbesitz haben und exklusive Ehen schließen. Dabei berufen sich die vermeintlichen Wilden ganz konkret auf die Genesis und die göttliche Schöpfung, wie sie sich

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Vgl. ebd., S. 162f. Vgl. Steinicke, Heerscharen (wie Anm. 31), S. 192f. Vgl. Tilatti, Odorico (wie Anm. 52). Vgl. Bernhard Töpfer, Urzustand und Sündenfall in der mittelalterlichen Gesellschafts- und Staatstheorie, Stuttgart 1999, S. 417–495. 60 Odorico da Pordenone, Relatio (wie Anm. 53), S. 163: Et sic de multis aliis bonis et malis que modo non scribuntur.

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überhaupt vollauf zum christlichen Glauben bekennen.61 Ohne Unterschied leben sie denn auch in naturgegebenem paradiesischem Wohlstand. Der maßlose habituelle Kannibalismus, den ‚Mandeville‘ in derselben Weise beschreibt wie Odorico, erscheint daher umso mehr als radikaler Gegensatz und Fremdkörper, wobei sich in den Formulierungen selbst kaum Anzeichen eines Bewusstseins für die antithetische Verbindung finden. Das Einziehen kultureller Demarkationslinien mittels Zuschreibungen von Anthropophagie scheint dem Verfasser – einem Pantoffelreisenden, der nie auch nur in entfernten Kontakt mit den Indigenen Ostasiens gekommen war, – offenbar gänzlich fernzuliegen. Vielmehr nutzt er das Motiv gezielt und exklusiv für die Erzeugung eines ethnographischen Relativismus.62 Anders hingegen seine Vorlage Odorico von Pordenone, bei dem der Kannibalismus sehr wohl auch in der Funktion des Grenzmarkers in ganz eigener Weise und mit großer Vehemenz wiederkehrt. Die von Marco Polo den Einwohnern Dagroians zugeschriebene Praxis des Tötens und Essens totkranker Familienangehöriger siedelt Odorico auf die realgeographisch nicht klar identifizierbare Insel Dondin um.63 Von dieser Verschiebung abgesehen, ist seine Fassung der Geschichte derjenigen Marco Polos sehr ähnlich. Auch die auf den buddhistischen Glauben an die Seelenwanderung bezogene Begründung führt Odorico in verkürzter Form an, kleidet sie aber in die Form wörtlicher Rede. Er selbst sei mit den Fremden in Dialog getreten, um sie von der Schändlichkeit ihres Tuns zu überzeugen. Seinen Tadel hätten jene mit der Erklärung des Seelenleids durch den Wurmfraß repliziert, woraus er den Schluss zieht, dass es ganz und gar unmöglich gewesen wäre, sie eines Besseren zu belehren und von ihren kannibalischen Sitten abzubringen.64 Der Anthropophagismus auf Dondin kennzeichnet mithin das Scheitern des missionarischen Bestrebens Odoricos von Pordenone und zeigt damit wiederum die Existenz von Räumen – weniger geographischen als vielmehr Denkräumen – an, die außerhalb christlich-europäischer Zugriffsmöglichkeiten liegen. Dies aber bemerkenswerterweise nicht etwa, wie noch bei Marco Polos Hundsköpfigen, weil ihre Bewohner irrationale Unmenschen wären, sondern weil sie ihren konträren Überzeugungen ebenso stark verhaftet sind wie die lateineuropäische Christenheit den ihrigen. Auf diese Weise wird eine klare Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen aufgerichtet, die – durchaus im Sinne des othering61 Vgl. Mandeville’s Travels (wie Anm. 9), S. 118f. 62 J.-P. Rubiés erachtet das Postulat eines kulturrelativistischen Weltbildes als vorrangige Intention des Mandeville-Textes. S. Joan-Pau Rubiés, Travel Writing as a Genre. Facts, Fictions and the Invention of a Scientific Discourse in Early Modern Europe, in: Journeys. The International Journal of Travel and Travel Writing 1 (2000), S. 5–35, hier S. 12–19. 63 Odorico da Pordenone, Relatio (wie Anm. 53), S. 175–178. 64 Ebd., S. 177.

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Paradigmas der Postcolonial Studies65 – für das europäische ‚Wir‘ nicht weniger definierend ist als für das südostasiatische ‚Sie‘. Anders als in der postkolonialen Theorie ist das othering in Odoricos Relatio aber nicht Auswuchs imperialistischer Begierde, sondern scheint gerade auf die gleichsam natürlichen Enden des imperium christianum zu verweisen. Sehr gut fügt sich dazu, dass, wie erwähnt, das Land Dondin geographisch nicht fixiert werden kann, sich also auch ganz praktisch jeglichem Zugriff von außen von vornherein entzieht. Die weitgehend säkular geprägten Ostasientexte nach Odorico und Mandeville befrachten den Menschenfressertopos mit deutlich geringerem Symbolgehalt. In den Aufzeichnungen des Papstsekretärs Poggio Bracciolini über den mündlichen Bericht des venezianischen Kaufmanns Niccolò de’ Conti, der von 1419 bis 1444 Asien und Afrika bereist hatte, findet der Kannibalismus auf den Andamanen und Sumatra lediglich flüchtige Erwähnung.66 Die Insel Andamania, an der Niccolò de’ Conti nur vorbeigesegelt ist, würde von Reisenden unter allen Umständen gemieden werden, da die dortigen Wilden darauf aus seien, Fremde in Stücke zu reißen und zu verschlingen.67 Auf Taprobana hingegen, das die Einheimischen Sciamutera nennen, will Conti ein ganzes Jahr in einer großen, sehr edlen Stadt verbracht haben. Zwar sind die Bewohner Sumatras allesamt äußerst grausam, doch anders als noch Marco Polo und Odorico von Pordenone lokalisiert Niccolò de’ Conti kannibalisches Treiben nur noch in einem ganz bestimmten Teil der Insel, den sie Batech nennen.68 So weit zu sehen, ist dies die erste namentliche Identifikation der angeblich anthropophagen Batak, die 400 Jahre später auch Franz Junghuhns Faszination auf sich ziehen sollten. Über sie weiß Niccolò de’ Conti des Weiteren zu berichten, dass sie ständig im Kriegszustand mit ihren Nachbarn seien. Die Schädel ihrer Feinde, die sie gefangen genommen und verspeist hätten, bewahrten sie auf und nutzten sie als Währung.69 Niccolò de’ Contis recht reduzierte Ausführungen bleiben also im 65 S. einführend: Post-Colonial Studies. The Key Concepts. Second Edition, hrsg. Bill Ashcroft, Gareth Griffiths, Helen Tiffin, London, New York 2000, S. 156–158. 66 Zu Conti s. Francesco Surdich, Conti, Niccolò de’, in: Dizionario biografico degli Italiani 28 (1983), http://www.treccani.it/enciclopedia/niccolo-de-conti_(Dizionario-Biografico) (zuletzt aufgerufen 20. 5. 2020). 67 De l’Inde. Les voyages en Asie de Niccolo de’ Conti. De varietate fortunae, livre IV, hrsg. Michèle Gueret-Laferte, Turnhout 2004, S. 94: […] Andamania, hoc est Auri Insula […], quam incolunt antropofagitæ. Ad hunc nulli deferuntur, nisi tempestate acti, qui discerpti cibus fiunt immanium barbarorum. 68 Ebd., S. 96: In eius insulæ quam dicunt Batech parte, antropofagi habitant […]. Schon Jordanus de Severac hatte in einer knappen Notiz in seinen Mirabilia descripta etwa ein Jahrhundert früher die anthropophagen Gewohnheiten auf der von ihm Java genannten Insel auf quadam parte istius insule beschränkt. Une Image de l’Orient au XIVe siecle. Les Mirabilia Descripta de Jordan Catala de Severac, edition, traduction et commentaire, hrsg. Christine Gadrat (Memoires et documents de l’Ecole des chartes, 78), Paris 2005, S. 158. 69 Vgl. Conti, De l’Inde (wie Anm. 67), S. 96.

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bekannten Schema, insofern die Anthropophagie einmal, in Bezug auf Andamania, demarkativ die Welt außerhalb des Erfahrbaren und Erfassbaren anzeigt und ein andermal, in Bezug auf die Batech, zu einer ambivalenten ethnographischen Darstellung beiträgt. Dass der Kannibalismus auf Sumatra auf eine einzige Gruppe im Inneren des Landes beschränkt und von dieser fast ausschließlich an Kriegsfeinden verübt würde, bekräftigen im frühen 16. Jahrhundert noch die portugiesischen Beamten Duarte Barbosa und Tomé Pires.70 Im Übrigen scheinen auch diese beiden, deren Werken ansonsten eine gesteigerte Realitätsnähe und Eigenständigkeit bescheinigt werden kann,71 hinsichtlich des Kannibalentopos durchaus noch in den Traditionen zu stehen, die sich seit Marco Polo etabliert hatten. So identifizieren sie die Menschenfresser eindeutig als Heiden, die sie von den muslimischen Bewohnern Sumatras abgrenzen.72 Barbosa führt darüber hinaus gar eine neue geographische Verortung für den Mythos der Nekyophagie, des Verspeisens Verstorbener, ein, die er einem bestimmten Königreich innerhalb Siams (Anseam) zuordnet und äußerst farbig als eine Art rituelles Grillfest ausmalt.73 Auch in diesem Fall erläutert er in einem erklärenden Nachsatz allerdings, dass die Anthropophagen diese Behandlung ausschließlich ihren Angehörigen angedeihen ließen, und nimmt der Geschichte für eine europäische Leserschaft damit einen großen Teil ihres Schreckens.74 Bei Pires’ und Barbosas Zeitgenossen, dem zum Fabulieren neigenden Ludovico de Varthema aus Bologna schließlich tritt die obligatorische Kannibalismus-Anekdote, die er nach Java verlagert, als bunte Mischung aus den verschiedenen älteren Erzählsträngen hervor und ist zudem in eine kleine Abenteuergeschichte gewendet.75 Varthema erklärt, dass die Javaner ihre Alten auf 70 Zu Barbosa s. Jürgen Sarnowsky, Duarte Barbosa’s (wie Anm. 13); zu Pires s. Rui Manuel Loureiro, Tomé Pires – boticário, tratadista e embaixador, in: Os Fundamentos da Amizade – Cinco Séculos de Relações Culturais e Artísticas Luso-Chinesas, Lissabon 1999, S. 43–47. 71 Vgl. Sarnowsky, Der mächtige König (wie Anm. 11), S. 109. 72 Vgl. The Book of Duarte Barbosa. An Account of the Countries bordering on the Indian Ocean and their Inhabitants Written by Duarte Barbosa and Completed about the year 1518 A.D., übers. Mansel Longworth Dames, 2 Bde (Hakluyt Society 2nd ser., 44, 49), London 1918–1921, hier 2, S. 188; The Suma Oriental of Tome Pires. An Account of the East, from the Red Sea to Japan, Written in Malacca and India, in 1512–1515, and the Book of Francisco Rodrigues, hrsg. Armando Cortesão, 2 Bde, London 1944, hier 1, S. 137. 73 Vgl. Barbosa, Book (wie Anm. 72), 2, S. 167–169. 74 Ebd., S. 168f. 75 Zu Varthema s. Folker Reichert, Von Mekka nach Malakka? Ludovico de Varthema und sein Itinerar (Rom 1510), in: ders., Asien und Europa (wie Anm. 32), S. 361–376; Christian Hoffarth, Ein Italiener erobert den Orient: Die Fiktion der Intentionalität, die Intentionalität des Fiktiven und die Funktionen des Körpers im Itinerario Ludovico de Varthemas, in: Absichten, Pläne, Strategien. Erkundungen einer historischen Intentionalitätsforschung, hrsg. Jan-Hendryk de Boer, Marcel Bubert (Kontingenzgeschichten, 5), Frankfurt, New York 2018, S. 333–364.

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dem Markt als Schlachtvieh handelten, ihre Kranken, ob jung oder alt, selbst töteten und ebenfalls an andere Menschenfresser verkauften.76 Wie Odorico von Pordenone auf Dondin, so will Varthema die Javaner hinsichtlich dieser Sitte zur Rede gestellt haben. In deren angeblichen Antwort verbinden sich in eigentümlicher Weise wiederum zwei Topoi, die bereits von Marco Polo bekannt sind und von denen jedenfalls einer bis zu Junghuhn weiterverfolgt werden kann: die Sorge vor dem Wurmfraß sowie die kulinarische Vorliebe für das Menschenfleisch. O, ihr armen Perser, lässt Varthema die Anthropophagen sich und einen imaginären Freund ansprechen, warum überlasst ihr ein so gutes Fleisch den Würmern? 77 Auf das Drängen seines persischen Begleiters hin will Varthema die Insel, auf der er im Übrigen vielerlei Elemente einer hochentwickelten Kultur vorfindet, daraufhin fluchtartig verlassen haben.78 An diesem Punkt nun scheint die Idee der menschenfressenden Inselbewohner an den Rändern und in noch unerschlossenen Gebieten Asiens zu einem unverzichtbaren Klischee in der europäischen Vorstellung des Orients geworden zu sein. Seit Jahrhunderten war das Motiv in Ostasientexten lebendig gewesen und hatte in verschiedenen Kontexten unterschiedliche, aber spezifische Funktionen erfüllt. Als zu Beginn des 16. Jahrhunderts zunächst die Portugiesen und später auch andere europäische Mächte begannen, sich in den besagten Regionen imperialistisch festzusetzen, war das Stereotyp bereits so stark kanonisiert, dass es nun ganz allgemein dazu fungieren konnte, den Orient als solchen zu definieren. Bei aller Vorsicht vor hermeneutischen Simplifizierungen lässt sich am Beispiel des Kannibalismustopos sohin durchaus die Entstehung eines kolonialistischen Denkmusters beobachten, das seit Edward Saids epochemachendem Werk gemeinhin als ‚Orientalismus‘ bezeichnet wird.

76 Ludovico di Varthema, Itinerario dallo Egypto alla India, hrsg. Enrico Musacchio, Bologna 1991, S. 178: Gli uomini di quest’isola che mangiano carne, quando il padre è cosi vecchio che non può più fare nessuna operazione, i figli oppure i parenti lo mettono in piazza per vendere, e quelli che lo comprano lo ammazzano e poi se lo mangiano cotto. E se qualche giovane si ammala seriamente, che pare agli anziani che stia per morire de quelle malattia, il padre oppure il fratello di questo malato lo ammazzano e non aspettano che muola. E dopo che l’hanno ucciso lo vendono ad altre persone da mangiare. 77 Ebd.: Essendo noi stupefatti di tale cosa, alcuni mercanti del paese ci dissero: „Poverti persiani, perche lasciate mangiare dai vermi tanta bella carne?“ 78 Ebd.: Udito questo subito il mio compagno disse: „Presto, presto! Andiamo alla nostra nave che questi non mi raggiungano piu in terra!“

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5.

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Schluss

Die Frage nach dem Ursprung des Kannibalentopos in europäischen Ostasientexten des Mittelalters entzieht sich einer einfachen Antwort. Antike ethnographische Traditionen, Vorstellungen von monströsen Erdrandbewohnern sowie in den Regionen selbst verbreitete Legenden dürften Impulse für seine Entstehung gegeben haben. Etablieren konnte er sich aber nur, weil die Verfasser der zur Rede stehenden Texte ihn als wandelbaren Träger mitunter schwer kommunizierbarer Botschaften zu nutzen wussten. Das Initialdokument aus der Feder Rustichello da Pisas spannte hierfür einen bunten Fächer von Möglichkeiten auf, den seine Nachfolger in je eigener Weise ergriffen. Im Wesentlichen lassen sich drei Funktionsfelder ausmachen, auf denen das Motiv eingesetzt wurde. Zunächst und vielleicht am wenigsten überraschend dient Südostasien in vormodernen europäischen Reisetexten als Projektionsfläche zur Bestätigung von Mythen. Dass selbst verhältnismäßig stark empirisch ausgerichtete ethno- wie geographische Werke des Mittelalters nur selten in offenen Widerspruch zu althergebrachten Auffassungen über das Gepräge der Welt traten, ist keine neue Erkenntnis und erklärt sich mit der vorherrschenden epistemologischen Gebundenheit an das geschriebene Wort sowie einer weitreichenden Überzeugung von der Überlegenheit des Alten über das Neue.79 Wenn also bereits die antiken und insbesondere die frühchristlichen Schriftsteller die Existenz von Menschenfressern und monströsen Wundervölkern an den Rändern der Welt nahelegten, so mussten diese dort gefunden werden, ganz gleich, ob der einzelne Reisende ihrer tatsächlich ansichtig wurde. Mit der Verschiebung des geographischen Horizonts und dem Vordringen von Europäern in ihnen bislang unbekannte Regionen der Erde verlagerten sich indes sukzessive auch die Räume, in denen Monster und Wilde verortet wurden. Warum aber ausgerechnet anthropophage Völker in beinahe allen Ostasienberichten ihren Auftritt haben und in so vielfältige Sinnkontexte gestellt werden, während traditionelle Wunderwesen wie etwa Kynokephalen oder Skiapoden nur gelegentlich und zumeist rein enzyklopädische Erwähnung finden, wird erst mit Blick auf das zweite Funktionsfeld sinnfällig. Der Kannibalismus kennzeichnet Grenzen des europäischen Verständnishorizontes und Räume des Scheiterns. Insbesondere die Texte der präkolonialistischen Ära verpflanzen die Menschenfresser einerseits auf Inseln, die ihre Verfasser bzw. Protagonisten nicht erreichen und erschließen konnten. Andererseits lasten sie den Kannibalismus 79 Vgl. Felicitas Schmieder, „Den Alten den Glauben zu entziehen, wage ich nicht …“. Spätmittelalterliche Welterkenntnis zwischen Tradition und Augenschein, in: Autorität und Wahrheit. Kirchliche Vorstellungen, Normen und Verfahren (13.–15. Jahrhundert), hrsg. Elisabeth Müller-Luckner, Gian Luca Potestà, München 2012, S. 65–78; Reichert, Columbus und Marco Polo (wie Anm. 25), S. 63.

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Gruppen an, an denen jene mit ihren Absichten von Mission und Überredung scheiterten und die vorgeblich sie aufgrund ihrer Alterität ablehnten und ausgrenzten. Dadurch wird der ferne Orient zugleich zu einem Raum des unüberwindbar Andersartigen, das dazu beiträgt, die eigene Identität zu bewahren und zu stabilisieren. Spätmittelalterliche Reisetexte stellen im Allgemeinen viel auf Ähnlichkeiten zwischen europäischen Christen und bislang als ‚die Anderen‘ angesehenen Gruppen ab.80 Das dadurch entstehende Vakuum konnte mit den höchstgradig fremdartigen Kannibalen Ostasiens wieder gefüllt werden. Die klassischen Tier-Mensch-Mischwesen und sonstigen monstra des Bestiariums hätten diesen Zweck nicht im gleichen Maße erfüllen können, da sie weithin als positive Belege für die Vielfalt der göttlichen Schöpfung und potentielle Christen verstanden wurden und demnach die Grenzen des vorherrschenden Weltbildes nicht zu sprengen vermochten.81 Zuletzt erscheint Ostasien in den betrachteten Texten als Experimentierraum, an dem Strategien der Ethnographie erprobt wurden, die späterhin für die europäische Wahrnehmung des Fremden zentrale Bedeutung erlangen sollten. Gerade weil die in Rede stehenden Länder für das spätmittelalterliche Europa noch kein eindeutiges Etikett trugen, weder als Bedrohung noch als Objekt der Begierde galten, boten sie sich als Folie an, auf der verschiedene Beschreibungslogiken ausprobiert werden konnten. Ein wichtiges Merkmal des sich dabei herausbildenden ethnographischen Systems ist fraglos die Toleranz gegenüber Ambivalenzen, sprich das Nebeneinander von Elementen, die im europäischen Blick als kultiviert und zivilisiert gelten konnten, und solchen, die für das Barbarische und Unmenschliche standen – an der Spitze der Kannibalismus. Indem sie, etwa im Gegensatz zu den frühen Mongolentexten, solcherlei Gegensätzlichkeiten in großem Rahmen zuließen, trugen die Texte zur Ausformung einer differenzierenden ethnologischen Darstellung bei, wie sie dann etwa bei Jean de Léry dezidierte Anwendung findet und noch bei Humboldt und Junghuhn zum Tragen kommt. Zugleich wurden, wie das Beispiel Varthemas vor Augen führt, ethnographische Beschreibungen auf diese Weise auch außerhalb der im strengen Sinne ‚schönen Literatur‘ als Unterhaltungsstoff verfügbar und konnten nun nicht mehr nur Schrecken und Abneigung hervorrufen, sondern auch curiositas erwecken. Den Mustern, die die spätmittelalterlichen Ostasientexte bezüglich des Kannibalentopos vorgaben, folgten in vielerlei Hinsicht die Berichte und Debatten über die Neue Welt seit dem ausgehenden 15. und zumal im 16. Jahrhundert, die freilich von Beginn an wesentlich folgereicher waren als die über lange Zeit eher 80 Vgl. Kim M. Phillips, Before Orientalism. Asian Peoples and Cultures in European Travel Writing, 1245–1510, Philadelphia 2014, S. 6f. 81 Vgl. Friedman, Races (wie Anm. 18), S. 3, 59–86.

