Von Gewalt zur Gewaltüberwindung in der Bibel: Theologische, anthropologische und ethische Aspekte [1 ed.] 9783666565557, 9783525565551


100 44 5MB

German Pages [730] Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Von Gewalt zur Gewaltüberwindung in der Bibel: Theologische, anthropologische und ethische Aspekte [1 ed.]
 9783666565557, 9783525565551

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Günter Scholz

Von Gewalt zur Gewaltüberwindung in der Bibel Theologische, anthropologische und ethische Aspekte

Günter Scholz

Von Gewalt zur Gewalt­ überwindung in der Bibel Theologische, anthropologische und ethische Aspekte

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D­37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rembrandt, „Opferung Isaaks“, 1635 (Öl auf Leinwand, 193 × 133 cm), Sammlung Staatliche Ermitage, St. Petersburg. Umschlagsgestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-56555-7

„Schalom – der Friede, der allein versöhnt und stärkt, der uns beruhigt und unser Gesichtsbild aufhellt, uns von Unrast und von der Knechtung durch unbefriedigte Gelüste frei macht, uns das Bewusstsein des Erreichten gibt, das Bewusstsein der Dauer, inmitten unserer eigenen Vergänglich­ keit und aller Äußerlichkeiten.“ (Claude J. G. Montefiore: 1858–1938, jüdischer Gelehrter und Gründer der „World Union for Progressive Judaism“)

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Teil 1: Altes Testament Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1. Gott und der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1 Kains Brudermord (Gen 4,1–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.1 Quellenbezogener Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.2 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.1.3 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Die Sintflut (Gen 6,5–9,17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.2.1 Literarkritische und strukturelle Bemerkungen . . . . . . 29 1.2.2 Das Gottesbild von N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.2.3 Die Anthropologie von N . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.2.4 Ethische Implikationen zum Thema Gewalt bei N . . . . 35 1.2.5 Das Gottesbild von P . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 1.2.6 Die Anthropologie von P . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.2.7 Ethische Implikationen zum Thema Gewalt bei P . . . . 38 1.2.8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.3 Gesetzestexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1.3.1 Gen 9,5 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.3.2 Vergehen gegen Leib und Leben (Ex 21,12–27) . . . . . . 44 1.4 Sodom und Gomorra (Gen 18,17–19,29) . . . . . . . . . . . . . . 53 1.4.1 Traditions- und Redaktionsgeschichtliches . . . . . . . . 53 1.4.2 Gen 19,1–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.4.3 Gen 19,12–26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1.4.4 Gen 18,20–33 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1.4.5 Gen 18,17–19 und 19,27–28 . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1.4.6 Gen 19,29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.5 Jakob und Esau (Gen 27–33) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 1.5.1 Spannungsbögen als Strukturmerkmale . . . . . . . . . . 65 1.5.2 Literarkritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 66 1.5.3 Die ethische Dimension I (Der große Spannungsbogen – Anabasis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

8

Inhalt

1.5.4 1.5.5

Die ethische Dimension II (Der kleine Spannungsbogen) 69 Die ethische Dimension III (Der große Spannungsbogen – Katabasis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1.5.6 Die theologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1.6 Die Josephsnovelle (Gen 37–50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1.6.1 Allgemeine literarkritische Bemerkungen . . . . . . . . . 76 1.6.2 Rettung Josephs aus der Grube (Gen 37,1–36) . . . . . . 77 1.6.3 Erste Reise nach Ägypten (Gen 42,1–38) . . . . . . . . . . 87 1.6.4 Zweite Reise nach Ägypten (Gen 43,1–44,34) . . . . . . . 90 1.6.5 Erkennungs-, Vergebungs- und Erkenntnisszene (Gen 45,1–9.14 f; 50,15–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1.6.6 Anthropologische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . 95 1.6.7 Theologische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1.6.8 Jakob-Laban-Esau-Sage und Josephsgeschichte im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1.7 Isaaks Opferung (Gen 22,1–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1.7.1 Traditionsgeschichtliche und literarkritische Erwägungen 101 1.7.2 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1.7.3 Anthropologische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . 109 1.7.4 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 1.8 Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32,23–33) . . . . . . . . . . . . . . 112 1.8.1 Literarkritische und traditionsgeschichtliche Erwägungen 112 1.8.2 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1.8.3 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 1.9 Gott will Mose sterben lassen (Ex 4,24–26) . . . . . . . . . . . . . 116 1.9.1 Literarkritische und traditionsgeschichtliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 1.9.2 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1.9.3 Anthropologische und ethische Aspekte . . . . . . . . . . 119 1.10 Hiob . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1.10.1 Literarisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1.10.2 Der Rahmen (Hi 1,1–2,10; 42,10a.c-17) . . . . . . . . . . 122 1.10.3 Die Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Gott und das Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.1 Auszug aus Ägypten und Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 13,17–14,31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.1.1 Traditions- und Literargeschichtliches . . . . . . . . . . . 154 2.1.2 Das Gottesbild von NP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2.1.3 Das Gottesbild von P . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2.1.4 Ergänzende Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

Inhalt

2.2

2.3

2.4 2.5

2.6

2.7

9

Das Schilfmeerlied (Ex 15,1–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2.2.1 Kontext und Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 2.2.2 Strukturelles und Literarisches . . . . . . . . . . . . . . . 158 2.2.3 Das Gottesbild im Miriamlied Ex 15,21 . . . . . . . . . . 161 2.2.4 Das Gottesbild im älteren Moselied Ex 15,1–5 . . . . . . . 161 2.2.5 Das Gottesbild im ergänzten Moselied Ex 15,6–10 . . . . 161 2.2.6 Das Gottesbild im ergänzten Moselied Ex 15,11–17 . . . 162 2.2.7 Neuakzentuierung durch den Schlussvers Ex 15,18 . . . 163 2.2.8 Ethische Impulse aus dem Exodusgeschehen . . . . . . . 164 Der erste Krieg gegen die Amalekiter (Ex 17,8–16) . . . . . . . . 165 2.3.1 Die Stellung der Amalekiterkriege in der Groß-Einheit der historischen Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2.3.2 Literarische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2.3.3 Das Gottesbild in Ex 17,8–13 . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2.3.4 Das Gottesbild in Ex 17,14–16 (Kultlegende und Erinnerungskultur) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Amaleks Schuld darf nicht vergessen werden (Dtn 25,17–19). (Traumabewältigung und Erinnerungskultur) . . . . . . . . . . . . 168 Der zweite Krieg gegen die Amalekiter (1.Sam 15,1–35) . . . . . 170 2.5.1 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2.5.2 Das Gottesbild der Grunderzählung (1.Sam 15,4–8.12–13.32–34) . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2.5.3 Ethische Aspekte in der Grunderzählung . . . . . . . . . 173 2.5.4 Das Gottesbild in der Parallelüberlieferung (1.Sam 15,1–3.9.13a.c-19a.b.20–23a.35a) . . . . . . . . . . 173 2.5.5 Ethische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 2.5.6 Die indirekte Davidsverheißung (15,27 f.30 f) . . . . . . . 176 2.5.7 Gottesbild und Ethik in der deuteronomistischen Redaktion (1.Sam 15,10–11.23b.24–26.35b) . . . . . . . . 176 Der dritte Krieg gegen die Amalekiter (1.Sam 30,1–31) . . . . . . 177 2.6.1 Kontext und zeitliche Ansetzung des Textes . . . . . . . 177 2.6.2 Literarische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2.6.3 Das Gottesbild in 1.Sam 30,1*-9*.17–19* . . . . . . . . . . 179 2.6.4 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.6.5 Ethische Aspekte der ersten Fortschreibung . . . . . . . . 180 2.6.6 Ethische Aspekte der zweiten Fortschreibung . . . . . . . 181 Der Herr als Heerführer mit verzehrendem Feuer (Dtn 9,1–6) . . 185 2.7.1 Strukturelle, redaktionelle und literarkritische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2.7.2 Gott und Volk in der Grundform des Textes (9,1–4a.5a.bα.6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.7.3 Gott und Volk im erweiterten Text (9,1–4a.b.5a.b.6) . . . 190

10

Inhalt

2.8 2.9 2.10

2.11 2.12

2.13

2.14

Kriegsgesetze (Dtn 20,1–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 2.8.1 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2.8.2 Ethische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Segen und Fluch (Dtn 28) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2.9.1 Dtn 28 als Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2.9.2 Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Moses Abschied und Josuas Einsetzung (Dtn 31,1–8) . . . . . . . 204 2.10.1 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2.10.2 Formkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 2.10.3 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 2.10.4 Ethik des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.10.5 Vergleich mit Dtn 9,1–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Der Beginn des Josuabuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Zerstörung von Jericho (Jos 5,13–6,27) . . . . . . . . . . . . . 210 2.12.1 Literarische Vorentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 210 2.12.2 Das Gottesbild in der traditionellen Berufung Josuas (Jos 5,13–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2.12.3 Das Gottesbild in der Grunderzählung (Jos 6,1–3.5.11–12a.14–15.20) . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2.12.4. Gottesbild und Ethik in der deuteronomistischen Redaktion von Jos 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2.12.5 Die Verdeutlichung von Gottesbild und Ethik durch die redaktionelle Verknüpfung von Jos 5,13–15 mit Jos 6,1–27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 2.12.6 Der Deuteronomist als Theologe seiner Zeit . . . . . . . . 219 2.12.7 Spricht der Deuteronomist nur metaphorisch von Gewalt? 220 Die Eroberung Ais (Jos 7,1–8,29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2.13.1 Die missglückte Eroberung Ais (Jos 7,2–8) . . . . . . . . 221 2.13.2 Die geglückte Eroberung Ais (Jos 8,1–29) . . . . . . . . . 224 2.13.3 Die Zusammengehörigkeit von Jos 7,2–8 und 8,1.3–7.8b.c.9–11.14*-17*.18–19*.20*-21* . . . . . . . . . 228 2.13.4 Die Achan-Erzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2.13.5 Die Einbindung der Ai-Legende I und II in die deuteronomistische Achan-Erzählung . . . . . . . . . . . 234 Das Buch der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2.14.1 Die Ehud-Legende (Ri 3,15b-30a) . . . . . . . . . . . . . 237 2.14.2 Die Debora-Legende (Ri 4,4–22) . . . . . . . . . . . . . . 239 2.14.3 Gideons Taten (Ri 6–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 2.14.4 Das Abimelech-Bild im Wandel der Geschichte Israels (Ri 9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2.14.5 Die Jefta-Legende (Ri 11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2.14.6 Der Simson-Sagenkranz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254

Inhalt

11

2.14.7 Das deuteronomistische Geschichtsschema . . . . . . . . 258 2.14.8 Prophetisch-theologische Vorschaltungen vor die Rettergeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 2.15 Das Deboralied (Ri 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.15.1 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.15.2 Redaktionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.15.3 Überlieferungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.15.4 Zeitliche Ansetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.15.5 Versuch einer Strukturierung . . . . . . . . . . . . . . . . 272 2.15.6 Theologie und Ethik im Deboralied . . . . . . . . . . . . 274 2.16 David und Goliat (1.Sam 17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2.16.1 Rahmen und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2.16.2 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2.16.3 Die ethische Implikation der älteren Sagenversion . . . . 281 2.16.4 Das Gottesbild der jüngeren Sagenversion . . . . . . . . . 282 2.16.5 Theologie und Ethik des Bearbeiters . . . . . . . . . . . . 283 2.16.6 Theologie und Ethik des Deuteronomisten . . . . . . . . 284 3. Gott und die Völkerwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3.1 Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja . . . . . . . 285 3.1.1 Jes 6,1–13* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3.1.2 Jes 7,1–17* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 3.1.3 Jes 5,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 3.1.4 Jes 5,25; 9,7–13.16b-20* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3.1.5 Jes 3,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3.2 Korrektur und Ergänzung des urjesajanischen Gottesbildes . . . 295 3.3 Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja . . . . . . . . . . . . 297 3.3.1 Heiligung und Bewahrung des Restes in Zion (Jes 4,2–6) 297 3.3.2 Die Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,1–5 / Mi 4,1–5) . . . 300 3.3.3 Das große Licht: Die Geburt des göttlichen Kindes (Jes 9,1–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 3.3.4 Das messianische Friedensreich (Jes 11,1–9[10]) . . . . . 319 3.4 Die Gottesknechtslieder (Jes 42,1–7; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12) 323 3.4.1 Die literarische Funktion der Gottesknechtslieder innerhalb von Deuterojesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 3.4.2 Die Gottesknechtslieder als literargeschichtliche Quelle . . 328 3.4.3 Der Gottesknecht – Individuum oder Kollektiv? . . . . . 338 3.4.4 Die Kollektivierung des Knechts außerhalb der Gottesknechtslieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 3.4.5 Das Gottesbild nach Jes 42,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . 344 3.4.6 Das Bild des Knechts nach Jes 42,1–7 . . . . . . . . . . . . 345 3.4.7 Ethnologische und ethische Implikationen . . . . . . . . 347

12

Inhalt

3.5

3.6

3.7

3.8

3.4.8 Das Gottesbild nach Jes 50,4–9 . . . . . . . . . . . . . . . 348 3.4.9 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 3.4.10 Zur Frage der Israel-Affinität . . . . . . . . . . . . . . . . 350 3.4.11 Das Gottesbild nach Jes 49,1–6 . . . . . . . . . . . . . . . 351 3.4.12 Das Bild des Knechts nach Jes 49,1–6 . . . . . . . . . . . . 352 3.4.13 Ethnologische und ethische Implikationen . . . . . . . . 353 3.4.14 Das Gottesbild von Jes 53,2–11a . . . . . . . . . . . . . . . 354 3.4.15 Ethische Implikationen im Blick auf Jes 53,2–11a . . . . . 356 3.4.16 Das Gottesbild nach Jes 52,13–15; 53,11b-12 . . . . . . . 358 3.4.17 Das Knechtsbild nach Jes 52,13–15; 53,11b-12 . . . . . . 359 3.4.18 Selbstsicht Israels in Sein und Sollen? . . . . . . . . . . . 361 Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker  bei Tritojesaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 3.5.1 „Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker sein“ (Jes 56,1–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 3.5.2 „Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir“ (Jes 60,1–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 3.5.3 „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ (Jes 65,16c-25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch . . . . . . . . . . . . . . . 378 3.6.1 Die Urrolle im Licht von Jer 36,1–7 . . . . . . . . . . . . . 378 3.6.2 Redaktionelle Einsprengsel und kompilatorische Fortschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 3.6.3 Jeremia, der Völkerprophet . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 3.6.4 Jahwes innergöttliches Ringen (Bund, Schmerz und Reue) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein . . . . . . . . . . . . . . . 389 3.7.1 Zur Frage der Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . 389 3.7.2 Zur Frage der Verfasserschaft . . . . . . . . . . . . . . . . 392 3.7.3 Absolute Wende als Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 3.7.4 Gottesbild, Anthropologie und Ethik . . . . . . . . . . . 393 Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift? . . . . . . . . 402 3.8.1 Inhalt und Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 3.8.2 Wachstumsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 3.8.3 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 3.8.4 Ethische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 3.8.5 Nahum – ein Prophet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 3.8.6 Nahum – eine national-religiöse Propagandaschrift . . . 413 3.8.7 Die Funktion des Hymnus Nah 1,2–8 und sein Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

Inhalt

3.9

3.10

3.12

3.13

3.14

3.15

13

Der Gott des Friedens bei Protosacharja (Sachj 1–8) . . . . . . . . 416 3.9.1 Die Nachtgesichte in Tradition, Fortschreibung und Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 3.9.2 Vom Gott des Friedens zum Gott der Völker (Sachj 8,20–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs über Jerusalem und die Völker (Sachj 9–11; 13,7–9) . . . . . . . . 421 3.10.1 Sachj 9–11; 13,7–9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 3.10.2 Sachj 9,9 f . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 3.11 Tritosacharja: Jerusalem und die Völker am Ende der Zeit. Vom Kriegsgott für Jerusalem zum gnädigen Gott für die Völker (Sachj 12–14) . . . . . . . . . . . . . . 425 3.11.1 Sachj 12–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 3.11.2 Sachj 14,1–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Heil statt Gericht für gottesfürchtige Heiden (Jona 1–2,1.11; 3–4) 430 3.12.1 Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 3.12.2 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 3.12.3 Ethnologisch-ethische Implikationen . . . . . . . . . . . 434 Joel – Vorläufer Jonas oder Rückfall in finstere Zeiten? . . . . . . 435 3.13.1 Literarisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 3.13.2 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3.13.3 Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 3.13.4 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 3.13.5 Das Verhältnis von Joel- und Jona-Buch . . . . . . . . . . 440 Obadja – Prophetie oder national-religiöse Kampfschrift gegen ein verhasstes Brudervolk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 3.14.1 Motiv-, Form- und Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . 445 3.14.2 Die Streitschrift als Menschenwort und Gotteswort (Ethik und Gottesbild in Ob 1b-14.15b.17.21) . . . . . . . 447 Daniel – supra- oder posthistorische Gottesherrschaft? Gottesfriede nach letzter Schlacht gegen das Böse . . . . . . . . . 450 3.15.1 Literargeschichtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 3.15.2 Das Gottesbild in der Grundschicht . . . . . . . . . . . . 454 3.15.3 Ethische Implikationen der Grundschicht . . . . . . . . . 456 3.15.4 Das Gottesbild in der Erweiterungsschicht (Dan 1,1–3,30; 7,1–8,27a.b) . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 3.15.5 Ethische Implikationen der Erweiterungsschicht . . . . . 461 3.15.6 Das Gottesbild in der zweiten Erweiterungsschicht . . . . 462 3.15.7 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465

Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468

14

Inhalt

Teil 2: Neues Testament Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 1. Die Gottesherrschaft als Garant universalen Friedens im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 2. Bergpredigt / Feldrede: Seligpreisungen und Aufruf zur Feindesliebe (Mt 5,3–12 / Lk 6,20–23; Mt 5,21–48 / Lk 6,27–36) . . . . . . . . . . . . . 478 2.1 Erste literarische Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 2.2 Das Gottesbild in den jesuanischen Seligpreisungen (Q) . . . . . 480 2.3 „Selig“: eine anthropologische Bestimmung? . . . . . . . . . . . . 482 2.4 Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen (Q) . . 482 3. Die Seligpreisungen als Teil des Lukasevangeliums (Lk 6,20–23) . . . . 486 4. Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums (Mt 5,3–12) . . 488 4.1 Der ethische Kern der Seligpreisungen . . . . . . . . . . . . . . . 488 4.2 Die Kontur Gottes in den matthäischen Seligpreisungen . . . . . 501 5. Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität . . . . 502 5.1 Jesu Ethik (Q1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 5.2 Anthropologische Aspekte (Q1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 5.3 Zum Gottesbild (Q1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 5.4 Jesu Ethik (Q2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 5.5 Weitere Reflexionsstufe (Q3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 5.5.1 Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 512 5.5.2 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 5.6 Q-Redaktion (Q4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 5.7 Aufruf zu entwaffnender Kreativität (LkRed) . . . . . . . . . . . . 515 5.8 Antithesen (MtRed) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 5.8.1 Die Ethik der 5. und 6. Antithese . . . . . . . . . . . . . . 516 5.8.2 Theologische Aspekte der 5. und 6. Antithese . . . . . . 520 6. Markus als Quelle von Jesusworten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 6.1 Das Wort vom Salz und vom Frieden (Mk 9,50) . . . . . . . . . . 522 6.1.1 Kontext und literarische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . 522 6.1.2 Markinische Friedensethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 6.2 Das Wort vom Herrschen und vom Dienen (Mk 10,41–45) . . . 524 6.2.1 Kontext und literarkritische Aspekte . . . . . . . . . . . . 524 6.2.2 Markinische Dienstethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525

Inhalt

6.3 6.4 6.5

15

Das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–31 parr) . . . . . . . . . . 526 6.3.1 Literarisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 6.3.2 Die markinisch-jesuanische Liebesethik . . . . . . . . . . 527 Die Barmherzigkeit Jesu als Rückseite des Gerichts . . . . . . . . 529 Jesu Endzeitrede nach Markus als Offenbarung von Gottes Gericht und Barmherzigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 534

7. Die Kreuzigung und das Kreuz. Das gewaltsame Ende des Gottessohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 7.1 Die Wertung der Kreuzigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 7.2 Traditions- und literargeschichtliche Bemerkungen zur Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 7.3 Anthropologische Aspekte in der älteren Passionsgeschichte . . . 554 7.3.1 Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 7.3.2 Der Hoherat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 7.3.3 Weitere Prozessteilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 7.3.4 Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 7.3.5 Pilatus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556 7.3.6 Die Soldaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 7.3.7 Die Getreue von Bethanien und Joseph von Arimathäa . 557 7.3.8 Jesus, der neue Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 7.4 Das Gottesbild in der älteren Passionsgeschichte . . . . . . . . . . 559 7.5 Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung der älteren Passionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 7.5.1 Die markinische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 7.5.2 Die paulinisch-lukanische Tradition . . . . . . . . . . . . 578 7.6 Ethische Implikationen der Abendmahlstradition . . . . . . . . . 580 8. Der Römerbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584 8.1 Gottesbild und Menschenbild (Röm 1–3) . . . . . . . . . . . . . . 585 8.2 Christologie und Soteriologie (Röm 4–7) . . . . . . . . . . . . . . 590 8.3 Soteriologie und Anthropologie (Röm 8) . . . . . . . . . . . . . . 595 8.4 Gottesbild und Ethik (Röm 12–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 9. Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes . . 604 9.1 Literarische Integrität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 605 9.2 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 9.3 Das Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 9.3.1 κράτος / kratos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 9.3.2 δύναμις / dynamis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616 9.3.3 ἐξουσία / exousia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 9.3.4 Gottes präfinale Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629

16

Inhalt

9.4

9.3.5 Gott als Krieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630 9.3.6 Die Parteinahme Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632 9.3.7 Gottes Ambiguität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 9.3.8 Gottes Macht, die Böses in Gutes wandelt . . . . . . . . . 636 Ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

Zusammenfassung: Gottesbild, Menschenbild und Handlungsorientierung im Blick auf die Gewaltfrage im AT und NT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685

Vorwort

Der Bibel wird von manchen Kritikern vorgeworfen, sie rechtfertige und ver­ herrliche gar Gewalt und sei als religionsbegründende Urkunde daher ungeeig­ net, den Weltfrieden zu fördern. Allzu leicht fällt dabei auch der Verweis auf die Kirchengeschichte. Nun sind Gewalt rechtfertigende und verherrlichende Texte vor allem im Alten Testament nicht zu bestreiten. Besonders brisant wird es, wenn Gott selbst aktiv in die Gewalttätigkeit eingebunden ist. Selbstverständlich sind solche Texte deut­ lich zu markieren und distanziert zu betrachten. Die Distanz ergibt sich aus der Berücksichtigung der geschichtlichen Situation, speziell des antik-vorderorien­ talischen Denkens, und aus der Perspektive des neutestamentlichen Friedens­ kerygmas. Insgesamt gesehen allerdings greift der Vorwurf der Gewaltförderung zu kurz. Im Gegenteil: Die Bibel entwirft auch Strategien der Gewaltminderung, der Ge­ waltvermeidung und der Gewaltüberwindung. Das geht einher mit einem Gottes­ verständnis, das Gott nicht nur als den Herrn Israels, sondern aller Völker sieht, nicht im Sinne einer Kolonialisierung derselben, sondern als ein Aufgehobensein der Völker unter einem neuen Himmel und auf einer neuen Erde. Das ist das Globalkerygma der Bibel, innerhalb der Bibel immer wieder neu zur Disposition gestellt und diskutiert. Die Arbeit möchte das Globalthema herausheben und, in literargeschichtlicher Betrachtung der einzelnen Texte, gelegentlich auch den intra- und intertextuellen Diskussionsprozess aufzeigen. Dabei kommen narrative Passagen und Gesetzestexte ebenso zum Zuge wie poetische und prophetische Texte. Die Psalmen lasse ich unberücksichtigt. Sie haben eine gute Bearbeitung bereits erfahren sowohl in der Monographie von E. Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994 als auch in dem Aufsatzband von K. Liess, J. Schnocks (Hg.), Gegner im Gebet. Studien zu Feindschaft und Entfeindung in den Psalmen, Freiburg 2018. Die Arbeit ist ein Produkt der Friedensdekade 2000–2010, und hier besonders aus der Gemeindearbeit in meiner damaligen Kirchengemeinde Elstorf heraus entstanden. Intensive Gespräche und motivierende Ermutigungen haben mich veranlasst, den Komplex tiefgehend zu bearbeiten und meine Gedanken zu Papier zu bringen. Zu danken habe ich dem Verlag Vandenhoeck und Ruprecht für die Aufnahme der Studie in sein Programm. Besonders verbunden bin ich dem Programm­leiter für Theologie und Religionswissenschaften, Herrn PD Dr. theol. habil. Izaak de Hulster, der, von der Wichtigkeit des Problemkreises überzeugt, mich immer wie­

18

Vorwort

der ermutigt hat, die Veröffentlichung voranzubringen. Mein Dank gilt auch der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, hier Herrn Oberlandeskirchenrat Dr. h ­ abil. Klaus Grünwaldt und Herrn Träder, für die Gewährung eines Druckkosten­ zuschusses, zeigt sie doch die Verbundenheit im Dienst des Wortes, das sowohl predigend wie auch lehrend seinen Weg nimmt. Magdeburg, am Reformationstag 2020

Günter Scholz

Teil 1: Altes Testament

Einleitung

Die Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel ist eine Frage der Theologie, Anthropologie und Ethik des Alten und des Neuen Testaments. Dass ethische Maximen nicht ein für allemal festliegen, sondern einem historischen Wandlungsprozess unterworfen sind, versteht sich. Das gilt insbesondere für das Alte Testament mit seiner Überlieferungsgeschichte, weniger für das Neue Testament mit seiner Verschriftlichung von knapp 100 Jahren. Wenn der Ethik also nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches eigen ist, ist sie damit freilich nicht beliebig. Biblische Ethik ist orientiert am Gottesbild1. Der Gottesbezug der Ethik ist an den zehn Geboten („Ich bin der Herr, dein Gott: Du sollst …“) ebenso abzulesen wie am Heiligkeitsgesetz („Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott“) und an der Verkündigung Jesu: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ Er ist in der prophetischen Verkündigung (Jer 9,23: „… wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der Herr.“) ebenso vorhanden wie in der Predigt der Apostel (1.Thess 4,3: „… das ist der Wille Gottes, eure Heiligung …“; 1.Tim 2,3 f: „… wohlgefällig vor Gott …, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden …“). Natürlich ist auch das Gottesbild nicht statisch. Zwischen Moses’ Lobgesang nach dem Durchzug durchs Schilfmeer (Ex 15,3: „Der Herr ist der rechte Kriegs­ mann“) und dem „Gott des Friedens“ der Paulusbriefe (Röm 15,33; 2.Kor 13,11; Phil 4,9; 1.Thess 5,23), der der Grund des Friedenshandelns in der Gemeinde (Röm 14,19) und darüber hinaus ist (Röm 12,18), liegen Welten. Und doch ist die Botschaft der Bibel, dass es ein und derselbe Gott ist; dass der Gott Abrahams auch der Gott Jesu ist; dass er in vielen Bildern ein Gesicht hat und sich durch die Zeiten hindurch treu bleibt2. Die Bilder in ihrer Zusammenschau lassen Kontu­ 1 Das gilt unabhängig von der Frage, ob man profane Rechtsprechung mit Sanktionen als Ursprung aller späteren, auf Überwindung gesellschaftlicher Verwerfungen zielenden Ethik ansieht (E. Otto in seiner Theologischen Ethik des Alten Testaments). Spätestens wenn dieses Ethos „zum Einfallstor der theologischen Legitimation“ der Rechtsüberlieferungen wird (a. a. O., S. 103), ist der Gottesbezug gegeben und nicht mehr wegzudenken. 2 F. Hartenstein spricht im Anschluss an W. Zimmerlis Begriff der „Selbigkeit“ Jahwes von „Gottes erwiesener Identität im Wandel“ („JHWHs Wesen im Wandel“ in: ThLZ 137/2012, Sp. 11). Vgl. auch Chr. Frevel, „Der Gott Abrahams ist der Vater Jesu Christi. Zur Kontinuität und Diskontinuität biblischer Gottesbilder“ in: Ders., Gottesbilder und Menschenbilder. Studien zur Anthropologie und Theologie im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 75–96, bes. S. 84 (= Ders., desgl. in: R. Göllner (Hg.), Das Ringen um Gott. Gottesbilder im Spannungsfeld von subjektivem Glauben und religiöser Tradition, Münster 2008, S. 27–48).

22

Einleitung

ren des Gesichtes Gottes hervortreten, das sich dann in Jesus Christus vollständig offenbaren wird. Ziel dieser Untersuchung ist ein Nachzeichnen der Konturen des einen Gesichtes Gottes, wie es sich aus den Bildern ergibt; anders ausgedrückt: eine theologische Durchdringung der Gewalt-Tätigkeit Gottes3 in Verbindung mit entsprechenden ethischen Implikationen. Aus der Perspektive der Ethik heißt das: Wenn es um die Frage von Gewalt, Ge­ waltbegrenzung und Gewaltüberwindung in der Bibel geht, ist das Gottesbild als ethischer Bezugspunkt explizit oder implizit immer mitgegeben. Dem Gottesbild korrespondiert ein Menschenbild. Der Mensch als Handelnder ist festgelegt durch seine Bestimmtheit (durch die Sünde) und durch seine Bestimmung (zur Frei­ heit der Kinder Gottes)4. Wenn christliche Ethik sich als „handlungsorientierter Glaube“ (G. Strecker) versteht, bewegt sie sich im Raum der theologischen Anthropologie, d. h. im Raum dessen, was dem Menschen aufgrund seiner Beschaffen­ heit möglich ist, und dem, was er nach dem Willen Gottes sein kann bzw. tun soll. In diesem Raum artikuliert sich auch das Verhältnis zur Gewalt. So greifen Theologie, Anthropologie und Ethik ineinander, wiewohl sie in den einzelnen Texten nicht immer gleichermaßen gewichtet werden und zum Aus­ druck kommen. In jüngerer Zeit hat Johannes Schnocks eine Untersuchung mit ähnlicher Ziel­ richtung vorgelegt: Das Alte Testament und die Gewalt – Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen (2014). Wie der Titel zeigt, liegt der Schwerpunkt bei ihm auf der innerbiblischen und frühjüdischen Rezeption der Texte in ihrer Endgestalt. Auch unter dieser Perspek­ tive ergeben sich teils heilsame, teils verstörende Gottesbilder und entsprechend unterschiedliche Handlungsorientierungen. In meiner Arbeit möchte ich nicht in die Weite der Rezeption ausgreifen, sondern in die „archäologische“ Tiefe der Texte einsteigen, um auch hier verschiedene Gottesbilder und Handlungsorien­ tierungen ans Tageslicht zu holen. Der Aufbau erfolgt, um einer schwierigen literaturgeschichtlichen Debatte zu entgehen5, nach systematischen Gesichtspunkten. Datierungen werden nur, wo notwendig und gesichert, vorgenommen. Zu Beginn geht es um Gott und den 3 Ich spreche von Gewalt als einem Tätigkeitsmerkmal Gottes – sei es power, violence oder arbitrariness –, das sich jeder Verurteilung entzieht; daher „Gewalt-Tat“. Es gibt auch die gegen­ läufige Bewegung: Sich-in-den-Arm-Fallen. 4 In der Unterscheidung zwischen (ursprünglicher und eschatologischer) Bestimmung des Menschen und seiner realen Bestimmtheit durch die Sünde folge ich W. Härle, Dogmatik, Ber­ lin, New York ²2000, S. 477–480. Ich habe die Dialektik von Bestimmung und Bestimmtheit des Menschen entfaltet im Zusammenhang mit meinen Überlegungen zur Grundlegung des modernen Freiheitsgedankens (G. Scholz, „Zur Freiheit berufen. Eine biblische Grundlegung des modernen Freiheitsgedankens“ in: J. Grešo, M. Klátik [Hg.], Radost’ z teológie [Freude an Theologie] [FS Igor Kišš zum 70. Geb.], Bratislava 2004, S. 196 ff). 5 Vgl. dazu K. Schmid, „Literaturgeschichte des Alten Testaments“ in: ThLZ 136/2011, S. 244 ff.

Einleitung

23

Menschen im Lichte der Gewalt, danach wende ich mich dem Thema „Gott und das Volk“ zu, und schließlich geht es unter dem Thema „Gott und die Völker“ um globale Konsequenzen. – Neben kursorischer Lektüre empfiehlt sich alternativ auch das Lesen einzelner Kapitel.

1. Gott und der Mensch 1.1 Kains Brudermord (Gen 4,1–16) 1.1.1 Quellenbezogener Kontext Die Geschichte von Kain und Abel fügt sich als eigene, in sich geschlossene Er­ zählung dem narrativen Kontext der Urgeschichte ein1. In deren narrativen Teilen ist die Komplementarität von Theologie und Anthropologie besonders gut zu er­ kennen: Leben als Gabe Gottes (Gen 2,7), Aufgabe als Gottes Auftrag (Gen 2,15), Ordnen und Beherrschen der Tierwelt im Namen Gottes (Gen 2,19 f), Geborgen­ heit unter dem Gebot und in der Fürsorge Gottes (Gen 2,16 f.18.21 f); in der Ge­ schichte vom Sündenfall wird die Freiheit des Menschen Gegenstand der Reflexion. Freiheit wird beschrieben als Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen Gott. Durch die Emanzipation von Gott wird die ursprüngliche Bestimmung zur Frei­ heit verdunkelt, weil die Sünde Platz gegriffen hat und von nun an den Menschen bestimmt. Dennoch bleibt Gottes Fürsorge (Gen 3,21) und sein lebensdienliches Gebot (Gen 3,22) erhalten. In diesen theologisch-anthropologischen Kontext gehört auch die Erzählung von Kains Brudermord. Hier geht es um die Auswirkung der Sünde, um Gewalt.

1.1.2 Das Gottesbild Die Geschichte von Kain und Abel ist, auch im Blick auf die Tätigkeit Gottes, eine Entscheidungsgeschichte. Mit der ersten Entscheidung in dieser Erzählung, die bezeichnenderweise eine Entscheidung Gottes ist, beginnt die Spannung: „Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an“ (4,4b.5a). Mit dieser Entscheidung des Herrn ist kein Werturteil über den einen oder anderen getroffen. Was hier theologisch gesagt wird, ist dies: Bei Gott ist absolute Freiheit. Gott ist absolut frei in seinen Entscheidungen. Sie sind nicht hinterfragbar, erklärbar oder deutbar im Sinne einer Reaktion oder eines Werturteils2. Bei Gott ist Gnade und Ungnade. Er verbindet beides in sich. Und 1 Ich spreche vom narrativen Kontext im Unterschied zu P. Dabei sei dahingestellt, ob wir es mit Einzeltraditionen zu tun haben oder mit einer bereits redigierten Quellenschrift. Vieles spricht für Letzteres. 2 Das jeweilige Opfer entspricht in der Erzählung ganz der Art der jeweiligen Landwirt­ schaft. Abel opfert als Schäfer „von den Erträgen seiner Herde“, Kain als Ackerbauer „von den Früchten des Feldes“. Es trifft nicht die Intention der Erzählung, im unblutigen Opfer Kains

Kains Brudermord 

25

er verteilt das eine wie das andere aus sich heraus absolut frei und unhinterfrag­ bar. Dieses Gottesbild gehört zu seinem unverwechselbaren Gesicht; es zieht sich durch den Pentateuch: in Ex 3,14 die Vereinigung der Gegensätze in der Selbstvor­ stellung Gottes: „Ich bin, der ich bin“; in Ex 33,19 (P) lässt der Herr Mose wissen: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“.3 Kains Gesicht sieht demgegenüber anders aus: „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick“ (4,5b). Es ist die Finsternis, die sich in ihm ausbrei­ tet und in seinem Gesicht ihren Ausdruck findet. Es ist die Verdunkelung seiner Bestimmung durch die „Sünde“, die stets „vor der Tür lauert“ (4,7), um ihn zu besetzen und zu bestimmen. Kain ist frei, sich zu entscheiden. Ist Freiheit eine an­ thropologische Kategorie, so wird doch auch hier wieder deutlich, dass sie mit der theologischen Kategorie des Zuspruchs und Anspruchs Gottes auf Kains Leben verbunden ist. Gott lässt Kain nicht allein in der Entscheidung, er spricht ihn an. Er spricht ihn an auf seine Bestimmung, frei zu sein. Diese Bestimmung kann er leben in der Bindung an Gott („Wenn du fromm bist …“ [4,7]). Es ist Zuspruch: Kain kann es, wenn er will. Gottes Mit-Sorge in dieser Situation schließt die Warnung vor der Fremd-Bestimmtheit durch die Sünde ein („Bist du aber nicht fromm …“ [ebd.]). Die Sünde will Kain beherrschen, sie hat „Verlangen“ nach ihm (ebd.). Auch sie erhebt Anspruch auf sein Leben. Anspruch und Zuspruch Gottes kommen zusammen in seiner Weisung: „Du aber herrsche über sie.“ Damit betont Gott auch die fortdauernde Bestimmung Kains zur Freiheit4. Die zweite Entscheidung in dieser Geschichte trifft Kain. Er öffnet der Sünde die Tür. Nun ist er nicht mehr frei, sondern von der Sünde besetzt und bestimmt: Die Tötungsabsicht setzt Täuschung voraus, dann erfolgt der Tötungsakt Kains, und dieser zieht wiederum Auflehnung gegen Gott bzw. gegen den von ihm ge­ bereits dessen „ganz und gar unableitbare Sünde“ zu finden (gegen K.-P. Jörns, „Religiöse Un­ verzichtbarkeit des Opfergedankens?“ in: B. Janowski, M. Welker [Hg.], Opfer, Frankfurt 2000, S. 316). Diese Fehldeutung ruht letztlich auf der Gesellschaftstheorie René Girards auf, wonach Rivalität ein menschliches und damit auch gesellschaftliches Existential sei, das in der Fixierung eines Sündenbocks und dessen Opferung die Rivalität transzendiere hin zu einem geeinten Kol­ lektiv (Das Ende der Gewalt, Freiburg 1983, S. 37–41). N. Lohfink trägt Girards Hermeneutik an die Geschichte von Kain und Abel heran und kommt so zu sachfremden Thesen: Er stellt die Brüder per se als „Rivalen“ dar, was sie in der Geschichte aber nicht sind. Und wenn sie es wären, wo ist der Sündenbock? – Nach Girard wird Rivalität durch das Blut des Sündenbocks gedämpft. Weil Abels Opfer blutig sei, erreiche es sein Ziel, so folgert Lohfink in Anlehnung an Girard. „Abel wird friedfertig und verträglich. Auf Kain und sein Opfer schaut Gott nicht. Hier ist kein Blut geflossen …“ (N. Lohfink, „Das Alte Testament: Aufdeckung und Krise der Gewalt“ in: Bibel und Kirche 37/1982, S. 41). 3 Auf die absolute Freiheit in Gottes Wesen weist anhand der genannten Bibelstellen auch C. den Hertog hin (The Other Face of God, Sheffield 2012, S. 320; vgl. auch die Rezension von R. Albertz in: ThLZ 138/2013, Sp. 945 ff). 4 „Herrschen“ ist Zeichen verantwortungsgeleiteter Freiheit (vgl. Gen 1,28 [P]; 2,19 f [in narrativer Form]).

26

Gott und der Mensch

gebenen sozialen Auftrag („… Hüter sei …“ [4,9]) nach sich. Anthropologisch gesprochen geht es um den Versuch, das Gewissen abzutöten, was aber nicht geht. Es spricht weiter, umso stärker. Theologisch gewendet: Gott spricht umso lauter und Rechenschaft fordernd: „Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde“ (4,10). Noch im Tod schreit das Leben nach Rechtsbeistand bei Gott5. Das Leben gehört Gott, es ist ver-liehen (Gen 2,7), und Kain hat „in Gottes eigenstes Besitzrecht“ eingegriffen6. Nicht nur das Leben, Gott selbst ist durch den Mord getroffen. Die Reaktion des getroffenen und nach Recht und Beistand angerufenen Gottes ist wieder absolut frei, wie es dem Herrn über Leben und Tod gemäß ist: Er gibt dem Leben den Vorzug vor dem möglicherweise gerechten Tod. Er lässt Kain am Leben, jedoch überlässt er ihn der selbst gewählten Gottesferne und unterstreicht das durch den Fluch. Dieser Fluch ist Segensentzug und bedeu­ tet hier Vergeblichkeit der Arbeit – hierin bekommt das in die Erde geflossene Blut sein Recht – und Ruhelosigkeit7. Der am Leben Gebliebene und Verfluchte wird auf seiner Flucht vor den Folgen der Sünde immer wieder von dieser eingeholt und muss die letzte Konsequenz aus ihr, den das Recht wiederherstellenden Tod für sich fürchten (4,14). So erklärt sich Kains Aufschrei: „Meine Strafe / Schuld ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte“ (4,13)8. In seiner Gottferne bleibt Kain klagend bei sich selbst und seiner Befindlichkeit, ohne einen Hilferuf an Gott zu richten, etwa im Sinne des Psalms 38,5.16 oder des Psalms 40,13 f. Dennoch überlässt Gott den Zusammengebro­ 5 „Das ungesühnte Blut hat noch die Macht des Lebens in sich“ (H. Seebass, Genesis I, Neu­ kirchen-Vluyn 1996 S. 155). 6 G. v. Rad, Das erste Buch Mose – Genesis, Göttingen 121987, S. 77. 7 Segen umfasst nach den Schöpfungsberichten: Fruchtbarkeit (Gen 1,28) und Lust zu le­ ben (Gen 2,9; 3,6), nach anderen Texten auch das Bleiben im Land (Ex 20,12) und Ruhe vor den Feinden (Jos 21,44 vgl.1,13 u. Dtn 12,10; Ri 3,11; 5,31; 2.Sam 7,1; 1.Kön 5,18; Jes 32,18; Jer 31,2; Wiederaufnahme des Motivs im Hebr.), kurz: Schalom. – Dementsprechend ist Fluch Unfrucht­ barkeit des Ackerlandes (Gen 4,12), Lebenslast (Gen 3,16 ff), Leben auf der Flucht (Gen 4,12), kurz: Feindschaft zwischen dem Menschen und seiner Lebenswelt (Gen 3,15). 8 Luther übersetzte: „Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge“ (1545/1912). Der zugrunde liegende Text lautet wörtlich: „Mein ‫’( עָ ֺון‬āwōn) ist zu schwer zu tragen. ‫’( ָעֺון‬āwōn) ist die Schuldenlast, die, da sie gerade auch ihre Last inkludiert, zugleich Strafe ist. So kommt es in der deutschen Übersetzung zu einer Diastase von Schuld und Strafe. „Tragen“ (‫ נָ ָשׂא‬/ nāšā) kann auch die Bedeutung „wegtragen“, „wegnehmen“ annehmen und somit in diesem Zusammenhang zu „vergeben“ tendieren. „Schuld“ zieht die Übersetzung „vergeben“ nach sich, „Strafe“ die Übersetzung „tragen“. Das Verb steht im Text im Infinitiv Kal, was dem Infinitiv Aktiv entspricht. Von daher legt sich die Beziehung zu Kain nahe, also wie in der jetzt gültigen Lutherübersetzung (2017). Andernfalls wäre ein Infinitiv Nifal, was dem Infinitiv Passiv entspricht, zu erwarten gewesen. Der Nifal-Stamm dieses Verbs ist durchaus belegt, hätte dann wohl auch hier stehen müssen, wenn Gott das handelnde Subjekt gewesen wäre. – Zur Über­ setzung und Deutung von Gen 4,13 vgl. auch G. Kittel, „Die Folgen der Sünde und das Geschenk des neuen Lebens“ in: V. Hampel, R. Weth (Hg.), Für uns gestorben, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 119 f.

Kains Brudermord 

27

chenen nicht sich selbst, sondern wendet sich ihm, dem Täter, schützend zu. Der zu befürchtenden Blutrache an Kain setzt der Herr ein klares „Nein“ entgegen (4,15). Denn er ist kein gewalttätiger Rächer, und er will auch von niemandem die Blutrache vollzogen wissen. Darum setzt er mit einem besonderen Schutzzeichen, dem Kainsmal9, einen Wendepunkt von fortzeugend sich selbst hervorbringender Gewalt hin zum Leben-Lassen des Sünders. Dies darf wohl als konstitutiver Zug im Wesen und Wirken Jahwes, des Herrn, angesehen werden. Denn schon Adam und Eva leben fort als umsorgte Sünder (Gen 3,16–21), was Jahwe menschheits­ geschichtlich noch einmal bestätigen wird (Gen 8,21 f). In diesem Gottesbild wird das Gesicht Gottes transparent als das des Vaters Jesu Christi und des Kyrios, den Paulus als den erfahren hat, der den leben lässt, der glaubt.

1.1.3 Ethische Implikationen Moralische Entscheidung vollzieht sich in der Spannung von Bestimmung und Bestimmtheit. In diese Spannung ist Kain hier hineingestellt. Soll er Gottes unergründliche Entscheidung hinnehmen oder nicht? Die Geschichte charakterisiert Hinnahme als „Frömmigkeit“, als Gut-Handeln10, als Leben im Einklang mit Gott, als Frei­ heit. Darin wird die Einheit von Existenzbestimmung, also Bestimmung zur Frei­ heit, und ethischer Forderung deutlich: „Ist es nicht so? Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken“ (4,7). Rechtes Handeln ist Anerkennung der Entschei­ dung Gottes, auch dann, wenn einem selbst durch diese Entscheidung die An­ erkennung verwehrt wird. Rechtes Handeln ist Hinnehmen dessen, was nicht zu ändern ist, Sich-Fügen, Demut. Hier gewinnt die Theodizeefrage anthropologisch-ethische Relevanz: Kain / der Mensch muss mit der Unabänderlichkeit der Gottesentscheidung leben können. Er muss lernen, „dass der einzelne Mensch und sein je eigenes Schicksal keinen Anspruch darauf haben, Orientierungsgröße göttlichen Handelns zu sein“11. Nach der Ursünde, der Emanzipation des Menschen von Gott, ist die Sünde als Macht, sogar in personifizierter Form (sie „lauert“ vor der Tür und hat „Verlangen“ nach dir [4,7]), stets bedrohlich präsent. Aber un-rechtes Handeln ist nicht un­ ausweichliches Schicksal. Kain wird für sein Handeln selbst verantwortlich sein. 9 Israel kennt zwei Arten von Kultmarken, die es als unter Gottes Schutz stehend ausweisen: Einschnitte und Tätowierungen. Die bekannteste und übliche ist die Beschneidung. Aber auch von einer Tätowierung als Zeichen der Zugehörigkeit zu Jahwe ist in Jes 44,5 die Rede. Hierunter fällt auch das Kainszeichen als besonderer einmaliger, Gewalt durchbrechender Akt Gottes, nicht zuletzt deshalb, weil das Gesetz für Mörder keine Asylstadt kennt. 10 ‫ם־תּ ִט ִיב‬ ֵ ‫ ִ א‬/ ’im-tētīb ist als Hifil-Form auf das Gut-Handeln bezogen im Gegensatz zum Kal, welches das Gut-Sein bezeichnet. 11 A. Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel, Zürich 2006, S. 185.

28

Gott und der Mensch

Er kann sich für die Hinnahme entscheiden, damit für die Freiheit und so seiner Bestimmung nachkommen. Diese Entscheidung will gegen die Sünde errungen sein: „… du aber herrsche über sie“ (4,7). Die Geschichte schildert die Bestimmtheit Kains durch die Sünde. Darin schil­ dert sie illusionslos den Normalfall menschlicher Existenz, ohne aber je die indi­ viduelle Verantwortung für die jeweilige Entscheidung und die aus ihr resultie­ rende Tat aufzuheben. Die Verantwortung kann durch niemanden wegdiskutiert werden – Kain versucht es: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ –, denn sie geschieht vor Gott. Die Verantwortung kann auf niemanden abgeschoben wer­ den, denn „du“ hast es getan (4,10), so Gottes Urteil. Es ist deutlich: Dieser Text entwirft eine Ethik auf der Grundlage des vor Gott verantwortlichen Ich, eine theologische Ethik12. Diese Ethik entwickelt hier auch eine spezielle Position zur Gewalt. Gewalt hat ihre Vorbedingungen: das Gefühl des Zurückgesetzt-Seins (4,4) und eine daraus resultierende Aggressivität – hier ist das Einfallstor der „Sünde“ (4,5). Aber – so wird gesagt – Aggressivität muss nicht zwangsläufig zur mörderischen Gewalt­ tat führen. Der frei entscheidende und selbst verantwortliche Mensch kann sich selbst in den Arm fallen und diese verhindern. Es besteht sogar das Gebot, sie zu verhindern: „… du aber herrsche über sie“. – Kains Gewalttat, der kalt geplante (4,8a) Brudermord, wird als Sünde charakterisiert. Er ist Sünde, weil er sich gegen das von Gott geschenkte Leben („Blut“ [4,10]) und damit gegen Gott selbst richtet; er ist Sünde, weil er sich gegen Gottes unhinterfragbare Entscheidung (4,4 ff) rich­ tet; er ist Sünde, weil Kain sich an Gottes Statt zum Herrn über Leben und Tod macht. Die theologische Ethik dieser Geschichte verurteilt eine derartige Gewalt­ tat. Sie betont, dass offene Rebellion gegen Gottes momentanen Gnadenentzug in fortzeugende Sünde (kaltblütiger Brudermord und zynische Zurückweisung des Anspruchs Gottes) führt und in fortdauerndem Segensentzug endet. Sie ruft den Tun-Ergehen-Zusammenhang ins Gedächtnis: Das Blut, das die Erde tränkt, wird diese zu einer für Kain „verfluchten“ Erde machen. Der Zusammenhang von Tat und Tatfolge steht hier nicht „dogmatisch“, isoliert vom Gottesbild, sondern er steht im Zusammenhang mit der Parteilichkeit Gottes für das Opfer. – Die Geschichte benennt und verurteilt Gewalttat aber nicht nur, sie sucht auch nach einem Weg aus der Gewalt durch Gewaltbegrenzung. Sie zeigt eine neue Möglich­ keit auf, den Zusammenhang von Tat und Tatfolge zu transzendieren und damit die Vergeltungskette zu durchbrechen. Der neue Weg ist in Gott aufgehoben und geht von ihm aus: Es ist bei aller Parteilichkeit für das Opfer auch der Täterschutz. Gottes Handeln fordert zu entsprechendem Umdenken heraus, zum Verzicht auf Blutrache13 (4,15). Bezogen auf die kulturelle Entwicklung der Menschheit schlägt 12 So auch Klara Butting, „Abel steh auf!“ in: Bibel und Kirche 58/2003, S. 17. 13 Das Gesetz der Blutrache besagt: Wer einen Menschen mit voller Absicht tötet, der soll von einem dem Getöteten Nahestehenden („Bluträcher“) ebenfalls getötet werden (Num 35,

Die Sintflut 

29

sich hier ein Erkenntnisfortschritt nieder: Man beginnt zu erkennen, dass Rache und damit Gewalt kein Lebensprinzip sein kann. Die Geschichte kann nur in die Richtung eines heilvollen Lebens weisen. Die biblische Anthropologie weiß indes darum, dass das Ziel noch lange nicht er­ reicht ist. Laut Priesterschrift brüstet sich fünf Generationen später ein Nach­ komme Kains, Lamech, damit, schon eine erlittene Wunde oder Beule habe er mit dem Tode gerächt. Zur Unangemessenheit dieser Form der Bestrafung kommt noch, dass er Gottes Willen auf den Kopf stellt: Sollte die siebenfache Rache Kains die Gewaltspirale unterbrechen, so wird sie durch Lamechs Maßlosigkeit in die Höhe getrieben: „Kain soll siebenmal gerächt werden, aber Lamech siebenund­ siebzig mal“ (Gen 4,24). – Offenbar kannte P die voraufgehende Erzähltradition. In der direkten Hintereinanderschaltung sagt die Bibel: Der scheinbar prak­ tikable Weg der Gewaltbegrenzung führt immer wieder ins Aus, nicht weil er schlecht wäre, sondern weil die, die ihn gehen, immer wieder davon abgleiten. Ca. 500 Jahre später wird Jesus einen ganz anderen Weg gehen, den Weg der Vergebung. Er ist davon überzeugt, dass dieser als Weg des Gewaltverzichts dem Weg der Gewaltbegrenzung bei weitem überlegen ist. Darum antwortet er dem Petrus auf dessen Frage, wie oft er denn vergeben müsse, in Anspielung auf die Kain-Lamech-Geschichte: „Nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal“ (Mt 18,22).

1.2 Die Sintflut (Gen 6,5–9,17) 1.2.1 Literarkritische und strukturelle Bemerkungen Die Sintflutgeschichte ist in zwei ineinander verflochtenen Versionen überliefert, einer priesterlichen (P) und einer nichtpriesterlichen Erzählung (N)14. Das bietet im Blick auf die Gottesoffenbarung und im Blick auf die Ethik der Gewaltbe­ schränkung große Chancen. Lässt sich aus ggf. unterschiedlichen Gottesbildern ein gemeinsames Profil erkennen, das dann das Gesicht Gottes hervorscheinen lässt? Welche Ziele verfolgen die beiden Erzählungen? Und weiter: Wo stehen die Texte im Blick auf die menschliche Gewaltproble­ matik? Beschreiben sie nur in realistisch-desillusionierender Weise ein anthropo­

16–21; vgl. Lev 24,21). Dtn 27,24 fügt dem noch das Motiv der Heimlichkeit hinzu, das sich auch in Gen 4,8a findet. Blutrache entspricht dem Grundsatz der Angemessenheit (vgl. Ex 21,23–25; Lev 24,19 f). Nach diesem alten Gesetz müsste Abels Blut gerächt, Kain also getötet werden. An­ drohung der siebenfachen Rache am Bluträcher ist faktisch das Ende der Blutrache als Rechts­ prinzip. Es wird durch das ius talionis, das ja auch die Todesstrafe kennt, abgelöst werden. 14 N steht für „narrativ“. Zur narrativen Form der nichtpriesterlichen Teile im Unterschied zu P vgl. auch A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 17; 256 f; 260; 273.

30

Gott und der Mensch

logisches Phänomen? Wird also Gewalt lediglich als Gewalt „entlarvt“ oder deutet sich auch eine Ethik der Begrenzung an?15 In der Frage der Quellenscheidung folge ich im Wesentlichen G. v. Rad16 und C. Levin17. Danach gehört zu P: Gen 6,9–22; 7,6.11.13–16. 17b.18–19; 8,1–2a. 3b. 4–5.7.13a. 15–19. Der P zeitlich voraufliegenden Erzähltradition18 ist zuzurechnen: Gen 6,5–8; 7,1–5. 7–10.12.16b (17a19). 22–23; 8,6a.2b.3a.6b; 8,­8–12.13b.1420.20–22. Außerdem muss 9,4–6 als späterer Einschub, der sich durch Stichwortzusammen­ hang erklärt21, zunächst unberücksichtigt bleiben. Strukturell besteht die Sintflutgeschichte aus einem Prolog (6,5–13) und einem Epilog (8,21–9,17), dazwischen der Hauptteil. Dabei sind im Prolog und Epilog jeweils die Quellen N und P klar aneinander gereiht (6,5–8: N, 6,9–13: P; 8,21–22:

15 N. Lohfink weist dem Alten Testament lediglich die Funktion der Entlarvung der Gewalt zu, ohne Strategien der Begrenzung zu sehen (a. a. O., S. 132; ebenso in N. Lohfink, R. Pesch, Weltgestaltung und Gewaltlosigkeit, Düsseldorf 1978, S. 52 ff). Das liegt an seinem (und darüber hinaus an einem weit verbreiteten) Gewaltverständnis, demzufolge das entschiedene Einschrei­ ten gegen Gewalt durch übertragene Macht mit Gewalttat gleichgesetzt wird (Weltgestaltung, a. a. O., S. 45). Hier ist M. Mühlings Differenzierung verschiedener Ebenen und Funktionen von Gewalt erhellend: Gewalt – als Positivum – konstituiert einerseits das Recht, andererseits wird sie – als Negativum – auch durch das Recht begrenzt (M. Mühling, Liebesgeschichte Gott: Systematische Theologie im Konzept, Göttingen 2013 [FsöTh 141], S. 334; vgl. auch die Unter­ scheidung von legitimer und illegitimer Macht bei I. Fischer, „Thematische Hinführung“ in: Dies. [Hg.], Macht – Gewalt – Krieg im Alten Testament, Freiburg 2013, S. 10 ff). Allerdings muss Lohfink zugeben, dass in der Exilszeit die Überwindung von Gewalt im Leiden des Got­ tesknechts als Möglichkeit und Verheißung anvisiert wird (Weltgestaltung, a. a. O., S. 58 ff). 16 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 85–101; teilw. abweichend A. Schüle, Der Pro­ log, a. a. O., S. 247 ff: z.B.7,5.7.9 zu P wegen Noahs Gehorsam; weitere Abweichungen erklären sich u. a. aufgrund der Ersetzung der J-Hypothese durch Annahme nichtpriesterlicher Fort­ schreibungen und Ergänzungen (a. a. O., S. 31; 259 f; 272 f). 17 C. Levin, Das Jahwistische Geschichtswerk (Analyse …, Stand August 2012), www.at1. evtheol.uni-muenchen.de/personen/levin/texte/jahwist.pdf (Zugriff: 4.7.2020). 18 Traditionell J genannt, aber bestehend aus „vorjahwistischen“ Überlieferungen und einer diese zusammenbindenden Redaktion (Levin). N. C. Baumgart verleiht ihnen das Siglum VPU („vorpriesterliche Urgeschichte“, Die Umkehr des Schöpfergottes, Freiburg 1999, S. 396). Ich nenne sie aufgrund ihres deutlich narrativen Charakters der Einfachheit halber N. 19 7,17a ist wohl redaktionelle Verknüpfung von N und P unter Wiederaufnahme von 7,12. 20 Aufgrund der Tageszählung vermute ich N: 7 Tage zwischen Fensteröffnung und erster Taube; „weitere 7 Tage“ bis zur zweiten Taube; noch weitere 7 Tage bis zur dritten Taube; ver­ mutlich weitere 7 Tage bis zur gänzlichen Trockenheit (= 27/28 Tage). 21 Im Allgemeinen wird die primäre Zugehörigkeit von 9,4–6 zu P nicht problematisiert. Jedoch sollte der unvermittelt legalistische Stil stutzig machen. Die Nahtstelle zwischen 9,3 und 9,4 ist durch „Allein“ (‫ ַ אך‬/ ’ach) unübersehbar. 9,5 redet nicht mehr im Konjunktiv von einer Segensgabe an „euch“, sondern in Form einer Willenskundgabe Gottes, eingeleitet durch ein aneinanderreihendes „auch“, „dazu“ (‫ וֽ ַאך‬/ w’ach). Die dritte Form (9,6) bildet der unpersönliche Rechtssatz, in dem Gott am Ende in der Er-Form erscheint. Einen deutlicheren Hinweis auf eine bearbeitende Hand – sei sie im Unterschied zur Grundschrift P(g) weithin P(s) genannt – kann es kaum geben.

Die Sintflut 

31

N, 9,1–17: P). Theologisch, anthropologisch und ethisch ergiebig sind im Wesent­ lichen Prolog und Epilog; darum wird auf den Hauptteil nur am Rand eingegangen.

1.2.2 Das Gottesbild von N Gott sieht den Einzelnen (Kain) – wenn auch dieser Einzelne typologisch für den Menschen steht – und die Welt (6,5). Sein „Sehen“ ist Zugewandtheit zu seiner Schöpfung, insbesondere zu den Menschen. Hier sieht er allerdings abgrund­ tiefe Bosheit: Gewalt (4,1–16), Größenwahn, Selbstvergöttlichung des Menschen (­6,1–4)22. Bosheit ist Angriff auf die Mitwelt und auf Gott selbst. Das führt zu Gottes Reaktion, den Menschen und mit ihm einen Teil der Tierwelt zu „vertilgen“. Auslöschen – die extremste Form von Gewalt! Gott will seine missratene Schöp­ fung vernichten23, sein eigenes Werk („die Menschen, die ich geschaffen habe“ [6,7; vgl. 7,4.23]) gewaltsam zerstören. Was für ein Gott, der Gewalt mit strafender Gewalt24 beantwortet, indem er gleich Mensch und Tier radikal ausrottet?! Nun wird man freilich bedenken müssen, dass dies kein willkürliches, un­ erklärbares Handeln eines Schreckensgottes ist, sondern Reaktion auf die „Bos­ heit“, auf das Böse, auf die Chaosmacht schlechthin, die sich gegen Gott erhebt. Angesichts solcher Bedrohung der Schöpfung durch das Böse rechtfertigt N die Gewalt in Gott. In aller strafenden Gewalt zeigt uns N den sich hinwendenden Gott. Denn Strafe ist mehr als „dem Gang der Dinge überlassen“ – wie bei P. Zugleich macht uns N aber noch mit einer anderen Bewegung in Gott vertraut: Wir bekommen Einblick „in sein Herz“ (6,6). In seinem Herz, d. h. in ihm sind zwei Bewegungen vereint: der Wille zur Gewalt-Tätigkeit (6,7: „ich will …“) und das Leiden am Menschen. Der gewalt-tätige Gott lässt in sich ein gegenläufiges Gefühl zu: Reue (6,6). Es ist nicht Reue über seinen Vernichtungsplan – wie später bei Jona (vgl.

22 Gen 6,1–4 zeigt durchaus noch die Ambivalenz des Gewaltigen. Die „übermenschliche Lebenspotenz“ (G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 84) ist zwar göttlichen Ursprungs, kann aber vom „Gewaltigen“ („Helden der Vorzeit“) zum Gewalttätigen kippen (Vgl. auch die Ambivalenz bei Sophokles’Antigone: πόλλα τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει [„Vieles Gewaltige lebt, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch“]) (Gr. Text aus der Wiedergabe von Karl Reinhardt, Kleine Vandenhoeck-Reihe 116/117, Göttingen 1961; Übersetzung von mir). 23 Dass der Vernichtungswille sich nicht nur auf den Menschen bezieht, sondern auch auf die Fauna, mag an der anthropischen Sicht des Erzählers (vgl. auch Gen 2,4b-25) liegen: Die ganze Schöpfung ist auf den Menschen hin angelegt und nichts mehr wert, wenn der Mensch nichts mehr wert ist. – B. Janowski hält freilich die Einbeziehung der Fauna in 6,7b mit M. Arneth für endredaktionell, was möglich, aber nicht nötig ist (B. Janowski, „Die Empathie des Schöpfer­ gottes“ in: I. Fischer u. a. [Hg.], Mitleid und Mitleiden, Göttingen 2015 [JBTh 30/2015] S. 52 Anm. 13). 24 ‫ ָ מ ָחה‬/ māchāh meint ein strafendes Austilgen (A. Schüle. Der Prolog, a. a. O., S. 274).

32

Gott und der Mensch

AT 3.12.2), sondern über den so geschaffenen Menschen25. Da diese Reue zugleich aber auch Leiden am Menschen impliziert („und es bekümmerte ihn in seinem Herzen“)26, haben wir es hier nicht mit einer actio, sondern einer passio Dei zu tun. Das Gegenteil vom Tun regt sich in Gott, und das Mit-Leiden findet seinen Niederschlag in der „Gnade“ (6,8). So entwickelt sich aus der passio eine ganz andere „Tätigkeit“ als die der Gewalt, das Walten-lassen von Gnade. So wird hier zum ersten Mal die Tatsache erzählerisch reflektiert, dass in Gott beides koinzi­ diert, Gewalt und Gnade, aber nicht so, dass das eine das andere aufhebt und Gott damit völlig gleichgültig dem Menschen und der Welt gegenüberstünde, sondern so, dass Gottes Zugewandtheit letztendlich nicht anders gedacht, erfahren und geglaubt werden kann denn als Gnade, worauf ja erzählerisch im Epilog auch die Versöhnung mit dem nach wie vor gewaltbereiten Menschen erfolgt (8,21). In seiner Untersuchung über „die Reue Gottes“ unterscheidet Jörg Jeremias unter sy­ stematischem Gesichtspunkt zwischen „Gottes ‚Reue‘ über eine schon vollführte Heils­ setzung“ – ich nenne sie „destruktive Reue“ – und „ ‚Reue‘ über einen Vernichtungs­ plan“27 – ich nenne sie „konstruktive Reue“. Diese Unterscheidung hat inhaltlich ihre Berechtigung. Das bedeutet aber nicht, dass die destruktive Reue Jahwes nicht ohne sein innerstes Mitleiden am durch und durch boshaften Menschen (6,6 f) bzw. am verwerf­ lichen Verhalten Sauls (1.Sam 15,11.35) zustande käme28. Die passio Dei, die hinter der destruktiven Reue steckt, sieht auch Jörg Jeremias im Anschluss an B. Jacob29. Sie liegt auch im Bedeutungsfeld von ‫ נִ ַחם‬/ nicham („bereuen“)30.

Der Epilog verschafft uns wiederum Einblick in Gottes Herz (8,21 vgl. 6,6). Hier – in Gott – koinzidieren Vernichtungswille und Bestandsgarantie. Hier ist das Zentrum eines Willens, dessen Richtung nicht von vornherein eindeutig ist (vgl. 6,7 mit 8,21: beide Male: „… ich will …“), dessen Kraft sich aber letztlich und endgültig hin entwickelt zur Akzeptanz des Menschen, wie er ist, und der dar­ aus folgenden Absage an diese Art von Gewalt-Tätigkeit. Und diese Absage wird positiv unterstrichen durch die feierliche Bestandsgarantie der im Grund guten Schöpfung (8,22). Perversion der Schöpfung durch den Menschen ist für Gott ein 25 Vgl. auch H. Seebass, a. a. O., S. 208 f: „Der Anthropomorphismus bezeugt Gottes leiden­ schaftliche Anteilnahme / Personhaftigkeit …“. Seebass erklärt den Kummer Gottes als „Leiden am Gericht“. So weit würde ich hier nicht gehen. 26 „es sich reuen lassen“ und „bekümmert sein“ „beschreiben ein und dieselbe Reaktion JHWHs“ (N. C. Baumgart, Die Umkehr des Schöpfergottes, Freiburg 1999, S. 137). K. Grünwaldt statt „bekümmern“ stärker: „er fühlte Schmerz in seinem Herzen“ (ders., „Wenn Gott nur einer ist …“ in: KuD 60/2014, S. 104). B. Janowski erkennt darin die „Empathie des Schöpfergottes“ (vgl. den gleichnamigen Aufsatz unter Anm. 23). 27 Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn ²1997, S. 6. – B. Janowski unterschei­ det in gleichem Sinn zwischen negativer und positiver Auswirkung der Reue („Die Empathie des Schöpfergottes“, a. a. O., S. 56). 28 Vgl. auch das stellvertretende Mitleiden Samuels in 1.Sam 15,35. 29 Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 25. 30 Ders., a. a. O., S. 15 f.

Die Sintflut 

33

unerträgliches Übel, aber er wird der gequälten Schöpfung wieder aufhelfen, frei­ lich durch das Gericht hindurch – wie anders ließe sich sonst die Gnade (6,8) ver­ stehen? Gott garantiert die Rahmenbedingungen für einen Umgang mit der Erde, der Natur und Kultur, Ökologie und Ökonomie in angemessener Weise Raum lässt im Sinne des Bebauens und Bewahrens (Gen 2,15). Zu diesen Rahmen­ bedingungen gehört auch eine Neubewertung der Arbeit in den Augen Gottes. Wird Arbeit (Saat und Ernte) in Einheit mit den Tages- und Jahreszeiten gesehen, so erhält sie schöpfungsmäßige Würde, kehrt also in den Bereich des Mandats (Gen 2,15) zurück, wozu passt, dass nun der Fluch von der Erde (vgl. Gen 3,17; 4,12) genommen ist (8,21). N. C. Baumgart hebt in diesem Zusammenhang drei Seiten Jahwes hervor, die in ihm koinzidieren: „Seite A: JHWH – der Strafende und das Leben Attackierende. Seite B: JHWH – der inmitten der Strafen sich dem Menschen wohlwollend Zuwendende.“31 „Seite C: JHWH – seine Umkehrfähigkeit in Bezug auf das bisher gepflegte Verhalten und seine Aufwertung des menschlichen Lebens.“32 Seite A betrifft hier die Reue über die Erschaffung des Menschen, Seite B die Gnade, die zunächst allein Noah erfährt, Seite C die Abkehr vom Untergangsbeschluss hin zur Bestandsgarantie der Erde, eine Seite, die A für immer aufhebt33. Baumgart sieht darin, auch im Blick auf die Paradieserzäh­ lung und die Geschichte von Kain und Abel „Kontinuitäten im Verhalten Jahwes“34, also so etwas wie sein „Gesicht“. – In religionsgeschichtlicher Sicht kann er feststellen: „Die Seiten JHWHs korrespondieren mit drei Göttern Mesopotamiens. Grob gesagt, hat JHWH in sich drei Götter vereinigt.“35 Er zitiert das Gilgameschepos (XI, 8–196): Dort nehmen die drei Göttergestalten Enlil, Ea und Ischtar die drei Seiten ein. Enlil beschließt in der Götterversammlung, eine Sintflut über die Erde kommen zu lassen und alles zu vernichten. Nichtsdestotrotz wendet sich Ea dem Einen, Utnapischtim, hilfreich zu und betreibt seine Rettung. Ischtar gilt als „Muttergöttin“. Sie hat die Menschen erschaffen. Ihre Rolle ist es, sich vom destruktiven Verhalten der Götter abzuwenden und diese Umkehr auch für immer gelten zu lassen. Wenn also von einer Koinzidenz gegensätzlicher Seiten in Gott / Jahwe die Rede ist, dann muss dabei berücksichtigt werden, dass nicht nur im Gilgamesch-Epos, sondern in den Epen und Mythen des Alten Orients Transzendenzerfahrungen auf die Wirkweisen verschiedener Götter zurückgeführt wurden und diese polytheistischen Personifikatio­ nen im Zusammenhang mit dem israelitischen Monotheismus gebündelt und auf den einen Gott übertragen wurden36. 31 N. C.  Baumgart, a. a. O., S. 146. 32 Ders., a. a. O., S. 169. 33 Ders. ebd. 34 Ders., a. a. O., S. 145. 35 Ders., a. a. O., S. 419; vgl. auch J. Schnocks, Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Gewalt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen, Neukirchen-Vluyn 2014 (WMANT 136), S. 15 f. 36 So auch G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, München 1997, S. 21 f, und K. Grünwaldt, a. a. O., S. 98–101. U. Berges sieht die Tendenz zur Komplexität der Gottesvorstellung auch außer­ halb Israels (Die dunklen Seiten des guten Gottes. Zu Ambiguitäten im Gottesbild JHWHs aus

34

Gott und der Mensch

Weiter ist auffällig, dass die Muttergottheit Ischtar sich am Ende wünscht, dass sie nie den Beschluss zur Vernichtung der Menschen mitgetragen hätte: „Ach würde doch jener Tag zu Lehm, da ich in der Versammlung der Götter Böses ansagte! Wie konnte ich in der Versammlung der Götter Böses ansagen und zur Vernichtung meiner Menschheit Kampf ansagen?“37 Der dem Gilgamesch-Epos zugrunde liegende altbabylonische Atramhasis-Mythos streicht die Reue der Muttergöttin noch viel deutlicher heraus: „Sie weinte und verhalf dadurch ihrem Herzen zum Aufatmen“ (Atr. IV,12)38.Wer wollte da nicht an Reue den­ ken? Der N-Flutbericht bringt an dieser Stelle (Gen 8,21 f ≙ Seite C) allerdings nicht das Stichwort „Reue“, obwohl es nahe gelegen hätte. Es war ja schon oben (Gen 6,6 ≙ Seite A) erwähnt – im destruktiven Sinn. Aber immerhin ist von einem Selbstgespräch Jahwes „in seinem Herzen“ die Rede.

1.2.3 Die Anthropologie von N Theologie und biblische Anthropologie sind unlöslich aufeinander bezogen, und doch sei der Anthropologie von N ein eigenes Kapitel gewidmet, weil sie hier ein weitaus stärkeres Gewicht als die Ethik hat. Der Mensch wird als im Innersten bösartig beschrieben. Diese Gesinnung dringt nach außen und zeigt sich als Bosheit auf Erden. Das ist keine Ausnahme, sondern die Regel, weswegen die Bosheit „groß“ ist auf Erden. Bosheit schließt Gewalt in jeder Form ein. Diese Einleitung zur Sintfluterzählung beschreibt illu­ sionslos, wie es ist. Boshaftigkeit als Grundübel des Menschen wird beim Namen genannt. Damit geht der Prolog einen Schritt über die Geschichte von Kain und Abel hinaus: War dort Boshaftigkeit nicht naturgegeben, sondern Folge freier Entscheidung, so ist Boshaftigkeit hier gewissermaßen ins Herz verlegt39. Beide Erzählungen entstammen dem narrativ geprägten Teil der Urgeschichte, und doch findet sich hier eine unübersehbare Akzentverschiebung. Sie hat ihren Grund in einer jeweils perspektivischen Betrachtung des Menschen: In der Sintflut­ geschichte reflektiert N nicht die Bestimmung des Menschen zur Freiheit, son­ dern lediglich die Bestimmtheit durch die Sünde. Der Mensch ist ganz und gar religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive, Paderborn 2013, S. 27 f). Das nimmt Jahwe aber keineswegs das Spezifikum seiner Polarität und deren theologischer Durchdringung. 37 Übersetzung nach N. C. Baumgart, a. a. O., S. 426. 38 Übersetzung nach N. C. Baumgart, a. a. O., S. 470. 39 So auch Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 24: „So scharf und grundsätzlich reden nicht einmal die späteren Schriftpropheten von der Schuld des Menschen.“ – Allerdings gibt es Parallelen im Menschenbild der akkadischen Gebetsliteratur (vgl. H. J. Kraus, Psalmen I, Neu­ kirchen-Vluyn 31966 (BK XV/1), a. a. O., S. 386).

Die Sintflut 

35

von ihr beherrscht40. Nur das ist das Thema – und Gottes Reaktion darauf. Die unterschiedliche Akzentsetzung wird als je in sich berechtigte Betrachtungsweise die Bibel durchziehen. Jesus steht mit seinem Ruf in die Entscheidung (vgl. bes. die Nachfolgeworte Mk 8,34 parr und die Begegnung mit dem reichen Jüngling Mk 10,17–22 parr) für den Appell an die Bestimmung des Menschen, Paulus mit seinem Ausruf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24) für die verhängnisvolle Bestimmtheit des Menschen durch die Sünde. Weil also Bosheit und damit auch Gewalttat nach N zum Gewordensein des Menschen gehören, gibt es auch kein wirkliches Mittel zur Gewaltbegrenzung. Einzig und allein die Schaffung eines neuen Menschen kann helfen. Das liegt in Gottes Macht. In ihm liegen Kontinuität und Neuanfang. Beides verkörpert sich in der Lichtgestalt Noah41, der als gerecht angesehen wurde (7,1) und daher Gnade gefunden hatte (6,8). In Noah verkörpert sich anthropologisch gesehen Ideal und Hoffnung der Menschheit: Gehorsam (7,5), Gottvertrauen (7,16b), Geduld (8,8–12), Frömmigkeit = das Rechte vor Gott tuend (8,20). Es ist der Eine, um dessentwillen die von Jugend auf böse Menschheit gerettet wird. Es ist der Eine, der die Kontinuität des von Gott gewollten in Freiheit gerechten Menschen ver­ bürgt. Auf diesem Einen liegt die ganze Hoffnung derer, die in dieser Geschichte ihren Glauben formuliert haben. Der Gedanke des einen Gerechten, der Leben und Weiterleben vor Gott verbürgt, zieht sich in Abwandlungen durch die Bibel von Noah über die zehn Gerechten, um derentwillen Lot den Herrn für Sodom bittet, und über den einen Knecht aus Jes 53, um dessen Wunden willen wir ge­ heilt sind, bis zu dem einen Sohn vor Gott für uns, Jesus Christus. Hoffnung und Glauben bilden die Brücke zwischen Anthropologie und Theologie.

1.2.4 Ethische Implikationen zum Thema Gewalt bei N Die in der Sintflutgeschichte sich niederschlagende Anthropologie von N macht es schwer, eine Ethik explizit zu entwickeln. Wie kann der vom Bösen von Grund auf durchdrungene Mensch frei handeln? Das Alte Testament insgesamt wird den Menschen auf das Gesetz als eindämmende Kraft und gutes Gebot Gottes verwei­ sen, das Neue Testament kann auf Christus blicken, in dem die ausschließliche Macht des Bösen überwunden und die ursprüngliche Freiheit wieder gegeben ist. Das alles ist aber nicht die Antwort von N. Sie kann nur indirekt erschlossen werden und sich als Hoffnung manifestieren. 40 Die abmildernde Interpretation Baumgarts, 6,5 beschreibe „den Menschen nicht, wie er tatsächlich vorkommt, sondern wie er in einem extremsten, ungünstigsten Fall denkbar wäre“, trifft nicht die Anthropologe von N (N. C. Baumgart, a. a. O., S. 151). 41 Der Gerechte hat einen Namen, die Bosheit nicht.

36

Gott und der Mensch

N macht unmissverständlich klar, dass Perversion der Schöpfung vor Jahwe ein unerträgliches Übel ist. Das ist ein ethischer Kernsatz, wenn auch negativ for­ muliert; denn Handeln hat sich stets vor Jahwe zu verantworten. Perversion recht­ fertigt das Gericht, und das ist zu tragen. Insofern ist Theodizee nicht ablösbar vom Handeln des Menschen. Weil aber Gott letztendlich dem Walten-Lassen von Gnade Vorrang vor der vernichtenden Gewalt gibt, kann sich der Mensch trotz implementierter Bosheit in Gottes Versöhnungshandeln mit hineinziehen lassen.

1.2.5 Das Gottesbild von P Auch in P sieht Gott auf die Erde (6,12). Aber im Unterschied zu dem Sehen, wie es N verstand, erzeugt es in Gott keine Emotion. Von einem an der Menschheit Leidenden kann hier keine Rede sein. Hier stellt – neben dem Autor der Quelle (6,11) – Gott als Souverän fest42, dass die Erde „verderbt“ und voller „Frevel“ ist. Mit „Frevel“ ist insonderheit „Gewalttat“ (‫ ָ ח ָמס‬/ chāmās) gemeint. „Verderbt“ ist Gottes Urteil nicht über die Erde, sondern über den Menschen, der die „sehr gute Schöpfung“ (P) durch widergöttliches Verhalten, Gewalt in jeder Form, ins Gegenteil verkehrt hat. Wer derart Gottes Werk ruiniert, dem wird auch nach P billigerweise Gottes Verderben bringendes Handeln über „alles Fleisch“ zuteil (6,11–13). Verderben wird mit Verderben heimgesucht43. Gott entscheidet nicht aus einem Gefühl heraus, sondern er konstatiert das souverän (6,13)44, in absolu­ ter Freiheit, so wie er in absoluter Freiheit auch einmal die Welt geschaffen hatte. Von daher gewinnt auch der Begriff „Ende“ (6,13) ein end-gerichtliches Ge­ wicht. Was Gott „im Anfang“ geschaffen hatte, wird er nun der endgültigen Ver­ nichtung preisgeben. „Alles Fleisch“ hat seit dieser Feststellung Gottes eigentlich keine Existenzberechtigung mehr45. Dass es dennoch da ist, hat es nur einem Frommen / Rechtschaffenen zu verdanken: Noah (6,9 f.14 ff). Dass Gott zu Noah spricht und dadurch um des Einen (und seiner Familie) willen die Rettung der ver­ 42 H. Seebass spricht im Blick auf P von Gottes „Majestät“ (a. a. O., S. 238), nicht zu ver­ wechseln mit Immutabilität bzw. „Apathie“ (vgl. B. Janowski, „Die Empathie des Schöpfergottes“, a. a. O., S. 49 ff, bes. S. 63–65). 43 ‫ שׁ ַחת‬ ָ / schāchat meint „verderben“ im Sinne des Sich-Selbst-Überlassens. 44 Die Luther-Übersetzung „… ist bei mir beschlossen“ ist Interpretation von „… ist da vor meinen Augen“. N. C. Baumgart (a. a. O., S. 219 f) insistiert auf der wörtlichen Übersetzung unter Hinweis auf den nur so zum Ausdruck kommenden Tun-Ergehen-Zusammenhang. Dem ist zuzustimmen. Hinzu kommt, dass die wörtliche Übersetzung die Folge des „Sich-Selbst-Über­ lassens“ (vgl. Anm. 43) unterstreicht. Nichtsdestoweniger bleibt das Verderben ein Willensakt Gottes, was Luther zum Ausdruck bringen wollte. 45 Auch die Tierwelt ist eingeschlossen. „Gewalttat ist die Signatur aller Lebewesen“ (E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart, Berlin, Köln 1994, S. 229). Der ökologischschöpfungstheologische Gedanke, dass die Tiere ggf. unter der Rücksichtslosigkeit und Gewalt des Menschen leiden, ist P fern.

Die Sintflut 

37

derbten Welt einleitet, ist nicht mit „Gnade“ (6,8) begründet, sondern ist Ausdruck seiner absoluten Freiheit, so zu beschließen. Dies ist ein indirektes Zeugnis von P dafür, dass sich in Gott selbst das Drama von Zerstörungs- und Erhaltungswillen abspielt, endgültige Zerstörung aber trotz Gericht nicht die Oberhand behalten wird. Letztendlich ist der Herr auch Herr über seine eigene Verderbensabsicht. Das zeigt sich im P-Epilog besonders deutlich. Schon vorher – im Hauptteil –, nachdem die Flut das Böse hat untergehen lassen (7,21) und die Arche wieder auf trockenem Land lag, erhalten die Tiere eine Art Lebens- und Fruchtbarkeitssegen (8,17), und in 9,1 wird Noah mit seinen Söhnen, d. h. die neue, nachsintflutliche Menschheit, wieder unter den Fruchtbarkeitssegen gestellt, wie er schon „im An­ fang“ galt (Gen 1,28). Dieser Segen ist eine konsequente Handlung an Noah, wie dieser in 6,9 vorgestellt wurde, er ist zugleich aber eine totale Wandlung in Gott vor dem Hintergrund des Vernichtungsbeschlusses über „alles Fleisch“ (6,13). Fluch mit totaler Auswirkung und Segen für alle Zeiten, beides ist in Gott als Möglichkeit ent­ halten, beides steht seiner absoluten Freiheit zu Gebote. Und doch ist es das Zeugnis von P (und nicht nur von P!), dass Gott sich selbst auf der Segensspur überholt. Gott gibt der neuen Menschheit alles Leben zum Gebrauch in die Hand. Er traut dem Menschen einen verantwortungsvollen kultivierten Umgang mit der belebten Natur zu. Am Ende distanziert sich Gott auch hier von seiner einst ausgeübten Gewalt. Er schließt mit Noah und seinen Söhnen und allem Getier einen Bund46. Inhalt: Hinfort, d. h. für alle Zukunft, soll die Erde nicht mehr untergehen (9,11). Gott verwirft Totalvernichtung als praktizierte Möglichkeit für alle Zeit, aber nicht – wie bei N – als der den Menschen in seinem Sosein annehmende Gott, sondern als der souveräne Herr. Zeichen des Bundes sei, so legt Gott fest, der Regenbogen47; Zeichen auch für ihn, damit er des Bundes gedenkt, dass hinfort keine Sintflut mehr komme, die alles Fleisch „verderbe“ (9,15). Dieses „Gedenken“ schließt souveränes Handeln ein. Es ist ein „vor dem Tod rettendes, bundliches Agieren“48. Insofern sind Bund und Zeichen auch eine Art Bestandsgarantie. Die Hand zum Bund reicht auch hier Gott49. Es ist eine etwas anders als in N beschriebene Zugewandtheit, die Zugewandt­ heit des Souveräns. Aber Souveränität hebt ihn nicht ab, sondern verpflichtet ihn. 46 Es ist derselbe Bund, der auch schon in 6,18 vorweg angedeutet ist. Baumgart (a. a. O., S. 226) denkt an zwei getrennte Bundesschlüsse. Das ist aber nicht der Fall, weil in 6,18 ein eigens genanntes Bundeszeichen fehlt. 47 Andere denken an den ungespannten Kriegsbogen Jahwes (z. B. N. C. Baumgart, a. a. O., S. 297; U. Rüterswörden, dominium terrae, Berlin 1993, S. 145). Doch der ist nicht sichtbar und daher als Zeichen nicht geeignet. 48 N. C. Baumgart, a. a. O., S. 300; vgl. auch K. Grünwaldt, a. a. O., S. 106 f und B. Janowski, „Die Empathie des Schöpfergottes“, a. a. O., S. 51. 49 Der Text spricht in allen Versen klar von einem asymmetrischen Bundesschluss. Eine Tendenz zur Zweiseitigkeit bzw. Symmetrie, wie Seebass sie sieht (a. a. O., S. 230 f), kann ich nicht erkennen.

38

Gott und der Mensch

1.2.6 Die Anthropologie von P Wie Noah zu sein ist eine Möglichkeit. Gott hat die Möglichkeit eröffnet: einmal dadurch, dass Noah als vorletztes Glied in die bisher abgelaufene Menschheits­ geschichte (Gen 5) eingereiht wird, zum anderen dadurch, dass Gottes Segen über den nachsintflutlichen Noah ausgesprochen ist und sich in Noah jede und jeder unter diesen Segen und damit auch in diesen Bund stellen kann. Allein die Welt ist nicht so. Noah repräsentiert nicht den Allgemeinzustand der Menschheit, was das „aber“ in 6,11 signalisiert. Der Allgemeinzustand wird mit „verderbt vor Gott(es Augen) und voller Frevel“ (ebd.) beschrieben. Der IstZustand wird also ähnlich beschrieben wie in 6,5. Auch hier wird nicht darüber reflektiert, woher die Gewalttat kommt, sie ist einfach da. Im Übrigen gibt P an dieser Stelle nicht viel mehr zur Anthropologie her. Das Gleiche gilt für die Ethik. Dabei ist freilich in Rechnung zu stellen, dass die drei Aussagerichtungen, unter denen die Texte betrachtet werden: So ist Gott; so ist der Mensch; so soll der Mensch sich verhalten – in jeweils unterschiedlichem Gewicht zum Tragen kommen. Dennoch sei im Folgenden noch auf das hinter Gen 6–9 (P) sichtbar werdende Ethos eingegangen.

1.2.7 Ethische Implikationen zum Thema Gewalt bei P Mit dem beschreibenden Begriff ‫ ָ ח ָמס‬/ chāmās („Gewalttat“) ist zugleich eine Wer­ tung verbunden. Das Wort bedeutet „Frevel“, „Sünde“. Jenseits der nicht reflek­ tierten Frage, woher die „Gewalttat“ kommt, wird implizit über diese das Verdikt „Sünde“ ausgesprochen. So wird der Ist-Zustand nicht nur beschrieben, sondern auch verurteilt. Der bewertete Ist-Zustand ist quasi eine Zusammenfassung des­ sen, was sich bei den Propheten als Gesellschaftskritik findet. Hosea formuliert z. B. als Scheltwort Gottes: „Es ist keine Treue, keine Liebe und keine Erkenntnis Gottes im Lande, sondern Fluchen und Lügen, Morden, Stehlen und Ehebre­ chen haben überhandgenommen, und eine Blutschuld kommt nach der anderen“ (Hos 4,1 f). Und in Mi 7,2 klagt Gott: „Sie lauern alle auf Blut, ein jeder jagt den an­ deren, dass er ihn fange.“ Davon ausgenommen ist auch nicht die Staatsmacht, die ihre Macht in blutiger Weise missbraucht. Von König Manasse heißt es: Er vergoss „sehr viel unschuldiges Blut, bis Jerusalem ganz voll davon war“ (2.Kön 21,16). Reicht es, die Gewalttat als Sünde, vielleicht sogar als „die Sünde der Welt“50 zu entlarven, um sie einzudämmen? Wohl kaum!

50 O. Dangl, „Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament“ in: Bibel und Kirche 45/1990, S. 104.

Die Sintflut 

39

Darum stellt P nun auch eine andere Existenzmöglichkeit vor, die Noah-Exis­ tenz. Es ist die vor Gott rechtschaffene (‫ צַ ִדּיק‬/ zaddīq) und tadellose (‫ ָ תּ ִמים‬/ tāmīm) Lebensweise (6,9). Diese ist hier aber nicht nur Hoffnung, die im Glauben als Möglichkeit antizipiert wird (N), sondern sie hat eine echte Chance der Verwirk­ lichung durch den Segen, der Noah und den Seinen zuteil wird, und vor allem durch den Bund, den Gott mit Noah schließt. Allein schon der Segen impliziert eine Ordnung, die der Verderbnis wehrt und einen verantwortlichen kultivierten Umgang mit der belebten Natur ermöglicht. Zu einem solchen Umgang ist der nachsintflutliche Mensch – hier als Jäger und Heger – aufgerufen (9,1–3). Der „Bund“ bildet – außer der Selbstverpflichtung Gottes, alles vernichtender Gewalt abzusagen – einen Ordnungsrahmen für den Menschen, innerhalb dessen er zu einem geregelten kultischen und sozialen Leben kommen kann: einen Halt, der Verderben bringende Gewalt ausschließt und damit zur Begrenzung der Gewalt insgesamt beiträgt. Wo es um Ordnungen geht, ist das Gesetz nicht fern. So „ist für die Priesterschrift die Vorstellung von Gott als Gesetzgeber, als Richter und Retter die notwendige Basis ih­ res Weltbildes“51. Wahrscheinlich haben sich deshalb drei unterschiedliche gesetzliche Regelungen hier angeheftet, die priesterlicher Natur sind, aber nicht ursprünglich in der Sintflutgeschichte gestanden haben. 9,4 knüpft an die Freiheit zur fleischlichen und pflanzlichen Speise an und macht eine gesetzliche Einschränkung, was den Blutgenuss betrifft. Blut wiederum ist das Stichwort, um daran das göttliche Prinzip der Talio zum Schutz des Lebens anzuschließen (9,5). Ist Blutrache (auch an Tieren!) in 9,5 noch als göttliche Tat dargestellt, erscheint sie in 9,6 bereits als menschliche Tat, von Gott sank­ tioniert. Für das Alte Testament ist unter dieser Voraussetzung Todesstrafe kein Problem (vgl. Ex 21,12–17).

1.2.8 Zusammenfassung 1.2.8.1 Gottesbild(er) Die Sintflutgeschichte beginnt in beiden Quellen mit der fortdauernden Zugewandtheit Gottes zu seiner Schöpfung. Er „sieht“ sie an. Nach N sieht er vor­ nehmlich auf den Menschen, nach P auf die gesamte Erde, dabei auch auf „alles Fleisch“ und schließlich auf Noah – in dieser Reihenfolge (vgl. Gen 1,1–2,4a). Dass der Mensch die ganze Schöpfung in seine Verderbtheit mit hineinzieht, ist beiden Berichten geläufig. Die Konzentration auf das böse Herz des Menschen (N) lässt Gottes Zugewandtheit (auch senso malo) in einem emotionalen Licht erscheinen; wenn bei P Gott zunächst einmal die ganze Erde im Blick hat, ist von einer souve­ ränen Zugewandtheit zu sprechen. Diese Beobachtung wird unterstrichen durch

51 A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 202.

40

Gott und der Mensch

die Reue Gottes über die Erschaffung des Menschen einerseits (N) und durch den Vernichtungsbeschluss andererseits (P). Gott schlägt beim Blick auf die Erde das Böse entgegen. Es ist die sich aus der Bestimmtheit durch die Sünde ergebende Denk- und Lebensweise. N sieht das in dieser umfassenden Bedeutung (‫ ָ רעָ ה‬/ rā‫׳‬āh = das Böse schlechthin). P denkt eher an die Gewalttat als sündige Entartung der Menschheit (‫ ָ ח ָמס‬/ chāmās). Beide Quellen rechtfertigen damit die Gewaltanwendung Gottes bzw. billigen ihm ge­ walt-tätiges Verhalten zu: Abgrundtiefe Bosheit kann nur mit Auslöschen beant­ wortet werden (N), Verderbnis nur mit Verderben begegnet werden (P). Die Sintflutgeschichte lebt davon, dass in Gott beides, Gericht und Wende, ange­ legt ist. Schon vor Beginn der unabwendbaren Flut, dann aber erst recht während der Flut, läuft die Gnade immer mit (N) bzw. ist der Eine immer da und geschützt, Noah, der der Realgrund der Wandlung in Gott und der Rettung der Schöpfung ist (P). Kaum eine andere Geschichte der Bibel spricht so ernsthaft, überzeugend und deutlich wie die Sintflutgeschichte davon, dass Rettung des Menschen bzw. der Menschheit nur durch das Gericht hindurch möglich ist: Gnade gibt es nicht ohne (das hier geschilderte) Gericht (N), und der Beschluss des „Endes“ allen Fleisches spricht in Bezug auf den Gerichtsernst und dessen Realität eine deut­ liche Sprache (P). Der emotional engagierte, am Menschen leidende Gott zeigt am Ende doch Gnade (N), der souveräne Gott erwählt in freiem Entschluss Noah als Ende und Anfang (P). Beide Quellen machen die Koinzidenz zweier Prinzipien in Gott sichtbar. In Gott kommen Gewalt und Gnade zusammen, wobei sich die Gnade am Ende durchsetzt (N). Anders ausgedrückt: In Gott koinzidieren Zerstörungsabsicht und Erhaltungswillen, wobei der Erhaltungswillen durch das Gericht hindurch siegt (P)52. Am Ende sehen wir: Gott ist wandlungsfähig. Er ist sich selbst in den Arm ge­ fallen und hat sich gewandelt. Er hat den Versöhnungswillen mit der Menschheit bekundet, der zerstörenden Gewalt abgesagt und in der Bestandsgarantie für die Erde Rahmenbedingungen für einen gesegneten Umgang des Menschen mit der Schöpfung errichtet (N). Anders ausgedrückt: Der souveräne Gott konstituiert ein neues segensreiches Verhältnis zwischen sich und der nachnoachitischen Menschheit durch den von sich aus gewährten Bund, auch eine Art Bestandsga­ rantie des Souveräns.

52 So auch Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 26: „So muß Israel Schöpfung, Sintflut und Bewahrung der Menschen in einem Gott zusammendenken …“. U. Berges konstatiert, dass Israel kein Pantheon zur Verfügung steht, das die unterschiedlichen göttlichen Intentionen und Tätigkeiten auf verschiedene Gottheiten verteilen könnte (U. Berges, Die dunklen Seiten des gu­ ten Gottes. Zu den Ambiguitäten Jahwes aus religions- und theologiegeschichtlicher Per­spektive, Paderborn 2013, S. 28).

Die Sintflut 

41

1.2.8.2 Anthropologie Die Sintflutgeschichte geht von der Bestimmtheit des Menschen durch die Sünde aus. Das Thema Bestimmung steht nicht zur Debatte. Tragend dabei ist N, P wider­ spricht dem nicht. Die Sünde manifestiert sich als das Böse im Menschen. Es ist mit dem Menschen da. Weil es naturgegeben scheint, ist auch nichts von Begrenzung zu hören, sondern nur von der Erschaffung eines neuen Menschen in Kontinui­ tät (dafür steht die Gnade) und Diskontinuität (dafür steht das Gericht) mit dem alten durch Gott. In der Anthropologie unterscheiden sich N und P nur insoweit, als Noah bei N Ideal und Hoffnung der Menschheit verkörpert, bei P durch den Segen für ihn und seine Nachkommen eine reale Existenzmöglichkeit darstellt.

1.2.8.3 Ethik N entwickelt grundsätzliche Gedanken zum Verhältnis Mensch – Schöpfung: Per­ version der Schöpfung darf um Gottes Willen nicht sein. Ist sie dennoch da, ist das Gericht gerecht und zu ertragen. Wo die Beschreibung des Ist-Zustandes vor­ herrscht und Gottes Gerechtigkeit mit diesem Zustand gerechtfertigt wird, bleibt nicht viel Raum für Handlungsanweisungen. Daher leuchtet Noah allenfalls als Zeichen der Hoffnung für diese Welt auf (N). – P hingegen spitzt das Böse stärker auf die Gewalttat zu. Hier ist Noah nicht lediglich Hoffnungszeichen, sondern Vorbild für einen segensreichen, d. h. verantwortlichen und kultivierten Umgang mit der Schöpfung, dem man nacheifern kann, zumal der Noahbund dazu einen Rahmen stellt, der auch zur Begrenzung der Gewalttat beiträgt.

1.2.8.4 Zeitumstände und Intentionen des nichtpriesterlichen und des priesterlichen Stoffs Mögen die narrativ geprägten Stoffe der Urgeschichte auch in früher Zeit entstanden sein, deren Sammler und Redaktor N stellte sie ca. im 7./6. Jh. v. Chr. zusammen, ver­ mutlich vorexilisch, aber von den Krisen der späten Königszeit geprägt, die erste große Deportation 722 im historischen Gedächtnis, die zweite und dritte Deportation 597 und 587 vor Augen53. Diese nichtpriesterlichen Texte entbehren nicht weisheitlicher Tradi­ tionen, was Weltordnung (z. B. Gen 2,18 vgl. Pred 4,10) und Menschenbild (Gen 3,19 vgl. Ps 90,12; Gen 8,21 vgl. Hi 14,4) betrifft, berühren sich also mit spätalttestament­ licher Sprache und Theologie. – Deutet man die menschheitsgeschichtlichen Passagen symbolisch auf Israel, dann mag man in der Geschichte vom Sündenfall als Strafe über­ raschenderweise „not death or social extinction but exile“ entdecken54. Eine derartige 53 Unberücksichtigt ist die Deportation von Angehörigen der Oberschicht des Nordens im syrisch-ephraimitischen Krieg 733. Unberücksichtigt bleiben auch außerbiblische Quellen. 54 So J. Blenkinsopp, „A post-exilic lay source in Genesis 1–11“ in: J. C. Gertz, K. Schmid, M. Witte (Hg.), Abschied vom Jahwisten, Berlin, New York 2002 (BZAW 315), S. 49–62, zit. nach C. Levin, „Abschied vom Jahwisten?“ in: ThR N. F. 69/2004, S. 322.

42

Gott und der Mensch

symbolische Deutung kann aber auch vom ureigenen Sinn der Geschichte wegfüh­ ren. – Insgesamt wird man aber festhalten können, dass P eine Kenntnis des nichtprie­ sterlichen narrativen Stoffs der Urgeschichte hatte, dieser also der Quelle P unmittelbar voraufgeht55. In der Krisenzeit vor dem zweiten und dritten Exil sollten die hier gebün­ delten Erzählungen gesellschaftlich stabilisierend wirken. P ist im Exil entstanden56. Ziel ist die Deutung der Exilssituation und die Stärkung des Vertrauens auf den das Chaos ordnenden Gott. Die Botschaft ist: Der souveräne Gott, der in seiner absoluten Freiheit wegen der allgemeinen Sündenverfallenheit das Gericht beschlossen hat, hilft durch das Gericht hindurch und wird eines Tages neu mit seinem Volk anfangen57. Sündenverfallenheit und Neuanfang werden dabei als Urdaten der Menschheits- und der Heilsgeschichte an den „Anfang“ zurückverlegt. Die priesterliche „Didaktik stellt … die Frage nach dem Notwendigen; und notwendig ist für die kom­ mende Generation nichts so sehr wie eine glaubwürdige, tragfähige Hoffnung“.58

1.3 Gesetzestexte Im Zusammenhang mit dem Noahbund nach P ist eine legalistische Passage ein­ geflossen, die auf den Versuch aufmerksam macht, Gewalt auch durch Rechtsvor­ schriften zu begrenzen, zu mindern oder gar zu überwinden (Gen 9,5 f). Dies sei zum Anlass genommen, hier näher auf Gesetzestexte einzugehen, insbesondere auch im Blick auf die Bestimmungen des Bundesbuches.

55 So auch N. C. Baumgart, a. a. O., S. 396. Das macht P nicht automatisch zum Haupterzähl­ strang, der durch narrative Einzeltraditionen kommentiert würde (so aber z. B. A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 32), auch nicht zum Redaktor, wie K. Koch schon 1987 feststellte und C. Recker 2000 wiederholte (K. Koch, „P – kein Redaktor! Erinnerung an zwei Eckdaten der Quellenschei­ dung“ in: VT 37/1987, S. 448; C. Recker, Die Erzählungen vom Patriarchen Jakob – ein Beitrag zur mehrperspektivischen Bibelauslegung, Münster, Hamburg, London 2000, S. 153). Vielmehr werden beide, narrative Traditionen und priesterliche Schichten, womöglich erst nachexilisch, von einem Endredaktor zu einem Tetra- und Pentateuch zusammengefügt. 56 A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 407 (exilisch / frühnachexilisch); vgl. auch M. Millard, Die Genesis als Eröffnung der Tora, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 97 Anm. 24, der insbesondere die Hervorhebung des Sabbats und die Bedeutung der Beschneidung dafür anführt; und Jörg Jere­ mias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 27 Anm. 18, der den Regenbogen als Zeichen der „Gewißheit des göttlichen Beschlusses“ gerade „in der Notzeit des Exils“ hervorhebt. 57 Die „traditionsgeschichtliche Bearbeitung der Noahüberlieferung im Licht der Exils­ erfahrung“ vermutet z. B. A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 319. 58 I. Baldermann, Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996, S. 13.

Gesetzestexte

43

1.3.1 Gen 9,5 f Zu fragen ist hier nach der literarischen Genese, hinter der sich immer auch eine geistesgeschichtliche Entwicklung verbirgt. Ich gehe von der einfachen Form als der ursprünglichen aus. Das ist ohne Zweifel der im Sinne der Talion formu­ lierte Rechtssatz: „Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Men­ schen / um des Menschen willen vergossen werden“ (9,6a)59. Dieser kurze Rechts­ satz erfährt eine begründende Ergänzung: die Gottebenbildlichkeit des Menschen (9,6b). Während die Talion sehr alten Ursprungs ist (vgl. ihre Stellung im Bun­ desbuch), scheint die Begründung priesterschriftlich zu sein; denn sie nimmt auf Gen 1,26 f Bezug. Sie ist ein sachlicher Hinweis darauf, dass das Recht fraglos als Gottesrecht angesehen wurde60. Auch wenn P im Verhältnis zum Talion-Satz sehr jung ist, gibt P doch wieder, was schon immer gedacht wurde. Darüber hinaus ist die Begründung auch ein Hinweis auf „erzählerischer“ Ebene. Allerdings lässt der Hinweis an Klarheit zu wünschen übrig. Es gibt zwei Verstehensmöglichkei­ ten. Entweder: Die Blutrache als „Höchststrafe“ ist gefordert, weil der Mensch als Gottes Ebenbild dessen Eigentum ist („um des Menschen willen“). Oder: Gott hat dem Menschen als seinem Bild Herrschafts- und damit auch Strafvollzugs­ rechte übertragen, so dass „durch Menschen“61 geahndet werden kann, was sonst durch Gott selbst geahndet werden müsste. Möglicherweise ist die Begründung bewusst in der Schwebe gehalten, so dass beide Verstehensmöglichkeiten gegeben sind. Die letztere verweist freilich auf 9,5 zurück: Gott rächt die Bluttat, sei sie von Menschen oder von Tieren verübt.

1.3.1.1 Die Gottesvorstellung hinter dem Einschub Gott begegnet in dem Einschub als Herr des Rechts. Bei ihm ist es angesiedelt (9,5.6b). Insbesondere ist er der Herr über Leben und Tod des Menschen als sei­ nes Eigentums (9,5). Diese Herrschaft überträgt er dem Menschen (9,6b)62, ohne dabei das Recht, sie auch selbst ausüben zu können, aus der Hand zu geben (9,5).

59 ‫ ָ בּ ָא ָדם‬/ bā’ādām kann „durch den Menschen“ (beth instrumenti) oder „um des Menschen willen“ (beth pretii) heißen. 60 J. Schnocks möchte Rechtssätze z. T. auch vornehmlich soziokulturell verankert sehen. Er verweist auf die deuteronomische Formulierung: „Du sollst ausrotten das Böse aus deiner Mitte“ (Dtn 24,7 u. ö.) (a. a. O., S. 92). Allerdings definiert sich „das Böse“ nicht aus gesellschaftlicher Ächtung, sondern aus dem unverfügbar Gegebenen heraus. 61 Zur Diskussion vgl. N. C. Baumgart, a. a. O., S. 316 f und J. Schnocks, a. a. O., S. 75–88. 62 So auch H. Seebass, a. a. O., S. 239; gegen N. C. Baumgart, a. a. O., S. 351.

44

Gott und der Mensch

1.3.1.2 Anthropologische Aspekte Die traditionsgeschichtlich späte Begründung des Rechtssatzes durch die Gott­ ebenbildlichkeit wirft ein Licht auf eine dahinterstehende Anthropologie. Mit der Gottebenbildlichkeit ist ein besonderer Wert bzw. eine besondere Würde des Menschen angesprochen63. Diese ist auch schon in 9,5 angelegt: Gott will vergos­ senes Blut auch von den Tieren fordern, aber Tiere werden nicht in gleicher Weise geschützt (vgl. Ex 21,35). Der besondere Wert des Menschen erfordert Gottes Schutz desselben vor tödlicher Gewalttat. – Mit der Gottebenbildlichkeit ist aber auch eine Herrschaftsaufgabe verbunden, die der Mensch nach Gottes Willen als Herrschaftsanspruch interpretieren darf. Damit sind ihm auch Mittel zur Gewalt­ anwendung in die Hand gegeben. Diese Gewalt ordnend und dem Chaos wehrend einzusetzen und sie nicht selbstherrlich zu missbrauchen, ist die Gratwanderung des Menschen auf dem Weg zu seiner Bestimmung.

1.3.1.3 Ethische Implikationen hinter dem Einschub Die Gottebenbildlichkeit des Menschen setzt ihn instand, im Rahmen der Talion Recht auszuüben. Das ist nicht nur Beauftragung, sondern auch Verpflichtung. Da es hier dezidiert um Gewalttat geht, ist zugleich das Institut der Blutrache mit­ gegeben. Das wird installiert, aber nicht in Frage gestellt. Insofern wird Gewalt hier nicht begrenzt oder gemindert, sondern es wird zur Aufrechterhaltung der Ordnung Gewalt gegen Gewalt gesetzt.

1.3.1.4 Der Grund der Aufnahme in P durch priesterliche Redaktion Durch den Noahbund war ein Orientierungsrahmen für eine neue Ordnung ge­ schaffen. Dieser Rahmen bedurfte nach und nach der Auffüllung64. Als erstes boten sich da Speisegebote und der Schutz des Lebens an. Auf dem Weg zu einer solchen zu schaffenden Ordnungsstruktur wird Gewalt in den Dienst „struktu­ reller Gewalt“ gestellt und so sanktioniert.

1.3.2 Vergehen gegen Leib und Leben (Ex 21,12–27) Im jetzigen Zusammenhang lesen sich die hier herausgegriffenen Vergehen gegen Leib und Leben zusammen mit den übrigen in Ex 20,22–23,33 zusammen­ gestellten Gesetzen wie Ausführungsbestimmungen zum Dekalog. Im Rahmen der Pentateuchredaktion ist das sinnvoll: Freiheit braucht Ordnung, um mit dieser 63 J. Schnocks, a. a. O., S. 83. 64 A. Schüle, Der Prolog, a. a. O., S. 315.

Gesetzestexte

45

Ordnung vor Augen die Landnahme erfolgreich zu vollziehen. Literargeschicht­ lich gesehen ist allerdings der Zusammenhang Ex 20,22–23,33, nach Ex 24,7 „Bundesbuch“ genannt, eine ältere Komposition, die in sich literarische Schichten erkennbar werden lässt. Sie steht mit dem Dekalog Ex 20,1–21 in keiner ursächlich literarischen Verbindung65. Formal gliedert sich das Bundesbuch in seiner jetzigen Gestalt in eine Einlei­ tung Ex 20,22–26, die eine Überleitung vom Sinaigeschehen zur Rechtssammlung bildet, dann ab Ex 21,1 bis 23,19 die Vorschriften, Rechtssätze und Mahnungen, schließlich der Ausklang 23,20–33, der auf die Landnahme Bezug nimmt. In­ nerhalb der Vergehen gegen Leib und Leben ist eine Dreigliederung sinnvoll: Ex 21,12–17: Blutrache und Todesstrafe; Ex 21,18–22: Ersatzleistungen; Ex 21,23– 25(27): ius talionis. Aus Ex 21,12–17 hebt sich eine alte mōt-jūmāt-Reihe (‫יּומת‬ ָ ‫ = מֺות‬der soll un­ bedingt getötet werden), die Blutrache bzw. Todesstrafe fordert, heraus: 21,12.15.​ 16.17: „Wer einen Menschen schlägt, dass er stirbt, der soll unbedingt getötet werden. Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll unbedingt getötet werden. Wer einen Menschen raubt …, der soll unbedingt getötet werden. Wer Vater oder Mutter flucht, der soll unbedingt getötet werden.“

Es handelt sich im Prinzip um apodiktisches Recht, d. h. um eine Zusammenstel­ lung „prägnanter Rechtssätze, die bei bestimmten kultischen Gelegenheiten als Gotteswille verkündigt wurden.“66 Diese Reihe wurde später ergänzt durch eine kasuistische Differenzierung des apodiktischen Rechtssatzes 21,12. Dabei sei dahingestellt, ob 21,13.14 kompakt oder zeitlich nacheinander eingeschoben wurde. 21,13 stellt für den Fall der fahr­ lässigen Tötung einen Asylort in Aussicht, welcher wohl nach 21,14 (auch) das Heiligtum („der Altar“) ist; 21,14 führt mit „Hinterlist“ den Fall des Vorsatzes und der Heimtücke ein, für den ein Asylort ausgeschlossen und die Todesstrafe bestimmt ist. Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit der Fahrlässigkeit der Gedanke der Fügung Gottes. Im Blick auf die lex talionis 21,23–27 wird das Zustandekommen der Aufzäh­ lung und deren Reihenfolge diskutiert. Dabei wird auf die Parallelen in Dtn 19,16– 21 und Lev 24,17–20 verwiesen. Ex 21,23–27 23 Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, 24 Auge um Auge, 65 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 212. Zum Wachsen des Deka­ logs aus unterschiedlichen Rechtssätzen ders., a. a. O., S. 208. 66 M. Noth, Das zweite Buch Mose-Exodus, Göttingen 61978, S. 145.

46

Gott und der Mensch

Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, 25 Brandmal um Brandmal, Beule um Beule (‫ ֶ פּעצ‬/ päza῾) Wunde um Wunde / Strieme um Strieme (‫ ֲ ח ֻב ָרה‬/ chavurāh) 26 Wenn jemand seinen Sklaven oder seine Sklavin ins Auge schlägt und zerstört es, der soll sie freilassen um des Auges willen. 27 Desgleichen wenn er seinem Sklaven oder seiner Sklavin einen Zahn ausschlägt, soll er sie freilassen um des Zahnes willen. Dtn 19,(16–18a)18b-21 … Und wenn der falsche Zeuge ein falsches Zeugnis wider seinen Bruder gegeben hat, 19 so sollt ihr mit ihm tun, wie er gedachte, seinem Bruder zu tun, damit du das Böse aus deiner Mitte wegtust … 21 Dein Auge soll ihn nicht schonen: Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Lev 24,17–20 17 Wer irgendeinen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben. 18 Wer aber ein Stück Vieh erschlägt, der soll’s ersetzen, Leben um Leben. 19 Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, 20 Schaden um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er einen Menschen verletzt hat, so soll man ihm auch tun.

J. van Seters setzt für Ex 21,23–27 einen „lawmaker“ voraus, der in exilischer Zeit das Bundesbuch komponiert67 und an dieser Stelle Dtn 19,16–21 zum Vorbild genommen habe. Dtn 19,21 gilt ihm als Ursprungsform des Talion-Prinzips68. „Leben um Leben“ habe der „lawmaker“ schon in der Kasuistik 21,22.23a vor­ gefunden und dann die Reihe aus Dtn 19,21 hinzugefügt69. Daneben scheint v. Seters auch Lev 24,17–20 (aus dem Heiligkeitsgesetz) als Grundlage für den „law­ maker“ anzusehen, ohne dass überzeugend geklärt wird, in welchem Verhältnis die beiden Grundlagen zueinander stehen bzw. in welcher Weise der „lawmaker“ 67 J. v. Seters, „Some Observations on the Lex Talionis in Exod 21:23–25“ in: St. Beyerle, G. Mayer, H. Strauß (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament. FS H. Seebass zum 65.Geburts­ tag, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 29, der sich damit von A. Alt und E. Otto absetzt (S. 36). 68 Ders., a. a. O., S. 35. 69 Ders. ebd.

Gesetzestexte

47

von der einen oder anderen Gebrauch gemacht hat70. Schließlich habe der „law­ maker“ noch seine eigenen Wendungen „Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Strieme um Strieme“ hinzugefügt, mit Bezug auf die Sklavenbehandlung, wie v. Seters in Anlehnung an Osumi vermutet. An dieser Stelle muss weder die Frage der zeitlichen Ansetzung des Bundes­ buches noch die Frage des Redaktors diskutiert werden. Unabhängig von diesen Problemen kann wohl festgestellt werden, dass es sich bei der lex talionis um ein sehr altes Rechtsgut handelt. Es ist im kollektiven Rechtsbewusstsein verankert. Seine früheste fixierte Form mag es im Heiligkeitsgesetz, hier Lev 24,17–20, er­ halten haben71. Dabei passt „Leben um Leben“ zu v 17, weniger zur Entschädi­ gungsforderung in v 18. V 18 mag später eingefügt sein. Die nächsten drei Ver­ geltungsakte gehören inhaltlich zur Körperverletzung. Was nicht speziell erfasst ist, wird in v 20b verallgemeinernd unter das Talionrecht gestellt. Künftig, ab Dtn 19,18b-21, wird diese Verallgemeinerung konkretisiert: Hand um Hand, Fuß um Fuß. „Schaden“ entfällt künftig. – In Ex 21,23–27 hätte es erscheinen können, weil es ja in v 22 um einen „Dauerschaden“ geht, aber es geht ein in die gesamte, nun um drei Glieder erweiterte Reihung. Zwei der drei zusätzlichen Glieder (Beule und Strieme) kommen aus dem Lamechlied Gen 4,23, vermutlich um der dort exemplarisch zum Ausdruck kommenden Maßlosigkeit Einhalt zu gebieten; woher „Brandmal“ kommt und welchen Sinn es in diesem Zusammenhang hat, muss offen bleiben72.

70 Fest steht für ihn nur, „that the lawmaker wrote in Babylonia during the exile in depen­ dence upon both the Deuteronomic Code and Holiness Code (in its earliest form), and under the influence of the Mesopotamian legal tradition (a. a. O., S. 37). 71 Ganz anders sieht das F. Crüsemann. Er hält Ex 21,24 f für einen späteren Einschub in eine kasuistische Rechtssammlung, die weitgehend Ersatzleistungen für begangenes Unrecht in Form von Geld vorsah. Da diese Rechtsprechung in der Praxis zu sozialer Ungerechtigkeit führte, die von den Propheten des 8.Jh. angeprangert werde, sei es nötig geworden, wieder klare Verhältnisse für alle einzufordern. In diesem Sinn sei die Talionsforderung v 24 f (23b rechnet Crüsemann nicht dazu) als später Protest zu verstehen (F. Crüsemann, „‚Auge um Auge …‘ [Ex 21,24 f]“ in: EvTh 47/1987, S. 411 ff). – Dagegen ist zu sagen: Der Protestcharakter ist dem Text nicht zu entnehmen. Er entsteht nur dann, wenn er in die Prophetie des 8.Jh. hineinge­ lesen wird. Außerdem zeigt Ex 21,29 f, dass primär die Talion der dort beschriebenen Kasuistik zugrunde liegt, die nichtpekuniäre Strafe also der ursprüngliche Gedanke ist. Der Gedanke der Sühneleistung muss als Rechtsfortschreibung gelten. – Zur Kritik an Crüsemann vgl. auch Y. Osumi, „Brandmal für Brandmal“ in: AJBI 18/1992, S. 6 ff, bes. S. 9. 72 Es ist das Verdienst Y. Osumis, auf den Zusammenhang mit dem Lamechlied aufmerk­ sam gemacht zu haben (ders., a. a. O., S. 17 ff). In seiner Sicht, die letzten drei Glieder auf eine humanere Behandlung der Sklaven zu beziehen (a. a. O., S. 24 ff), kann ich ihm allerdings nicht folgen. Wie soll jemand einem Sklaven erst in voller Absicht und emotionslos ein Brandmal auf­ drücken und dann einem Gesetz gehorchen, das gebietet, ihn freizulassen?

48

Gott und der Mensch

1.3.2.1 Zur Gottesvorstellung hinter Ex 21,12–27 Die hinter der alten mōt-jūmāt-Reihe stehende Gottesvorstellung kann indirekt erschlossen werden. Gleich der erste Satz gründet in der Vorstellung von Gen 9,5 f: Gott ist der Herr über Leben und Tod und hat dieses Privileg, ohne es aus der Hand zu geben, an den Menschen delegiert. Zwar kann dafür hier nicht die Gott­ ebenbildlichkeit in Anspruch genommen werden, aber die Gabe des Lebens, die sich im Blut materialisiert und mit der das Herrschaftsrecht verbunden ist. Apodiktisches Recht spiegelt das klare, eindeutige und unumstößliche Wort Gottes wider (vgl. dazu auch Lev 24,12). Das gilt für alle vier Rechtssätze. Hier spricht der Herr, der regiert „ohn alles Wanken“. Da 21,23 nichts anderes aussagt als 21,12, gilt auch hier: Gott ist der Herr über Leben und Tod, der das Leben schützt durch die Forderung des Blutes von dem, der Blut vergießt. Hinzu treten aber noch Vergeltungsregeln, die nicht das Leben, sondern die Schädigung von Körperteilen betreffen bzw. diverse äußere Verletzungen. Dass Vergeltung im beschriebenen Sinne geschehen darf und soll, dahinter steht Gott ebenso; denn hier wird das Leben in Teilen beeinträchtigt, indem der Leib geschädigt wird. Wenn eine äquivalente Vergeltung als gerecht empfunden und Gott als hinter dem Recht stehend gesehen wird, dann hat das auch etwas zu tun mit der Beschreibung Gottes als des Trägers und Übermittlers von Recht und Gerechtigkeit.73 Apodiktisches Recht hat seinen Ort und seine Zeit in vorstaatlichen Gemein­ schaftsstrukturen. Kasuistisches Recht hingegen setzt juristische Differenzierung, Rechtsprechung im Tor und somit Sesshaftigkeit im Land und organisiertes Zu­ sammenleben voraus. Die Gottunmittelbarkeit dieses Rechts ist weniger ersicht­ lich, wenngleich auch diese Satzungen Gottesrecht sind. Gerade an den Ein­ schüben 21,13.14 wird das deutlich: Im zweiten Teil beider Verse wechselt der Gesetzestext in die Gottesrede. Besonderer Erwähnung bedarf im Zusammenhang mit dem Gottesverständnis die Umschreibung der Fahrlässigkeit: „Gott hat es seiner Hand widerfahren lassen“ (21,13). Will sagen: Es gibt keinen Lebensbereich, der Gott entzogen wäre74. Wo der Vorsatz nicht gilt, kann es nur so sein, dass Gott die unheilbringende Verket­ tung nicht unterbrochen, also zugelassen hat. Wieder steht die Theodizeefrage im Raum, die aber nicht beantwortet wird, außer dass es so ist, wie es gekommen ist.

73 Vgl. Ps 33,5; 98,9; Ps 103,6 im Zusammenhang mit seiner richterlichen Funktion. 74 Num 35,15 nimmt die Theodizeeproblematik heraus und formuliert: „aus Versehen“.

Gesetzestexte

49

1.3.2.2 Ethische Implikationen hinter Ex 21,12–27 E. Otto definiert den Unterschied zwischen Rechtssatzung und Ethik dahinge­ hend, dass Rechtssatzungen mit Sanktionen verbunden sind, ethische Weisungen dagegen aufgrund des Appellcharakters Wirkung zeigen sollen75. In diesem Sinn setzen die vier apodiktischen Sätze im besten Fall eine Ethik der Gewaltlosig­ keit aus sich heraus, wie man später auch an der Formulierung des 5., 4., 7. bzw. 10. Gebots ablesen kann. Aktuell geht es freilich darum, Tötung eines Menschen, Menschenraub und Elternschändung zu verhindern. Das geschieht hier durch eine harte Sanktion, die Blutrache-Institution bzw. die Todesstrafe. Gewalt wird mit Gewalt beantwortet, im ersten Fall gerade noch im Rahmen der Angemessen­ heit, was trotz erheblicher Störung des Gemeinschaftsverhältnisses für die Fälle 2–4 bezweifelt werden kann. E. Otto nennt diese Handhabung des Rechts Gewalt­ minderung durch „Generalprävention“76. Es darf allerdings bezweifelt werden, dass „Generalprävention“ zu einer Gewaltbegrenzung, -minderung oder -vermei­ dung führt. Entweder geht sie in strukturelle Gewalt über oder sie entartet, wie das Beispiel Lamech zeigt. Wir dürfen hier von einer göttlich abgesegneten Ethik der (angemessenen) Gewalt reden. Eine solche Ethik orientiert sich am „Erfolg“, d. h. daran, was am Ende des Geschehens herauskommt. Ist es der Tod, dann wird er mit dem Tod gerächt. Das fällt rechtlich unter den Begriff der Erfolgshaftung. Dem steht die Gesinnungsethik gegenüber. Sie beurteilt in erster Linie das Wol­ len bzw. Nicht-Wollen des Handelnden und sieht zunächst vom Erfolg bzw. vom Ende des Geschehens ab. Dieser Gesinnungsethik sind die beiden kasuistischen Einschübe zu verdanken. Hier geht es in der Tat um Gewaltminderung, insofern die Todesstrafe bei Fahrlässigkeit ausgesetzt wird. Diese Ethik führt rechtlich zur Verschuldenshaftung77. – Dabei taucht freilich die Frage von Verantwortung und Schuld auf: „Gott hat es seiner Hand widerfahren lassen“! Hier wird zwischen Schuld und Verantwortung unterschieden. Der Totschläger wird von der Schuld freigesprochen; keineswegs aber wird sie Gott angehängt. Es gehört allenfalls zu den dunklen Seiten Gottes, es dem Täter widerfahren zu lassen. Allerdings bleibt die volle Verantwortung beim Totschläger. Denn er ist nur so lange frei, wie er sich am Asylort befindet, d. h. solange er dort auf seinen Prozess warten kann (Num 35,32). Es folgt ein Abschnitt mit kasuistischen Rechtssätzen (21,18–22) zum so ge­ nannten Körperverletzungsrecht78. Kasuistischem Recht ist durch die Fallunter­ scheidungen eine Tendenz zur Gewaltminderung inhärent. 21,18 f beschreibt die Verletzungsfolgen nach einer Rauferei unter Männern. Dem körperlich Geschä­ 75 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 85. 76 Ders., a. a. O., S. 32 ff. 77 Zur Frage von Erfolgshaftung und Verschuldenshaftung vgl. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 35 ff. 78 Ders., a. a. O., S. 25 ff.

50

Gott und der Mensch

digten steht Entschädigung zu, die durch seinen Arbeitsausfall aufgelaufen ist, sowie Erstattung der Arztkosten, beides durch den Verursacher zu zahlen. Dieses Gesetz steht eindeutig im Zeichen der Gewaltreduktion. Es verhindert, dass durch Gegengewalt weiterer und noch größerer Schaden entsteht. Die Einführung des Schadensersatzes trägt sowohl zur Gewalt- wie auch zur Schadensminimierung bei. Dieser Schritt ist ein kultureller Fortschritt im Rahmen einer gesellschafts­ gerechten Ordnungsstruktur im Land. – Auch 21,20 f muss so beurteilt werden, wenngleich die Bestrafung des Herrn, der einen Sklaven erschlägt, auch halb­ herzig erscheint. Immerhin aber wird die körperliche Gewalt des Herrn, die zum Tod des Sklaven führt – Totschlag oder Mord wird nicht unterschieden – unter Strafe gestellt; eine Höhe ist nicht festgesetzt. 21,21 wiederum rückt vom Wert des Sklaven als Mensch wieder ab und sieht ihn als Sache: Wenn er durch die Körper­ verletzung – wie ein Tier oder ein Gerät – ein paar Tage ausfällt, ist der Herr damit schon genug bestraft; „denn es ist sein Geld“ (21,21b). Kasuistisches Recht spiegelt einerseits einen erreichten ethischen Standard wider und fördert andererseits Nor­ menfindung und -definition. Hier: Nicht unbeherrschte Gewalt soll sein, sondern Mäßigung, auch gegen Sklaven; denn auch in ihnen fließt das Blut, in dem das Le­ ben ist (Gen 9,5 f), und auch sie sind keineswegs rechtlos (Ex 21,1–11 / Dtn 15,12– 18). Man kann sogar sagen: Die Schwachen in der Gesellschaft werden durch Auf­ ruf zur Mäßigung ihnen gegenüber und durch indirekte Entschädigungsleistung vor gewaltsamen Übergriffen geschützt. Letzteres im Falle der fahrlässigen Invol­ vierung einer schwangeren Frau in einen tätlichen Männerstreit (21,22)79. Dem Verursacher des Fruchtabgangs wird eine Geldstrafe an den Ehemann (!) auf­ erlegt. Gewaltvermeidung durch Ersatzleistung. In diesem Fall wird die Gewalt­ vermeidung noch dadurch abgesichert, dass das Geld nicht direkt an den (emo­ tional evtl. unberechenbaren) Ehemann gegeben wird, sondern „durch die Hand der Richter“ (21,22fin). Der Zug weg von einer partikularen „Selbstjustiz“ hin zu einer normengerechten Handhabung des Gewaltmonopols in der Hand eines Rechtsinstituts ist unverkennbar, damit einhergehend als Folge und Ziel: Mini­ mierung unkontrollierter, den Menschen an Leib und Leben schädigender Gewalt. In 21,23–27 folgen Rechtssätze auf der Grundlage des Vergeltungsrechts (ius talionis), wobei der Hinweis auf den (dauernden) Schaden (21,22.23) redaktionel­ les Bindeglied ist. Formal steht es ebenso wie 21,12.15.16 f zwischen kasuistischem und apodiktischem Recht. Im Zusammenhang des Abschnitts 21,12–27 dient es mit der obigen Entsprechung (21,15–17) als Rahmen. Differenziert kasuistisches Recht ist von altem, absolutem Vergeltungsrecht umschlossen. Was das für Ein­ stellung und Rechtsprechung bedeutet, wird zu fragen sein. 79 J. v. Seters sieht hier ein Gesetz des Hammurabi und Dtn 25,11 f Pate stehen (a. a. O., S. 30 f). Allerdings geht es im Gesetz des Hammurabi um eine schwangere Frau, die absichtlich von einem Mann geschlagen wird. – Dtn 25,11 f kann nicht als Entstehungshintergrund für Ex 21,22 f herangezogen werden, weil es dort nicht um eine verletzte, sondern um eine angrei­ fende Frau geht.

Gesetzestexte

51

Die Tradition von 21,23–25 kann sich nichts anderes vorstellen als eine äquiva­ lent vergeltende Gerechtigkeit: Gewalt kann und darf mit entsprechender Gegen­ gewalt beantwortet werden. Dabei ist, um ein ausgewogenes Gemeinschaftsver­ hältnis wiederherzustellen, auf Äquivalenz zu achten. Die Gegengewalt darf nicht maßlos sein, ansonsten die von Gott gewollte Gemeinschaft durch eine sich poten­ zierende Drehung der Gewaltspirale zerstört und so auch das Gottesverhältnis ge­ schädigt wird. Das Gebot der Angemessenheit der Sanktion hat jedoch nichts mit der oben diagnostizierten Mäßigung zu tun; denn hier wird Gewalt mit Gegenge­ walt beantwortet. Von Gewaltbegrenzung kann nicht wirklich, nur dann gespro­ chen werden, wenn man voraussetzt, dass Gewalt zu maßloser Gegengewalt führt. Das Stichwort „Auge“ und „Zahn“ führt zu einem späteren kasuistischen An­ hang80, wo es um schwere Körperverletzung an einem Sklaven oder einer Sklavin (man beachte die inklusive Redeweise!) geht. Hier wird der Schläger mit der Er­ satzleistung der Freilassung des Sklaven bzw. der Sklavin belegt, was eine Abschre­ ckung darstellt, künftig in dieser Weise Gewalt auszuüben. Angestrebt ist hier also Gewaltminderung durch Mäßigung. Was bedeutet es, wenn kasuistisches, auf Mäßigung bedachtes Recht formal umschlossen wird von apodiktischem, auf Äquivalenz der Gewalt ausgerichte­ tem Recht? Es kann sich im Zweifel hier nur um konkurrierende Gesetzgebung handeln. Ethisch gesehen werden im Stadium einer derartigen Zusammenstellung beide Haltungen geduldet: Äquivalenzverhalten und Mäßigung. Irgendwann aber (siehe den Anhang 21,26 f) setzt sich die Tendenz zur Mäßigung durch. Interessant ist in diesem Zusammenhang noch der rechtlich fixierte Versuch, den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen durch die Möglich­ keit der Befriedung mit der möglichen Aussicht auf Versöhnung. Das gilt aber nur bei fahrlässiger Tötung. Das alte Gesetz illustriert das an einem Beispiel: Der Besitzer eines gefährlichen Stiers weiß, dass sein Stier Unfälle verursachen kann, und er lässt ihn trotzdem aus Nachlässigkeit ohne Aufsicht frei umhergehen. Das Unglück geschieht: Ein Passant wird vom Stier getötet. Das Gesetz sieht nun beide Möglichkeiten vor: Der Besitzer kann zum Tode verurteilt werden, so als ob er die direkte Verantwortung am Tod des Passanten trüge, oder aber er kann mit einer Geldbuße davonkommen (Ex 21, 28–30).81 Würde nun die betroffene Familie auf Todesstrafe dringen, wäre sie damit im Recht. Doch damit wäre der 80 Der umgekehrte Weg, dass „Auge um Auge, Zahn um Zahn …“ als lex talionis von v 26 f her formuliert sei, ist schwer nachvollziehbar (gegen J. v. Seters, a. a. O., S. 32). 81 Außerdem soll der Stier gesteinigt werden. Wenn Gewalt bekämpft werden soll, dann – so entspricht es altisraelitischem Denken (vgl. Gen 6,12 f) – muss sie da bekämpft werden, wo sie auftritt, und sei es auch im Tier. Auch hier hilft die Unterscheidung von „Schuld“ (im Sinne von „Ursache“) und „Verantwortung“ weiter. Gewalt nistet sich da ein, wo sie ein ursächliches Fundament findet. Das ist im Stier. Hier wird die Gewalt bekämpft, ohne dass die Verantwortung auf ihn abgeschoben wird. Die trägt in allen Konsequenzen der Halter. In seiner Verantwortung hat er teil an der Schuld.

52

Gott und der Mensch

Verlust nicht wiedergutgemacht, im Gegenteil: Neuer Schaden wäre entstanden. Würde sie sich aber mit der Wiedergutmachungssumme zufrieden geben, bliebe das Leben des anderen unversehrt und ein gütliches Einvernehmen angebahnt. Tut sie es, wäre es ein Zeichen ihrer Mäßigung, ihres Wunsches nach Frieden und der mögliche Beginn einer Versöhnung. Voraussetzung aber ist, dass beide Teile sich frei entscheiden. Die Freiheit muss gewahrt bleiben. Das Recht auf Todes­ strafe bleibt bestehen. Dennoch vermag diese Art der offenen Gesetzgebung den Weg zur Mäßigung und zur möglichen Versöhnung zu öffnen. Konkurrierende Gesetzgebung öffnet vorsichtig einen Weg zur Überwindung der Talion. Bis zu Jesus (Mt 5,23–26.38–42), Paulus (Röm 12,17.21) und „Petrus“ (1.Petr 3,9) ist allerdings noch ein weiter Weg. Einen Schritt weiter geht hier das später in die Priesterschrift integrierte Heiligkeitsge­ setz (Lev 17–26). In der die Ethik begründenden Heiligkeit Gottes ist das momentum fascinosum wie auch das momentum tremendum gleichermaßen enthalten. Das Fas­ zinierende fordert als ethische Entsprechung u. a. achtsamen Umgang mit dem Leben des Nächsten vor Gericht, weiter: den Bruder nicht zu hassen, auf Rache zu verzichten und „deinen Nächsten (zu) lieben wie dich selbst“ (Lev 19,16–18). Die kategoriale Un­ bedingtheit des dekalogischen Tötungsverbots ist noch lange nicht erreicht, aber in der Verbindung von Racheverzicht und Nächstenliebe angebahnt. – Es bleibt aber auch das Erschreckende wirksam. Dem entspricht der Ausrottungswille Jahwes gegen jede und jeden, der Heidnisches tut (Kinderopfer, kultische [Homo]sexualität) und der (Blut) schande über seine Familie bringt. Der Urteilsspruch der Todesstrafe ist damit verbun­ den (Lev 20). Die sich wiederholende Wendung „Ich bin der Herr“ weist zurück auf die Analogie zwischen der Heiligkeit Gottes und der des Volkes, erinnert an die Unverfüg­ barkeit und Unbegreiflichkeit seines Wesens und gibt – gleichsam als Unterschrift – dem Verhaltenskodex göttliche Autorität.

1.3.2.3 Zusammenfassung und Ausblick Die Ethik der behandelten Gesetzestexte empfiehlt in ihrer entwickelten Form Gewaltminderung durch Mäßigung (Ex 21,26 f). Auch die Durchbrechung der Gewaltspirale durch die Möglichkeit der Befriedung des Gegners mit Aussicht auf Versöhnung ist in den Blick gekommen (Ex 21,28–30). Wenn solche ethi­ schen Maßstäbe auch in Erzählungen einfließen, wird damit ihre Praktikabilität am Beispiel erprobt und dargestellt. Insofern kann man solchen Erzählungen eine normendidaktische Funktion zusprechen. Das kann z. B. für die Lot-Sodom-Erzählung gelten: Mäßigung auf allen Seiten wird in der alten Ursprungsgeschichte reklamiert. Sie möge von der angegriffenen Seite als der im Recht befindlichen ausgehen, weil die angreifende Seite aufgrund sich selbst steigernder Gewalttätigkeit nicht die Kraft dazu finde. So kommt es zum hehren Versuch der Mäßigung durch Deeskalation. Dieser wird als Weg – selbst dann, wenn er nicht augenscheinlich zum Ziel führt – bestätigt durch Gottes

Sodom und Gomorra 

53

maßvolles und zugleich wirkungsvolles Eingreifen zugunsten des Rechts. – Wie Gewalt durch Mäßigung, Ausgleich und Versöhnung überwunden werden kann, lehren auch die Jakob-Esau-Geschichte und die Josephnovelle.

1.4 Sodom und Gomorra (Gen 18,17–19,29) 1.4.1 Traditions- und Redaktionsgeschichtliches Die Erzählung vom Untergang Sodoms (und Gomorras) gliedert sich in den ­Abraham-Isaak-Sagenkranz ein, speziell in die Abraham-Lot-Überlieferung. Diese beginnt schon in Gen 13 und 14 und konzentriert sich in 18,17–19,29 mehr und mehr auf Lot. Der Abschnitt 18,17–19,28 enthält ältere Überlieferungseinheiten, die zwar jetzt „unveräußerlich“82 zur Gesamtgeschichte gehören, sich aber doch noch durch feine Nähte, die sich als Sinnabschnitte ausgeben, abheben83. So ist Abrahams Fürbitte für Sodom überlieferungsgeschichtlich gesehen eine selbst­ ständige Einheit, ebenso 19,1–11 mit der unerwarteten Einführung „der zwei Engel“, von denen vorher nicht die Rede war. Mit 19,12 beginnt eine neue Szene, die Herausführung und Rettung von Lots Familie: Sinnabschnitt oder Naht? Ein­ gelagert ist in 19,18–22 eine Ätiologie, den Ortsnamen Zoar betreffend. 19,23 führt aus der Stadtätiologie redaktionell wieder hinaus zurück zur Rettung der Familie Lots. In der jetzigen Fassung sind weder 19,12–17.23–26 noch 19,18–22 als ehemals eigenständige Erzähleinheit zu denken, was unter der Voraussetzung, dass 19,1–11 eine ursprünglich geschlossene Einheit war, auf „Wachstumsringe“ schließen lässt. Gen 18,17–19 und 19,27–28 bilden den Rahmen zu der inzwischen gewachse­ nen Einheit 18,20–19,26. Im Rahmen ist als Person ausschließlich von Abraham die Rede. Damit ist literarisch nachvollzogen, was auch erwählungstheologisch gilt: Der Segen liegt auf Abraham und seinen direkten Nachkommen; Nebenli­ nien können nur im Rahmen der Erwählungsgeschichte Abrahams Erwähnung finden. 18,18 f legt davon beredtes Zeugnis ab. – Die Einfassung der Lot-SodomGeschichte in den Abraham-Rahmen legt sich aus verschiedenen Gründen nahe. Erstens beginnt die nach hinten erweiterte Geschichte mit Abraham, zweitens geht der Besuch der drei (zwei) Männer bei Abraham vorauf, und so konnte – drittens – schon in 18,16 eine Teilüberleitung von 18,1–15 zu 18,20 ff geschaffen werden, die „die Männer“, „Sodom“ und „Abraham“ erwähnte. Der andere Teil der Überleitung ist 18,17–19. Es dürfte nahe liegen, die Gesamtüberleitung 18,16–19 dem Redaktor des Abraham-Isaak-Sagenkranzes zuzuschreiben. Das Gleiche gilt dann auch für 19,27–28. 82 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 173. 83 Ders., a. a. O., S. 160.

54

Gott und der Mensch

Auszugehen ist von dem wohl ältesten Traditionsstück dieser Einheit, der Rettung Lots von der Verderbtheit der Sodomiter 19,1–11. Im Sinne der „Wachs­ tumsringe“ ist es allmählich weitererzählt worden, so dass in einem ersten „Ring“ 19,12–17.23–25 hinzukam. Das Motiv des zögerlich ängstlichen Lot (19,15 f) eig­ net sich, noch etwas ausgestaltet zu werden. Es verband sich dann mit der Ätiolo­ gie der Stadt Zoar. Schließlich erhalten in 19,26 die Salzfelsen am Toten Meer noch eine ätiologische Begründung, die sich aus 19,17 herleitet und von daher auch eine theologische Tiefe in sich birgt. – Nach der anderen Seite hin zeigt sich der „Wachstumsring“ in 18,20–33, einem rechtstheologischen Zwiegespräch zwischen Abraham und Jahwe, in die Form eines Appells gefasst. Diese Reflexion ist jünger als der narrative Stoff84, aber wohl schon mit 19,1–26 zusammengewachsen, bevor der Rahmen 18,17–19 und 19,27–28 entstand. In der hier skizzierten Reihenfolge werden die Texte unter den bekannten Fragestellungen untersucht.

1.4.2 Gen 19,1–11 1.4.2.1 Das Gottesbild Von Jahwe / Gott ist in diesem Abschnitt nicht wörtlich die Rede. Und doch ist von vornherein klar, dass wir es in der Gestalt der zwei Engel mit Gott zu tun haben. Sie tauchen aus dem Nichts auf, retten Lot mit starkem Arm, schützen das Haus im letzten Moment (19,10) und vollziehen ein Strafwunder an den gewalt­ sam homosexuellen Sodomitern (19,11). Lot seinerseits verhält sich so, wie man sich Fremden gegenüber, die das Gastrecht genießen, verhält; und doch vollzieht er dabei unbewusst Proskynese vor der Gottheit: Er, der „Knecht“ (19,2), „neigt“ sich vor ihnen bis zur Erde (19,1)85. Im Übrigen werden „die“ zwei Engel durch den Artikel als bekannt eingeführt. Möglicherweise geht der Artikel auf das Konto des Redaktors, der damit eine Verbindung zu den drei Männern (18,16) = Jahwe (18,1.13 f), die von Mamre nach Sodom aufgebrochen waren, hergestellt hätte. Die zwei Engel treten hier als Personifikation des Rettungswillens Jahwes und seiner Gnade auf für die, die gerecht leben. Äußeres Zeichen von Lots Gerechtig­ keit ist seine Gastfreundschaft, die nicht nur ein positives Sozialverhalten dar­ stellt, sondern durch das Vorbild Abrahams (18,3–8) geheiligt ist86. Der Gerechte ist aber in dieser Geschichte auch der vom bösen Treiben (19,7) der Gewalttä­ ter (19,9) Bedrängte (19,4 f.9). Für diesen seinen Gerechten ergreift Jahwe Partei. 84 Ders., a. a. O., S. 166. Hier geht es um eine sehr neue, eigenwillige theologische Reflexion des Kollektivismus: Wie wirkt sich das Kollektiv der Minderheit auf Jahwes Gerechtigkeit aus? – Dass diese Reflexion einmal unabhängig von „Sodom“ nur von „der Stadt“ gesprochen habe (vgl. dazu bes. 18,26) – so H. Seebass, Genesis II/1Neukirchen-Vluyn 1997, S. 132 f – ist Spekulation. 85 Vgl. auch 18,2 f. 86 Zwar gibt es hierzu keine göttliche Gesetzgebung, aber immerhin steht der Fremde unter dem Schutz des Liebesgebotes (Lev 19,33 f).

Sodom und Gomorra 

55

Die Geschichte sagt: Er ist da, wenn auch verborgen und unerkannt87; er hält seine Hand über den Gerechten in seiner Not; er rettet ihn aus Bedrängnis und Gewalt; er richtet den seelisch und körperlich fast am Boden Liegenden (vv 8 f) wieder auf. Dass der Rettende im gleichen Zug auch die andringenden Gewalttäter durch zeitweise Blendung88 außer Gefecht setzt, ist Teil seines Rettungshandelns. Es ist sicherlich „Gewalt“, aber rettende Gewalt im Dienste der Ausschaltung des Bö­ sen, zugleich „sanfte“ Gewalt, weil niemand dauerhaft zu Schaden kommt. Gott als milder Richter des Bösen ist darin entschiedener Retter seines Gerechten. Der richtende Gott erweist sich als der aufrichtende. Das ist sein Gesicht. Dass dies strafende Strenge nicht ausschließt, profiliert das gnädige Antlitz nur umso mehr.

1.4.2.2 Ethische Implikationen Diese Geschichte demaskiert blindwütige Gewalt als Sünde. Gewalt hat immer einen Grund und ist zielgerichtet. Neben der Bestimmtheit durch die Sünde, die sich in Bosheit von Jugend auf manifestiert, liegt der Grund der enthemmten Ge­ walt hier in ihrer Verbindung mit der Sexualität, genauer: mit der Homosexualität. Wenn Gewalt von Sexualität entfesselt wird und umgekehrt sich Sexualität mit Gewalt verbindet, dreht sich die Spirale des Unheils bis zur Selbstzerstörung der Gewalttäter. Ziel der Gewalt sind fremde Männer: zum einen die zwei Boten, die am Abend nach Sodom kommen (19,1), zum anderen Lot, der als „Fremdling“ in der Stadt gilt (19,9; vgl. 13,10–13; 14,16). Das Ziel offenbart zugleich die Sünd­ haftigkeit der Gewalt. Diese Gewalt missachtet das Gastrecht und missachtet den Schutz des Fremden, später in Lev 19,33 f / Dtn 10,19b formuliert. Die Tatsache, dass die Gewalt sich teilweise an Gottes Boten austoben will, aber auch an Gottes Gerechtem, zeigt, dass die hier sich entladende Gewalt letztendlich Gewalt gegen Gott selbst ist. Verfolgt man den Spannungsbogen der Geschichte, ist die sich steigernde Gewaltspirale deutlich erkennbar. Sie ist nicht zu stoppen, wenn Menschen sich der Gier hingeben statt einem gerechten Lebenswandel. Die Geschichte erzählt: Offenbar haben homosexuell Orientierte zwei Fremde bei Lot einkehren sehen89. 87 Die Erzählung enthält keine Erkenntnisszene. Für Lot bleiben die beiden Boten als Reprä­ sentanten Jahwes unerkannt. Ob und wann die Erkenntnis in ihm aufblitzt, lässt der Erzähler bis hierher offen (vgl. aber die Fortsetzung in 19,14!). Der Hörer / Leser allerdings weiß mehr. Ihm erschließt sich das Wesen und Wirken Jahwes in der Gestalt der Engel von vornherein. Er weiß aber auch, dass er jederzeit in die Situation Lots geraten könnte. Dieses Wissen wird ihn fortan begleiten, seine religiöse Interpretationsfähigkeit scheinbar alltäglicher Ereignisse schärfen und sich später erneut paränetischen Ausdruck verschaffen (Hebr 13,2). 88 Das Schlagen mit Blindheit (v 11) „bedeutet offenbar nicht ein vollkommenes Erblinden, sondern ein Geblendetsein“ (G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 172; ebenso C. Wester­ mann, Genesis Kap. 12–36, a. a. O., S. 369). 89 Verurteilt wird in dieser Geschichte nicht die Homosexualität als solche, sondern ihre Verbindung mit Gier, die zur Gewalt führt. Verurteilt wird am Beispiel der Männer Sodoms

56

Gott und der Mensch

Sie haben Verlangen nach ihnen und – unterste Stufe der Gewalt – umlagern Lots Haus (19,4). Die Gewalt wird nun spürbarer: Sie fordern lautstark die Herausgabe der Fremden, um ihnen – ungefragt – „beizuwohnen“ (19,5). Das animalische Gesicht des Menschen nimmt Züge an, zumal wenn Triebhaftigkeit und Gier sich mischen. – Wie ist dieser Gewalt zu begegnen? Lot gibt ein Beispiel: offensiv, defensiv und deeskalierend. Offensiv, indem er sich den Gewalttätern stellt, sich so der Gewalt entgegenstellt: Er geht hinaus vor die Tür (19,6). Defensiv, indem er für die Sicherheit seiner „Gäste“ sorgt und hinter sich zuschließt (19,6). De­ eskalierend, indem er mit ihnen spricht und sie von ihrer frevelhaften Absicht abzubringen versucht. Das Gespräch beginnt von seiner Seite aus „barrierefrei“: Er nennt sie „Brüder“ (19,7), zugleich charakterisiert er jedoch offensiv ihr Tun als „übel“ (‫ ָ רעַ ע‬/ rā ῾a῾) (19,7). Er appelliert an ihr Gefühl für Gastfreundschaft (19,8) und versucht zu deeskalieren durch den Einsatz eines kaum noch zu recht­ fertigenden Angebots: seine Töchter (19,8). Schutz der Fremden vor Aggression steht ihm höher als die Jungfräulichkeit seiner Töchter. – Die Kombination aus Offensive, Defensive und Deeskalation, eigentlich als Möglichkeit der Gewaltbe­ grenzung und -überwindung empfohlen, da sie vom Gerechten ausgeht, vermag allerdings – das ist leider auch eine Erfahrung – gegen blindwütige Aggression nichts auszurichten. Diese kennt keinen Handel, hört keine Argumente, will sich nur über jemanden hermachen. So kommt es zu einer weiteren Stufe der Gewalt, der Androhung von Gewalt: sprachliche Drohgebärde: „Weg mit dir … Willst du was?“ (19,9). Aber auch sehr deutlich: Es werde ihm schlechter ergehen als jenen, über die sie sich hermachen wollen. Die Andringenden tragen die Züge eines ge­ fräßigen Raubtieres (19,9). Letzte Stufe der Gewalt: „Und sie drangen hart ein auf den Mann Lot“ (19,9). Man darf an körperliche Gewalt denken, derer Lot sich nicht erwehren kann, denn auf der schiefen Bahn der Gewalt gibt es für sie kein Halten mehr. Sich über die Fremden hermachen bleibt ihr Ziel. Auf dem Weg da­ hin kommt es zur Gewalt gegen Sachen: Sie brechen die Tür auf (19,9), aber das ist nur ein Zwischenschritt, im Grunde beginnt hier schon die Gewalt gegen die Fremden. – Wie kann man einem solchen Ausbruch von Gewalt noch begegnen? Der Erzähler rechnet damit, dass es Situationen gibt, in denen alle menschen­ möglichen Mechanismen der Gewalteindämmung nicht mehr funktionieren. Wo sich Gewalt derart durchsetzt – und das ist gelegentlich Realität –, kann man nur noch auf ein Eingreifen Gottes hoffen, zumindest aber soll man wissen, dass er die unheilige Verbindung von Sexualität und Gewalt. Das Gleiche gilt für die Parallelgeschichte Ri 19,22–25(26–30). Auch hier sind es Männer der Stadt Gibea, die einen Mann verlangen. Schließlich ist es ihnen aber egal: Sie treiben es auch mit der ihnen stattdessen angebotenen Frau. Daraus ergibt sich: Nicht die sexuelle Orientierung wird be- oder verurteilt, sondern die Verbindung von Sexualität und Gewalt (so auch Th. Römer, „Homosexualität in der Hebräi­ schen Bibel?“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede [Hg.], Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? [Psalm 8,5]. Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS B. Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 444; anders J. A. Soggin, Das Buch Genesis, Darmstadt 1997, S. 284).