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nur punktuelle Wirkung entfaltenden Orientberichte des Mittelalters. Nichtsdestoweniger stellt die nähere Betrachtung des Kannibalentopos in den Ostasientexten vor dem europäischen Imperialismus aber klar vor Augen, dass das Mittelalter aus der Geschichte der europäischen Ethno- und Anthropologie keineswegs ausgeklammert bzw. als isoliertes Kapitel derselben betrachtet werden kann.82 In den Werken der europäischen Kaufleute, Missionare, Abenteurer und Amtsträger formten sich Lesarten und Deutungsmuster heraus, ohne die die epistemischen Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte nicht denkbar wären. Die Übereinstimmungen in Jean de Mandevilles und Franz Junghuhns Bild des Kannibalismus auf Sumatra sind hierfür noch beredter Beleg.

82 Genau diese Vorstellung scheint jedoch diversen einflussreichen Überblickswerken und fachgeschichtlichen Studien zugrunde zu liegen. S. z. B. Margaret T. Hodgen, Early Anthropology in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Philadelphia 1964; Anthony Padgen, The Fall of Natural Man. The American Indian and the Origins of Comparative Ethnology, Cambridge 1982.

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Es soll auch wahr sein, das Kapitän Drake aus India gekommen ist. Zwei Briefzeitungen aus dem Revaler Stadtarchiv – mit einem Quellenanhang

Man ist doch ein wenig überrascht, bei der Durchsicht der frühneuzeitlichen Ratsakten Revals die hier im Titel zitierte Information zu finden.1 Aspekte, die auf globalgeschichtliche Vorgänge hinweisen, sind im Archiv dieser mittelgroßen Handelsstadt an der Küste des Finnischen Meerbusens in Nordosteuropa nicht allzu zahlreich. Diese Information entstammt der während der Ordnungsarbeiten im Stadtarchiv im 19. Jahrhundert kreierten Abteilung mit der Signatur B. O. Varia, in die die Archivare neben curiosa sonstiges Material eingeordnet haben, das woanders keinen Platz fand.2 Hier ist eine dünne Aktenmappe B. O. 3 entstanden, die insgesamt 51 Blätter umfasst mit der Überschrift Gedruckte und geschriebene Nachrichten über Kriegsangelegenheiten aus verschied. Ländern 16. und 17. s.3 Es handelt sich also um lose Schriftstücke, die ihren ursprünglichen Zusammenhang verloren haben. Unter diesen befinden sich zwei anonyme undatierte Schreiben, die Blätter 5r–6r und 12r, die unter anderem auch von dem berühmten englischen Weltumsegler Sir Francis Drake berichten. Die beiden Schriftstücke haben auch andere inhaltliche Berührungspunkte und sind im 16. Jahrhundert mit derselben Hand geschrieben worden. Sie verdienen daher eine nähere Betrachtung und werden im Anhang vollständig ediert. Im Hintergrund steht folgende Frage: Was können diese Stücke über den Informationshorizont, die Verbindungen und Netzwerke, vielleicht auch über die Ängste und Hoffnungen der Revaler im 16. Jahrhundert aussagen?

1 Dieser Aufsatz ist entstanden im Rahmen des von der Estnischen Wissenschaftsagentur geförderten Forschungsprojekts IUT 18–8: The Making of Livonia: Actors, Institutions and Networks in the Medieval and Early Modern Baltic Sea Region. 2 Erste Erwähnung findet B. O. 3 im Geschäftsjahr 1890: Очетъ объ управленіи городом Ревелемъ за 1890 годъ, Ревель, 1891, S. 57; Vgl. auch Katalog des Revaler Stadtarchivs, hrsg. Gotthard von Hansen, Reval 1896, S. 206f. Zum Anfang der Ordnungsarbeiten siehe Jüri Kivimäe, Theodor Schiemann – Tallinna esimene linnaarhivaar 1883–1887, in: Ex archivo civitatis. Tallinna Linnaarhiivi ajaloost, hrsg. Lea Kõiv, Tallinn 2008, S. 65–103, hier S. 76–80. 3 Das 16. Jahrhundert betreffen die Blätter 4–12 und 27–41.

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Nach ihrem eigenen Wortlaut vermitteln diese Schreiben neue Zeitungen, in modernem Sinne also Nachrichten. In der allgemeinen Geschichte des Nachrichtenwesens ist das 16. Jahrhundert eine dynamische Zeit, die gekennzeichnet ist von zunehmendem Gebrauch gedruckter Medien, einer Verdichtung des regulären Postdiensts, einer Professionalisierung der Nachrichtenschreiber und der Kommerzialisierung der gesamten Branche.4 Die Nachrichten, tidinge, wie wir sie beispielsweise aus dem kaufmännischen Briefwechsel kennen,5 lösten sich von den Privatbriefen und wurden als selbstständige Schrifterzeugnisse verbreitet.6 Es entstanden verhältnismäßig einheitlich aufgebaute handschriftliche Zeitungen (avvisi);7 einiges wurde auch unter der Überschrift Neue Zeitungen gedruckt.8 In den Kanzleien der Mächtigen dieser Welt (Fürsten, Städte, Handelshäuser etc.) häuften sich die Nachrichten;9 die berühmteste unter diesen Sammlungen ist die Sammlung der so genannten Fuggerzeitungen in Wien.10 Die Wege für die Erlangung der Informationen blieben jedoch nach wie vor heterogen: Neben amtlichen und privaten Briefen hat man auch mündliche Nachrichten von Gesandten, Kaufleuten und sonstigen Reisenden (Schiffer) wie auch Gerüchte wahrgenommen.11 Wie lassen sich unsere Schriftstücke in diese Welt einordnen? Formal gesehen handelt es sich eigentlich um zeitgenössische Abschriften. Auch wenn diese Informationen Reval verschlossen in einem Brief erreicht haben – ob nun an den Rat oder jemanden in der Stadt mit Zugang zum Rat adressiert – sind diese 4 Allgemeine Übersicht: Andrew Pettegree, The Invention of News, London 2014. Zum aktuellen Forschungsstand: News Networks in Early Modern Europe, hrsg. Joad Raymond, Noah Moxham, Leiden 2016. 5 Vgl. Margot Lindemann, Nachrichtenübermittlung durch Kaufmannsbriefe. Brief-„Zeitungen“ in der Korrespondenz Hildebrand Veckinchusens (1398–1428) (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung, 26), München, New York 1978. 6 Theodor Gustav Werner, Das kaufmännische Nachrichtenwesen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit und sein Einfluß auf die Entstehung der handschriftlichen Zeitung, in: Scripta Mercaturae 2, 1975, S. 3–51. 7 Mario Infelise, From Merchants’ Letters to Handwritten Political avvisi. Notes on the Origins of Public Information, in: Correspondence and Cultural Exchange in Europe 1400– 1700, hrsg. Francisco Bethencourt, Florike Egmond (Cultural Exchange in Early Modern Europe, 3), Cambridge 2007, S. 33–52. 8 Paul Roth, Die neuen Zeitungen in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, Leipzig 1914 [ND 1963]. 9 Werner, Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 6), S. 26: „Viele Tausende von Briefzeitungen und handschriftlichen Zeitungen – als Avisen, Beilagen, Pagellen, Zettel, Nova und Zeitungen bezeichnet – sind u. a. in den großen Bibliotheken von Berlin, Leipzig, München, Wien und Wolfenbüttel erhalten.“ 10 https://fuggerzeitungen.univie.ac.at/ (Letzter Zugriff 27. 12. 2018). 11 Vgl. für Lübeck: Gerhard Fouquet, „Vom Krieg hören und schreiben“. Aus den Briefen an den Lübeck-Nürnberger Kaufmann Matthias Mulich (1522/23), in: Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, hrsg. Thomas Stamm-Kuhlmann (Historische Mitteilungen, Beiheft, 47), Wiesbaden 2003, S. 168–187, hier S. 175f.

Zwei Briefzeitungen aus dem Revaler Stadtarchiv

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Schriften schon im ursprünglichen Geschäftsgang von den Trägerbriefen gelöst geworden. In der Ratskanzlei hat man die Nachrichten gesammelt und exzerpiert, wie auf einem weiteren Blatt aus B. O. 3 zu lesen ist.12 Es entstand aber in Reval keine eigenständige Nachrichtensammlung. Die Briefnachrichten sind als lose Blätter zerstreut an unterschiedlichen Orten des alten Ratsarchivs zu finden, z. B. bei der politischen Korrespondenz und den Verhandlungsunterlagen unter der Signatur B. G. Polonica 1 und 10. Unter diesen Umständen lassen sich beim heutigen Stand der Forschung leider keine quantitativen Aussagen über alle in Reval erhaltenen Nachrichten treffen. Aufgrund inhaltlicher Merkmale, wie dass beide Schriften anonym sind oder auch dass die Nachrichten gesammelt von unterschiedlichen Orten kommen, ähneln unsere Schriften handschriftlichen Zeitungen, doch fehlen hier die bei handschriftlichen Zeitungen übliche Datierung und der Ausstellungsort.13 Auch der Gebrauch der ersten Person, von Anreden, der Verweis auf den Bruder des Schreibers sowie emotionale Stellungnahmen unterscheiden das erste Stück (Anhang I) von handschriftlichen Zeitungen. Diese Umstände machen es eigentlich mehr zu einem Privatbrief. Es fehlen jedoch weitere Merkmale, vor allem die Unterschrift mit Datum und Adresse, die daraus einen vollständigen Brief machen würden. Man konnte diese Stücke nach der terminologischen Systematik von Theodor Gustav Werner daher Briefzeitungen, vom Brief getrennte Beilagen mit aktuellen Nachrichten nennen.14 Was ergibt das nähere Lesen der hier im Fokus stehenden Nachrichten? Auf den ersten Blick ist es schwer, den genauen historischen Kontext der Stücke herauszufinden. Truppenbewegungen in den Niederlanden, Komplotte von Katholiken gegen Protestanten, Verschwörungen gegen die englische Königin Elisabeth I. und Schiffsreisen von Francis Drake hat es schließlich mehrere gegeben. Für die Datierung ist entscheidend der Anfang der Belagerung von Rheinberg (Berck) durch spanische Truppen und die geäußerte Hoffnung, dass Adolf von Neuenahr (ca. 1554–1589), Graf von Limburg und Moers und Statthalter von Geldern, zur Hilfe kommt. Damit kann unter vielen Belagerungen Rheinbergs nur die gemeint sein, die am 13. August 1586 begann15 und ein Teil des Truchsessischen Krieges (1583–1588) war, der durch den Versuch des Kur12 Tallinna Linnaarhiiv [Stadtarchiv Tallinn] (TLA) f. 230, n. 1, s. B.O. 3, fol. 7r. Newe zeittung auß brieven an etzliche unsere burger geschrieben aus Lubeck. Anhand der Handschrift kann dieses Blatt dem Niedergerichtsschreiber Johannes Top, der in den Jahren 1545 bis 1574 tätig gewesen ist, zugewiesen werden. 13 Zsuzsa Barbarics, Renate Pieper, Handwritten Newsletters as a Means of Communication in Early Modern Europe, in: Correspondence and Cultural Exchange (wie Anm. 7), S. 53–79, hier S. 60f. 14 Werner, Das kaufmännische Nachrichtenwesen (wie Anm. 6), S. 44. 15 Max Lossen, Der Kölnische Krieg, Bd. 2, 1582–1586, Gotha 1887, S. 629.

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fürsten Gebhard Truchsess von Waldburg, mit seinem Konfessionswechsel das Erzbistum Köln in ein weltliches Fürstentum umzuwandeln, veranlasst war. Die Datierung der Nachrichten in den Herbst 1586 passt auch zu den weiteren Informationen. Francis Drake ist von seiner abermaligen Reise nach Westindien am 27. Juli 1586 nach England zurückgekehrt.16 Obwohl diese Expedition hinsichtlich des finanziellen Gewinns viel weniger erfolgreich war als die Weltumseglung, war sie umso mehr ein Medienevent: Renate Pieper hat insgesamt 57 avvisi gezählt, die darüber berichtet haben.17 Die Nachrichten über die Plünderung von Santo Domingo haben schon im Frühjahr 1586 Europa erreicht. Die Rückkehr von Drake wurde im Herbst allgemein bekannt.18 Unter den Verschwörungen gegen Elisabeth wurde im August 1586 die Babington-Verschwörung, die letztendlich auch zur Exekution von Maria Stuart führte, aufgedeckt.19 Ein hochkarätig besetztes Treffen der protestantischen Fürsten des Heiligen Römischen Reiches mit dem König von Dänemark in Lüneburg fand ebenfalls im Sommer 1586 statt.20 Auch manche weitere Informationen fügen sich in diese Jahre gut ein. Die englischen Hilfstruppen für die Niederlande waren in den Jahren 1585 bis 1587 auf dem Kontinent.21 Zu dieser von Robert Dudley, Earl von Leicester, geführten Streitmacht gehörten auch irische Söldner.22 Auf der Gegenseite hatte König Philipp II. begonnen, eine Invasion nach England vorzubereiten.23 Wenn unser Nachrichtenblatt die Vertreibung der Protestanten aus Augsburg durch die Jesuiten erwähnt, ist der Kalenderstreit gemeint, der Anfang des Sommers 1584 mit

16 John Sugden, Sir Francis Drake, London 2006, S. 180–200. 17 Renate Pieper, News from the New World: Spain’s Monopoly in the European Network of Handwritten Newsletters during the Sixteenth Century, in: News Networks (wie Anm. 4), S. 495–511, hier S. 504–506. 18 Pieper, News from the New World (wie Anm. 17), S. 505. Eine zeitgenössische Nachricht ist gedruckt in: News and Rumor in Renaissance Europe. The Fugger Newsletters, hrsg. George Matthews, New York 1959, Nr. 99: Antwerpen 6. Sept. 1586. 19 Robert Hutchinson, Elizabeth’s Spymaster. Francis Walsingham and the Secret War That Saved England, New York 2006, S. 144f. 20 Paul Douglas Lockhart, Frederik II and the Protestant Cause. Denmark’s Role in the Wars of Religion 1559–1596, Leiden 2004, S. 254–256. 21 Helmut Georg Koenigsberger, Western Europe and the Power of Spain, in: The New Cambridge Modern History, Bd. 3, The Counter-Reformation and Price Revolution, 1559– 1610, hrsg. Richard Bruce Vernham, Cambridge 1968, S. 234–318, hier S. 297f. 22 William Urban, Bayonets for Hire. Mercenaries at War 1550–1789, London 2007, S. 86f. 23 Koenigsberger, Western Europe (wie Anm. 21), S. 299–301. Pauline Croft, ‚The State of the World is Marvellously Changed‘: England, Spain and Europe 1558–1604, in: Tudor England and its Neighbours, hrsg. Susan Doran, Glenn Richardson, Basingstoke 2005, S. 178–202, hier S. 183.

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der Ausweisung des Pastors Georg Mylius eskalierte und im Herbst 1586 noch weitertobte.24 Woher kamen die Nachrichten? Als Ursprungsorte sind in unseren Berichten Amsterdam und Köln direkt erwähnt. Gerade Köln war eine der wichtigsten Nachrichtenvermittlungsknotenpunkte im damaligen Nordeuropa.25 Haupteinzugsgebiete unserer Nachrichten sind das Rheinland, die Niederlande, England und Süddeutschland. Ausdrucksweisen des Schreibers schließen aber aus, dass er selbst in den gerade erwähnten Regionen in diesem Moment ansässig war. Als Absenderort könnte wegen der historischen Verbindungen Revals Norddeutschland in Frage kommen. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten. Für die Fugger in Augsburg war z. B. Danzig das Hauptzentrum für die Nachrichten aus Nordosteuropa.26 So könnte für die Revaler Danzig umgekehrt ein Knotenpunkt für die westeuropäischen Neuigkeiten gewesen sein. Einmal haben aber die Nachrichten über den Truchsessischen Krieg und die Niederlanden Reval auch über Wilna erreicht.27 Daher muss der Ort, an dem unsere Nachrichten für Reval zusammengeschrieben wurden, offenbleiben. Die Quellen des Schreibers dürften unterschiedliche sein, viele Themen lassen sich beispielsweise in Fuggerzeitungen von 1586 wiederfinden, ohne dass dabei die Details (z. B. Zahlen) genau passen. Die Interpretation der Inhalte dieser zufällig überlieferten Kompilationen hat offensichtlich ihre Grenzen. Es sei trotzdem zum Schluss auf einige Themenkomplexe hingewiesen, die nicht ganz ohne Bedeutung sind, wenn man Rezeptionskontext und Wahrnehmungsmöglichkeiten im Reval der 1580er Jahre besser verstehen will. Den Rahmen für die Rekonstruktion der lokalen Stimmung bietet der Chronist und Flugschriftenautor, der Revaler lutherische Prediger Balthasar Russow, der im Schlusswort der Neuauflage seiner Chronik im Jahre 158428 durchaus optimistisch klingt. Die lange, seit 1558 dauernde Kriegsperiode im Lande war mit dem Frieden von Jam Zapol’skij von 1582 erst einmal zu Ende.29 24 https://www.wissner.com/stadtlexikon-augsburg/artikel/stadtlexikon/kalenderstreit/432 (Letzter Zugriff 27. 12. 2018). Herbert Immenkötter, Wolfgang Wüst, Augsburg. Freie Reichsstadt und Hochstift, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd. 6, Nachträge, hrsg. Anton Schindling, Walter Ziegler (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 56), Münster 1996, S. 8–35, hier S. 28–30. 25 Nikolaus Schobesberger, Räume und Einzugsgebiete der Wiener Fuggerzeitungen. Die Geographie eines frühneuzeitlichen Nachrichtenmediums, in: Frühneuzeit-Info 24 (2013), S. 68–80. 26 Schobesberger, Räume und Einzugsgebiete (wie Anm. 25), S. 77. 27 TLA, f. 230. n. 1, s. B. G. 1, fol. 397r–398r, hier fol. 397v–398r. 28 Paul Johansen, Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber (Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte, 14), Köln u. a. 1996, S. 221. 29 Aleksandr Filjusˇkin, Der Livländische Krieg, in: Das Baltikum, Geschichte einer europäischen Region, Bd. 1, hrsg. Karsten Brüggemann u. a., Stuttgart 2018, S. 463–500, hier S. 499f.