Sodom und Gomorra 

57

die Eruption eines solchen menschenverachtenden und zerstörerischen Gewalt­ potentials nicht ungesühnt lässt. Den Glauben an Eingriff und / oder Strafe will der Schluss der Geschichte stärken, und so stellt er die Gewalt eindeutig unter das Verdikt Gottes. Die Geschichte stellt dem rettend-richtend-aufrichtenden Handeln Gottes die durch Sünde destruktive Verhaltensweise des Menschen gegenüber. Der Mensch, der sich dem Trieb und der Gier in Verbindung mit Gewalt hingibt, ist für sein animalisches Gesicht verantwortlich. Neben dieser kontradiktorischen Gegen­ überstellung gibt es aber auch eine Parallele zwischen Gottes und Lots Handeln. Diese ist beachtenswert für den Zusammenhang von Gottesbild und Ethik. Am Schluss der Geschichte wird Gott (bzw. die zwei Boten) dargestellt als Retter Lots und als ein im Urteil über die Bösen sich mäßigender Richter. Bemerkens­ werterweise legt Lot in den Versen vorher dasselbe Verhalten an den Tag: Er ist (vorläufiger) Retter der beiden Gäste und ein deeskalierender Richter (Er nennt das Übel beim Namen, schreibt es den Bedrängern aber nicht als Existential zu, sondern sieht sie nur zeitweise davon besetzt: „liebe Brüder …“.). Gerade in sol­ chen Parallelen zeigt sich erzählerisch die enge Verknüpfung von Gottesbild und Ethik. Ethik – so scheint es hier hindurch – ist nach biblischem Verständnis nicht ein gesellschaftlich vermitteltes Normengebäude, sondern Ausdruck dessen, wie der Mensch nach Gottes Bild sein soll.

1.4.2.3 Soziokulturelle Beobachtungen Es fällt auf, dass sich frevelhafte Gesinnung und boshafte Verhaltensweisen oft mit der Stadt verbinden. Sodom und Gibea sind hierfür Beispiele. In diesen beiden Städten führt die Verbindung von Sexualität und Gewalt zu widergöttlichem Verhalten. Sofort fällt der Blick auch auf Babel und Ninive. Babel ist zwar eine reale Stadt, sie ist aber in eine Sage hineingenommen und hat so Symbolwert bekommen für jedwede Stadt, die in ihrer Macht- und Kraftentfaltung sich allein auf ihre scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten stützt und darüber die von Gott gesetzten Grenzen vergisst. Wer die eigenen Grenzen übersieht, huldigt einem „heimli­ chen Titanismus“90, und diese sündhafte Überheblichkeit wird geahndet91. Um Bosheit und Gewalt geht es auch in Ninive (Jona 1,2; 3,8), ohne dass die Art der Sünde näher beschrieben würde. Da Ninive – ebenfalls im Dunst der Sage92 – als „sehr groß“ beschrieben wird, muss angenommen werden, dass auch Bosheit und Gewalt „sehr groß“, zumindest weit verbreitet sind. Im Unterschied zu den drei anderen genann­ ten Städten kommt es hier zur sittlichen Wende, wodurch die Stadt als eine innerlich erneuerte und Gott zugekehrte (3,9) erhalten bleibt. Diese Linie lässt sich ins Neue Te­ stament hinein verfolgen, wenn man etwa an den Weheruf Jesu über die unbußfertigen

90 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 113. 91 Ich gehe hier nicht auf die traditionsgeschichtlichen Aspekte der vorliegenden Sage ein. 92 F. W. Golka, Jona, Stuttgart 1991, S. 48.

58

Gott und der Mensch

Städte (Mt 11,20–24 par Lk 10,12–15) und die Wortschöpfung κορινθιάζεσθαι (korin­ thiázeshtai) für einen lockeren Lebenswandel denkt. Zwei Städte bilden ein Pendent dazu: Jerusalem, die Stadt Davids, die Stadt Gottes und seiner räumlichen Gegenwart im Tempel – wiewohl auch Jerusalems „Bosheit“ zeitweilig unter Anklage steht (Jer 4,14–18; 23,11; 33,5; Mt 23,37–39 par Lk 13,34–35) – und Bethlehem, die Stadt der Verheißung (Mi 5,1; Mt 2,1.5 f). Jerusalem nimmt in den späten Schriften des Neuen Testaments symbolische Be­ deutung an. Als die irdische Stadt ist sie der Vergänglichkeit preisgegeben. Wer durch Mauern, Türme oder auch Tempel sich und damit Menschenwerk verewigen will, ist auf dem Irrweg: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,14). Das Suchen öffnet den Geist auf den Empfang der Offenbarung hin: „Und ich (scil. Johannes) sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine mächtige Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe, die Stätte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und Gott selbst wird bei ihnen sein …“ (Offb 21,2 f). Das neue Jerusalem vom Himmel her als Ziel des Wirkens Gottes. Dies ist umso herrlicher, als es sich von der „Hure Babylon“ (vgl. Offb 17–19, bes. 18,1–19) in glanzvoller Weise abhebt93. Die Tatsache, dass Bosheit in den Städten konzentriert verortet wird – wiewohl sie auch auf dem Lande anzutreffen ist (z. B. Jer 23,10 oder Hes 14,12–20) – mag mit der Vorstellung zusammenhängen, dass die kulturellen Errungenschaften der Menschen, die in der Stadt besonders ansichtig werden, den Kultus verdrängen94.

1.4.3 Gen 19,12–26 1.4.3.1 Das Gottesbild Die „Boten“ = „Engel“ aus 19,1–11 werden hier zu bloßen „Männern“. Das ist zum einen ein Zeichen für eine Naht im Textganzen, den Beginn des „Wachstums­ rings“, zum anderen hat es auch etwas mit dem Gottesbild zu tun. Gott zeigt sich hier anders. War er in 19,1–11 langsam zum Zorn, so ist es hier aus mit seiner 93 Mit dem eschatologischen Ziel der Herabkunft der ewigen Gottesstadt am Ende der Of­ fenbarung des Johannes wären die Beurteilungen der Städte am Anfang der Offenbarung durch den Menschensohn in Beziehung zu setzen. – J. van Oorschot versucht eine Städtetheologie Israels zu skizzieren, bezieht sich dabei freilich nur auf die positive Konnotation, die Jerusalem als „Stadt unseres Gottes“ (Ps 48,2) weckt, und auf Babylon als deren Gegenbild („Die Stadt – Lebensraum und Symbol. Israels Stadtkultur als Spiegel seiner Geschichte und Theologie“ in: M. Witte [Hg.], Gott und Mensch im Dialog [FS für Otto Kaiser zum 80. Geb.] I, Berlin, New York 2004, S. 166 ff; 177 f). 94 E. Noort scheint auch solchen Zusammenhang anzudeuten: In einer urbanen Gesell­ schaft ist Auflösung und Zerstörung der Gemeinschaft eine ständige Gefahr und „the greatest of all sins“ (E. Noort, „For the Sake of Righteousness. Abraham’s Negotiations with YHWH as Prologue to the Sodom Narrative: Genesis 18:16–33“ in: E. Noort, E. Tigchelaar [Hg.], Sodom’s Sin. Genesis 18–19 and its Interpretations, Leiden, Boston 2004, S. 4).Wir sprechen heute von „Entsolidarisierung“ der Gesellschaft, die gewiss mit der Verstädterung einhergeht.

Sodom und Gomorra 

59

Geduld. Zeigte er sich in 19,1–11 als der rettend-aufrichtende, erweist er sich hier als der strafend-hinrichtende. Da der „Engel“ überwiegend positiv konnotiert ist, lässt sich die Engelerzählung hier kaum noch durchhalten. So wird der Engel-Gott nun zum Männer-Gott, dem es nichts ausmacht, über Sodom (und Gomorra) das Verderben zu bringen95. Das unausweichliche Gericht steht im Vordergrund. Gott ist der Gott des Gerichts. Siebenmal werden im Zusammenhang mit ihm Verben der Vernichtung gebraucht: 19,13: Er wird / sie werden Verderben bringen (‫ ָ שׁ ַחת‬/ ​ schāchat) (2×); 19,14: Lot gibt die Nachricht des Verderbens (‫ ָ שׁ ַחת‬/ schāchat) an seine künftigen Schwiegersöhne weiter; 19,15: Gefahr des Umkommens (besser: des „Zu-Beklagen-Seins“, ‫ נָ ָחה‬/ nāchāh); 19,17: nochmals Warnung vor dem Umkommen, hier allerdings ‫ ָ ס ָתה‬/ sātāh; 19,25: Vernichtung Sodoms und Umgebung (‫ ָ ה ַפך‬/ hāfach = das Oberste zuunterst kehren). Nur im Blick auf Lot und seine Familie leuchtet Gottes gnädiges Antlitz auf, allerdings im Schatten des Ge­ richts: 19,16: Jahwe will ihn, seine Frau und seine beiden Töchter verschonen (‫ ָ ח ַמל‬/ chāmal); 19,21 (allerdings ätiologischer Zuwachs): Er will die Stadt Zoar nicht zerstören (‫ ָ ה ַפך‬/ hāfach mit Verneinung). Die erklärte Absicht Jahwes ist und bleibt in diesem Abschnitt das Verderben und die Vernichtung der Bösen und der Gewalttäter, und er führt das Zerstörungswerk auch aus. Die Vernichtung Sodoms hat Symbolcharakter. Sie ist Ausdruck der realen Möglichkeit des Zorngerichts Gottes. In vielen Zügen erinnert die Geschichte an die Sintflut, an die Absicht Jahwes, Bosheit und Gewalt gänzlich auszurotten und damit natürlich die, an denen die Verderbtheit klebt; in allem Untergang die Rettung Noahs (und seiner Familie). Die Anklänge sind bemerkenswert, weisen sie doch auf den unverrückbaren Grundsatz biblischer Theologie, wonach Gott gemäß seiner Zusage nie mehr eine Sintflut senden wird, wohl aber begrenzte Ge­ richte immer und überall möglich sind. Der Erhaltungswille im Blick auf die gute Schöpfung schließt das (begrenzte) Gericht nicht aus, sondern ggf. sogar ein96.

1.4.3.2 Ethische Implikationen Mit ethischen Implikationen ist hier kaum zu rechnen. Dieser Zuwachs ist letzt­ endlich eine Ergänzung des in 19,1–11 hervorgetretenen Gottesbildes, so dass sich 19,1–11 und 19,12–26 fast wie Text und Gegentext lesen und so in ihrer Gesamt­ heit sich einem Gottesbild der Koinzidenz von Gnade und Gericht annähern. Dennoch lässt sich am Verhalten der auftretenden Personen einiges im Blick auf gerechtes bzw. nicht angemessenes Handeln ablesen. Natürlich ist Lot nach wie vor Vorbild. Er ist keine idealisierte Person, er hat auch Schwächen. Seine Schwäche ist sein Hängen am Gewohnten. Er fordert 95 Die Identifikation der Männer mit Jahwe ist auf der Rezeptionsebene für den Hörer / Leser, aber auch schon auf der Erzählebene für Lot eindeutig (vgl. 19,13 f.16). 96 So auch H. Seebass, Genesis II/1, a. a. O., S. 149.

60

Gott und der Mensch

seine künftigen Schwiegersöhne auf, aus Sodom zu fliehen. Und er? Er muss doch tatsächlich von den Männern zum raschen Aufbruch gedrängt werden. Seine Schwäche ist seine Ängstlichkeit; er mag nicht ins Gebirge fliehen, lieber in die kleine Stadt. Aber in seinen Schwächen wirkt er eher liebenswert und komisch. Er ist eben der Gerechte, der Gott im Unterschied zu seinen Schwiegersöhnen ernst nimmt, der trotz allem auf Gottes Geheiß geht, wohin er ihn führen wird. Er ver­ liert den Gottesbezug seines Lebens nie aus dem Auge und ist darin Vorbild für ein Leben, das hört und sich führen lässt, und dabei darf er dann schon mal den einen oder anderen Einwand haben. Im Gegensatz dazu zeigen seine künftigen Schwiegersöhne ein anderes Gesicht. Sie haben den Gottesbezug verloren. Darum erscheint ihnen alles in dieser Hin­ sicht lächerlich. Ein Verhalten, das Gottes Walten im Leben keinen Raum gibt, ist zum Scheitern verurteilt. Lots Frau (19,26) gibt immer wieder Rätsel auf97. Natürlich muss das in 19,26 Gesagte im Zusammenhang mit 19,17 gesehen werden. Hier liegt der Deutungs­ schlüssel auch für 19,26. Ich verstehe 19,17 als nochmaligen kräftigen Anstoß, den der etwas zögerliche Lot bekommt, damit er auch ja auf dem Wege bleibt. Wer hinter sich sieht, der kann sich nicht trennen, geht vielleicht wieder zurück. Wer stehen bleibt, hängt noch zu sehr am Gewohnten und verfällt dem Selbstmitleid, statt in der Flucht nach vorn sein Leben zu retten. Dieses soll Lot auf jeden Fall tun, jenes bloß nicht! Natürlich gilt das auch für seine Frau und seine Töchter. Seine Frau gehorcht nicht dem Gotteswort. Rückblick in diesem Moment führt zur Erstarrung. Lots Frau verliert ihr Gesicht. Wer nur im Gestern lebt, ist für das Heute und Morgen nicht tauglich (vgl. Lk 9,62). Nicht nur jeder, der diese Geschichte hört, möge das bedenken, sondern auch jeder, der die markante Salz­ säule am Toten Meer sieht. Die Töchter werden mit Lot zusammen gerettet. Sie machen Gott nicht lächer­ lich, sie blicken auch nicht zurück. Ihre weitere Rolle ist in 19,30–38 beschrieben.

1.4.3.3 Eine Beobachtung zur Stadt Zoar Wie dargelegt, wird die gewöhnliche Stadt gern negativ konnotiert. Macht- und Kraft­ entfaltung, Selbstruhm und Überheblichkeit, Sittenlosigkeit und Gottvergessenheit sind die Merkmale der großen Stadt, deren zivilisatorisches Produkt es ist, dass so genannte Kultur mit dem Kultus in Konflikt gerät. Obwohl nun die Stadt Zoar offenbar im Um­ land von Sodom liegt, bildet sie eine Ausnahme. Denn „sie ist klein“ (v 20). Und die kleine Stadt ist offenbar von dem Makel der großen Stadt frei (vgl. Bethlehem!). Darum 97 Neuerdings hat sich J. Bremmer als einer der Wenigen, die sich mit Lots Weib eingehender beschäftigen, der Entschlüsselung der Symbolik gewidmet („From the Wife of Lot to Orpheus and Euridice“ in: E. Noort, E. Tigchelaar [Hg.], a. a. O., S. 131 ff). Aus einem vielschichtigen Mo­ tivkomplex hebt er bei Lots Weib vor allem hervor, dass sie den Ort der Sünde nicht konsequent genug verlasse (143).

Sodom und Gomorra 

61

wird die Kleinheit der Stadt im selben Vers auch zweimal betont98. Somit ist die mög­ liche Frage, warum Lot denn aus einer Stadt in eine andere fliehen will, beantwortet: Zoar ist keine Stadt wie jede andere. Darüber hinaus steht sie um Lots willen unter Jahwes Schutz (19,21 f).

1.4.4 Gen 18,20–33 1.4.4.1 Das Gottesbild Der Erzählung von der Verderbtheit der Sodomiter und deren Forterzählung in der Geschichte vom Untergang der Stadt ist hier ein Selbstgespräch Jahwes und ein Zwiegespräch mit Abraham vorgeschaltet, das rechtstheologischen Charakter hat. In diesem Mono- bzw. Dialog tritt Jahwe als „Schirmherr des Rechts“ auf99, als behutsam vorgehender Untersuchungsrichter, und Abraham als Anwalt der Gerechten. Die Ankläger, also die, die den Klageruf (‫ זְ ָע ָקה‬/ sᵉ῾āqā = hier mit „Ge­ schrei“ wiedergegeben) mit dem Wort ‫ ָ ח ָמס‬/ chāmās = „Gewalttat!“ erheben, blei­ ben im Dunkel100. Rechtstheologisch gesehen wird hier auf eindrucksvolle Weise demonstriert, dass Recht in seinem Bestand wie auch in seinen Ausnahmen und Veränderungen stets Gottesrecht ist: Gott kommt herab und kümmert sich um das Seine und handelt schließlich mit Abraham eine lex Sodom aus. Theologisch geht es dem kritischen Geist, dem diese Ergänzung entspringt, um eine Neubestimmung der Gerechtigkeit Gottes: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“ Der so fragt, befindet sich mitten in der Theo­ dizeeproblematik. Kann Gott das eigentlich? Darf er das? Der Theologe denkt in 18,25 weiter: Wenn du den Gerechten mit dem Gottlosen tötest, dann „wäre der Gerechte gleichwie der Gottlose“. Das sei ferne! Denn dann wäre Gerechtig­ keit eine Farce, Gerechtigkeit wäre Ungerechtigkeit und umgekehrt. Das ist nicht denkbar und nicht glaubbar für diesen Theologen101. „Das sei ferne …“. – Dabei ist ihm natürlich der herkömmliche Begriff der Gerechtigkeit vertraut. Dieser spiegelt sich im Selbstgespräch Jahwes: Gottes Gerechtigkeit ist immer in Rela­ tion zur jeweiligen Gemeinschaft zu verstehen, die sich in einem Rechtsverhältnis zu ihm befindet. Hier stellt das sündige Sodom die Gemeinschaft dar, in die das Individuum sippen- und stammesmäßig eingebunden und nicht ohne Weiteres herauslösbar ist. So gilt auch vor Gott das Gesetz der Kollektivhaftung, also das

98 BHS erwägt, die erste Erwähnung der Kleinheit als Glosse anzusehen. Wenn überhaupt, ist eher die zweite Erwähnung eine solche. Ich glaube aber, dass die doppelte Erwähnung aus apologetischen Gründen gewollt ist. 99 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 165. 100 Hier wird der Aspekt der verletzenden und herabwürdigenden Gewalt aus Gen 19,1–11 aufgenommen. Das ist Sünde und nicht die homosexuelle Orientierung. 101 Anders aber Hi 9,22 und Pred 9,2–3.

62

Gott und der Mensch

vernichtende Urteil über alle, falls „ihre Sünden sehr schwer sind“ (18,20)102. Wenn nun Gottes Gerechtigkeit sowohl die Gerechtigkeit ist, die von ihm ausgeht (gen.subi.), als auch die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt (gen.obi.), muss es möglich sein, eben jene (vielleicht auch nur wenigen) Gerechten im angemessenen Ge­ meinschaftsverhältnis zu halten. Theoretisch denkbar wäre Einzelfallbehandlung. Dann ginge es dem Sünder immer schlecht und dem Gerechten immer gut103. Das widerspricht der Erfahrung, die einen theologischen Niederschlag im Buch Hiob gefunden hat; und theologisch begründeter Individualismus ist für jene Zeit ana­ chronistisch. Daher bleibt nur der Weg in eine andere Form des Kollektivismus, in einen Stellvertretungs-Kollektivismus. D. h. es geht um die Frage, ob „selbst eine ganz kleine Zahl von Schuldlosen in den Augen Gottes wichtiger ist als eine Ma­ jorität von Schuldigen und das Gericht aufzuhalten imstande wäre …“104. Wenn es so wäre – und es scheint dem Theologen nicht ganz ausgeschlossen, das besagt der sechsfache erfolgreiche Handel Abrahams mit Gott – dann müsste Jahwe sein Gemeinschaftsverhältnis zu „Sodom“ neu bestimmen: Nicht die strafwürdige Mehrheit bestimmt sein Handeln, sondern schon eine verschwindend kleine Minorität, um derentwillen die Schuldigen geschont würden. Die strafende Ge­ rechtigkeit würde überholt von der Gnade; Gottes Gerechtigkeit würde sich nicht mehr an den zu Strafenden, sondern an den zu Rettenden orientieren. Ob Gott sich darauf einlässt, ist offen. Ob man Gott so in Zukunft wird sehen können, ist die Frage. Der Schluss bleibt offen: „Und der Herr ging weg, nachdem er auf­gehört hatte, mit Abraham zu reden …“ (18,33)105. Aber immerhin: Seit Abraham sich dem Herrn in den Weg gestellt hat, ist nicht mehr alles beim Alten. Und seit er wieder an seinen Ort zurückgekehrt ist106, liegen auf dem richtenden Gott alle Hoffnungen, der rettende Gott zu sein107.

102 Dieses Gesetz hat später in Dtn 21,1–9 seinen charakteristischen Ausdruck gefunden (Vgl. dazu J. Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche Stu­ dien zum Sühnekuhritus des Deuteronomiums und verwandten Texten, Tübingen 2010). 103 Später erwogen in Hes 18,1–20 und 14,12–20. 104 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 168. 105 18,33 ist gewollt offener Schluss. So auch E. Noort, „For the Sake of Righteousness“, a. a. O., S. 6, der diesen Disput mit der Anklage Hiobs in Hi 9,22–24 vergleicht: „What becomes an accusation of pure sadism in Job 9:22–24, is kept an open question …“; anders H. Seebass, Genesis II/1, a. a. O., S. 138 f. 106 V. Rad erwägt, dass in 18,22 der Herr vor Abraham getreten sei, damit dieser sich ihm öffne. Ähnlich auch H. Seebass, Genesis II/1, a. a. O., S. 129 f. Vorzuziehen bleibt aber der be­ stehende Text, weil er mit Hinzutreten und Weggehen Abrahams einen logischen Rahmen bildet. 107 J. A. Soggin denkt an die Entstehung dieser Episode um die Zeit des babylonischen Exils, bei dem es sich auch „um eine eindeutig kollektive Züchtigung, welche mit der Bestrafung indi­ vidueller Schuld nichts mehr zu tun hatte“, handelt („Abraham hadert mit Gott. Beobachtungen zu Genesis 18,16–32“ in: I. Kottsieper, J. van Oorschot, D. Römheld, H. M. Wahl [Hg.], „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“ FS Otto Kaiser zum 70. Geb., Göttingen 1994, S. 214 f).

Sodom und Gomorra 

63

1.4.4.2 Das Gottesbild im Wandel der Zeit Unter der Voraussetzung der dargestellten Textentwicklung lässt sich auch ein Wandel bzw. eine Entwicklung des Gottesbildes erkennen. Im ältesten Teil ­(19,1–11) ist Gottes Wesen verhüllt und sein Wirken nur indirekt durch Boten spürbar. In seiner ihm eigenen Verborgenheit setzt er sich aber sehr bestimmt für seine(n) Gerechten ein und macht die Gewalttäter unschädlich. Er ist sehr wohl der richtende Gott, aber das Gericht dient der Rettung und Aufrichtung des Ge­ rechten. Darauf zielt Gottes Handeln. In der Folgezeit wurde der Gedanke des gütigen Gottes, der auch zornig werden kann, aber nur langsam, nicht durchgehalten. Strafe „auf Bewährung“ war nicht mehr denkbar. Strafe musste als Gericht vollzogen werden. So wurde aus dem rettend-aufrichtenden der strafend-hinrichtende Gott. Vor ihm ist die sündige Stadt im Kollektiv haftbar; Ausnahme: der eine Gerechte mit seiner Familie. Gott ist der strafende Gott, dessen Gnade nur den Hintergrund bildet, um die Strafe umso schärfer ins Bild zu setzen. Wenn eine Vorstellung sich derart zu einem Extrem hin entwickelt, ist es ver­ ständlich, wenn sich dann irgendwann wieder das kritische Nachdenken und Fragen durchsetzt und das gewordene Gottesbild auf den Prüfstand kommt. Das ist geschehen, und in Gen 18,20–33 liegt das Ergebnis vor: Man ist auf dem Weg zu einem Gott, der das Gericht aussetzt um einer gerechten Minorität willen. Man stellt sich das Gesicht Gottes anders vor als bisher, geprägt von der neuen Gerechtigkeit. Der Weg von einem Gottesbild der Güte und Barmherzigkeit zu einer Vor­ stellung des zornigen und strafenden Gottes und wieder zu einer Revision dieses Gottesbildes ist nicht ungewöhnlich. H. Spieckermann hat ihn auch für die Ent­ wicklung der Gnadenformel Ex 34,6 nachgewiesen108, und er hat ja auch in der Glaubensgeschichte immer wieder seine Parallelen. Der jetzige Textverlauf von 18,20–19,28 entspricht nicht der zeitlichen Rei­ henfolge seiner Entstehung. Dennoch ist die jetzige Zusammenfügung sinnvoll. Der Ergänzer von 18,20–33 muss sich etwas dabei gedacht haben, dass er die of­ fen endende Frage an Gott bzw. an das alte Gottesverständnis dem gewachsenen Stück 19,1–28 voran- und nicht hintangestellt109 hat: Es bleibt in Bezug auf das neue Gottesverständnis, in Bezug auf die neue Gerechtigkeit, in Bezug auf den 108 H. Spieckermann, „‚Barmherzig und gnädig ist der Herr …‘“, in: Ders., Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2004, bes. S. 4–12: Ursprünglich wohl kultisches Gotteslob, in die Krise geraten in der Prophetie des 8. und 7. Jh. (Hosea u. Jeremia), deuteronomistisch unter Hervorhebung des Zorns verwandelt in Heimsuchung und Vergeltung, spätdeuteronomistisch (Ex 32–34) wieder­ entdeckt als Artikulation des in seiner unendlichen Güte immer wieder vergebenden Gottes. – Zu Motivverdrängung und Motivwiederkehr vgl. auch AT 3.9.1, hier das zum zweiten Nacht­ gesicht Gesagte, und 3.12.2, Anm. 471. 109 Eine Hintanstellung hätte wohl dann den Gedanken der Reue Gottes aufnehmen müssen.

64

Gott und der Mensch

Stellvertretungs-Kollektivismus bei einem Vielleicht. Gott hat nach wie vor zwei Seiten, die großmütige und die kompromisslose. Beide sind in ihm vereint. Die großmütige ist Gegenstand der Hoffnung, die kompromisslose lässt Hoffnung bleiben, was sie ist, und nicht zur falschen Sicherheit verkommen.

1.4.5 Gen 18,17–19 und 19,27–28 1.4.5.1 Das Gottesbild Wie der Mensch sich selbst findet nur in seiner Beziehung zu Gott, so definiert Gott sich selbst nur in seiner Beziehung zum Menschen, nicht zum Menschen im Allgemeinen, sondern zu einem Menschen, der zwar in den Bereich der Sage gerückt ist, dennoch aber mit Herkunft und Namen historisch verankert wird: Abraham. Ihn hat Gott erkannt, erwählt, auserkoren, „sich vertraut gemacht“110 und in ihm sein Volk – auch hier die historische Verankerung der Erwählung – zum Segen aller Völker. Es besteht also ein besonderes Vertrauensverhältnis, fast eine besondere Intimität, zwischen Jahwe und seinem Erwählten. Diese Intimität ermöglicht Abraham Zugang zu Jahwes Rat („… was ich tun will“). Einen Augen­ blick mag Jahwe zögern, Abraham in seinen Plan einzuweihen; aber zugleich weist er diesen Gedanken weit von sich („… Wie könnte ich …“). Das „kleine Selbstgespräch“ Jahwes111 gibt einen Einblick in das Wesen und Wirken Gottes: Erwählungstreue siegt gegen Selbstherrlichkeit; Treue zu seinem Bund über den Gebrauch absoluter Freiheit: Gott definiert sich selbst in seiner Beziehung zum, d. h. in seiner Selbstbindung an seinen Vertrauten. Nachdem Gott über allen Selbstzweifel erhaben ist („…Wie könnte ich …“), wirbt er bei Abraham um Verständnis für sein Gericht an Sodom. Er muss es tun, da Abraham „doch ein großes und mächtiges Volk werden soll …“. Der Zwang zur Selbstoffenbarung liegt m. E. darin, dass Abraham, der Verheißungsträger, andernfalls eines Gottes inne würde, der in seinem Zorn wohl auch vor der Ver­ nichtung seiner Verheißung nicht zurückschrecken würde. Nun aber gilt: Die Verheißung wird über das Gericht hinaus bestehen bleiben, „auf dass der Herr auf Abraham kommen lasse, was er ihm verheißen hat“. Der Rahmenbildner kann sich das Gericht nur für die Heiden vorstellen, nicht für das Volk der Erwählung, das in den Fußstapfen Abrahams wandeln wird (18,19). Gewalt und gnädige Führung sind in Jahwe vereint, werden aber für den Rahmenbildner in distributivem Sinn in der Welt konkret. Gleichwohl identifi­ ziert er sich mit dem theologischen Denker, der in 18,20–33 die Theodizeefrage stellt und nach einer neuen Gerechtigkeit sucht, die den rechten Wandel weniger Guter würdigt und den Bösen zum Überleben anrechnet. Der Rahmenbildner 110 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 164. 111 Ders. ebd.

Jakob und Esau 

65

wird in diese Suchbewegung mit hineingenommen, ohne bereits eine Lösung gefunden zu haben, vielleicht ahnend, dass diese Lösung nur von Gott kommen kann.

1.4.6 Gen 19,29 1.4.6.1 Das Gottesbild Gen 19,29 wird P zugerechnet. Hier schont Gott nur Lot und zerstört „die Städte in der Gegend“, während er doch in 18,33 offen gelassen hatte, das Zerstörungs­ werk wegen auch nur zehn Gerechter aufzuhalten. Liegt P eine uns unbekannte Tradition vor?112 Gegenüber den nichtpriesterlichen Traditionen zeichnet sich dieser P-Zusatz allerdings durch keine besondere theologische Tiefe aus.

1.5 Jakob und Esau (Gen 27–33) 1.5.1 Spannungsbögen als Strukturmerkmale Die Jakob-Esau-Geschichte ist geprägt durch einen großen und einen kleinen Spannungsbogen. Der große Spannungsbogen beginnt mit der Erschleichung des Erstgeburtssegens auf Veranlassung Rebekkas, er steigert sich mit dem Entsetzen Isaaks über den Betrug und dem Aufschrei des ins Mark getroffenen Esau. Er erreicht einen Höhepunkt in dem Beschluss Esaus, seinen Bruder umzubringen (27,1–41). Auf dieser Höhe bleibt der Spannungsbogen eine Weile; inzwischen baut sich darunter ein neuer auf: Jakobs Flucht zu Laban auf Anraten seiner Mutter Rebekka, das durchaus nicht konfliktfreie Verhältnis zwischen ihm und seinem Onkel, das nicht frei ist von Gaunereien, Versuchen der Übervorteilung und Missverständnissen, Jakobs Fluchtversuch mit seiner inzwischen erworbenen Habe und den inzwischen ebenfalls „erworbenen“ Töchtern Labans. Höhepunkt des kleinen Spannungsbogens ist das Scheitern der Flucht und der dem Grundsatz der Mäßigung entsprechende Bundesschluss zwischen Jakob und Laban. Danach gehen beide ihrer Wege (27,42–32,3). Damit rückt der große Spannungsbogen wieder ins Blickfeld. Was wird geschehen, wenn Esaus Streitmacht auf Jakobs Zug trifft? Gemetzel oder Befriedung durch Proskynese? Wird Esau Jakobs Ver­ söhnungsgesten annehmen? Im Aufeinandertreffen ist der absolute Höhepunkt erreicht, zugleich die Entspannung in der Versöhnung. Was noch folgt, ist nicht unwesentlich, es bestimmt den weiteren Weg beider als einen Weg in versöhnter Verschiedenheit (32,4–33,20). Damit bewegt sich der große Spannungsbogen in 112 Hier „gedenkt“ Gott Abrahams, wie er in Gen 8,1 (P) Noahs „gedachte“. In beiden Fällen werden Dritte gerettet.

66

Gott und der Mensch

seiner Aussagekraft über den kleinen hinaus. War Mäßigung schon ein Fortschritt, so wird in der Versöhnung nun der Königsweg der Gewaltüberwindung gesehen. Mag sich angesichts der räuberischen Gewalt Jakobs die Frage stellen, ob Esaus rächende Gewalt nicht legitim sei, so muss diese Frage doch als überwunden und überholt gelten, weil es einen besseren Weg gibt, den der Mäßigung und der Versöhnung. – Innerhalb dieser Spannungsbögen wird auch deutlich: Wo Ge­ walt aufbricht, ist auch immer Schuld mit im Spiel. Darum lehrt der Jakob-EsauSagenkranz auch den falschen und den rechten Umgang mit Schuld. Der rechte Umgang mit ihr enthält die Chance der Vergebung. Sie ist die Voraussetzung zur Versöhnung. Der Jakob-Esau-Sagenkranz ist in erster Linie ein profaner Textzusammen­ hang113. Darum handelt er von ethischen Maximen und von Methoden, jene ggf. umzusetzen. Profanität ist aber keineswegs vom Göttlichen geschieden, sondern offen für göttliches Einwirken, etwa durch Segen. Es ist sogar ganz im Sinne alttes­ tamentlichen Denkens, das Profane als den Wirkungsbereich Gottes zu bezeich­ nen. Wenn dem so ist, dann liegt auch dieser Geschichte ein aus ihr erhebbares Gottesbild zugrunde.

1.5.2 Literarkritische Bemerkungen Die Jakob-Esau-Geschichte beginnt im synchronischen Zusammenhang bereits mit der Geburt der beiden (25,19–28) und Esaus Verkauf seines Erstgeburtsrechts (25,29–34). Aber der Verkauf der Erstgeburt ist eine eigene Geschichte114. Von Betrug und Gewalt resp. Vergebung und Versöhnung ist in ihr keine Rede, allenfalls von Schlauheit und Ein­ fältigkeit. Die Geburtsgeschichte und der Verkauf der Erstgeburt sind den Kapp. 27–33 vorgeschaltet. Dabei ist 25,28 als Brückenpfeiler hinüber in die Betrugsgeschichte einge­ schoben. Der andere Brückenpfeiler ist 27,36, wo Erstgeburts- und Segenserschleichung unter das Stichwort „List“ gestellt werden. Die Kapp. 27–33 sind aufgrund des kunst- und sinnvollen Ineinanders zweier Span­ nungsbögen als erzählerische Einheit zu betrachten. Dieser narrative Gesamtkomplex ist freilich ein sehr spätes Entwicklungsstadium, entstanden in zeitlicher Nähe zur schriftlichen Fixierung. Nichtsdestoweniger sind Einzeltraditionen erkennbar, die dem Werdeprozess des Jakob-Laban-Esau-Sagenkranzes gedient haben. Dazu gehören Jakobs Erschleichung des Erstgeburtssegens (27,1–41), die Himmels­ leiter zu Bethel (28,10–22), Jakobs Ankunft und Aufnahme in Haran (29,1–14), sein Dienst samt Labans Betrug (29,15–30) und eine Erzählung von der Eifersucht und Rivalität zwischen Lea und Rahel (29,31–30,24). Sie sind im Laufe der Überlieferungs­ geschichte zu einer Einheit zusammengewachsen115. 113 C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 531. 114 Mit E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984, S. 86 ff; gegen H. M.  Wahl, a. a. O., S. 264 f. 115 Dazu C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 565 und 575 f.

Jakob und Esau 

67

Unbeachtet bleibt 30,35–43. Hier stoßen mehrere miteinander unvereinbare Tra­ ditionen zusammen: Laban sondert aus (30,35) statt Jakob (30,32); Produktion weißer und bunter Tiere durch „genetische Manipulation“ (30,37–39) oder wirkmächtiges Wort Labans (31,8) oder natürliche Zeugung (31,10–12)116. – Demnach wird 30,34 in 31,1–5 fortgesetzt. 31,6–9 gehört zu einer unvereinbaren Tradition. 31,1–5 wird in 31,10–12 fortgesetzt, weil hier das Mitsein Gottes (31,5) stringent begründet wird. 31,13 ist re­ daktioneller Abschluss der Fluchtgeschichte und Überleitung zum Auszug aus Haran. In 31,24.29.42 sehe ich eine nachträgliche Theologisierung, ohne die die Erzählung „straffer und klarer“ ist117. Der Vertragsabschluss zwischen Laban und Jakob (31,44–54) mag als selbstständige Erzählung umgelaufen sein.118 Sie wird aus einer Ätiologie um Gal-Ed („Steinhaufen ist Zeuge“) herausgewachsen sein (31,48). Sekundär hat sich Mizpa eine urzeitliche Grün­ dungssage zugelegt, indem es sich in die Erzählung eingehängt hat119. 32,1–3 enthält wie 28,10–22 eine Ortsätiologie; bedeutsamer aber ist die Parallele des Engelgeleits bei Jakobs Eingang und Ausgang aus Haran. Mit diesen beiden Traditions­ stücken hat der Redaktor den kleinen Spannungsbogen gerahmt. Das Gebet Jakobs (32,10–13) gibt sich als „redaktioneller Programmtext“120 zu er­ kennen (vgl. den Rückgriff auf die „Väter“ und das „Weiter“ zu Beginn). Von dieser Re­ daktion stammt auch die Einfügung des Traditionsstücks von Jakobs Kampf am Jabbok (32,23–33). Sie ist quasi die Antwort auf Jakobs Gebet und stellt Gottes Segen fest vor der kritischen Begegnung mit Esau. Der Redaktor arbeitet also mit nachträglichen Theologisierungen und mit Einschü­ ben. Letztere dienen der Abgrenzungen von Sinneinheiten im Erzählfluss der Sage: Großer Spannungsbogen (Anabasis) Einschub: 28,10–22: Himmelsleiter von Bethel Kleiner Spannungsbogen Einschub: 32,1–3: Engelbegegnungen Großer Spannungsbogen (Katabasis) Strategie: Verzicht auf Widerstand Einschub: 32,10–13: Gebet Jakobs Strategie: Entfeindungsprogramm Einschub: 32,23–33: Kampf am Jabbok mit Segnung Begegnung mit Esau 116 J. Taschner, um synchronische Deutung bemüht, sieht darin nicht unterschiedliche Tra­ ditionen, sondern unterschiedliche Perspektiven: 30,35 ff die Perspektive des Erzählers, 31,8 die Jakobs und 31,10–12 die Gottes (Verheißung und Erfüllung in der Jakoberzählung [Gen 25,​ 19–33,17], Freiburg, Basel, Wien, Barcelona, Rom, New York 2000, S. 111 ff). 117 Dazu C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 602 und 606. 118 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 252. 119 Anders H. Seebass, Genesis II/2, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 370, der „und“ streicht und „Gal-Ed von Mizpa“ liest. – 31,49–51 bleibt im Folgenden unberücksichtigt. Hier geht es um einen ganz anderen Vertrag, der an 31,43 anknüpft. Zudem gilt Gott und nicht das Steinmal als Zeuge. 31,51, eine unbeholfene Überleitung zum ursprünglichen Text, nimmt Laban – aus sychronischer Sicht überflüssigerweise – als Sprecher wieder auf. 120 Vgl. M. Pietsch, Art. Väterverheißungen in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Inter­ net (www.wibilex.de), 2012, S. 7 (Zugriff: 29.7.2020).

68

Gott und der Mensch

1.5.3 Die ethische Dimension I (Der große Spannungsbogen – Anabasis) Wie Versöhnung als Prozess geschildert wird (erst Trennung der Wege im Verges­ sen des Vorgefallenen; dann Unterwerfungsgeste des Schuldigen und darin Ein­ geständnis der Schuld; schließlich Rückerstattung der inzwischen erlangten Se­ gensgaben; Annahme der ausgestreckten Hand; Trennung der Wege in versöhnter Verschiedenheit), so auch die Entstehung des Konfliktes (willkürliches Bevorzu­ gungsprinzip gegen natürliches Geburtsprinzip; Betrugsabsicht; Betrug als Ge­ walttat; Tötungsabsicht gegen den Betrüger). Davon handelt die erste Hälfte des großen Spannungsbogens. Esau soll von seinem alten Vater Isaak nach Brauch und Sitte den Erstgeburtsse­ gen erhalten (27,1–4). Rebekka hintertreibt das zugunsten ihres geliebten (25,28!) Sohnes Jakob. Das Prinzip der Würdigung aufgrund natürlicher Reihenfolge (Sitte und Brauchtum) wird suspendiert und durch das Prinzip der Bevorzugung er­ setzt. Dieses wird der Rivalität unter den Brüdern Vorschub leisten. Zunächst aber fördert es Gewalt im weitesten Sinn; denn es lässt sich nur mit Betrug durchsetzen. Treibende Kraft ist dabei Rebekka, Jakob zunächst eher ein Getriebener (27,8–10). Er lässt sich aber, Bedenken überwindend, mehr und mehr in das Betrugsgesche­ hen hineinziehen. In ihm kämpfen Recht und Brauchtum gegen die Verlockungen der Bevorzugung. Die spätere offensichtliche Rivalität zwischen den Brüdern be­ ginnt als Keim in Jakob selbst. Nun bedarf es nur noch eines weiteren Auslösers seitens Rebekkas, um Jakob vollends zum stillen Teilhaber des Betrugsgeschehens zu machen: Rebekka nimmt den (für sie unwahrscheinlichen) Fluch im Falle des Scheiterns auf ihre Kappe; die zwei Böcklein von der Herde (statt des zu jagenden Wildes) solle Jakob ihr bringen, damit sie dem Vater das Mahl bereite. Das Per­ fide an dem Plan ist, dass sich beide „rein rechtlich gesehen“ bis jetzt die Hände in Unschuld waschen können. Warum soll Rebekka nicht ihrem Mann ein Mahl bereiten? Warum soll Jakob es nicht seinem Vater bringen? Wenn dieser dann Jakob segne, war’s halt ein Irrtum seinerseits (27,9 f). – Es wird ein Charakterzug Jakobs bleiben, sich „rein rechtlich gesehen“ einem Schuldspruch zu entziehen, und da wo es nicht anders geht, in rechtlich anerkanntem Maße Genüge zu leis­ ten. Es kommt einem inneren Wandel gleich, am Ende erfahren zu haben, dass er sich mit all seiner Schuld vorbehaltlos (Esau wie auch Gott) stellen kann und dabei Gnade findet (33,10). Mit dem Überstreifen des Fells und dem Umhängen des Festgewands zieht Rebekka Jakob endgültig in den Betrug hinein, so dass er von jetzt ab zum selbst verantwortlichen Akteur wird (27,14–17). Aus dem Hintergrund ist das Gottes­ wort an Kain zu hören: „Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen“. Die Verlockungen der Bevorzugung haben in ihm gesiegt. Damit tritt er auch bewusst in die Rivalität mit seinem Bruder (27,29).

Jakob und Esau 

69

Dieser denkt noch mit keiner Silbe an Rivalität. Doch plötzlich wird sie auch bei ihm ausgelöst durch Isaaks grenzenloses Entsetzen über den Betrug. Betrogen sind beide: Isaak und Esau; denn der einmalige Segen ist an den „Falschen“ weggegeben und lässt sich nicht wieder zurückholen. Esaus lauter Aufschrei, der keine Worte mehr zulässt, zeigt die Gewalttat des Betrugs; dem lauten Aufschrei folgt grenzen­ lose Betrübnis, Folge jener zum Himmel schreienden Gewalttat. Betrug ist Gewalt­ tat. Esaus Aufschrei prangert sie als solche an (vgl. auch Gen 18,20) (27,30–35). Esau ist um seine Zukunft betrogen (27,37–40). Diese Gewalttat kann aus sei­ ner Sicht nur durch eine noch größere Gewalttat (oder adäquate Gewalttat) ge­ rächt werden: Er beschließt, seinen Bruder umzubringen – Rivalität ohne Gnade. Allerdings: An dieser Stelle erscheint Rache verständlich. Ist sie damit auch legi­ tim? Diese Frage stellt sich hier. Zumindest muss mit blutiger Vergeltung nach der Gewalttat des Betruges, der Vater und Bruder gleichermaßen traf, gerechnet werden, nicht mehr nur spontan, sondern durchaus als geplante Aktion (27,41). Das löst Jakobs Flucht aus. Flucht ist Flucht vor den Folgen der Tat, ebenso aber auch Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten. Die Frage nach der Legitimität der Gewalt in diesem Fall wird weder bejaht noch verneint. Sie bleibt offen, und sie kann es auch, weil die Intention der Ge­ schichte ist, nach Auswegen aus der tödlichen Gewalt zu suchen. Werden Wege der Gewaltüberwindung gefunden, kann die Frage der Legitimität auf sich beruhen.

1.5.4 Die ethische Dimension II (Der kleine Spannungsbogen) Im Fortgang der Jakob-Esau-Geschichte wird zunächst durchgespielt, ob Flucht eine Möglichkeit der Gewaltüberwindung sei. Der kleine Spannungsbogen beginnt. Nur Flucht scheint ein Ausweg aus der tödlichen Gewalt, die wie ein wahr werdender Fluch auf Jakob wie auch auf Rebekka herniederzukommen droht (vgl. 27,13a mit 27,45c). Dass die Möglichkeit des sich selbst erfüllenden Fluchs immer stärker zur Wirklichkeit wird, ist auch ein Zeichen dafür, dass Esaus ge­ plante Gewalttat nicht illegitim wäre. Zunächst aber erscheint Flucht auf der Seite des Täters und die Hoffnung auf „Vergessen“ auf der Seite des Opfers eine Möglichkeit, der Gewalt zu entgehen – letztendlich, wie die Geschichte zeigt, eine trügerische Hoffnung. Vorerst aber scheint Haran für Jakob der Ort des Vergessens zu sein, ein Ort, wo die Untiefen der Vergangenheit überspielt werden durch gutes Leben, Arbeit und Liebe. Doch da holt ihn der Fluch des Betrugs wieder ein, jetzt in der Weise, dass er von seinem Onkel Laban mit dessen Töchtern betrogen wird (29,25: „… Warum hast du mir das angetan … Warum hast du mich denn betrogen?“). Hier deutet sich an, dass Flucht keine Lösung ist, im Gegenteil: Die böse Tat wendet sich mit Sarkasmus gegen den Täter selbst, gerade dann, wenn er meint, sie erfolgreich verdrängt zu haben.

70

Gott und der Mensch

Jakobs Bitte um Heimkehr (30,25–34) ist eine Schlüsselszene in mehrfacher Hinsicht. Zum einen – das ist der große Spannungsbogen – wird hier, für Jakob noch unbewusst, der Grund gelegt zur Begegnung mit Esau, d. h. zur echten Konfrontation Jakobs mit seiner Vergangenheit. Zum anderen – das ist der kleine Spannungsbogen – liegt hier die Wurzel des Konflikts mit Laban, der den Konflikt mit Esau und dessen Lösung in mancher Hinsicht präludiert. – Der Konflikt mit Laban entwickelt sich daraus, dass Laban Jakob nicht ziehen lassen will. Beide haben für ihren Wunsch und für ihr Verhalten gute Gründe (vgl. 30,27 f mit 30,30fin). Schließlich willigt Jakob unter einer Bedingung ein zu bleiben: dass er nicht nur Labans Diener ist, sondern Eigentumsrechte an den Herden bekommt – sicher auch im Hinblick auf seine Zukunft in der alten Heimat. – Wie er zu diesem Recht kommt, hat etwas für die Schuldverarbeitung Jakobs Bezeichnendes: Er will selbst aus allen Herden – nur – die farbigen Tiere für sich heraussuchen, die rein weißen sollen auf jeden Fall Laban bleiben. Dass er dabei redlich vorgehen will, bezeugt er mit einer Art Schwur: Sollten andere als die von ihm bezeichneten Tiere bei ihm gefunden werden, sei das ein Diebstahl (30,33). Dieses Vorgehen einschließlich des schwurähnlichen Angebots kann auch als Selbstbetrachtung Jakobs gelesen werden: Wenn Laban einwilligt und auch die Nachprüfung kein Fehlverhalten ergibt, kann Jakob sagen: „Ich habe mich bewährt. Ich kann mich befreien vom Fluch der Vergangenheit.“ Wunsch nach Rückkehr erscheint so im Licht der Befreiung von der Vergangenheit, und diese Befreiung wird in den Au­ gen Jakobs möglich durch Bewährung. Der Erzähler macht aber durch den großen Spannungsbogen deutlich, dass durch eine irgendwo abgeleistete „Bewährung“ nichts gut ist im Blick auf die Vergangenheit, sondern dass es gilt, der Vergangen­ heit offen zu begegnen, offen im Blick auf die eigene Einstellung und im Blick auf den offenen Ausgang. – Die Szene schließt indes mit der Zustimmung Labans zu Jakobs Vorschlag, unter besseren Bedingungen zu bleiben. Jakob aber hintergeht Laban – zusammen mit Rahel – und flieht mit seinen Frauen, Kindern und aller Habe (31,14.16–21). Er „stiehlt“ – wie 31,20 wört­ lich sagt – „Labans Herz“, d. h. er macht sich Labans Herz arglistig zunutze, er „täuscht“ sein Herz. Diese Redewendung scheint nicht unbeabsichtigt gebraucht zu sein; denn sie beschreibt – außer der sprachlichen Parallelität zu Rahels Dieb­ stahl – auch die Art der „Gewalt“ Jakobs: Er „nimmt weg“ (‫ לָ ֵקח‬/ lāqach) (27,35), „stiehlt“ (‫ גָ נֵ ב‬/ gānav). – Im Übrigen zeigt diese Wendung der Dinge: Der Glaube, sich inzwischen bewährt zu haben, ist eine Fehleinschätzung Jakobs selbst. Eine typische Fehleinschätzung Jakobs ist auch, sich durch Flucht den Folgen der bösen Tat zu entziehen (so schon sein Verhalten gegenüber Esau). Das Böse – als geschehene Verletzung – holt Jakob ein (31,25a). Er muss sich seiner Schuld stellen (Herz gestohlen, heimlich geflohen, hintergangen [31,26 f]) und realisie­ ren, dass mit seiner Schuld auch für andere unangenehme Randerscheinungen und Erfahrungen verbunden sind (Töchter entführt, Gott gestohlen [31,26.30]). Nur dadurch, dass er sich seiner Schuld stellt, kann er zur Einsicht in sein Inne­

Jakob und Esau 

71

res gelangen und aussprechen, was ihn entlasten kann: „Ich fürchtete mich …“ (31,31). Das ist – im Rahmen des kleinen Spannungsbogens – Prolepse der Begeg­ nung mit Esau. Vor dem Hintergrund des faktischen121 Schuldeingeständnisses (31,31) mag die Selbstbestätigung seiner Redlichkeit entlastend wirken (vgl. bes. 31,36); aber der rechte Weg, mit begangener Verfehlung umzugehen, ist sie nach wie vor nicht. Denn der Verletzte nimmt sie nicht an (31,43)122. – Weil aber Jakob bereits seiner Schuld verarbeitend begegnet ist, steht nun einer Versöhnung mit Laban (und mit sich selbst) nichts mehr im Wege. Die Sondertradition vom Vertragsabschluss zwischen Jakob und Laban (31,44– 54) berichtet in ähnlicher Weise von einer friedlichen Trennung und Aufteilung der Gebiete zwischen beiden wie Gen 13,1–12(f) von der Einigung zwischen Ab­ raham und Lot. Konfliktvermeidung bzw. Konfliktlösung ist so also möglich123. Sie bekommt nun durch die Verbindung mit der Jakob-Laban-Erzählung einen neuen Sinn. Es geht nicht mehr primär um die Abgrenzung der Hoheitsgebiete zwecks friedlichen Nebeneinanderlebens, sondern die Geschichte zeigt nun dem Jakob zum ersten Mal, dass ein Sich-Stellen der eigenen Vergangenheit nicht zur Zermürbung, zum Existenzverlust, zum Untergang führt, sondern zum Existenz­ gewinn und zum Frieden mit dem Gegner wie mit sich selbst (31,25.44.48–50. 53–54). Dabei gibt sich die Erzählung keineswegs der Illusion hin, als sei das immer so. Das ist nur möglich, wenn sich die Seite, die hinters Licht geführt, be­ trogen, geschädigt worden ist, sich in ihrer Reaktion mäßigt. Wie die Erzählung bisher von Jakob verlangt hat, er möge sich seiner Vergangenheit stellen, so ver­ langt sie jetzt zugleich von der Gegenseite Mäßigung in der Reaktion. 31,44–54 ist jetzt in den Dienst eines narrativen Plädoyers für die Mäßigung im Rechtsstreit gestellt, das darüber hinaus auf Versöhnung zielt (vgl. die symbolischen Mahlzei­ ten 31,46 und 54). Vorbereitet wird dieses Plädoyer im jetzigen Zusammenhang insbesondere durch die redaktionellen Einfügungen von 31,24.29.42.

1.5.5 Die ethische Dimension III (Der große Spannungsbogen – Katabasis) Ab 32,4 wird der große Spannungsbogen wieder verfolgt. Der entscheidende Fortschritt in 32,4–22 besteht darin, dass sich Jakob seiner selbst besinnt: Er hört von nun an auf seine innere Stimme und auf keine andere. Er tut das, was er tut, selbstbestimmt (vgl. v 21: zweimal „ich will …“). Darum weiß er auch: Der Weg 121 Ein wörtliches Schuldeingeständnis fehlt freilich. Aber die Offenlegung des Motivs der Flucht kann als solches gewertet werden. 122 Dabei ist es unerheblich, ob sich Laban mit seinem Widerspruch im Recht befindet oder nicht. 123 Auf die Möglichkeit der Konfliktlösung durch Trennung der Lebensbereiche in der Ge­ nesis macht M. Millard aufmerksam (M. Millard, a. a. O., S. 79 ff).

72

Gott und der Mensch

zurück führt nicht an Esau vorbei. Mit anderen Worten: Die Kontinuität mit der Vergangenheit, die wichtig ist, um zu sich selbst zu stehen, ist nicht in naiver Aus­ blendung der inzwischen angestauten Schuld zu haben, wie einst Rebekka meinte (vgl. 27,44 f), sondern nur in der Konfrontation mit ihr. Diese Konfrontation muss ausgehalten werden, und Jakob ist dazu gewillt. – Aus Furcht vor Esaus „vierhun­ dert Mann“ – ihre Funktion und Absicht bleibt unklar – erwächst in Jakob die Einsicht: Es hat keinen Sinn, Gewalt gegen Gewalt zu setzen. Der scheinbar bisher Stärkere – weil geistig Gewandtere – kommt in die Position der Schwäche, weil das Recht sich durchzusetzen beginnt. In dieser Situation kann er weder offensiv werden noch defensiv agieren, sondern nur Gnade erbitten (32,6) bzw. Schadens­ begrenzung betreiben durch Teilung seines Lagers (32,8 f). Jakob betreibt also zwei parallele Friedensstrategien: zum einen Verzicht auf Widerstand, zum anderen ein Entfeindungsprogramm. Seine in mehreren von­ einander getrennten (!) Zügen überbrachten „Geschenke“ sollen die Entfeindung fördern, ebenso seine – zumindest verbale – Unterwerfung (Er bezeichnet sich als „Knecht“ seines „Herrn“ Esau [32,19]). Er selbst macht sich auch auf den Weg (32,21), für ihn ein schwerer Schritt, denn er wird unweigerlich mit seiner Ver­ gangenheit, mit seiner Schuld, mit dem Recht konfrontiert werden, und er weiß nicht, was dabei herauskommt. Der Erfolg seines Entfeindungsprogramms steht unter dem Vorzeichen des „Vielleicht“ (ebd.). Die Absage an Gewalt, das Entfein­ dungsprogramm und der Wille zur Versöhnung sind bei Jakob durchaus da (ebd.). Aber er wird noch erkennen müssen, dass er die Versöhnung nicht in der Hand hat. Sein Denken hat noch die falsche Richtung: „Ich will ihn versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht“ (ebd.). Solange er nicht vom anderen her denkt, kann Versöhnung nicht gelingen. Das bedeutet: Das Vielleicht darf sich nicht nur auf das Gelingen meines Planes erstrecken, sondern es muss auch das Unver­ rechenbare im Handeln des Gegners mit einschließen. Anders gesagt: Versöhnung kann nur gelingen, wenn die andere Seite meine ausgestreckte Versöhnungshand auch annimmt, wenn ich also die Chance habe, mich mit jener Seite versöhnen zu lassen. Das muss Jakob noch lernen. Ist Gebet (32,10–13) ein Weg aus der Gewalt? Jakob bittet den Gott Abrahams und Isaaks um Errettung aus der Hand Esaus. Bei allen Strategien legt Jakob sein Schicksal in Gottes Hand. Der Redaktor hat diesen Vertrauenspsalm zwischen die beiden Stra­ tegiekonzepte geschoben. Seine Botschaft ist eine doppelte: zum einen: Das Vertrauen auf Gottes Treue trägt Jakob in dieser Situation, wo seine Existenz auf dem Spiel steht, durch; zum anderen: Aus dem Gebet erwächst Kraft zu neuem Friedenshandeln, hier die Entfeindungsstrategie.

Das Konzept der Entfeindung schließt das Eingeständnis von Schuld, hier dar­ gestellt in Unterwerfungsgesten, ein. Es macht aufs höchste verletzlich. Denn im Moment der Begegnung könnte Esau mit seinen „vierhundert Mann“ zuschlagen (33,1). Er tut es nicht! Er bricht aus dem bedrohlichen Zug aus, herzt und küsst

Jakob und Esau 

73

seinen Bruder, und beide liegen sich weinend in den Armen (33,4). Der Knoten ist durchschlagen! Die Spannung entlädt sich. Das Konzept der Entfeindung ist gelungen – natürlich nur, weil der andere sich auch hat entfeinden lassen. Aber – und das ist die Botschaft – Entfeindung ist ein Weg aus der Gewalt! Esau reicht die Versöhnung zwischen sich und seinem Bruder. Wie der Tö­ tungsbeschluss anfangs eine Sache des Herzens war, so ist für ihn auch Versöh­ nung eine Sache des Herzens, nicht mehr und nicht weniger. Darum weiß er mit all den Herdengeschenken nichts anzufangen. Jakob glaubt aber offenbar immer noch an das Erdienen der Versöhnung. Esau aber weist die Geschenke und damit auch Jakobs Gedanken zurück. Jakob ist wieder sein „Bruder“ (33,9), und das reicht. Jakob reicht das aber nicht. Ein Auseinandergehen jetzt wäre für ihn ein bei­ derseitiges Beruhenlassen der Vergangenheit auf sich selbst, aber keine wirkliche Aussöhnung. Sie kann für ihn nur geschehen, wenn das Recht – d. h. der Segen für Esau, der aus dessen Erstgeburtsrecht folgt – wiederhergestellt wird. Und das geht nach Jakobs Einschätzung nur durch eine Ersatzleistung. Sie besteht in der Gabe der Herden als „Segensgabe“ (33,11)124. Diese drängt er Esau geradezu auf, und dieser nimmt sie an (ebd.). Damit ist endlich echte Aussöhnung gelungen, wie sie im Vielleicht von 32,21 angestrebt war. Aussöhnung, die in der Annahme nicht nur der Geschenke, sondern auch der Person Jakobs Vergebung einschließt. – Dies wird durch einen theologisch gefüllten Satz Jakobs noch untermauert. Die An­ nahme seiner Ersatzleistung wird von Jakob erbeten mit den Worten: „… denn ich sah dein Angesicht, als sähe ich in Gottes Angesicht, und du hast mich freundlich angesehen.“ Mit anderen Worten: Jakob sah sich in Esau mit Gott konfrontiert, mit seiner Schuld, mit seinen Fluchtversuchen, mit seinen Selbstbescheinigun­ gen von Bewährung und guter Führung, und es hätte durchaus ein vernichtender Blick aus Esaus Augen blitzen können. Aber Jakob darf erkennen: Das Gegenteil war der Fall: Im Gegenüber zu Esau, im Gegenüber zu seinem ganzen bisherigen Leben leuchtet ein freundlicher Blick, den er als Gottesgeschenk ansehen und annehmen darf. Hier ist in Esaus Vergebung Gottes Vergebung geschehen. So hat Jakob wieder Zukunft. Esau will mit Jakob in eine gemeinsame Zukunft aufbrechen. Ob das gut ge­ hen wird? Jakob scheint Gründe zu haben, das zu bezweifeln. Aussöhnung kann wieder zunichte werden, wenn bei einem allzu engen Miteinander das Gefühl

124 Der Begriffswechsel von „Geschenk“ (‫ ִ מנְ ָחה‬/ minchāh) (v 10) zu „Segensgabe“ (‫ ְ בּ ָרכָ ה‬/ ​ bᵊrāchāh) (v 11) signalisiert den Sinneswandel in Jakob vom Geschäftlichen zum Menschlichen. Hier leuchtet ein Zugewinn an Erfahrung aufseiten Jakobs durch. Das Hin und Her von Angebot und Ablehnung als „Ritual“ zu erklären (R. A. Klein, Leseprozess als Bedeutungswandel. Eine rezeptionsästhetische Erzähltextanalyse der Jakobserzählungen im Buch Genesis, Berlin 2002, S. 152), verkennt die existentielle Dimension.

74

Gott und der Mensch

der Abhängigkeit auf der einen oder anderen Seite entsteht125. Aussöhnung muss Freiraum gewähren, sich in aller Verschiedenheit frei zu entwickeln. So steht am Ende der fast tödlichen Brüderrivalität eine Zukunftsvision für beide in versöhn­ ter Verschiedenheit.

1.5.6 Die theologische Dimension In der Jakob-Esau-Geschichte wird das Gottesbild traditionell durch den Segen geprägt126. Dieser steht am Anfang als scheinbar fehlgeleiteter Segen, in der Mitte als Teilhabe Labans an Jakobs Segensfrüchten und am Schluss als in Form einer Ersatzleistung „zurückerstatteter“ Segen. Der anfängliche Segen ist als Ausdruck einer besonderen Gottesbeziehung gedacht, die von Jahwe über Isaak bis Esau reicht. Der Segen soll diese Gottesbeziehung besiegeln. Jakob greift nun betrüge­ risch in diese Gottesbeziehung ein und stellt sich unrechtmäßig unter den flie­ ßenden Segensstrom. Damit ist sein Betrug nicht mehr nur zwischenmenschliche Verfehlung, sondern als widergöttliches Verhalten gekennzeichnet127. Sein Ver­ halten könnte ihm zum Fluch ausschlagen. Die Geschichte erwägt diesen Gedan­ ken. Jedoch zeigt sich, dass Gottes Segensstrom stärker ist als Jakobs Betrugsma­ növer. Gottes Segen lässt sich durch menschliches Störfeuer nicht abschwächen, aufhalten oder umbiegen128. Der nun Gesegnete muss mit dem Segen leben und insofern auch die Folgen seiner Tat tragen (Lebensbedrohung, Flucht, Konfron­ tation mit seiner Schuld). So hat sich Gott – wider den ersten Augenschein – als der Stärkere erwiesen. Dennoch bleibt die Frage, ob Gott das himmelschreiende Unrecht (27,33 f) nicht rückgängig machen will und kann. Die paradoxe Antwort, zu Jakob gespro­ chen, lautet: „Ich will mit dir sein“ (31,3). Diese Verheißung entspricht der Logik des Segens129. Sie mag die „schreckliche(…) Unbegreiflichkeit“ Gottes wider­ 125 G. Langer macht auf die Spannung von naturgegebener Nähe und notwendiger Distanz zwischen den Brüdern aufmerksam, die die Jakob-Esau-Geschichte von Anfang (25,21.23) bis Ende (33,16 f) durchziehe. Nur wo diese Spannung durchgehalten werde, sei ein gewaltfreies Nebeneinander möglich („Esau in der hebräischen Bibel“ in: G. Langer [Hg.], Esau – Bruder und Feind, Göttingen 2009, S. 18 f). 126 C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 499 f; R. A. Klein, a. a. O., S. 120;130. 127 Hinzu kommt die Lüge gegenüber einem Blinden (27,19) und Gotteslästerung (27,20). Beides ist Sünde gegen Gott (G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 222). 128 Dass der Segen hier „eine eigene, von der Absicht des Spenders und den Rechten des Empfängers unabhängige Dynamik“ entwickelt, hat auch J. A. Soggin bemerkt (a. a. O., S. 357). Er greift aber m. E. zu kurz, wenn er die Dynamik an den unaufhaltsamen Energiefluss vom unmittelbaren (menschlichen) Spender zum Empfänger bindet (ebd.). Es ist letztlich Gottes Dynamik, wie aus Gen 12,1–3 hervorgeht. 129 C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 499: „Dem Segen steht die Verheißung des Mit­ seins nahe“.

Jakob und Esau 

75

spiegeln, mit der er den scheinbar Unwürdigen erwählt hat130, in Wahrheit aber steht sie genau an der Stelle, an der Jahwe Jakob zur Rückkehr von seinem Flucht­ weg bewegen will, also zum Sich-Stellen. „Ich will mit dir sein“, diese Verheißung deckt nicht den Betrüger, sondern sie unterstützt die Rückkehr in die Heimat, die Rückkehr an den Ort der bösen Tat. „Ich will mit dir sein“: Nur im Sich-Stellen, nicht in der Flucht kann neues Leben und Zukunft gewonnen werden. Gott ist stärker, als es auf den ersten Blick scheinen will. Seine Stärke besteht aber nicht in Gewalt, sondern im Geist der Überzeugung und in der Verheißung von Hilfe auf dem schweren, aber notwendigen Weg. Soweit die Theologie der Überlieferung. Durch Komposition und theologische Einfügungen unterstreicht der Redaktor das Mitsein Gottes. Kompositorisch betont er es durch die Rahmung der Flucht­ geschichte mit dem Traum von der Himmelsleiter (28,10–22) und der Engelvision (32,1–3). Die Verheißung 28,15 hat richtungweisenden Wert: Gott ist mit Jakob in allen Glücksstunden und Abgründen seines Lebens; er ist mit ihm auf Wegen der Entscheidung, in Ungewissheit und Gefahr. Gerade da ist er bei ihm mit all seiner Kraft und Stärke, die er Jakob zur Verfügung stellen kann (32,3). Diesen Sinn hat auch die Gottesbegegnung am Jabbok (32,23–33). – Theologisch deutend und argumentierend greift der Redaktor in 31,24.29.42 ein. 31,42 spricht Jakobs Überzeugung aus, dass Gott mit ihm (gewesen) ist, auch und gerade in Situatio­ nen, die ihm durch den geraubten Segen entstanden sind, 31,24 und 29 teilt Gott dem aufgebrachten Laban im Traum seine Parteinahme für Jakob mit und drängt ihn zur Mäßigung. – Bei der Zeichnung des Gottesbildes geht es um Gottes Treue zu Jakob und zu sich selbst. Beides ist dasselbe. Gottes Treue zu sich selbst verlangt es, den einmal gegebenen Segen nicht wieder zurückzuziehen, schon gar nicht in Fluch zu verwandeln. Es ist die Treue zu seinem Erwählten, die sich nicht nur an den Vätern, sondern ebenso auch an seinem Volk (32,29) zeigt. Diese Erwählung ist, weil Gottes ureigene Tat, nicht weiter hinterfragbar; sie trifft Menschen und keine Halbgötter. Gerade darum aber tritt der sich selbst treue Gott auch stets in Treue für seinen Erwählten ein, obwohl und gerade weil er Sünder ist. Dabei legt der Redaktor Wert darauf zu betonen, dass alles, was Jakob gelingt, mit Gottes Hilfe gelingt. In 31,42 formuliert er diesen Gedanken im Streit Jakobs mit Laban selbst, und erst recht ist das von ihm formulierte und eingefügte Gebet 32,10–13 ein Hinweis darauf, dass das große Werk der Entfeindung und Versöh­ nung nur mit Gottes Hilfe gelingen kann und nur so gelingt. Allgemein sagt er: Das Konzept der Entfeindung mit Aussicht auf Versöhnung ist ein Weg, Gewalt zu vermeiden und zu überwinden – mit Gottes Hilfe. Gott steht dahinter! Der Gedanke des Mitseins Gottes wie auch der Hinweis auf Gottes Hilfe sollen zeigen: Alles Zwischenmenschliche geschieht auch vor Gottes Angesicht: Schuld, Flucht, Selbstbetrug ebenso wie Sich-Stellen, Bitte um Gnade, Unterwerfung;

130 In diesem Sinn äußert sich G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 226.

76

Gott und der Mensch

Rachegedanken und Gewaltbereitschaft ebenso wie Mäßigung, Entfeindung, Versöhnung. Im Dienst dieses Kerygmas steht auch 33,10, egal ob man ihn als nachträgliche Theologisierung empfindet oder ob man ihn als traditionell vor­ gegeben betrachtet: Wer in der Begegnung mit Gott, wie auch immer sie sich ge­ staltet, die Höhen und Abgründe seines Lebens entdeckt, erkennt Gott als „Rich­ ter“ (vgl. 31,53) der Gedanken und Taten (vgl. auch Röm 14,10–12; 2.Kor 5,10; Hebr 4,12 f). Gott ist hier der Jakob freundlich ansehende Gott. Darin ist er der vergebende, Jakob rechtfertigende Gott. Diese Rechtfertigung ist unverdient und daher reine Gnade131. Den Gott der reinen Gnade zur Geltung kommen zu lassen, den Gott, der in Treue zu seiner Erwählung steht, zur Geltung kommen zu lassen, ist der Jakob-Esau-Sagenkranz konzipiert. Und das in aller Transparenz: durch Geschichte, Geschichten und Gesichter hindurch, ohne ihn von einem zornigen, verwerfenden Gott abheben zu müssen132.

1.6 Die Josephsnovelle (Gen 37–50) 1.6.1 Allgemeine literarkritische Bemerkungen Die Josephsnovelle bildet gewissermaßen ein eigenes Buch im Buch der Genesis. Das will heißen: Sie ist, abgesehen von den Einschüben Kap. 38 und 49, als literari­ sches Werk konzipiert und verfasst. Somit hat sie innerhalb der Genesis als eigene, nur auf die Kapitel 37–50 beschränkte Quellenschrift zu gelten133. Freilich werden Spuren von P ausgemacht134: 37,2; 46,5–27; 47,5–11.27–28; 48,3–7; 49,1.28–33135; 50,12–13.22–23. Das könnte die These einer priesterschriftlichen Redaktion der Genesis stützen (vgl. auch Gen 19,29; 25,19 f.26b; 27,46–28,9; die P-Bearbeitung von 29,31–30,24). Die erzählerische Intention dieser Quelle ist mehrdimensional.

131 Wiewohl der Gedanke der Rechtfertigung des Sünders im AT vorbereitet wird, hat er nicht das Gewicht wie in der paulinischen Theologie. Hier bei Jakob geht es um einen Einzelfall. 132 Gericht und Zorn sind hier in sehr subtiler Weise präsent: in der unverdienten Gnade, im flüchtigen Dasein und in der Furcht vor Esau (32,8). 133 Vgl. C. Westermann, Genesis 37–50, Neukirchen-Vluyn 1982, S. 16; R. Lux, Ein Baum des Lebens: Studien zur Weisheit und Theologie im Alten Testament, Tübingen 2017 (ORA 23), S. 153 Anm. 25. Andere Theorien wollen nicht recht überzeugen, z. B. das Schichtenmo­ dell von H.-Chr. Schmitt (Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte, Berlin, New York 1980, bes. S. 197 f) oder von W. Dietrich (Die Josephserzählung als Novelle und Geschichtsschreibung, Neukirchen-Vluyn 1989, S. 19 ff) oder das Fortschreibungsmodell von P. Weimar („Joseph – Eine Geschichte vom schwierigen Prozeß der Versöhnung“ in: Ders., Studien zur Josephs­ geschichte, Stuttgart 2008, S. 9 ff). 134 Vgl. J. A. Soggin, a. a. O., S. 428. 135 Da die Stammessprüche von P gerahmt sind, ist anzunehmen, dass P sie vorgefunden und hier eingefügt hat.

Die Josephsnovelle 

77

Zum einen ist sie, wie J. A. Soggin zutreffend unterschieden hat, eine Familienge­ schichte unter der Überschrift „Joseph und seine Brüder“ (37,4–45,28; 50,15–21), zum anderen die Fortsetzung der Erzvätergeschichte (37,1–3; 46,1–50,14.22–26), die erklärt, warum sich eine Zeitlang „Israel in Ägypten“ befindet. Zur ersteren ge­ hört das Thema Gewalt, worin sie gründet, welches weitere Unrecht sie nach sich zieht, welche Schuldkomplexe sie erzeugt und wie Versöhnung zustande kommt aufgrund eingestandener Schuld und aufgrund von Josephs eigener Lebensdeu­ tung (45,5–8; 50,20). In dieser liegt auch der theologische Zielpunkt der Novelle, der u. a. als Versuch gewertet werden kann, eine Antwort auf das Theodizeeprob­ lem zu finden. Das zweite Anliegen, Fortsetzung der Erzvätergeschichte, füllt den Bekenntnisrahmen Dtn 26,5 narrativ auf und bildet in seiner Durchführung an dieser Stelle des Pentateuch die redaktionelle Brücke zwischen dem Jakob-EsauSagenkranz und dem Exodus136. Wenn die Josephsgeschichte „im engeren Sinn“137 auch eine durchgängige und abgeschlossene Quellenschrift ist, so besagt das nicht, dass es nicht vor der Ver­ schriftlichung Erzähltraditionen gab, die jetzt noch relativ klar erkennbar und von jeweils spezifischer Aussagekraft sind. Dazu gehören das Erzählgeflecht von der Rettung Josephs aus der Grube und die Doppelüberlieferung von der Reise der Brüder zu Joseph nach Ägypten (im Zusammenhang als 1. und 2. Reise bezeichnet).

1.6.2 Rettung Josephs aus der Grube (Gen 37,1–36) 1.6.2.1 Spezielle literarkritische Bemerkungen Dass es zur Rettung Josephs zwei Erzählungen gab, ist relativ eindeutig. Darauf weist das Auftreten der Midianiter (37,28a.36) neben den Ismaelitern (37,25– 27.28b; 39,1) hin. Über den Verkauf Josephs an Potiphar wird von beiden Grup­ pen das Gleiche gesagt: In 37,36 sind es die Midianiter, in 39,1 die Ismaeliter138. Das eine schließt das andere aus, also handelt es sich um zwei Erzählungen. 37,28 versucht allzu durchsichtig, eine Brücke zwischen den beiden Darstellungen zu schlagen: Die Midianiter (v 28a) verkaufen Joseph an die Ismaeliter (v 28b). Dieser 136 J. A. Soggin, a. a. O., S. 431. In einer Synopse der Themen von Jakobs-, Josephs- und Ex­ oduserzählung macht W. Baur die Scharnierfunktion der Josephserzählung deutlich (W. Baur, „Von einem, der auszog gesegnet zu werden – Die Trennung Jakobs von Laban [Gen 31,1–54]“ in: B. Wellmann [Hg.], Die Jakobserzählung, Stuttgart 2009, S. 93 f; vgl. auch W. Dietrich, Die Josephserzählung, a. a. O., S. 10). Anders H.-Chr. Schmitt, der aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht jede Beziehung der Josephsgeschichte zur Jakobs- bzw. zur Exodustradition bestreitet. Traditionsgeschichtlich evtl. zu Recht, was aber nichts über die Intention der Endredaktion des Pentateuch aussagt (Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte, a. a. O., S. 127 ff). 137 C. Westermann, Genesis 37–50, a. a. O., S. 9. 138 Diese auch schon 37,28b. Da dieser Vers sekundär konstruiert erscheint, wird er hier nicht als Beleg herangezogen.

78

Gott und der Mensch

„Kompromißversuch“139 weist auf zwei unterschiedliche Überlieferungen. – Die Rekonstruktion dieser Überlieferungen bereitet freilich Schwierigkeiten. Man kann dabei folgenden Weg einschlagen: Die Midianiter ziehen Joseph aus der Grube (v 28a). Alle Verse, die von der Grube handeln, gehören zu dieser Tradition (vv 29 f.20.22.24). Es ist zugleich die Ruben-Tradition, wenn man in v 21 „Juda“ liest140. Nimmt man vom Anfang (vv 18 und 19) ein paar einleitende Worte, aus der Mitte den beiden Erzählungen gemeinsamen Faden und am Schluss den v 36 hinzu, erhält man eine in sich geschlossene Ruben-Midianiter-Tradition141. Auf der anderen Seite bleibt eine vollständige Juda-Ismaeliter-Tradition, aus Son­ dergut, gemeinsamem Gut und Brückenvers 28a.b. Dieser Vorschlag hat den Vorteil, dass er den Höhepunkt (Grube) in den gemeinsamen Erzählstrang ver­ legt und auch Einstieg und Schluss („ein böses Tier habe ihn gefressen“) als Teil ein und derselben Erzähltradition betrachten kann. Demzufolge bietet sich fol­ gendes Bild: Ruben-Tradition

gemeinsame Erzähltradition

Juda-Tradition

37,18 Als sie ihn nun sahen von ferne, ehe er nahe zu ihnen kam, machten sie einen An­ schlag, dass sie ihn töteten, 19 und sprachen unter­ einander: Seht, der Träu­ mer kommt daher! 20 So kommt nun und lasst uns ihn töten und in eine Grube werfen und sagen, ein böses Tier habe ihn gefressen; so wird man sehen, was seine Träume sind.

139 J. A.  Soggin, a. a. O., S. 444. 140 Diese abweichende Lesart ist geboten, weil eine doppelte Erwähnung Rubens sinnlos wäre, von dem dann sogar noch das Gleiche berichtet würde: die Rettungsabsicht (gegen ­H.-Chr. Schmitt, a. a. O., S. 23 f, Anm. 76). 141 Das hat H. Gunkel als Vertreter der Urkundenhypothese dazu bewegt, 37,18a.​19.20.22.​ 24.28a.29–30 dem Elohisten, den Rest, also 37,18b.21.23.√ 25–27.28b.31–35, dem Jahwisten zuzuordnen. Diese Lösung hat allerdings den Nachteil, dass dann im „jahwistischen“ Erzähl­ faden der Höhepunkt (v 24) fehlt; denn der kann nicht nur im Ausziehen des Gewandes (v 25) bestehen.

79

Die Josephsnovelle 

21 Als das Juda hörte, wollte er ihn aus ihren Händen erretten und sprach: Lasst uns ihn nicht töten!

22 Und es sprach Ruben zu ihnen: Vergießt nicht Blut, sondern werft ihn in die Grube hier in der Wüste und legt die Hand nicht an ihn! Er wollte ihn aber aus ihrer Hand erretten und ihn seinem Vater wiederbringen. 23 Als nun Joseph zu sei­ nen Brüdern kam, zogen sie ihm seinen Rock aus, den bunten Rock, den er anhatte, 24 und nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; aber die Grube war leer und kein Wasser darin.

25 Und sie setzten sich nieder, um zu essen. Indessen hoben sie ihre Augen auf und sahen eine Karawane von ­Ismaelitern kommen von Gilead mit ihren Kame­ len; die trugen kost­ bares Harz, Balsam und Myrrhe und zogen hinab nach Ägypten. 26 Da sprach Juda zu seinen Brüdern: Was hilft’s uns, dass wir unsern Bruder töten und sein Blut verbergen? 27 Kommt, lasst uns ihn den Ismaelitern verkaufen, damit sich unsere Hände nicht an ihm vergreifen; denn er ist unser Bruder, unser Fleisch und Blut. Und sie gehorchten ihm.

80

Gott und der Mensch

28a Midianitische Kauf­ leute aber kamen vo­ rüber und zogen ihn heraus aus der Grube

28b und verkauften ihn um zwanzig Silber­ stücke den Ismaelitern (Diese brachten ihn nach Ägypten).

29 Als nun Ruben wie­ der zur Grube kam und Joseph nicht darin fand, zerriss er sein Kleid 30 und kam wieder zu seinen Brüdern und sprach: Der Knabe ist nicht da! Wo soll ich hin? 31 Da nahmen sie J­ osephs Rock und schlachteten einen Zie­ genbock und tauchten den Rock ins Blut 32 und schickten den bunten Rock hin und ließen ihn ihrem Vater bringen und sagen: Die­ sen haben wir gefunden; sieh, ob’s deines Sohnes Rock sei oder nicht. 33 Er erkannte ihn aber und sprach: Es ist meines Sohnes Rock; ein böses Tier hat ihn gefressen, zerrissen, zerrissen ist Joseph! 34 Und Jakob zerriss seine Kleider und legte ein härenes Tuch um seine Lenden und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit. 35 Und alle seine Söhne und Töchter kamen zu ihm, ihn zu trösten; aber er wollte sich nicht trös­ ten lassen und sprach: Ich werde mit Leid zu meinem Sohn in die Grube fahren. Und sein Vater beweinte ihn.

Die Josephsnovelle 

81

36 Aber die Midiani­ ter verkauften ihn nach Ägypten an Potiphar, des Pharao Kämmerer und Obersten der Leibwache.

39 1 Joseph wurde hinab nach Ägypten geführt, und Potiphar, ein ägypti­ scher Mann, der Käm­ merer des Pharao und Oberste der Leibwache, kaufte ihn von den Isma­ elitern, die ihn hinabge­ bracht hatten.

Die Ruben- und die Judatradition setzen sich in den Kapiteln 42–44 fort. Hier lässt sich allerdings nur von miteinander verbundenen Erzähltraditionen sprechen, ohne dass sich diese abgrenzbar auf zwei herauslösbare Erzählstränge verteilen ließen. Ungereimtheiten und Brüche wie auch Motivparallelen weisen darauf hin. Die These lautet: Kapitel 42 gehört der Ruben-Tradition, Kapitel 43 und 44 weit­ gehend der Juda-Tradition an142. Die Ruben-Tradition beginnt spätestens in 42,22. Sie ist mit der Gesamterzählung geschickt und theologisch interpretierend verwoben, indem sie Schuld am Bruder als Sünde gegen Gott deutet. Damit greift sie auf 37,22 zurück143, wo sie deutlich als Er­ zählstrang erkennbar war. Es ist aber auch möglich, dass die Ruben-Tradition schon mit 42,9 beginnt. Denn in ihr werden der Kundschaftervorwurf (42,9) und der Redlichkeits­ beweis (42,11) in Form der Selbstvorstellung wiederholt (42,30–32), letztere mit fast denselben Worten wie in 42,13. Der Kundschaftervorwurf in 42,9 ff ist wiederum nicht ohne 42,1 ff denkbar, was den Beginn der Ruben-Tradition bereits hier wahrscheinlich macht. – Die Ruben-Tradition weiß von einer seltsamen Beigabe in den Getreidesäc­ ken, die erschrecken lässt, dem Geld, erst bei einem (42,28), dann bei allen (42,35) entdeckt. – In 42,37 übernimmt Ruben seinem Vater gegenüber die Verantwortung für die Rückführung Simeons und Benjamins, insbesondere des Letzteren. Er bürgt mit dem Leben seiner beiden Söhne. Sollte sein Einsatz nicht gelingen, will auch er keine Zukunft mehr haben. An dieser Stelle setzt unvermittelt die Juda-Tradition ein (43,1–3). Der Erzählfaden von Kap. 42 wird nicht stringent fortgesetzt. Denn nach Kap. 42 wäre die Überstellung 142 Die Alternative „quellenmäßiges Nebeneinander“ oder „erzählerisch zeitliches Nachein­ ander“ stellt sich nicht (anders C. Westermann, Genesis 37–50, a. a. O., S. 127 ff). 143 Nicht auch auf 37,21, wie unter anderen Voraussetzungen (Lesart „Ruben“ statt „Juda“) gern behauptet wird (u. a. von J. A. Soggin, a. a. O., S. 441).

82

Gott und der Mensch

Benjamins an Joseph sofort geboten, auch wenn den Brüdern erlaubt war, erst das Getreide nach Hause zu bringen und auch selbst wenn sich Jakob weiterhin gesträubt hätte, Benjamin mitzuschicken (42,38). Dessen ungeachtet ergeht der Wunsch des Va­ ters an alle Söhne (außer Benjamin), nach Ägypten zu gehen, um wieder Getreide zu kaufen (43,2). Der Wunsch wird also nicht mit der Auslösung Simeons begründet, auch wird das Angebot Rubens nicht aufgenommen, sondern der Wunsch entsteht aufgrund fortdauernder oder erneuter Hungersnot. Simeon scheint schon nicht mehr im Blick zu sein; denn es ist inzwischen geraume Zeit verstrichen (43,2a)144. Wir haben es also in 43,1 mit einem überlieferungsgeschichtlich bedingten Neueinsatz zu tun. Hier tritt Juda als Wortführer gegenüber dem Vater auf. Es geht dabei zunächst – wie schon in 42,16.20 – darum, Benjamin dem Joseph als „Beweis“ für die „Redlichkeit“ der Brüder mitzunehmen. Allerdings ist bisher nirgends von Joseph – wie von Juda zitiert – gesagt worden: „Ihr sollt mein Angesicht nicht sehen, es sei denn euer Bruder mit euch“ (43,3). Entsprechende Stellen in Kap. 42 haben einen anderen Sinn: In 42,15–17 geht es darum, dass die Brüder erst aus Ägypten wegkommen, wenn einer von ihnen Benjamin her­ beigeschafft hat, was Joseph 42,18–20 dahingehend abändert, dass nun einer gefangen bleibt und die anderen Benjamin bringen sollen. 43,3 zielt stärker auf das Leben Benja­ mins ab. Dass Benjamin die Voraussetzung für jeglichen weiteren Kontakt mit Joseph sei, bereitet die Prüfung vor, ob denn seine Brüder für ihn uneingeschränkt einstehen würden oder ihn – wie einst ihn selbst – fallenlassen werden (Kap. 44). Die angebliche Bedingung Josephs (43,3) klingt in den Kapiteln 43 und 44, und zwar nur hier, immer wieder an (43,5; 44,23). – In diesem Erzählzusammenhang ist für 43 f auch die Erkun­ digung Josephs nach den sonstigen Familienangehörigen typisch. Sie begegnet in 43,7 zuerst in indirekter Form, obwohl von einer direkten Frage vorher nicht die Rede war145. Diese taucht erst 43,27 auf, dann wieder 44,19 im indirekten Rückblick146. – Vor der Abreise übernimmt Juda die Rolle Rubens aus 42,37, also die Bürgschaft für Benjamin. Im Unterschied zur Rubenfassung wird hier die Geschichte zu Ende erzählt: In 44,32–34 ist Juda bereit, seine Bürgschaft einzulösen. Anscheinend unvollendete Ruben-Fassung und offenbar fehlender Anfang der Juda-Fassung sprechen für ein Zusammenwachsen beider. – Darauf, dass es offenbar eine Verbindung zwischen dem Juda-IsmaeliterErzählstrang in Kap. 37 und der Juda-Tradition in Kap. 43 gibt, weist eine Detailbeob­ achtung: Die „Geschenke“, die Jakobs / Israels Söhne „dem Manne“ mitnehmen sollen, entsprechen den wertvollen Naturprodukten, die die ismaelitischen Händler mit sich führten (vgl. 43,11 mit 37,25). – Schließlich scheint die Szene vom „gestohlenen“ Trink­ becher (44,1 f) eine traditionsgeschichtliche Parallele zu der Aktion des heimlich rücker­ statteten Geldes (42,25 ff) zu sein. Sie erfüllt u. a. die gleiche Funktion wie die Geldsäcke, nämlich die Entstehung eines Schuldkomplexes. 144 Er erscheint nur noch einmal beiläufig wie in einem Nachtrag: 43,23fin. 145 Zwar kann es der Straffung dienen, vorausgegangene Dialoge im Rückblick nur indirekt zu wiederholen. Das entspricht aber eigentlich nicht dem Stil biblischer Erzähler, sondern im Gegenteil: Wichtige Dialoge werden oft sowohl direkt wie auch im erzählenden Rückblick wie­ dergegeben. Ist der fehlende direkte Dialog hier der redaktionellen Verknüpfung von Kap. 42 mit Kap. 43 zum Opfer gefallen? 146 G.v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 317 weist auf den Unterschied zu 42,10 ff hin, wo die Brüder ungefragt ihre Familienverhältnisse darlegen. Er verwendet das aber nicht als Argument zur Quellenkritik.

Die Josephsnovelle 

83

Darüber hinaus steht sie im Dienste der Prüfung Josephs an seinen Brüdern147. Im Zusammenhang mit der Entstehung der Josephsnovelle sind die beiden Tradi­ tionen miteinander verschmolzen worden. Die Schweißnähte sind noch erkennbar. Es handelt sich um die Herübernahme des Themas „Geldsäcke“ aus Kap. 42 und um das noch unerledigte Thema „Simeon“. – In 43,11 ist von den Geschenken die Rede, die nach Israels Willen seine Söhne nach Ägypten mitnehmen sollen. Wie nachgetra­ gen – bzw. bewusst „redaktionell“ eingearbeitet – wirkt v 12: „Nehmt auch doppelt so viel Geld mit euch …“. Diese Formulierung kehrt in 44,8 wieder und verbindet unter dem Motiv der Redlichkeit die Geldsäcketradition mit der Silberbechererzählung. Das Geschenk, das in 43,25 f vor Joseph hergerichtet wird, umfasst wohl nicht mehr die Geldbeutel, sondern nur die in 43,11 genannten Naturprodukte. Ebenso eingetragen wirkt in 43,15 „und das doppelte Geld“. 43,18–23 führt die Unklarheit um die Geld­ säcke erzählerisch auf die Spitze und löst zugleich die Spannung auf eine für die Brüder vorläufig noch mysteriöse Weise („Euer Gott … hat euch einen Schatz gegeben in eure Säcke“). Man möchte diese Szene in der Josephsnovelle nicht missen, und doch ist sie aus Verschmelzungsgründen eingetragen. Denn in 43,17 sind die Brüder bereits von Josephs Verwalter ins Haus geführt worden. In 43,24 müssen sie noch einmal ins Haus gebracht werden, weil der redigierende Erzähler den Dialog mit dem Verwalter um die Geldsäcke vor die Haustür verlegt hat (43,19). Nimmt man 43,18–23 heraus, ergibt sich ein in sich schlüssiger, glatter Erzählzusammenhang: Ins Haus geführt, erhielten die Brü­ der Wasser zum Füßewaschen und Futter für die Esel, und sie richteten das Geschenk für Joseph zu … – Noch deutlicher ist der nachträgliche Eintrag des „anderen“ Bruders Simeon. In der Aufbruchsszene 43,1–11.13 f ist von Simeon nicht die Rede, es geht nur um Benjamin. „… euren anderen Bruder“ in 43,14 erscheint notdürftig eingeschoben, geschickter ist die Herausgabe Simeons schon in 43,23fin platziert; seltsam nur, dass dies durch den Verwalter geschieht, ohne dass Joseph Benjamin vorher gesehen hat. – Bei aller handwerklich redigierenden Arbeit des Erzählers ist seine schriftstellerische Lei­ stung zu würdigen. Sie besteht darin, zwei parallele Überlieferungen – möglicherweise unter Weglassung des Endes der Ruben-Tradition und unter Abbruch des Anfangs der Juda-Tradition – so geschickt und kunstvoll miteinander verknüpft zu haben (durch das Geldsack- und Simeon-Motiv), dass ein zeitliches Nacheinander zweier Reisen unter deutlicher Steigerung der Spannung entsteht. Wenn es stimmt, dass sich die beiden parallelen Erzählungsstränge von 37,18–36; 39,1 als Erzähltraditionen in den Kapiteln 42–44 fortsetzen, liegt die Frage nach dem Erzählgefälle nahe. Sie lässt sich wohl dahingehend beantworten, dass es in Kap. 37 um Planung und Durchführung der Gewalttat geht (unter Abmilderung des Schlimmsten),

147 Die Bezeichnung des Vaters in Kap. 42 mit Jakob und in Kap. 43 mit Israel kann nicht als Indiz für unterschiedliche Traditionen herangezogen werden. Denn am Anfang der Juda-Ismae­ liter-Tradition steht der Name Jakob (37,34), und ab 45,21 wechselt sich „Jakob“ mit „Israel“ in bunter Reihenfolge ab. Abgesehen davon wird der Name „Israel“ bereits in 32,29 eingeführt und auch zu Beginn der Josephsgeschichte (37,3) verwandt (gegen H.-Chr. Schmitt, der hypothetisch eine Juda- und eine Rubenschicht voraussetzt, diese jeweils mit dem Israel- bzw. Jakobnamen verbindet und überall, wo „Israel“ steht, die Judaschicht, wo „Jakob“ steht, die Rubenschicht an­ nimmt. Allerdings muss auch er Ausnahmen zugestehen [vgl. a. a. O., S. 25 Anm. 87] und Un­ gereimtheiten feststellen [vgl. a. a. O., S. 26]).

84

Gott und der Mensch

in Kapp. 42 und 43 f steht dann vor der Folie der „Redlichkeit“ das Motiv der Schuld (als Erkenntnis und Komplex) im Vordergrund, wobei in Kap. 43 unter dem Thema der „Prüfung“ noch einmal die Möglichkeit und Fähigkeit zur sittlichen Wandlung hervor­ gehoben wird. D. h.: Die Gewalttat an Joseph wird sich heilen lassen, aber nur durch Schulderkenntnis und Wandlung hindurch.

1.6.2.2 Die ethische Dimension148 Gen 37,18–36; 39,1 schildert die Gewalttat der Brüder an Joseph. Weil hier der dramatische Höhepunkt des Eingangskapitels liegt, wird die Erzählung an dieser Stelle auch doppel-strängig bzw. durch Verknüpfung zweier Erzählstränge span­ nender und reicher. Das heißt aber auch, dass es um viel mehr geht als um bloße Schilderung. Es geht um Mordabsicht und deren Revision, es geht um das Böse, das fortzeugend Böses gebärt, um die Kettenreaktion der Sünde, die aus der Ge­ walt entspringt, und es geht im Blick auf die Vorgeschichte der Mordabsicht um den Nährboden, auf dem Gewalt gedeiht, und um den Anlass, den Gewalttat konkret braucht, um auszubrechen. Mit anderen Worten: Unter dem Gewand der Novelle verbirgt sich eine Analyse der Gewalt in narrativer Form. In einer solchen Analyse sind ethische, anthropologische und theologische Dimensio­ nen untrennbar miteinander verwoben. Im Blick auf die Beurteilung der Gewalt und auf das Ziel der Gewaltüberwindung überwiegt die ethische Dimension. Anthropologische und theologische Implikationen werden abschließend noch herausgefiltert.

In der jetzigen Form muss man 37,3–17 zur gemeinsamen Erzähltradition bzw. zur notwendigen Vorgeschichte von 37,18–36; 39,1 rechnen. Hier werden Hass aufgrund Josephs indirekt erhobenen Primatsanspruches (37,5–8) und Neid aufgrund seiner Sonderstellung bei den Eltern (37,4.9–11) als Nährboden der Gewalt geschildert. Schon jetzt bemerkt die Erzählung, dass Hass und Eifer­ sucht eine normale Kommunikation zumindest stören, wenn nicht gar zerstören (v 4b). Wenn und weil hier nicht gegengesteuert wird, muss das schlimme Folgen haben. So wird nun, nach der zerstörten Beziehung, die Zündschnur zum Ausbruch der Gewalt gelegt in der Entsendung Josephs zur Supervision der Brüder (37,​ 12–17). Die Erzählung reflektiert und thematisiert keineswegs das erzieherisch

148 Um die Beschreibung der ethischen Dimension unter Berücksichtigung der dahinter ste­ henden Theologie hat sich schon A. Schenker im Kapitel „Versöhnung. Die Josephsgeschichte“ in seinem Buch „Versöhnung und Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im Alten Testament. Mit einem Ausblick auf das Neue Testament“ erfolgreich bemüht (Freiburg / Schweiz 1981). Die vorliegende Arbeit unterscheidet sich von Schenker durch eine stärkere Profilierung der gewalt­ analytischen Strukturen, die der Josephsgeschichte inhärent sind, und durch eine deutlichere Herausarbeitung der in Josephs persönlicher Lebensdeutung begründeten Vergebung.

Die Josephsnovelle 

85

und taktisch ungeschickte Verhalten Jakobs / Israels, sondern es geht einzig darum zu zeigen, dass Aggression und Gewalt einen, manchmal auch unbedachten, An­ stoß brauchen, um entfesselt zu werden. In dieser Situation sind alle Beteiligten tragische Gestalten: der Vater, weil er das Beste für die Herde und seine übrigen elf Söhne will; Joseph, weil er keine Mühen scheut, am Ende seinem Vater Rede und Antwort zu stehen; und die Elf, weil sie fürchten müssen, dass schon jetzt Josephs Träume wahr werden. So kommt in der Situation des Ausbruchs der Gewalt neben Hass und Neid auch noch die Angst hinzu. Sie wird im Unterschied zu Hass und Neid zwar nicht wörtlich benannt, sie schwingt aber deutlich mit in den Worten: „Seht, der Träumer kommt daher“ (37,19). Je nachdem, wie man sie liest, drückt sich darin tatsächlich die Angst aus, die Träume könnten wahr werden, oder es ist der Versuch, die Angst durch Ironie zu überspielen. Auf jeden Fall haben sich Hass und Eifersucht durch einen Auslöser von der Kommunikationsstörung zur Mordabsicht gesteigert (37,18b.20a). Die mörde­ rische Gewalttat rückt auf der Ebene der Erzählung als reale Möglichkeit ins Blickfeld; nicht jedoch auf der Ebene ethischer Beurteilung. Auf dieser Ebene ist Brudermord als Möglichkeit ausgeschlossen. Das macht sowohl der Ruben- als auch der Juda-Erzählstrang eindeutig klar. Beide wollen Joseph aus der Hand der Brüder retten; Juda, indem er ihn vor der Grube, Ruben, indem er ihn aus der Grube retten und dem Vater zurückführen will. Für die ethische Beurteilung des Erzählers entscheidend ist die jeweilige Begründung der beiden Brüder: Im Munde Judas ist die Absicht Mord. Wie der Erzähler es Juda sagen lässt, ist be­ zeichnend für seine Einstellung: Originalton Juda (in wörtlicher Übersetzung): „Lasst uns ihm nicht das Leben (‫ נֶ ֶפשׁ‬/ näfäsch) zerschlagen“ (37,21). Damit erinnert der Erzähler an das, was er weiß, nämlich dass das Leben, die Seele, näfäsch, einst dem Erdenkloß von Gott eingehaucht wurde, so dass jener zu einem lebendigen Wesen wurde (Gen 2,7). Zerschlagen der näfäsch ist demnach zugleich Gewalt­ tat gegen Gott, Sünde. Diese seine eigene Beurteilung hebt der Erzähler von der Beurteilung des Juda auf der Erzählebene ab. Der hält die Ermordung lediglich für ineffektiv („Was hilft’s uns …?“ [37,26]) und rufschädigend („… denn er ist unser Bruder, unser Fleisch und Blut [37,27]). – Aber auch der Erzähler der Ruben-Tradition weiß um die Sündhaftigkeit des Brudermords: „Vergießt kein Blut!“ (37,22). Der Anklang an das Blut Abels, das von der Erde anklagend zu Gott schreit (Gen 4,10), ist unüberhörbar. Die Juda-Tradition billigt ihrem Wortführer mehr Glück zu als die RubenTradition. Juda gelingt die Rettung vor der Grube und somit vor dem Hungertod. Er kann die tödliche Gewalttat abwenden durch den einvernehmlichen Verkauf Josephs an die zufällig vorbeiziehende Ismaeliter-Karawane. Das Gewaltszenario aber bleibt mit all den bösen Folgen für die Brüder und den Vater. – Die RubenTradition schildert ihren Wortführer eher als tragische Person. Zu dieser Rolle tragen die midianitischen Kaufleute bei. Sie haben hier eine andere Funktion als die Ismaeliter in der Juda-Fassung. Waren die Ismaeliter dort eine fast von Gott

86

Gott und der Mensch

gesandte, unbedingt zu ergreifende Möglichkeit, den Tod Josephs abzuwenden und ihn auf eine andere Art loszuwerden, so vereiteln hier die Midianiter – sicher ungewollt – Rubens Rettungs- und Rückführungsplan. Damit ist ihre narrative Funktion zwar beschrieben, aber noch nicht erklärt. Sie hat ihren Sinn indes auch im Zusammenhang mit der Gewaltthematik und will sagen: Sich mit dem Bösen zu arrangieren, um Gutes zu bewirken, geht schief. Ruben ist den Weg des Bösen ein Stück weit mitgegangen, um dann sein eigenes Süppchen zu kochen (37,22); Ruben ist gescheitert (37,29 f). Er musste scheitern, weil er sich mit dem Bösen zu arrangieren trachtete. So ist er nun umso tiefer in den Strudel des Bösen hinein­ gerissen (37,31–35). Indirekt vollzieht der Erzähler eine negative ethische Bewertung der geplanten Gewalttat auch dadurch, dass er die Lüge als deren Folge schildert, eine an Grau­ samkeit kaum zu überbietende Lüge, die den Belogenen bis ins Innerste seiner Existenz treffen und bedrohen wird (37,31–35; 42,38; 43,14b). So zieht Gewalt Kreise und trifft gerade durch Vertuschungstaktik auch den Vater, was von den Söhnen in Kauf genommen wird. Die Lüge nimmt in der gemeinsamen Erzähltradition als Ausgeburt der Gewalt eine ziemlich zentrale Stellung ein. Sie ist Unrecht gegen den Vater, und sie ist eine Sünde gegen Gott, den Urheber der Träume149. Denn mit der Tötung Josephs und deren Verschleierung würden auch die Träume der Vernichtung und Gottes Vor­ auswissen der Lächerlichkeit preisgegeben (37,20). Schließlich wird sich die Lüge als Selbstbetrug erweisen. Denn die Mär, ein böses Tier habe Joseph zerrissen, soll den „Fall Joseph“ ein für allemal als abgeschlossen gelten lassen (vgl. die Re­ aktion Jakobs in 37,33 und die Erklärung der Zehn vor dem unerkannten Joseph in 42,13fin, wiederholt in 42,32b, in 44,20b und in 44,28). Aber die Gewalttat lässt sich nicht begraben. Sie wird die Brüder vor sich her treiben, ihr Gewissen quälen und in der unerkannten Gestalt Josephs und seiner Verstellungsspiele ihnen vor Augen stehen und auf sie zurückfallen (Kapp. 43 und 44). Durch Vertuschung ist dem Zusammenhang von bösem Tun und üblem Ergehen nicht zu entkommen. „Sie sprachen aber untereinander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet! Denn wir sahen die Angst seiner Seele, als er uns anflehte, und wir wollten ihn nicht erhören; darum kommt nun diese Trübsal über uns …“ (42,21 f). Es wird nur einen Weg geben, den Zusammenhang zu durchbrechen. Es wird der Weg der Vergebung sein. Auf ihm werden die Schuldigen nie von sich aus das Ziel er­ reichen; aber sie werden erreicht, wenn der, an dem sie sich „versündigt“ haben (42,22), ihnen Nähe gewährt (45,4 f), Vergebung schenkt (50,15–21)150. Dazu aber 149 Da die Träume weissagenden Charakter haben, weist die Geschichte sie als von Gott ein­ gegeben aus (vgl. G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 288 f). 150 Ob auch Jakob den Söhnen vergibt, was sie ihm angetan haben, darüber reflektiert die Geschichte nicht. Aber es ist zu vermuten (vgl. 45,27 [„alle Worte“] mit 45,5). Jakobs Frieden ist allein wiederhergestellt mit der Nachricht, „dass mein Sohn noch lebt“ (45,28).

Die Josephsnovelle 

87

gehören auch das Bewusstsein von Schuld und die Erkenntnis von Sünde sowie eine innere Wandlung. Bis dahin ist noch ein Weg zurückzulegen. Davon handeln die Kapitel 42–44.

1.6.3 Erste Reise nach Ägypten (Gen 42,1–38) Im Kapitel 42 steht die „Redlichkeit“ der zehn Brüder auf dem Prüfstand. Die „Redlichkeit“ wird in drei Perspektiven beleuchtet: 1. Sind sie redlich in den Augen Josephs? Hier muss man noch mal unterscheiden: redlich im Sinne des Verstellungsspiels („Kundschafter“) und „redlich“ in dem Sinne, dass sie weder den einen noch den anderen Bruder seinem Schicksal überlassen. 2. Sind sie „red­ lich“ vor Joseph im Blick auf ihre Vergangenheit? 3. Sind sie „redlich“ vor sich selbst im Blick auf ihre Vergangenheit? Dabei lässt der Erzähler im ersten Fall Joseph zu Wort und zum Handeln kommen, im zweiten und dritten Fall kommt er selbst zwischen den Zeilen mit dem Hörer ins Gespräch und überlässt ihm das Urteil über die Redlichkeit. Im Rahmen eines Verstellungsspiels geht Joseph seine Brüder hart an und verdächtigt sie, Kundschafter zu sein (42,7–9). Eh sie sich’s versehen, sind sie nicht mehr nur Bittsteller, sondern sie sitzen auf der Anklage­ bank. Sie sind Josephs willkürlichem Vorwurf und damit auch einer möglichen Bestrafung mit dem Tode (vgl. 42,20) ausgesetzt. Auf der Ebene des von Joseph inszenierten Verstellungsspiels beteuern sie zu Recht ihre Redlichkeit (42,11); denn Kundschafter sind sie nicht. Allerdings bleibt diese Art von Redlichkeit auf der Oberfläche des ihnen aufgezwungenen Rollenspiels. Ihre Redlichkeit in der Tiefe ihres Herzens ist noch nicht gefragt. Sie steht aber auf dem Prüfstand bei Josephs Insistieren auf dem Spionagevorwurf (42,12). Hier verteidigen sie sich mit einer Selbstvorstellung, zu der auch ihre Herkunft und der Rest der Familie (Vater, der Jüngste und der Eine, der nicht mehr ist) gehören. Gerade aber in der nicht unrichtigen, jedoch nichtssagenden und ihre Gewalttat verschleiernden For­ mulierung (42,13) zeigt sich, dass sie es an Redlichkeit zu wünschen übrig lassen. Verschleiern und Verschweigen ist unredlich gegenüber Joseph und gegenüber sich selbst. – So liegen in 42,6–13 zwei Perspektiven ineinander: die Redlichkeit vor dem Hintergrund des Spionageverdachts (erzählte Ebene) und die Redlich­ keit des Herzens (Ebene des Erzählers mit seiner Frage nach der Redlichkeit vor Joseph im Blick auf die Gewalttat der Brüder). In 42,14–20 kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Wiederum auf der erzählten Ebene, also auf der des Rollenspiels, geht es Joseph um die Prüfung der Redlich­ keit als einer inzwischen bei den Brüdern vielleicht gewachsenen Haltung. Wer­ den sie in einem ähnlich gelagerten Fall wieder so handeln wie früher und einen von den Ihren im Stich lassen, oder sind sie geläutert und werden nun redlich handeln? Daher in 42,18 die Bedingung, dass sie Getreide nach Israel nur liefern können, wenn sie einen von ihnen in Josephs Gewahrsam zurückließen, bis sie mit

88

Gott und der Mensch

Benjamin zurückkehren. In 42,19 sind noch einmal beide Teilaspekte der ersten Perspektive zusammengefasst. Es geht um die oberflächliche, erspielte Redlich­ keit und – nun für Joseph weit mehr – um die inzwischen vielleicht gewandelte Haltung der Brüder hin zur Redlichkeit151. Josephs Verstellungsspiel wirft – sicher nicht für den Erzähler, aber für uns – die Frage auf, unter welchen Umständen sein barsches Täuschungsmanöver und sein gewaltsames Handeln bis hin zur Androhung der Todesstrafe zu rechtferti­ gen seien. Antwort: Neben der Absicht der Redlichkeitsprüfung (42,18–20) geht es Joseph entscheidend auch darum, die an ihm geschehene Gewalttat für die Brüder fühlbar zu spiegeln (42,16–17). Darum erleben sie nun – wie er einst – Kerker, Angst, Befreiung und – ungewisse Zukunft. Es geht nicht um Rache oder sadistisches Spiel, sondern um die Sensibilisierung für die ihm von den Brüdern zugefügte Gewalt, damit diese durch Nach-Fühlen auf den Weg der Schulder­ kenntnis und der Reue gelangen152. „Die Einsicht in die eigene Schuld kommt aus der Einfühlung“153. So kann hier eine Zwischenbilanz gezogen werden zu der Frage, was das Thema „Redlichkeit“ zur Gewaltproblematik in der Josephsnovelle beiträgt. Auf der gespielten Ebene dient es mit allen angsteinflößenden und verunsichernden Aspekten dem Fühlen-Lassen der angetanen Gewalt und damit der Sensibilisie­ rung für das Unrecht. Auf der Ebene der ernsthaften Prüfung weist das Thema „Redlichkeit“ darauf hin, dass es die Möglichkeit des Wandels von der Gewalt, dem Unrecht, der Lüge zur Fürsorge, dem Recht, der Redlichkeit gibt. Gäbe es diese Möglichkeit nicht, wäre jegliche Prüfung sinnlos. Kein Mensch ist auf Ge­ walt und Unredlichkeit, auf seine Vergangenheit festgelegt. Es gibt Läuterung, Wachsen hin zu einer anderen Haltung, metanoia154. Das ist der Kern christlicher Anthropologie, die bereits im AT grundgelegt wird (vgl. 2.Sam 12; Jona 3). Inso­ fern wird hier eine zutiefst christlich-anthropologische Aussage gemacht. – Der 151 Das hier zur Konfliktbewältigung angewandte Verfahren ist verblüffend modern. Sozial­ pädagogen und Kriminologen würden es als „opferorientierte Resozialisierung“ bezeichnen. Die Grundstruktur dieser Methode spiegelt sich hier wider: „Der Täter geht eine brutale Beziehung zum Opfer ein … Die Strafjustiz geht eine aktive Beziehung zum Täter ein“ (z. B. pädagogische Beziehung) „… Der Täter geht eine … indirekte Beziehung zum Opfer ein … Er demonstriert dem Opfer die Umwandlung seiner ursprünglichen Gewaltbereitschaft in ansozialisierte Frie­ densfähigkeit“ (M. Heilemann, „Opferorientierter Strafvollzug“ in: J. Weidner, R. Kilb, D. Kreft [Hg.], Gewalt im Griff. Band 1: Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings, Weinheim, Basel 32001, S. 50). In Joseph haben wir freilich den Sonderfall, dass das „Opfer“ aufgrund seiner inzwischen erreichten Machtstellung zugleich eine „justiziable“ Funktion ausfüllen kann. 152 Ähnlich auch W. Dietrich, Die Josephserzählung, a. a. O., S. 16 f. 153 So Th. Naumann in seinem richtungweisenden Aufsatz „Opfererfahrung für Täter: Das Drama der Versöhnung in der biblischen Josefsgeschichte“ in: Ökumenische Rundschau 52/2003, S. 497, wo er ebenfalls Josephs „Spiel“ mit modernen Therapiemethoden für jugend­ liche Gewalttäter vergleicht. 154 μετανοεῖν / metanoein entspricht dem hebr. ‫ נִ ַחם‬/ nicham.

Die Josephsnovelle 

89

Erzähler wiederum weist auf seiner Ebene darauf hin, dass Gewalt zur Unredlich­ keit gegenüber sich selbst und anderen führt insofern, als sie verschwiegen wird. Durch Verschweigen aber lässt sich die Tat weder verdrängen noch ungeschehen machen. Letzteres wird in den folgenden Versen stärker hervortreten. In 42,21 und 22 beschreiten die Brüder zum ersten Mal den Weg der Redlich­ keit gegenüber sich selbst. Sie sind durch die Begegnung mit dem unerkannten Joseph in die Auseinandersetzung mit ihrer Tat gestoßen und gestehen sich eine Schuld ein. Sie sehen noch nicht ihre ganze Schuld, sie reduzieren sie auf das Weg­ sehen und Weghören (vgl. 37,25a), beziehen also die den Tod zwar vermeiden wollende, aber doch in Kauf nehmende Gewalt nicht mit ein, ebenso wenig ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem weiteren Schicksal Josephs und ihre den Vater tief verletzende Lüge. Mit der von ihnen erkannten Schuld bringen sie nun ihre quä­ lende Bedrängnis („Trübsal“ [‫ צָ ָרה‬/ zārāh]) in Verbindung. Schulderkenntnis, sei sie auch noch so unzureichend, führt auch zu der Einsicht, dass Gewalt auf den / die Täter zurückschlägt. Schulderkenntnis, sei sie auch noch so unzureichend, öffnet die Augen für die Deutung unangenehmer Ereignisse als Tatfolge: In 42,22 tritt Ruben hervor als theologus interpres der Schuld155. Die Schuld am Bruder wird im Rückblick auf 37,22 als Sünde markiert. Damit geht es ihm – vielleicht stell­ vertretend für die anderen – um mehr als nur um Weghören und Wegsehen. Es geht um das Fehlverhalten der Brüder vor Gott und den betroffenen Menschen in umfassendem Sinn. Deutlich rücken hier noch einmal die Gewalt und all ihre schlimmen Folgen in das Licht der Sünde. Nichtsdestoweniger bleibt Ruben in den Zusammenhang von Schuld und Sünde verstrickt: „Nun wird sein Blut ge­ fordert“ (42,22), auch von ihm. Weil er damals (37,22) den Pakt mit dem Bösen um des Guten willen geschlossen hat, trifft auch ihn die Tatfolge, der mögliche Verlust eines der Ihren156. Die Redlichkeit der Brüder vor sich selbst gegenüber ihrer Vergangenheit bereitet die Möglichkeit vor, dass die Gewalttat der Vergebung anheimgegeben

155 W. Dietrich – in seinem Bestreben, den „erfolgreich“ wirkenden Juda einer Überarbeitung der Josephsgeschichte in politisch dazu passender Zeit zuzuweisen – verkennt den Rang und die Rolle Rubens völlig, wenn er in ihm nur den „Gutwillige(n), aber Erfolglose(n)“ – Vertreter eines Stammes des Nordreichs – sehen will (Die Josephserzählung, a. a. O., S. 22). Es mag durchaus sein, dass die „Josefserzählung, die als Familiengeschichte daher kommt und vom Konflikt unter Einzelpersonen erzählt, in hohem Maße durchlässig ist auf politische Prozesse der Begegnung von Gruppen und politischen Gebilden in Israel“ (Th. Naumann, a. a. O., S. 492). Sie aber in den Dauerkonflikt zwischen Nordreich (Haus Joseph) und Südreich (Haus Juda) hineinzuprojizie­ ren, wird dem erzählten Schicksal Josephs (in Ägypten) nicht gerecht, abgesehen davon, dass solche Projektionen nur unter sträflicher Vernachlässigung von Ruben möglich sind. 156 Die Lutherübersetzung hält sich nahezu wörtlich an den hebräischen Text. Die Einheits­ übersetzung interpretiert: „Nun wird für sein Blut von uns Rechenschaft gefordert.“ Das nimmt der potentiellen Folge aber die Spitze. Hier wird die existentielle Getroffenheit in eine intellek­ tuelle Herausforderung verschoben.

90

Gott und der Mensch

werden kann. Denn das offene Bekenntnis von Schuld und Sünde löst in Joseph eine Reaktion der Liebe aus, die auf Vergebung zielt (Weinen, stille Geldrückgabe, Wegzehrung) (42,25). Die Josephsgeschichte hat bisher gezeigt: Verdrängte Schuld (37,31 f) kommt wieder als (erkannte) Tatfolge (42,6–22). So notwendig Schulderkenntnis und -bekenntnis sind, so wenig nehmen sie doch per se Schuld weg. Sie steht zunächst einmal im Raum. Nur so aber kann sie vom betroffenen Gegenüber (Gott oder Mensch) vergeben werden. Solange sie nicht vergeben ist, verfolgt sie den / die Schuldigen in Form von Schuldkomplexen. Das tritt im Folgenden hervor. Was von Joseph als stille Liebestat gemeint war, die Geldrückgabe, wird nun zum Schrecken für die Brüder; denn einmal als unredlich verdächtigt, wird man sie nun erst recht der Unredlichkeit überführen können (42,28). Dieser Schuldkom­ plex steigert sich noch einmal in 42,35. Auch er ist eine Spätfolge der Gewalttat und wird sich erst mit deren Vergebung auflösen.

1.6.4 Zweite Reise nach Ägypten (Gen 43,1–44,34) In Kap. 43 beginnt die Juda-Tradition. Sie kreist nicht in erster Linie um Perspek­ tiven der Redlichkeit – das Wort „redlich“ (‫ ּכֵ ן‬/ kēn) kommt nicht mehr vor –, auch nicht um das Thema Schuld und Schuldkomplex. Indirekte Hinweise darauf sind wohl vorhanden, das Hauptthema aber ist die Prüfung der Brüder durch Joseph, ob sie sich gewandelt hätten oder nicht. Diesem Thema ist die Forderung, Ben­ jamin kommen zu lassen, eingeordnet (43,3); die Spannung erreicht ihren Hö­ hepunkt in der Unterschiebung des silbernen Bechers in Benjamins Sack (44,2), und die Prüfung ist mit positivem Ergebnis abgeschlossen im stellvertretenden Einstehen Judas für seinen Bruder Benjamin (44,33). Damit steht in Kap. 43 und 44 das anthropologische Thema der Wandlungsfä­ higkeit des Menschen im Vordergrund. Juda ist bereit, selbst auf sich zu nehmen, was er einst Joseph anzutun gedachte: ihn in die Sklaverei zu verkaufen. Er ist be­ reit, an die Stelle des in Bedrängnis geratenen Benjamin zu treten, um Benjamins, aber auch um des Vaters willen. Gewalttäter zu sein ist kein Schicksal. Du kannst dich von der Gewalt lossagen, wenn du willst. Du kannst reifen und wachsen in der Redlichkeit, in der Solidarität und in der Verantwortungsbereitschaft. An Juda wird das deutlich, aber er wird auch zum Sprecher aller (44,14 ff). In den Rahmen der Prüfung ist auch das Verstellungsspiel Josephs eingeordnet. Es nimmt einen in sich geschlossenen Komplex ein und ist an die Geschichte um den silbernen Becher gebunden (44,1 ff). Ziel ist – wie oben – die fühlbare Spie­ gelung des ihm angetanen Leids und der ausgestandenen Ängste. Aber diese Spie­ gelung führt hier nicht zur Schulderkenntnis oder gar zum Sündenbekenntnis. Sie hätten nach 44,13a, dem Zerreißen der Kleider, oder nach 44,16b („… die Missetat deiner Knechte …“) kommen können, kommen aber nicht, sondern bleiben im

Die Josephsnovelle 

91

Rollenspiel stecken157. Daraus wird einmal mehr deutlich, dass Schulderkenntnis hier kein eigenes Thema ist. Dementsprechend spielt auch der Schuldkomplex keine wesentliche Rolle. Man mag ihn in den Fragen Josephs angesprochen sehen: 44,4 f.15; oder auch in seinem Verhalten: 43,33. Mehr ist dazu nicht zu finden. Selbst die Redlichkeit verbleibt auf der Ebene des aufgezwungenen Rollenspiels: Niemals wäre es ihnen eingefallen, den silbernen Becher zu stehlen. Strafe über alle, wenn es doch so wäre (44,7.9). Lediglich in den Passagen, die die Ruben- mit der Juda-Tradition verbinden, treten das Redlichkeitsmotiv (43,20–22; 44,8) und der Schuldkomplex (43,18 f) stärker hervor158. Beide Linien scheinen aus der Ruben-Tradition herübergezo­ gen zu sein. Allerdings scheint das Thema Redlichkeit sowohl für die Jakobs- wie auch für die Jo­ sephsgeschichte insgesamt von Bedeutung zu sein. Jakob benutzt das Argument seiner Redlichkeit, um sich in seiner eigenen Spiegelschau Bewährung zu bestätigen (30,33; 31,32). Und er zieht Gott in seine Argumentation mit hinein (31,42). 30,33 benutzt hier den Begriff ‫ צְ ָד ָקה‬/ zᵊdāqāh („Gerechtigkeit“). Letztendlich hat sich sein Pochen auf Red­ lichkeit / Gerechtigkeit als Flucht vor der Schuldfrage erwiesen, eine Flucht, bei der er allerdings von Gott nicht verlassen wird (31,42). Ist „Redlichkeit“ bei Jakob eine die Schuldbearbeitung verhindernde Selbstbetrach­ tung, so ist sie in der Josephsgeschichte ein vom Erzähler anvisiertes und zu erstrebendes Ziel. Es ist mögliches Ziel trotz vorausgegangener Unredlichkeit; es ist verfehltes Ziel im Verschweigen und Verschleiern der Unredlichkeit; und es ist erreichtes Ziel in der Selbsterkenntnis und in vollzogener Lebenswende. Es ist ganz einfach sittlich „richtiges“ (‫ ּכֵ ן‬/ kēn) Verhalten.

1.6.5 Erkennungs-, Vergebungs- und Erkenntnisszene (Gen 45,1–9.14 f; 50,15–21) Vergebung ist nicht voraussetzungslos, sondern an ein inneres Wachsen und Reifen der Übeltäter mit dem Ergebnis der Sinnes- und Verhaltensänderung ge­ bunden. Bereitschaft zur Vergebung aber muss auch wachsen, sie ist keine auto­ matische Gegenleistung nach vollzogener Wandlung. Sie wächst bei Joseph in dem Maße, wie er bei seinen Brüdern Schulderkenntnis und Redlichkeit wahrnimmt. Vergebung würde die Gewalttat der Geschichte anheimgeben und sie so ein für 157 Gegen G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 323 f, der v 16b einen „Doppelsinn“ ab­ gewinnen will; ebenso gegen C. Westermann, Genesis 37–50, a. a. O., S. 121 u. S. 150 und gegen P. Weimar, „Eine bewegende Rede. Komposition und Theologie der Rede Judas in Gen 44,​ 18–34“ in: Ders., Studien zur Josephsgeschichte, a. a. O., S. 129 Anm. 27. 158 Hierher scheinen auch die beiden Berichte der Brüder vom „Tod“ des „einen Bruders“ zu gehören, in denen sie ihren eigenen Anteil an diesem „Tod“ unterschlagen (vgl. 42,13 mit 44,20).

92

Gott und der Mensch

allemal überwinden. Es liegt nun in Josephs Hand zu gewähren, was die Täter sich nicht nehmen können159. So gehören die Schlusskapitel, insbesondere 45,1–5 und 50,14–26, ganz ihm: Er allein ist der Handelnde, seine Brüder dagegen sind nur noch Be-handelte: „Und seine Brüder konnten ihm nicht antworten; so erschra­ ken sie vor seinem Angesicht“ (45,3b). „Er aber sprach zu seinen Brüdern: Tretet doch her zu mir“ (45,4a). Nur einmal noch versuchen die Brüder die Souveräni­ tät der Handelnden wiederzugewinnen, indem sie Josephs Vergebung mit einem fadenscheinigen Argument erschleichen wollen: Der Vater hätte ihnen auf dem Sterbebett aufgetragen, Josephs Vergebung zu erwirken. Aber der Schachzug geht ins Leere, und sie sehen sich bald wieder in der Rolle derer, die des Trostes und des Zuspruchs bedürfen und ihn empfangen (50,15–21). Eigentlich ist die Josephsgeschichte von Anfang an, spätestens aber von Kap. 42 an, ein Lehrstück, wie Gewalt durch Nichtanwendung von Gegengewalt überwun­ den werden kann. Denn Joseph hätte sich an seinen Brüdern rächen können, als sie in die Lage der Bittsteller geraten waren. Er tut es nicht. Die Nichtanwendung von Gegengewalt aber löst – das weiß das Lehrstück auch – das Problem der Ge­ waltbereitschaft der Täter nicht. Daher bedarf es eines Wachstumsprozesses auf beiden Seiten: einer inneren Reifung aufseiten der Täter und einer Bereitschaft zur Vergebung aufseiten des Opfers160. Das Wachsen der Bereitschaft wird durch mehrmaliges Weinen Josephs signalisiert. Es überkommt ihn immer da, wo auch eine deutliche Reifung der Täter spürbar wird. So ergibt sich geradezu ein Kor­ respondenzverhältnis. Ein erstes Mal fällt seine harte Hülle, als die Brüder einen Tat-Folge-Zusammenhang herstellen zwischen ihrer Mitleidslosigkeit und ihrer jetzigen Lage und so zur Schuld- bzw. – mit Rubens Worten – zur Sündenerkennt­ nis kommen (42,24). Ein zweites Mal kann er die Tränen nicht mehr zurückhal­ ten, als er seinen Bruder Benjamin sieht. Das Mitbringen Benjamins ist für ihn zugleich Zeichen der Redlichkeit seiner Brüder (43,30 f). Laut weinen muss er schließlich, als Juda mit seiner ganzen Person ein Zeugnis dafür ablegt, dass er und die anderen sich gewandelt haben, dass er bereit ist, für Benjamin in die „Grube“ zu gehen (45,2). Er wird noch ein weiteres Mal weinen: als seine Brüder – zwar in fragwürdigem Rahmen, aber doch klar und ohne Umschweife – ihre volle Untat als solche benennen und sie als Sünde erkennen: „Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben“ (50,17aβ). Joseph ist überwunden. Er könnte, er möchte vergeben; aber verfälscht er damit nicht Gottes Heilsgeschichte? Diese Frage wird zu klären sein.

159 „Nur das Opfer kann die Initiative zur Vergebung ergreifen und so die Voraussetzung für Versöhnung schaffen“ (Th. Naumann, a. a. O., S. 500). Es muss hinzugefügt werden: Grundlage kann nur eine freie Willensentscheidung des Opfers sein, niemals eine an das Opfer gestellte Forderung (50,15–17). 160 Zum Reifungsprozess auf beiden Seiten vgl. auch Th. Naumann, a. a. O., S. 492.

Die Josephsnovelle 

93

Zunächst einmal: Überzeugt davon, dass seine Brüder andere Menschen ge­ worden sind, offenbart er sich: „Ich bin Joseph“ (45,3). Die Druckwelle, die das auslöst, versucht er abzumildern mit der Frage nach seinem Vater. Dennoch ist Starre die Folge. Was kommt jetzt? „Niemand ist gewaltiger als ich …“? Aufrech­ nung, Strafe, neue Gewalt, die gar noch ein gewisses Recht für sich beanspruchen könnte? Nichts von alledem! Sondern: „Tretet doch her zu mir“ (45,4a)161. Joseph gewährt Nähe und löst damit die Starre auf. Die Brüder befinden sich nun in der Sphäre seiner Vergebung (45,4b). Während sie noch nicht sprechen können, spricht er zu ihnen und durchbricht von sich aus die Sprachlosigkeit. Dabei kon­ frontiert er sie in der Tat zunächst mit ihrer Schuld: „Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt“ (45,4c). Durch das „Und nun“ – in der Ein­ heitsübersetzung zu Recht als „Jetzt aber“ wiedergegeben – bringt er von sich aus allerdings eine deutliche Zäsur in die Lebensgeschichte der Brüder ein: „… be­ kümmert euch nicht (mehr) …“ (45,5). Die Schuld ist aufgehoben! Joseph hat es in Vollmacht ausgesprochen. Freilich – und das wird ihm den Akt der Vergebung fraglich machen – nicht in eigener Vollmacht, sondern in Gottes Vollmacht. Denn er, Gott, ist es gewesen, der das Böse zum Guten gewendet hat. Gott hat die Macht der Gewalt Lügen gestraft und aus dem, was böse gedacht war, Gutes erwachsen lassen, für das Opfer auch, mehr aber noch für die Täter und für viele andere mehr162. Aus der Grube ist die große „Rettungstat“ erwachsen, weil Gott es so ge­ wollt hat (45,7 f). Er ist der, der das Böse umwendet uns zum Guten. Wenn es so ist, wie kann Joseph da von seiner Herrschaftsstellung herab vergeben? Er kann aber auch unter dem Eindruck dessen, was Gott getan hat, er kann im Lichte sei­ ner Lebensdeutung Vergebung nicht verweigern. Er gibt sie: „Und er fiel seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte; und Benjamin weinte auch an seinem Halse; und er küsste alle seine Brüder und weinte an ihrer Brust. Danach redeten seine Brüder mit ihm“ (45,14 f). In 50,14–26 spitzt sich die Frage, ob denn Vergebung eine angemessene Ka­ tegorie angesichts des Heilshandelns Gottes sei, zu. Anlass ist der noch einmal sich meldende Schuldkomplex der Brüder. Die Integrationsfigur „Vater“ ist tot, feierlich begraben wunschgemäß in einer Höhle in Machpela bei Mamre. Wird nun alles wieder aufbrechen? Wird für Joseph die Vergebung zählen? Aufgebro­ chenes Misstrauen, geboren aus dem Schuldkomplex, lässt die Brüder zu einer 161 Thomas Mann nimmt diese Unsicherheit auf und lässt Joseph über Machtmissbrauch coram Deo reflektieren: „Und nun soll ich Pharao’s Macht, nur weil sie mein ist, brauchen, um mich zu rächen an euch für drei Tage Brunnenzeit, und wieder böse machen, was Gott gut ge­ macht? Daß ich nicht lache! Denn ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen“ (Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Band 3: Joseph der Ernährer, Frankfurt / Main 1975 [Berlin 1933] [Fischer-TB], S. 1362 f). 162 Sicher ist eine über den konkreten Opfer-Täter-Kreis hinausreichende „Rettungstat“ Gottes für „die Vielen“ vornehmlich das Gedankengut von Jesaja 53, aber es kann schon hier grundgelegt sein (vgl. auch 50,20c!); weswegen – gegen Westermann, Genesis 37–50, a. a. O., S. 158 – eine Interpolation von 45,7b nicht notwendig vorausgesetzt werden muss.

94

Gott und der Mensch

erfundenen Behauptung greifen, die Sterbebettgeschichte: „Joseph, vergib doch deinen Brüdern …“. Gewalt kann überwunden werden, aber wie brüchig ist der Boden, auf dem man aufeinander zugeht: Eine kleine Lügengeschichte kann zur Lawine werden… Das einzig Positive daran ist, dass diese Flunkerei sie dazu bringt, nun endlich klar zu ihrer Tat zu stehen und sie als Untat und Sünde zu markieren. Sie sind bereit, die Folgen zu tragen: unter der Gnade der Vergebung gern auch Josephs Sklaven zu sein. So wollen sie den Fluch der Untat aus der Welt schaffen. Sie, die Joseph versklaven lassen wollten, wollen jetzt, wenn es sein soll, seine Sklaven sein. Derart auf seine Macht angesprochen, zuckt Joseph zurück. Denn was geschehen ist, ist Gottes wundersames Rettungshandeln: „ Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen …“ (50,20). In aller Klarheit spricht er aus, was ihm in der Erkennungsszene schon aufleuchtete. Jetzt aber ist ihm darüber hinaus noch deutlich, dass er durch einen Vergebungsspruch in eigener oder auch in Vaters Vollmacht Gottes wunderbares, unüberbietbares Heilshandeln verdunkeln würde. Daher weist er die – fast for­ dernde – Bitte um Vergebung zurück mit den Worten: „Stehe ich denn an Gottes statt?“ (50,19), unterfüttert freilich mit einem zweifachen „Fürchtet euch nicht“. Denn die Verweigerung einer ausdrücklichen Vergebung hat nichts mit seinem Wollen, auch nichts mit der Haltung der Brüder zu tun, sondern mit Gott. Was bei dieser heilsgeschichtlichen Lebensdeutung, in die auch die Taten und Untaten der Brüder mit hineingenommen sind, angemessen erscheint, ist eine die Vergebung inkludierende, aber zugleich auch über sie hinausgehende Versöhnung. Es ist die Versöhnung der Brüder unter Gottes Heilsgeschichte, es ist die Versöhnung der Brüder unter der Anerkennung eines Gottes, der selbst aus dem Bösesten Gutes erwachsen lässt163. In diese Versöhnung nimmt Joseph seine Brüder mit hinein: „Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“ (50,21)164. In dieser Ver­ 163 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Berlin ²1961, S. 19 f. 164 Thomas Mann misst dem Zögern Josephs noch eine über die Novelle hinausgehende Be­ deutung bei: Joseph kann die Vergebungsbitte der Brüder nicht annehmen, weil er sich eigent­ lich bei ihnen entschuldigen müsste; denn im „Spiel Gottes“ musste er seine Brüder zum Bösen reizen, damit alles so kam, wie es kommen musste und er zum Ernährer Ägyptens, Israels und des Vorderen Orients wurde: „ ‚Aber Brüder, ihr alten Brüder!‘ antwortete er und beugte sich zu ihnen mit gebreiteten Armen. ‚Was sagt ihr da auf? Als ob ihr euch fürchtet, ganz so redet ihr und wollt, daß ich euch vergebe! Bin ich denn wie Gott? … Unter seinem Schutz mußt’ ich euch zum Bösen reizen in schreiender Unreife, und Gott hat’s freilich zum Guten gefügt, daß ich viel Volks ernährte und so noch etwas zur Reife kam. Aber wenn es um Verzeihung geht unter uns Menschen, so bin ich’s, der euch darum bitten muß, denn ihr mußtet die Bösen spielen, damit alles so käme“ (Th. Mann, a. a. O., S. 1362). Eine solche Prädestination zum Bösen, die Gott dann in sich selbst und so auch für den Prädestinierten zum Guten wendet, scheint mir theo­ logisch nicht haltbar – der Mensch wäre im „Spiel Gottes“ nur noch Marionette – und vor dem Hintergrund der abgründigen Holocaust-Erfahrung auch nicht vertretbar („Joseph und seine Brüder“ ist 1930–1943 entstanden). – Zudem macht Th. Manns Zuspitzung die persönliche Lebensdeutung Josephs unzulässigerweise zu einer geschichtstheologischen Beurteilung der Gesamtsituation (vgl. dazu Th. Naumann, a. a. O., S. 500 f).

Die Josephsnovelle 

95

söhnung ist Gewalt aufgehoben, überwunden und dem Frieden Gottes anheim gegeben. In dieser Gewissheit kann Joseph auf seinem Sterbebett sagen: „… Gott wird euch gnädig heimsuchen …“ (50,24).

1.6.6 Anthropologische Implikationen Die Ethik der Josephsgeschichte ist besonders fest mit dem Verlauf der Erzählung verbunden. Sie spricht sich als praktizierte Ethik in der Erzählung selbst aus und ist somit weitestgehend165 novellistisch erzählte Ethik. Das macht die Novelle zu einem lebendigen Lehrstück. Das hat aber auch zur Folge, dass Anthropologie und Theologie in ethische Begründungszusammenhänge hinein verflochten sind. Die beiden Ebenen sollen nun gesondert beleuchtet werden. Die Josephsgeschichte ist ein Zeugnis für „die ganze Vielfalt und Abgründig­ keit des Menschlichen“166. Hass und Neid sind ebensolche anthropologischen Grundkonstanten wie Angst und Reue. Angst erwächst hier aus nicht verarbeiteter Schuld und – daraus folgend – aus einem lebensbegleitenden Schuldkomplex167. Am Menschen liegt es, wovon er sich bestimmen lässt. Seine Freiheit lässt ihn je und je im Lebensvollzug wählen und eine falsche Grundhaltung ggf. mehr und mehr als Schuld erkennen. Joseph macht sich die Angst der Brüder zunutze, um über das Schüren des Schuldkomplexes vielleicht Reue und damit Wandlung feststellen zu können (Kap. 42, Ruben-Tradition). Er stellt sie spätestens nach der Rede Judas im Zusammenhang mit der Becher-Szene (Kap. 44, Juda-Tradition) fest. Damit ist der Kern christlicher Anthropologie berührt. Kein Mensch ist auf seine Vergangenheit festgelegt: Gewalttäter zu sein ist kein Schicksal, Lügner zu sein kein Persönlichkeitsmerkmal. Jeder Mensch kann aus Erkenntnisgewinn und Reue seine Vergangenheit hinter sich lassen. Die Sinnesänderung (μετάνοια / ​ metanoia) ist freie Entscheidung, angestoßen, begleitet und geführt freilich von außen, sich manifestierend in einem Wachstums- und Reifungsprozess von der Skrupellosigkeit über erste Bedenken bis zur Schulderkenntnis und einem Anflug von Schuldbewusstsein, was wiederum die Grundlage für Redlichkeit, Solidarität und Verantwortungsbereitschaft ist. Dieses Menschenbild ist biblisch und erreicht im Verkündigungsauftrag Jesu seine poin­ tierte Ausformung. Jesu Ausruf: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeige­ kommen. Tut Buße (μετανοεῖτε / metanoeite) und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15), 165 Nur bei der ethischen Bewertung der Gewalttat der Brüder an Joseph meldet sich der Erzähler indirekt zu Wort (s. o. unter AT 1.6.2.2). 166 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 359. Er ordnet Entdeckung und Darstellung derselben der salomonisch-nachsalomonischen Ära zu. 167 Während nicht verarbeitete Schuld auf echte Schuld zurückgeht, ist der Schuldkomplex eher diffus und meldet sich selbstanklagend bei jeder Unregelmäßigkeit (vgl. das Entdecken der Geldsäcke Kap. 42 und das Auffinden des Bechers Kap. 44).

96

Gott und der Mensch

setzt die Möglichkeit und Fähigkeit zur Lebenswende voraus. Beispielhaft dargestellt wird sie im Nachfolgeruf (vgl. bes. Mk 2,17 parr; Lk 19,10) und im Anpreisen des Voll­ kommenheitsideals (Mt 5,48).

Die Wandlungsfähigkeit, sich manifestierend in der Reue der Brüder, ist in dieser Geschichte Voraussetzung für die Vergebung. Andersherum gesagt: Vergebung hätte keinen Anhalt, gäbe es die Wandlungsfähigkeit nicht. Die Praxis der Verge­ bung setzt die Anerkenntnis der Wandlungsfähigkeit des Menschen voraus. Hier allerdings geht das Neue Testament über das Alte hinaus. Der Gekreuzigte vergibt seinen Peinigern voraussetzungslos (Lk 23,34)168, wiewohl es bei ihm auch an Schulderkenntnis gebundene Vergebung gibt (Lk 23,43). Beides hat für ihn auch in seinem Erdenleben sein Recht, die bedingte Vergebung in Lk 18,9–14 in der Reihenfolge Bekenntnis – Rechtfertigung, die voraussetzungslose Vergebung in Lk 7,36–50 mit der Folge einer inneren Wandlung zur Liebe. Die Josephsgeschichte setzt aber nicht nur eine Wandlungsfähigkeit der Täter, sondern auch des Opfers voraus. Auch und gerade letztere gilt als Voraussetzung zur Vergebung. Aufgrund der anthropologischen Grundstruktur des Menschen ist es möglich, dass sich ein Korrespondenzverhältnis zwischen Opfer und Täter ergibt, aus dem heraus ein Wachstums- und Reifungsprozess auch aufseiten des Opfers in Gang gesetzt wird. So kann von Joseph, dem Opfer, „etwas Aufbauen­ des, eine wohltätige Güte“ ausgehen169, die zuletzt in der Versöhnung unter Gottes Heilsgeschichte ihr Ziel findet.

1.6.7 Theologische Implikationen Von Gott ist in den behandelten Kapiteln – außer in 42,28; 45,5–8(9) und 50,20 f – nur indirekt die Rede170. Nichtsdestoweniger ist Gott als Bezugsrahmen für die an den Brüdern demonstrierte Ethik präsent. Er ist Ursprung des Lebens (Gen 2,7) und bleibt ihm verbunden (Gen 9,5 f [alte Trad., P-Red.]). Darum sind Mord ebenso wie kalkulierter Totschlag Sünde171. – Gott ist im engeren Sinn auch Ursprung der Träume Josephs; von daher rücken die Vernichtung Josephs und deren Verschleierung vor dem Vater deutlich in den theologischen Referenz­ rahmen. Gottes Gottheit zu konterkarieren führt zum Verfehlen der Existenz 168 Vgl. auch J. Jeremias, Der Opfertod Jesu Christi, Stuttgart 1963, S. 29. 169 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 360. 170 Direkter sprechen die Kapp. 39 (40 und 41) von Gott / dem Herrn. Das kann hier aber vernachlässigt werden, weil in diesen Kapiteln in erzählerischer Breite ausgeführt ist, was zum Schluss noch einmal auf den Punkt gebracht ist: dass Gott das von anderen zugedachte Böse für den Adressaten zum Guten wendet (z. B. 39,2.21 f) und dass Joseph nicht aus eigener Vollmacht, sondern in Gottes Kraft redet und handelt (z. B. 40,8; 41,16). 171 Vgl. einen späten Widerhall in 1.Jh 3,15.

Die Josephsnovelle 

97

und gibt der Bedrohtheit des Lebens preis. – In der Selbsterkenntnisszene der Brüder (42,21 f) wird auf den Punkt gebracht, was Leben im Angesicht Gottes und im Gegenüber zum Nächsten ermöglicht: die Liebe. Das Wort fällt hier nicht; es bleibt späterer Reflexion vorbehalten (Dtn 6,4 f; Lev 19,16–18; Hos 4,1 f; 6,6). Aber es ist auf der Ebene des Erzählers der Sache nach da. Weil die Liebe fehlt, das Wegsehen und Weghören dominiert, wird das Leben verfehlt, vor dem Bruder (42,21) und vor Gott (42,22)172. – Schuld lässt Gott als strafenden Gott erfahren. Wo sie eingesehen wird, wird Strafe als gerecht ertragen (42,21 f). Wo sie verdrängt wird, flüchtet man vor dem strafenden Gott in die Theodizeefrage: „Warum hat Gott uns das angetan?“ (42,28c). – Gottes Handeln ist auch der Be­ zugsrahmen für J­osephs Vergebung. Nicht allein die Überzeugung, dass seine Brüder sich gewandelt haben, nicht Rührung, nicht seine Machtstellung lassen ihn vergeben, sondern Gottes Heilshandeln, das Leben aus dem Tod erwachsen lässt, für ihn persönlich und damit immer zugleich auch für seine Familie und sein Volk (45,5–7; 50,20 f). Der Gottesbezug ist freilich nicht im Sinn einer IndikativImperativ-Ethik zu verstehen wie etwa Mt 18,23–35 oder Kol 3,13b, sondern er ist Grundlage und Ausdruck einer Vollmacht, die ihm – so seine eigene Lebens­ deutung – zugewachsen und von oben gegeben ist (45,5). Darum reagiert er auf das Unverständnis der Brüder, die ihn mit einer Flunkerei zur Vergebung drängen wollen, mit Traurigkeit. Nun macht er unmissverständlich deutlich, dass nicht er aus eigener Vollmacht vergeben kann, sondern nur Gott („Stehe ich denn an Gottes Statt?“ [50,19]). Aber ebenso deutlich spricht er auch aus, dass Gott durch den Verlauf der Heilsgeschichte bereits vergeben hat (50,20) und er darum in Voll­ macht vergeben und sich mit seinen Brüdern unter Gottes Versöhnungshandeln stellen kann („Fürchtet euch nicht“ [50,19.20]). Hier ist präludiert, was später die Vollmacht Jesu ausmachen wird (Mk 2,5.10). Ist Gott im theologischen Referenzrahmen des Denkens und Handelns der Brüder einschließlich Joseph stets indirekt präsent, so spricht sich darüber hin­ aus in der Josephsgeschichte auch direkt ein spezifisches Gottesverständnis aus. Findet man es in 45,5–8 und 50,20 f, so wird man bedenken müssen, dass hin­ ter solchen starken theologischen Aussagen ebenso starke, bedrängende Fragen stehen. Die Frage ist in 37,1–36; 39,1 gestellt: Warum lässt Gott zu, dass Hass, Gewalt und Lüge eine Gemeinschaft, die sich noch dazu auf verheißungsvollem Weg befindet, zerstören können? Die Josephsgeschichte lässt diese Frage gar nicht lange offen, sondern, gerade gestellt, setzt sie schon zur Antwort an, in Kap. 39 mit der Karriere Josephs beginnend, in einem großen Bogen, der auf 45,5–8 und 50,20 f zielt. Gott lässt es letztendlich nicht zu, sondern sein – manchmal sehr ver­ borgenes – Heilshandeln „umgreift sogar das Böse der Menschen, indem es die Planungen des Menschenherzens, ohne sie zu hemmen oder sie zu entschuldigen, 172 Vgl. ein spätes Echo mit weiterer theologischer Durchdringung im 1.Jh, bes. 2,9–11; 4,8.12.16.

98

Gott und der Mensch

seinen göttlichen Zielen dienstbar macht“173. So kann man 45,8 und 50,20 als eine klare Theodizee deuten: „Und nun, ihr habt mich nicht hergesandt, sondern Gott; der hat mich dem Pharao zum Vater gesetzt und zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über ganz Ägyptenland.“ – „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist …“.174 Gott hat – das ist die Aussage von 45,8 – gleich nach dem Wurf in die Grube die Initiative des Handelns übernommen und von da ab das, was böse gedacht war, zum Guten für alle Beteiligten gewendet. In diesem Sinn kann die Interpretation von G. v. Rad zugespitzt werden: Gott ist nicht nur jemand, der sein Ziel ggf. auf Umwegen erreicht, sondern der böse Gedachtes zum Besten gedeihen lässt, für Opfer und Täter gleichermaßen. Und dieses Beste, aus dem Bösen nach Gottes Willen erwachsen, reicht weit über die konkreten Täter hinaus, es wird dazu dienen, „am Leben zu erhalten ein großes Volk“ (50,20 vgl. 45,7). Hier wird Heilsgeschichte nachgezeichnet, die nicht nur eine Großfamilie oder einen Stamm betrifft, sondern ein ganzes Volk. Am Fall von Joseph und seinen Brüdern wird exemplarisch Gottes rettendes Handeln durch die Bedrohungen hindurch aufge­ zeigt, die Israel an den Rand der Existenz treiben. Das Umwenden des zerstöreri­ schen Bösen zum heilbringenden Guten findet im Kreuz Jesu seinen Gipfelpunkt; es erreicht, im Glauben erfasst, eine existentielle Tiefe und universale Weite von vorher nicht gekanntem Ausmaß. Von hier aus findet das umwendende Handeln Gottes seinen Widerhall bei Paulus: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen …“ (Röm 8,28) und bei Markus: „Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen reden“ (Mk 7,37) – nicht nur ein Lob der Neuschöpfung in Christus, sondern auch eine Theodizee im Handeln „von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Dass in einem solchen umwendenden Handeln Gottes, das sich für Opfer und Täter gleichermaßen lebenserhaltend auswirkt, der Keim der Versöhnung liegt, versteht sich fast von selbst. Joseph nimmt seine Brüder in das versöhnende Handeln Gottes mit hinein: „Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“ (50,21). Hier, in diesem versöhnenden Handeln Gottes ist Gewalt aufgehoben, überwunden und seinem Frieden anheimgegeben. Es fällt auf, dass bei diesem Gottesbild, das ganz im Zeichen des Umwendens zum Guten und im Zeichen der Versöhnung steht, der Gerichtsgedanke fehlt. Das Thema der Josephsgeschichte ist ja auch nicht „Gericht und Gnade“, son­ dern „Leben aus dem Tod“. Dabei korrespondieren Gottes- und Menschenbild: Gott bringt Leben aus dem Tod als der Böses ins Gegenteil Verwandelnde, und 173 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 360. 174 Zur „Antwort auf die Theodizeefrage“ in der Josephsgeschichte vgl. auch B. Johnson, „Die Josephserzählung und die Theodizeefrage“ in: Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums 37/1994, S. 35 f: Menschliches Handeln und göttliche Lenkung seien zwei Seiten der einen „vollen Wirklichkeit“, in denen beiden Gott voll präsent sei.

Die Josephsnovelle 

99

der Mensch wird dessen teilhaftig als ein sich Wandelnder vom Gewalttäter zum Schuldbewussten, vom Gleichgültigen zum Solidarischen, vom Verletzten zum Versöhnenden und Versöhnten.

1.6.8 Jakob-Laban-Esau-Sage und Josephsgeschichte im Vergleich Die Josephsnovelle setzt den Jakob-Esau-Sagenkranz inhaltlich voraus. Sie knüpft auch, was das Thema Gewalt betrifft, an ihn an. In beiden Erzähleinheiten geht es um Gewalt und je ein Modell der Gewaltüberwindung. Dabei scheint der JakobEsau-Sagenkranz schwerpunktmäßig sein Modell zu reflektieren und dabei zu einer differenzierten Betrachtung zu gelangen (Mäßigung mit dem Ziel der Ver­ söhnung durch Entfeindung), während die Josephsnovelle nicht erst das Ende der Gewalt ins Auge fasst, sondern schon ihren Nährboden (Hass, Neid) samt ihren Folgen (Lüge, Verletzung, Schuldkomplexe) analysiert. Modellhaft werden zwei Ziele der Gewaltüberwindung vorgestellt: Versöhnung in akzeptierter Verschie­ denheit (getrennte Wege in versöhnter Übereinkunft [33,16 f]) und Versöhnung in wiedergewonnener Einheit („So wohnte Joseph in Ägypten mit seines Vaters Haus …“ [50,22]). Jedes dieser beiden Versöhnungsziele – hier urtypisch be­ schrieben – hat in der jeweiligen Situation seine Chance, seine Begründung und seine Berechtigung. Relativ einheitlich wird die Frage beantwortet, was zur Versöhnung führt: Nicht Flucht vor der Auseinandersetzung mit der Schuld, nicht Vertuschung und Ver­ drängung, sondern ein Sich-Stellen, ein Sich-Bekennen, daraus folgend Mäßigung und Vergebung auf der Seite des Geschädigten. Der Sagenkranz und die Novelle unterscheiden sich allerdings in der Frage, wer zur Versöhnung führt. Im Sagen­ kranz sind es Menschen, die betrügen, fliehen und sich stellen, die sich mäßigen, entfeinden, vergeben und sich versöhnen. In der Novelle dagegen ist Gott der eigentliche, verborgene Akteur hinter allem Handeln von Schädigern und Ge­ schädigtem, der Böses in seine Hand und in seinen Dienst nimmt, um es für alle Beteiligten zum Guten zu wenden (45,8). Im Sagenkranz geschieht Flucht, Ent­ feindung und Versöhnung unter Gottes Augen; in seinem Mitsein ist er verbor­ gene Schutzmacht, lässt den handelnden Personen aber in ihrem Selbstverständnis wie auch im Verständnis des Erzählers freie Hand. In der Novelle läuft Geschichte nach Gottes Heilsplan ab, auf dem Boden des von ihm bereiteten Feldes. Joseph handelt nicht in eigener, sondern in Gottes Vollmacht. Die Verbindung seiner Lebensdeutung mit seiner Deutung der Geschichte als Heilsgeschichte lässt Un­ versöhntheit nicht zu, sondern evoziert Versöhnung geradezu. – Der theologische Gedanke, dass Gott das Böse in seine Hand und in seinen Dienst nimmt, um es letztlich „für uns“ zum Heil zu wenden, taucht hier wohl zum ersten Mal auf. Er begleitet das jüdische Denken über Jes 53 bis zum Kreuz. Er ist ein Novum gegen­ über der Theologie des Sagenkranzes.

100

Gott und der Mensch

Dementsprechend unterschiedlich wird auch die Theodizeefrage beantwortet. All die moralischen Ungereimtheiten im Leben des erwählten Jakob werden als Außenseite eines nicht weiter hinterfragbaren Erwählungswillens Gottes angese­ hen; in der Josephsnovelle ist die Theodizee aufgehoben im Glauben an einen alles zum Besten wenden könnenden Gott. Werfen wir noch einen Blick auf die Charaktere der Schädiger. Jakob ist ein sehr rational denkender Typ. Er versteht das Anliegen seiner Mutter und lässt sich mit eigenständiger betrügerischer Energie darauf ein. Er hört auf die rational planende Mutter und flieht zu ihrem Bruder nach Haran. Seine „Redlichkeitsbe­ weise“ sind wohl durchdacht, haben funktionalen Sinn und deuten keineswegs auf eine Haltungsänderung, sondern zeugen von einem ungebrochenen Selbst­ bewusstsein. Als er seine Begegnung mit der Vergangenheit als unausweichlich erkennt, geht er mit seinem Entfeindungsprogramm ein kalkuliertes (!) Risiko ein. – Demgegenüber sind Josephs Brüder stärker emotionsgeleitet. Schon bei der Beseitigungsabsicht werden neben Berechnung und Plan auch Hass, Neid, Eifer­ sucht und Angst ins Spiel gebracht. Ihre Schuldverdrängung funktioniert nicht so erfolgreich wie bei Jakob: Immer wieder werden sie von Schuldkomplexen ein­ geholt. Es stellt sich die Frage, ob emotionale Offenheit die kathartische Funktion der Redlichkeitsprüfung fördert. Gewiss geschieht Katharsis aufgrund anthropo­ logischer Disposition, aber die Josephsgeschichte scheint der Emotionalität dabei eine besondere Rolle zuzurechnen. Im Jakob-Esau-Sagenkranz und in der Josephsgeschichte ist uns Gott als der Unbegreifliche entgegengetreten. War es im Jakob-Esau-Sagenkranz die Unbe­ greiflichkeit des Segens, so in der Josephserzählung die durch keine Erklärung aufzulösende Kraft Gottes, Böses in Gutes zu wenden, „Leben“ aus dem „Tod“ er­ stehen zu lassen. Ließ die Unbegreiflichkeit des Segens sich nur durch eine nicht hinterfragbare Erwählung erklären, so führt die Nicht-Erklärbarkeit der Meta­ morphose in die Tiefe einer geheimnisvollen, nichtsdestoweniger aber zielorien­ tierten Heilsgeschichte. In beiden literarischen Werken ist die Unbegreiflichkeit an die Gnade gebunden; es fehlt die dunkle Seite Gottes als die des Herrn über Le­ ben und Tod, der, wenn er es für geboten hält, auch Tod und Vernichtung bringt. Diese dunkle Seite, die bei „Kain und Abel“, bei der „Sintflut“ und bei „Sodom und Gomorra“ immer mit dabei war, wird in den folgenden Erzählungen zum beherrschenden Thema.

Isaaks Opferung 

101

1.7 Isaaks Opferung (Gen 22,1–19) 1.7.1 Traditionsgeschichtliche und literarkritische Erwägungen Die Erzählung von der Opferung Isaaks ist offenbar aus einer Ätiologie heraus­ gewachsen175. Ätiologische Wurzel ist die Benennung eines jetzt unbekannten Ortes mit Namen „Der Herr sieht“ bzw. des dortigen Berges, da „der Herr gesehen wird“ (22,14)176. Unabhängig von dieser Wurzel entwickelt die Erzählung – tra­ ditionsgeschichtlich wie inhaltlich – eine Eigendynamik, die sie am Ende als ein literarisches Kunstwerk erscheinen lässt. Die „Opferung Isaaks“ ist nach hinten und vorn hin redaktionell mit dem Kon­ text verbunden. Nach hinten wird eine temporale („Nach diesen Geschichten …“), nach vorn eine lokale Verbindung hergestellt („… nach Beerscheba …“). So ist sie Teil des Abraham-Isaak-Sagenkreises geworden177. 22,1 enthält ein deutliches interpretatorisches Vorzeichen, unter dem die Geschichte gelesen werden soll, als „Versuchungsgeschichte“ bzw. „Prüfungs­ geschichte“. Dies muss als sekundär angesehen werden; denn eine gelungene Geschichte interpretiert sich selbst und bedarf keiner externen Verstehenshin­ weise178. Im Zuge der Übermalung der ursprünglichen Geschichte als Prüfungs­ geschichte ist auch 22,12 b eingeflochten worden; denn ein Prüfer will immer etwas wissen, und „nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Die ursprüngliche Geschichte kommt in 22,14 zum Ziel und klingt in 22,19a aus. Schließlich ist die Erzählung im Laufe der Überlieferung noch um die Verse 15–18 gewachsen. Denn dass „der Engel des Herrn Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her rief “, ist ein von der Struktur und der Dramatik der Geschichte 175 Vgl. auch R. Kilian, Isaaks Opferung, Stuttgart 1970, S. 63 ff, der den Kern der Ätiologie allerdings in der Einsetzung des Substitutionsopfers und nicht in der Namengebung der Stätte sieht. Vielleicht muss man beides zusammensehen: Die Ortsätiologie verlangt nach einer Be­ gebenheit des Sehens Jahwes auf eine bestimmte Not. So zog sie das Motiv der Auslösung des Menschenopfers an sich. Daraus erwuchs dann die Geschichte. 176 Die regionale Bezeichnung „Morija“ kann wegen ihrer nicht geklärten Wurzel (weder eindeutig von ‫ ָ ר ָאה‬/rā’āh [„sehen“] noch von ‫ הוֹרה‬ ָ / hōrāh [„zeigen“]) nicht zu einer theologischätiologischen Erklärung herangezogen werden. 177 Die Methode der „Kontextualisierung“ (J. Schnocks, a. a. O., S. 33–37) schafft einen zu großen gemeinsamen Nenner zwischen Gen 22 und Gen 21(Lebensgefahr und Rettung Ismaels) und zwischen Gen 22 und Gen 20 (Gottesfurcht Abrahams und Abimelechs), so dass das spezi­ fische Profil der jeweiligen Geschichten nicht sichtbar wird. Sie übergeht die von der Redaktion gesetzten Signale. 178 Mit H. Seebass, Genesis II/1, a. a. O., S. 201 gegen C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 434 u. S. 436.

102

Gott und der Mensch

her nicht begründeter Neueinsatz. Die Verse sind in einer Zeit hinzugewachsen, wo die „Opferung Isaaks“ schon durch 22,1a und 12b als Versuchungsgeschichte konzipiert worden war, denn in 22,16fin wird 22,12b wiederholt179. In dieser Fortschreibung geht es um die Wiederholung und Bekräftigung der Segensver­ heißung, was den Tradenten nach dem Fast-Abbruch jeder Zukunftsperspektive wohl notwendig erschien. Demnach umfasst die ursprüngliche Geschichte von der Opferung Isaaks 22,1c-12a.13–14.19a. Eine weitere traditionsgeschichtliche Durchleuchtung auf eine ursprüngliche Erzählung der Wallfahrt eines Vaters mit seinem Sohn (Wallfahrtsmotiv: 22,3a.c.4.5.9a.19a) und eine Kultätiologie von der Ablösung des Menschenopfers durch ein Tieropfer (Auslö­ semotiv: 22,9b-12a.13–14)180 führt zu nicht verifizierbaren Spekulationen und läuft dem Eindruck einer kunstvoll dramatisch geformten, in sich geschlossenen Erzählung zuwider. Aus ihrem Spannungsbogen dürfen wesentliche Teile, die gerade in 22,6–8 ent­ halten sind, nicht herausgebrochen werden, ohne die Geschichte völlig auszudörren181.

1.7.2 Das Gottesbild Gen 22,1–19 gehört zu den wenigen Texten, „die um ein Denken JHWHs ange­ sichts undurchschaubarer Aspekte seines Handelns – und oft genug auch sei­ nes Nichthandelns – ringen“182. Davon ist die „Opferung Isaaks“ „die formvoll­ endetste und abgründigste aller Vätergeschichten“183. So vielschichtig in der Aussage schon die ursprüngliche Erzählung ist184, so vielschichtig ist auch das Gottesbild, selbst dann noch, wenn man es nur unter dem Aspekt der ihm inhärenten Gewalt betrachtet. Die drei Züge des Gottesbildes, die in dieser Geschichte erkennbar werden, seien vorangestellt: 179 Für eine solche Spätdatierung dieser Verse tritt auch R. Kilian, „Isaaks Opferung“ in: Bi­ bel und Kirche 41/1986, S. 100, ein. Vgl. auch seine ausführliche literarkritische Begründung in seinem Buch gleichen Titels (künftig ohne Anführungszeichen wiedergegeben), S. 27 ff. Ebenso J. Schnocks, a. a. O., S. 31. 180 R. Kilian, Isaaks Opferung, a. a. O., S. 113 ff. 181 Zum Spannungsbogen vgl. die Ausführungen unten „zu 1“; auch G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 191 und T. Veijola, „Abraham und Hiob“ in: C. Bultmann, W. Dietrich, C. Levin (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments, FS Rudolf Smend zum 70.Geb., Göttingen 2002, S. 132, der das „hohe erzählerische Niveau“ z. B. in der überlegten Verteilung der berichtenden und dialogischen Partien (vv 1b-2; 7–8; 11–12) sieht. 182 F. Hartenstein, a. a. O., Sp. 18. 183 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 189. 184 G. v. Rad, a. a. O., S. 193: „Sie hat viele Sinnschichten, und wer ihr auf den Grund ge­ kommen zu sein meint, muß alsbald entdecken, daß darunter noch mehr Böden sind.“ Ähnlich äußern sich auch H. Seebass, Genesis II/1, a. a. O., S. 199 und J. Schnocks, a. a. O., S. 31.

Isaaks Opferung 

103

1. Der Gott Abrahams und Isaaks fordert keine Menschenopfer, im Gegenteil, er lehnt sie ab. 2. Der Gott Abrahams verlangt radikale Ehrfurcht durch scheinbare „Potenzie­ rung des Schrecklichen“185, scheinbar nur, weil sich nicht der todbringende Schrecken, sondern lebenserhaltende Rettung in ihm durchsetzt; in der „Poten­ zierung“ kommt der unbedingte Ernst des Gehorsams zum Ausdruck. 3. Gott vereinigt in sich die Gegensätze von unerbittlicher Härte und wunder­ barer Wendung. zu 1. Der Gott Abrahams und Isaaks fordert keine Menschenopfer, im Gegenteil, er lehnt sie ab. Das zeigt der Duktus der Geschichte sehr deutlich. Auf der Ebene der Erzählung wird im ersten Teil (bis 22,10) die Möglichkeit des Kindesopfers immer wahr­ scheinlicher. Die Spannung steigert sich von Gottes Befehl: „Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast … und opfere ihn … zum Brandopfer“ (22,2) über die letzte unumkehrbare Wegstrecke (22,6) bis zu Abrahams Antwort an Isaak: „Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer“ (22,8). Hier liegt die Wende vom Menschenopfer zum Tieropfer, vorläufig noch als innergöttliches Geheimnis, dem Abraham noch nicht bewusst. Unbewusst allerdings spricht er damit aus, dass in Gott alle Möglichkeiten beschlossen liegen. Der Erzähler macht es dem Hörer / Leser bewusst. Zugleich zielt er auf die in Gott durchbrechende und so auch Abraham offenbar werdende Wende: Im letzten Augenblick – letzt­ endlich – interveniert die Engelsstimme: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts“ (22,12a). So spannt sich der Bogen von 22,1 f zu 22,12a, von der Aufforderung, den Sohn als Brandopfer darzubringen, bis zu Gottes Eingrei­ fen in letzter Sekunde: Hände weg! – und Bereitstellung eines Ersatzopfers, eines Widders.186 Wir haben es in dieser Geschichte mit „erzählter Theologie“ zu tun187. Erzählte Theologie lässt das Gottesbild lebendig werden. Das Gottesbild wird geprägt durch die rituelle Praxis188 wie auch durch Abgrenzung gegenüber heidnischen Kultpraktiken. In der rituellen Praxis ist das Erstlingsopfer vorgesehen. Jahwe wird gesehen als ein Gott, dem die Erstgeburt unter allen Tieren und Menschen 185 M. Görg, Der un-heile Gott, Düsseldorf 1995, S. 121. 186 Der dramatische Spannungsbogen der Geschichte richtet sich auch gegen heidnische Kin­ desopferkulte (vgl. Lev 18,21; Dtn 18,9 f; Jer 7,31). Indes muss deswegen der „Opferung Isaaks“ weder eine heidnische Kultätiologie zugrunde liegen (gegen R. Kilian, „Isaaks Opferung“, a. a. O., S. 100 f) noch muss die Geschichte als Ätiologie der Ersetzung des Kindes- durch das Tieropfer gelesen werden, sondern sie bedient sich lediglich dieses Motivs, um Gottes Ablehnung des Menschenopfers zum Ausdruck zu bringen (vgl. auch die Auslösung des Menschenopfers in Ex 13,15). – So auch B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? Göttingen 32018, S. 121 ff. 187 R. Kilian, a. a. O., S. 103 nach C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 435. 188 Sicherlich besteht ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Hier sei im Sinne des The­ mas nur auf die eine Richtung verwiesen.

104

Gott und der Mensch

gehört. Was den Ägyptern einst zur Strafe gereichte (Ex 12,29; 13,15), wandelt Jahwe für Israel als Mittel zur Heiligung um: „Heilige mir alle Erstgeburt bei den Israeliten; alles, was zuerst den Mutterschoß durchbricht bei Mensch und Vieh, das ist mein“ (Ex 13,2). Der Gedanke des Heils – dessen werden nur Menschen, insbesondere das Volk Israel, teilhaftig – schließt die Vorstellung einer Opferung aller Erstgeburt aus und führt zum Gebot der Auslösung des Ersten unter den Söhnen (Ex 13,15). Die Geschichte von der Opferung Isaaks erzählt die Opferund Auslösepraxis als Ergebnis eines dem Abraham offenbarten innergöttlichen Wandels, in dem Gott nicht vom unmittelbaren Eigentum der Erstgeburt ablässt, es aber – dem Menschen, Israel und der Welt zum Heil – beim Menschen anders interpretiert als beim Vieh189. Ein solches Gottesbild ist dann auch geeignet, sich allen heidnischen Einflüssen und kultischen Verirrungen zu widersetzen und sich daran zu schärfen (vgl. Jer 7,31 und die „josianische Reform“ 2.Kön 23,10). zu 2. Der Gott Abrahams verlangt radikale Ehrfurcht durch scheinbare „Potenzierung des Schrecklichen“, scheinbar nur, weil sich nicht der todbringende Schrecken, sondern lebenserhaltende Rettung in ihm durchsetzt; in der Potenzierung kommt der unbedingte Ernst des Gehorsams zum Ausdruck. Die Forderung radikaler Ehrfurcht – sie ist zwar wörtlich in dem vorläufig ausge­ schiedenen v 12b angesprochen, aber der Sache nach auch in der alten Erzählung enthalten – lässt Gott als Schrecken erscheinen: Abraham soll seinen einzigen Sohn, den er liebt, Träger der Verheißung und Garant von Abrahams Zukunft, hergeben. Darin liegt eine Potenzierung des Schrecklichen im Vergleich zu den Nachbar­ religionen: Mit der Opferung seines einzigen Sohnes opfert Abraham im Grunde seine eigene Zukunft, sich selbst. Der Gott Abrahams verlangt somit mehr als die Götter der Umwelt und erweist sich darin als größer. Das geforderte Kindesopfer, was letztlich ein Selbstopfer Abrahams ist, zeigt einen Gott der Gewalt ohne Gren­ zen. – Die Steigerung des Schrecklichen ist auch an der Struktur der Geschichte abzulesen: Es steigert sich vom Befehl, den Sohn als Opfer darzubringen, bis zur Verteilung der Lasten; worunter auch die Nennung des Messers fällt. Die erste Steigerungsstufe wird abgeschlossen durch den Satz: „… und gingen die beiden miteinander“ (22,6). Die zweite Steigerungsstufe zeigt das unbedingte Vertrauen des Sohnes zum Vater, das nichts Böses ahnt, bis hin zur verborgenen Wende, wie­ der abgeschlossen durch „… und gingen die beiden miteinander“ (22,8). Die dritte Steigerungsstufe endet mit der Bewegung, die das Messer zum „Schlachten“ des Opfers ansetzt (22,10). Der Weg ist zu Ende. – Das Schreckliche stellt sich umso schrecklicher dar, als ihm der uneingeschränkte Gehorsam Abrahams korrespon­ 189 Die Auslöseszene innerhalb der Geschichte ist also als ureigene israelitische „narrative Theologie“ zu bewerten und nicht – wie R. Kilian, Isaaks Opferung, a. a. O., S. 100 meint – als Indiz für nichtisraelitische Herkunft der Erzählung. So sieht es auch C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 438.

Isaaks Opferung 

105

diert: Sein stets Zur-Stelle-Sein („Hier bin ich“: 22,1 und 11), seine Eilfertigkeit „früh am Morgen“ (22,3), seine fraglose Ausführung des Verlangten (22,9 ff). Nicht zu übersehen ist aber auch die Zerreißprobe, in die sich Abraham zwischen Gott und Sohn gestellt sieht: Auch dem Isaak gilt sein „Hier bin ich“ (22,7)! Die Theologie der Erzählung setzt sich narrativ mit dieser Gotteserfahrung auseinander. Es gibt diese Erfahrung, das bestreitet sie nicht; aber die Erzählung ist ja auch noch nicht zu Ende – und Gott mit seinen Möglichkeiten auch nicht. Darum geht die Geschichte weiter. Im Gehorsam gegen Gott ist Abraham bereit, ihm seine Zukunft zu opfern. Gott fordert diese Bereitschaft. Er meint es ernst. Das lässt ihn gewalttätig er­ scheinen. Wer aber Gott seine Zukunft hingibt, dem gibt er sie zurück. So ist auch hier der Rettungswille Gottes größer als seine Zerstörungsabsicht. Abraham erhält Isaak und mit Isaak seine Zukunft zurück, weil er Gott ernst genommen und seine Zukunft ihm übergeben hat. Der schreckliche Gott wandelt sich und zeigt sich als Engel (22,11). Er kann Leben nehmen, und er kann Leben geben. Am Ende dieser Geschichte rettet er Isaak vor dem Tod und Abraham aus der Not und schenkt Leben und Zukunft.190 zu 3. Gott vereinigt in sich die Gegensätze von unerbittlicher Härte und wunderbarer Wendung. Es ist derselbe Gott, der ihn am Anfang und am Höhepunkt ruft: „Abraham“ (22,1 und 11). Es ist derselbe Gott, der zu ihm spricht: „Nimm deinen Sohn und opfere ihn“ und dann – in der Gestalt des Engels -: „Lege deine Hand nicht an den Knaben“ (22,2 und 12). So wird Gott offenbar immer wieder erfahren, so gegen­ sätzlich, so dunkel, so unerforschlich. Die Theologie dieser ersten Überlieferungs­ stufe fragt nicht nach dem Warum. Eine Absicht Gottes ist nicht zu erkennen, zumindest wird sie nicht erklärt. Der Mensch erfährt eben Hartes, und er erfährt auch gnädige Fügungen, die ihn das Harte tragen lassen, die das Harte wunder­ bar wenden. Diese Theologie fragt nicht nach Beweggründen Gottes, die sein Handeln verständlich machen könnten, sondern sie belässt die Gegensätzlichkeit in Gott als coincidentia oppositorum, die, sobald sie auf den Menschen kommt, in opposita auseinanderfällt. Das erlebt Abraham als die ungeheuerliche „Reali­ tät Gottes“191. Diese Theologie ist in Ps 68,20 f auf den Punkt gebracht: „Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch. Wir haben einen Gott, der da hilft, und einen Herrn, der vom Tode errettet.“ So steht denn auch nach aller Schickung Abrahams Gotteslob in der Benennung der unheim­ lich-heiligen Stätte am Ende (22,14a). 190 Zur bewusst angewandten Engel-Terminologie vgl. auch M. Schwantes, „Lege deine Hand nicht an das Kind“ in: H. W. Wolff, F. Crüsemann, C. Hardmeier, R. Kessler (Hg.), Was ist der Mensch …? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments, FS H. W. Wolff zum 80.Geburts­ tag, München 1992, S. 176. 191 In diesen Terminus übersetzt J. Schnocks „Gottesfurcht“ bzw. „Ehrfurcht“ (a. a. O., S. 38).

106

Gott und der Mensch

Betrachtet man die drei Züge des Gottesbildes, dann haben sie neben der Un­ bedingtheit des Willens (Gott will den Menschen ganz; er verlangt radikale Ehr­ furcht und unbedingten Gehorsam; sein Wille ist nicht hinterfragbar) letztendlich auch etwas Liebevolles, das sich tröstend an alle wendet, die ähnlich wie Abraham Rätselhaftes qualvoll durchleben müssen. Die diesbezüglichen Kernsätze der bis­ herigen Interpretation seien hier noch einmal hervorgehoben: zu 1: In Gott liegen alle Möglichkeiten beschlossen, das Vernichtende wie auch das Erlösende. Letztendlich interveniert die Engelsstimme, um den, der Gott ge­ hört, dem Tod zu entreißen. zu 2: Die Theologie der Erzählung setzt sich mit der Erfahrung des Deus abscon­ ditus auseinander und kommt zu dem Ergebnis, dass es ihn gibt. Aber damit ist sie noch nicht am Ende – und Gott mit seinen Möglichkeiten auch nicht. zu 3: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.“ Behält man diese Aussagen im Auge, ist der Erzählung eine seelsorgerliche Dimension nicht abzusprechen. Die „Opferung Isaaks“ richtet sich nicht nur an distanziert-theologisch nach Gott Fragende, sondern auch an „Teilnehmende“, die „wissen, was es bedeutet, ein Kind hergeben zu müssen“192. Ihnen wird versichert, dass „Gott sieht“ und dass auch für sie die Zeit kommen wird, da sie Gottes be­ gleitende Gegenwart dankbar erkennen werden. Im Laufe der weiteren Überlieferung ließ sich die Frage nach dem Warum nicht abweisen. Offenbar konnte sie nicht fraglos aus dem traditionell gezeich­ neten Gottesbild abgelesen werden (göttliche Inbesitznahme der menschlichen Erstgeburt durch spezielle Heiligung, göttliche Demonstration des letztendli­ chen Rettungswillens, Unerforschlichkeit seines Tuns). Der Erzähler der zweiten Stufe reflektiert das überlieferte Gottesbild, das in den (individual)geschichtlichen Auswirkungen durchaus etwas undurchschaubar Gewaltsames an sich hat. Die unerhörte Härte der Forderung Gottes, die als Zerstörungsmacht daherkommt, konnte er, sollte sie überhaupt verstehbar werden, nur als Versuchung / Prüfung ansehen (22,1b). Nicht schon auf der ersten, aber zu Beginn der zweiten Über­ lieferungsstufe stellt sich die Theodizeefrage, die in seltener Eindeutigkeit mit „Prüfung“ beantwortet wird. Das allein reicht freilich nicht; wenn „Prüfung“, dann muss deren Inhalt und Ergebnis festgehalten werden. Das tut 22,12b: Inhalt der Prüfung ist unbedingte Respektierung des Gotteswillens bis in die Tiefen existen­ tieller Not hinein, das Ergebnis lautet: Abraham hat die Prüfung bestanden, „denn nun weiß ich …“. Abraham geht gestärkt, d. h. mit neu geschenkter Zukunft, aus dieser Prüfung hervor.

192 C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 447.

Isaaks Opferung 

107

Wie verhält sich diese prüfende Versuchung nun zum gewaltsamen Zug Gottes im Kern der Geschichte? Verstärkt sie die Gewalt-Tätigkeit Gottes in eine sadisti­ sche Richtung oder verhält sie sich im Blick auf den Kern neutral? Die Versuchungsvorstellung des Alten Testaments richtet sich auf Menschen wie auch auf Gott als Versucher. Die erstere findet ihren Niederschlag vor allem in den Exoduserzählungen (Ex 17,2.7), poetisch zusammengefasst in Ps 77,41; die zweite in Texten, denen ein Zwei-Wege-Schema im Blick auf das Gehorsamsver­ halten des Volkes zugrunde liegt (Ex 15,25 f; 16,4; 20,20; Dtn 8,2; 13,2–5; Ri 2,22 vgl. 3,4). Nur diese Texte sind für unsere Fragestellung relevant, weil sie geistesund glaubensgeschichtliche Vorläufer der „Opferung Isaaks“ mit ihrer individua­ lisierten Prüfungssituation sind. Besonders deutlich tritt das Zwei-Wege-Schema in Ex 16,4 und Dtn 8,2 zutage mit seiner Alternative: Gehorsam oder nicht. Wenn in diesem Zusammenhang von Gottes „Versuchung“ oder „Prüfung“ die Rede ist, dann kann das nur heißen, dass Gott sein Volk in den Raum der Freiheit stellt193. So gesehen dient „Versuchung“ bzw. „Prüfung“ der Übernahme von Selbstver­ antwortung, der Verantwortung von Entscheidungen, Taten und deren Folgen coram Deo. Das gilt auch für Abraham: Wird er, in den Raum der Freiheit gestellt, das ihm von Gott auferlegte Schicksal annehmen oder seine Zukunft selbst in die Hand nehmen? – Wird „Versuchung“/„Prüfung“ so verstanden – und nichts an­ deres legen die zitierten Texte nahe194 –, fügt sie dem ursprünglichen Textinhalt kein zusätzliches Gewaltelement bei, sondern verhält sich im Blick auf den Kern der Geschichte neutral195. Verständlich ist allerdings, dass der Eindruck der Gewalt-Tätigkeit Gottes das Gottesbild der zweiten Überlieferungsstufe im Laufe der Zeit negativ beeinflusste. Um nun derartige Gewaltassoziationen im Blick auf Gott gar nicht erst aufkom­ men zu lassen, lässt der jüdische Midrasch den Satan Zweifel an der Echtheit von Abrahams Frömmigkeit äußern, und der fordert dann Gott zu einem Test heraus 193 Dieses „versuchende Prüfen“ wird durch ‫ נִ ָסּה‬/ nissah wiedergegeben. Es ist für den Ge­ prüften ein existentiell spürbarer Test, der ihn in die Freiheit stellt und eine Entscheidung von ihm fordert. Demgegenüber gibt es auch ein distanziert prüfendes Verhalten, das nach einer Untersuchung des Inneren durch Gott, bei der der zu Prüfende sich passiv verhält, zu einer Be­ urteilung führt. Hierbei wird in der Regel ‫ ָ ב ַחן‬/ bāchan verwendet (Ps 11,5; 17,3; 66,10; 139,23). In Ps 26,2 wird beides als Bitte miteinander verbunden, um so vor Gott die eigene Unschuld zu erweisen. – Zu ‫ נִ ָסּה‬/ nissah und ‫ בּ ַחן‬ ָ / bāchan äußert sich in ähnlichem Sinn auch H. Strauß, „Zu Gen 22 und dem erzählenden Rahmen des Hiobbuches (Hiob 1,1–2,20 und 42,7–17)“ in: A. Graupner, H. Delkurt, A. B. Ernst (Hg.), Verbindungslinien. FS W. H. Schmidt zum 65. Geb., Neukirchen-Vluyn 2000, S. 380. 194 Ri 2,22 verbindet die Versuchung Gottes mit seinem Zorn über vorherigen Abfall; aber auch da ist Versuchung über ihren strafenden Charakter hinaus Öffnung zweier Wege. 195 Gottes Prüfungshandeln wird sogar als normal empfunden, und der Beter des 26. Psalms setzt sich der Prüfung durch Gott freiwillig aus: Ps 26,2! Denn nichts Besseres kann dem Ge­ prüften passieren, als das Prädikat „treu“ zu erhalten (so in Bezug auf Abraham Sir 44,20; 1.Makk 2,52).

108

Gott und der Mensch

(b San 89b). Der Einfluss des Hiobrahmens ist deutlich.196 Hier wird eine dunkle Seite Gottes erahnt, die aber sogleich wieder aus ihm heraus verlegt wird – in den Satan197. Die spätere Erweiterung (22,15–18) nimmt eine für die Kernerzählung ge­ nannte Charakteristik des Gottesbildes auf: Radikale Ehrfurcht (22,16) und unbe­ dingter Gehorsam (22,18), kurz: Die Hingabe der eigenen Zukunft an Gott macht das ungeheure Entgegenkommen Gottes möglich, das hier – im Unterschied zu der verhaltenen Erzählung – in höchsten Tönen geschildert wird: Gott „schwört“ Abraham Segen, d. h.: von nun an wird der Segen nie mehr von Abraham weichen (vgl. Gen 26,1–6, bes. 26,3b-5), und Gott bindet sich daran, fortan nur der letzt­ endlich segnende Gott zu sein (als der er schließlich in Jesus Christus erscheint: Lk 24,50–53). Damit wird der Zug im Gottesbild verstärkt, dass der Rettungs­ wille die tödliche Härte bei weitem überholt. Der segnende Gott ist der Leben spendende Herr, der reiche Nachkommenschaft, d. h. gesicherte Zukunft schenkt und dessen Segen fortzeugend Segen hervorbringt (22,18). Dass Segen auch Sieg über die Feinde einschließt (22,17b), geht über die bisherigen Verheißungen weit hinaus. Es war für ein existentiell bedrohtes Israel Grund zur Hoffnung auf eine gottgewollte Zukunft. Der Schwur impliziert, dass wegen der Haltung des Einen, wegen seiner un­ anfechtbaren Verbundenheit im Glauben (Gen 15,6) und Handeln (Gen 22,16), nicht nur „deine Nachkommen“, sondern „alle Völker auf Erden“ gesegnet werden. Jahwe legt sich darauf fest, dass die unanfechtbare Verbundenheit des Einen se­ gensstiftend für alle ist. Israel überwindet damit nicht nur seine eigene Bedroht­ heit, sondern leitet daraus auch seine geschichtliche Bestimmung ab. Aus einer derartigen theologischen Fortschreibung der Verheißung ergibt sich einmal mehr, dass 22,15–18 einer späteren Entwicklung angehört. Stellt man sie neben eine andere Fortentwicklung der Theologie, nämlich neben Gen 18,20–33, so fällt auf, dass sich der Gedanke, dass ein Gerechter nicht nur das Gericht auf­ halten, sondern weltweit Segen bringen kann, allmählich Bahn bricht. Was Ab­ raham aufgrund von nur zehn Gerechten für Sodom erbittet, das wird der Welt zuteil aufgrund nur eines Gerechten, nämlich der Gerechtigkeit Abrahams selbst. So begreift es Paulus in Röm 4,9–13198. 196 Vgl. dazu T. Veijola, „Abraham und Hiob“, a. a. O., S. 128. 197 Das Vaterunser integriert die dunkle Seite in Gott wieder: „ … und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Die helle Seite in Mt 6,13b, die dunkle in 6,13a; beides in „dem widersprüchlich einen“ Gott (V. Weymann). Selbstverständlich kann Mt 6,13a nicht heißen: „… stelle uns nicht in den Raum der Freiheit“, sondern: „… lass uns im Raum der Freiheit nicht Wege gehen, auf denen wir unsere Existenz verlieren.“ Oder- nach Ps 139,24: „ … leite uns auf ewigem Wege“. Vgl. dazu auch G. Scholz, „Die Papst-Kritik an der Vaterunser-Übersetzung“ in DPfBl 118/2018, S. 106 und V. Weymann, „‚Und führe uns nicht in Versuchung‘?“ in: DPfBl 119/2019, S. 638. 198 Paulus verbindet den Gedanken der Verheißung für alle Völker mit der Vaterschaft Ab­ rahams für Beschnittene und Unbeschnittene (Gen 17).

Isaaks Opferung 

109

Die scheinbare Parallele zu Gen 22,1–19 in Ri 11,30–40, die Opferung der Tochter Jeftas, kann hier nicht zur Frage nach der Gewalt-Tätigkeit Gottes herangezogen werden, weil sie eine völlig andere Intention hat als die „Opferung Isaaks“. Jefta wird in das Richteramt berufen, um gegen die aggressiven Ammoniter zu kämpfen (Ri 11,5 f). Nachdem er die Gebietsansprüche der Ammoniter (Ri 11,13) strikt zurückgewiesen (Ri 11,14–26) und ihnen quasi den Krieg erklärt hat (Ri 11,27), muss er siegen. So sichert er sich Gottes Hilfe mit eben dem Gelübde, dass bei einer glücklichen Rückkehr vom Feldzug dem Herrn das als Brandopfer gehören solle, was ihm aus sei­ ner Haustür zuerst entgegenkommt. Unglücklicherweise ist es sein einziges Kind, seine Tochter. Er muss sie opfern aufgrund seines Gelübdes, obwohl er tieftraurig darüber ist; aber ein Eid vor Gott ist in seiner Vorstellung nicht auflösbar. Er wird sogar von seiner Tochter noch an seinen Eid erinnert und angehalten, ihn einzulösen. Jefta hat sich – ganz im Gegensatz zu Gen 22 – selbst in diese tragische Situation hineinmanövriert. Er hat versucht, mit Gott zu handeln, und hat dabei den Mund zu voll genommen. Letzteres sieht er auch selbst ein (Ri 11,35), und es wird von seiner Tochter bestätigt (Ri 11,36). Ersteres liegt wohl an seinem Wesen; denn schon bei sei­ ner Richterberufung in Ri 11,9 f schließt er einen Handel mit den Israeliten ab. Mag das so sein, so ist das jedoch mit Gott völlig unmöglich. Das will die Geschichte sagen. Wer seine Zukunft nicht ganz Gott anheim gibt, sondern sie ihm durch einen Handel aus den Händen ringen will, der zahlt einen zu hohen Preis und muss letztendlich scheitern.

1.7.3 Anthropologische Implikationen Im Blick auf Gewalt geht es hier nicht um das dem Menschen innewohnende Potential, sondern um das Ausgeliefertsein an Übermächtiges. In diesem Ausge­ liefertsein lebt der Mensch zwischen Leiden und Erlöstsein. Das birgt eine herz­ zerreißende Spannung in sich, wovon 22,8 beredtes Zeugnis ablegt. Da sich bibli­ sche Anthropologie nicht von Theologie lösen lässt, wird die Ursache sowohl des Leidens wie auch des Erlöstseins in Gott gefunden. Wurzel des Leidens ist Gottes (scheinbare) Gewalt-Tat, Wurzel des Erlöstseins ist Gottes begleitendes Auge und sein Erscheinen in der Not. Da Letzteres in Gott die Oberhand gewinnt, darf der Mensch sich letztendlich als „erlöst“ betrachten und aus dieser Hoffnung leben (vgl. Ps 22,22 f; 31,6; im Blick auf die corporate personality Israel auch Jes 43,1).

1.7.4 Ethische Implikationen Im Unterschied zu den Gestalten der Urgeschichte, die Urbilder menschlicher Existenz darstellen, tritt in den Erzvätern Israels ihr paradigmatischer Charakter hervor. Der anthropologische Aspekt – wiewohl vorhanden – tritt in den Hinter­ grund zugunsten des ethischen Aspekts: So soll der Mensch sein – hier: so wie

110

Gott und der Mensch

Abraham199. Er fügt sich in den Willen Gottes und gibt ihm Raum. Das wird belohnt durch das „zufällige“ Auftauchen des Ersatztieres, das als Auslöseopfer dient. Die Belohnung wertet Abrahams Verhalten: So war es recht; so soll der Mensch sein. Abraham ist Vorbild – so bringt es schon die erste Überlieferungs­ stufe (auch ohne das Vorzeichen der Versuchung und ohne 22,12b) nahe. Abraham ist Vorbild für ein Gott gerecht werdendes Verhalten. Er ist dies in dieser Geschichte, aber auch über diese Geschichte hinaus. In Gen 15,6 ist pro­ gammatisch und theologisch reflektiert zusammengefasst, was in Gen 22,1–19 narrativ entfaltet ist, ohne dass beide Texte in direkter Beziehung stünden. Aber Geschichten wie diese mögen zu dem reflektierten Urteil: „Abram glaubte dem Herrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit an“, geführt haben200. Der Wille Gottes ist der Referenzrahmen für Abrahams unbedingten Gehor­ sam; dieser evoziert zugleich die Tat: Gott spricht … (22,2) und Abraham steht auf (22,3). Tatenlosigkeit würde den Willen Gottes zunichte machen (Jak 2,21–23). Hieraus erhellt, wie eng Tun und Gehorsam, Handeln und Glaube, Verhalten und Haltung miteinander verflochten sind. Das eine ist ohne das andere nicht möglich. Wir haben es hier mit einem Musterbeispiel von handlungsorientiertem, besser noch: von handlungsintendierendem Glauben zu tun201. Sicher ist Gehorsam als solcher ethisch ambivalent. Die Vertretbarkeit bzw. Nichtver­ tretbarkeit wird durch den entsprechenden Referenzrahmen bestimmt. Der Referenz­ rahmen christlich-jüdischen Glaubens und Handelns ist gesetzt durch Ex 1,17; Ps 56,12 par Ps 118,6; Ps 119,23 u. ö.; Apg 4,13–22; Apg 5,29.

Aus Glaubensgehorsam und Gottvertrauen erwächst ein Verhalten, das mit Füg­ samkeit beschrieben werden kann. Fügsamkeit kann für sich genommen aller­ dings noch keine Tugend sein, sondern nur eingebunden in den Gottesbezug, und sie kann als ethische Leitlinie überzeugend nur dargestellt werden an einem Para­ digma. Ein solches ist Abraham, ein anderes ist der Hiob der Rahmenhandlung (Hi 1,21), wieder ein anderes Jesu Gebetskampf in Gethsemane (Mk 14,36 parr) und das Bild des Gekreuzigten in seinen markinischen (Mk 15,34 vgl. Ps 22,2) und lukanischen (Lk 23,46 vgl. Ps 31,6) Zügen. 199 Das zeigt sich schon in seinem Glauben (Gen 12,1–4; 15,6), in seinem gewaltfreien Um­ gang mit Lot (Gen 13,8 f), in seinem Gerechtigkeitssinn (Gen 14,13–24; 21,9–14), in seiner Gastfreundschaft und Ehrfurcht vor dem Fremden (Gen 18,1–15) und in seinem fürbittenden Eintreten für Sodom (Gen 18,22–30). Auch das Menschlich-Allzumenschliche gehört zum Vor­ bild, damit es angenommen werden kann (Gen 12 und revidiert Gen 20). Dass die Erzväter auch Urgestalten der corporate personality Israel sind, ist kein Widerspruch zur individualistischen Betrachtungsweise. 200 G. v. Rad ordnet Gen 15,6 einer Zeit zu, „der die Dinge des Glaubens auch als Problem bewußt geworden sind“ (Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 147). 201 Vgl. G. v. Rad, a. a. O., S. 190 zu v 8 f: Am Ort „wird nicht mehr gesprochen, sondern gehandelt“.

Isaaks Opferung 

111

Narrative Theologie reflektiert nicht abstrakt, was der Wille Gottes sei, was Gottes Stimme und was Täuschung sei, sie erzählt hier von einem, der sich in das schickt, was offenbar über ihn und sein Kind verfügt ist. Wenn sie Fügsamkeit als Verhalten herausstellen möchte, wird sie nicht davon reden, dass Abraham theo­ retisch auch eine andere Wahl gehabt hätte. Sie kann Fügsamkeit einfordern, weil die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Sie kann Fügsamkeit einfordern, weil am Ende ein Gott steht, der trotz quälender und rätselhafter Schickungen schließlich das Leben will. Es versteht sich, dass dies das ethische Thema von Gen 22,1–19 ist. Das Thema interaktioneller Gewalt spielt dabei keine Rolle (mehr). Kants Einwand, es könne sich nicht um die Stimme Gottes, sondern nur um eine Täu­ schung handeln, weil „das, was … durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist“202, blendet das Ende aus. Gott offenbart sich vom Ende her. Nur von daher wird in dem Absconditus noch der Deus erkannt und geglaubt. Zudem setzt Kant einen anderen Referenzrahmen, das moralische Gesetz, dessen Inhalt der kategorische Im­ perativ ist. Zwar sieht er in Gott den Garanten jenes Gesetzes, jedoch blendet er damit die Erfahrung des Deus absconditus aus; denn den kann es als Urheber des Ideals des höchsten Gutes und als Garant von dessen Erfüllung nicht geben203.

Die Kennzeichnung der Geschichte als Versuchungsgeschichte bringt im Blick auf die Ethik nichts Neues, freilich eine deutliche Verstärkung der bisherigen Ten­ denz. Zunächst einmal wird der Schwerpunkt von Gottes Handeln auf Abrahams Verhalten verlagert. Das liegt im Versuchungshandeln Gottes begründet. Gottes Intention ruft bei Abraham eine Reihe von Reaktionen hervor und darin ein Ge­ samtverhalten. Diese Reaktionen und dieses Gesamtverhalten finden durch das Stichwort „Versuchung“ das Interesse des Hörers / Lesers. Gottesfurcht bis in die tiefste Existenzkrise hinein, den Weg in jener tiefsten Krise mit Gott weitergehen, das ist das Vorbildverhalten des Abraham – so pointiert beschreibt es die zweite Über­ lieferungsstufe. Wenn sich in der zweiten Überlieferungsstufe das Gewicht derart vom Theologischen ins Ethische verlagert, so mag man urteilen, dass Religion und Frömmigkeit nun unter dem Aspekt der sittlichen Haltung gesehen werden204. Sittliche Haltung lässt sich auch mit Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes umschreiben. Die „Opferung Isaaks“ ist eine Beispielgeschichte solchen Gehor­ sams, insofern sie eine konkrete Situation zeichnet. Zugleich ist diese Situation aber auch offen auf das Allgemeingültige hin, auf ein Beispiel von Hinnahme, Gottvertrauen und Hingabe, das dann in der je besonderen Situation dem Wort Gottes gemäß umzusetzen ist. 202 I. Kant, Der Streit der Facultäten (Kants Werke, Bd. 7, Berlin 1917), S. 63, zit. nach H. See­ bass, Genesis II/1, a. a. O., S. 202. 203 Der kategorische Imperativ setzt eine deistische Gottesvorstellung voraus und hat die Tendenz zu einer Emanzipation vom mich wunderbar berührenden oder rätselhaft treffenden Gotteswort. Mi 6,8 ist dann als Referenzrahmen mit je aktueller Gültigkeit nicht mehr gegeben. 204 So R. Kilian, Isaaks Opferung, a. a. O., S. 56.

112

Gott und der Mensch

1.8 Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32, 23–33) In Gen 22 (und Ri 11) haben wir es mit Erzählungen zu tun, die die dunkle Seite Gottes indirekt sichtbar werden lassen, indem Menschen im Auftrag Gottes – oder weil sie sich durch ein Gelübde entsprechend gebunden haben – den Weg der Gewalt beschreiten müssen. In der Geschichte vom Kampf Jakobs am Jabbok (Gen 32,23–33) tritt Gott selbst als gewaltsam Verletzender auf, ebenso wie später auch in Ex 4,24–26. Das verleiht der violence eine neue Qualität, die der Deutung im Rahmen des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes bedarf.

1.8.1 Literarkritische und traditionsgeschichtliche Erwägungen Die mutmaßliche literarische Entwicklung der Geschichte bildet den Hintergrund der Deutung. Es ist von einem Grundtext auszugehen, der durch spätere Bearbei­ tungen erweitert wurde.205 Folgende Version halte ich für ursprünglich: 23a: Jakob stand auf in der Nacht 23c: und zog durch die Furt des Jabbok. 25b: Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26a: Und als er sah, dass er ihn nicht überwinden konnte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte206. 27: Und er sprach: Lass mich gehen; denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 30c: Und er segnete ihn daselbst. 31: Und Jakob nannte die Stätte Pnuel; denn, sprach er, ich habe Gott von Ange­ sicht zu Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32a: Und als er an Pnuel vorüberkam, ging ihm die Sonne auf. Zur Begründung: v 23b sowie vv 24.25a sind redaktioneller Anschluss an den Kontext (vgl. 31,17 f). Vv 26b und 32b: Der einfache Schlag auf das Hüftgelenk ist als numinose Berührung das tragende Element der Erzählung. Ein späterer Tradent hat den Schlag zur Verren­ kung und die Folgen zum Hinken vergröbert.207 Vv 28–30b schieben sich zwischen den logischen Fortgang der Erzählung von der Segensbitte zum Segen, gleichsam als Peripetie. Diese könnte von der inneren Struktur

205 J. A.  Soggin, a. a. O., S. 398. 206 Ich bleibe bei der Lutherübersetzung von 1984. Die neue Übersetzung von 2017 schlägt vor: „… rührte er an das Gelenk seiner Hüfte“. Aber vom bloßen Anrühren wird nichts verrenkt. Der Gewaltaspekt ist zu berücksichtigen. 207 J. B. Bauer, „Jakobs Kampf mit dem Dämon (Gen 32,23–33)“ in: M. Görg (Hg.), Die Väter Israels, Stuttgart 1989, S. 20 f.

Jakobs Kampf am Jabbok 

113

der Erzählung her durchaus gerechtfertigt sein. Achtet man aber genau auf den Inhalt dieser Verse, so sind sie in der Frage nach dem Namen eine Rückbesinnung auf das betrügerische Wesen Jakobs208 – denn im Namen erscheint das Wesen –, zugleich aber auch eine Rechtfertigung Jakobs im neuen Ehrennamen Israel. Dass dem Interpolator die Segensnotiz dabei höchst willkommen war, versteht sich. So binden diese Verse die Jakob-Jabbok-Geschichte in den Jakob-Esau-Sagenkranz ein und sind als redaktioneller Zusatz mit unverkennbarer theologischer Tiefe anzusehen. Den ortsätiologischen v 31 halte ich für ursprünglich, weil ich auch hier wie schon bei Gen 22,14 davon ausgehe, dass die Ätiologie der überlieferungsgeschichtliche Kern der Erzählung ist. Dagegen halte ich v 33 für eine sekundäre Ätiologie, die nichts mit der Erzählung zu tun hat, sondern sich an die Verrenkungsversion angehängt hat. Im Verhältnis zum Kontext erweist sich Gen 32,23–33 als Einfügung, denn es un­ terbricht den Zusammenhang der Jakob-Esau-Geschichte. Ungeachtet dessen hat der Kampf am Jabbok seine Stellung in der vorliegenden endredaktionellen Gestalt: Er ist Antwort auf Jakobs Gebet von Gen 32,10–13209: Der eingeforderte Segen (32,13) ist keine Selbstverständlichkeit. Den literarischen Wachstumsprozess kann man sich folglich so vorstellen: Zum Urtext (s. o.) fügte ein erster Ergänzer die Hüftverrenkung (v 26b) und das Hinken (v 32b) hinzu. Ein zweiter Ergänzer nahm das zum Anlass, darin eine Speisevorschrift zu begrün­ den (v 33)210. Ein Endredaktor schaffte die Verbindungen zum Jakob-Esau-Sagenkranz (vv 23b.​ 24.25a.28–30b)  und macht durch die Einordnung in den Kontext die Segnung Jakobs zur Antwort auf das Gebet 32,10–13.

Überlieferungsgeschichtlich kann man von einer ehemals wohl nicht-israeliti­ schen Ortssage ausgehen, die an der Furt des Gewässers haftete, wo dämonische Flussgeister ihr Wesen trieben.211 Bei der Rezeption durch den Zwölf-StämmeVerband trat das Motiv des Kampfes zugunsten des Segens in den Hintergrund.212 Der religionsgeschichtliche Vergleich mit einer hellenistischen Parallele213 macht die angenommenen überlieferungsgeschichtlichen Ursprünge wahrscheinlich.

208 Gen 27,36 leitet den Namen ‫ יַ עֲ קֺב‬/ Ja῾ªqōb volkstümlich von ‫ יַ עֲ קֺב‬/ ja῾ªqōb (= er wird betrü­ gen) ab. 209 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 279. 210 Anders C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 634, der darin ein Anhängsel erst nach­ exilischer Zeit sieht. 211 Ders. ebd., J. A. Soggin, a. a. O., S. 396. 212 J. B. Bauer, a. a. O., S. 20 f. H. M. Wahl, a. a. O., S. 284 f führt weitere Beispiele an, hält aber bei aller Ähnlichkeit der Motive an der Singularität der Jabbok-Episode fest. 213 Zit. bei J. B. Bauer, a. a. O., S. 17 f.

114

Gott und der Mensch

1.8.2 Das Gottesbild Bei der Frage nach der Deutung der Gewalttätigkeit Gottes ist zunächst von der ursprünglichen Gestalt der Erzählung auszugehen und danach die erweiterte Form nach dem dahinterstehenden Gottesbild zu befragen. Der Anschlag auf Jakob durch den Unbekannten, hinter dem sich ganz offen­ sichtlich Jahwe verbirgt214, zielt auf Verletzung. Der Schlag auf das Hüftgelenk ist ein Schlag in die Schamgegend und soll Jakob zeigen, dass Jahwe die Macht hat, ihm seine Zeugungsfähigkeit und damit seine Zukunft zu rauben. Es ist das Er­ gebnis eines Ringens. Wie es zu dem Ringen kommt, wird nicht erzählt. Es spielt sich einfach ab. Auch die Frage nach dem Sieger und Besiegten lässt die ursprüng­ liche Geschichte unbeantwortet215: Der verletzende Schlag auf das Hüftgelenk ist kein Befreiungsschlag, sondern „nur“ erneute Bedrohung, die durch Jakobs festen Griff neutralisiert wird. Schließlich kommt Jahwe nach einem verbalen Ringen (32,27) dem Segenswunsch Jakobs nach und hebt damit die Bedrohung seiner Zukunft auf. – Im Blick auf das Gottesbild lässt sich feststellen: Trotz letztendli­ chen Segens ist das Unheimliche in Gott nicht ausgeblendet. In Gott ist beides: das Befremdliche und das Freundliche, das Dunkle und das Lichte, sich symbolisch widerspiegelnd in der „Nacht“ und in der „Morgenröte“. Wo der Mensch mit Gott zu tun hat, hat er immer mit beidem zu tun. Gott schlägt und segnet. Er richtet und rettet. Der mit Gott ringende Mensch geht nicht als Sieger daraus hervor, wohl aber siegt am Ende in Gott der Segen über den Fluch, die Rettung über das Gericht, das Leben über den Tod. Und so wird der innere Sieg Gottes auch dem Menschen als Gabe zuteil. Dass es sich dabei primär um einen Sieg in Gott han­ delt, wird schon dadurch deutlich, dass Jahwe von vornherein Jakob nicht töten wollte, obwohl allein der Anblick Gottes genügt hätte, den Tod herbeizuführen (32,31; vgl. Ex 33,20). Es wird gelegentlich die Frage diskutiert, ob in der nächtlichen Gestalt nicht das Ange­ sicht Gottes und das Angesicht Esaus zusammenfließen216. Eine solche Diskussion kann nur auf der Grundlage einer synchronischen Betrachtungsweise geführt werden. Sie bezieht denn auch unkritisch die zweite Überlieferungsschicht mit ein und sieht in der Bemerkung „… du hast mit Gott und den Menschen gekämpft …“ (32,29) einen Hinweis

214 So H. Seebass, Genesis II/2, a. a. O., S. 393; auch R. A. Klein, a. a. O., S. 141 mit Verweis auf v 31. Anders C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 633, der daran festhält, dass Jakob mit einem Dämon kämpft. Aber sollte er sich von ihm einen Segen erbitten? Westermann bejaht das, aber seine Begründung ist nicht überzeugend. Denn sie läuft schließlich darauf hinaus, „daß Gott mit ihm war“ (635). – H. M. Wahl, a. a. O., S. 283 denkt an einen „Gottesboten“. „Auf gar keinen Fall handelt es sich bei dem Mann um Jahwe selbst.“ Die Begründung bleibt er schuldig. 215 J. Taschner, a. a. O., S. 154. 216 Ders., a. a. O., S. 156.

Jakobs Kampf am Jabbok 

115

auf die Ambiguität der Gestalt217. Darüber hinaus wird auf die scheinbare Parallelität von 32,31b und 33,10 hingewiesen, die gewollt sei. Denn wenn Jakob dem Esau in 33,10 gesteht, er habe in seinem Angesicht gleichsam Gottes Angesicht gesehen, dann solle die Identität des nächtlichen Angreifers bewusst in der Schwebe gehalten werden218. – Hier gerät allerdings die synchronische Interpretation an die Grenze mystagogischer Spekula­ tion. Denn es gibt keine Spiegelung der Begegnung mit Esau in den Geschehnissen jener Nacht am Jabbok wie auch umgekehrt. Außerdem sind 32,31b und 33,10 theologische Spitzenaussagen mit jeweils eigenem Gewicht und nicht miteinander verrechenbar.

Für die überarbeitete Form genügt ein Blick auf 32,28–30b. Die theologische Tiefe dieser Verse wurde schon erwähnt: Jakob bekommt eine neue Identität, Gottes rechtfertigendes Handeln in Form einer alten Geschichte. Außerdem verzeich­ net die Erweiterung einen Sieg Jakobs (32,29). Das heißt über die Ursprungs­ situation hinaus und im Unterschied zu ihr: Jahwe lässt sich überwinden. Eine zutiefst erfahrungsbezogene Aussage, auf Grund derer Gebete wie das Jakobs in Gen ­32,10–13 erst möglich und sinnvoll werden. Gott lässt sich überwinden. So und nur so wird Gott als persönlicher Gott glaubwürdig. Insofern ist der Satz: „… du hast mit Gott und mit Menschen219 gekämpft und hast gewonnen“, eine theologische Spitzenaussage des Alten Testaments in narrativer Form. Bei alle­ dem weiß der ergänzende Theologe um die Unverfügbarkeit Gottes, denn der Segnende nennt seinen Namen nicht (32,30). So viel zur Erzählebene. Darüber hinaus mag der neue Name „Israel“ auch noch andeuten, dass das Volk Israel selbst sich im Ringen mit dem rätselhaften Gott sieht, der letztendlich seinen Segen nicht von ihm nimmt und dabei doch der Unverfügbare bleibt.220

1.8.3 Ethische Implikationen G. v. Rad betont zu Recht: Es geht nicht in erster Linie um die Moralität Jakobs, sondern: „Aller Nachdruck liegt auf dem Handeln Gottes, auf seinem vernich­ tenden Angriff und auf seiner Rechtfertigung“221. 217 Ders., a. a. O., S. 158 f; allerdings kann er sich dann wiederum „den meisten Auslegern“ an­ schließen, „dass die Umbenennung V.28 f. einer späteren Überlieferungsstufe angehört“ (a. a. O., S. 175). 218 Ders., a. a. O., S. 156. 219 Gegen Soggin, a. a. O., S. 397 glaube ich nicht, dass ein Teil des Textes verloren gegangen ist, in dem von einem Kampf mit Menschen die Rede gewesen sein soll. Ich halte dies eher für eine generalisierende Wendung („mit Gott und der Welt“). 220 M. Görg, Der un-heile Gott, a. a. O., S. 132. 221 G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 246. Die Rechtfertigung liegt in der Namensän­ derung: Der „Betrüger“ ist zugleich der Erwählte. Das ist hier exklusiv auf Jakob bezogen. Daher ist v 29 nicht geeignet, daraus eine allgemeine christlich-jüdische Anthropologie zu entwickeln.

116

Gott und der Mensch

Dennoch stellt die Geschichte – besonders in der ersten Überlieferungsstufe – auch ein besonderes Verhalten heraus. Wie Abraham in Gen 22,1–19 wird Jakob hier zum „Paradigma“222, freilich in ganz anderer Weise. Wie verhalte ich mich, wenn Gott als der Unheimliche, als der Gewalt-Tätige auf mich zu kommt? Füg­ samkeit wird hier nicht angepriesen. Hier gilt es, mit Gott zu ringen, unnachgie­ big zu sein, an ihm festzuhalten und auf dem Segen zu bestehen. Beide Verhal­ tensweisen sind der jeweiligen Persönlichkeit angemessen. Und so sind sie auch einem gläubigen Menschen möglich. Ethik hat eine Breite, die auf die individuelle Persönlichkeitsstruktur eines Menschen Rücksicht nimmt und die unterschied­ lichem Handeln und Verhandeln Raum gibt. Ethik zieht die Konsequenz daraus, dass Gott das mit sich machen lässt, vorausgesetzt er wird in seinem Gottsein an­ erkannt – hier durch die ihm allein zustehende Macht, neue Lebenskraft durch seinen Segen verleihen zu können. Jakob ringt mit Gott; gewaltsam trotzt er der verletzenden Gewalt Gottes – und wird gesegnet. Das zeigt: Er darf gewaltsam trotzen. Was sich hier als Kampf abspielt und wie ein Sieg scheinen mag, ist aber auf anderer Ebene ein Ringen in Gott und der Sieg des Lebens in ihm. Eben darum aber steht der Gotteskampf Jakobs im Einklang mit Gottes ewigem Ringen und ist von daher gerechtfertigt.

1.9 Gott will Mose sterben lassen (Ex 4,24–26) War die Tötungsabsicht Jahwes in Gen 32,23–33 nicht gegeben, so lässt sie sich für Ex 4,24–26 nicht mehr leugnen. War der in seinen Beweggründen zunächst undurchschaubare Gott in Gen 22,1–14 letztendlich doch der hinschauende und rettende Gott, ist von allem in Ex 4,24–26 nichts zu spüren. Gott zeigt ein aus­ schließlich dämonisches Gesicht223. Er will Mose unvermittelt, aus reiner Willkür sterben lassen224. Er ist der Schrecken.

222 H. Seebass, Genesis II/2, a. a. O., S. 403. 223 Dabei wird immer wieder über die Projizierung eines Wüstendämons auf Jahwe spekuliert (z. B. W. H. Schmidt, Exodus 1–6, Neukirchen-Vluyn 22011, S. 224 f; M. Noth, Das zweite Buch Mose – Exodus, Göttingen 61978, S. 35). Religionsgeschichtliche Belege werden dabei nicht ge­ nannt. Diese Spekulation verkennt die im Mythos bewahrte grundsätzliche Rivalität zwischen Gott und Mensch. 224 Mit M. Görg, Der un-heile Gott, a. a. O., S. 134 bevorzuge ich die Übersetzung „sterben lassen“ statt „töten“. Der hebräische Text benutzt m. E. bewusst nicht ‫ ָ רצַ ח‬/ rāzach (= töten, mor­ den, Ex 20,13), sondern ‫ ֵ ה ִמית‬/ hēmīt (= sterben lassen, Kausativform von ‫ מוּת‬/ mut = sterben).

Gott will Mose sterben lassen 

117

1.9.1 Literarkritische und traditionsgeschichtliche Überlegungen Die archaisch anmutende Notiz ist in die Erzählung von der Rückkehr des Mose nach Ägypten eingeschoben. Mose befindet sich mit Frau und Sohn (4,20) auf dem Weg von Midian durch die Wüste Sinai (4,27). 4,24a ist redaktionelle Über­ leitung von der Weggeschichte zur Schreckepisode. Mit „unterwegs“ und „Her­ berge“ ist der Weg aufgenommen, zugleich geschickt auf die Lebensfeindlichkeit und Finsternis der Gottesbegegnung hingedeutet; denn „unterwegs“ sind sie in der lebensfeindlichen Wüste, und die „Herberge“ ist ein einsamer Ort in der Nacht225. Die Geschichte beginnt also damit, dass Gott dem Mose entgegentritt, um ihn sterben zu lassen (4,24b). Sie endet mit 4,26a. 4,26b ist interpretatorische Auseinandersetzung mit dem unglaublichen Stoff226. Dieser Vers gibt sich als Er­ klärung des ungewöhnlichen Wortes „Blutbräutigam“. Bemerkenswert ist aller­ dings, dass kein Versuch unternommen wird, das unerhörte Handeln Gottes zu erklären. Offenbar ist dieses Handeln als so furchterregend empfunden worden, dass selbst eine geistige Annäherung im Versuch des Verstehens als bedrohlich empfunden wurde. Darum begnügte man sich mit der Erklärung des schon nicht mehr geläufigen Begriffs „Blutbräutigam“ und befleißigte sich, die „Beschnei­ dung“ als sakralen Akt in den Vordergrund der Episode zu spielen227. So bleibt als archaische Notiz für das tremendum Gottes 4,24b-26a. Die jetzt im Text vorfindliche Notiz bringt die Rettung des Mose in Zusam­ menhang mit der Beschneidung seines Sohnes durch Zippora. Nicht allein die Beschneidung genügt, sondern hinzu kommt das Berühren von Moses Scham228 mit dem Blut229 des beschnittenen Sohnes und ein apotropäisches Wort. 225 ‫ מלוֹן‬ ָ / mālōn ist primär „Nachtlager“; vgl. auch ‫ ֽ מלוּנָ ה‬/ mᵊlunāh (= Nachthütte, Wächter­ hütte) und ‫ לוּן‬/ lun (= übernachten, einkehren, verbleiben). Der Rekurs auf ‫ מוּל‬/ mūl (= beschnei­ den), dementsprechend „Beschneidungsgott“ ist völlig ungesicherte Spekulation und nimmt der kleinen Episode durch Vorwegnahme der Pointe die Spannung. Zur Diskussion vgl. H.-Chr.  Goßmann, „Metamorphosen eines Dämons“ in: D. A. Koch, H. Lichtenberger (Hg.), Begegnun­ gen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter (FS Heinz Schreckenberg zum 65. Geburtstag), Göttingen 1993, S. 124 Anm. 2. 226 Bezeichnenderweise mildert die Septuaginta v 24b ab: „ἄγγελος κυρίου“ = ein Engel des Herrn. 227 Vgl. auch Th. Lescow, „Ex 4,24–26: Ein archaischer Bundesschlußritus“ in: ZAW 105/​ 1993, S. 24. 228 Selbstverständlich ist Mose gemeint. Seine Nennung lediglich in Form des Possessivpro­ nomens (bzw. –suffixes) verdankt sich der Eingliederung in den Kontext. Im Übrigen kann die Bezeichnung „…bräutigam“ nur Mose gelten. Th. Lescows Vermutung der „Abwehr inzestuöser Beziehungen zwischen Mutter und Sohn“ (a. a. O., S. 21) fußt auf einer literarkritischen Fehlein­ schätzung und ist daher abzulehnen. 229 Die Septuaginta bemüht sich unter Auslassung des „Blutbräutigams“ um Klarheit: „ἔστη τὸ αἷμα τῆς περιτομῆς τοῦ παιδίου μου“ = „zum Stillstand gekommen ist das Blut der Beschnei­ dung meines Knaben“ (v 25). Unklar bleibt, ob Zippora die Scham des Mose mit der Vorhaut

118

Gott und der Mensch

1.9.2 Das Gottesbild Wie auch immer man die überlieferungsgeschichtliche Lage beurteilt, ausschlag­ gebend ist das hier transportierte Gottesbild. Die Überlieferung hat es nicht fallen gelassen, weil Jahwe so erlebt wurde und noch erlebt wird (vgl. auch Num 22,33; Dtn 32,39; 1.Sam 2,6; Jer 17,17 f). Er wurde schon immer auch als dämo­ nisch erlebt, als „das in jeder Hinsicht Unbedingte und durch Werte nicht ein­ geschränkte Mächtige“, als das „Antirationale, auf das die Anwendung von Sinn­ kategorien … sinnlos ist …“230. Und er wird so erlebt: Er lässt Menschen sterben, auch plötzlich und unerwartet, und gerade das ist seine dunkle Seite. Sterben lassen und lebendig machen, schlagen und heilen, alles liegt in ihm. In ihm ist in numinoser Weise vereint, was in Zeit und Geschichte sich als tremendum oder fascinosum offenbart. – Mit M. Görg231 mag man darüber hinaus an eine my­ thologisch geprägte Rivalität Gottes mit dem Menschen denken232: Dem Zugriff Gottes kommt Zippora zuvor durch das Blut der Beschneidung des Sohnes233. In diesem Blut verbindet sich Abwehr mit Leben. Dieser urtümliche Ritus ist offen für spätere Bundestraditionen. Ebenso dient das Wort „Blutbräutigam“ der Ab­ wehr, und zugleich anerkennt Zippora ein Anrecht Jahwes auf Moses Leben. – Auf jeden Fall tritt uns hier ein Gott entgegen, der vor dem Schrecklichsten nicht zurückschreckt, um sich als der Stärkere zu erweisen. Man wird auch dies als Gottesoffenbarung anerkennen müssen. Die spätere jüdisch-hellenistische Literatur hat an der Koinzidenz des tre­ mendum und fascinosum in Gott nicht festhalten können. Im Buch der Jubiläen (Jub 48,2 f) wird Ex 4,24–26 – unter wesentlicher Verkürzung – dahingehend ver­ ändert, dass der Satansfürst Mastema Mose töten wollte, während der „Engel des des Knaben (so die Luther- und die Einheitsübersetzung, vgl. auch B. Stade, Biblische Theologie des Alten Testaments I, Tübingen 1905, S. 45) oder lediglich mit dem dabei fließenden Blut (so LXX) berührt hat. Letztendlich mag das für den apotropäischen Akt auch unwesentlich sein. 230 G. Mensching, Die Religion, München, o. J., S. 151, mit Bezug auf Ex 4,24 S. 153 f. Auch W. H. Schmidt ringt sich zu der Erkenntnis durch, dass mit Jahwe „seit je ‚dämonische‘ Züge … verbunden“ sind (Exodus, a. a. O., S. 226, vgl. aber Anm. 223). 231 A. a. O., S. 134. 232 Das ist qualitativ etwas anderes als ein einmaliger, punktueller Überfall durch einen Dä­ mon. Die Rivalität wird als etwas Grundsätzliches erfahren. In der Genesis zeugen davon zwei urgeschichtliche Ereignisse: die Ehen der Gottessöhne mit den Menschentöchtern (Gen 6,1–4) und der Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9). Gen 6,1–2.4 hat ursprünglich das Heroentum („Rie­ sen“) der Vorzeit erklären wollen und wurde dann durch Einschub von v 3 zu einer RivalitätsBegrenzungsgeschichte. Im Turmbaumythos begrenzt Jahwe vorbeugend ein befürchtetes Über­ menschentum (vgl. dazu G. v. Rad, Das erste Buch Mose, a. a. O., S. 85 und 114). 233 Dabei könnte es sich um eine Art „Berührungszauber“ handeln, wodurch eine Übertra­ gung von Schutz vollzogen wird, hier vom Sohn auf den Vater (K. Goldammer, „Die Religion der schriftlosen Völker der Neuzeit“ in: F. Heiler, Die Religionen der Menschheit, Stuttgart 1959, S. 76).

Gott will Mose sterben lassen 

119

Angesichts“, also der gute Gottesbote, Mose daran erinnert, dass er es gewesen sei, der ihn aus der Hand des Bösen gerettet habe. Zippora entfällt234. Hier ist die gleiche Entwicklung festzustellen, wie sie auch schon der Midrasch b San 89b im Blick auf Abrahams Versuchung zeigte: Die coincidentia oppositorum in Gott fällt auseinander in Gott und Satan (s. o. unter AT 1.7.2)

1.9.3 Anthropologische und ethische Aspekte Ex 4,24–26 ist theologisch und anthropologisch eine Vorstufe von Gen 22,1–14 und 32,23–33. Aus dem Text spricht noch keine reflektierte Anthropologie. Der Mensch findet sich vor als ein den Mächten, der Macht schlechthin, Ausgelieferter. Es ist ein Ausgeliefertsein zum Tode. Dem Tod ist nur zu entgehen durch einen magischen Wei­ heakt, d. h. durch Übereignung des Lebens an Gott. Das hat dann auf einer priesterlich reflektierten Stufe zur Weihe des Lebens in einem Bund mit Gott (Gen17; P) geführt235. Auch Ethik ist hier nicht ausdrücklich reflektiert. Dennoch gibt diese archaische No­ tiz strukturell eine überraschend traditionelle Antwort auf die Frage: „Wie verhalte ich mich, wenn Gott als der Unheimliche, Gewalt-Tätige auf mich zu kommt?“ Sie lautet: Ich kann mich nicht selbst retten, weder durch Fügsamkeit noch durch Ringen, sondern ich bin gerettet nur durch Hineingenommensein in die Sphäre des Magischen. In diese Sphäre kann ich mich nicht selbst begeben, sondern sie wird mir durch einen Dritten (hier Zippora) vermittelt.

Exkurs: Der Vätergott als der „Schrecken Isaaks“ Dass die Väter ihren jeweiligen „Hausgott“ hatten, geht aus den unterschiedlichen, mit den Väternamen verbundenen Gottesbezeichnungen hervor. Exemplarisch ste­ hen dafür Gen 31,42.53 f: der Gott Abrahams (v 42), der Schrecken Isaaks (v 42 und v 54), der Gott Nahors (v 53). Wie auch immer man die Entstehungsgeschichte des v 42 beurteilen mag236, in der jetzigen Form werden die Einzelgottheiten des v 42a in v 42b unter der Bezeichnung „Gott“ identifiziert. Freilich erregt die Gottesbezeichnung „Schrecken Isaaks“ (‫ פּ ַחד יִ צְ ָחק‬ ַ / pachad jizchāq) Aufsehen, und es fragt sich, ob dieser Name eine mit Jahwe verbundene Gotteserfahrung stützt, also auf eine furchterregende Erscheinungsweise als Offenbarungsmöglichkeit Jahwes hindeutet237. Dass ein Erzvater, Stammes- oder Familienoberhaupt einen Gott als den seinen anerkennt aufgrund einer

234 W. H. Schmidt, Exodus, a. a. O., S. 232; G. Oberhänsli-Widmer, „Mose / Moselied / Mosese­ gen / Moseschriften III. Apokalyptische und jüdisch-hellenistische Literatur“ in: TRE 23, Berlin 1994, S. 348. 235 Vgl. auch Th. Lescow, a. a. O., S. 25 f. 236 C. Westermann hält „der Gott Abrahams und der Schrecken Isaaks“ für überschießend und daher nicht ursprünglich (Genesis 12–36, a. a. O., S. 606). Andererseits könnte man auch lediglich „der Gott Abrahams“ streichen und „der Schrecken Isaaks“ als Apposition zu „der Gott meines Vaters“ ansehen. 237 Die Übersetzung „Schrecken Isaaks“ wird hier vorausgesetzt. Zur Diskussion weniger wahrscheinlicher Varianten s. C. Westermann, Genesis 12–36, a. a. O., S. 607.

120

Gott und der Mensch

numinosen, Schrecken verbreitenden Erscheinung und sich dadurch für immer an ihn bindet, ist einmalig und bleibt erstaunlich. Es weist in archaische Zeit, die eine Bindung aufgrund eines Rechts- oder Vertrauensverhältnisses noch nicht kennt. Nichtsdestowe­ niger kennt das Alte Testament den Schrecken als Wesenszug Jahwes sehr wohl. Von ihm geht Schrecken aus, er lässt Menschen und Mächte erschrecken, sein numinosum wirkt teils abschreckend, teils furchterregend und faszinierend zugleich. Solchermaßen ist er geradezu der Schrecken. Der Gottesschrecken kommt über die Feinde, über Israel und über den Einzelnen. Durch ihn werden die Feinde im Krieg übermannt (2.Chr 14,13) oder von einem Angriff abgeschreckt (2.Chr 17,10 f). In beiden Fällen wirkt sich der Schrecken Jah­ wes zum Heil und zur „Ruhe“ für das Gottesvolk aus (2.Chr 20,29). Indes kann der Schrecken des Herrn auch über Israel kommen, wenn es droht, abtrünnig zu werden (1.Sam 11,7; Jes 2,10). Bezeichnet der Gottesschrecken im Kontext mit dem Heiligen Krieg eine Wirkweise Jahwes, so nimmt er im Zusammenhang mit der Offenbarung über Israel mehr die Kontur eines Wesenszuges an. Zu einem bestimmenden Wesens­ zug Gottes ist der Schrecken dann bei Hiob geworden (Hi 13,10–12.20 f; 23,15 f). Hiob erlebt das tremendum, das ihn in Furcht und Mutlosigkeit stürzt. Es kommt für ihn zu keiner befriedigenden Gottesbeziehung, weil er (noch) nicht zu einem hinreichenden Vertrauens- bzw. Rechtsverhältnis finden kann. Indes muss er den Schrecken als Got­ tesoffenbarung annehmen. Gehört der Schrecken zu Gottes Wirkweise und Wesen, so ist vorstellbar, dass sein Wesen zu seinem Namen werden kann238. Welche Gottesoffenbarungen dem „Schrec­ ken Isaaks“ zugrunde liegen, wissen wir nicht. Die Hiobdichtung ist aber eine Entfaltung dessen, was Jahwe als Schrecken einem Menschen bedeuten kann.

1.10 Hiob 1.10.1 Literarisches Das Buch Hiob gliedert sich in einen prosaischen Rahmen (1,1–2,10 sowie 42,​ 10a.c-17), der durch prosaische Überleitungsstücke (2,11–13 sowie 42,7–9.10b) mit dem poetischen Hauptteil (3,1–42,6) verbunden ist. Rahmen und Hauptteil stehen miteinander in einem unlösbaren Korrespondenzverhältnis. Die Prosa­ geschichte von der Bewährung Hiobs im Unglück und im körperlichen Leiden ist Anlass und inhaltliche Voraussetzung für die Dichtung, die ohne Rahmen in

238 Jahwes ambivalente Wirkweise und sein ambigues Wesen führten indes zu der namen­ ähnlichen Selbstvorstellung „Ich bin, der ich bin“ ( ‫ ֶ א ְהיֶ ה ֲא ֶשׁר ֶא ְהיֶ ה‬/ ähᵊjäh ᵄschär ähᵊjäh) (Ex 3,14), sein überwiegend als gütig erfahrenes Wesen und Wirken (Ex 34,6 f) zu der „Namensformel“ „Ich weiß, dass du Gott-Gnädig bist …“ (‫ל־חּנּון‬ ַ ‫ ֵ א‬/ El-Channūn) (Jona 4,2). – Zum Verständnis der „Gnadenformel“ (Spieckermann) als „Namensformel“ (Scoralick) vgl. R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6 f und ihre intertextuellen Beziehungen im Zwölfprophetenbuch, Freiburg 2002, S. 64.

Hiob 

121

der Luft hängen würde; die Dichtung aber entwickelt in der die gesamte Existenz des Hiob erfassenden und in Frage stellenden Theodizeeproblematik eine Eigen­ dynamik, die den Rahmen zum „szenischen Hintergrund“ werden lässt239. Indes ist die Thematik beider Literaturwerke unterschiedlich. Geht es im Rahmen um das Vorbild der Glaubensbewährung angesichts schier unerträglichen Leides und Leidens, also um ein aus einer Haltung erwachsendes Verhalten, so wird in der Dichtung die Gottesfrage verhandelt, freilich nicht als „theologische Denkfra­ ge“240, sondern als durchlebte und durchlittene Existenzfrage241. Die thematischen Schwerpunkte stehen freilich in Korrespondenz zum Gottesthema einerseits und zur Anthropologie andererseits. Es ist zu vermuten, dass die Rahmenhandlung als Erzählung von der Glau­ bensbewährung eines gottesfürchtigen Mannes namens Hiob schon lange vor der Hiobdichtung umlief. In der Opferung Isaaks gäbe es eine entfernte Parallele von ebenfalls hohem Alter242. Die Dichtung hingegen spiegelt die Zeit der in die Krise geratenen Weisheit wider243. Außerdem benutzt sie die Prosaerzählung als Einlei­ tung und Schluss. Was das Gottes- und Menschenbild bzw. Gottesbild und Fröm­ migkeit anlangt, werden folglich Prosaerzählung und Dichtung gesondert behandelt. Dabei ist der Erzählung weisheitliche Prägung nicht abzusprechen. Hinzuwei­ sen ist auf die Ubiquität des Landes Uz, die paradigmatische Gestalt des Leidenden und vor allem die Satanologie244. Das deutet auf einen kontinuierlichen Aktuali­ sierungsprozess der Volkserzählung245. 239 A. Weiser, Das Buch Hiob, Göttingen 81988, S. 26; ebenso B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? a. a. O., S. 208. 240 Ders., a. a. O., S. 10. 241 Gleiches trifft auf den Psalm 22 und auf Jona 2 zu. In Hab 3 mischt sich Existenz- und Geschichtserfahrung eines ambivalenten, letztlich aber für sein Volk Partei ergreifenden Gottes. 242 T. Veijola nimmt Gen 22 als „literarischen Bezugstext“ für den Hiobrahmen („Abraham und Hiob“, a. a. O., S. 144). Literarische Abhängigkeit lässt sich indes schwerlich nachweisen. Anders J.van Oorschot, der den Rahmen für „eine späte und hochreflektierte Antwort auf die Dichtung“ auffasst (ders., „Menschenbild, Gottesbild und Menschenwürde – ein Beitrag des Hiobbuches“ in: E. Herms [Hg.], Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, S. 338). Dem liegt die Vorstellung einer dreifachen Redaktion des Hiobbuches zugrunde (Grundbestand nebst Elihureden + Niedrigkeitsredaktion + Majestätsredaktion + Gerechtigkeitsredaktion) (ders., a. a. O., S. 322 Anm. 16). – Die Gestalt des „leidenden Gerechten“ im sumerisch-akkadi­ schen Kreis bietet zu wenig Vergleichbares mit dem Leiden und der Bewährung Hiobs (F. Horst, Hiob 1–19, Neukirchen-Vluyn 51992, S. 6). – Im babylonischen Lied vom „leidenden König“ ist der „Verfolger“ ausschließlich Krankheitsdämon, der dem guten Gott gegenübersteht. Ihm fehlt also die umfassend destruktive Kraft als integraler Bestandteil Gottes (R. Schärf, „Die Gestalt des Satans im Alten Testament“ in: C. G. Jung, Symbolik des Geistes, Zürich 1948, S. 228 f; 293 f). 243 Zur spätnachexilischen Datierung der „Krisenliteratur“ vgl. auch G. Baumann, Gottes­ bilder der Gewalt, a. a. O., S. 143 ff. 244 Vgl. dazu H. Strauß, „Theologische, form- und traditionsgeschichtliche Bemerkungen zur Literaturgeschichte des (vorderen) Hiobrahmens – Hiob 1–2“ in: ZAW 113/2001, S. 554 f und S. 560. 245 Vgl. dazu auch R. Lux, Hiob, Leipzig 2012, S. 61.

122

Gott und der Mensch

1.10.2 Der Rahmen (Hi 1,1–2,10; 42,10a.c-17) Die Frage, ob es im Rahmen noch Brüche gebe, insbesondere, ob 1,6–12 ein Ein­ schub sei246 oder 2,1–10 als Dublette später hinzugekommen sei247, kann negativ beantwortet werden. Zwar lässt sich eine Bewährungsgeschichte auch ohne 1,6–12 und demzufolge auch ohne 2,1–10 konstruieren, zumal 2,1–10 im Schlussteil 42,10–17 scheinbar keine Erwähnung findet. Der Geschichte wäre freilich ein we­ sentlicher Teil der Spannung, des ethischen Profils und der Auseinandersetzung mit dem Gottesbild genommen. Die Prosageschichte ohne die Satanszenen wäre flach und würde gerade zu jenem utilitaristischem Denken verleiten, wovor sie – mit den Satanszenen – schützen und warnen will (1,9–11; 2,5). Hinzu kommt, dass der virtuelle Ergänzer beides zugleich, 1,6–12 und 2,1–10, hinzugefügt hätte; das müsste man aus der bis in den Wortlaut hinein gleichartigen Struktur schließen248. Dass ein Ergänzer sich jedoch durch eine Dublette selbst übertrifft, wäre äußerst ungewöhnlich. Daher ist auf einen einheitlichen Spannungsbogen aus einer Hand zu schließen. Und was den Schluss betrifft: Hiobs Alter von 140 Jahren lässt auf Gesundung und Heilung schließen; insofern wäre auch 2,7 wieder aufgenommen. Und dass am Ende der Satan nichts mehr zu sagen hat, ist nachvollziehbar.

1.10.2.1 Ethische Implikationen Gottes Angriffe auf Hiobs Besitz und Familie sowie schließlich auf sein Leben wer­ den gern als „Erprobung“249 seiner Glaubensstärke betrachtet. Auffälligerweise fehlt jedoch – anders als bei der Opferung Isaaks – das Wort „prüfen“ (‫ נִ ָסּה‬/ nissāh). Dem ist Rechnung zu tragen. Wer prüft, nimmt dem zu Prüfenden gegenüber eine souveräne Stellung ein. So ist es in Gen 22,1. Anders verhält es sich in Hi 1–2. Das Leid und das Leiden erwächst Hiob nicht aus einer Position der Stärke Gottes, sondern aus Gottes Selbstzweifeln. Diese stürzen Hiob in die Bewährungsprobe seines Glaubens. Es ist daher statt von Erprobung besser von Hiobs Bewährung zu

246 Diese Meinung vertreten z. B. F. Horst, a. a. O., S. 5 und M. Rohde, Der Knecht Hiob im Gespräch mit Mose. Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Studie zum Hiobbuch, Leip­ zig 2007, S. 102. 247 F. Horst ist hier unschlüssig (a. a. O., S. 22 f). 248 Gegen M. Köhlmoos, Das Auge Gottes, Tübingen 1999, S. 50 f. Dass 1,6–12 und 2,1–10 von der Erzählstruktur her zusammengehören, belegt auch B. Boothe: „Moralische Prüfun­ gen gestalten sich in narrativen Konstruktionen … oft – so auch hier – als Stationenwege mit zunehmenden Schwierigkeiten“ (dies., „Die narrative Organisation der Hiob-Erzählung des Alten Testaments und die verdeckte Loyalitätsprobe“ in: Th. Krüger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger [Hg.], Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Zürich 2007, S. 505). 249 F. Horst, a. a. O., S. 1; A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 31.

Hiob 

123

reden. Ersteres würde den Blick zu früh und zu einseitig auf das Gottesverständnis lenken, Letzteres beleuchtet den ethischen Aspekt als Schwerpunkt des Textes250. Dabei geht es um die Frage: Welche Verhaltensmöglichkeiten gibt es für den gottesfürchtigen Menschen angesichts eines scheinbar grundlosen schweren Ge­ waltangriffs Gottes? Eine Möglichkeit ist, dem Satan (1,11) und später Hiobs Frau (2,9) in den Mund gelegt, Gott abzusagen251. Diese Reaktion hätte den Cha­ rakter der Endgültigkeit, es wäre die verzweifeltste Form der „Gegengewalt“, die sich letztendlich gegen den „Gewalttäter“ selbst richten würde („… und stirb!“ [2,9]). Klage und Anklage als Möglichkeit kennt die Prosaerzählung noch nicht. So bleibt schließlich nur noch die Möglichkeit, die Hiob vom Erzähler (1,1) wie auch von Gott (1,8) attestierte Frömmigkeit, Rechtschaffenheit, Gottesfurcht und moralische Integrität durchzuhalten durch alles Leid und Leiden hindurch. Hiob wählt diese Möglichkeit (2,3). Im Leben und im Leiden wird sie zur erduldeten Wirklichkeit. So wird Hiob zum Vorbild einer Frömmigkeit, die die Wirklichkeit als den von Gott gegebenen und im Guten wie im Bösen anzunehmenden Ge­ staltungsraum anerkennt. In die Krise gerät diese Frömmigkeit durch die Wucht des Bösen, und das macht sich der „Satan“ zunutze durch das Ansprechen utilita­ ristischer Neigungen im Menschen (1,11; 2,5). Doch Hiob bewahrt und bewährt seinen Glauben in der Krise durch Erdulden. Zwischen Anfang („Ich bin nackt von meiner Mutter Leib gekommen“) und Ende („nackt werde ich wieder da­ hinfahren“) spannt sich die erduldete Wirklichkeit: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ Wer fragt, warum denn der Name des Herrn in diesem scheinbar sinnlosen Beraubt-Werden noch gelobt werden soll, der erhält in 2,10 die Antwort: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Die Theodizeefrage stellt sich für den Hiob des Rahmens nicht, sie scheint gelöst: Alles kommt aus einer Hand, auch das Böse. Auch dafür ist der Herr zu loben. Ob dem Bösen aus Gottes Hand damit ein geheimer, noch nicht offenbarer Sinn unterstellt wird? In der Isaakerzählung wurde angesichts der Gewalt-Tätigkeit Gottes Abrahams Füg­ samkeit als rechtes Verhalten vor Augen gestellt. Im Falle Hiobs scheint es geraten, von Erdulden als angemessenem Verhalten zu sprechen, die zur Bewahrung und Bewäh­ rung des Glaubens führt. Beide Verhaltensweisen sind sehr ähnlich, die Begriffe sind aber nicht austauschbar. „Fügsamkeit“ unterstellt noch ein bisschen Aktivität, insofern sich der Fügsame einfügen lässt in Gottes Handlungen und Weisungen und in diesem 250 Den ethischen Aspekt hebt auch G. Kaiser hervor: „Gemäß dieser Schilderung erscheint Hiob alles in allem als ein Mensch, der in herausragender Weise verkörpert, wie alle Menschen vor Gott sein sollen“ (G. Kaiser, H.-P. Mathys, Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie, Berlin 2010, S. 27). 251 Ich bleibe bei der Lutherübersetzung von 1984. Die neue Übersetzung von 2017 schlägt vor: „… er wird dir ins Angesicht fluchen“. Aber hinter „absagen“ in v 5 und in v 11 steckt dasselbe Verb: ‫ ב ַרך‬ ָ / bārach (sensu malo). Es besteht kein Grund, es dort so und hier anders zu übersetzen.

124

Gott und der Mensch

Rahmen selbst handelnd tätig wird (vgl. bes. Gen 22,6.9). Erdulden dagegen geschieht in totaler Passivität. Wenn der Gott ohnmächtig ausgelieferte Mensch seinen Glauben durchhält, Gottes rätselhafter Willkür Raum gibt, ohne sich loszusagen, wird dieser Mensch am Ende Segen empfangen (42,10–17). So kann das Verhalten des Erduldens vom Erzähler auch empfohlen werden (1,22; 2,10c).

1.10.2.2 Das Gottesbild Das Gottesbild des Hiobrahmens ist geprägt von der Gegensätzlichkeit der Tätig­ keit Gottes. Er offenbart sich in der Dimension des Irdischen als der gewalttätig und willkürlich Zerstörende; gewalttätig ist es, was er tut, willkürlich scheint es, weil er das, was er tut, offenbar grundlos (2,3) und gerade an seinem Knecht (1,8) tut. Danach offenbart er sich als der Wiederherstellende, Segnende, Heilende, wobei sich diese Wirkweise – weil auch am Ende des Hiobrahmens stehend – in ihm durchsetzt. Dieses Gottesbild ist gängig und nicht neu. Neu ist allerdings das Auftreten des Satans, auf dessen Initiative das Zerstö­ rungswerk und das Leiden des Hiob zurückgeführt werden. Gott und Satan tre­ ten in Diastase zueinander. Gott als der, der Hiob sehr hoch einschätzt (1,8), der an Hiobs selbstlose Treue glaubt (gespiegelt in den Worten des Satans: „… um­ sonst …“ [1,9]) und „keinen Grund“ hat, ihn zu „verderben“ (2,3); der Satan als der, der dies alles bezweifelt, der Treue Hiobs utilitaristische Motive unterstellt, Leid und Leiden als sicheren Auslöser von Untreue vermutet und eben jene Un­ treue damit beweisen will; Gott schließlich, der sich „bewegen“ lässt (1,12; 2,3; 2,6), des Satans Beweisführung zuzulassen. Es wurde bereits festgestellt, dass das Auftreten des Satans in frühjüdischen Schriften auf eine Auflösung der coinci­ dentia oppositorum hindeute (s. o. unter AT 1.7.2 zum Gottesbild in der Isaakge­ schichte und AT 1.9.2 zum Gottesbild beim Tötungsangriff auf Mose). Dass eine solche Entwicklung allerdings schon in der Zeit der Entstehung des Hiobrahmens begann, ist nicht von der Hand zu weisen. Dafür spricht auch die David als Sünde zur Last gelegte Volkszählung. Diese Sünde wird nach 2.Sam 24,1 vom Zorn des Herrn provoziert, nach 1.Chr 21,1 durch den Satan. Zudem scheint eine Hyposta­ sierung göttlicher Wesenszüge weisheitlichem Denken und Reden zu entsprechen. Von der Weisheit heißt es, dass Gott ihr Führer sei (Weish 7,15), „sie ist ein Hauch der göttlichen Kraft und ein reiner Strahl der Herrlichkeit des Allmächtigen …“ (Weish 7,25), sie geht in edler Weisheit mit Gott um, „und der Herr aller Dinge hat sie lieb“ (Weish 8,3), sie thront an seiner Seite (Weish 9,4). So ist die Gestalt des Satans bedingt durch die Tendenz der Herauslösung des zerstörerischen Ele­ ments aus Gottes Wesen ebenso wie durch den Zug zur Hypostasierung. Die Formung der Gestalt als Bote Gottes mit der Aufgabe, die Motive der Menschen auf Erden kritisch zu durchleuchten und mit seiner Beurteilung zu Gott in Op­ position zu treten, verleiht der dialogisch geprägten Handlung ihre tiefsinnige Dramatik.

Hiob 

125

Wenn der Satan also „die aus der Gottperson heraustretende Verkörperung des Dunklen, Niederhaltenden, Unheimlichen wie es in der Dämonie des göttlichen Zorns erfahren wird, die Manifestation des Zweifels in Gott und aller zerstöreri­ schen Aktivität Gottes“ ist252, dann ergäbe sich durch Reduktion dieser Beschrei­ bung auf ein koinzidentes Gottesbild ein Gott, der durch seine Selbstzweifel an Hiobs uneingeschränkter Treue zu einem Zerstörungswerk getrieben wird, von dessen Berechtigung er nie so ganz überzeugt ist, das aber letztendlich Hiobs uneingeschränkte Treue offenbart, weswegen ihm Restitution über das bisherige Maß zuteil wird. Dieser innere Kampf im Himmel bleibt freilich vor den Augen der Menschen (hier: Hiobs) ein Geheimnis, der Mensch (hier: Hiob) kann nur die Entfaltung der Kampfesfolgen im Hier und Jetzt spüren, als diversifizierte Offenbarung. Der Dialog im Himmel zeigt den beschützenden, segnenden, vertrauenden Gott auf der einen, den misstrauischen, Utilitarismus und im Letzten Egoismus unterstellenden Satan auf der anderen Seite. Die Diastase bringt die Dramatik voran. Aber der Erzähler bleibt dabei nicht stehen. Er führt die beiden personal auseinander fallenden Teile Gottes wieder zu dem einen Gott zusammen, dessen Wesen eben gerade die coincidentia oppositorum ist: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt!“ Und: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ Das ist die theologische und zugleich didaktische Leistung dessen, der den Rahmen gestaltet hat: Die Wieder-Zusammenführung von Gott und Satan in dem einen geheimnis­ vollen Herrn – gegen den Trend253.

252 F. Horst, a. a. O., S. 13 nach R. Schärf, a. a. O., S. 276: Der Satan „ist eine selbst agierende Wesensseite Gottes, die mit seiner Gesamtpersönlichkeit in Konflikt steht und durch deren Wil­ lensstrebung Gott in Unruhe versetzt wird … Er gibt ihr nach und beschränkt sie zugleich … Ge­ wiß ist der Satan insofern nicht autonom, als Gott ihm seine Zustimmung zur Zerstörung von Hiobs Lebensglück gibt“. Insofern behält Gott die Fäden der Allmacht in der Hand und bleibt – wie schon in der P-Sintflutgeschichte – Herr über die vom Satan ausgelöste Verderbenslawine (42,10.12). Insofern ist es missverständlich, von einer „Satanisierung Gottes“ zu sprechen (vgl. den gleichlautenden Aufsatz von H. Spieckermann in: I. Kottsieper, J. van Oorschot, D. Röm­ held, H. M. Wahl [Hg.], Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?, a. a. O., S. 431 ff). – Zur kriti­ schen Würdigung von H. Spieckermann vgl. auch M. Rohde, a.a.O., S. 48 und R. M. Wanke, Praesentia Dei. Die Vorstellungen von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch, Berlin, Boston 2013, S. 200 Anm. 553. – Ebenso unangemessen erscheint mir der hermeneutische Zugriff auf das Hiobbuch unter dem Begriff der „Anfechtung Gottes“ (gen. obi.), neuerdings versuchs­ weise angewandt von A. Schüle und Ph. Stoellger in dem Sammelband von L. Ratschow und H. v. Sass (Hg.), Die Anfechtung Gottes. Exegetische und systematisch-theologische Beiträge zur Theologie des Hiobbuches, Leipzig 2016 (ABG 54), S. 141 ff und S. 173 ff. Treffender wird Gottes Wandelbarkeit – biblisch belegt – mit „Reue“ = „Umkehr“, „Umorientierung“ beschrieben. An­ fechtung hingegen zielt auf Untreue und Abfall. Gott aber kann nicht von sich selbst abfallen und wird sich nicht untreu. 253 Vgl. dazu auch R. Lux, Hiob, a. a. O., S. 128 ff.

126

Gott und der Mensch

An dieser Stelle sei auf ein religionsgeschichtliches Phänomen aufmerksam gemacht: Jahwe als der eine personale Gott ist als geglaubte Wirklichkeit entstanden durch die Identifikation der Vätergottheiten (s. o. Exkurs: Der Vätergott als der „Schrecken Isaaks“) und durch die Absorbierung der Göttergestalten Enlil, Ea und Ischtar als Züge seines Wesens254 (s. o. unter AT 1.2.2). So hat er sich durch die gesamte israelitische Glau­ bensgeschichte hindurch als der Eine erwiesen, und als solcher wurde er bekannt. Dem wirkt offenbar stets eine Tendenz zur inneren Differenzierung in Wesenheiten entge­ gen, die als Engel, Hofstaat, Seraphim Gestalt annehmen, ja, sich auch in beschränktem Maße als Gegenüber zu Gott verselbständigen können. „Ein leiser Riß entsteht in der Gottpersönlichkeit, der alte ‚Nähte‘ auflöst und erkennen läßt, daß diese Einheit bereits aus einer Vielheit entstanden war …“255. Nie jedoch führt dieser „Riß“ zur Auflösung des Jahweglaubens, weil die Gestalten Werkzeuge in der Hand des Einen bleiben, trotz Personifikation keinen personalen, sondern lediglich funktionalen Charakter haben256.

1.10.3 Die Dichtung Für unsere Fragestellung kann die Dichtung als literarische Einheit betrachtet werden. Heraus fallen lediglich Kap. 28 (Weisheitsgedicht) und Kapp. 32–37 (Eli­ hureden) sowie 26,5–14 (Lob der Schöpfung) und 40,1–2 als Kommentar. Zweifel­ haft ist 24,18–25 und 27,7–23 (Tun-Ergehen-Zusammenhang im Munde Hiobs).257

1.10.3.1 Das Gottesbild Kapp. 6–7 Für das neue, sich in der Hiobdichtung entwickelnde Gottesbild ist zunächst das 6. und 7. Kapitel bezeichnend. Nach dem Zerbrechen des alten (6,13–21.24 f) ist es ein Tasten und Suchen nach Gott, mehr ein Fragen als ein Feststellen („… meine Worte sind noch unbedacht“ [6,3]). Oder anders ausgedrückt: In jeder schein­baren 254 Wieweit auch Dämonengestalten absorbiert wurden, sei dahingestellt. 255 R. Schärf, a. a. O., S. 269. 256 M. Bauks nimmt das zum Anlass, die Rede von der dämonischen Seite in Jahwe in Frage zu stellen. Ohne Grund! Wohl ist der Satan lediglich „eine Art Erfüllungsgehilfe“ (auf der narrativen Ebene!), eine Seite Gottes aber auf der epistemologischen Ebene (M. Bauks, „‚Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst?‘ [Hiob 7,17]“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede [Hg.], a. a. O., S. 10). 257 Kontroverse traditions- und redaktionsgeschichtliche Hypothesenbildung (z. B. Witte, Köhlmoos, Syring, Rohde) eröffnet zwar immer neue Perspektiven; es sei aber auch die kritische Anmerkung des Literaturwissenschaftlers Gerhard Kaiser zu Gehör gebracht: Nach den Krite­ rien der Literarkritik „dürfte es nicht wenige neuzeitliche Dichtungen geben, die man aufgrund ihrer Vielschichtigkeit oder ihres Polyperspektivismus, die kunstvoll von einem Verfasser erzeugt worden sind, einer Mehrzahl von Verfassern zuschreiben könnte“ (G. Kaiser, H.-P. Mathys, a. a. O., S. 21 Anm. 8).

Hiob 

127

Feststellung über Gottes schreckliches Wesen und Wirken (z. B. 6,4) schwingt im­ mer die Frage nach dem Warum mit (7,12–21). So erwächst aus der Verbindung von Feststellung und Theodizeefrage die Klage bzw. später die Anklage Gottes. Die Konturen von Hiobs Gottesbild entwickeln sich vor dem Hintergrund des traditio­ nellen und heben sich davon ab. Darum sei das traditionelle Gottesbild, so wie es in der ersten Rede des Elifas zum Ausdruck kommt, kurz nachgezeichnet. Elifas’ theologisches Denken ist vom „Vergeltungsdogma“ geprägt. Weder kann ein Gerechter je vertilgt werden, noch kann einer, der Unheil sät, je Heil ernten – im Ge­ genteil (4,6–9). Im Umkehrschluss berechtigt die Lauterkeit des Lebenswandels zur Hoffnung auf entsprechende Würdigung bei Gott (4,6). Diese Theologie speist sich aus der Weisheit (Spr 22,8) und erhebt „Anspruch, an der geschichtlichen Wirklichkeit nachprüfbar zu sein“258. Sie hat eine dogmatische, eine seelsorgerliche und eine Gott rechtfertigende Komponente. Dogmatisch bewegt sie sich im Rahmen des Tun-Erge­ hen-Zusammenhangs, seelsorgerlich kann sie Hoffnung eröffnen – für den Gerechten zumal, für den Ungerechten durch dessen Unterwerfung unter ein Sakralgericht Gottes (5,8–21), und schließlich ist die Theodizee im Rahmen eines solchen Tun-ErgehenZusammenhangs keine Frage. Indes geht konservativ-weisheitliche Theologie tiefer als es nach dem „Vergeltungs­ dogma“ scheinen mag. Sie reflektiert das Verhältnis von Leidensschicksal und Leidens­ schuld. Ein Traumgesicht führt Elifas weiter. Darin hört er eine Stimme: „Wie kann ein Mensch gerecht sein vor Gott oder ein Mann rein sein vor dem, der ihn gemacht hat? … Es währt vom Morgen bis zum Abend, so werden sie zerschlagen, und ehe man’s ge­ wahr wird, sind sie ganz dahin …“ (4,17–21). Sünde, Leiden und Tod sind Verhängnis und in dem post-paradiesischen Abstand zwischen Schöpfer und Mensch begründet (vgl. auch Spr 20,9)259. In diesem existentiellen Hineingeworfensein in Sünde, Leiden und Tod erwächst nichtsdestoweniger persönliche Schuld und damit auch Leidens­ schuld. „Denn Frevel geht nicht aus der Erde hervor, und Unheil wächst nicht aus dem Acker; sondern der Mensch erzeugt sich selbst das Unheil, wie Funken hoch emporflie­ gen“ (5,6 f). Wieder kann die Theodizeefrage ausgeblendet bleiben, denn das Unheil ist selbst zu-gerichtete Tatfolge260. 258 F. Horst, a. a. O., S. 68. Die Hoffnung (Elifas [4,6]) pervertiert bei Bildad zum Anspruch (8,5 f). 259 4,17 enthält noch den Aspekt, dass der Wahn absoluter Gerechtigkeit oder Reinheit vor Gott diesen per se ins Unrecht setzen würde. Das wird in Bildads erster Rede (8,3) und in Hiobs Antwort (9,2 f) aufgenommen. 260 Die Deutung setzt die o.a. Übersetzung voraus. Sie wird u. a. auch von A. Weiser gestützt: „Der Mensch selbst ist es, der das Leid erzeugt, wie die Flamme die Funken aus sich erzeugt und sie hoch emporsprühen läßt“ (Das Buch Hiob, a. a. O., S. 51). Sie wird problematisiert von F. Horst, a. a. O., S. 80 f: Im hebräischen Text ist „Unheil“ mit dem Dativ-Zeichen versehen (‫ לְ עָ ָמל‬/ lᵊ῾āmāl); daher müsse „erzeugen“ passivisch verstanden werden. Das ist von der Form her (‫ יוּלּד‬/  jullād) auch gegeben. Die wörtliche Übersetzung ist dann: „Der Mensch wird erzeugt für das Unheil …“. Horst interpretiert: „Der Mensch wächst dem Unheil entgegen“, und zieht das der Lutherübersetzung vor. Ich schlage indes interpretierend vor: „Der Mensch wird verstrickt in das Unheil“, weil so die persönliche Verstrickung in Schuld deutlicher hervortritt. Die aber ist an dieser Stelle – gegen Horst – unbedingt festzuhalten; denn ohne eine Deutung in diesem Sinne würde sich 5,7 nicht von 5,6 abheben; mehr noch: ohne eine Deutung in diesem Sinne würde

128

Gott und der Mensch

Ebenso ist die parteiliche Gerechtigkeit Gottes ein Grundzug konservativ-weisheit­ licher Theologie. Sie ist in 5,8–16 beschrieben als Parteinahme für die Niedrigen, Ein­ fältigen, Armen gegen die Mächtigen, Klugen, Bösen. Eine solche Parteinahme Gottes ist mit Durchsetzungsgewalt verbunden, wie Ps 75,11 lehrt: „Er wird alle Gewalt der Gottlosen zerbrechen, dass die Gewalt des Gerechten erhöht werde“261. Das Theolo­ gumenon der Parteilichkeit Gottes wird hier aus seelsorgerlichen Gründen zitiert: Wer sich der „Zucht des Allmächtigen“ unterwirft, darf hoffen, durch Betrübnisse und Übel hindurch errettet zu werden (5,17–19). In diesem Zusammenhang erscheint auch das Motiv von der Doppelgesichtigkeit Gottes: „Denn er verletzt und verbindet, er zerschlägt und seine Hand heilt.“ Was in Dtn 32,39 Theologumenon ist, in Hos 6,1 f Hoffnung, dass sich letztlich das Heilende durchsetzen wird, das ist hier in den Dienst der Seelsorge genommen mit dem Ziel zu erklären, dass sowohl Zurechtweisung (einschließlich Verletzung [violence!]) als auch Parteinahme samt Rettung der Gerechtigkeit Gottes entsprechen. Die Hiobdichtung macht deutlich: Was Elifas will, ist seelsorgerlich motiviert, aber dogmatisch dargeboten. Damit bietet er keine empathische Seelsorge, keine Solidarität in Verzweiflung und Glaube – die hätte vielleicht in schweigendem Aushalten bestan­ den (4,2; vgl. auch 2,11–13) –, sondern die Reflexionsgestalt des Glaubens, Theologie: „Siehe, das haben wir erforscht, so ist es“ (5,27). Es ist die alte abstrakte Lehre von der objektiven Gerechtigkeit Gottes. In verschärfter Form – ohne seelsorgerliche Kompo­ nente – erscheint sie in der Rede Bildads (Kap. 8). Hiob wird davon aber nicht erreicht, sondern schlussendlich von niemand Anderem als von Gott selbst (38,1–42,6). Darin, aber auch in Hiobs Gotteserfahrungen, prägt sich für den Leser das neue, das konser­ vativ-weisheitliche Denken überholende Gottesbild aus. Dieses Gottesbild ist nicht dogmen-, sondern – durch die Gestalt des Hiob – erfah­ rungsgestützt. Vor der gängigen Lehre muss es unangemessen wirken (6,3b). Aber es muss als Erfahrung heraus, ungeschützt, selbst auf die Gefahr hin zu irren (6,24).

Gott erscheint dem Hiob als Schrecken (‫עוּתים‬ ִ ‫ ִ בּ‬/ bi῾utim = Schrecknisse), offenbar in Träumen und Visionen (7,14 f) (‫ וֽ ִח ַתּ ַתּנִ י‬/ wᵊchittattani = du erschrecktest mich). Die Schrecknisse Gottes treten auf wie ein Heer (6,4; vgl. 10,17), sie sind auf Hiob wie Pfeile gerichtet, ja auch schon abgeschossen, weiter im Bild: „Die Pfeile des Allmächtigen stecken in mir“. Sie zerstören nicht nur den Körper, sondern durch ihr Gift auch den Geist; d. h. Gott wird erfahren als ein Gewalt-Täter, der nicht nur die Körperkräfte zersetzt, sondern auch die Glaubensexistenz zerstört262. Seine Allmacht wird zur verletzenden und zerstörenden Macht (violence), und – da Hiob in seinem persönlichen Leben keinen Grund für solche Gewalt-Tätigkeit Gottes sieht – zur Willkür (arbitrariness). Hiob schreibt diese Macht Gott aus­ die Aufforderung zur Unterwerfung unter das Sakralgericht sinnlos. – Zur Interpretation des Funken- (oder Vogel-?) flugs vgl. A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 51 gegen F. Horst, a. a. O., S. 81 f. 261 So mit Lutherübers. 1984 gegen Lutherübers. 2017 (Zur Bevorzugung der 3. Person vor der 1. Person vgl. H.-J. Kraus, Psalmen I, Neukirchen-Vluyn 31966 [BK XV/1], S. 520). 262 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 58.

Hiob 

129

drücklich zu und bittet ihn geradezu um den „Gnadenstoß“263 (6,9; 7,15). Trotz der scheinbaren Endgültigkeit seines Urteils über das Wesen und Wirken Gottes meldet sich bei ihm die Theodizeefrage: „Warum blickst du nicht einmal von mir weg …?“ (7,19); „Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe …?“ (7,20). – Der Gottesschrecken (‫ ִ ח ָתּה‬/ chittāh) legt sich über Hiob, so dass er seinen Freunden als der Schreckliche erscheint (6,21; vgl. 18,14.20)264. Hier zeigt sich der Gott, der destruktive Kraft aus sich heraussetzt, ein dunkler und unverständlicher Gott, der letztlich auch das Leben vernichten kann (vgl. 30,23). Dennoch bleibt dieser Gott ansprechbar. Hiob tut es in seiner Gottesklage, insbesondere 7,12–21. Auch hier liegen Gottesbeschreibung, Anklage und Theo­ dizeefrage ineinander, wiewohl sie tendenziell auch voneinander zu trennen sind: 7,12 ist eher eine Beschreibung der als unangemessen empfundenen Gewalt Got­ tes: Gott als bewaffneter (6,4) Wächter, um die Chaosmacht und das Böse in Ge­ stalt von Hiob niederzuhalten265. Klage und Anklage setzen sich ab 7,13 durch und erreichen in 7,16 ihren Höhepunkt: Ist es recht, einen, der ans Ende seiner Kraft und seiner Tage gekommen ist, noch so zu quälen? Gottes violence lockt den zwischen den Zeilen ausgesprochenen Sadismus-Vorwurf hervor. 7,17–21 ist durch die Theodizeefrage geprägt. Hinter 7,17 steckt ein erstes Warum: „Was ist der Mensch, dass du [dich so sehr um ihn kümmerst]?“ = Warum bist du stets prüfend und heimsuchend präsent? (vgl. 10,13 f). 7,17 fragt fortführend: Warum hast du nicht die Größe, mich einmal einfach nur in Ruhe zu lassen? (vgl. 10,20). An Gottes Größe und Allmacht – an seiner power – müssten eigentlich Hiobs „Sünden“ abprallen. Wenn nicht, wie kleinlich! (7,20a). Daraus ergibt sich das dritte Warum: „Warum machst du mich zum Ziel deiner Anläufe …? (7,20b). So ist nun das vierte Warum vorbereitet: Wenn „Sünde“ und „Schuld“ nicht ein­ fach abprallen, warum hast du, Gott, nicht die Größe, mir „meine Sünde“ oder „meine Schuld“ zu vergeben? (7,21a). Zu dieser Größe oder Macht Gottes (power) müsste es gehören, nicht in Vergeltungsstrukturen gefangen zu sein, sondern in souveräner Freiheit Schuld dahingehen zu lassen. Hier bahnt sich am deutlichs­ ten ein neues Gottesverständnis an: Das Denken der Freunde (4,4–9) trägt nicht mehr, reine Vergeltung passt nicht mehr zur Macht und Größe Gottes, sondern Dahingehen-Lassen und Vergeben müsste eine Möglichkeit sein. Sie wird hier al­ lerdings nicht aus Gnade und Güte heraus begründet, sondern aus Gottes Größe, Allmacht, Freiheit und Souveränität. Sie bleibt noch einklagbare Möglichkeit und damit frag-lich, sie ist noch nicht als Heilswirklichkeit beschrieben. Dass sie hier 263 Ders. ebd. 264 Wiewohl hier nicht vom ‫ פּ ַחד‬ ַ / pachad = „Schrecken“ die Rede ist (vgl. Gen 31,42.53 f), geht es in der Sache doch um die gleiche Gotteserfahrung. Das Verb ‫ ָ ח ַתת‬/ chātat = „erschreckt werden“ ist im Hifil belegt im Sinne von „in Schrecken setzen“, von ‫ ָ פּ ַחד‬/ pāchad = „erschrecken“ (intr.) gibt es einen entsprechenden Beleg nicht. Und ‫עוּתים‬ ִ ‫ ִ בּ‬/ bi῾utim wird für „Schrecknisse“ hier verwendet, weil es sich offenbar im Bild um feindliche Waffen handelt. 265 In der Frageform schwingen freilich Theodizee und Anklage mit.

130

Gott und der Mensch

und jetzt nicht Wirklichkeit werden kann, liegt zudem auch daran, dass Hiob von seiner Unschuld überzeugt ist (6,24.29 f). So bleibt die Theodizeefrage offen und Macht und Größe Gottes eher „erschreckend“ (7,14; vgl. 10,16) als tröstlich. F. Horst bringt es auf den Punkt: „Was ein mysterium fascinosum und damit ein mysterium adorandum sein müsste, wird für Hiob zum ausschließlichen mys­ terium tremendum“.266 Die von Elifas (4,7 f) und Bildad (8,3–7) zur Diskussion gestellte Gerechtigkeit Gottes kann Hiob nicht erkennen. Im Gegenteil: Was sich ihm erschlossen hat, ist Gottes Macht (potestas, power), Gottes Gewalt (violentia, violence), Gottes Willkür (arbitrium, arbitrariness) (9,15–20), und das – wie sollte es anders sein – vor dem Hintergrund seines Unschuldsbekenntnisses (9,21.35). Um die erlebte Gewalt Gottes in all ihren Facetten geht es in Kapp. 9–10. Kapp. 9–10 Das generelle Thema der beiden Kapitel lautet: Vor Gottes Macht kann niemand bestehen. In 9,2 f wird es angeschlagen: Wer gegen Gott streitet, kann nicht Recht behalten. – Diese Macht wird zunächst als Schöpfermacht beschrieben und kann als solche nur in ihrer Abgründigkeit wahrgenommen und in ihrer Unbegreiflich­ keit gepriesen werden. Es ist die Apotheose einer unerforschlichen Weisheit, deren Auswirkungen Hiob nur in apokalyptischen Bildern darstellen und als Wunder bezeichnen kann (9,4–10). Es ist Gottes potestas (power)267. Doch Überwältigung schlägt in Klage um (9,11–24). In 9,27 und 10,1 wird diese Redeform auch wörtlich als Klage bezeichnet. Parallel zu 9,4–10 ist es beschreibende Klage. In dieser Klage formt sich ein erschreckendes Gottesgesicht heraus; der Gott, der seinem Zorn nicht Einhalt gebietet (9,13), der „wegrafft“ (9,12), der nicht erhört (9,11.16), der Recht vorenthält (9,15), ja mehr noch: der „viele Wunden ohne Grund“ schlägt (9,17), der in die Verzweiflung treibt und „tötet“, wahllos, egal ob es den Frommen oder Gottlosen trifft (9,21–23). Macht ist hier keineswegs Schöpfermacht, sondern zerstörerische Gewalt, violentia (violence). Es ist die dunkelste und am wenigsten erklärbare Seite Gottes: Er „tötet“. Der Mensch lebt in der tödlichen Bedrohung durch Gott268. – Dabei gilt es sicherlich zu beachten, dass diese Aussage im Unter­ schied zu Ex 4,24, wo sie erzählend objektiv gemeint war, hier klagend subjektiv ist, d. h. im Verlauf der Hiobdichtung überholt werden kann und überholt werden wird. – Kernsatz, der beide Formen von Macht, konstruktive und destruktive Ge­ walt, vereint, ist 9,19: „Geht es um Macht und Gewalt: Er hat sie …“ – 9,19 im­ pliziert auch noch die dritte Variante der Macht, nämlich die Willkür, arbitrium (arbitrariness): „Geht es um Recht, wer will ihn vorladen?“ Diese Facette deutete 266 A. a. O., S. 120. 267 Vgl. die Verbindung von Macht und Weisheit auch 12,13. In den folgenden Versen wird die zerstörerische Macht entfaltet, im Kontext der Weisheit als Gericht erscheinend. Ganz anders hingegen die Verbindung von Schöpfermacht und Weisheit in Ps 104! 268 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 75.

Hiob 

131

sich auch schon in 9,17 an: Er schlägt ohne Grund, tötet plötzlich (9,23), bringt wahllos um (9,22). Ab 9,30 werden die Konturen des Willkürgesichtes deutlicher: Offenbar „gefällt“ Gott die grundlose Demütigung Hiobs (9,30–31; 10,3; vgl. auch 30,20–23). Die Frage nach dem Warum taucht auf (10,2) und lässt „Gewalt“ (10,3.7) als Willkür erscheinen.269 Willkür ist Wollen ohne Sinn. Welchen Sinn hat es, „gebildet und bereitet“ zu sein, um dann dem „Verderben“ preisgegeben zu werden (10,8)? Keinen! Willkür!270 Bei alledem bleibt Gott undurchsichtig doppelgesichtig: „Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen, und Wunder, die nicht zu zählen sind“ einerseits (9,10), und: Er hat die Erde „in die Hand des Frevlers gegeben, und das Antlitz ihrer Richter verhüllt er …“ andererseits (9,24). Beides ist in ihm, das Gewalt-Tätige wird nicht in eine Gegenmacht, etwa den Satan, extrapoliert: „Wenn nicht er, wer anders sollte es tun?“ (9,24fin)271. Sollte damit die Theodizeefrage gestellt sein, wird zugleich ihre Unlösbarkeit deutlich. Im Klagegebet Kap. 10 tauchen all diese Fragen und Motive in ähnlicher Weise auf. Die Gliederung in 10,7 (Theodizeefrage), 10,8–17 (Doppelgesichtigkeit Got­ tes) und 10,18–22 (Sinnlosigkeit eines von Gott bedrohten Daseins) erscheint sinnvoll272. – Die Theodizeefrage wird in drei Anläufen gestellt: 1. Ist violentia („…dass du Gewalt tust und mich verwirfst …“) eine Ausgeburt von arbitrium („Gefällt’s dir …?“) (10,3)? Hiob stellt diese Frage nicht nur im Blick auf sein ver­ dammtes Leben (10,3b)273, sondern grundsätzlich (10,3c). 2. Ist Gott „kurzsich­ tig“ und kann nicht das Herz ansehen (1.Sam 16,7) (10,4)? 3. Ist Gott von einem sadistischen Jagdtrieb besessen, der nur den „Schuldigen“ sehen will, weil es sonst nichts mehr zu jagen gäbe (10,5–7; vgl. 10,13–16)? Alle drei Fragen mit Ja zu be­ antworten, würde zwar die Theodizeefrage beantworten, zugleich aber auch so, dass Gottes Gottheit desavouiert wäre. Alle drei Fragen mit Nein zu beantworten, widerspräche Hiobs unmittelbarer Erfahrung. – So bleibt nur eines: den Wider­ spruch zwischen Gott, dem Schöpfer und Erhalter und dem Verfolger und Zer­ störer auszuhalten und, da hinterfragen sinnlos erscheint, zu erleiden (vv 8–10). „Bewahren“ (10,12) und „Jagen“ (10,16) sind beide in Gott, und Gott gerät zum Zerrbild, wenn und weil er nur bewahrt, um jagen zu können. Hier ist wieder 269 Im Hiobbuch kumulieren Gottesbilder der Gewalt. So kommt es hier zum Erscheinungs­ bild Gottes als „eines ultimativen Gewalttäters“ (G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 146), besonders in der grundlosen Jagd Gottes auf Hiob (vgl. auch 6,4) und in Gottes „er­ schreckendem“ Handeln (10,15 f; vgl. 7,14). 270 In diesem Zusammenhang sind auch Hiobs Fragen nach den Sinn seiner Geburt und seines Lebens überhaupt zu interpretieren (3,1–26; 6,9; 9,21; 10,18). 271 In 18,13 f wird der Tod personifiziert: „der Erstgeborene des Todes“; ebenso das Toten­ reich von einem „König der Schrecken“ beherrscht. Hier hat man aber nicht von einer extra­ polierten Gegenmacht auszugehen, sondern von mythisch gefärbter Metaphorik, die zum dich­ terischer Repertoire gehört. 272 Nach A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 78 ff. 273 „das Werk deiner Hände“ ist Hiobs Leben (vgl. 10,8; 14,15).

132

Gott und der Mensch

Gottes Souveränität bedroht, aber die Theodizeefrage, in aller Radikalität gestellt, muss wohl an diese Grenze führen, selbst wenn sie auch dort keine Antwort findet. Kapp. 12–14 Kapp. 12–14 sind Hiobs Antwort auf Zofars erste Rede (Kap. 11), in der dieser jenem angesichts von Gottes Weisheit Hohlheit, Eselei und Überheblichkeit at­ testiert. Hiob weist das zurück, indem er das traditionell unstrittige Wissen ent­ faltet (12,12–25): Gottes Weisheit und Gewalt, sich zeigend in seiner Allmacht, Parteilichkeit und Unberechenbarkeit (so auch schon Zofar 11,8–10). „Gewalt“ ist hier ein Gott selbstverständlich zugesprochenes Prädikat, es ist Gottes potes­ tas (power), seine ‫בוּרה‬ ָ ְ‫ גּ‬/ gᵊvurāh, seine Macht(erweisung), seine Überlegenheit, sein „unverfügbares und unzugängliches Tun“274. Vor dem Hintergrund des Un­ strittigen aber wird das Profil Hiobs deutlich: Er ist der nach Gottes Gerechtig­ keit Fragende angesichts seiner Unschuld (13,15.18; vgl. 9,21.35); er ist der nach Gottes Großzügigkeit Fragende angesichts der quälenden, nahezu sadistischen Kleinlichkeit (14,1–14). Nicht nur der Fragende, sondern der Klagende und An­ klagende (13,18 f). Gott möge sich rechtfertigen. Die „Prozessordnung“ wird festgelegt (13,20–22). Die Theodizee-Frage (13,24–26) wird zur Gottes-Anklage (13,18). Kann das eine Lösung der Theodizee-Frage sein? Aufhebung der Frage und Umwandlung in eine Anklage? Wenn Hiob Recht behält, dann ist Gott auto­ matisch im Unrecht (13,18). Ist das eine theologische und existentielle Denk­ möglichkeit? Es wäre die Negation Gottes. Hiob setzt damit alles aufs Spiel, sich selbst; denn im umgekehrten Fall würde er zugrunde gehen. Aber offenbar geht es nicht anders. Weil Trennung von Gott für ihn schon deshalb keine Möglich­ keit ist, weil Gott selbst mit stechendem Blick über ihm wacht (14,3.6; vgl. 7,19), bleibt nur die Gottes-Anklage als Form der lebenserhaltenden Gegengewalt. Ob damit auch die Theodizeefrage einer Antwort zugeführt wird, bleibt abzuwarten. Die Tragik Hiobs besteht darin, dass er sich einerseits wünscht, als Sterblicher bald zu sterben und bis dahin von Gott in Ruhe gelassen zu werden (14,6.13; vgl. 6,9; 7,19), andererseits unter Inkaufnahme der Leidensverlängerung sein Leben vor Gott im Rechtsstreit verantworten zu können (13,15). Im Vorblick auf den „Prozess“ entsteht in ihm ein Wunschbild von Gott: nicht etwa ein Gott, der sich selbst aufhebt, weil er Hiob zu Unrecht verfolgt hätte, sondern ein Gott, der zu­ hört, der den Mensch als sein Geschöpf liebt, der Vergebung schenkt, wo immer sich Schuld – auch bei Hiob – aufgetan hätte (14,15–17). Das wäre ein für beide Seiten glücklicher Prozessausgang. Beide könnten fortbestehen, Hiob unter der von ihm selbst anerkannten Prämisse: „Kann wohl ein Reiner kommen von Un­ reinen? Auch nicht einer!“ (14,4)275, Gott als großzügiger und vergebender (14,17; 274 F. Horst, a. a. O., S. 193. 275 14,4 steht im Zusammenhang somit keineswegs „isoliert“ da, wie F. Horst, a. a. O., S. 207 meint, sondern ist Teil von Hiobs (An)klage, die ja eigene Übertretungen keineswegs ausschließt

Hiob 

133

vgl. 7,21). Das Wunschbild aber zerbricht unter dem erlebten Gott: „Du machst die Hoffnung des Menschen zunichte. Du überwältigst ihn für immer, … du ent­ stellst sein Antlitz und lässt ihn dahinfahren“ (14,19b.20). Es ist der verletzende (violence) und ohne Grund verwerfende (arbitrariness) Gott276. Kap. 16 Die Frage nach der Gewalt-Tätigkeit Gottes wird für Hiob immer dringender. In der Dichtung wird die Frage auf die Spitze getrieben durch die zweite Rede des Elifas, in der es heißt: „Hast du zugehört im Rat Gottes und die Weisheit an dich gerissen?“ (15,8). Eine rhetorische Frage, die Hiob – auf der Ebene der Dich­ tung – in seiner scheinbaren Überheblichkeit zurechtweisen soll, die aber nach der Intention des Dichters den Weg weist, an dessen Ende sich die Gottesfrage und damit auch die Theodizeefrage löst. D. h.: Gottes Gewalt-Tätigkeit wird – auch für Hiob – nur zu erklären sein, wenn es gelingt, in Gottes Ratschluss und damit in sein Wesen einzudringen. Dass Gott das zulässt, belegen Jer 23,18.22 und Jer 30,21277. Am Ende wird es so weit sein: „Ich hatte von dir nur vom Hö­ rensagen vernommen, aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (42,5). Bis dahin ist aber noch eine Strecke des Leidens an Krankheit, Freunden und Gott zu durch­ messen. – In 16,7–17 begegnet zunächst der feindliche, verletzende, tötende, d. h. auch die sozialen Beziehungen zerschneidende Gott, Gott also in seiner violentia, dargestellt als reißendes Raubtier (16,9), als gewaltsamer Vernichter (16,12), als sadistischer Schütze (16,12 f; vgl. 6,4), als zerstörender Krieger (16,14). Er begeg­ net zugleich auch in seinem arbitrium, seiner Willkür; denn er hat „die Nieren durchbohrt“ (16,13), „obwohl kein Frevel in meiner Hand und mein Gebet rein ist“ (16,17). Von allen Freunden allein gelassen (vgl. Mk 14,50!), kann Hiob nur noch an Gottes Parteilichkeit appellieren und Gott gegen Gott zu Hilfe rufen. Das geschieht in vier Anläufen: Das von Gott vergossene Blut (16,12–14) soll zu Gott schreien278 und den Gewalt-Täter vor ihm anklagen (16,18; vgl. Gen 4,10). Hiob ruft den gewalt-tätigen Gott als „Zeuge“ und „Fürsprecher“ für seine Unschuld (14,17; vgl. 7,20 f; 10,14). Auch in den unmittelbaren Kontext fügt sich 14,4 ein: „Der Mensch, vom Weibe geboren“ (14,1) ist eo ipso mit Unreinheit behaftet (vgl. Lev 12,2 in Verbindung mit Lev 15,19) (A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 102), bestätigt auch noch einmal durch Elifas (15,14). 276 14,13–17 ist überbewertet, wenn A. Weiser hier einen kurzen Durchblick Hiobs auf den „gütigen Erbarmer“ sieht (a. a. O., S. 104; 106). Es ist und bleibt eine fromme Wunschvorstellung, zum gegenwärtigen Zeitpunkt irreal. Es ist daher verfehlt, die Frage nach dem gnädigen Gott zur „brennende(n) Frage des ganzen Hiobbuches“ (a. a. O., S. 109) zu erheben. 277 Wenn 15,7 auch auf den Urmensch-Mythos hinweist, muss er hier nicht zur Erklärung bemüht werden (gegen F. Horst, a. a. O., S. 223). 278 Die Lutherübersetzung bietet „mein Schreien“. Aber nach BHS ist auch „sein Schreien“ (scil.: das Schreien des Blutes) möglich. Zur Bevorzugung dieser Lesart vgl. H.-J. Hermisson, „‚Ich weiß, daß mein Erlöser lebt‘ (Hiob 19,23–27)“ in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS Otto Kaiser zum 80. Geb.) II, Berlin, New York 2004, S. 676 Anm. 32.

134

Gott und der Mensch

an (16,19). Gott möge gegen Gott im Rechtsstreit auftreten und Hiob recht schaf­ fen – einem „Freund“ (16,21) muss das doch zuzutrauen sein (16,20). Gott lege bei sich selbst für Hiob die Hand ins Feuer, sei sein Bürge (17,3)279. Gott gegen Gott auf den Plan zu rufen wäre Selbstmord, wenn Hiob nicht an den Sieg der Schöpfermacht gegen die pure Gewalttätigkeit, an den Sieg des Rechts gegen die Willkür glaubte. Er glaubt daran; denn er blickt vertrauensvoll auf zu dem Gott (16,20), der Recht verschafft dem Mann bei Gott (16,21). Und dieser Gott aus 16,21, der der Kontrahent Gottes aus 16,20 ist, wird letztlich doch auch nichts anderes sein als Hiobs Freund. Das legt der parallelismus membrorum aus 16,21 nahe280. – Hierin liegt eine Spitzenaussage der Hiobdichtung: Im Wesen Gottes ist das Gute und das Böse, konstruktive und destruktive Macht, Recht und Willkür vereint281 (vgl. auch den Rahmen: 2,10); beides offenbart sich in gegensätzlicher Weise in der Welt. Aber das Gute wird das Böse einholen in Gott, das Recht wird siegen in Gott, der Erlöser in Gott ist stärker als der Bedränger, und so wird er auch „als der Letzte … über dem Staub sich erheben“ (19,25). – Wer dies erkennt – und Hiob wird es erkannt haben –, ist der nicht dem „Ratschluss Gottes“ ganz nahe? Hiob jedenfalls ist davon überzeugt, dass er den „sehen“ wird, nach dem sich sein Herz „sehnt“ (19,27); ihn, dessen „Gewalttat“ sich jetzt noch als Tötungs­ versuch und Willkür darstellt (19,7), der sich aber als sein „Erlöser“ erweisen wird (19,25). In dieser Hinsicht steht die Dichtung dem Prosarahmen in nichts nach. Sie wirkt der drohenden personalen Spaltung Gottes in Gott und Satan ent­ gegen und schreibt Gott ein alles in allem unergründliches Wesen zu282. – Noch aber versinkt Hiob, beim Genick gepackt und in die Finsternis geworfen, in tiefer Hoffnungslosigkeit (17,13–16).

279 Entweder nach dem masoretischen Text: „Setze doch fest: du bürgst für mich (‫ עָ ְר ֵבנִ י‬/  ῾ārᵊvēni) bei dir …“ – oder nach abweichender Vokalisation: „Setze doch fest mein Pfand (‫ עֵ ְרבֺנִ י‬/  ῾ērᵊvōni) bei dir … wer sonst wird in meine Hand schlagen?“ Auch in der zweiten Variante müsste man im Sinne der ersten interpretieren (mit A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 130 f gegen F. Horst, a. a. O., S. 257 f; ausführlich H.-J. Hermisson, „‚Ich weiß, daß mein Erlöser lebt‘ [Hiob 19,23–27]“, a. a. O., S. 677 gegen F. Horst u. andere). Deutlichste neutestamentliche Par­ allele: Eph 1,13. 280 Zu Unrecht lehnt daher M. Köhlmoos die Deutung Rechts-Gott gegen Willkür-Gott ab. Ihre Begründung: „Nirgends läßt Hiob in seinem Gottesbild andere Züge als die seines Ver­ nichters erkennen“ (a. a. O., S. 241). Das stimmt hier ebenso wenig wie in seinem Hoffnungsbild 14,15–22. 281 So auch F. Horst, a. a. O., S. 255. Umso unverständlicher, dass Horst im „Fürsprecher“ von 16,19 einen Dritten ausmachen will, der zwischen Gott und Mensch vermittelt. 282 Es geht hier also nicht – wie z. B. bei der Sintflut – um die „Monotheisierung der poly­ theistischen Möglichkeit, wider den Zorn eines Gottes die Fürsprache und das Einschreiten eines anderen … zu erflehen“ (F. Horst, a. a. O., S. 256), sondern um den Ausschluss einer aus dem Wesen Gottes heraus entstehenden Personifikation des Bösen.

Hiob 

135

Kapp. 18–19 In Bildads zweiter Rede wird sehr deutlich, was in gleicher Weise auch schon die Freundesreden davor prägte: ein Gottesverständnis, dem Theodizee keine Frage ist, und daraus resultierend eine Ethik, die aus der „Einsicht“ (18,2) in den LohnStrafe-Gedanken resultiert. Vor diesem Hintergrund hebt sich Kap. 19 ab und gewinnt seine Konturen. Gott steht zutiefst in Frage: „Siehe, ich schreie ‚Gewalt!‘ und werde doch nicht gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da“ (19,7). In dieser Gottesfinsternis ist kein Raum für ethische Maximen und Entwürfe; denn der Mensch, so von Gottes Jagdnetz eingefangen283, kann nichts tun: „Er hat meinen Weg vermauert, dass ich nicht hinüber kann, und hat Finsternis auf meine Steige gelegt“ (19,8). Gott ist für Hiob der Gewalt- und Unrecht-Täter. Er hat Hiob „gekrümmt“ (‫ עִ ּוֵ ת‬/ ῾iwwēt = krümmen, beugen [in Bezug auf das Recht]) (19,6) und damit sein Recht gebeugt. Sein Recht besteht darin, die ihm von Gott angetane Gewalt anzu­ prangern und mit dem Ausruf „Gewalt“ zugleich Rechtshilfe anzufordern. Aber von wem, wenn kein Gott hört, der gegen Gott antreten will (vgl. 16,20)? Dabei müsste er doch hören, wie er die Stimme des Blutes Abels gehört hat (16,18). Aber der verletzende und zerstörende Gott (19,9 f) hört nicht. Die violence- und arbi­ trariness-Seite scheint sich in Gott durchgesetzt zu haben. Die Hiob-Dichtung treibt hier einer Entscheidung zu: Ist Gott der Feind des Menschen? Beließe sie es bei einer in diesem Sinne positiven Antwort, müsste die Reaktion des Menschen Abwendung oder Bekämpfung sein. Ein derartiger Atheismus oder Antitheismus liegt aber nicht im Blickfeld des alttestamentlichen Denkens. Im Übrigen – wollte man diese Linie spekulativ ausziehen – müsste der Mensch der ewige Verlierer bleiben, und er würde sich am Ende selbst zerstören. 19,10 würde letzte Wahrheit bleiben. Das aber ist für Hiob (und den Hiobdichter) undenkbar. Daher muss sich theo­ logisch, existential und formal an der Stelle tiefster Verzweiflung das Wunder der Wende ereignen. Theologisch: Der Gott, der Hiob „gekrümmt“ und das Recht „gebeugt“ hat, muss erneut eine Krümmung vollziehen, nun aber vom Unrecht zum Recht, vom Gewalt-Täter zum (Er)löser, vom Feind zum Freund. Existential: Die Hoffnung auf den sich selbst überwindenden und zum Recht durchringenden Gott (16,18 ff), die trotz gegenteiliger Erfahrungen nie aufgehört hat, wird hier (19,25) zur Gewissheit, aber nicht im Sinne einer Entwicklung, sondern im Sinne eines Quantensprungs284. Darin liegt das Wunder. Das kann formal gar nicht

283 Auch hier ist in Hiobs Augen Gottes Willkür am Werk – seine Antwort auf Bildads Sicht, er sei selbst schuld an seiner Verstrickung (vgl. 19,7–11). 284 Daher ist die von Weiser beschriebene Stufenfolge irreführend. Danach „steigt der Glaube des Hiob jedesmal weiter empor … (14,13 ff) … (16,18 ff) … (17,3 ff), um in 19,23 ff den Gipfel der Glaubensgewissheit zu erklimmen“ (kursiv von mir) (a. a. O., S. 143).

136

Gott und der Mensch

besser dargestellt werden als durch den von den Psalmen her schon bekannten plötzlichen Umschwung (Ps 22,22 f; 28,6; 31,6.20 u. ö.)285. Die Gewissheit muss sich noch, wird sich bestimmt als wahr erweisen. Daher die Rede in der Zukunft (‫ יָ קוּם‬/ jāqūm = er wird sich erheben; ‫ ֶ א ֱחזֶ ה‬/ ’ächᵆsäh = ich werde schauen; ‫ ָ ראוּ‬/ rā’ū = sie haben gesehen286). Es ist die Gewissheit, dass Gott „letztinstanzlich“ gegen sich selbst als Rechtswahrer auftreten wird (vgl. 16,20 f). Es ist die Gewissheit, dass der Erlösergott den Feindgott überwinden wird287, ja dass der Erlöser hinter dem Zerstörer schon präsent ist (vgl. das futurische Per­ fekt in 19,27). Und es ist darüber hinaus die nie bezweifelte Gewissheit, dass es ein und derselbe Gott ist, der sich in der persönlichen Geschichte eines Menschen von verschiedenen, teils gegensätzlichen Seiten zeigt („ich werde … Gott schauen“ [19,26b])288. Diese Gewissheit wird ihm persönlich zuteil: „Aber ich (‫ וַ ֲאנִ י‬/ wa’ᵃni) weiß …“ (19,25). Das betonte Ich weist auf die persönliche, unableitbare Gottes­ erfahrung hin, zugleich grenzt es die Glaubensgewissheit gegen die Schulweisheit der Freunde ab. Hiobs Gewissheit wird durch die ihm zuteil werdende Theophanie Kap. 38 ff bestätigt werden (vgl. bes. 42,5)289. Man wird Hiobs Gewissheit als eine mit dem alttestamentlichen Glauben kon­ forme innerweltlich-eschatologische Gewissheit bezeichnen dürfen. So wird sich „mein Erlöser“ (‫ גּ ֲֺאלִ י‬/ go’ᵃli) sowohl in zeitlichem wie auch in modalem Sinn „als letzter“ über dem Staub erheben: Zuletzt wird er als der sich erweisen, der er von Anfang immer war: der mich trotz Krankheit und Leid, ja mit allem, so gewollt hat. Er ist initium und finis (temporaler Aspekt) und darin zugleich principium (modaler Aspekt) meines Lebens, als principium oft bis zur Unkenntlichkeit verborgen. Demgegenüber wird gelegentlich eine postmortal-eschatologische Deutung der vv 25– 27 vertreten. Abgesehen davon, dass schon Hieronymus und ihm folgend Luther den v 25 im Sinne einer Auferstehung von den Toten paraphrasiert haben (vgl. den lateini­ schen Text bei A. Weiser, a. a. O., S. 153), hat insbes. A. Weiser die persönliche Gottesbe­ gegnung Hiobs postmortal verstanden (a. a. O., S. 140–153). Sein Hauptargument ist das Sich-Erheben des Erlösers „auf dem Staub“. Das deute „am ehesten auf die Theophanie nach dem Tode des Hiob“ hin; denn der sei „im Tode wieder ‚zum Staube‘ zurückge­ 285 H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 15. 286 Die Perfektform ist hier im Sinne des Futur II zu deuten. Das liegt im Zuge der Erhörungs­ gewissheit (perfectum propheticum). 287 Die Wendung „als der letzte“ (‫א ֲחרוֹן‬/’achᵃrōn) ַ drückt diesen letztendlichen Sieg des Be­ freiergottes aus, woraus sich Hiobs Rechtfertigung ergeben wird. 288 Ich bleibe bei der Lutherübersetzung von 1984: „Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen.“ Die Lutherbibel 2017 schlägt vor: „Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen“. Im Blick auf dieText- und Lesevarianten lässt sich beides vertreten. Die Variante 2017 verstärkt allerdings die Tendenz zu einem postmortalen Verständnis der Gottesschau. 289 In der Erscheinung bekennt sich Gott zu dem, den er seiner Gegenwart für würdig hält (A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 151).

Hiob 

137

kehrt“, wie Gen 3,16 lehre. Man könne dabei auch „an die Erscheinung Gottes über Hiobs Grab“ denken; auf jeden Fall aber müsse an einer „Gottesbegegnung jenseits von Hiobs Tod“ festgehalten werden – ein „gewagter“ und beachtlicher „Durchbruch durch die geläufige alttestamentliche Vorstellung, daß mit dem Tod auch die Beziehungen zu Gott aufhören“290. – Dagegen ist jedoch einzuwenden: 1. Gerade die – auch von Weiser gesehene – zeitliche und modale Bedeutung von „als letzter“ spricht für die innerwelt­ lich-eschatologische Erklärung. 2. H. Strauß führt an: „Die Annahme eines wie auch im­ mer gearteten Vorgangs nach seinem Tod widerspräche nicht nur diesem Text in seinem Kontext, sondern … dem des ganzen Hiobbuches, das weiß: ‚Wer hinabstieg ins Unland, wird nicht wieder hinaufsteigen‘ (Hi 7,9)“291. 3. Der Ausdruck „Erlöser“ (‫ גּ ֵֺאל‬/ go’ēl) kann nicht als Beleg für eine Auferstehungshoffnung herangezogen werden. Ausgehend von der hebräischen Wortbedeutung „Nothelfer“, „Rechtsvertreter“ argumentiert Weiser zwar, dass Gott in Hiobs Augen dessen Erbe „gleichsam als Treuhänder“ verwalte, „wenn dieser nicht mehr am Leben ist“292; aber diese Rechtsvertretung ist doch gerade für dieses Leben erwünscht (17,3)! Hinzu kommt die mögliche Assoziation an die Ver­ bindung von „Löser“ mit „Blut“ (= „Bluträcher“ [‫ל־ה ָדּם‬ ַ ‫ גּ ֵֺא‬/ go’ēl haddām] [2.Sam  14,11]). Der „Bluträcher“ rächt einen Ermordeten. Wäre nun der von Gott „Ermordete“ Hiob, so wäre der „Bluträcher“ oder „(Er)löser“ nun auch in Gott angesiedelt. Der „Feind“ wird vom „Freund“ überwunden – in Gott. Man kommt an jener innergöttlichen Span­ nung im Hiobbuch nicht vorbei293 – und muss zugleich zur Kenntnis nehmen, dass Spannung und Lösung zwar ein jenseitiger Prozess ist, die Auswirkung derselben aber persönlich, geschichtlich, innerweltlich sind und auf eine Rehabilitation Hiobs bzw. auf die iustificatio peccatoris hinauslaufen werden. 4. Der älteste „Kommentar“ zu Hiob, die Elihureden, versteht die „Erlösung“ innerweltlich als Zueignung von Gerechtigkeit und neuem Leben statt ewiger Trennung von Gott (33,23–28). 5. Wenn die Dichtung auch nachexilisch ist, reicht sie zeitlich noch nicht an den „Rand“ des Alten Testaments (Jes 26,19; Dan 12,2 f). Erst hier beginnt eine Vorstellung vom Leben nach dem Tod zu wachsen294.