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Die Stadt hatte zwei schwere Belagerungen durch moskovitische Truppen überstanden; die schwedische Herrschaft, die auch für die protestantische Sache günstig war, festigte sich im Lande. Im Jahr 1561 unter die schwedische Krone gekommen, war Reval mit dem politischen Alltag des Heiligen Römischen Reichs zwar nicht mehr so direkt verbunden wie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts,30 man scheint aber immer noch die Informationen über den Krieg in Kurköln und den Niederlanden geschätzt zu haben. Die Tendenz unserer Berichterstatter aus Westeuropa ist eindeutig protestantisch. Das Schicksal der Konfessionsverwandten lag ohne Zweifel dem Revaler genauso am Herzen. Die Informationen über den Konflikt in Augsburg kommen in einem Baltikum an, in dem das Vordringen der Jesuiten in den 1580er Jahren gleichermaßen aktuell war.31 Noch mehr schlug die Kalenderfrage hohe Wellen überall im konfessionalisierten Europa, und es gab Unruhen im Ostseeraum bis hinauf nach Riga.32 Als man in Reval in den Nachrichten von einer globalen Verschwörung der Katholiken zur Ausrottung der Protestanten las, machte man sich bestimmt Sorgen. Die Nachrichten über Bündnisversuche der protestantischen Herrscher (König Friedrich II. von Dänemark und die deutschen Fürsten) dürften die Revaler auch nicht unberührt gelassen haben. Die Nachrichten sollten auch die Sensationslust befriedigen, was eine epochenübergreifende Erscheinung ist. Das in unseren Texten nicht über Missgeburten und Himmelserscheinungen berichtet wird, mag ein Zufall sein, die Beschreibung der halbnackten Iren33 gehört aber auch in den Bereich des Sensationellen genauso wie die Berichte über Prominente. Der Ruhm von Sir Francis Drake strahlte seit der Weltumseglung immer weiter aus. Aufgrund seiner Konfession und seines Kampfes gegen die Spanier wurde er zum Helden der Protestanten stilisiert.34 Auch in Fuggerzeitungen ist Drake weitaus öfter erwähnt

30 Madis Maasing, Livland und die Reichstage (1520–1555), in: Livland – eine Region am Ende der Welt? Forschungen zum Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie im späten Mittelalter. Livonia – a Region at the End of the World? Studies on the Relations between Centre and Periphery in the Later Middle Ages, hrsg. Anti Selart, Matthias Thumser (Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, 27), Wien 2017, S. 283–312. 31 Vello Helk, Die Jesuiten in Dorpat 1583–1625. Ein Vorposten der Gegenreformation in Nordosteuropa, Odense 1977. 32 Friedrich Dsirne, Der Rigasche Kalenderstreit zu Ende des 16. Jahrhunderts, Riga 1867; Enn Tarvel, Kirche und Bürgerschaft in den baltischen Städten im 16. und 17. Jahrhundert, in: Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, T. 3, hrsg. Mattias Asche, Werner Buchholz, Anton Schindling (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung, 71), Münster 2011, S. 17–99, hier S. 63f. 33 Auch in: News and Rumor (wie Anm. 18), Nr. 100: Köln 15. Sept. 1586. 34 Bruce Wathen, Francis Drake. The Construction of a Hero, Woodbridge 2009, S. 12–32. Siehe auch Sugden, Sir Francis (wie Anm. 16), S. 200.

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als andere Engländer – die Königin ausgenommen.35 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass unser Nachrichtenschreiber Drake sogar die Aufdeckung eines Invasionsplans von Herzog Henri Guise zuschreibt. Die Gerüchte über diesen Plan von Guise zirkulierten in Verbindung mit der Babington-Verschwörung,36 und der Herzog ist wirklich an den früheren Invasionsplänen aktiv beteiligt gewesen,37 doch hatte er gerade zu diesem Zeitpunkt im innerfranzösischen Machtkampf ganz andere Sorgen.38 Von Drake ist aber kaum anzunehmen, dass er wenige Wochen nach seiner Rückkehr schon in die europäische Politik verstrickt gewesen sein sollte und Gefangene genommen hat, die in dieser Hinsicht gut informiert waren. Man bekommt demnach den Eindruck, dass die überwältigende Medienpräsenz von Drake und Guise39 den Berichterstatter nach Reval so beeinflusst hat, dass er diese auch mit solchen Ereignissen zusammenbringt, an denen sie nicht unbedingt beteiligt gewesen sind. Wie dem auch sei, die Revaler konsumierten dieselben Heldengeschichten, die sich überall in Europa verbreiteten. Die Informationskanäle Revals im 16. Jahrhundert reichten also bis in die Neue Welt, auch wenn die Anzahl der Nachrichten darüber offensichtlich viel kleiner war als das, was man über die Türken erfuhr.40 In Reval kaufte man Bücher, denen man den aktuellen Stand der Erdkunde entnehmen konnte, wie ein Bücherverzeichnis vom Anfang der 1550er Jahre dokumentiert.41 Sogar Tiere aus Amerika sind in Livland belegt: Im Jahre 1534 hat der Bischof von Dorpat ein Truthahn (Kalkhuhn) weiter nach Moskau verschenkt.42 Zum Selbstverständnis der livländischen Eliten gehörte damals auch ein Vergleich der eigenen Vorfah35 Nach Durchsicht der Fuggerzeitungen (im Portal: https://fuggerzeitungen.univie.ac.at/) (letzter Zugriff 04. 12. 2019) wird Drake in 323 Zeitungen und z. B. Leicester nur in 159 Zeitungen erwähnt. Elisabeth I. wird in 1.211 Zeitungen erwähnt. 36 Hutchinson, Elizabeth’s Spymaster (wie Anm. 19), S. 127; News and Rumor (wie Anm. 18), Nr. 99: Antwerpen 6. Sept. 1586. 37 Stuart Carroll, Martyrs & Murderers. The Guise Family and the Making of Europe, Oxford 2009, S. 245–250. 38 Ebd., S. 268. 39 Guise wird in den Fuggerzeitungen insgesamt 364 Mal erwähnt, vgl. https://fuggerzeitungen. univie.ac.at/ (letzter Zugriff 04. 12. 2019). 40 Pettigree, The Invention of News (wie Anm. 4), S. 141: „… the interest in the Americas was always dwarfed by the incessant, recurrent fear of Turkish conquest.“ 41 Hellmuth Weiss, Das Revaler Nachlaßinventar eines auswärtigen Buchführers (Buchhändlers) aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts als Zeugnis für die geistigen Bedürfnisse der damaligen Zeit, in: Beiträge zu einer baltischen Kunstgeschichte, 3, hrsg. Erich Böckler, Bad Homburg 1981, S. 156–164, hier S. 161. 42 Jüri Kivimäe, Ein Kamel für Dorpat und ein Truthahn für Moskau, Geschenkesendungen zwischen Livland und Rußland im Jahre 1534, in: Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag, hrsg. Ortwin Pelc, Gertrud Pickhan, Lüneburg 1996, S. 233–248.

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ren, d. h. den Kreuzfahrern des 13. Jahrhunderts, die Livland erobert und die Einheimischen unterworfen hatten, mit den Königen von Spanien und Portugal, die Schiffe in die barbarische[n] Länder, zur Eroberung derselben und zur Unterweisung im wahren Glauben an Christus, und zur Bekehrung zu demselben schickten.43 Wenn die livländische Situation damals so klar als koloniale Unterwerfung verstanden worden ist, kann man nicht ausschließen, dass diese Analogien wieder auftauchten als die Revaler lasen, wie Drake in der Karibik die Sklaven befreite, um die Spanier zu besiegen. Es ist wohl nur ein winziger Anteil von Nachrichten, die Reval erreicht haben, erhalten geblieben. Die hier publizierten Schriften werfen aber ein Schlaglicht auf die mögliche Bandbreite der Informationen. Die Erwähnung von Orten, Personen und Ereignissen ohne weitere Kommentare deutet darauf hin, dass man den Adressaten zutraute, diese Informationen im Allgemeinen einordnen zu können. Wir wissen zwar nicht, inwieweit diese Nachrichten in Reval diskutiert wurden und was davon einen unmittelbaren praktischen politischen Wert in dieser Provinzstadt des schwedischen Reiches haben konnte und was nicht. Das Vorhandensein dieser Informationen macht es aber wahrscheinlich, dass die Revaler das Ringen um die Konfessionsfrage in Westeuropa aufmerksam verfolgten und gelegentlich auch an die weit abgelegenen Länder auf der anderen Seite der Erdkugel gedacht haben.

Quellenanhang Bei der folgenden Edition handelt es sich um eine buchstabengetreue Wiedergabe des Textes, jedoch wurden für eine bessere Lesbarkeit einige editorische Eingriffe vorgenommen. Im Original unregelmäßige Interpunktion wurde normalisiert. Der Gebrauch von Großbuchstaben wurde nur für die Satzanfänge und Eigennamen (Orts- und Personenamen) verwendet. Die Buchstaben u/v und i/j wurden nach ihrem Lautwert (Vokal oder Konsonant) wiedergegeben. Konsonantenhäufungen sind beibehalten. Abkürzungen, mit Ausnahme von Anredeformeln und Titulatur, wurden stillschweigend aufgelöst. Kommentiert wurden nur Personen und Ortsnamen; alle anderen inhaltlichen Kommentare finden sich im Hauptteil des Beitrags. 43 Der letzte Landmarschall des Deutschen Ordens in Livland, Philipp Schall von Bell, hat das im Jahre 1560 seinem Besieger Andrei Kurbski erzählt. Сказанiя князя Курбскaго, Частъ І, Исторія Іоанна Грознаго, Санктпетербургъ 1833, S. 94–97. Die deutsche Übersetzung folgt Arved Baron Taube, Die letzte Feldschlacht des Deutschen Ordens und des Landmarschalls Philipp Schall von Bell. Erzählung über den Aufstieg und Niedergang der Ordensmacht (in den „Skazanija“ des Fürsten A. Kurbski), in: Baltische Hefte 8 (1961), H. 1, S. 1–12, hier S. 3.

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I. TLA, f. 230, n. 1, B. O. 3. [fol. 5r] Newer zeittung habe ich auß dem Niederlande, van denn 29 augusti auß Ambsterdam und van Collen, auch geshrieben im landt zu Hessen, und sindt daselbst gemunstert worden 4000 pferde, zu Nurenbrugh44 6000 pferde, noch int landt zu Meissenn bey Leiptzig 3000 perde. Dieselben haben hast auff mussen, und ist noch uber all große auffrustung in Deutshlandt von pferden. Das gesegge gehet, das deselbige nach Auspurg, dar die Jesuiters de evangelischen oder die cofessions vorwandten mith iren predicanten haben außgetrieben. Auch hadt sich der keisser45 mith dem pawest46, konigk auß Frankreich47, konig van Spanien48, cardinalen, bishoffe, hertzoge van Italien, sampt allen papisten und ire bunthgenossen, haben eingellige vorbundt gemachet und beshlossen de außburgische confession sampt den calvinshen, zwinglishen, und dergliken welker se ketter nenen, und ihs ohre meynung deselbe uberall außraden. Angehende de Nidderlande. Der konig auß Spanien hadt seine macht gelegt vor eine stat ahm Reinstrome Barck49 genandt, 2 meilen von Wehsell,50 deselbige stadt fast belegert, aberst darin liggen 3000 gute kriegsleuthe. De nedderlanders haben das stedeken zu entsetzen gewißlich gelofed. Zu deme der graffe van Murß,51 stathalter van furstenthumb Gellerland52 uber 25 stette, derselbe ist gekomen aus Westfalen mith 3000 pferden und hadt in den antzoge victoria gehatt, das viele spaniers aldar gebliben seindt. [fol. 5v] Noch seindt aus Engllandt 12000 kriegesleuthe gekomen, schotten und englishe, und 16000 hebben in Brabandt gewest, de dusse somer alles abgebrandt haben, und in Flandern alle dyke durchgepochen, alßo das das gantze landt in wasser swhm und ganßlich vortorben.

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Nürnberg (?). Rudolf II. [1576–1612]. Sixtus V. [1585–1590]. Heinrich III. [1574–1589]. Philipp II. [1555/56–1598]. Rheinberg (Berk, Rijnberk), Rheinzoll, Stadt und Burg. Wesel, Hansestadt am Rhein. Graf Adolf von Neuenahr [ca. 1554–1589], dem durch Heirat die Grafschaft Moers zugefallen ist. 52 Graf Adolf von Neuenahr war Statthalter von Geldern in den Jahren 1584–1589.

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Noch 4000 pferde seindt gekomen außm landt zu Holsten53, so bey einer stat Scholle54 geheissen gemunstert worden. Noch 3000 pferde seindt in Gellerlandt angenomen, nebenst 16000 wagens, ein forman, ein jung, mith 2 pignerers, das seindt die greber so die shantze machen, und seindt alßo mith ehrer gantzen macht tho dem konig von Spanien so mid seiner macht vor Barck licht aufzushlahen und die statt zu entsetzen. Gnediege her, ich mus e. g. noch etwas shreiben, des sich de Nedderlander vorwundern. Die konigin von Engellandt55 hat 2000 wilde ihrlender da gesandt, fur kriegsleuthe sterke große mener, die gehen nakedt, nur ihr sham etwas bedeckt. Ihr gewehr ist einn holtzen bardes, und ein rechte zabell, ein weinig lenger als ein gemein zabell. Diese leuthe haben groß wunder betrieben iegen ihre feiende, die seindt gerhade ins lauffen, das wan ih e. g. solte shreiben ihre thaten, die sie teglih thun, wie mir mein bruder zushreibt, es solte hir zu lande nicht gleubet werden, und ist dennoch die warheit. Summa es stelleth sih zu ein shwar irlich to dingk in hoh Deutsh und Niderlanden. Diß ist gewiß, die konigin von Englandt nimpts nun mith grosten ernst ahn iegen ihren feiendt. Das die lande seindt ihr nun vollenkomblih zugestalt, welchs bey [fol. 6r] meiner zeit nicht gewesen, sonder sie wahr allein ein shutt her biß zu der zeit, das die evangelischen ihr das vorgestrecktses gelt widergeben, solt die lande frey seyn. Das ist nun anders. Man hat gesagt hir in diesen landen, das capitein Drake56 solte von den spaniern ershlagen sein, aber das shreiben ahn mir meldeth, und soll auch wahr seyn, das capitein Drake mith sinen shiff aus India zu hauß kommen in Engellandt, und hat ein großer schatz ahn golt und sylber mith, der mir so groß zugeshrieben, das men es mochte ungleublih halten, und ist dennoch sicher wahr. Sie halt ihn in grosen ehren in Englandt als einen konigl und sagen auch, das ist uns konigl summa. Die englen haben die intianer erlost van der slavanerei der spanier und groß freiheit tobraken. Haben 40 000 indeaner die waffen in die handt gegeben, die spanier preis gegeben, de in den landen sey. Da springen sie mith umb, gleichfals die spanier in vorzeitten mith ihn getan, do sie sein erobert worden und kein glauben mith ir gehalten.

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Herzogtum Holstein. Zwolle (?). Elisabeth I. [1558–1603]. Sir Francis Drake [ca. 1540–1596].

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Summa, Spanien ist de schatzkamer ouerich und konig gewest wann Indien, es lest sich ansehen, das das sanctum foedus von den babste gebauwet das evangelion auszuraden, nach ir willen nicht wirdt zugehen, welchen sie von kirhen halten. Vale. II. TLA, f. 230, n. 1, B. O. 3. [fol. 12r] Von newen zeitungen weiß man alhir nichts gewisses, allein in Niederlandt ist es noch beim alten, das der spanishe hauffe eine stat und festung nach der andren eröbert, und erbarmblich darin haußhalt. Itzo ligt ehr vor Berge,57 welhes ehr gewaltig beshantzet und oft zu storm geshossen soll haben. Und stehet zubesorgen, do man mith der entsatzung zu lange wirdt vorweillen, wie es dan der örter gemeinlich pflegt zuzugehen, das nicht viel gutes darauß wirdt folgen. Diesen tag ist zeittung auß Engllandt kommen, das etzliche papistishe englishen sich mith den spanier voreinigeth, und sich vorheissen die konigin in iren eigen gemach zuerwurgen, welhes aber ihr etzliche tage zuuor kundt worden, und hadt der morder 42 personen, drunder ein ritter und viell vom adell sein sollen, gefenglich lassen einziehen und gibt die zeittung das sie alle gevierteilt sollen werden. Ferner soll durch anstifftung etzlicher englishen der hertzog van Gwyse58 mith 20 000 man ahn einem unvorsehenden orthe in Engellandt haben einfallen wollen, welches dem capitein Draken durch einen gefangenenn kundt worden, und dem spanischen hauffen solhes gewehret. Von der zusamenhaltung zu Lunenburg59 doselbst alle chur und fursten des rhomishen reihs so woll auch khon. mt. zu Dennemarck60 in der person gewesenn, was do beshlossen ist nihts gewisses zushreiben, allein ich habe ein shreiben gesehen, darin beruret, das der rhomisher keyser item der bapst und konig von Spanien neben ihrenn anhenge, alle geistliche gueter, stiffte unnd klöster von allen chur und fürsten im rhomishen reich durch ernstes shreiben abgefordert. Derwegen woll zu gleubenn, das der tag zu Lünenburg solhen puncten halber woll mag gehalten sein.

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Siehe Anm. 49. Heinrich I. von Guise [1550–1588]. Lüneburg. Friedrich II., König von Dänemark [1559–1588].

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Die Dänen in Südostasien (17.–18. Jahrhundert). Struktureller Wandel im Schatten niederländischer Expansion

Die Dänen zählten zu den kleineren in der Frühen Neuzeit am Indischen Ozean präsenten Handelsnationen. Gleichwohl zeichnete sich deren Anwesenheit durch ein großes Maß an Kontinuität aus. 1616 gründete sich in Kopenhagen mit der „Ostindisk Kompagni“ unter starkem niederländischem Einfluss eine erste Handelsgesellschaft nach Vorbild der niederländischen Vereenigde Oost-Indische Kompagnie (VOC). Seit 1620 trieben die Dänen mit Gründung ihres an der südostindischen Koromandelküste gelegenen Hauptstützpunktes Tranquebar Handel auf dem Indischen Ozean.1 Dabei bildeten sich von Beginn an zwei Formen wirtschaftlicher Interaktion unter dem Danebrog heraus: der Interkontinentalhandel sowie der intra-asiatische Warenaustausch. Mit Ersterem transportierten die Dänen die begehrten Gewürze, später auch Baumwolltuche, Tee oder Porzellan, von Ostindien auf der Kaproute nach Kopenhagen. Im Gegenzug brachten sie Silber, Eisenwaren, Holz, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aber auch massenhaft Waffen und Alkohol, nach Ostindien.2 Mit der Partizipation am traditionellen intra-asiatischen Handel andererseits erwarben die Nordeuropäer asiatische Waren in ihren Produktions- oder Anbaugebieten, um diese von dort aus zunächst nach Tranquebar für den Weitertransport in Richtung Europa zu bringen. Von Beginn an besaß der intra-asiatische Handel unter der dänischen Flagge aber auch eine zweite Funktion: Denn im Zeichen eines gerade im 17. Jahrhundert eher unregelmäßigen und teils ganz unterbrochenen Interkontinentalhandels ermöglichte jener auch unabhängig davon die Erwirtschaftung von Gewinnen allein auf dem Indischen Ozean. Diese letztere Handelsform gab den am Indischen Ozean residierenden dänischen 1 Z. B.: Gunnar Olsen, Dansk Ostindien 1616–1732. De Ostindiske Kompagniers handel på Indien (Vore Gamle Tropekolonier, 5), Kopenhagen 1967, S. 33–79; Jürgen Sarnowsky, Die Erkundung der Welt. Die großen Entdeckungsreisen von Marco Polo bis Humboldt, München 2015, S. 176. 2 Tobias Delfs, Martin Krieger, Alltagsgetränk und Rauschmittel im kolonialen Diskurs. Produktion, Handel und Konsum von Alkohol und öffentliche Debatten in Dänisch-Ostindien (17.–19. Jahrhundert) (in Vorbereitung).