Kapp. 20–27 Gemäß dem Tun-Ergehen-Zusammenhang konstruiert Elifas in seiner dritten Rede Verfehlungen Hiobs gegen Gott und Menschen (22,4–11) – ganz im Gegen­ satz zu Hiobs Selbstzeugnis 29,12–17. Sein Vorschlag zur Versöhnung mit Gott (22,22–26) fordert eine Krümmung von Hiob, d. h. eine Umkehr und Unterwer­ 290 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 151. Neuerdings bezieht auch H. Spieckermann 19,25–27 „nicht auf eine in diesem Leben erhoffte Heilserfahrung, sondern auf Partizipation am Leben des Erlösers jenseits der geschundenen irdischen Existenz“ („Wunden – Wunder – Weis­ heit. Aspekte des Hiobproblems“ in: M. Witte [Hg.], Hiobs Gestalten, Leipzig 2012, S. 22). 291 H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, a. a. O., S. 18. 292 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 150. 293 H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, a. a. O., S. 16. 294 Ganz anders versteht M. Köhlmoos die Worte Hiobs: „Den ‫ גאל‬kann Hiob … nur ‚ohne sein Fleisch‘ schauen, d. h. jenseits des Todes, also gar nicht. So ist die Gewißheit des ‫ גאל‬parado­ xerweise keine Hoffnungsaussage“ (a. a. O., S. 277). – Resignativer Sarkasmus ist der Hiobgestalt allerdings sonst nirgends eigen! Zur Kritik an M. Köhlmoos vgl. auch M. Rohde, a. a. O., S. 95.

138

Gott und der Mensch

fung. Hiobs „Antwort“ jedoch drängt auf einen Rechtsstreit mit Gott (23,3–5), aber er spürt auch, dass der, der sich ihm stellen möge, nicht zu packen ist (23,8–9), sich verbirgt und nach dem „Gesetz“ der Willkür handelt (23,13). Nicht mal mehr Partei ergreift er für die Schwachen, Armen, Waisen und Sterbenden (24,1–17) und verfehlt so seine Aufgabe als Beherrscher des Chaos. In Kap. 25295 kann man von einer scheinbaren Annäherung der Standpunkte sprechen. Was Bildad hier über die Gerechtigkeit und Reinheit des Menschen vor Gott sagt, hatte Hiob schon in 14,4 vorweggenommen. Freilich sind die Folge­ rungen aus dem Satz der grundsätzlichen Unreinheit vor Gott verschieden: Für Hiob entsteht daraus das Desiderat einer göttlichen Vergebungsbereitschaft, für Bildad die Forderung an Hiob, zu seinen Aktualsünden zu stehen und sie zu be­ kennen. Von dieser Forderung konsterniert, fällt Hiob hinter das Wunschbild von 14,4.17 zurück und erklärt sich selbst für gerecht (27,5). Hier wird trotz schein­ barer Annäherung der Abstand zu Bildad wieder deutlich, zugleich aber auch, was ihn noch von Gott trennt: eine zutage tretende Selbstgerechtigkeit, die sich anschickt, „euch über Gottes Tun (zu) belehren, und wie der Allmächtige gesinnt ist …“ (27,11). Diese Form übersteigerter Selbstgerechtigkeit lässt sogar die Frage nach Gott (Theodizeefrage) in den Hintergrund treten, weil Überheblichkeit sich von Gott, „der mir mein Recht verweigert“ (27,2), absondert296. Damit manö­ vriert sich Hiob in eine Sackgasse, aus der ihn erst Gott wird herausholen können (Kapp. 38 ff)297. Kap. 31 Einmal in der Sackgasse, lässt sich Hiob auf eine Selbstrechtfertigung ein. So bemüht sich 31,5–34, die Schuldlosigkeit anhand der Aufzählung möglicher, aber nicht getaner Einzelsünden zu belegen. Dabei ist eine Struktur zu erken­ nen: Anhand eines Lasterkatalogs298 stellt sich Hiob Kontrollfragen, die nach jeweils höchstens drei Fragen durch Beteuerungen der Reinheit299 unterbrochen 295 Bildads letzte Rede wirkt rudimentär. Anders H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, a. a. O., S. 103 f, der 25,1–6 und 26,5–14 zur dritten Bildad-Rede zusammenbindet. 296 „So wahr Gott lebt“ ist zunächst nur Schwurformel zur Beteuerung der eigenen Gerech­ tigkeit, weist aber im Zusammenhang natürlich auch auf die eigenartige Dialektik in Gottes Wesen hin. 297 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 195. 298 Die Nachwirkung einer alten Kulttradition, die im Bundeskult ihren festen Platz hatte, ist zu spüren (vgl. Dtn 26,13 ff). Hier ist sie aktualisiert und in einen „Rechtskontext“ hineingestellt (M. Köhlmoos, a. a. O., S. 124 u. 316). 299 Herbeiwünschen des Gottesurteils (31,6.14 f) + mögliche Selbstverfluchung (31, 8.10.​ 22 f.40) + mögliche Selbstverurteilung (31,11 f.28) + Erweis des Gegenteils der Schandtat („Nein …!“) (31,18.20.30.32). – Trotz geistiger Verwandtschaft mit dem litaneiartigen Spruch 125 des ägyptischen Totenbuchs liegt hier eigenständige Reflexion und unabhängige literarische Arbeit zugrunde. Das bestätigt nach gründlicher vergleichender Untersuchung auch A. Kunz, „Der Mensch auf der Waage“ in BZ 45/2001, S. 235 ff, bes. S. 250.

Hiob 

139

werden300. Hiob reklamiert für sich auf diese Weise ein Gott gemäßes ethisches Verhalten. Dass er damit nicht der Sicht und dem Handeln Gottes gerecht wird, werden die Kapp. 38–42 erweisen. – Die Theodizeefrage (vgl. 31,1–4)301 rundet das Kapitel ab: Hiob bedauert, keine „Anklageschrift“ Gottes in der Hand zu ha­ ben302. Er würde alles dafür geben und sich wie ein König fühlen in dem Bewusst­ sein, sich dann wie ein Fürst – auf Augenhöhe – seinem Herrn nahen zu können (vgl. Jer 30,31). Hier „sind die Worte Hiobs zu Ende“ (Schlussvers). Nur Gott kann jetzt noch auf die bedrängenden Fragen antworten. So liegt die natürliche Fortsetzung in Kapp. 38 ff. Kapp. 38,1–40,5 Gott hat bisher geschwiegen. Er hat sich vor den Augen und Ohren Hiobs ver­ hüllt. Nun bricht Gott sein Schweigen. Er lässt sich von Hiob herausfordern. Der Vorwurf der Blindheit und Ungerechtigkeit steht im Raum, aber natürlich auch der verletzenden und willkürlichen Gewalt. Mit der Herausforderung einer An­ klageschrift beansprucht Hiob, Gott nahe treten zu dürfen. In diesem Rahmen ist 38,1 der Höhe- und Wendepunkt des Dramas. Hiob ist Gott so nahe getreten, dass dieser sich zu einer Antwort veranlasst sieht. „Und der Herr antwortete Hiob …“, das ist die Wende von der Verschlossenheit zur Öffnung, von der Abwesenheit zur Gegenwart, von der Verhüllung zur Begegnung. Gott ist nicht nur der sich verbergende, sondern mehr noch (Achtergewicht!) der sich offenbarende, nicht nur der abwesende, sondern mehr noch der erscheinende, nicht nur der dunkle, sondern mehr noch der hörbare und sichtbare (Wettersturm = Theophanie mit Audition und Vision) Gott. Doch welches Gesicht zeigt Gott? Gott zeigt sich als letzte Instanz. Sein Rat­ schluss ist nicht mehr hinterfragbar. Er gilt – widerspruchslos. Er ist weise und gerecht, keinem menschlichen Gerechtigkeitsmaßstab unterworfen. Die Frage nach Gottes Gerechtigkeit wird als „Verdunkelung des Ratschlusses mit Worten ohne Verstand“ abgewiesen. Die Theodizeefrage ist ein menschliches, kein gött­ liches Problem. Mit seinem Herr-Sein303 verbindet sich Gewalt, Macht (potestas, power). Sein Verweis auf seine Schöpfung („Wer hat …?“) lässt ihn unermesslich 300 Aufgrund der erkennbaren Struktur halte ich Kap. 31 für literarisch weitgehend homogen. M. Witte rechnet allerdings bei 31,1–3.11 f.23.28.33 f.38–40 mit „späteren Fortschreibungen“ („Hiobs ‚Zeichen‘ [Hiob 31,35–37]“ in: M. Witte [Hg.], Gott und Mensch im Dialog II, a. a. O., S. 733 Anm. 54). 301 Im Unterschied zu H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, a. a. O., S. 213 halte ich 31,1–4 für ur­ sprünglich, weil sie wie 31,35–37(38–40) den Rahmen für den so genannten Reinheitseid bilden. 302 So A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 216 und R. Lux, a. a. O., S. 210 f; anders A. Kunz, „Der Mensch auf der Waage“, a. a. O., S. 239 und S. 249, der an eine dritte Person als Ankläger denkt. 303 Nur hier, in den Reden Gottes aus dem Wettersturm, wird Gott mit „der Herr“ bezeichnet. In der übrigen Dichtung ist er nur „Gott“ bzw. „ der Allmächtige“ (‫ ָ שׁ ָדּי‬/ schāddāj). Zur Ausnahme 12,9 vgl. A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 92 und R. Lux, Hiob, a. a. O., S. 60 Anm. 53.

140

Gott und der Mensch

groß erscheinen und in seiner Größe auch der Schöpfung ein lebenserhaltendes Maß und schützende Begrenzungen setzen (38,5.8–11). Es ist eine Demonstration des Gewaltigen, ohne etwas von violence oder arbitrariness zu zeigen. Der Hiob­ dichter will sagen: So ist Gott, so will er, so kann er gesehen werden – in seiner „potentia absoluta“ (Spieckermann304). Gott demonstriert seine Größe zudem in der Weise, dass er Hiob „in Frage stellt“ („Hast du …?“, „Bist du …?“, „Kannst du …?“, „Weißt du …?“)305. Er weist ihm, dem Aufbegehrenden, dem Nahe-Treten-Wollenden, seinen Platz als Ge­ schöpf in der Schöpfung zu. Nun ist Hiob Gottes Macht und Gewalt bekannt, und seine Stellung vor Gott ist ihm bewusst (9,4 ff und 9,14 ff; 12,9 ff und 13,15). Wozu also eine solche Rede des Herrn aus dem Wettersturm? Die Folge ist, dass Hiob seine unermessliche Geringheit vor Gott erkennt und zum Schweigen gebracht ist (40,4 f)306. Ist das auch Gottes Absicht?307 Darüber wird die zweite Rede des Herrn aus dem Wetter­ sturm (40,6–41,26) Aufschluss geben308. Kapp. 40,6–41,26 In einer erneuten Audition und Vision weist Gott Hiobs Ansinnen eines Rechts­ streits entschieden zurück (40,8). Wiederum zeigt er ihm unmissverständlich seine Grenze als Geschöpf auf: Hiob ist Mensch und nicht Gott (40,9–14). Ein Geschöpf kann nicht über die letzte Instanz, Gott, zu Gericht sitzen; ein Geschöpf kann seine Gerechtigkeit nicht auf einem Schuldspruch über Gott aufbauen. Denn die „Gerechtigkeit des Menschen“ ist ein Urteilsspruch Gottes über den Menschen, eine Zuerkennung, die er geben oder verweigern kann. Das sagt 40,8 deutlich aus, wenn man ihn von hinten her liest: „Du kannst nicht recht behalten, indem du mich schuldig sprichst und so mein Urteil über dich zunichte machen willst.“ Aber welches „Urteil“ ist gemeint? Betrachtet man die Selbstdarstellung Gottes in seinen beiden Reden, so ist es das Urteil: Du, Mensch, bist zu gering, als dass du meinen Ratschluss durchschauen, gegen meine Macht und Gewalt auf­ begehren, geschweige denn von deinen Gerechtigkeitsvorstellungen her mit mir in den Rechtsstreit treten könntest: „Wer ist denn, der vor mir bestehen könnte? Wer kann mir entgegentreten und ich lasse ihn unversehrt? Unter dem ganzen 304 H. Spieckermann, „Wunden – Wunder – Weisheit“, a. a. O., S. 21. 305 A. Weiser, Das Buch Hiob, a. a. O., S. 242. 306 40,1–2 ist ein späterer Kommentar zu Hiobs Aufbegehren, dem „Herrn“ in den Mund gelegt. 307 Absicht und Folge liegen in Gottes Heilshandeln stets ineinander. Im Handeln selbst ent­ falten sie sich in der Geschichte in einerseits finalem, andererseits konsekutivem Sinn (vgl. dazu W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin 61988, Art. ἵνα, Sp. 767). 308 Die zweite Gottesrede gehört konstitutiv zur Hiobdichtung hinzu, weil Gottes Macht und Recht in den Dialogen eine untrennbare Einheit bilden (gegen den Versuch von M. Köhlmoos, die zweite Gottesrede als sekundär zu erweisen, a. a. O., S. 69).

Hiob 

141

Himmel keiner!“ (41,2b-3)309. Damit ist die Klage – im Sinne des Rechtsstreits – abgewiesen. – So hat nun Gott den Klageweg zugelassen, um am Ende die Klage abzuweisen. Der Rechtsstreit wird „entschieden“, indem er nicht stattfindet. Diese höchst unbefriedigende Situation kann nur noch durch die Antwort des Hiob aufgelöst werden. Kap. 42,1–6 Hiob spricht sich schuldig: „Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche“ (Luther 1984)/„gebe ich auf und bereue in Staub und Asche“ (Luther 2017).310 (wörtl.: „Darum werde ich verwerfen [erg.: mein bisheriges Re­ den], und ich habe Reue empfunden über Staub und Asche“)311 (40,6). Kann da­ mit die Situa­tion gelöst sein, dass er – vielleicht wider besseres Wissen – vor Gott genau das tut, was er vor seinen Freunden nie und nimmer konnte, wenn er sich nicht selbst verleugnen wollte? Nein! Aber sein Schuldbekenntnis an dieser Stelle ist ein grundsätzlich anderes als jenes, das ihm von seinen Freunden abverlangt wurde. Es ist das Schuldbekenntnis eines Menschen vor Gott, den er in einem neuen Licht sieht. Bisher kannte dieser Mensch Gott nur als einen, der, wenn er 309 Ich bleibe bei der Lutherübersetzung 1984. Die Lutherübersetzung 2017 („Alles unter dem Himmel ist mein“) missachtet die hebräische Reihenfolge der Worte, außerdem das „Er“ am Ende des Verses. Das „Er“ kann sich auch nicht auf „die Himmel“ (Dual) beziehen, es müsste dann „Mein sind sie“ dastehen. Ich folge dem Vorschlag, statt ‫ לִ י‬/ li = „mir, mein“ besser ‫ ִ מי‬/ mi = „wer“ zu lesen. Auf diese Weise wiederholt sich die Wer-Frage des vorherigen Versteils: „Unter dem ganzen Himmel, we(lche)r Er?“ / „Unter dem ganzen Himmel, wer wohl?“ / „Unter dem ganzen Himmel keiner“. – Das vorangehende Gleichnis von Behemot und Leviatan hat zwei Zielrichtun­ gen: Zum einen ordnet es Hiob / den Menschen in der Schöpfungsordnung erst an zweiter Stelle von oben ein (40,19), zum anderen sind Behemot und Leviatan Gleichnisse für Gott, indem dieser sich mit deren Kraft und Stärke (40,16), mit deren durchaus auch verletzender Gewalt (40,32) und Schrecken (41,6.14) und mit deren fast theophanen Rauch- und Feuererscheinungen (41,11–13) identifiziert. Sie sind – anders als Satan – keine göttlichen Gegenmächte (gegen eine Deutung auf der Grundlage ägyptischer Ikonographie: Nilpferd und Krokodil als widergöttliche Mächte, die vom Pharao anstelle der Gottheit zu bekämpfen sind. Diese Deutung Otto Keels ist dargestellt bei G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 149 f. Gegen die Deutung Keels vgl. auch G. Kaiser, a. a. O., S. 138 ff). 310 Vgl. Anm. 314. 311 Die wörtliche Übersetzung schließt sich der Textlesart an (‫ ֶ א ֽמ ַאס‬/ ’äm’as = ich werde ver­ werfen). Das dabei auf der Grundlage von 42,3 (vgl. auch 19,23 f) zu ergänzende Akkusativobjekt „mein bisheriges Reden“ führt dann zur Lutherübersetzung 1984 „ich spreche mich schuldig“. Dem kommt das Bereuen, „über“ Staub und Asche (schwebend), entgegen, im Bild ein HinterSich-Lassen des alten Denkens und Seins. Die Metapher ist hier durch den anderen Subjektbezug freilich anders gefüllt als in 19,25. – Andere Lesarten sind auch möglich, z. B. ‫ ֶ א ָמּ ֵאס‬/ ’ämmā’ēs oder ‫ ַ א ָמּס‬/ ’ēmmās = ich werde vergehen. Allerdings ist eine Verbindung von unmittelbarer sichtbarer Gottesbegegnung und Vergehen-Müssen in der Hiobdichtung nicht gegeben. Von daher sind die alternativen Lesarten auszuschließen. – Zur virtuellen Ergänzung „mein bisheriges Reden“ vgl. auch H. Spieckermann, „Die Satanisierung Gottes“, a. a. O., S. 443 und ders., „Wunden – Wun­ der – Weisheit“, a. a. O., S. 21.

142

Gott und der Mensch

gerecht war, sich im Lohn-Strafe-Zusammenhang bewegte, der aber auch von einem unausforsch­lichen letztinstanzlichen Recht der Gewalt bis hin zur Willkür Gebrauch machen konnte. Jetzt sieht er sich als einen, der grundsätzlich vor Gott nicht bestehen kann. Mag sein, dass diese Erkenntnis gelegentlich schon aufge­ leuchtet ist (vgl. 14,4); jetzt hat Gott ihr Durchbruch verschafft, indem er Hiob zum Schweigen gebracht hat. Nur aus diesem Schweigen heraus kann ein rechtes Erkennen der Schuld und ein neues Sehen Gottes erwachsen (als Hoffnung schon 19,26 formuliert). Die neue Erkenntnis über sich selbst vor dem sich heilsam offenbarenden Gott312 lautet: Grundsätzlich schuldig. Dieses Schuldbekenntnis hat nichts Niederschmetterndes mehr an sich, da es ja unter den Augen Gottes geschieht, der Hiob heilsam ansieht313. Es ist ein umfassendes Bekenntnis zu sei­ ner Existenz vor Gott, die sich mit Theologumena der herkömmlichen Weisheit nicht mehr einfangen lässt (42,3). Bisher war Hiob bei der Betrachtung seines Lebens von der Wägbarkeit der Einzelsünden ausgegangen. Und die Summe aller Aktualsünden konnte nach seiner Sicht nicht so groß sein, dass sie seine grund­ sätzliche Rechtschaffenheit beeinflusste (27,5 f). Diese Sicht trieb ihn an den Rand der Selbstgerechtigkeit, weshalb er auch Bildad nicht verstehen konnte (25,4). Nun aber liegt er vor dem, der alles vermag (42,2), der in Allem mächtig ist, im Vertrauen nicht auf seine Gerechtigkeit, sondern auf Gottes große Barmherzig­ keit (Dan 9,18). Hiobs Reden hat ein Ende. Er kann nur noch dem Walten Gottes Raum geben314. 312 Die Hoffnung von 19,26 geht hier in Erfüllung (mit G. Baumann, Gottesbilder der Ge­ walt, a. a. O., S. 151 gegen H. Spieckermann, der das „Sehen“ als resignative Einsicht in das Ge­ worfensein interpretiert [a. a. O., S. 23]). Zum erlebbaren Spannungsbogen von Erwartung und Erfüllung vgl. auch den Lobgesang des Simeon Lk 2,30. 313 Ähnlich auch M. Rohde, a. a. O., S. 80 gegen M. Witte, Vom Leiden zur Lehre, Berlin 1994, S. 177 f. – Allerdings ist es nicht unter traditionsgeschichtlichem, sondern nur unter redaktions­ geschichtlichem Gesichtspunkt berechtigt, 42,5 im Licht von 42,7–9 (priesterliche Funktion Hiobs) kultisch zu verstehen, d. h. als Audienzgewährung. Dann allerdings wäre auf redaktio­ neller Ebene die Verklammerung mit der novellistischen Einheit gelungen: Statt des Satan erhält am Schluss Hiob Audienz bei Gott. Und die Redaktion hätte dabei in Elifas’ Zurechtweisung (15,8) und in Hiobs Wunschbildern (31,35–37) eine willkommene Stütze. – Indes sieht Rohde das Verhältnis von Tradition und Redaktion genau umgekehrt, was nicht recht einleuchten will: 42,7–9 als corpusinterne Fortsetzung der Gottesreden, 42,(2–4)5–6 als redaktionelle Kritik an aller Weisheit (zusammenfassend a. a. O., S. 101). 314 I. Willi-Plein erwägt eine andere Übersetzung. Sie geht aus von dem der Bedeutung „be­ reuen“ zugrunde liegenden Wortfeld „umdenken“. Im vorliegenden Kontext bevorzugt sie die zukunftsgerichtete Konnotation „getröstet sein“. Das wirkt sich auch auf das scheinbar objekt­ lose „Verwerfen“ aus: Im Lichte von „getröstet sein“ nimmt es den Sinn von „es interessiert mich (jetzt) nicht (mehr)“ an. Willi-Plein kann lexikalisch-grammatische Belege dafür anführen und zu Recht folgern: „Philologisch lässt sich die Annahme einer in 42,6 zum Ausdruck kommen­ den Reue oder Buße Hiobs nicht begründen“ (I. Willi-Plein, „Ein untadeliger Mensch. Zum Menschenbild der Hiobdichtung“ in: M. Bauks u. a. [Hg.], Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? [Psalm 8,5], a. a. O., S. 557). Ihr folgen G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 151 (mit ausdrücklicher Berufung auf I.W-P.), R. Lux, Hiob, a. a. O., S. 258–265: „Darum wi­

Hiob 

143

Hier fließen Dichtung und Rahmen zusammen. Die Dichtung braucht den Rahmenvers 42,10a.c315; denn er beschreibt in eindrücklicher und sehr hand­ fester Weise die Restitution Hiobs und damit auch die iustificatio peccatoris. Die Existenz des Menschen als simul iustus et peccator ist im Hiobbuch (hauptsäch­ lich eben in der Dichtung) in dramatisierter und profilierter Form analysiert und beschrieben. Damit hat sich zugleich ein altes Gottesbild gewandelt: Der vergel­ tende Gott, ein re-agierender Gott, hat sich gewandelt zu einem frei agierenden Gott, der die grundsätzliche Schuldverfallenheit des Menschen durch Gerecht­ sprechung der permanenten Strafwürdigkeit enthebt316. Damit ist das Profil eines Gottes geschärft, der allein Macht ausübt, wie er will, und der am Ende (oder: im Grunde) neues Recht schafft durch Rechtfertigung des Sünders317. Zu Recht spricht A. Weiser in diesem Zusammenhang von der „complexio oppositorum derrufe ich und tröste mich auf Staub und Asche“ und B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? a. a. O., S. 223: „Darum liegt mir nichts (mehr) daran, und ich bin (tröstlich) umgestimmt auf Staub und Asche“. – Indes gilt auch das Gegenteil: Philologisch lässt sich die Annahme einer in 42,6 zum Ausdruck kommenden Reue oder Buße Hiobs nicht widerlegen. Ohne Zuhilfenahme des theologischen Gesamtduktus wird man bei der interpretierenden Übersetzung von 42,6 nicht auskommen. Wer hierbei seinen Blick nur auf die Gottesreden fokussiert, greift m. E. zu kurz. Denn dabei entsteht das Bild eines Gottes, der sich in seiner unergründlichen Weisheit bemüht, die immer wieder aus dem Ruder laufende Welt zu beherrschen, und das Bild des menschlichen Geistes, der das Unfassbare nicht fassen kann. Angesichts dessen mag dann das Pochen auf das „Recht“ nicht mehr von Interesse sein, und man mag Trost finden in dem Gott, der höher ist als alle Vernunft. Nun will aber der theologische Gesamtduktus m. E. hinaus auf die Relativierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, damit auf das Abrücken von der Betrachtung des Bösen in der Gestalt von einzelnen Sünden und auf das Hinführen zu einer Erkenntnis grundsätzlicher Schuldverfallenheit des Menschen. In diesem theologischen Kontext machen „verwerfen“ und „bereuen“ Sinn. 315 42,7–9 ist nachträglicher Einschub. Denn es kann rückblickend keineswegs ohne weiteres behauptet werden, Hiob hätte stets „recht geredet“ (42,7 f). Allerdings ist es einem theologisch gebildeten, verstehenden Redaktor sehr wohl möglich. – B. Janowski leitet aus 42,7 f die These ab, Quintessenz des Hiobdramas sei, dass Gott dem Hiob das Recht auf Anklage zugestehe, weil es zum vollkommenen Menschsein dazugehöre. Dabei beachtet er nicht den sekundären Charakter dieser Verse und isoliert die Gottesreden vom Gesamtduktus der Hiobdichtung (B. Janowski, Ein Gott der straft und tötet? a. a. O., S. 229). 316 Wenn M. Köhlmoos Hiobs Gerechtsprechung bestreitet und stattdessen „Hiob zu einer neuen Wahrnehmung seiner selbst als Mensch im Angesicht Gottes“ geführt sieht, konstruiert sie einen Gegensatz zwischen zwei Interpretationen, die vor dem Hintergrund der gesamten Dichtung identisch sind (a. a. O., S. 332). 317 Dass die Rechtfertigungsbotschaft im Alten Testament zumindest implizit enthalten ist, ist längst erkannt (zuletzt C. Levin, „Altes Testament und Rechtfertigung“ in: Ders., Fortschrei­ bungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament, Berlin 2003, S. 11 und S. 21 unter Hinweis auf H. Graf Reventlow, Rechtfertigung im Horizont des Alten Testaments [1971] und H. Spie­ ckermann, Art. „Rechtfertigung I.“ in TRE 27 [1997]). Sie wird als Bundestreue, Bewahrung der Schöpfung trotz des Menschen um des Menschen willen und hier als Restitution eines Einzelnen beschrieben (zu Hiob als Paradigma des leidenden Einzelnen vgl. G. Kaiser, a. a. O., S. 101 und R. Lux, Hiob, a. a. O., S. 152).

144

Gott und der Mensch

bei Gott“318, eine complexio, die auch die Dichtung und Rahmen zusammenbrin­ gende Redaktion gewahrt wissen will; denn „Gottes Zorn ist über die entbrannt, die theologisch eindimensional geredet haben, ohne die Ambivalenzen von Got­ teserfahrungen, ja Gottes selbst, zuzulassen“ (42,7)319. Exkurs: Die Elihureden (Kapp. 32–37) Die Reden des Elihu lesen sich wie ein späterer Kommentar zu den Reden Hiobs und sei­ ner Freunde320. Sie wenden sich mal an Hiob, mal an die Freunde und wollen aus spät­ weisheitlicher Sicht die Weisheit der Alten korrigieren bzw. über den bisherigen Stand der Erkenntnis hinausführen321 (vgl. 32,3.9.12)322. Wenn sie für sich auch den neuen Geist in Anspruch nehmen (32,8), bleiben sie doch ausdrücklich der Weisheitstradition verpflichtet (33,33). Die vierte Rede Elihus (Kapp. 36–37) nimmt Bilder und Aussagen der Reden des Herrn aus dem Wettersturm vorweg und muss sie von daher kennen. So ist der Kommentar an dieser Stelle ein Einschub, der das Ergebnis der Gottesreden antizipiert und somit die neue Theologie des Hiobdichters für die Weisheitstradition reklamieren will (36,1–4). Kernaussage ist: „Der Allmächtige beugt das Recht nicht“ (37,23 mit Achtergewicht, aber auch schon 34,12b). Hiob verkennt das – so die erste Rede –, und setzt sich so ins Unrecht (32,2; 33,8–12). Er verkennt das grundsätzliche Gesondert-Sein von Gott. Das Gottesrecht fordert – bei Strafe – ein entsprechendes Tun einerseits, und es berücksich­ tigt die anthropologische Situation andererseits. So vergilt Gott einem jeden nach sei­ nem Tun (34,11) einerseits (Tat-Folge-Denken) und schenkt dem um Gnade Bittenden neues Leben (33,23–28) andererseits (neues weisheitliches Denken). Gnade ist hier noch nicht an die grundsätzliche Schuldverfallenheit geknüpft, sondern an Gottes Gottsein und damit an seine Größe (33,12; vgl. schon Hiob in 7,21a). Der große Gott lässt sich bitten – durch einen Mittler323 oder Menschen –, denn es ist beides in ihm: Gericht und Gnade (33,23–28). Die Gnade aber ist stärker. Darum kann der „Erlöste“ (33,28) Gottes Macht (potestas) preisen, die nicht nach Recht „vergolten“, sondern die „Gerechtigkeit“ und das „Licht“ des Lebens zurückgegeben hat (33,26–28). Noch einmal wird am Ende die Macht Gottes, seine potestas, gepriesen, beschwo­ ren, Hiob vor Augen gehalten (36,26–37,24). Alle Macht, alles Recht, alle Gerechtigkeit geht von Gott aus und nicht vom Menschen (37,23 f). Das macht seinen „schrecklichen Glanz“ aus (37,22b), fascinosum und tremendum zugleich.

318 A. a. O., S. 243; S. 265 auch von der coincidentia oppositorum! 319 M. Witte, Rez. zu M. Köhlmoos, Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch, in: ThLZ 121/2000, Sp. 888. 320 Vgl. auch R. Lux, Hiob, a. a. O., S. 212. 321 H. Strauß unterscheidet zwischen älterer „Erfahrungsweisheit“ und jüngerer „Offenba­ rungsweisheit“ (Hiob 19,1–42,17, a. a. O., S. 269 und 326). 322 Nebenbei hat der Kommentator auch bemerkt, dass keine der Freundesreden eine direkte Antwort auf Hiobs vorangegangene Klage darstellt (32,12)! 323 Zur Einführung des Mittlerengels als Umkehrung der in der Hiobdichtung ignorierten Satanvorstellung vgl. H. Strauß, a. a. O., S. 289 f; T. Pilger, „Gott der Gnade und der Befreiung. Ein Gottesbild in den Elihureden in Hiob 32–37“ in: M. Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, a. a. O., S. 37 f.

Hiob 

145

1.10.3.2 Zur Anthropologie der Hiobdichtung Ohne Frage steht die Theodizee im Zentrum der Hiobdichtung. Weil aber Hiob als literarische Gestalt nicht nur für einen einzelnen Menschen, sondern für ein Menschenschicksal schlechthin steht und ihm daher etwas Menschentypisches eignet324, ist es möglich, Grundzüge einer Anthropologie zu skizzieren. Die Fraglichkeit der menschlichen Existenz wird sichtbar. Am deutlichsten in der Frage nach dem Sinn des Geborenwerdens. Hierin ist die Hiobdichtung der skeptizistischen Anthropologie des Predigers ähnlich („Alles ist eitel …“). Die Fraglichkeit der menschlichen Existenz wird auch sichtbar in dem Ausgeliefert­ sein an einen Gott der Willkür. Die Existenz wird als von Gott verhängt erlebt. Insofern lässt sich die Anthropologie nicht von der Theologie lösen325. Exemplarisch lässt sich das an Kap. 14, Hiobs Antwort auf die Freundesreden am Ende des ersten Redegangs, veranschaulichen326. Es handelt – ähnlich wie Kap 7 – generell vom „Menschen“. Dass hier ein anthropologisches Modell fassbar wird, steht zu erwar­ ten. In der Tat ist die Geschöpflichkeit das Thema. Geschöpflichkeit schließt Begren­ zung der Lebenszeit ein (14,1). Mit Geburt und Tod ist die Erfahrung von Zeit gegeben. Zeit ist ablaufende Zeit, auf ein von Gott gesetztes Ziel hin (14,5), damit unter dem Blickwinkel der Vergänglichkeit gesehen (14,2). Alles ist nur von „vorüber-gehender“ Bedeutung, nichts ist „bleibend“ (vgl. Pred 2,16). Existenz ist „schatten“-hafte Existenz, ein „Haschen nach Wind“ (Pred 1,14 u. ö.), sie steht unter dem Vorzeichen der Vergeb­ lichkeit (14,19; vgl. 7,3). Die Erfahrung der Vergeblichkeit entsteht, wo ein Suchen auf ein Ergreifen-Wollen zielt und das Erhoffte doch nicht ergreifen kann. So erklärt sich die „Unruhe“ (14,1) als Existenzial: als ein Aus-Sein auf die Würdigung des eigenen Da­ seins durch Gott (14,13–17) – das wäre ein sinnerfülltes „Ziel“ (14,13) im Unterschied zum nur temporalen „Ziel“ als Lebensende (14,5). Es bleibt jedoch Desiderat. So erweist sich das Dasein als ins Leere gehend (14,7–12), seine Endlichkeit ist endgültig (ebd.)327. Angesichts einer derart konnotierten Geschöpflichkeit muss die Sinnfrage des Daseins aufbrechen. Sie ist der Begleitton des gesamten Kapitels (wie übrigens auch von 7,17–21), und sie bildet den Schlussakkord: Ein Leben ohne erwartungsvolle Außenbeziehung kann keinen Sinn machen (v 21), auf das Kreisen um das eigene Vergehen zurückge­ worfen zu sein, ist Hoffnungs- und Sinnvernichtung (14,22)328. 324 G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 142; J. van Oorschot, „Menschenbild, Gottesbild und Menschenwürde“, a. a. O., S. 326; E. Harasta, „Satanische Verse? Zur Rolle des Satans in Hiob 1–2 aus systematisch-theologischer Sicht“ in: L. Ratschow, H. v. Sass (Hg.), Die Anfechtung Gottes. Exegetische und systematisch-theologische Beiträge zur Theologie des Hiob­buches, Leipzig 2016 (ABG 54), S. 93. 325 „Die menschliche Hinfälligkeit als anthropologische Voraussetzung konvergiert … mit dem göttlichen Blicken auf die menschliche Verfehlung“ (M. Bauks, a. a. O., S. 2). 326 Vgl. dazu auch G. Eberhardt, „Hiobs Wunsch. Gedanken zur Anthropologie von Hiob 14“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hg.), a. a. O., S. 55 ff. 327 Das ist im Blick zu behalten gegen jede postmortale Deutung von 19,25–27. 328 Vgl. dazu auch Chr. Frevel, „Schöpfungsglaube und Menschenwürde im Hiobbuch“ in: Ders., Gottesbilder und Menschenbilder, a. a. O., S. 259–294, hier das Kapitel über „Die Vergäng­

146

Gott und der Mensch

Eine derart in Kap. 14 skizzierte Anthropologie beschreibt den Ist-Zustand des Menschseins. Dieser Ist-Zustand korrespondiert mit Gottes Blick auf den Menschen (14,3). Anthropologie und Theologie sind nicht voneinander zu trennen. Gott blickt voller Zorn auf den Menschen; daher ist sein Leben sinn- und ziellos (14,13; vgl. Ps 90,5–10). Ist Gottes Zorn gerechtfertigt? Die Frage wird gestellt, aber nicht beantwor­ tet: „Kann wohl ein Reiner kommen von Unreinen? Auch nicht einer“ (14,4). Stattdessen wird ein Menschsein beschrieben, wie es unter Gottes Augen sein könnte, ein Menschsein unter Gottes Größe, zu der auch Großzügigkeit gehören würde (14,13– 17; vgl. 7,20–21a). Dieses Menschsein würde Sinn und Ziel erhalten durch ein echtes von Anbetung und Wertschätzung getragenes Korrespondenzverhältnis mit Gott (14,15). Es wäre ein Menschsein in Würde, ein Menschsein, das zwar in die Sünde hineingeboren bleibt, aber nicht auf die Sünde festgelegt wird (14,16 f). Dieser Traum zeigt: Die erlebte Realität ist anders. Aber mag der Ist-Zustand auch hoffnungslos sein, das Träumen kann er nicht zunichte machen. Der Traum von dem, was sein könnte, ist der Traum von dem, was einmal war (In 7,17 klingt Ps 8,5–10 in verfremdeter Form an.).

Innerhalb einer solchen Anthropologie wird Gott frag-würdig im besten Sinne des Wortes. Gott ist dem Menschen fragwürdig. Wenn Gott einem Menschen frag­ würdig geworden ist, dann ist er es nicht in dem Sinn, dass nicht mehr nach ihm gefragt wird, sondern in dem Sinn, dass der Mensch als ein nach Gott Fragender im tiefsten Grunde seines Wesens nicht von Gott lassen kann bzw. nicht losgelas­ sen wird. Insofern gehört die Gottesfrage zum Menschsein hinzu. Ein Menschsein ohne die Frage nach Gott ist schier undenkbar. Das ist sicher eine Binsenweisheit biblischer Anthropologie, ist aber im Hiobbuch zur Sprache gebracht. Die Anthropologie der Freunde Hiobs ist eine Anthropologie von „unten nach oben“, d. h. die an den Geboten nachprüfbare Rechtschaffenheit des Menschen führt zu einem gesegneten Leben; das gilt auch mit negativem Vorzeichen, und es gilt auch umgekehrt. Die Erfüllung des Sollens führt zum Sein. Diese Art der Anthropologie ist einer ethisierten Theologie entsprungen. Ihre Gefahren (An­ spruchshaltung vor Gott, Erwerb einer besseren Gerechtigkeit durch Leistung) werden in der Hiobdichtung nicht ausdrücklich thematisiert, wohl aber die UnStimmigkeit einer solchen Anthropologie angesichts des nachweislichen Ausblei­ bens eines entsprechenden Seins. So entsteht durch viele dramatische Dispute und nicht zuletzt durch Gottes Antwort hindurch eine Anthropologie „von oben nach unten“, in der Gott zuerst dem vor ihm liegenden Menschen, dem alle Selbstgerechtigkeit und jeder An­ klagegrund aus der Hand geschlagen ist, aufgrund dessen neuen Sehens, der Er­ kenntnis des unendlichen Abstandes, Leben und Sein zuspricht. Erst aufgrund

lichkeit des Menschen als anthropologische Konstante“ (S. 264 ff) (= Ders., desgl. in: S. Th. Krü­ ger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Zürich 2007, S. 467–497, bes. S. 472 ff).

Hiob 

147

dieses zugesprochenen Seins darf sich der Mensch „erlöst“ wissen und kann mit dem Leben in Freuden und Gerechtigkeit neu beginnen329. Wenn das Hiobbuch eine Anthropologie als Lebensmodell anbieten will, dann diese. Will man die anthropologische Frage angehen unter den beiden Überschriften „So ist der Mensch“ und „So könnte der Mensch sein“, dann geben die Gestalten der Freunde gewiss Antwort auf die Frage „So ist der Mensch“. Er lässt sich leiten vom Lohn-Strafe-Gedanken, trachtet nach dem, was recht ist und kann dafür auch ein segensreiches Leben erwarten. Auch Hiob ist zunächst dieser Denkstruktur verhaftet, nur dass sie, was sein Leben betrifft, nicht aufgeht. – Dennoch: Der Mensch soll so sein wie Hiob. Ihm soll Gott durchaus frag-würdig sein. So und nur so wird er von Gott auch eines Tages eine Antwort bekommen – ggf. durch Leiden, das Gefühl des In-die Welt-Geworfenseins, Nichtigkeit hindurch. Er darf sich in der Geworfenheit als der von Gott Angeredete, Gehaltene, Erlöste wissen. Vielleicht muss man, um die Geworfenheit nicht durch „Erlösung“ zu überspielen, noch sagen: Nur so ist die Geworfenheit auszuhalten, als gehaltene und getragene Existenz.

1.10.3.3 Ethische Implikationen? Das neue sich aus der Krise der Weisheit ergebende Gottesbild drängt sich in der Hiobdichtung so sehr in den Vordergrund, dass daneben für eine explizite Ethik kein Platz ist. Das ist nicht zuletzt auch eine logische Konsequenz der radi­ kalen Infragestellung des Lohn-Strafe-Denkens. Wo das Ergehen eine von Gott sanktionierte Folge einer Haltung und eines Tuns ist, bestimmt die Ausführung des Sollens das Sein. Zerbricht die Vorstellung eines Zusammenhangs, führt das entweder in eine anti-theistische Ethik (vgl. 2,9) oder zu einem Ringen um ein neues Gottesbild, dessen Folge auch ein neues Menschenbild ist. Letzteres ist das theologische Thema der Hiobdichtung. Die neue Gotteserfahrung gibt dem Menschen ein neues Selbstverständnis (42,5 f). Deutet sich daraus – wenigstens implizit – eine neue Ethik an? M. Oeming hat für die „Spätzeit des Alten Testaments“ eine Ethik insbesondere aus Hi 31 eruiert330. Ihr gehe es demnach um die Würde der Frauen, den Schutz der Familie und die Treue gegenüber der eigenen Frau, um das Recht der sozial Unterlegenen und um deren tatkräftige Unterstützung, um Freiheit vom Mammon- und Götzendienst, um das Recht der Feinde und um Gastfreundschaft für Fremde, um Ehrlichkeit und Authentizität331. Dem ist ohne Frage so. Indes verkennt Oeming die radikale Kritik an 329 M. Rohde nennt das „Anthropologie der Niedrigkeit“ (a. a. O., S. 100). 330 M. Oeming, „Ethik in der Spätzeit des Alten Testaments am Beispiel von Hiob 31 und Tobit 4“ in: P. Mommer, W. Thiel (Hg.), Altes Testament – Forschung und Wirkung. FS Henning Graf Reventlow zum 65. Geb., Frankfurt, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994, S. 159 ff. 331 Ders., a. a. O., S. 167.

148

Gott und der Mensch

einer solchen Werkefrömmigkeit, wenn er meint, der Geist dieses Kapitels wolle „na­ türlich auch den Leser überzeugen“332. Das Gegenteil ist der Fall333. Der unmittelbare Anschluss in 38,2 spricht im Hinblick – nicht nur, aber auch – auf den „Reinigungseid“ von „Worten ohne Verstand“. Dem „Bin ich nicht …?“, „Habe ich nicht …?“ aus Kap. 31 wird ein „Was willst du eigentlich …?“ in Kapp. 38 und 39 entgegengesetzt. Dem folgt das Eingeständnis Hiobs, „zu leichtfertig“ geredet zu haben (40,5) – nicht nur, aber auch im Blick auf Kap. 31. Worauf, wenn nicht auch und gerade auf Kap. 31, sollte sich 40,8 beziehen? In das Bekenntnis, „unweise“ geredet zu haben (42,3), und in das „Verwerfen“ all seines vorherigen Redens (42,6) ist Kap. 31 eingeschlossen.

Wenn also die Gesetzestreue, wonach ein Mensch sich nichts vorwerfen kann, weil er sich nichts hat zuschulden kommen lassen, nicht der Königsweg der Fröm­ migkeit ist, was dann? Der in die Dichtung einbezogene prosaische Schluss sagt es: Die Wendung kommt vom Herrn (42,10a), der Segen und die Zukunft liegen ganz bei ihm, und er gibt sie auch (42,10c). Klage, Anklage und Rechten sind zwar mögliche und auch legitime Anläufe gegen Gottes unergründliches Walten, aber sie führen zu nichts. Einzig Gottes Walten Raum zu geben – und sonst nichts – ist der empfohlene Weg der Frömmigkeit. Damit ist neben der Fügsamkeit und neben der Bewahrung des Glaubens in der Bewährung ein dritter Aspekt einer Ethik benannt, die das Dulden einem verändernden Tun oder einem gebotenen Nicht-Tun vorzieht.

1.10.3.4 Aspekte der Theodizee Gerhard Kaiser sieht in der literarischen Gestalt Hiob die Theodizeefrage als eine elementare Menschheitsfrage gestellt334. Die Hiobdichtung zeigt, dass sie als Frage nur beantwortet werden kann, wenn sie durchlitten wird335. Nur wo die vermeint­ liche Feindschaft Gottes sich bis zum Unerträglichen steigert, bricht das „Sehen“ durch, im biblischen Sinn immer als Offenbarung / Theophanie dargestellt. Das ist bei den Reden Gottes aus dem Wettersturm nicht anders als beim Zerreißen des

332 Ders. ebd. 333 Allenfalls soll der Leser abgeholt werden, um zu einer anderen Art der Frömmigkeit ge­ führt zu werden. 334 A. a. O., S. 25. Der gleichzeitige Ausschluss „alternative(r) thematische(r) Linien“ wie etwa „Sinn des Leidens“ oder „Hiob und seine Gerechtigkeit“ scheint mir der Mehrdimensionalität des Werkes nicht gerecht zu werden. 335 Deshalb verfehlen aus Hiobs Sicht spekulative Antworten auf die Frage, woher das Übel komme, das Wesen Gottes. Denn sie zeigen nicht die Doppelgesichtigkeit Gottes, sich ausdrü­ ckend im Gegensatz von 9,10 zu 9,24, sondern nur eine Hälfte, die des planvoll schaffenden De­ signers (9,1–10). Sie bewegen sich auf der „Scheidelinie zwischen der Autonomie der Vernunft, die ihr Denken der Wirklichkeit zugrundelegt, und der Apologie des Weltschöpfers angesichts der zweifelhaften Güte seines Willens“ (G. Theobald, Hiobs Botschaft. Die Ablösung der meta­ physischen durch die poetische Theodizee, Gütersloh 1993, S. 9).

Hiob 

149

Tempelvorhangs angesichts der Gottesfinsternis beim Tod Jesu. So kommt – das zeigt die Hiobdichtung ebenso wie die Passionsgeschichte – die Antwort auf die Theodizeefrage nicht spekulativ, sondern in der Tat von dem, der gefragt ist, von Gott selbst. Glaubenshaltungen und Denkvoraussetzungen, bei denen sich die Theodizeefrage nicht stellt Es gibt freilich Glaubenshaltungen und theologische Denkvoraussetzungen, bei denen sich die Theodizeefrage nicht stellt. Ein Glaube, der dem Herrn trotz aller Schicksals­ schläge dennoch vertraut, verlangt nicht nach einer Rechtfertigung Gottes. Die Theo­ dizeefrage ist in der Glaubensbewährung aufgehoben – so im Rahmen. – Ebenso wenig ist die gegenteilige Haltung, der A-theismus, an der Theodizee interessiert. Er ist im Rahmen in den Ratschlägen von Hiobs Frau angedeutet (2,9). In der Dichtung wird Hiob sich nie von Gott lossagen, allerdings ist umgekehrt gelegentlich der Wunsch vorhanden, Gott möge sich von ihm abwenden (3,4; 6,9; 7,19; 13,20; 14,6). Dass dieser Wunsch die Theodizee bei Hiob nicht überflüssig macht, liegt daran, dass Hiob dennoch nicht von Gott lassen kann (Kap. 10; 13,15–17.18–23). – Erledigt sich die Theodizee, wenn man das Satanische, Menschenfeindliche aus Gottes Wesen extrapoliert? Sowohl Rahmen wie auch Dichtung lassen das nicht zu (2,10; 19,6–21). – Erst recht aber erledigt sich die Theodizee im Rahmen des Vergeltungsdenkens. Dem sind ja die Freunde Hiobs ver­ haftet, und so bildet eine Theologie, die sich im Rahmen des Tun-Ergehen-Zusammen­ hangs bewegt, die Negativfolie, vor der die Theodizeefrage sich als existentielles Problem stellt. Die alte Weisheit betreibt Theodizee, indem sie Gott rechtfertigt, d. h. ihn nach menschlichen Gerechtigkeitsmaßstäben funktionieren lässt im Austeilen von Lohn und Strafe, wobei von Lohn und Strafe angeblich zurückgeschlossen werden kann auf den Lebenswandel des Betreffenden. Im Sinne der Hiobdichtung ist das in mehrfacher Hin­ sicht unangemessen: 1. Eine „dogmatische“ Herangehensweise verdinglicht Gott und lässt den existentiellen Bezug außer Acht, der der Theodizeefrage innewohnt (Kapp. 8 u.9; 12,2). 2. Gott hat es nicht nötig, gerechtfertigt zu werden (13,7 f). Wenn er es will, tut er es selbst. Dabei sind menschliche Gerechtigkeitsmaßstäbe irrelevant. 3. Die auch der Weisheit bekannte Diastase zwischen Lebenswandel und Vergeltung (10,3; 12,4–6; 21,7 ff; 31) schreit nach einer Neubesinnung auf Gottes Freiheit, sein unverrechenbares Handeln, seine Unverfügbarkeit: Der, der ist, wie er ist, wird gnädig sein, wem er gnädig sein wird, und wird sich erbarmen, wessen er sich erbarmen wird (Ex 33,19). Die Neube­ sinnung bliebe blutleer, wenn sie lediglich theoretischer Art wäre. Sie würde im Dogma enden, dem es an existentiellem Bezug mangelt. Wo Neubesinnung allerdings mit exi­ stentieller Erschütterung verbunden ist, da geht sie in die Tiefe. Literarischer Ausdruck dessen ist das Drama, hier die dramatisch-dialogische Form der Hiob-Dichtung336.

336 Ex 33,19 dient auch Paulus zur Lösung der Theodizeefrage: Gottes Gerechtigkeit ist in seiner Freiheit aufgehoben, „bei der nicht das Verdienst der Werke, sondern die Gnade des Be­ rufenden gilt“ (Röm 9,12). Und auch Paulus kommt zu dieser Erkenntnis aufgrund existentieller Erschütterung (Röm 9,2 f), und sein Brief hat in den Kapp. 9–11 dramatisch-dialogische Form.

150

Gott und der Mensch

Lösung der Theodizeefrage gibt es nur im Erleiden Gottes So wird das Theodizeethema in der Hiobdichtung als ein bis in die Tiefen der Existenz hinein erlittenes Gottesverhältnis entfaltet. Die Dialoge weisen auf seinen Ort im theologischen Diskurs, die ihnen innewohnende Dramatik auf eine nicht objektivierbare Antwort des Einzelnen aus seinem Schicksal bzw. seinem Glauben heraus, wobei die „Antwort“ auch im Unvermögen bestehen kann, eine Antwort zu geben, weil Gott schweigt. Das ist bis zur knappen Hälfte der Hiobdichtung so (vgl. 13,22; 19,7); in 19,25–27 deutet sich der Umschwung in Richtung einer sub­ jektiven Lösung der Theodizeefrage an: Das „Ich“, „mein Erlöser“, „meine Augen“, „mein Herz“ betont die Subjektivität der Erkenntnis. Form der Theodizee: Feststellung – Frage – Klage Theodizee in diesem dramatischen, existentiell bis an die Grenze des Erträglichen gehenden Sinn gründet in der Feststellung, dass Gott ein Gott voller Willkür und verletzender Gewalt ist. Sie mündet ein in die Klage und Anklage. Die eigentliche Theodizeefrage („Warum …?“) wirkt als Katalysator zwischen Feststellung und Anklage337. Theodizeefrage und Klage bzw. Anklage machen aber nur Sinn vor dem Hintergrund einer letztendlichen Hoffnung, dass sich das Wesen Gottes er­ klären könnte, dass es vielleicht doch anders sein könnte als zunächst festgestellt (13,15 f; 16,19–21). Darin liegt die dreifache Bedeutung der Theodizee bei Hiob begründet. Inhaltliche Füllung der Theodizee: Feststellung – Aufforderung – Hilferuf Gott gegen Gott „Theodizee“ kann Hiobs Feststellung und zugleich Erklärung für Gottes Verhal­ ten sein: Gott ist aus den Fugen geraten, der Schöpfer, ein Blinder, ein Sadist und Menschenjäger – das alles freilich als Frage formuliert und so für weiteres Warum und Klage offen gehalten (Kap. 10); „Theodizee“ ist des Weiteren Hiobs Auffor­ derung an Gott, sich zu rechtfertigen (13,18–23); schließlich ist „Theodizee“ im Sinne Hiobs der Hilferuf an Gott gegen Gott (16,19–21; 17,3)338. Eine in diesen Facetten aufleuchtende Theodizee macht dem Hörer / Leser Angebote, daran an­ zuknüpfen und seine eigenen Fragen wiederzuerkennen oder zu formulieren. Das führt über die Subjektivität von Hiobs Leiden hinaus und ermöglicht intersubjek­ tive Verstehbarkeit und Kommunikation339. 337 Anklage kann auch „Feststellungen“ über Gottes Wesen enthalten und so erneut eine Warum-Frage evozieren. Kap. 10 zeigt das recht deutlich. Man darf freilich Feststellung – Frage – Klage nicht als jederzeit eruierbares pattern verstehen. Die Elemente liegen manchmal untrenn­ bar ineinander. 338 Das ist als lexikalische Bedeutung des Wortes Theodizee auf der Grundlage von Hiob zu verstehen, nicht als abzuhandelnde Themenvorgabe. 339 Da „die erlösende Antwort stets neu erfunden werden muss“, bleibt Kommunikation über die Theodizee menschheitsgeschichtlich ein Thema (G. Theobald, a. a. O., S. 11).

Hiob 

151

Gott ist aus den Fugen geraten Hiobs in Frageform gehaltene Feststellungen über Gott ermöglichen dem Hörer / ​ Leser, für sich die Fragen zu beantworten und damit für sich eine Position in der Theodizeefrage zu beziehen. Als bloße Feststellungen lauten sie: 1. Gewalt-Tätigkeit ist eine Ausgeburt von Gottes freiem Willen, eine Erschei­ nungsform seiner Willkür (10,3). 2. Gott ist in seinem Sehen, in seinem Erkenntnisvermögen, beschränkt wie ein Mensch (10,4). 3. Gott ist von einem sadistischen Jagdtrieb besessen (10,5–7), in seiner Trieb­ besessenheit dem Menschen gleich und nicht frei. Dabei ist es unerheblich, dass Satz 2 und 3 im Widerspruch zu Satz 1 stehen; alle drei Sätze könnten auf ihre Weise erklären, warum Gott scheinbar Freude daran hat, einen Unschuldigen zu quälen. Bejaht man also die Sätze, wäre die Theodi­ zeefrage auf eine sehr eigenartige Weise gelöst: Gottes Gottheit wäre desavouiert. In diesem Zusammenhang macht sogar die erste Rede Zofars als Erwiderung auf Hiob Sinn: „Meinst du, du kannst die Tiefen Gottes ergründen oder die Grenze des Allmächtigen erforschen? Er ist höher als der Himmel: Was willst du tun?, tiefer als die Unterwelt: Was kannst du wissen?, länger als die Erde und breiter als das Meer; wenn er daherfährt und gefangen legt und Gericht hält – wer will’s ihm wehren?“ (11,7–10; vgl. auch 8,3 als Antwort auf 6,4 und 7,12–21). Dergleichen Antworten versuchen die Souveränität Gottes und seine Würde zu bewahren, weisen also eine derartige „Theodizee“ zurück. Dennoch ist es im Sinne der Hiob­ dichtung legitim, bis an die Grenze des Fragwürdigen zu fragen. Denn nur an die­ ser Grenze entscheidet sich das Ja oder Nein. Für Hiob bleibt die Theodizeefrage vorläufig ungelöst, denn er beantwortet die Thesen in Frageform mit Nein. Seine Antwort: „Leben und Wohltat hast du mir getan, und deine Obhut hat meinen Odem bewahrt“ (10,12). „Leben und Wohltat“ steht gegen „Gefallen an Gewalt“, „Obhut“ steht gegen „Blindheit“ (vgl. auch 31,4), „bewahrt“ steht gegen „gejagt“. Das ist ein klares Nein. Dann aber bleibt nur, den inneren Widerspruch Gottes zu erleiden bis zur „Lösung“. Die „Lösung“ bringt der „Löser“ Der (Er)löser ist der, der den inneren Widerspruch zwischen Gerechtigkeit und Willkür in sich selbst (16,21) aufhebt zugunsten seiner Größe (7,19 f). Diese himmlische Lösung wird sich auf den von Gott gepeinigten, von den Freunden und von Gott in Frage gestellten Hiob auswirken als Erlösung (7,21; 14,15–22). Das wird Hiob, der bis an die Grenze des Tragbaren nach Gottes Recht gefragt hat, zur subjektiven Gewissheit (19,25–27), aber nur, weil er bis an die Grenze gegangen ist.

152

Gott und der Mensch

Prozess gegen Gott führt nicht weiter Weil Theodizee ein himmlisches Geschehen ist, ist die Beantwortung der Theo­ dizeefrage nicht dadurch zu erreichen, dass Gott in einen Prozess hineingezogen wird, in dem er sich dann zu rechtfertigen bzw. zu verteidigen habe: Gott als „Bürge“ des Anklägers (17,3), das wird nicht funktionieren. Elifas – in seiner Rolle als Antagonist – bestätigt das (22,4). Hiob weiß es eigentlich selbst (9,32), aber sein Bedürfnis, Gott zur Rechtfertigung seiner selbst zu bringen, überwiegt (13,3.15–23; 23,1–5). Selbstbezeugung Gottes führt weiter Theodizee im Sinne der Hiobdichtung ist eine Selbstbezeugung Gottes, eine Dar­ stellung seiner Macht (power, potestas) und seiner Größe (Kapp. 38 ff). Die im Sinne des Dichters wahre Theodizee offenbart keinen re-agierenden, sondern einen frei agierenden Gott, der die Größe hat, Hiob in ein neues, in ein rechtes Verhältnis zu sich zu setzen. Vor dieser Größe ist Hiobs Rekurs auf seine Unschuld und sein rechtschaffenes Leben kleinlich und unangemessen. Die Lösung: Der in Allem Mächtige und Gerechtmachende Die Lösung der Theodizeefrage geschieht am Ende durch eine Offenbarung Got­ tes in theophanieartigen Ereignissen. Letztlich erfüllt Gott dem Hiob in eigener Weise dessen Wunsch, vor ihn treten und an seinem Rat teilhaben zu können. Auf­ grund dieser Offenbarung „erkennt“ Hiob den in Allem Mächtigen (42,2), und er „sieht“ Gott neu. Das kann nicht ohne Folgen auf sein eigenes Selbstverständnis bleiben: Er erkennt seine grundsätzliche Schuldverfallenheit vor Gott. Zugleich wendet Gott sein Geschick (42,10). D. h.: Als „peccator“ erfährt er von Gott her eine Lebenswende. So weist Theodizee weg von der Frage, ob Gott gerecht sei oder nicht, hin zu der Antwort, dass Gott gerecht macht und Leben schenkt dem, der vor ihm nichts in der Hand hat340. 340 Natürlich ist bei der Mehrdimensionalität der Hiobdichtung auch der theologische Um­ gang mit Krankheit ein Thema. Biblisch intertextuell und auch geistesgeschichtlich betrachtet befinden wir uns in der Hiobdichtung auf dem Weg der Überwindung von Krankheit als Strafe hin zu dem Gedanken: Du bist nicht schuld an deiner Krankheit. Über den synoptischen Jesus (Überwindung von Krankheit als Überwindung des Dämonischen und als Restitution der guten Schöpfung) führt der Weg zum johanneischen Christus: „Weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt, sondern an ihm sollen die Werke Gottes offenbar werden“ (Jh 9,3). Dennoch ist Hiobs Krankheit und sein Leiden nur das Beispiel, an dem sich die Theodizeefrage entzündet. Sie bleibt m. E. das übergeordnete Thema. Das gilt auch gegenüber der Einschätzung von M. Köhlmoos, die – durchaus in Anerkennung der Mehrdimensionalität des Textes – die „Frage nach der Gegenwart Gottes“ zum „Knoten­ punkt der Textstrategie“ erklärt (a. a. O., S. 359 ff). Sie umspanne sowohl den narrativen wie den dialogischen Teil. Im narrativen Teil sei sie primär im Himmel, abgegrenzt von der Erde, gedacht, im dialogischen Teil öffne sie sich zur Welt hin und sei, spätestens ab Kapp. 38 ff, als Präsenz in der Welt gedacht.– Dieser thematische Zugriff auf das Buch Hiob hat den Vorzug,

Hiob 

153

Ausblick: Gott auch Herr über sich selbst Das Profil Gottes wird nicht weiter ausgezeichnet. Es liegt im Wesen der Dichtung, manches für eigenes theologisches Denken offen zu lassen. Hier scheint die Beto­ nung der freien Machtausübung Gottes einerseits und die Schaffung neuen Rechts durch Rechtfertigung des Sünders andererseits darauf hinzuweisen, dass Gott nun auch Herr über sich selbst und seine Willkür sein wird zugunsten des Menschen.

dass er Erzählung und Dichtung zu umspannen versucht. Das macht ihn aber auch groß bis zur Konturlosigkeit. Darum präzisiert Köhlmoos selbst: „In der Perspektive der Gegenwart Gottes gibt sich das Thema göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit als eines der wichtigsten Themen der Hiob-Dichtung zu erkennen“ (a. a. O., S. 363). Auch C. L.Seow verschiebt – zu Unrecht – das Gewicht von der Theodizeefrage hin zu einer „Theo-Ethik“, also zu einer Haltung, wie man angesichts der Erfahrung des Chaos von Gott re­ den könne (C. L.Seow, Job 1–21, Michigan 2013, S. 106; vgl. auch die Rezension von M. Witte, „Seow, C. Leong: Job 1–21, Interpretation and Commentary“ in: ThLZ 139/2014, Sp. 1441).– Aber nicht die Ethik, sondern die Anthropologie ist bei der Hiobdichtung das Gegenüber zum Gesicht Gottes. Die Theodizee als durchlittene Unerlöstheit und nur von Gott her zu lösende Frage bleibt das Hauptthema.

2. Gott und das Volk

Die Frage nach der Gewalt-Tätigkeit Gottes stellt sich im Blick auf sein Volk anders als im Blick auf den Menschen. Dieser war – sei es als Gattung, sei es als typischer Einzelner – Objekt des gewalt-tätigen Handelns Gottes. An ihm wirkte sich das bipolare Wesen Jahwes aus1. Hier nun wird zunächst nicht von Israel als gewaltaffiziertem Gegenüber Gottes die Rede sein, sondern von Israels Feinden. Gott setzt sich so sehr für sein Volk ein, dass er für es Partei ergreift, an dessen Seite kämpft oder selbst die Feinde vernichtet und dafür von Israel als „der rechte Kriegsmann“ (Ex 15,3) besungen wird. Erst im Dtr (und darüber hinaus bis in die prophetischen Texte hinein) wird sich Jahwes Zorn auf das immer wieder un­ treue Israel auswirken, aber so, dass der richtende Gott sich am Ende durch den gnädigen Gott selbst überholt.

2.1 Auszug aus Ägypten und Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 13,17–14,31) 2.1.1 Traditions- und Literargeschichtliches Dass in der Schilfmeergeschichte mehrere Überlieferungsstränge miteinander verwoben sind, ist unstrittig2. Am eindeutigsten lässt sich P bestimmen. Unter Abzug von P bleibt eine davon verschiedene parallele nichtpriesterliche Überlie­ ferung übrig (NP), mit ergänzenden Elementen versetzt3. 1 U. Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes, a. a. O., S. 37. 2 Zwar verkünden G. Fischer / D. Markl angesichts der starken Verflechtung der Texte und „der mehr als 130 Jahre währenden vergeblichen intensiven Bemühungen“ um Quellenschei­ dung das Ende der Traditions- und Redaktionskritik, sie begeben sich damit allerdings einer Feindifferenzierung angesichts einer offensichtlichen Entwicklung im Gottesbild (G. Fischer, D. Markl, Das Buch Exodus, Stuttgart 2009, S. 22 ff). 3 Eine von R. Albertz vorgeschlagene Differenzierung bleibt im Prinzip beim herkömm­ lichen Muster. Die Priesterschrift bleibt in ihrem Umfang erhalten, ehemals J heißt nun „äl­ tere Exoduskomposition“, versetzt mit älteren redaktionellen Stücken; Anfang (13,17–19) und Schluss (14,31) werden unterschiedlichen Redaktionen zugewiesen (R. Albertz, Exodus, Band I: Ex 1–18, Zürich 2012, S. 224 ff). – Eine noch differenziertere traditions- und redaktionskritische Aufteilung nimmt J. Chr. Gertz vor (Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung, Göttin­ gen 2000, S. 189 ff; vgl. bes. die Tabelle der Schichtungen S. 394 ff). – Eine Quellenscheidung nach Themenbereichen („ältere Exoduserzählung“ mit Auszug der Israeliten und Untergang der Ägypter, „Exodus-Gottesberg-Erzählung“ mit Sinai und Bundesbuch, DtrG mit Bundesbruch und Neuanfang, P mit Begründung des Tempels und der Priesterschaft, „Torakomposition“ als nachpriesterliche Zusammenfassung der Texte Gen – Dtn) erscheint wenig hilfreich, weil Inhalte

Auszug aus Ägypten und Durchzug durch das Schilfmeer 

155

P: Ex 14,1–4. 8–10a. 15–18. 21a. 21c-23. 26–27a. 28–29 NP: Ex 13,20–22; 14,5b.c.-6. 10b.c. 13–14. 19b-20. 21b. 24. 25b. 27b.c. 30–31 ergänzende Elemente: 13,17–19; 14,5a. 7. 11–12. 19a. 25a Traditionsgeschichtlich geht die Auszugsgeschichte den Plagen Ex 7–12 vor­ auf4, redaktiongeschichtlich werden die theologischen Linien der Gewalt-Tätig­ keit Jahwes in der Schilfmeergeschichte zusammengeführt.

2.1.2 Das Gottesbild von NP Die ältere nichtpriesterliche Überlieferung5 erzählt Geschichte als ein Gesche­ hen von Gott her. Darum steht das, was Gott tut, im Zentrum dieser Erzählung. Der Herr führt sein Volk (13,17.21). Um dieses Bekenntnis rankt sich ein erster Schwerpunkt der Erzählung. Ein zweiter Kristallisationspunkt ist das Kerygma: „Der Herr wird für euch streiten“ (14,14; vgl. 14,25). Führung verbindet sich mit der Wolkensäule und der Feuersäule. In Wolkenund Feuersäule ist der Herr in erster Linie für Israel da, ohne anderen zu schaden. Denn Wolken- und Feuersäule weisen den Weg bei Tag bzw. bei Nacht (13,20–22). Sie sind Manifestationen und Garanten der beständigen Gegenwart des Herrn. Ab 14,19b übernimmt die Wolkensäule erstmalig eine „strategische“ Funktion: Sie sorgt dafür, dass sich das Heer der Ägypter dem der Israeliten nicht zu nahe kommen kann6, während diese die Wirkung des „starken Ostwindes“ (14,21) ab­ warten, um dann durch das Meer zu ziehen. Nun allerdings gerät das Führungs­ symbol „Wolke“ mehr und mehr unter den Einfluss des für Israel streitenden Herrn; denn aus der Feuersäule heraus bricht „Verwirrung“ (‫ וַ ּיָ ָהם‬/ wajjāhām = und er verwirrte) über das Heer der Ägypter herein (14,24 f). Allein durch Anschauen bringt Jahwe die Ägypter in Panik. Aber noch ist kein gewalttätiges Einschreiten Jahwes zu konstatieren. Im Gegenteil, sowohl das Dazwischentreten wie auch der Gottesschrecken sind Maßnahmen, Gewalt zu verhindern. So streitet der Herr für Israel gegen Ägypten, und das wird von Ägypten auch so erkannt (14,25b). Wenn der Herr so für Israel streitet, kann Ägypten eigentlich nur noch untergehen. Das ist der Gedanke des nichtpriesterlichen Erzählers. So fliehen denn auch die ver­ wirrten Ägypter in ihren Untergang (14,27b). Da NP Geschichte als ein Gesche­ hen von Gott her erzählt, kann dieser Ausgang nicht als bloßes Faktum dargestellt quellenübergreifend sein können (Zu diesem Konzept vgl. H. Utzschneider, W. Oswald, Exodus 1–15, Stuttgart 2013, S. 41 f und 305). 4 M. Noth, a. a. O., S. 82. 5 Nicht-priesterlich hier = vor-priesterlich (vgl. R. Albertz, a. a. O., S. 21 u.277). 6 Der „Engel Gottes“ (14,19a) wurde früher als E-Dublette zu J („Wolkensäule“ [14,19b]) angesehen. Heute muss er anders erklärt werden, z. B. als Zeichen für das mittelbare Eingreifen Jahwes (anders G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 160 und R. Albertz, a. a. O., S. 226, der eine be­ sondere Mal’ak-Redaktion postuliert).

156

Gott und das Volk

werden, sondern er verbindet sich zugleich mit der Deutung: Ihr Untergang ist ihr Gericht (14,13)7, das geschichtstheologisch gesehen nur vom Herrn her kom­ men kann. So erklärt sich der Schluss von v 27: „So stürzte der Herr sie mitten ins Meer“. 14,30 und 31 spiegeln noch einmal 14,25b und 27b wider: Die wunder­ bare Errettung Israels (14,30) ist Folge davon, dass der Herr für es gestritten hat – mit mittelbarem Eingreifen, das niemanden zu Schaden bringt. Die vielen toten Ägypter am Meeresufer sind Zeichen des von ihnen selbst beschrittenen Weges ins Gericht. 14,31 bringt dazu noch einmal die geschichtstheologische Deutung des nichtpriesterlichen Erzählers: Die „mächtige Hand“ des Herrn ist die des Ge­ richts für die, die sein Volk verfolgen, und die der Rettung für die, die ihn fürchten. Fazit: NP malt kein Bild eines gewalttätigen Gottes, im Gegenteil. Er ist der führende, Gewalt verhindernde, indirekt eingreifende Gott. Er ist mit denen, die ihn fürchten (14,31), und lässt untergehen, die ihn hassen. „Gericht“ ist selbst be­ reitet, Rettung ist gewährt8.

2.1.3 Das Gottesbild von P Die jüngere, in der Zeit des babylonischen Exils entstandene Priesterschrift setzt andere theologische Schwerpunkte. Ihre Schilfmeererzählung kreist zum einen um Jahwes „Herrlichkeit“ (14,4.17 f), zum anderen um Jahwes mittelbares Tun durch den Mittler Mose (14,16–26)9. Wie bei NP das Streiten für Israel ein Teil der Führung war, so ist hier die Wundertat durch Mose ein Teil der Herrlichkeit Jahwes. Seine Herrlichkeit umfasst jedoch nicht nur die Rettung Israels, sondern auch die Vernichtung der Ägypter als Strafwunder. Der Herr, der sein Volk aus Ägyptenland herausgeführt hat, ist zugleich auch der, der seine Herrlichkeit darin erweist, dass er das Herz des Pharao verstockt, auf dass dieser in den Untergang hineinjagt. So koinzidiert in der Herrlichkeit Jahwes beides: die „Macht einer star­ ken Hand“, unter der Israel ausziehen kann, und die Macht, Herzen zu verstocken; der Herr mit mir (14,22) und der Herr gegen meine Feinde (14,23). Der Herr, der „einen neuen Geist in sie geben“ kann (Hes 11,19; vgl. Jer 31,33), muss verständ­ licherweise auch das Gegenteil können: verstocken; nicht aus Willkür, sondern um die Ernsthaftigkeit, Vollständigkeit und Fülle seines Herrseins zu unterstreichen. Dem Verstockungshandeln Jahwes wohnt zwar Gewaltpotential inne. Denn es führt letztlich dazu, dass die Ägypter durch gottgewollte Uneinsichtigkeit in den Tod jagen. Eine solche Darstellung ist aber auch der Versuch, Geschichte von 7 Im Zusammenhang von 14,14 kann Heil für Israel nur Gericht für Ägypten bedeuten. 8 Synchronische Betrachtungsweise wirft NP in einen Topf mit Ex 15,3 und zieht daraus falsche Schlüsse (so H. Utzschneider, W. Oswald, a. a. O., S. 292 f). 9 Unter dem Einfluß des babylonischen Mythos vom Spalten des Urmeerdrachens durch Marduk bildete sich bei den Juden im Exil neben der alten Ostwinderklärung eine andere, wun­ derhafte Stabvariante heraus (P) (vgl. J. Scharbert, Exodus, Würzburg 1989, S. 62).

Auszug aus Ägypten und Durchzug durch das Schilfmeer 

157

Gott her zu erklären, Gott – und nicht Israel – Herr des Krieges sein zu lassen, und das alles in einer Zeit, in der von Ächtung des Krieges keine Rede sein kann.10 Das Herrsein Jahwes tritt umso herrlicher hervor, als Mose sein Werkzeug ist. Ihm gibt er den Stab in die Hand (14,16), ihm eröffnet er seinen Unheilsplan für Ägypten, der sich als Heilsplan für Israel erweisen soll (14,17 f), ihm gibt er den für die Ägypter tödlichen Befehl (14,26). Jahwe rückt in transzendente Ferne11 und behält doch die volle Verantwortung für das Geschehen. Moses Stab, der das Ret­ tungs- und das Strafwunder bewirkt, hat Anteil am hell-dunklen Wesen Jahwes.

2.1.4 Ergänzende Elemente In die priesterschriftliche und nichtpriesterliche Schilderung des Geschehens sind Traditionssplitter hineingeraten, die einen durchaus nicht prinzipiell gewalttäti­ gen, sondern eher Gewalt verhindernden Gott hindurchschimmern lassen. Dazu gehört 14,19a, wo der „Engel Gottes“ zwischen die Heere tritt (analog 14,19b [NP]), und 14,25a, wo Gott die Räder der ägyptischen Heerwagen „hemmt“12. Die hier geschilderte Gewalt ist power, Machttat, keinesfalls violence. Insofern ist das Gottesbild der Ergänzungen dem nichtpriesterlichen Bericht ähnlicher als der Priesterschrift. Auffällig ist auch, dass die Ergänzungen eher NP als P angelagert zu sein scheinen, also auf eine Einfügung noch vor dem Zusammenwachsen mit P verweisen. Die Geschichte vom Auszug in ihrer jetzigen redaktionell gestalteten Form will festhalten: „Wenn Israel vor dem völligen Untergang bewahrt wird, dann nicht durch eigene Stärke, sondern nur durch das Eingreifen seines Gottes, der verhindert, dass das Militär auf die Flüchtlinge trifft.“13 Dabei scheut er nicht den Machtkampf mit dem sich als Gottheit wähnenden Pharao14. Er wird für Israel streiten, Israel soll nur furchtlos standhalten und zuschauen, wie Gott hilft (14,13)15. 10 In Jes 9,2 wird helle Freude beim Erscheinen der Herrlichkeit Jahwes problemlos vergli­ chen mit der sprichwörtlichen (vgl. Ps 119,162) Freude beim Beuteausteilen und unreflektiert neben die Erwartung der völligen Austilgung des Krieges in der neu hereinbrechenden Gottes­ wirklichkeit gesetzt. Das kann nur bedeuten: Solange der ewige Friede Desiderat bleibt, ist der Krieg gegen die Feinde Israels mögliches Mittel in der Hand Jahwes (vgl. Jes 10,16 ff). 11 Gisela Kittel, Der Name über alle Namen I, Göttingen 1989, S. 53. 12 14,25a gehört nicht zu NP (anders 14,24), da die Aktion des „Hemmens“ nach der Ver­ breitung des Gottesschreckens unnötig ist. 13 I. Fischer, „Wieso lässt Gott beim Exodus Pharaos Elitetruppe ersaufen?“ in: Bibel und Kirche 66/2011, S. 140 f, bes. S. 141. 14 Zum verborgenen Machtkampf zwischen Pharao und Jahwe in der Schilfmeergeschichte vgl. I. Fischer, ebd. und G. Kittel, Der Name über alle Namen I; Göttingen 1989, S. 40 ff. 15 G. Fischer / D. Markl schreiben 14,13 eine „anti-militärische Tendenz“ zu: „Die Israeli­ ten ziehen nicht in den Krieg, sondern sind Beobachter einer Auseinandersetzung auf anderer Ebene“ (G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 159). So richtig dies ist, wird man hinzufügen müssen,

158

Gott und das Volk

2.2 Das Schilfmeerlied (Ex 15,1–21) 2.2.1 Kontext und Form Im biblischen Kontext ist das Schilfmeerlied der „Geburtsschrei“16 des Volkes Is­ rael nach dem Durchbruch durch die Widerstände eines abhängigen Lebens hin zur Freiheit. Nun muss Israel laufen lernen. Im zum Lobpreis geformten Geburts­ schrei „erhebt sich das Leben des Volkes zu einzigartiger Poesie und in ungeahnte Höhen“17. So ist der Mix aus Hymnus und Danklied hier genau an der richtigen Stelle des Exodus-Buches. Gerade aber der Mix führt zur literaturgenetischen Frage und zu dem in den einzelnen Überlieferungen jeweils sich ausprägenden Gottesbild.

2.2.2 Strukturelles und Literarisches Das Schilfmeerlied gliedert sich in ein „Moselied“ (15,1b-18) und ein „Miriam­ lied“ (15,21). 15,1a ist redaktionelle Überleitung von der Durchzugsgeschichte her. So erklärt sich, dass das Lied im Kontext dem Mose zugeschrieben wird. Auch das Miriamlied ist in 15,20 redaktionell angekündigt. Beide Einleitungen weisen auf Chorgesang mit den jeweils führenden Stimmen des Mose und der Miriam hin. 15,19 ist eine weitere Überleitung von 15,18 zu 15,20 hin. Sie hat eine doppelte Funktion. Zum einen liefert sie eine Begründung für das ewige König­ tum Jahwes (v 18): Das Gott-Königtum des Pharao ist für immer ausgeschaltet (vgl. auch die rhetorische Frage in 15,11). Zum anderen lässt sie Jahwe als Sieger im Kampf mit Ägypten erscheinen. Er ist der wahre Kriegsheld (vgl. 15,3), der nun von Miriam und den Frauen in der Weise des „Siegestanzliedes“ begrüßt und gepriesen wird18. So bleiben als poetische Texte 15,1b-18 (Moselied) und 15,21b (Miriamlied). Strukturell lässt sich 15,1b-18 untergliedern in einen Hymnus (15,1–5) und in ein Danklied (15,6–17). 15,18 hat wieder hymnischen Charakter. Das Danklied nimmt in 15,6–10 Bezug auf die Errettung am Schilfmeer, in 15,11–17 greift es – kontextuell anachronistisch – in die Zukunft und blickt von einem sehr späten Zeitpunkt auf die Bewahrung bei der Landnahme und den Tempelkult zurück. dass sich die „anti-militärische Tendenz“ bei NP auch auf Jahwe bezieht. Denn sein Verhalten ist Israel schützend und Konfrontation verhindernd. 16 G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 173. 17 Dies. ebd. 18 Zur Gattungsbezeichnung vgl. G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 165: Wurde das Sieges­ tanzlied von den Frauen bei der Rückkehr der Männer aus der Schlacht gesungen, so hier in exklusiver Weise beim vollendeten Sieg Jahwes.

159

Das Schilfmeerlied 

Es wird sich zeigen, dass sich in der Struktur auch ein literarischer Werdeprozess widerspiegelt. Zunächst aber kann man wegen seiner Kürze vom Miriamlied als der ältesten greifbaren Erinnerung an die Rettung am Schilfmeer ausgehen19. Die literarische Entwicklung zum Moselied nimmt typische Elemente sowohl der NP- wie auch der P-Erzählung auf. Demnach muss die Schilfmeergeschichte bereits in einer auserzählten Form vorgelegen haben20. Der Weg führt also von der kurzen hymnischen Reminiszenz 15,21 zur narrativen Gestaltung der Erinne­ rung, zunächst in der NP-Form, später in der P-Form und in der NP und P ver­ knüpfenden Redaktion sich niederschlagend. Nun fällt auf, dass sich im Hymnus 15,1–5 vorwiegend die NP-Tradition widerspiegelt, teils gedanklich, teils begriff­ lich, und in 15,6–10 die P-Theologie. Die saubere Trennung lässt an ein aufeinan­ der folgendes Wachstum denken. Zunächst aber sei die These der NP-Tradition in 15,1–5 und der P-Theologie in 15,6–10 veranschaulicht. Vergleich des Moseliedes Ex 15 mit der NP- und P-Erzählung 15,1–5 15,1: Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt.

‫ ָ ר ָמה‬/ rāmāh = werfen, schießen

15,3: Der Herr ist der rechte Kriegsmann

15,4: Schilfmeer 15,6–10 15,6: Herr, deine rechte Hand, herrlich an Kraft. Herr, deine rechte Hand zerschlägt den Feind.

‫ וַ יְ נַ ֵער‬/ ​wajᵊna’ḗr (‫ נִ ֵער‬/​  ni’ḗr = schütteln, treiben, stürzen)

‫ יַ ם־סוּף‬/ jam-suf ‫ יְ ִמינְ ָך‬/ jᵊminᵊchā ‫ ַ בּכּ ַֹח‬/ bakoach

‫ ְ ּביַ ד ָר ָמה‬/ bᵊjad rāmāh

NP 14,27: So stürzte der Herr sie ins Meer.

14,14: Der Herr wird für euch streiten. 14,25: Der Herr streitet für sie wider Ägypten. 13,18: Schilfmeer P 14,8: …unter einer mächtigen Hand

19 M. Noth, a. a. O., S. 96; J. Chr. Gertz, a. a. O., S. 191; anders J. Scharbert, a. a. O., S. 63; H. Utzschneider, W. Oswald, a. a. O., S. 343. 20 So auch R. Albertz mit vergleichendem Blick auf Ex 15,1–5, a. a. O., S. 235 und H. Utz­ schneider, W. Oswald, a. a. O., S. 341, allerdings nur auf eine P-Version bezogen. – Anders J. Chr. Gertz, a. a. O., S. 191 und 192 Anm. 14, der die Parallelen nicht für aussagekräftig genug hält.

160 15,7: deine Herrlichkeit

15,8: Es türmten die Wasser sich auf, … standen wie ein Wall, … erstarrten 15,9: Ich will nachjagen und ergreifen 15,10: Das Meer bedeckte sie

Gott und das Volk

‫ ּגְ אוֹנְ ָך‬/ ​gᵊ’ōnᵊchā

‫ וְ ַאּכָ ְב ָדה‬/ wᵊ’akkāvᵊdāh ‫ ּבהּכָ ְב ִדי‬ ִ / ​ bᵊhikkāvᵊdī

‫א ְרּדֺף‬/’ärdṓf ֶ ‫ ַ א ִּשיג‬/ ’assīg

‫ וַ ּיִ ְר ְּדפּו‬/ ​ wajirdᵊfu ‫ וַ ּיַ ִּׂשיגּו‬/ ​ wajassīgu

‫ ּכִ ָּסמֺו‬/ kissāmō21 ‫ וַ יְ כַ ּסּו‬/ ​ wajᵊchassu

14,4: Ich will meine Herrlichkeit erweisen … 14,18: …wenn ich meine Herrlichkeit erweise 14,22: Das Wasser war ihnen eine Mauer zur Rechten und zur Linken. 14,9: Die Ägypter jagten ihnen nach (vgl. 14,4) … und holten sie ein … 14,28: Das Wasser kam wieder und bedeckte Wagen und Reiter

Da NP älter als P ist, ist es – das legt der Vergleich des Moseliedes mit den Er­ zähltraditionen nahe – denkbar, dass es Moses Lobgesang zunächst nur in der Form von 15,1–5 gab22. Sie wären dann der gegenüber 15,6–10 ältere Teil. Als P erzählend und möglicherweise auch redaktionell auf den Plan trat, ergänzte der P-Redaktor das Moselied um 15,6–10. – 15,11–17 gehört wohl auch in die Exils­ zeit. Hier wird auf Landnahme, Kriege um das Gelobte Land und Tempelkult auf dem Zion zurückgeblickt, und zwar so, dass der Durchzug durchs Meer zur Meta­ pher für den triumphalen Durchzug Israels durch eine Wand von (salutierenden?) Feinden zur Linken und zur Rechten wird (15,6) bzw. der damalige „Durchzug“ Hoffnung und Gewissheit gibt, dass noch einmal der Weg zum Heiligtum in Je­ rusalem23 sich auftun wird zwischen zu Steinen erstarrten Feinden hindurch (vgl. Ps 126). 15,11–17 gehört stilistisch zum Danklied, ist aber von anderer Hand als die 15,6–10. Eine letzte Hand schließlich (in der 3. Person schreibend) rundet den Lobgesang ab mit dem Bekenntnis zum ewigen Königtum Jahwes. Die folgende Untersuchung wird die Gottesbilder im Einzelnen nachzuzeichnen versuchen. 21 Zum ungewöhnlichen hebr. Personalsuffix ‫ מֺו‬/ mō für die 3. Person masc. acc. pl. (eos / sie) vgl. H. Utzschneider, W. Oswald, a. a. O., S. 329. 22 15,5a wirkt darin wie ein Fremdkörper. Nicht nur, dass er den klimaktischen parallelismus membrorum von 15,4b zu 5b hin unterbricht; er benutzt auch das für P typische „bedecken“ (vgl. 14,28 mit 15,10). Sollte P sich hier in NP verankert haben? 23 Mit der „heiligen Wohnung“ (15,13) kann nur der Zion gemeint sein. Das ergibt sich klar aus 15,17 (mit J. Scharbert, a. a. O., S. 65 und G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 171 gegen M. Noth, a. a. O., S. 99 f und B. Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, S. 437).

Das Schilfmeerlied 

161

2.2.3 Das Gottesbild im Miriamlied Ex 15,21 Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man urteilen würde, in diesem Lied werde Ge­ walt – noch dazu Gottes Gewalt-Tätigkeit – verherrlicht. Es ist daran zu erinnern, dass hier nicht ein Siegervolk nachträglich Gott vor seinen Karren spannt, sondern dass Israel durch Verfolgung in tödliche Bedrohung geraten war. In dieser Situa­ tion – so der Hymnus – greift Gott ein und ergreift Partei für sein Volk gegen die kriegerische Gewalt der Ägypter. Er erspart es den Israeliten, selbst kriegerische Gewalt anzuwenden. Wir haben es hier mit einem parteilichen Gott zu tun. Nicht die Gewaltsamkeit steht im Vordergrund, sondern die Parteinahme für die Ver­ folgten – freilich unter Gebrauch von Gewalt.

2.2.4 Das Gottesbild im älteren Moselied Ex 15,1–5 Das ältere Moselied bekennt sich24 zu einem Gewalt gebrauchenden Gott: Am Anfang (15,1) und am Ende (15,4) steht seine „hoch erhabene“ Gewalt-Tätigkeit, poetisch ausgemalt. Im Zentrum jedoch stehen der Lobpreis der Rettung und das Kriegshandeln Jahwes anstelle Israels25. Im Lobpreis spricht das Ich und lobt den Herrn als meine Stärke, mein Lobgesang und mein Heil. Der Herr wird in seiner Parteilichkeit gelobt. Er hat Partei ergriffen gegen Bedrückung, Ausbeutung und Verfolgung und sich eingesetzt für Freiheit und Leben seines Volkes. Natürlich ist er Kriegsgott, Wesensbeschreibung in Verbindung mit seinem Namen. Natür­ lich ist er der wahre Kriegsgott, eine polemische Spitze gegen die sich im Pharao inkarnierende Gottheit. Natürlich ist er eingeschritten zugunsten seines Volkes, welchem er den Weg bahnt und welches sich auf ihn, stark und mächtig im Streit (Ps 24,8), verlassen kann. Insofern unterscheidet sich dieses Gottesbild nicht von dem der NP-Schilfmeererzählung und auch nicht von dem im Miriamlied. Es kann daher als sehr alt angesehen werden26, insbesondere auch unter Berück­ sichtigung der folgenden Weiterentwicklung des Liedes.

2.2.5 Das Gottesbild im ergänzten Moselied Ex 15,6–10 Ist Jahwe in 15,1–5 der oberste Kriegsherr, der das Geschehen zugunsten Israels lenkt und seine Stärke dabei selbstverständlich gegen Ägypten einsetzt, so ist er 24 Die homologische Form weist auf gottesdienstlichen Gebrauch. 25 Vgl. die chiastische Anordnung, die das theologische Gewicht des Zentrums unterstreicht: Machttat – Lobpreis; Bekenntnis – Machttat. 26 M. Lass, … zum Kampf mit Kraft umgürtet. Untersuchungen zu 2 Sam 22 unter gewalt­ hermeneutischen Perspektiven, Göttingen 2018 (BBB 158), S. 347.

162

Gott und das Volk

in 15,6–10 der Wundertäter. Mit keinem Wort wird freilich das Rettungswunder direkt erwähnt. Aber in seiner „großen Herrlichkeit“ ist es enthalten. Es beginnt mit einem Strafwunder an den Ägyptern (15,6–7); es folgt ein Naturwunder, das von der überragenden Herrlichkeit des Herrn zeugt: Das feindliche Element ist entmachtet und gleichsam in Totenstarre verfallen (15,8). Vor dem Hintergrund der gewalt-tätigen und machtvollen Herrlichkeit Jahwes nehmen sich die Gedan­ ken und Pläne des Feindes als Lachnummer aus (15,9) – nochmals Rekurs auf das Strafwunder (15,10). Dieser Gott zeigt seine Macht (power) und gebraucht verletzende Gewalt (violence). Aber er wird von Israel nicht von seiner verletzenden Seite her erlebt; denn er gebraucht ja verletzende und gar vernichtende Gewalt als ultima ratio zugunsten seines bedrohten Volkes. Insofern ist sein Handeln keineswegs will­ kürlich (arbitrariness), sondern bewusst parteilich. Er steht auf der Seite derer, die im Vertrauen auf ihn ihren Weg aus Ausbeutung und Unterdrückung in die Freiheit gehen.

2.2.6 Das Gottesbild im ergänzten Moselied Ex 15,11–17 Die Ergänzung besteht aus drei thematischen Sinnabschnitten: 1. Der Götter­ kampf ist entschieden; 2. Der Herr sieht sein Volk in Barmherzigkeit an; 3. Das führt zum Erschrecken und zur Totenstarre der Völker im Jordanland zugunsten Israels. Entsprechend treten auch unterschiedliche Wesenszüge Gottes hervor. 15,11a stellt preisend die Einmaligkeit und Einzigkeit Jahwes heraus. Hinter­ grundkulisse sind all die anderen vermeintlichen Götter oder Menschen, die durch behauptete Abstammung oder Kult vergottet werden. Nicht zuletzt fällt auch der Pharao darunter! All jenen Wesen eignet Inferiorität gegenüber Jahwe. Eine solche Superiorität Jahwes ist absolute Macht (power). Sie wird hier preisend festgestellt. Diese Macht wird in 15,11b konkretisiert. Danach ist Gott „sich herrlich / präch­ tig erweisend in Heiligkeit“. Seine Herrlichkeit und Pracht ist von anderer Art als die der sichtbaren und (be)greifbaren Welt. Seine Herrlichkeit und Pracht ist un­ erreichbar, weil er selbst heilig, unnahbar ist. Weiter heißt es: „Gefürchtet in Lob­ preisungen“. Am ehesten in dieser Wendung kommt Jahwes Doppelgesichtigkeit zum Ausdruck: Sein furchterregendes Wesen ist Anlass zum Lobpreis, weil es sich zugunsten seines Volkes auswirkt. Die „Doppelseitigkeit im Wesen des lebendigen und heiligen Gottes“27, die complexio oppositorum, wird also durchaus wahrge­ nommen, aber nicht als irritierend empfunden, weil sie sich in Parteinahme für sein Volk auswirkt. Schließlich „tut er Wunderbares“. Das „Wunderbare“ ist Zu­ sammenfassung des vorher Gesagten. Es umgreift die unbeschreibliche Herrlich­ 27 B. Jacob, a. a. O., S. 438.

Das Schilfmeerlied 

163

keit ebenso wie sein Eingreifen, das Furchterregende ebenso wie das Rettende. Es hat damit teil am doppelgesichtigen Wesen Jahwes. Der zweite Teil wendet sich von der Herrlichkeit in Erhabenheit hin zu seinem Volk, zu dessen Erlösung und Führung. Beachtenswert ist, dass der Auszug und Gottes Geleit hier eigens thematisiert werden. Das war in 15,1–5 nur andeutungs­ weise, in 15,6–10 gar nicht der Fall. Das ist eine bedeutende erzählerische, aber auch theologische Fortentwicklung, wenn man es mit den Anfängen in 15,21 ver­ gleicht. Die theologische Fortentwicklung besteht darin, dass die Herausführung mit Jahwes Gnade / Barmherzigkeit (‫ ֶ ח ֶסד‬/ chäŝäd) ebenso in Verbindung gebracht wird wie mit seiner Stärke (‫עֺז‬/῾ōs) (15,13). Der parallelismus membrorum (… ge­ leitet durch deine Gnade … / … geführt durch deine Stärke …) zeigt, dass Stärke (power) und Gnade sich nicht ausschließen, sondern zusammengehören. Die Gnade kann nur wirksam werden durch Stärke. Stärke aber zeigt sich gleicherma­ ßen im Vernichten wie im Erhalten. Im Vertrauen auf Gottes Treue (vgl. Ex 34,6) wird das Vernichten allerdings als eine Form des Erhaltens erlebt. Die Partei­ nahme für sein Volk führt letztendlich dazu, dass Jahwe seine „heilige Wohnung“ bei ihm nimmt. Er ist nicht nur der transzendente, sondern zugleich auch der immanente Gott, der Gott, der inmitten seines Volkes wohnt, der nahe Gott, ohne in seiner Nähe seine Heiligkeit aufzugeben. 15,14–17 bringt im Blick auf Gottes Wesen keine neuen Erkenntnisse. Das Er­ schrecken der Völker, die dem ins Gelobte Land ziehenden Israel im Wege stehen, ist nur die Kehrseite der gnädigen Zuwendung Jahwes zu seinem Volk. Jahwe muss das Erstarren nicht bewirken, es stellt sich einfach ein. Dem Einzug Israels ins Gelobte Land entspricht die Wohnungnahme Jahwes in seinem Heiligtum – zum Zeichen ewiger Gemeinschaft.

2.2.7 Neuakzentuierung durch den Schlussvers Ex 15,18 15,18 bringt einen neuen Gesichtspunkt in das Lied: das Jahwe-Königtum. Als Schlussvers muss man ihn im Zusammenhang mit dem ganzen Lied sehen. In 15,1–5 ist Jahwe Kriegsgott, in 15,6–10 tritt er als Wundertäter hervor, im Rah­ men seines kriegerischen Eingreifens freilich nur als Strafwunder-Täter. 15,11–17 ist disparat. Hier wechselt der Heilige zum Nahen, der auf der anderen Seite der Schreckliche ist. Das Bedürfnis nach einer Zusammenfassung dieser Verse liegt nahe. Aufgrund der Erhabenheit und Einwohnung, die zugleich Abschreckung der Feinde ist, bietet sich der Königstitel an. „Der Herr ist der rechte Kriegsmann“ ist das erste Wort. „Der Herr wird König sein immer und ewig“ ist das letzte Wort. Der Redaktor macht so den Jahwe-Kriegs-Psalm zu einem Jahwe-Königs-Psalm. Das Königtum Jahwes wird aber keines der vorher genannten Wesenszüge ausschließen. In ihm koinzidieren Gewalt-Tätigkeit wie auch bewahrende Nähe, Heiligkeit wie auch Einwohnung,

164

Gott und das Volk

Wunderbares wie auch Schrecken. Dass sich das Königtum Jahwes bewähren wird auch in schwerer Zeit (etwa in der Zeit des Exils), das ist die lebendige Hoffnung dessen, der das Schlusswort spricht.

2.2.8 Ethische Impulse aus dem Exodusgeschehen Dass sich parallel zu Ex 13,17–14,31 entwickelnde Moselied gibt dem erzählten Ex­ odusgeschehen eine theologische Deutung: Das Mitsein Gottes, sich darstellend in Wolken- und Feuersäule, in Moses Wunderkraft und im Engel, wird „übersetzt … in das Bekenntnis kompromißloser Parteilichkeit für die Schwachen, Bedrohten, Hilflosen und Wertlosen“28. Die Exodustexte enthalten keine unmittelbar aus ihnen selbst heraus evidenten ethischen Aspekte, wohl aber hat die Exoduserfahrung zu einer Ethik Anlass gegeben, die befreites Leben als Erinnerung an Gottes Befreiungstat konstituiert und die Parteinahme für den Schwachen, Rechtlosen, Betrogenen als gottgemäßes Leben in den Mittelpunkt stellt. Erkennbar wird dies allerdings erst von der endredaktionellen Textgestalt des Alten Testamentes her. Aus diesem Blickwinkel sieht R. Oberforcher einen Zusammenhang von Exoduserfahrung, Sinaioffenbarung und prophetischer So­ zialkritik. Seine Linien seien hier aufgezeigt: Die Ethik der Gebote Ex 19 ff ist bewusst redaktionell hineingestellt in den „narra­ tiven Kontext der Exoduserzählung“29. So wird „der Sinaibund letztlich begreifbar als Institutionalisierung der Befreiungserfahrung“30. Die programmatische Zusage der Be­ freiung: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus Ägyptenland, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2), ist indikativische Grundlage aller Ethik. Eine solche Ethik kann auch „Ethik der Freiheit“ genannt werden, die die Autonomie des Menschen in der Theonomie verankert sein lässt, darum wissend, dass Humanität ohne Gottesbezug „keine ausreichende Selbstevidenz“ hat31. „Die Zehn Gebote wie alle nachfolgenden Gesetzestexte und Vorschriften sind hermeneutisch qualifizierbar als Bindung an die Befreiung, als ein Leben aus der Exoduserfahrung“32. Sie geben einen „Befreiungsimpuls im gesellschaftlichen Alltag“33. Die Autonomie des Einzelnen wie des Volkes ist einzig und allein durch „exodusgemäße Theonomie“34 sicherzustellen. Anders gesagt: Wo der Exodusgott durch Abgötter ersetzt wird, drohen Freiheitsverlust und Inhumanität. Oberforcher verfolgt den Zusammenhang von Exoduserfahrung und Gesetzgebung bis in weitere Gesetzessammlungen hinein, wo an die Verschränkung von Ethos und Aus­ zug ausdrücklich erinnert wird (z. B. Dtn 24,17; Lev 19,33 f; Lev 19,35 f). „Am Gottesbild des Exodusgottes erarbeiten die Propheten das kritische Menschen­ bild. Die Parteilichkeit Gottes wird zum Grundimpuls im solidarischen Einsatz für 28 R. Oberforcher, „Gott als Vorkämpfer der Humanität. Biblische Befreiungserfahrung und prophetische Sozialkritik“ in: ThG 41/1998, S. 92 ff, hier bes. S. 96. 29 Ders., a. a. O., S. 97. 30 Ders. ebd. 31 Ders., a. a. O., S. 95, 97, 99. 32 Ders., a. a. O., S. 97. 33 Ders. ebd. 34 Ders. ebd.

Der erste Krieg gegen die Amalekiter 

165

den bedrohten Mitmenschen“35. Oberforcher zeigt das an den vier Bereichen der Kultund Frömmigkeitskritik, der Institutionen- und Autoritätenkritik, der Sozialkritik und der Religionskritik auf. Insbesondere im Blick auf die Sozialkritik gilt: „Das kultische Wirken der Propheten hat nicht einfach das Ziel, eine umfassende Materialethik zu ent­wickeln …, ins Zentrum rückt aber der schreiende Widerspruch zwischen dem An­ spruch eines bundes- und exodusgemäßen Glaubens in Israel mit seinem humanisie­ renden Potential und einer Lebenspraxis, die das Schwache und Hilflose bedroht und die Würde der Armen mit Füßen tritt.“36 Die Solidarisierung Jahwes mit den Versklavten und Bedrohten und sein rettendbefreiender Einsatz für sie hat ein „Bundesethos“ zur Folge, „das ebenfalls durch eine tiefe Empathie für den leidenden Mitmenschen geprägt ist und so den Exodusimpuls weiterträgt im Dienst der Humanisierung der Menschheit“.37

2.3 Der erste Krieg gegen die Amalekiter (Ex 17,8–16) 2.3.1 Die Stellung der Amalekiterkriege in der Groß-Einheit der historischen Bücher Der in Ex 17,8–16 berichtete Krieg gegen Amalek ist der erste von mindestens dreien. Er ereignete sich der „Erinnerung“ nach (vgl. 17,14) zur Zeit der Wüs­ tenwanderung, wo sich die Amalekiter den Israeliten in den Weg gestellt hat­ ten (17,8; vgl. 1.Sam 15,2). Einen zweiten führte Saul als Vernichtungskrieg des Erbfeindes (1.Sam 15,3 ff), was aber nicht zur totalen Vernichtung führte. Jahr­ zehnte später führte David den dritten Krieg (1.Sam 30). Der erste und der zweite Krieg wird auch in Dtn 25,17–19 reflektiert. Der Dtn-Text schlägt erzählerisch die Brücke zwischen beiden Ereignissen, indem er auf den Durchbruchskrieg zur Zeit der Wüstenwanderung zurückblickt und auf den Vernichtungskrieg nach der Landnahme vorausschaut. Ungeachtet der jeweiligen Entstehungsgeschichte von Ex 17,8–16 und 1.Sam 15,1–3538 stellt die deuteronomisch-deuteronomis­ tische Schule eine epistemologische Verbindung zwischen beiden Erzählungen her: 1. Der heilige Krieg gegen die Amalekiter ist gemäß Gottes Willen nach den Ereignissen in Ex 17,8–16 noch nicht zu Ende; 2. Ex 17,8–16 interpretiert sich – 35 Ders., a. a. O., S. 98. 36 Ders., a. a. O., S. 102. 37 Ders., a. a. O., S. 104. 38 W. Dietrich stellt sich die Entwicklung der Geschichten so vor: Am Anfang steht die Erinnerung an Davids Auseinandersetzung mit amalekitischen Wüstenstämmen (1.Sam 30). Ins Grundsätzliche wendet sich die Feindschaft gegen Amalek in Ex 17,8–16. Darauf nimmt das „Amalekitergesetz“ Dtn 26,17–19 Bezug. Auf der Grundlage dieses „Gesetzes“ kann vom Amalekiterkrieg Sauls erzählt werden (Samuel [BK VIII/2, 3. Teilband], Neukirchen-Vluyn 2012, S. 181).

166

Gott und das Volk

auch – von 1.Sam 15 her: Gottes Willen ist Gehorsam zu leisten. So deutet sich von 1.Sam 15 her eine ethische Dimension an, die sinnvollerweise dort erschlos­ sen wird.

2.3.2 Literarische Bemerkungen In Ex 17,8–16 haben wir es mit einer alten Überlieferung zu tun (17,8–13) und einer Funktionalisierung dieser Überlieferung durch einen späteren Sammler oder Redaktor (17,14–16)39. Die alte Überlieferung erzählt vom Kampf Amaleks gegen Israel und Moses siegreicher Feldherrnrolle. Sie soll aufgeschrieben und festgehalten werden „zum Gedächtnis“. So wird die Überlieferung in den Dienst einer Erinnerungskultur gestellt. Es gibt es m. E. Indizien, die für die Aufnahme dieser Tradition durch P spre­ chen40. P scheint eine alte Erzählung vom Sieg des Mose über Amalek in seinem Sinne geformt und akzentuiert zu haben. Dafür sprechen der „Gottesstab“ in Moses Hand (17,9), das machtvolle Wirken mit erhobenen Händen (17,11 f) und die Nennung Aarons in Moses Gefolge (17,10 u.12). Auch Hur entstammt pries­ terschriftlicher Tradition (vgl. Ex 31,2; 35,30; 38,22)41. Außerdem ist die Aus­ drucksweise „auf jeder Seite einer“ (wörtl.: „von hier einer und von da einer“ [‫ ּומּזֶ ה ֶא ָחד ִמּזֶ ה ֶא ָחד‬ ִ / misäh ächād umisäh ächād]) späten Texten vorbehalten42. Ebenso ist die redaktionelle Verknüpfung mit 17,1–7 priesterschriftlich: Alles spielt um Rephidim (17,1 [P]; 17,8). – Stab und ausgestreckte Hände können in P miteinander verbunden sein oder auch je separat vorkommen43. Auf jeden Fall wird so immer, wie auch hier, ein Strafwunder an Israels Feinden vollzogen44: vgl. 39 Damit entfällt die Vermutung, dass 17,8–16 völlig einheitlich sei und im Altarbau ihr Ziel habe (so M. Noth, a. a. O., S. 113). Auch H. A. Tanner geht von der Einheitlichkeit der Erzählung aus und datiert sie in eine „späte Zeit“ (H. A. Tanner, Amalek. Der Feind Israels und Jahwes. Eine Studie zu den Amalektexten im Alten Testament, Zürich 2005, S. 21). – Meine Beobachtung von Urtext und Bearbeitung erfordert jedoch eine zeitliche Schichtung. 40 H. A.Tanner hält die Amalek-Episode wegen ihrer schwachen Verankerung im Kontext für sehr jung („exilisch-nachexilische Entstehungszeit“ [a. a. O., S. 73]). – H.Chr. Schmitt denkt an den Deuteronomisten, weil er die erhobenen Hände im Vergleich mit 1.Sam 7,2–13 für einen Gebetsgestus hält und dieser priesterliches Kultgebaren abgelöst habe („Die Geschichte vom Sieg über die Amalekiter Ex 17,8–16 als theologische Lehrerzählung“ in: ZAW 102/1990, S. 340). Allerdings kann Schmitt Moses Gestus nicht überzeugend als Gebetsgestus nachweisen. 41 H.-Chr. Schmitt, a. a. O., S. 342; „Hur“ in Ex 24,14 könnte durch P nachgetragen worden sein, sofern man P eine redaktionelle Rolle zuschreibt. 42 H. A.Tanner, a. a. O., S. 73. 43 Somit ist der Stab in 17,9 kein späterer Zusatz, wie Noth, a. a. O., S. 113 meint, sondern zusammen mit den erhobenen Händen ein Proprium von P. 44 Einzig 17,5b scheint der Stab einem direkten Rettungswunder für Israel zu dienen (Wasser aus dem Felsen). V 5b erweist sich jedoch als Nachtrag, ebenso wie die Stab-Bemerkungen in Ex 7,15.17.20, die ja in 17,5b ausdrücklich zitiert werden.

Der erste Krieg gegen die Amalekiter 

167

die Plagen und Auszug (Ex 7,8–13; 7,19.20a.21fin.22; 8,1–3; 8,12–15; 9,22.23a.25; 10,12–13a; 10,21–22; 14,16; 14,26). – Schließlich spricht das Auftreten von Aaron neben Mose für P. Mose ist auch in den P-Teilen der Plagen-Erzählung meist in der Begleitung Aarons. 17,14–16 gibt sich als spätere Ergänzung zu erkennen durch den Neueinsatz „Und der Herr sprach zu Mose …“. In der Amalek-Geschichte wird auffälliger­ weise keine einzige Kriegshandlung durch ein Wort des Herrn ausgelöst; nun aber gibt der Herr Anweisung zur Niederschrift der Ereignisse. Dabei geht es um das „Gedenken“. Dazu dient auch ein Altar mit Namen „Der Herr mein Feldzeichen“ und ein Beglaubigungszeichen für den Heiligen Krieg, den der Herr gegen Amalek führt. Das alles hat kultischen Charakter und mag von Kreisen ergänzt sein, denen am Auslöschungsbann gegen den Erzfeind Israels, sich verkörpernd in Amalek, aus dem kulturellen Gedächtnis gelegen war (P)45.

2.3.3 Das Gottesbild in Ex 17,8–13 In 17,8–13 tritt Gott inkognito als „Kriegsmann“ auf. Er hat in wunderhafter Weise durch den Stab des Mose die Hand im Spiel46. Den Krieg gegen Amalek führen Menschen: die Truppen Josuas unter Führung des obersten Feldherrn Mose; aber Sieg oder Niederlage liegen in Gottes Hand. Am Ende steht der Sieg, nicht allein Menschenkraft, sondern der durch Moses Stab wirkenden Wunderkraft Gottes zu verdanken. Der, der Israel führt, muss auch da seine Kraft erweisen, wo sich Feinde Israel in den Weg stellen. Dann ist nicht allein Menschenkraft entschei­ dend, sondern Gottes Kraft47. Gott, der zu seinem Volk steht, muss diese Kraft notfalls auch im Krieg erweisen. Im Kontext mit Ex 13,17 (NP) gelesen heißt das: Kriegsvermeidungsstrategie ist Gott nicht möglich, wenn der Feind es nicht will48.

45 Nach H. A. Tanner gehört das „Gedenken“ (‫ זִ ּכָ רֺון‬/ sikkārōn) (v 14) sowohl zum priester­ lichen wie auch zum deuteronomistischen Sprachgebrauch (a. a. O., S. 73). 46 So auch H. A. Tanner, a. a. O., S. 34. 47 Der Begriff „Treue“ (‫ ֱ אמּונָ ה‬/ ᵆmunāh) im hebräischen Text des v 12fin spiegelt beides wider. Wörtlich: „Und es geschah, dass seine Hände (als Zeichen der) Treue / Festigkeit waren bis zum Sonnenuntergang“ (‫ וַ יְ ִהי יָ ָדיו ֱאמּונָ ה ַעד־ּב ֺא ַה ֶּׁש ֶמשׁ‬/ wajᵊhi jādau ᵆmunāh ad-bo haschämäsch). Sie wa­ ren Zeichen der Treue und Beständigkeit „der Besten“ (B. Jacob, a. a. O., S. 497) und auch Gottes (vgl. Dtn 7,9). 48 Ethische Überlegungen, etwa zur Rechtfertigung des Krieges, sind hier nicht intendiert.

168

Gott und das Volk

2.3.4 Das Gottesbild in Ex 17,14–16 (Kultlegende und Erinnerungskultur) Das Gottesbild in 17,14–16 wird von den Bekenntnis- und Beteuerungsformeln des Mose wie auch von Gottes eigenen Worten geprägt. „Der Herr ist mein Feld­ zeichen“ ist ein klares Bekenntnis zu Gott als dem „rechten Kriegsmann“. Jahwe ist ein Kriegsgott49. Dieser Kriegsgott hat auf Erden einen Erbfeind. Das ist Amalek. Da Amalek als historische Person, wie er noch in 17,8–13 erscheint, nicht „von Kind zu Kindeskind“, also ewig lebt, muss die Erbfeindschaft dem Symbol Amalek gelten bzw. dem Geist Amaleks, der – historisch gesehen – unter den Amalekitern herrscht und sich gegen Jahwe und sein Volk richtet, der aber als Ungeist überall und immer wieder auftreten kann50. Jahwe ist ein unerbittlicher Kriegsgott, der die totale Vernichtung des Bösen, worin auch immer es sich verkörpern mag, als Verheißung vor Augen stellt. Zu dieser umfassenden Vernichtung gehört auch die Auslöschung der Erinnerung (17,14). Dessen soll Israel stets gedenken, und Josua ist ein erster Überlieferungsträger in einer nie abreißenden, weil in der Tradition des „Buches“ stehenden Kette (17,14). Durch Anfügung von 17,14–16 wird so die historische Amalek-Episode, die nichts anderes sagte als: „Das Kriegsgeschick ist nicht in des Menschen, sondern in Gottes Hand; darauf kannst du vertrauen“, zur Kultlegende einer Erinnerungskultur, die neben die Verheißung der „Vertilgung“ auch die Verpflichtung zur Auslöschung des schlechthin Bösen stellt. Das ist hier im „Gedächtnis“ angedeutet, in Dtn 25,19 deutlich als Gebot formuliert und in 1.Sam 15 diskursiv in Frage gestellt, allerdings mit negativer Antwort.

2.4 Amaleks Schuld darf nicht vergessen werden (Dtn 25,17–19). (Traumabewältigung und Erinnerungskultur) Dtn 25,17–19 knüpft an das gleiche historische Ereignis an, das auch in Ex 17,8–13 reflektiert wurde. Die Einleitung „Denke daran“ (25,17) erinnert an jene Schlacht bei Refidim51, die aber im Unterschied zu Ex 17,8–13 nicht in ihrem Charakter als Entscheidungsschlacht beschrieben, sondern als Trauma erlebt wird. Im Gedächt­ nis lebt das Trauma fort (25,18). So liegt hier eine andere Gedenktradition vor als im Exodusbericht. Diese Traumatradition schlägt sich besonders in 25,18 nieder: 49 Im Altarnamen „einen pazifistischen … Zug“ erkennen zu wollen (so H. A. Tanner, a. a. O., S. 57), halte ich für verfehlt; denn es geht hier nicht um die Inferiorität militärischer Macht zugunsten von Jahwes Kraft, sondern um die Einheit des irdischen mit dem himmlischen Feldherrn. 50 W. Dietrich, Samuel VIII/2.3, a. a. O., S. 181. 51 Bewusste Anknüpfung an die Geschichte als Heilsgeschichte auch in Dtn 23,5 und 24,9.

Amaleks Schuld darf nicht vergessen werden 

169

Amalek52 als Inbegriff des Bösen und der Gottlosigkeit, greift heimtückisch, brutal und hinterlistig die geschwächten Israeliten an (vgl. dagegen Ex 17,11!) und tötet die Wehrlosesten. Das soll Israel nicht vergessen. Daran soll es denken53. Diese Erinnerung ist rückwärts gewandt, auch wenn sie eine Relevanz für die Gegen­ wart hat. – Eines Tages aber wird die Erinnerung keine Relevanz mehr haben, weil Jahwe die Zeit der Ruhe vor allen Feinden ringsumher heraufgeführt haben wird. Es wird eine neue Zeit sein, in der der gottlose Böse nicht mehr wirken kann. Je­ des Gedenken an Amalek wertet dann das Böse auf und ruft es womöglich wieder hervor. So soll es gelöscht und getilgt sein aus der Erinnerung, anheimgegeben dem Vergessen. Das Gebot „Vergiss nicht das Vergessen“ (25,19fin) ist für die neue Zeit gegeben, ist auf die Zukunft gerichtet. Die in Dtn 25 sich widerspiegelnde Tradition kennt den Erbfeind-Gedanken, der sich in Ex 17 als Anhang erwiesen hat. Er scheint hier konstitutiv mit der Tradition verbunden54. Es geht um „Gedenken“ und „auslöschen“ (‫ ָ מ ָחה‬/ māchāh) (25,19). Indes ging es in Ex 17 um eine Verheißung Jahwes, hier um eine Ver­ pflichtung des Volkes. Die Gewichte von Verheißung und Verpflichtung haben sich umgekehrt. Bestand die Verpflichtung in Ex 17,14a lediglich im Aufschreiben und Einprägen der Ereignisse (freilich mit bestimmtem Ziel), so ist die Verpflich­ tung zur Auslöschung der Erinnerung in Dtn 25,19b als Hauptsatz mit Achter­ gewicht formuliert. Demgegenüber ist die Verheißung in Ex 17,14b deutlich als Willenskundgabe Jahwes ausgesprochen55, während sie in Dtn 25,19a nur im Nebensatz als Racheversprechen anklingt. Im Zusammenhang mit der TraumaErinnerung geht es in Dtn 25 um deren Bewältigung: „Tue etwas“ (25,16). Das Trauma ist da. Als Erfahrung der Inkorporation des Bösen im Todfeind hat es 52 Im Unterschied zur Lutherübersetzung 2017 bleibe ich bei der 3. Person Singular (wie Lutherübers. 1984). Ich sehe in „Amalek“ hier noch nicht die Kollektivbezeichnung für einen Volksstamm. Auch die BH spricht im Singular. Das Böse nimmt Gestalt an in einer Person und ihrem Geist, nicht in einem Volk. 53 „Denke daran …“ (25,17) und „… Das vergiss nicht!“ (25,19) sind vom Sinn her aus­ tauschbar. 54 Die Frage der Abhängigkeit beider Traditionen voneinander ist schwer zu entscheiden. Mit J. Scharbert, a. a. O., S. 74 und R. Albertz, a. a. O., S. 283 Anm. 6, gehe ich von zwei un­ abhängigen Traditionen aus (gegen G. Fischer, D. Markl, a. a. O., S. 196). So wäre Ex 17,8–13 ein Kriegsbericht mit später ergänzter Vernichtungsverheißung (Jahwe als Kriegsgott) und Dtn 25,17.18.19b eine Trauma-Erinnerung mit Rat zur Überwindung, die durch 25,19a in den dtn Rahmen eingepasst wurde (vgl. Dtn 12,9 f). Dazu auch G. Braulik, Deuteronomium II, 16,18–34,12, Würzburg 1992, S. 190, und K. Finsterbusch, Deuteronomium, Göttingen 2012, S. 144. Die Einfügung wäre dann an dieser Stelle besonders gut gelungen, weil sie außer der Klammerfunktion zugleich die Voraussetzung benennt, unter der das Gebot für die neue Zeit erfüllbar ist. 55 Ex 17,14b kann kaum als „eine Art Zitat von Dtn 25,19aβ“ (H.-Chr. Schmitt, a. a. O., S. 338) angesehen werden. Wenn jemand den Dtn-Text in Ex 17 hätte zitieren wollen, warum dann nicht wörtlich als Verpflichtung? Man wird in den beiden Texten indes von einer Grund­ erinnerung auszugehen haben, die verschieden akzentuiert wiedergegeben wurde.

170

Gott und das Volk

einen bleibenden Wert (25,17: „Denke daran …“). Aber es kann, ja soll überwun­ den werden: Wirf es auf den Kehrichthaufen der Geschichte! Wie soll das gehen? Wenn es geht, dann nur mit Gottes Hilfe („Wenn nun der Herr, dein Gott, dich vor allen Feinden ringsumher56 zur Ruhe bringt im Lande …“). Damit spricht Dtn 25,17–19 die ethische Dimension der Amalek-Erinnerung an. Die neue Zeit, in Dtn von Mose verkündigt, führt zu einem neuen Leben. Die neue Zeit ist im Anbruch: „Heute gebietet dir der Herr, dein Gott, dass du tust nach allen diesen Geboten und Rechten …“ (Dtn 26,16 ff). Aber sie ist noch nicht im Vollsinn da, sondern erst, „wenn der Herr, dein Gott, dich … zur Ruhe bringt im Lande …“ (25,19a). Denke also daran: Solange du unterwegs bist, wirst du im­ mer mit „Amalek“ zu rechnen haben, mit dem personifizierten Bösen in seiner Abgründigkeit und Gottlosigkeit (25,17 f). Wenn du aber angekommen bist im Land der Verheißung und du Ruhe haben wirst vor den Feinden, dann lebe diese Ruhe (25,19)! Lebe die Realutopie der Ruhe vor dem Bösen. Überführe die Uto­ pie ein Stück weit in die Realität, indem du sie lebst. Du lebst sie, wenn du nach der Kult- und Sozialordnung lebst, die der Herr, dein Gott, dir heute geboten hat (Dtn 12,9 f). Dieses Gebot umfasst auch die Verpflichtung zur Verwirklichung der neuen Zeit, also angesichts geschenkter Ruhe ein Sich-Lösen („Auslöschen“) von traumatischen Erinnerungen,– eine Lebenshaltung und ein Gesellschaftsentwurf, der gut in die exilische Zeit passt57.

2.5 Der zweite Krieg gegen die Amalekiter (1.Sam 15,1–35) 2.5.1 Literarkritik 1.Sam 15,1–35 ist – als redaktionelle Einheit gelesen – ein weiterer Beleg für die Ausrottungsverpflichtung „Amaleks“ bzw. der Amalekiter. Der Text enthält je­ doch einige Ungereimtheiten, z. B.: Samuel nimmt Sauls Sündenbekenntnis in 15,24 nicht an, in 15, 30 f dagegen tut er es; Jahwe bereut in 15,11 und 35 den Ent­ schluss, Saul zum König gemacht zu haben, in 15,29 wird „Israels Ruhm“ jedes Reuegefühl abgesprochen, da er ja kein Mensch sei. Das lässt nach unterschied­ lichen Überlieferungsschichten fragen. Es erscheint sinnvoll, nach einer Grunderzählung zu suchen. Sie müsste von der Einlösung der Verpflichtung erzählen, den Geist Amaleks für immer auszu­ rotten. Indem von Saul als dem Vollstrecker dieser Verpflichtung berichtet wird, 56 Hier ist die Überwindung des Amalek-Komplexes mit Gottes Hilfe mit eingeschlossen. 57 Die damnatio memoriae kennt auch die griechisch-römische Antike. Dort ist sie frei­ lich Rechtsakt, während sie hier theologisch-poimenisch durchdrungen ist. Interessanterweise wieder auftauchend in der „Altenberger Erklärung 2021“, wo es um das Vergessen gegenseitiger persönlicher Verdammungen zwischen Luther und Papst Leo X. geht. – Den Text als „Verarbei­ tung traumatischer Gewalterfahrungen“ zu lesen schlägt auch H. A. Tanner, a. a. O., S. 103, vor.

Der zweite Krieg gegen die Amalekiter 

171

wird er als guter, jahwetreuer König dargestellt: Er steht in der Tradition eines Mose und eines Josua (15,4 f), und er füllt sie mit Leben durch die Vollstreckung des Vernichtungsbanns (15,8). Damit erweist sich 15,4–8 im Wesentlichen als Teil der Grunderzählung. Da das Königtum Sauls nicht ohne Legitimation denkbar ist (vgl. die so genannte königsfreundliche Linie in 1.Sam 8–10), ist es nachvoll­ ziehbar, dass die Grunderzählung auch die Aktivität Samuels im Zusammenhang mit dem Vernichtungsbann beschrieb (15,12.1358), nicht zuletzt, um im Zusam­ menwirken der beiden Sauls Vorgehen nochmals zu legitimieren. Der Bestand der Grunderzählung umfasst somit im Wesentlichen 15,4–8.12 f.32–34. Sie ist in der Königszeit entstanden, möglicherweise schon zur Zeit Sauls oder bald danach59. Die Frage allerdings, ob Israel einen König haben dürfe „wie alle Heiden“, der „unsere Kriege führe“ (1.Sam 8,20) oder ob der Herr weiter „König über sie sein soll“ (1.Sam 8,7), durchzieht auch diesen Text. „Königsfreundlich“ ist die Tatsa­ che, dass der Feldherr Saul „sich ein Siegeszeichen aufgerichtet hat“ (15,12) und Samuel daran keinen Anstoß nimmt. Mose soll dagegen einen Altar errichtet ha­ ben (Ex 17,15)! „Königsfeindlich“ ist die Kritik an Saul, er habe „der Stimme des Herrn nicht gehorcht“ (15,19). Diese Kritik ist grundsätzlicher Art. Sie richtet sich gegen die Institution des Berufsheeres (1.Sam 8,10–12) und möchte weiter an der je aktuellen Sammlung von Kriegern unter einem charismatischen Führer bzw. unter Gottes Führung festhalten (vgl. den „warnenden“ Ton in 1.Sam 8,9a)60. Die königskritische Tendenz läuft neben der königsfreundlichen her und wird wenig später hier literarische Gestalt angenommen haben. Sie beginnt als programmati­ sche Rede Samuels in 15,1–3, in der dieser an die historische Verpflichtung erin­ nert, den Vernichtungsbann beim Namen nennt und ihn konkretisiert, auf Mann und Frau, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel bezogen. In 15,9 wird festgestellt, dass Saul den Bann nur sehr unvollkommen vollstreckt habe, eigentlich gar nicht; denn vernichtet wurde nur, was wirtschaftlich nicht taugte. Die kritische Linie bewertet auch die Verschonung Agags negativ61. Im Folgenden – d.h.15,13a.14–23a – geht es um die prophetische Einforderung des 58 15,13a gehört zur Grunderzählung wie auch zur späteren ergänzenden Darstellung. 59 Einen Überblick über diverse Schichtungsmodelle gibt H. A. Tanner, a. a. O., S. 153. Vgl. hier bes. den Vorschlag von W. Dietrich, David, Saul und die Propheten, Stuttgart 21992, S. 18. 60 Vgl. dazu auch Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 30 f. 61 Indes ist fraglich, ob die Vernichtung des Königs zwangsläufig aus dem Bann folgt. Die Stele des moabitischen Königs Mescha (um 850 v. Chr.) weiß nur von der Tötung von „7000 Mann, Beisassen, Frauen, Beisassinnen und Sklavinnen“ und deren Weihe an Aschtar-Ka­ mosch. – Ahab, ein Zeitgenosse Meschas, verschont König Ben-Hadad von Aram, wird dafür allerdings von einem Propheten getadelt. – Nach siegreichem Feldzug Assurbanipals gegen Elam wird deren König Te-Umman hingerichtet und sein Haupt – gleichsam als Übereignung an die Gottheit – in einen Baum gehängt. G. Baumann folgert: „Der vollständige Sieg über die Feinde schließt auch den … Tod der gegnerischen Könige ein“ (Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 87) (vgl. auch Jos 10,28–43; 11,10–22).

172

Gott und das Volk

Gotteswillens und die Verteidigungsrede Sauls, die ihn am Ende (15,35a) ziemlich allein dastehen lässt. Der hier aufgezeigte Textfaden 15,1–3.9.13a.c-19a.b. 20–23a. (27–28. 30–31.) 35a macht eher den Eindruck einer vollständigen Parallelüberlie­ ferung als einer stückweisen Fortschreibung. Grunderzählung und Parallelüber­ lieferung sind bald zusammengewachsen, spätestens zur Zeit Davids. Denn David ist der „Bessere“ (15,27.28.30.31). Nichtsdestoweniger gebührt Saul die Ehre. Übrig bleibt – von 15,29 abgesehen – 15,10 f.23b.24–26.35b. Hier geht es um Gottes Reue über die Erwählung Sauls, um Sauls Ungehorsam und Sünde und um Gottes Verwerfung. Der Stil dieser Verse gibt sich als deuteronomistische Über­ arbeitung des Stoffs zu erkennen mit dem Ziel der Einfügung in die Geschichte der Königszeit. Dabei ist eine Parallelisierung mit Gottes Reue nach der narrativen Tradition des Sintflutberichts unverkennbar (Gen 6,6 f)62. Ging es dort um die Reue über die Erschaffung des Menschen allgemein, so geht es hier um die Reue über die Erwählung Sauls zum König. War dort mit der Reue auch ein Mit-Leiden Gottes mit dem in Ungnade Gefallenen verbunden, so ist auch hier ein Leiden an der Verwerfung erkennbar, zwar nicht in Gott, wohl aber in seinem Propheten: Zorn, Schmerz, Verzweiflung (15,11), Traurigkeit und Leid (15,35). In Gen 6,8 findet Noah Gnade vor dem Herrn. Ist hier David der „bessere“ Mensch? Dass dem Dtr v 28 gelegen kam, könnte man vermuten. Vielleicht versucht ein Späterer, das zu unterstreichen durch v 29, wobei er seine Schwierigkeit mit der „Reue“ des Herrn offenbart63. Bleibt noch nachzutragen, dass 15,19c typisch deuteronomistische Königs­ beurteilung ist.

2.5.2 Das Gottesbild der Grunderzählung (1.Sam 15,4–8.12–13.32–34) Was hier erzählt wird, geschieht unter Gottes Auge – Samuel ist der Garant. Ausgeführt wird nichts anderes als Gottes Wille – so sieht es der Erzähler. Gott vollstreckt seine Verheißung durch Saul im Zusammenwirken mit Samuel. Seine Parteilichkeit geht so weit, das er Saul gewähren lässt und einen Erstschlag – aus dem Hinterhalt – gegen die Amalekiter duldet.

62 Darauf hat Jörg Jeremias hingewiesen (Die Reue Gottes, a. a. O., S. 135), ebenso H. A. Tan­ ner, a. a. O., S. 162. 63 U. Berges, Die Verwerfung Sauls, Würzburg 1989, S. 190 f. – Aus dieser späten Einfügung eine Spannung in Gott zwischen Bereuen-Können und Nichts-Bereuen zu konstruieren, wie S. Bar-Efrat es tut, scheint mir nicht angemessen (S. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, Stuttgart 2007, S. 213). Vgl. auch Anm. 71.

Der zweite Krieg gegen die Amalekiter 

173

2.5.3 Ethische Aspekte in der Grunderzählung Ethik wird hier in dem weiten Sinn als Handlungsbegründung verstanden. So lassen sich handlungsbegründende Motive aufzeigen. Saul versucht, beim „Auf­ reiben“ der Amalekiter Kollateralschäden zu vermeiden. Die Keniter sollen die Kampfzone verlassen64. Ansonsten sieht sich Saul in der Pflicht gegenüber dem Erbfeind Jahwes und so in seinem vernichtenden Kriegshandeln gerechtfertigt. Auch Samuel sieht sich offenbar in der Pflicht. Er vollendet, was Saul – vielleicht aus politischen Gründen – noch unvollendet ließ, und tötet Agag. Der ohnehin bestehenden Verpflichtung fügt er noch eine Begründung aus dem Vergeltungs­ recht hinzu. Dann erfolgt das Massaker mit Zerstückelung der Leiche – und der Herr schaut zu. Ein solches Gottesbild und eine solche Handlungsweise sind im Alten Orient nicht selten anzutreffen. Darauf hat u. a. G. Baumann hingewiesen65. Nichts­ destoweniger führt diese Grunderzählung – auch im biblischen Kontext – an die Grenze des Vertretbaren. Zwar ist auch in Jos 11,10–22 die Rede vom Ver­ nichtungsbann gegen Völker im Zuge der Landnahme. Das sind indes einma­ lige Kriegsereignisse im Rahmen von damals vertretbaren Kriegsgesetzen (vgl. Dtn 7,1 f; 20,15–18). Hier allerdings geht es um eine permanente Vernichtungs­ strategie gegen einen Hassgegner, die sadistische Züge annimmt66.

2.5.4 Das Gottesbild in der Parallelüberlieferung (1.Sam 15,1–3.9.13a.c-19a.b.20–23a.35a) Ein Gottesbild ist nur bedingt erhebbar, weil der Herr durch den Propheten Sa­ muel nur wenige Worte spricht (15,2 f). Der Herr habe (in Gedanken noch einmal das Geschehen) aufgesucht, was Amalek Israel in der Wüste67 angetan habe. Es ist ein Sich-Vergegenwärtigen der hinterhältigen Schandtat und daraus folgend ein kritisches Mustern und (Ver)urteilen Amaleks und seines Geistes. Das erste Mal ist in diesem Zusammenhang von Vernichtungsbann (‫ ֶ ח ֶרם‬/ chäräm) die Rede, den Jahwe durch Samuel anordnet: Saul soll ihn ausführen. Die Gottesrede hat 64 Die Erzählung malt ein Bild Sauls: Historizität ist nicht angestrebt (Zur historischen Un­ wahrscheinlichkeit dieser Strategie vgl. H. A. Tanner, a. a. O., S. 148 f). 65 A. a. O., S. 87 ff. 66 Die Grenzwertigkeit dieser Aussagen wird auch nicht dadurch aufgehoben, dass man in „Amalek“ die Philister zu erkennen glaubt (H. A. Tanner, a. a. O., S. 109, 146, 188, 212) oder einen „heilsgeschichtlichen“ Feind (S. 215), „der hinter allen Feinden steht, die Israel daran hindern möchten, ein Volk im eigenen Land zu sein, frei und autonom“ (S. 188). 67 Der Rekurs auf Dtn 25,17–19 zeigt die Nähe der königskritischen Linie zur deuterono­ mistischen Geschichtsschau.

174

Gott und das Volk

gegenüber Ex 17,8–16 und Dtn 25,17–19 an Schärfe zugenommen. In Ex 17 ist es Gott, der Amalek „austilgen“ will, in Dtn 25,17–19 soll nur die Erinnerung an Amalek ausgetilgt werden, hier soll Saul das ausführen, was Jahwe will, im Klar­ text: den Vernichtungsbann vollstrecken. Gott ruft auf zum Heiligen Krieg, und das viele Generationen nach dem traumatischen Ereignis. Denn den Amalekitern wird nach wie vor das Innewohnen des Geistes Amaleks unterstellt (15,2 f). Das Gottesbild könnte nicht besser beschrieben werden als mit den Worten von 15,29, der freilich besser hinter 15,3 gepasst hätte: „Auch lügt der nicht, der Israels Ruhm ist, und es gereut ihn nicht; denn er ist nicht ein Mensch, dass ihn etwas gereuen könnte.“ Im Folgenden geht es nicht mehr um das Gottesbild, sondern um das Verhalten dem gegenüber, der verheißt und verpflichtet, der fordert und nicht wankt, kurz: der „Israels Ruhm“ ist.

2.5.5 Ethische Konsequenzen Saul ist zu einem bestimmten Tun verpflichtet. Die Salbung zum König hat Kon­ sequenzen. Er ist hineingestellt in die Verpflichtung zur Ausrottung Amaleks und seines Geistes (15,1). Hinzu kommt das Wort des Herrn, das noch einmal in aller Deutlichkeit daran erinnert und zum Töten alles Lebendigen und zum Vernich­ ten aller wirtschaftlich wichtigen Güter auffordert (15,3). Dieselbe Kombination von Königssalbung und „Vertilgen“(‫ ָ מ ָחה‬/ māchāh) der Amalekiter auch in 15,17 f. Formal ist ethisches Handeln auf einen Nenner zu bringen: Gehorsam gegenüber Jahwe. Gehorsam ist das non plus ultra ethischen Handelns. Samuel bringt es nach einem Vorlauf in 15,19 in 15,22 f auf den Punkt. Es klingt wie katechismusartige Lehrsätze: „… Gehorsam ist besser als Opfer … Denn Ungehorsam ist Sünde wie Zauberei, und Widerstreben ist Abgötterei und Götzendienst.“ Darin stimmt Sa­ muel mit der prophetischen Opferkritik überein (vgl. Hos 6,6; 8,12 f; Mi 6,6–8)68. Eine Ethik des Gehorsams gegen Gott bedarf der konkreten inhaltlichen Fül­ lung. Die Konkretion ist abhängig von der Situation. Die Situation Abrahams ist eine andere als die Hiobs, und Sauls Situation ist wieder anders. Er ist als König in einer Verpflichtungs-Sukzession (Ex 17), ihm ist die Institution des Vernich­ tungsbanns vertraut (Jos 6; 8; 10; 11), er darf sie theologisch-rechtlich für legitim erachten (Dtn 20), und er darf sich als irdischer Mandatar Jahwes in vollkomme­ ner Übereinstimmung mit dem „Ruhm Israels“ sehen – wie seine Feinde das hin­ sichtlich ihres Reichsgottes auch tun (vgl. dazu G. Baumann, a. a. O., S. 89). So ge­ hört zu seinem Gehorsam die unbedingte Vollstreckung des Vernichtungsbanns. Da gibt es keine Ausnahme und keine Aufweichung, z. B. die Verschonung des Königs von Agag aus politischen Gründen, das Einbehalten eines Teils der Beute aus wirtschaftlichen Erwägungen. Wer den „Bann“ lediglich vollstreckt an dem, 68 W. Dietrich, Samuel VIII/2.3, a. a. O., S. 166.

Der zweite Krieg gegen die Amalekiter 

175

was „nichts taugt“, desavouiert die Institution und verhöhnt Jahwe. Das ist un­ schwer zwischen den Zeilen zu lesen. Von daher muss es als Frechheit gegenüber Samuel und Jahwe erscheinen zu behaupten: „Ich habe des Herrn Wort erfüllt“ (15,13c). Bei dem sich nahelegenden Gedanken der Verschonung des guten Vieh­ bestandes aus ökonomischen Gründen muss die Verteidigung Sauls als plumpe Schuld­abschiebung und Heuchelei erscheinen. Er schiebt das Kriegsvolk vor, das die Schafe und Rinder verschont habe. Aber beileibe nicht etwa aus wirtschaft­ lichen Erwägungen – nein, sondern aus kultischen Gründen: „um sie dem Herrn zu opfern“ (15,15). Dass eigene Vorteilsnahme als Durchbrechung des Vernich­ tungsbanns Sünde ist, wird dem Leser sofort einleuchten. Dass aber Opferung der besten Tiere von Jahwe nicht abgelehnt werden könne und den Vernichtungs­ bann damit neutralisiere, könnte ein Gedanke sein, der aber sofort abgelehnt wird zum einen durch den schon hier wahrnehmbaren Geruch der Heuchelei, dann durch die nochmalige Erinnerung an Sauls Königtum und die damit verbundene Verpflichtung und schließlich durch Samuels Wort von der Nachrangigkeit des Opfers gegenüber dem Gehorsam. Samuel versucht ein einziges Mal, Saul auf der Ebene wirtschaftlicher Vorteilsnahme zu packen: „Warum … hast du dich an die Beute gemacht?“ (15,19). Reflexartig betont Saul seinen „Gehorsam“, er habe doch Agag gefangen genommen und die Amalekiter getötet – was ja eigentlich reine Kriegshandlungen sind, und das Volk habe sich das Beste vom Vieh genommen, um es dem Herrn zu opfern. Nun lässt sich Samuel nicht weiter auf einen Streit über ökonomische Motive ein, sondern er geht auf Sauls allzu durchsichtige Selbstrechtfertigung ein und erklärt die Gleichrangigkeit von Gehorsam und Opfer für falsch. Wer mit dem angeblichen Opfer dem Gehorsam entgehen will, betreibt Götzendienst. Der Gehorsam gegen Gott gilt unbedingt und absolut. Er legitimiert auch den Vernichtungsbann. Diese königskritische Parallelüberlieferung weist in ihrem „So nicht!“ auf eine zeitlich vor ihr liegende, aber durchaus noch lebendige Diskussionsebene hin, die dem Institut der Vernichtungsweihe eher kritisch gegenübersteht. Denn anders ist das scharfe „So nicht!“ nicht zu verstehen. Der eine Aspekt, die Vernichtungs­ weihe zu problematisieren, ist ein politisch-ökonomischer. Soll man den König tö­ ten? Gründe, es nicht zu tun, reichen vom politischen Kalkül bis zur Demütigung. Tut man es nicht, lässt sich eine Ethik des unbedingten Gehorsams nicht mehr halten. Soll man wertvolle Beute einfach dahinschlachten? Aus ökonomischer Sicht offenbart das nur Unvernunft. Unvernunft aber ist nicht ethisch begründbar. Eine Ethik, die darauf ausgerichtet wäre, dass der König dafür sorgte, dass es dem Volk wohl ergehe, läge nahe und hätte nichts mit unbedingter Vollstreckung des Banns zu tun. – Der andere Aspekt ist ein theologischer. Ist das Opfer, das man dem Herrn aus Beständen der Beute traditionell bringt, nicht ein gleichwertiger Ersatz für ein Geschehen, das auf der derzeit erreichten Kulturstufe antiquiert wirkt? Diese Frage schien doch recht breit diskutiert worden zu sein; denn es ist nicht nur des Königs Frage, sondern auch des Volkes Meinung!

176

Gott und das Volk

Auf jeden Fall scheint in der frühen Königszeit ein ethischer Diskurs in Gang gekommen zu sein, der auf eine breiter gefächerte Werteskala abhebt als nur auf unbedingten Gehorsam. Dieser Diskurs wurde von vordeuteronomischen und vordeuteronomistischen, vielleicht prophetischen Kreisen dergestalt zurückge­ drängt, dass er sich nicht mehr verschriftlichen konnte, sondern nur auf einer Zwischenebene zu erschließen ist69.

2.5.6 Die indirekte Davidsverheißung (15,27 f.30 f) Das Gottesbild ist eindeutig: Jahwe steht hinter dem Königtum, aber nur, wenn es den Vernichtungsauftrag an Amalek und seinem Geist (, der auch Amaleks Nachkommen und seinem Volk innewohnt,) ausführt. In diesem Sinn mag dann auch David – in der Erzählung der künftige, historisch gesehen der gegenwärtige König – der „bessere“ Herrscher sein (vgl. 1.Sam 30,17). Gehorsam als Primär­ tugend. Andere, wie Milde, Klugheit, soziales Verhalten, sind demgegenüber als Sekundärtugenden einzustufen (vgl. 1.Sam 30,11–16.21–25).

2.5.7 Gottesbild und Ethik in der deuteronomistischen Redaktion (1.Sam 15,10–11.23b.24–26.35b) Gott fordert unbedingten Gehorsam, auch wenn es um die Vollstreckung des Ver­ nichtungsbanns geht. Er ist – wie in der Urgeschichte – erfüllt von destruktiver Reue. Den er zum König erwählt hat (1.Sam 9,16; 10,1.9), hat seine „Befehle“, sein Recht missachtet. Das Gottesrecht hat absolute, nicht hinterfragbare Gültigkeit70. Die destruktive Reue Gottes im Blick auf Saul wie auch im Blick auf alle anderen Könige, die „getan haben, was dem Herrn missfiel“, ist unwandelbar, wenn auch die Destruktion nicht das Königtum als solches erfasst. Die destruktive Reue hat Verwerfung zur Folge. Im Blick auf das Wesen Gottes kann man wieder schließen:

69 Vgl. auch R. Stahl, „Krieg und Gewalt. Aphorismen zu einer aktuellen und uralten Kette von Herausforderungen“ in: J. Grešo, M. Klátik (Hg.), Radost’ z teológie (Freude an Theologie). FS Igor Kišš zum 70. Geb., Bratislava 2004, S. 239. Ebenso die Einschätzung von G. Hentschel, 1.Samuel, Würzburg 1994, S. 99: „In der staatlichen Zeit kam diese Praxis (scil. die Vernichtungs­ weihe) aber aus der Übung“. Vgl. auch schon G. v. Rad, Der Heilige Krieg im alten Israel, Göt­ tingen 51969, S. 13: „Dass der Vollzug des Bannes als ein status confessionis empfunden werden konnte (1.Sam.15), d. h. dass auch eine andere Möglichkeit des Vorgehens ins Bewußtsein trat, kann nur als das Zeichen einer schon vorgerückten Entwicklung und als Annäherung an eine Krise verstanden werden …“. 70 Es wäre verfehlt, mit den Kategorien des modernen Völkerrechts an die historische Be­ urteilung heranzugehen. Das kann man nur, wenn das Völkerrecht als Institution geschaffen und bekannt ist.

Der dritte Krieg gegen die Amalekiter 

177

Erwählung und Verwerfung sind als complexio oppositorum in ihm vereint und ereignen sich als Offenbarung je und je in der Geschichte71. In ethischer Perspektive gilt Ungehorsam als Sünde, wie Sauls Bekenntnis (15,24) zeigt. Ungehorsam ist Missachtung des Gottesrechts und Abgötterei; denn das Volk und seine Stimme galten Saul offenbar als Gottes Wort. So absolut das Gottesrecht gilt, so wenig gibt es Vergebung bei Bruch. Umkehr bleibt ohne Folge bei Gott. Verwerfung kennt keine Gnade. Dieses Dogma beherrscht den Deuteronomisten im Exil, und nur eine ent­ sprechend rigoristische Ethik kann, wenn es denn überhaupt eine Zukunft gibt, der Weg sein.

2.6 Der dritte Krieg gegen die Amalekiter (1.Sam 30,1–31) 2.6.1 Kontext und zeitliche Ansetzung des Textes Davids Sieg über die Amalekiter gehört in die Erzählungen vom Aufstieg Davids. In der Erzählung selbst ist er noch nicht König, aber der Glanz seines Königtums, erfüllt von Recht und Gerechtigkeit, strahlt schon herüber. Im Kontext ist er nicht mehr und nicht weniger als Anführer eines Söldnerheeres von 600 Mann (27,2), das für den König Achisch von Gat, einen willfährigen (29,6–10) Vasallen der Philister (29,1–5), agiert und dabei unter anderem des Öfteren schon raubend und mordend ins Land der Amalekiter eingefallen ist (27,8–12). Entstanden ist diese Erzählung zur Königszeit Davids zur höheren Ehre des Königs, der schon wie ein König handelt, obwohl er noch nicht König ist. Dazu passt auch die Erwähnung der Stadt Ziklag, die auf der Erzählebene noch nicht zu Sauls Reich gehört, de­ ren spätere Zugehörigkeit zu Juda aber hier schon mit dem derzeitigen Wohnsitz Davids begründet wird (27,6). So ist in der Episode 30,1–31 nicht eindeutig, auf wessen Boden nun Ziklag ist. Dem Hörer / Leser der Erzählung zur Königszeit ist das keine Frage: Ziklag und das Südland sind eine Einheit.

71 Darin – im absolut freien Entscheid – liegt die „Ambivalenz Gottes“ und nicht im bereu­ enden (15,11.35) und zugleich nicht bereuenden (15,29) Gott (gegen W. Dietrich, Samuel [BK VIII/2, 2. Teilband], Neukirchen-Vluyn 2011, S. 144 und ders., Die Samuelbücher im deutero­ nomistischen Geschichtswerk. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments II, Stuttgart 2012 [BWANT 201], S. 136). Vgl. auch Anm. 63.

178

Gott und das Volk

2.6.2 Literarische Bemerkungen Ziklag wird in 30,1 dreimal genannt. Zum Grundbestand gehört nur die letzte der drei Erwähnungen. Sie lokalisiert die Erzählung in und um Ziklag. Die erste Er­ wähnung – wie überhaupt 30,1a – ist Überleitung von 29,11, geographisch gespro­ chen von Afek (29,1) nach Ziklag. Die zweite Erwähnung ist eine spezifizierende Einfügung, die auch um des glatteren Stils willen hätte entfallen können, die aber auch Ziklag noch einmal deutlich für Juda (Königszeit!) reklamiert. Trotz relativ geschlossenen Eindrucks gibt es Hinweise darauf, dass der Text nicht einheitlich ist. Es fällt nämlich auf, dass David neben (beiden) Frauen, Klein und Groß, Söhnen und Töchtern (vgl. 30,2 f.5) auch noch „Beute“ gemacht hat (30,18 f). Warum dringt hier die „Beute“ in den Text ein? – Außerdem: Wenn David die „Beute“ unter seine 400+200 Soldaten aufgeteilt hat, blieb dann noch etwas für die Freunde daheim (30,26–31)? Die „Beute“ ist nicht notwendig Grundlage dafür, dass David im Folgenden et­ was zu verteilen hat. Die Geschichte könnte in 30,19 (ohne „noch Beute“) enden. Die „Beute“ stört. Sie legitimiert sich nachträglich durch 30,20 und die Verteilak­ tion in 30,21–25, insbesondere durch ihre wörtliche Erwähnung in 30,22. Wenn sie also in 30,19 nachträglich hineingeschrieben wurde, muss auch 30,21–25 als spätere Fortschreibung angesehen werden, selbstverständlich auch deren Ein­ leitung 30,9b und 10. 30,20 geht als Spezifizierung der Beute auf das Konto des Fortschreibers. So kann 30,9b.10 und 20.21–25 als geschickte Umrahmung der ursprünglichen Siegesgeschichte angesehen werden. Der große Feldherr / König ist der gerechte Feldherr / König.72 Die Beutevorstellung floss auch in die jüngste listenartige Ergänzung vv 26–31 ein. Außerdem wurde sie in den v 16 eingetragen. Er könnte hinter „und feier­ ten ein Fest“ enden. Die Begründung für das Fest erscheint zunächst plausibel, doch nicht nur die „Beute“ ist eine Variante gegenüber 30,273, sondern auch die Ortsbezeichnungen „Philisterland“ und „Juda“ sind mit 30,1 nicht in Deckung zu bringen: eine typische Sicht aus der Perspektive des Davidsreiches. Die „Beute“ in 30,16 scheint nachträgliche Legitimation der Beute, die David gemacht hat (30,20). Auch die Episode des aufgefundenen Ägypters, „eines Amalekiters Knecht“ (30,13), der sich auf die Seite Davids schlägt, ist eine Fortschreibung der ur­ sprünglichen Siegesgeschichte. Sie reicht von 30,11 bis 16 („und feierten ein Fest“).

72 Vgl. ähnlich H. A. Tanner, a. a. O., S. 267, der in 30,21–25 eine auf einen Rechtssatz hin­ führende Ätiologie zu erkennen glaubt. 73 Es handelt sich „ganz allgemein um die Beute aus den Raubzügen in Juda und im Philis­ terland“ (H. A. Tanner, a. a. O., S. 266).

Der dritte Krieg gegen die Amalekiter 

179

Auch diese Fortschreibung passt gut zu der Gesamtintention, die die ehe­ malige Siegesgeschichte allmählich annahm. David, der großmütige und kluge Feldherr / König. Von dieser Klugheit handelt schließlich auch die listenartige Erwähnung seiner Freunde in 30,26–31. Auf dem Weg zur Macht und zu deren Erhalt sind Freunde wichtig. So ergibt sich literarkritisch gesehen folgendes Bild: 1. Grunderzählung: Siegesbericht: 30,1*-9a.17–19* 2. Erste Fortschreibung: David der Gerechte: 30,9b-10.21–25 3. Zweite Fortschreibung: David der im Krieg Kluge: 30,11–16*. Dabei schafft die „Beute“-Redaktion erzählerisch die Voraussetzung für 30,21– 25 und rechtfertigt Davids Beutezug mit der angeblichen Beute der Amalekiter (30,16.19). 4. Anhang: David der im Frieden Kluge: 30,26–31 5. Anschluss: Ziklag-Ergänzung in 30,1: redaktioneller Anschluss an 29,11. Das alles (außer Nr.5) ist zur Königszeit entstanden zur höheren Ehre Davids. Da die Fortschreibungen dem gleichen Zweck dienen, ist es schwer bis unmög­ lich, sie zeitlich noch genauer zu fixieren.

2.6.3 Das Gottesbild in 1.Sam 30,1*-9*.17–19* Wir hören in 1.Sam 30 nichts von einem Vernichtungsbann gegen Amalek und die Amalekiter. Die Amalekiter sind zwar wieder einmal ins Südland eingefallen, aber Gott erscheint nicht als oberster Kriegsherr. Er verhält sich in dem Konflikt zunächst äußerst distanziert. Erst auf ausdrückliches Befragen hin macht er dem unsicheren David Mut, dem räuberischen Feind nachzujagen. Auch dabei greift er nicht in den Kampf ein, es sei denn durch Verordnung und Verheißung. Aber – das sagt die Geschichte – wenn das Irdische auch scheinbar nach eigenen Gesetzen verläuft, ist Jahwe dennoch präsent. Der Erfolg von 30,17–19* spricht für den, der Ohren hat zu hören und der Augen hat zu lesen, eine deutliche Sprache.

2.6.4 Ethische Implikationen Im Unterschied zu den bisher betrachteten Amalekiterkriegen fällt an der Grund­ erzählung zweierlei auf: 1. Die Amalekiter erscheinen – gemessen offenbar an ihrem sonst üblichen Kriegsverhalten – in einem günstigeren Licht: „Sie hat­ ten … niemand getötet, sondern sie weggeführt und waren ihres Weges gezogen“ (30,2). 2. David wirkt verletzlich, und es wird ihm zugestanden, es auch sein zu dürfen (30,3 f). David wirkt zögernd, was einen Gegenschlag betrifft, und es wird ihm zugestanden, es auch sein zu dürfen (30,6.8). Alles läuft auf die Frage hin:

180

Gott und das Volk

Was soll ich tun? Und damit – über die praktische Dimension hinaus – auf die ethische Frage. Die Antwort des Textes ist eindeutig: Über Amalek und seinen Geist darf man sich nicht täuschen lassen. Dem „Amalekismus“ muss man standhalten und darf nicht nachgeben. Gottes Wille (= Gottes aktuelle Rechtssetzung in der jeweiligen Situation) ist höherwertiger als menschliche Gefühle (30,4 f) oder als die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Unternehmens (30,8). Denn Gottes Wille (= aktu­ elle Rechtssetzung) wird getragen von seinem Verheißungswort, und dem ist un­ bedingt zu vertrauen. David vertraut (30,9a). Und dieses Vertrauen wird belohnt (30,17–19). Damit leitet diese Geschichte zwar nicht zum unbedingten Gehorsam, aber zum unbedingten Vertrauen auf Gott an. Eine solche Haltung lässt Menschen in der Welt handeln im Wissen um die unsichtbare Präsenz Gottes, die sich nicht aufdrängt, aber hilfreich da ist, wenn der Kontakt mit ihr gesucht wird. Die ethische bzw. praktisch-politische Frage: „Was soll ich tun?“ scheint in der hier gegebenen Antwort nicht unumstritten gewesen zu sein. Das klingt durch die oben genannten beiden Auffälligkeiten hindurch. Nicht nur, dass vom Bann kein Wort mehr zu hören ist; die Amalekiter erscheinen sogar besser als ihr Ruf ist. Sie haben zwar Ziklag niedergebrannt und alles, was in der Stadt war, gefangen weggeführt, aber niemanden getötet (30,2). Gab es einflussreiche Kreise, die den Vernichtungsbann für überholt und eine überlegte Reaktion für angemessener hielten? Waren die Amalekiter nicht Feinde wie viele andere auch, ohne dass sich in ihnen der Erbfeind oder der Unmensch verkörperte? Solche Stimmen und Stimmungen werden hier offenbar aufgenommen, und ihnen wird widerspro­ chen: Vor den Amalekitern darf man keine Schwäche zeigen; ihr Bedrohungs­ potential ist nach wie vor virulent. – Auch die strategische Sinnhaftigkeit von Vergeltungsschlägen gegen die Amalekiter scheint erwogen worden zu sein (30,8). Hier geht es wieder um die Kosten-Nutzen-Frage im weitesten Sinn. Auch hier ist die Antwort eindeutig: Wo Gottes Verpflichtung und Verheißung gilt – und sie gilt seit alters her! –, da ist die Kosten-Nutzen-Frage abwegig.

2.6.5 Ethische Aspekte der ersten Fortschreibung Hier geht es um die rechte Verteilung der Beute. Was Recht ist, hat in Gott seinen Grund und ist in seinem Sinn zu gestalten (30,23). Was Recht ist, kann nicht auf das Ermessen von Menschen gegründet werden; denn Menschen können „böse und heillose Leute“ sein (30,22). Was vom Menschen für Recht und Gerechtigkeit gehalten wird, hat keine Selbstevidenz (30,24: „Wer sollte in dieser Sache auf euch hören?“). Dementsprechend muss das Beuterecht gestaltet sein. Beute ist nicht im Letzten Verdienst der Krieger (nicht „Beute, die wir gerettet haben …“ [30,22]), sondern Gabe Gottes. In der Hand des Herrn ist alles: Davids Krieger – sie wurden behütet; die Feinde – sie wurden in Davids Hände gegeben; die Beute, die „uns der

Der dritte Krieg gegen die Amalekiter 

181

Herr gegeben hat“ (30,23)74. Und nun entspricht es dem Willen des Herrn, dass jeder den gleichen Anteil bekommt. Dass das der Wille des Herrn ist, geht aus der Geschichte nur indirekt hervor; denn David ist der Antagonist der „bösen und heillosen Leute“, also muss er in Übereinstimmung mit dem Herrn stehen, was textintern wohl auch durch 30,25 bestätigt wird75.

2.6.6 Ethische Aspekte der zweiten Fortschreibung In der zweiten Fortschreibung geht es um den Vorrang politischer Klugheit vor einem offenbar obsolet gewordenen Vernichtungsschlag gegen jeden, der mit Amalek im Bunde ist. Die zunächst informativ gestellte Frage: „Zu wem gehörst du? Und woher bist du?“ läuft in einem tieferen Sinn auf die Kategorisierung Freund – Feind hinaus. In der Tat müsste nach alter Vorstellung „eines Amaleki­ ters Knecht“ mit dem Feindbild kongruent sein. Dass diese Vorstellung ins Visier genommen ist, geht auch daraus hervor, dass bei dem geständigen Ägypter (30,14) die Furcht besteht, getötet zu werden (30,15)76. David tut es nicht. Dahinter steht aber keine Menschenfreundlichkeit oder gar Feindesliebe – die bezog sich allen­ falls auf den Esel des Feindes (Ex 23,4 f) –, sondern strategisches Kalkül. Hier hat das Kosten-Nutzen-Argument Eingang in die politische Ethik gefunden, weit ent­ fernt von einem theonomen Gehorsamsverhalten77. Exkurs: Das Deuteronomium zwischen Dtr und Pentateuch Die Amalekgeschichten wiesen bereits über den Pentateuch hinaus. Sie haben auch im Deuteronomium und im deuteronomistischen Geschichtswerk insgesamt ihre Spuren hinterlassen. Im Folgenden werden weitere Texte aus dem Deuteronomium und dem deuteronomistischen Geschichtswerk untersucht, die das Gesicht Gottes und des unter den Augen Gottes handelnden Menschen konturieren. Die Entstehung des Deuteronomiums wird unterschiedlich beurteilt, insbesondere auch die Frage, was Urbestand und was durch eine eventuelle deuteronomistische Redaktion hinzugekommen sei. Hier sind z. B. die Kapp. 1–3 fraglich. Weiter: Worauf konnte der Verfasser des Dtn zurückgreifen, was ist seine ureigene Botschaft aus dem

74 Insofern fällt die Formulierung der Beute-Redaktion v 20 hinter die Theologie der Beute in v 23 zurück. 75 Eine intertextuelle Bestätigung findet sich auch in Dtn 20,14. 76 Zur gesetzliche Lage im Alten Orient (Auslieferungspflicht des Knechtes an seinen Herrn) vgl. S. Bar-Efrat, a. a. O., S. 369. 77 Es ist aus dieser Geschichte nicht ersichtlich, ob David sich in einer speziell israelitischen Rechtstradition weiß, wonach der Knecht nicht seinem Herrn ausgeliefert werden, sondern Asyl erhalten soll (vgl. Dtn 23,16). Der Verlauf der Erzählung, wonach nicht einmal ausdrücklich gesagt wird, dass David der Bitte des Ägypters nachkommt, macht einen indirekten Rekurs auf Dtn 23,16 unwahrscheinlich.

182

Gott und das Volk

Exil heraus78, was ist deutlich nachexilisch? Wie kommt es zur Integration des Dtn in den werdenden Pentateuch?79 All diese Fragen können im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich diskutiert werden. Der Verfasser schuldet dem Leser aber eine Art Stand­ ortbestimmung. Sie ist auch für ihn selbst vonnöten, um die zu besprechenden Text­ passagen zur Gesamtgenese ins rechte Verhältnis zu setzen. Das Deuteronomium sowie das deuteronomistische Geschichtswerk ist in seiner Endredaktion ein Werk des zweiten Exils80. Es reflektiert dort (vgl. 29,27), wie es sowohl zur Exilierung des Nordreiches 722 als auch zur Exilierung des Südens 597/586 kommen konnte (29,23–27)81. Redaktionell zusammengehalten wird das Dtr durch eine Klam­ mer, die Anfang und Ende miteinander verbindet, und zwar Anfang und Ende sowohl des Dtr wie auch des Dtn durch die „Exilsformel“ Dtn 4,25 f und 2.Kön 17,17 f. Dabei bezieht sich die Exilsformel 2.Kön 17,17 f nur vordergründig auf das Nordreich Israel. Ab 2.Kön 17 bleibt der Blick „auf Gesamtisrael hin geöffnet“82; denn bei den noch ver­ bleibenden Königen des Südreichs – ausgenommen sind hier Hiskia und Josia – wird nur formelhaft erwähnt, dass sie taten, was dem Herrn missfiel, nicht auf seinen Wegen wandelten, sondern den Götzen dienten. Das Exil ereignet sich nun und muss nicht mehr „verheißen“ werden. Aber was dem Norden einst gesagt war, gilt entsprechend auch dem Süden. Ein späterer Ergänzer hat das ebenso verstanden (17,19). Am Ende des Dtn erscheint die Klammer in Dtn 29,25–27. Neben den genannten Stellen reden aus der Situation des Exils heraus Dtn 4,25–31; 28,63–67; 29,21–27. Es ist mit ziemlicher Sicherheit an das 2. Exil zu denken. Denn ganz Israel ist gemeint mit der Herausführung aus Ägypten und dem Bund am Sinai / Horeb (29,24)83. Man kann es dabei bewenden lassen und das Dtn in seinem wesentlichen Grundbe­ stand 1,1–31,13* + 32,45* als „Komposition Deuteronomium“ verstehen84, die „mehrere gelehrte Schreiber einige Jahre lang intensiv … (als) Entwurf ausgearbeitet haben“85.

78 Schon diese Formulierung ist eine Vorentscheidung. Sie setzt exilische Verfasserschaft voraus und verlegt den Ort stillschweigend nach Babylon, wiewohl die „Exilszeit“ auch ein ein­ schneidendes Datum für die Stadt Jerusalem selbst ist. 79 Unberücksichtigt bleibt die Frage gegenseitiger Verzahnung von Pentateuch und deute­ ronomistischem Geschichtswerk. 80 Gestützt wird diese Behauptung u. a. dadurch, dass Jeremia und Hesekiel in ihren Unheils­ ankündigungen in keiner Weise auf das Dtn (z. B. Fluchworte) Bezug nehmen (argumentum e silentio). – Anders D. Markl, Gottes Volk im Deuteronomium (BZAR 18), Wiesbaden 2012, S. 291 f, der die Endredaktion für frühnachexilisch hält. 81 N. Lohfink, „Der Zorn Gottes und das Exil“ in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V, Stuttgart 2005, S. 37. 82 N. Lohfink, „Der Zorn Gottes …“, a. a. O., S. 47. 83 Zur Spätdatierung vgl. auch R. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000, S. 135 ff und K. Finsterbusch, a. a. O., S. 25. 84 K. Finsterbusch, a. a. O., S. 36. 85 Dies., a. a. O., S. 35. Selbst E. Nielsen, Deuteronomium, Tübingen 1995, zögert, Dtn 1–3 einem deuteronomistischen Bearbeiter zuzuweisen (a. a. O., S. 5), tut es dann aber doch (a. a. O., S. 11), was an seinem Deutungsversuch liegt. Er sieht eine Erstgestalt vor dem 2. Exil (etwa mit der Einleitung Kapp. 4–11), und eine Zweitgestalt während oder nach dem 2. Exil (neue dtr Ein­ leitung Kapp. 1–3).

Der dritte Krieg gegen die Amalekiter 

183

„Dabei wurden selbstverständlich ältere israelitische und nichtisraelitische Texte und Textbausteine verwendet“86. Der Zusammenhang von Dtn und Dtr bedarf der Klärung. 2.Kön 23,1–3 stellt eine Verbindung her zwischen dem in 2.Kön 22 gefundenen „Buch der Tora“ und der Reform Josias. Diese Verbindung wird man als sekundär ansprechen dürfen. Die josianische Reform ist sicher historisch nicht zu bestreiten87, ebenso wenig wie die hiskianische. Aber sie muss historisch gesehen keineswegs etwas mit der Auffindung des Buches zu tun haben. Das bestätigt indirekt G. Braulik, der das so genannte Urdeuteronomium mit Hiskia und seiner Reform in Verbindung bringt. Wenn offenbar so beliebig damit verfahren werden kann, ist die Glaubwürdigkeit einer historischen Verbindung von Kultreform und Buch nicht groß88. Nichtsdestoweniger ist mit dem „Buch der Tora“ in 2.Kön 22 das Deuteronomium gemeint. So ist die ausdrückliche Verbindung zwischen Dtn und Dtr hergestellt. Das Auffindungsmotiv erfüllt dabei einen autoritativen Zweck: „Das ‚Auffinden eines al­ ten Buches‘ ist ein in antiker Literatur gelegentlich verwendetes Motiv zur Legiti­ mierung eines neuen Textes (kursiv im Zitat), den man als alt und damit autoritativ einführt … Denselben Zweck wie 2 Reg 22 f erfüllt auch Esra 7“ in Bezug auf den Pen­ tateuch als autoritatives Sammelwerk in der Perserzeit („Tora“)89. So wird nun im Fall des Dtr hier Dtn als autoritativer Programmtext herausgestellt90. Damit ist die Funktion von Dtn beschrieben. Es ist Maßstab der Geschichtsbeurteilung, im Zusammenhang mit Dtr Erklärung der Katastrophe, und es ist zugleich Programm für eine Neubesinnung Israels in der Katastrophe: Nachdem die (gebotene) kultische Mitte verloren gegangen ist, gilt es nun, sich auf die geistige Mitte zu konzentrieren: „Höre, Israel“. Das Deuteronomium als Programmschrift spannt einen Bogen von der Landnahme über die Vorlage der Tora bis hin zum Exil. Genau das spiegelt sich in den nachfolgenden Geschichtsbüchern wider: Landnahme als Erfüllung der abrahamitischen Segensverhei­ ßung in Jos und Ri, (Nicht)erfüllung der Tora in den Richter-, Samuel- und Königsbü­ chern und Exil in 2.Kön am Ende. Zu klären ist noch das Verhältnis von Dtn zum späteren Pentateuch. Denn offen­ sichtlich werden bei der Endgestalt der „Tora“ Dtn und Dtr auseinandergerissen. Es kann von einer Verschriftlichung des deuteronomistischen Geschichtswerkes (einschl. 86 K. Finsterbusch, a. a. O., S. 35. Zu denken ist dabei an die Rezeption des Bundesbuchs, der Vassal Treaties Esarhaddon (VTE) und älterer Gesetzeskomplexe (dies., a. a. O., S. 153–158). 87 M. Pietsch, Die Kultreform Josias, Tübingen 2013, S. 471 ff. 88 Bestechend ist freilich der Gedanke, dass es eine Beziehung geben könnte zwischen dem Einfluss der VTE in Dtn (13,2–10 und 28,20–44) und dem Bestreben Josias, sich vom assyri­ schen Joch zu befreien: Nicht dem König der Assyrer gilt die Ehre, sondern allein Jahwe. E. Otto überhöht diese Beobachtung zum tragenden Impetus für die Ausrufung des dtn Programms (E. Otto, Art. „Deuteronomium“ in: RGG4 II, Tübingen 1999, Sp. 694; E. Otto, Das Deuterono­ mium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, Berlin, New York 1999, S. 351). Dagegen aber K. Finsterbusch, die eine derartige Bedrohung des Jahweglaubens durch einen assyrischen Staatskult in der Zeit des beginnenden Niedergangs Assurs für nicht plausibel hält (K. Finsterbusch, a. a. O., S. 20 Anm. 27). 89 K. Finsterbusch, a. a. O., S. 22 Anm. 40; E. Sellin, G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testa­ ment, Heidelberg 121979, S. 208 f. 90 Unter Dtr verstehe ich eine theologische Schule, die auf Dtn fußt. Dass es dann rückwir­ kend redaktionelle dtr Eingriffe in Dtn gibt, ist nicht ungewöhnlich.

184

Gott und das Volk

Dtn) vor der Entstehung des Pentateuch ausgegangen werden. Denn die Hinwendung zur „Buchreligion“ wurde im babylonischen Exil notwendig91. P war parallel dazu in statu nascendi, und das Bundesbuch war als Grundlage für Dtn greifbar92. Mit der Rückkehr aus dem Exil hätte Dtn als Grundordnung für einen Neuanfang dienen können. Dtn war aber nicht ohne Dtr zu haben. Persische Behörden mussten einer religiös-politischen neuen Grundordnung Israels zustimmen können. Das konnte aber nur geschehen ohne das aggressive Landnahmeprogramm des Buches Josua93. Damit waren auch alle anderen „Eroberungsbücher“ abgeschrieben. So griff „Esra“94 auf einen Bestand zurück, der die israelitische Vorgeschichte bis zum Sinai schilderte95. Das Dtn als „Programm“ für die neue Zeit konnte mit aufgenommen werden, weil es re­ kapituliert und im Vorblick verheißungsvoll, aber im Ganzen nicht aggressiv ist. Das war dann als Tora auch von den persischen Behörden her autorisiert. Für Israel gab es nun auf die Frage: „Woher kommen wir?“ eine doppelte Antwort: „Vom Horeb“ (Dtn) und „aus Ägypten“(Ex). Dementsprechend gab es für Israel auch ein doppeltes Credo: „Der Herr hat uns mit mächtiger Hand aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt …“ (Ex 13,14 ff / Dtn ­6,20–25) und: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,4 f). 91 E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 207. 92 Es ist durchaus mit E. Otto möglich, das Deuteronomium als Aktualisierung des Bundes­ buches unter dem Gesichtspunkt der Kulteinheit und Kultreinheit zu begreifen, ohne es des­ wegen, wie Otto es tut, als ein im Grundbestand vorexilisches Werk (aus der Zeit Hiskias oder Josias) einzuordnen (Zu Ottos Position vgl. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 177 ff; 193 ff). Dagegen K.  Finsterbusch, a. a. O., S. 20 f. 93 Dies., a. a. O., S. 31 ff; D. Markl, a. a. O., S. 294 f; E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 209. 94 Sollte es sich bei der Bestallungsurkunde Esras in Esr 7,12–26 um eine Art erbaulicher Geschichtsschreibung (um 370 v. Chr.) handeln (so O. Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984, S. 118 u.181), so müsste dennoch nicht an einem historischen Kern gezweifelt werden. 95 Die Überlieferung ist disparat und weist „eine diskontinuierliche Fügung antagonisti­ scher Überlieferungen auf, wie sie in der gesamten biblischen Tradition (und darüber hinaus) ohne Parallele ist“ (E. Blum, „Esra, die Mosetora und die persische Politik“ in: R. Kratz [Hg.], Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh 2002, S. 235). Zu vermuten ist, dass dieser Tatbestand darauf verweist, dass der Pentateuch ein „Kompromiss­ dokument“ verschiedener jüdischer Überlieferungsträger ist, das konsensfähig war und so den persischen Behörden zur Bestätigung vorgelegt werden konnte (D. M. Carr, „The Rise of Torah“ in: G. N. Knoppers, B. M. Levison [Hg.], The Pentateuch as Torah: New Models for Understan­ ding Its Promulgation and Acceptance, Winona Lake 2007, S. 55 f; anders E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S201 f, der aufgrund von Esr 7,14 ff nur an die Genehmigung von P denkt, aber einen um P erweiterten Pentateuch auch nicht ausschließen will). – Offen bleibt dabei die Frage, wann P hinzugekommen ist. E. Nielsen setzt einen JE-Text als Vorläufer für das Dtn voraus, das Bun­ desbuch Ex 20,22–23,33, und bezeichnet wesentliche P-Texte aus Ex, Lev und Num als „Nach­ folger“ (Ex 25–30, Lev 1–7; 11–21; Num 5; 18–19; 29–30; 35) (E. Nielsen, a. a. O., S. 1). Geht man von P als Endredaktor des Pentateuchs aus, müsste man diesen sehr spät ansetzen, und Dtn wäre dann im Wesentlichen lediglich mit Gen und Ex vereinigt worden. Setzt man aber die Zeit um 370 v. Chr. als Entstehungsdatum des „Pentateuch“ an (so E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 208 f), könnte P schon im Großen und Ganzen eingearbeitet gewesen sein. Für redaktionelle Tätigkei­ ten bliebe durch die Annahme von P1 und P2 noch genügend Spielraum.

Der Herr als Heerführer mit verzehrendem Feuer 

185

2.7 Der Herr als Heerführer mit verzehrendem Feuer (Dtn 9,1–6) 2.7.1 Strukturelle, redaktionelle und literarkritische Bemerkungen Der Abschnitt Dtn 9,1–6 besteht aus einem Grundtext und einem zweifachen Kommentar. Die Begrenzung nach hinten ist klar: Mit 9,1 ist ein Neueinsatz ge­ geben, der durch die Kombination von „Höre“ und „heute“ deutlich signalisiert wird. Die Begrenzung nach vorn ergibt sich aus der Struktur des Textes. Er ist zweigeteilt: 9,1–3 und 9,4–6. Beide Teile sind gleich aufgebaut: Furcht bzw. falsche Sicherheit (beides Formen der Gott-losigkeit) – wissende Gewissheit aufgrund des Wortes des Herrn. Somit liegt in 9,6 („So wisse nun …“ [‫ וֽ יָ ַד ֽע ָּת‬/ wᵊjāda῾ttā]) das natürliche Ende eines „theologisch reflektierenden Prolog(s)“96. Zudem weist der zweite Teil eine Nicht-Sondern-Struktur auf (9,4a – 9,5bα). Der spätexilische Text ist in den ursprünglichen Zusammenhang von 8,11–20 und 9,7 ff eingeschoben. In den so entstandenen Teilabschnitten geht es um die Mahnung, nicht zu vergessen, also um die Aufrechterhaltung einer Erinnerungs­ kultur. Im ersten Fall geht es um die Erinnerung an Gottes Wohltaten: Heraus­ führung aus Ägypten, Gabe des Gelobten Landes, Gabe der Gebote. Im zweiten Fall sollen die Fehltritte Israels nicht vergessen, sondern immer wieder erinnert werden mit dem Ziel zu zeigen, dass Gott wider Erwarten, aus Gnade und in Selbstbindung an seinen Schwur einen neuen Anfang macht (10,10 f). Zwischen diese beiden Erinnerungsrichtungen ist 9,1–6 gestellt, nicht ohne theologische und wörtliche Anleihen zu machen97. Textintern wird die ursprüngliche (Nicht)zugehörigkeit von 9,2.4b und 6 dis­ kutiert. Ich stelle zusätzlich noch 9,5bβ („[und] damit er das Wort halte …“) zur Disposition. Zu 9,2: Ich gehe von der ursprünglichen Zugehörigkeit von 9,2 aus, was sich mit einer sich zuspitzenden Textstruktur begründen lässt: die Weite der Völker, sich konzentrierend in den ummauerten Städten, sich fokussierend auf ein Volk. 96 T. Veijola, Das Fünfte Buch Mose. Deuteronomium. Kapitel 1,1–16,17, Göttingen 2004, S. 224. N. Lohfink legt eine „palindromische Argumentationsstruktur“ zugrunde und rechnet von daher 9,7 f noch dazu: 9,1 kommendes Faktum; 9,3 Lehre; 9,4 Sprachhandeln; 9,6 Lehre; 9,7 vergangenes Faktum („Deuteronomium 9,1–10,11 und Exodus 32–34: Zu Endstruktur, Inter­ textualität, Schichtung und Abhängigkeiten“ in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V, Stuttgart 2005, S. 163). Auch für E. Otto ist „Dtn 9,7–8 … nicht von Dtn 9,1–6 abzulösen“ (Deuteronomium 4,44– 11,32 [Deuteronomium 1–11, 2. Teilband], Freiburg, Basel, Wien 2012, S. 945). Zusammen mit 9,22–24 gilt es als nachexilische Fortschreibung der deuteronomistischen Erzählung vom Gol­ denen Kalb (Dtn 9,9–10,5) „zu einem Paradigma der Halsstarrigkeit des Volkes seit dem Tage des Auszugs …“ (S. 953). 97 8,17 f könnte z. B. auf die Herausbildung von 9,4–6 eingewirkt haben.

186

Gott und das Volk

Zu 9,4b: Hinter 9,4a erzeugt 9,4b („da doch der Herr vertreibt diese Völker …“) einen stilistischen Bruch. Dieser Versteil wurde mit ziemlicher Sicherheit später kommentierend hinzugefügt. Er setzt sich erklärend schon an dieser Stelle mit der Tatsache auseinander, dass Israel ein Rechtsanspruch vor Gott abgesprochen wird. Der Kommentator lässt sich nicht auf einen theologischen Diskurs über diese diffizile Frage ein, sondern rekurriert bei der Erklärung der Zuwendung Jahwes zu Israel auf die Ungerechtigkeit der Völker. Dabei kann der Kommentator auf 9,5bα („… sondern der Herr, dein Gott, vertreibt diese Völker um ihres gottlosen Treibens willen …“) zurückgreifen98. Zu 9,6: Dieser Vers sei – so E. Otto – „eine spätdtr Fortschreibung“ von Dtn 9,1–8*.22–2499. Die Begründung dafür ist nicht plausibel; denn sie würde ebenso auf den gesamten v 5 zutreffen: „Den spätdtr Theologen trieb die Sorge um, das Volk könne wiederum wie in vorexilischer Zeit scheitern. Das führte zu der theologischen Konsequenz, allein die Gnade Gottes zum Grund des von Gott angenommenen Lebens zu machen.“100 9,6 ist aber (zusammen mit 9,3) konsti­ tutiv für die innere Struktur des Textes. Zu 9,5bβ: Dafür, dass Gott die Völker vor Israel her vertreibt, werden zwei Be­ gründungen angegeben: Das Im-Unrecht-Sein bzw. die Gottlosigkeit der Völker und101 Gottes Bindung an die Väterverheißung. Es verwundert, dass der Kom­ mentator von 9,4a sich in 9,4b nicht der Väterverheißung bedient. Hat er sie im ursprünglichen Text noch nicht gelesen? Wenn dem so wäre, dann wäre 9,5bβ erst ergänzt worden, nachdem 9,4a bereits mit dem Kommentar 9,4b versehen war, also sehr spät, freilich passend in deuteronomisch-deuteronomistischer Weise102. Somit wird der Text inhaltlich in zwei Schichten zu betrachten sein: zunächst die Grundform 9,1–4a.5a.bα.6, dann mit den Zusätzen 9,4b.5bβ.

2.7.2 Gott und Volk in der Grundform des Textes (9,1–4a.5a.bα.6) In den beiden Teilen des Textes geht es um das Verhältnis Gott – Volk, jedoch offensichtlich mit unterschiedlicher Gewichtung. Im ersten Teil (9,1–3) steht Jah­ wes vernichtendes Kriegshandeln im Vordergrund, dessen Wirkung Israel nut­ 98 G. Braulik sieht in v 4b möglicherweise eine Fortsetzung des inneren Selbstgesprächs Israels („Die Entstehung der Rechtfertigungslehre in den Bearbeitungsschichten des Buches Deuteronomium“ in: ThPh 64/1989, a. a. O., S. 329). Das scheitert aber am unterschiedlichen Personalpronomen (v 4a: „mich“; v 4b: „dir“). 99 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 207. 100 Ders. ebd. 101 Im Urtext auch mit „und“ verbunden, anders die Lutherbibel. 102 Der Väterschwur ist ein Leitmotiv des Deuteronomiums und wirkt sich auch in Dtr aus (z. B. Dtn 1,8; 4,31; 6,10; 7,8 [auch hier als zweite Begründung]; 8,18; 10,11; 11,21; 19,8; 26,3; 28,11; 29,12; 30,20; 34,4; Jos 1,6; 5,6; 21,43 f; Ri 2,1; Jer 11,5; 32,22). Der Ursprung des Motivs liegt freilich in Gen und Ex.

Der Herr als Heerführer mit verzehrendem Feuer 

187

zen und im endgültigen Sieg vollenden darf. Der zweite Teil (9,4a.5a.bα.6) stellt Israels Sprachhandeln103 in den Mittelpunkt, auf das Jahwe reagiert. In beiden Teilen steht das theologische „Wissen“ (9,3.6) unter dem Vorzeichen der Paränese („Höre, Israel …“), wobei die Paränese im ersten Teil affirmativ ermutigt, wäh­ rend sie im zweiten Teil eine falsche Haltung (Selbstgerechtigkeit) kritisiert und zu einer neuen Haltung (Demut) führen will (vgl. auch Dtn 10,12 und Mi 6,8). Dementsprechend behandelt der erste Teil Wesen und Wirken Jahwes, freilich nicht losgelöst vom Volk. Gott wird als Heerführer gezeichnet, der vor seinem Volk her geht, „ein verzehrendes Feuer“. Er wird die als unbesiegbar geltenden, vorgenannten Anakiter (9,2) „vertilgen“; wie eine Urgewalt, der nichts standhal­ ten kann, wird Gottes Gewalt über sie hereinbrechen, sie vernichtend schlagen und demütigen, so dass Israel leichtes Spiel hat, den Rest zu vertreiben und zu vernichten.

2.7.2.1 Das Gottesbild In 9,3a haben wir Jahwe als den „rechten Kriegsmann“ (Ex 15,3) vor uns. Feuer ist sein ureigenstes Element. Es hat theophanen Charakter. Es kann neutral sein, Bei­ spiel: der brennende Dornbusch (Ex 3,2): Er brennt, wird jedoch nicht vom Feuer „verzehrt“. Außerdem: Ex 24,17: Die Herrlichkeit des Herrn auf dem Sinai ist für das unten stehende Volk „anzusehen wie ein verzehrendes Feuer“. Die gleiche Geschichte wird in Dtn 4,9–14 mit paränetischer Tendenz erzählt, und die Par­ änese endet mit der Begründung: „Denn der Herr, dein Gott ist ein verzehrendes Feuer und ein eifernder Gott“ (Dtn 4,24). Durch die Umwandlung des Vergleichs zu einer Metapher bekommt das Feuer etwas Bedrohliches. Das Gewaltige der Theophanie (power) nimmt etwas Gewalt-Tätiges (violence) an. Deutlich auch in Jes 10,16 f, wo die Flamme des Herrn „Dornen und Disteln anzünden und ver­ zehren wird“ im Reich des selbstgerechten (Jes 10,12 ff) Königs von Assur. Das Bild erinnert zwar an den brennenden Dornbusch, aber im Vergleich damit wird die violence-Aussage der Gerichtsankündigung deutlich. In die gleiche Richtung weist Dtn 9,3, die vernichtende Kraft, die in Gott steckt. Auch hier sind die Feinde Israels das Ziel des verzehrenden Feuers, wenngleich es potentiell auch über Is­ rael hereinbrechen könnte (Dtn 6,15). Die Gewalttätigkeit Gottes in Dtn 9,3 tritt erst recht vor Augen, wenn man das Herziehen vor dem Volk hier vergleicht mit dem Herziehen der Feuersäule beim Auszug aus Ägypten: Ein Bild dort für die schützende und führende Präsenz Jahwes (Ex 13,21 f). Allerdings ist der mit­ ziehende Gott immer der parteiliche Gott, der Partei ergreift für sein bedrohtes Volk. Neutralität gibt es für ihn nicht. So liegt in dieser Gottesvorstellung auch

103 Den Ausdruck übernehme ich von N. Lohfink, „Deuteronomium 9,1–10,11 und Exodus 32–34“, a. a. O., S. 137.

188

Gott und das Volk

etwas Tröstliches: Die Völker sind mächtig und groß, aber Jahwe ist mächtiger und größer. In 9,1–3 fällt besonders der Wechsel zwischen alleinigem Kriegshandeln J­ ahwes (9,3a.bα) und selbstständiger Kriegsführung Israels (9,1.2.3bβ) auf, so dass man von einer Kooperation Gottes mit dem Volk sprechen könnte. Auf jeden Fall wird auf diese Weise die Präsenz Gottes in den Kriegen ausgesagt, die um der Erfüllung der Verheißung willen und aus einer existentiellen Bedrohungslage heraus geführt werden müssen. Diese Präsenz kann allerdings verschieden zum Ausdruck gebracht werden. Rückblickend auf die bisher behandelten Texte kann festgestellt werden: – Gott greift mittelbar ein, Israel kämpft nicht. So sieht es die nichtpriesterliche Tradition in der Schilfmeergeschichte. Der in­ direkt eingreifende ist der Gewalt verhindernde Gott, der so für Israel streitet. Ähnlich sieht es P mit seiner Pharao-Verstockungs-Theorie. Gott hält die Fäden der Geschichte in der Hand, und Mose ist sein Werkzeug. Der die Wa­ genräder hemmende Gottesengel weist in die gleiche Richtung. Die vv 1–5 des Schilfmeerliedes sehen den „rechten Kriegsmann“ auch nur mittelbar durch die Naturgewalten eingreifen. – Gott greift unmittelbar ein, Israel kämpft nicht. Das ist der urwüchsige Ton des Moseliedes (Ex 15,6–10). – Gott greift scheinbar nicht ein, Israel kämpft scheinbar autonom. So im ersten Krieg gegen Amalek. Dennoch ist die Botschaft nicht zu überhö­ ren: Sieg oder Niederlage liegen in Gottes Hand. Ähnlich verhält es sich in der Grunderzählung des dritten Amalekiterkrieges. Distanziert, aber mit ermuti­ genden Worten begleitet Jahwe Davids Vergeltungsschlag. – Gott greift mittelbar durch einen Propheten ein, Israel (Saul) kämpft autonom und hat freie Hand. So im zweiten Krieg gegen Amalek. Gemäß der älteren Überlieferung handeln Prophet und König unter Gottes Auge und nach Gottes Willen gewaltsam und vollstrecken den Vernichtungsbann. Nach der jüngeren Überlieferung ruft Jahwe selbst durch Samuel zum Heiligen Krieg gegen Amalek auf. Die Auto­ nomie Sauls geht bis zur Weigerung, ihn in aller Schärfe und Konsequenz zu führen (Infragestellung des Vernichtungsbanns), was ihn das Königtum kostet. – Gott greift ein, Israel kooperiert mit Gott. So in Dtn 9,1–3. Der Vernichtungskrieg gegen die Völker, speziell gegen die Anakiter, wird von Jahwe gedeckt, ist jener Krieg doch ein Teilziel auf dem Weg zur Erfüllung von Jahwes Zusage (9,3fin)104. 104 In seiner Abhandlung zum „Heiligen Krieg“ hat G. v. Rad das alleinige direkte Eingreifen Jahwes der synergistischen Tendenz gegenübergestellt und diese einer früheren, jenes einer spä­ teren, nachsalomonischen Epoche zugewiesen. Diese zeitliche Einordnung hält neuesten literar­ kritischen Erkenntnissen nicht stand und stößt sich u. a. mit Dtn 9,1–6*. Es ist möglicherweise

Der Herr als Heerführer mit verzehrendem Feuer 

189

Der Gedanke, dass Jahwe der rechte Kriegsmann ist, ist im geistesgeschichtlichen Umfeld der damaligen Zeit nicht abwegig105. Kriege gehören zur akzeptierten Rea­ lität und Normalität des Lebens, und als solche sind sie auch in den Erfahrungs­ horizont des Glaubens einzuordnen. Das geschieht in Dtn 9,1–3. Gott hält seine Zusagen; wenn es sein muss, durch Kriege hindurch. Und er lässt Israel darin nicht allein, im Gegenteil: er schlägt eine Schneise und hilft hindurch.106

2.7.2.2 Ethische Implikationen Der ethische Aspekt ist nur sehr indirekt enthalten, wenn auch nicht unwesentlich. Denn es geht hier um nicht mehr und nicht weniger als um die Rechtfertigung des „Heiligen Krieges“. Er ist nach dem Verständnis dieses Textes geradezu ein Gebot, wenn und weil Jahwe vorangeht. Wie sollte da das Volk nicht die Gunst nutzen mitzugehen, zu kooperieren? Gerade die so genannten synergistischen Texte bie­ ten indirekt diese Rechtfertigung. – Der zweite Teil scheint den ethischen Aspekt in den Vordergrund zu rücken. Abgeleitet von der Treue Gottes (9,3fin) wird hier ein inneres Sprachhandeln Israels und damit eine Haltung verworfen, die sich von der Dankbarkeit und Demut löst und die Gabe des Gelobten Landes als selbst­ verständlichen Lohn für Rechtschaffenheit und Bundestreue des Volkes erachtet. In Selbstüberschätzung (vgl. auch Dtn 8,17 f) und Selbstgerechtigkeit dreht Israel

auch ein untaugliches Raster, wenn man die Stellen nach direktem Eingreifen einerseits und Synergismus andererseits aufteilt. Vielmehr sollte man in allen oben aufgeführten Möglichkei­ ten der Parteinahme Gottes für sein Volk ein breites Spektrum der Ausdrucksformen erkennen, das zeitunabhängig dem theologischen Erzähler zur Verfügung steht. – Der Terminus „Heiliger Krieg“ ist inzwischen als unsachgemäß kritisiert worden. Zum einen käme er im AT nicht vor (so J. Ebach, Das Erbe der Gewalt, Gütersloh 1980, S. 27), zum anderen wird er als „sakrale In­ stitution“ (G. v. Rad, Der Heilige Krieg, a. a. O., S. 6) bestritten (vgl. G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 40). Ersteres ist richtig, der Sache nach ist er aber erhebbar. Man kann zwar mit Ebach stattdessen vom „Jahwekrieg“ sprechen; damit blendet man aber die Kriegsgescheh­ nisse aus, in denen Jahwe nicht selbst eingreift, sondern sich unterstützend im Hintergrund hält. – Ihn als kultische Institution zu bestreiten, geschieht wohl ebenfalls zu Recht. Dahinter steht der methodische Zwang der 50er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts, hinter jeder Glaubensvorstellung eine sie tragende Institution sehen zu müssen. – Ohne den Hintergrund einer kultischen Institution behalte ich den Begriff „Heiliger Krieg“ bei, um die Missverständ­ lichkeit wohl wissend, aber mangels eines Begriffs, der sowohl Jahwes direktes Eingreifen wie auch seine indirekte Unterstützung beschreibt. 105 Die „mit dem heiligen Krieg verbundene Vorstellung der göttlichen Beteiligung an Kampf und Sieg ist auch bei den Assyrern belegt“ (V. Fritz, Das Buch Josua; Tübingen 1994, S. 117). Ein eindrückliches Beispiel bietet der Rückblick Assurbanipals auf einen Sieg über das „Land Arabien“ unter aktiver Beteiligung der Göttinnen und Götter (zit. bei M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästi­ nischen Kontext, Tübingen 1997 [Forschungen zum Alten Testament 18], S. 87). 106 Das Dtr wird zeigen, dass es ins Unglück führt, wenn Israel sich von der Führung Jahwes, auch im Krieg, trennt und „unseren König … unsere Kriege“ führen lässt (1.Sam 8,20).

190

Gott und das Volk

das Verhältnis von Geben und Nehmen um: Der Bundesschluss Gottes mit Israel macht Gott zum Geber und Israel zum Empfangenden. Israel scheint aber der Gefahr falschen Denkens erlegen zu sein, wonach es Bundestreue gewährt und in einer Art positiv gewendeten ius talionis die Gabe des Landes wie selbstverständ­ lich empfängt. Es kommt dem Missbrauch des Namens „des Herrn, deines Gottes“ (Dtn 5,11 / Ex 20,7) gleich zu behaupten, um der Gerechtigkeit Israels willen habe der Herr dem Volk den Sieg verliehen. Der aufseiten seines Volkes (mit)kämpft, lässt sich nicht vor Israels Wagen spannen. Der Glaube an den Gott des verzeh­ renden Feuers muss sich am zweiten (bzw. dritten) Gebot messen lassen107. Damit ist ein gewalt-ethischer Aspekt angesprochen, der Kriegsgewalt zwar nicht mi­ nimiert, aber einer propagandistischen Gewaltlegitimierung eine Absage erteilt. Die ethischen Überlegungen zur rechten Haltung gegenüber Gott sowohl als Spender des Bundes wie auch als Kriegsherr im „Heiligen Krieg“ werden am Schluss noch einmal als „Dogma“ zusammengefasst (9,6). „Jeder Argumentation der Adressaten mit dem eigenen Verdienst wird in Dtn 9,6 mit der ‚Halsstarrig­ keit‘ gegenüber JHWH … widersprochen“108. Halsstarrigkeit und Verkennung der eigenen Situation vor Gott bedingen sich gegenseitig und sind eine Art ethnologi­ sche Grundkonstante des erwählten Volkes. Theologisch-ethnologische Grund­ konstante und Gottes Treue stehen sich unausgesprochen gegenüber. Ein „So ist das Volk“ wird getragen von jenem „So ist Gott“. Diese Spannung ruft nach einer positiven Ethik. Wie das Volk nicht sein soll, wird gesagt, ein „Sondern“ bleibt an dieser Stelle offen.

2.7.3 Gott und Volk im erweiterten Text (9,1–4a.b.5a.b.6) Bereits der Text der Grundform hat klargemacht: Israel hat das Land nicht auf­ grund seiner Gerechtigkeit zugesprochen und übereignet bekommen. Und zwar deshalb, weil es gar keine Gerechtigkeit im Sinne einer rechten Haltung vor Gott hat (Halsstarrigkeit!). Israel hat das Land eher als Nebeneffekt bekommen, es darf einfach nachrücken, wo Gott schon durch sein verzehrendes Feuer den Weg bereitet hat. Der Ergänzer von 9,4b („da doch der Herr diese Völker ver­ treibt …“) verstärkt diese Erzähltendenz und erweckt dadurch den Eindruck eines fast friedlichen Einmarsches. Das widerspricht aber 9,3bβ („und du wirst sie vertreiben …“). Hier ist Israel in den Vertreibungs- und Vernichtungsfeldzug voll mit eingebunden. Der Erfolg dieses Feldzuges ist mit der Zusage Gottes ver­ bunden. – Ein weiterer Ergänzer wiederholt und verstärkt diese Zusage in 9,5bβ („[und] damit er das Wort halte …“). Damit korrigiert er den Eindruck der Beiläu­ 107 Die ähnlich paränetische Struktur in Dtn 8,17 f knüpft eher an das erste Gebot an (vgl. 8,19). 108 Ders. ebd.

Kriegsgesetze 

191

figkeit der Landnahme und macht diese zur Erfüllung eines Gelöbnisses Gottes, wie auch immer es sich erfüllen mag. Die zeitliche Ansetzung des Textes (ohne zeitliche Binnendifferenzierung) schwankt zwischen „spätexilisch“ (T. Veijola109) und „nachexilisch“ (E. Otto110). Beides scheint eher vermutet als belegt111. Ich entscheide mich für die Exilszeit, wobei der gesamte Text durchaus spätexilisch sein mag. Der Grund meiner Ent­ scheidung liegt in der Transparenz der als Vergangenheit erzählten Situation für die Gegenwart und die Zukunft des Gottesvolkes. Entscheidend trägt zu dieser Transparenz das „heute“ bei. Das erste „heute“ in 9,1 liegt erzählerisch in der Ver­ gangenheit, denn es geht um die Überschreitung des Jordan. Das zweite „heute“ in 9,3 liegt in der Gegenwart des Lesers bzw. Hörers. Es ist ein sich dehnendes oder ein mitlaufendes Heute. Bezeichnenderweise steht das, was im Heute passiert, auch im Hebräischen in einer Gegenwartsform, nämlich im Partizip: „Heute sollst du wissen, dass der Herr ein vor dir Hinübergehender ist …“. Was dann kommt, ist wieder Zukunft: „Er wird sie vertilgen und sie demütigen vor dir …“. Daraus kann man schließen, dass dieser Text aus der Vergangenheit erzählt, die Gegen­ wart meint und auf die Zukunft ausgerichtet ist. Der Einzug ins Gelobte Land damals ist Modell und Hoffnung für einen Wiedereinzug nach dem Exil. Schon heute aber darf Israel wissen, dass Gott vorangeht, wie einst so jetzt und in Zu­ kunft. Das Heute ist schon hier (wie auch später bei Lukas) das Heute des Heils und der Gegenwart Gottes. Wie damals so hat Israel auch heute kein Anrecht auf Inbesitznahme des Verheißungslandes, also auf Rückkehr in die Heimat. „Wenn Israel trotzdem das Land in Besitz nehmen kann, verdankt es das nur der Väter­ verheißung Jahwes (v 5)“112.

2.8 Kriegsgesetze (Dtn 20,1–20) Die deuteronomischen Kriegsgesetze stützen programmatisch die Beispiele der Kriegsführung und Landeseroberung ab, wie sie in den Büchern Josua und Richter geschildert werden. Sie sind als einzelne Gesetze im Laufe einer längeren Über­ 109 Das Fünfte Buch Mose, a. a. O., S. 233. 110 Deuteronomium, a. a. O., S. 943. 111 Veijola nimmt für die Exilszeit eine bundestheologische Redaktion des Dtr an (DtrB), die am Ende dieser Zeit von einem Überarbeiter (DtrÜ) ergänzt sei, der gegen DtrB polemisiert habe dergestalt, dass die Landnahme eben nicht Folge treuer Gesetzeserfüllung (gewesen) sei (vgl. Dtn 4,1b; 6,17.18; 8,1) (T. Veijola, Deuteronomium, a. a. O., S. 234). – Otto knüpft an das Bild des verzehrenden Feuers in Dtn 4,24 an. Wenn und weil dies eine nachexilische Fortschreibung sei, müsse 9,3 das auch sein. Zur Redaktionsgeschichte der „vordeuteronomistischen Kalberzählung“ Ex 32*, die einerseits zur postpriesterschriftlichen Fortschreibung in Ex 32, andererseits über die dtr Kalberzählung Dtn 9,9–10,5 zur nachexilischen Fortschreibung in Dtn 9,1–10,11 führt (E. Otto, Deuteronomium, a. a. O., S. 969). 112 G. Braulik, „Die Entstehung der Rechtfertigungslehre“, a. a. O., S. 330.

192

Gott und das Volk

lieferungsgeschichte entstanden113, dann in dieser Weise zusammengestellt und ins Deuteronomium aufgenommen worden. Eine literarkritische Auflösung in diverse Überlieferungsschichten ist nicht möglich. So ist 20,1–20 als Gesamtkom­ position zu betrachten, die im Nebeneinander von fortschrittlichen Gewaltmini­ mierungstendenzen und neokonservativen harschen Abschottungsmaßnahmen ein der exilischen Entstehungszeit114 entsprechendes Aussagegefälle hat.

2.8.1 Das Gottesbild Hier skizzierte Verhaltensweisen und Haltungen werden in den theologischen Rahmen eines Gottesbildes gestellt, das offenbar beides zulässt: Humanisierung der Kriegführung und Genozid. Es ist der Gott, der „mit dir“ ist, auch gegen eine erdrückende Übermacht des Feindes (20,1); es ist der Gott, der Partei ergreift und „für euch streite …, um euch zu helfen“ (20,4). Weil der Herr, dein Gott, stets auf deiner Seite ist, ist es möglich, auch mit weniger Kriegsleuten in den Kampf zu zie­ hen. Weil der Herr, dein Gott, auf deiner Seite ist, ist es möglich, Humanität walten zu lassen gegenüber dem, der sein Haus noch nicht geweiht, seine Früchte noch nicht genossen und seine Verlobte noch nicht heimgeführt hat, und ihn vorläufig vom Kriegsdienst zu befreien. Gottes unbedingte Parteilichkeit hat Großherzig­ keit zur Folge. Dass das nicht zur Nachlässigkeit und zu falscher Sicherheit führen darf, zeigen Texte, die den Sieg nicht an eine gewaltige Streitmacht, sondern an Jahwes Mitsein binden (Dtn 9,4–6; Ri 7,2 f). Unter der Zusage des unbedingten Mitseins Jahwes kann Israel es sich auch leisten, einer Stadt ein Kapitulationsan­ gebot zu machen. Mit der Nichtannahme ist nichts verloren; denn Jahwe streitet für Israel! – Jahwe ist der Kriegsgott, mächtig im Streit. Das ist nicht nur program­ matische Theorie, wie es nach 20,1 noch erscheinen konnte, sondern gegenwärtige Wirklichkeit (20,2 f): Der Kampf ist nahe, das Heute mitlaufende Gegenwart, der Priester ist der Israel jetzt und einst auf seine Identität ansprechende; und diese Identität ist gegeben durch Jahwe und mit ihm. Sie evoziert eine Haltung, die im allgemein-progammatischen Text mit Furchtlosigkeit beschrieben und in der konkreten Programmatik noch vierfach paränetisch verstärkt wird: „Euer Herz verzage nicht, fürchtet euch nicht und erschreckt nicht und lasst euch nicht grauen vor ihnen.“ Die Intensivform der Ermutigung wirkt sich affirmierend auf die Zu­ sage des Mitseins Gottes aus. 113 So hebt z. B. E. Nielsen 20,5–7 als alte kasuistische Rechtssätze heraus (a. a. O., S. 197; 199). Auch 20,8 kann man dazurechnen (vgl. Ri 7,2 f). 20,13 f hat eine Parallele in Num 31,7.​14–18; 20,16–18 in Num 21,1–3. 114 Für die exilische Entstehungszeit spricht der Rückgriff auf den Exodus (20,1) und die Erwähnung des Priesters (20,2) als Garant einer neuen Kult- und Lebensordnung nach der Rückkehr.

Kriegsgesetze 

193

2.8.2 Ethische Aspekte Kriegsgesetze115 formulieren das auch im Krieg geltende (besondere) Recht, damit dieses Anwendung finde und nicht Willkür und Chaos herrschen. Damit allein schon haben Kriegsgesetze eine regelnde, ordnende, Gewalt und Willkür min­ dernde Funktion. Das ist die ethische Leistung aller alttestamentlichen Kriegs­ gesetze. Dabei ist eine Ächtung des Krieges an sich kein ausdrückliches Thema des Alten Orients. Im Gegenteil, jeder Ausgang des Krieges wurde als eine Art Gottesgericht angesehen. Militärische Erfolge wurden überall mit dem Beistand der Landesgötter in Verbindung gebracht. Israel bildet hier keine Ausnahme.116 Umso beachtlicher ist es, dass Israel eine Art Musterungsspiegel entworfen hat (20,5–7[8]). Dieser versammelt nicht alle wehrfähigen Männer unterschieds­ los unter dem Heerbann, sondern er nimmt Rücksicht. Die Rücksichtnahme ist eine bevölkerungspolitische: zurückgestellt werden die, die in ihrer Weise für das Wohl der Menschen im Lande sorgen, der Bauherr für seine Familie, der Wein­ bergbesitzer für die Ernährung, der Bräutigam für seine Braut und damit auch für den Segen des Nachwuchses. Sie sollen in je ihrer Weise anerkannt werden, und das geschieht dadurch, dass sie „ernten“ dürfen, was sie „gesät“ haben, und nicht „ein anderer“, wenn sie fallen117. Der Musterungsspiegel macht Ernst damit, dass Krieg Sterben bedeutet und persönliches Leid auch über die bringt, die mit dem Gefallenen verbunden waren. Unabkömmlichkeit mag der Grund, Leid zu mini­ mieren das Ziel dieser Gesetze sein. Dass solche Gedanken – wenn auch nur von ferne – gedacht werden, ist einzigartig und als das Bestreben zu werten, Leid und Tod in engen Grenzen zu halten. Die Beschreibung und Deutung von 20, 5–7 zeigt schon den Unterschied zu 20,8. Zwar geht es hier auch um eine Zurückstellung, aber der Zurückgestellte wird nicht um der Ernstnahme des Sterbens willen heimgeschickt; auch fehlt bei ihm die Voraussetzung des Dienstes an der Bevölkerung, sondern er wird heim­ geschickt aufgrund von Verzagtheit und deren Ansteckungsgefahr. 20,8 warnt vor geistiger Kontamination innerhalb des eigenen Volkes wie 20,18 vor geistiger Verunreinigung durch götzendienerische Fremdvölker.

115 Hier sind auch Dtn 21,10–14; 23,10–15; 25,17–19 gemeint. 116 H. Spieckermann, Juda und Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982, S. 229 f; K. Fins­ terbusch, a. a. O., S. 130. G. Baumann verweist auf ein Orakel der Göttin Ischtar an den neu­ assyrischen König Asarhaddon, in dem ihm prophezeit wird, dass sie, die Göttin selbst, ihm die Feinde unter seine Füße legen werde (Gottesbilder der Gewalt, a. a. O., S. 87). 117 Dtn 28,30 sieht die Nichterlangung der „Früchte“ als Fluch an, der den ereilt, der nicht der Stimme des Herrn gehorcht. So weit gehen die Kriegsgesetze nicht (gegen E. Otto, Deutero­ nomium 12,1–23,15 [Deuteronomium 12–34, 1.Teilband], Freiburg, Basel, Wien 2016, S. 1578). Das zeigt ihre relative Unabhängigkeit von deuteronomistischer Theologie.

194

Gott und das Volk

Der Eingrenzung von Tod und Zerstörung und damit der Minimierung von körperlich verletzender Gewalt (violence) dient auch das Kapitulationsangebot an die feindliche Stadt. Mit der schrittweisen, zunächst friedlichen (20,11), dann ggf. kriegerischen118 Eroberung wird zugleich der absolute Vernichtungsbann relativiert119. Dieser darf für die Frühzeit Israels vorausgesetzt werden. Das hat sich an den verschiedenen Überlieferungsschichten in 1.Sam 15 erwiesen, und es wird auch durch die Praxis des Vernichtungsbanns in der Umwelt Israels wahr­ scheinlich gemacht. Wenn nun hier lediglich von Tributpflicht bei friedlicher Übergabe und von der Bannvollstreckung nur an der männlichen erwachsenen Bevölkerung bei erzwungener Kapitulation die Rede ist, dann ist das (einschließ­ lich der Baumschutzordnung 20,19 f120) ein „Gegenentwurf zur neuassyrischen Kriegspraxis“ und in diesem Sinn Zeugnis einer „progressiven Überlieferung, die auf Gewaltminimierung zielt“121. So mag man E. Noort gern folgen, der darin „so etwas wie eine Haager Konvention“ der Antike erblickt122. In 20,15–18 stellt der Composer das Gesetz des unbedingt zu vollstreckenden Vernichtungsbanns dem Kapitulationsangebot entgegen. D. h. er fängt die pro­ gressiven Gedanken wieder ein, indem er den Teilbann nur auf die weit entfernt liegenden Städte bezieht, die Städte des verheißenen Landes aber unter den totalen Bann stellt (vgl. auch Dtn 7,1 ff). Es handelt sich um einen politisch-strategischen Richtungswechsel weg von einer Liberalisierung hin zu den althergebrachten harten Maßnahmen. Dieser Richtungswechsel, ein Wechsel im Modus der Maß­ nahmen, ist vom Composer123 in 20,15 und 16 mit einem Wechsel des Ortes verbunden worden (sehr weit entfernte Städte – Städte des verheißenen Lan­ des), und dieser Wechsel lässt sich auch auf die temporale Ebene transformieren (in der Vergangenheit … – in Zukunft aber [wie am gedachten Anfang]). Aus diesem Grund ist die Gesinnung des Composers auch als neokonservativ zu be­ schreiben124. Wenn er dabei 20,10–14 nicht tilgt, sondern stehen lässt, mag das 118 Wohlweislich spricht der Text hier vom zwar erpresserischen, aber nicht unbedingt ge­ waltsamen Belagern; die Kapitulation ist indes nicht Folge eines Sturmangriffs, sondern Ge­ schenk Gottes (20,12 f). 119 E. Noort, „Das Kapitulationsangebot im Kriegsgesetz Dtn 20,10 ff und in den Kriegs­ erzählungen“ in: F. García Martínez (Hg.), Studies in Deuteronomy (FS C. J. Labuschagne zum 65. Geb.), Leiden 1994, S. 199. 120 Belege zur Vernichtung des ökologischen Umfeldes im Alten Orient bei E. Noort, „Das Kapitulationsangebot“, a. a. O., S. 214. 121 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 200. In seinem Deuterono­ mium-Kommentar spricht er von einem „theologisch begründeten Ethos der Selbstbeschrän­ kung zugunsten zukünftgen Lebens“ (Deuteronomium, a. a. O., S. 1604). 122 E. Noort, „Das Kapitulationsangebot“, a. a. O., S. 215 f. 123 Bei E. Otto DtrH (Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 200). 124 Dass älteres progressives Gedankengut durch jüngeres neokonservatives Denken einge­ fangen wurde (in dieser Reihenfolge!), macht die Stellung von 20,15–18 hinter 20,10–14 wahr­ scheinlich. Keinesfalls wird hier eine konservative Einstellung durch eine progressive korrigiert.

Kriegsgesetze 

195

als Ehrfurcht vor einer alternativen Überlieferung zu erklären sein, aber auch als ein verstärktes „So-Nicht, Sondern“. Die Radikalisierung der Bannforderung begründet er in 20,17fin mit dem Gebot des Herrn, wobei jenes „Gebot“ nichts anderes ist als die radikale Forderung des Deuteronomikers selbst, dem Mose in den Mund gelegt (vgl. Dtn 13,16), und wohl dem Inhalt nach identisch mit 20,18: Das Gebot des Totalbanns als Schutz vor Kontamination mit Fremdkulten. Dass diese neokonservative Ethik der Gewalt durchaus im Exil entwickelt wurde und als Handlungsanweisung für künftiges Verhalten im wiedererlangten Land dienen soll, erhellt daraus, dass es im 7. und 6. Jh. v. Chr. die Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter als Völker nicht mehr gab. Weil aber davon auszugehen ist, dass die absolute Bannforderung Gegenwartsrelevanz hat, müssen die Völker der Vorzeit, insbesondere Kanaan, eine symbolische Bedeutung haben. K. Finsterbusch erklärt unter Verweis auf Dtn 7,1–6; 12,29–31; 18,9–12; 20,15–18: „ ‚Kanaan‘ ist (künftig) zu vernichten bzw. zu meiden, wenn Israel im Land leben will“125. Wie sich in Amalek der äußere Feind verkörpert, der Israels Existenz vernichten will, so scheint Kanaan bzw. scheinen die genannten Völker126 die schwerste innere existentielle Bedrohung Israels darzustellen, die in der Per­ version und Auflösung des Gottesverhältnisses besteht127. Die Ethik der totalen Vernichtung „Kanaans“ kann sich an einer Theologie der totalen Furchtlosigkeit festmachen. Flossen aus ihr auf der einen Seite und zu einer bestimmten Zeit Großherzigkeit und Gewaltreduzierung, so auf der anderen Seite und zu anderer Zeit gesellschaftliche Ausgrenzung und Genozid128. Wessen Haltung sich nicht aus vollkommener Furchtlosigkeit und zugleich vollkommener Jahwefurcht speist, ist im Krieg nicht zu gebrauchen, kann geächtet nach Hause

Denn dann müsste der progressive Text dem konservativen folgen und nicht umgekehrt. Vgl. dazu auch E. Otto, Deuteronomium, a. a. O., S. 1570: „innerbiblisch korrigierende Exegese“. 125 K. Finsterbusch, a. a. O., S. 131. 126 In 7,1–6 treten noch die Girgaschiter als siebtes kanaanäisches Volk hinzu. 127 Da Israel dieser Bedrohung in der Königszeit nicht standgehalten hat, ist es ja nach Mei­ nung der deuteronomistischen Schule zur Katastrophe von 587/86 gekommen (K. Finsterbusch, a. a. O., S. 131). – Zur „Idee ‚Kanaan‘ als Symbol für Unglaube“ vgl. auch E. Ballhorn, „Zorn, Ge­ walt, Klage. Theologische Anmerkungen zur Achan-Perikope (Jos 7)“ in: Theologie der Gegen­ wart 54/2011, S. 180 und E. Blum, „Überlegungen zur Kompositionsgeschichte des Josuabuches“ in: E. Noort (Hg.), The Book of Joshua, Leuven, Paris, Walpole (Ma) 2012, S. 156 f. Außerdem J. Assmann, Totale Religion, Wien 22017, S. 45 ff und 68 f. 128 Das hängt mit der Ambivalenz religiösen Glaubens und sich daraus entwickelnden Fröm­ migkeitsformen zusammen: „Sosehr Religion den Menschen humanisieren kann, so sehr kann sie ihn auch barbarisieren, und die eine religiöse Bewußtseinsgestalt kann sehr schnell in die andere umschlagen“ (F. W. Graf, „Einleitung“ in: F. W. Graf, H. Meier [Hg.], Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München 2013, S. 14). Anders herum Th. Bauer, Die Vereindeu­ tigung der Welt, Stuttgart 2018 (Reclam 19492), S. 61: „Religion kann Unheil stiften … Religion kann aber domestiziert und gezügelt werden, indem sie ihr Ambiguitätspotential bewusst zum Nutzen der Gesellschaft einsetzt.“

196

Gott und das Volk

gehen. Nur wer ohne Furcht und Zagen hinter Jahwe steht, der wird am Ende auch der existentiellen Bedrohung durch „Kanaan“ widerstehen können. In dieser Ge­ dankenreihe also hat auch 20,8 Platz. Hier gehört er geistig hin und nicht in die Reihe der großzügig Zurückgestellten129. Eine Ethik, die Ächtung und Totalbann befeuert, bedarf nicht nur der Beschrei­ bung, sondern auch der Kritik. Zunächst besteht zwischen der Theologie der totalen Furchtlosigkeit und der daraus gefolgerten Ethik der Ächtung eine Kluft. Denn bei genauerer Betrach­ tung geht es sowohl bei der gesellschaftlichen Ächtung des „Feigen“ wie auch bei der Vernichtung der Götzendiener um Angst vor Kontamination. Angst ist aber alles andere als Furchtlosigkeit, und so können sich die Folgen der Angst, Aus­ grenzung und Vernichtung, niemals auf Furchtlosigkeit und einen Gott, der mit ist im Streit, berufen. Sodann spricht der neokonservative Composer die Sprache der uneinge­ schränkten Gewalt gegen Andersgläubige. Das ist nicht akzeptabel, weil es ja auch schon mal andere ethisch fundierte Umgangsformen gab (20,10–14). Das ist nicht akzeptabel, weil es keine positive Voraussetzung für eine von den Persern ak­ zeptierte Grundordnung im Land sein wird. Das ist nicht akzeptabel, weil Gewalt das bedeutet, was sie ist, und nicht auf eine Ebene geistiger Auseinandersetzung verflüchtigt werden darf130. Schließlich ist anzumerken, dass Israel in diesen Texten seine Identität im We­ sentlichen durch Aus- und Abgrenzung gewinnt. Absonderung ist eine defensive Haltung, die noch nichts weiß von einer Aufgabe Israels für die Völkerwelt. Israel hat aber seit alters her eine positive Haltung gegenüber dem Fremden entwickelt, der Israels Kult nicht bedroht. Im besten Fall kann er sogar bewirken, „dass alle Völker auf Erden deinen Namen erkennen“ (1.Kön 8,43). Das wird Israel auch helfen, im prophetischen Kontext seine Aufgabe zu erkennen (Jes 60,1–3). Eine versteckte ethische Konsequenz findet sich noch im Heiligkeitsgesetz: Wenn Gott indirekt gewalt-tätig gegen Israels Feinde agiert (Lev 26,7), dann nimmt sich Israel selbstverständlich das Recht, im Einvernehmen mit Jahwe Krieg zu führen, seine Feinde zu verfolgen, sie durch das Schwert fallen zu lassen. Krieg als heiliger Krieg ist somit sanktionierte Gewalt. Dabei ist außerdem noch zu bedenken, dass diese menschliche Gewalt-Tätigkeit geschieht, um dem Land Frieden zu verschaffen (Lev 26,6). Krieg­ führung, um Frieden zu schaffen, ist in den Kriegsgesetzen so nicht formuliert, ist aber durch die Verheißungen in exilisch-nachexilischer Zeit gedeckt.

129 In Ri 7,2 f gibt Gideon ebenfalls den Ängstlichen und Verzagten die Gelegenheit, vom Feldzug Abstand zu nehmen. Theologisch eingefangen wird diese einmalige Regelung jedoch nicht durch Reinheitsüberlegungen, sondern durch ein Gotteswort, das auf die Dezimierung des Heeres zum Zwecke der höheren Ehre Jahwes abzielt. 130 Dass das bei der Interpretation leicht passiert, sieht man oben: „ ‚Kanaan‘ ist (künftig) zu vernichten bzw. zu meiden …“ (K. Finsterbusch, a. a. O., S. 131; kursiv von mir).

Segen und Fluch 

197

2.9 Segen und Fluch (Dtn 28) 2.9.1 Dtn 28 als Komposition Dtn 28 ist eine Komposition aus Segenswünschen und Flüchen, die – sollte sie schon bestanden haben – dem Deuteronomiker sehr gelegen kam bzw. die auch aus der Feder des Verfassers / Composers stammen kann, Verwendung von Tradi­ tionsmaterial eingeschlossen. Denn sie entfaltet in exklusiver Weise „die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede“ (Dtn 5,1; vgl. die ähnliche For­ mulierung in 28,1). Zwar ist Dtn 28 nicht die erste und einzige Ansage von Segen und Fluch (vgl. 11,13–32131; 13,1–19132; 27,11–26133), aber sie ist die am breitesten ausgeführte und darum auch mit entsprechenden Bildern und Phantasien von Gottes Gewalt-Tätigkeit am meisten angereicherte. Darum verdient sie im Rah­ men dieser Arbeit besondere Beachtung.

2.9.2 Überlieferungsgeschichte Dtn 28 wirkt als Komposition wie eine Sinfonie: Ein Thema wird variiert, Motive wiederholen sich, werden umgekehrt, gehen ineinander über. Eine klare Struktur aufzuweisen fällt schwer, geschweige denn einen historischen Wachstumspro­ zess134. So gilt es, mit groben Strukturmerkmalen, dem Aufweis von sich wieder­ holenden Motiven und dem religionsgeschichtlichen Vergleich (VTE) der Ent­ stehungsgeschichte auf die Spur zu kommen. Kap. 28 gliedert sich grob in 28,1–14 (Segensworte) und 28,15–68135 (Flü­ che). Entsprechend fallen auch die Rahmungen aus: 28,1 wird sinngemäß in 28,13b(14) wiederholt; 28,14 drückt die positive Glaubenshaltung negativ aus: „weil du … nicht abweichst …“, und leitet damit über zur negativen Glaubens­ 131 Die auf Jahwe übertragenen Gewaltbilder halten sich hier in bekannten Grenzen. Ver­ nichtung des Volkes nur bei der „Todsünde“ Abfall. 132 Tötung, Steinigung, Bann nur bei Verführung zum Abfall (Kontaminationsgefahr [13,18; vgl. schon bei Dtn 20]!). 133 Die zwölf Fluchworte sind nicht mit Gewaltbildern aufgeladen. 134 G. Braulik, Deuteronomium II, a. a. O., S. 203. – E. Otto versucht zwar, einen solchen nachzuzeichnen (Deuteronomium 23,16–34,12 [Deuteronomium 12–24, 2.Teilband], Freiburg, Basel, Wien 2017, S. 2002 f). Dabei arbeitet er mit der unbewiesenen These eines zeitlichen Vorrangs der Flüche vor den Segnungen (So schon E. Nielsen mit Berufung auf altorientalische Vertragstexte, die dem Deuteronomiker vorgelegen hätten [a. a. O., S. 254 f]). 135 28,69 wird besser als 29,1 gezählt, weil es den Charakter einer Überschrift über das Kap. 29 besitzt (N. Lohfink, „Der neue Bund im Buch Deuteronomium?“ in: Ders., Studien zum Deu­ teronomium und zur deuteronomistischen Literatur V, S. 22 Anm. 42; D. Markl, a. a. O., S. 90 f; anders E. Nielsen, a. a. O., S. 256; vermittelnd E. Otto, Deuteronomium, a. a. O., S. 1984: „über­ leitende Funktion“).

198

Gott und das Volk

haltung 28,15: „Wenn du aber nicht gehorchen wirst …“, und damit zur Fluch­ sammlung. Die Fluchreihe scheint in eine zusammenfassende Rahmenbemer­ kung auszulaufen, die der Einleitung 28,15 ähnlich ist: 28,45–47. Somit würde die Fluchreihe zunächst in 28,44 enden. 28,47 könnte wiederum eine Überlei­ tungsfunktion haben: Wer nicht dem Herrn „mit Freude und Lust des Herzens“ dient (28,47), der wird zwangsläufig dem Feind dienen136 „in Hunger und Durst, in Blöße und allerlei Mangel“ (28,48). Die Drohung selbstverschuldeter Erniedri­ gung bei Abfall liegt über Israel. Ab 28,48 wird alles unausdenklich schlimm, dazu zucken zeitgeschichtliche Blitzlichter auf (28,49–52.62–67; vgl. schon 28,36 f). Ab 28,58, spätestens aber ab 28,62 wird die Heilsgeschichte wieder zurückgenom­ men – mit ungewissem Ausgang (28,68fin). Um den Aufweis einer differenzierteren planvollen Untergliederung nicht im Spekulativen enden zu lassen, empfiehlt es sich, auf sich wiederholende Motive zu achten. Die Segnung des Wohn- und Arbeitsbereichs, der Familie, des Ertrages, kurz: all dessen, was man anfängt (Eingang und Ausgang) (28,3–6), kehrt ziem­ lich wörtlich zu Anfang der Flüche wieder (28,16–19). 28,7 kehrt invers in 28,25 wieder: Der Angreifer ist immer der Verlierer. In 28,7 sind die Feinde die Angrei­ fer („auf einem Weg“) und somit auch die Verlierer („auf sieben Wegen“); in 28,25 geht es dem unter dem Fluch stehenden Israel so. Das Segenswort vom Landregen (28,12a) hat seine Fluchparallele in 28,24. 28,24 könnte die apokalyptisch an­ mutenden Plagen-Flüche 28,20–23 an sich gezogen haben. – An das GewinnerVerlierer-Segenswort (28,7) schließt sich eine Entfaltung des Segens für Israel an (28,8–11), parallel dazu an das Gewinner-Verlierer-Fluchwort (28,25) eine Ent­ faltung des Entsetzlichen (28,26–37), ergänzt durch die Ansage der Vergeblichkeit des Tuns durch Naturereignisse (28,38–40.42). Heilvoller Aufstieg bzw. unheil­ voller Abstieg werden zusammengefasst durch das Wort vom Kopf und Schwanz (28,13a // 28,44b + 43a), zugleich eine zusammenfassende metaphorische Verall­ gemeinerung der mit ihm konstitutiv verbundenen Konkretion vom Leihen und Borgen (28,12b // 28,44a). Im Übrigen fasst 28,43 f die Einheit des „Entsetzlichen“ (28,25–44137) zusammen. 28,45–47 komplettiert den Schlussakkord. Hier wird die gesamte Einheit ab 28,15 gebündelt. – Zu 28,48–57 und 28,58–68 ist oben schon das Nötige gesagt worden. Hinzuzufügen ist noch: Die zeitgeschichtliche Reminiszenz 28,49–52 lässt den Fluch 28,16–19 wahr werden. Außerdem zeigen die zeitgeschichtlichen Reminiszenzen: Gott gibt Israel dem selbstgewählten Weg der Sünde preis: Du hast nicht der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorcht und ihm mit Freuden gedient; folglich wirst du den Göttern aus Holz und Steinen dienen (28,36.64)138, den Völkern zum Hohn und Spott (28,37)139. 136 G. Braulik, Deuteronomium II, a. a. O., S. 207. 137 Ergänzt durch 28,38–40.42! 138 28,36 darf als historische Konkretion von 28,25 und realistische Vorwegnahme der Me­ tapher 28,44b gewertet werden. 28,64 meint das Exil und postexilische Migrationsbewegungen. 139 Vgl. Röm 1,21–32.

199

Segen und Fluch 

Dtn 28 (schematischer Überblick) Segen

Fluch

1–2

Rahmen: Einleitung

Rahmen: Einleitung

15

3–6

Segen für Arbeit und Familie

Fluch für Arbeit und Familie

16–19

Plagenflüche

[20–23]

Ascheregen

[24]

7

pro Israel: der ­ ngreifer ist immer A der Verlierer

contra Israel: der Angreifer ist immer der Verlierer

25 *

8–11

heiliges Volk …

entsetzliche weitere Plagen …

[26–29] *

… und Vergeblichkeit allen Tuns (durch Raub) …

[30–33a] *

… Segen für die Völker …

… bis zum WahnsinnigWerden und …

33b-34 *

… Überfluss an Gutem

… bis zum Entsetzen und Spott-Werden

[35–37] *

Vergeblichkeit allen Tuns (durch Naturereignisse)

[38–40.42]

12

Landregen

13a

Israel ist Kopf, nicht Schwanz (Zusam­ menfassung des Aufstiegs)

der Fremde ist Kopf, Israel ist Schwanz (Zusammenfassung des Entsetzlichen)

43–44

13b (+ 14)

Rahmen: Schluss

Rahmen: Schluss („dienen“)

45–47

unausdenklich schlimme Plagen („dienen“) (mit zeitgeschichtlichen Blitzlichtern)

48–57

Umkehrung der Heilsgeschichte (zwei Anhänge)

58–68

*25–37: Entfaltung des Entsetzlichen

[ … ] 20–42: VTE-Einfluss (ohne 25 und 33b-34)

Die Frage nach der inneren Struktur muss die neuassyrischen Vasallenverträge des Königs Asarhaddon berücksichtigen (Vassal Treaties of Esarhaddon = VTE).

200

Gott und das Volk

Darauf haben insbesondere E. Otto140 und H. U. Steymans141 aufmerksam ge­ macht. Die Vasallenverträge sind Loyalitätseide der Untertanen, insbesondere der unterworfenen Völker, auf den Herrscher und seinen Nachfolger, also auf das bestehende Königtum. Sie enthalten fast ausschließlich Flüche, um Unbotmäßig­ keiten unter die Strafe der Götter zu stellen und damit auszuschließen. E. Otto sieht 28,21–35 unter dem Einfluss der neuassyrischen Loyalitätseide gestaltet: „Das Hauptgesetz der Kultreinheit (scil. Dtn 13,2–20*) und die Flüche entspre­ chen den Gattungselementen von Vertrags- oder Eidbestimmungen und Flüchen, die die neuassyrischen Loyalitätseide und -verträge konstituieren“142. U. Rüters­ wörden kann den Bogen sogar von Dtn 28,20–44 spannen und auf die gleiche Reihenfolge der Verfluchungen in VTE § 56 verweisen143. Der Umfang der von den VTE beeinflussten Verse liegt auffälligerweise gerade in dem Bereich, der mit den Segnungen nur entfernte Parallelen aufweist. So ist davon auszugehen, dass die Flüche mit Elementen der VTE aufgefüllt wurden. Demnach ist VTE-Einfluss zu vermuten in 28,20–24.26–29.31 f.35–42. In der Tat hat H. U. Steymans eine Ähnlichkeit in den apokalyptisch anmutenden Ereignissen von 28,23 f und VTE §§ 63–65 festgestellt144. Weiter sieht er eine deutliche Parallele von 28,25–30(f)  und VTE §§ 38A-42145: Dtn 28 Niederlage Leichen als Tierfutter Aussatz = Ausgesetzt-Sein Verwirrung Blindheit Finsternis

Schändung der Gattin Verlust des Hauses Plünderung

VTE

Krankheit Exkommunikation Rechtlosigkeit Verwirrung Blindheit Finsternis Niederlage Blut Leichen als Tierfutter Schändung der Gattin Verlust des Hauses Plünderung

140 Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 180. 141 H. U. Steymans, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons, Göttingen 1995, S. 129 ff und 143 ff. 142 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 180; ders., Deuteronomium, a. a. O., S. 1994–1998. 143 U. Rüterswörden, Art. Deuteronomium, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Inter­ net (www.wibilex.de), 2008, S. 8 (aufgerufen: 10.3..2020). 144 H. U.  Steymans, a. a. O., S. 129 ff. 145 Ders., a. a. O., S. 144.

Segen und Fluch 

201

Dass Niederlage und Leichenfraß vertauscht sind, hängt m. E. damit zusammen, dass 28,25 als Einstieg in die Fluchreihe vorgegeben war, so dass sich Leichenfraß sofort anschließen ließ. Im Übrigen spricht die Parallele eine deutliche Sprache: Hier ist bewusst etwas aus jenen Vertragswerken übernommen worden, wobei dahingestellt sei, ob ein solcher Fluchblock zum überlieferten Wissen gehörte oder ob er schriftlich vorlag. Aufgrund der Geschlossenheit von 28,1–14, die bis 28,19 reicht, gehe ich von der Ursprünglichkeit der Segensreihe aus146. Die Flüche, die den Segenswor­ ten entsprechen (28,15–19.24 f.43–47), sind ebenso ursprünglich und mit VTEGut und zeitgeschichtlichen Reminiszenzen aufgefüllt. Zwei Anhänge (28,58–61; 28,62–63.68) schließen die Flüche ab147. Den Grund für das starke Übergewicht der Fluchreihe gibt E. Otto an: Mose verlangt vom Volk einen Loyalitätseid auf dessen König, der allein Jahwe ist148. Dieser Loyalitätseid ist zugleich Vorausset­ zung für ein neues Israel und Fundament einer neuen Grundordnung, die das Deuteronomium ist. N. Lohfink versucht, ein alternatives Strukturschema über den Text Dtn 28 zu legen: 28,15–46 sei durch Flüche bestimmt, 28,47–68 herrschten Drohungen vor. Das macht ָ / schāmad) fest, das im ersten Teil „vernichten“ er am Sinngehalt von „vertilgen“ (‫ ׁש ַמד‬ bedeute, im zweiten Teil lediglich auf die Entwurzelung durch das Exil verweise149. Die Unterscheidung von Fluch und Drohung, formal und inhaltlich sonst durchaus geboten, ist mir hier allerdings nicht plausibel.

Die überlieferungsgeschichtliche Analyse zeigt, dass sich Komposition von Dtn 28 und theologische Vorentscheidungen nicht voneinander trennen lassen. Das gilt auch für ein weiteres mögliches Struktur-Pattern. Es fällt auf, dass Segen und Fluch mal unter konditionalem (wenn – dann), mal unter kausalem (weil – darum) Vor­ zeichen stehen: konditional: 28,1.15.58 f (hebr.: ‫ ִ אם‬/ ’im) kausal: 28,2.9.13.20.45.46.62 (hebr.: ‫ כִ י‬/ ki; ‫ ֲ א ֶׁשר‬/ ᵄschär)

146 Anders E. Otto, der den Segen als spätexilische (28,1–6) und frühnachexilische (28,7–14) Ergänzung ansieht (Deuteronomium, a. a. O., S. 2002 f). Aber Segen und Fluch gehören im Deuteronomium immer zusammen, ebenso am Ende des Heiligkeitsgesetzes Lev 26 und in der deuteronomisch gefärbten Ergänzung des Bundesbuches Ex 23,20–33, hier in Form von Ver­ heißung und Mahnung. Das ist vom biblischen Gottes- und Menschenbild her gesehen auch gar nicht anders möglich. In Gott ist beides: der Segen und der Fluch (coincidentia oppositorum). Sie entfalten sich je und je geschichtlich. Dem entspricht in der biblischen Anthropologie die Wahlfreiheit des Menschen, den einen oder den anderen Weg zu gehen (Dtn 30). 147 Der zweite Anhang (Rückspulung der Heilsgeschichte) ist von einer zeitgeschichtlichen Reminiszenz und deren Reflexion unterbrochen (28,64–67). 148 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 180. 149 „Der Zorn Gottes und das Exil“, a. a. O., S. 52 f.

202

Gott und das Volk

Die Konditionalsätze verteilen sich auf Rahmenverse. Aber nicht alle Rahmen­ verse sind konditional, vv 45–47 sind kausal. Innerhalb der Rahmen gilt die kau­ sale Folge. Die Interpretation dieses Befundes geht davon aus, dass sich in der kausalen Folge ein Tun-Ergehen-Zusammenhang widerspiegelt. In diesem deutet Israel seine derzeitige Situation, z. B. 28,45 f: Weil du der Stimme des Herrn, deines Gottes, nicht gehorcht hast, werden alle diese Flüche über dich kommen (ebenso 28,20; 28,62). Die Segensworte blicken dabei zurück auf eine vergangene Zeit des Gehorsams und entsprechend auf eine Zeit der Größe, z.B.28,2: Weil du ge­ horsam gewesen bist, werden alle Segnungen über dich kommen (ebenso 28,9; 28,13).– Bezeichnenderweise wird dieses Tat-Folge-Denken eingefangen durch ein konditionales. In diesem konditionalen Denken sind zwar auch ethische For­ derung und Gottes Handeln miteinander verknüpft, aber doch so, dass ein Raum der Freiheit bleibt für Gott. In der konditionalen Struktur hat Gott die Freiheit, es ganz schrecklich enden zu lassen (28,58 f) oder aber einen neuen Anfang zu machen (28,1). So liegt in der konditionalen Struktur ein Funken Hoffnung, dass der alte Segen wiederkehre (28,1–14). „Kausale“ und „konditionale“ Theologie sind im Sinne des Verfassers keine Gegensätze, sondern als Deutungsmuster der Gegenwart und Hoffnungsmuster für die Zukunft aufeinander bezogen.

2.9.2.1 Das Gottesbild In Dtn 28 wird in auffallender Weise deutlich, dass das Gottesbild geprägt ist durch die Reflexion der zeitgeschichtlichen Situation des Exils. Diese Situation ist in 28,36 f und 28,49–52 sowie 28,64–67 zum Greifen nahe. Sie ist interpretiert als Folge des Abfalls. Das ergibt sich aus dem „Vorzeichen“ 28,20 sowie aus dem inneren Duktus dieser Stücke: Der Dienst an anderen Göttern aus Holz und Stein (28,36.64) ist Preisgabe an die selbstgewählte Sünde. Sie kommt auch im Ver­ trauen auf die „festen Mauern“ (28,52) statt im Gottvertrauen zum Ausdruck. Einem solchermaßen sündigen Volk kann Jahwe sich gar nicht anders zeigen als von seiner dunklen Seite. Es besteht für die Gegenwart – so sieht es der Ver­ fasser – ein kausaler Zusammenhang zwischen den Abwegen Israels und der Gewalt-Tätig­keit Jahwes. Dieser kausale Zusammenhang bestand auch in der Vergangenheit, freilich im für Israel positiven Sinn. Gehorsam und frommer Wandel ließen im Segen das heilvolle Antlitz des Herrn erkennen. So hat Gott zwei Gesichter. Welches er zeigt, ist letztlich abhängig von der Wahl des Weges, den Israel zu gehen gedenkt. Ist Jahwe abhängig? Das ist nicht denkbar. Darum muss die kausale Theologie von einer konditionalen umfangen werden. Auch wenn der Ernst der kausalen Theologie erhalten bleibt, wird er ergänzt durch den Hinweis auf die souveräne Reaktion Jahwes in konditionaler Form. Die Wenn-Dann-Struktur lockert die Weil-Darum-Kette. Danach hat Jahwe „in aller Freiheit seine Gnadengaben an

Segen und Fluch 

203

den Gehorsam Israels gebunden“150. Darin zeigt sich ein eschatologisches Mehr des Segens über ein Gleichgewicht von Segen und Fluch hinaus. Ein extremes Gewaltpotential haftet Jahwe allerdings in den Passagen an, die aus dem VTE-Gedankengut übernommen worden sind. Ziel der Gewalt-Tätigkeit Jahwes wird – so wird angekündigt – die „Vertilgung“, der „Untergang“, die „Aus­ rottung“ des Volkes sein (28,20–24). Das spiegelt sich in der Zusammenfassung 28,45–47 wider und in 28,48. Die zu erwartende Gewalt-Tätigkeit Jahwes ragt bis in die zeitgeschichtliche Reflexion 28,49–52 hinein, und unausdenklich Schreck­ liches hat auch im Anhang 28,58–61 in der restlosen Vertilgung sein Ziel. Kann das Jahwes Ziel wirklich sein, der sich in heiligem Schwur zu Volk (28,9) und Land (28,11) erklärt hat? Schwur und Vernichtungsfluch treten als die Aus­ drucksformen der zwei Gesichter Jahwes nebeneinander. Der Vernichtungsfluch kann den Schwur nicht ungültig machen, der Schwur kann den Vernichtungsfluch nicht zum leeren Geschwätz degradieren. Das eine ist theologisches Wissen oder auch Glaube, das andere Erfahrung. Glaube und Erfahrung treten gegeneinander. Aber Israel ist offenbar fähig, die Erfahrung, unter dem Fluch zu stehen, in seinen Glauben an den Bundesgott zu integrieren: Die Gewalt-Tätigkeit Gottes muss bis ins Unermessliche gesteigert dargestellt werden, damit deutlich wird: Der Bun­ desgott fordert aufgrund seiner Zusagen unbedingt Gehorsam ein – zusammen­ fassend auf den Punkt gebracht in Dtn 26,16–19 – notfalls auch mit Gewalt! Hier tritt Jahwe aus dem Licht des Kriegsgottes heraus und zeigt sich als gewalt-tätiger Bundesgott – um seines Volkes willen151. So hat die Androhung extremer GewaltTätigkeit das Ziel, sie nicht anwenden zu müssen. Darüber hinaus soll sie – das ist indirekt aus der Übernahme des VTE-Gedankenguts zu entnehmen – zum „Loyalitätseid“ auf Jahwe zwingen, wie er in Dtn 26,16–19 formuliert sein könnte. Dass „Vertilgen“ nicht Jahwes letztes Wort ist, zeigt der radikale Umschwung in 28,62. Eben noch war Vertilgen das letzte Ziel, nun werden wenige übrigbleiben. Die erneute Prophezeiung, „euch umzubringen und zu vertilgen“ (28,63), verliert nicht an Ernst; aber sie nimmt möglicherweise metaphorische Bedeutung an und erklärt sich dann durch das Herausgerissen-Werden aus dem Land152. Dennoch bleibt das Gottesbild am Ende ambivalent. Das muss es für die Exi­ lierten zwischen Tränen und Hoffnung auch. Geschichte muss sich nicht wieder­ holen. Wenn es ein „Zurück nach Ägypten“ gibt, dann kann es, muss aber kein neuer Anfang sein. 150 G. Braulik, Deuteronomium II, a. a. O., S. 203. 151 Ein anderes Gottesbild vermittelt Hosea: Gott will Umkehr bewirken durch ein neues Liebesverhältnis (Hos 2,21). Diese Linie verfolge ich themenbedingt nicht weiter. Allerdings kennt auch Hosea den anderen Gott (Hos 13,8; 14,1 u. ö.). 152 Ohne N. Lohfinks Theorie von der Ablösung der „Vernichtungsformel“ durch die „Exils­ formel“ im Einzelnen zu folgen, kann ich ihm hier zustimmen: „Die Bedrohung wird von der völligen Vernichtung auf die Entwurzelung und Deportation heruntergestuft“ („Der Zorn Gottes und das Exil“, a. a. O., S. 52 f).

204

Gott und das Volk

In besonderer Weise kommt die konditionale Theologie am Ende des Heiligkeitsgesetzes in Lev 26 zum Tragen. Da das Heiligkeitsgesetz als eine (post)priesterliche Verarbeitung u. a. des deuteronomischen Gesetzes gilt153, kann man die konditionale Theologie als eine Weiterentwicklung der kausalen ansehen. Segens- und Verheißungsworte rahmen die Unheilsankündigungen. Weil das Leben Schaffende, Dienende und Erhaltende am Anfang wie am Ende steht, wird es sich auch durchsetzen. Die Flüche offenbaren die dunkle Seite Jahwes in bekannter Weise. Nicht nur die ein­ zelnen Verwünschungen sind schlimm und an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Auch die „siebenfältige Strafe“ bzw. die „siebenfältigen Schläge“ sind in ihrer Potenzierung unbegreiflich, noch dazu, wenn sie mit dem Racheschwert verbunden sind. Erklärbar sind sie nur als allerletzter Ruf zur Umkehr und zur Demut. Erklärbar wären sie auch als Versuch, selbst das Grausamste und Unverständlichste nicht aus Gottes Walten her­ ausfallen zu lassen, akzeptabel aber nur in einer konditionalen, nicht in einer kausalen Theologie154. Letzten Endes eröffnet die konditionale Theologie Gott und den Menschen eine deren Wesen und Würde entsprechende Freiheit. Gott wird diese Freiheit immer dazu nutzen, seine Bundeszusage zu erfüllen: Er will ihr Gott sein, und sie sollen sein Volk sein. Das ist der theologische Tenor des gesamten Heiligkeitsgesetzes Lev 17–26.

2.10 Moses Abschied und Josuas Einsetzung (Dtn 31,1–8) 2.10.1 Literarkritik Man kann Dtn 31,1–8 zerpflücken. E. Nielsen nimmt 31,3c („Josua …“) als DtrZusatz heraus, der den Zusammenhang unterbreche. Außerdem rechnet er die Du-Passagen D zu, die Ihr-Stücke Dtr155. – Auch eine andere Logik wäre ein­ leuchtend: Da es um die Einsetzung Josuas als Moses Nachfolger geht, genügt der Zusammenhang 31,3c.7–8.23, Fortsetzung in 32,48 ff. 31,1–3b.4–6 könnte aus 31,7–8 herausgewachsen sein. Den Denkmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt. Sie alle verkennen allerdings den ständigen Wechsel zwischen Du- und Ihr-Stil und vor allem die Funktion der Erzählgesetze, die mit Einblenden, Vor­ wegnahmen und Rückbindungen arbeiten und diese bewusst, z. B. als Klammern oder als inhaltliche Zeichen, einsetzen. Unter dieser Voraussetzung ist Dtn 31,1–8 als in sich geschlossene Einheit zu betrachten.

153 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, a. a. O., S. 241. 154 Das Angesicht Gottes erschließt sich nach christlicher Überzeugung aus alt- und aus neutestamentlichem Gottesbild. Das hier gezeichnete Gottesbild ist weit entfernt von dem Petri oder gar Jesu (Mt 18,21 f). Gesamtbiblisch gesehen hat die siebenfältige Vergeltung Gottes in Jesu siebenmal siebzigmaliger Vergebung ihren Kontrapunkt. So ist das Angesicht Gottes im Sinne einer biblischen Theologie von der complexio oppositorum geprägt. 155 E. Nielsen, a. a. O., S. 275.

Moses Abschied und Josuas Einsetzung 

205

Die Einsetzung Josuas in 31,7–8 käme ziemlich unvermittelt, wäre sie nicht bereits in 31,3c vorbereitet. Außerdem würde sie als ein willkürlicher Akt erscheinen, wäre sie nicht vorher schon durch das Wort Jahwes gedeckt.

Im Blick auf 31,1 gibt es verschiedene Lesarten. Der masoretische Text beginnt mit ‫ וַ ּיֵ לֶ ךּ‬/ wajjēläch = „Mose ging hin und redete …“. In einem Qumran-Fragment zu Dtn 31,1 ist zu lesen: ‫ וַ יְ כַ ל‬/ wajᵊchal = „Mose hörte auf zu reden …“. Ebenso in der Septuaginta: Καὶ συνετέλεσε Μωυσῆς λαλῶν πάντας τοὺς λόγους …/Kai syn­ etelese Mōysēs lalōn pantas tous logous … = „Und Mose hörte auf, all diese Worte zu reden …“. Ist also 31,1 Abschluss von Kap. 30 und so eigentlich noch zu ihm gehörig oder Einleitung zu Kap. 31? Septuaginta und Q-Fragment gehen davon aus, dass Moses Bundesrede einen Abschluss braucht, bevor die Einsetzung Josuas erfolgt. Sie vernachlässigen dabei, dass Mose weiter redet. Dass es sich dabei um eine ganz andere „Rede“ als vorher handelt, wird durch den Einschnitt „Und Mose ging hin und redete …“ deutlich. 31,1 gehört also als Einleitung zu Kap. 31156.

2.10.2 Formkritik Wir haben es in Dtn 31,1–8 mit zwei Verheißungen zu tun: 31,1–6 Verheißung an das Volk, 31,7–8 Verheißung an den Einzelnen. Beide sind in gleicher Weise aufgebaut: Ermutigungsformel, Nennung der Aufgabe, Beistandsformel157. 31,3: Das Volk wird ermutigt, den Jordan unter der Führung Josuas zu überschreiten. Nachdem die Aufgabe des Herrn umschrieben ist (31,4), wird die Aufgabe des Volkes benannt (31,5). Dafür wird Jahwes Beistand verheißen (31,6). So auch bei der Berufung Josuas. Die Ermutigungsformel 31,7a kann dieselben Worte gebrau­ chen wie die an das Volk gerichtete Beistandsformel 31,6. Der Auftrag schließt sich an (31,7b.c: Hineinführung ins Gelobte Land und Landverteilung). Die Bei­ standsformel 31,8 speist sich aus Redeelementen von 31,3 und 6.  In Dtn 31,7–8 steht die Berufung Josuas im Mittelpunkt. Er darf sich gewiss sein, dass Jahwe ihm bei seiner schweren Führungsaufgabe zur Seite stehen wird. Es versteht sich, dass Jahwe in diesem feierlichen Kontext als Kriegsgott zurück­ tritt158. Umso mehr tritt er in 31,1–6 als solcher hervor, wo es um die Landnahme geht. Für die Beschreibung des Gottesbildes genügt daher im Wesentlichen der Blick auf Dtn 31,1–6. 156 Lesarten und Diskussion sind knapp und übersichtlich bei K. Finsterbusch, a. a. O., S. 188 f dargestellt. 157 G. Braulik, Deuteronomium II, a. a. O., S. 223 nimmt dieses Schema lediglich für die vv 7–8 in Anspruch. 158 Erst recht in Num 27,15–25 (P), wo die Amtseinführung Josuas im Beisein des Priesters Eleasar als eine Art geistlicher Sukzession durch Handauflegung des Mose stilisiert wird.

206

Gott und das Volk

2.10.3 Das Gottesbild In Dtn 31,1–8 zeigt sich Jahwe zum letzten Mal im Deuteronomium als Kriegsgott auf der Seite seines Volkes. „Der Herr, dein Gott, wird selber vor dir hergehen“ (31,3a). Er erfüllt damit seine Zusage an Israel (31,3fin), an die er sich seit der Zeit der Väter gebunden hat (31,7). Alles andere wäre Untreue. Vertilgung der Urbe­ völkerung gehört – zumindest programmatisch159 – im Verständnis der Traden­ ten dazu; denn nur so kann die Reinheit des Jahweglaubens gewährleistet werden. Würde ein friedliches Nebeneinander – zumindest programmatisch – geduldet, wäre auch eine Gleichwertigkeit der Religion die Folge, und das Bekenntnis Israels zu dem einen Gott (Dtn 6,4) geriete in Gefahr. Wo es kein Menschen- und Völker­ recht im modernen Sinn gibt, gibt es auch nicht den Tatbestand des Völkermords, und so kann dieser noch keine ethische Kategorie sein160. Josua kommt die Rolle zu, Jahwes Arm auf Erden zu sein (31,3c.7–9). Er ist exklusiv von Jahwe berufen (31,3c), auch wenn Mose die Berufung rite vollzieht (31,7–8). Natürlich steht Josua ein Heer zur Verfügung. Aber es handelt ebenso wenig wie Josua in souveräner Machtvollkommenheit, sondern „ganz nach dem Gebot, das ich euch gegeben habe“ (31,5). Gedacht ist wohl an den Bann, wie er in Dtn 20,16–18 formuliert ist161. So schließt sich der Kreis: Der Bann ist die Außen­ seite des verheißenen Jahwehandelns. Das Nebeneinander von Jahwehandeln und Kriegshandeln des Volkes erklärt sich hier auch vor dem Hintergrund der Formelelemente: In den Bereich der Er­ mutigungs- wie auch der Beistandsformel gehört das Jahwehandeln, die Aufgabe kann sich Jahwe selbst zuschreiben (31,4), oder aber sie wird als Auftrag in Men­ schenhand übertragen (31,5). Im Dtr tritt Jahwe als Verteidiger Israels mehr und mehr zurück und wird zum Auftraggeber für Angriffe (s. u. Exkurs „Auftragskrieg und Angriffskrieg“).

159 Siehe den (unhistorischen [vgl. Num 21,21–35!]) Hinweis auf Sihon und Og in 31,4. Dass es nicht immer so war, zeigt die Geschichte der Richterzeit (vgl. exemplarisch Ri 2,12). 160 Eine Ahnung von dem, was Ausrottung einer ganzen Ethnie bedeutet, blitzt erst in spät­ nachdeuteronomischer Zeit auf: Die Schandtat der Benjaminiter an der Nebenfrau eines zu Gast weilenden Leviten wird von den übrigen Stämmen gerächt mit der fast restlosen Vernichtung des Stamms. Da erkennt Israel leidvoll den Genozid, freilich nur beschränkt auf den Mord im eigenen „Haus“: „O Herr, Gott Israels, warum ist das geschehen in Israel, dass heute Israel um einen Stamm weniger geworden ist?“ (Ri 21,3, vgl. 21,6). Das „Kriegsverbrechen“ wird auf frag­ würdige Weise durch Mädchenraub bei den Bewohnerinnen von Jabesch und von Silo geheilt (Ri 19–21). Dass damit der Vernichtungsbann total in Frage gestellt ist, erkennt ein neokonser­ vativer Kommentator deuteronomistischer Schule, der zudem königsfreundlich ist, weil er den Niedergang der Richter seit Gideon sieht: „Zu der Zeit war kein König in Israel; jeder tat, was ihm recht dünkte“ (Ri 21,25; Ri 19,1; vgl. Ri 17,6 und 18,1). 161 E. Otto, Deuteronomium, a. a. O., S. 2108.

Moses Abschied und Josuas Einsetzung 

207

2.10.4 Ethik des Krieges In Dtn 31,1–8 ist eine Ethik des Krieges enthalten. Fern von allen ethischen Vor­ stellungen unserer Tage muss das zumindest festgestellt werden. Sieg im Krieg über die kanaanäische Urbevölkerung wird als Jahwes richtendes Handeln ver­ standen162 (31,4). Wenn Jahwe in dieser Weise richtet, kann das Volk nicht zu­ rückstehen. Es besteht geradezu eine moralische Verpflichtung, den empfangenen Sieg auch in eine totale Unterwerfung bzw. Bannung der Bevölkerung umzusetzen (31,5: „Wenn sie nun der Herr …, so sollt ihr …“). Gottesbild und Ethik greifen ineinander. Dabei stellt sich Israel keineswegs als kriegslüstern dar. Entgegen der Notiz in 31,4 will es ja Sihon, dem König der Amoriter, nichts Böses, sondern bittet nur um Transit, und so hätte es sich mit Og, dem König von Baschan, auch gedacht, aber leider kam es anders, und so musste es kämpfen (Num 21,21–35). – 31,5 steht in einem größeren ideologischen Zusammenhang, der sich in 31,7 aus­ spricht. Hier stehen die drei Säulen nebeneinander, die die theologische Ethik der Landnahme begründen: Volk – Land – Jahwe. Das Land ist nicht verhandelbar, denn es ist seit alters das den Vätern „geschworene“ Land. Und es ist dies und nur dies Volk, dem das Land zugesprochen ist. So steht hinter beidem der Herr. Durch ihn und mit ihm ist die Landnahme zu verwirklichen. Sie ist geradezu Ver­ pflichtung gegenüber dem Herrn. Mag diese Ideologie alte Wurzeln haben, die weit hinter das Deuteronomium zurückreichen, sie trägt auch das neue Israel, das sich nach dem Exil wieder unter dem einen Herrn im Land konstituieren wird (vgl. den Dreiklang Herr – Volk – Land auch in Dtn 28,1.8.9; die vier Segnungen sind Segnungen des Lebens im Land).

2.10.5 Vergleich mit Dtn 9,1–6 Auf die durchaus nachhaltigen, aber wenigen Bezüge zu Dtn 20 und 28 wurde hingewiesen. Die wörtlichen und sachlichen Parallelen zwischen Dtn 9,1–6 und Dtn 31,1–6(7–8) sind unübersehbar. Der Jordan ist Ende des Moseweges (31,2) und eine Grenze zwischen dem Volk Israel und dem „Land der Völker“ (9,1). Im Symbol des Ortes spricht sich die Er­ fahrung der Zeit aus. Eine neue heilsgeschichtliche Epoche beginnt für Israel. Die Zeit des Vertrau­ ens auf die „Zusage“ der Verheißungen (9,3) wird abgelöst durch die Einlösung des „Schwurs“ (Dtn 31,2b.3c[7–8]). Das Ende der Mosezeit wird geradezu melo­ dramatisch begangen, die jetzt beginnende Josuazeit als neue heilsgeschichtliche

162 K. Finsterbusch, a. a. O., S. 130.

208

Gott und das Volk

Zeit feierlich eingeläutet. Über alle Zeiten hinweg gibt es ein Kontinuum, und das ist „der Herr, dein Gott, der vor dir her geht“. Das ist sowohl in Dtn 9,3 als auch in Dtn 31,8 im Partizip Präsens ausgedrückt. Damit ist die Präsenz Jahwes angezeigt, auf die man sich in jeder Gegenwart verlassen kann und die darum auch für alle Zukunft verheißend angesagt werden kann. Die Präsenz ist in der Bundestreue begründet, weswegen die beiden Texte immer wieder auf die „Zusage“ bzw. den „Schwur“ Jahwes Bezug nehmen (Dtn 9,3c.5c; 31,3c.7c). Aufgrund der Bundes­ treue steht Jahwe für das Gelobte Land ein ebenso wie für sein Volk. Wenn und weil Israel darauf vertraut, kann es davon ausgehen, dass Jahwe für es Partei er­ greift, an seiner Seite steht und an seiner Seite kämpft, was sich in lobpreisender Rede dahin wandelt, dass Jahwe selbst den Weg ins Gelobte Land freikämpft, auf dem Israel dann nur noch nachzurücken braucht (Dtn 9,3.4a; 31,3.5). Die erfahrene und verheißene Präsenz Jahwes kann als Für-Präsenz be­ schrieben werden. Unter dieser Voraussetzung scheint es Israel gar nicht anders möglich, als sich Jahwe als Kriegsgott vorzustellen, denn seine uneingeschränkte Für-Präsenz muss zum Krieg mit den Völkern führen, die sich Israel in den Weg stellen (Dtn 31,4: die Amoriter unter Sihon und Og) und die noch im Land Ka­ naan wohnen (Dtn 9,2: als Beispiel die Anakiter). So gibt sich Jahwe als „verzeh­ rendes Feuer“ (Dtn 9,3) und als erbarmungsloser Vernichter (Dtn 31,3.5), dazu auch als kluger Stratege (Dtn 7,21 f; vgl. Ex 23,29 f: Vernichtung der Völker nicht gleichzeitig, sondern nacheinander). Jahwe selbst vernichtet damit – so sieht es das Gottesvolk – das „gottlose Treiben“ der Völker im zugesprochenen Land (Dtn 9,5bα), was Israel nicht davon entbindet, sondern geradezu dazu auffordert, den Bann zu vollstrecken, um nicht durch jene „Gräuel“ kontaminiert zu werden (Dtn  20,17 f). Sowohl Dtn 9,1–6 als auch Dtn 31,1–8 haben über ihre Gemeinsamkeiten ­hinaus je eine besondere Ausrichtung. In Dtn 9,4–6 wird eine Fehlhaltung Israels angesprochen. Sie besteht in einer Missdeutung des Bundesverhältnisses. Es wäre fatal – so der Text – aus der Einhaltung des Bundes seitens Israels Ansprüche an Jahwe auf Einnahme des Landes abzuleiten. Denn Jahwe gibt unabhängig von einer wie auch immer gearteten „Gerechtigkeit“ Israels. Er gibt aufgrund ganz anderer Kriterien: aufgrund des „gottlosen Treibens“ der Völker und aufgrund seiner freien Zusage. – Dtn 31,1–8 erhält seinen besonderen Akzent durch das starke Gewicht der Ermutigungs- und Beistandsformeln. Sie nehmen en bloc etwa die Hälfte des Textes ein (vom Auftrag 31,7b.c abgesehen). Es geht um Stär­ kung und Festigung des Gottvertrauens angesichts der kriegerischen Herausfor­ derungen, die die Landnahme mit sich bringt. Gottvertrauen (der Herr geht mit) führt zum Selbstvertrauen (du brauchst dich nicht zu fürchten). Umgekehrt ist Selbstvertrauen, wenn es sich nicht überheben soll, an Gottvertrauen gebunden. Selbstvertrauen und Gottvergessenheit, also Selbstüberschätzung, ist freilich zu beklagende Realität (Dtn 9,4–6), vor der auch Kap. 8 warnt. Auch in – anschei­ nend unvermeidlichen – Konflikten bei der Landnahme ist nicht Israels militä­

Der Beginn des Josuabuches

209

rische Überlegenheit ausschlaggebend, sondern das Mitsein Jahwes. Es gibt für das bundestheologisch auf Jahwe gewiesene Gottesvolk keinen Lebensbereich, in dem der Herr nicht vorkäme. Wird der Sieg über die Völker auf das Mitsein Jahwes zurückgeführt, gibt es umgekehrt keinen Grund, hinter Jahwes Vorangehen zagend zurückzubleiben. Krieg ohne Erbarmen ist moralische Konsequenz dessen, was als Gegenwart Jah­ wes beurteilt und erlebt wird. Das Deuteronomium ist ein Geschichtsentwurf mit normativer Relevanz für die Gegenwart. Er ist davon überzeugt, dass Heilsgeschichte sich in neuer ge­ schichtlicher Situation wiederholen kann und wird. Darum schöpft er aus über­ lieferter oder aus überliefert dargestellter Geschichte, um das Heute zu deuten. Dieses Heute gleicht der Situation am Jordan damals: Man steht an der Grenze zu einer neuen heilsgeschichtlichen Epoche, dem zweiten Einzug ins Gelobte Land. Man ist sich der Präsenz Jahwes gewiss. Sie ist das Kontinuum über alle Zeiten hinweg, und sie wird dem Gottesvolk auch bei den häufigen Herausforderungen erhalten bleiben. Selbstvertrauen, das sich aus dem Vertrauen auf den einen Gott speist, ist die angemessene Haltung, Gottvergessenheit, die die Identität des Volkes gefährdet, die permanent drohende Gefahr.

2.11 Der Beginn des Josuabuches Mit der im Buch Josua geschilderten Landnahme beginnt für Israel eine neue heilsgeschichtliche Epoche. Auch hier markiert der Jordan die Grenze zwischen Einst und Jetzt (Jos 1,2.11). Das wird unüberhörbar deutlich in Jos 3, wo der Durchzug durch den Jordan wie der Durchzug durch das Schilfmeer stilisiert wird. Unübersehbar zeichnet sich die neue Epoche durch eine neue Person aus. Josua steht für einen heilsgeschichtlichen Einschnitt und für Kontinuität der Gottesgeschichte mit Israel gleichzeitig. Kontinuität liegt in der Durchführung und Verwirklichung der einst an Mose ergangenen Zusagen Gottes durch Josua (Jos 1,3), auch im Versprechen des Mitseins Gottes mit Josua (Jos 1,5.9; 3,7; 4,14), Kontinuität wird letztlich auch in der Jordan-Schilfmeer-Symbolik abgebildet. Diskontinuität wird durch den Tod des einen und die Beauftragung des anderen markiert. Dabei werden die Personen deutlich voneinander abgehoben: Mose ist „mein Knecht“, Josua „der Sohn Nuns“ (Jos 1,1 f)163. Diese Näherbestimmung 163 Josua, der Sohn Nuns, wird erst am Ende (Jos 24,29; vgl. Ri 2,8) mit der Würde „Knecht des Herrn“ ausgestattet. – In einer wahrscheinlich weiteren Bearbeitung tritt zwischen Josua und Jahwe das „Buch des Gesetzes“ (Jos 1,8). Der Erfolg Josuas wird nicht mehr nur im Mit­ sein Jahwes gesehen, sondern in der Orientierung am Gesetz des Mose, damit also nicht mehr im vertrauensvollen Hören auf Jahwes Zuspruch, sondern im Gesetzesgehorsam. Die „zweite Generation“ empfängt die Dinge aus „zweiter Hand“ (vgl. auch H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth [ATD 9], Göttingen 61985, S. 14 und J. Nentel, Trägerschaft und Inten­

210

Gott und das Volk

zeigt einen Unterschied in der Art von Gottes Eingreifen an. In der Mosezeit griff Jahwe oft sehr direkt in die Geschichte ein. Er ging voran und vernichtete die Völker bzw. verhieß es, so dass Israel nur noch seinen Spuren zu folgen brauchte. In der Josuazeit tritt Jahwe als Kriegsgott stärker in den Hintergrund164. Er bleibt es – seine Beistandszusage gilt ja nach wie vor –, aber er wirkt indirekt durch seinen Schrecken (Jos 2,9.24b; 5,1), und er nimmt eher die Rolle des obersten Befehlshabers ein, der Josua bzw. dem Volk seine Kampfesaufgaben zuweist (z. B. Jos 1,6 und das Verhältnis von Jos 1,9 zu 1,10–16). Josua rückt stärker „aus der Rolle eines Volksführers in die eines Feldherrn“165. Der Treueeid wird Josua ge­ schworen unter der Voraussetzung, „dass der Herr, dein Gott, mit dir sei, wie er mit Mose war“ (Jos 1,17 f). Die Kriegsaufgaben werden dann – insbesondere was den Bann betrifft – in Übereinstimmung mit dem Gesetzbuch und mit Jahwes Willen gelöst (Jos 6,21; 8,26; 10,38 f; 11,21 f).

2.12 Die Zerstörung von Jericho (Jos 5,13–6,27) 2.12.1 Literarische Vorentscheidungen Jos 5,13–15, im jetzigen Kontext Einleitung zur Jericho-Erzählung, enthält we­ sentliche Elemente einer Berufungsgeschichte: Vision und Audition, Selbstvor­ stellung der numinosen Gestalt, Überwältigungsmotiv, Bereitschaftsmotiv, Heili­ gungsmotiv. Die eigentliche Beauftragung scheint zu fehlen. Die Episode wirkt, insbesondere durch die Selbstvorstellung des Berufenden als „Fürst über das Heer des Herrn“, sehr alt. Durch die scheinbar fehlende Beauftragung ist eine Verknüpfung mit einem besonderen Ereignis nicht auszumachen, allerdings ist die Berufung der des Mose Ex 3,1–5 offenbar nachgestaltet. Dem Erzähler kam es darauf an, damit zu zeigen, dass Josua in die Nachfolge des Mose berufen ist und in dessen Fußstapfen treten wird und soll. Das ist der Auftrag, der zwischen den Zeilen, bes. in 5,15, zu lesen ist (vgl. Ex 3,5)166. Die Berufung ist vermutlich

tionen des deuteronomistischen Geschichtswerks, Berlin, New York 2000, S. 26 f). Das bindet die Führungsperson auch an das Gesetz. An ihm wird sie gemessen, durch es wird sie in ihrem Tun begrenzt (Chr. Schäfer-Lichtenberger, „ ‚Josua‘ und ‚Elischa‘ – eine biblische Argumenta­ tion zur Begründung der Autorität und Legitimität des Nachfolgers“ in: ZAW 101/1989, S. 208; dies., Josua und Salomo. Eine Studie zu Autorität und Legitimität des Nachfolgers im Alten Testament, Leiden, New York, Köln 1995, S. 201, wo sie allerdings die literarische Kohärenz von Jos 1 vertritt [S. 196]). 164 L. Schwienhorst, Die Eroberung Jerichos, Stuttgart 1986, S. 80. 165 L. Schwienhorst, a. a. O., S. 80; vgl. auch Chr. Schäfer-Lichtenberger, „‚Josua‘ und ‚­Elischa‘“, a. a. O., S. 207 und dies., Josua und Salomo, a. a. O., S. 107, 109, 210. 166 Die Frage in v 14b: „Was sagt mein Herr seinem Knecht?“ lenkt auf eine Auftragserteilung hin. V 15 ist die Auftragserteilung.

Die Zerstörung von Jericho 

211

zunächst ortsungebunden überliefert, was eine redaktionelle Verknüpfung mit Jericho erleichtert167. Die Grundüberlieferung der Jericho-Erzählung ist eine legendarisch gefärbte, vordeuteronomische Stadteroberungsgeschichte168. Kurz und straff erzählt sie vom wundersamen Fall der Mauern von Jericho und der Einnahme der Stadt. Diese Erzählung kommt ohne Priester und ohne Lade aus, ohne Bann und ohne Hure Rahab. Zu ihr gehört: 6,1–3.5.11169–12. 14–15. 20.170 Deuteronomistische Erweiterungen lassen sich in der Einführung der Priester und der Lade erkennen (vgl. Jos 3,14) sowie auch in der Durchführung des Bann­ gebotes171. Demnach gehört dazu: 6,4. 6–10.13.16–19. 21–27. Rahab war dem Redaktor wichtig: Wie geht man angesichts des Vernichtungsbanns mit jemand um, der zwar zu den Besiegten gehört, durch seine Kollaboration aber den Sieg erst vorbereitet und möglich gemacht hat?172 Die abweichende LXX-Version kann keinen Anspruch auf Ursprünglichkeit erheben. Sie glättet teils durch kleinere Auslassungen, teils durch „genauere“ (= schrittweise) Darstellung des Angriffs (6,5), teils durch Kontraktion (6,6.7). Auf die Marschreihenfolge, wie sie in Jos 6,8 f und 6,13 vorgegeben ist, legt sie weniger wert, ebenso auf die Lade, die gelegentlich fehlt (Jos 6,6 f.13 [LXX]).

167 Zwar hält H. W. Hertzberg (Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 36) die Berufung Josuas für eine Jerichoer Lokaltradition, aber andererseits ist sie zu gewichtig für die Heilsge­ schichte Israels, als an einen einzigen Ort gebunden zu sein. Im Übrigen sind andere visionäre Offenbarungen auch nicht an bestimmte Orte gebunden. 168 So auch H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 11, L. Schwienhorst, a. a. O., S. 65 und V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 17. Als historisches Faktum bestritten von E. A. Knauf, Josua, Zürich 2008, S. 25 f und von V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 6, 9 ff, 68 f. Zur Fiktionalität der Stadteroberungsgeschichten aus archäologischer Sicht vgl. L. Wächter, „Die Mauern von Jericho“ in: Theologische Versuche 11/1979, S. 33 ff. 169 „die Lade des Herrn“ ist in v 11 vom Dtr ergänzt. Ursprünglich ließ Josua sie, also die Kriegsleute, um die Stadt ziehen. 170 Die Unterscheidung von traditionellem und redaktionellem Gut versteht sich hier und bei den anderen Geschichten des Josua- und Richterbuches als im Kern denkbar und überzeugend. Auf eventuelle kleine und kleinste Unebenheiten im Text wird hier nicht eingegangen. – Im Fall von Jos 6 stimme ich in etwa mit V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 65 ff überein und unterscheide mich von L. Schwienhorst, a. a. O., S. 39 ff, der die Josuareden komplett aus der Grundschicht elimi­ niert. Dann aber wäre die Rolle Josuas in der Erzählung völlig unklar. 171 So auch E. Blum, „Überlegungen zur Kompositionsgeschichte des Josuabuches“, a. a. O., S. 152. 172 Vgl. die gleiche Schonung eines Kollaborateurs in Ri 1,22–26. – Der Redaktor von Jos 6 setzt sich durch eigene Zeitangaben deutlich von der Grunderzählung ab. 6,25: Rahab blieb in Israel wohnen „bis auf diesen Tag“, also bis zum Heute des Redaktors. Was inhaltlich damit ge­ sagt ist, s. u. unter AT 2.12.6.

212

Gott und das Volk

2.12.2 Das Gottesbild in der traditionellen Berufung Josuas (Jos 5,13–15) Die Aufmerksamkeit gilt dem numinosen „Fürst über das Heer des Herrn“; denn hinter ihm steht – wie hinter dem Engel in der Berufung des Mose – der Herr selbst173. Indes: Niemand weiß, woher jene Gestalt kommt, was sie will, auf wes­ sen Seite sie steht. Das ist erzählerisch gewollt. Das hat sie mit dem Göttlichen gemein (vgl. Gen 32,25.30; Ex 4,24; Num 22,23.31; Apg 16,9). Sie hat ein gezücktes Schwert in der Hand. Dieser Zug ist offenbar nicht ungewöhnlich (vgl. Gen 3,24; Num 22,23.31). In Num 22,21 ff bedroht die schwerttragende Engelsgestalt den eigenwilligen Bileam; nachträglich erfährt er, dass der Engel ihn notfalls getötet hätte (Num 22,23). Gegen wen wird sich das Schwert in Jos 5,13 wenden? Das bleibt offen. Als „Fürst über das Heer des Herrn“ stellt sich der Mann als Wesen­ heit Gottes dar, die das Göttliche, also sowohl das fascinosum als auch das tre­ mendum, in sich trägt. Zur Selbstvorstellung der numinosen Gestalt gehört auch, dass sie „jetzt“ ge­ kommen ist. Das Jetzt ist Teil der visionär-auditiven Offenbarung. Die Offen­ barung geschieht zu einem bestimmten Zeitpunkt, punktuell, eben jetzt – nicht vorher und nicht nachher. Dieser Zeitpunkt ist von Josua zu ergreifen, jetzt oder nie! Er kann ihn ergreifen, weil der Kairos ein Punkt in der Zeit ist. Wenn er ihn ergreift, lässt er sich auf ein numinoses Wesen ein, von dem er (noch) nicht weiß, ob es Freund oder Feind ist174. Josua wird vom Heiligen überwältigt, er fällt nie­ der und betet an. Erkenntnis des Herrn geschieht letztendlich nicht durch Fragen (obwohl das Voraussetzung sein kann), sondern durch Überwältigtwerden. Auch dem Leser / Hörer ist ab jetzt klar, dass der „Mann“ mit Gott zu identifizieren ist; denn Anbetung kommt nur ihm zu. Dem Leser / Hörer wird klar, dass das fasci­ nosum und das tremendum im numinosum Gottes, in Gott selbst, koinzidiert. Es entfaltet sich geschichtlich je und dann, im konkreten Fall hier und „jetzt“. Auch das Hier der Offenbarung macht diese sonderbar anrührend. Sie macht den Ort der Begegnung zu einem heiligen Ort, zu einem Ort, der zwar betretbar ist, aber unter Abstreifung jeglicher Profanität. So ist die kleine Geschichte ein Paradigma des sich offenbarenden Gottes: Er kommt in Zeit (‫ ַ ע ָּתה‬/ attāh = jetzt) und Raum (‫ ָ מקוֹם ק ֶֺדשׁ‬/ māqōm qodäsch = heilige Stätte), zeigt sich numinos und wird im Akt der Überwältigung hier als der Faszinierende erfahren175. 173 Das Heer des Herrn ist wahrscheinlich zu deuten als die personifizierte Vernichtungs­ gewalt Jahwes, die – in welcher Form auch immer – den nachrückenden Israeliten vorangeht. Selbst wenn das israelitische Heer gemeint sein sollte, wäre es unter den Oberbefehl jenes Fürsten gestellt und somit sein Werkzeug. 174 Hertzberg verkennt das numinosum, wenn er meint, 5,14 sei abgebrochen, weil nicht ge­ sagt sei, wozu der Mann gekommen ist (a. a. O., S. 37). 175 Ex 4,24–26 schildert die andere Erfahrung.

Die Zerstörung von Jericho 

213

Mit dem Begriff der Koinzidenz greife ich auf Nikolaus von Kues zurück, allerdings nur formal, nicht inhaltlich. Für Nikolaus von Kues koinzidiert alles bei Gott. „Alles“ besagt, dass es dem Kusaner nicht nur um die Koinzidenz von Gegensätzen geht, sondern von allen Dingen, Zeiten, Zuständen. Die Koinzidenz von reinen Gegensätzen (coincidentia oppositorum) ist nur ein Sonderfall der Unterschiedlichkeit der Dinge, Zeiten, Zustände (doct. ign. II, Gabriel 339; Apol., Gabriel 543)176. „Bei Gott“ besagt, dass die Koinzidenz der Unter­ schiede nicht ins Wesen Gottes hineinprojiziert werden darf (wiewohl diese im Geist Gottes „eingefaltet“ sind und sich in Schöpfung und Geschichte „entfalten“ [doct. ign. II, Gabriel 333 f]); denn „Gott steht vor jedem Unterschied, vor dem Unterschied von Tat­ sächlichkeit und Möglichkeit, vor dem Unterschied des Werden-Können und MachenKönnen, vor dem Unterschied von Licht und Finsternis, auch vor dem Unterschied von Sein und Nichtsein, Etwas und Nichts und vor dem Unterschied von Unterschiedslosig­ keit und Unterschiedenheit, Gleichheit und Ungleichheit usw.“ (ven. sap., Gabriel 57). Weil Gott vor jeder Koinzidenz steht, ist seiner Einheit „nichts entgegengesetzt“, er ist „der Gegensatz der Gegensätze“ (Apol., Gabriel 551)177. Die Schriften des Kusaners sind philosophisch-theologischer Art. Sie bewegen sich auf den ontologischen Pfaden der späten Scholastik, und dementsprechend geht es um ein Erfasssen des Wesens Gottes im Nicht-Erfassen-Können. Gott ist „das schlechthin Größte, über das hinaus es nichts Größeres geben kann, … und weil es die unendli­ che Wahrheit ist, berühren wir [es] nicht anders als in Unbegreiflichkeit“ (doct. ign. I, Gabriel 205). Diese Gedanken sind innerhalb eines philosophisch-theologischen Systems durchaus legitim und nachvollziehbar. Demgegenüber scheint mir jedoch das biblische Gottesbild anders akzentuiert zu sein. Gott steht nicht primär über und vor allem, sondern unter und in allem. Er ist geschichtlich – sowohl welt- wie auch partikulargeschichtlich – er­ fahrbar, ansprechbar, bewegbar. Seine absconditas und sein numinosum gehören zu sei­ nem Wesen und entfalten sich in seinem Wirken in Unbegreiflichkeit, Schrecklichkeit, Herrlichkeit. Reue, Mitleid und Barmherzigkeit sind innere Bewegungen in Gott, die sich konkret auswirken. Die Bibel macht keine Anstalten, innere Bewegungen Gottes philosophisch einzufangen und aufzulösen. Gott ist nach biblischem Zeugnis in sich am­ bivalent mit einer starken Bewegung zur Barmherzigkeit, zur Rettung, zum Heil. Beide Seiten im Wesen Gottes, die zerstörerische und die (wieder) aufrichtende, müssen, da sie im Wirken erfahrbar werden, in der Beschreibung des Gesichtes Gottes herausgestellt und, wo es möglich ist, auch als in ihm kontradiktorisch geeint, beschrieben werden.

176 Die Schriften des Kusaners werden zitiert nach Nikolaus von Kues, Philosophisch-theo­ logische Schriften, hgg. von Leo Gabriel, übers. von D. und W. Dupré, Studien- und Jubiläums­ ausgabe Lateinisch-Deutsch, Band 1, Wien 1964 (De docta ignorantia I,II,III [1440], De Deo abscondito [1445], Apologia doctae ignorantiae [1449], De venatione sapientiae [1463]). 177 Dabei beruft sich Nikolaus von Kues auf sein Werk „De coniecturis“ (um 1442), „… wo ich dargelegt habe, dass Gott sogar über dem Zusammenfall der kontradiktorischen Gegensätze steht“, und auf (Pseudo-)Dionysius Areopagita.

214

Gott und das Volk

2.12.3 Das Gottesbild in der Grunderzählung (Jos 6,1–3.5.11–12a.14–15.20) Die Grunderzählung lässt in den ersten drei Versen bereits ihre Tendenz deutlich werden. Jericho war eigentlich uneinnehmbar. Es hatte sich gegen die Israeliten fest verschlossen. Niemand konnte heraus, niemand hinein. So fest verschlossene Tore setzen eine entsprechend unüberwindliche Stadtmauer (erst 6,5 erwähnt) voraus. Jericho ist der „Musterfall einer scheinbar absolut gesicherten Festung“178. In diese Situation hinein spricht der Herr sein machtvolles Wort und setzt es als wirksame Waffe gegen die Festung ein. Nur er kann es. Er hat Jericho samt sei­ nem König und seinen Kriegsleuten bereits in Josuas Hand gegeben, noch bevor eine Eroberungsstrategie greifen kann. Damit ist gesagt: Nur ein Wunder kann das Kriegsglück zugunsten Josuas und der Israeliten entscheiden. Auf der Ebene der Erzählung ist der Hörer / Leser in die Spannung des Wunderhaften hineinge­ nommen, im Rückblick auf die Ereignisse ist die Grunderzählung ein Bekenntnis. Israel bekennt den Gott, der Wunder tut und damit jederzeit aufseiten Israels Herr der Lage ist. Das Wunder hat aber eine durchaus beschreibbare Außenseite. Diese stellt die Strategie dar, die Josua auf Anweisung Jahwes einsetzt (6,3). Das Wunder wird nur eintreten, wenn Josua die Anweisungen Jahwes umsetzt (6,5). Josua ist der Kriegsherr (bes. 6,11 und 12a), Jahwe oberster Feldherr. Nur in dieser Kombi­ nation kann das Wunder als Wunder verheißen (6,5) und wirksam (6,20) werden. Bei Eintritt des Wunders179 bleibt Jahwe für die Heiden unerkannt, für Josua und die Israeliten im Hintergrund verborgen, erkannt aber in den Auswirkungen. Das Auseinandertreten von Jahwes oberster Leitung und militärischer Führung des Volkes zeigt zum einen, dass die Inbesitznahme des Landes nach strategischem Plan und nicht ohne Widerstand vor sich ging, zum anderen, dass man sich bei aller notwendigen Planung auf Jahwes Leitung und Eingreifen verlassen konnte. In der Grunderzählung erfahren wir etwas von der Macht des Herrn. Es ist die Macht des Wortes, die Macht des verheißenen Wortes, das eintritt, weil diese Macht auf das Geschrei des Volkes übergeht. Es ist wunderhaft übertragene Macht. Auch hier zeigt sich, wer gewissenhaft ausführt, was auszuführen ist, und wer da­ hinter steht. Diese Macht hat etwas Zerstörendes, aber nichts Verletzendes an sich. Nicht violence führt zum Einsturz der Mauern und zum Einfall in die Stadt, sondern Macht ohne Anwendung von Waffengewalt. Das gehört zum Wunder und ist eigentlich sein Kern. Dass hier unterschwellige Kritik an „militaristischer 178 M. Görg, Josua, Würzburg 1991, S. 27. Die Frage nach der Historizität der Stadtmauer stellt sich dem Erzähler nicht. 179 M. Görg, Josua, a. a. O., S. 28, weist darauf hin, dass der Einsturz der Mauern aufgrund des Volksgeschreis ein durchaus beachtenswertes Wunder ist vor dem Hintergrund, dass be­ zwingende Macht sonst eigentlich nur dem „Gebrüll eines Potentaten“ zugesprochen wurde.

Die Zerstörung von Jericho 

215

Landbesitzideologie“ eine Rolle spielt, kann vermutet werden. Solche Tendenzen zeitlich einzuordnen fällt schwer, weil sie zu allen Zeiten parallel zur Ideologie des heiligen Krieges auftreten können180.

2.12.4. Gottesbild und Ethik in der deuteronomistischen Redaktion von Jos 6 Die deuteronomistische Redaktion mag in verschiedenen Intervallen vor sich ge­ gangen sein. Wann sich welches Thema zuerst an die Grunderzählung angliederte, sei dahingestellt. Wichtiger erscheint die von der deuteronomistischen Redaktion eingebrachte Thematik. Es gibt zwei Themenkreise: die Priester und die Lade, ein dezidiert theologisches Thema, und die Vernichtungsweihe, Theologie mit diffe­ renziert ethischen Konsequenzen.

2.12.4.1 Die Priester und die Lade181 Der deuteronomistische Ergänzer betont das Mitsein Jahwes. Dass dieser nur in seinem Wort und an seinen Spuren erkennbar sei, erscheint ihm zu wenig. Für ihn ist Jahwe kultisch präsent im wahrnehmbaren Gegenstand der Lade. Die Lade wiederum kann nur von Priestern getragen werden. Insofern gehören sie nun zum Zug hinzu. Letztendlich wird die Lade so angeordnet, dass sie sich genau in der Mitte zwischen Kriegsleuten und Priestern einerseits und dem übrigen Volk an­ dererseits befindet (6,9). Dieser symbolische Ort verstärkt das Bewusstsein: Der Herr ist mitten unter uns. Indes kann von einem direkten Eingreifen Jahwes in das Eroberungsgeschehen hier nicht die Rede sein: Die Priester sind ebenso wie die Krieger der Befehlsgewalt Jahwes unterworfen (6,6). Diesen Zug der Grund­ fassung lässt der Ergänzer bestehen, weil er seinem Konzept der Eigenverantwort­ lichkeit der Akteure entgegenkommt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Eroberung Jerichos später in einem Fest kultisch begangen wurde. Ein Spiegelbild der dabei abgehaltenen Prozessionen könnte sich in der Ergänzung des Priester-Lade-Komplexes niedergeschlagen haben182. In diesen Rahmen 180 L. Schwienhorst, a. a. O., S. 64 und 72. 181 Die Lade gehört zum deuteronomistischen Bestand von Jos 3 f (M. Görg, Josua, a. a. O., S. 28). 182 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 44 f; M. Görg, Josua, a. a. O., S. 27; V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 70. – Ein ausschließliches Verständnis der Jericho-Erzählung als kultische Prozesssion (so R. B. Robinson, „The Coherence of the Jericho Narrative“ in: R. Bartel­ mus, Th. Krüger, H. Utzschneider [Hg.], Konsequente Traditionsgeschichte [FS Klaus Baltzer zum 65. Geburtstag], Göttingen 1993, S. 311 ff) scheint mir verfehlt. Denn dabei wird der Text 1. nur synchronisch gelesen und 2. werden Züge allegorisch gedeutet, z. B. das Hinaufsteigen des Volkes zur Stadt als „going up to the place of theophany“ (a. a. O., S. 329).

216

Gott und das Volk

würde auch die Verfluchung des Wiederaufbaus Jerichos 6,26 passen, zumal sie durch ihre Versform aus dem prosaischen Kontext fällt.

2.12.4.2 Die Vernichtungsweihe183 Der Bann ist ein typisch deuteronomisch-deuteronomistisches Thema. Dem Er­ gänzer scheint es wichtig, dass dieser hier wirksam wird. Denn die Stadt ist ja, wie 6,2 sagt, bereits vor der Eroberung Josua in die Hand gegeben, und die Kriegsleute dürfen nach dem Fall der Mauer sofort einfallen, „ein jeder stracks vor sich hin“ (6,5.20)184. Alles ist Josua und seinen Leuten zuhanden, „denn der Herr hat euch die Stadt gegeben“ (6,16). Der Ergänzer bestätigt die Übereignung der Stadt durch Jahwe, zugleich aber macht er deutlich, dass sie letztendlich „israelitischem Be­ sitzanspruch entzogen“ bleibt185. Entsprechend wird der Bann vollzogen. Hierin zeigt sich Gott uns zwar mit zwei Gesichtern: Leben denen, die auf den Wegen des Herrn wandeln, Tod denen, die nicht dazu gehören (vgl. Hes 18,5–18). Aber so wird das von Israel nicht empfunden. Jahwe ist und bleibt sein Gott, parteilich und jeder auch nur möglichen Kontamination mit Abgötterei abhold. So trifft die Schärfe des Schwertes Mann und Weib, Jung und Alt, Rinder, Schafe und Esel (6,21). Letztere werden nicht, wie es 1.Sam 15,15.21 nahelegen könnte, Jahwe als Opfer geweiht (s. o. unter AT 2.5.5). Allerdings werden Silber und Gold dem Schatz des Herrn zu dessen höherer Ehre hinzugefügt (6,19.24b)186. Aus zwei unterschiedlichen Motiven heraus schien der Bann allerdings pro­ blematisch. Das eine Motiv ist Habgier. Wer den Bann aus diesem Motiv nicht

183 Dtn 7,2; 20,16–18. 184 Ich gebe der Lutherbibel 1984 („stracks vor sich hin“) den Vorzug vor der Übersetzung von 2017 („wo er gerade steht“). Die hebräische Wendung „ein jeder ihm gegenüber“ mag beide Möglichkeiten implizieren. Weil sie aber an ein Verbum der Bewegung anschließt („hinaufstei­ gen“), ist hier Luther 1984 sinnvoller. 185 M. Görg, Josua, a. a. O., S. 30. 186 Dass der Dtr mit seiner aggressiv-maximalistischen Grundhaltung programmatisch für die persische Vormacht nicht akzeptabel war, erhellt hieraus. – E. A. Knauf sieht die dtr BannTheologie gegen die daheimgebliebenen Benjaminiter gerichtet, die sie des Synkretismus gezie­ hen habe (a. a. O., S. 28). Sie waren aber mit Sicherheit nicht die einzigen Gefährder der „reinen Lehre“. Von der Ansiedlung von „Fremden“ ist inzwischen auszugehen (vgl. den Umgang mit Rahab). – Dass der Vollzug der Vernichtungsweihe in Israel nicht „historisch zuverlässig … be­ legt“ sei, wird verschiedentlich behauptet, hier auch von V. Fritz (Josua, a. a. O., S. 72). Aber können D und Dtr denn mit größter Selbstverständlichkeit darüber berichten und mit größter Eindringlichkeit sie fordern, wenn sie in Israel unbekannt, nicht akzeptiert oder abgelehnt war? Mit welcher theologischen, ideologischen, politischen Begründung sollte Israel denn hier einen Sonderweg innerhalb seiner Umwelt gehen? – Eine tatsächliche historische Realisierung des Vernichtungsbanns an den „Kanaanäern“ in Israels Frühzeit nimmt aus gleichem Grund auch A. Versluis an (The Command to Exterminate the Canaanites: Deuteronomy 7, Leiden 2017; vgl. die Rezension von E. Otto in: ThLZ 143/2018, Sp. 211).

Die Zerstörung von Jericho 

217

vollzieht, zieht sich selbst und dem gesamten Lager die Folgen eines Vernich­ tungsbanns zu. Kap. 7, ebenfalls eine jüngere Ergänzung187, führt das aus. Die darin liegende Drohung mag im Sinne des Deuteronomisten ein Damm gegen den Bruch des Banngebots sein. – Das andere Motiv hat das Kap. 2 vorgegeben: Die Hure Rahab stellt sich in den Dienst der Kundschafter und hilft so den Ein­ marsch der Israeliten vorzubereiten. Sie tut das nicht eigennützig, sondern – so hören wir – weil sie um den mächtigen Herrn der Israeliten weiß (Jos 2,9 f). Die Frage ist nun, wie man angesichts des Vernichtungsgebotes mit einer jah­ wefürchtigen Zuarbeiterin verfährt. Es gibt eine doppelte Antwort, beide laufen auf Aussetzung des Vernichtungsbanns in diesem Fall hinaus. Die erste Antwort heißt: Verschonung ihrer Person und ihrer Angehörigen aufgrund eines geleiste­ ten Schwurs der Kundschafter (6,22); die zweite bezieht sich auf die konspirative erfolgreiche Zuarbeit der gottesfürchtigen Frau (6,17.25) und führt zu denselben positiven Folgen für sie und ihr Haus188. Wir sehen den Deuteronomisten hier in eine ähnliche Situation gestellt wie in 1.Sam 15. Waren dort ökonomische oder politische Gründe für die zu verurteilende Aufweichung des Banngebotes maß­ geblich, so warnt er hier vor Habgier (6,18). Der Deuteronomist kennt auch hier keine Gnade; allerdings scheint sie ihm im Sonderfall der Rahab angemessen. E. A. Knauf honoriert die Haltung des Deuteronomisten in diesem Fall, indem er dessen kreative Auslegung lobt189. Im Übrigen finden wir eine großzügigere Auslegung des Vernichtungsbanns beim Deu­ teronomisten auch in Jos 9. Die Bürger von Gibeon erschleichen sich unter falschen An­ gaben einen Bund mit Josua, um dem Bann zu entgehen. In Unkenntnis der Wahrheit gewährt Josua den Bund, bekräftigt durch einen Schwur. Als der Betrug in der Gemeinde ruchbar wird, steht die Forderung nach Tötung der Gibeoniter im Raum. Josua aber kann die Forderung abwehren durch Hinweis auf den Schwur und auf die Nützlichkeit der Gibeoniter. Das ist eine beachtenswerte deuteronomistische Linie. Ein neokonser­ vativer Deuteronomist vermerkt allerdings einen großen Fehler der Obersten: „Den Herrn aber befragten sie nicht“ (9,14b). Dieser Fehler macht freilich den Schwur – das muss der Konservative einräumen – nicht ungültig. Die liberalere deuteronomistische Linie setzt sich dann noch einmal in Jos 11,19 f durch. Den Gibeonitern wird ihre fried­ liche Unterwürfigkeit zugute gerechnet, mehr noch: Indirekt war ihnen die „Gnade“ des Herrn widerfahren, weil ihr Herz nicht „verstockt“ und sie nicht „vertilgt“ wurden – im Gegensatz zum gesamten übrigen Land. Wiederum nehmen wir an einem Diskurs teil: Kann man bei Fremden in der Nähe Ausnahmen vom Vernichtungsbann machen (gegen Dtn 20,16–18), noch dazu, wenn sie Dtn 20,14.15 in betrügerischer Weise auf sich anwenden? Die liberale deuteronomi­ stische Rechtstheologie sagt: Ja, denn Schwur hebt andere Rechtsfolgen auf. Der neo­ konservative Theologe sagt: Nicht automatisch; man hätte den Herrn befragen müssen! 187 E. A. Knauf, a. a. O., S. 72. 188 In Ri 1,22–26 reicht konspiratives Verhalten zur Rettung des Kollaborateurs und seiner Familie. 189 A. a. O., S. 28.

218

Gott und das Volk

Darauf antwortet der liberale: Der Herr verstockt und verstockt nicht; die Gibeoniter hat er nicht verstockt. Wenn man dieser Linie folgt, zeigt Jahwe unhinterfragbar und unerklärbar zwei gegensätzliche Willensrichtungen. Beide sind in ihm vereint und äußern sich je und je.

2.12.5 Die Verdeutlichung von Gottesbild und Ethik durch die redaktionelle Verknüpfung von Jos 5,13–15 mit Jos 6,1–27 Die vor die Eroberung Jerichos geschaltete Berufungsgeschichte stellt das Gesche­ hen um diese Stadt in den Rahmen des Heiligen190. Damit werden die Tenden­ zen verstärkt, die schon in der Eroberungsgeschichte enthalten sind. Die Macht des Wunders wird unterstrichen, und das heißt zum einen die Erfahrung des in höchstem Maße Erstaunlichen – denn die Einnahme der mehrfach gesicherten Festung (6,1) war durchaus nichts Selbstverständliches191; und das heißt zum an­ deren die Betonung der „generelle(n) Initiative und Dominanz Jahwes“192. Jahwe ist aber verdeckter Anstifter, was durch das Numinose der Erscheinung (6,13) noch einmal verstärkt wird. Die Vorschaltung übt nicht nur ihren Einfluss auf die Jericho-Geschichte aus, sondern auch umgekehrt. Im Rahmen der Erzählung drückt Jos 6,1 der Beru­ fungsgeschichte eine Ortsbindung auf. Außerdem leiht Jos 6,2 der scheinbar un­ vollständigen Berufungsgeschichte nun eine Beauftragung. – Im jetzigen Kontext muss das Verhältnis zur Beauftragung Josuas in Jos 1,1–6 bestimmt werden. Die dort geschilderte Beauftragung stellt eine Amtsübertragung dar: Der Sohn Nuns führt zu Ende, was Mose, der Knecht des Herrn, bis zu diesem Punkt getan hat. Die Berufung indes führt Josua in die Heiligkeit des Herrn hinein, sie ist ein le­ bensverändernder Akt von oben her. Ohne dass Josua bereits in der Berufung der Titel „Knecht“ zuerkannt wurde, beginnt für den Deuteronomisten hier gleich­ sam im Verborgenen sein Knechtsein: „Was sagt mein Herr seinem Knecht?“ (6,14). Für den Deuteronomisten führt der Weg vom Sohn Nuns zum Knecht des Herrn (Jos 24,29) über die Berufung, ebenso aber auch über die Bewährung (Jos 1,9; 1,16–18; 24,15fin). In Berufung und Bewährung spiegeln sich Nähe und Distanz Jahwes, die einerseits die Direktheit des Oberbefehls, andererseits die selbstverantwortliche Umsetzung durch Josua ermöglichen. Die Betonung der selbstverantwortlichen Umsetzung des Jahwewillens gehört zur Ethik des Deute­ ronomisten, die in ihrem Sollcharakter Entscheidung fordert und im besten Fall in den Gehorsam führt (vgl. Jos 24,15 f.16–18). Sie ist Teil der deuteronomistischen

190 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 36 f. 191 Ders., a. a. O., S. 39. 192 M. Görg, Josua, a. a. O., S. 7.

Die Zerstörung von Jericho 

219

Geschichtskonzeption, die zur Beurteilung der Beauftragten und Regenten vor dem Gesetz Gottes führt193. Im Rahmen der heilsgeschichtlichen Konzeption nimmt das „Jetzt“ (6,14b) und das Hier (6,15b) eine breitere Bedeutung an. War das „Jetzt“ in der isolierten Berufungsgeschichte der Kairos, die Offenbarung des Numinosen wahrzunehmen und zu ergreifen, so korrespondiert es nun mit dem Heute der neuen Zeit, die zwar gekommen ist, gleichwohl aber Entscheidung fordert (Jos 24,15)194. Und die Diesseitigkeit des aus dem Dunkel des Numinosen heraustretenden Gottes (Hier ist heiliges Land) wird im Zusammenhang mit der Übergangssymbolik in Kap 3 f zu einem sich auf den Schwur Gottes stützenden Bekenntnis, dass das Heilige Land jenseits des Jordan, also in Jericho, beginnt, was ja auch von Ruben, Gad und Manasse akzeptiert und unterstützt wird (vgl. Num 32,20–29; Dtn 3,12–20; Jos 1,12–16; 4,12).