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Kompaniekaufleuten letztlich die Möglichkeit, sich gegebenenfalls von den Erfordernissen des Interkontinentalhandels zu lösen und statt Tranquebar auch andere an der Koromandelküste gelegene Häfen als Ausgangspunkte ihrer Unternehmungen zu wählen. Fast das gesamte 17. Jahrhundert hindurch dominierte auf diese Weise der intra-asiatische vor dem interkontinentalen Handel, was das dänische Engagement am Indischen Ozean deutlich von dem der Niederländer und vor allem der Engländer unterscheidet. Dabei ist nicht zu leugnen, dass gerade in der Anfangszeit niederländische Privatkaufleute eine ganz entscheidende Funktion für das Funktionieren dieses Systems besaßen.3 In seiner Doppelfunktion kam dem dänischen Warenaustausch gerade zwischen der Koromandelküste und dem insularen Südostasien, der Heimat von sowohl in Indien als auch in Europa begehrten Gewürzen, eine wichtige Funktion zu. Begünstigend wirkte die Tatsache, dass sich die Schifffahrt zwischen der Koromandelküste und der Insulinde stets als außerordentlich zuverlässig und berechenbar erwies. Vermutlich spätestens seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. war das System der Monsunwinde auf dem Indischen Ozean, die ein Schiff im Zyklus der Jahreszeiten entweder von Ost nach West oder in umgekehrte Richtung trugen, auch in Europa bekannt. Ging ein Schiff pünktlich auf die Reise, so konnte es innerhalb weniger Wochen die gegenüberliegenden Küsten erreichen.4 Der folgende Beitrag greift die Forschungen des Jubilars zum europäischen Kolonialhandel und sein großes, anerkennenswertes Engagement in der deutschindonesischen wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf und fragt nach Ausprägung und Relevanz des dänischen wirtschaftlichen Engagements in Südostasien im 17. und 18. Jahrhundert. Wo lagen die geografischen Schwerpunkte dieses Warenaustausches und welche Güter standen im Mittelpunkt des Interesses? Die Quellen zur Beantwortung dieser Fragen sind gerade für das 17. Jahrhundert begrenzt. Dänische Kompanieakten aus jener Zeit sind so gut wie nicht erhalten oder befinden sich in einem problematischen Erhaltungszustand und sind im Archiv nicht zugänglich. Immerhin lassen sich einige wenige, im Archiv der Dänischen Kanzlei im Kopenhagener Reichsarchiv verwahrte Akten aus der Zeit des frühen Ostindien-Engagements auswerten.5 Umso mehr sind wir für die Frühzeit auf Dokumente niederländischer und englischer Provenienz angewiesen, die das dänische Unternehmen allerdings aus einer Fremdperspektive 3 Sanjay Subrahmanyam, The Coromandel Trade of the Danish East India Company, 1618– 1649, in: Scandinavian Economic History Review 37,1 (1989), S. 42. 4 K. N. Chaudhury, Trade and Civilization in the Indian Ocean. An Economic History from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1985, passim. 5 Dänisches Reichsarchiv Kopenhagen (RAK), Danske Kancelli, Rentekammerafdelingen, B 246 A-C, Willum Leyels Arkiv, 1639–1648; ebd., B 245 A-B, Claus Rytters ostindiske rejse med skibet „Den forgyldte sol“, 1639–1650; RAK, Danske Kancelli, B 169, Diverse breve, dokumenter og akter fra det ostindiske kompagni vedkommende, 1616–1660.

Die Dänen in Südostasien (17.–18. Jahrhundert)

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schildern und mit den dänischen Konkurrenten nicht immer freundlich ins Gericht gehen. Noch im ersten Jahr ihres kolonialen Engagements in Indien bemühten sich die Dänen, malabarischen Pfeffer über den Landweg von der Malabarküste nach Tranquebar zu schaffen – ein Unternehmen, dem keine große Nachhaltigkeit beschieden war.6 Denn nur wenig später legten sie ihre ganze Kraft darin, am gewinnträchtigen intra-asiatischen Handel mit Südostasien zu partizipieren, wie es das große Vorbild, die niederländische VOC, aber auch die Engländer bereits seit einiger Zeit so erfolgreich taten. Zaghaft tasteten sich dänische Schiffe vor, zunächst in die westlichen Randregionen, schließlich in das Herz der Insulinde. 1621, nur ein Jahr nach dem Erwerb Tranquebars, machte sich erstmals die „København“ auf den Weg zum auf der Malayischen Halbinsel gelegenen Hafen von Mergui. Mit diplomatischer Unterstützung seitens des südindischen Nayaka von Tanjore, dem Territorialherrn Tranquebars, gelang es den Dänen, eine Partie Pfeffer zu erwerben, wodurch der schleppende Überlandhandel von der Malabarküste zunächst ergänzt und in den darauffolgenden Jahren schließlich ganz ersetzt werden konnte.7 Von Beginn an stand der dänische Warenaustausch mit Südostasien unter dem steten Druck niederländischer Monopolisierungsbestrebungen. So zeigte sich die niederländische VOC bestrebt, den Erwerb von Gewürzen durch ihre Konkurrenten einzudämmen und scheute auch vor Gewaltanwendung nicht zurück, wie sie sich etwa in dem berüchtigten „Massaker von Amboina“ 1623 äußerte. Trotz dieser Versuche blieb lange Zeit der auf der Insel Celebes gelegene Hafen von Makassar außerhalb des eigentlichen Einflussbereiches der VOC. Dorthin gelangten in großem Umfange Nelken von Ternate, Tidore und Amboina, wo sie von Engländern, Portugiesen, Dänen und einheimischen Kaufleuten erworben werden konnten. Zwar gelang es der VOC in den 1640er Jahren, diesen Handel einzudämmen, eine vollständige Eroberung des Ortes und die Verdrängung ihrer europäischen Konkurrenten fand aber erst 1667 statt.8 Es sollten einige Jahre vergehen, ehe sich die Dänen nach ihrem erstmaligen Auftauchen in Mergui mit den Handelspraktiken der Region vertraut gemacht hatten und sich weiter in östliche Richtung wagten. 1624 schickte die Ostindisk Kompagni erstmals ein Schiff und im darauffolgenden Jahr mit der „Vandhunden“ und der „Jupiter“ zwei weitere Fahrzeuge nach Makassar.9 Bezeichnen6 Subrahmanyam, Coromandel (wie Anm. 3), S. 44. 7 The Life of the Icelander Jón Olafsson, Traveller to India, Bd. 2, hrsg. Richard Temple, Lavinia M. Anstey (Works issued by the Hakluyt Society, 2nd series, 68), London 1932, ND Nendeln/ Liechtenstein 1967, S. 19–21. 8 Sanjay Subrahmanyam, The Political Economy of Commerce. Southern India, 1500–1650 (South Asian Studies, 45), Cambridge 1990, S. 176. 9 The Life of Jón Olafsson (wie Anm. 7), S. 183–184.

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derweise segelten letztere nicht von Tranquebar, sondern von Masulipatnam ab – dem wichtigsten Emporium des indigenen intra-asiatischen Handels an der nördlichen Koromandelküste. Die Wahl gerade dieses Ausgangshafens belegt deutlich, dass es den Dänen bereits bei diesen vermutlich ersten Fahrten in die indonesische Inselwelt nicht um die Beschaffung von Retourfracht für Kopenhagen ging, sondern dass sie ihr Glück gleichsam als Spediteure auf eigene und vielleicht auch auf fremde Rechnung im rein intra-asiatischen Warenaustausch suchten. Der Geschäftserfolg war anfangs aber nur mäßig, und zu allem Überfluss strandete die „Jupiter“ auf der Rückreise vor der wegen der enormen Gezeitenkräfte und zahlreicher Untiefen nicht ganz ungefährlichen Küste Bengalens.10 Perspektivisch wurde trotz dieses Rückschlags der Austausch aber doch für profitabel erachtet, denn bereits im darauffolgenden Jahr segelten wieder zwei Schiffe unter dem Danebrog in östliche Richtung.11 Bei deren Kommandanten handelte es sich um einen gewissen Christopher van der Mohlen. Dessen offensichtliche niederländische Herkunft legt die Annahme nahe, dass sich die Dänen entweder niederländischen Know-hows bedienten oder dass sich bei jenen Handelsfahrten private niederländische und dänische Kompanieinteressen überlagerten, wenn die dänische Flagge nicht gar vollständig von niederländischen Privatkaufleuten als „Interlopers“ genutzt wurde. Das Unternehmen von 1626 muss von Erfolg gekennzeichnet gewesen sein, denn im darauffolgenden Jahr begaben sich erneut zwei Schiffe auf die Reise, dieses Mal unter keinem geringerem als dem Gouverneur Tranquebars, Roland Crappé, seines Zeichens ebenfalls Niederländer. Bis zum Beginn der 1640er Jahre verkehrten fortan zumindest alle zwei bis drei Jahre, bisweilen sogar jährlich, Handelsflotten unter dem Danebrog zwischen der Koromandelküste und Makassar. Im Tausch gegen südostasiatische Gewürze brachten die Dänen dabei Bauwolltuche aus Indien nach Südostasien, was jene von der Silbereinfuhr aus Europa weitgehend unabhängig machte. Schon nach wenigen Fahrten wurde dem Warenaustausch mit Makassar eine derart große Bedeutung beigemessen, dass sich bald auch in den langen Monaten zwischen den einzelnen Schiffsanläufen dänische Kaufleute in dieser Stadt auf10 Bouwstoffen voor de Geschiedenis der Nederlanders in den Maleischen Archipel, hrsg. P. A. Tiele, J. E. Heeres, Bd. 2,2, Den Haag 1890, S. 114; Dagh-Register gehouden int Casteel Batavia vant passerende daer ter plaetse als over geheel Nederlandts-India hrsg. J. E. Heeres u. a., Den Haag, Batavia (Jakarta) 1887–1931 (im Folgenden: DRB), hier: S. 181, 24. Juli 1625; The English Factories in India. A Calendar of Documents in the India Office, British Museum and Public Record Office, 13 Bde., hrsg. William Foster, Oxford 1906–1927, hier: Bd. 3, S. 119, 6. Februar 1626. 11 Generale Missiven van Gouverneurs-Generaal en Raden aan Heeren XVII der Vereenigde Oostindische Compagnie, 9 Bde., hrsg. W.P. Colhaas, Den Haag 1960–1988 (im Folgenden: GM), hier: Bd. 1, S. 227, 13. Dezember 1626; DRB, 28. März 1626.

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hielten und nach einiger Zeit in Makassar eine kleine dauerhafte Niederlassung, eine Faktorei, errichtet wurde. Bei den europäischen Faktoreien am Indischen Ozean handelte es sich um meist kleine, lediglich von einem Zaun oder einer Palisade umgebene Grundstücke, die neben einem Wohn- auch ein oder mehrere Lagerhäuser aufwiesen. Sie stellten gleichsam Hoheitsgebiet der jeweiligen Handelsnation dar und boten (bei den Dänen kaum bewaffnet aber nur begrenzten) militärischen Schutz. Die sich dauerhaft in Makassar aufhaltenden dänischen Kaufleute konnten nun auch außerhalb der eigentlichen Handelssaison über einheimische Mittelsmänner Gewürzpartien kontraktieren, wenn sie sich nicht gar selbst direkt in die Anbaugebiete der Nelken und anderer Spezereien begaben.12 In der zweiten Hälfte der 1620er Jahre exportierten jene auf diese Weise jährlich zwischen 40 und 100 bahar an die Koromandelküste. Ein Höhepunkt war 1632 mit 300 und 1636 mit 400 bahar erreicht.13 Neben Nelken führten sie in weitaus geringerer Menge Pfeffer und Sandelholz aus Makassar aus. Im Gegenzug gelangten indische Baumwolltuche in die Stadt. Zeitweise sollen Dänen und Engländer Makassar regelrecht mit Tuchen überschwemmt haben, was zu einem geradezu ruinösen Preisverfall führen konnte.14 Mit den Dänen trat vor allem aber ein neuer Konkurrent im Wettbewerb um das knappe Gut Nelken auf, was die Konkurrenz belebte und anders als bei den Tuchen bisweilen zu deutlichen Preissteigerungen führte.15 Angeheizt wurde der Mangel auch dadurch, dass es der VOC bereits in den 1620er Jahren vereinzelt gelang, den Transport von Nelken von Amboina nach Makassar massiv einzudämmen, wie es etwa 1629 verlautete: Dit jaer … is uytte quartieren van Amboyna niet eenen nagel gecomen … .16 Trotz allem weitete sich der Interaktionsraum auch der kleinen dänischen Besatzung in Makassar allmählich. Zum Missfallen der VOC brach jene von dort aus bald schon nach Solor und Timor auf, um auf Rechnung portugiesischer Kaufleute Sandelholz nach Makassar zu bringen. Ebenso finden wir bald auch Dänen im javanischen Bantam unweit Batavias, der Hauptniederlassung der VOC.17 Neben dem Handel mit Textilien und Gewürzen spielte die Ausfuhr indischer Sklaven nach Südostasien für die Dänen spätestens seit den 1640er Jahren eine 12 Jan Pieterz. Coen, Beschieden omtrent zijn bedrijf in Indie, hrsg. H.T. Colenbrander, S’Gravenhage 1919–1953, VII, 2, 20. Mai 1629, S. 1638; GM, II, S. 161, 12. Dezember 1642. 13 Martin Krieger, Kaufleute, Seeräuber und Diplomaten. Der dänische Handel auf dem indischen Ozean (1620–1845) (South China and Maritime Asia, 8), Köln, Weimar, Wien 1998, S. 62. Ein bahar entspricht etwa 200 kg. 14 Tiele, Heeres, Bouwstoffen (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 454, 31. Dezember 1649. 15 GM, I, S. 181, 27. Oktober 1625. 16 GM, I, S. 264, 15. Dezember 1629. 17 GM, I, S. 668, 682, 22. Dezember 1638.

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große Rolle. Nach Aussage der seit 1706 in Tranquebar wirkenden Hallischen Missionare habe die kleine dänische Kolonie einen der wichtigsten Sklavenhandelsmärkte an der südlichen Koromandelküste dargestellt.18 Noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts ließen die Missionare verlauten: Tranckebar heist die Sclaven-Stadt im Lande.19 Bei den Sklaven handelte es sich meist um Menschen aus der näheren oder ferneren Umgebung der dänischen Kolonie, die gerade in Hungerjahren in Schuldknechtschaft geraten waren oder sich und ihre Familienangehörigen selbst in die Unfreiheit verkauft hatten. Allerdings erlauben die Quellen nur schlaglichtartige Einblicke in einen Wirtschaftszweig, der offenbar von beträchtlichem Ausmaß gewesen sein muss. So sollen allein für das Rechnungsjahr 1646/47 von Tranquebar aus um die 2000 Sklaven ausgeführt worden sein – ein mit den jährlichen niederländischen Sklavenexporten von der Koromandelküste durchaus vergleichbarer Wert.20 Die wenigen Quellenhinweise legen die Annahme nahe, dass der größte Teil der unfreien Menschen nach Ceylon und nach Südostasien verbracht wurde. So verließ ebenfalls 1646/1647 die im intra-asiatischen Handel eingesetzte „St. Michael“ Tranquebar mit Sklaven teils auf eigene Rechnung, teils im Auftrag indischer Kaufleute in das auf der Malayischen Halbinsel gelegene Kedah.21 Die Gewinnspannen waren beträchtlich, zumal Sklaven gerade in Notzeiten an der Koromandelküste zu einem geringen Preis zu erwerben waren. Der dänische Soldat Mourits Christensen gibt in seinen Erinnerungen an, dass ein „gesunder Mann“ um 1670 an der Koromandelküste für 20 dänische Reichstaler zu haben war und in Bantam 40 bis 60 Reichstaler einbrachte. In Notzeiten konnte ein Mensch an der Koromandelküste lediglich einen Reichstaler kosten.22 Seit etwa 1640 festigte die VOC ihren Einfluss auf Celebes, was auch den dänischen Handel nicht unbeeinträchtigt ließ. Der Warenumschlag ging zurück, und 1642 konnten die Niederländer notieren: De Deense saeken loopen genoegsam desperaet.23 Für 1653 vermelden die niederländischen Quellen wieder einmal, die Dänen in Makassar hätten sedert 2 jaren herwaerts het alderminste ontset niet gehadt en niet anders leven con, als vande hand inde tand, hoewel somtyts noch van Grootenbroeck wilde spreken.24 Vermutlich gaben die Nordeuropäer in 18 Z. B.: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (im Folgenden: AFSt) M1B 32:4, 19. November 1743. 19 AFSt M1B 32:4, 19. November 1643. 20 Martin Krieger, Der dänische Sklavenhandel auf dem Indischen Ozean im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 12 (2012), S. 12. 21 RA, DK, B 246, Willum Leyels Arkiv, A III 1, Rechnungsbuch Dansborg, 1646. 22 Mourits Christensen’s Skildringer, o.S.; RA, Ostindisk Kompagni, Afdelingen i Tranquebar 1230a: Diverse Arkivdesignationer, 4. Dezember 1688; s.a.: Krieger, Sklavenhandel (wie Anm. 20), S. 16f. 23 Tiele, Heeres, Bouwstoffen (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 46, 12. Dezember 1642. 24 DRB, 22. Juli 1653, S. 103.

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jener Zeit auch ihre Faktorei wieder auf. Ein weiteres und letztes Mal erreichte 1664 mit der „Fredericus“ ein dänisches Fahrzeug die Stadt, ehe der Handel unter dem Danebrog mit der Eroberung der Stadt durch die VOC dort ganz unmöglich wurde.25 Neben Makassar engagierten sich die Dänen bald auch in Bantam. Die unweit der niederländischen Hauptniederlassung gelegene Stadt befand sich mit ihrer Nähe zur Sundastraße in einer wichtigen strategischen Lage. Hier verliefen zentrale Handelsrouten zwischen Ost und West. Ebenso stellte auch das bevölkerungsreiche Java selbst einen wichtigen Markt im intra-asiatischen Warenaustausch dar. An der Nordküste Javas wurde Zucker produziert, während das nahegelegene Sumatra die wichtigste Pfefferanbauregion Südostasiens darstellte. Der Sultan von Bantam hatte die einzigartige Lage seiner Stadt erkannt und war bemüht, sowohl möglichst umfangreichen Warenaustausch mit seiner eigenen Handelsflotte durchzuführen als auch Schiffe anderer Nationen in die Stadt zu locken.26 In dem Bestreben, die Macht der VOC auf Java nach Möglichkeit einzudämmen, zeigte sich der Sultan schon früh bemüht, auch die Dänen als potentielle Konkurrenten der Niederländer in die Stadt zu ziehen. Bereits 1619, also noch bevor sich jene mit Tranquebar überhaupt dauerhaft in Indien niedergelassen hatten, wies der Sultan seine Behörden an, dänische Schiffe in die Stadt zu locken. Die Reaktion der VOC folgte prompt, indem diese ihre Kaufleute anwies, in Bantam jeglichen ihnen zugänglichen Pfeffer aufzukaufen, um damit einen dänischen Handel von Beginn an im Keim zu ersticken.27 Tatsächlich sollte es denn auch noch drei Jahre dauern, ehe überhaupt ein unter dem Danebrog segelndes Schiff die Insel Java ansteuerte, um dort Pfeffer zu erwerben. Auch wenn dänischer Handel für Bantam seit 1622 belegt ist, scheint eine dauerhafte Faktorei nicht vor 1673 gegründet worden zu sein.28 Überhaupt war der Warenaustausch lange Zeit unregelmäßig, um hin und wieder einige Jahre lang ganz zu versiegen. Diese Entwicklung stand mit dem zeitweiligen Niedergang des Interkontinentalhandels zwischen Tranquebar und Kopenhagen in Verbindung. So hatte Dänemarks Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg zu einer ernsten Wirtschaftskrise im Lande geführt, wodurch infolge Kapitalmangels 25 Femme S. Gaastra, Die Vereinigte Ostindische Compagnie der Niederlande – ein Abriß ihrer Geschichte, in: Kaufleute als Kolonialherren. Die Handelswelt der Niederländer vom Kap der Guten Hoffnung bis Nagasaki 1600–1800, hrsg. Eberhard Schmitt, Thomas Schleich, Thomas Beck (Schriften der Universitätsbibliothek Bamberg, 6), Bamberg 1988, S. 16; Krieger, Kaufleute (wie Anm. 13), S. 61. 26 Arun das Gupta, The Maritime Trade of Indonesia: 1500–1800, in: India and the Indian Ocean, 1500–1800, hrsg. Ders., Michael N. Pearson, Oxford 1987, S. 259. 27 Coen, Beschieden (wie Anm. 12), III, S. 526, 17. Juli 1619. 28 GM, II, S. 64, 18. Dezember 1639; RA, B 245b, Claus Rytters ostindiske Rejse med Dkibet „Den forgyldte Sol“, 1639.50, 9d, 21. September 1642.

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kaum mehr Schiffe nach Tranquebar auf den Weg gebracht werden konnten. Zwischen 1639 und 1668 verkehrte kein einziges Fahrzeug zwischen beiden Orten.29 Auf diese Weise bestand in dieser Zeit kaum Nachfrage nach südostasiatischem Pfeffer, der weniger in Indien Absatz fand, sondern meist weiter nach Europa ging. Aber auch ohne die Notwendigkeit, Pfeffer für die Retourfrachten nach Europa erwerben zu müssen, blieb Bantam zumindest in gewissem Umfang attraktiv. So erreichte beispielsweise 1639 die „Korsør“ der Ostindienkompanie vermutlich von Masulipatnam aus die Stadt, um dort im Auftrag der Privatkaufleute Olaf Petersen und Hermann Klaassen Baumwolltuche zu verkaufen.30 Auch der Zucker lockte die dänischen Kaufleute in die Stadt. Dieser wurde entweder über einheimische Agenten in Bantam kontraktiert oder in den Produktionsgebieten im Norden der Insel direkt erworben.31 In einigen Jahren muss nach Aussage der niederländischen Quellen der Erwerb von Zucker durch die Dänen beträchtlich gewesen sein und zu einer regelrechten Verzerrung des Marktes geführt haben.32 Zunehmend erlangten auch die in Bantam aus China ankommenden Waren ein gewisses Maß an Attraktivität. So wechselten in einzelnen Jahren chinesisches Porzellan, Ginseng, Anis, aber auch Kupfer in der Stadt den Besitzer und wurden von dort aus auf dänischen Schiffen weiter in Richtung Westen transportiert.33 Erst in den 1670er Jahren nahm der Handel wieder ein größeres Maß an Kontinuität an, was sich darauf zurückführen lässt, dass mit der Gründung der zweiten dänischen Ostindienkompanie 1668 nach langer Zeit wieder die Nachfrage nach Pfeffer als wichtige Retourfracht für Kopenhagen anstieg. Aber nur ein einziges Mal, 1673, steuerte im 17. Jahrhundert mit der „Oldenburg“ ein direkt von Kopenhagen kommendes Kompanieschiff Bantam an.34 Drei Jahre später segelte die von Tranquebar aus kommende „Fortuna“ über die Stadt weiter in Richtung China.35 Diese Expeditionen deuten an, dass sich der Handelshorizont der Dänen allmählich weitete. Es folgten mehrere regelrechte Dreiecksfahrten auf der Route Kopenhagen-Tranquebar-Bantam-Kopenhagen. Mit Silber und eu29 Ole Feldbæk, No Ship for Tranquebar for twenty-nine Years. Or: The Art of Survival of a Mid-Seventeenth Century European Settlement in India, in: Emporia, Commodities and Entrepreneurs in Asian Maritime Trade, c. 1400–1750, hrsg. Roderich Ptak, Dietmar Rothermund, Heidelberg 1991, S. 29–36. 30 GM, II, S. 91, 8. Januar 1640. 31 Z. B.: GM, I, S. 668, 22. Dezember 1638. 32 GM, II, S. 64, 18. Dezember 1639; GM 21. April 1641, S. 268; DRB, 21. Juli 1653, S. 114; RA, DK, B 246, Willum Leyels Arkiv, B II 2, Facturer. 33 GM, I, S. 720, 22. Dezember 1638; RA, DK, B 246, Willum Leyels Arkiv, B II 2, Facturer; DRB, 21. Dezember 1667, S. 403; GM, IV, S. 37, 28. Februar 1675. 34 DRB, 30. November 1673, S. 331. 35 DRB, 17. Januar 1677, S. 18; DRB, 19. Februar 1677, S. 48; DRB, 12. Dezember 1677, S. 449.

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ropäischen Handelsgütern ging es zunächst auf die Reise nach Indien, wo man Baumwolltuche erwarb, die wiederum in Bantam gegen Pfeffer eingetauscht wurden. Abgesetzt wurden während dieser Fahrten aber auch europäische Konsumgüter. So brachte die „Oldenburg“ Butter, Speck, Wein, Branntwein, Rostocker und Lübecker Bier und Metallwaren aus Kopenhagen nach Bantam, wo niederländische Freibürger aus dem benachbarten Batavia zu den wichtigsten Abnehmern zählten.36 Die Trennung zwischen Interkontinentalhandel und intra-asiatischem Handel löste sich allmählich auf, und die Strukturen des 18. Jahrhunderts deuten sich an. Die Dänen lernten den Indischen Ozean und insbesondere Südostasien in jener Zeit aber nicht allein als Kaufleute oder Seefahrer auf ihren eigenen Kompanie- oder Privatschiffen kennen, sondern zahllose Dänen (einschließlich Norwegern und Schleswig-Holsteinern) verdingten sich auch als Seeleute und Soldaten in den Diensten der VOC. Davon berichten nicht nur die niederländischen Kompanieakten, sondern auch einige wenige Selbstzeugnisse dänischer Seeleute, wie die Erinnerungen des Dänen Jens Mortenson Sveigaard, der von 1665 bis 1684 in den Diensten der VOC stand und auf seinen Reisen auch Batavia kennengelernt hatte.37 Mit Johann Joachim Pauli taucht erstmals ein namentlich bekannter dänischer Resident als Leiter einer Faktorei in Bantam in den Quellen auf. Pauli diente spätestens seit 1673 als Vertreter der Ostindisk Kompagni vor Ort. Zu seinen Aufgaben zählten nicht nur der Erwerb von Retourfrachten und der Absatz der Importe, sondern auch die Unterstützung von Schiffsbesatzungen bei Problemen.38 So kümmerte er sich etwa 1673 um die Reparatur der in der Sundastraße havarierten „Oldenburg“ , indem er sich um technische Unterstützung bei der niederländischen Obrigkeit in Batavia bemühte, da die Dänen über keine eigenen Reparaturmöglichkeiten verfügten.39 Der umtriebige Pauli machte sich in Bantam aber nicht nur Freunde. Vielleicht führten seine Annäherungsversuche gegenüber der VOC dazu, dass er eine Zeit lang beim Sultan der Stadt in Ungnade fiel, der schließlich beim Direktorium der Ostindienkompanie in Kopenhagen seine Ablösung forderte. Zu Spannungen mag auch beigetragen haben, dass Pauli einen vom Sultan abgeworbenen eigenen dänischen Mitarbeiter aus seiner Faktorei unter Protest wieder zurückzuholen trachtete.40 Pauli fungierte nicht allein als offizieller dänischer Resident, sondern war auch auf eigene Rechnung kaufmännisch tätig, wie es in der damaligen kolonialen 36 DRB, 15. Mai 1673, S. 121; DRB, 29. Mai 1673, S. 129. 37 Jens Mortensen Sveigaards ostindiske rejsebeskrivelse 1665–1684, hrsg. Erik Gøbel, Kopenhagen 2005. 38 DRB, 25. März 1676, S. 53f. 39 DRB, 30. November 1673, S. 352. 40 DRB, 25. März 1676, S. 54f.

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Welt eher die Regel denn die Ausnahme darstellte. 1678 brachte er zusammen mit einem englischen Kaufmann ein unter der Flagge Bantams segelndes Fahrzeug mit Tuchen, Pfeffer und Eisenwaren auf den Weg in das spanische Manila.41 Ebenso war er durch das Chartern einheimischer Schiffe im Warenaustausch mit dem westlichen Sumatra engagiert.42 Noch kurz vor der niederländischen Besetzung Bantams wirkte er im östlichen Java, wo er Textilien gegen Opium tauschte, und er schickte ebenso 1681 ein Schiff in das auf Borneo gelegene Banjarmassin.43 Eine vermutlich letzte Ladung verließ Bantam auf eigene Rechnung auf der englischen „Pearl“ in Richtung Bengalen – an Bord befanden sich 300 Kisten Kupfer, Pfeffer, Zink und eine große Menge Bargeld im Besitz Paulis.44 Umso härter dürfte ihn die unvermittelte Besetzung Bantams durch die VOC 1682 nicht nur als Kompanierepräsentant, sondern auch als Privatkaufmann getroffen haben. Pauli verließ Bantam, um über Batavia seine Rückreise nach Europa anzutreten, verstarb aber bereits 1683 in der niederländischen Hauptniederlassung auf Java.45 Die niederländische Besetzung Bantams führte nicht nur zum Ende der Karriere des dortigen dänischen Residenten, sondern auch zu einem grundlegenden Strukturwandel im dänischen intra-asiatischen Handel. Denn jene bedeutete für die Dänen nicht allein den Verlust eines Handelspostens, sondern sie führte zur erzwungenen Aufgabe eines ganzen, strukturell bis dahin wichtigen Handelsraumes von großer Bedeutung. Schon seit der Verdrängung aus Makassar war ihnen ein großer Teil der Insulinde verschlossen gewesen. Nun wurden die Dänen auch von der Insel Java und damit nicht nur von der Zuckerregion Japara, sondern auch vom Pfeffermarkt der Nachbarinsel Sumatra verdrängt. Aber auch in diesem Falle bezeugten die Dänen ein großes Maß an Flexibilität, indem sie sich nunmehr auf die Randregionen der Straße von Malakka konzentrierten. Schon 1683, nur kurze Zeit nach der Eroberung Bantams durch die VOC, machte sich wieder ein unter dem Danebrog segelndes Schiff von Tranquebar aus nach Südostasien auf den Weg. Das Ziel war das an der Südspitze der Malayischen Halbinsel gelegene Johore. Dieser erste Kontakt führte in der darauffolgenden Zeit zu einem Handelsabkommen zwischen Dänen und dem örtlichen Sultan, das tatsächlich unregelmäßige, gleichwohl aber im ausgehenden 17. Jahrhundert nicht versiegende Handelskontakte zwischen Johore und Tranquebar begründete.46 In unregelmäßigen Abständen waren die Skandinavier 41 42 43 44 45 46

DRB, 27. Juli 1678, S. 402. DRB, 21. April 1679, S. 147. DRB, 5. Dezember 1680, S. 805; DRB, 2.–3. April 1681, S. 215; DRB, 13. Oktober 1681, S. 609. DRB, 16. –17. Juli 1681, S. 421. GM, IV, S. 590, 19. März 1683. „En fuld kommen Contracht med Capitn. Bochenhout, paa dets höyeste Compag. Vegne.“ RA, Ostind. Komp., 2188b, 1. Januar 1684.

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fortan ebenso auf den Riau-Inseln zu Gast.47 Aber auch im Bereich der Straße von Malakka breitete sich auf lange Sicht immer stärker der niederländische Einfluss aus, der die Dänen nach einiger Zeit auch aus jener Region zurückdrängte. Noch vor 1730 existierte vermutlich kein Handel mehr zwischen Tranquebar und Johore bzw. Riau.48 Aber auch durch die Verdrängung aus der Straße von Malakka ließen sich die Dänen nicht entmutigen, sondern intensivierten ihren Warenaustausch mit dem an der Westspitze Sumatras gelegenen Aceh. Diese Stadt wurde seit 1694 verstärkt von dänischen Schiffen angelaufen.49 Auch hier bildete der Sklavenhandel eine der wichtigsten Stützen des dänischen Engagements in Südostasien. Bis in die 1740er Jahre hinein stellten Sklaven oft einen ganz wesentlichen Bestandteil einzelner Schiffsladungen dar, wie die Hallischen Missionare immer wieder anklagend feststellten.50 Erst mit dem offiziellen Verbot des Sklavenhandels von Tranquebar aus 1744 durch das Direktorium der Asienkompanie versiegte diese Handelsform allmählich, was die in der dänischen Kolonie Tranquebar selbst lebenden Europäer und wohlhabende Inder nicht daran hinderte, weiterhin Sklaven in ihren eigenen Haushalten zu beschäftigen.51 Eine kaum genutzte Chance, den Handel mit Südostasien noch einmal zu intensivieren, ergab sich 1742. So bestand in Spanien seit dem Ausbruch des Österreichischen Erbfolgekrieges die Gefahr, dass die spanischen Philippinen durch militärische Auseinandersetzungen zwischen Briten und Franzosen auf dem Indischen Ozean vom Handel mit Indien und dem übrigen Südostasien abgeschnitten werden würden. 1742 wurde den Dänen ein sogenanntes „cedula“, ein Privileg ausgestellt, das es dieser neutralen Nation ermöglichte, in den für die übrigen europäischen Konkurrenten verschlossenen Warenaustausch mit den Philippinen einzusteigen, der bis dahin weitgehend von asiatischen Kaufleuten bestritten worden war. Dieses Privileg wurde allerdings nicht als Chance gesehen, sondern in Tranquebar dem politischen Kalkül geopfert. So verließ drei Jahre später ein Schiff, das den dänisch klingenden Namen „Dansborg“ trug, bei dem es sich aber eigentlich um die französische „Restancier“ handelte, Tranquebar in Richtung Manila. Mit diesem offensichtlichen Missbrauch des spanischen Privilegs versuchten die Dänen als Gegenleistung die Unterstützung der Franzosen für ihre eigene damalige Expansionspolitik in Indien zu erlangen. Die Rechnung ging auf, denn mit französischer Hilfe gelang es den Dänen zehn Jahre später, 47 GM. V, S. 224, 27. Dezember 1688. 48 Holden Furber, Rival Empires of Trade in the Orient, 1600–1800 (Europe and the World in the Age of Expansion, 2), Minneapolis 1976, S. 280f; Krieger, Kaufleute (wie Anm. 13), S. 117. 49 Krieger, Kaufleute (wie Anm. 13), S. 54, 118. 50 AFSt M1B 32:4, 19. November 1743. 51 Krieger, Sklavenhandel (wie Anm. 20), S. 19.

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einen weiteren Handelsplatz in Indien, den in Bengalen in der Nähe Kalkuttas gelegenen Ort Serampore, zu erwerben.52 Es lässt sich also feststellen, dass der dänische Handel mit Südostasien im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Transformation erlebte, die in engem Zusammenhang mit der Expansion der VOC in Südostasien steht. Den Beginn machte ein zaghaftes Vortasten in Richtung Malayischer Halbinsel, wo die Dänen in Mergui erste Handelsexpertise erwarben. Schon bald waren sie auch im Herzen der Insulinde zu finden. Die 1660er und 1670er Jahre waren wiederum eine Zeit der Zurückdrängung, die mit der Eroberung Bantams durch die Niederländer 1682 ihren Höhepunkt erlebte. Die Dänen erwiesen sich gleichwohl als bemerkenswert hartnäckig, indem sie sich nunmehr ganz auf die Straße von Malakka konzentrierten. Als letzter Außenposten verblieb ihnen schließlich Aceh, das das gesamte 18. Jahrhundert von ihren Schiffen angelaufen wurde. Insgesamt betrachtet, stellt das dänische Engagement in Südostasien ein Spiegelbild des dänischen Asienhandels im Allgemeinen dar. Auch wenn dieser immer wieder von politischen und ökonomischen Unwägbarkeiten geprägt war, führte doch ein großes Maß an Flexibilität, die vielleicht auch der geringen Größe des gesamten Unternehmens geschuldet war, zu einer erstaunlichen Langlebigkeit.

52 Martin Krieger, Neutrality and Profit. Franco-Danish Relations in 18th Century India, in: French in India and Indian Nationalism (1700 A.D.–1963 A.D.), Bd. 1, hrsg. K. S. Mathew, Delhi 1999, S. 158–162.

Verzeichnis der Beitragenden

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Udo Arnold, Universität Bonn Prof. Dr. Oliver Auge, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Karl Borchardt, Universität Würzburg, MGH München Prof. Dr. Jochen Burgtorf, California State University, Fullerton, USA Prof. Dr. Roman Czaja, Nikolaus-Copernicus-Universität, Torun´, Polen Prof. Dr. Christoph Dartmann, Universität Hamburg Prof. Dr. Philippe Depreux, Universität Hamburg Prof. Dr. Dr. h.c. Sven Ekdahl, Berlin/Göteborg Dr. Alan Forey, Kirtlington, England Prof. Dr. Markus Friedrich, Universität Hamburg Dr. Frank Godthardt, Bundesbehörde für Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Berlin Prof. (em.) Dr. Hans-Werner Goetz, Universität Hamburg Dr. Dieter Heckmann, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin Prof. Dr. Marie-Luise Heckmann, Universität Potsdam Prof. Dr. Dr. Rainer Hering, Landesarchiv Schleswig-Holstein, Schleswig Prof. Dr. Cordelia Heß, Universität Greifswald Dr. Christian Hoffarth, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Mats Homann, M.Ed., Universität Hamburg Dr. Joachim Laczny Dr. Christina Link, Kulturhistorisches Museum Magdeburg Dr. Anthony Luttrell, Bath, England Dr. phil. habil. Carsten Jahnke, Universität Kopenhagen, Dänemark Dr. Cezary Kardasz, Towarzystwo Naukowe, Torun´, Polen Dr. Juhan Kreem, Stadtarchiv Tallinn, Estland Prof. Dr. Martin Krieger, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Sebastian Kubon, Universität Hamburg Dr. habil. Krzysztof Kwiatkowski, Nikolaus-Copernicus-Universität, Torun´, Polen Prof. Dr. Helen J. Nicholson, Cardiff University, Wales Dr. Nico Nolden, Leibniz-Universität Hannover

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Verzeichnis der Beitragenden

Dr. Reinhard Paulsen, Hamburg Prof. Dr. Stephan Selzer, Helmut Schmidt-Universität Hamburg Annika Souhr-Könighaus, M.A., Berlin Prof. Dr. Janusz Tandecki, Nikolaus-Copernicus-Universität, Torun´, Polen

Personenregister Personen der Vormoderne sind in der Regel nach ihren Vor- bzw. Rufnamen eingeordnet, spätere Personen nach ihren Nach- bzw. Familiennamen. Personen, die nur im Rahmen von Quellenzitaten und -editionen vorkommen, sind kursiv gesetzt. Der Aufsatz von R. Czaja und C. Kardasz umfasst einen eigenen Namensweiser (S. 189–196). Die dort aufgeführten Namen sind nicht in das Register aufgenommen. Abkürzungen Bf. = Bischof, DO = Deutscher Orden, Ebf. = Erzbischof, Gf. = Graf, Hzg. = Herzog, Ks. = Kaiser, Kaiserin, Kg. = König, Königin, Markgraf = Mgf., ostfr. = ostfränkisch, v. = von Abbo v. Saint-Germain-des-Prés 36f., 39f., 42–46 Abel, Kg. v. Dänemark 78 Adalbert v. Magdeburg 54 Adalbert v. Prag 49, 51–56, 58–64, 67f., 77–79, 84, 90 Adalbrand, Ebf. v. Hamburg-Bremen 26 Adam v. Bremen 19, 23, 24, 26, 27, 50, 62, 64f., 68f., 72–74, 78, 90f., 101 Adelard v. Verona 281 Adolf v. Nassau, Kg. 432 Adolf v. Neuenahr, Gf. v. Limburg u. Moers, Statthalter v. Geldern 555, 561 Adrian Scholtze 238 Aegidius v. St. Nicolaus in Carcere Tulliano 281 Aethicus Ister 50 Agnes v. Courtenay, Kg. v. Jerusalem 267 Aicus, Kaplan 57 Aimerich v. Lusignan, Konstabler v. Jerusalem 268 al-‘Abba¯s Ibn Ra¯hu¯ 319 Alanus Anglicus 320 al-Ashraf Khalil, Sultan 323 Alberich v. Troisfontaines 59, 66, 71, 73f., 82, 84 Albert Kornemarkt 163 Albert Poelmann 451 Albert v. Sachsen 10 Albert Behaim 286

Albert v. Morra s. Gregor VIII. Alberto Spinola 330 Albert v. Stade 75 Albinus v. Albano 281 Albrecht, Kg. v. Schweden 157 Albrecht, Hzg. v. Sachsen 432 Albrecht II., Hzg. v. Mecklenburg 432 Albrecht v. Brandenburg 215–217, 219f., 223, 435 Alde Konigsche eyne wydtwe 238 Alde Merten 239 Alde Putze 239 Alde Stadt schreiberssche eyne witwe/ wytwe 224, 238 alde wollen weber 236 Alexander der Große 75f. Alexander II., Papst 279 Alexander IV., Papst 385 Alex Winckel 237 Alfons, Infant v. Aragón 318 Alfred der Große 51 Alix, Prinzessin v. Jerusalem 269, 276 al-Mu‘azzam, Sultan v. Damaskus 309 al-Malik an-Nasir, mamlukischer Sultan 380 Alte Pariksche 223 Amalrich, Kg. v. Jerusalem 267f., 275 Amalrich v. Tyrus, Regent v. Zypern 380 Amsdorff, Nicolaus v. 248, 252, 257 Andrea v. Redusiis de Quero 340, 345

580 Andreas Brachwagen 143 Andreas v. Grumbach 428, 438 Andrei Kurbski 560 Andres Meyßner 238 Andres Tather 236 Angelus v. St. Adriano 282 Anschericus, Bf. 43 Anselm v. Neapel 282 Andreas v. Posen, Bf. 409–411, 414 Ansgar, Ebf. v. Hamburg-Bremen (?) 23– 30, 32 Anskar s. Ansgar, Ebf. v. Hamburg-Bremen Apichus, Kaplan 57 Aristoteles 305, 307 Arndt, Ernst Moritz 22 Arndt, Johann Gottfried 253 Arnold, DO 381 Arnold, tabernator 139 Arnold, Gottfried 258 Arnt v. Finkenberch 163 Arnt Sperwer 125 Artal v. Luna 314 Arthur, Hzg. v. Bretagne 266 Assmann, Aleida 498, 509 Aßman Bruchman 238 Augustinus, Kirchenvater 306 Augustinus, Schiffer 154 Baha¯’ al-Dı¯n Ibn Shadda¯d 273 Balduin III., Kg. v. Jerusalem 266 Balduin IV., Kg. v. Jerusalem 265, 267f. Balduin V., Kg. v. Jerusalem 268 Balduin, Ebf. v. Trier 433 Balian v. Ibelin 271–275 Balthasar Russow 557 Barben, Junckfer 238 Bartholmeus Amesgloch 236 Bartholmeus Becher 236 Bartholmeus Bock 237 Bartholmeus Bomerenick 239 Bartholmeus Merten 236 Bartholmeus Wylke 238 Baybars, Mamlukensultan 274 Bayezid I., Sultan des Osmanischen Reiches 338–340, 342–346 Beltram v. Mignanelli 345f.