2.12.6 Der Deuteronomist als Theologe seiner Zeit Der Rückgriff in die erzählerisch überlieferte Heilsgeschichte Israels ist für den Deuteronomisten Mittel, seine Hoffnungen, seine Visionen, sein Programm für das neue Israel nach dem Exil zu formulieren. So wird auch jetzt wieder, so Gott will, ein neues Kapitel der Heilsgeschichte aufgeschlagen werden. Wie einst, so auch jetzt: Es bedarf eines Mannes wie Josua, und er wird kommen, aus der Ge­ fangenschaft in die Freiheit zu führen. Ein Weg, der auch und gerade jenseits des Jordan, auch und gerade in der neuen Zeit nicht ohne Herausforderungen sein wird, der aber in eine verheißungsvolle Zukunft führen wird, weil Gott verbal, kultisch und wunderwirkend mitzieht und weiß, was zu tun ist, damit sein Volk wieder heiliges Land betreten kann. Programmatisch geht es dem Deuteronomis­ ten um die Reinheit des Kultes und um die Verehrung des einen Gottes Israels, wobei Schaden prophylaktisch durch Vernichtungsbann an Fremdem abgewehrt wird195. Dass sich das angesichts weiterhin persischen Einflusses im Heiligen Land als Programm nicht durchsetzen lässt, ist verständlich, weswegen ja – wie oben dargestellt – das Deuteronomium zusammen mit den übrigen vier Büchern des Mose als Tora übrig bleibt. Nichtsdestoweniger bleibt auch in spätexilischer Zeit der totale Vernichtungsbann auf dem Prüfstand, nicht nur in 1.Sam 15, sondern 193 „In der Tradition der Samaritaner … gilt Josua als erster König Israels“ (E. A. Knauf, a. a. O., S. 44). Nichtsdestoweniger ist mit Chr. Schäfer-Lichtenberger festzuhalten, dass Josua, wiewohl monokratisch führend, nicht der Prototyp des israelitischen Königs ist (Josua und Sa­ lomo, a. a. O., S. 219). 194 Eine neutestamentliche Parallele dieses neuen Zeitverständnisses ist 2.Kor 6,1 f. 195 Rückblickend scheint der Deuteronomist der Meinung zu sein, dass all das Unglück über Israel und Juda gekommen ist, weil der Vernichtungsbann nicht in aller Konsequenz praktiziert wurde.

220

Gott und das Volk

auch in Jos 6 im Blick auf die Kollaboration der bekennenden Rahab. Sie wohnt ja auch „bis auf den heutigen Tag“ in Israel, was auch immer das heißen mag: sei es, dass diese Frage ein Dauerproblem darstellt, sei es, dass das Dtr sich durch­ aus Fremde in Israel vorstellen kann, so sie sich unauffällig verhalten und mit ihren kultischen Gewohnheiten keinen schädlichen Einfluss auf die Israeliten ausüben196.

2.12.7 Spricht der Deuteronomist nur metaphorisch von Gewalt? In seinem Beitrag „Josua 6 und die Gewalt“197 vertritt L. Schwienhorst-Schönberger ein metaphorisches Verständnis der Landnahmeerzählungen, und zwar sowohl im Blick auf das Lexem „Land“ wie auch auf die gewalt-same Einnahme des Landes. Er begründet das mit der Inkongruenz von Historie (history) und Erzählung (story)198. Die Inkongruenz führe zu einem übertragenen Sinn: Der Vernichtungsbann sei „parabolisch-spirituell gemeint“, die gewaltsame, theologisch begründete Landeroberung „ein narratives Sym­ bol für die Radikalität des Gottvertrauens Israels“199. – Dagegen ist zu sagen: 1. Die Metapher entsteht ausschließlich durch Inkongruenz auf literarischer Ebene. Inkongru­ enz von history und story führt hingegen zur Fiktionalität. 2. Seien die Landnahmege­ schichten auch sagenhaft, legendär oder fiktional, der Deuteronomist kalkuliert künftige Gewalt als Mittel der Reinigung des Landes ein, zumindest aber hätte aus seiner Sicht durch konsequente Vernichtungsstrategie im Blick auf das religiös Fremde Schlimmeres verhütet werden können. Er führt „eine Art von semantischem Vernichtungskrieg“200, der seine nachahmende Wirkung nicht verfehlen wird. Mögen die Heimkehrverheißungen der Propheten auch unkriegerisch sein201, die des Deuteronomisten sind es nicht. Sie anders zu verstehen bedarf eines Kommentares, der – trotz mancher Diskurse über die Strenge der Vorschriften (vgl. die Behandlung von Rahab oder der Gibeoniter) – innerbiblisch nicht vorhanden ist.

196 R. B. Robinson erliegt wiederum einer allegorischen Deutung, wenn er in Rahab den Segen für alle Völker (Gen 12,3) erfüllt sieht. Es handelt sich bei Rahab ja gerade nicht um eine „inclusion of other peoples in God’s blessing“ (a. a. O., S. 331), sondern um eine Exklusion (Jos 6,23!). 197 In: E. Noort (Hg.), The Book of Joshua, Leuwen, Paris, Walpole (MA) 2012, S. 433–471. 198 L. Schwienhorst-Schönberger, „Josua 6 und die Gewalt“ in: E. Noort (Hg.), The Book of Joshua, Leuwen, Paris, Walpole (MA) 2012, S. 444. 199 Ders., „Josua 6 und die Gewalt“, a. a. O., S. 458. – Auch F. Crüsemann hält die gewalt­ same Landnahme und die Ausführung des Banngebots für eine sozialpsychologisch erklärbare Geschichtskonstruktion („Gewaltimagination als Teil der Ursprungsgeschichte. Banngebot und Rechtsordnung im Deuteronomium“ in: F. Schweitzer [Hg.], Religion, Politik und Gewalt, Gü­ tersloh 2006, S. 344 f). 200 J. Assmann, a. a. O., S. 67. 201 L. Schwienhorst-Schönberger, „Josua 6 und die Gewalt“, a. a. O., S. 463 und 468.

Die Eroberung Ais 

221

2.13 Die Eroberung Ais (Jos 7,1–8,29) Die Einnahme von Ai wird als Eroberungsversuch in zwei Anläufen erzählt. Der erste Versuch (7,2–8) endet nach einer strategischen Fehleinschätzung (7,3) mit einem Debakel202, der zweite Versuch gelingt – mit mehr als dem Zehnfachen der Truppenstärke (8,3–5). Beide Eroberungsberichte sind aufeinander bezogen: 8,5 f nimmt durch das zweimalige „wie das erste Mal“ auf 7,2–8 Bezug; sodann ist der Beginn von 8,1 Jahwes unmittelbare Antwort auf das Verzagen des Volkes und Josuas Verzweiflungsakt, egal ob man die missglückte Eroberung in 7,5.6.7 oder 8 enden lässt203; und schließlich kann die Heldenlegende nicht in der Niederlage enden. Wenn die Niederlage nicht verschwiegen wird, muss das einen lehrhaften Grund haben. Dieser ist herauszuarbeiten, und zwar zunächst unabhängig von der Achan-Episode. Denn ich gehe davon aus, dass die Achan-Episode (7,1.11–26 mit der deuteronomistischen Überleitung in 7,9–10) später hinzugefügt worden ist. Wenn Jos 7,2–8 und Jos 8,1 ff auch traditionell – wahrscheinlich ohne die Achan-Geschichte204 – zusammengehören, wird aus methodischen Gründen zu­ nächst Jos 7,2–8 behandelt.

2.13.1 Die missglückte Eroberung Ais (Jos 7,2–8) 2.13.1.1 Literargeschichte In Frage steht das Ende der ersten Ai-Erzählung. H. W. Hertzberg möchte diese mit 7,5a enden lassen. 7,5b-9(f) rechnet er bereits dem Composer zu, der die Ai-Erzählung mit der Achan-Geschichte verknüpft hat, ggf. also dem Redak­ tor des Josua-Buches205; denn das Bild vom schmelzenden Herz tauche auch in Jos 2,11 und 5,1 auf. Dort allerdings im Blick auf die Amoriter und Kanaaniter. Wenn es sonst nur bei den Feinden „schmolz“206, könnte hier dasselbe Wort zum Ausdruck bringen, dass Israel sich selbst zum Feind geworden ist. Das sieht natür­ 202 Die Verlustziffer von 36 Mann (ca. „nur“ 1 %) könnte heruntergespielt sein; denn ist ein solch geringer Verlust aus strategischer Sicht ein Grund zu „verzagen“? 203 Eine literarkritische „Operation mit dem Messer“, die die Ai-Episode vom Achan-Stoff exakt und eindeutig trennt, ist nicht möglich (H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 49). 204 Eine Verbindung von 7,2–8 zur Achan-Perikope ist nicht zu erkennen. 205 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 56. 206 In der Lutherübersetzung steht hier „verzagte“, ebenso in der Aufforderung an Josua, nicht zu „verzagen“ (8,1). Dabei handelt es sich allerdings im Urtext um zwei verschiedene Wörter (in Jos 7,5; 2,11 und 5,1: ‫ וַ ּיִ ַּמס‬/ wajjimmas = „da schmolz“ von ‫ ָ מ ָסה‬/ māsāh = „schmelzen“ [intransitiv], „fließen“; in Jos 8,1: ‫ל־ּת ָחת‬ ֵ ‫ וְ ַא‬/ wᵊal-tēchāt = „und verzage nicht“ von ‫ ָ ח ַתת‬/ chātat = „erschrecken“ [intransitiv], „zagen“). – Selbst wenn man in Jos 7,5b mit redaktioneller Überarbeitung rechnen müsste, täte das dem Gesamtduktus der ursprünglichen Ai-Erzählung keinen Abbruch.

222

Gott und das Volk

lich sehr nach dem Einfluss der Achan-Geschichte auf 7,5b aus; aber andererseits mag ja auch aus der Ai-Erzählung für sich hervorgehen, dass Israel sich hier selbst im Weg ist. Des Weiteren ist nicht einzusehen, warum Jahwe nach 7,5a, also nach der verlorenen Schlacht, ohne Not zu einer neuen Runde aufrufen sollte (8,1). Das wird nur nach einem Bußritus Josuas und einem Verzweiflungsschrei verständ­ lich (7,6–8). Der wiederum ist ein bekanntes erzählerisches Element in ausweg­ los erscheinender Situation (vor Ex 14,15 offenbar verloren gegangen; vgl. auch Ex 17,4; 32,7–14; Num 14,5; 16,4; 20,6) und wird von daher zur ursprünglichen Ai-Erzählung hinzugehören.

2.13.1.2 Ethnologische Aspekte Traten im Kapitel „Gott und der Mensch“ gelegentlich anthropologische Gesichts­ punkte in den Vordergrund, so stehen im Kapitel „Gott und das Volk“ an dieser Stelle ethnologische Aspekte207. Das Volk hält sich in der ersten Ai-Erzählung selbst einen Spiegel vor: So ist Israel (auch!), hier personalisiert in der Gestalt Josuas. Eine unerwartete Niederlage hat sich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Das konnte nur geschehen, weil sie sehr bald eine Deutung erfahren hatte: Israel hat immer wieder seiner eigenen Lageeinschätzung und Kraft vertraut (7,2 f). Der eigenen Macht vertrauend, hat Israel immer wieder eigenmächtig gehandelt. D.h.es hat auf Jahwes „Startbefehl“208 weder gehört noch gewartet noch ihn für notwendig erachtet. So ist Israel sich immer wieder selbst im Wege gewesen. Wenn es selbst erleidet, was eigentlich dem Feind zugedacht ist, dann deshalb, weil es glaubt, die eigene Kraft sei verlässlicher als Gottes Kraft. So ist Israel. Zugleich ist Israel aber auch immer wieder ein Volk in Trauer über sich selbst. In Trauer darüber, dass es sich so selbstherrlich geriert. In Josuas Trauerbrauch, in dem auch Buße mitschwingt (7,6)209, wird das auf eine symbolische Weise darge­ stellt: „Die horizontale Lage ebnet den Menschen geradezu ein und ist das genaue Gegenteil von jedem Hochseinwollen.“210 So ist Israel. Israel ist ein Volk, das sein geschichtliches Ergehen immer wieder vor dem Herrn reflektiert. Daraus entspringt Trauer; aber es kann auch zu radikalem Zwei­ fel an der Heilszusage führen (7,7 f)211.

207 „Ethnologisch“ ist hier ein Hilfsbegriff. Er ist theologisch gefüllt und meint die Selbstoder Fremdsicht des Volkes Israel vor Gott. 208 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 52. 209 Dass Buße mit intendiert ist, ergibt sich daraus, dass Josua sich niederwirft „vor der Lade des Herrn“. – So auch M. Görg, Josua, a. a. O., S. 33 und 37. 210 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 52. 211 V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 81.

Die Eroberung Ais 

223

Aus der in der tiefen Niederlage gewonnenen Erkenntnis, dass es ohne Gott nicht geht, erwächst der Hilferuf – auch so lässt sich 7,6–8 deuten –, der erhört wird. So kommt es zu 8,1 ff, wo Israel dann auf Jahwe hört (8,3). Zu Recht kann gefragt werden, ob die ethnologische Deutung angemessen ist. Man könnte ja schließlich die beiden Ai-Erzählungen auch unter dem Aspekt der (Nicht-)Be­ währung Josuas auf seinem Weg zum Knecht Jahwes erklären. Dem steht nichts im Weg. Und doch scheint es mir Hinweise darauf zu geben, dass die ethnologische Deutung ihre Berechtigung hat: In einem Fall ist Israel dabei, seine allein wirksame Handlungs­ fähigkeit als Stämmeverband aufzugeben, indem militärtaktische Erwägungen für das Entsenden lediglich einer begrenzten Kriegstruppe sprechen (7,3)212 – das wird aus dem Gesamtduktus heraus negativ vermerkt; im anderen Fall gewinnt Israel seine Erschei­ nungsform als geschlossene gemeindliche Größe wieder, indem Josua, von den „Ältesten Israels“ umgeben, nicht als Privatperson handelt, sondern der Trauer- und Bußritus als eine Aktion der Gesamtgemeinde erscheint (7,6)213 – das wird aus dem Gesamtduktus heraus positiv vermerkt. Der verlorene bzw. wiedergewonnene gesamtisraelitische Be­ zug also stützt die ethnologische Deutung. – Hinzu kommt, dass sich hier bereits eine Sicht der Volksgeschichte auszuprägen beginnt, wie sie dann im Richterbuch Gestalt angenommen hat. Da ich 7,2–8 und 8,1 ff als vordeuteronomistisches Gut ansehe (alte Lokaltradition um Bethel oder Ai mit legendarischem Charakter)214, kann der Deute­ ronomist den beiden Erzählungen noch nicht seinen Stempel aufgedrückt haben. Dass er aber aus der kollektiven Verarbeitung der Niederlagenerfahrung und ihrer Deutung sein Geschichtsschema als Substrat entnommen hat, darf vermutet werden.

2.13.1.3 Das Gottesbild In Jos 7,2–5 kommt Gott nicht vor. In Israels Strategie kommt Gott nicht vor. Es ist ein „säkulares ‚Hinaufgehen‘“215. Nicht dass Gott beleidigt wäre oder strafen würde; aber durch die Ausblendung Gottes ist Israel seinen Feinden voll ausgelie­ fert. Ein Gott, der nicht gefragt wird, drängt sich nicht auf. Ein Gott, der nicht ge­ fragt wird, schweigt. Er schweigt „bis zum Abend“ (7,6), er schweigt auf die Frage, „warum …“ (7,7a.b), er schweigt auf regressive Wünsche (7,7c); und schließlich lässt er sich doch aus seinem Schweigen reißen, um Josuas Sprachlosigkeit zu überwinden (von 7,8 zu 8,1). Gott ist ein Gott, der sich überwinden lässt.



212 E. Ballhorn, a. a. O., S. 182. 213 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 52. 214 Anders W. Dietrich, Die Samuelbücher, a. a. O., S. 38. 215 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 51.

224

Gott und das Volk

2.13.2 Die geglückte Eroberung Ais (Jos 8,1–29) 2.13.2.1 Literargeschichte Der Text macht bis 8,13 wenig Probleme. Die Vorbereitung der Kampfhandlun­ gen wird nach dem Wort des Herrn von Josua in die Praxis umgesetzt. Das heißt: Die Ai-Legende nimmt in 8,1 mit dem Mutzuspruch, zugleich aufrichtendes Wort216 an Josua, dem Marschbefehl und der Erfolgsgarantie Jahwes ihren Fort­ gang. 8,2 ist dtr-redaktioneller Zusatz, weil auf Jericho und – modifiziert – auf die dort erfolgte Vernichtungsweihe Bezug genommen wird. Indes gehört der Befehl zum Hinterhalt 8,2fin zum Grundtext217. 8,8a (Befehl zum Abbrennen der Stadt) entspricht dem dtr Interesse an der Vernichtungsweihe; 8,8b gehört zum Grundtext218. 8,9–10 klären uns weiter über Josuas Kriegstruppe einerseits und den Hinterhalt andererseits auf. Zusammen mit 8,3–5 erfahren wir: Im Hinter­ halt liegen 30.000 Mann. Die Stärke von Josuas Kampftruppe ist unbekannt. Der Hinterhalt lagert westlich von Ai. Die Kampftruppe steht zurzeit nördlich von Ai. In 8,12–13 meldet sich der Bearbeiter der vorliegenden Angaben. 30.000 Mann im Hinterhalt erschienen ihm zu viel. 5000 reichten ihm. 30.000 – so will er sagen – waren es wohl insgesamt, wenn man bedenkt, dass sich das Lager samt Nachhut quasi wie ein Viertel Kreisumfang in nordwestlicher Richtung um die Stadt legte. So würden sich die angeblich 30.000 Mann aufteilen in 5000 im Hinterhalt und 25.000 bei der Truppe. Zwischen 8,14 und 8,25 sind offenbar zwei unterschiedliche Traditionen mit­ einander verwoben. Sachlich ist das an der Stoßrichtung des feindlichen Heeres festzumachen. Nach 8,14 zieht es Richtung Jordantal, also Richtung Osten. Dem entspricht der dem König noch unbekannte Hinterhalt „auf der anderen Seite der Stadt“, also im Westen. Richtung Osten ist auch die „Wüste“ zu suchen, am Ge­ birgsabfall Richtung Jordantal219. Somit sind die Verse, die sich auf die Wüste be­ ziehen, zur gleichen Tradition zu rechnen. – Nimmt man diesen Traditionsfaden heraus, bleibt der Auszug des Königs mit seinen Kriegsleuten aus der Stadt – eine Richtung wird nicht genannt – und die scheinbare Flucht der Israeliten – eine Richtung wird ebenfalls nicht genannt, so dass es bei der Nord-West-Konstellation von Josuas Heer bleiben kann und ein Zug des Königs Richtung Norden denkbar 216 Später von Dtr kopiert in 7,10. 217 Der Hinterhalt ist ein tragendes Motiv der Ai-Legende. Er ist auch konstitutiv mit der Machtwirkung der erhobenen Lanze verbunden (8,18 f). Von daher wäre es sehr verwunderlich, wenn die Hinterhalt-Strategie allein Josuas militärischem Denken erwachsen wäre. Außerdem schließt sich auch bei den übrigen Eroberungslegenden im Anschluss an die Erfolgszusage Jah­ wes noch ein konkreter Befehl an (Jos 6,3; 11,6b; – 10,8c zu allgemein!). 218 M. Görg, a. a. O., S. 38. 219 E. A. Knauf, a. a. O., S. 85. – „Wüste“ nicht im klassischen Sinn, sondern im Sommer tro­ cken, zur Regenzeit mit zartem Grün überzogen (mündliche Mitteilung von W. Bösen).

Die Eroberung Ais 

225

ist. – Natürlich muss man zwischen 8,18 und 19 eine gemeinsame Tradition pos­ tulieren; denn hier ereignet sich ja die alles entscheidende Einnahme der Stadt. Es fragt sich, wozu man 8,22–25 rechnet. Eigentlich könnte die Ai-Legende mit 8,21 enden. Das hätte eine innere Logik: Wie bei Jericho geschieht die Ein­ nahme gewaltlos, allein durch die Kraft Gottes (Lanze!). 8,22–25 reden von ver­ nichtender Gewalt gegen die Krieger von Ai sowie gegen die gesamte Bevölkerung, 12.000 Tote, Männer und Frauen. 8,24 enthält wiederum die geographische Be­ zeichnung „Wüste“. Rechnet man 8,22–25 zur „Wüstentradition“, ergäbe sich in ihr eine Steigerung der Gewalttätigkeit. Allerdings kann man 8,22–25 auch als konsequente Umsetzung von 8,2 betrachten, was ja Dtr zuzurechnen ist. Dann spräche auch in 8,22–25 Dtr und gäbe hier ein Exempel der Vernichtungsweihe. Ich neige letzterer Möglichkeit zu, zumal 8,26–29 offensichtlich deuteronomis­ tisch geprägt sind.220 Danach stellt sich die literarische Schichtung in 8,1 ff so dar: Grunderzählung: 8,1. 2c („Lege einen Hinterhalt …“). 3–7. 8c („tut …“). 9–11. 14–17221. 18–19 (ohne die Brandstiftung). 20a.c (ohne „… Rauch …“; verbunden mit Wüstentradition). 21 (ohne „… Rauch …“). Deuteronomistische Bearbeitung: 8,2a.b (ohne „Lege einen Hinterhalt …“). 8a.b (ohne „tut …“). 12–13. 19fin (Brandstiftung). 20b („… Rauch …“). 21 („weil … Rauch aufstieg“). 22–29.

2.13.2.2 Ethnologisch-ethische Aspekte Jos 8,1 ff bringt nicht in erster Linie ethnologisch-ethische Aspekte ans Tageslicht. Dennoch seien sie parallel zu 7,2–8 an dieser Stelle aufgespürt. Wenn es sie gibt, muss ein So-Sein-Sollen Israels zum Ausdruck kommen. Wie sich Israel immer wieder geriert, wurde in 7,2 ff gezeigt. Wie Israel aber auch sein kann, ja, sein soll, wird in 8,1 ff transparent: Es kann dem Wort des Herrn vertrauen (8,1); es kann im Vertrauen auf Gottes Zusage dessen Mut-zuspruch in eine beherzte und strate­ gisch kluge Tat umsetzen (8,3–7.9–11); es soll nach dem Wort des Herrn handeln und sich ganz auf ihn verlassen (8,8c.18 f). „Tut nach dem Wort des Herrn. Siehe, ich hab’s euch geboten.“ Das ist die zentrale ethische Maxime für jegliche Aktivi­ tät des Volkes. Wenn es sich danach richtet, wird es Erfolg haben – mit Gottes wunderhafter (Lanze!) Hilfe. Dass es sich dabei um eine Maxime für das Volk handelt und nicht etwa für viele Einzelne oder für einen Anführer, wird durch verschiedene Signale nahegelegt: 1. Auffällig ist das Wertlegen auf die Ganzheit; vom „ganzen Kriegsvolk“ ist die Rede (8,1.3.5.11; auch 8,15; dann auch von Dtr 220 Dass 8,28 und 29 Lokalätiologien zugrunde liegen, ist unstrittig. Dass sie im deutero­ nomistischen Sinn funktionalisiert werden, ist offensichtlich. – Die Abnahme des gepfählten Königs von Ai entspricht Dtn 21,22 f. 221 Wüstentradition, eng mit Urform verbunden.

226

Gott und das Volk

übernommen: 8,24). 2. Die Zahl 30.000 symbolisiert – auch im Vergleich mit den 3.000 vom gescheiterten Versuch – ganz Israel. 3. Dass der Hinaufzug auch der Ältesten Israels erwähnt wird (8,10), zeichnet die Ältesten als eine Institution des Zwölfstämmeverbandes aus.

2.13.2.3 Das Gottesbild Die Grunderzählung von Jos 8 (vv 1.3–7.8c.9–11.14–19*-21*) zeigt dasselbe Got­ tesbild wie die Grunderzählung von Jericho. Auch dieser Krieg ist ein Auftrags­ krieg. Jahwe erteilt den Auftrag zur Eroberung von Ai an Josua und nimmt in sei­ nem machtvollen Wort den Sieg, der freilich auf dem Feld noch errungen werden muss, schon vorweg. Jahwe ist und bleibt darin Kriegsgott. Als oberster Leiter der Geschicke greift er allerdings nicht in den Kampf direkt ein, sondern er lässt Josua nach seinen Anweisungen handeln. Er entlässt damit Israel in eine gewisse Eigen­ ständigkeit, ohne dabei aufzuhören, auf dessen Seite zu stehen. Der obersten Leitung durch Jahwe von oben her entspricht die inzwischen bekannte Rolle Josuas. Er setzt Jahwes Befehle um („zieh hinauf “, „lege einen Hinterhalt“), und er entwickelt eigenverantwortlich einen weitergehenden Durch­ führungsplan (Scheinflucht). Die Operation verläuft kalkuliert wie geplant nach den Gesetzen der Kriegsführung. Jahwe greift nicht ein, muss auch nicht ein­ greifen, denn es läuft alles so, wie sein machtvolles Wort es verheißen hat. Alles Vordergründige hat einen Hintergrund: Das Vordergründige der erfolgreichen Strategie hat den Hintergrund von Jahwes Machtwort. Josua führt im Feld, Jahwe steht dahinter222. Auf diese Parteilichkeit ist Verlass, wenn man nach dem Wort des Herrn tut (8,8c). Wie schon bei der Eroberung Jerichos wirkt Jahwe durch sein vorwegnehmen­ des Wort und auch durch das Wunder. Nachdem sich die Erzählung lange in der Darstellung des Täuschungsmanövers ergangen hat, ist der Herr wieder in Erin­ nerung zu bringen. Nicht dass er nun mit einer Lanze in der Hand aufträte wie in der alten Berufungsgeschichte Josuas (Jos 5,13–15). Nein, er lässt die Lanze in die Hand nehmen. Er gibt Josua den Befehl dazu. Er soll sie „gegen die Stadt aus­ strecken“. In dieser Formulierung ist alles Wunderhafte enthalten. In der Lanze steckt eine alles wendende Kraft223. Die Stadt hat gegen diese Kraft keine Chance mehr. Sie ist preisgegeben. Die alles wendende Macht des Jahwewortes („ich will es in deine Hand geben“) geht in die Lanze über. In Josuas Hand wird sie zu einem wunderwirkenden Machtinstrument. Die Erzählung weiß sehr wohl zwischen Außenseite und Innenraum des Geschehens zu unterscheiden. Die Außenseite ist 222 Diese theokratisch geprägte militärische Struktur verkennt E. A. Knauf, wenn er die militärische Profilierung Josuas einer Grunderzählung zuschreibt, die redaktionell durch eine Jahwe-Gehorsams-Ideologie zunichte gemacht worden sei (a. a. O., S. 83 und 85). 223 Vgl. Ex 14,16; 17,9.

Die Eroberung Ais 

227

die erhobene Lanze als Zeichen zum Hervorbrechen des Hinterhalts (8,19), der Innenraum das Preisgegeben-Sein der Stadt224. Wenngleich der Sieg zweifelsohne im Feld erst errungen werden muss, ist es doch ein Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Jahwe, wenn der Sieg in der Ret­ rospektive auf sein vorwegnehmendes Wort und auf seine machtvolle Wundertat zurückgeführt wird. So seltsam in unseren Ohren auch das Bekenntnis zu Jahwe als dem rechten Kriegsmann klingen mag, es bewahrt – sofern der Name des Herrn nicht für eigensüchtige Zwecke missbraucht wird – vor Selbstüberschät­ zung und Größenwahn. Im konkreten Fall bewahrt es davor, die Landnahme lediglich als militärischen Erfolg zu verbuchen und darüber zu vergessen, dass es eigentlich eine Landgabe durch Jahwe war, der das Land auf wundersame Weise zur Verfügung gestellt hat225. Außerdem muss auch hier wie bei Jericho fest­ gestellt werden, dass die Stadt – zumindest in der Schilderung – ohne Blutver­ gießen eingenommen wird. Jahwe erweist sich als Kriegsgott powerful, aber nicht violent. Exkurs: Auftragskrieg und Angriffskrieg Betrachtet man die Landnahmeerzählungen, so sind die Kriege gegen die Städte An­ griffskriege. Das gilt auch für die folgenden Kapitel, in denen die Stadtkönige des Sü­ dens und des Nordens besiegt werden. Zwar haben sie jeweils gegen Israel eine Kriegs­ koalition geschlossen, aber Josua kommt ihnen zuvor. – Zur Mosezeit war das anders. Kämpfe waren Israel aufgezwungen, es waren Verteidigungskriege gegen Feinde, die Israels Existenz auf seinem Weg in die Freiheit und an die Grenzen des Gelobten Lan­ des ernsthaft bedrohten. Das gilt für die Israel nachjagenden Ägypter, wo der Herr die Verteidigung voll übernimmt (Ex 14,9 f.14). Das spiegelt sich im Schilfmeerlied, wo die Angriffslust Ägyptens in poetische Form gefasst ist (Ex 15,9). Interessant ist indes, dass im späteren Teil (Ex 15,11–17) die Bevölkerung Kanaans als „feig“ bezeichnet wird (Ex 15,15). Feigheit ist das Gegenteil von Angriffslust; darüber hinaus lädt sie zum An­ griff ein, wie es ja dann auch bei der Landnahme – zumindest erzählerisch – geschieht. Der erste Krieg gegen die Amalekiter (Ex 17,8–16) wird schon im ersten Vers als not­ wendiger, überlebenswichtiger Verteidigungskrieg dargestellt. Dtn 25,17 f unterstreicht das. Anders verhält es sich beim zweiten Amalekiterkrieg. Er wird ja auch von Saul ge­ führt. Die Mosezeit ist längst vergangen. Sauls Krieg gegen die Amalekiter ist ein klarer Auftragskrieg Jahwes (1.Sam 15,3), damit auch ein Angriffskrieg. Zwischen Auftrag und Angriff liegt die Gehorsamsforderung Jahwes, an der Saul scheitert (1.Sam 15,18 f). Daran wird letztlich auch sein Königtum scheitern (1.Sam 15,28). Der dritte Amale­ kiterkrieg lässt sich zwischen Verteidigung und Angriff schwer einordnen. Denn die Amalekiter waren brandschatzend und die Bevölkerung deportierend durchs Südland gezogen (1.Sam 30,1). Erst auf Befragen des Herrn antwortet dieser: „Jage ihnen nach“ (1.Sam 30,8). Es liegt also ein Auftrag zu einem Vergeltungsschlag vor, den der gehor­ same David auch mit Erfolg ausführt.

224 Vgl. dazu auch M. Görg, Josua, a. a. O., S. 39. 225 E. Ballhorn, a. a. O., S. 177.

228

Gott und das Volk

So erscheint die Mosezeit nicht nur als Zeit der Einheit von Mose und Jahwe in Geist und Willen, sondern auch als Zeit des stellvertretenden Eingreifens Jahwes in direkter oder indirekter Form. Dieses kann sich auf den Verteidigungsfall beschränken. Die Par­ teinahme für sein Volk bleibt auch in nachmosaischer Zeit bestehen, allerdings ändert sich die Form. Da in deuteronomischer, erst recht aber in deuteronomistischer Tradi­ tion verstärkt eine emanzipatorische Tendenz ins Gottes- und Menschenverständnis einzieht, muss das Verhältnis von Eigenständigkeit des Volkes und Parteinahme Jahwes neu reflektiert und definiert werden. So lautet jetzt die Lehre: 1. Unter der Vorausset­ zung der Eigenständigkeit wird Parteinahme Gottes nur möglich auf der Grundlage des Gehorsams (z. B. Jos 8,8c). 2. Jahwe wird immer zu den von ihm verbürgten Rechten und Ansprüchen des Volkes stehen. Der Gehorsam verlangt die eigenständige Durchsetzung der von Jahwe verbürgten Rechte und Ansprüche. 3. Wann und wo Jahwe zur Durch­ setzung von Israels Rechten und Ansprüchen aus Treue zu seinem Volk den Auftrag zum Krieg erteilt, da ist er im Gehorsam und in der Gewissheit des Sieges zu führen. So entsteht der Angriffskrieg nicht aus Angriffslust, sondern in gehorsamer Ausführung des Auftrags Jahwes.

Im Schema: nichtpriesterl. / P Tradition

dtn./dtr. Tradition Eigenständigkeit

Parteinahme Gottes

Parteinahme Gottes

direktes oder indirektes Eingreifen Gottes

von Gott verbürgte Rechte und Ansprüche

Gehorsam

Verteidigungskrieg

Auftragskrieg

Gehorsam

Durchsetzung der von Gott verbürgten Rechte und Ansprüche Angriffskrieg

2.13.3 Die Zusammengehörigkeit von Jos 7,2–8 und 8,1.3–7.8b.c.9–11.14*-17*.18–19*.20*-21* Die erfolgreiche Einnahme von Ai könnte wohl – abgesehen von den Rückver­ weisen – für sich stehen, die missglückte Aktion nicht. Insofern gehören beide Er­ zählungen zusammen. In ihrer Kombination haben sie als Negativexempel (Jos 7) und als Positivbeispiel (Jos 8) lehrhaften Charakter. Die Lehre bezieht sich auf eine das Verhalten bestimmende Glaubenshaltung einerseits und auf die Theo­ logie andererseits.

Die Eroberung Ais 

229

2.13.3.1 Ethische Implikationen Es entspricht nicht der rechten Haltung eines zum Gottesvolk berufenen Israel, bei der Landnahme allein auf die eigene Kraft und die eigene Strategie zu vertrauen und Eroberungen sich selbst zuzuschreiben. Das würde dazu führen, Jahwe die Landgabe zu entreißen und sich den Besitz wie einen Raub selbst zu nehmen. Er­ oberungen dieser Art und mit dieser Haltung können nicht gut gehen, müssen scheitern. Dagegen ist der Einzug in die Städte der Kanaaniter von Erfolg gekrönt, wenn er im Einklang mit Gottes Willen geschieht. Kriterium dafür ist das Acht­ geben auf das Wort des Herrn. Er spricht zu Josua und gibt den Startbefehl. Sein Wort ist umzusetzen und auch vom gesamten Kriegsvolk zu beachten. Der Ein­ klang mit Gott wird sich nach dem Sieg fortsetzen in der Dankbarkeit für die – proleptisch angekündigte – Gabe, im Staunen und in der Bewunderung der Macht des Herrn. – Es versteht sich, dass diese Kriterien im Nachhinein gewonnen sind: Eine Niederlage bzw. ein Sieg werden hinterher aus dem Glauben heraus gedeutet. Die Deutung ist indes richtungweisend für die Zukunft.

2.13.3.2 Das Gottesbild In theologischer Hinsicht liefert die Einheit von Jos 7 und Jos 8 eine Haggada zu dem Thema: „Die Einheit der Gegensätze in Gott – Gott lässt sich überwinden“. Er ist der schweigende, sich zurückziehende Gott, der seine Parteinahme für sein Volk ruhen lässt, wenn er nicht gefragt ist. Er ist aber auch der Gott, der sich aus dem Schweigen reißen lässt, wenn aus Buße und Trauer der Hilferuf erwächst. Er ist der Gott, der Israel dann erhört, es aufrichtet, ihm Mut zuspricht. Er ist der Gott, der die Leitung wieder in die Hand nimmt, wenn man mit ihm rechnet. Seine Parteinahme für sein Volk bewirkt es, dass seine Zuwendung stärker ist als seine Abkehr, diese also am Ende überwindet.

2.13.4 Die Achan-Erzählung 2.13.4.1 Literargeschichte Die Erzählung von Achans Diebstahl umfasst Jos 7,1(9–10)11–26. Inhalt und Sprachstil weist sie als deuteronomistisches Kunstprodukt aus. 7,9–10 ist kom­ positionelle Überleitung zur Achan-Episode. Denn 7,9 verbindet „deinen gro­ ßen Namen“ mit „unserem Namen“ und schafft mit dieser Namenstheologie die Brücke zum „Bund“ (9,11); 7,10 nimmt 7,6 auf und lenkt zur Gottesrede hin. Der Komposition liegt ein Sagenstoff voraus, der freilich als literarischer Komplex nicht mehr erkennbar ist.

230

Gott und das Volk

2.13.4.2 Der Zusammenhang von Theologie und Ethik Der Deuteronomist nutzt die Gelegenheit, aufgrund des von ihm stammenden ha­ lachischen Satzes, sich nicht am Banngut zu vergreifen (Jos 6,18), und in Kenntnis des Ai-Debakels eine Haggada zum Thema „Frevel am Banngut“ zu verfassen – gleichsam als „Supplement zur Tora“226 – und sie geschickt227 mit der Ai-Legende zu verbinden. Die (nicht ganz symmetrische) Gliederung lässt die Lehrinhalte der Haggada erkennen: Gliederung

Lehrinhalt

[Israel vergreift sich an Gebanntem (7,1a.b)]

[Kollektive Schuld] (evtl. spätere Überschrift)

Zorn Jahwes entbrennt (7,1c)

Gottesbild

„Israel hat sich versündigt“ (7,11)

kollektive Schuld

„Ich werde nicht mehr mit euch sein …“ (Bann über Israel) (7,12 f)

Gottesbild (Bestrafung Israels)

Ordalanweisung mit Bestrafungsforde­ rung (7,13–15) Ordaldurchführung (7,16 ff)

Josuas Gehorsam und Eigenverantwortung

„Achan, … sage mir, was du getan hast“ (7,19) Achans Schuldbekenntnis („ich habe mich versündigt“) (7,20 f) Reinigungsakt des Volkes (Niederlegen der geraubten Gegenstände vor dem Herrn) (7,22 f)

Individuelle Schuld

Abführen von Achan, seiner Familie und seiner (z. T. geraubten) Habe ins Tal Achor; Steinigung und Verbrennung (7,24–26a)

Bestrafung Achans (Todesstrafe, Gewalt)

Jahwe kehrt sich ab von seinem Zorn (7,26b)

Gottesbild

Die Haggada erschließt sich in ihrem theologischen und ethischen (vielleicht sogar ethnologischen) Sinn am ehesten von ihrer Mitte her. Diese wird inhaltlich von der Gottesrede (7,11–15) bestimmt. Thema ist der Bann bzw. das Banngut 226 E. A.  Knauf, a. a. O., S. 79. 227 In der von Dtr verfassten Form ist die Verbindung mit Josua nicht wegzudenken.

Die Eroberung Ais 

231

(‫ ֶ ח ֶרם‬/ chäräm). Das Wort kommt in 7,11–15 gehäuft sechsmal vor, sonst – außer im überschriftähnlichen Rahmenvers 7,1 – in der Achan-Erzählung nicht mehr, wiewohl es in 7,20–26 der Sache nach darum geht. Der Deuteronomist versäumt nicht, seine theologische Kernaussage über das Banngut dadurch zu verdeut­ lichen, dass er es zu Beginn wie auch am Ende der Gottesrede mit dem Bund (‫ ְ ּב ִרית‬/ bᵊrīt) in Beziehung setzt. Bund und Banngut gehören zusammen. Der Bund hat das Banngut zur Folge. Mit dem Bund ist in deuteronomistischer Tradi­ tion der Moabbund gemeint, der die Erhebung Israels zum Gottesvolk impli­ ziert sowie die Zusage der Gottesgemeinschaft, die seit der Väterzeit ebenso gilt wie jetzt (Dtn 29,11 f). Die Nichteinhaltung des Bundes seitens Israels ruft nach Dtn 29 den Zorn Gottes hervor, was sich in den Rahmenversen Jos 7,1.26 widerspiegelt. Die Zusammengehörigkeit von Bund und Bann ist im Gehorsamsgebot be­ gründet, das für das Deuteronomium von existentieller Bedeutung ist. Es resul­ tiert aus der in Liebe geschehenen Erwählung (Dtn 7,7). Es ist zusammen mit der Gegenliebe die Antwort auf die Erwählung und den darin gewährten Bund (Dtn 6,1–9). Überall, wo im Deuteronomium und im deuteronomistischen Ge­ schichtswerk der Bann eingefordert wird, geht es um diesen unhinterfragbaren Gehorsam gegenüber dem Gottesgebot. Wenn sich D bzw. Dtr darüber hinaus zu einer Begründung veranlasst sieht, dann ist es die Vernichtung des Abgöttischen um der zu vermeidenden Kontamination willen (Dtn 7,1–6; 12,29–31; 18,9–12; 20,17 f; Ri 2,1–5). Am ‫ ֶ ת ֶרם‬/ chäräm-Begriff, der Banngebot, Vernichtungsweihe und Banngut um­ schließt, wird der Zusammenhang von Theologie und Ethik deutlich. Die Linie Bund – Banngebot – Gehorsam – Vernichtung beschreibt den Weg von dem ein­ zigartigen Gottesverhältnis (Bund – Banngebot) über die angemessene Haltung (Banngebot – Gehorsam) bis hin zur entsprechenden Handlung (Gehorsam – Vernichtung bzw. vor den Herrn bringen). Der „Bund“, der die Mitte des Kap. 7 umschließt (7,11 und 15), aber auch ein grelles Licht auf die „Mitte“ Israels wirft (7,13), ist seitens Israels übertreten wor­ den. Somit ist das Thema ‫ ֶ ח ֶרם‬/ chäräm qualifiziert als das missachtete Banngebot, als der gebrochene Bund. Israel ist dem Banngebot nicht nur nicht nachgekom­ men, sondern hat sich von dem, was durch Gottes Wort dem Bann anheimgefal­ len war, bedient. Israel hat den Gehorsam verletzt. Darüber hinaus ist es in den Bereich des Heiligen eingebrochen228. Denn das der Vernichtung Geweihte ist durch Gottes Wort geweiht und daher „heilig“ im göttlich-destruktiven Sinn229. Dieser „Einbruch“ wird mit den Verben „nehmen“, „stehlen“, „verheimlichen“ veranschaulicht. Dabei weist „stehlen“ keineswegs darauf hin, dass das Banngut 228 V. Fritz, Josua, a. a. O., S. 79 und 82. 229 Somit hat „das Heilige“ Anteil an dem Heiligen, der zum Leben (Dtn 29,12) wie auch zur Vernichtung (Dtn 29,19 f) weihen kann.

232

Gott und das Volk

etwa Jahwe gehöre, sondern auf die widerrechtliche Inbesitznahme des zur Aneig­ nung von Jahwe nicht vorgesehenen Gutes230. Verletzter Gehorsam, Einbruch und widerrechtliche Aneignung werden als Sünde (7,11) und Frevel (7,15) gebrand­ markt. Gehorsam und Achtung des Heiligen ist die Haltung, die Israel hier – und nicht nur hier – vermissen lässt, so ist Israel. Wieder wird deutlich, wie sehr Theo­ logie und Ethik ineinandergreifen. Zudem blitzt auch der ethnologische Aspekt auf; denn Israel hat sich versündigt – in dem Judäer Achan (von dem zunächst nur die Überschrift 7,1 weiß)231. Die Haltung des Ungehorsams führt zu einer Handlung (nehmen, stehlen, zu den Geräten legen) mit dem Ergebnis: „Es ist Gebanntes in deiner Mitte, Israel“ (7,13). Damit hat sich Israel entheiligt. Die Missachtung des Heiligen (im mas­ kulinen wie im neutrischen Sinn) führt zwangsläufig – im Umkehrschluss von Dtn 29,11 f – zum Verlust der heiligen Mitte („Ich werde hinfort nicht mit euch sein …“ [7,12b]). Habgier ist nun in der Mitte in Gestalt der Aneignung des Ge­ bannten, nicht mehr Jahwe. Die ethisch verwerfliche Haltung (Habgier) führt zum Gottesverlust, und dieser führt ins „Unglück“ (vgl. Jos 6,18): Israel kann nicht mehr bestehen (vor seinen Feinden [7,12.13]), verfällt selbst dem Bann. „Israel kann zu Nicht-Israel werden“232, wenn es nicht seine Mitte neu bestimmt. Jahwes Parteilichkeit hat ihre Grenze da, wo Israel seine Bundestreue aufkündigt. In dem Fall zeigt Jahwe sein anderes Gesicht und wendet sich zumindest von sei­ nem Volk ab, wenn nicht gegen sein Volk (7,12.13). Solange freilich Jahwe durch Josua, den Sohn Nuns, noch mit seinem Volk redet, gibt es eine Kondition, dem Bannfluch zu entgehen: „… wenn ihr … das Gebannte aus eurer Mitte tilgt“ (7,12). Die konditionale Form der Rede Jahwes zeigt, dass Zuwendung und Abwendung in ihm vereint sind und die Zuwendung als die stärkere Kraft Israel eine Chance gibt, seine Haltung zu überdenken, zu korrigieren und zu ihm als Mitte zurückzu­ finden. Deuteronomistische Theologie und Ethik sind in der konditionalen Rede Jahwes untrennbar miteinander verbunden. Die literarische und sachliche Mitte ist hineingenommen in das Spannungs­ feld von kollektivem Schuldzusammenhang und individueller Sünde. Die Sünde eines Einzelnen hat ganz Israel vor Gott schuldig werden lassen. Das ist für den Deuteronomisten unumstößliche Gewissheit (vgl. 7,1). Denn der Bund ist nicht mit Individuen je einzeln geschlossen, sondern mit „allen“ (Dtn 29,9), die „heute“ „in den Bund des Herrn“ eintreten, um darin sein Volk zu sein (Dtn 29,11 f). So stört und zerstört der Frevel eines Einzelnen – der nur als Teil des Ganzen gedacht werden kann – das gesamte Bundesverhältnis und bringt Unglück ins Lager Israels 230 Dass es nach unserem Recht nichts gibt, was nicht jemandem gehört, ist als Grundsatz hier nicht vorauszusetzen. 231 Vgl. auch W. Dietrich, Die Samuelbücher, a. a. O., S. 41: Achan als „Exempel des an seinem Gott schuldig gewordenen Gottesvolkes“. 232 E. Ballhorn, a. a. O., S. 190.

Die Eroberung Ais 

233

(Jos 6,18). Wenn Israel nichts tut, macht es sich mit dem Frevler gemein und hat als Kollektiv die Folgen zu tragen (7,12). Die deuteronomistische Theologie denkt aber über den bloßen Tat-Folge-Zusammenhang hinaus und konditioniert ein Ausbrechen aus dem monokausalen Gefüge durch Einkreisen des Schuldigen bis hin zum Individuum. Mit angemessener Bestrafung des gefundenen Individuums ist die Gerechtigkeit Gottes – und zwar sowohl die, mit der er gerecht ist, als auch die, die vor ihm gilt – wiederhergestellt. So lassen sich für den Deuteronomisten kollektiver Schuldzusammenhang und individuelle Schuld zusammendenken. Das hat zur Folge, dass umgekehrt individuelles Schuldbekenntnis und indivi­ duelle Bestrafung eine Reinigung des ganzen Volkes bewirken. Die Härte der Be­ strafung (7,15.24 f) lässt aufhorchen. Gewalt gegen Achan (und nun doch auch gegen seine Familie) bis hin zur Steinigung wird gerechtfertigt, obwohl er sich als Sünder stellt (vgl. 7,11 mit 7,20), die widerrechtliche Aneignung allen Banngutes gesteht und alles vor den Herrn bringen lässt233. Aber Achan hat eben anderes in die Mitte gestellt als den Herrn und ist somit zu einem Frevler geworden wie jene, die tun, was dem Herrn ein Gräuel ist. So hat er mit demselben Bannfluch zu leben und zu sterben wie jene. Josua gibt den Bannfluch, der drohend über Israel lag, an Jahwe zurück, damit er sich an dem Einen auswirke zugunsten des Volkes (7,25)234. So wird die den Reinigungsakt bestimmende Gewalt gegen Achan theo­ logisch legitimiert. Die Gerechtsprechung Israels geschieht in der Verbrennung des Sünders. Bis zum Neuen Testament ist noch ein weiter Weg.

2.13.4.3 Das Gottesbild Das Gottesbild in der deuteronomistischen Haggada hat drei Fixpunkte: Am Anfang (7,1), in der Mitte (7,12 f) und am Ende (7,26). Die Überschrift lässt die Wolken des Zorns über Israel aufziehen. Sie bleiben über Israel, bis Achan, der das erhobene Volk (Dtn 29,11 f) entheiligt und damit auch Gott geächtet hat, getötet ist. Erst dann kehrt sich der Herr wieder ab von seinem Zorn. Zwischendurch ringt er um sein Volk – mit Erfolg. Theologisch lassen sich unterschiedliche Aus­ sagen daran knüpfen: – Gott gibt sein Volk nicht auf, auch und gerade dann nicht, wenn es auf Abwege zu geraten droht. Die Parteinahme wirkt sich positiv aus, auch und gerade dann, wenn Israel droht, sich selbst zum Feind zu werden. – Gott ist wandlungsfähig. Er vollzieht einen Richtungswandel, wenn Israel in den Bund zurückkehrt, nach seinem Wort handelt und es eigenverantwortlich

233 7,23 ist im Rahmen des Reinigungsaktes die sachliche Umkehrung von 7,11: nehmen – stehlen – verheimlichen; 7,23: nehmen – bringen – vor den Herrn legen. 234 Dass das gängiges theologisches Gedankengut war, zeigt der Rat des Kaiphas (Jh 11,50; 18,14).

234

Gott und das Volk

weiterentwickelt235. Gott kann sich von seinem Zorn, d. h. von sich selbst dis­ tanzieren, zu sich selbst in Distanz gehen. – Gott handelt in der Geschichte – agierend und reagierend, ohne in der Ge­ schichte aufzugehen. – Letztendlich wandelt der Tod Achans den zornigen zum zugewandten Gott. Das ist ein Charakteristikum der deuteronomistischen Darstellung im Unter­ schied zur Ai-Legende. In der Ai-Legende ließ sich Gott durch Josuas Buß­ gebet überwinden, hier durch den Tod des Bannbrechers. Das hängt mit der Abwendung des drohenden Bannfluchs über Israel zusammen. Aber dass Gott in diesem Fall ein Menschenopfer braucht, um sich von seinem Zorn wieder abzukehren, ist nicht zu leugnen. Wiewohl es zum unaufgebbaren Glaubens­ schatz der Bibel gehört, dass sich Gott von allem Anfang an immer wieder vom Zorn zur Zugewandtheit überwinden lässt, ist auch hier der Weg zum Neuen Testament noch weit. Denn im Tod Christi lässt nicht Gott sich überwinden, sondern er selbst überwindet darin die Bosheit des Menschen und den Tod.

2.13.5 Die Einbindung der Ai-Legende I und II in die deuteronomistische Achan-Erzählung 2.13.5.1 Die Auswirkung der dtr Überschrift 7,1 auf Ai I und auf das darin enthaltene Gottesverständnis Durch 7,1 tritt das Geschehen von Ai in seiner Deutung ganz unter das Vorzei­ chen des Zornes Jahwes. Ging es in der absoluten Betrachtung von 7,2–8 um den schweigenden, weil nicht einbezogenen Gott, um den abgewandten, weil sich nicht aufdrängenden Gott, so geht es in der relativen, d. h. auf 7,1 bezogenen, Be­ trachtung um den zornigen, vergeltenden, strafenden Gott. Die Ai-Legenden – hier besonders die Ai I-Legende – werden Teil der Haggada. Der Zorn Gottes wirkt sich strafend aus in der Niederlage der Israeliten, in der Verzagtheit des Volkes und in der Verzweiflung Josuas. Niederlage, Verzagtheit und Verzweiflung sind von Gott bewirkte Folgen des Bannbruchs. In der absoluten Betrachtung war das anders. Dort war die Depression Folge der gottvergessenen Selbstsicherheit Is­ raels. Hier nun besteht die Strafaktion aus mehreren Elementen: Die Kundschafter sind mit Blindheit geschlagen. Sie sehen nicht die wahre Stärke der Feinde (7,2 f). Ihr Herz ist verstockt. Sie entscheiden allein nach strategischen Gesichtspunkten, nicht im Sinne des heiligen Volkes als Ganzen, das als Ganzes auch das heilige Land betritt. Nach Jes 6,9 f ist Blindheit Folge der Verstockung.

235 „Josua ergänzt aus eigener Kompetenz die göttliche Anordnung, sodass divinatorische und juridische Mittel einander ergänzen“ (E. Ballhorn, a. a. O., S. 186 f).

Die Eroberung Ais 

235

Gott schlägt mit beidem, um in seinem Zorn den gebrochenen Bann zu ahnden. Ob der Deuteronomist an Jes 6,9 f gedacht hat, das knapp 200 Jahre zurückliegt, ist nicht eindeutig festzustellen. Immerhin aber hat die in diesem Jahwewort anlässlich der Be­ rufung Jesajas enthaltene Theologie und Prophetie eine Wirkung in der Deutungsge­ schichte des Weges Israels entfaltet, die weit über Jesaja hinausreicht. In Jos 11,20 hat der Deuteronomist noch deutlicher an sie angeknüpft. Sie erweist sich als kritisches Moment im Deuteronomium (Dtn 29,3.18 f) und kann als solches dann auch für die deuteronomistische Geschichtsdeutung, wie sie in Jos 7,1–3 vorgenommen wird, in Anspruch genommen werden.

Weiter gehören zu dieser Strafaktion die Flucht der 3000 und die Tötung der 36. Das wird nicht als zufällige historische Fakten erzählt, sondern als Folge des ent­ brannten Zorns Jahwes. So dann auch das schmelzende Herz und Josuas Verzweif­ lung. All das muss so kommen, weil Gottes Zorn es so will. Betrachtet man unter diesem Aspekt noch einmal Josuas und der Ältesten Symbolhandlung (7,6), rückt sie als Pendent zu Jahwes Strafhandeln deutlich in das Licht des Bußritus. Im Verständnis des Deuteronomisten ist dieser aber auch keine autonome Handlung Josuas und der Ältesten, sondern von Jahwe so ge­ wollt. Denn der strafende Gott ist zugleich derjenige, der Israel zur Rückkehr auf den Weg des Gehorsams führen will. Dazu braucht er die Buße. Erst das totale Sich-Niederwerfen vor der Lade ermöglicht dem Herrn, das zu tun, worauf sein Strafhandeln zielt: zu sagen: „Steh auf …“ (7,13, aber auch schon in der Über­ leitung 7,10). Dieses „Steh auf “ ist etwas anderes als die Mutmachformel in 8,1. Dort hat sie gezeigt, dass Gott sich überwinden lässt: von seiner Abgewandtheit zu seiner Zugewandtheit. Hier aber haben wir eine Erzählung vor uns, wie Jahwe Israel überwindet: von einer Haltung der Entheiligung dessen, was durch sein Wort als heilig gilt, hin zur erneuten Heiligung. Zorn und Strafe sind dabei Mittel und Zweck, um Israel zur Rückkehr auf den geheiligten Weg zu führen und so wieder vom Grimm ablassen zu können.

2.13.5.2 Die Ethisierung von Ai I und Ai II durch die dtr Redaktion Insofern in Anknüpfung an das gebrochene Banngebot Heiligung und Umkehr in den Vordergrund rücken, kann man bei Dtr von einer Ethisierung der primär theologisch geprägten Überlieferung sprechen. Dazu passt der von Dtr vorbe­ reitete und entfaltete Vorwurf des Bundesbruchs. Vorbereitet wird der Vorwurf durch die Fortführung der Klage Josuas mit der Erinnerung an Jahwes „großen Namen“ (7,9). Denn mit seinem Namen steht er für den Bund ein. Der Fortbe­ stand des Bundesverhältnisses wird von Josua eingefordert, m.a.W.: die Treue Jah­ wes. Josuas Appell, dass sich Jahwe in Wesen und Wirken treu bleibt, beantwortet dieser mit der Anklage der Untreue Israels. Die Anklage zielt auf ein verkehrtes Verhalten. Wieder wird die Frage nach Gott, als Theodizeefrage gestellt, irrelevant gegenüber dem Fehlverhalten des Volkes, ein weiteres Zeichen der Ethisierung

236

Gott und das Volk

theologischer Sachverhalte durch Dtr. – Der strafende und in der Strafe Israel vor dem endgültigen Nichtbestehen bewahrende Gott fordert von Israel eine neue Haltung und entsprechende Handlung. Dtr zieht auch hier die theologischen Li­ nien auf die Ethik hin aus. Die neue Haltung ist die des Gehorsams – Josua führt das Ordal aus und fordert darüber hinaus von Achan ein Schuldbekenntnis. Die neue Haltung impliziert eine weitere ethische Forderung: Ausschluss von Habgier (7,21) mit all seinen gemeinschaftszerstörenden Folgen (7,11). Die entsprechende, diese Haltung initiierende, begleitende und festigende Haltung ist der in 7,24–26 dargestellte Reinigungsakt. Er ist Voraussetzung für einen Neuanfang. Die Ai IIErzählung wird in diesem Zusammenhang zu einem Beweis des erloschenen Zorns, zu einem Zeichen des Lohnes für die im neuen Gehorsam wurzelnde sachgerechte Haltung gegenüber der Forderung Jahwes. Dabei dienen die erzäh­ lerischen Elemente von Zorn, Gewalt und Klage im Gewand der geschichtlichen Erzählung einem Nachdenk- und Lernprozess, der toragemäßes Verhalten für die Zukunft ethisch implementieren will.236

2.14 Das Buch der Richter Das Buch der Richter setzt sich zwischen den Kapp. 3 und 16 aus einer Samm­ lung von Retterlegenden zusammen, die vordeuteronomistisch bearbeitet, deu­ teronomistisch mehr oder minder stark beeinflusst und durch den Rahmen der deuteronomistischen Geschichtsschreibung, der in Ri 2,6 beginnt, miteinander verbunden sind237. Zwei nachdeuteronomistische238 Listen von „Richtern“, denen die theologische Rahmung fehlt, können unbeachtet bleiben: Ri 10,1–5 und 12,8– 15. – Dem Debora-Lied wird ein Extrakapitel gewidmet. Zur Nachzeichnung des Gottesbildes werden vorwiegend der heilsgeschicht­ liche Rahmentext, wie er exemplarisch in Ri 3,7–11 vorliegt, und die Engel- bzw. Prophetenerscheinungen herangezogen. Der Rahmentext wirft auch ein Licht auf die Selbstsicht des Volkes (theologisch-ethnologischer Aspekt). Bei der Ethik, vorwiegend aus den Rettersagen und -legenden bezogen, geht es einerseits um das Soll von Haltung und Verhalten des Volkes, andererseits auch um ideale Füh­ rerschaft unter den Augen Gottes. Das heilsgeschichtliche Schema wie auch die Engel- und Prophetenerscheinungen sind auch transparent für die Zeit des Deuteronomisten; denn an ihnen wird deutlich, wie der Deuteronomist den Geist seiner Zeit vor dem Hintergrund der Versagensgeschichte auf Hoffnung hin formen will.

236 E. Ballhorn, a. a. O., S. 190. 237 M. Görg, Richter, Würzburg 1993. Eine eingehende Analyse ist bei W. Groß, Richter, Frei­ burg 2009, zu finden. 238 M. Görg, Richter, a. a. O., S. 59.

Das Buch der Richter

237

Ethische Akzentuierungen sind mit literarischen Schichten so eng verbunden, dass auf die bisherige formale Trennung im Folgenden verzichtet wird.

2.14.1 Die Ehud-Legende (Ri 3,15b-30a) Der Beginn der Ehud-Legende ist mit der dtr Rahmung verwoben, so dass der Anfang nicht mehr genau auszumachen ist. Es scheint so zu sein, dass Benjamin (3,15a) Eglon, dem König der Moabiter, tributpflichtig ist (3,15b)239. Die Legende endet zunächst mit der geglückten Flucht Ehuds nach Seïra. Es geht um einen Stammeskonflikt. – Das ändert sich in 3,27–30a: Hier wird aus dem Stammeskon­ flikt eine gesamtisraelitische Erhebung gegen den Unterdrücker Eglon von Moab unter den Augen und der obersten Leitung Jahwes. – 3,19 bereitet der Vorstellung Schwierigkeiten: Warum kehrt Ehud erst in Gilgal um, während er sich doch schon im Palast umwenden könnte? Man wird die „Steinbilder von Gilgal“ als Einfügung ebenfalls aus gesamtisraelitischem Interesse (vgl. schon die Bedeutung der Gedenksteine Gilgals in Jos 4) betrachten und im Blick auf die ursprüngliche Erzählung vernachlässigen dürfen240. – Als Glosse darf auch die nachklappende Erklärung 3,22c („… denn er zog den Dolch nicht aus seinem Bauch“) gelten241. Was bleibt, ist eine profane Sage (3,15b-26). Als solche kann sie schwerlich nach den Kriterien biblischer Theologie, Ethnologie oder Ethik befragt werden. Den­ noch wird durch den Gang der Handlung und durch den Sympathieträger bzw. dessen Antagonisten eine Ethik vermittelt. Diese untermauert die Stammesiden­ tität, verehrt den Freiheitskämpfer und sanktioniert alle Mittel, die zum Erfolg führen. Sie verherrlicht Gewalt, und dies umso mehr, als diese mit Intelligenz und List verbunden ist. Der Freiheitskämpfer Ehud ist geschickt bei seinem Attentat. Es gelingt ihm trotz seines „Handicaps“ als Linkshänder. Umso bewunderungswürdiger! Die Ausführung des Attentats ist intelligent eingefädelt: keine Zeugen (3,18), Geheimnisträger (3,19), prophetischer Schein (3,20). Der Anschlag gelingt und kann „genüßlich“ beschrieben werden (3,21 f)242. Ehuds Ruhm leuchtet vor dem Hintergrund des unrühmlichen Eg­ lon umso mehr. Der ist alles andere als gut und schön. Er muss wohl ein reiner Macht­ mensch sein, an seiner Selbstgefälligkeit fast erstickend: Wie könnte man sich diesen „sehr fetten Mann“ anders vorstellen (3,17)? Außer ihm gibt es nur hörige und zu ange­ messenem Handeln unfähige Lakaien (3,19.24–26). In der totalen Verkennung seiner 239 „die Israeliten“ in 3,15b sind dem späteren gesamtisraelitischen Interesse geschuldet (vgl. 3,27–30a). 240 M. Görg, Richter, a. a. O., S. 25 will nur „Gilgal“ streichen und die „Steinbilder“ als Göt­ terbilder im Palast Eglons verstehen. Das aber widerspricht der Lokalisierung der Steinbilder in 3,26. 241 W. Groß, a. a. O., S. 238. 242 Ders., a. a. O., S. 235.

238

Gott und das Volk

Situation wird er Zielscheibe von Spott und Hohn: Nicht seine Würde, sondern seine ekel­erregende Fettleibigkeit zeichnet ihn aus (3,22). Der vermutete Gang auf die Toilette konterkariert noch einmal mehr seine Würde.

Diese Art der Heldenverehrung und die dadurch transportierte Ethik mag bei einer identitätsstiftenden Stammessage ihren Sitz im Leben haben. Problema­ tisch wird allerdings eine Übernahme in das gesamtisraelitische Erzählgut, weil spätestens dieses stets mit der Führung Jahwes verbunden ist. Mit dem Wachstum der Sage (3,15b-26) zur Legende (+ 3,27–30a) ist das der Fall. Spannend ist: Wie geht eine auf den Jahweglauben gegründete Ethik mit Meuchelmord und – im Zusammenhang damit – mit einer Instrumentalisierung des Gotteswortes um? Ich gehe bei 3,27–30a von einer Erweiterung aus, die durch die deuteronomis­ tische Schule geprägt ist. Dafür sprechen die Übergabeformel, hier allerdings im Munde Ehuds (3, 28), und die Totalvernichtung des moabitischen Heeres, wenn auch von einem Vernichtungsbann nicht ausdrücklich die Rede ist. Der Redaktor deuteronomistischer Schule muss mit der Tora vertraut gewesen sein. So kennt er auch das Missbrauchsverbot des göttlichen Namens (Dtn 5,11) und die Minimal­ forderung der Gottesfurcht (Dtn 10,12). Er kommt auch nicht umhin, sich mit der Tatsache des Meuchelmords und einer möglichen Deckung der Tat durch Jahwe auseinanderzusetzen. Die Einschränkungen sonst üblicher deuteronomistischer Redeformen und Er­ zählweise zeigen bereits eine gewisse Distanz zu der buchstäblich über Leichen ge­ henden Erfolgsethik der Sage. Denn dass „der Herr … die Moabiter, eure Feinde, in eure Hände gegeben“ hat (3,28), lässt der Redaktor als reine Zweckbehauptung Ehuds erscheinen, ohne dass diese erkennbar durch ein Wort des Herrn gedeckt wäre (anders Jos 6,2; 8,1; 10,8; 11,6). Die Niedermetzlung der 10.000 ist ein erfolg­ reiches Kriegsgeschehen, wobei völlig offen bleibt, ob Jahwe dabei seine Hand im Spiel hatte oder nicht. Schließlich werden die Moabiter lediglich „unter die Hand Israels gedemütigt“ (3,30a), ein rein machtpolitischer Akt, zu dem Jahwe in deut­ licher Distanz bleibt (vgl. anders 3,10; 4,23 f). Es ist nach der Erweiterung durch 3,27–30a derselbe Ehud, der jetzt den Beistand des Herrn behauptet und damals den Namen Gottes für eine Lüge zum Zweck der Attentatsvorbereitung miss­ braucht hat. Spannt er Gott jetzt genau so vor seinen Karren wie früher? Wenn ja, so hat es der Herr mit sich machen lassen … Der Versuch der Distanzierung ist nicht nur ein Bemühen, die beschädigte Ehr­ furcht vor Gott wiederherzustellen, sondern auch das Bestreben, zum Meuchel­ mord in irgendeiner Weise Stellung zu nehmen. Worauf kann der Schreiber sich dabei beziehen? Sehr deutlich auf Dtn 23,4–7: „Die Ammoniter und Moabiter sollen nicht in die Gemeinde des Herrn kommen, auch nicht ihre Nachkommen bis ins zehnte Glied; sie sollen nie hineinkommen … Du sollst nie ihren Frieden noch ihr Bestes suchen dein Leben lang.“ Diese ewige Exkommunikation Moabs rechtfertigt in den Augen des Schreibers das Attentat auf den, der sich qua Tribut­

Das Buch der Richter

239

recht hineindrängt. Dass dem Schreiber Lev 24,17–22 bekannt war („Wer irgend­ einen Menschen erschlägt, der soll des Todes sterben … Es soll ein und dasselbe Recht unter euch sein für den Fremdling wie für den Einheimischen; ich bin der Herr, euer Gott“), ist nicht vorauszusetzen. Der Theologe deuteronomistischer Schule (Dtr1) hat eine alte Sage mit profa­ nem Stoff und eigener Dynamik kerygmatisch bearbeitet und der darin enthal­ tenen Gewaltverherrlichung und Zwecklüge „theologische Weihen“243 verliehen. Wenn man auf den Ehud-Stoff nicht völlig verzichten wollte, musste das wohl sein. Der deuteronomistische Endredaktor (Dtr2) passt die Ehud-Legende seinem Geschichtsschema ein (3,12–15.30). Dass er sie benutzt, zeigt seine grundsätzliche Übereinstimmung mit der Geisteshaltung seines Vorgängers (Dtr1) sowohl im Blick auf Distanz als auch im Blick auf „theologische Weihen“. Dabei nimmt die Distanz zugunsten der Nähe ab. So mag man es als Zurückhaltung gegenüber dem Vorgehen Ehuds werten, dass ihm keine Regentenzeit eingeräumt wird (3,30). Er ist lediglich „Retter“ (3,15). Das aber ist er, und zwar im Namen des Herrn, von ihm dazu erweckt und so in seiner ganzen Person, in seinem Reden und Handeln Mund, Dolch und Schwert des Herrn. Waren noch irgendwo Zweifel bezüglich seines Vorgehens, seiner Mittel, seiner grenzwertigen Worte, mit dem von Jahwe erweckten Retter sind sie hinweggefegt. Er darf, was er tut; er muss es tun. Allerdings nur er. Die redigierte Ehud-Episode gibt keine Handlungsanweisung für jedermann. Nur für den vom Herrn erweckten Ehud. Nicht jeder darf sich zum Attentäter und Meuchelmörder aufschwingen, nicht jeder darf sich zum Partisan und Freiheitskämpfer stilisieren, sondern nur der vom Herrn Gerufene. Das wird in Ri 9 in aller Deutlichkeit ausgeführt. – In diesem Punkt berühren sich Gottes­ bild und Ethik. Wen erweckt Gott? Dass er ausgerechnet Ehud erweckt, bleibt sein Geheimnis. Moralvorstellungen verstellen den Blick auf ihn. Für den deuterono­ mistischen Endredaktor (Dtr2) tragen Ehuds Taten die Rechtfertigung in sich, weil sie von Jahwe und vor ihm gerechtfertigt sind („Retter“).

2.14.2 Die Debora-Legende (Ri 4,4–22) Die Rahmung der Debora-Legende ist am Anfang und am Ende klar erkennbar. 4,1–3 gehören mit Sicherheit dazu, ebenso 4,24244. Unsicherheit besteht im Blick auf 4,23. Wenn er zur Legende gehört, ist er aber deuteronomistisch überarbeitet worden; denn Jabin wird nur in den endredaktionell deuteronomistischen Versen als „König von Kanaan“ bezeichnet. Dem Endredaktor lag die Debora-Legende in den vv 4–22 bereits vor, aller­ dings mit eher nordisraelitischer Ausrichtung – es werden außer dem Sitz Deboras 243 Ders., a. a. O., S. 248. 244 Dtr (Red) bezieht sogar das Debora-Lied in den Großrahmen mit ein (5,31c).

240

Gott und das Volk

im Gebirge Ephraims – nur zwei Nordstämme genannt: Naftali und Sebulon245. Der Deuteronomist hat die in vorstaatlicher Zeit durchaus übliche Sammel­ bezeichnung „Israel“ freilich in seinem, dem gesamtisraelitischen, Sinn (vgl. 4,1.3) verstanden. Die Vorlage aber hat eine Traditionsgeschichte. Denn es fällt auf, dass in 4,4–16 andere Handlungsträger eine Rolle spielen als in 4,17–21. In 4,4–16 sind Debora und Barak die Protagonisten, Sisera der Antagonist, in 4,17–21 sind Sisera und Jaël tragend, in 4,22 ist dann abschließend wieder von Barak neben Jaël und Sisera die Rede. So zerfällt die Debora-Legende in eine Debora-Barak-Legende und in eine Jaël-Sisera-Sage mit einer beide Teile integrierenden Verbindung, in der Barak, Jaël und der tote Sisera vorkommen, Debora aber nicht mehr. Das lässt vermuten, dass in 4,17–21 der Teil einer Jaël-Sisera-Sage vorliegt, deren An­ fang weggebrochen ist246. Diese findet in 4,21 ihr natürliches Ende. Sie ist mit der Debora-Barak-Legende verbunden worden, deren natürliches Ende in 4,16fin erreicht ist. Die Gestalt Siseras wird zum neuen Kontinuum, mit ihm auch Jabin (4,7.17b). Bei der Zusammenfügung der Legenden- mit der Sagentradition wurde „Kedesch“ (4,10) zum Anlass genommen, hier schon (4,11) Heber von Kedesch einzuführen, der in 4,17 Fluchtpunkt für Sisera wird. Ein weiteres Band wird in 4,9b.c geknüpft. Die Debora-Barak-Legende kommt ohne den Ruhmverlust an eine Frau aus. Dieser bezieht sich aber auf Jaëls Triumph, ist somit Scharnier zwi­ schen zwei Traditionen. Schließlich hat der Composer der beiden Traditionen den v 22 geschaffen. Er bringt nichts Neues, fasst zusammen und unterstreicht die Überlegenheit zweier Frauen über zwei Männer, die eine eine Richterin unter einer Palme, die andere eine Gewalttäterin unter dem Zelt. Auch 4,23 (ohne „König von Kanaan“) könnte dem Composer zuzurechnen sein247, auf keinen Fall dem Endredaktor, der „Herr“ statt „Gott“ gesagt hätte. Im Folgenden findet im Wesentlichen die Jaël-Sisera-Sage Beachtung248. Auch wie bei dem Mord Ehuds an Eglon stellt sich hier die ethische Frage. Die Auf­ nahme dieser profanen Sage (Jahwe kommt bis 4,22 incl. nicht vor) in das religiöse Schriftgut Israels verschärft diese Frage. Sie muss durch die Art der Aufnahme beantwortet werden. Der weggebrochene Anfang erschwert etwas die Erstellung eines vollständi­ gen Bildes. Vorauszusetzen ist freilich eine israelitische Stammessage. In ihr sind König Jabin von Hazor und sein Feldhauptmann Sisera die Antagonisten. Dass der Protagonist nicht weit entfernt von Hazor lagern kann, ist zu vermuten. In 245 Die Konzentration auf die Nordstämme verstärkt sich in der poetischen Tradition des Deboraliedes. 246 W. Groß, a. a. O., S. 262. 247 Vgl. ähnlich auch Ri 3,30a. 248 Die Debora-Barak-Sisera-Tradition folgt den bekannten Strukturelementen der „heiligen“ Kriege. Die Hilfszusage Jahwes ist in Deboras Worte gekleidet, weil sie ja Prophetin ist. Das mo­ mentum tremendum Jahwes zugunsten Israels fehlt nicht, ebenso wenig die Totalvernichtung des Feindes mit der Schärfe des Schwertes. Darum wird auf 4,4–16 hier nicht weiter eingegangen.

Das Buch der Richter

241

der Tat können die Stämme Sebulon und Naftali dafür in Frage kommen, und ihr Held könnte Barak gewesen sein (4,10). Vor dem also wäre Sisera dann geflohen. Der Erzähler malt ein Feindbild, in dem der Besiegte schlecht aussieht: Sisera flieht zu Fuß, er findet nach anfänglicher Furcht Schutz bei einer Frau. Offen­ bar hat er auch nicht mehr viel auf dem Leib, er muss mit einer Decke zugedeckt werden. Elementare Bedürfnisse, Durst und Schlaf, müssen gestillt werden. Der Hauptmann verkriecht sich im Zelt, sei es aus Furcht oder Scham. Er macht sich selbst zum „Niemand“. „So starb er“, nicht in der Schlacht, sondern durch die Hand einer Frau. Ein solches Bild zu malen, kann man dem Sieger kaum verdenken. – Umso kritischer muss die Handlungsweise Jaëls betrachtet werden. Sie gewährt dem verfolgten Sisera Asyl. Sie folgt dabei dem Gebot der Gastfreundschaft, das im Alten Orient geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz ist. Sisera glaubt da­ her, ihrer Hilfe gewiss sein zu dürfen. Aber alles erweist sich als Täuschung. Jaël missbraucht Siseras Vertrauen auf das Gebot der Gastfreundschaft aufs Schwerste, indem sie ihn heimtückisch, weil im Tiefschlaf, umbringt. Im Grunde hat sie ihn von vornherein verachtet, ihre Verachtung hinter fast übertriebener Sorge verbor­ gen und so Sisera aufs Schmählichste betrogen. Die Sage kritisiert Jaëls Verhalten nicht negativ, weder den Bruch der Gastfreundschaft noch den heimtückischen Mord. Im Gegenteil: Jaëls Verhalten lässt Sisera umso schlechter aussehen. Wie beim Mord Ehuds an Eglon haben wir es hier ebenfalls mit profanem Sa­ genstoff zu tun, der einer anderen als der biblischen Ethik folgt. Je ehrloser der Feind zugrunde geht, umso besser für den Stamm bzw. die Stämme. Durch wen und mit welchen Motiven das geschieht, ist völlig egal. Erst die biblische Ethik bringt die Frage nach den Motiven ins Spiel (1.Sam 16,7; Jer 17,10). Hätte der Composer (deuteronomistischer Schule?) den ethischen Maßstab von 1.Sam 16,7 an die Sage angelegt, sie wäre entweder so nicht aufgenommen worden, oder Jaël hätte deutlich negative Kritik erfahren. Denn der Mensch, der sieht, was vor Augen ist, sieht den Erfolg – hier den Tod des verhassten Feindes, der Herr aber, der das Herz ansieht, sieht und richtet Gesinnung und Motive – hier eine mehrfach sich versündigende Jaël. Allein dieser Maßstab wird hier nicht angelegt. Die ethische Frage wird durch die Art der Verbindung mit der Debora-Barak-Sisera-Legende beantwortet. Zunächst erhält die profane Stam­ message genau wie die Ehud-Sage durch die Verbindung mit 4,4–16 theologische Weihen; denn alles geschieht letztlich im Auftrag des Herrn (4,6 f) und unter seinem Auge (4,14 f). Das allein aber reicht dem Composer nicht. Denn so hätte der Herr offenkundiges Unrecht sanktioniert. Die Konsequenzen für das Gottes­ bild und für die Ethik wären erheblich. Darum baut er zwei Brückenköpfe in die Debora-Barak-Sisera-Legende ein, die Jaël – wenn auch nicht entlasten, so doch in einem günstigeren Licht erscheinen lassen: 4,9b (ab „aber der Ruhm“ bis 4,9fin) und 4,11. – Der Herr, der sich Barak als Heerführer gegen Jabins Sisera auserwählt hat (4,6 f), steht auch in der entscheidenden Schlacht zu ihm (4,15); aber Barak ist von Anfang an ein Zögerer. Von Debora muss er offenbar an den Auftrag des

242

Gott und das Volk

Herrn erinnert werden (4,6 f). Das lässt ihn aber auch noch nicht zu den Waffen eilen, sondern nur, wenn Debora mitkommt. Verdient ein solcher Heerführer am Ende den Kopf seines Feindes? Der Composer sagt: Wer angesichts der Zu­ sage des Herrn noch Bedenkenträger ist und so die Zusage zu verspielen droht, der wird den Kopf des Feindes zwar erlangen, aber auf eine für ihn unrühmliche Weise (4,22), und Jaël wird so – in und trotz ihrer Heimtücke – in den Dienst des Herrn genommen. – Der zweite Brückenkopf ist die Heber-Notiz in 4,11. Hier ist zu erfahren, dass Heber mit Mose verschwägert ist, also als Israelit gilt. Nach 4,17 lebt Jabin mit Heber in Frieden. Und Jaël ist Hebers Frau. Nun zieht der Is­ raelit Barak gegen den Feind Jabin zu Felde. Sisera, mit dem Heber Frieden hat, flieht zu Jaël, die – wie entfernt auch immer – mit Israel verwandt ist. Jaël steht im Loyalitätskonflikt249 zwischen Blut und Vertrag. Dies wissend, möge der Leser Jaëls Verhalten verstehen und die gebrochene Gastfreundschaft nicht als vorsätzli­ chen Betrug ansehen. Ob dem Composer damit eine akzeptable Neuinterpretation von Jaëls Verhalten unter Einbeziehung der unerforschlichen Ratschlüsse Gottes gelungen ist, möge der Leser entscheiden. Der dtr Endredaktor benutzt die inzwischen zusammengewachsene Einheit 4,4–22(f), um aus ihr auch einen Kampf des inzwischen wieder reumütig ge­ wordenen Israel gegen seinen Unterdrücker Jabin von Hazor herauszulesen. Dass eben jener von Josua längst mit dem Schwert erschlagen war (Jos 11,10), stört den dtr Endredaktor wenig250. Für ihn ist Jabin in erster Linie der König von Kanaan, dann erst der Herrscher in Hazor (4,1.24; in 4,23 eingeschoben). Das „Königreich Kanaan“ ist eine deuteronomistische Fiktion, als solche aber auch Metapher für das schlechthin Israel von innen her Bedrohliche251. Ebenso real wie Israel be­ steht, existiert auch „Kanaan“, wenn auch auf einer anderen Realitätsebene. Israel existiert faktisch, „Kanaan“ wirklich. Das Böse kommt von innen, ergreift Macht von einem Volk, hier Israel, und ist mit allen Mitteln zu bekämpfen. Wenn Israel schreit, werden dem Herrn alle Mittel recht sein, das Böse zu vernichten und Israel Ruhe zu verschaffen. Der Zusammenhang von Theologie und Ethik (einschl. Ethnologie) ist deut­ lich. Er ist verstehbar und erklärbar. Das heißt aber noch nicht, dass er in diesem Fall zu rechtfertigen und nachzuvollziehen wäre.

249 So W. Groß, a. a. O., S. 263 und 273. 250 Einen Ausgleich zwischen Jos 11 und Ri 4 könnte darin gesucht werden, dass der Sagenund Legendenstoff von Ri 4 älter ist als das in Jos 11 Berichtete. 251 Zu „Kanaan“ als innere Bedrohung s. o. unter AT 2.8.2, hier zu Dtn 20,15–18.

Das Buch der Richter

243

2.14.3 Gideons Taten (Ri 6–8) Zu den vordeuteronomistischen Gideonsagen und -legenden gehören: die Zerstö­ rung des Baalsaltars (6,25–32), der Kampf gegen die Midianiter (6,33–7,22) und die Verfolgung der Midianiterkönige Sebach und Zalmunna (8,10–13.18–21)252. Sie sind von einem Deuteronomisten gebündelt (Dtr1) und in 8,28.33–35 (Dtr2) mit einem deutlichen Schlusspunkt versehen worden. Beachtenswert bezüglich des Themas ist lediglich die erste Episode: Auf Geheiß Jahwes zerstört Gideon den Baalsaltar seines Vaters Joasch (6,25–32). Jahwe bean­ sprucht klare Entscheidung für sich ohne Rücksicht auf Familienbindungen253. Er bringt durch den Stellvertreterkampf Sohn – Vater Gewalt in die Familie. Joasch lässt sich jedoch weder durch das aufgebrachte Volk noch durch Jahwe in einen blutigen Gewaltakt gegen seinen Sohn Gideon hineintreiben. Er löst den Konflikt intelligent und gewaltfrei: Ein Gott (hier Baal) streite für sich selbst, nicht Men­ schen für ihn! Fazit: Religiös motivierte Generationskonflikte sollten gewaltfrei gelöst werden. Dazu gehört allerdings etwas Intelligenz, die mehr vermag, als nur das Gesetz zu erfüllen. Einsatz der Intelligenz zur Friedenssicherung ist ein geis­ tiger Fortschritt gegenüber der aggressiven Intelligenz eines Ehud oder einer Jaël. In den übrigen Episoden erscheint Gideon als Cunctator. Zweimal verlangt er nach ei­ nem Zeichen des Herrn (6,36–40), obwohl er von Jahwe schon die Siegeszusage erhalten hat; um Gideons Furcht zu überwinden, stellt ihm der Herr den Diener Pura zur Seite (7,10); die Tötung der Midianiterkönige soll sein knabenhafter Sohn vornehmen, weil Gideon selbst keinen Schneid hat (8,18–21). – Der Sammler Dtr1 deutet das allerdings nicht negativ, sondern er scheint in all der Zögerlichkeit ein hohes Reflexionsniveau zu erblicken, das Gideon dann noch einmal – so stellt es Dtr1 dar – in seiner Ableh­ nung des angetragenen Königtums zeigt (8,22 f). – Das hohe ethische Reflexions- und Handlungsniveau hebt Dtr2 dann dadurch hervor, dass er Gideon das Negativbeispiel Abimelech gegenüberstellt: Hier Gideon, der von Jahwe legitimierte Regent auf Zeit, be­ rufen, selbstständig, aber nicht eigen-mächtig handelnd; dort Abimelech, Usurpator der Macht, legitimiert aus sich selbst heraus (9,2) bzw. durch das Volk (9,6), eigen-mächtig handelnd, nicht „Retter“, sondern Zerstörer des Gemeinwesens.

252 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 189. 253 Dieser Zug im Gottesbild hat sich bis ins Neue Testament erhalten (Mk 1,20 par Mt 4,22; Mk 10,28 ff parr; Mt 8,21 f par Lk 9,59 f; Mt 10,34–36 par Lk 12,51–53).

244

Gott und das Volk

2.14.4 Das Abimelech-Bild im Wandel der Geschichte Israels (Ri 9) Liest man Ri 9 als synchronisches Erzählgefüge, ergibt sich das Bild eines blutigen Tyrannen Abimelech, der „unredlich“ zur Macht kommt und in seinem Macht­ wahn zuerst sein eigenes Volk und dann sich selbst zerstört. Allein die synchroni­ sche Leseweise gerät spätestens in 9,42–45 an ihre Grenze; denn welchen Grund gibt es, scheinbar friedliche Landarbeiter zu überfallen, nachdem Abimelech den von Gaal geführten Sichemiten bereits eine empfindliche Niederlage zugefügt hatte? Näheres Hinsehen lässt innerhalb von 9,25–45 zwei verschiedene Traditionen erkennen, die die Niederwerfung der aufrührerischen Sichemiten erzählen: eine Tradition, die lediglich von aufständischen Sichemiten als Gegnern weiß, und eine Überlieferung, die Gaal als deren Anführer und persönlichen Gegner Abimelechs kennt. Beide Traditionen sind eng miteinander verwoben. – Zudem ist dieses Textgeflecht einschließlich weiterer Sagen (9,46–49.50–54) ziemlich gleichlautend gerahmt durch 9,22–24 und 9,55–57a. Der Rahmen weitet das, was um Sichem (und Tebez) geschah, auf „Israel“ aus254 und stellt das Ergehen Abimelechs und der Sichemiten in einen Untat-Straffolge-Zusammenhang. Dadurch, aber auch durch den stark erweiterten Vorspann 9,1–21, gerät der Law-and-Order-Kämpfer Abimelech in das Licht eines verabscheuungswürdigen Tyrannen. Die Antwort auf die Frage, wie eine Geschichtsperspektive sich derart ändern kann, liegt wohl darin, dass Abimelech – sicher schon bei seiner „Machtübernahme“ umstritten (9,28) – sich gegen das eigene Volk gewandt hat. Das Verhältnis von Kern und Rahmen weist darauf hin, dass wir es in Ri 9,25–54 mit der alten Abimelech-Sage zu tun haben. Die Tradition, die ohne Gaal auskommt, berichtet: Abimelech hört von den hinterhältigen Raubüberfällen der Sichemiten (9,25). Diese fühlen sich stark, gehen auf dem Feld ihrer täglichen Arbeit nach und fluchen dem Abimelech (9,27). Der Stadthauptmann Sebul, ein Getreuer Abimelechs, rät ihm, seinerseits bei Nacht einen Hinterhalt zu legen, und zwar dort, wo die Sichemiten arbeiten: auf dem Feld (9,30*.32). Abimelech tut das mit vier Heerhaufen – einer liegt im Hinterhalt, drei hat er bei sich (9,43a). In dieser Konstellation erschlägt er alle Sichemiten, die sich aus der Stadt zur Feldarbeit begeben (9,43b)255. – Die GaalTradition erzählt: Gaal wiegelt die Sichemiten gegen Abimelech auf (9,26.28.29). 254 Das ist auf jeden Fall eine nationale Größe, egal ob Nordisrael oder Gesamtisrael gemeint ist. 255 Offenbar besteht das Bedürfnis, die Aufgabe der Heerhaufen zu spezifizieren. So entsteht nachträglich v 44, der auch unterscheidet zwischen denen, die gerade aus der Stadt kommen, und denen, die schon auf dem Feld sind. Leider hat sich der Ergänzer bei den Heerhaufen verzählt. Ein weiterer Ergänzer zieht in v 45 einen alle Erklärungen und Widersprüche übergehenden Schlussstrich.

Das Buch der Richter

245

Grund: Abimelech ist ein Dahergekommener, der sich von Aruma aus (9,41) wie ein Besatzer gebärdet und Sebul in Sichem eingesetzt hat. Der wahre „Vater von Sichem“ sei Hamor (9,28). Sebul (in Sichem) setzt Abimelech (in Aruma) von den Umtrieben in Kenntnis (9,30 f) und rät ihm, (von Aruma aus) die Stadt (Sichem) zu überfallen (9,33a). Er rechnet offenbar mit einem Aufbruch Gaals gegen Abi­ melech und ermutigt diesen, ihm entgegenzutreten (9,33b). So kommt es (9,35 ohne „aus dem Hinterhalt“). Gaals Niederlage ist besiegelt, bevor er überhaupt zu kämpfen anfängt: Er hat sich in Sebul den falschen Verbündeten ausgeguckt, er ist ein verängstigter Zögerer (9,36.37) und wird von dem ihn verachtenden Sebul als Maulheld entlarvt (9,38). Sebul jagt ihn in den Kampf gegen Abimelech, den dieser klar gewinnt, den Rest besorgt Sebul. Der Kompilator hat die beiden Traditionen kunstvoll miteinander verwoben. Eine kaum mehr sichtbare Naht liegt in 9,30 (Sebul muss nach der ersten Tra­ dition aktiv geworden sein, auch ohne „die Worte Gaals“ gehört zu haben) und in 9,35 (Der „Hinterhalt“ spielt in der Gaal-Tradition keine Rolle, im Gegenteil: offener Kampf! Der „Hinterhalt“ ist aus 9,34 übernommen). Beide Traditionen sind Heldensagen ohne legendarischen, d. h. religiösen, Charakter. Held ist in beiden Fällen Abimelech, der unter den unbotmäßigen Sichemiten wieder Recht und Ordnung herstellt. Aller Ruhm kommt ihm zu, Sebul spielt in der ersten Tra­ dition nur eine untergeordnete Rolle. Die zweite Tradition lässt neben Abimelech weitere Akteure auftreten: Gaal, den Antagonisten, der den Herrschaftsanspruch Hamors vertritt, aber mit der Aufwiegelung des Volkes offenbar auch sein eigenes Süppchen kocht, und Sebul, der Held im Hintergrund, der rät, verhöhnt, entlarvt. Befragt man die beiden Traditionen nach dem Motiv des Aufruhrs, so mag es bei der ersten Tradition vorwiegend um wirtschaftliche Aspekte gehen: Eine Wirtschaft funktioniert nur, wenn jeder seiner Arbeit nachgeht (Abimelech); aber wenn das Auskommen nicht reicht, muss man es sich beschaffen (die Herren von Sichem), was politische Verunsicherung und wirtschaftliche Schädigung nach sich zieht. Bei der zweiten Tradition spielen vorwiegend machtpolitische Motive eine Rolle. Das Volk wird aufgehetzt durch Gaal, der den Machtanspruch Hamors mit politischer Propaganda und Gewalt durchsetzen will. Auf der anderen Seite festigen Abimelech und Sebul ihre Macht durch List und Entschlossenheit und können jeweils in ihrer Residenz bleiben. Die Verbindung beider Traditionen vermittelt das Bild eines heldenhaften und erfolgreichen Ringens gegen Machtanmaßung und Anarchie (Abimelech), die aus wirtschaftlicher und politischer Destabilisierung erwachsen (Gaal und die Sichemiten). Eine weitere „Heldentat“ schließt sich an, die Abimelech ganz allein plant und mithilfe seiner Mannen vollbringt: das Niederbrennen der Burg von Sichem mit ca. 1000 Toten (darunter auch Frauen!). Als er es mit der Burg von Tebez ge­ nauso machen will (wohin sich auch Frauen geflüchtet hatten), wird er von einer Frau mit einem Mühlstein tödlich getroffen, lässt sich aber „eilends“ von seinem

246

Gott und das Volk

Waffenträger den „Ehrenstoß“ geben. So fällt der tapfere, listige und gefährliche Krieger, Schande vermeidend, im Kampf. Ob es nicht bereits in der Sage einen ethischen Zug gibt, der über Tapferkeit und Ehre hinausgeht, darf gefragt wer­ den. Denn wer Frauen nicht verschont, muss damit rechnen, dass ihm dies eines Tages auf den Kopf kommt. Helden sind – besonders im alten Israel – auch nur Menschen. Im Blick auf den Rahmen (9,22–24 und 9,55–57a) entstehen folgende Fragen: Ist der Rahmen einheitlich entstanden oder aus zeitlich auseinanderliegenden Teilstücken zusammengesetzt? Ist der Ersteller des Rahmens – hier im engeren Sinn – zugleich auch der Rahmenerzähler im weiteren Sinn und damit der Redak­ tor, der die redigierte Abimelech-Erzählung zwischen Gideon und Jefta eingebaut hat? Welches theologische bzw. ethische Vorzeichen gibt der Rahmen im engeren Sinn der Abimelech-Sage? Vergleicht man die beiden Rahmenteile im engeren Sinn miteinander, ergeben sich bei struktureller Gleichheit inhaltliche Unterschiede. Die Eingangs-Rahmen­ verse wissen von Abimelechs Herrschaft (im Sinne eines obersten Regiments, nicht im Sinne der Königsherrschaft!)256, von der Treulosigkeit der Sichemiten, die vorherige Treue voraussetzt, von Abimelechs Mord an den siebzig Brüdern und von den Sichemiten als Helfershelfern, schließlich von der Strafe an Abime­ lech und an ihnen als Tatfolge257. – Die Schluss-Rahmenverse wissen von dem Verloren-Geben der Sache Abimelechs durch die Israeliten258, von Abimelechs Mord an den siebzig Brüdern, von den Sichemiten als Helfershelfern, schließ­ lich von Gottes Strafe an Abimelech und den Sichemiten als Tatfolge259. – Die bedingte Symmetrie der beiden Rahmenteile lässt auf einen einzigen Bearbeiter schließen. Er hat von der gewaltsamen und blutigen Machtübernahme Abime­ lechs gewusst und dies im weiteren Rahmen 9,1–5a.6 auserzählt. Dann hat er die von ihm redigierte Abimelech-Geschichte – ohne die Jotam-Fabel – wegen der Wechselwirkung mit den Gideonlegenden an dieser Stelle in das bereits fertige deuteronomistische Richterbuch260 eingefügt. Die Jotam-Fabel hat er wohl nicht gekannt. Der Hinweis auf sie fehlt in 9,22–24 und wirkt in 9,5b und 9,57b wie ein Nachtrag261. Dass die Jotam-Fabel erst spä­ 256 ‫( וַ יָּ ַשׂר‬von ‫ )שׂ ַרר‬ ָ / wajjāŝar (von ŝārar) heißt: „Er war Oberster (‫ ַ שׂר‬/ ŝar)“. Königsherrschaft wäre mit der Wurzel ‫ מלך‬/ mlk verbunden (Vgl. dazu W. Groß, a. a. O., S. 489 mit Belegen). 257 Das ist Gottes Strafe wie in 9,56, weil Gott seit 9,23 der Handelnde ist. 258 Das Verloren-Geben einer Sache durch Heimgehen wird in Lk 24,13–24 eindrucksvoll auserzählt. 259 Das Wahrwerden des Jotam-Fluchs (9,57b) ist vom Ergänzer der Jotam-Fabel hinzugefügt. 260 Er ist nicht „der Deuteronomist“. Es fehlt die typisch deuteronomistische Geschichtstheo­ logie (W. Groß, a. a. O., S. 485). 261 9,5b ist vom Ergänzer der Jotam-Fabel eingefügt. Das erklärt, dass die Zahl 70 in 9,5a erhalten bleibt und nicht auf 69 festgelegt wird (gegen die Erklärung von W. Groß, a. a. O., S. 486, wonach die Zählung „Alle außer einem“ eine literarische Möglichkeit des AT sei). 9,18

Das Buch der Richter

247

ter eingefügt wurde, ist vorstellbar. Der Text liest sich auch ohne die Jotam-Fabel flüssig: v 6 → v 22. Der Ersteller des Rahmens nimmt den bekannten Bürgerkrieg Abimelechs gegen aufständische Sichemiten und gegen den Antagonisten Gaal zum Anlass, diesen geschichtstheologisch zu deuten als Folge des Brüdermords Abimelechs, also als Folge von dessen Blutschuld behafteter Machtergreifung, so dass „der Fre­ vel an den siebzig Söhnen Jerubbaals und ihr Blut käme auf Abimelech“ (9,24a; vgl. 9,56). Dass diese Bluttat wirklich auf Abimelech zurückgefallen ist, entnimmt der Ersteller des Rahmens aus dem wenig rühmlichen Ende Abimelechs. Aber auch die Männer von Sichem, darunter auch Frauen, kommen in den von Abimelech gelegten Feuern um. Auch sie fallen als Helfershelfer Abimelechs unter das Verdikt des Frevels und der Blutschuld (9,24b; vgl. 9,57a). Der Schlussteil des Rahmens sieht hier den vergeltenden Gott am Werk, der als Macht hinter der schicksalwir­ kenden Tatsphäre steht und ihren Lauf bestimmt und der letztlich dadurch der Gerechtigkeit Genüge verschafft. Im Anfangsteil des Rahmens im engeren Sinn nimmt Gott eine aktivere Rolle ein. Zumindest wird seine hinter der schicksal­ wirkenden Tatsphäre stehende Macht als Kraft bezeichnet, von der bewusst ein „böser Geist“ ausgeht. So werden der „Geist“ Abimelechs und der „Geist“ der Männer von Sichem (einschließlich des „Geistes“ Gaals) aufeinander gehetzt. Was wie das Treiben geistverwirrter Machthaber, Attentäter und Terroristen aus­ sieht – was schon Strafe genug wäre –, ist geschichtstheologisch betrachtet Gottes Geistwirken, der – nun den bösen Geist sendend262 – der Gerechtigkeit Genüge tut. Der von Gott ausgehende „böse Geist“ ist kein Rächer, sondern Mittel zum Zweck der Wiederherstellung der Gerechtigkeit, und sei es durch den Tod derer, die den Frevel verkörpern. Im Neuen Testament wird Gott sein anderes Gesicht zeigen. Das Blut Jesu wird fließen auf den lautstarken Wunsch des Volkes hin. Pilatus deutet an: Wer Jesu Blut vergießt, wird schuldig werden: „Ich bin unschuldig an seinem Blut; seht ihr zu!“ (Mt 27,24). Das Volk hat verstanden, aber in seiner Verblendung nimmt es die für unmöglich gehaltene Folge auf sich: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,25). Gott aber lässt es geschehen – nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Dieses Gesicht Gottes lässt uns Matthäus gewahren. Denn die „leichtfertigen“ Worte des Volkes sind die sich erfüllende Prophezeiung, die in Jesu Wort steckt: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,27).

Ist der Rahmen im engeren Sinn eher theologisch geprägt, so findet sich im Rahmen im weiteren Sinn eine ethische Beurteilung des Geschehens, teils of­ fen, teils zwischen den Zeilen. Abimelech erscheint in negativem Licht, das sich

übernimmt den Fehler. 9,2 und 9,5a sind dann kein Widerspruch, wenn die 70 Söhne die des Jerubbaal und seiner Frau sind, während Abimelech ja Sohn einer Magd ist. 262 Vgl. sonst den „Schrecken“ (z. B. 1.Sam 14,15).

248

Gott und das Volk

von Gedankenmanipulation263 über Selbstlegitimation durch Abstammung (9,2), fragwürdige Geldannahme und Anwerbung bezahlter Killer (9,4) bis zur ver­ werflichen Mordtat an seinen Brüdern aus niederen Machtgelüsten (9,5) steigert. Ebenso negativ erscheinen die Herren von Sichem als Helfer und Mittäter. Sie sind die Königsmacher264, nicht Jahwe. Das kann der Rahmenerzähler nicht gel­ ten lassen, für ihn bleibt der Usurpator Abimelech allenfalls „Oberst“ von Sichem (9,22)265. Aber selbst das ist in seinen Augen nicht legitim; denn der Rahmen­ erzähler kann sich auf die Sage berufen, derzufolge Abimelech ja – ein Gottes­ urteil (9,56)? – kläglich gescheitert und zugrunde gegangen ist. – Daraus folgt: Herrschaft legitimiert sich nicht durch Blutsbande. Geld zu haben ist schon gar kein Grund, Herrschaft zu beanspruchen. Herrschaft kann und darf sich nicht auf Gewalt gründen, weder auf Terrorismus noch auf Ausschaltung möglicher An­ wärter durch Mord. Wer so zur Herrschaft kommen will, der muss sich von einem verführten und betrogenen Volk zum Herrscher machen lassen und hat am Ende mit Jahwes Vergeltung zu rechnen. Betrachtet man die Erzählung insgesamt (ohne die Jotam-Fabel), so wird man darin Grundzüge einer theologischen Ethik erkennen, die sich mit dem Phäno­ men der Tyrannis auseinandersetzt. Tyrannis entsteht durch Machtusurpation. Der Usurpator kann seine Macht nicht auf Jahwe gründen. Tyrannis richtet sich gegen das Volk, zerstört dieses und letztlich sich selbst. Die Selbstzerstörung ist geschichtstheologisch betrachtet gottgewirkt. Im Sinne der negativen Auswirkungen der Tyrannis werden alte Traditionen umgedeutet. Raub, Mord und Totschlag, gegen die der Law-and-Order-Mann ­Abimelech einst vorgegangen war, erscheinen jetzt als gesellschaftliche und mo­ ralische Auflösungserscheinungen aufgrund der Tyrannis. Auch der Antagonist Gaal erscheint in diesem Licht. Der Usurpator geht dagegen vor mit der „Hin­ richtung“ des eigenen Volkes und mit der Zerstörung der eigenen Städte. Ein solch unseliges Wirken liegt im Wesen der Tyrannis (9,42–45). So entzieht sich der Tyrann selbst den Boden seiner Macht. Sehr spät, vielleicht erst nach dem Einbau der Abimelechdarstellung (ohne Jotam-Fabel) in die Sammlung der Richtergeschichten, wurde die Fabel von den Bäumen, die nach einem König verlangten (9,8–15), samt Kommentar (9,16–20)

263 Abimelech bedient sich eines propagandistischen Tricks, um die Gedanken des Volkes auf einen Irrweg zu locken und es über seine wahren Absichten zu täuschen. Die Frage müsste – offen ausgesprochen – lauten: „Was ist für euch besser: dass Jahwe über euch herrscht oder ein Mann von eurem Fleisch und Blut?“ Bei dieser Alternative hätte die Antwort religiös ausfallen müssen. Darum stellt Abimelech die Männer von Sichem vor eine Scheinalternative: Oligarchie oder Monarchie. Bei der Frage „70 oder einer“ liegt die Antwort auf der Hand. Die Manipulation der Gedanken ist geglückt. 264 Wurzel ‫ מלך‬/ mlk für Königsherrschaft. 265 Vgl. Anm. 256.

Das Buch der Richter

249

und Rahmen (9,7.21), kurz: die Jotam-Fabel (9,7–21), eingefügt. Die Erfüllungs­ notiz 9,57b macht sie zu einem konstitutiven Teil der Gesamtdarstellung. Die Fabel von den Bäumen, die nach einem König verlangten, ist offensicht­ lich bekannt gewesen und von einem postdeuteronomistischen Ergänzer hier eingebaut worden. Die negative Einstellung zum Königtum allein kann noch keinen Hinweis auf ihr Alter geben; denn es könnte eine königskritische Haltung in der Übergangszeit zwischen Amphyktionie und Königtum zum Ausdruck kommen wie auch eine generelle Schuld­ zuweisung an das Königtum wegen der ins Exil führenden Politik. Ich neige zur Früh­ datierung der reinen Fabel (ohne Kommentar und Rahmen), weil ich glaube, dass in der Frühzeit unbefangener von „Göttern“ gesprochen werden konnte (vgl. 9,9 und 13).

Die Fabel ist zunächst zweigliedrig. Im ersten Teil lehnen drei Bäume nachein­ ander die Königsherrschaft über die anderen Bäume ab (Ölbaum, Feigenbaum, Weinstock), im zweiten Teil nimmt der Dornbusch die Wahl unter bestimmten Bedingungen an. Die angedrohte Folge bei Nichterfüllen der Bedingung gliedert den zweiten Teil noch einmal in a und b, so dass man im Endeffekt auch von drei Teilen sprechen kann. Teil 1 zeigt die Sinnlosigkeit des Königtums. Ein König – so argumentieren die Bäume –, der über allem „schwebt“, kann dem Volk nichts geben. Er ist nutzlos. Das Gemeinwesen – so ist zu erkennen – funktioniert auch ohne König sehr gut. Denn jedes Mitglied hat darin eine – auch von den Göttern anerkannte – soziale Funktion. – Teil 2 zeigt die Dummheit derer, die nach einem König verlangen; denn sie werden eine soziale Niete bekommen (Dornbusch), die nichts geben kann außer Schatten – von dem allein man aber nicht leben kann – und die die Untertanen zwingt, zu ihr zu kommen, d. h. das aufzugeben, woraus sie leben und schöpfen für sich und für andere. – Teil 3 (9,15) zeigt die negativen Folgen des Königtums: Einschüchterung wird von ihm ausgehen, Unfreiheit und Gewalt, Schreckensherrschaft und Tyrannei. Kurz: Die Auffassung des frühen Fabelerzählers ist: Das Königtum ist sozial­ ethisch von geringer Qualität, ja sogar schädlich, weil es Not, Unfreiheit und Ge­ walt birgt. Es ist daher abzulehnen. Was in der alten Fabel allgemein gilt – einen König zu berufen ist sinnlos, dumm und gefährlich –, wird durch den postdeuteronomistischen Ergänzer der Fabel gegenüber den Sichemiten ins individuell Moralische gewendet, indem er Jotam die Gewissensfrage nach Recht / Wahrhaftigkeit und Redlichkeit in den Mund legt266. Es geht also in der Jotam-Fabel nicht primär um die Machtusurpa­ tion Abimelechs, sondern um die Unterstützung durch die Sichemiten dabei. Sie haben sich ins Unrecht gesetzt, indem sie Jerubbaal (und sein Haus) verraten ha­

266 W. Groß, a. a. O., S. 509.

250

Gott und das Volk

ben (9,16); er hatte damals das Jahwekönigtum gegen andere Tendenzen verteidigt (8,22 f). Sie sind mitschuldig an der blutigen Ausrottung des Hauses Jerubbaals (9,18a). Sie haben die Freiheit verspielt, die Jerubbaal ihnen erkämpft hatte, und dienen einem machtgierigen Scharlatan, Usurpator und Tyrannen. Redlich und fromm ist es schon gar nicht, sich jemanden zum König zu machen aufgrund seiner – fragwürdigen (!) – Abstammung oder wegen gleichen „Blutes“ (9,18b). Jotams Frage nach Recht / Wahrheit (‫ ֲ א ֶמת‬/ ªmät) und Redlichkeit / Frömmigkeit (‫ ָ ת ִמים‬/ tāmīm) ist sowohl eine Frage nach der Beziehung zu Jerubbaal als auch eine Frage nach dem Verhältnis zu Gott. Beides ist bei den Sichemiten gestört aufgrund ihres Unterstützer-Verhaltens und somit letztendlich aufgrund ihrer Mitschuld an der blutigen Machtergreifung. Es scheint sogar möglich, dass der Ergänzer dem übriggebliebenen Sohn Jerubbaals den Namen Jotam gegeben hat; denn der Name heißt: „Der Herr ist redlich“ (‫ יְ הוָֹ ה ָת ִמים‬/ JHWH tāmīm)267. Wenn dem so ist, wäre das noch einmal ein deutlicher Hinweis darauf, dass alle, die sich – wodurch auch immer – als Königsmacher betätigt haben, unredlich gehan­ delt haben. – Die Herren von Sichem sollen selbst über ihr Tun urteilen (9,19 f). Wie auch immer, sie werden ihre Verurteilung nicht aufhalten, im Gegenteil: Ihre Blut-Mitschuld steht unter dem Fluch, der sie ebenso wie Abimelech treffen wird (9,45.49.53 f). Im Tun-Ergehen-Zusammenhang wird der Gerechtigkeit Genüge getan werden. Die Nachzeichnung des Werdeprozesses hat uns zu der Abimelech-Geschichte geführt, wie sie uns heute im Richterbuch entgegentritt. Hier hat sie überwiegend eine ethische Intention: Es geht um die Illegitimität der Tyrannenherrschaft, die in ihren Grundlagen und Folgen durch nichts zu rechtfertigende, kriminelle Ge­ walt produziert. Ein machtbesessener, größenwahnsinniger Tyrann – das will die Geschichte als überlie­ ferte und zu überliefernde Tradition sagen – ist kein Einzelfall, sondern der pervertierte Machtmensch. Ein solcher kann nicht ehrenvoll sterben. Das Fluchwort des Jotam ent­ faltet all seine Kraft: Abimelech geht unter durch den bösen Geist, den er rief. Er geht ehrlos zugrunde durch den Mühlstein, den eine Frau nach ihm wirft. Er fällt nicht etwa im Kampf, sondern durch ein mehr oder weniger ungeplantes Attentat. Im Sinne des Rahmenerzählers ist hier Gottes Hand im Spiel. Gott verbirgt sich hinter dem „schwa­ chen Geschlecht“268 und handelt durch es, um einen sich selbst für stark haltenden Mann zu schlagen. Zumindest wird die vermeintliche Stärke seiner Männlichkeit, die ihn glauben lässt, ein Held zu sein, von einem Weibe entlarvt als die Erbärmlichkeit eines gescheiterten Macht-Usurpators. Noch im Sterben will er der Realität nicht begegnen und strickt an seinem Heldenepos. Von einem Soldaten lässt er sich den Todesstoß ver­ setzen, damit es nicht heißt: „Eine Frau hat ihn erschlagen“ (9,54), sondern vielleicht 267 W. Groß, a. a. O., S. 510. 268 In den Richtergeschichten besteht das so genannte schwache Geschlecht durchweg aus „starken Frauen“, wenn man an Debora, Jaël und Delila denkt. Stärke zeigt Jeftas Tochter im Gehorsam bis in den Tod.

Das Buch der Richter

251

„gefallen für Sichem“. Aber diese Rechnung wird nicht aufgehen. Fast klingt sogar für die Soldaten um ihn herum so etwas wie Befreiung hindurch, wenn es heißt: „Als aber die Israeliten sahen, dass Abimelech tot war, ging ein jeder heim“ (9,55).

Es geht aber auch um das Recht und die Pflicht zum Widerstand. An drei Bei­ spielen (Jotam, Gaal, namenlose Frau) wird durchgespielt, welche Formen des Widerstands geeignet sind, die Tyrannis zu überwinden. Dabei spielt auch die moralische Legitimität und die praktische Effektivität eine Rolle. Jotam setzt bei seinem Widerstand auf die Kraft seiner Worte. Er kämpft mit geistigen Waffen. Der gewaltsamen und unredlichen Machtusurpation seines Bruders setzt er Volksaufklärung und das Gesetz der Redlichkeit entgegen. Außer der aus der Fabel hervorgehenden Entlarvung seines Bruders als Tyrann wirft er denen, die ihn zum Alleinherrscher, zum König ohne Gottes Gnaden, gemacht haben, Unaufrichtigkeit vor – sie verfolgten im Grunde eigene Machtinteressen unter Benutzung Abimelechs; Undankbarkeit – gegen Jerubbaal / Gideon, der auch ihr Retter war, aber der Verlockung der Macht aus Menschenhand widerstanden hat; Mordgesinnung – ihnen gibt Jotam an der Ermordung der Siebzig die eigentli­ che Schuld; und schließlich entwürdigendes Verhalten – den Sohn von Jerubbaals „Magd“ (Nebenfrau) haben sie sich zum König erkoren. – Über Abimelech und den Männern von Sichem spricht er den Fluch aus, nach biblischem Verständnis ein Wort, das mit Sicherheit seine Wirkung entfalten wird. Die Erzählung weiß – und zeigt es an der Gestalt Jotams: Zum Widerstand gehört es, das Unrecht beim Namen zu nennen, den Mitschuldigen und Anstiftern einen Spiegel vorzuhalten und schließlich etwas Wirksames zu tun, und sei es auch („nur“) durch die Kraft des Wortes. Dass der Widerständler sich danach durch Flucht (oder andere Möglichkeiten) in Sicherheit bringt, ist nicht nur menschlich verständlich, sondern auch strategisch wichtig, um nicht dem Tyrannen durch die Selbstaufopferung des mutigen Gegners einen Triumph in die Hand zu geben. Am Schluss zeigt das Fluchwort des Jotam tatsächlich seine Wirkung. Es wirkt nicht magisch, sondern weil sich Gott eben­ falls zu diesem Wort versteht und es sich durch den Mühlsteinwurf der Müllerin entfalten lässt. Der Widerstand gelingt mit Gottes Hilfe, nach Gottes Willen und letztlich so durch ihn. Damit sagt die Erzählung: Widerstand gegen den Tyrannen ist geboten. Er ist durchzuführen auf der Grundlage der Ehrlichkeit und Wahrhaf­ tigkeit mit dem Ziel der Aufdeckung und Verurteilung der bösen Machenschaften. Endziel soll die Vernichtung der Tyrannis sein. Dem Widerständler steht dazu die Kraft des Wortes zu Gebote. Ob er diese oder vielleicht auch eine andere Kraft be­ nutzt, gelingen kann die Widerstandsaktion nur von Gott her. Wenn sie in lauteren Motiven geschieht, darf sie auf göttliche Unterstützung rechnen. Ein weiterer Fall von Widerstand wird diskutiert in Gestalt der Person Gaals. Dies ist aber der Widerstand eines Gegentyrannen. Auch er gebärdet sich zunächst als Populist (9,28). Sein Ziel ist aber ein sehr eigennütziges. Auch er will das Volk nur „unter seiner Hand“ haben und Abimelech vertreiben (9,29). Sein „Wider­

252

Gott und das Volk

stand“ wird von der herrschenden Gegenseite als „Volksverhetzung“ und Aufruhr (9,31) gesehen. Wenn zwei Tyrannen aufeinandertreffen, kann nur Bürgerkrieg die Folge sein, was auch droht. Gaal aber wird nicht als ernstzunehmender Wi­ derständler geschildert, sondern als Maulheld. Ein solcher Widerstand hat keine moralische Grundlage und von daher auch keine Legitimation. Er ist hohl und leer und nur von eigenen Machtinteressen getragen, nicht von der Idee, Wahrheit und Redlichkeit zur Geltung zu bringen und damit der Herrschaft Gottes Raum zu geben. Ein solcher Widerstand muss – zu Recht – zusammenbrechen (9,39–41) – was freilich dem Tyrannen noch lange kein Recht gibt, er bleibt im Unrecht. Das Wort Gaals, des Gegentyrannen, ist hohles, kraftloses Wort: Gott will nicht, dass das Volk unter seine Hand kommt (9,29). Darum ist sein Wunsch auch nichts als eine Seifenblase, die platzen muss. Bleibt noch die Gestalt der namenlosen Frau. Es lässt sich der Gedanke nicht verdrängen, dass ihr Mühlsteinwurf gegen den Schädel Abimelechs ein Wurf von Gottes Hand war. Der Verfasser des Richterbuches, der die Abimelech-Erzählung hier deutend eingearbeitet hat, hat zumindest so gedacht, und der Ergänzer der Jotam-Fabel ebenso; denn der Fluch Jotams wird so wahr. Trotz des erzählerischen Durchspielens eines Weges zur Tyrannenherrschaft, verschie­ dener (geeigneter oder ungeeigneter) Widerstandsformen und des Endes der Tyrannis lässt sich daraus keine Kasuistik ableiten, unter welchen Umständen mit welchen Mo­ tiven Widerstand, der bis zum Äußersten geht, erlaubt und geboten sei. So, wie diese Geschichte keine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige geschichtliche Situation voll widerspiegelt oder abdeckt, wird auch eine künftige Konstellation sich anders gestalten. Sie kann nicht vorweggenommen werden. So bleibt diese Erzählung ein Ansporn, sich immer wieder je neu mit der Frage des Widerstands bis hin zum Tyrannenmord ethisch auseinanderzusetzen. Die Frage nach Gott ist dabei nicht ausgeklammert, sowohl als Frage, was ich tun muss, als auch, was ich getrost Gott überlassen kann und sollte.

2.14.5 Die Jefta-Legende (Ri 11) Die Jefta-Legende enthält im Blick auf die Gewaltproblematik zwei Themen: den Konflikt mit den Ammonitern und die Dahingabe der Tochter. Letzteres wurde bereits im Rahmen von „Gott und Mensch“ behandelt und muss hier nicht wie­ derholt werden (s. o. unter AT 1.7.2 am Ende des Kapitels). Ersteres gehört zur Thematik „Gott und das Volk“, wenngleich es hier unter dem Aspekt der Gewalt­ vermeidung behandelt wird, die von zwei Herrschern angestrebt wird. Dies soll hier unter ethischem Gesichtspunkt beleuchtet werden. Jefta hat sich vom Volk der Gileaditer bzw. deren Ältesten angesichts der am­ monitischen Gefahr zum „Obersten“ einsetzen lassen (11,9 f). Eine charismatische Einsetzung durch den Herrn erfolgt erst später (11,29). Ob das im Spannungs­ bogen der Erzählung begründet ist (Geistbegabung erst, wenn die Gespräche

Das Buch der Richter

253

gescheitert sind und Krieg bevorsteht) oder ob eine profane Sage wieder theolo­ gische Weihen erhält (vielleicht durch den Zusatz von 11,11b und durch 11,29a), ist schwer zu entscheiden. Ich tendiere zu Letzterem. Nach der Einsetzung Jeftas zum Obersten gibt es einen roten Faden mit kon­ sequenter Logik. An 11,11 schließt 11,29 an: an die Einsetzung der Kriegszug. Dass dieser erfolgreich beendet wird, sagt 11,32–34 mit den bekannten Formu­ lierungen. 12,7 nennt Regierungszeit, Tod und Begräbnis Jeftas. Das und nur das hätte als Information gereicht. Die Jefta-Geschichte will aber nicht infor­ mieren, sondern eine Botschaft zu Gehör bringen. Dazu taugt keine Abstrak­ tion, sondern nur eine Auffüllung der bloßen Struktur mit Sinngehalt. Der ist 11,12–28 zu finden. Darum betrachte ich den Gesprächsverlauf zwischen Jefta und dem König der Ammoniter als konstitutiven ursprünglichen Bestandteil der Jefta-Sage269. Das Besondere ist die Gesprächsaufnahme mit dem Gegner vor dem Kampf. Jefta gibt dem Ammoniterkönig Gelegenheit zur Klärung, Erklärung, Aufklärung der Situation (11,12). Dieser nimmt das Gesprächsangebot an und schlägt Jefta „gutwillige“ Rückgabe des von Israel „eingenommenen“ Landes vor (11,13). Jefta aber kann und will darauf nicht eingehen, weil er den Ammonitern nichts weg­ genommen hat, was er ihnen wiedergeben könnte (11,14 f). Dazu bietet er die Geschichte auf: Israel habe nie Land geraubt, weder den Edomitern noch den Moabitern, sondern habe sich bei der Besiedlung des Gelobten Landes den Gege­ benheiten gefügt (11,16–18). Einzig den Ammoniterkönig Sihon habe sich Israel gezwungen gesehen zu besiegen und sein Land einzunehmen, weil er, statt Israel durchziehen zu lassen, sich ihm bewaffnet entgegengestellt habe. Das sei nun das von Ammon zu Unrecht beanspruchte Land „vom Arnon bis an den Jabbok und von der Wüste bis an den Jordan“ (11,19–23). – Das Gespräch macht bis hierhin deutlich, dass Darstellung von Geschichte immer perspektivisch ist. Sicher ist hier die Perspektive Israels tonangebend. Der Ammoniterkönig kann nicht da­ gegen argumentieren. So will es zumindest die Erzählung. – Jefta komplettiert das historische Argument noch durch den Hinweis, dass Israel seit Jahrhunderten stets friedlich unter der sichemitischen Bevölkerung gewohnt habe; es gebe also keinen Grund, nun „so Böses“ an Israel zu tun (11,25–27a). – Sicher darf man hierin keine Bestätigung der Theorie sehen, dass die Landnahme sehr friedlich abgelaufen sei. Der propagandistische Zweck der Rede Jeftas ist klar: Wir sind gut, du bist böse, wenn du mit uns kämpfst. Dass dieses Gespräch so breit angelegt ist, hat seinen Grund in der zu vermit­ telnden Botschaft: Vor einer gewaltsamen Problembearbeitung ist eine gewaltfreie Lösung auszuloten und, wenn sie trägt, vorzuziehen. Eine solche endet sinnvoller­ weise in einem Kompromiss. Offenbar lässt sich hier kein Kompromiss im Sinne 269 Die Dahingabe der Tochter Jeftas scheint mir später hinzugekommen und mit dem Am­ moniterfeldzug (11,28 f.32 f) verzahnt worden zu sein zu sein (vgl. auch W. Groß, a. a. O., S. 217).

254

Gott und das Volk

von Gen 13,5–9 finden. Dennoch versucht Jefta einen Kompromiss, zum einen im Sinne von Gen 13,5–9 (vgl. 11,24), zum anderen, indem er die Entscheidung zwi­ schen den Ansprüchen Israels und der Ammoniter in die Hand des „Herrn, der da Richter ist“, legt (11,27). Ein Gottesurteil also ist gefragt. Wie es aussehen soll, ist in 11,27 nicht ausgeführt. Stattdessen wird, weil der Ammoniterkönig Jeftas Bemühungen ignoriert, der Krieg zum Gottesurteil. – Gewaltfreie Konfliktlösung könnte, wenn es um Land geht, gelingen, wenn man aufeinander hören würde und der Gegner Israels Argumente akzeptieren könnte. Das ist die Botschaft. Sie ist im Konjunktiv formuliert. Ob man sie als Realis oder Irrealis hört, ist dem Empfänger der Botschaft überlassen. Nebenbei scheint auch deutlich ein Gottesbild hindurch, das Israel mit den Völ­ kern des Alten Orients gemein hat270: 1. Der jeweilige Volksgott zieht mit seinem Volk in den Krieg (11,24). 2. Recht oder Unrecht einer machtpolitischen Position entscheidet sich letztendlich nicht im Diskurs (obwohl er im günstigsten Fall eine Möglichkeit zu sein scheint), sondern in Sieg bzw. Niederlage eines jeweiligen Volksgottes oder Volkes. Der oberste göttliche Kriegsherr ist zugleich der oberste Richter über ein Volk (11,27–29.32–33).

2.14.6 Der Simson-Sagenkranz Die Simson-Geschichte ist als ein „Erzählkranz aus Einzeltraditionen“ erkannt worden271. Dabei ist die Geburtsgeschichte wohl der jüngste Teil, weil sie mit der deuteronomistischen Einleitung verschmolzen ist und weil sie wohl aus der Kraft von Simsons Haaren und dem damit verbundenen Nasiräat heraus entwickelt wor­ den ist272. Am Ende von Kap. 15 liegt mit der Zeitangabe von Simsons Richteramt eine deutliche Zäsur. Kapp. 14 und 15 sind der ältere Teil von S­ imson-Anekdoten, die dem Deuteronomisten vorlagen. Wie dieser – freilich noch in Unkenntnis von 13,2–24 – die Sammlung in 13,1 einleitet, so beschließt er sie in 15,20. Zumindest die dreimalige Feststellung „Der Geist des Herrn geriet über ihn“ (14,6.19; 15,14) ist deuteronomistische Theologisierung alten Sagenstoffs273, ebenso in gleichem Sinn 13,25. Folglich muss Kap. 16 als postdeuteronomistisch angesehen werden. 270 Vgl. auch W. Groß, a. a. O., S. 585; B. Obermayer, Göttliche Gewalt im Buch Jesaja, Göt­ tingen 2014, S. 36. 271 W. Groß, a. a. O., S. 89. 272 Hier ist an das gleiche Entstehungsprinzip und die Entstehungsmotivation zu denken wie bei den Geburtsgeschichten Jesu. 273 Ob die Theologisierung, noch dazu mit dieser Formel, glücklich ist, darüber kann gestrit­ ten werden (vgl. M. Görg, Richter, a. a. O., S. 75). – Die Formulierung kann als deuteronomis­ tisch angesehen werden, weil sie ein typischer Bestandteil des Geschichtsschemas ist (Ri 3,10). Sie findet sich auch – von Samuel als Prophezeiung an Saul gerichtet und als Erfüllung – in 1.Sam 10,6.10. Es ist sicher keine originäre deuteronomistische Formulierung. Dtr kann sie aus Num 24,2 aufgenommen und die Vorstellung an Hes 11,5 weitergegeben haben.

Das Buch der Richter

255

Zwar wird die Zeitangabe von Simsons Regierungszeit am Ende wiederholt, aber es fehlt eine Formulierung wie 14,6 u. ö.; in 16,20 ist der Herr von ihm gewichen und nicht der Geist des Herrn. Nachahmungen deuteronomistischen Stils gibt es freilich (z. B. 16,23.24: „den Feind in unsere Hände gegeben“ im Munde der Phi­ lister), die deuteronomistische Schule ist nicht zu verkennen. Damit ist die Ge­ burtsgeschichte ebenfalls postdeuteronomistisch und hat wohl eine formgetreue deuteronomistische Einleitung verdrängt274. Den Simson-Sagenkranz für das Thema Gewalt theologisch oder ethisch fruchtbar zu machen fällt schwer, weil er insgesamt gesehen die Form einer Burleske hat. Die Löwen-Stärke Simsons befähigt ihn zu grotesk wirkenden Handlungen (14,5b-6.8b-9, beim Einbau in den Kontext ergänzt durch 14,7.8a; 15,15–17[18 f]; 16,1–3), die Wunderkraft in seinen Gliedern (15,14) und Haaren (16,4 ff) ist märchenhaft. Über seine List, Klugheit und seinen Einfallsreichtum (15,4–6; 16,4–14) kann man schmunzeln; wie despektierlich er die Philister als Besatzer behandelt, erzeugt eine gewisse Sympathie, zumal er sie – das zeigt seine zweimalige Brautwahl – nicht als ernst zu nehmende Feinde einstuft. Er hat Freude am Spiel mit ihnen, bis die Philister den Spieß umdrehen und ihn nach Gefangennahme als Spaßmacher entehren (16,25). Als das Spiel für ihn aus ist, reißt er alles mit sich in den Abgrund. Die Philister wirken während der ganzen von der Sage gezeichneten Geschichte vergleichsweise friedlich. Während Sim­ son mal 30, mal 1000 Philister erschlägt, beschränken diese sich auf Sanktionen (14,20), Drohgebärden (15,9) und „geheimdienstliche“ Tätigkeit (14,15 ff; 16,5 ff). Nach dessen Ergreifung lassen sie ihn als Clown am Leben. Der Composer, der Kapp. 14 und 15 zusammengeschmiedet hat, musste denn auch die Hochzeit mit dem ersten Philistermädchen als vom Herrn, der „einen Anlass gegen die Philister

Ri 14,6.19; 15,14 gleichlautend: ‫רוּח י״‬ ַ ‫„( וַ ִתּצְ לַ ח עלָ יו‬und es überkam ihn der Geist Jahwes“); hier ‫ צָ לַ ח‬/ zālach = durchdringen, eindringen, vorwärtskommen; ‫ עַ ל‬/῾= al auf, über, auf… hin; Ri 3,10 (Otniel): ‫רוּח י״‬ ַ ‫„( וַ ְתּ ִהי עָ לָ יו‬und es geschah über ihn / kam über ihn der Geist Jahwes“) (vgl. Num 24,2, Bileam); hier ‫ ָ היָ ה‬/ hājāh = sein, geschehen; 1.Sam 16,13 (David): ‫ל־דוִ ד‬ ָ ‫רוּח י״ ֶא‬ ַ ‫„( וַ ִתּצְ לַ ח‬und es überkam David der Geist Jahwes“); hier ‫ ֶ אל‬/ äl = nach … hin, auf … zu, gegen, bis zu … hin. Was wie variatio im Ausdruck wirkt, kann auch unterschiedliche Intensität der Geisterfah­ rung bezeichnen: ‫ צָ לַ ח‬/ zālach (eindringen) ist intensiver als ‫ ָ היָ ה‬/ hājāh (sein, geschehen); ‫עַ ל‬/῾al (auf … hin) ist intensiver als ‫אל‬/’äl ֶ (in Richtung auf). In diesem Sinn sind auch zu lesen: 1.Sam 10,6 (Samuel zu Saul): ‫רוּח י״‬ ַ ‫„( וְ צָ לְ ָחה עָ לֶ יָך‬und es wird dich der Geist des Herrn über­ kommen“) (vgl. 1.Sam 10,10). Andere noch intensivere Formulierung Ri 6,34 (Gideon): ‫רוּח י״ לָ ְב ָשׁה ֶאת־גִ ְדוֹן‬ ַ ְ‫„( ו‬und der Geist des Herrn erfüllte Gideon“) und Hes 11,5 (Hesekiel): ‫רוּח י״‬ ַ ‫„( וַ ִתּׂפּל עָ לַ י‬und es fiel auf mich der Geist Jahwes“). 274 W. Groß nimmt sogar für die Gesamtredaktion der Simsongeschichten und deren Einbau in Ri einen postdeuteronomistischen Redaktor an (a. a. O., S. 190).

256

Gott und das Volk

suchte“ (14,4), gesteuert darstellen. Letztendlich hat der Herr den Anlass, den er sucht, selbst geschaffen. Aber das lässt den Erzähler unbekümmert275. Von Interesse im Sinne der ethischen Beurteilung von Gewalt ist Simsons Be­ merkung: „Diesmal bin ich frei von Schuld, wenn ich den Philistern Böses tue“ (15,3). Dem Feind Böses zu tun ist legitim und nicht verwerflich. Simson hatte den Philistern bereits Böses getan, als er, verfangen in einem Versprechen276, 30 erschlagen hatte, um denen, die das Rätsel gelöst hatten, 30 Festkleider zu geben (14,19). Nun sieht er sich wieder gezwungen, Böses zu tun, weil der Brautva­ ter seine Tochter zurückgeholt hat (14,20–15,2). Durch einen Guerilla-Angriff mittels 300 Füchsen fügt er den Philistern schweren wirtschaftlichen Schaden zu (15,4.5.[8])277: „Diesmal bin ich frei von Schuld“. Im Umkehrschluss war er vormals, also bei der Erschlagung der 30, um sein Versprechen einzulösen, nicht frei von Schuld. So sieht es zumindest der Composer, der diese beiden Episoden zusammengefügt hat. Die Schuld damals kann nur in der Unverhältnismäßigkeit der Aktion liegen. Wirtschaftskrieg hingegen scheint angemessen: Wegen Braut­ raub? Wohl nicht. Der Composer urteilt von einer anderen politischen Warte her. Es geht um ein Mittel legitimen Widerstands gegen die Philister. Wirtschafts­ sabotage ist ein solches. – Damit ist zugleich das ethische Thema von 15,9–13 angesprochen. In dem Konflikt zwischen Simson bzw. „den Männern von Juda“ (15,10) und den Philistern ist die Anwendung des ius talionis ein legitimes, die Verhältnismäßigkeit wahrendes Mittel (15,10b.11b). – Nicht angemessen wäre es, das Problem Simson aus dem Weg zu schaffen, um mit den Philistern Frieden zu haben. So hatten die Philister mit der Auslöschung der Familie des Timnaï­ ters reagiert (15,6), in 15,12 f gleichzeitig Kritik am Handeln der Philister. Zuvor schließen die Judäer auf der Gratwanderung zwischen Loyalität gegenüber den Philistern und Bewunderung gegenüber ihrem Helden einen Pakt mit der Macht des vermeintlich Bösen, um noch Böseres zu vermeiden. Aber im Unterschied zur Josephsgeschichte (Gen 37,22: Ruben! Vgl. auch das in AT 1.6.2 und 1.6.3 zu Ruben Gesagte) führen Taktieren und Paktieren hier nicht in immer tiefere Ver­

275 Der Erzähler / Composer ist noch nicht Dtr, auf den 14,6.19; 15,14 zurückgehen. Die An­ schauung des Composers gleicht einem numinosen, die Philister töten wollenden Jahwe, der weniger einem bedrängten und sich wieder zu ihm kehrenden Volk zu Hilfe eilt, als vielmehr die Philister bekriegt, weil sie Philister sind, und dafür einen Vorwand braucht (vgl. W. Groß, a. a. O., S. 679). 276 Jefta – Tochter-Motiv. 277 Die Komposition der Fuchs-Sage ist unklar. Sie könnte in 15,5 enden. 15,8 macht als Ab­ schluss auch noch Sinn, könnte aber auch spätere den Philisterangriff 15,9 ff begründende Über­ leitung sein. – Ein alternativer Schluss wäre 15,6. Hierin ist aber auch das Motiv von 15,11–12a enthalten, dass der vermeintliche Verlierer in vorauseilendem Gehorsam die Strafe des voraus­ sichtlichen Siegers vorwegnimmt. Motivbeeinflussung lässt an 15,6 als ursprünglichem Schluss der Fuchs-Sage zweifeln. 15,7 fällt aus dem Zusammenhang und deutet auf eine weitere verloren gegangene Variante der Fuchs-Sage.

Das Buch der Richter

257

strickungen, sondern hier reißen die Stricke, weil in der Sage der gegen das Böse kämpfende Heros immer (wunderhaft) siegt. – Die Vermutung verdichtet sich zur Wahrscheinlichkeit, dass ein Composer 14,11–15,2 und 15,3–4.(8) ethisch bearbeitet hat, und zwar unter dem Aspekt der Angemessenheit von Strafe bzw. des Schuldigwerdens, wenn die Angemessenheit nicht gewahrt bleibt278. Das Er­ staunliche ist, dass es hier nicht nur um Personenrecht, sondern um Ansätze von Völkerrecht geht. Das postdeuteronomistische Kap. 16 ist im Blick auf das Thema Gewalt in 16, 26–31 ethisch und theologisch relevant. Ethisch geht es wieder um das ius talionis. Nach der Gefangennahme haben die Philister dem Simson die Augen ausgesto­ chen. Zusammen mit dem In-Ketten-Legen eine durchaus übliche Behandlung von Besiegten (vgl. Jer 39,7; 52,11: Zedekia durch den König von Babel). Simson will das Recht der Vergeltung anwenden. Er richtet ein entsprechendes Bittgebet um Kraft an Jahwe, „damit ich mich mit einem Mal für meine beiden Augen räche an den Philistern“ (16,28). Bei der Bitte um Kraft denkt er bereits an das Einreißen der Säulenhalle (16,26). Zwei Fragen stellen sich: 1. Ist sein spezieller Rachewunsch angemessen? 2. Wie verhält Jahwe, Herr der Rache, sich zu diesem Wunsch? zu 1: In Ex 21,24 heißt es: „Auge um Auge …“. Das ist Personenrecht. Das ist nicht ohne Weiteres auf das Völkerrecht übertragbar, zumal das Augen-Aus­ stechen nicht unüblich war und eine äquivalente Vergeltung kaum realisierbar. Aber abgesehen davon scheint eine Ermordung von mehr als 3000 Männern und Frauen als unangemessen. Ein Ausgleich kann nur durch Inkaufnahme des eige­ nen Todes geschaffen werden. So endet die Sage, und so endet Simson. zu 2: Natürlich kann Jahwe sein Rachehandeln delegieren, hier aber geht es um einen sehr persönlichen Rachewunsch Simsons („Herr, denke an mich und gib mir Kraft, Gott, noch dies eine Mal, damit ich mich … räche …“ [16,28]). Dieser Rachewunsch hat eine Tendenz zur Maßlosigkeit. Darum geht Jahwe auf Abstand, indem er nicht antwortet279. Allerdings gewährt er Simson die Bitte um Kraft. Aber nicht um jeden Preis, sondern nur um den Preis des eigenen Lebens, was der Selbstmordattentäter weiß (16,30). Hierin liegt möglicherweise eine Kor­ rektur von 14,4, dem numinosen Gott, der Philister tötet, weil es Philister sind: Der Tod der Philister hat einen Preis, den Gott auch von Simson bzw. den Seinen fordert. Die Deutung des postdeuteronomistischen Kap. 16 unter dem Aspekt des ius talionis verhindert glorifizierende Fehldeutungen der Simson-Gestalt. Simson ist kein Vorläu­ fer des jungen David, der gegen Goliat kämpft280. Der Kampf dort ist ernsthafter, die

278 Dann könnte 15,9–13 direkt vom Composer stammen, vielleicht auch (rückwirkend) 15,6. 279 W. Groß, a. a. O., S. 730. 280 So tendenziell bei M. Görg, Richter, a. a. O., S. 75.

258

Gott und das Volk

Bedrohung wird als existentieller empfunden. Es ist auch eine Verklärung Simsons, zu behaupten, noch im Tod erringe er den größten Sieg seines Lebens in der Macht des Herrn281. Es erscheint auch nicht angemessen, Simsons heroische Größe mit seinem tragischen Ende interpretatorisch zu verknüpfen. In 15,20 endet sein Heroentum. Daher ist er zwar der Herr der Tiere, aber nicht der Held, der zugleich die Säulen scheinbarer Stabilität ins Wanken bringt, Ordnung zerstört und dabei selbst mit untergeht282.

Sucht man nach einem eher verborgenen und sich dennoch durchziehenden Thema, so ist es die Frage nach der Angemessenheit des Widerstands283. Dabei geht es nicht wie in Ri 9 um den Widerstand gegen den Tyrannen, sondern gegen den äußeren Feind, der das Volk als Besatzer unterdrückt. Die ethische Frage, ob, wann und wieviel Widerstand angemessen sei, wird der Leser selbst beantwor­ ten müssen. Eine mögliche, wenn auch nicht in jedem Fall richtige Antwort gibt 15,11–13.

2.14.7 Das deuteronomistische Geschichtsschema Das deuteronomistische Geschichtsschema ist die redaktionelle Klammer aller Richterlegenden. Es hat eine Wirkung auf den bearbeiteten Sagen- und Legenden­ stoff, insofern es der z. T. sehr profanen Überlieferung „theologische Weihen“ ver­ leiht, und es enthält in seiner inneren Struktur, die theologisch von Dtn 6,10–19 und 11,13–17.26–28 geprägt ist, eine Botschaft bezüglich des Handelns Gottes und bezüglich der Selbstsicht des Volkes (theologische Ethnologie). Darüber hinaus ist es spätexilische / frühnachexilische Deutung der bisherigen Geschichte (in Ri am Verhalten des Volkes, in 1. und 2.Kön am Verhalten der Könige festgemacht) mit paränetischer Intention hinsichtlich der Zukunft. Zur inneren Struktur: Analog Ri 2,11.19 (Generalthema) und Ri 6,1; 8,33 f (Gi­ deon) ist das deuteronomistische Geschichtsschema ein zyklisches. Der Kreislauf von Abfall über Not und Hilferuf, Erhörung und Heldentaten des Retters bis zur Ruhe wiederholt sich kontinuierlich. Das ändert freilich nichts an der linearen Geschichtstheologie, die vom Exodus herkommt (Ri 2,12; 6,8 f) und einen neuen Exodus bzw. Eisodus erhofft (vgl. die Transparenz von Jos 3 auf die damalige Zeit­ geschichte hin). Der Zyklus ist struktureller, nicht inhaltlicher Art und er bewegt sich linear fort. Eine Skizze verdeutlicht das:

281 So H.-W. Hertzberg, a. a. O., S. 229. 282 So M. Görg, Richter, a. a. O., S. 87. 283 In diese Richtung denkt auch M. Görg, Richter, a. a. O., S. 81.

259

Das Buch der Richter (erneuter) Abfall von Jahwe

Ruhe

Zorn Jahwes

Übereignung

Übereignung

der Feinde

Israels

an Israel Erbarmen Jahwes

an die Feinde Hilferuf Israels

Erhörung und Erweckung eines Retters

Die Übereignung Israels an die Feinde wird deutlich markiert durch die ausliefernde Tätigkeit Jahwes: „er gab sie …“ (2,14 [Generalthema]; 6,1b [Gideon]; 13,1b [Simson]); „er verkaufte sie …“ (2,14 [Generalthema]; 3,8b [Otniel]; 4,2 [Debora]; 10,7b [Jefta]); „er machte … Eglon … stark gegen Israel“ (3,12b [Ehud]). Außerdem wird die Folge für Israel zweimal mit „dienen“ benannt: 3,8b (Otniel); 3,14 (Ehud). – Jahwes Erbarmen wird zweimal im Zusammenhang mit der Erweckung eines Retters konstatiert: 2,18 (Gene­ ralthema) und 10,16 (Jefta). Beides ist wie Grund und Folge miteinander verknüpft. Das wird an der Jefta-Geschichte deutlich: Nach dem Erbarmen (10,16) kommt der Geist des Herrn über Jefta (11,29). Diese Logik ist auch in 2,18 (Generalthema) zu erkennen, wenngleich der Grund mit „denn“ nachgeschoben wird. Die Strukturskizze folgt aus Symmetriegründen der Reihenfolge der in 2,18 geäußerten Gedanken („erweckte“ → „jammerte“). – Die Übereignung der Feinde wird als Demütigung unter die Hand Is­ raels beschrieben (3,10 [Otniel]; 3,30 [Ehud]; 8,28 [Gideon]; 10,33 [Jefta]). – Ruhe als geschenkte Zeit wird in 3,11 (Otniel), 3,30 (Ehud); 8,28 (Gideon) erwähnt. – Das Struk­ turschema lässt eine Polarität erkennen: Dem Abfall und Zorn entspricht im Positiven Erweckung eines Retters und Erbarmen. Der Übereignung Israels an die Feinde steht die Übergabe der Feinde an Israel gegenüber. Der Hilferuf löst einen Prozess aus, an dessen Ende Ruhe steht.

Zur theologischen Ethnologie: Im Spiegel des Deuteronomisten sieht sich Israel als ein Volk, das immer wieder den Herrn verlässt (2,13). Es vergisst die Beziehung, die Jahwe zu ihm aufgebaut hat seit der Herausführung aus Ägypten (2,12), ver­ gisst das Eigene und folgt fremden Göttern, Kulten, Einflüssen (3,7). In der Miss­ achtung Jahwes verhält sich Israel wie ein sich von Gott abkehrender Mensch,

260

Gott und das Volk

also wie ein Sünder. Israel bekennt das offen (10,10)284. Die dem Bekenntnis voraus­gehende Erkenntnis mag in der Zeit der Not gewachsen sein, die Wehkla­ gen (2,18) und Hilferuf aus sich heraussetzt. In der Zeit der Not kommt aber auch die Erinnerung an Jahwe wieder und die Hinwendung zu ihm. Nichts anderes ist das Schreien zum Herrn. Die Hinwendung ist zunächst rein lebenspraktisch motiviert: Die Unterdrückung durch die Feinde war nicht mehr zu ertragen (4,3 [Debora]; 6,6b.7 [Gideon]). Erst später (evtl. prophetisch deuteronomistische Er­ weiterung) geht es darüber hinaus um die grundsätzliche Erneuerung der Bezie­ hung: „Mache du es mit uns, wie dir’s gefällt, nur errette uns heute!“ (10,15 [Jefta]). Nach Erhörung und Rettung erlebt Israel eine Zeit der Ruhe285. Zeit der Ruhe ist Zeit des Heils. Israel lebt in der Sphäre des Schalom und weiß das auch. Es lebt in einer heil-vollen Gottesbeziehung, die sich geschichtlich in der Demütigung der Feinde unter die Hand Israels niederschlägt. Aber Dtr muss leider feststellen, dass diese heil-volle Ruhe nur so lange währt, wie der jeweilige Richter / Retter lebt (3,11 [Otniel]; 8,28 [Gideon]; 12,7 [Jefta]286). Dann fallen die Israeliten „wiede­ rum“ vom Herrn ab, und der Kreislauf beginnt von vorn. Abfall ist eine „generelle Neigung des Volkes“, die selbstkritisch mit seiner Halsstarrigkeit begründet wird (2,19)287. So ist das Volk. So sieht es sich im Spiegel des Deuteronomisten. Das Volk ist sich seines Spiegelbildes wohl bewusst. Denn es fragt sich irgendwann (prophetisch spätdeuteronomistisch?): Kann das denn so weitergehen, oder ist Jahwes Geduld einmal zu Ende? Die Antwort des Volkes – hier indirekt gege­ ben – lautet: Ja, es kann sein, dass Jahwes Geduld einmal zu Ende ist. Er kann eines Tages nicht mehr erretten wollen und Israel auf jene Götter verweisen, die 284 Ich halte 10,10 und 10,16 für deuteronomistisch. 10,11–15 mag dann eine nachdeutero­ nomistische Reflexion über die Dauer der Geduld Jahwes sein, kann aber auch eine deuterono­ mistische Veranschaulichung des Wehklagens darstellen. Mindestens 10,10 und 10,16 sind so schemakonform, dass es keinen Grund gibt, sie einem Ergänzer zuzuweisen (modifizierend zu W. Groß, a. a. O., S. 192). 285 In Ri 3,11 (Otniel); 3,30 (Ehud); 5,31(dtr Rahmen des Deboraliedes); 8,28 (Gideon) immer verbal wiedergegeben: Hifil von ‫ ָ שׁ ַקט‬/ schāqath = er ließ ruhen, still sein, sicher sein. Dasselbe Verb auch Jos 11,23; 14,15. Das Dtn bevorzugt den äquivalenten Stamm ‫ נוּח‬ ַ / nuach  = ruhen (Dtn 12,9 f; 25,19, aber auch 3,20 und 28,65), ebenso auch Jos 1,13.15; 21,44; 22,4 und 23,1. Seltener im Gebrauch ist die jeweils substantivierte Form „Ruhe“ (Dtn 12,9; 28,65). Die beiden Stämme haben die gleiche Bedeutung und werden offenbar variabel gebraucht. Dass diese Vermutung tendenziell richtig ist, belegt später 1.Chr 22,7–10.22: David gibt hier ein Wort des Herrn an seinen Sohn Salomo weiter, dieser werde ein „Mann der Ruhe“ sein, dem der Herr Ruhe vor all seinen Feinden verschaffen werde (Wortstamm ‫)נוח‬. Israel werde in jenen Tagen Frieden / Schalom (‫)שׁלוֹם‬ ָ und Ruhe (Wortstamm ‫ )שׁקט‬haben. Es wird in 1.Chr 22,9 ein ätiolo­ gischer Zusammenhang hergestellt zwischen „Frieden“ und „Salomo“ (‫ ְ שׁלֺמֺה‬/ schᵊlomoh). Vgl. dazu auch G. Steins, „Chronistisches Geschichtsbild und ‚levitische Predigt‘. Überlegungen zur Eigenart der Chronik im Anschluss an Gerhard von Rad“ in: E. Blum, W. Johnstone, C. Mark­ schies (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?, Münster 2005, S. 161 f. 286 12,8–15 Einschaltung einer Richterliste, dann „wiederum“ Rückfall. 287 W. Groß, a. a. O., S. 201.