Personenregister

Bemekrafft, Schiffer 395, 405 Benedetto v. St. Maria in Domnica 282 Benedicke Grunaw 236 Benedikt, DO 381 Benedikt IX., Papst 386 Benedikt XIII., Papst 343 Berenberg, Maria Elisabeth 242 Berengar v. Cardona 315 Berengar v. San Justo 311 Bernard of Fuentes s. Bernhard v. Fuentes Bernard v. St. Peter 281 Bernhard v. Armagnac, Gf. 311 Bernhard v. Fuentes 11, 309, 311–321 Bernhard v. Westfalen 385 Bernharius, Gf. 21 Bernt Pleskow 171 Berthold, Komtur v. Donauwörth 373 Berthold, DO-Prokurator 384 Berthold VII. v. Henneberg, Gf. 432 Bertold Burhammer 163 Bertoldus, Abt 66 Bertram, DO 372f. Bertramn v. St. Giorgio in Velabro 282 Bertrand v. Fals 314 Bezelin Alebrand s. Adalbrand, Ebf. v. Hamburg-Bremen Bihza¯d, Maler 347 Birgitta, Heilige 105–107 Bodenstein, Andreas 246 Boleslaus Crispus 81 Boleslaw I. Chrobry, Kg. v. Polen 53–56, 59–63, 73, 78f. Boleslaw III., Hzg. v. Polen 67, 72f., 80 Bolz, Norbert 487 Bonaventura v. Rimini, Bf. 86 Bonifaz VIII., Papst 356, 381 Bonifaz v. Calamandrana 303, 307 Bonow, Verweser des Stifts Kammin 421 Bork, Ruth 360 Breitkopf, Bernhard Christoph 243f. Bobo v. St. Theodor 281 Bock, Friedrich 349, 360–362 Borchard v. Hamelen 122 Brosie Karlin 237 Brun v. Querfurt 49, 54–57, 61f., 77 Budle, Kg. v. Dänemark 77

Personenregister

Buffilo Panizzati 340 Bugenhagen, Johannes 256f. Bullinger, Heinrich 254 Burchard v. Hasenburg 385f. Burchardt Hennyngk 236 Burkhard v. Schwanden 368, 370f. Busa, Roberto 511 Caesar, Gaius Julius 306 Caesarius v. Heisterbach 293 Calixt II., Papst 282 Casper Kaler 239 Castells, Manuel 497 Cencius Savelli s. Honorius III. Christensen, Mourits 570 Christian, Bf. v. Pomesanien 387f. Christian, Bf. v. Preußen 82–86, 88f. Christian I., Kg. v. Dänemark, Norwegen, Schweden 128 Christoph Columbus 536 Cicero 297, 300, 303f., 307f. Cinthius v. St. Laurentii in Lucina 281, 291 Clemens III., Papst 279, 284 Clemens V., Papst 314–316, 323, 325, 331f., 389 Clementhe Bruchman 238 Clemente Preuße 238 Cola di Oliviero Barote 331 Cölestin II., Papst 282 Cölestin III., Papst 280–285, 291f., 294 Conrad Frankenberg 400 Cosmas v. Prag 80 Crappé, Roland 568 Cyprian, Bf. 306 Dalmau v. Timor 313 Daniłowicz, Ignaz 406 David, Kg. 74 Decemviri 306 Denner, Jakob 241 Dietrich v. Bern 75 Dietrich v. Kolditz 385, 390 Dietrich v. Nieheim (Niem) 344f. Ditlev Enbeck 117, 125 Domenico v. Alamania 340 Doring 155

581 Drake, Francis 12, 553, 555f., 558–560, 562f. Drogon, Bf. v. Metz 24 Duarte Barbosa 547 Dukas, Chronist 338, 341–343, 346 Eberhard der Ältere, Hzg. v. Württemberg 429 Eberhard v. Sayn 375 Eberhard v. Seinsheim 429 Ebo, Mönch 59 Ebolus, Abt 43 Egbert v. Sachsen 20 Eike v. Repgow 76 Eitel Friederich v. Hohenzollern 435 Eleonore v. Aquitanien, Kg. v. Frankreich u. England 266 Elisabeth, Heilige 375 Elisabeth I., Kg. v. England 555f., 559, 562f. Emo v. Huizinge 70, 82 Engelbert v. Sayn, Gf. 375 Eraclius, Patriarch v. Jerusalem 271–273, 275 Erasmus Schleupner 200 Eric Barn 77 Erich, Kg. v. Schweden 62f. Erik VII., Kg. v. Dänemark 161 Ernemord, Bf. v. Kurland 78 Eskil v. Lund 77 Étienne Aubert s. Innozenz VI. Everd van Wezele 126 Eynwolt Wrige 163 Ferdinand I., Ks. 212 Ferdinand II., Kg. v. Aragon 429 Ferrando, Templer 309 Ferraris, Maurizio 483 Feuerlein, Jacob Wilhelm 259–262 Fidantius v. St. Marcelli 281 Fidenzio v. Padua 325–327 Föhr, Pascal 494 Formosus, Papst 25 Foucault, Michel 505 Foulques de Villaret 327 Franziskus, Bf. v. Nachitschewan 345

582 Franziskus v. Tabriz 341 Friedrich, Ebf. v. Köln 433 Friedrich I., „Barbarossa“, Ks. 21f., 81, 285 Friedrich II., Ks. 86f., 212, 285f., 427, 431, 447 Friedrich II., Kg. v. Dänemark 556, 558, 562 Friedrich III., Kg. v. Sizilien 315f. Friedrich V., Burggf. v. Nürnberg 433 Friedrich v. Sachsen 138, 233 Friedrich v. Sayn 375 Friedrich v. Wallenrode 398 Frutolf v. Michelsberg 75f. Fulko v. Anjou, Kg. v. Jerusalem 267, 274 Furenbrand, Schiffer 395f., 405 Gallus Anonymus 60f., 65, 67, 72–75, 78f., 90, 95 Galminas (Galeminne von Erogel) 398 Gaudencius 79 Gauzlin s. Gozlin Gebhard Truchsess v. Waldburg 556 Gedko, Bf. v. Krakau 81 Gelasius II., Papst 282 Geoffroy v. Paris 311 Georg, Templer 311 Georg v. Canitz 223–225, 233 Georg v. Polenz, Bf. 220, 223 Georg Schilling v. Cannstatt 428, 430, 440f. Gerard v. Sankt Adrian 281 Gerard de Sessa 280f., 283, 285 Gerardus de Boeris 126 Gereke Somer 153 Gerhard Seeland 155 Gerhard Frankenstein 155 Gerhard v. Villiers 310 Gerlach, Ebf. v. Mainz 433 Gintautas (Gettoth) 398 Giuliano Cattaneo della Volta 331 Gorius Hocheveldt 236 Gorm der Alte, Kg. v. Dänemark 77 Gottfried v. Anjou, Gf. 266 Gottfried v. Hohenlohe 370–372, 374–378, 382f., 387f., 390f. Gottfried v. Lekno 73, 82f.

Personenregister

Goverts, Elisabeth Christina 242 Goverts, Ernst 241 Goverts, Familie 241–243, 262 Goverts, Hermann 241f. Goverts, Hermann Friedrich 242 Goverts, Margareta Johanna 242 Goverts, Paul 241 Gozlin 36–41, 44 Gratian, Jurist 299f., 304–306, 308 Gratian v. Sankt Cosmas und Damian 281, 291f. Grebel, Konrad 245 Greger Bartholdt 237 Greger Klawicke 239 Greger Kruße 239 Greger Marquardt 237 Greger Swetlingk 238 Gregor I., Papst 306 Gregor VIII., Papst 288 Gregor IX., Papst 69, 87–89, 281, 283–286, 288, 291, 320 Gregor X., Papst 325 Gregor XV., Papst 293 Gregor v. Crescentio 281f. Gregor v. Galgano 282 Gregor v. St. Angelus 281 Gregor v. St. Aposteln 281 Guala Richeri 282 Guido v. Lusignan, Kg. v. Jerusalem 265– 272, 274–276 Guido Petrileon 282 Guido v. Paredo 282 Guido v. St. Mariae Transtiberim 281 Günther v. Wüllersleben 367 Ha¯fiz-i Abru¯ 338–340, 343 ˙ ˙ Hamelmann, Hermann 253f. Håkon VI. Magnusson, Kg. v. Norwegen 120, 151 Hans Bierwolff 237 Hans Bradtworsth 239 Hans Bule 236 Hans Castorp 127 Hans Freÿtag 239 Hans van Gethelen 106 Hans Hennýngk 237

Personenregister

Hans Heydenreich 238 Hans Heynne 236 Hans Holtzte 238 Hans Hoppe 239 Hans Klawycke 237 Hans Koningk 238 Hans Meyßner 239 Hans Muller 222, 236, 238 Hans Plog 184 Hans Rademacher 237 Hans Roße 228, 237 Hans Swarten 175 Hans Sweynnitz 236 Hans Ungerman 238 Hans Vorman 178 Hans Wille 237 Hans Wistede 125 Harald, Kg. v. Dänemark 77 Hartwig Vector, nauta 154, 158 Hedwig, Kg. v. Polen 420 Heidegger, Martin 356 Heimpel, Hermann 357 Heinrich, Ebf. v. Köln 433 Heinrich, DO-Priester 385 Heinrich, DO-Tressler 385f., 390 Heinrich, ostfr. Hzg. 42f. Heinrich I. v. Guise 559, 563 Heinrich II. v. Lusignan, Kg. v. Zypern 328, 380f. Heinrich II., Kg. v. England 266, 302 Heinrich III., Gf. v. Sayn 375 Heinrich III., Kg. v. Frankreich 561 Heinrich IV., Burggf. v. Meißen 430f. Heinrich VI., Ks. 87, 285–287 Heinrich VII, Ks. 432 Heinrich Danet 310 Heinrich v. Derby 148 Heinrich v. Dryngenberg 125 Heinrich v. Forborg 385 Heinrich v. Gunthersberg 419 Heinrich v. Hessen, Landgf. 431 Heinrich v. Hohenlohe 370, 375 Heinrich Klieber 384f., 388 Heinrich v. Plauen, Hochmeister 414 Heinrich v. Sandomierz, Hzg. 80f. Heinrich v. Schlesien, Hzg. 81f.

583 Heinrich v. Thierbach 379 Heinrich v. Trabach 379, 381, 384 Heinrich v. Weida 136 Heinrich (II.) Zdik, Bf. v. Olmütz 68, 80 Heise, Carl Johann 241, 243, 262 Helmold v. Bosau 22, 28, 65, 68, 90 Helwig v. Goldbach 371 Herbord 65, 79 Heridac, Missionspriester 23f. Hermann, Bf. v. Kulm 387f. Hermann, DO-Priester 385 Hermann I., Ebf. v. Köln 25 Hermann, Meister 197 Hermann v. Salza 49, 88, 447 Herodot 534, 541 Hethum II., Kg. v. Kleinarmenien 380 Heynnerich Maeß 236 Heynnerich Welczer 236 Hezichus, Kaplan 57 Hinrich Lasse 129 Hinrich Lippe 129 Hinrich van Remscher 129 Hinrich van Staden, Mutter v. 185 Hitler, Adolf 22, 351, 356, 360, 494 Hludovic I. s. Ludwig I., „der Fromme“ Hludovic II. s. Ludwig II., „der Deutsche“ Hoffman, Melchior 11, 241–262 Hofmann, Johann Gottlieb 253 Honecker, Martin 351 Honorius III., Papst 71, 73, 84–86, 281, 283–286, 289–291, 293 Horaz, Dichter 305 Horik I., Kg. v. Dänemark 19 Hrabanus Maurus 24f. Hubmaier, Balthasar 245 Hugo VIII., „der Braune“, Herr v. Lusignan 268 Hugo Abba 44 Hugo v. Ampurias 310 Hugo v. St. Martin 281 Hugolino v. Ostia s. Gregor IX. Huguccio 320 Humboldt, Alexander v. 10, 531f., 550 Humfried IV., Herr v. Toron 268 Hyacinth Bubonis s. Cölestin III.

584 Ibn al-Athı¯r 271 Ibn al-Lihyani, Sultan v. Tunis 315, 316, 317 Ibn Khaldu¯n 321 ‘Ima¯d al-Dı¯n 271 Iñigo v. Alfaro 340, 343f. Innozenz II., Papst 80, 282, 291 Innozenz III., Papst 11, 70, 82–84, 277– 294, 320 Innozenz IV., Papst 321 Innozenz VI., Papst 347 Isabella I., Kg. v. Jerusalem 268 Isabella v. Ibelin, Herrscherin v. Beirut 274 Isidor v. Sevilla, Bf. 20, 50, 304–306, 308 Ivinskis, Zenonas 395 Ivo v. Narbonne 535, 539 Izabela, Tochter Zygmunts I. 214 Jacob Gronewold 129 Jacob Kemer 237 Jacob Lorentz 236 Jacob Steinborn, Jacob Steynborn 228, 238 Jacob Tulitz 239 Jacquelin de Mailly 272 Jahn, Friedrich Ludwig 22 Jakob II., Kg. v. Aragón 311, 313–317, 319 Jakob v. Garrigans 318 Jakob v. Molay 319 Jan Długosz 406 János Szapolyai, Kg. v. Ungarn 214 Janusz, Hzg. v. Masowien 424 Jaroslaus v. Nakel 421, 423 Jean de Mandeville 532, 544–546, 551 Jean Quentin 298 Joachim, DO 379 Johan v. Dolen 417 Johann, Ebf. v. Mainz 433 Johann, Kg. v. Böhmen 433 Johan Pisz 160 Johann I., Kg. v. Dänemark 125 Johann I. v. Mecklenburg, Hzg. 432 Johann I. v. Nassau zu Weilburg, Gf. 433 Johann Anton, Hzg. v. Krumau und Fürst zu Eggenberg 435 Johann v. Hattstein 429f.

Personenregister

Johann Ludwig, Fürst zu Nassau-Hadamar 435 Johann(es) v. Masowien, Hzg. 424, 426 Johann v. Posilge 404 Johann Radziwill 434 Johann Smerbart 163 Johann Weikhard, Fürst v. Auersperg 435 Johann Zápolya s. János Szapolyai, Kg. v. Ungarn Johannes, Priesterkönig 74 Johannes XXII, Papst 350 Johannes v. Anagni 281 Johannes v. Antiochien 296, 300 Johannes Barixanus 379 Johannes Buridan 10 Johannes Canaparius 52 Johannes Colonna 282 Johannes Falkenberg 410 Johannes Felix 281 Johannes Ferentin 282 Johannes Golnow 155 Johannes v. Köln 385 Johannes Longus 87 Johannes Lose 453 Johannes Malabranca 281 Johannes Obernburger 442 Johannes Plige 145 Johannes v. Salerno 279, 281, 292f. Johannes Somer 155 Johannes v. St. Maria in Cosmedin 282 Johannes v. St. Paul 281 Johannes v. Sulta¯niyya 345 ˙ Johannes Top 555 Johannes v. Viterbo-Tuscania 281 Johannes Vogeler 129 Jordan v. Fossanova 281, 292f. Jorge Becker 236 Jorge Fromholft 237 Jorge Ganßewindt 237 Jorge Glotdaw 239 Jorge Hesse 237 Jorgellicke 238 Jorge Maraune 236 Jorge Nagel 238 Jorge Ruiß 239 Jørgen Kock 117, 125

585

Personenregister

Juan Fernández v. Heredia 339 Juan Ginés de Sepúlveda 536 Junghuhn, Franz 531–533, 539, 546, 548, 550f. Jutta (v. Isenburg) 375 Juvenal, Dichter 305

Kraus, Karl 485 Krohn, Barthold Nikolaus Ku͗ aster s. Merten Knaster Kubilai Khan 538 Kylian Capelle 236 Kuno, Ebf. v. Trier 433

Kalif 301 Karl I., „der Große“, Ks. 18–24, 27–29, 75f. Karl II. v. Anjou, Kg. v. Neapel 298, 302, 388 Karl III. „der Dicke“, ostfr. Ks. 39, 45f. Karl IV., Ks. 432f. Karl V., Ks. 428, 430, 436f., 440, 442 Karl VI., Kg. v. Frankreich 393 Karlstadt s. Bodenstein, Andreas Karl v. Trier 385, 387f., 390 Karol I. s. Karl I., „der Große“ Kasimir II., „der Gerechte“, Hzg. v. Polen 81 Kasimir III., „der Große“, Kg. v. Polen 447, 449 Kehr, Paul Fridolin 360 Kietlicz, Ebf. v. Gnesen 83f. Klaassen, Hermann 572 Klasusigaila (Clawsigal von Rossieyn) 398 Knipperdolling, Berend 248 Knoppel 238 Knut der Große, Kg. v. Dänemark 77 Knut VI., Kg. v. Dänemark 77 Konrad, Komtur v. Würzburg 391 Konrad v. Babenberg 12, 367, 369–371, 374, 376, 378, 383f., 389–391 Konrad v. Erlichshausen 147 Konrad v. Feuchtwangen 367–374, 390f. Konrad Lumpo v. Flörsheim 390 Konrad v. Mainz 281 Konrad v. Mandern 372 Konrad v. Marburg 375 Konrad v. Masowien, Hzg. 49, 68f., 71, 81f., 87–89 Konrad v. Megenberg 357 Konrad v. Montferrat, Kg. v. Jerusalem 275f. Konstantin, Ks. 306 Konstanze, Ks. 286f.

Laurentius v. Breslau, Bf. 85 Lazar Wolff, Lazer Wolff 228, 236 Lazer Waýner 237 Lestko, Hzg. v. Polen 85 Leszek I., „der Weiße“, Hzg. v. Polen 81 Leo, Templer 310 Leo Branceleon 282 Leopold Philipp Karl, Fürst v. Salm 435 Léry, Jean de 537, 550 Lévi-Strauss, Claude 537 Libosus v. Vaga, Bf. 306 Livland, Herold 147 Locheydissche 237 Loder, Johann 261 Lorentz Eycklaff 237 Lorentz Hey¯denreich 238 Lorentz Tapper 239 Lorentz Tysscher 238 Lorenz Barixanus 379 Lorenz v. Berga 316 Lorenz Tegeler 130 Lothar III., Ks. 57 Lothar v. Segni s. Innozenz III. Lothoknut, Kg. v. Dänemark 77 Lucas David 406 Lucas Korngarthe 237 Ludovico de Varthema 547f., 550 Ludwig bei Rhein, Pfalzgraf 418, 432 Ludwig der Römer, Mgf. v. Brandenburg 433 Ludwig I., „der Fromme“, Ks. 18f., 23–25, 27f. Ludwig II., „der Deutsche“, ostfr. Kg. 19, 24 Ludwig IV., „der Bayer“, Kg. 350, 356–362 Ludwig IV., Landgf. v. Thüringen 375 Ludwig VII., Kg. v. Frankreich 266 Ludwig IX., Kg. v. Frankreich 309 Ludwig v. Schippe(n)/Schüpf 378

11, 241–262

586 Luigi Storari 346 Lukas, Templer 311 Luther, Martin 248f. Lykurg 30 Mahmud Ghazan, mongolischer Khan 380f. Makkabäer 308 Manz, Felix 245 Marco Polo 10, 537–548 Marcus Verrius Flaccus 305 Margarete v. Truhendingen 371 Maria, Prinzessin v. Jerusalem 269, 276 Marie de Baux, Adelige 347 Maria Komnena, Kg. v. Jerusalem 275 Maria Stuart 556 Marino Sanudo Torcello 329 Marino Segnolo 381 Markward v. Anweiler 287 Marquard, DO 373 Marquard v. Mässing 388 Marsilius v. Padua 11, 349–364 Martin I., Kg. v. Aragón 343 Martin I., Kg. v. Sizilien 344 Martin v. Alpartil 344 Maschweski, Felix 486 Masud, Emir v. Mentesche 329 Materne 237 Mathias v. Labisschin 426 Matilda, Ks. 266 Mat(is) Bierwolff 237 Matteo v. St. Teodoro 282 Matthäus, Bf. v. Krakau 81 Matthäus Parisiensis 309f., 535 Matthijs, Jan 249 Matz Werner 236 Maximilian, Erzhzg. 442 Maximilian, Fürst v. Dietrichstein 435 Maximilian I., Ks. 428f., 434f., 437f. Maynardus, Bf. 66 Mechthild v. Landsberg 375 Mehmed I., Sultan des Osmanischen Reiches 346 Meinhard v. Querfurt 378 Melcher Lemnicke 237 Melior v. Sankt Johann und Paul 281

Personenregister

Melisende, Kg. v. Jerusalem 266f. Menes, Pharao 303 Merten Knaster 228, 235, 237 Merten Steinborn 237 Mertin Busch 396 de La Mettrie, Julien Offray 242 Meynert vom Steyne 163 Meýster 238 Michael Küchmeister, Hochmeister 395, 398, 409–412, 414–425 Michael Tussenfelder 146 Michel Engelke 239 Michel Pintoin 393–396, 404f., 407 Mieszko 55f., 79 Mı¯ra¯n Sha¯h, Timurs Sohn 342 Mirza Muhammed Sulta¯n, Timurs Enkel ˙ 342 van der Mohlen, Christopher 568 Moller, Johannes 253 Mose, Prophet 306 Mosheim, Johann Lorenz 258–261 Murad I., Sultan des Osmanischen Reiches 339, 345 Myche Grube 239 Mÿchel Koninssche 237 Mylius, Georg 242, 557 Napoleon Bonaparte, Ks. v. Frankreich 22 Natanzı¯ (Muʿı¯n al-Dı¯n Natanzı¯) 337f., 343 ˙ ˙ Nethimar, Kg. 57 Niccolò de’ Conti 546 Nickel v. Heynicz 424 Niclos Cluge 396 Nicola de Romanis 282 Nikolaus, DO 385 Nikolaus I., Papst 24f., 32, 306 Nikolaus IV., Papst 321, 325 Nikolaus V., Papst 350 Nikolaus v. Oresme 10 Nikolaus (der Rote) Radziwill 434 Nikolaus (der Schwarze) Radziwill 434 Nikolaus Rodemann, Ratmann 156 Nikolaus v. St. Maria 281 Nosthoff, Anna-Verena 486 Notker v. Lüttich 52 Nowak, Zenon Hubert 405

587

Personenregister

Numa Pompilius, Kg. v. Rom Nycklis Buthener 239 Nycklis Ko͗ tze 239 Nycklis Marquardt 238 Nycklis Teichman 237 Nyckola Dunin 231, 239

306

Octavian v. Ostia 281, 287f., 291f. Octavio, Fürst v. Piccolomini, Hzg. zu Amalfi 435 Odo, Kg. v. Frankreich 36, 38, 41, 43–45 Odo v. Pins 298, 303 Odorico v. Pordenone 543–546 Oliver v. Paderborn 310 Orban Kruger 236 Orban Schreÿber 239 Orosius 50f. Ottaviano di Paoli de’ Conti di Segni 282, 288 Otto, Hzg. v. Lüneburg-Braunschweig 431 Otto (Otthe) Kykoll 398f. Otto der Lange, Mgf. v. Brandenburg 432 Otto mit dem Pfeile, Mgf. 432 Pandulf v. 12 Aposteln 281 Paschalis II., Papst 282 Paul, Stadtdiener 155f. Paul v. Rusdorf 147 Pauli, Johann Joachim 573f. Pawel Freudental, Pawel Freudentael 228, 236 Pawel Schuyt 238 Pawel Tyle 236 Pelagius v. Albano 282 Persius, Dichter 305 Peter, Burggf. v. Dohna 216 Peter, Ebf. v. Mainz 433 Peter, Infant v. Kastilien 317 Peter Arndt 239 Peter v. Aspelt, Ebf. v. Mainz 108 Peter Braunewaldt 236 Peter v. Dusburg 48, 50, 68, 71 Peter Grunebergk 236 Peter Herdtwich 238 Peter Mulle 237 Peter Rodeman 154–156

Peter Scholtze 237 Peter Schonseke 396 Peter v. Wormditt, Generalprokurator 409–411 Petersen, Olaf 572 Petru IV. Rares¸, Hospodar v. Moldau 212f. Petrus, Apostel 277, 279 Petrus, Heerführer 79 Petrus v. St. Angelo 282 Petrus v. Capua 281 Petrus Collivaccin 282 Petrus Dia(co)nus 281 Petrus Damiani 279 Petrus Galloccia 281, 284f., 291f. Petrus v. St. Peter 281 Petrus v. Sasso 282 Phalec, dux 73 Phelip Kuntze 239 Phelip Scholtze 238 Philipp II., Kg. v. Spanien 556, 561–563 Philipp IV., „der Schöne“, Kg. v. Frankreich 311, 323, 356 Philippi, Rudolf 416 Philipp Schall v. Bell, Landmarschall in Livland 560 Philippus, Mönch 73, 82–84 Pfitzner, Josef 407 Pietro Gradenigo, Doge 381 Plinius 50 Poggio Bracciolini 546 Pompeius, Feldherr 306 Poppo, Propst 86 Poppo v. Osterna 367 Previté-Orton, Charles 352 Qala¯wu¯n, Mamlukensultan

319, 330

Radulph v. Coggeshall 269 Radulph v. Diceto 272 Raederscheidt, Georg 354 Raffa Cattaneo della Volta 331 Rahewin 81 Raimund III., Gf. v. Tripolis 268, 270, 274 Raimund v. Molina 316 Raimund v. Penyafort 320

588 Raimund v. San Justo 317 Rainald, Herr v. Sidon 272 Rainald v. Dassel, Ebf. v. Köln 21 Raineri v. Viterbo 282 Reinhard v. Sunthausen 378, 384, 386 Rambaudas Valimantaitis 398 Regner, Kg. v. Dänemark 77 Renaud v. Châtillon 270 Richard I., Kg. v. England 273 Ridley, Matt 488 Rimbert, Ebf. v. Hamburg-Bremen 19, 23– 25, 27f., 31f. Rink, Melchior 248, 254 Robert der Tapfere 36 Robert v. Anjou, Kg. v. Neapel 317, 388 Robert v. Corson 282 Robert Dudley, Earl v. Leicester 556, 559 Robert v. St. Albans 309 Rodulf Glaber 60, 69 Roffrid v. Montecassino 281 Roger Bacon 69 Roger v. Benevent 281 Roger v. Hoveden 267, 269, 275, 287, 291– 293, 309 Roger v. St. Maria in Domnica 282 Roger v. Wendover 310 Romano Bonaventura 282 Rudolf, Pfalzgraf bei Rhein 433 Rudolf I., Bf. v. Schwerin 108 Rudolf II., Ks. 561f. Rudolf v. Habsburg, Kg. 367, 371 Rudolf v. Sachsen, Hzg. 432f. Rufin v. Rimini 281 Ruprecht, Pfalzgraf bei Rhein 433 Rustichello da Pisa 539, 541, 549 Said, Edward 548 Sa¯ʿin al-Dı¯n Turka 337 ˙ Saladin, Ayyubidensultan 265, 268–275, 302, 309 Samuel, Jude 450 Sander v. Machwitz, Vogt der Neumark 419, 421, 426 Sara, Jüdin 447 Sartorius, Georg 459 Sauerbruch, Ferdinand 356

Personenregister

Saxo Grammaticus 77f. Schäfer, Christoph 482 Schafferatsche 238 Schiltberger, Hans 536 Schneider, Manfred 485 Schneider-Windmüller, Wilhelm 349, 351–356, 358–360, 363f. Scholz, Richard 349, 352, 356–359, 362– 364 Schugger, Thomas 256 Schumpeter, Joseph Alois 96, 98 Sefridus 78 Seguranus Salvago 330 Sextus Pompeius Festus 305 Siegfried 40, 43 Siegfried Lander v. Sponheim, Meister v. Livland 411 Sha¯h Malik 342 Sha¯hrukh, Timurs Sohn 337 Sha¯mı¯ (Niza¯m al-Dı¯n Sha¯mı¯) 337 ˙ Sibylle, Kg. v. Jerusalem 11, 265–269, 271– 276 Siddharta Gautama 539 Siegfried v. Babenberg 369 Siegfried v. Feuchtwangen 368, 376–378, 383–388, 390 Sigismund, Kg. v. Polen 421, 429, 434f. Sigismund v. Luxemburg, Ks. 393, 409f., 415, 418 Simons, Menno 243 Sixtus V., Papst 561f. Sodrech 73 Soffred v. Sankt Praxedis 281 Solinus 50 Solon 306 Sombart, Werner 149 Staden, Hans 537 Stanislaus v. Krakau, Bf. 79 Starkad 77 S¸tefan V. La˘custa, Hospodar v. Moldau 212 Stenczel Lyttaw 239 Stephan V., Papst 25 Stephan v. Blois, Kg. v. England 266 Stephan Comes 282 Stephan v. Fossanova 282

Personenregister

Stephan Langton 282 Stephan v. Tournai 288 Stratmann, Martin 485 Süleyman I., „der Prächtige“, Sultan 212f., 215 Süleyman Çelebi, Osmanischer Regent 346 Sveigaard, Jens Mortenson 573 Sybil, Queen of Jerusalem s. Sibylle, Kg. v. Jerusalem Syfrid up der Trumme 130 Tacitus 50 Terricus, Templer 302 Theobald Gaudin 311 Theobaldus v. Böhmen, Hzg. 85 Theodosius, Ks. 306 Thewes Muller 238 Thewes Wolff 239 Thiderik Wibrand 131 Thietmar v. Merseburg 56f., 67f., 91 Thomas v. Aquin 511 Thomas Beckett 288 Thomas Beincke 238 Thomas Czyncke 239 Thomas v. Ebulo 282 Thomas Eycklaff 237 Thomas Leheman 236 Thomas Merten 238 Thomas Patricius, Bourgeois 272 Thomas Possecke 397 Thomas Weyße 236 Tideke Strobeke 155 Tiemicus, Kaplan 57 Timur 337–343, 345–347 Tomé Pires 547 Tyburtius Teichman 237 Ubert v. Pirovano 282 Ulrich v. Jungingen 394–408, 414 Umur v. Aydin, Emir 339 Unwan, Ebf. v. Hamburg-Bremen 26 Vasibutas (Wasebüth) 398 Vieri, Sohn d. Cola di Oliviero Barote 331 Vincentius v. Kielce 77

589 Vizelin, Bf. v. Oldenburg 28 Voigt, Johannes 49, 406, 469 Vytautas, Großfürst v. Litauen 394f., 397– 402, 404, 407, 417, 419, 424f. Waldemar, Mgf. v. Brandenburg 433 Waldemar I., Kg. v. Dänemark 78 Waldemar II., Kg. v. Dänemark 83 Waldemar IV., Kg. v. Dänemark 151, 154f. Walter v. Cronberg 436 Walter Ekhardi 452 Weber, Max 135, 140 Wenzel, Fürst und Regierer des Hauses Lobkowitz 435 Wenzel, Kg. v. Böhmen 433 Wenzel v. Miska 393 Wenzlau v. Crossen, Hzg. 423 Werner v. Tettingen 148 Wibald v. Stablo 81 Widochind s. Widukind v. Sachsen Widukind v. Corvey 76 Widukind v. Sachsen, Hzg. 22 Wilhelm II., „der Gute“, Kg. v. Sizilien 286 Wilhelm v. Ade 329f. Wilhelm v. Beaujeu 319 Wilhelm v. Modena 71, 86, 88 Wilhelm (Langschwert) v. Montferrat, Gf. v. Jaffa und Askalon 267, 275 Wilhelm v. Ockham 357 Wilhelm Olomar 317 Wilhelm v. Plaisians 311 Wilhelm Raimund v. Moncada 315f. Wilhelm v. Reims 281 Wilhelm v. Rubruck 65 Wilhelm v. St. Stephan 11, 295–308 Wilhelm v. Tyrus 269, 272 Wilhelm v. Urenbach 367 Wilhelm v. Villaret 298, 303, 307f. Willehad, Bf. v. Bremen 28 William of St. Stephen s. Wilhelm v. St. Stephan Wipert 57, 68, 73, 91 Władysław II. Jagiełło, Kg. v. Polen 394f., 397, 401, 405, 407, 417, 420–423 Wolfgang v. Grünenstein, Abt v. Kempten 430

590 Wolfgang Vincentz 200 Wolfram, DO 377f., 382–384 Woytke 238 Yazdı¯ (Sharaf al-Dı¯n Yazdı¯) 337, 339–342, 345, 347 Yveta, Äbtissin 267

Personenregister

Zbigniew v. Brest, Marschall v. Polen 417 Zeno, Ks. 75 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig v., Gf. 261 Zwingli, Huldrych 245 Zygmunt I. Stary, Kg. v. Polen 214–216, 221

Ortsregister

Aalborg 217 Aberdeen 197 Åbo 116, 132 Aceh 575f. Adria 331 Afrika 320f., 430, 546 Ägäis 328, 338 Ägypten 268, 309, 324, 326–328, 332–334, 339f., 380 Åhus 116, 126 Akkerman 211 Weißenburg s. Akkerman Akkon, Königreich 265 Akkon, Stadt 265, 274–276, 296, 301, 311f., 323, 325, 367f., 380, 382, 384 Alania 50 Alcolea 314 Aldeigjuborg s. Staraja Ladoga Alexandria 323f., 327, 329–332, 334, 514 Alfaro 340 Algier 430 Allenstein 207 Almunia de San Juan 313 Alpen 376, 428 Alster 18, 20, 33, 144 Altes Reich 21f., 98f., 103, 109f., 113, 287, 350, 361, 363, 367, 383, 388, 427–443, 446, 448, 556f., 558, 563 Altona 241f. Altshausen 436 Amboina 567, 569 Amerika 532, 536f., 550, 559 Amsterdam 146, 160, 167f., 557, 561 Anatolien 338–340, 345

Ancona 331, 335 Andamanen 538, 542, 546f. Angaman s. Andamanen Ankara 339, 344 Anklam 102 Antiochien, Fürstentum 266 Antiochien, Stadt 175 Antwerpen 207, 429 Apulien 388 Aragonien 311–317, 319, 322, 340, 343f. Arltenburg 18 Armenien 326, 328, 380 Arras 36 Aruad 275, 310, 325, 380 Aschkelon 268–272, 276 Aschkenasischer Raum 445 Asien 9, 12, 50, 75, 531–551, 565–576 Attigny 45 Augsburg 197, 207, 430, 434, 436, 440, 556– 558, 561 Auvergne 296 Avignon 347, 350, 389 Aydin 338f. Baden 353 Baie (Bourgneuf) 146 Balga 150, 158, 220, 223–225, 233f. Baltikum 50f., 69, 77f., 82, 84, 88 Bamberg 207, 369, 428, 435 Banjarmassin 574 Bantam 569–574, 576 Barcelona 317 Bardowiek 18 Barletta 382, 386

592 Barten/Barterland 48 Bartenstein 154, 157 Basel 386 Bautzen 208 Bayern 207, 353, 511 Belbuck 103 Belgien 174 Belt 161 Bengalen 568, 574, 576 Bergen 115–121, 131, 133 Berlin 9f., 103, 207, 360, 450, 481, 501, 511, 523, 554 Besalú 317 Besançon 435 Bethanien 267 Bielica 229 Binaced 313 Bingen 433 Birka 30 Birz˙ und Dubinki 434 Böhmen 60, 69, 79, 85, 205–208, 374, 430, 433, 448f. Boineburg 431 Bologna 547 Bonn 351, 354f. Borneo 574 Bornholm 126 Bosporus 333 Bozen 369 Brabant 561 Brandenburg 158, 378, 444, 446, 448 Braunsberg 141f., 152–155, 157f., 207 Braunschweig 205, 207, 431, 455 Bremen 23–25, 27, 83, 89, 197, 207 Breslau 142, 197f., 200, 205–208, 450f. Brest 207 Brieg 206f. Brindisi 382, 389 Brixeney 383 Bromberg s. Bydgoszcz Brügge 120, 128, 131–133, 142, 145, 161f., 166, 174 Budschak 212f. Burgos 436 Burgund 39, 45f., 160f., 436, 440 Buxtehude 18

Ortsregister

Bydgoszcz 199, 201, 207, 404, 447 Byzanz 343, 346 Caffa 333f. Cap d’Orlando 315 Celebes 567, 570 Ceylon 570 Chantilly 297 Chemnitz-Zwickau 9 China 339, 540, 572 Chios 340, 342–344 Chocim s. Chotin Chotin 213 Christburg 158, 375, 385 Christmemel, Ordenshof 397 Cipangu s. Japan Clermont 13 Comania 74 Corbins 312, 316 Cresson 272 Curzola 328 Dagroian 540–542, 545 Dakien 50, 65 Damaskus 268 Damiette 309, 375, 382 Dänemark 12, 77f., 80, 83, 115–118, 120– 127, 133, 153–155, 161, 556, 563, 571 Danzig 11, 53, 66, 83, 92, 123, 125, 130, 132, 142, 147, 149, 151, 153, 155, 157–203, 205, 207f., 215, 233f., 417, 419, 444, 446f., 452, 472, 474f., 477, 557 Dargun 103 Deime 138 Delft 207 Demmin 62 Deutschland 69, 98, 108, 116, 199f., 208, 230, 349, 353, 355f., 359, 361f., 363, 373, 381, 428, 430, 436, 438–440, 459, 461, 513, 522, 557f., 561f. Deutschordensland 443f., 448–450, 452 Deventer 122 Dnepr 211–213 Dnister 213 Dobrin 48, 66 Dockenhuden 18