Das Buch der Richter

261

es sich selbst immer wieder „erwählt“ (10,15b.16). Daraus spricht zweierlei: zum einen die Erkenntnis schuldhafter immer wiederkehrender Gottvergessenheit, zum anderen, dass erneute Zuwendung Jahwes nach selbst gewählter Abkehr von ihm keine Selbstverständlichkeit ist, sondern reine Gnade. Das immer wieder in Sünde fallende Volk sieht sich fern jeder „billigen“ Gnade und gibt sich Buße tuend in Jahwes Hand. Das ist theologische Ethnologie analog theologischer An­ thropologie in Hi 42,6. Zum Gottesbild und einer entsprechenden Geschichtstheologie: Der theologi­ schen Ethnologie korrespondiert das Bild eines um sein Volk eifernden Gottes. Er eifert um es in Zorn und Auslieferung an die Feinde ebenso wie in Erbarmen und positiver Zuwendung. Da es bei dieser Ambiguität nicht um Wesensbeschreibun­ gen, sondern um Wirkungszusammenhänge geht, ist ein Auslöser entscheidend für das Hervortreten der einen oder anderen Wirkweise. Der Auslöser ist mit „Umkehr“ zu beschreiben, und zwar sowohl aufseiten des Volkes (Schreien zum Herrn) als auch aufseiten Jahwes (Erbarmen). In der Strukturskizze liegen beide Teil-Auslöser zusammen zwischen Gericht und Errettung. Jahwe ist ein am Verhalten seines Volkes emotional beteiligter Gott. Deshalb kommt in ihm beides zusammen: Parteilichkeit für dieses Volk selbst durch das Gericht hindurch und diametral entgegengesetzte Aufwallungen (Zorn und Er­ barmen). Auf den Abfall Israels von Jahwe folgt das Entbrennen seines Zorns (2,14a [Generalthema]; 3,8a [Otniel]; 10,7a [Jefta]). Selbst da, wo es nicht eigens erwähnt ist (Ehud, Debora, Gideon), ist es vorauszusetzen, da es im Generalthema enthalten ist. Nur bei Simson klingt die Einleitung 13,1 betont emotionslos. Liegt es am inzwischen summarischen Stil des Dtr, oder ist Jahwe ob des immer gleichen Spiels emotionslos geworden? Auf den Abfall Israels folgen jedenfalls regelmäßig Elend und Unheil. Diese werden im Einzelnen geschichtlich fixiert, aber es ist klar, dass es sich dabei um einen „von Jahwe gesteuerten Folgezusammenhang von Tun und Ergehen“ handelt288. Der Fluch der bösen Tat ist Not, Unfreiheit und Erleiden von Gewalt (sie „dienten …“). Das ist die Tatfolge, die sich freilich nicht auf horizontaler Ebene ergibt, sondern im Bild einer Parabel: Die böse Tat beleidigt den Himmel und kommt von dort als Tatfolge auf den Täter zurück. Jahwe bleibt der Herr des Fluchs (2,15: „… wie denn der Herr ihnen gesagt und geschworen hatte“ [vgl. Dtn 28]) und damit auch der Herr der Tatfolge. Israel hat zu verantworten, was Jahwe schickt: das Gericht. – Die Botschaft des Dtr aber lautet: Nicht das Gericht ist sein letztes Wort, sondern die Gnade, nicht Verder­ ben (6,1b-6a [Gideon]; 10,7b-9 [Jefta]) ist sein Ziel, sondern Errettung. Das ist zur Botschaft verdichtete Glaubenserfahrung. Wenn Errettung aber das Ziel ist, dann ist sie in Jahwes Willen stärker als das Verderben. Wenn in seinem Willen beides koinzidiert, dann nicht statisch, sondern dynamisch; d. h. dass sich auf­ grund innergöttlicher Dynamik der Errettungswille gegenüber dem Verderbens­ 288 M. Görg, Richter, a. a. O., S. 20; so auch W. Dietrich, Die Samuelbücher, a. a. O., S. 17 f.

262

Gott und das Volk

willen letztlich durchsetzen kann. – Diese Dynamik lässt uns besser vom Wirken als vom Wesen Gottes reden. Sie ist auch der Grund dafür, dass menschliches Verhalten auf den göttlichen Willen einwirken kann, ohne dabei freilich Gottes Freiheit zu beschneiden. In diesem Sinn korrelieren Israels Umkehrwille und Jahwes Abkehr von seinem Zorn. Diese Korrelation wäre aber missdeutet, würde man sie ebenfalls in den Tat-Folge-Zusammenhang eingliedern. Denn zwar geht Israels Wehklagen zum Herrn, und von dort kommt auch etwas zurück, aber nicht mit derselben Folgelogik wie die „Strafe“ nach dem Abfall. Wäre es so, wäre der Weg zur „billigen“ Gnade eröffnet und Jahwe erpressbar. Diesen Weg hat das Alte Testament allenthalben versperrt. Schon das Generalthema formuliert an dieser Stelle vorsichtig: „Wenn aber der Herr ihnen Richter erweckte …“ (2,18). D. h. er muss es nicht, sondern nur wenn … An der erweiterten Reaktion Jahwes 10,11–15 (Jefta) wurde das bereits deutlich, und nicht umsonst hat Dtr die Propheten­ rede 6,8–10 (Gideon) eingeflochten, um auch daran zu zeigen, dass mitfühlende Erhörung nicht selbstverständlich ist (vgl. auch Jer 2,28). Sie kann nur wirksam werden, wenn Jahwe in aller Freiheit eine dem Zorn entgegengesetzte Gemüts­ bewegung in sich zulässt und damit aus eigener Initiative den Zorn begrenzt: das Erbarmen (2,18 [Generalthema]; 10,16 [Jefta]). So wie die Erfahrung des Zornes Jahwes die Grundlage zur theologischen Deutung einer Niedergangsgeschichte ist, so ist der feste Glaube an Jahwes Erbarmen und die reuige „Einforderung“ dieses seines Mitleids (10,15) das Fundament einer Geschichtstheologie, die eine letztendliche Rettung Israels am Horizont sieht. Jahwes Zorn war zuerst da und wird sich ungebremst auswirken, wenn Jahwe nicht sich selbst beschränkt, und zwar gebeten, aber aus absoluter Freiheit heraus289. Jahwes Erbarmen ist zuletzt da und „wird über dem Staub sich erheben“, weil die Verheißung gilt (vgl. immer wieder den Rekurs auf die Herausführung aus Ägypten 2,12; 6,8; 10,10–12). Der Zorn wirkt initial, das Erbarmen prinzipiell. Das macht die Überlegenheit des Er­ barmens gegenüber dem Zorn in Gottes Wesen und Wirken aus. – So folgen aus dem Erbarmen Rettung und Ruhe. Gott ist der richtende und rettende Gott. So offenbart er sich in der Geschichte. Geschenk des Rettungshandelns ist die Ruhe. Sie übersteigt als Zeit des Heils die Zeit der Unruhe und der Not, die im Hilfeschrei gipfelt, bei weitem. Sie umfasst zwei bis drei Generationen290, während die Zeit der Unterdrückung abgesehen von der Philisterzeit (Simson) maximal mit knapp zwei Jahrzehnten angegeben wird. So kommt geschichtlich Jahwes überfließende Barmherzigkeit und sein grenzenloser Gnadenwille noch einmal zum Ausdruck.

289 J. Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 114: „Jahwes Selbstbeherrschung rettet Israel vor dem von Jahwe selbst geplanten Untergang …“. 290 Im allgemeinen 40–80 Jahre. Die Regierungszeit des Jefta (6 J.) und des Simson (20 J.) sagt nichts über die (wohl weitaus längere) Zeit der Ruhe aus.

Das Buch der Richter

263

2.14.8 Prophetisch-theologische Vorschaltungen vor die Rettergeschichten Einige Rettergeschichten zeichnen sich durch prophetisch-theologische Vorschal­ tungen aus. In ihnen erscheint meist ein Gesandter Gottes (Bote oder Prophet) – zweimal Gott selbst (6,25 f [Gideon]; 10,11 ff [Jefta]) – mit einer Botschaft an das Volk, den erwählten Retter oder dessen werdende Eltern. Diese Vorschaltungen sind entweder genuin deuteronomistische Bildungen oder – sofern sie ältere Tra­ ditionen aufnehmen – deuteronomistisch akzentuiert. Hier wird vor allem das Gottesbild des Deuteronomisten dargestellt (das im Falle eines geschichtstheo­ logischen Entwurfs freilich nicht ablösbar ist vom Selbstverständnis des Volkes). Zudem ist hier am ehesten eine Transparenz auf die damalige Zeitgeschichte hin zu erwarten. Greift man auf das Göttinger Schichtenmodell zurück, so wären die Vorschaltungen der prophetisch-deuteronomistischen Schule zuzuordnen (DtrP), die sich hier besonders profiliert von DtrH abheben würden. Da sich der Rah­ men, die dtr Geschichtsdeutung, in der einen oder anderen Form um jede Retter­ geschichte legt, prophetische Vorschaltungen aber nur vereinzelt auftauchen, ist davon auszugehen, dass DtrH literarische Priorität vor DtrP hat.

2.14.8.1 Ri 2,1–5 und Ri 2,20–23 Im Bereich des Vorworts zu den Rettergeschichten („Generalthema“ [2,1–3,6]) ist die Stimme des Herrn zweimal zu hören, einmal als Engelwort (2,1–5) und dann in direkter Form (2,20–23). Die Anklage des Engels kommt einer Preisgabe des untreuen Israel gleich (2,3)291; das reine Gotteswort ist auch aus Zorn über Israels Untreue entstanden, stellt aber Israel in den Raum der Prüfung, in dem es sich in aller Freiheit mit Chancen und Risiken bewähren kann. Das Engelwort stellt die Nichtvertreibung einiger Völker im Gelobten Land292 als ständigen Stachel dar, den Jahwe dem von ihm abfallenden Volk ins Fleisch gelegt hat mit der Folge immer neuen Abfalls (3,6), das reine Gotteswort erklärt die verbliebenen Fremd­ völker als Bewährungsprobe (2,22). DtrP bietet in der Zusammenschau hier zwei Deutungsvarianten des Handelns Gottes mit Israel: die Gefallenen der Falle preisgeben einerseits und „prüfen“ als Freigeben zum selbstbestimmten Handeln mit der Chance zum Guten anderer­ seits. Soll man den unterschiedlichen Befund zwei verschiedenen prophetischen Sichtweisen zuschreiben, etwa DtrP1 und DtrP2, oder kann man hier zwei Gesich­ 291 Lutherübersetzung interpretierend: „… dass sie euch zum Fallstrick (1984)/zu Jägern (2017) werden und ihre Götter zur Falle“. Zugrunde liegt entweder ‫ לְ צִ ִּדים‬/ lᵊziddīm (= zuseiten [feindlich]) oder ‫ לְ צָ ִרים‬/ lᵊzārīm (= zu Bedrängern). Inhaltlich läuft es aufs selbe hinaus. 292 Vgl. die Liste nicht eroberter Städte in Ri 1,18–25.

264

Gott und das Volk

ter Gottes erkennen, das eine: „Lauf doch deinen Göttern nach!“ (10,14) und das andere, das auf das Sündenbekenntnis Israels positiv reagiert (10,16b)? Die zwei Gesichter entsprächen dem deuteronomistischen Gottesbild und der von ihm ausgehenden Botschaft: In wiederholten Erhörungen und Rettungen bewahrheitet sich der Vorrang der Gnade vor dem Zorn; worauf der Zorn Gottes abzielt, dieser Platz ist von der Gnade schon besetzt. Darin wird die Botschaft auf die zeitgeschichtliche Situation des Exils und die ungebrochene Hoffnung hin transparent. Der Bundesschluss, sei es Väter- (2,1.22) oder Sinaibund (3,4), „gibt Israel keine bedingungsfreie Absicherung, hebt nicht Israels Eigenverantwortung auf …, aber die auf ewig unkonditionierte Verheißung geht der Verknüpfung von Ungehorsam und Strafe voraus und bleibt der Strafe ungeachtet bestehen …“293. Das galt für die bisherige Geschichte, und das wird auch seine Gültigkeit in Zukunft behalten.

2.14.8.2 Ri 6,7–10 Jahwe zeigt sich hier als ein das Verhalten Israels spiegelnder Richter, der des Vol­ kes Schicksal als Folge des Abfalls brandmarkt und dem Angeklagten das letzte Wort überlässt: „Aber ihr habt meiner Stimme nicht gehorcht“ (6,10; vgl. 2,2 und 2,20). So bleibt nicht nur die Reaktion Israels offen, sondern auch Jahwes weiteres Verhalten. Später wird Jahwe die Aufkündigung seines Rettungswillens in Aus­ sicht stellen, und Israel wird mit einem Sündenbekenntnis reagieren und Jahwes Mitleid erregen (10,10–16); beides ist hier aber noch nicht der Fall, die Situation lässt alles für alle Beteiligten offen. Der rettende Gott hat auch ein anderes Gesicht! Diese Theologie ist unüberhörbar auch mit einer theologischen Ethnologie verbunden. Israel sieht sich im Spiegel des Propheten so, wie es als Volk schon immer war und noch ist: immer wieder die Heilstaten Jahwes vergessend, anfällig für fremde Gottheiten, versagend in Gehorsam und Bundestreue. Das konzent­ riert sich in diesem Text, zieht sich aber ebenso durch die DtrP-Rahmentexte von Kap. 2 bis Kap. 10. Wenn und weil das Volk noch so ist, wird der Text auch transparent für die Perspektive, unter der Dtr auf seine Zeit blickt: „Das geschichts- und JHWHvergessene Israel hat seine Not, nicht die Hilfe JHWHs verdient“294. Ein neues Gehorsamsbekenntnis ist die einzig mögliche Antwort auf die selbst verschuldete Situation und auf den prüfenden, abwartenden, zu allem entschiedenen Herrn. Dass der Prophet namenlos und der Ort seines Auftretens unbekannt bleiben, mag beide mit Personen und Orten der damaligen Zeitgeschichte kompatibel machen.295 293 W. Groß, a. a. O., S. 177. 294 W. Groß, a. a. O., S. 395. 295 H.-W. Hertzberg, a. a. O., S. 190.

Das Buch der Richter

265

2.14.8.3 Ri 6,11–24 In 6,11–24 haben wir es mit einer prophetisch-deuteronomistischen Komposi­ tion zu tun. DtrP hat hier eine Berufungsgeschichte Gideons (6,11–16) mit einer theophanen Zeichengeschichte (6,17–21) und einer Altarätiologie (6,22–24) kom­ biniert. Dabei kann die theophane Zeichenlegende auch als Teil der Berufungs­ geschichte (Verzögerungselement!) betrachtet werden. Die Altarätiologie enthält zu Beginn eine Auseinandersetzung mit dem Dogma, dass sterben müsse, wer Gott von Angesicht zu Angesicht sieht (Ex 19,21 f; 24,9–11; 33,20; vgl. Gen 32,31). Die Komposition gipfelt in dem bekenntnismäßigen Altarnamen „Der Herr ist Friede“. Die Erzählung von der Engelbegegnung bzw. von der Stimme des Herrn damals will die andauernde Präsenz des Herrn auch „heute“, in der Zeit des Exils zwischen Bangen und Hoffen, verkünden. Gideons vergangenheitsorientierte Theodizee­ frage: „Ist der Herr mit uns, warum ist uns dann das alles widerfahren?“ (6,13), wird vom Gottesboten mit der zukunftweisenden Zusage beantwortet, dass das „Wunder“ des Mitseins auch heute noch geschieht (6,13 f.16). In diesem Licht wird auch die Bleibezusage 6,18 zu einem Wort dauerhafter Verlässlichkeit. Schließlich gilt das Bekenntnis „Der Herr ist Friede“ „bis auf den heutigen Tag“ (6,24). Dem Bekenntnis geht eine Erkenntnisszene voraus, die den Referenzrahmen zum rechten Verständnis des Wortes bildet. In der Erkenntnisszene 6,22 f setzt DtrP das alte Sterbedogma außer Kraft: „Friede sei mit dir. Fürchte dich nicht, du wirst nicht sterben“. Jahwe ist ein Gott des Friedens und des Lebens. Damit ist die theophane Begegnung nicht mehr tötend, sondern lebensfördernd. Die Anschau­ ung von Jahwes Heiligkeit kann und darf sich ändern – so DtrP–, weil sich Jahwe selbst geändert hat. In Ri 13,22 f führt DtrP die gleiche Diskussion, in den neutes­ tamentlichen Erscheinungsgeschichten ist das Furchtmotiv ein schwacher Nach­ hall des alten, inzwischen aufgehobenen Dogmas. So kann DtrP seine kombinierte Berufungs-/Erscheinungsgeschichte mit dem Friedensgruß des Herrn (6,23a) und der Lebenszusage (6,23b) beschließen und in die alte Altarätiologie – gleichsam als erwiderndes Bekenntnis Gideons – einmünden lassen: „Der Herr ist Friede“. Vor dem Hintergrund der so aufgebauten kerygmatischen Einheit ist das We­ sen des Herrn noch schärfer zu profilieren. Es bleibt numinos. Theophanie und plötzliches Entschwinden legen davon Zeugnis ab. Das Numinose erzeugt Todes­ angst. Der Herr nimmt das in kauf, aber er belässt es nicht dabei. Er nimmt Gi­ deon die Todesfurcht mit dem Friedensgruß und der Lebenszusage. Der Friede, Schalom, bewirkt Furchtlosigkeit, hier näherhin begründete Furchtlosigkeit vor dem Tod. Umgekehrt: Friede wird inhaltlich gefüllt durch Furchtlosigkeit und Leben. Damit wird der Friedensgruß 6,23a durch 6,23b erläutert. „Friede sei mit dir“ heißt: „Furchtlosigkeit sei mit dir“, „Leben sei mit dir“. Das wird gesagt von dem, der Friede (Schalom) ist (6,24). Der, der Friede ist, gibt seinen Frieden weiter als Gabe von Perspektivität und Leben (vgl. Jh 11,27; in ähnlichem Sinn Ps 27,1).

266

Gott und das Volk

Das erfährt Gideon, und das kann jeder erfahren, der dem Herrn begegnet – so DtrP; denn der Altar mit dem Namen „Der Herr ist Friede“ repräsentiert im Na­ men diesen Herrn in Ofra „bis auf den heutigen Tag“. Die Erfahrung der Einheit von Wesen und Wirken Jahwes prägt das religiöse Denken Israels bis zu Paulus hin (vgl. Röm 3,26b). Sie sollte sich auch in der Interpretation der verblosen Namens­ gebung Jahwes („Der Herr [ist] Friede“ [‫ יְ הוָֹ ה ָשׁלוֹם‬/ Jahwe schālōm]) niederschla­ gen: „Der Herr ist Leben, insofern er Leben gibt“, „der Herr ist Frieden, insofern er Frieden gibt“. Das zählt – sagt DtrP, nicht der Tod. Damit ist auch klar: Der Gegensatz zu „Frieden“ ist nicht „Krieg“, sondern „Tod“. Der Gegensatz zum Frieden ist Abgeschnitten-Sein vom Schalom Gottes, Furcht und Schrecken, Todesangst.296 Der Gott des Friedens ist nach alttestament­ lichem Verständnis der Gott, der sich gegen die Mächte des Chaotischen wendet und sie in ihre Schranken weist. Das spiegelt sich auch noch im Neuen Testament: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung (ἀκαταστασία / akatastasía), sondern des Friedens“ (1.Kor 14,33). Vor dem hier skizzierten Hintergrund ist auch klar: Jahwe bleibt Kriegsgott (Ex 15,3). An dieser Stelle gerät er nicht in Gegensatz zu sich selbst.

2.14.8.4 Ri 6,25–32 s. oben unter „Gideons Taten“ (AT 2.14.3)

2.14.8.5 Ri 10,11–16a DtrP beschäftigt die Frage, ob denn Jahwes Rettungswillen unerschöpflich ist. Der Bundesgedanke klingt an, Erinnerung an die Herausführung aus Ägypten und die treue Parteinahme für Israel in vielen anderen Fällen. DtrP hält eine Abkehr Jahwes von Israel für möglich: „Darum will ich euch nicht mehr erretten.“ Erwäh­ lung und Bund ziehen das freie Bekenntnis Israels zu Jahwe nach sich (Jos 24). Wo das nicht mehr gegeben ist – so DtrP, ist dem Bund die Grundlage entzogen. Wo die Bindung an Jahwe aufgekündigt wird, bedeutet Freiheit von Jahwe freier Fall. Jahwe – so DtrP – nimmt das in kauf und lässt das zu (10,14). Mit der Möglichkeit eines Israel verwerfenden Gottes ist zu rechnen (vgl. schon Jer 2,28). – DtrP kennt indes nicht nur die Möglichkeiten eines nicht mehr reagierenden Gottes, sondern er kennt auch die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist, dass Sündenbekenntnis, Buße und Gebet auf Gott einwirken können. Die Wirklichkeit ist, dass totale Preis­ gabe der Existenz an Gott („Wir haben gesündigt, mache du es mit uns, wie dir’s gefällt …“) diesen zur Selbstbeschränkung seines Zorns und zur erbarmenden Hinwendung an sein Volk stets geführt hat, auch „heute“ noch führt („nur errette 296 Daneben kann Friede natürlich auch im profanen Sinn Abwesenheit vom Krieg bedeuten (vgl. Ri 4,17).

Das Buch der Richter

267

uns heute“) und in Zukunft auch führen wird. Die erbarmende Wirklichkeit des Herrn lässt seine vielleicht gerechten („Darum …“ [10,13b]), aber unbarmherzi­ gen Möglichkeiten (noch) hinter sich. Die Dynamik seines Willens, in dem Mög­ lichkeiten und Wirklichkeit in eins liegen, lässt (noch) die heilvolle Wirklichkeit Gestalt annehmen, wenn Israel den Boden dafür bereitet hat („Und sie taten von sich die fremden Götter und dienten den Herrn.“). DtrP kann seine Möglichkeits­ spekulation hier in die Treuewirklichkeit von DtrH einmünden lassen (10,16b)297. Ein solches Gottesbild kann DtrP seiner Exilsgemeinde als Hoffnungsbild ver­ mitteln. Denn es sind ja ihre Fragen: Wird es einen zweiten Exodus geben? Wird Gottes Geduld noch ausreichen oder ist sein Retterwille erschöpft? Und sie ver­ steht: Wenn es je eine neue Zuwendung Jahwes nach selbstgewählter und selbst­ verschuldeter Abkehr von ihm gibt, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern reine Gnade. Und sie muss bereit sein, Gott an sich walten zu lassen, wie es ihm gefällt. Die Bitte um grundsätzliche Erneuerung der Beziehung „heute“ (Verweis auf Zeitgeschichte) ist erlaubt und not-wendig, die grundsätzliche Neu­ orientierung auf Jahwe hin Beweis für die Ernsthaftigkeit der Bitte.

2.14.8.6 Ri 13,2–24 Ausgegangen wird von der Annahme, dass die Geburtsgeschichte Simsons aus dem Stoff des postdeuteronomistischen Kapitels 16 heraus entwickelt worden ist. Überlieferungsgeschichtlich fassbar ist wohl noch ein Märchen von der Kraft der Haare (16,13–14), das fortgeschrieben wurde zur Legende der Nasiräatsweihe von Geburt an (16,16–22). Diese Legende hat die Geburtsgeschichte geprägt. Dabei hat der prophetisch-postdeuteronomistische Composer die Berufungsgeschichte Gideons zum Vorbild genommen, d. h. die Geburtsankündigung mit einer Engel­ erscheinung verbunden und das Dogma des Sterbens angesichts der unverhüllten Erscheinung Gottes ebenso wie dort in Frage gestellt. Mit W. Groß betrachte ich Kap. 13 als literarische Einheit298. Wir haben es in 13,2–24 mit einer kombinierten Geburts- und Erscheinungsgeschichte zu tun, die auf die Diskussion des uralten Topos hinausläuft: Wer den Herrn von Angesicht zu Angesicht sieht, muss sterben. Die Erscheinung des Gottesboten und seine Ankündigungen erzeugen bei Ma­ noach und seiner Frau Ratlosigkeit und Unsicherheit. Da ist zunächst die Verhei­ ßung, dass eine Unfruchtbare schwanger wird. Damit verbunden, dass der Knabe etwas Besonderes sein wird, ein Geweihter Gottes von Mutterleib an. Irritierend auch das Geheimnis, das die Person des Gottesboten umgibt und das er nicht zu lüften gedenkt. Erschreckend schließlich für Manoach die Erkenntnis, einer In­ korporation des Herrn begegnet zu sein. 297 Zum Jammer bzw. Erbarmen Gottes vgl. das dtr Geschichtsschema unter AT 2.14.7. 298 Anders M. Görg, Richter, a. a. O., S. 71.

268

Gott und das Volk

Die Extravaganz des zu erwartenden Knaben erhöht die Verunsicherung: 1. Er bleibt Geweihter Gottes und Retter Israels auf Lebenszeit. 2. Weil sein Nasiräat schon im Mutterleib beginnt, werden der Mutter bereits die Ent­ haltsamkeitsregeln in Bezug auf Essen und Trinken auferlegt.

Ratlosigkeit und Unsicherheit – so ist dem Erzählduktus zu entnehmen – ent­ stehen durch das Berührt-Werden vom Numinosen. In dieses Numinose – weiß der Leser seit 13,3 – ist Jahwe gehüllt. Nur die Frau weiß es noch nicht. Sie sieht nur die Hülle („Mann Gottes“, „wie ein Engel“). Sie wird es erst am Schluss wis­ sen, wenn das fascinosum alles überstrahlt (13,23b). Das momentum tremendum setzt sich vorerst im numinosum durch („zum Erschrecken“ [13,6]). Es lässt vor Schreck verstummen, so dass eine Verortung des Numinosen in dieser Welt („wo­ her oder wohin“) nicht möglich wird. Weil eine Verortung nicht gelingt, versucht die Frau, Macht über das Numinose zu gewinnen und es zu domestizieren: Wer den Namen hat, hat die Macht über den Namensträger. Aber auch das ist ihr ver­ sagt (vgl. Gen 32,30). Keine Verortung, keine Verfügbarkeit, das alles macht das Numinose nur noch gespenstischer, schrecklicher. Aber so wird Gott empfunden, sagt der Erzähler, obwohl er ja weiß und uns wissen lässt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Manoach und seine Frau versuchen Sicherheit zu gewinnen durch weiteren Kontakt mit dem Gottesboten und durch ein gewisse „Erdung“ des Geschehens (Bitte um praktische Tipps zum Umgang mit dem Knaben, Bitte um Namensnen­ nung, Bitte um ein gemeinsames Mahl). Der Kontakt entsteht zwar, aber Tipps gibt es nicht, wohl deshalb nicht, weil Gott im Mutterleib schon alles getan hat, die Namensnennung wird mit Hinweis auf das „Geheimnis“ verweigert299, und das gemeinsame Mahl endet, bevor es angefangen hat, wie so oft mit dem Ent­ schwinden des Boten (vgl. Ri 6,21; Lk 24,31). Das numinosum bleibt (‫ ַמ ְפלִ ִא‬oder

299 Der Bote gibt zwar nicht seinen Namen (etwa „Geheimnisvoll“) preis (gegen M. Görg, Richter, a. a. O., S. 71), bestätigt wohl aber sein Wesen als numinos (mit W. Groß, a. a. O., S. 674). Der masoretische Text ist indes an dieser Stelle unklar: Die Schreibung ‫ ֶ ֽ פלִ אי‬/ päli’i ist ungewöhn­ lich. Daher empfahlen schon die Masoreten, ‫ ֶ פלִ י‬/ pälī bzw. ‫ ֶ פלִ יא‬/ pälī’ zu lesen oder aber eine schriftlich vorliegende Variante zu akzeptieren: ‫ ִ פלְ ִאי‬/ pil’ī. ‫ ִ פלְ ִאי‬/ pil’ī (adj.) heißt „geheimnisvoll“, „unerforschlich“, „wunderbar“. Die abweichende Voka­ lisierung im MT ‫ ֶ ֽ פלִ אי‬/ päli’i wäre dann mit der starken Betonung am Ende des Satzes erklärbar. Nichts deutet dabei auf einen konkreten Namen. ‫ ֶ פלִ אי‬/ päli’i (subst.) könnte auch von ‫ ֶ ּפלֶ א‬/ pälä’ kommen. Zusammen mit dem Personalsuffix ī hieße es dann „mein Geheimnis“. Wer für eine kryptische Namensoffenbarung plädiert, hätte hier zumindest ein Substantiv zur Verfügung. Ich sehe allerdings zwischen den Varianten keinen inhaltlichen Unterschied. Vielmehr mache ich darauf aufmerksam, dass das Wort, wie auch immer man es liest, die Tendenz vom numi­ nosum zum fascinosum hin in sich trägt (vgl. auch H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 228).

Das Buch der Richter

269

‫ ַ מ ְפלִ י‬/ mafli’ oder maflī = „Geheimnisvolles“ [13,19]) und schlägt ins tremendum um. Niederschmetternd ist es in seiner sich offenbarenden Macht. Manoach und seine Frau haben es wissen wollen. Nun wissen sie es: Der Herr ist ihnen erschie­ nen – und hat sie zu Boden geworfen. Die Klarheit des Herrn hat den Nebel zer­ rissen, ja! Aber kann man sich solch eine niederschmetternde Klarheit wünschen? Nach althergebrachtem Glauben nicht. Danach muss, wer Gott sieht, des Todes sterben (Ex 19,21 f; 24,9–11; [Ex 33,20]). Manoach ist Vertreter des alten Glaubens (13,22). Seine Frau, Empfängerin der Verheißung und Mutter eines Knaben, der der Anfänger der Befreiung sein wird, formuliert den neuen Glauben: „Hätte uns der Herr töten wollen, dann hätte er uns das alles nicht sehen noch hören lassen, was jetzt geschehen ist.“ M.a.W.: Die Begegnung mit dem Numinosen ruft zwar aufgrund des momentum tremendum Todesfurcht hervor (auch die Frau lag am Boden), aber sie kostet nicht das Leben. Im Gegenteil: Hält man die Begegnung mit dem Numinosen aus, so lässt es das Gegenüber in faszinierender Weise dem Leben neu begegnen. Dieser Gedanke ist dem in Ex formulierten Glauben diametral entgegengesetzt und in dieser scharfen Ausprägung neu. Er ist gewiss schon vorgedacht in den Prophetenberufungen (z. B. Jes 6,5 f; Hes 1,28–2,2), aber in spätexilischer / früh­ nachexilischer Zeit zur Ausgestaltung gekommen. War es bei Gideon Jahwe selbst, der das alte Dogma außer Kraft gesetzt hat, so ist es hier die Frau, die mit Ver­ nunftgründen den Mann von der Unhaltbarkeit der alten Lehre überzeugt. Wir erhalten so einen Einblick in einen theologischen Diskurs der spätexilischen / früh­ nachexilischen Zeit. Das Ergebnis dieses Diskurses lässt sich so zusammenfassen: Das Numinosum Jahwes bleibt unantastbar. Dennoch beliebt es ihm, gelegentlich aus dem Numinosum herauszutreten und sich zu inkorporieren. Aber auch die In­ korporation bleibt zunächst numinos bis hin zum Erschreckenden. Das aber kann nicht Sinn und Zweck der Apotheose sein. Sinn und Zweck des Sichtbar-Werdens ist die Selbstüberwindung des tremendum hin zum fascinosum, das Sich-Zeigen nicht als ein Gott, der tötet, sondern der Leben schenkt und in der Begegnung Leben und Zukunft eröffnet. Aussage für die damalige Zeitgeschichte: Wir brauchen Gestalten wie damals, denen der Herr begegnet und die daraus Kraft für die Neugestaltung der Zukunft beziehen können.

270

Gott und das Volk

2.15 Das Deboralied (Ri 5) 2.15.1 Literarkritik An einem poetischen Text – auch wenn er in seinen Stichen teilweise korrupt er­ scheint – literarkritische Operationen vorzunehmen ist fahrlässig, weil selbst dem Deuteronomisten nicht zuzutrauen ist, dass er mit Einschüben das Lied zerstört hätte. Das Deboralied ist somit als literarische Einheit zu betrachten.

2.15.2 Redaktionsgeschichte Das Deboralied ist vom Endredaktor des Richterbuches in die Deboralegende eingeschoben worden. Sei es der Deuteronomist oder eher vielleicht ein postdeu­ teronomistischer Redaktor, er hat seinen späteren Eintrag durch Abtrennung der Schlussnotiz der Legende (5,31c) vom Korpus und durch seine Einleitung 5,1, in der er auf „jene Zeit“ zurückblickt und jene zwei Sänger Debora und Barak aus 5,12 herauskonstruiert, gekennzeichnet. Nichtsdestoweniger ist das Lied sehr alt und mag wohl zu den ältesten poetischen Beständen des AT gehören300. Es hat neben dem Prosastoff eine eigene Überlieferungsgeschichte.

2.15.3 Überlieferungsgeschichte Eine Abhängigkeit des Liedes vom Prosatext wie auch umgekehrt eine Abhängig­ keit des Prosatextes vom Lied erscheint unwahrscheinlich. Ersteres würde dem Lied bewusste Archaisierung von Sprache301 und Anschauungen302 unterstellen, Letzteres würde zu wenig die Unterschiede berücksichtigen; insbesondere findet sich für die breit und stringent erzählte Debora-Barak-Legende im Lied kein An­ haltspunkt. Es ist daher davon auszugehen, dass sich beide Gattungen aus einer gemeinsamen Heldenüberlieferung heraus303 in je eigener Form mit je eigenen inhaltlichen Schwerpunkten entwickelt haben. Die engste Berührung zwischen Prosa und Poesie findet sich in der Jaël-­SiseraSzene. Hier liegen zugleich die augenfälligsten Unterschiede. So kommt die Ver­ 300 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 182. 301 Z. B. 5,7: ‫ ַ ק ְמ ִתי‬/ qamti für die 2.Pers. Sg. Fem: „… bis du, Debora, aufstandest.“ 302 Z. B. 5,4 f die uralte Vorstellung vom Wüstengott, „der vom Sinai“ (zu dieser Übersetzung vgl. U. Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes, a. a. O., S. 19); außerdem 5,23 die singuläre Vorstellung, man müsse dem Herrn zu Hilfe kommen. 303 Vgl. die Nennung von Helden in 5,13 und 5,23.

Das Deboralied 

271

letzung des Gastrechts nicht so deutlich zum Ausdruck wie in der Sage. Dort hatte Jaël den Asyl suchenden Sisera geradezu in ihr Zelt eingeladen (4,18), um ihn dann heimtückisch zu töten, hier findet er offenbar uneingeladen Unterschlupf in Jaëls Zelt (5,24–26). Dort tötet sie Sisera liegend im Schlaf, hier stehend beim Trinken. Wie er, der vor der Frau niedersinkt und sich im Todeskampf vor ihr krümmt, in Schande stirbt, wird hier mit allen Mitteln der Poesie ausgekostet. Wie die Prosageschichte eine Debora-Barak-Legende auserzählt, so ist die ­Poesie um die Szene der vergeblich wartenden Mutter Siseras erweitert. Hinsichtlich der Jaël-Sisera-Sage in der Prosa, in der Barak und Debora nicht mehr vorkommen, wurde oben die Vermutung geäußert, dass ihr Anfang weg­ gebrochen sei. Ob dieser Anfang spurenweise im Lied zu finden ist? Wenn ja, wäre die Vermutung erhärtet, die getrennte Entwicklung von Prosa und Poesie bewiesen und das Lied gegenüber der Erzählung als älter erwiesen. Betrachtet man das Lied überlieferungsgeschichtlich als Einheit, so ist vor dem Agieren Jaëls sehr wohl von Barak und Debora die Rede. Debora ist diejenige, die das wehr­ lose und kampfesmüde Israel zum Widerstand erweckt, ihr Name verbindet sich sowohl mit 5,2 wie auch mit den in den Kampf Ziehenden ab 5,11. Sie scheint in 5,20 hinter den kämpfenden Gestirnen zu verschwinden, tritt damit aber in Wahrheit hinter alle, die willig waren, dem Herrn zu folgen. So und nur so wird der Kampf gegen Sisera gewonnen304. Barak ist in diesem Kriegszug ein nament­ lich genannter Anführer (5,15). Er wirkt wohl entscheidend mit. Nicht mehr und nicht weniger. Den Besiegten bringt Jaël restlos zur Strecke. Von Debora wie von Jaël ziehen sich Linien durch das gesamte Lied. Debora und Jaël sind die starken Frauen im Kampf für Israel. Debora wird faktisch gepriesen (5,7.9), Jaël wörtlich (5,24). Debora ist die dem Land neues Leben einhauchende „Mutter“ Israels (5,7), die Mutter Siseras, nur eine Mutter im physischen Sinn, erliegt einer fatalen Selbst­ täuschung (5,28–30). Jaël, die Frau des Keniters (5,24), wird neben dem Richter Schamgar305 erwähnt (5,6) und damit als auf der „richtigen Seite“ Stehende mar­ kiert. So sind durch intratextuelle Bezüge Spuren einer vollständigeren SiseraJaël-Sage, als sie im Prosatext vorliegt, zu finden. Ein Argument für das hohe Alter des Liedes.

2.15.4 Zeitliche Ansetzung Neben altertümlichem Sprachstil und archaischen Vorstellungen spricht das Vor­ liegen von Spuren einer Debora-Jaël-Sisera-Tradition für ein sehr hohes Alter. Ein weiteres Indiz ist die Regionsbezeichnung Machir. Mit Gilead (und Basan) 304 Jabin erscheint namentlich nicht. 305 Er wird hier gegenüber Debora als weniger erfolgreich dargestellt (vgl. aber Ri 4,31, wenn­ gleich ihm auch dort nur zwei Sätze gewidmet sind.).

272

Gott und das Volk

zusammen bildet Machir den späteren306 ostjordanischen Teil Manasses. Zudem ist die „Stadt Meros“307 nur hier erwähnt und noch dazu mit einem Fluch be­ legt, was bei den abseits stehenden Stämmen vermieden wurde. Dass neben den Stämmen auch eine Stadt unter den Heerbann gerufen wird, ist ungewöhnlich. Das spricht dafür, dass die Stämmekonstituierung noch nicht abgeschlossen ist, die Erwähnung also auf ein hohes Alter schließen lässt308. Der Form nach handelt es sich vermutlich um ein Festlied zur geschilderten Siegesfeier309. „Es ist damit zu rechnen, daß das Lied zur Verherrlichung des errungenen Sieges in zeitlicher Nähe zu dem geschilderten Geschehen entstanden ist“310. Die Königszeit kommt nicht in Betracht, weil dem Lied keine gesamtisraelitische Tendenz zu entnehmen ist. Das Ich des Sängers (5,13) ist mit dem „Aufstehen“ Deboras (5,7.15) und dem „Aufbruch“ Baraks (5,12.15) eng verbunden. So sprechen sprachliche, formale und inhaltliche Indizien für eine Entstehungszeit im 11./12. Jh. v. Chr.

2.15.5 Versuch einer Strukturierung Weil besonders bis 5,23 die Bilder des Liedes scheinbar wie „Schnappschüsse“ aufeinander folgen311, ist eine Strukturierung schwierig, wenngleich nicht unmög­ lich. Der hier dargebotene Versuch ordnet die im Lied vorgegebene Zeitstruktur den jeweiligen Inhalten und einer Redeform zu. Dabei soll Formbetrachtung kein Selbstzweck, sondern mit dem Inhalt und der Aussage des Liedes, insbe­ sondere mit Gotteserfahrung und Handlungsorientierung, kompatibel sein. So ergibt sich:

306 „Manasse“ gibt es erst in der Königszeit (V. Fritz, „Das Debora-Lied Ri 5 als Geschichts­ quelle“ in: Ders. [Hg.], Studien zur Literatur und Geschichte des alten Israel [SBAB 22], Stuttgart 1997, S. 178–181). 307 Für W. Groß verbietet sich ob der Singularität dieser Stadtnennung jede Spekulation über ihre Verfassung und Lage. Der syrische Text bietet „Merod“. Am Wasser von Merom ist zur Zeit Jesu die Stadt Meroth bekannt. 308 Die häufige Erwähnung Israels in den ersten 12 Versen bezeichnet keine politische Ein­ heit, sondern ist als Sammelbegriff für die je aktuell sich bildenden stämmeübergreifenden Kampfeinheiten zu verstehen (vgl. auch die Israel-Stele des Pharao Mer-en-Ptah [1220 v. Chr.], die Israel nicht als Land, sondern als Menschengruppe determiniert). 309 Mit M. Görg, Richter, a. a. O., S. 31 gegen W. Groß, a. a. O., S. 349 (Werbelied zur Über­ windung von Separatismus). 310 V. Fritz, „Das Debora-Lied Ri 5 als Geschichtsquelle“, a. a. O., S. 170. 311 Hertzberg macht sich die Ausdrucksweise Gerlemans zu eigen (vgl. H. W. Hertzberg, Art. „Debora und Deboralied“ in: RGG3II, Sp. 53) und stellt selbst fest, dass die Ereignisse in hymnischen Texten selten in der historischen Reihenfolge wiedergegeben werden (H. W. Hertz­ berg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 179).

273

Das Deboralied 

Verse

Zeitstruktur

Inhalt

Redeform

2–3

Jetztzeit des Feierns

Lob des Herrn ob des willigen Volkes: „Ich will singen …“

(Aufforderung zur) Doxologie

4–5

Besungene Urzeit als prinzipielles Urbild der Geschichte

Der Herr, der die Erde erzittern lässt, lässt auch Israel gegen seine Feinde aufstehen

Gotteserfahrung (theophan)

6–8

Besungene Vorver­ gangenheit bis zum vergangenheitlichgeschichtlichen Auf­ stehen Deboras

Darniederliegen des Landes bis zu Deboras gewaltigem Aufstehen in diesem gottverlasse­ nen Land

Analogie

9–12

Jetztzeit des Feierns

Lob des Herrn ob der willigen Ge­ bieter: „Singet …“ (Vornehme, Reiche, Kaufleute) Thema des Gesangs: Jahwes Gerechtigkeiten (=Jahwes Parteinahme) „Auf, Debora … und singe …“

(Aufforderung zur) Doxologie Gotteserfahrung (geschichtlich)

13–18

Besungene Ver­ gangenheit der Debora-Zeit

Parteinahme der Stämme für Jahwe; aber auch Sonderwege

Analogie

19–22

Besungene Ver­ gangenheit der Kischon-Schlacht (mit ur-/endzeitlicher Dimension)

Kampf der Sterne gegen Sisera, der per­ sonifizierte „uralte“ Kischon reißt die Kö­ nige Kanaans hinweg

Gotteserfahrung (theophan) (oder geschichtlich?)

23–30

Besungene Vergangenheit

Fluch gegen Meros, Segen für Jaëls gewal­ tiges Auftreten, Spott für die Frauen um den toten Sisera

Analogie

31

Jetztzeit des Feierns

Chorschluss: Fluch und Segen

(einer) Doxologie (ähnlich)

Dass dem Lied eine Zeitstruktur zugrunde liegt, ist deutlich. Die jetzt besungenen Ereignisse liegen in der Vergangenheit. In diese sind Rückblenden eingelassen, einmal in die Vorvergangenheit (vv 6–8), mindestens einmal auch in die Urzeit (vv 4–5), wenn man nicht auch die machtgeladenen Himmelskörper und den

274

Gott und das Volk

„uralten“ Kischon hinzurechnet. Das hat einen kerygmatischen Sinn: Der gewal­ tige Herr, der in der Natur (vv 4–5) und Geschichte (vv 19–22) epiphan wird, er­ mächtigt auch zum „Aufstand“ gegen die Bedränger, Bedrücker, Feinde (vv 6–8) und zu gewalttätigem Handeln am besiegten Todfeind312 (vv 24–27) – wie einst, so jetzt und allezeit. Dem entspricht jeweils eine theophane oder geschichtliche Gotteserfahrung, aus der ein dieser Erfahrung analoges Handeln resultiert. In vv 4–5 und vv 19–22 wird potestas / power erfahren, woraus auch die Ermächtigung zu gewalttätigem Handeln gegen die Feinde abgeleitet wird. Dass die not-wendende Gewalt schließ­ lich Formen von violentia / violence annimmt, wird nicht als problematisch emp­ funden. In den vv 9–12 spiegelt sich eine dezidiert geschichtliche Gotteserfahrung, die Parteinahme Jahwes für die Darniederliegenden seines Volkes, was zur analo­ gen Forderung der Parteinahme der Stämme für Jahwe führt. Anfang, Mitte und Ende werden durch eine (Aufforderung zur) Doxologie markiert: vv 2–3 durch die Tat und vv 9–12 durch Lobgesang. Der Schlussvers ist zwar formal ein Fluch- und Segenswort, kann aber doxologisch verstanden werden. Darum: Lobe den Herrn! Der unbekannte Sänger, der den Herrn preist, preist ihn jetzt, in seiner Gegenwart. So ergibt sich aus dem Inhalt, gleichsam in einer ersten Ableitung, die Zeit­ struktur Jetztzeit – Urzeit – Vorvergangenheit – Vergangenheit – Jetztzeit – Ver­ gangenheit – Vergangenheit / oder Urzeit? – Vergangenheit – Jetztzeit. In der zweiten Ableitung erst tritt eine relativ plausible Struktur vor Augen: Doxologie – Gotteserfahrung – Analogie – Doxologie – Gotteserfahrung – Analogie – Got­ teserfahrung – Analogie – Doxologie313. So wird in diesem alten Lied bereits der Zusammenhang von Gotteserfahrung und Handlungsorientierung bzw. zwischen Theologie und Ethik evident.

2.15.6 Theologie und Ethik im Deboralied 2.15.6.1 Frühe Ansätze späterer theologischer Entfaltungen Im Deboralied sind Theologumena in nuce enthalten, die später entfaltet wer­ den und dadurch nachhaltig das Gottesbild prägen. Die nur andeutungsweise enthaltenen Spuren sind im Alter begründet. Es handelt sich um den Gedanken des heiligen Krieges, der Parteilichkeit Gottes, des Vernichtungsbanns und des Strafens mit Blindheit. Stete Kriegsbereitschaft entspricht dem Willen des Herrn und ist Gotteslob durch die Tat (5,2). Das ganze Volk darf sich durch Jahwes machtvolles Wesen und Wirken zum Krieg gegen die Fremdherrschaft ermächtigt wissen (5,9–12.13–15.18). 312 Dass Sisera als solcher gesehen wird, zeigen die Phantastereien der Hoffrauen (vv 29–30). 313 Die Anordnung G – A – D im letzten Tripel ist der bewussten Endstellung der Doxologie geschuldet.

Das Deboralied 

275

Dass niemand sich dem Zug entziehen kann, liegt in der Natur der Sache: Wo kein Kampf gegen die Not, da ist das Gottesverhältnis gestört (5,16 f). Dass man dem Herrn zu Hilfe kommen muss, gehört in den Ideenpool des heiligen Krieges, wird aber in der Ideengeschichte Israels nicht weiter verfolgt (5,23). Realgrund für den heiligen Krieg ist die Parteinahme Gottes für sein Volk. Sie erscheint hier zum ersten Mal unter dem Begriff der Gerechtigkeit (im Plural) (5,11), also der heilvollen Taten an den unter Not, Unfreiheit und Gewalt Leiden­ den in Israel. Sie führt vom Herrn, der auszieht von Seïr, zum Gott Israels (5,4 f). Dem entsprechen auf der anderen Seite der Fluch und die Verwünschung derer, die sich als Feinde Israels und damit des Herrn erweisen (5,23). Der Fluch geht auf den Engel des Herrn zurück, wie der Vernichtungsbann göttlich bestimmt ist (Dtn 20,17), und in der Verwünschung aller Feinde kann zusammen mit dem Fluch über eine Stadt der geistige Hintergrund für die spätere Übernahme des Vernichtungsbanns gesehen werden (5,31a). Die Strafe des Herrn für die Feinde besteht auch darin, dass er sie, obwohl sie sehenden Auges sind, mit Blindheit schlägt (5,28–30). In den Spottversen über Si­ seras Mutter und ihr Gefolge wird eingebildete Weisheit zur Torheit, eingebildete „Aus-sicht“ zur Fata Morgana. Hier ist Jes 6,9 f präludiert.

2.15.6.2 Das Gottesbild Das alte Lied ist ein Zeugnis für eine sehr ursprüngliche Gotteserfahrung, die Epiphanie in Sturm und Unwetter (5,4 f), in Erscheinungen von kosmischen Ausmaßen (5,19–22), wenn es für Israel um Entscheidungsschlachten geht. Eine Theophanie ist immer vom Schleier des Numinosen umgeben. Dieses zeigt sich als tremendum für alle Feinde Israels, als fascinosum für das eigene Volk. Jahwe, der sich so als Kriegsgott erweist, kommt mächtig daher (vgl. hier das martia­ lisch aufgeladene Verb ‫ יָ צָ א‬/ jāzā’ = [kriegerisch] ausziehen [5,4 f] im Vergleich zu Dtn 33,2 und Hab 3,3 ‫ בּוֹא‬/ bō’ = [zum Segen] kommen314), ergreift Partei für sein Volk, zieht es in seine Gewalt-Tätigkeit mit hinein und ermächtigt es zum Aufstand (5,2.9–12.13–15.18). Er lehrt die fremden Herrscher das Fürchten. Erst indirekt – durch das Heer der Willigen (5,9.12) –, dann direkt – durch Gewalten und Gestirne (5,19–22) – greift er in den Kampf ein und fegt die Feinde weg. Die zerstörerische Urgewalt Jahwes ist erschreckend für die Könige Kanaans, faszinie­ rend aber für die Helden Israels, eine Apotheose seiner Herrlichkeit. Was sich für die Feinde als Fluch und Tod auswirkt, das ist umgekehrt für Israel Segen und Leben. Jahwe birgt beides in sich, seinem Volk aber möchte er unbedingt neues Leben schenken. So liegt Parteinahme für Israel ganz in seinem 314 Erst spät „kommt“ Gott zum Gericht auch über Israel (Joel 2,1 ff; 3,4; Sachj 14,5; Mal 3,1.24). Zum Kommen Gottes im AT vgl. auch G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wunder­ geschichten, Göttingen 1994, S. 80 ff.

276

Gott und das Volk

Willen und Wirken. Diese äußert sich im Aufstehen-Lassen der Führerin Debora (5,7.12), im Bereitmachen des Volkes mit ganzem Herzen und aus ganzer „Seele“ (5,2.21) und nicht zuletzt im Zuteilwerden-Lassen all seiner „Gerechtigkeiten“315 vor allem an den notleidenden Bauern316, aber auch an all den anderen Darnie­ derliegenden (5,11). Parteinahme für ganz Israel ist zugleich – Jahwe ist Kriegs­ gott! – vernichtende Parteinahme gegen die Könige Kanaans, last not least gegen Sisera und die Seinen (5,19–22.23–30).

2.15.6.3 Ethische Implikationen Der Sänger bewegt sich in zwei verschiedenen zeitlichen Dimensionen, der krie­ gerischen Vergangenheit und der gegenwärtigen Nach-Kriegszeit. Daraus erge­ ben sich für ihn unterschiedliche ethische Forderungen. Für die kriegerische Vergangenheit – die freilich jederzeit wieder zur Gegenwart werden kann – gilt das Analogieverhalten gemäß dem gewaltigen Auftreten Jahwes und seiner Ge­ walt-Tätigkeit. In der friedlichen Gegenwart ist Lobpreis des Herrn adäquates Verhalten (s. Strukturschema). Im Rückblick auf den „Aufstand“ heißt das: Der mächtig daherkommende Herr ermächtigt zum Kriegszug gegen den Todfeind und zum gewalttätigen Handeln am Besiegten. Die Ermächtigung führt zu einem der Gotteserfahrung analogen kriegerischen Handeln (in der Vergangenheit) und zur Verherrlichung ehrab­ schneidender Gewalt in Form von violence im besungenen Mord Jaëls (in der Gegenwart). Ihre Tat fällt im Rahmen des Liedes unter das von Jahwe gedeckte Kriegsrecht, das das Gastrecht bricht317. Dieser Ermächtigung kann sich eigentlich niemand entziehen. Mit ihr ist ein Hineingezogen-Werden in die Machtsphäre des Herrn verbunden. Daher be­ darf der Krieg keiner ethischen Begründung. Er ist im Willen des Herrn, der ja parteiischer Kriegsgott ist (!), begründet. Zu rechtfertigen hat sich nicht der Wil­ lige, sondern der Zögernde bzw. Unwillige. Dessen Entscheidungsfreiheit bleibt gewahrt, wiewohl für den Sänger daraus keine begründbare Distanzierung vom Krieg erwächst. 315 Zu ‫ צֶ ֶדק‬/ zädäq als Gottes Gerechtigkeit, die sich in der ‫ צְ ָד ָקה‬/ zᵊdāqāh manifestiert und in den ‫ צְ ָדקוֹת‬/ zᵊdāqōt, einzelnen gerechten und heilvollen Taten, konkretisiert, vgl. W. Groß, a. a. O., S. 318. 316 Ich folge der Lutherübersetzung 1984: „Bauern“ (5,7.11). Die Lutherübersetzung 2017 spricht von „Starken“. Zugrunde liegt das Wort ‫ ְ ּפ ָרזֺון‬/ pᵊrāsōn = Vornehmer, Fürst; plattes Land, Bauernschaft. Von daher wäre beides möglich. Die „Starken“ aber (v 11) bedürfen der „Gerech­ tigkeiten“ nicht, sondern vielmehr die darniederliegenden Bauern (v 7). So ist das Deboralied auch ein Lied für die armen „Hirten“ und „Bauern“. 317 Man kann freilich hier wie auch beim folgenden Spottlied über die Mutter Siseras über fehlende Humanität (H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth, a. a. O., S. 182) und man­ gelndes Mitgefühl (W. Groß, a. a. O., S. 336) klagen; man verkennt dabei aber die Parteilichkeit, die der Sänger dem mächtigen Herrn und Gott Israels schuldet.

Das Deboralied 

277

Für die friedliche Gegenwart lebt der Sänger die Haltung des lobpreisenden Bekenntnisses vor (5,3.9.31a.b). Er sieht darin die adäquate Haltung, dem Herrn gerecht zu werden und so auf seine „Gerechtigkeiten“ zu reagieren. – Außerdem bewahrt Lobpreis vor Selbstlob und Selbstüberschätzung. Der Lobende weiß: „Der Herr zog mit mir herab unter den Helden“ (5,13). – Schließlich ist der Lob­ preis die angemessene Haltung gegenüber dem Faszinosum. Mit dem vorgelebten Lobpreis, angestimmt im Aufruf und verdichtet im Fluch über Meros, im Segen über Jaël und im Spott über Siseras Mutter, möchte der Sänger einen ethischen Imperativ vermitteln: „Handle an deinen Mitmenschen stets so, dass dem Faszi­ nosum die Ehre gegeben wird.“ Dabei kommt dem Segen (Achtergewicht!) die Superiorität vor jedem anderen Machtwort zu. Exkurs: Der Fluch über Meros Dass Meros der Fluch trifft, ist für sich genommen schon erstaunlich. Denn auch andere Regionen eilten nicht spontan und begeistert zu den Waffen (5,16 f). Noch erstaunlicher ist die Begründung des Fluchs: „… weil sie nicht kamen dem Herrn zu Hilfe …“ (5,23). Der Gedanke, dass der Herr Hilfe nötig hätte, ist dem Alten Testament fremd. Vielmehr gilt durchgängig: Der Herr kommt in der Not seinem Volk zu Hilfe. Genau das verbindet sich mit dem Verb ‫ בּוֹא‬/ bō’ = „kommen“, wenn es mit dem Subjekt Jahwe verbunden ist. In 5,23 verläuft die Richtung ausdrücklich umgekehrt. Das wird durch den chiastischen Parallelismus membrorum noch betont: ‫ֹא־באוּ לְ עֶ זְ ַרת יְ הוָֹ ה‬ ָ ‫כּי ל‬ ‫בּוֹרים‬ ִ ִ‫לְ עזְ ַרת יְ הוָֹ ה ַבּגּ‬ ki lo’-vā’u lᵊ’äsᵊrat jᵊhowah lᵊ’äsᵊrat jᵊhowa bagibōrim „weil sie nicht kamen zu Hilfe dem Herrn, zu Hilfe dem Herrn mit den Helden.“ Diese Denkfigur lässt sich weder aus dem Kontext318 noch aus der synergistischen Va­ riante des heiligen Krieges319 heraus erklären. Sie ist im Alten Testament singulär320, jedoch nicht im Vorderen Orient. Wir kennen eine ideologisch-theologische Interpretation des Sieges Assurbanipals über den Elamiterkönig Urtaku, die genau die Situation des Hilfsangebots an die Göt­ ter voraussetzt. Ich zitiere die alten Texte nach M. Weippert samt seinem Kommentar: „Sie (scil. die großen Götter, die Himmel und Erde bewohnen) hielten Gericht über Urtaku, den König des Landes Elam, der, obwohl ich ihn nicht befeindete, mich befein­

318 W. Groß, a. a. O., S. 333, möchte die Koalition der Willigen mit denen identifizieren, die dem Herrn zu Hilfe gekommen sind und entsprechend die Nicht-Hilfswilligen davon absetzen. Aber die Willigen sind einfach die, die dem Zug des Herrn folgten, so wie der Sänger selbst (5,13). 319 S. o. unter AT 2.7.2.1 320 Scheinbare Ausnahme: Jes 63,3.5. Jahwes scheinbare Klage über mangelnde Hilfsbereit­ schaft ist unter dem Vorzeichen von Jes 59,16 zu lesen, wo sich Jahwe „bestürzt“ zeigt, „dass niemand einschritt“ gegen Rechtlosigkeit, und daher selbst Hand anlegen muss.

278

Gott und das Volk

det hatte … An meiner Statt brachten sie ihm eine Niederlage bei, schlugen ihn frontal, jagten ihn ins Gebiet seines Landes. Im selben Jahr vernichteten sie durch einen bösen Tod sein Leben (und) übergaben ihn … dem Land ohne Heimkehr.“321 Weippert kommentiert: „Hier gewinnt man den Eindruck, als hätte Assurbanipal auf den Einfall Urtakus in seinen Herrschaftsbereich überhaupt nicht zu reagieren brauchen, da die Götter an seiner Stelle dem Aggressor entgegengetreten seien. Aus den P ­ rismen B und C Assurbanipals wissen wir jedoch, daß die assyrischen Truppen gegen den König von Elam geschickt wurden, worauf er es vorzog, den Zusammenstoß zu vermeiden und in sein Land zurückzukehren. Der Widerspruch zwischen der All­ wirksamkeit der Götter und dem Aufmarsch der irdischen Soldaten wird hier dadurch ausgeglichen, daß den Truppen Assyriens eine die Götter unterstützende Funktion zugewiesen wird: ‚Um Bēl und Nabû, meinen Göttern (Var.: Herren), deren Gottheit ich verehre, zu helfen, bot ich meine Kampftruppen auf und setzte sie in Marsch.‘“322 Die von Weippert zitierten Texte stammen aus der Mitte des 6. Jh. v. Chr. Die fromme Denkweise kann aber älter sein323. Da sie in der hebräischen Bibel nicht beheimatet ist, darf sie mit dem gesamten Deboralied als sehr alt gelten. Einen neuen prägenden Aspekt für das Gottesbild liefert sie nicht. Im Gegenteil: In Ri 6,31 hält Joasch eine Un­ terstützung Baals durch die Bürger von Ofra für absurd, und in 1.Kön 18,27 ff verspottet Elia die Baalspriester, die ihrem schlafenden Gott offenbar durch lautes Rufen zu Hilfe kommen müssen. Sollte diese Vorstellung also je mit dem Jahweglauben verbunden gewesen sein, so ist sie zur Zeit Elias längst überwunden und als abwegiger Gedanke gebrandmarkt, den nur Heiden haben können. Vor diesem Hintergrund gilt: „Israel did not fight for God, but God fought for Israel“324.

2.16 David und Goliat (1.Sam 17) 2.16.1 Rahmen und Kontext Die Philister setzten den Israeliten während der gesamten Regierungszeit Sauls schwer zu (14,52a), und die Notiz „Und wo Saul einen tapferen und rüstigen Mann sah, den nahm er in seinen Dienst“ (14,52b), klingt folgerichtig. Im Kontext ge­ lesen verweist diese Notiz schon auf die David-Goliat-Sage.

321 K 2867 + BM 98982. 322 M. Weippert, a. a. O., S. 87 f (kursiv von mir). 323 Sie ist religionsphänomenologisches Allgemeingut. P. Antes weist darauf hin, dass bei den Azteken die Götter die Hilfe der Menschen benötigten, um von ihnen ernährt zu werden (P. Antes, Grundriss der Religionsgeschichte von der Prähistorie bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 42). 324 R. Ruston, The Violent God of the Old Testament, Nottingham 1989, S. 9.

David und Goliat 

279

In dieser Sage (17,1–54[55–58]) personifiziert sich die ständige Bedrohung durch die Philister in dem einen „Riesen“325 Goliat, ebenso das kleine, schwa­ che und bedrohte, dennoch aber im Gottvertrauen unerschrockene Israel in der Gestalt Davids326. Der Überlebenskampf gegen die Philister (um und nach 1000 v. Chr.) hat sich dem kollektiven Gedächtnis Israels so stark eingeprägt, dass daraus eine Sage wurde. Die Sage wird gerahmt von einem stereotypen Lagebericht über den Kampf gegen die Philister im Allgemeinen (17,1–3.52–54). Der Rahmen ist Teil der Sage. Denn er bezeichnet den Ort der Lokaltradition (17,2: „Eichgrund“; vgl. 17,19). Dass David des Philisters Haupt nach Jerusalem bringt (17,54), ist zur Zeit Sauls ein Anachronismus. Es ist aber ein Hinweis auf die Entstehungszeit der Sage. Sie ist zur höheren Ehre Davids erzählt, der die Jebusiterstadt erobert und zu seiner Residenz gemacht hat327. Ein Vergleich mit der Septuaginta und Unstimmigkeiten im Verhältnis zum Kontext lassen jedoch zwei verschiedene Versionen der Sage hervortreten, die dann miteinander verbunden wurden. Das ist literarkritisch zu klären.

2.16.2 Literarkritik Die Septuaginta erzählt die David-Goliat-Sage in einer wesentlich kürzeren Form. Sie kennt lediglich 17,1–11. 32–40. 42–48a. 49. 51–54. Sie ist in dieser Form voll­ ständig erhalten, was der stringente Ablauf des Geschehens und die sich stei­ gernden theologischen Spitzenaussagen des Textes (17,10.36 f.45–47) zeigen. Sie unterscheidet sich vom vorangehenden Kontext darin, dass dort David bereits ein tapferer Krieger Sauls und sein Waffenträger ist, hier aber noch völlig unerfahren im Kriegshandwerk (17,39). Das weist auf das gegenüber dem Kontext höhere Alter dieser Sage hin. Gegenüber dem erweiterten hebräischen Text (MT) ist sie 325 Wörtlich: „der Mann zwischen Zweien“. Als „Riese“ erscheint er erst durch seine Län­ genbezeichnung. Vgl. auch 2.Sam 21,15–22. Wie ist der „Mann zwischen Zweien“ zu inter­ pretieren? Als „Zweikämpfer“? Als „Mann zwischen den Fronten“? Als „Vorkämpfer“? (vgl. dazu H. W. Hertzberg, Die Samuelbücher, Göttingen 31965 [ATD 10], S. 118). „Der Mann zwi­ schen Zweien“ ist so deutungsoffen, dass man auch an den „Mann zwischen den Bergen“, also einen, der das Tal ausfüllt, denken kann. Kontextuell steht er in Verbindung mit dem „Eich­ grund“ (17,2 → 4; 17,19 → 23). – Jedenfalls bleibt er ein „Riese“. 326 Historisch mag Elchana den Goliat erschlagen haben (2.Sam 21,19). Da er zu den „Krie­ gern Davids“ zählt, könnte die Sage die Heldentat auf David übertragen haben. So wurde die Tat weiter überliefert (vgl. 1.Sam 21,10; 22,10). 327 Historisierungsversuche, etwa dass Teile der Stadt bereits im Besitz Benjamins und Ju­ das gewesen seien, nur der Zion noch nicht, oder dass David das abgeschlagene Haupt den Jebusitern zum drohenden Schrecken hingestellt habe, gehen an der Intention vorbei und sind Spekulation (vgl. u. a. J. Gill, Exposition of the Whole Bible. 1.Sam 17, studylight.org, 1999) (www.­christianity.com, Zugriff: 13.1.2021).

280

Gott und das Volk

eigenständig; denn eine so umfangreiche Kürzung eines vorgegebenen Textes wäre ungewöhnlich und wohl auch kaum sinnvoll zu begründen328. Nach Abzug der Septuaginta-Version bleibt 17,13–15*.16–30.41.48b. 50 (55– 58 …). Diese Version wirkt gegenüber der Septuaginta-Erzählung wenig span­ nend, was freilich dem späteren Verschmelzungsprozess geschuldet sein kann. Weder tritt die Bedrohung durch Goliat deutlich hervor, noch wird David als un­ gewöhnlicher Held aufgebaut, sondern es scheint im Kern darum zu gehen, dass der, der Goliat erschlägt, reich werden, die Königstochter zur Frau erhalten und steuerlich entlastet werden soll, ein märchenhaftes Motiv (17,25–30). Die Kon­ frontation mit Goliat wird in so dürren Worten beschrieben (17,41.48b.50), dass hier zwar Bewunderung für den schwach ausgerüsteten und dennoch siegreichen Helden ausgedrückt wird, aber der Schwerpunkt hier nicht liegen kann. Er liegt vielmehr bei der Siegesgabe. Die allerdings kommt in dieser Erzählung nicht zum Zuge, wenn man nicht 17,55–58 als Anlauf dahin betrachtet. Erst außerhalb der Sage wird ein Teil des Versprechens erfüllt (18,17)329. – Im Übrigen zeigt 17,55–58 auch hier das hohe Alter dieser Version, denn nach 16,1–13 und 16,14–23 müsste David dem Saul längst bekannt sein. Es ist schwierig, das Altersverhältnis der beiden Versionen zu bestimmen. Aber aufgrund der Überlieferungsprozesse, die im Richterbuch zu beobachten waren, kann man mutmaßen, dass es ursprünglich einmal eine märchenhaft geprägte Da­ vid-Goliat-Sage ohne theologische Reflexionen gab. Später wurde die Geschichte immer stärker theologisch reflektiert erzählt, und so entstand die Version, die uns heute in der Septuaginta-Übersetzung vorliegt. Die ältere sagenhaft-märchenhafte Version blieb daneben erhalten. Ein Bearbeiter hat dann beide Versionen zusammengebracht und dabei leicht redaktionell eingegriffen. Er fügt 17,12 ein mit den acht Söhnen Isaïs (vgl. 16,10 f 330); er weiß von Davids Dienst bei Saul (16,21–23), und so ist David mal bei Saul, mal bei den Schafen (17,15); er muss Goliats Schmähworte nicht noch einmal wiederholen, weil sie durch die Komposition bekannt sind (17,23); und er muss David holen lassen, damit der Dialog 17,32–40 geführt werden kann (17,31). Rein formal entsteht durch die Zusammenfügung beider Versionen eine Spannungssteigerung. Schließlich muss die so komponierte David-Goliat-Sage vom Deuteronomisten in den Kontext von Sauls (Philister)kriegen eingefügt werden. Das geschieht in 328 G. Hentschel, a. a. O., S. 108; anders U. Berges, Die Verwerfung Sauls, a. a. O., S. 232 Anm. 81; anders auch W. Dietrich, Samuel (BK VII/2, 4. Teilband), Neukirchen-Vluyn 2012; S. 292 ff, bei dem die Argumentation pro und contra Septuagintakürzung zusammenfassend dargestellt ist. 329 Die Erfüllung des Versprechens erinnert von der Struktur her an die Jakob-Laban-Sage: Betrügerische Einlösung des Versprechens, Neuformulierung des Versprechens, verknüpft mit neuen Bedingungen (1.Sam 18,25; vgl. Gen 29,27). 330 Nach 1.Chr 2,13–15 hatte Isaï nur sieben Söhne (incl. David).

David und Goliat 

281

den (auch von der Septuaginta überlieferten) vv 1–3 und in den vv 52–54. Denn beide Rahmenteile reden generell von den Philistern, während die Sage nur von dem Philister (mit oder ohne Namen) spricht. Der stereotype Verfolgungsbericht trägt Züge des Vernichtungsbanns. Die Überbringung des Hauptes Goliats nach Jerusalem ist typisch deuteronomistisch. Zur erzählten Zeit ist Jerusalem noch Jebusiterstadt; für den Deuteronomisten ist Jerusalem nicht nur künftige Haupt­ stadt, sondern spezifischer Ort der kultischen Präsenz Jahwes. Hier kann aus Sicht des Deuteronomisten noch einmal „der ganzen Gemeinde“ und „aller Welt“ deut­ lich werden, dass Israel den Gott hat331.

2.16.3 Die ethische Implikation der älteren Sagenversion Die ältere Sagenversion ist ein Loblied auf die Unerschrockenheit und Tapferkeit des Hirten David. Der, dem es niemand zugetraut hätte, ja dem von seinen Brü­ dern sogar noch unlautere Motive unterstellt werden (17,28), hat den unbesiegbar Erscheinenden (17,24) mit höchst primitiven Mitteln (17,50) zur Strecke gebracht (17,50.57). Während seine drei älteren Brüder und mit ihnen alle israelitischen Krieger sich von der Bedrohungskulisse so sehr beeindrucken lassen, dass sie sich fürchten und z. T. fliehen (17,24), ja, dass sie sich in ihrer Nervosität sogar gegen David wenden (17,28), zeigt dieser eine entschlossene und furchtlose Haltung (17,41.48b.50) und wird nicht nur mit dem Sieg, sondern auch mit ungeahntem Lebensglück belohnt werden (17,25; 18,20 ff332). Davids Beherztheit ist als solche beispielhaft – das ist eine typische Intention der Volkssage – und, wenn überhaupt, dann nur sehr lose mit seinem Glauben verbunden. Der entsprechende v 26 steht eher im Dienst der Gegensätze, die diese Sagenversion konstitutiv durchziehen: David, der Jüngste (17,14), seine drei Brüder älter und erfahrener (17,14); David, der Hirte (17,15.20), seine drei Brüder Krieger unter Sauls Führung (17,13 f); David, der Proviantüberbringer (17,17 f.20.22), während sich die Kämpfer mit „Kriegsgeschrei“ auf die Schlacht vorbereiten (17,20); David verhöhnt Goliat als „unbeschnittenen Philister“ (17,26), während beim Heer und seinen Brüdern Furcht um sich greift (17,24). David wähnt sich in den „Schlachtreihen des lebendigen Gottes“ (17,26.36), während die Krieger sich nach symmetrisch geplanten Schlachtreihen aufgestellt haben (17,21); David rennt Goliat entgegen und besiegt ihn (17,48b.50), seine Brüder hingegen hätten ihn am liebsten dort gesehen, wo er hergekommen ist (17,28).

331 Zur Ablage der Waffen in „seinem Zelt“ oder „Jahwes Zelt“ vgl. H. W. Hertzberg, Die Samuelbücher, a. a. O., S. 123. 332 Dass sich der Schatten der Rivalität zwischen Saul und David über das Lebensglück legt, gehört zu den traurigen Wahrheiten, die die Bibel nicht verschweigt.

282

Gott und das Volk

Fazit: Wer sich dem Feind gemein macht und „nur“ Schlachtreihe gegen Schlachtreihe kämpft, kann nicht gewinnen. Wer sich aber in den „Schlachtrei­ hen des lebendigen Gottes“ weiß, dem wird der Sieg zuteil.

2.16.4 Das Gottesbild der jüngeren Sagenversion Als jüngere Sagenversion gilt die von der Septuaginta vorgetragene. In ihr läuft alles auf ein nationales, monolatrisches Gottesbild hinaus (17,46fin). Ethische Im­ plikationen verschwinden hinter des Herrn Namen (17,45), der für Krieg, Schutz und Sieg steht (17,47). So hat diese Version ihren dramatischen und theologischen Höhepunkt in 17,45–48a.49.51. Die drei theologischen Kernaussagen im Blick auf das Gottes­ bild sind hier konzentriert: Der Herr Zebaoth ist auch und gerade „der Gott der Schlachtreihen Israels“ (17,45); „Israel hat einen Gott“ (17,46 fin); „Der Krieg ist des Herrn“ (17,47). Die erste Kernaussage spitzt das Bild vom „Herrn der Heerscharen“ auf die Er­ fahrung des „Gottes der Schlachtreihen Israels“ zu. So wird der Gott, der über al­ lem steht und so z. B. auch verwirrend in das Heer des Feindes hineinwirken kann, in exklusiver Weise für Israel präsent. Er ist Israels Verbündeter, mehr noch: Er hat alle Fäden in der Hand. Wer unter ihm kämpft, kämpft in seinem Namen und verlässt sich ganz auf ihn (vgl. Ps 20,8), denn er gibt die Feinde in Davids / Israels Hand. – Die zweite Kernaussage verbindet sich mit einer Botschaft an „alle Welt“. Alle Welt soll innewerden, „dass Israel einen Gott hat“. Der Kampf gegen Goliat hat „weltpolitische“ bzw. weltreligiöse Bedeutung. In ihm werden die Götter der anderen (vgl. 17,43) radikal in Frage gestellt. Noch ist der eine Gott der Gott Is­ raels (Monolatrie). Wenn aber die Welt der „Unbeschnittenen“ erkennen soll, dass Israel einen Gott hat, was haben dann die anderen? Die Macht (potestas / power) dieses Gottes (vgl. Ps 20,7) stellt alles in den Schatten und lässt es zu einem Nichts verkümmern. Im Vergleich mit dem sehr alten Schilfmeerlied Ex 15,4–6 ist das eine erhebliche Steigerung. Der Übergang von der Monolatrie zum Monotheismus wird erkennbar. – Die zweite Kernaussage verbindet sich auch mit einer Botschaft an die „ganze Gemeinde“ und geht darin zur dritten Kernaussage über: „Der Krieg ist des Herrn“. Auch diese Aussage geht über Ex 15,3 hinaus; denn in 17,47 ist er nicht nur oberster Feldherr in martialischem Gewand, sondern darüber hinaus Schutzverpflichteter für die in den Kampf Ziehenden (vgl. Ps. 20,2)333. David hat das begriffen (17,37), Saul und seine Leute noch nicht (17,11). Des Weiteren knüpft sich an diese Aussage die Gewissheit des Sieges (17,47c), auch bei der Wahl 333 Unter Berücksichtigung des kriegerischen Grundwasserstandes der Kultur (vgl. 1.Sam18,​ 6–7) des erzählten 10. und auch des realen 5. Jh. v. Chr. (R. Stahl, a. a. O., S. 238) ist die Schutz­ verpflichtung Jahwes ein humanisierender Gedanke.

David und Goliat 

283

asymmetrischer Mittel (17,47a): „ … der Herr hilft nicht durch Schwert oder Spieß“, d. h. in diesem Fall nicht in herkömmlich indirekter, sondern geradezu in wunderhaft indirekter Weise: durch David zwar und durch eine Schleuder, aber dass der Stein Goliat tödlich trifft, grenzt an ein Wunder. Ist auch hier die Grenze zum direkten Eingriff fast erreicht (vgl.1.Sam 14,13)? Auf jeden Fall soll die Ge­ meinde in ihrem Gottvertrauen gefestigt werden, dass der, der schwach erscheint, mit Gottes Hilfe den Starken und Bedrohlichen zur Strecke bringt334. Die drei Kernaussagen werden in vorangehenden Versen präludiert. Goliat richtet sich trotz seiner schweren Bewaffnung von Anfang an selbst; denn er ist stolz darauf, „den Schlachtreihen Israels Hohn gesprochen“ zu haben (17,10). Wer sich mit den „Schlachtreihen des lebendigen Gottes“ anlegt (17,36), der hat sich mit Gott selbst angelegt (17,5) – und damit von vornherein verloren. Aus diesem Wissen zieht David sein Grundvertrauen (17,32). – Wenn und weil Israel „einen Gott“ hat, kann Israel nichts treffen: weder die völkisch-nationale Überheblich­ keit eines Goliat (17,8) noch die Herausforderung durch einen „Unbeschnittenen“ überhaupt335 noch irgendwelche Fluchsprüche bei irgendwelchen Göttern, die eh keine Existenzberechtigung haben (17,43). – Die dritte Aussage wird präludiert in der Sendung Davids durch Sauls Worte: „Der Herr sei mit dir“ (17,37b). Sie sind hier kein allgemeiner Segenswunsch, sondern sie haben angesichts des höchst un­ gleichen Kräfteverhältnisses eine tiefe Bedeutung: Der Krieg gehört dem Herrn; er und nur er hat auch die Macht, dich zu schützen.

2.16.5 Theologie und Ethik des Bearbeiters Der Bearbeiter bringt eine der Volkssage implizite Ethik mit dem Gottesbild der Septuaginta-Version zusammen. In ihrer Komplementarität ergeben beide Ver­ sionen für ihn ein theo-ethisches Ganzes, das Schutz, Hilfe und wunderhaften Sieg für den verheißt, der unerschrocken ist und dabei Gottes Macht und Wirken (power) in sich und im Kampf Raum gibt.

334 H. W. Hertzberg greift zu weit, wenn er mit Blick auf 1.Kor 1,25–29 darin ein „Grund­ gesetz des Reiches Gottes“ erkennt (Die Samuelbücher, a. a. O., S. 122). Immerhin basiert das „Grundgesetz“ bei Paulus auf dem Kreuz Christi, das in dieser Tradition – auch indirekt – noch keine Rolle spielen kann. – W. Dietrich betreibt Eisegese, wenn er mit Blick auf 1.Sam ­17,45–47 einen „gleichsam pazifistische(n) Aspekt“ zu entdecken meint (Die Samuelbücher, a. a. O., S. 283). Vgl. ders., Samuel (BK VII/2, 5. Teilband), Neukirchen-Vluyn 2012, S. 368, wo er eine „Friedenslinie“ von Ex 15,3 über 1.Sam 17,45–47 zu Sachj 4,6 zieht. 335 Hier mag man aus der unbeteiligten Perspektive eines Dritten heraus Israel selbst Über­ heblichkeit vorwerfen; man verkennt aber dabei den dahinterstehenden religiösen Impuls, der keine Egalisierung von Gottesvorstellungen kennt.

284

Gott und das Volk

2.16.6 Theologie und Ethik des Deuteronomisten Die Sage von David und Goliat wird vom Deuteronomisten gern übernommen, bildet für ihn Bedrohung, Resignation und Hoffnung der Exilierten ab und hat das Ziel, die Hoffnung zur Gewissheit des Sieges mit Gottes Hilfe werden zu lassen. Mit dem Ende Judas und der Deportation sieht sich das Gottesvolk in seiner Existenz ernsthaft bedroht. Wenn auch die Lebensbedingungen im Exil erträglich erschienen (eigene Regionen mit einer Form von Selbstverwaltung [Hes 1,1.3; 2,59; 8,1; 14,1; 20,1]), war doch die Gefahr der Assimilation gegeben, was von den Frommen als zusätz­ liche Demütigung empfunden worden wäre (vgl. Klgl 2,17). Nichtsdestoweniger gab es „Kräfte …, die sich der Resignation, dem Zweifel und der Hoffnungslosigkeit ent­ gegenstellten und die Krise überwinden halfen“336, nicht zuletzt durch das unbedingte Festhalten an dem einen Gott, der der Herr über „alle Welt“ ist (Jes 43,1; 44,8b). Dem korrespondierte die Herausbildung der kultisch-religiösen Bedeutung der Beschnei­ dung als Identitätsmerkmal (Gen 17,11 [P]) und die Gebetsausrichtung nach Jerusalem (1.Kön 8,48)337.

Hier gibt es für den Deuteronomisten genügend Anknüpfungspunkte. Gerade die Philister als „Unbeschnittene“ unterstreichen noch einmal das Identitätsmerkmal der Beschnittenen, und sie stehen für die Babylonier, die den einen Gott nicht bekennen, sondern ein Pantheon verehren338, die Exklusivität der Bundeszusage nicht genießen, die stattdessen Jerusalem verhöhnen (17,10, vgl. Klgl 2,17) und die Exilierten zu knechten gedenken (17,9, vgl. Klgl 5,8). Es gibt aber keinen Grund – so die Botschaft des Deuteronomisten – in Furcht zu versinken oder in Resignation zu erstarren (17,11.24). Denn wie das Volk unter einem übermäch­ tigen Gegner bisher standgehalten hat, so wird es auch mit Gottes Hilfe gerettet und befreit werden – durch ein Wunder, wie es David vollbracht hat. Auf Gottes Hilfe, und nur auf diese Hilfe allein, und sei es auch im Krieg und zum Sieg, kann und darf Israel hoffen (17,47, vgl. Ps 20,8). Die Perspektive auf ein neues Jerusalem mit einem zweiten David ist eröffnet (17,54). Kann man es dem Deuteronomisten verübeln? Kann man es Israel verdenken?

336 M. Metzger, a. a. O., S. 150. 337 Ders., a. a. O., S. 141 f. 338 Deshalb übersetze ich 17,43b: „Und der Philister fluchte David bei seinen Göttern“ (­Luther: „bei seinem Gott“).

3. Gott und die Völkerwelt

Die Beziehung Jahwes zur Völkerwelt findet ihren expliziten Ausdruck vornehm­ lich im Genre der Prophetie. Hier wird Jahwe, nachdem etliche Entwicklungs­ stufen durchschritten wurden (Unheilsworte gegen Fremdvölker, Abwehr des Völkersturms auf den Zion), als das Heil für Israel und die Welt verkündigt. Das Heil für Israel ist das Heil für die Welt: Die Völker kommen zum Zion, um des Heiles teilhaftig zu werden; Israel wird zum Licht für die Völker, womit die Ab­ rahamverheißung in ihrer universalen Weite wahr wird; Jahwe ist der Herr der Welt – Frieden ohne Ende. Eine tiefe Sehnsucht nach beständigem Frieden öffnet in zwischen- und nachexilischer Zeit den Blick für Jahwes Heilshandeln auf einer neu werdenden Erde. Es ist allerdings auch in der Prophetie selbst ein weiter Weg bis hin zu jenen visionären Hoffnungsbildern von einer neuen Welt. Sie sind jetzt eingebettet in die Gesamtverkündigung eines Propheten bzw. in die Struk­ tur eines Prophetenbuches und haben darin eine bestimmte Funktion. Um diese heilsuniversalistischen Texte zum Leuchten zu bringen, ist zu zeigen, in welchem Verhältnis sie zur ursprünglichen Verkündigung des jeweiligen Propheten ste­ hen. Im Blick auf das Gottesbild kommt die zur Gewalt-Tätigkeit komplementäre Seite hinzu, die Abstandnahme von vernichtender Gewalt zugunsten einer Neu­ schaffung von Mensch, Himmel und Erde. Ohne diese Seite Gottes wäre das sich über Jahrhunderte ausprägende Gottesbild unvollständig. Im Blick auf die Ethik wird zu fragen sein, inwieweit sie dort, wo das neue Sein das Tun bestimmt, noch einen Ort hat.

3.1 Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja Jesaja hat etwa von 736–701 v. Chr., insbes. vor und während des syrisch-ephrai­ mitischen Krieges (734–730 v. Chr.) gewirkt (vgl. Jes 6,1). Seine letzten Worte (Jes 22,1–4*) werden mit der Belagerung Jerusalems durch Sanherib 701 in Ver­ bindung gebracht1. Dieser Zeitraum begrenzt die Markierung authentischer Jesa­ jaworte. Weiterhin bestimmt sich die Authentizität durch die Kongruenz mit der in der Berufung enthaltenen Beauftragung. So dürfen nach Kilian2 folgende Pas­

1 Diese Worte sind im historischen Kontext von 2.Kön 18,13–19,37 (vgl. 2.Chr 32,1–23; Jes 36,1–37,38) zu hören. 2 R. Kilian, Jesaja 1–12, Würzburg 1986, S. 14 f.

286

Gott und die Völkerwelt

sagen als echt gelten: Jes 2,12.173; 3,1a.2–74; 3,14–17.245 (3,25–4,1)6; 5,1–77; 5,8.11.​ 18.20–23; 6,1–11​(12–13a)8; 7,1–17*(18–22)*(ohne 7,4)9; 8,1–4.6a.7aα.12a.13a– 14a.b*.​15a.bα10; 9,7.8*.9.10*.11.13.16b–2011; 22,1b-3.12–14.15–18; 28,(1–4)7b–11​ (14–22)12; 29,1–4.9–16(ohne 29,11 f); 31,1.313. Jesajanisches Gut findet sich noch verstreut in Jes 14,28–32, z. B. 14,3014; 27,1–6 und 30,14.1715. Alles andere in Protojesaja gilt als Sekundärgut, sei es nachexilisch oder redaktionell oder ein vaticinium ex eventu. Ich folge dieser im Blick auf die Autorschaft Jesajas mini­ malistischen Lösung, nicht zuletzt aufgrund des Arguments, dass sich die mit der Berufung verbindende Verstockungsansage, und nur diese, zumindest in der Verkündigung Jesajas bewahrheiten muss. Es gibt indes auch den Versuch, den Verstockungsauftrag von der Berufung abzutren­ nen und damit ein epistemologisches und theologisches Ärgernis zu beseitigen. Die Berufung würde nur Jes 6,1–8 umfassen. Dann fehlt allerdings der Sendungsauftrag. Deshalb wird ein solcher aus der Audition herauskonstruiert: Aufgabe des Propheten sei es, König und Volk mit der Heiligkeit Jahwes zu konfrontieren, was dann in Jes 7,3 geschehe. So wird in Jes 7,316 oder auch Jes 8,1–417 die Sendung gesehen. Eine solche

3 So auch W. A.M. Beuken, Jesaja 1–12 (HThKAT), Freiburg 2003, S. 101 (unter Hinzu­ nahme von 2,6aβ-9a). 4 So auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 110 (unter Hinzunahme von 3,8–9 aus formalen Gründen: 3,1–7 Anklage, 3,8–9 Begründung); anders O. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 1–12 (ATD 17), Göttingen 51981, S. 76 ff. 5 Anders W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 110 und S. 119. 6 Vgl. auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 110 und S. 119. 7 So auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 134 (mit Zweifel an 5,6 f); B. Duhm, Das Buch Jesaja, Göttingen 51968, S. 54; anders O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 100. 8 So auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 164 (einschl. 6,13a, aber ohne 6,13b). B. Duhm hält nur Jes 6,1–11 für authentisch, 6,12 und 13a für vaticinia ex eventu, 6,13b für eine nachexilische Glosse (Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 69). 9 So auch B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 70 und S. 76; anders W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 189 und S. 191: Kap. 7, Er-Bericht zwischen den zwei Ich-Berichten Kapp. 6 und 8, sei von Pro­ phetenschülern. Später nimmt Kilian die Echtheitseinstufung zurück zugunsten von vaticinia ex eventu (R. Kilian, Jesaja 13–39, Würzburg 1994, S. 174). 10 So auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 216; anders O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 186 (8,14 f vaticinia ex eventu). 11 Anders W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 262 f: „ein theologischer Entwurf über die Geschichte Israels … im Anschluss an den Verstockungsauftrag“. 12 Zu Recht weist U. Berges das Ecksteinwort 28,16–17a späterer Redaktion zu (U. Berges, Das Buch Jesaja, Komposition und Endgestalt [HBS 16], Freiburg 1998, S. 224). 13 Letztes urjesajanisches Wort. Danach schweigt Jesaja (auth.) (U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 214). 14 Restaussage, vgl. auch Jes 17,3.6 (R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 52). 15 „Übriggebliebenes“ (ders. ebd.). Ich nehme Jes 30,15 noch hinzu (s. u. Anm. 84). 16 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 99. 17 U. Becker, Jesaja. Von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen 1997, S. 94 ff; bes. S. 96.

Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja

287

Konstruktion würde die Integration der Heilsverheißungen in die jesajanische Verkün­ digung ermöglichen. Nun ist aber ein solcher Sendungsauftrag nicht gegeben, und weder Jes 7,3 noch Jes 8,1–4 können dafür herhalten. In beiden Stellen geht es um begrenzte Einzelauf­ träge, während ein Sendungsauftrag immer das große Ganze im Blick hat (vgl. Ex 3,10; Jes 40,6; Jer. 1,7; Hes 2,3; 3,4–7). So liegt der Sendungsauftrag in der Tat – so widerstän­ dig er auch erscheint – in Jes 6,9–10 vor. Er trägt auch der offenen Formulierung eines solchen Auftrags Rechnung. Logische und theologische Aporie kann kein Kriterium für die Bewertung dunkler Gotteserfahrungen sein. Wie der Glaubende mit der vermeint­ lichen oder tatsächlichen Verstockung Israels, interpretiert als Gottes Plan, umzugehen habe, ist später noch einmal von Paulus reflektiert worden (Röm 9–11) und wird eine immer wiederkehrende bedrängende Frage sein.

Es genügt, die authentischen Texte in Jes 1–12 zu betrachten, weil die heilsuni­ versalistisch relevanten Texte Jes 4,2–6; 2,1–5; 9,1–6; 11,1–9 in diesem Bereich liegen. Den authentischen Jesaja bezeichne ich künftig mit Jesaja (auth.) bzw. als urjesajanisch. Hermeneutischer Schlüsseltext für Jesaja (auth.) ist Jes 6,1–13a.

3.1.1 Jes 6,1–13* Die authentische Autorschaft des Berufungsberichts Jes 6,1–11 wird hier ver­ treten. 6,12 und 13a wurden gelegentlich als vaticinia ex eventu18 bzw. „nach­ exilische Kommentierungen“19 angesehen, könnten aber ebenfalls urjesajanisch sein, jedoch als Einzelworte oder aus anderen Zusammenhängen hier angefügt; denn 6,12 geht inhaltlich mit 6,11 konform, und 6,13a bewegt sich innerhalb der verstockungstheoretischen Stumpf-/Rest-Theologie Jesajas (auth.). 6,13b (Stumpf als „heiliger Same“) allerdings ist von späterer Hand, der die totale Preisgabe des Volkes an das Gericht (emotional und theologisch) unerträglich erschien20. Damit ist die Berufung des Jesaja (auth.) ausnahmslos Berufung zur Gerichts­ ansage. In den authentischen Texten wird sich das spiegeln. Im Berufungsbericht werden wir Zeuge eines subjektiv erlebten Gottes. Das Gottesbild erhebt nicht – wie in erzählenden Texten – Anspruch auf Allgemein­ gültigkeit, sondern es steht hier unter dem Vorzeichen der nur diesem Menschen in dieser Weise zuteil gewordenen Offenbarung. Die Botschaft „So hat sich Gott ihm dargestellt“ lädt ein, über Gottes Wesen nachzudenken, will aber kein Got­ tesbild für allgemeingültig erklären, wenn der Erfahrungshorizont beim Hörer /  Leser dafür fehlt. Die intersubjektive Übereinstimmung ist eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung in der Akzeptanz von Gottesbildern. Darum 18 B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 69; R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 51. 19 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 95. 20 So auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 164; O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 125.

288

Gott und die Völkerwelt

ist das Jesaja (auth.) zuteil gewordene Gottesbild in seiner Abgründigkeit so zu be­ lassen, wie es ist. Das Überwinden der Abgründigkeit bleibt den Ergänzern über­ lassen (hier: 6,13b), die angesichts der unumkehrbaren Gerichtsbotschaft offenbar besser mit einem ihnen schon bekannten ambiguen Gott umgehen konnten21. Der Herr Zebaoth erscheint dem Jesaja (auth.) zunächst sehr traditionell. Das numinosum ist in den Glanz der Heiligkeit getaucht (Jes 6,1–3). Aus diesem nu­ minosum gehen das tremendum und das fascinosum hervor. Das tremendum begegnet Jesaja (auth.) im existenzbedrohenden Ansichtig-Werden des Herrn. Warum das tremendum ein Zu-Tode-Erschrecken bewirkt, wird – Jesaja in den Mund gelegt – begründet: zum einen (an zweiter Stelle) althergebracht („denn ich habe … den Herrn Zebaoth gesehen mit meinen Augen“ [Jes 6,5b; vgl. Ex 33,20]), zum anderen (an erster Stelle) mit der tiefen Abständigkeit seiner Person und seines Volkes von Gott, vor dem daher kein Bestehen ist („denn ich bin unreiner Lippen“ [Jes 6,5a]). Dass dies als der eigentliche Grund der Todesangst im An­ gesicht Gottes gilt, wird bestätigt durch den Akt der Entsündigung, der neues Leben schenkt (Jes 6,6–7). Im Akt der Entsündigung begegnet der Herr Zebaoth dem Jesaja (auth.) vermittelst eines Seraphen in seiner faszinierenden Weise. Eine neue Stufe des Diskurses über das (Nicht)Sterben-Müssen angesichts einer Gotteserscheinung ist erreicht. Hatte die Frau des Manoach rational argumentiert (s. o. unter AT 2.14.8.6), so wird das Zulassen von Nähe für Auserwählte hier theologisch vertieft. Ein solches Gottesbild darf sich intersubjektiver Überein­ stimmung erfreuen. Bis heute aber ist es schwer, sich einem Gott zu verschreiben, der unumkehr­ bar vernichten will, und zwar sein Volk. Aber er scheint es zu wollen, und Jesaja (auth.) soll es verkünden (Jes 6,9 f). Was ist der Sinn dieses Verstockungsauftra­ ges: „Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihren Herzen und sich nicht bekehren und genesen“? Es ist zwei­ fellos eine Gerichtsansage. Eine solche kann aber verschieden schwer ausfallen und auch verschiedene Intentionen haben. Eine vergleichsweise milde Form der Ansage, wenn auch mit durchaus schwerwiegenden Folgen, ist der Liebesentzug (Jes 3,1 ff). Gerichtsankündigung mit allerlei Schrecken kann auch Gottes ein­ dringlicher Ruf zur Umkehr sein (z. B. Jer 3,6–10; Hos 11) oder aber auch das Zu-Spät markieren. Das ist hier der Fall. Der Herr hat sich keineswegs lediglich abgewandt; nein, er ist da – zum Gericht. Er wäre zu hören, wenn er die Ohren des Volkes noch einmal öffnen würde, aber er will es nicht. Er wäre zu sehen, wenn er die Augen des Volkes noch einmal öffnen würde, aber er will es nicht. Das ist 21 Diese theologische Tendenz der Redaktoren hat auch schon W. Eichrodt hervorgehoben (Der Heilige in Israel. Jesaja 1–12, Stuttgart 1960, S. 63). Er begründet sie mit dem „liturgischen Gebrauch der Prophetenschriften in der Gemeindeversammlung“, wo harsche Gerichtspredigt von versöhnlicheren Tönen eingefangen werden muss.

Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja

289

das Gericht! Und Jesaja (auth.) ist der Repräsentant des zu diesem Gericht an­ getretenen Gottes unter seinem Volk. Seine Stimme ist Gottes Stimme, die zwar gehört werden könnte (Irrealis), aber jetzt nicht mehr gehört werden soll. Das ist Zorngericht in höchstem Ausmaß! „Wie lange noch“ (Jes 6,11)? – „Fortdauernd“ (Jes 9,11b.16b.20b)! Exkurs: Den Herrn sehen und sterben Bei seiner Berufung erschrickt Jesaja (auth.) fast zu Tode, weil er den Herrn gesehen hat. Das ist eine alte Vorstellung. In reiner Form begegnet sie uns in Ex 33,20: Der Herr spricht (weiter): „ Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird le­ ben, der mich sieht.“ Dieses urtümliche Theologumenon22 ist hier an die ursprüngliche Mosebitte „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“ und die darauf folgende Selbstvorstel­ lung Gottes „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich“ angewachsen23. Darauf deutet das „weiter“ hin. Auch 33,21 ff ist ein weiterer Zuwachs, auch hier das Signalwort „weiter“24: Die unbedingte Gültig­ keit des Theologumenons wird abgeschwächt („du darfst hinter mir her sehen“). Dem Theologumenon liegt wohl die Vorstellung zugrunde, dass ein Aufeinandertreffen von Mensch und Gott in reiner Form sich ausschließen, dass Begegnung immer nur ver­ mittelt geschehen kann. Der ambigue Schöpfer hat vernichtende Kraft, wenn man ihm direkt begegnet. Der uralte Mythos vom Tötungsversuch Jahwes an Mose weiß davon (Ex 4,24–26), die Berufung des Mose beginnt mit dem Verbot, dem brennenden Dorn­ busch zu nahe zu kommen (Ex 3,5), und bei der Offenbarung am Sinai gilt (auch den Priestern!): „Wer den Berg anrührt, der soll des Todes sterben“ (Ex 19,12). Theologische Reflexion bleibt nicht bei der alten Vorstellung stehen. Auserwählten wird es zuteil, dem Herrn zu nahen. So z. B. Jakob am Jabbok (Gen 32,23–32). Auch hier liegt noch ein Hauch von Existenzbedrohung über der Geschichte, aber die direkte Konfrontation führt nicht zum Tode, sondern lediglich zu einem Schlag auf die Hüfte, in weiterer Ausgestaltung zu einer Hüftverletzung. Die Bedrohung ist freilich da; denn Jakobs Leben wurde „gerettet“ (Gen 32,31)25. Natürlich gehört auch Mose zu den Aus­ 22 Das Theologumenon könnte seinen Ursprung in der Erfahrung Jahwes als Sturm- und Wettergott haben, der schnaubend aus dem Seïr-Edom-Gebiet daherkommt (Ri 5,4 f). Ps 18 (//2.Sam 22) legt ein altes Zeugnis davon ab, was passiert, wenn die Gottheit sich den Menschen nähert: verzehrendes Feuer (v 9), Finsternis ringsum (v 12), Blitze wie tödliche Pfeile als Durch­ bruch seines unheimlichen Glanzes durch das Wolkendunkel (vv 12–15). – Die Vorstellung vom plötzlichen Tod angesichts direkter Gottesbegegnung ist auch in Ägypten bekannt. Vom Gott Amon heißt es, er sei zu geheimnisvoll, als dass man ihn erforschen könne; auf der Stelle falle man einem gewaltsamen Tod anheim, wenn man seinen geheimen Namen – den man eigentlich nicht kennen dürfe – ausrufe (G. Mensching, a. a. O., S. 214). 23 Anlass zur Erweiterung könnte Ex 33,15 f gegeben haben. Mose spricht hier metaphorisch vom „Angesicht“ des Herrn, auch vom „Erkennen“ gnädiger Zuwendung. Metaphern sind oft Anlass zu wunder-realistischer Verobjektivierung derselben (vgl. G. Scholz, Neutestamentliche Wundergeschichten, a. a. O., S. 17–23). Dieser Tendenz kommt Ex 33,20 mit „Angesicht … se­ hen“ entgegen. 24 Anders M. Noth, Das Buch Exodus, a. a. O., S. 212, der wegen des Stichworts „Herrlich­ keit“ in 33,21 ff die Fortsetzung von 33,18 sieht. 25 Gen 28,10 ff ist als indirekte, durch Traum vermittelte Begegnung zu betrachten.

290

Gott und die Völkerwelt

erwählten. Er allein darf sich nach Ex 24,2 dem Herrn nahen, nach Ex 24,9 sind es mit ihm noch Aaron, Nadab, Abihu und siebzig Älteste: „Und (der Herr) reckte seine Hand nicht aus wider die Edlen Israels“ (Ex 24,11). Mehr noch: Mit Mose redet der Herr nicht nur aus der Wolkensäule, sondern „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet“ (Ex 33,11). Damit ist das alte Theologumenon korrigiert. Hieß es einst: Wer den Herrn sieht, muss sterben, so heißt es jetzt: Der Herr lässt (für seine Auserwählten) Nähe zu. Dieses Theologumenon trägt durch die Zeit des Exils durch, gibt visionäre Hoffnung und unverbrüchliche Gewissheit. Vom „Fürsten“ der Zukunft heißt es: „Er soll aus ihrer Mitte kommen … und er soll zu mir nahen; denn wer dürfte sonst sein Leben wagen und mir nahen?, spricht der Herr“ (Jer 30,21). Diese Exklusivität des „Fürsten“26 wird im Anhang v 22 „demokratisiert“: „Und ihr sollt mein Volk sein und ich will euer Gott sein“27. Man wird die Umdeutung des uralten Theologumenons von einem Todesurteil in ein Wort der Gewährung von Nähe als ein Proprium altisraelitischer Theologie bezeichnen dürfen. Diese Nähe wird auch Gideon gewährt (Ri 6,22–24). Der alte tödliche ­Schrecken ist noch spürbar, wenn auch verblasst. In dem „Fürchte dich nicht“ klingt er noch durch. Der Herr selbst aber garantiert in der nahen Begegnung neue Lebensqualität: Frieden (Ri 6,23). – Am Ende aber sind es nicht nur die auserwählten Großen, die den Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen dürfen, sondern – im Zuge der „Demokratisierung“ – auch Manoach und seine namenlose Frau (Ri 13). Das alte Theologumenon wird von Manoachs Frau endgültig ad absurdum geführt: „Wenn es dem Herrn gefallen hätte, uns zu töten, so hätte er … uns … das alles weder sehen noch hören lassen, wie jetzt geschehen ist“ (Ri 13,23). Auch hier ist der Sinn: Den Herrn von Angesicht zu Ange­ sicht sehen bedeutet neue Lebensqualität, Leben auf die Erfüllung einer wunderbaren Verheißung hin. Die völlige Uminterpretation des direkten Begegnungsgeschehens von Gott und Mensch weg vom tödlichen Schrecken hin zum Empfang von Frieden und Leben hat dennoch den Stachel des Todes nicht ganz unwirksam machen können. Er schimmert durch Begegnungsgeschichten immer wieder durch in der Andeutung von Furcht und im Niedergeworfen-Werden von der Heiligkeit des Herrn (Ri 13,20; Jes 6,5; Hes 1,28c; Apg 9,4). Jesaja (auth.) ist der einzige, der dieses Phänomen des tödlichen Ernstes der direkten Begegnung noch einmal theologisch reflektiert: Es liegt an unserer Sündhaf­ tigkeit, die vor dem Herrn nicht bestehen kann28. Damit nähert er sich der narrativen Theologie und Anthropologie der Sintflutgeschichte (N), nach der die Menschheit durch ihre in ihr herrschende Bosheit ihre Existenzberechtigung verspielt hat. Am Ende der Sintflutgeschichte leuchtet freilich die Ur-Rechtfertigung des Menschen auf (Gen 8,21 f [N]). So auch bei Jesaja (auth.), hier auf ihn selbst bezogen: Entsündigung. Jesaja (auth.) bekennt für sich selbst: In der todernsten Begegnung mit dem Herrn liegt für

26 Ein zweiter David (Jer 30,9), offenbar mit mosaischen Zügen. 27 Wanderspruch, vgl. Jer 7,23. 28 R. Otto sieht darin neben dem momentum tremendum und dem momentum fascinosum noch ein drittes Element des Numinosen, die Erfahrung des Heiligen als eines erhabenen Wer­ tes, angesichts dessen ich meines Unwertes inne werde (momentum augustum). Vgl. dazu auch G. Mensching, a. a. O., S. 121 f. Aber dieses Element lässt sich auf das tremendum und fascinosum jeweils verteilen.

Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja

291

ihn zugleich ein unverhoffter Gnadenakt, der Entsündigung, Rettung aus dem Tod und Leben schenkt. Lukas hat die urjesajanische reflektierte Erfahrung aufgenommen und verallgemeinert in der Berufung des Petrus (Lk 5,8–10) und des Paulus (Apg 9,3 f.13.17).

Das weitere Vorgehen orientiert sich an der so genannten Denkschrift Jesajas bzw. der „Immanuelschrift“29. Sie gilt weitgehend als eine urjesajanische Komposition im Zusammenhang mit dem syrisch-ephraimitischen Krieg. Dass sie späteren Lesern / Hörern auch die Begründung für die Katastrophe von 587 lieferte, ist wahrscheinlich, ändert aber nichts am urjesajanischen Ursprung. Ihr Kern liegt in Jes 6,1–8,18 vor. Redaktionell ist sie mit drei Ringkompositionen umgeben30. Von innen nach außen: Scharniervers über die Finsternis im Land: 5,30 und 8,2231; Refraingedicht über den fortdauernden Zorn des Herrn 5,25–29 und 9,7–20; Weherufe in 5,8–24 und 10,1–4. Dabei korrespondieren Weinberglied 5,1–7 und Refraingedicht insofern miteinander, als sich enttäuschte Freundschaft (über die Brücke der Weherufe) in fortdauernden Zorn verwandelt. Das mag redaktionell gewollt sein, nichtsdestoweniger hat der Schülerkreis Jesajas (auth.) Intention sachgerecht wiedergegeben.

3.1.2 Jes 7,1–17* Jes 7,1–17 ist Illustration der Verstockungsabsicht Jahwes. Sie mag vom Schüler­ kreis des Propheten stammen (Er-Bericht)32, dem an einem besonders negativen Ahas-Bild, aus dem sich später der Kontrast Ahas-Hiskia entwickelt, gelegen war (vgl. Jes 7 mit Jes 36 f; 2.Kön 16,1–20 mit 2.Kön 18,1–6; 2.Chr 28 mit 2.Chr 29 ff). Nichtsdestoweniger gibt diese Erzählung – von historisierenden Ergänzungen (7,1 [vgl. 2.Kön 16,5] ohne den Beginn; 7,7c; 7,17fin [Hinweis auf König von ­Assur]) und einem deuteronomistischen Mutzuspruch (7,4) abgesehen – die Ver­ kündigungssituation Jesajas (auth.) unverfälscht wieder. Das Bild eines Gottes wird gezeichnet, dessen Gerichtshandeln das Gnaden­ wirken längst hinter sich gelassen hat. 1. Der Name Schear-Jaschub ist sinngemäß zu übersetzen: „Nur ein Rest wird übrig bleiben“. Er ist gleichzusetzen mit dem Baumstumpf (6,13a), der die Überlebensfähigkeit des Baumes kaum sichert. Ab­ gesehen von einer späteren heilseschatologischen Rest-Theologie, die sich auch in 6,13b bemerkbar macht (vgl. auch 4,3; 10,20 f; 11,11.16; 28,5), spricht Jesaja (auth.) 29 W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 130. Die Wahrscheinlichkeit ihrer Existenz kann hier nicht diskutiert werden. 30 Die „Redaktion“ kann vom Schülerkreis Jesajas (auth.) stammen (vgl. auch U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 87 f). 31 8,23 ist späterer redaktioneller Übergang zur aufliegenden heilsuniversalistischen Vision. 32 Vgl. W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 189.

292

Gott und die Völkerwelt

vom „Rest“ als lebensunfähigem Überbleibsel aus einem Vernichtungsgericht, das anzeigt, dass es hier einmal etwas gab, was jetzt wüst liegt (vgl. 30,17)33. – 2. In 7,5–9 wird Ahas der Plan Arams und Ephraims, ihn ab- und Ben Tabeal als willfährigen König einzusetzen, aufgedeckt und Gottes machtvolles Veto da­ gegen verheißen: Es soll im Mächtespiel alles so bleiben wie es ist. Das bedeutet: Auch Juda soll unter Ahas unbedroht bestehen bleiben, womit die kultisch und politisch unsägliche Koalition mit Assur entfiele. Mit der einen und nur einen Bedingung des Gottvertrauens (statt Taktierens) wäre noch eine Gnadenfrist für Ahas und Juda gegeben. Das aber ist für den Propheten ein Irrealis. Der König hat gehört und offenbar nicht verstanden34. Weil er nicht glaubt, bleibt er nicht35. – 3. Das Zeichenangebot des Herrn36 lehnt Ahas scheinheilig ab, wird dem Leser vermittelt. Der König hört es zwar, aber er entzieht er sich ihm „verstockt“. Der Geschichtsmächtigkeit des Wortes kann er sich allerdings nicht entziehen, denn diese wird gegen ihn ausschlagen. Das ist Jesajas letztes und unumstößliches Ge­ richtswort gegen Ahas und Juda, auch eines Gottes, der es „satt hat“ (7,13). Was Heil hätte sein können37, die Neugeburt Israels in unverbrüchlicher Gemein­ schaft mit Gott, wendet Jahwe zum Bösen: „Denn ehe der Knabe weiß, Böses verwerfen und Gutes erwählen, wird das Land verödet sein …“ (7,16)38. Damit 33 R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 52 (wieder zurückgenommen und als nachexilisch ein­ gestuft in: Ders., Jesaja 13–39, a. a. O., S. 174); O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 140 u. 144; noch profilierter ders. in der 2. Auflage 1963, wo er den Namen als Vorausdeutung auf die Unentrinnbarkeit des Gottesgerichts bezieht und ihn mit der Verkündigung Jes 6 in Verbindung bringt (dort S. 71 f). 34 Nach 2.Kön 16,7–9 verbündet Ahas sich mit Tiglat-Pileser. Zu den Zweifeln der histo­ rischen Forschung an der biblischen Darstellung von Ahas’ Bündnispolitik vgl. U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 91–94 und S. 105 und W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 192 f. Sollte Ahas jedoch seiner angeblich strikten Neutralitätspolitik „durch ambitiöse feindliche Usurpatoren“ zum Op­ fer gefallen sein, wäre die gesamte Prophetie Jesajas (auth.) unverständlich. 35 Eine konditionale Deutung von Jes 7,9 und damit ein Verständnis als „Warnung“ („Wenn ihr nicht glaubt, so bleibt ihr nicht“) verbietet sich vom Kontext her (Anders J. Kegler, „Prophe­ tisches Reden vom Zukünftigen“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann [Hg.], Eschatologie und Friedenshandeln, Stuttgart 1981 [SBS 101], S. 35). 36 In 7,10 ist „der Herr“ in „Jesaja“ zu ändern; denn der Herr hat bisher nie direkt, sondern nur über den Propheten zu Ahas gesprochen. Nichtsdestoweniger bleibt es ein Wort des Herrn. 37 Dass das „Zeichen“ (7,14 f) einmal als Heilsansage gedacht und überliefert wurde, kann vermutet, aber nicht bewiesen werden. Vgl. auch die positiven Konnotationen zu „Immanuel“ in Jes 8,8.10. Zur ursprünglichen „volkstümlichen Rettererwartung“, die in 7,16 von Jesaja um­ interpretiert wird, vgl. auch W. Eichrodt, a. a. O., S. 90. – 7,15 führt zwar die Akzentuierung einer Rettergestalt fort, der Vers könnte aber auch durch die heilsuniversalistische Redaktion hinein­ gekommen sein, die für 11,1–9 verantwortlich zeichnet (s. u. unter AT 3.3.4.1). 38 Es spricht nichts dagegen, dass die schwangere und demnächst gebärende junge Frau als das Zeichen angekündigt wird. Dann wären in 7,16 und 17 die realen Folgen des Zeichens be­ schrieben, so dass das Zeichen eindeutig wird (vgl. auch den unauflöslichen Zusammenhang von prophetischer Zeichenhandlung und Deutewort). – Die Herauslösung von 7,14b-16a.bα aus der ursprünglichen Zeichenankündigung beruht u. a. auf der Annahme eines kollektiven Verständ­

Die authentische Verkündigung des Propheten Jesaja

293

lässt uns Jesaja (bzw. sein gelehriger Schülerkreis) erneut in ein Gottesgesicht blicken, das total verfinstert ist und nichts anderes mehr zulässt, als am König und am Volk ein Exempel seines unaufhebbaren Gerichts zu statuieren, das mit der Verstockung beginnt und mit dem Untergang enden wird. Neu und zutiefst befremdlich ist, dass er einst gut Gemeintes in Böses umzuprägen beabsichtigt (anders Gen 50,20)39. Unter diesem Vorzeichen werden alle Konditionen, die noch Möglichkeiten offen zu lassen scheinen, zu unausweichlichen Folgen: „Weil ihr nicht fest glaubt, werdet ihr nicht fest stehen.“ – „Weil du kein Zeichen vom Herrn forderst, sondern deinen eigenen Weg gehen willst, wird dir das Zeichen des Immanuel ein Unheilszeichen sein.“ Das kausale Denken entspricht Jesajas Deutung der Geschichte als Realisierung des göttlichen „Zu-Spät“.

3.1.3 Jes 5,1–7 Das Weinberglied ist „ein begründetes Gerichtswort mit vorausgehender Anklage, die als Liebeslied verfremdet ist“40. Jahwe, der Liebhaber Israels, ist von seinem „Weinberg“ schwer enttäuscht. Er entzieht ihm seine Liebe und überlässt ihn sich selbst41 – mit existenzvernichtenden Folgen. Liebesentzug schmerzt, ist aber keine Gewaltanwendung. Das Gericht vollzieht sich, aber als selbstverschuldetes und hausgemachtes Ereignis; Jahwe bleibt überwiegend passiv42. Die schiefe Ebene, auf der sich Jerusalem und Juda befinden (Rechtsbruch statt Rechtsspruch, Schlechtigkeit statt Gerechtigkeit43) (5,7), lässt keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu. Das Weinberglied passt als poetische Reflexion zu Jes 6,9 f.

nisses von „Immanuel“ als politisch-religiöser Gruppe, für die der Zion die „Jungfrau“ sei, aus der einzig und allein Neues im Sinne Jahwes hervorgehen könne. Eine solche durch O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 161 f bereits vorbereitete allegorische Deutung ist jedoch für frühe Überlieferungsstufen nicht wahrscheinlich, wenngleich sie für die Endredaktion im Rahmen des Möglichen liegt (die drei Weissagungen in den Kapp. 7, 9 und 11 als „messianisches Triptychon“ [W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 187]). 39 „Die Verkehrtheit des Volkes verkehrt auch das Verhalten Jahwes seinem Volk gegenüber“ (R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 66). 40 R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 39. 41 In Jes 3,1 reißt Jahwe die Stützen des Staates ein und ist am darauf folgenden Chaos un­ mittelbar beteiligt. In Jes 5,5 reißt er zwar auch den Schutz des Weinberges ein, überlässt ihn dann aber sich selbst. Jesaja (auth.) sieht Jahwe nie in reiner Passivität (preisgeben) noch in reiner Aktivität (einreißen), sondern jeweils in überwiegender Aktivität oder Passivität. 42 Vgl. 5,6a.b mit 5,6c. 43 Wörtl.: „Blutvergießen“ statt „Rechtsspruch“; „Hilfeschrei“ statt „Gerechtigkeit“.

294

Gott und die Völkerwelt

3.1.4 Jes 5,25; 9,7–13.16b-20* Das Kehrverslied ist durch eben jenen Refrain („Bei all dem kehrte sich sein Zorn nicht ab, seine Hand ist dauernd44 ausgereckt“ [5,25c; 9,11b.16b.20b]) strukturiert. Ich rechne Jes 5,25 in Anlehnung an B. Duhm45 hinzu und nehme es als urjesajanisches Wort an, ohne genau festzulegen, wo es im Zusammenhang mit Jes 9,7–20 gestanden haben könnte. Jes 5,26–30 halte ich für spätere Ausmalung. Jes 9,14–16a ist nachträgli­ che Deutung des Bildwortes vom Kopf und Schwanz. Jes 10,1–4 gibt sich als Fortsetzung der Weheworte aus Kap. 5, ist aber wohl späterer Zusatz46.

Jetzt wird das gottvergessene und machtbesessene Nordreich der Zerstörung preisgegeben47. Allerdings wirkt sich hier nicht nur der Liebesentzug eines ent­ täuschten Freundes, sondern Jahwes Zorn aus. Dieser ist gewalt-tätig, tötend. Is­ rael wird von ihm zerstückelt, „Kopf “ und „Schwanz“ werden abgehauen (9,13), wie ein Drache speit der Herr Feuer, das das Land verbrennt (9,18). Feuer als Zorngericht und Feuer als ein gegenseitiges Sich-Verzehren greifen ineinander, sind nicht mehr zu unterscheiden, bedingen sich gegenseitig. Gott als Drache, der sich der Feinde Israels bedient, um es zu vernichten (9,11). Wem soll diese Verkündigung nützen? Will sie nützen, oder will sie „nur“ Geschichte deuten als Unheilsweg eines verstockten Volkes (Jes 6,9 f)?

3.1.5 Jes 3,1–7 Gottes Gericht richtet sich unwiderruflich gegen sein eigenes Volk. Es gibt keine Verschonung, keine Reue Gottes; wozu auch, wenn Umkehr und Wende ohnehin nicht in Sicht sind (Jes 6,9 f). Das war im deuteronomistischen heilsgeschicht­ lichen Denken anders. Hier entzieht Jahwe Jerusalem und Juda die Grundlage seiner Existenz (3,1a)48 und zerstört Herrschaftsstrukturen (3,2 f). Daraus ent­ stehen Anarchie (3,4), Gewalt (3,5), Chaos (3,6). Es fehlt der Wille, in diesem „Trümmerhaufen“ Verantwortung zu übernehmen und den Schaden wenigstens ansatzweise zu heilen (3,6 f). 44 Die Lutherübersetzung „noch“ suggeriert ein Einlenken Gottes. So interpretiert auch W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 270. Daran ist aber nicht gedacht. Daher ‫ עוֹד‬/ ῾ōd = dauernd. 45 A. a. O., S. 61. 46 R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 79: vaticinium ex eventu mit imitiertem Kehrversschluss. 47 Ob „Ephraim und die Bürger Samarias“ (9,8) verdeutlichender späterer Zusatz ist (so R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 75), ist nicht sicher. Es könnte ebenso als pars pro toto für das Nordreich stehen wie „Jerusalem und Juda“ für das Südreich (vgl. Jes 3,1; 5,3). Mit Kilian ist „nämlich Rezin“ (9,10) späterer Zusatz. 48 was ein Kommentator auf die Formel „Brot und Wasser“ bringt (3,1b).

Korrektur und Ergänzung des urjesajanischen Gottesbildes

295

Ist Jahwe gewalt-tätig? Wenn er in seiner Machtvollkommenheit (power) die Stützen von Sicherheit und Ordnung zerbricht, legt er den Grund für sich ent­ wickelnde Gewalt (violence). Jesaja (auth.) betont, dass Jahwe das bewusst tut: In 3,4–7 spricht Jahwe in der 1. Person. Was er tun wird, ist sein Wille. Sicher überlässt er sein Volk dem Chaos, aber es ist kein Überlassen im Sinne von Röm 1,24 f.26 f.28 ff (ἔδωκεν / edōken = er hat sie ihrem Treiben preisgegeben), sondern es ist von ihm initiiertes und assistiertes Chaos. In diesem Sinn ist Jahwe gewalt-tätig! Sein Gericht ist gewalt-tätig, und seine Gewalt-tätigkeit ist Vollzug des Gerichts, Rettung ist nicht vorgesehen (3,14–17.24–26; 4,1); anders Ri 2,18!

3.2 Korrektur und Ergänzung des urjesajanischen Gottesbildes Hat sich solchermaßen Jesaja (auth.) als ein Prophet des unabänderlichen, un­ widerruflichen, endgültigen, weil schon in das Herz des Volkes hineingeschrie­ benen Gottesgerichtes profiliert, ist die ihm folgende Theologie herausgefordert, sich mit der urjesajanischen Interdependenz von Königs- und Volksverhalten einerseits und Jahweverhalten bzw. Jahwebild andererseits auseinanderzusetzen. Bereits der Schülerkreis scheint sich der Herausforderung einer in den Abgrund weisenden Interdependenz-Theologie zu stellen. In den bisher behandelten Tex­ ten ist er als Wahrer urjesajanischer Verstockungstheologie aufgetreten. Das ent­ spricht auch seinem Selbstverständnis: Die „Offenbarung“ soll in ihm „verschlos­ sen“, die „Weisung“ in ihm „versiegelt“ sein (Jes 8,16). Der verhüllte, nicht mehr erkennbare Gott (8,17b) kann aber die Hoffnung nicht zerstören (8,17a.c). Die Theologie der Verstockung wird eingeklammert durch eine Theologie der Hoff­ nung. Dem zu verkündigenden deus absconditus tritt der deus expectatus49 als persönlich geglaubter, in diesen Worten aber auch öffentlich bekannter Gott an die Seite. Die theologische Superiorität der Klammer vor dem Eingeklammerten gilt auch für die heilsuniversalistischen Abschnitte Jes 2,1–5; 4,2–6; 9,1–6; 11,1–9. Die Auseinandersetzung mit urjesajanischer Theologie schreitet voran. In der Zeit des Zweiten Tempels wird der deus expectatus mit dem „Herrn der Heerscharen, der auf dem Berg Zion wohnt“ (8,18) identifiziert. So wird hinter Jes 8,16–18 eine über 200jährige Auseinandersetzung mit Jesaja (auth.) erkennbar, die von der Verstockungstheologie über die Theologie der Hoffnung zur Zionstheologie führt. Die Auseinandersetzung schlägt sich auch in Gegentexten nieder, hinter denen die Frage an die urjesajanische Theologie steht: Ist das noch unser Gott mit seinen Verheißungen und Bundesschlüssen?50 Die Beantwortung dieser Frage führt – bei allem Respekt vor dem urjesajanischen Gotteszeugnis – zu einer Korrektur bzw. 49 Die Terminologie „deus absconditus – deus expectatus“ übernehme ich gern von W. A.M.  Beu­ken, a. a. O., S. 232. 50 Diese Frage ist in scheinbaren Verwerfungssituationen immer wieder akut: Röm 9,4!

296

Gott und die Völkerwelt

Ergänzung des alten Gottesbildes. Ein Beleg dafür ist Jes 12: Nein, der Herr setzt keinen unaufhaltsamen Mechanismus zur Auslöschung seines Volkes in Gang; seinem Zorn lässt er zwar freien Lauf, aber er wendet ihn auch. Gott ist nicht mein Verderben, sondern mein Heil; er realisiert sich nicht in der Stärke meines Feindes, sondern er ist meine Stärke. Eine solche Korrektur bzw. Ergänzung des Gottesbildes ist nicht theoretischer Natur, sondern fußt auf der Erfahrung, dass das Leben im Land wieder lebenswert werden kann. Der Ergänzer ist ein aus al­ ter (Zorn) und neuer (Heil) Erfahrung schöpfender Theologe, für den Gott nie nur ein-, sondern immer mehrdimensional zu bezeugen ist51. – Den Rahmen der Mehrdimensionalität hat dann wohl ein weiterer poetischer Theologe genutzt, zur Verkündigung Jahwes unter den Völkern aufzurufen und ihn dort auch als Herrn zu empfehlen (12,3–5). – 12,6, möglicherweise eine weitere Ergänzung, bindet die Ausrufung Jahwes unter den Völkern in die Zionstheologie ein und weist dezent darauf hin, woher Jahwe kommt und wo er seinen Sitz hat52. Das relativ späte Kap. 12 ist nicht die einzige Korrektur des urjesajanischen Jahwebildes. Dieses wird nämlich gleichsam eingeklammert von einer eschato­ logischen Heilsverheißung (Jes 2,1–5) und der Ankündigung des messianischen Friedensreiches (Jes 11,1–9; 11,10 ist sachgemäße Ergänzung, um den Bogen zu 2,2 f zu unterstreichen). Innerhalb dieser großen Klammer gibt es eine kleinere: Zwischen Jes 2,1–5 und Jes 4,2–6 ist vom unabwendbaren Gericht Jahwes über Jerusalem und Juda die Rede, das sich als göttliche Revolution (2,12.17) mit an­ archisch-chaotischem Ende (3,1–7) darstellt. Der Klammer Jes 2,1–5 und Jes 4,2–6 ist gemeinsam, dass von Zion Heil ausgehen wird, zum einen für die Völker, zum anderen für Israel, insbesondere für Jerusalem. – Das Kehrverslied 9,7 ff, Jahwes Zerstückelung des Nordreichs, ist – abgesehen von den Jahwe-Worten gegen die Selbstherrlichkeit des assyrischen Königs und zur Ermutigung seines von Assur unterdrückten Volkes – gerahmt von zwei messianischen Weissagungen Jes 9,1–6 und Jes 11,1–5, erweitert durch die Einbeziehung der Tierwelt in den messiani­ schen Frieden. Im literarischen Mittel der Klammer verbirgt sich hier eine emi­ nent theologische Botschaft, die den Gott Jesajas (auth.) – bei aller Ernstnahme des drohenden oder auch schon eintretenden Zu-Spät – als Gott der Väter akzep­ tabel und glaubhaft macht: Das Heil ist gegenüber dem Gericht das Umfassendere.

51 Die Mehrdimensionalität bzw. Ambiguität Gottes sieht auch B. Obermayer, a. a. O., S. 71: Jahwe zeichnet „sowohl für die Zerstörung als auch für den Wiederaufbau verantwortlich“. 52 Kap. 12 dient der redaktionellen Bündelung der um Heilsaussagen erweiterten urjesajani­ schen Texte der Kapp. 2–11. So auch B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 111. W. A.M. Beuken neigt dazu, dem gesamten Kap. 12 eine gesamtredaktionelle Funktion für das „Großjesajabuch“ zuzuweisen: „eine Art Aussichtsplattform über das gesamte Jesajabuch“ (a. a. O., S. 329). Das mag für den Leser des Gesamtwerkes so scheinen, ist aber redaktionsgeschichtlich nicht plausibel. Texte, die sich auf Neues hin öffnen, gehören an das Ende, nicht in das erste Drittel eines Makro­ textes. Vgl. in diesem Sinne Jes 35,10!

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

297

Das Gericht, so katastrophal es sich auch auswirkt, ist letztendlich vom Heilshan­ deln Gottes überboten und im Heil für Israel und die Völker aufgehoben. Diese Theologie setzt sich aufs Ganze gesehen in Jes 13–39 fort. Ihr ordnen sich auch die Fremdvölkerorakel ein. Nicht nur in dem Sinn, dass angekündigter Untergang der Reiche Hoffnung und Verheißung für Israel bedeutet. Sondern auch in dem Sinn, dass jene Worte Manifestationen einer voraufliegenden Tradi­ tion sind, nämlich des endzeitlichen Völkerkampfes am Zion (der wiederum eine ins Universalistische ausgeweitete Variation des Heiligen Krieges ist). Diese Tradi­ tion hat sich unter Umwertung der Sicht auf die „Völker“ zur Zionstheologie wei­ terentwickelt, die Schutz für die verheißt, die unter dem Zion wohnen (werden) sowie Gotteserkenntnis und Heil für alle Völker, die zum Zion wallen werden.

3.3 Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja 3.3.1 Heiligung und Bewahrung des Restes in Zion (Jes 4,2–6) 3.3.1.1 Zeit- und theologiegeschichtliche Verortung Der Text ist in spätexilischer oder frühnachexilischer Zeit anzusetzen53, denn es gibt offenbar berechtigte Hoffnung, dass für einen verbliebenen Rest in Jerusa­ lem bald ein Leben in Freiheit, Wohlstand und freier Religionsausübung möglich sein wird. Theologiegeschichtlich hat der Text eine Affinität zu Tritojesaja. Denn dort wird die zukünftige Stadt mit den gleichen Begriffen wie hier beschrieben (vgl. Jes 4,2 mit Jes 61,11 [„sprießen“/„aufgehen“]; Jes 4,2 mit Jes 60,1 f.7.13; 61,6; 62,2 [„herrlich“/„Herrlichkeit“]; Jes 4,2 mit Jes 60,15; 62,3 [„schön“/„Pracht“])54. Das hat ihn offenbar für eine endredaktionelle Verwendung brauchbar gemacht55. Die Endredaktion profiliert mit ihm das Heil Jerusalems und Umgebung vor dem Hintergrund des Gerichtes über Babel (Kap. 13) und Samaria (Kap. 28).

3.3.1.2 Literarische Struktur und Literarkritik Der Abschnitt Jes 4,2–6 gliedert sich in drei Teile. 4,2–3 beschreiben den vom Herrn verliehenen Wohlstand des Restes und die Heiligsprechung dieser Men­ schen durch den Herrn. Dabei ist mit der „Frucht des Landes“ der Frieden mit ge­ 53 W. A.M. Beuken hält wegen der Fokussierung auf „Jerusalem“ und „Zion“ „das Gemein­ wesen rund um den Zweiten Tempel“ für federführend (a. a. O., S. 26). Ähnlich auch O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 92). 54 W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 124. Dabei sind Anklänge in Deuterojesaja auch nicht zu ver­ kennen (vgl. Jes 43,4 [„herrlich“]; Jes 45,8 [„sprießen“]). Vgl. auch B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 54: „… ohne Hesekiel und Tritojesaja wäre er (scil. dieser Abschnitt) nicht geschrieben worden.“ 55 W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 124.

298

Gott und die Völkerwelt

meint; denn ohne ihn kann nichts „sprießen“. Analog dazu ist „Wetter und Regen“ (4,6) symbolisch auch auf die Feinde bezogen56. Ein zweiter Teil, die Reinigung der „Töchter Zions“ und die Entsündigung Jerusalems durch einen Gnadenakt des „Geistes“ (4,4), schafft die Voraussetzung für den dritten Teil (4,5–6)57, in dem der Herr seine Schutzfunktion über Zion wahrnehmen kann. Literarkritisch gesehen erweckt der zweite Teil (4,4) den Eindruck eines späte­ ren Einschubs. Die Vermutung wird genährt durch den Rückgriff auf die „Sünden“ der „Töchter Zions“ (vgl. Jes 3,16 f; 4,1)58 und dadurch, dass das Kommen des Heils schon per se Entsündigung und Neubeginn bedeutet und nicht der Prämisse eines Entsündigungsaktes bedarf. Zudem lässt sich der Wenn-Satz leicht herauslö­ sen, 4,5 schließt glatt an 4,3a an, und es entsteht eine einheitliche Heilsweissagung, die verliehenen Wohlstand, zugesprochene Heiligkeit und verheißenen Schutz zum Inhalt hat. – 4,3b ist eine einschränkende Spezifizierung von 4,3a und passt zur Tendenz des Einschubs 4,4. Verantwortlich für den Einschub 4,3b.4 ist der Endredaktor, der in das heilsgeschichtliche Gottesbild ethische Akzente einbringt.

3.3.1.3 Das Gottesbild In Jes 4,2–3a.5–6 ist Jahwe vordergründig noch ganz der Gott Israels, indirekt aber auch schon der Gott der Völker. Seine zwischen Präsenz und Transzendenz fluktuierende Daseinsweise59 über dem Zion impliziert den Blick auch auf die Völker. Das hängt mit der Zionstheologie und ihren Ursprüngen zusammen, wird aber auch hier durch den „Schutz“ vor „Wetter und Regen“ angedeutet. Jahwe ist einzig und allein der Heilbringer über das neue Israel. Diese Exklu­ sivität gilt in doppelter Hinsicht: 1. Der Herr bringt zuletzt („zu der Zeit“) dem Rest, der der Verschleppung entkommen und übrig geblieben ist in Jerusalem und Umgebung, das Heil. Es ist reiner Gnadenakt. Dem Rest wird voraussetzungslos Heiligkeit zugesprochen (vgl. 6,13b). Diese zuerkannte göttliche Heiligkeit umgibt nicht nur die „Übrig­ gebliebenen“, sondern strahlt auf das ganze Land aus („Herrlichkeit“ [4,2.5fin]) Tag und Nacht („Wolke“ und „Feuerglanz“). 2. Jahwe spielt sein Gewaltpotential hier in keiner Weise aus; allein Wohlstand, Friede, Schutz sind seine Gaben. Er tritt nicht als Gott des Unheils, sondern einzig und allein als Gott des Heils auf. So wird die Heiligung des Restes ergänzt durch eine Neu-Erschaffung der Beziehung Jahwes zu seinem Volk. In diesem 56 Vgl. die Rückführung dieses Bildes auf den entsprechenden Vergleich in Jes 25,4 f. 57 Gegen W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 126 f. 58 Sie bestehen schlicht in deren Emanzipation, was aber gegen eine quasi-sakrale Ordnung verstößt (Jes 4,1) und somit als gottvergessener Hochmut gewertet wird (Jes 3,16–23). 59 Präsenz wird durch „Wolke“ und „Rauch und Feuerglanz“ nahegelegt, Transzendenz da­ durch, dass Jahwe die theophanen Zeichen schafft und nicht unmittelbar mit ihnen identisch ist wie in Ex 13,21 f; 14,20 f.24 (R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 39).

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

299

Zusammenhang wird auch der „Berg Zion“ (4,5) theologisch aufgeladen im Unter­ schied zur pars-pro-toto-Ortsbezeichnung „Zion“ in 4,3a. Er wird zur „Wohn­ stätte“ (‫ ָ מכוֹן‬/ māchōn) Jahwes, von wo aus er, fluktuierend zwischen sich selbst und seinem Volk, ein Neues für dieses schafft (und eine neue Weltordnung eta­ blieren wird60). In 4,5 f wird die Schöpfungstheologie in Anspruch genommen, um Jahwes grundlegendes Handeln an Israel zu bekräftigen. Israels Schutz ist Teil des unum­ stößlichen und unwiderruflichen Schöpfungshandelns Jahwes. Die „Erschaffung“ (‫ ָ בּ ָרא‬/ bārā’) der Schatten spendenden Wolke und des Glanz (‫ נֹגַ הּ‬/ nogach) ausstrah­ lenden Feuers ist Symbol dafür. Dass die Herstellung einer neuen Beziehung zu Israel einer unumstößlichen Schöp­ fungstat gleichgestellt wird, liegt in der Tendenz der postjesajanischen Zeit. Bei Deute­ rojesaja hören wir einerseits traditionell von Gott, der Himmel und Erde, Licht und Fin­ sternis geschaffen hat (Jes 40,28; 42,5; 45,7), dann aber auch Frieden, Gerechtigkeit und Heil61 für Israel – wenn auch auf globalen Umwegen (Jes 45,7 f). Auch „Neues … und Verborgenes, das du nicht wusstest“, ist „jetzt … geschaffen“ (Jes 48,6 f), eben jene neue Beziehung.

Gestützt auf die Hineinnahme der neuen Beziehung in die Schöpfung kann sich die heilige Gemeinde am Berg des Heiligen in Frieden versammeln. Dass der An­sturm der Völker gegen diese Gemeinde ein Angriff auf Jahwes Schöpfungs­ ordnung wäre, wird hier zwar nicht verbalisiert, ist aber in der Zionstheologie impliziert.

3.3.1.4 Ethische Implikationen in der redaktionellen Ergänzung Die redaktionelle Ergänzung in 4,4 bewegt sich ganz im Rahmen der Theologie der Heilszusage: Die Sünden der Töchter Zions werden „abgewaschen“ und die Blutschuld Jerusalems „weggespült“. Die voraussetzungslose Reinigung des Vol­ kes und, darauf gründend, seine bedingungslose Neu-Schaffung passen in das in 4,2–3a.5–6 überlieferte Gottesbild. Durch den Rekurs auf „Unflat“ und „Blut­ schuld“ werden darüber hinaus ethische Aspekte angedeutet. Sind „Unflat“ und „Blutschuld“ abgewaschen, werden sie in einer neu geschaffenen Gott-Volk-Be­ ziehung wohl nie mehr vorkommen. Dann wäre ein neues Sein impliziert. Oder geht es um ein Sollen? In einer neuen Gott-Volk-Beziehung soll so etwas nicht mehr vorkommen (Götzendienst in Selbstverliebtheit [vgl. Jes 3,16 ff] und gott­ lose Herrschaftsausübung [Jes 3,8 ff]62). 60 Hier nur angedeutet in „Wetter und Regen“ ( = „Schutz gegen gewalttätige Mächte“ [W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 129]). 61 Aber auch „Unheil“: Deuterojesaja ist sich der Ambiguität Gottes bewusst. 62 Vgl. auch den Lasterkatalog Jes 59,3–8.

300

Gott und die Völkerwelt

Deutlicher kommt die Ethisierung in 4,3b zum Ausdruck. Der Redaktor will nicht jeden, der übrig geblieben ist in Jerusalem, heilig heißen, sondern nur den, der aufgeschrieben ist zum Leben daselbst. Das Buch des Lebens ist eine „Schrift, in der Gott die Taten und Schicksale der Menschen und Völker unauslöschbar festhält und womit er die Welt leitet“63. Es geht also auch um die zu würdigenden Taten, die bei der Heiligsprechung in Anschlag gebracht werden. Das ist eine of­ fensichtliche Ethisierung eines vorher nicht ethisch, sondern theologisch-kultisch (vgl. die „Versammlungen“ am Zion [4,5]) verstandenen Vorgangs.

3.3.2 Die Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,1–5 / Mi 4,1–5) Jes 2,1–564

Mi 4,1–5

1 Dies ist das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem: 2 In den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn fest stehen, ­höher als alle Berge und über die ­Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen,

1 In den letzten Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn fest stehen, ­höher als alle Berge und über die ­Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen,

3 und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln in seinen Pfaden! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. 4 Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hin­ fort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

2 und viele Heiden werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berg des Herrn gehen und zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir in seinen Pfaden wandeln! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. 3 Und er wird richten unter vielen Völkern und zurechtweisen unzählige Heiden in fernen Landen. Und sie wer­ den ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. 4 Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken. Denn der Mund des Herrn Zebaoth hat’s geredet.

63 W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 126 (mit Belegstellen). 64 Die Lutherübersetzung wurde nach dem Text der BHS revidiert, so dass die wörtlichen Parallelen zwischen Jesaja und Micha deutlich hervortreten. Redaktionelle Hinzufügungen kursiv.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

5 Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!

301

5 Ein jedes Volk wandelt im Namen seines Gottes, aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich!

Jes 2,1–5 teilt mit Jes 4,2–6 die Zionstheologie65. Das weist diese Verse in die spätexili­ sche bzw. frühnachexilische Zeit. Sie sind vom Endredaktor66 dankbar aufgegriffen und kerygmatisch (Jes 2,5) verwendet worden. Die Parallelität mit Mi 4,1–5 lässt fragen, wel­ che Version der Redaktor vorfand bzw. welcher Wortlaut als ursprünglich gelten kann.

3.3.2.1 Redaktion, Tradition und literarische Struktur Der synoptische Vergleich mit Mi 4,1–5 lässt die Scharnierstellen des Einbaus sofort erkennen: Jes 2,1.5. Bei Micha schießt Mi 4,4 f über, so dass als alter Kern Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 bleibt. Innerhalb des Kerns werden die Völker mal mit ‫ גּוֹיִ ם‬/ gōjīm, mal mit ‫ עַ ִמּים‬/ ’ammīm bezeichnet. Der Wechsel ist sowohl innerhalb von Jes wie auch innerhalb von Mi festzustellen, aber auch im synoptischen Vergleich. Inhaltlich wird man dem Unterschied keine Bedeutung beimessen. Es handelt sich um variatio innerhalb eines poetischen Textes (parallelismus membrorum)67. Mi 4,1b („die Völker“) ist wohl gegenüber Jes 2,2b („alle Heiden“) ursprünglicher; denn „alle“ scheint theo­ logische Interpretation im Sinne von Gen 12,368, und „Heiden“ scheint für den Dichter des Jes-Textes gegenüber „Völker“ der umfassendere Begriff zu sein. Die variatio im par. memb. erfordert in Jes 2,3 dann wieder „Völker“ statt „Heiden“ (vgl. Mi 4,2). In Mi 4,2 ist das „und“ zwischen „Berg“ und „Haus“ überflüssig. Es missdeutet den appositionalen parallelismus membrorum aus Jes 2,3 im Sinne einer Aufzählung (vgl. das gleiche Phänomen Sachj 9,9 / Mt 21,5). An Mi 4,3 hat ein Redaktor gearbeitet. Er hat 1. „in fernen Landen“ hinzugesetzt, um die Univer­ salität der Gottesherrschaft zu betonen, und er hat 2. in diesem Sinne die Fülle der Völker hervorgehoben durch „viele“ (‫ ַ ר ִבּים‬/ rabbīm) und „mächtige (an der Zahl)“ (‫ עֲ צֻ ִמים‬/ ‘azumīm). Demnach lautet der Kerntext:

65 Jes 11,1–9 wird erst durch 11,10 in die Zionstheologie hineingeholt. 66 U. Berges weist auf den gesamtredaktionellen Charakter von Jes 2,5 hin (vgl. die Be­ ziehung zu Jes 1,21 ff und 66,23) („Die Zionstheologie des Buches Jesaja“ in: Estudios Biblicos 58/2000, S. 176 f). 67 Daher muss die Übersetzung hier behutsam sein und darf keine falschen Konnotationen anklingen lassen. Ich bleibe bei Luther (1984): gōjīm = Heiden, ’ammīm = Völker. 68 B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 37; G. Kittel, Der Name über alle Namen I, a. a. O., S. 209: „Der Erste, der – nach dem Jahwisten – diese umfassende Perspektive aufleuchten ließ, war der Prophet Jesaja“.

302

Gott und die Völkerwelt

Jes 2 2

Mi 4 In den letzten Tagen wird der Berg des Hauses Jahwes

1

fest stehen, höher als alle Berge und über die Hügel erhaben. Und die Völker werden herzulaufen, 3

und viele Heiden werden hingehen

2

und sagen: Kommt, lasst uns hinauf zum Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Pfaden. Denn von Zion wird Weisung (tōrāh) ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. 4

Und er wird richten unter den Heiden

3

und zurechtweisen viele Völker. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.

Da mal „Micha“, mal „Jesaja“ näher am ursprünglichen Text zu sein scheint, ist eine gemeinsame Vorlage anzunehmen. Die jeweiligen Endredaktoren haben diese Prophetie mit je eigener kerygmatischer Intention in den Kontext eingebaut69. 69 Alle denkbaren anderen Möglichkeiten literarischer Entwicklung bzw. Abhängigkeit sind – allerdings m. E. nicht überzeugend – erwogen worden: Jes 2,1–4(f) sei gegenüber Mi 4,1–4 ursprünglicher (H. Wildberger, Jesaja 1–12 [BKAT X/1], Neukirchen-Vluyn 1972, S. 78–81; G. Kittel, Der Name über alle Namen I; a. a. O., S. 220). Mi 4,1–3 sei gegenüber Jes 2,2–4 ursprünglicher (U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 71–76; R. Kessler, Micha [HThK], Freiburg 22000, S. 179–181). Die Weissagung habe in der vorexilischen Jerusalemer Kulttradition schon gelebt, sei aber in nachexilischer Zeit zu neuer Aktualität erwacht und so in den jesajanischen bzw. michanischen Zusammenhang eingegliedert worden (B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 36).

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

303

Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 baut sich thematisch auf: Jes 2,2a / Mi 4,1a: „Berg“ Jes 2,2b-3a / Mi 4,1b-2a: „Völker“ Jes 2,3b-4 / Mi 4,2b-3: „Herr“ Die Themen werden je in Parallelismen entfaltet. Innerhalb von Jes 2,3 / Mi 4,2 gibt es einen Parallelismus, der des Herrn Wort und „unseren“ Wandel eng mit­ einander verbindet, Gottes Wirken und „unsere“ Haltung wie Ursache und Folge beschreibt. Vor diesem Hintergrund muss Theologie und Ethik in Jes 2,4 / Mi 4,3 bedacht werden. Wenn die Zionstheologie als Theologie der Hoffnung für Israel und die Welt dem Endredaktor bekannt war und in Form dieser Weissagung vorlag, drängt sich die Frage nach ihren überlieferungsgeschichtlichen Wurzeln auf. Sie sollen ent-deckt werden, bevor das Gottesbild von Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 gezeichnet und die daraus folgende Ethik formuliert wird. Exkurs: Die traditionsgeschichtlichen Wurzeln der Völkerwallfahrt zum Zion Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 lässt zu den überlieferungsgeschichtlichen Wurzeln der Völkerwall­ fahrt durchblicken. „Der Berg des Hauses des Herrn wird fest stehen.“ Es gab also eine (mythische) Zeit der Bedrohung. Eine existentielle und essentielle Bedrohung kann nur von einem ungebändigten Chaos ausgehen, von einer Art Urflut, die gegen den Zion anströmt. Diese Chaosmacht lässt sich in den gegen den Hausberg Jahwes an­ brandenden Völkermassen (Jes 17,12–14; 29,5–7; 31,4–5.8–9) wiederfinden, in Jes 2,2 / ​ Mi 4,1 bereits positiv im Sinne der Wallfahrt umgewertet: „Und die Völker werden herzulaufen.“70 Das alles geschieht „in den letzten Tagen“. Der Blick auf die „letzten Tage“ lenkt das Augenmerk zugleich auf den Bogen, der zu allem Anfang geschlagen wird: Wie Jahwe in der Urzeit das Chaos bändigte, so wird er es auch in der Endzeit tun. Er wird die Völkerstürme zerschlagen und die Nationen in ihre Schranken verweisen: „Er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker.“ – Nicht, dass damit Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 umfassend ausgelegt wäre; aber gerade dieser Text macht die tradi­ tionsgeschichtlichen Wurzeln seiner selbst transparent, das Motiv von der endzeitlichen Völkerschlacht. Diese Wurzeln werden an anderen Stellen, besonders in den Psalmen, ansichtig. In Ps 46 verbindet sich das Motiv der Urflut (vv 3und 4) mit dem Glauben an die Festigkeit der Gottesstadt (vv 5 und 6), wobei sich die Urflut als Metapher für die gegen die Stadt anstürmenden Völker erweist (v 7). Hinzu kommt die Stilisierung Jahwes als Kriegsherr „in aller Welt“ (vv 9 und 10), der auf ganzer Linie über die Heiden siegreich bleibt und so auch unter den Völkern „der Höchste“ wird (vv 10 und 11). Vom gescheiterten Völkersturm auf den Zion singt auch Ps 48,1–9. Jahwe hat die Kö­ nige in Angst und Schrecken versetzt und davongejagt. Der heilige Krieg, einst punktuell 70 Das Völkersturmmotiv, das hier schon in die Idee von der Völkerwallfahrt eingeschmol­ zen und somit umgewertet ist, ist auf seinem Weg vom prä-apokalyptischen Motiv zum escha­ tologischen Heilsgeschehen zu verfolgen in der Zusammenschau von Jes 17,12 f und Jes 66,12: Das Bild von den anbrandenden Völkermassen wandelt sich in eine Metapher für die herbei­ strömende Bereicherung Jerusalems durch die Völker.