Ortsregister

Donau 50, 213f. Donauwörth 372f. Dondin 545f., 548 Dorpat 417, 559 Draheim 422 Dresden 207 Drewenz 66, 88 Drobowitz 374 Eastland 51, 86 Ehrenbreitstein 433 Ehrenfels 433 Eider 20 Elbe 18–20, 23f., 27, 33, 75, 103, 242 Elbing 51, 140, 142, 145, 147, 152–155, 157f., 198, 203, 207, 229, 233f., 378, 383– 388, 390, 399, 401, 450 Eldena 103 el-Hablis 266 Ellenbogen s. Malmö Ellwangen 436 Elsass 414, 436f. Emden 205, 253f. England 11, 75, 141, 146, 161, 175, 266f., 269, 273f., 287f., 294, 423, 443, 481, 556f., 559, 561–563 Enkhuizen 179 Ephesos 341, 343 Erfurt 207, 371f. Ermland 48, 158, 220 Eschwege 432 Esesfelth 20, 23 Esrom 103 Este 18 Estland 66, 86 Etsch 384, 388, 437 Ettal, Kloster 360 Europa 9f., 12, 14, 22, 31, 50, 62, 95f., 98, 101, 107, 112f., 138, 143, 148f., 153, 197, 199, 207f., 215, 325, 380, 393, 405, 427, 444, 450, 471, 481, 531–551, 553, 556– 560, 565–570, 572–575 Falsterbo 115f., 123, 157 Famagusta 379, 381, 384 Fehmarn 63

593 Feodossija s. Caffa Ferlec 540 Finnischer Meerbusen 553 Finnland 115f. Fischhausen 143, 150, 154, 157 Flandern 142, 145f., 148, 174, 200, 454, 561 Flensburg 115, 256f. Francia 74 Franken 369–371, 373, 377, 391, 436 Frankenreich s. Fränkisches Reich Frankfurt (Main) 370–372, 390f., 432f. Frankfurt-Sachsenhausen 391 Fränkisches Reich 19–21, 27, 31, 51 Frankreich 21, 46, 200, 205, 266, 268, 272, 287, 292, 294–296, 298, 311, 319, 323, 361, 559, 561 Freiburg i. Br. 351, 355 Freiburg i. Ü. 197 Friedland 154 Friesland 161f., 164, 166, 179 Frischen Haff 221 Fulda 436 Galata s. Pera Galind(i)en 48 Ganges 532 Gardeny 312, 317 Gaza 380 Geervliet 167 Geldern 561f. Genua 324, 328–335, 340, 343f., 379, 541 Germanien 50 Giebelstadt 377 Gilgenburg 138, 150, 207 Gistel 146 Glaesaria 50 Glogau 207 Gnesen 54, 59–61, 447 Gonia˛dz und Medele 434 Görlitz 205, 207f. Görz 383 Gothien 50 Gotland 89 Göttingen 259, 523 Granada 311, 317, 319 Graudenz 207

594 Graz 501 Griechenland 74, 338f., 341f., 344f., 534 Griefstedt 371 Groningen 207 Grunwald s. Tannenberg Guben 207 Güstrow 207 Guttstadt 207 Haithabu 30, 51, 99–102 Halle 83, 86, 208, 450 Hallstadt 369 Hamburg 9, 11, 13f., 17–33, 35, 47, 62f., 120, 124, 144, 147, 151, 161, 197, 205, 207, 241f., 246, 259f., 468, 482, 500, 502, 504f., 507–509 Hammaburg s. Hamburg Hanseraum 455 Harvestehude 144 Hattin 265f., 269, 272 Heidelberg 13, 433 Heiligenbeil 11, 211, 214, 220f., 223–229, 231–236, 239f. Heiliges Land s. Palästina Heiliges Römisches Reich s. Altes Reich Heilsberg 207, 417 Heitersheim 437 Helsingborg 116 Henneberg 432 Hessen 431, 561 Holland 141, 159–164, 166f., 170, 174, 243 Holstein 75f., 89, 205, 207, 562 Hondschoote 146 Hradisch 68 Iberische Halbinsel 311, 319, 321 Idumäa 84 Île de la Cité 42 Indien 52, 534, 553, 556, 562f., 565–568, 571–573, 575f. Indischer Ozean 326, 328, 565f., 569, 573, 575 Indonesien 9, 568 Inowroclaw 426, 447 Insterburg 219 Insulinde 566f., 574, 576

Ortsregister

Irland 556, 558 Italien 52, 200, 294f., 324, 328, 333, 335, 358–361, 438f., 561 Izmir s. Smyrna Jam Zapol’skii 557 Janjak 341 Japan 538–542, 544 Japara 574 Jassy (rum. Ias,i) 212f. Java 9, 11f., 14, 531, 533, 540, 546–548, 569, 571, 574 Jerusalem, Königreich 265–269, 271, 276, 296 Jerusalem, Stadt 81, 85, 267, 270–276, 302, 308f., 380 Johore 574f. Jomsburg 102 Jumne s. Wollin Jung Leslau s. Inowroclaw Kaaksburg 18 Kairo 339, 380 Kalisch 447, 449 Kalkutta 576 Kalmar 129f., 133 Kalundborg 116 Kammin 421 Karibik 560 Karpatenbogen 213 Kaschau 197 Kaspisches Meer 534 Katalonien 310, 315f. Kaunas (Kauen, Kowno) 395, 397, 399f., 402 Kedah 570 Kefalonia 331 Kempten 430, 436 Kiew 79 Kleinarmenien, kilikisches Armenien s. Armenien Kneiphof 140, 143, 153–157 Koblenz 382, 387, 436f. Kolbatz 83, 103f. Kolberg 207

Ortsregister

Köln 25, 85, 125, 132, 151, 154, 157, 206, 386, 433, 455, 501, 556–558, 561 Kolna 67 Königsberg 11, 135–158, 207, 215f., 234f., 398, 407, 426, 444, 449, 452–454 Konstantinopel 323f., 334 Konstanz 409–412, 415, 418, 420, 426 Kopenhagen 115, 121–123, 125, 127, 133, 161f., 565f., 568, 571–573 Koromandelküste 565f., 568–570 Koroni (Corone) 386 Kosovo 338 Krakau 197–205, 207f., 213f. Krems 207 Kreuzburg 154, 157 Krim 333f. Kujawien 66, 87, 229, 395, 397, 402, 471 Kulm 142, 154, 157, 383, 387f., 444f., 450– 452, 454 Kulmer Land 48, 68, 70f., 87f., 158 Kulmsee 144 Kurland 48, 66, 77f., 86 Ladogasee 102 Lamary s. Sumatra Lamori 543f. Landskrona 116, 123, 125 Laon 45 Latium 292 Lausitz 207 Lauterbach 372f. Leiden 167 Leipzig 207, 208, 242f., 356f., 554, 561 Lekno 83 Lemberg 205 Lemgo 176 Lenczyca 205 Lengmoos 384 Lérida 313f., 317f. Lesbos 345 Leslau 66, 409f., 414 Lettland 66 Leutschau 197, 205 Levante 325 Libec 66 Liegnitz 205f.

595 Limassol 307f. Litauen 48, 57, 66, 86, 138, 148f., 154, 208, 228f., 383, 393–395, 398–401, 406f., 414f., 419, 434, 445, 460 Liutizenland 66 Livland 66, 86f., 161, 163, 207, 376f., 383, 411, 428, 436, 559f. Löbau 48 Löbenicht 140, 144, 157 Lödöse 116, 127–128 Loire 36, 42 Lombardei 86, 295, 297, 381 London 200, 272, 469 Lothringen 387f. Löwen, Leuven 429, 438f. Lowitsch 207 Lübeck 103, 108, 110, 120, 124f., 130, 132, 136–140, 142, 144, 148, 151, 154, 161, 197, 207, 417, 554 Ludehusen s. Lödöse Lund 31, 77, 103f., 124–126 Lüneburg 124, 146, 161, 207, 431, 556, 563 Lüneburg-Braunschweig 431 Lüttich 52 Luxemburg 432 Lyck 207 Maas 59 Magdeburg 89, 445, 447, 450–452, 455 Magnesia 342 Mähren 65, 79, 89 Mainz 85, 431f. Makassar 567–571, 574 Makedonien 76 Malabarküste 567 Malayische Halbinsel 567, 570, 574, 576 Mallorca 312f., 316, 319, 343 Malmö 115–117, 123–127 Malta 10, 297, 337, 430 Manila 574f. Marburg 371f., 375 Marienburg 145–147, 154, 158, 207, 368, 373, 389, 411 Marienkron 105 Marienwerder 144, 150 Marienwohlde 105, 107

596 Mark Brandenburg, Markgrafschaft 444, 446, 448 Marokko 320f. Masowien 48, 81f. Masulipatnam 568, 572 Meaux 39 Mecheln 146, 386 Mecklenburg 431f. Mediterraneum s. Mittelmeerraum Meißen 424, 561 Memel, Fluss 48, 66, 397, 407 Memel, Stadt 154, 157, 207 Mentesche 339 Menzlin 102 Mergentheim 370, 437, 448 Mergui 567, 576 Messina 324, 329 Metz 45, 207, 387 Mirabeau 266 Miravet 318 Mitteleuropa 95, 98, 405 Mittelitalien 294 Mittelmeer 327f., 331f., 335, 378f., 381, 388f. Mittelmeerraum 11, 323f., 335, 367, 378, 381, 383, 390, 430 Moers 561 Moldau 212–214 Monnickendam 168 Montfort (Israel) 384 Montmartre 45 Monzón 312–314, 316–318 Morin 415 Mosavia 66 Mosel 375 Moskau 152, 398, 558f. Mottlau 164 München 554 Münnerstadt 369 Münster 243, 249, 251 Nablus 272 Nachitschewan 345 Nadrauen 48 Næstved 116, 120–122 Nassau 432f., 435

Ortsregister

Natangen 48 Navarra 314 Neidenburg 140, 426 Neisse 200, 205f. Nessau 422 Neuenburg 386 Neuendorf 415 Neuengland 507 Neufmoustier bei Huy 59 Neugarten 177 Neumark 207, 419, 423, 449 Neumarkt 450 Neustrien 37 Neuteich 158 New York 486 Niederlande 11, 159–162, 164, 429, 555– 558, 561–563 Niedersachsen 362 Nif 341 Nikopolis 339 Nikosia 312 Nordalbingien 19, 23 Norddeutschland 116, 455, 557 Nordelbien s. Nordalbingien Nordeuropa 444, 534, 557 Nordfrankreich 21, 109 Nordosteuropa 553, 557 Nordsee 19, 99, 101, 141 Norwegen 115, 118–121, 127, 133 Novgorod 132 Novillas 314 Noyon 45 Nürnberg 197, 200, 207, 429, 432f., 561 Nyborg 116 Nyköping 130f. Oberlitauen 395 Oder 62 Ofen 409 Oliva 83, 103 Olmütz 197 Ordenburg 207 Orient 537, 542, 548, 550 Orlau 415 Ornacia 74 Ortelsburg 138

597

Ortsregister

Oslo 116, 119f. Osmanisches Reich 211–216 Osnabrück 207 Ossa 88 Ostasien 531–551 Ost-Berlin 360 Osterode 426 Österreich 386, 435, 437, 440 Ostfrankenreich 19 Ostfriesland 246, 435 Ostindien 565f. Ostmitteleuropa 450 Ostpreußen 50 Ostsee 11, 48, 50, 63, 65, 72, 78, 141, 160, 558 Ostseeraum 11, 93–113, 118, 120, 123, 125, 137, 152, 323, 383, 390, 455, 558 Ostseeregion s. Ostseeraum Otschakiw (tatar. Dschankerman, türk. Özi/Özö Kalesi) 211–213 Paderborn 28, 207 Padua 359, 374, 376f., 383, 388 Palästina 11, 87, 313, 319f., 323–325, 327f., 333–335, 367, 371, 376, 379–381, 383, 389 Palermo 386f., 429 Pannonia 58 Paris 11, 13, 35–46, 207, 288, 297f., 349, 393 Passau 205 Peene 62, 102 Peñíscola 312 Pera 333, 341 Perpignan 317 Persien 328, 380, 540 Perugia 88 Petersberg 86 Philippinen 575 Phokäa 345 Plozk 207 Podolien 214 Pogesanien 48 Poitou 268 Pola Oczakowskie (türk. Özö kırı) 213 Polen 11, 47–49, 58–63, 65f., 71–73, 77–79, 81f., 85–87, 89, 95f., 101, 159, 197–209,

213–216, 221, 228, 401–406, 410f., 414f., 422f., 425f., 429, 434f., 444–450, 453f. Polen-Litauen 401, 414f. Polnisch Krone 206 Pomeranien 48, 55, 58, 60, 65f., 72, 77f., 79, 82, 86, 89 Pomesanien 48, 158, 383, 387f. Pommerellen 158, 207, 471 Pommern 58f., 66, 81, 103, 141 Poperinge 146 Portugal 560 Posen 206–208, 414 Prag 55, 58, 60, 79, 197, 373, 432f. Pregel 146 Preußen, Preußenland 10–13, 47–92, 135, 137, 141f., 144, 146, 148–150, 155, 157f., 160–164, 199f., 204, 206f., 215–218, 220, 222, 224, 228f., 231–234, 351, 353, 367f., 373, 375–378, 381, 383, 385, 388, 391, 393–395, 397, 412, 418, 426, 428f., 436, 443–455, 460, 463–479, 481 Preußisch Friedland 207 Provence 296 Pueyo de Santa Cruz 313 Pyrn 433 Pyzdry 206 Quierzy 45 Rachtig 375 Radziejów 207 Ragnit 393, 395f., 398f., 401–406 Rama¯n 341 Ramersdorf 375 Rawa 205 Reval 132, 207, 249, 553–555, 557–560 Rhein 51, 147f., 157, 561 Rhein, Gebietsamt 158 Rheinberg 555, 561–563 Rheinland 95, 557 Rhodos 10, 297, 323–325, 327–329, 331f., 335, 338–340, 342f., 430 Ribe 30 Riedtheim 207 Riga 142, 207, 383, 414, 558 Rimini 427, 447f.

598 Ripen 116 Rivoglio 147 Rom 24, 27, 29, 62, 284, 286, 294, 350, 356, 360, 381, 386, 389, 428, 432, 437–441 Rønne 116 Rostock 124f., 151, 161 Rotes Meer 326 Rothenburg ob der Tauber 372 Rügen 63, 65, 75–77, 95 Rumänien 205 Russland 48, 57, 63, 65f., 74, 78, 128, 132, 207 Ruthenien 213 Sachsen 66, 75f., 370, 451f., 454 Sachsenhausen 391 Sacrum Romanum Imperium s. Altes Reich Safet 310 Saint Andrews 197 Saint-Denis 393 Saint-Germain-des-Prés 37 Saint-Gilles 307 Salzburg 85, 435 Salzwedel 448 Samaiten 395–399, 401–405, 407, 411 Samarkand 339 Samatra 540 Samland 48, 50, 62, 74, 77, 83, 86, 136–138, 143f., 148, 150, 158, 219, 388 Samos 340f. Sankt Joachimsthal 205 Santo Domingo 556 Sardinien 317 Schalauen 48 Scania s. Schonen Schippenbeil 154, 157 Schlei 19, 99, 101 Schlesien 51, 66, 74, 100f., 120, 142, 200, 206f., 228, 446, 450f. 454 Schleswig-Holstein 99, 105 Schlochau 402, 404, 419, 422, 471 Schmalkalden 430 Schonen 95, 126f., 158 Schwaben 436, 440 Schwarzes Meer 212, 324, 328, 332–335 Schwarzmeergebiet 326

Ortsregister

Schweden 62, 66, 74, 105, 115, 118, 127– 133, 253, 558, 560 Schweidnitz 205f. Schwerin 207 Seehesten 145 Seeland 116, 127, 159–162, 164, 166, 171, 174, 183, 440 Seine 37, 40–42 Selencia 60, 66, 78 Sens 44, 46 Serampore 576 Servais 45 Siam 547 Siarzewo 229 Sibiu 205 Sidon 312 Siebenbürgen 207 Siena 331, 335 Simrishamn 116, 123f. Sizilien 274, 286f., 344, 361, 379, 385f. Skandinavien 11, 31, 63, 95, 115–133, 141, 455 Skanör 115f., 123 Slawenland 74 Smyrna 337–341, 343–347 Söderköping 130 Soldin 449 Solor 569 Sommershafn s. Simrishamn Spandowerhagen 102 Spanien 147, 311, 313, 319f., 555, 558, 560– 563, 575 Speicherstadt, Hamburg 507 Speier 205 St. Gallen 197 St. Pauli, Hamburg 507 Stade 18, 197 Staraja Ladoga 102 Stargard 141, 207 Steiermark 207 Stendal 448 Stettin 124, 151, 199, 202, 205, 207, 402, 450 Stockholm 116, 128, 131–133, 158, 207 Stolp 418, 421 Stör 20, 23

Ortsregister

Stralsund 105, 124f., 151, 155, 161, 207, 417 Strasburg (Westpreußen) 207 Straßburg 205, 207, 246, 251, 254, 414 Straße von Malakka 574–576 Strezow 205 Südamerika 532 Sudauen 48 Süddeutschland 557 Südeuropa 95f., 98, 112f. Südfrankreich 147 Südostasien 12, 533, 537f., 549, 565–576 Sumatra 532, 538, 540, 542–544, 546f. Sund 161 Sundainseln 533, 540 Sundastraße 571, 573 Suravia 89 Svendborg 115 Syrien 340, 345, 380 Szydłowiec 434 Tabriz 341 Tallinn s. Reval Tannenberg 12, 393f., 396, 407, 412, 414 Taplacken 219 Tarnow 205 Tarragona 316f. Tartus (Syrien) 275, 325, 380f., 384 Tehinia (türk. Bender) 212 Ternate 567 Thorn 13, 66, 70, 140, 142, 148f., 151, 154, 157f., 197–208, 373, 377, 396f., 399, 401f., 404f., 407, 414, 418, 426, 429, 444, 446, 452, 469, 471f., 474, 477 Thüringen 370–372, 375 Thüringen-Sachsen 370 Tidore 567 Timor 569 Tire 341, 343 Tönsberg 116, 119f. Torcello 379 Tornax 74 Tortosa (Spanien) 312 Tortosa (Syrien) s. Tartus (Syrien) Trani 386 Tranquebar 565–568, 570–572, 574f.

599 Trave 142, 146 Treene 101 Trelleborg 123f. Trier 207, 375, 386 Tripolis (Libanon), Grafschaft 268, 270, 274f. Tripolis (Libanon), Stadt 275, 310 Tripolis (Nordafrika) 430, 440 Truso 51 Tschenstochau 205 Tuchel (Tuchola) 404, 421, 425 Tunis 311, 315–320, 322, 430 Türkei 211–217, 219, 559 Turku s. Åbo Turon 276 Tyrus 270, 275, 382 Ulm 207 Ungarn 65f., 79, 148, 200, 205, 207, 213f., 393, 409, 448f., 536 USA 14 Ustede s. Ystad Valladolid 536 Venedig 324, 328, 372–374, 376–379, 381– 390 Vienne 10 Viipuri s. Wiborg Vilnius 205, 207, 557 Vineta 102 Vlissingen 166, 171 Vordingborg 161 Warberg 116 Warmien s. Ermland Warschau 87, 207 Washington (D.C.) 483 Wehlau 154f. 157 Weichsel 48, 50f., 66, 70f., 73, 86, 88, 137, 160, 204, 404–406 Weißenfels 207 Welt 482f. Wendland 51 Wesel 561 Westenschouwen 183

600 Westeuropa 95f., 98, 112f., 143, 149, 153, 197, 199, 393, 405, 444, 557f., 560 Westfalen 436, 561 Westindien 556 Wetterau 436 Wiborg 116, 128, 132 Widmodien 19 Wien 197, 206, 378, 384, 386, 389, 434, 554 Wilna s. Vilnius Winnenden 370 Wirland 86 Wisby 128f., 133 Wismar 124f., 143, 151, 161 Witland 51, 86 Wittenberg 207, 257 Wolchow 102 Wolfenbüttel 255, 554

Ortsregister

Wollin 62, 101 Wormditt 207 Worms 429 Württemberg 429 Würzburg 369f., 386, 389, 391, 433 Ystad

116, 123f.

Zagoscz 81 Zierikzee 166 Zinten 154f., 157, 220, 234 Zittau 207 Zschillen 370 Zürich 207 Zwolle 562 Zypern 276, 297–299, 307, 318, 323, 325, 327f., 331, 333, 341, 379–382, 388