304

Gott und die Völkerwelt

geführt und historisch verankert, wird ins Universale ausgeweitet und ins Mythische verflüchtigt71. Vom Wüten der Feinde gegen den Zion erzählt Ps 74,1–9. Die verzweifelte Zions­ gemeinde sucht Hoffnung und Ermutigung in der urzeitlichen Ordnungs- und Gestal­ tungsmacht Gottes (vv 12–17) und erbittet dieselbe auch jetzt gegen den tosenden Strom der Widersacher (vv 18–23). Wann sich die Vorstellung vom Völkersturm auszuprägen beginnt, ist schwer zu sa­ gen. Über Orientierungspunkte kommt man nicht hinaus. Ein solcher ist aus der Tatsa­ che zu gewinnen, dass die Vorstellung in Protojesaja Eingang gefunden hat, allerdings als nicht-jesajanisch anzusprechen ist. Dann ist man mit einer Ansetzung um oder nach 701 v. Chr. auf der sicheren Seite. Blickt man auf die zitierten Psalmen, wird man ebenfalls in diese Zeit verwiesen. Für Ps 46 hat das L. Krinetzki nachgewiesen72, für Ps 48(,5–9) M. Leuenberger73, für Ps 74 B. Weber74. Die Belagerung Jerusalems durch Sanherib 701 v. Chr. ist mit Sicherheit für Jerusalem zum „Paradigma des eschatologischen Dra­ mas“ geworden75: Existentiell und essentiell militärisch und propagandistisch bedroht und dann doch gerettet durch Sanheribs Abzug, der wie ein Wunder anmutet und vom geschichtstheologisch geprägten Erzähler als Dreinschlagen des Engels des Herrn ge­ deutet wird (Jes 37,36; vgl. 2.Kön 19,35). Insofern kann man abschließend sagen: Die Tradition vom Völkersturm ist in der Zeit um 701 verschriftlicht worden, muss aber überlieferungsgeschichtlich älter sein, wenn auf sie in der Zeit existentieller Bedrängnis zurückgegriffen werden konnte. So scheint sie reaktivierbar zu sein in Situationen, wo Israel existentielle Bedrohungen durch fremde Mächte erleidet und in der Vorstellung von der göttlichen Zerschlagung des Völkersturms Trost erfährt76. Im Folgenden gehe ich näher auf die Zeugnisse vom Völkersturm bei Jesaja ein. Syn­ chronisch gelesen bilden sie das Pendent zur Völkerwallfahrt; da Letztere aus Ersterem erwachsen ist, liegt hier eine diachronisch begründete Ambiguität im Gottesbild vor, die – diachronisch gesehen – sich tendenziell auf ein eschatologisches Heilshandeln zubewegt77. 71 Vgl. auch W. H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube und seine Umwelt, NeukirchenVluyn 81996, S. 266. 72 L. Krinetzki, „Der anthologische Stil des 46. Psalms und seine Bedeutung für die Datie­ rungsfrage“, 2014 (www.semanticscholar.org) (Zugriff: 8.8.2020). Zur Problematik der Datie� ­ rung: M. Lichtenstein, Von der Mitte der Gottesstadt bis ans Ende der Welt. Psalm 46 und die Kosmologie der Zionstradition, Neukirchen-Vluyn 2014, S. 92 ff. 73 M. Leuenberger, „Großkönig und Völkerkampf in Ps 48“ in: A. Grund, A. Krüger, F. Lippke (Hg.), Ich will dir danken unter den Völkern. Zur historischen, religions- und theologie­ geschichtlichen Verortung zweier zionstheologischer Motive (FS B. Janowski zum 70. Geb.), Gütersloh 2013, S. 153 ff. 74 B. Weber, „Zur Datierung der Asaph-Psalmen 74 und 79“ in: Biblica 81/2000 S. 521 ff. 75 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 320. 76 Das gilt für Ps 74, wenn man ihn mit der Katastrophe von 587 in Verbindung bringt (vgl. dazu B. Weber, a. a. O., S. 531, die eine Relecture für möglich hält). 77 Ich unterscheide mich hier von M. P. Maier (Völkerwallfahrt im Jesajabuch, Berlin 2015), wonach die Völkerwallfahrt nicht die positive Transformation des Völkersturms sei, weil das Konzept der Völkerwallfahrt nicht einheitlich sei (S. 545 f). Nach Maier weisen „alle relevanten Texte, die eine Pilgerfahrt ausländischer Nationen nach Zion oder in das Land Israel prophe­ zeien“ (S. 41), sechs unterschiedliche Facetten auf: 1. Huldigung der Völker vor dem einzigarti­

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

305

Jes 17,12–14: Vom Ansturm „vieler Völker“ gegen Israel ist die Rede. Gedacht ist an einen endzeitlichen Völkersturm gegen den Zion.78 Der Bogen zum urzeitlichen Chaos­ drachenkampfmythos wird geschlagen: Wie die Urflut gebändigt wird durch das Wort Jahwes, so wird auch die Völkerflut aufgelöst durch sein Schelten und Schnauben. „Im Moment der größten Bedrohung wird Jahwe sich plötzlich und unerwartet schützend und rettend vor den Zion stellen, so daß seine Feinde im Nu vernichtet sind. Die Be­ freiung des Zion erfüllt sich in letzter Minute: ‚Am Abend herrscht plötzlich Schrecken, doch ehe es Morgen wird – verschwunden sind sie‘“79. Endzeitlichkeit bedeutet Endgül­ tigkeit. Sie ist innerhalb der Zeit erfahrbar als Wunderhandeln Gottes mit letztgültigem, dauerhaftem Ergebnis. Das eschatologische Treiben der Völker wird durch einen letzten Jahweschrecken zugunsten Israels beendet. Die poimenische Funktion der Völkersturm­ texte wird deutlich. Jes 29,5–7: Jes 29,5–7 ist von einem prä-apokalyptischen Ergänzer in ein unum­ kehrbares (29,10.13 f) prophetisches Unheilswort gegen „Ariel“ (= Jerusalem) (29,1– 4.9–10.13–16) eingeschoben worden.80 Im Bild des von Jahwe Zebaoth theophanie­ artig (29,6) zerstobenen Völkersturms (29,5) kündigt er der scheinbar aussichtslos bedrängten Stadt (29,1–4, auth.) Rettung an, und zwar wunderhaft, im Nu, wie 17,14. Unspezifische Rede von der „Menge der Feinde“ und der „Menge der Tyrannen“ weist auf den mythischen Charakter der Völkersturmvorstellung. Die mythischen Vorstel­ lungen werden in ein eschatologisches Geschehen eingebaut, indem sie zu Vorletztem werden. Das vorläufig Letzte81 ist das plötzliche Hereinbrechen der ganz anderen, ganz neuen Wirklichkeit Jahwes. Der Herr der Heerscharen (29,6), der die Völkerheere ver­ nichtende Kriegsgott (sie werden zu „Staub“ und „Spreu“, vgl. 17,14), greift selbst ein – ohne menschliche Mitwirkung. Er schafft neue Realitäten: Es gibt den Völkeransturm nicht mehr, er wird zum Schatten, zum Traum (29,7) – die Wirklichkeit hat sich durch Jahwe verändert: endgültiger Sieg des Herrn. Unausgesprochen ist er damit Herr über die Völker. Der Composer, der Jes 29,5–7 (Abwehr des Völkersturms) mit Jes 29,1–4 (Drohwort gegen „Ariel“) zusammengebracht hat, will beim Leser eine theologische Erkenntnis evozieren. Diese muss nicht eindimensional sein. Aus der Komposition lässt sich heraus­ hören: Mag Gottes Gericht auch gerecht und hart sein, am Ende wird sein Rettungswille gen Gott; 2. Israels Auftrag und Sendung im Blick auf die Völker; 3. Hilfestellung der Völker bei der Rückkehr der Exilierten; 4. Tributleistungen der Völker an Israel bei dessen Heimführung; 5. Integration von Ausländern, die den Sabbat halten und sich für eine gerechte Gesellschaft engagieren; 6. Verbindung von Heidenwallfahrt und Rückführung Israels. – Sicher trifft diese Spezifizierung zu, wenn man sich auf die Pilgertexte konzentriert. Aber Völkersturm- und Völ­ kerwallfahrtstexte im engeren Sinn sind endzeitliche Texte. Hierfür sind die Facetten 1 und 2 relevant. Alle übrigen Facetten beschreiben eine zu erwartende geschichtliche Situation im Rah­ men einer nahen zu verwirklichenden Zukunft. Sie liegen auf einer anderen Ebene und entfallen daher für eine Transformationsbetrachtung. 78 G. v. Rad, Der Heilige Krieg, a. a. O., S. 62. 79 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 303. 80 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 239. Berges spricht von „proto-apokalyptischer“ Bearbeitung, weil sie wegen fehlender Endzeitspekulationen „noch nicht in vollem Sinne ‚apo­ kalyptisch‘ genannt werden kann“ (a. a. O., S. 238). Er misst ihr lediglich einschreibenden, keinen redaktionellen Charakter zu (a. a. O., S. 537). 81 Im Unterschied zum Letztendlichen der Völkerwallfahrt.

306

Gott und die Völkerwelt

obsiegen. Die Ambivalenz in Gott löst sich zur rettenden Parteinahme für seine Stadt, seine Gemeinde, sein Volk hin auf. Aber auch ein anderer theologischer Leitgedanke legt sich dem synchronischen Leser nahe: Es geschieht (mit Ariel), was geschehen muss (29,1–4); doch wehe (den Völkern), durch die es geschieht (29,5–7). Hier stieße dann Geschichtstheologie an höhere göttliche Weisheit, die nicht mehr erklärbar und deutbar wäre (vgl. Mk 14,21 parr). Jes 31,4–5.8–9: Der poetische Text Jes 31,4–5 hat eine erkennbare Struktur („wie … über …, so … über“ [2×]), lebt von seinen Ausmalungen und weist erklärende Zusätze auf („und zwar“). Die Vereinnahmung des Gedichtes als Prophetenwort ist sicher re­ daktionell82; ansonsten betrachte ich es als ästhetische Einheit. 4a: Wie der Löwe brummt / und zwar der junge Löwe über seinem Raub, 4b: über dem gerufen wird / von der Vollzahl der Hirten, 4c: vor ihrer Stimme erschrickt er nicht / vor ihrem Lärm ist er nicht niedergedrückt. 4d: So wird Jahwe Zebaoth herabfahren / um in den Krieg zu ziehen über dem Berg Zion, und zwar über seiner Höhe. 5a: Wie fliegende Vögel, so wird er sie beschützen / der Herr Zebaoth über Jerusalem. 5b: Beschützen und er hat herausgerissen, Vorübergehen und er hat gerettet. (eigene Übersetzung) Nur sehr verhalten spricht dieses Gedicht von einer Völkerschlacht um den Zion. Im Herniederfahren sind Grimm und Jahweschrecken, Theophanie und Feuer, Kampf und Vernichtung der Feinde enthalten. Dass Jahwe im eschatologischen Befreiungskampf der alleinige Kriegsherr ist, wird außer in seinem Titel noch durch die Zielbestimmung „um in den Krieg zu ziehen“ betont. Das Ziel der endgültigen Rettung ist das „Herausreißen“ seines Eigentums vor der Vollzahl der lärmenden Völker. Hier zeigt sich indes, wie das alte Motiv des Zionskampfes reaktiviert und zugespitzt wird auf die Zerschlagung Assurs (31,8 f) (vgl. auch schon 30,27–30.31–33). Assur steht für den letzten „Feind par excellence“83, dessen Zerschlagung Ziel der endzeitlichen Völkerschlacht ist. Jesaja (auth.) hat die Tradition der Völkerschlacht um den Zion konsequenterweise nicht in seine Verkündigung aufgenommen. Für ihn gilt der Irrealis: „Wenn ihr um­ kehrtet und stille bliebet, so würde euch geholfen; durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. Aber ihr wollt nicht“ (Jes 30,15; vgl. 31,1.3)84. Der Interpolator verschiebt den Irrealis in die reale Eschatologie hinein, wobei der Realis ureigene, wunderhafte Tat Gottes bleibt. Die Umwertung des Völkersturms in eine Völkerwallfahrt hat mehrere Ursachen. Nach den Stürmen, die über Israel hinweggegangen sind und die zur Besinnung und erneuter Identitätsfindung im Exil geführt haben, bricht nun – frühnachexilisch – die

82 B. Duhm, a. a. O., S. 231. 83 U. Berges, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 241. 84 Ich betrachte Jes 30,15 als urjesajanisch, so dass sich ein authentischer Abschnitt Jes 30,14–15(16).17 ergibt (s. o. Anm. 15). Ebenso B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 221; L. Perlitt, „­Jesaja und die Deuteronomisten“ in: V. Fritz u. a. (Hg.), Prophet und Prophetenbuch (FS O. Kaiser zum 65. Geb.) (BZAW 185), Berlin 1989; S. 133–149, hier: 143–149; anders: U. Ber­ ges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 221 f und 230.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

307

Phase des Wiederaufbaus an. Sie wird von theologischer Reflexion begleitet. Was ge­ schieht nach dem Zerstieben der anbrandenden Völker, und welche Aufgabe hat der Herr Israel in der neuen Zeit zugedacht? Die Antwort kann nur in Richtung auf eine gnadenhaft geschenkte Heilszeit gehen, zu der Frieden ohne Ende gehört (Jes 9,5b). Die Entgrenzung des Friedens bezieht sich auf Raum und Zeit. „Viele“ bzw. alle Völker wer­ den dessen teilhaftig durch ihre Wallfahrt zum Zion (Jes 2,2 f / Mi 4,1 f), und der Friede wird endgültig sein (Jes 2,4b / Mi 4,3b). Das Moment des Eschatologischen liegt zum einen in dieser Endgültigkeit und zum anderen darin, dass dieser Friede nicht machbar ist, sondern Geschenk des Herrn bleibt (Jes 9,5a; 11,2). Die Israel in diesem Wende­ geschehen zugedachte Aufgabe ist es, Licht für die Völker zu sein „bis an die Enden der Erde“ (Jes 49,6; 60,1–3). – Damit rückt der Mythos vom Völkersturm auf den Zion vom letzten auf den vorletzten Platz in der Geschichte. Er wird Teil der Eschatologie bleiben; er wird auch seinen poimenischen Charakter behalten. Das Vertrauen auf den universa­ len Kriegsherrn und Weltenherrscher Jahwe wird weiter Trost und Kraft verleihen, wenn die Not am größten ist. Aber mit der neuen Zeit ist eine neue Perspektive eröffnet: Für die, die zum Licht strömen, wird eine neue Weltordnung zur dauerhaften Wirklichkeit, eine Welt ohne Waffen, ohne Krieg, in Recht und Gerechtigkeit, weil nicht irgendwel­ che Herrscher ihr Recht mit Gewalt durchsetzen, sondern der Herr allenthalben Recht spricht und so Frieden schenkt (Jes 2,4a / Mi 4,3a; Jes 11,3–5). Neben die theologische Reflexion der Zeitenwende von 538 v. Chr. tritt eine zweite Komponente, die zur Umwertung des Völkersturms zu einer Völkerwallfahrt beige­ tragen hat. Es ist die Konzeption der persischen Herrschaftsideologie, die den im Exil Lebenden nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Nach ihr ziehen die Völker zum persi­ schen Großkönig, „um ihm für seine weltweite heilvolle Ordnung zu danken und ihm mit Gaben zu huldigen“85. Dieser Herrscherkult wird von prophetischer Seite kritisch rezipiert, indem er jahweisiert wird: Huldigung und Darbringung von Geschenken aus allen Landen gilt allein Jahwe (vgl. Jes 18,7; Ps 68,30–32; Zeph 3,9 f; Hag 2,6–9; Sachj 8,20–22). Das gibt jedoch noch nicht den gesamten hoffnungsorientierten Akkord der Idee von der Völkerwallfahrt zum Zion wieder. Über die Jahweisierung des Königskultes hinaus deutet er sich in den genannten Texten bereits an: die Gabe Jahwes (Zeph 3,9: „reine Lippen“; Hag 2,9: „Frieden“). Das wird in den Texten von der Völkerwallfahrt zum entscheidenden und unterscheidenden Kriterium gegenüber traditionsgeschicht­lichen Vorstufen und überlieferungsgeschichtlichen Parallelen. Die Völker kommen zum Zion, nicht nur, um Jahwe zu huldigen, sondern „um von ihm Gaben zu empfangen: die not­ wendige Lebensorientierung zur friedlichen Überwindung von Konflikten“86. Die Jah­ weisierung des persischen Königskultes vollzog sich also in zwei Stufen: 1. Nicht dem Groß­könig, sondern Jahwe werden die Völker letztendlich huldigen und ihre Gaben bringen. 2. Nicht braucht Jahwe die Gaben der Völker, sondern er selbst ist – wie eh und je – der Gebende und Schenkende, so auch dessen, was die Welt sich nicht selbst geben kann. U. Berges beschreibt das geistige Klima, in dem sich solch eine signifikante Umwer­ tung der Fremdvölkervorstellung vollzogen hat: „Das Ende des babylonischen Exils, die neue Religionsfreiheit im persischen Imperium und die damit verbundene Promul­ 85 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 173. 86 Ders. ebd.

308

Gott und die Völkerwelt

gation der verschrifteten Tora, das Interesse von Nicht-Juden am Glauben Israels und die sich festigende Position Jerusalems als Zentrum jüdischen Lebens und Glaubens, all das war fruchtbarer Nährboden für die Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion“87. Aus redaktioneller Sicht macht Berges die sich konstituierende Zionsgemeinde als Textgestalterin von Vorgegebenem und Neuformuliertem aus88. Die Zionisierung habe den Erwählungsgedanken aktualisiert und universalisiert: Nicht mehr nur Israel, son­ dern die Gerchten aus allen Völkern haben Anteil am Heilswirken Jahwes. So habe die Zionstheologie die Motive von Völkersturm und Völkerwallfahrt miteinander verbun­ den. Damit seien nun nicht mehr ethnische, sondern ethische Kriterien entscheidend für den Zugang zum Gottesberg89.

3.3.2.2 Die Einmündung der Tradition in die Zionstheologie Gehen wir von einer spätexilisch bzw. frühnachexilisch sich bildenden Tradition der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion aus, so ist – gerade wenn man diese Tradition als Umdeutung des Völkerschlachtmotivs ansieht – damit gesagt, dass die Zerschlagung des feindlichen Ansturms auf den Zion nicht das Letzte, allen­ falls das Vorletzte ist. Von daher bekommt die Einleitung der Zionsverheißung „in den letzten Tagen“ (Jes 2,2) noch einmal gegenüber der endzeitlichen Di­ mension der Völkerschlacht eine neue Qualität. Der Blick reicht in eine „ferne Zukunft“, in der sich „Letztgültiges und Unüberbietbares“ ereignet90. Die durch nichts zu überbietende Höhe des Zion in jener Zeit ist bildhafter Ausdruck der höchsten Bedeutsamkeit dieses Berges zu jener Zeit. Diese Bedeutsamkeit wird er erlangen, weil sich auf ihm der offenbaren wird, der einst für Israel auf dem Sinai gesprochen hat: „Ich bin der Herr, dein Gott“, und der es dann auf dem Zion für alle Völker sprechen wird mit den sich daraus ergebenden Richtlinien für ein ent­ sprechendes Verhalten. Allein die Tatsache, dass ein Verhalten bei sinnerfüllter Arbeit (Pflugscharen und Sicheln) intendiert ist, macht die Vorstellung zu einer weltimmanenten Idee, zum Bild einer von Gottes Wort und Weisung erfüllten, vollkommenen Geschichte. „Sachlich läuft das auf eine Einbeziehung aller Völker in die Jerusalemer Theokratie hinaus.“91 87 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 181. 88 Ders., a. a. O., S. 224 f. Umfang des durch die Zionsgemeinde redigierten Jesaja-Buches: Jes 1–32* (a. a. O., S. 234). 89 Ders., a. a. O., S. 161; ders., „Die Zionstheologie“, a. a. O., S. 178 und S. 189. 90 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 171 f. So auch O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 64, der „auf der Rückseite der Tage“ als Ausdruck für das nicht Sichtbare, also die Zukunft, deutet. Anders R. Stahl, a. a. O., S. 245, der eine vollkommen „neue Weltwirklichkeit“ angesprochen sieht, die „auf der uns gewohnten Zeitschiene“ nicht mehr zu erfassen sei. 91 O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 65; U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 170: Jahwe wird der Gott aller Völker sein, aber Israel allein bleibt Offenbarungsvolk (vgl. Zion „höher als alle Berge“).

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

309

3.3.2.3 Das Gottesbild Der universale Anspruch des Zionsgottes lässt ihn als Kriegsgott zurücktreten. Als Gott für alle Völker kann er nicht Partei ergreifen, sondern ihm kommt im Widerstreit der Völker überparteiliche, richtende Funktion zu, wie ja konsequen­ terweise auch Jes 2,4 / Mi 4,3 voraussetzt. Dabei erhebt sich die Frage nach der Durchsetzbarkeit des Richtspruchs. Wie wir uns das vorstellen sollen, geht zum einen aus Jes 2,3 / Mi 4,2 hervor, zum anderen aus Jes 9,3 f. Jes 2,3 / Mi 4,2 setzt die allgemeine Akzeptanz des Richtspruchs voraus. Welche Gründe auch immer am Ende die Völker zum Zion hinziehen – Sehnsucht nach klarer Weisung, Wunsch nach haltbarem Frieden, heilige Erhabenheit des Gottesberges –, es ist die Ein­ sicht in das Notwendige, die die Akzeptanz des Richterspruchs Jahwes ermöglicht. Des Weiteren wird man aber auch davon ausgehen müssen, dass Jahwe Gewalt gebrauchen muss, um immer wiederkehrende Kriegsgewalt zu stoppen: Er wird den „Stecken des Treibers“ sowie jeden martialisch anmutenden Kampfanzug ver­ nichten (Jes 9,3 f). Diese Vorstellung wird später Grundlage für den Gedanken, dass Jahwe feindliche Völkermassen zum eigenen Heer gegen die Frevler macht. So ist der richtende Gott nicht von vornherein der Friedensbringer par excel­ lence. Sondern er kann es nach diesem Textzeugnis sein aufgrund der Mitwirkung der Völker, d. h. aufgrund ihrer Sehnsucht und aufgrund ihrer Einsicht. Hierin spiegelt sich die synergistische Auffassung, die wir vom Kriegshandeln Jahwes aufseiten des Volkes schon kennen, in umgekehrter Weise92. Ein Nachhall der Verheißung für die Völker findet sich in Jes 51,4 f. Hier jedoch ist nicht von einer freiwilligen Völkerwallfahrt die Rede, sondern Jahwe ist der allein Handelnde: Von ihm wird ungefragt Weisung ausgehen, er wird sein Recht zum Licht der Völker machen, er wird alles nah und fern durch seinen Arm ausrichten.

Im Ganzen aber wird das alte Gottesbild von der Völkerschlacht am Zion kor­ rigiert. Im bewussten Nebeneinander beider Gottesbilder im Endtext des ersten Jesaja-Buches spricht sich eine Theologie aus: In Gott steckt der endzeitliche Kriegsherr ebenso wie der endzeitliche Richter. Die eschatologische Richterfunk­ tion impliziert eine Gerechtigkeit, die auf Frieden hin ausgelegt ist und zumindest die Abwesenheit von Krieg zur Folge hat. Dass sich diese Seite Gottes am Ende für Israel und die Völker durchsetzen wird, ist Gewissheit des Glaubens93. 92 O. Kaiser bemerkt, dass man bei aller Alleinwirksamkeit Gottes (z. B. Jes 9,6fin) „mensch­ liche Mitwirkung nicht von vornherein ausschließen“ solle (z. B. der Name „Gottheld“ [Jes 9,5] [Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 201]). Das gilt besonders für die Völkerwallfahrt im Unterschied zur Abwehr des Völkersturms. Letztere lag allein in Jahwes Händen, Erste verlangt – bei aller Anziehungskraft des Berges – nach einem Entschluss. 93 Damit ist kein Völkerrecht im modernen Sinn begründet. Dieses geben sich heute die Völ­ ker nach ihrem Verständnis selbst, und es impliziert natürlich auch den Rechtsstreit. In Jes 2,3 f geht es dagegen um das Gottesrecht, das Frieden unter den Völkern setzt und ihn auch bringt,

310

Gott und die Völkerwelt

3.3.2.4 Synchronische und diachronische Ambiguität Gottes – Das Werden des Gottesbildes bei Protojesaja und Micha Die Glaubensgewissheit letztendlichen Heils hat auch im Michabuch ihren redak­ tionellen Niederschlag gefunden. Der doppelte Wechsel von Gerichts­ankündigung und Verheißung lässt nach dem Werden des Michabuches fragen. Hier ergeben sich deutliche Parallelen zum Werden der Protojesaja-Schrift. Micha selbst sind ausschließlich Unheilsworte über Samaria und Juda zuzuschreiben. Diese sind in den Kapp. 1–3 zu finden. Micha (auth.) ist vor allem in Kap. 1 zu hören, weil hier auf das „Unheil … an den Toren Jerusalems“ (Mi 1,9.12) im Jahr 701 v. Chr. Bezug genommen wird. Außerdem darf Mi 2,3–5.10 und Mi 3,5–8 als urmichanisch gel­ ten94. Alles andere kann auf die Zerstörung Jerusalems 587 und die anschließende Exilszeit gedeutet95, somit einem Schüler(kreis) Michas zugerechnet werden, der dessen Kerygma des unaufhaltsamen Unheils infolge von Machtmissbrauch und Gewalt (Kap. 2), Rechtsbeugung und bestechlicher Prophetie (Kap. 3) original­ getreu weiterführt. Micha (auth.) und sein Schülerkreis haben sich – wie Jesaja (auth.) – ausschließlich der Unheilsprophetie verschrieben. Wie bei Jesaja (auth.) hat es allerdings später, aber noch in der Exilszeit einen Fortschreibungsprozess in den Kapp. 4 und 5 gegeben, der „aus der Überzeu­ gung heraus gestaltet (ist), dass Jahwes verdientes Gericht … nicht das Ziel seiner Wege mit seinem Volk ist und schon gar nicht mit der Stadt, in der er Wohnung genommen hat, sondern dass das Gericht nur ein zeitlich begrenztes Durch­ gangsstadium darstellt“96. Dieser Fortschreibungsprozess97 setzt dem Gott, der Berge dahinschmelzen lässt (Mi 1,3 f), Städte zu Steinhaufen (Mi 1,6; 3,12) und den Tempelberg zur Steppe macht (Mi 3,12), ein komplementäres Bild entgegen: Erlösung (Mi 4,9 f) durch einen messianischen König, der das Königtum Gottes repräsentieren („von Anfang und Ewigkeit her gewesen“ [Mi 5,1]) und damit eine Zeit ewigen Heils einläuten wird; einen Gott, der den Zion wiedererstehen und von hier aus Heil für die Welt ausgehen lässt (Mi 4,1–8), das sich im „Frieden“ (5,4) konkretisiert98. In den Kapp. 6–7 schließt sich ein weiteres zweigliedriges eschatologisches Schema an. Den Mahnungen, Gerichtsankündigungen und Klagen über die Ver­ so denn Jahwes Autorität unter allen Völkern anerkannt wird. So wird hier nicht Völkerrecht, sondern Gottesfriede begründet. 94 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 117. 95 Ders., a. a. O., S. 118. 96 Ders., a. a. O., S. 119. 97 Jörg Jeremias unterscheidet exilisch: Mi 4,9 f + 4,14–5,3*; perserzeitlich: Mi 4,1–8; helle­ nistisch: Mi 4,11–13; 5,4 f.9–13). 98 Mit versprengten Textsplittern muss man rechnen: Mi 2,12 f (Sammlung und Befreiung Israels unter Jahwes Führung) passt nicht zu den Unheilsbildern, Mi 4,11–13 (Abwehr des Völl­ kersturms) und Mi 5,14 (Vergeltung an den Völkern) stören das in diesen Kapiteln ausschließlich heil- und friedensvoll gezeichnete Gottesbild.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

311

derbnis des Volkes (6,1–7,7) folgt eine aus mehreren Abschnitten bestehende Heilsliturgie (7,8–20). In 6,1–7,7 scheinen mir Worte eines unbekannten Gerichts­ propheten zusammengestellt worden zu sein99. Offenbar hat er die Oberen in Jerusalem vor dem Eintreffen Nehemias angesprochen. „Die Weisheitstheologie mit der Rolle des Einzelmenschen 6,1–8 und die soziale Desintegration 7,1–6 las­ sen an die Zeit vor Nehemia im 5. Jh. denken“100. Den Worten des unbekannten Gerichtspropheten ging es ebenso wie den Gerichtsreden Jesajas und Michas. Sie konnten für die an einen richtenden und zugleich barmherzigen Gott Glaubenden nicht so stehen bleiben, sondern sie mussten ein heilvolles Komplement erhalten (Mi 7,8–20). Das Achtergewicht der jeweiligen Verheißung lässt diese zur letzt­ endlichen Gewissheit werden101. – Aufgrund des so entstandenen zweigliedrigen eschatologischen Schemas und aufgrund der Kürze des die Kapp. 1–5 umfassen­ den Proto-Micha-Buches konnte die unbekannte Prophetenschrift formal und inhaltlich hier gut angegliedert werden. Für Protojesaja 1–12 wie für Micha 1–5 ist in gleicher Weise festzustellen: Die authentischen Prophetenworte sind durchweg Unheilsverkündigungen. Jahwe wird einzig in seiner zerstörerischen Gewalt gegen sein Volk wirken, und dieses Gericht gilt als unabwendbar. Beide Sammlungen von Prophetenworten haben in einer ca. 200jährigen theologischen Entwicklungsgeschichte eine Korrektur des eindimensionalen Gottesbildes erhalten: Jesaja durch Kap. 12 und durch die universal-soteriologischen Klammertexte Jes 2,1–5 und 11,1–5 bzw. Jes 2,1–5 und 4,2–6 einerseits und Jes 9,1–6 und 11,1–5 andererseits; Micha durch den Kom­ plementärtext Mi 4–5 (Gleiches gilt für Mi 6,1–7,7 und 7,8–20 entsprechend). So wird der Gott der Väter in seiner Ambiguität erst im Laufe einer theologischen Entwicklung und Reflexion ansichtig, die sich in Gegentexten manifestiert.

99 Eine Zuschreibung an Micha (auth.) (A. Weiser, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten I [hier Micha], Göttingen 41963, S. 232) ist unwahrscheinlich. Andernfalls fragt sich, warum Mi 4–5 in die „authentischen“ Unheilsweissagungen unvermittelt eingeschoben wäre. Eine Hint­ anstellung wäre dann logischer. – An eine Fortschreibung von Mi 1–3 in 6,1–7,7 durch einen Epigonen (Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 120) ist kaum zu denken, weil der Text gegenüber Mi 1–3 keinen Erkenntnisfortschritt bringt. – Die Einleitung Mi 6,1 („Höret doch, was der Herr sagt …“) spricht für einen prophetischen Neuansatz. 100 E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 490. 101 A. Weiser urteilt: „Zwei grundverschiedene Bilder treten einander gegenüber: Dort Jeru­ salem ein Trümmerhaufen und der Tempelberg eine Waldhöhe, hier die Gottesstadt als Mittel­ punkt der Welt und der Tempelberg als ersehntes Wallfahrtsziel der Völker … Dieser Gegensatz ist nicht unbeabsichtigt; im Zusammenhang des Michabuches soll die Verheißung besagen, dass die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels nicht das letzte Wort der göttlichen Heils­ geschichte ist, und dass der Blick des Glaubens nicht am Unglück hängen bleibt, sondern darüber hinaus das Heil der Endzeit schauen darf … Gericht und Heil ergeben im alttestamentlichen Ge­ samtverständnis erst in ihrem tieferen Zusammenhang das Ganze der göttlichen Weltführung“ (Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, a. a. O., S. 263). Ich füge aufgrund der redaktionellen Anlage hinzu: In Gott ist beides, der Gerichts- und der Heilswille; der Heilswille ist stärker.

312

Gott und die Völkerwelt

Im Blick auf Urgeschichte, Vätergeschichten und Deuteronomium spreche ich von einem synchronisch sich darstellenden ambiguen Gottesbild. Die Koinzidenz der Gegensätze in Gott erschließt sich im synchronischen Nebeneinander der Textbetrachtung: Gott ist Schöpfer und Zerstörer (Gen 1–2 f.6–8), der in aller Frei­ heit gnädig und ungnädig Herabschauende (Gen 4), Gewalt-Täter und Sachwalter der Gnade (Gen 6,7 f), Richter und Retter (Gen 19,1–11), todbringender Schre­ cken und lebenserhaltender Bewahrer (Gen 22), Befremdlicher und Freundlicher (Gen 32,23–33), Segnender und Verfluchender (Dtn 28), und in alledem letztlich Herr über sich selbst zugunsten des Menschen (s. o. unter AT 1.10.3.4, hier: Aus­ blick). – Demgegenüber führen die Genese von Protojesaja und Micha zur Er­ kenntnis der Ambiguitäten in Gott auf diachronischem Weg. Sie sind im Endtext deutlich vorhanden, aber nicht Ausdruck einer primären Wesensbestimmung, sondern eines sekundären Wachstums. – Unter diesem Aspekt ist auch das Ver­ hältnis von Völkerschlachtmythologie und Völkerwallfahrt zu betrachten. Letz­ tere ist aus ersterer hervorgegangen, und in dieser diachronischen Zusammen­ gehörigkeit zeigen beide Mythologeme in ihrer Komplementarität den unter den „Völkern“ Schrecken verbreitenden, im Endkampf die Feinde zerschlagenden Gott einerseits und den die „Völker“ am Zion empfangenden, Recht und Gerechtigkeit schaffenden und – last not least – ewigen Frieden bewirkenden Gott andererseits.

3.3.2.5 Ethische Implikationen Theologie und Ethik sind in Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 aufs engste miteinander verzahnt. Der richtende Gott (Jes 2,4 / Mi 4,3) ist zugleich auch der unterrichtende; „denn von Zion wird Weisung ausgehen“ (Jes 2,3c / Mi 4,2c). Göttliche Weisung ist Unter­ weisung, am Sinai einst für Israel, vom Zion nun für die Völker. Der Visionär hat die Gewissheit, dass seine Realutopie102 ewigen Völkerfriedens Wirklichkeit wird. Dazu freilich ist eine Haltung vonnöten; hinaufzugehen zum Berg des Herrn: m.a.W: sich dem Herrn weltweit zu öffnen103. Des Weiteren die Bereitschaft zu lernen und zu verlernen: des Herrn Weisung zu lernen und seine Wege zu erken­ nen und das Kriegführen zu verlernen. Lernen bzw. Verlernen lässt sich nur im Zusammenspiel von Hören und Tun, von göttlicher Pädagogik und menschlicher Pragmatik, von Lehre und Wandel (Jes 2,3b / Mi 4,2b). Aus der Offenheit für das göttliche Wort folgt das Tun, aus der Haltung das Handeln, aus der prinzipiellen die konkrete Ethik: „auf seinen Pfaden wandeln“, „Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln machen“. Zwischen Haltung und Handlung hat die göttliche Pädagogik ihre Chance.

102 Vgl. „Die Einmündung der Tradition in die Zionstheologie“ (s. o. unter AT 3.3.2.2). 103 Das setzt keine Mission voraus; denn die Völker werden ja freiwillig zum Zion kommen, um an den Heilsgütern teilzuhaben.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

313

Aber auch die Haltung der Offenheit für die Weisung des Herrn stellt sich der Visionär weniger als ein aktives Wollen vor – trotz des auffordernden „Kommt!“ –, sondern vielmehr als ein Hingezogen-Werden in die Nähe des Herrn, bewirkt durch die Erhabenheit seines Berges. Wenn dem so ist, wäre das ein weiterer Be­ leg für die enge Verzahnung von Gottesbild und Ethik. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass der Wunsch nach Lehre und nach dem daraus folgenden rechten Wandel den heraufziehenden (bzw. hinauf­ gezogenen) Völkern in den Mund gelegt wird, das konkrete ethische Handeln („Schwerter zu Pflugscharen …“) vom Visionär selbst formuliert wird, freilich auch in Verbindung mit Weisung, Unterweisung und Zurechtweisung Jahwes. Damit bekommt er die Gelegenheit zu sagen: So wird es sein, aber noch ist es nicht so. Er bewegt sich in realutopischer Eschatologie im Sinne von „dann – aber noch nicht“. Diese realutopische Eschatologie gibt schon jetzt Raum zu friedensethischem Handeln in enger Bindung an Jahwes völkerumspannende Regentschaft. So mag dann die Vision „Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln“ wie auch „Krieg verlernen“ auch als Sollen gelesen werden. Die Völker sollen und werden die gewaltsame Lösung von Konflikten verlernen, sie sollen und werden lernen, friedlich nebeneinander zu leben (Jes 2,4c / Mi 4,3c). Dazu gehört, alle Waffen­ arsenale zu vernichten und sie ggf. umzuschmelzen zu volkswirtschaftlich nütz­ lichen und aufbauenden Geräten (Jes 2,4b / Mi 4,3b). Das Bemerkenswerte an dieser Vision ist, dass die Umwandlung der Mordwaffen in friedliches Werkzeug ein Lernprozess ist, der in den Köpfen beginnt. Man muss friedliches Miteinander lernen, und man kann es auch; denn der von der Regentschaft Gottes ergriffene Mensch ist nicht zu Gewalt und Krieg berufen, sondern zu einem friedlichen und gerechten Zusammenleben, in dem allein sich menschliches Leben erfüllen kann. Man soll und man kann lernen, der Gewalt abzusagen, wenn man sich an die Weisung Gottes gebunden weiß und weil Gott in seiner Pädagogik den Menschen dahin bringen wird, von sich aus und freiwillig auf Kriege zu verzichten. In die Gewissheit dieser Wahrheit ist nicht nur Israel, sondern die gesamte Völkerwelt mit hineingenommen104. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der Visionär ein Weltfriedensethos entwickelt, in dem Frieden nicht nur eine heilvolle Unterbrechung zwischen den Kriegen ist, sondern in dem Gewalt und Krieg grundsätzlich überwunden sind und der Mensch sich nur mit lebensdienlichen Dingen beschäftigt. Weniger hat er sich nicht vorgenommen. Allerdings geht er – in enger Bindung an Jahwe – auch davon aus, dass der Weltfrieden in Zion seinen Anfang nehmen wird. Die futurische Eschatologie gibt der Vision einen offenen Schluss: Es wird / soll so sein, aber es ist noch nicht so. Der offen endende Text fordert dazu auf, zum Anfang zurückzukehren und das Gelesene noch einmal mit neuen Augen wahr­ 104 J.  Ebach, a. a. O., S. 37 f.

314

Gott und die Völkerwelt

zunehmen. Es ist noch nicht geschehen, erst „in den letzten Tagen“, aber dann gewiss. Es ist noch nicht geschehen, aber es wird geschehen – durch den Herrn; es ist Geschenk. Das entbindet freilich nicht von sittlichem Handeln, die Völker – und hier dürfen auch wir uns angesprochen fühlen – bleiben auf einem vom Herrn gewiesenen Pfad. Auf diesen langen Pfad bleiben sie indes stets zurück­ verwiesen, sollte die Vision in ihnen die Sehnsucht nach baldiger Verwirklichung der Realutopie wecken. Die Vision Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3 ist in einen jeweils anderen redaktionellen Rah­ men gesetzt worden. Jes 2,1 schreibt die Vision Jesaja zu. W. A.M. Beuken deutet das so: „Es gehört zur kreativen Überlieferung der Vision, dass die Redaktion zwischen der Zuhörerschaft des Propheten und der eigenen eine Kontinuität schuf, die die Zeit des Exils überbrückt. Die Generation, die vor dem Untergang Jerusalem bewohnte, lebt in der fort, die den Wiederaufbau der Stadt mitmacht.“105 Dem ist zuzustimmen, und es ist zu ergänzen: Jede Generation darf zu Recht die Vision von Gewaltfreiheit und Überwindung des Krieges haben und soll ihr auch folgen. Es wird aber auch keiner Generation erspart bleiben, beharrlich den langen Pfad zu gehen, der in diese einzig wahre Richtung führt. – Wo Ausdauer gefordert ist, ist das beispielhafte und ermutigende Wort des Gottesvolkes selbst am Platz (Jes 2,5). Was die Völker sich sagen (Jes 2,3), muss für Israel erst recht gelten. So sieht es die Redaktion. Auf dem Weg zum Zion und dem von dort ausgehenden Völkerfrieden kann und soll Israel „eine Vorreiterrolle spielen“106. Nicht umsonst hat sie das „Kommt“ und das „Wandeln“ aus Jes 2,3 hier wieder aufgenommen. Israel ist dabei, seine theo-politische Rolle im Konzert der Völker zu erkennen. So mischt sich hier wieder zwischen den theologischen und den ethischen der ethnologische Aspekt107. Von diesem charismatischen Enthusiasmus Israels ist in Mi 4,4.5 nichts zu spü­ ren. Diese beiden zeitlich nacheinander angefügten Verse holen den Hörer / Leser zurück aus der universalen Weite der Völkerwelt in die Partikularität des eigenen „Wir“. Mi 4,4 zielt „auf das Geschick jeden einzelnen Gliedes im Gottesvolk“108, das nun, da die Waffen zu volkswirtschaftlich nützlichen Geräten umgerüstet wurden, Frieden und Wohlstand genießen kann. Außerdem wird die Vision als Realutopie bestätigt: „Denn der Mund des Herrn Zebaoth hat’s geredet“. – Mi 4,5 steht im Gegensatz zu 4,2. Dort werden viele Heiden ihren Willen bekunden und danach begehren, auf den Pfaden des Herrn zu wandeln. Hier ist Ernüchterung eingetreten: „Ein jedesVolk wandelt im Namen seines Gottes.“ So zieht sich Israel auf sein Bekenntnis zurück: „Wir aber wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich.“ Daraus zu interpretieren, Israel nehme in seinem 105 W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 96. 106 R. Kilian, Jesaja 1–12, a. a. O., S. 30. 107 Ähnlich W. A.M. Beuken, a. a. O., S. 27, der die Identitätsfindung Israels unter den Groß­ mächten herausstellt. 108 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 174.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

315

Wandel das von Jahwe eigentlich allen Völkern gewährte Heil schon einmal vor­ weg, bis es eines Tages allen gewährt werde109, ist sehr kühn, wobei die Absicht nicht zu verkennen ist, den Hiat zwischen „einem jeden Volk“ und „Wir“ zu über­ brücken. Es wird eine nicht zu leugnende Realität beschrieben: Ein jedes Volk verehrt seinen Gott. So ist es nun mal. Ein Warten auf die große Völkerwallfahrt ist Illusion. Die Realutopie von Mi 4,2.3 steht in Frage. Was ethisch bleibt, ist, der Weisung (tora) des Herrn zu folgen. Was heißt das aber, wenn die Weisung, die allen Völkern gilt, obsolet ist?

3.3.3 Das große Licht: Die Geburt des göttlichen Kindes (Jes 9,1–6) 3.3.3.1 Literarisches und zeitliche Ansetzung Die im Allgemeinen etwas unscharfe Zeitbestimmung „spätexilisch-frühnach­ exilisch“ ist hier begründet; denn die Verheißung der neuen messianischen Epo­ che bewegt sich mit dem prophetischen Perfekt in Jes 9,1–5 (bes. 9,3.5) und dem futurisch gemeinten Imperfekt in Jes 9,6c genau auf der Grenze zwischen alter und neuer Zeit. Der Text ist literarisch und theologisch in sich geschlossen110. Umso leichter lässt sich eine Gliederung erstellen, am ehesten gemäß dem Wechsel der Anrede: Teil 1: Es

= das Volk

9,1: Überschrift: Es wird hell

Teil 2: Du

= Gott

9,2–4: Untertitel: Jubel

   2a: Denn

9,3: wegen Freiheit

   2b: Denn Teil 3: Wir111    3a:

9,4: wegen Frieden = Gemeinde

9,5–6: Untertitel: göttliches Kind 9,6c: Unterschrift: „Solches wird tun …“

In der formalen – wie auch in der theologischen – Mitte steht Gott. Was über dem Volk erschienen ist, kommt von ihm, ist er selbst in seinem Glanz (9,1). Die Relation Gott – Volk ist nicht aufzulösen, Gottes Erscheinen evoziert Dank, hier in Form eines Liedes (9,2–4). Das „Du“ zeigt an, dass die heilvollen Ereignisse 109 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 175. 110 R. Kilian, Der Prophet Jesaja 1–12, a. a. O., S. 70. Jes 8,23 ist nicht originäre Einleitung der Verheißung, sondern redaktioneller Überleitungsvers zwischen der „Dunkelheit“ in 8,19–22 und dem „Licht“ in 9,1–6 (Vgl. dazu H. W. Wolff, Frieden ohne Ende. Eine Auslegung von Jes 7,1–7 und Jes 9,1–6 [Biblische Studien 35], Neukirchen-Vluyn 1962, S. 61 und J. N. Oswalt, The Book of Isaiah, Ch. 1–39, Grand Rapids [MI], Cambridge [UK] 1986, S. 242). 111 Das „denn“ in 9,5 ist nicht im eigentlichen Sinn kausal gemeint wie in 9,3 und 9,4, son­ dern eher „emphatisch“ (W. A.M.Beuken, a. a. O., S.249). Darum kann es als Gliederungssignal vernachlässigt werden.

316

Gott und die Völkerwelt

auf Gottes Initiative zurückgehen112. Das „Wir“ ist kerygmatische Anrede an die Gemeinde, Aneignung dessen, was Gott an „uns“ getan hat und noch künftig tun wird. Dadurch aber wird alles zum Kerygma. Es ist nicht sekundär angehängt wie Jes 2,5, sondern Vorgegebenes wird aufgenommen (z. B. die Last des Jochs, vgl. Ps 81,7; der Tag Midians, vgl. Ri 7,14 f.21; der Thron Davids, vgl. 2.Sam 7,12 f) und in einen neuen Verstehenshorizont hineingestellt113. Ziel der Verheißung ist, darin gewiss zu machen: Aus dem göttlichen Wirken wird letztendlich eo ipso Segen fließen. Bei einer theologisch so klaren Aussage wird sich die Frage nach der Notwendigkeit einer Ethik stellen.

3.3.3.2 Das Gottesbild Im parallelismus membrorum 9,1 wird zweimal die Beziehung zwischen Gott und Volk betont. Ohne „Licht“ ist das Volk eines, das „im Finstern wandelt“, ohne den hellen Schein wohnt es in der Finsternis. D. h. ohne Gott – und Licht ist mit Gott zu identifizieren114 (vgl. Jes 2,5) – gibt es nur ein Leben in Todesnähe, ein Leben in Unfreiheit, Angst und Not. Im Licht aber leuchtet dem Volk Gottes hilfreiche und gnädige Zuwendung entgegen. Das Volk „sieht“ das „große Licht“, d. h. das Licht kommt ihm entgegen, den hellen Schein kann es nicht selbst erzeugen, er kommt auf es zu. Nicht das Volk schafft sich neue Verhältnisse, sondern – noch im Dunkeln – kommt bereits eine völlig neue, veränderte Lebenswirklichkeit auf es zu, die alles umkehrt, was bisher war: Todesnähe wandelt sich in Gottes Gegen­ wart, Traurigkeit in Jubel, Fremdherrschaft in Freiheit, Blutzoll in Frieden ohne Ende. Das alles ist Gottes Werk, die „Unterschrift“ gilt für das Ganze: „Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.“ Gottes „Licht“ schenkt Freiheit (9,3) und Frieden (9,4). Das „Du“ signalisiert unmissverständlich, dass beides von ihm kommt. Dabei wird eine angemessene Haltung genannt, diesen Dank zum Ausdruck zu bringen: festlicher, ausgelas­ sener Jubel. Allein dies ist kein spontaner Entschluss, sondern „geweckt“ vom Herrn, der „mein Licht und mein Heil“ ist (Ps 27,1–3). Jahwe wird die brutale Macht­ausübung der Feinde beenden und alle Symbole des Krieges – und damit den Krieg selbst – dem Vernichtungsbann preisgeben, ja er hat es schon getan (Zerbrechen des Jochs und Verbrennen der Soldatenstiefel und -mäntel). Jahwe ist somit ein Gott der Freiheit und des Friedens, allerdings hier im Unterschied zu Jes 2,2–4 nicht ein Gott der Völker, sondern der Gott Israels, der das Heil hier nicht universal, sondern partikular ausbreitet115. Der Singularität Israels ent­ spricht die Singularität der Aktivitäten Jahwes: „wie am Tag Midians“ führt letzt­ endlich er den Befreiungsschlag durch und kein anderer sonst (vgl. auch Ps 27,3).

112 W. A.M.  Beuken, a. a. O., S. 247. 113 R. Kilian, Das Buch Jesaja 1–12, a. a. O., S. 70. 114 H. W. Wolff, Frieden ohne Ende, a. a. O., S. 65. 115 Gegen H. W. Wolff, Frieden ohne Ende, a. a. O., S. 70 ff.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

317

Die Alleinwirksamkeit Jahwes wird im dritten Teil ausdrücklich verkündet: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben …“. Das passivum divinum lässt keinen Zweifel daran, woher das Kind kommt und wer das Kind ist: Es kommt von Jahwe selbst, ist ein Geschenk von ihm an sein Volk. Das Kind ist der von Jahwe legitimierte Messias, dem eine großartige Herrschaft verheißen und anvertraut ist, der von Jahwe eingesetzt ist116, der Frieden ohne Ende bringen wird „auf dem Thron Davids und in seinem Königreich“ (!) und der die königlichen Attribute Recht und Gerechtigkeit auf unabsehbare Zeit umsetzen wird. Recht und Gerechtigkeit kommen ins Land, nicht als ethische Haltung des Volkes, sondern als Emanation der Herrschaft des neuen Messias117. Die außergewöhnliche Nähe zu Jahwe118 drückt sich – außer im Sohnestitel – auch in seinen Thronnamen aus: – Wunder-Rat: der Wunderbares plant (‫ יָ עַ ץ‬/ jā’az = raten, planen, beschließen) und Gottes Pläne in der Geschichte verwirklicht – Gott-Held: ist mit göttlicher Stärke ausgestattet – Ewig-Vater119: bezeichnet Königsherrschaft ohne Ende (zur Bezeichnung des Königs als „Vater“ vgl. Eljakim in Jes 22,21) – Friede-Fürst: ihm sind Frieden und damit Recht und Gerechtigkeit zur Ver­ wirklichung übertragen Die Namen können als Entfaltung von 2.Sam 7,9 („Ich will dir einen großen Namen machen“) angesehen werden120. Sie verleihen dem Namensträger seine Identität als „Sohn“ und beschreiben zugleich seine Funktion als Träger des Geis­ tes Jahwes (vgl. Jes 11,2). Was ferne scheint und vielleicht noch unwirklich, das hat schon begonnen. Dieser Tenor durchzieht die ganze Verheißung. Er macht sich bemerkbar im Licht, das noch weit weg zu sein scheint, aber immer heller wird (Im Parallelismus steckt eine leichte Klimax) (9,1); er ist zu erkennen im kleinen Kind, das groß wird und ewigen Frieden bringen wird (9,5 f).

116 Beachte die Parallelität von 9,3 und 9,5: Wie Jahwe das Joch auf der Schulter des Volkes zerbrochen hat, so hat er jetzt die ewige Friedensherrschaft auf die Schulter des „Sohnes“ gelegt. 117 Die Tatsache, dass der „Sohn“ Friede-Fürst genannt wird und der „Thron Davids“ scheinbar frei bleibt für einen echten Davididen oder jemanden, der größer als David ist, hat dazu ge­ führt, in dem Herrscher keinen Messias, sondern lediglich einen Fürsten zu sehen, der „Jahwe untergeordnet, … aber … näher als jeder Davidide“ sei (R. Kilian, Das Buch Jesaja 1–12, a. a. O., S. 74). Gegen eine solche Bewertung der Herrschergestalt sprechen der Titel „Sohn“ (vgl. Ps 2,7; 2.Sam 7,14) sowie eben gerade die Erwähnung des Thrones Davids und die Attribute Recht und Gerechtigkeit. 118 Sonst nur noch Jer 30,21. 119 Die Übersetzung „Beute-Vater“ (so O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 204) ist un­ wahrscheinlich, erst recht, wenn sie als „Beteiligung des Königs an der Befreiungstat Jahwes“ interpretiert wird. Synergismus ist diesem Text fremd. 120 R. Kilian, Das Buch Jesaja 1–12, a. a. O., S. 73.

318

Gott und die Völkerwelt

3.3.3.3 Ethische Implikationen Kann es eine Ethik als Handlungsorientierung geben, wenn alles, was an Werten in Zukunft kommen wird, ja, gewissermaßen schon als Morgenröte am Himmel aufgeht, bereits die Unterschrift des Herrn Zebaoth als Initiator trägt? Im strengen Sinn nicht! Fasst man aber den Ethikbegriff weiter, nimmt man also die Vorstufe zur Handlungsorientierung, die Haltung, hinzu, dann lässt sich Ethik auch als Generierung und Festigung einer Lebenshaltung verstehen. Im Blick auf Jes 9,1–6 ist dann zu fragen, zu welcher Lebenshaltung eingeladen, welche Lebenshaltung gestärkt werden soll. Gemäß den drei Gliederungsabschnitten sehe ich – indirekt – drei Haltungen angesprochen. Im ersten Abschnitt (9,1) geht es um die Haltung des Vertrauens. Nur wer im Finstern das Vertrauen nicht verliert, kann das Licht sehen. Vertrauen macht sehend und gibt Hoffnung. Vertrauen sieht Wunderbares und lässt die Finsternis auf diese Weise mutig ertragen. Dass Vertrauen auch Anteil am Gött­ lichen gibt, geht aus 9,1 noch nicht eindeutig hervor, ist aber mit 9,5 („uns ge­ geben“) wörtlich gesagt. – Der zweite Abschnitt (9,2–4) umspielt mit drastischen Hör-Bildern die Haltung der Dankbarkeit: Lauter Jubel, große Freude – siegreich gemalte Kriegsbilder sind dabei nicht tabu, sondern scheinen eher mitten aus dem Leben gegriffen (9,2fin); mit Krachen hört man die Jochstange bersten; und die überzogene, an Vergewaltigung grenzende Militärgewalt des Feindes („Gedröhn“ der Stiefel, „Blut“) wird vernichtend gerichtet. Freude lädt ein zum Danklied, zur Dankbarkeit, die rechte Haltung „vor dir“ (9,2). – Der dritte Teil antwortet auf den ersten (Vertrauen) mit Staunen. Wie das Licht für die, die Augen haben zu sehen, immer leuchtender wird, so darf man auch staunen über das (noch irgendwo verborgene) Kind, das die Friedensherrschaft bereits in sich trägt und schon jetzt durch sein Dasein dem Volk Israel Zukunft schenkt121. Seine Größe ist unter der Unscheinbarkeit und Wehrlosigkeit verborgen. Seine Herrschaft wird nicht durch Heere oder Tyrannei gestützt sein, sondern durch Recht und Gerechtigkeit. Wer staunen kann, kann werden und wachsen sehen: Messianische Hoffnungen mö­ gen klein beginnen, die Friedenszeit mag noch verborgen sein, vielleicht sogar unter dem Gegenteil, aber die Hoffnungen werden wachsen, die Zeit wird näher rücken, dass dauerhafter Friede durch Recht und Gerechtigkeit einkehrt. Der Theologie der Hoffnung entspricht eine Ethik des Vertrauens, der Dankbarkeit und des Staunens.122

121 H. W. Wolff, Frieden ohne Ende, a. a. O., S. 69 f. 122 Ich versage es mir, im Blick auf das messianische Programm „Friede durch Recht und Ge­ rechtigkeit“ von einer Königsethik zu sprechen. Denn dieses Programm wird nicht aus eigener Machtvollkommenheit verwirklicht, sondern aus der Macht des „Herrn der Heerscharen“ heraus (9,6, vgl. 9,3). Anders Jes 11,1–5; dort wird eine Königsethik entwickelt.

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

319

3.3.4 Das messianische Friedensreich (Jes 11,1–9[10])123 3.3.4.1 Struktur und Literarkritik Jes 11,1–10 stellt sich als Einschub in den letzten Akt des ersten Teils von Proto­ jesaja dar. Der letzte Akt vor dem Danklied der Erlösten (Jes 12) ist die Errettung des Restes Israels (Jes 10,20–34; 11,11–16)124. Jes 11,1–10 gliedert sich in fünf Abschnitte: Abschnitt 1: Verheißung eines geistgeleiteten Herrschers (Jes 11,1–2) Abschnitt 2: geistgeleitetes Tun des Königs (Königsethik) (Jes 11,3–5) Abschnitt 3: endzeitlicher Tierfriede (Jes 11,6–8) Abschnitt 4: geistliche Disposition des Volkes (Jes 11,9) Abschnitt 5: der messianische König als Zeichen für die Völker (Jes 11,10) Als eine in sich geschlossene inhaltliche und literarische Einheit kann Jes 11,1–5 gelten. Demgegenüber ist Jes 11,6–8 eine thematisch anders akzentuierte Fort­ schreibung. Ist Jes 11,9 als Ganzes eine weitere Fortschreibung, die den universalparadiesischen Endzeitzustand wieder zurückholt in die Partikularität des Zion, Jerusalems und Israels? Oder gehört Jes 11,9 noch zu 11,6–8? Ein eindeutiger Nachtrag (vgl. die Einleitung: „Und es wird geschehen zu der Zeit …“) ist Jes 11,10. Er weitet die Verheißung für Israel zu einer Chance für die Völker, nach dem von Jerusalem ausgehenden Heil zu fragen und es zu ergreifen. Damit erweist sich Jes 11,6–9 als diskutabel. Jes 11,6–8 findet sich verkürzt in Jes 65,25a.b (ohne „… Schlange …“) wieder. Beide Texte sind in einen eschatolo­ gischen Rahmen eingebunden. Ich gehe davon aus, dass Jes 65,25a.b ein Exzerpt aus 11,6–8 ist; denn Kürzen ist in diesem Fall plausibler als Auserzählen. 11,9a ist identisch mit Jes 65,25c, und 11,9b ist Zitat von Hab 2,14. Wäre die Entwicklung an dieser Stelle von Jesaja zu Tritojesaja gelaufen, dann wäre das Weglassen von 11,9b als Zitat unverständlich. Andererseits ist von „meinem heiligen Berge“ über­ wiegend bei Tritojesaja die Rede (Jes 56,7; 57,13; 65,11.25; 66,20)125. Daher könnte in 11,9a eine tritojesajanische Wendung übernommen worden sein. Das könnte auch die Wendung „auf meinem heiligen Berge“ erklären, obwohl es hier nicht als Wort des Herrn ausgewiesen ist. Zur schon festgestellten Zitation aus Hab 2,14 in 11,9b käme dann ein weiteres Zitat aus Jes 65,25c126. Wir hätten es in Jes 11,9 also mit einem Mischzitat zu tun127. Die Abhängigkeit der Textstelle Jes 11,9a von Jes 65,25c wird noch dadurch wahrscheinlich gemacht, dass der „heilige Berg“ in Jes 65,25c besser zum Kontext 123 Vgl. dazu auch „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ (Jes 65, 16c–25), s. u. unter AT 3.5.3. 124 Auf die literarische Schichtung dieser Texte wird hier nicht eingegangen. 125 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 132 Anm. 393. Allerdings auch Ps 2,6! 126 B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 108 und S. 481. 127 So auch O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 240.

320

Gott und die Völkerwelt

passt als in 11,9a. Denn obwohl im großen Rahmen eine universale Erneuerung verheißen ist (65,17), ist sie zuerst und zuletzt für Jerusalem und „mein Volk“ gedacht (65,18 f.22). Der „heilige Berg“ in 11,9a hingegen verengt die universale Perspektive von 11,6–8; erst recht tut das 11,9b, wiewohl hier nicht eine bewusste Engführung intendiert sein wird. Vielmehr ist „mein heiliger Berg“ mit seiner ganzen Ausstrahlung der Mittelpunkt der Welt. So ist 11,9 zwar literarischer Nach­ trag, aber nicht als gegenläufig zu 11,6–8 zu betrachten.

3.3.4.2 Das Gottesbild von Jes 11,1–5 In Jes 11,1–5 geht es um den künftigen messianischen Herrscher. Von Jahwe ist nur indirekt – im Genitiv – die Rede. Nichtsdestoweniger ist er es, der einen Spross aus dem Stamm Isais hervorgehen lässt und Israel einen Neuanfang schenkt. Er ist es, der seinen Geist auf den künftigen Herrscher legt. Durch ständigen Geist­ besitz (der Geist wird auf dem Herrscher „ruhen“) wird der Herrscher das Werk Jahwes stets tun. Ob dieser Geist ein Geist der Abgrenzung und des Krieges oder ein Geist der Gerechtigkeit und des Friedens sein wird, geht aus 11,1 und 2 nicht unmittelbar hervor128. Dass es aber hinter allen in 11,2 genannten Attributen ein Geist der Gerechtigkeit und der Gewaltüberwindung ist, erhellt aus der daraus folgenden Königsethik in 11,3–5.

3.3.4.3 Ethische Aspekte von Jes 11,1–5 Während in Jes 9,5 f schwerlich von einer Königsethik gesprochen werden kann, tritt eine solche in Jes 11,1–5 sehr deutlich hervor. Richten in Gerechtigkeit, Ent­ schärfung des Gewalttätigen allein durch die Wirkmacht des Wortes, Ausschal­ tung des Gottlosen in ähnlich gewaltloser Weise129 sind nicht bloße Emanationen des auf dem Herrscher liegenden Geistes, sondern bewusst gegebene Antworten auf die Geistesgaben. Denn vom Herrscher heißt es, dass er „Wohlgefallen haben wird an der Furcht des Herrn“ (11,3a). Dieses „Wohlgefallen“ ist eine bewusste Ent­ scheidung, aus der sich ethische Konsequenzen ergeben. In seiner Gerechtigkeit wird er Partei ergreifen für die Armen und Elenden, für die Unterdrückten und Entrechteten. Um das mit innerer Überzeugung tun zu können, wird er tiefer bli­ cken müssen als auf das, was vor Augen ist. Er wird sich als stärker erweisen als der Gewalttätige und dadurch der Gewalt ein Ende bereiten, und das ohne körperliche Gewalt, sondern allein durch die Wirksamkeit seines Wortes. Gedacht ist dabei 128 Die Attribute bezeichnen Kompetenzen eines klugen Herrschers, mit heutigen Worten: analytischen Verstand, Führungsstärke, Werteorientierung. 129 „töten“ kann im Zusammenhang mit dem „Odem seiner Lippen“ nur metaphorisch gemeint sein. Dass hier eine so starke Metapher gewählt ist, mag damit zusammenhängen, dass gegen Gewalttäter und Frevler nur ein höchstwirksames Machtwort („Anathema“) hilft (B. Obermayer, a. a. O., S. 84).

Heil für Israel und die Völker bei Protojesaja

321

vielleicht schon an eine Durchbrechung der fatalen Gewaltspirale. Das Gleiche widerfährt dem Gottlosen, der, da er an keine theo-ethischen Maximen gebunden scheint, dem Gewalttäter gleichzusetzen ist. Soziale Gerechtigkeit, Gewaltfrei­ heit – im Volk, aber auch bei der Wahl der eigenen Mittel, Gottesbindung, das sind die Erwartungen an den künftigen Herrscher. Dabei ist nicht zu übersehen, dass er als Abbild des Herrn im Lande beschrieben wird. Partei ergreifen für die Armen und Elenden ist auch Jahwes Anliegen; tiefer blicken, „das Herz ansehen“ ist Jahwes Vorzug (1.Sam 16,7), sein Wort hat die Kraft des Geistes Gottes: Was es sagt, geschieht. Die „Einkleidung“ des Herrschers in „Gerechtigkeit“ und „Ver­ lässlichkeit“ schließt die Königsethik ab (11,5). Gerechtigkeit und Verlässlichkeit stehen gegen jegliche Willkür und machen den Herrscher berechenbar; zugleich geben sie ihm „Ehre und Handlungsfreiheit“130. Wird sich das Königsverhalten auf das Volk und das Land auswirken, so dass auch dort Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Gottesfurcht einkehren? Weil dies das Ziel einer solchen Königsherrschaft sein muss, wird es auch als solches an­ gegeben, allerdings erst später als Fortschreibung (11,9b).

3.3.4.4 Die Antizipation des Paradieses als theologisches und ethisches Problem (Jes 11,6–9) Im Frieden aller Lebewesen untereinander drückt sich ein Wissen aus: Am Ende wird es sein, wie es im Anfang der Schöpfung einmal war. Allgemeiner Friede unter den Kreaturen ist nicht als Goldenes Zeitalter im Sinne ersehnter Weltzei­ ten zu verstehen, sondern als Gemälde der wiedergewonnenen Einheit mit Gott. In diesem Sinne wird 11,6–8 durch 11,9 („auf meinem ganzen heiligen Berge“) interpretiert. In 11,6–8 ist die Rolle des Kindes gegenüber der Bedeutung des kindlichen Messias in 9,5 zurückgedrängt. Das Kind ist hier einfach nur der wehrlose Mensch, der wehrlos sein darf, weil er keine Feinde mehr hat, selbst unter den Tieren nicht. Darin greift 11,6–8 bewusst auf Gen 3,15 zurück: Die „Feindschaft“ zwischen Mensch und Tier, hier symbolisiert in der Schlange131, wird in einem allum­fassenden Frieden überwunden sein (11,8). Die Folgen des Sündenfalls werden gelöscht sein. Damit aber ist eine Rückkehr zu ewiger ungebrochener Ge­ meinschaft mit Gott möglich132, Voraussetzung und Quelle eines allumfassenden Friedens. „Bosheit und Schaden“, sich darstellend in Gottesferne und Gewalttat, sind künftig ausgeschlossen, weil vom Frieden überwunden. 11,9 ist die theo-lo­ gische Konsequenz aus 11,6–8. 130 O. Kaiser, Der Prophet Jesaja, a. a. O., S. 244. 131 Die Schlange als pars pro toto vgl. W. Dietrich, M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüber­ windung in der Bibel, Zürich 2005, S. 114. 132 „Erkenntnis des Herrn“ als Ausdruck inniger Liebesgemeinschaft (11,9b).

322

Gott und die Völkerwelt

Liegt diese Endzeit noch innerhalb oder schon außerhalb unserer Zeitschiene? Letzteres ist für präapokalyptisches Denken sehr unwahrscheinlich. Der paral­ lelismus membrorum in Jes 11,8 (Säugling – Otter; kleines Kind – Natter) weist deutlich auf Gen 3,15, die Feindschaft zwischen Mensch und Schlange, eine Ge­ gebenheit dieser Weltzeit, zurück. Ein postlapsarisches Faktum wird also inner­ geschichtlich revidiert werden, womit Jahwe dann allerdings eine Realität schafft, die zwar eine neue Wirklichkeit darstellt, faktizistisch aber nicht mehr verrechen­ bar ist. Unter dem Blickwinkel dieser Realität ist auch Jes 11,6.7 zu lesen. In diese Realität gehört auch 11,9a hinein. „Weder Bosheit noch Schaden tun“ ist restitutio ad integrum. Kommende Wirklichkeit: „auf meinem ganzen heiligen Berge“133! Von Jahwe geschaffen! Aber doch nur möglich mit „neuem Herzen“. Eine ethi­ sche Forderung wird obsolet. Stoßen wir hier auf die Wirkungen Jeremias und Ezechiels?

3.3.4.5 Die Fortschreibung von Jes 11,1–5 durch 11,6–9 Die Fortschreibung verstärkt die Profilierung des Königs und das Prinzip der Gewaltfreiheit. Man kann 11,6–8 im Kontext als Wirkung der Geistbegabung ansehen. Der Geist des Herrn ist jetzt tatsächlich der Geist universalen Friedens; er wirkt durch den Herrscher, aber ohne sein Zutun. Die gerechte Gesellschafts­ ordnung (11,3–5) wird durch eine gewaltfreie Schöpfungsordnung überboten, alles unter dem kommenden Herrscher, mehr noch: durch den Geist des Herrn. Im Verbund von 11,1–5 mit 11,6–8 nimmt 11,9a eine Doppelstellung ein. Zum einen bildet er den Abschluss der endzeitlichen Realutopie vom Frieden ohne Grenzen134 und damit ansatzweise die Vision der Erfüllung von Jes 2,2–4135, zum anderen zeigt er, wie die Herrschaft des neuen Königs sich ethisch im Volk aus­ wirken wird. Dem Sich-Herabsenken des Geistes auf den Herrscher entspricht wie von selbst das Eingehen einer innigen Liebesbeziehung des Volkes zum Herrn (‫ ֵ ּדעָ ה ֶאת־יְ הֹוָ ה‬/ dē’āh ät jahwe = Erkenntnis des Herrn).

3.3.4.6 Fortschreibung durch Jes 11,10 Jes 11,10 nimmt die Weissagung für die Heilszeit in den Mythos der Völkerwall­ fahrt mit hinein. War in 11,9b noch vom „Land“ die Rede, so ist jetzt die ganze Erde gemeint. Völkerfriede kann das Ziel sein. Allerdings schwärmt 11,10 nicht davon. Zunächst ist der Heilskönig in Jerusalem lediglich ein Heilszeichen für die Völker, nach dem sie „fragen“ können. Das Heil steht auch ihnen offen, wenn sie 133 U. Berges: „Das verlorene Paradies liegt nicht ‚jenseits von Eden‘, sondern auf dem Zion“ (Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 133). 134 Friede zwischen Tier – Tier (v 6a), Tier – Tier; Mensch – Tier (v 6b), Tier – Tier (v 7), Mensch – Tier (v 8), Mensch – Mensch (v 9a). 135 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 137.

Die Gottesknechtslieder 

323

wollen. Das Geschenk aus der Wurzel Isais ist für alle da. So ist Jahwe. Annehmen oder ablehnen müssen die Völker das Geschenk in eigener Entscheidung.

3.4 Die Gottesknechtslieder (Jes 42,1–7; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12) Die Gottesknechtslieder liegen auf der Grenze zu einer neuen Zeit. Kein Satz kann das besser markieren als Vers 9 aus dem 42. Kapitel: „Siehe, was ich früher verkün­ digt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.“ Sie haben den rückkehrwilligen Exulanten der Jahre 539/538 v. Chr. eine neue Perspektive gegeben136. Sie haben ebenso die Grenzen zu den Völkern geöffnet: Der Gottesbund mit Israel steht allen – als Teilhaber – offen. Sie haben schließlich den Tat-Folge-Zusammenhang seiner Eindimensionalität enthoben und ihn dadurch – neben Hiob und der Weisheit (s. o. unter AT 1.10.3.1 zu Kap 42,1–6; und unter AT 1.10.3.4 zu „Denkvoraussetzungen und Glaubens­ haltungen …“) – überwinden helfen. Weil die Gottesknechtslieder Zeugnis von einer Zeitenwende geben137, sind sie auch für geeignet erachtet worden, die Brücke zwischen Altem und Neuem Testament, zwischen dem anonymen Got­ tesknecht und Jesus, dem Gottessohn, zu schlagen. Nicht zufällig greift die De­ signation Jesu in Mt 3,17 auf Jes 42,1 („… das ist …“) und in Mk 1,11 auf Jes 49,3 („… du bist …“) zurück. Und nicht umsonst zitiert Simeon in seinem Lobgesang auf das Jesuskind Jes 49,6 (42,6) und macht ihn so zum Licht der Heiden. Offenbar sprechen die Gottesknechtslieder aus einer Zeitenwende heraus so authentisch, dass sie – gerade auch aufgrund der Themen Leiden, Rechtfertigung, Verherrli­ chung und aufgrund der Anonymität des Gottesknechts – auf eine ähnlich emp­ fundene Wende beschreibend und deutend übertragbar sind (vgl. Mt 12,18–21). Der Fokus der Interpretation liegt auch hier auf der Gewaltfrage zum einen und auf Gottes Handeln an bzw. in der Völkerwelt zum anderen. In diesem Licht sind folgende Fragen zu beantworten: 1. Wie verhält sich Gott gegenüber der Völkerwelt? Wie wirkt er auf sie ein? (Gottesbild) 2. Wie ist das Medium beschaffen, durch das er wirkt; wie soll es sein? Wie darf es sich sehen? (Knechtsbild) 3a. Wie ist der Mensch beschaffen? Wie soll er sein? (anthropologischer und ethischer Aspekt) 3b. Wie ist Israel beschaffen? Wie soll es sein? (ethnologischer und ethischer Aspekt) 136 Entfaltet in Jes 43,1–16*. 137 K. Elliger spricht von einem „Umbruch in der Weltgeschichte“ (Deuterojesaja 40,1–45,7 [BK XI/1], Neukirchen-Vluyn 32011, S. 217).

324

Gott und die Völkerwelt

Dass dabei die grundlegenden Fragen der Quellenlage, der strukturellen Funktion der Gottesknechtslieder und der näheren Profilierung des Gottesknechts (leiden­ der Gerechter oder Gottesknecht? Individuum oder Kollektiv?) nicht vernachläs­ sigt werden können, versteht sich. Im Folgenden wird eine sich an den Luthertext anlehnende Synopse dargeboten. Die wesentlichen Abweichungen ergeben sich in Jes 53,8.10. Die Begründung erfolgt bei der Einzelbesprechung. Im Übrigen werden sich durchziehende thematische Stich­ worte hervorgehoben (mein Knecht [Jes 42,1; 49,3.6; 50,10; 52,13; 53,11]; der Komplex Gerechtigkeit und Recht [Jes 42,1.3.4.6; 49,4; 50,8; 53,8.11]; Missionsmotiv [Jes 42,1.4; 49,1.6c; 52,15; 53,11.12]; damit zusammenhängend: Licht der Heiden [Jes 42,6; 49,6]; Erfolgsmotiv [Jes 42,4; 49,4; 50,7; 53,10d]). Jes 42,1-9 42 1 Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn aufrecht – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. 2 Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf der Gasse. 3 Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. 4 Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. 5 So spricht Gott, der HERR, der den Himmel schafft und ihn ausspannt, der die Erde ausbreitet und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Odem gibt und den Geist denen, die auf ihr gehen: 6 Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und ergreife dich bei der Hand und behüte dich und mache dich zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, 7 dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. 8 Ich, der HERR, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. 9 Was ich früher verkündigt habe, siehe, es ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es aufgeht, lasse ich's euch hören.

Jes 49,1-6 49 1 Hört mir zu, ihr Inseln, und merkt auf, ihr Völker, in der Ferne! Von Mutterschoß an hat der HERR mich berufen; vom Leib meiner Mutter an hat er meinen Namen genannt. 2 Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich verborgen. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. 3 Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich mich verherrlichen will. 4 Ich aber sagte, ich habe mich vergeblich abgemüht, für nichts und nutzlos habe ich meine Kraft verzehrt. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott ist. 5 Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterschoß an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde, – darum bin ich geehrt vor dem HERRN, und mein Gott ist meine Stärke –, 6 er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Heiden gemacht, dass du seist mein Heil bis an die Enden der Erde.

Die Gottesknechtslieder  Jes 50,4-9 50 4 Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit ein Wort zu reden. Er weckt am Morgen, am Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht widerspenstig gewesen und nicht zurückgewichen. 6 Meinen Rücken habe ich denen hingehalten, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht habe ich nicht verborgen vor Schmach und Speichel. 7 Aber Gott der HERR wird mir helfen, darum werde ich nicht zuschanden werden. Darum hab ich mein Angesicht hingestellt wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht beschämt werde. 8 Er ist nahe, der mir Recht schafft; wer will mit mir streiten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten (wörtl.: Wer ist der Herr [„Baal“] meines Rechts?)? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR wird mir helfen; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen. 10 Wer ist unter euch, der den HERRN fürchtet, der der Stimme seines Knechts gehorcht, der im Finstern wandelt und dem kein Licht scheint? Der hoffe auf den Namen des HERRN und verlasse sich auf seinen Gott! 11 Siehe, ihr alle, die ihr ein Feuer anzündet und Brandpfeile zurüstet, geht hin in die Glut eures Feuers und in die Brandpfeile, die ihr angezündet habt! Das widerfährt euch von meiner Hand; in Schmerzen sollt ihr liegen.

325

Jes 52,13-53,12 52 13 Siehe, mein Knecht wird Erfolg haben, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. 14 Wie sich viele über ihn entsetzten – so unmenschlich entstellt war sein Aussehen und seine Gestalt fern der von Menschenkindern – , 15 so wird er viele Heiden besprengen, Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nicht erzählt wurde, haben sie gesehen, und was sie nicht hörten, haben sie verstanden. 53 1 Wer glaubt dem, was von uns gehört wurde, und der Arm des HERRN, über wem wurde er offenbar? 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit, dass wir ihn angesehen hätten, und keine Gestalt, die für uns begehrenswert gewesen wäre. 3 Verachtet und verlassen von Menschen, ein Mensch voller Schmerzen und vertraut mit Krankheit. Wie einer vor dem man das Angesicht verhüllt. Verachtet. Und wir haben ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, unsre Krankheit, er hat sie getragen, und unsre Schmerzen, er hat sie aufgeladen. Wir aber hielten ihn für einen Gestraften, einen von Gott Geschlagenen und Geplagten. 5 Aber er ist um unsrer Sünden willen durchbohrt und um unsrer Verschuldungen willen zermalmt. Die Züchtigung liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten (wörtl.: Die Züchtigung unseres Friedens … bzw. Die Züchtigung zu unserem Frieden … auf ihm), und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder wandte sich auf seinen Weg. Aber der HERR ließ unser aller Schuld auf ihn treffen. 7 Als er misshandelt wurde, beugte er sich und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Infolge Drangsal und Rechtsspruch ist er weggenommen. Aber wer von seinen Zeitgenossen bedenkt das? Denn er ist

326

Gott und die Völkerwelt aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, wegen der Sünde seines Volkes war er zu Tode getroffen. 9 Und man gab ihm bei den Frevlern sein Grab und beim Reichen, als er gestorben war (wörtl.: in seinen Toden), wiewohl er niemand Gewalt getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 Der Herr hat Gefallen an seiner Erdrückung mit Krankheit. Wenn du sein Leben doch als Schuldopfer ansähest (wörtl.: hinstelltest)! Er wir Nachkommen sehen, er wird lange leben (wörtl.: Tage hinziehen), und das Vorhaben des Herrn wird durch seine Hand gelingen. 11 Aus Mühsal seiner Seele wird er Licht schauen und wird satt werden durch seine Erkenntnis. Er, der Gerechte, mein Knecht, wird den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm Anteil geben bei den Vielen, und im Blick auf die Starken soll er Anteil haben an der Beute, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern zugezählt ist. Und er hat die Sünde der Vielen getragen hat und ist für die Übeltäter eingetreten.

3.4.1 Die literarische Funktion der Gottesknechtslieder innerhalb von Deuterojesaja Bei Deuterojesaja haben wir es in krassem Unterschied zum Urbestand bei Proto­ jesaja grundsätzlich mit Heilsprophetie zu tun. Der Grundton des ganzen Buches ist: Trost für die Exilierten, die von Jahwe, ihrem Hirten, wieder zum Zion ge­ führt werden, und Frieden und Freude auf dem Wege – der Herr gibt sein Wort! Selbstredend sind die Unheilsworte über Babel (Jes 47) als Heilsworte für Israel zu lesen. Selbst die beiden Strafworte über Israel (Jes 43,22–28; 48,1–12) enden mit der Aufhebung der Strafe, nicht wegen Israels Verdiensten, sondern um der Glaubwürdigkeit der Erwählung, um der Ehre des Herrn willen. In den Horizont des anbrechenden (vgl. die Kyros-Ankündigungen Jes 41,2–5.25 f; 44,28; 45,7; 48,14b-15) und künftigen Heils (vgl. insbes. die Zionstheologie in Jes 54) fügen sich die Gottesknechtslieder als Trostbotschaft, die dem Volk wie dem Einzelnen eine neue Lebensperspektive eröffnet, symphon ein. Die komplette heilskerygma­ tische Ausrichtung von Deuterojesaja mag mit ein Grund für die Angliederung an Protojesaja gewesen sein, insofern durch Deuterojesaja, insbesondere durch die Zionstheologie, das heilseschatologische Gegengewicht gegen Urjesaja massiv

Die Gottesknechtslieder 

327

verstärkt wird138. Direkte oder indirekte Bezugnahmen auf Jes 6,9 f machen das wahrscheinlich. So liest sich Jes 40,1–11 wie eine Aufhebung der Verstockung und 40,27–31 wie eine Aufforderung zur Wahrnehmung Gottes nach langem Schwei­ gen. Offene Augen und nichts sehen, offene Ohren und nichts hören gehört der Vergangenheit an (Jes 43,18–20.23; 48,6). Auch der Gottesknecht ist ein Beispiel dafür (Jes 50,4; 42,7), und die Aufforderung zum Sehen (Jes 42,1; 52,13) und Hö­ ren (Jes 43,19; 44,1; 46,12; 48,1.12.14; 51,17 ff.21 ff; 52,1 ff) setzt wieder geöffnete Augen und Ohren ebenso voraus wie das fruchtbare und erfolgversprechende Wort Gottes (Jes 55,10 f). Einzig die Götzendiener sind und bleiben verblendet (Jes 44,18). Die Gottesknechtslieder heben sich auch dadurch heraus, dass sie Deuteroje­ saja strukturieren. Zwei inhaltlich relativ gleichartige139 stehen zu Beginn (Jes 42, 1–7[8–9])und am Ende (Jes 52,13–53,12). In beiden geht es um das Gottesrecht, das der Knecht in Israel wieder aufrichten und hinaus zu den Heiden bringen wird; und Jahwe, der der Sprecher ist („Siehe, mein Knecht“ [Jes 42,1; 52,13]), verheißt Gelingen und verbürgt sich dafür (Jes 42,4; 53,10d). Damit macht der Redaktor deutlich, dass er Deuterojesaja unter diesem Aspekt gelesen wissen möchte. Am Ende des ersten Teils von Deuterojesaja, dem „Jakob-BefreiungsTeil“, und dem Beginn des zweiten Abschnitts, dem „Zions-Restaurations-Teil“140 steht jeweils ein so genanntes141 Gottesknechtslied (Jes 49,1–6 und 50,4–9), inhalt­ liche und formale Parallelen sind auch hier nicht zu übersehen (der Gottesknecht spricht, es geht um sein „Recht“, nicht primär um das Gottesrecht). In diese innere Klammer ist die Kernbotschaft von Deuterojesaja eingefasst, die Jes 46,12 schon präludiert wurde: Dem zweifelnden und verzweifelten Zion spricht der Herr Trost und Gewissheit zu: Zion, dem der Bund unverbrüchlich gilt, wird nie und nimmer aus der Hand des Herrn fallen, im Gegenteil, es wird hoch und erhaben werden, indem es die Kultstätte aller Gläubigen, der Daheimgebliebenen, der Rückkehrer und der noch in der Diaspora Lebenden, werden wird (Jes 49,7–26). Da Jes 49,1–6 und 50,4–9 Klagecharakter mit perspektivischem Hoffnungsaspekt haben, kann das nur bedeuten, dass Gott die Klage Zions (Jes 49,14) erhört hat (Jes 49,15 und die übrigen Verse). Dass die Gottesknechtslieder als Strukturelemente in den fortlaufenden Text eingelassen wurden, scheint ersichtlich142. Das wird auch noch dadurch bewiesen, dass sie teils das 138 B. M. Zapff, Jesaja 40–55, Würzburg 2001, S. 222; H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jes 49,​ 14–55,13) (BK XI/3), Göttingen 2017, S. 702 f. 139 Abgesehen von Passagen der Stellvertretungs- und Opfertheologie. 140 Zu dieser Zweiteilung vgl. U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 327; auch B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 221. 141 Jes 50,4–9 wird erst durch den Zusatz 50,10 dazu. 142 So auch H. Irsigler, Ein Weg aus der Gewalt? Gottesknecht kontra Kyros im Deuterojesaja­ buch, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 8 und H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 104.

328

Gott und die Völkerwelt

Textkontinuum abrupt unterbrechen, teils eine künstliche Verbindung zum Kontext aufweisen: Jes 42,1–7 ist zwischen die Herausforderung an die Götter samt Kyrosverhei­ ßung (Jes 41,25–29; 42,8) eingeschoben: Jes 42,8 schließt an Jes 41,29 an, und die Anrede „euch“ verbindet Jes 41,26 mit Jes 42,8. – Nach langer Jahwerede ist Jes 49,1 ff ein abso­ luter Neueinsatz143: Der Gottesknecht spricht und zitiert dabei u. a. auch Herrenworte. Die Kernbotschaft ab Jes 49,7 ist wieder Jahwerede, wobei 49,7 redaktionell überleitet: Jahwe verheißt dem Knecht die Wiederauferstehung Israels, der Knecht wird dabei mit Linien aus Jes 53,3 gezeichnet, was demnach dem Redaktor bekannt gewesen sein muss. – Unvermittelt beginnt auch Jes 50,4 – wobei auch Jes 50,1–3 schon nicht in den Kontext passt. In Jes 50,10 wechselt der Sprecher. Der / ein Prophet fordert seine Hörer auf, auf den Herrn zu hoffen und sich auf ihn zu verlassen wie der leidende Gerechte. Dieser wird in Jes 50,10 mit dem Knecht identifiziert, wodurch das Lied vom leidenden Gerechten zu einem Gottesknechtslied wird. – Jes 52,13–53,12 bildet keine thematische Fortsetzung von Jes 52,7–12 und auch keine Hinführung auf Kap. 54, wiewohl man unter dem Stichwort „Erfolg haben“ den Exodus der Exilierten und unter „erhöht und sehr erhaben sein“ die theologische Neubewertung des Zion verstehen kann (vgl. Jes 2,2). Das allerdings ist ein Effekt synchronischer Lektüre unter Vernachlässigung aller Hinweise auf Diachronie.

3.4.2 Die Gottesknechtslieder als literargeschichtliche Quelle Der Versuch, in Deuterojesaja Quellen oder Wachstumsschichten klar abgrenzbar aus­ zumachen, konnte bislang nicht überzeugend durchgeführt werden144. Bezeichnender­ weise aber heben sich hier die Gottesknechtslieder heraus. Sie werden allenthalben als besondere „Schicht“ anerkannt145.

Die Indizien – Jes 42,1–7; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12 als Strukturpfeiler, relativ abrupter Einsatz, redaktionelle Verbindungen am Ende – weisen auf eine Quelle hin146. Außerdem gibt es inhaltliche Parallelen. Es geht um einen besonderen Er­ wählten Gottes, der mit „Knecht“ bezeichnet wird (Jes 42,1; 49,5; 52,13; 53,11). Er hat eine exzeptionelle Nähe zu Jahwe, ist aber alles andere als ein Messias (Jes 49,4; 143 Dazu ausführlich H.-J. Hermisson, Jesaja 45,8–49,13 (BK XI/2), Neukirchen-Vluyn 2003, S. 323 f. 144 Vgl. hier die unterschiedlichen Schichtenmodelle von C. Westermann, Das Buch Jesaja, Kapitel 40–66 (ATD 19), Göttingen 41981, S. 26; B. M.  Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 220 ff; O. H.  Steck, „Die Gottesknechts-Texte und ihre redaktionelle Rezeption im Zweiten Jesaja“ in: Ders., Gottesknecht und Zion (FAT 4), Tübingen 1992, S. 149–172; H.-J. Hermisson, „Einheit und Komplexität Deuterojesajas“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, S. 155. 145 B. Duhm spricht sich für eine eigene Quelle aus (a. a. O., S. 311), U. Berges lediglich für eine spezifische Redeform (U. Berges, Jesaja 40–48, Freiburg 2008, S. 48). 146 Mit O. H. Steck, „Aspekte des Gottesknechts in Jesaja 52,13–53,12“ in: Ders., Gottesknecht und Zion (FAT 4), Tübingen 1992, S. 22; gegen U. Berges, Jesaja 40–48, Freiburg 2008, S. 48 und S. 60.

Die Gottesknechtslieder 

329

50,6; 52,14; 53,2 f.9)147. Er hat die Aufgabe, den bestehenden Bund Gottes mit Israel neu sichtbar werden zu lassen (Jes 42,6: 49,5), darüber hinaus den Glanz Jahwes und die Heilsbotschaft auch zu den Heiden zu bringen (Jes 42,6; 49,6). Verheißener Erfolg, gefühlte Vergeblichkeit, erneutes Vertrauen und Gewissheit des Gelingens bei Gott und der ihm nachfolgenden Gemeinde ergeben – zumin­ dest in dieser Anordnung der Gottesknechtslieder – einen Spannungsbogen. Ich gehe also von einer Quelle der Gottesknechtslieder aus. Ob diese vier die ganze Quelle repräsentieren oder nur eine Auswahl daraus darstellen, ist nicht zu ent­ scheiden148. Wohl aber zeigt jedes der vier Lieder literargeschichtlich so auffal­ lende Besonderheiten, dass ein Zurückgehen hinter die Quelle möglich erscheint. Jes 42,1–7 ist in sich geschlossen und kann als Prototyp des Gottesknechtsliedes gelten. Jes 49,1–6 scheint eine Kompilation aus vielen Fundstücken zu sein. Ihm ist weniger die Überlieferungsgeschichte als vielmehr die dichterische Handwerks­ kunst anzumerken. Jes 50,4–9 ist zunächst einmal kein Lied vom Gottesknecht, sondern vom leidenden Gerechten. Jes 52,13–53,12 gilt als das jüngste von den dreien, es interpretiert das Leiden des Gottesknechts als stellvertretendes Leiden. Damit ist es theologisch weit vorangeschritten und hat das Vertrauen des Knech­ tes auf seine eigene Rechtfertigung (Jes 49,4b; 50,8) weit hinter sich gelassen149. Lässt sich über eine relative Chronologie hinaus zu einem absoluten Anhaltspunkt vor­ dringen? Jeremia scheint Jes 53,7 zu zitieren (Jer 11,19). Wenn Jer 7–20 in die Zeit Joja­ kims fällt (vgl. Jer 7,1 ff/26,1 ff), war dem Jeremia das Gottesknechtslied Jes 52,13–53,12 um 600 v. Chr. bekannt.

Zur Literargeschichte der Lieder im Einzelnen: Gern wird Jes 42,5–7 von 42,1–4 abgespalten. Grund: Jes 42,5–7 sei die Fortset­ zung von 41,25–27, erzähle also mit den Worten des Herrn die Berufung des Ky­ ros. Später sei dann 42,1–4 vor 42,5–7 geschaltet worden, um – aus Enttäuschung über Kyros – die Berufung auf den Knecht zu übertragen150. Aber nichts spricht für eine Abspaltung151. Im Gegenteil: Die Strukturparallelität beider Teile bestätigt die Einheit152. Ob die „Inseln“ (42,4c) überschießen, ist fraglich. Die Ferne ist auch 147 E. Haag nennt ihn einen „Mittler der Heilsordnung Jahwes“ (E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht. Ein Weg zur Überwindung der Gewalt“ in: N. Lohfink, E. Haag u. a. [Hg.], Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. FS Vinzenz Hamp zum 75. Geburtstag, Freiburg 1983, S. 159 und S. 175 f); H. Irsigler versteht ihn „als eine letztgültige Mittlergestalt“ (a. a. O., S. 29). 148 B. Duhm geht von einer Auswahl aus (Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 14). 149 H. Irsigler geht von einer „sukzessiven Entstehung“ der Lieder aus (a. a. O., S. 10). 150 K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 228 ff; U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 344; B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 248. 151 Gegen K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 199; gegen E. Haag, „Die Botschaft vom Gottes­ knecht“, a. a. O., S. 161. 152 Präsentation (vv 1–4) Selbstverpflichtung Jahwes: „halten“ (v 1) Aufgabe: „Missionar“ der Heiden (v 1)

330

Gott und die Völkerwelt

schon in 42,1 angedeutet, die „Inseln“ wiederholen das und unterstreichen die uni­ versale Aufgabe des Knechtes, „Bund“ für das Volk und „Licht der Heiden“ zu sein. Jes 49,1–6 bedient sich vieler Elemente aus Jes 42,1–7, wahrscheinlich auch aus Jes 50,4–9, aber auch mancher Fundstücke aus Deuterojesaja, insbesondere auch aus Jeremia. Das wundert nicht; denn Jes 49,1–6 ist als Strukturelement eingelas­ sen bei Kenntnis von Deuterojesaja, und die Jeremia-Schrift war ihm als Späterem bekannt. So scheint Jes 49,1–6 eine kompilierte aktuelle Neudichtung zu sein. Im Einzelnen fallen folgende Anleihen auf: 49,1 ← 42,4c („Inseln“) 49,1.5 ← Jer 1,5 („vom Mutterschoß an berufen“)153 49,2b ← 51,16 („Schatten seiner Hand“) 49,4 ← 50,8b („mein Recht“ vor dem Herrn)154 49,5cα ← 43,4a („wert geachtet“)155 49,5cβ ← Ps 18,2; 28,7; 43,2; 46,2; 81,2 (Gott der Herr ist meine / unsere Stärke) 49,6 ← 42,6 (nicht nur zum „Bund für das Volk“, sondern auch zum „Licht der Heiden“)156. Ein folgenreiches Sonderproblem ist 49,3: „Du bist mein Knecht, Israel …“. Wäre das der ursprüngliche Text, so wäre es ein eindeutiges Zeugnis für ein kollektives Knechtsverständnis. Dieses wird unten diskutiert (s. u. unter AT 3.4.3 und 3.4.13). Hier geht es lediglich um die literarkritische Frage. „Israel“ steht im masoretischen Text, in der Septuaginta und in 1QJesa. In keinem uns bekannten Text fehlt „Israel“. Dennoch sind Zweifel an der Ursprünglichkeit des Knechtsnamens angebracht. Denn: 1. In keinem der vier Gottesknechtslieder hat der Knecht einen Namen. Die Na­ mengebung „Israel“ wäre in 49,3 äußerst ungewöhnlich. Wesen: Unauffälligkeit (v 2) Konkretion der Aufgabe: Wirken in Recht und Gerechtigkeit für die „Geknickten“ (v 3) Konkretion der Selbstverpflichtung Jahwes: Erfolg des Knechtes (er wird durchhalten) (v 4) Überschuss (oder Wiederholung der Aufgabe?): „Inseln“ (v 4c) Rückblick auf Berufung (vv 5–7) Selbstverpflichtung Jahwes: „ergreifen“ und „behüten“ (v 6) Aufgabe: Medium der Bundeserneuerung (v 6) + „Missionar“ der Heiden (v 6) Konkretion der Aufgabe: Wirken in Recht und Gerechtigkeit für die „Geknickten“ (v 7) 153 Jes 44,2 und 44,24 sind keine Bezugsgrößen, weil hier zwar Israel bzw. Kyros von Mutter­ leib an bereitet sind, aber das Wozu fehlt. 154 Im synchronischen Zusammenhang wird in 49,4 bzw. 50,8b gern eine Antwort auf 40,27 gesehen. 155 Ich lasse den Text trotz Parenthese unangetastet. Anders E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht“, a. a. O., S. 163, der 49,5 insgesamt ausscheiden will. 156 In 42,5.6 ist die Doppelfunktion des Knechtes begründet, und zwar mit Jahwes unumstrit­ tener Weltherrschaft. Der Singularität des Schöpfergottes entspricht die Verkündigung seiner Herrlichkeit auch vor den Heiden bis an die Enden der Erde. In 49,6 ist der universale Auftrag lediglich zitiert, ohne eigens begründet zu sein. So liegt die Vermutung der Aufnahme aus 42,6 nahe.

Die Gottesknechtslieder 

331

2. In 49,5 handelt der (namenlose) Knecht an Jakob. Wäre er selbst Jakob / Israel, wäre das mit 49,5 nicht vereinbar157. 3. Wenn im übrigen Deuterojesaja der Knecht mit Namen genannt wird, dann nie nur „Israel“, sondern in Parallelität mit „Jakob“ (Jes 41,8; 44,1.21)158. Wir haben es hier offenbar mit einer frühen Interpolation zugunsten einer kollek­ tiven Deutung zu tun. Die Interpolation ist – gemessen am übrigen Deutero­ jesaja-Text – wenig professionell. Der Israel / Jakob-Parallelismus wäre möglich gewesen, z. B.: „Du bist mein Knecht, Israel, mein Auserwählter, Jakob, an dem ich mich verherrlichen will.“ Fazit: Die früheste Form von Jes 49,1–6 hat vermutlich – wie die übrigen Gottes­ knechtslieder – keinen Namen enthalten. Jes 49,3, aber auch die ständige Oszillation zwischen individuellem und kollektivem Verständnis bei Dtjes, haben H.-J. Hermisson bewogen, von zwei Knechtsgestalten in einem auszugehen, der eine, der der Prophet Deuterojesaja ist, der andere, der den Knecht Israel repräsentiert und darin zugleich der Prophet als Knecht ist159. Mir scheint aller­ dings, dass diese Lösung nicht dem historischen Werdeprozess gerecht wird, sondern aus der Spannung heraus zu deren Auflösung das Dogma von Zwei in Einem kreiert.

Jes 50,4–9 erscheint in sich geschlossen und weist keine literarkritischen Be­ sonderheiten auf. Formal fällt die viermalige Berufung auf „Gott den Herrn“ auf, wobei 50,4 und 5 den Herrn als Auftraggeber erscheinen lässt, 50,7 und 9 ein vertrauensvolles und glaubensgewisses Fazit ziehen und so 50,4–9 in die Nähe eines prophetischen Vertrauenspsalms rücken160. Dennoch wirkt 50,4–9 an die­ ser Stelle fremd, denn es ist kein eindeutiges Gottesknechtslied, sondern eher ein Psalm vom leidenden Gerechten, wie er sich im Psalter vielfach findet (z. B. Ps 3; 7; 13; 17; 22; 35; 69)161. 157 H.-J. Hermisson versucht, Vereinbarkeit herzustellen: „Wenn ‚Israel‘ in V.3 … an Israel (V.5 und 6) handelt, bleibt nur, daß dieser ‚Teil‘ Israels ein einzelner ist, der ‚Israel‘ jetzt repräsen­ tiert und vorwegnimmt, was Israel im Ganzen noch nicht leistet“ (Jesaja 45,8–49,13 [BK XI/2], a. a. O., S. 352). Er folgt darin B. M. Zapff, der die Inkompatibilität von 49,3 und 49,5 durch eine paraphrasierende Übersetzung auszugleichen versucht: „Du bist mein Knecht, für mich bist du Israel …“ (Jesaja 40–55, a. a. O., S. 300). Damit vermeidet er eine Personifikation Israels, also eine vorschnelle kollektive Lösung; stattdessen betreibt er eine Fokussierung all dessen, was Israel ausmacht, auf den Knecht und hält so die Möglichkeit einer individuellen Lösung offen. Indes ist dieser Übersetzungsversuch, wiewohl er sich auf Jes 44,5 stützen könnte, vom Wortsinn zu weit entfernt. 158 C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 169. 159 Vgl. z. B. H.-J. Hermisson, „Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kon­ text“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, S. 222. Der Gedanke ist schon vorbereitet bei O. H. Steck, „Die Gottesknechts-Texte und ihre redaktionelle Rezeption im Zweiten Jesaja“, a. a. O., S. 152. 160 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 391; B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 310. 161 Gegen H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 104 f.

332

Gott und die Völkerwelt

Exkurs: Gottesknecht oder leidender Gerechter Gottesknecht und leidender Gerechter sind, wiewohl sich im Ergehen z. T. berührend, zwei verschiedene Gestalten. Sie haben entstehungsgeschichtlich unterschiedliche Wur­ zeln und auch ein je eignes theologisches Profil. Der „Knecht des Königs“ ist im profanen Sprachgebrauch ein besonders enger Ver­ trauter des Herrschers. Er tritt z. B. in Jes 36 f als „der Rabschake“ des assyrischen Kö­ nigs Sanherib auf, dessen Schmäh- und Lockreden unter die Worte „der Knechte des Königs“ subsumiert werden (Jes 37,6.24; vgl. 2.Kön 19,6). Auch David verfügt über „Knechte“, die zu den „Großen“ (Ministralen) gehören und ihm mit Leib und Seele ergeben sind (2.Sam 15,13–15: vgl. auch Ziba und Mefi-Boschet in 2.Sam 9)162. Zu­ vor war David selbst treu ergebener „Knecht“ Sauls (1.Sam 17,32–34), später sogar als „Knecht“ des Philisterkönigs Achisch dessen Leibwächter (1.Sam 28,1–3). Das vertraute Verhältnis zwischen Knecht und König ist die Grundlage für die Übertragung in den theologischen Bereich. Darf man Jahwe als König betrachten, so sind die von ihm Er­ wählten seine Knechte. So ist David sein Knecht (z. B. Jes 37,35; Jer 33,21; Hes 34,23 f; 37,24 f; 2.Sam 7,5.20; 1.Kön 3,6; 8,24–26; 8,66; 1.Kön 11,36.38; 14,8; 1.Chr 17,7.18; 2.Chr 6,15–17; Ps 78,70; 89,21; 144,10) ebenso Salomo (1.Kön 3,7), Hiskia (2.Chr 32,16), Se­ rubbabel (Hag 2,23), aber auch Nebukadnezar (Jer 25,9–11)163. Natürlich sind auch die Propheten in besonderer Weise Berufene und Erwählte und von daher Jahwes „Knechte“ (Jer 7,25; 25,4). Es gibt wohl nichts Innigeres als eine Erwählung von Mutterleib an. Aber auch Samuel trifft Gottes Ruf in früher Jugend, und auch hier ist die Einheit von Jahwe und künftigem Prophet durch das Knechtsverhältnis markiert (1.Sam 3,10). Der Jesus der synoptischen Evangelien nimmt diesen Knechtsbegriff auf und übertrifft ihn nur noch durch den „Sohn“ (Mk 12,1–12 parr). Auch Mose gilt als Prophet, aber als Pro­ phet besonderer Art: Er erhält nicht nur „Gesichte“ und „Träume“, sondern ihm wurde und wird direkte Begegnung mit dem Herrn zuteil. Darum und nur darum ist es auch „mein Knecht Mose“ (Num 12,6 f; Dtn 34,10–12), eine Ehrenauszeichnung, die sich Josua über einen langen Weg hin noch erwerben wird (Jos 1,1; 24,29). Da sich auch die Erzväter dem Erwählungshandeln Jahwes verdanken, wird auch ihnen die enge Bin­ dung, die innige Vertrautheit, der besondere Schutz Jahwes zuteil, verbunden mit dem Titel „Knecht“: für Abraham Gen 26,24 und Ps 105,42, für Abraham, Isaak und Jakob Dtn 9,27. Last not least wird auch Hiob im Rahmentext der Titel „Knecht“ im Munde Jahwes zuteil, „denn es ist seinesgleichen nicht auf Erden, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse“ (Hi 1,8). Aus diesen Belegen ist deutlich: Der „Knecht“ steht Jahwe sehr nahe. Das gilt in ex­ klusiver Weise auch für Jes 42,1–7. Der „Knecht“ ist hier nicht eine namentlich genannte Person, sondern eben der „Knecht“ schlechthin. Er ist eine urtypische Gestalt, nicht messianisch, Gott und den Menschen in gleicher Weise nahe, den Menschen näher als ein „Gesalbter“, eine Gestalt, die die Welt verändern wird. Die Gottesnähe geht von Jahwe selbst aus, es ist „mein Knecht“, „mein Auserwählter“, von Gott hat er den Geist erhalten. Sein Auserwählt-Sein impliziert eine Aufgabe; denn auserwählt ist man zu et­ 162 Allerdings agieren seine „Knechte“ auch mit einer gewissen Selbstständigkeit, die sich aus ihrer Verantwortung nicht nur gegenüber dem König, sondern auch gegenüber Gott ergibt (vgl. Nathan 1.Kön 1,22–27). 163 Eine ähnliche Rolle beanspruchte ca. 100  Jahre zuvor auch Sanherib für sich (2.Kön 19,25// Jes 36,10).

Die Gottesknechtslieder 

333

was. Konkret soll er das Gottesrecht unter die Völker bringen – in steter Rückbindung an den Bundesschluss, dessen Inkorporation er darstellt. Bei dieser Aufgabe ist ihm von vornherein und durch alle Widerfahrnisse hindurch Gottes schützende und leitende Hand sicher. Ganz anders stellt sich das Profil des leidenden Gerechten dar. Es kann vornehmlich aus den Psalmen, hier bes. aus Ps 3; 7; 13; 17; 22; 35; 69 erhoben werden. Im Unterschied zum Gottesknecht ist diese Gestalt nicht von Jahwe auserwählt, hat somit auch keine Aufgabe zu erfüllen. Ihr Leiden ergibt sich aus äußeren Gegebenheiten: Krankheit (Ps 38; 39), Verfolgung durch Feinde (Ps 3,2; 7,2; 13,3; 35,1 ff), Gewalt der Gottlosen (Ps 17,9; 22,17–19; 69,10), nicht infolge eines Auftrags Jahwes. Das Bewusstsein, im Leiden doch auch gerecht zu sein (Ps 7,4–6; 17,1–5), lässt sie vertrauensvoll zu Jahwe um Hilfe rufen (Ps 3,6; 7,2). Die Kontaktaufnahme geht also von dem in Not Geratenen aus, nicht von Jahwe. Wo Vertrauen in Jahwe gesetzt wird, wird es auch belohnt (Ps 7,18; 22,22b-32). Ps 55,23 formuliert das in klassischer Weise: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn; der wird dich versorgen und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen.“ Das Gefühl der Gottesferne aber beschleicht den Gerechten mehr und mehr (Ps 22,1–22a). Jahwe mag wohl helfen, aber er will gebeten sein. Diese Erkenntnis des Ps 17 lenkt zum Vertrauen zurück. Vertrauen kann sich aber nicht artikulieren, wenn Jahwe vom Leiden­ den wegsieht (Ps 13,1–3), sein Leiden nicht wahrnimmt („wie lange noch …“ [Ps 13,2 f; 35,17]) und dazu schweigt (Ps 35,22). Ist das Leiden gar erst durch Jahwes Wegsehen verursacht? Ist er letztlich der Leidensgrund? Ps 13,1–5 fragt in diese Richtung, muss aber am Ende doch in Jahwe den gnädigen Helfer preisen. – Wie weit sind wir hier doch von Jahwe als dem Auftraggeber des Gottesknechts für eine heilvolle Welt entfernt! Und wie stark muss der Beter die Gottesferne erleiden, wenn er den scheinbar unbeteiligten Gott wachrütteln muss (Ps 35,23), ja, wenn er nicht nur über den verborgenen Gott klagt (Ps 69,17–19), sondern dem scheinbar Untätigen eine Art Handlungsanweisung für den Umgang mit den Verfolgern geben muss (Ps 69,29)! Wie auch immer das Vertrauen des Beters auf Jahwe von diesem beantwortet wird, wie nah oder fern der Beter sich auch Jahwe fühlt, die theologische Aussage, die die Fi­ gur des leidenden Gerechten macht, ist eindeutig: Das erfahrene Leiden ist nicht Folge eines bösen Tuns, sondern Folge des Bösen, das in der Welt ist164. Hier will und darf Gott gebeten sein, an die Seite des Notleidenden zu treten und ihn zu retten. Wenn die Gerechtigkeit Gottes (Ps 22,32) nur erfahren werden kann vor dem Hintergrund widerfahrenen Leides (Ps 22,1–22a), dann verliert das Leiden vollends den Charakter der Tatfolge und wird zur Folie für die künftige Rechtfertigung. Insofern nimmt Ps 22 eine Spitzenstellung unter den Liedern vom leidenden Gerechten ein. Der leidende Gerechte ist zu einer „urbildlichen Gestalt“ geworden165. Es geht nicht nur um das „‚Urleiden‘ der Gottverlassenheit“166, sondern auch um die Urerfahrung von Gerechtigkeit und Rechtfertigung.

164 Dahinter bleiben die Klagepsalmen, die eine Krankheit beklagen, zurück (z. B. Ps 38; 39). Hier wird Krankheit noch auf vorgängige Sünde zurückgeführt, und erst der Bekennende kann zum Gerechten werden, so Jahwe ihn erhört. 165 H.-J. Kraus, Psalmen I, a. a. O., S. 177. 166 Ders. ebd.

334

Gott und die Völkerwelt

Nach dem im Exkurs dargestellten Unterschied zwischen dem Gottesknecht und dem leidenden Gerechten gehört Jes 50,4–9 eher zur letzteren Kategorie. Ein spe­ zieller Auftrag fehlt. Jes 50,4–5 gehen zwar in die Richtung, sind es aber nicht im Sinne von Jes 42,6 f. Sie sind eine Selbstreflexion des Sprechers über die seelsorger­ liche Ausrüstung, die er von Jahwe erhalten hat. Was er tun muss (50,5b), bringt ihm Ärger, Verdruss, körperliche Leiden aufgrund von Gewalttaten (50,6). Hie­ rin ist er dem leidenden Gerechten von Ps 69,10 ähnlich. Verlassenheitsgefühle plagen ihn nicht, denn er hat volles Vertrauen auf den Herrn, das ihn in seiner prekären Situation stabilisiert. Hierin gleicht er dem leidenden Gerechten von Ps 3. Er leidet, aber er ist ein Gerechter, sich seines Rechtes wohl bewusst (50,8c). Das Recht erkämpft er sich nicht selbst, sondern es wird kommen – durch den, der ihm „Recht schafft“ (50,8a) und so alle Feinde „zerfallen“ lässt (50,9). Wenn Jes 50,4–9 eigentlich ein Lied vom leidenden Gerechten ist, hat es nicht ursprünglich mit Jes 42,1–7 in einer Sammlung gestanden, sondern hat sich dem ersten Gottesknechtslied angegliedert. Erst danach kam wahrscheinlich Jes 49,1–6 hinzu (wegen der Bezugnahme von 49,4 auf das „Recht“ in 50,8). Somit ist zuletzt – auch was die zeitliche Angliederung anbetrifft – Jes 52,13– 53,12 zu behandeln. In Jes 53,8 und 10 sind zunächst Probleme der Übersetzung und der Textkritik zu klären. Luther übersetzt 53,8: „Aus Angst und Gericht ist er hinweggenommen.“ Die Interpretation des ‫ ִ מן‬/ min als „aus … heraus“ hat sich ihm wohl durch das Verb ‫ לָ ַקח‬/ lāqach = „(weg)nehmen“ nahegelegt167. Zudem bereitet der so interpretierte Satz den Gedanken vor, dass der schuldlos „um unserer Sünden willen Durchbohrte“ (53,5) nach dem Tode bei Gott „das Licht schauen“ werde (53,11). Es wird sich aber zeigen, dass ein postmortales Verständ­ nis der Existenz des Leidenden nicht intendiert ist168. Dem sollte auch schon die Übersetzung von 53,8 Rechnung tragen. So ist hier für ‫ ִ מן‬/ min die Bedeutung „infolge“ vorzuziehen169. „Drangsal“ und „Rechtsspruch“ – letzterer hier eher euphemistisch gemeint und als „Rechtsbruch“ zu lesen (vgl. Jes 5,7) – machen die Existenz des Leidenden zunichte. – Luther übersetzt weiter: „Wer aber kann sein Geschick ermessen?“ Dem liegt eine Konjektur zugrunde. Statt ‫ דּוֹרוֹ‬/ dōrō = „sein Geschlecht“, „seine Zeitgenossen“ liest er ‫ ַ דּ ְרכּוֹ‬/ darkō = „sein Weg“, „sein Ge­ schick“. Ich halte mich an den masoretischen Text170. – Mit der Qumran-Version der Jesajarolle lese ich in 53,8d ‫ עמו‬/ amō = „seines Volks“ statt ‫ עַ ִמּי‬/ amī = „meines Volks“. Die masoretische bzw. die Luther-Lesart macht 53,8 ganz oder teilweise zur Gottesrede, was im Kontext des Mittelteils unangebracht ist. – 53,10a bereitete der Septuaginta Schwierigkeiten: „Gefallen haben an Zerschlagen bzw. Erdrücken mit 167 Vgl. auch B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 400. 168 Gegen H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 400. 169 Gegen H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 380. 170 So zwar auch H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 326, der aber ‫ דּוֹרוֹ‬/ dōrō individuell fasst und so statt „seine Generation“ „sein Geschick“ über­ setzt (S. 383).

Die Gottesknechtslieder 

335

Krankheit“ schien ihr nicht ins Gottesbild zu passen. Daher glättet sie aus theo­ logischen Gründen: καὶ κύριος βούλεται καταρίσαι αὐτὸν τῆς πλήγης / kai kyrios bouletai katarisai auton tēs plēgēs = „und der Herr will ihn reinigen von der Krank­ heit“171. Dass das nicht nötig ist, wird die Auslegung zeigen. – Dass hinter 53,10a ein Einschnitt ist, hat Luther zu Recht gesehen172. Er zieht dann den Wenn-Satz (53,10b) als Vorbedingung der Nachkommenschaft und des langen Lebens mit 53,10c zusammen. Anders entscheidet sich die Einheitsübersetzung, die 53,10a und 10b zusammenzieht – allerdings unter Ausblendung des Wenn, wofür sie einsetzt: „Er rettet den, der sein Leben als Sühnopfer hingibt.“ Damit aber wird das Problem nicht gelöst, sondern nur verdeckt. In beiden Fällen wäre das geleis­ tete Schuldopfer Vorbedingung für Gottes Wirken („Gefallen haben“ bzw. „lange leben“ lassen). Erschwerend kommt hinzu, dass im masoretischen Text nicht er sein Leben als Schuldopfer hinstellt (so liest die Vulgata: posuerit), sondern du! Damit wäre Gottes Wirken gar an meine Deutung des Geschicks des Leidenden geknüpft. Dem Rechnung tragend, zerlege ich 53,10 in seine Stichen, ohne voreilig Hypotaxen vorzunehmen: a: Der Herr hat Gefallen an seiner Erdrückung mit Krankheit b: Wenn du sein Leben als Schuldopfer hinstellst c: Er wird Nachkommen sehen, er wird Tage hinziehen (lange leben) d: Das Vorhaben des Herrn wird durch seine Hand gelingen In Berücksichtigung der Tatsache, dass ein konditionales ‫ ִ אם‬/ ’im = „wenn“ theo­ logisch nicht möglich ist, betrachte ich es als Wunschartikel (mit Imperfekt – wie hier – bei erfüllbarem Wunsch). So ergibt sich meine Übersetzung (s. o. die Syn­ opse unter 3.4)173. Daran anknüpfend sei auf drei theologisch-kerygmatische Reflexionen inner­ halb des Liedes hingewiesen: 53,1: Wir haben Unerhörtes gehört und gesehen. Wie ist das nur vermittelbar? 53,8: Glauben (53,1) und Denken (53,8) gehören zusammen. Aber wie schwer ist das Bedenken des Heilshandelns Gottes, wenn es scheinbar unter dem Gegenteil verborgen ist! 53,10: Unser kerygmatisches Ziel bleibt Wunsch und kann nur erbeten sein: mit den Augen des Glaubens sehen!

171 Das Recht zur Glättung nimmt sich die Septuaginta vermutlich durch Buchstabenverände­ rung: Statt ‫ ַ דּכְּ אוֹ‬/ dak’ō = „seine Erdrückung“ ändert sie in ‫ זַ כְּ הוֹ‬/ sak’hō und erhält so die Bedeutung „seine Reinigung“ (vgl. dazu B. Duhm, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 403; H.-J. Hermisson, Deute­ rojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 329). 172 Auch U. Berges lässt den seiner Ansicht nach ältesten Mittelteil (Jes 53,1–9[10aα]) hier enden (Jesaja 49–54, Freiburg 2015, S. 222). 173 Vgl. dazu auch G. Scholz, „Der Tod Jesu Christi. Gedanken im Anschluss an den EKDGrundlagentext ‚Für uns gestorben‘“ in: KuD 62/2016, S. 34 f.

336

Gott und die Völkerwelt

Wenn die Anordnung der Stichen nicht dagegen spricht, können diese theolo­ gisch-kerygmatischen Reflexionen ohne Weiteres aus dem Text herausgehoben und – bezogen auf die Entstehung des Liedes – als endgültige poimenisch-redak­ tionelle Einfügungen gelten. Sie stehen an literarkritisch bzw. theologisch ent­ scheidenden Stellen: 53,1 verbindet den so genannten Rahmen Jes 52,13–15 mit dem Mittelteil Jes 53,2–11a, 53,8 reflektiert die scheinbare Gottesferne und ver­ sucht sie im „Bedenken“ zu überwinden, 53,10b versucht ebenfalls um ein Ver­ stehen des so handelnden Gottes beim Hörer zu werben174. Ich lasse den Mittel­ teil in 53,2 beginnen. Mit B. M. Zapff sehe ich das Ende in 53,11a. Ein Ende nach 53,10a kann ich nicht erkennen. „Erdrückung“ kann nicht das Ende sein. Zukunft schenken wider den Augenschein ist Gottes Wende (53,10c.d), die der Vollendung (53,11a) zustrebt. 53,11b.12 nimmt die Stichwörter „Knecht“ und „die Vielen“ wieder auf und ist mit 52,13–15 zum so genannten Rahmen zu rechnen. Damit ist der gegenüber dem so genannten Rahmen ältere Mittelteil begrenzt – 53,1.8.10b kann man als frühen Zwischenruf, der spätestens mit der Rahmung hinzukam, herausnehmen oder auch beim Original belassen. Der Mittelteil ist der ältere Teil, weil er vom leidenden (53,3.7.8a.9a) Gerechten (53,4a.5.9b), nicht aber vom Knecht spricht175. Der so genannte Rahmen ist jünger, nicht nur als solcher, son­ dern auch, weil der Gottesknecht im Mittelpunkt steht (Jes 52,13; 53,11). Ist der so genannte Rahmen nur redaktionelle Brücke oder verbirgt sich dahin­ ter ein weiteres Gottesknechtslied? Die Antwort ist von der Sinnhaftigkeit einer fortlaufenden Lektüre von Jes 52,13–15; 53,11b.12 wie auch von der Interpretation der „Vielen“ abhängig. U. Berges hält die Rahmenverse für sich genommen für un­ verständlich176. Außerdem setzt er „die Vielen“ von 52,14 f nicht mit denen von 53,11b.12 gleich. Erstere seien die vielen Heiden (vgl. 52,10), Letztere stünden für Gesamtisrael, das Gerechtigkeit erfahren könne, wenn es – wie die Wir – sich der „Knechtsgemeinde“, d. h. letztendlich: der Zionsgemeinde, anschlösse (vgl. 54,17 im Lichte von 52,1–3.7)177. Unter diesen Voraussetzungen kann nur von dispa­ raten Rahmenstücken ausgegangen werden. – Indes ist eine fortlaufende Lektüre des so genannten Rahmens nicht unverständlich: 52,13: Überschrift: Knecht wird Erfolg haben, aus göttlicher Sicht: erhöht werden (vgl. wörtl. Parallele in Jes 2,2) 174 Die Herausgeber der LXX haben es eben nicht verstanden und „Erdrückung“ durch „Rei­ nigung“ ersetzt. – Lässt man den Mittelteil in 53,10a enden (u. a. U. Berges), dann wäre 53,10b das reflexive Pendent zu 53,1. 175 Der leidende Gerechte betet nicht nur im Ich-Stil (Psalmen), sondern er personifiziert sich auch im Hiob-Drama; dort kann auch in der dritten Person über ihn gesprochen werden: „Der Gerechte und Fromme muss verlacht sein“ (Hi 12,4b). So auch hier (vgl. auch Ps 22,25). 176 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 221. 177 Ders., a. a. O., S. 254. Berges’ Interpretation hat den Endtext zur Grundlage, d. h. die Ana­ logisierung von Knechtsgemeinde und Zionsgemeinde in den Kapp. 53 und 54, außerdem die kollektive Deutung des Gottesknechts als Kern eines erneuerten Israel (a. a. O., S. 270). Dem schließt sich B. M. Zapff an (Jesaja 40–55, a. a. O., S. 323).

Die Gottesknechtslieder 

337

  14: Erniedrigung: Erfahrung von Abscheu   15: Erhöhung: erfolgreiche Weltmission, Schweigen der Verächter 53,11b: Erniedrigung und Erhöhung liegen ineinander: Sein entstelltes Aussehen ist nach außen gekehrtes Tragen der Sünde zum Heil der Vielen   12: Erhöhung: Anteil   12fin: Fazit, korrespondiert mit Überschrift Die Gliederung zeigt eine fortlaufend verständliche Lektüre, die vom zweima­ ligen Wechsel von Erniedrigung und Erhöhung bestimmt ist178. Das Tragen der Sünden (53,11b) kommt nicht unvermittelt, sondern ist in der hässlichen Ge­ stalt des Gottesknechts präludiert (52,14). Für die „Vielen“ zwei unterschiedliche Gruppen anzunehmen, ist nicht erforderlich. Somit liegt hier ein vollständiges Gottesknechtslied vor. Es enthält die gleiche Thematik wie der Mittelteil (stell­ vertretendes Leiden). – In einem weiteren Redaktionsprozess wurde dieses Got­ tesknechtslied als Rahmen um Jes 53,2–11a gelegt. Ein Verbindungselement ist dafür vielsagend: 53,11b beginnt mit der sekundären Vorschaltung von „Er, der Gerechte“ (‫ צַ ִדּיק‬/ zaddīq). Diese Einfügung charakterisiert das Vorhergehende als Lied des stellvertretend leidenden Gerechten und identifiziert diesen mit dem „Knecht“, wodurch das Ganze (vgl. auch „mein Knecht“ [52,13]) nachträglich den Stempel des Gottesknechtsliedes aufgeprägt bekommt179. Die schon begründete zeitliche Reihenfolge Jes 42,1–7; 50,4–9; 49,1–6 kann nun ergänzt werden: Ein Lied vom stellvertretend leidenden Gerechten wurde mit einem Gottesknechtslied gleicher Thematik verbunden und dann als großes Gottesknechtslied der Sammlung angefügt. Was sich hier im Kleinen vollzogen hat, die Assimilation eines Liedes vom lei­ denden Gerechten zu einem Bestandteil des Gottesknechtsliedes, lässt sich auch für die entstehende Sammlung der vier Lieder beobachten: Jes 50,4–9 wird durch die Angliederung an Jes 42,1–7, erst recht aber durch die kleine (Jes 49,1–6) und die große (Jes 52,13–53,12) Rahmung als Gottesknechtslied gelesen. Bestätigt wird das durch die redaktionelle Sicht in Jes 50,10. So will die Sammlung – vorausgesetzt, dass ihr nicht mehr Lieder angehört haben – auch als Einheit gelesen werden: Jahwe beauftragt seinen höchsten Re­ 178 Das Lied vom leidenden Gerechten (Mittelteil) zeigt diese Struktur nicht. 179 H.-J. Hermisson (Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 338 f) geht von einer literarischen Einheit des vierten Gottesknechtsliedes aus und sieht im Mittelteil und Rahmen lediglich unterschiedliche Formelemente (Chorlied 53,1–11a; Jahweorakel 52,13–15; 53,11b-12). Das führt ihn schließlich zu einer Gleichsetzung der „Vielen“ mit der Gesamtheit der Israeliten in 52,14 und 53,11 f, wovon die „Wir“ (53,4) ein Teil seien. Hermisson folgt darin O. H. Steck, „Aspekte des Gottesknechts in Jesaja 52,13–53,12“ in: Ders., Gottesknecht und Zion (FAT 4), a. a. O., S. 24. Jes 52,14 f hält dem allerdings nicht stand. Außerdem ist Heidenmission eine ausgewiesene Aufgabe des Gottesknechts (42,1.6; 49,6).

338

Gott und die Völkerwelt

präsentanten, der zugleich Symbolgestalt des Bundes mit Israel ist, sein Recht unter die Völker zu bringen, in Frieden und zu deren Heil. Der Auftrag ist perfekt (1. Lied), der Erfolg noch nicht gesichert, aber verheißen (4. Lied). In zwei weite­ ren Liedern schildert der Knecht sein Ergehen: Zwar habe ihn Jahwe gut gerüstet und unter seinen Schutz gestellt, aber die Arbeit sei umsonst, die Kraft für nichts verzehrt. In aller Frustration leuchtet jedoch ein Funke Hoffnung auf: Die Ver­ geblichkeit kann die gerechte Sache nicht zunichte machen. Er berichtet von der Erneuerung bzw. Bestätigung seines Auftrags (2. Lied). So wirkt er im dritten Lied denn auch trotz bleibender Anfeindungen getroster und ist von der Über­ einstimmung von Gottes Recht und seinem Recht überzeugt. Im 4. Lied ergreift Jahwe wieder das Wort und deutet den Weg des Knechtes: Sein GeschundenWerden und Zerschlagen-Sein ist stellvertretendes Leiden für alle, auch für die Völker. Jahwe gibt dem Weg seines Knechtes Recht („Erfolg“ [52,13], „gelingen“ [53,10d], „Anteil geben“ [53,12]) und damit Sinn: „den Vielen Gerechtigkeit schaffen“ (53,11b). Die Gruppe der „Wir“ ist eine Gruppe des Gottesvolkes und bezieht den Sinn des Leidens des Knechtes auch auf sich: „auf dass wir Frieden hätten“ (53,5).

3.4.3 Der Gottesknecht – Individuum oder Kollektiv? Bei der Frage, ob der „Knecht“ eine individuelle oder eine kollektive Größe sei, ist ggf. eine Entwicklung des Verständnisses vom Individuellen zum Kollektiven hin zu vermuten180. Wenn es so ist, hat das Auswirkungen auf die Ebenen der Ethik (anthropologische und / oder ethnologische Ebene). Im Blick auf das älteste Gottesknechtslied ist festzuhalten, dass der Knecht der exklusive Repräsentant und Gesandte Jahwes ist. Er gehört zu ihm und führt seine Sache am Volk und unter den Völkern aus. Somit ist er keine „Identifikations­ größe“ für prophetische „Tradentenkreise“181 und auch nicht „eine theologische Idee, die sich geschichtlich in denjenigen konkretisiert, die sich innerhalb des blin­ den und tauben ‚Knechts Jakob / Israel‘ allein JHWH anvertrauen, Babel verlassen und so zu Boten von Heil und Befreiung für Zion und Jerusalem werden“182. Wie Jahwe einer ist, so ist auch sein Knecht nur einer. Nun könnte auf Jes 41,8–10 verwiesen werden, wo Israel als „Knecht“ erscheint und Jakob, „den ich erwählt habe“. Der Singularität Jahwes entspricht freilich auch die Singularität Israels183. Diese wird hier allerdings auch an die Erwählung einer Person, 180 So auch H.-J. Hermisson, „Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kon­ text“, a. a. O., S. 220. 181 B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 249; U. Berges; Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 103. 182 U. Berges, Jesaja 40–48, a. a. O., S. 61. 183 P. Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, Berlin 2013, S. 26 f.

Die Gottesknechtslieder 

339

Abrahams, gebunden („meines Geliebten, den ich fest ergriffen habe … und beru­ fen …“). In ihm, dem erwählten Knecht, darf sich auch Israel gestärkt und gehalten wissen. Die Übertragung der Knechtswürde auf Israel ist nicht zu leugnen, jedoch ein späterer Prozess.

Hinzu kommt, dass der Knecht „zum Bund für das Volk“ gemacht wird (Jes 42,6). Wäre Israel der Knecht, ergäbe sich eine sinnlose Tautologie. Somit ist von einer Einzelgestalt auszugehen, die auch gut „bei der Hand“ ergriffen werden kann184. Die Tautologie entfiele freilich, wenn der Knecht die Knechtsgemeinde, z. B. die sich kon­ stituierende Zionsgemeinde, repräsentieren würde. Sie könnte sehr wohl Zeichen des Bundes für das Volk werden. Die ergriffene Hand wäre dann metaphorisch zu verstehen. Ist der Umweg über Teilmenge des Volkes und Metapher geboten, wenn ein unmeta­ phorisches Verständnis, das mit dem Knecht als Einzelperson vereinbar ist, möglich ist?

An Jes 42,1–7 gliederte sich Jes 50,4–9 an, ein Lied vom leidenden Gerechten. Dieser ist in den Psalmen ein Individuum, ebenso in der Personifikation Hiobs. Das ist hier, absolut gesehen, nicht anders. Eine Person wird gezeichnet mit Organen des Redens und Hörens und mit Körperteilen (Rücken, Wangen, An­ gesicht). Die Stärkung und Abhärtung der Person wird ähnlich bildhaft wie bei Jeremia beschrieben (vgl. Jes 50,7b mit Jer 1,18 f). Der anfügende Ergänzer zeigt damit zugleich sein Verständnis des Knechts in Jes 42,1–7. Er kann für ihn nur eine Einzelperson sein. Andernfalls müssten alle Organe und Körperteile metaphorisch gedeutet werden, was bei der konkreten Zeichnung der Person schwer fällt.

Zu Jes 49,1–6 sind die Argumente, die gegen eine Identifikation Israels mit dem Knecht sprechen, bereits oben (s. o. unter AT 3.4.2, Sonderproblem Jes 49,3) zu­ sammengetragen. Noch einmal sei auf die miteinander inkompatiblen vv 3 und 5 hingewiesen. Hinzu kommt, dass hier von einer Berufung des Knechtes gespro­ chen wird, wie sie so nur bei einer Einzelperson vorkommt: Jer 1,5 (vgl. mit Be­ zug darauf Gal 1,15)185. Hier wie dort ist auch von der Sendung zu Israel und den Völkern die Rede sowie von der verliehenen Festigkeit für den Kampf (vgl. Jes 49,2 mit Jer 1,18 f). Alles spricht für das Verständnis des Knechtes als Einzelperson. Dem wird entgegengehalten, dass auch Israel als Schöpfung Gottes von Mutterleib an dargestellt wird (Jes 44,2.24; 46,3)186. Das verfängt allerdings nicht als Argument gegen ein individuelles Verständnis; denn in allen drei Fällen geht es lediglich um die Beglei­ tung durch Jahwe von Anfang an. Es fehlt der Aspekt der Berufung von Mutterleib an187. 184 So auch K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 204. 185 C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 184. 186 Jes 48,8 in negativem Sinn: „Abtrünnig von Mutterleib an“. 187 Vgl. auch K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 204, der den Unterschied zwischen bloßer Begleitung und darüber hinausgehender Beauftragung auch im Knechtstitel sieht: lediglich be­ gleitet wird der Knecht Jakob / Israel, beauftragt aber wird der Gottesknecht!

340

Gott und die Völkerwelt

Wenn sich für das erste Gottesknechtslied das individuelle Verständnis nahelegt, dann sollte es auch für das vierte Lied gelten. Ich betrachte zunächst den so ge­ nannten Rahmen. Die Einleitung knüpft wörtlich an Jes 42,1 an: „Siehe, mein Knecht …“. War der Knecht dort eine individuelle Gestalt, ist nicht einzusehen, warum er es hier nicht sein sollte. Zu einer Metaphorisierung besteht kein An­ lass. Er wird vom Aussehen und seiner Gestalt her mit einem wertgeachteten Menschen verglichen. Selbst wenn er von der Wertachtung noch so weit entfernt scheint, bleibt er Mensch, Individuum. Es gibt jedoch auch Argumente für eine kollektive Interpretation des Knechts. Formaler Hinweis darauf ist die Verheißung, dass der Knecht „erhöht und sehr erhaben“ sein wird (52,13). Gleiches wird „zur letzten Zeit“ von Zion ausgesagt (Jes 2,2): Inhaltlich bietet 53,12a Anlass zur kollektiven Deutung. Ist der „Zion“ Symbol für ein Kollektiv (das neue Jerusalem, das neue Gottesvolk), liegt es nahe, den Knecht aufgrund formaler Parallelität auch so zu sehen. Damit aber ist das Knechtsverständnis noch nicht profiliert. Entscheidend ist das Verständ­ nis der „Vielen“ (53,12a). Sind sie – mit Berges – Gesamtisrael, dann könnte der „Knecht“ die heimkehr- und reformwillige Gola-Gruppe sein188, die die Daheim­ gebliebenen aufrichten und trösten soll189, von jenen aber zunächst nicht akzep­ tiert, sondern verachtet wird (52,14)190, schließlich aber doch zum Boten von Heil und Befreiung (42,7)191, von erneuter Sammlung und erneuertem Bund (42,6; 49,5) wird. In den „Knechten“ finden „Knecht“ und „Zion“ ihre Nachkom­ menschaft (54,17b)192. Sind die „Vielen“ aber – mit Zapff – die Völker, dann ist der Knecht identifizierbar mit Israel bzw. mit dem das neue Israel repräsentierenden Zion193. Bezogen auf Jes 53,12 sind die Argumente für eine kollektive Deutung stark. Darum darf man fragen, ob dieses jüngste Gottesknechtslied nicht schon in diese Richtung weist. Allerdings wird man bei einer Identifikation des Knechts mit Israel mit der sonstigen alttestamentlichen Geschichtsdeutung Schwierigkeiten bekommen: Der freiwillige Gang in die Nicht-Existenz („dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat …“) und die Deutung des Geschicks als stellvertretendes Sünde-Tragen für die Völker wäre völlig neu und mit dem Geschichtsbild kaum kompatibel. Vorstellbar wäre freilich ein Sün­ denbewusstsein der Knechtsgemeinde, das stellvertretenden Charakter sowohl für die zögerlichen Exulanten als auch für die blinden und tauben Daheimgebliebenen (vgl. Hes 33,24 ff)  hätte194. Indes ist nicht zu übersehen, dass diese kollektive Deutung einer Gesamtauslegung der Texte vom Endtext her geschuldet ist. Allerdings kann die indi­

188 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 254. 189 Ders., Jesaja 40–48, a. a. O., S. 61. 190 Ders., Jesaja 49–54, a. a. O., S. 225. 191 Ders., Jesaja 40–48, a. a. O., S. 61. 192 Ders., Jesaja 49–54, a. a. O., S. 235. 193 B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 330. 194 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 328 u.359.

Die Gottesknechtslieder 

341

viduelle Interpretation des Knechts, was 53,11b-12 anbelangt, auch nur auf den bisher erhobenen Befund der Urgestalt der Gottesknechtslieder verweisen, wo der Knecht eher als Individuum denn als Kollektiv auftritt.

Auch für den so genannten Mittelteil Jes 53,2–7.9–10a.c.d.11a gilt: Der ursprüng­ lich leidende Gerechte ist ein Individuum. Als „Er“ (Singular) steht er einer Gruppe, „Wir“ (Plural), gegenüber. Es geht also – wörtlich genommen – nicht um ein Wir im Gegenüber zu einer Gemeinde, sondern im Verhältnis zum Einzel­ nen. In v 3 wird er auch als „Mensch“ bezeichnet, denn es ergeht ihm, wie es nur Menschen ergehen kann, krank, voller Schmerzen, sozial isoliert. Der Leidende stirbt – unehrenhaft (53,9), wie es bei einem solchen „Menschen“ zu erwarten ist. Bei alledem bleibt der in dieser Weise Verachtete und so Endende Gottes Auserwählter: „Er schoss auf vor ihm …“ (53,2). Das „vor ihm“ unterstreicht die schon in 42,1 beschriebene singuläre Beziehung: „Vor Gott wechst er wol, sed non coram mundo195. Der Vergleich mit einem „Reis“ erinnert an Jes 11,1.10 und lässt an eine individuelle auserwählte – wenn auch nicht königliche – Gestalt denken. Dem wird entgegengehalten, dass es in den Klageliedern sehr wohl die „Vorstellung ­Zions als eines Menschen, den JHWHs Schläge treffen“, gäbe196. Der „Mensch“ in Jes 53,3 könne also durchaus kollektiv verstanden werden. Die hierfür angeführten Stel­ len in den Klageliedern können aber m. E. die Beweislast nicht tragen. Klgl 3 schließt zwar an eine imaginäre197 Klage Jerusalems198 bzw. Zions199 an, hier klagt allerdings ein „Mann“ (‫ גֶּ ֶבר‬/ gäver = Mann, Starker) (v 1), der sich nach der Klage noch einmal als solcher im Vertrauensteil meldet (v 27). Dass die Tochter Zion (Klgl 2,18) sich mit einem starken Mann vergleicht, ist unwahrscheinlich. Vielmehr scheint hier das Klagelied eines Einzelnen eingeflochten worden zu sein. Verwiesen wird indes noch auf Klgl 1,7–22, we­ gen „Schmerz“ insbesondere auf die vv 12 und 18200. Nur kann die Jerusalem bzw. Zion in den Mund gelegte Klage nicht als Klage eines Kollektivs herangezogen werden, weil eben nicht das Kollektiv klagt, sondern „eine unreine Frau“, mit der Jerusalem verglichen wird (Klgl 1,8). – Im Übrigen führt die kollektive Deutung – wie schon bei 42,1–7 und bei 50,4–9 gesehen – zu einer unnötigen Metaphorisierung des menschlichen Geschicks, weil sie nur durch Metaphorisierung aufrecht erhalten werden kann201.

Damit scheint erwiesen: Für die früheste Stufe der Gottesknechtslieder gilt: Es ist von einer individuellen Deutung der Gestalt auszugehen. Sie steht Jahwe sehr nahe, trägt prophetische (z. B. Jes 49,1.5) und königliche (z. B. Jes 53,2a) Züge, ist aber weder Prophet noch König, sondern als Beauftragter des Herrn und dessen 195 Martin Luther, zitiert bei U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 250. 196 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 62. 197 Imaginär, weil alles unter dem Vorzeichen des „muss sie sein wie“ (Klgl 1,8) steht. 198 Klgl 1,7 u. ö. 199 Klgl 1,17 u. ö. 200 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 243. 201 Beispiele der Metaphorisierung zu Jes 53,5.8 s. bei U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 255 und 260.

342

Gott und die Völkerwelt

Repräsentant ein dem Volk und den Vielen Zugewandter und Ausgelieferter, des­ sen Erfolg nicht in seiner, wohl aber in Gottes Hand liegt. Dem steht keineswegs die Tatsache entgegen, dass Israel sich schon sehr früh, sei es in der Diaspora bzw. im Exil, mit dem Gottesknecht identifiziert hat. Der Schritt hin zu einer Identifizierung lag nahe, zum einen in der geglaubten Schick­ salsgemeinschaft mit dem Knecht, zum anderen in der Verheißung der „Nach­ kommen“, die man auch als Motivation, sich in die Nachkommenschaft zu stellen, hören kann202. Die Identifikation vollzog sich vielleicht schon ansatzweise in Jes 53,12 und – sehr plakativ – in Jes 49,3203.

3.4.4 Die Kollektivierung des Knechts außerhalb der Gottesknechtslieder Dass der Knechtstitel einem Jahwe besonders nahestehendem Individuum zukam, wurde oben bereits dargelegt (vgl. Exkurs „Gottesknecht und leidender Gerech­ ter“). Dass darüber hinaus auch Israel bzw. Jakob in dieser Gestalt personifiziert werden konnte, legte sich nahe, wenn das Gottesvolk in seinem Wesen, wie es von Jahwe her gedacht war und sein sollte, angesprochen wurde204. Die Entwicklung schlägt sich im Grundstock der Deuterojesaja-Überlieferung nieder, ohne dass die Gottesknechtslieder darauf einen Einfluss ausgeübt haben205. Die Übertragung des Knecht-Titels von einer Person auf eine corporate personality ist eine Art symbolisierender Geistesbeschäftigung und somit gegenüber der realen persona­ len Bedeutung sekundär. Das lässt sich an Jes 41,8–10 gut nachvollziehen. Der Knecht Israel, der Erwählte Jakob, hat seinen Ursprung in der vorgängigen Erwählung Abrahams als Knecht. Zwischen dem Individuum Abraham und dem Kollektiv Israel / Jakob besteht eine genealogische Verbindung, mit „Spross“ markiert. Durch das notwendige kollektive Verständnis des 202 Auf den Punkt gebracht: „The Servant is what Israel is called to become“ (R. J. Clifford, „The Function of Idol Passages in Second Isaiah“ in: CBQ 42/1980, S. 453; ebenso R. Kessler, „­Kyros und der eved bei Deuterojesaja. Gottes Handeln in Macht und Schwäche“ in: M. Crüse­ mann, C. J. Bortfeld (Hg.), Christus und seine Geschwister, Gütersloh 2009, S. 153; so übernom­ men von U. Berges; Jesaja 40–54, a. a. O., S. 229. 203 O. H. Steck weist den Israel-Eintrag in 49,3 der frühen Ebed-Israel-Schicht zu, einer pro­ duktiven Rezeption der Gottesknechtslieder, die sie unter dem Knecht-Israel-Aspekt lesen lehrte („Die Gottesknechts-Texte und ihre redaktionelle Rezeption im Zweiten Jesaja“, a. a. O., S. 151 und 163). 204 Vgl. auch den Sohnestitel für Israel Ex 4,22 f; Hos 11,1. Entsprechend werden Israel bzw. Teile davon im Fall der Gott- bzw. Treulosigkeit mit negativ besetzten Gestalten identifiziert: z. B. Hes 23 (Ohola und Oholiba); Hos 9,1 (Hure). 205 O. H. Steck „Die Gottesknechts-Texte und ihre redaktionelle Rezeption im Zweiten Je­ saja“, a. a. O., S. 154. Zur Grundschicht rechne ich mit B. M. Zapff Jes 40,12–21; 41,1–42,12*; 42,14–44,23*; 44,24–48,21* (Jesaja 40–55, a. a. O., S. 220 ff).

Die Gottesknechtslieder 

343

Knechtes Israel gerät auch der „Spross“ in diese Interpretation hinein – im Unterschied zu Jes 11,1 und Jes 53,2206. Dem Knecht Israel wird Mut und Stärke zugesprochen, was auf eine Situation der Resignation bzw. drohende Assimilation (Exil) hindeutet. Die Resignation ist in Jes 40,27–31 angesprochen. Zwar ist hier nicht wörtlich der Knecht erwähnt, aber er steht hinter „du, Jakob, und du, Israel“. Müde geworden ist der Knecht ob der Rechtlosigkeit und der scheinbaren Funkstille zwischen ihm und Jahwe. Er wird von Jahwe auf die Weisheit verwiesen, die im Traditionswissen steckt. Die drohende Assimilation spricht aus der Taubheit und Blindheit des Knechtes, die alles verschuldet hat und die noch anhält (Jes 42,8–10). Nichtsdestoweniger liegt Jahwe an seinem Knecht, er wird ihn immer halten und nicht fallen lassen. Denn es besteht eine einmalig innige Verbindung von Anfang an. Die Urzelle des Knechtes Israel ist gleichsam ein eigener Schöpfungsakt (Jes 43,1; 44,1 f.21)207. Weil das so ist, kann Jahwe seinen Knecht (= seine „Zeugen“ [!]) dazu aufrufen, zu wissen, zu glauben und zu erkennen (Jes 43,10). U. Berges konstatiert ab Jes 48,1 eine Trennung zwischen Jakob / Israel, das sich in Ba­ bel eingerichtet hat und nicht aufbrechen will, und der so genannten Knechtsgemeinde, die den Exodus vorantreibt208. Das könnte in Jes 48,20 einen Anhalt haben, wo offenbar der „Knecht Jakob“ kollektiv ermuntert wird, aus Babel zu gehen („Geht heraus …“). In Jes 54,14–17 ist von Zion die Rede, das sich durch die Gnade des Herrn als Ge­ meinde der Knechte verstehen darf. Diese Pluralisierung des Kollektivs ist die Grundlage für die Universalisierung der Knechtsgemeinde, wie sie sich in Jes 56,6 darstellt. So darf Jes 54,17 als Übergang zu Tritojesaja angesehen werden209.

Als die Gottesknechtslieder als Strukturelemente in den Deuterojesaja-Komplex eingelassen wurden, steht dem kollektiven Verständnis des Gottesknechts nichts mehr entgegen. Der Auserwählte Gottes ist nicht mehr nur im Glauben wahr­ genommene Einzelgestalt, sondern in die Geschichte eingetreten als Gottesvolk, das „zu dem wird, was es von Grund auf ist und sein soll: Zeuge und Botschafter Gottes“210. So werden neue Konturen des Gottesknechts sichtbar: Er ist corporate personality derer, die aus Babylon ausziehen211. 206 An allen Stellen finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für „Spross“: Jes 4,2: ‫ צֶ ַמח‬/ zämach = Spross, im Kontext kollektiv Jes 11,1: ‫ ח ֶֹטר‬/ chotär = Rute, Reis Jes 41,8: ‫ זֶ ַרע‬/ sära῾ = Same, hier: kollektiv Jes 53,2: ‫ יוֹנֵק‬/ jōnēq = Spross 207 Darum auch die Verbindung von Knechtsberufung und Welterschaffung (Jes 48,12 f). 208 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 36. 209 Vgl. dazu U. Berges, „Die Zionstheologie des Buches Jesaja“ a. a. O., S. 189. 210 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 229. Wenn R. Albertz allerdings behauptet: „Eine authen­tischere Interpretation (scil. als der Endtext nahelegt) gibt es nicht“, dann wischt er alle Methoden und Ergebnisse historisch-kritischer Forschung mit einem Handstreich vom Tisch (R. Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr. [Biblische Enzyklopädie VII], Stuttgart 2001, S. 303). 211 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 359 nach R. Abma, „Travelling from Babylon to Zion. Location and its Function in Isaiah 49–55“ in: JSOT 74/1997, S. 27 f.

344

Gott und die Völkerwelt

Der redaktionelle Einbau der Gottesknechtslieder macht es möglich, sie auch als Wegmarken des schwierigen Exodus aus Babylon zu lesen: „Im Zuge der Rückkehr in die Heimat … formuliert der Knecht, d. h. die Knechtsgemeinde, die Erfahrung von Sendung (49,1 ff), Widerstand (50,4 ff) und drohendem Scheitern (52,13 ff).“212 Ist die „Knechtsgemeinde“ so etwas wie eine ecclesiola in ecclesia, eine Gemeinde von Hörenden und Verkündigenden innerhalb eines blinden und tauben Jakob / Israel in der Fremde? Ab Jes 48,1 kann man jene corporate personality in der Tat auch so in­ terpretieren. Ob damit allerdings das Interpretationsproblem des „Knechtes“ zwischen Individualität und Kollektivität gelöst ist oder ob damit ein neues Problem aufgeworfen ist, nämlich ob der „Knecht“ das neue Gottesvolk ist oder zunächst eine Teilmenge des­ selben, ist zu fragen. Bezeichnenderweise bleibt Jes 42,1 ff bei Berges’ Wegbeschreibung außen vor. Bezieht man es mit ein, wird man die neue ecclesia und nicht eine ecclesiola abgebildet finden.

3.4.5 Das Gottesbild nach Jes 42,1–7 Jahwe und sein Knecht sind nicht sachlich, wohl aber methodisch auseinander zu halten. Es sind zwei „Personen“, die allerdings in Wesenseinheit handeln. Diese kommt in der Präsentation in einheitlichem Wollen, in der Beauftragung in legi­ timiertem Sollen zum Ausdruck. Insofern hat der Knecht Offenbarungsqualität. Das gilt auch für Jes 52,13–53,12. In beiden Liedern wird diese Qualität durch die jeweilige Einfügung bestätigt. Im zweiten und dritten Lied ist die Offenbarungs­ qualität nicht gemindert, hier jedoch tritt die menschliche Seite des Knechts beim Weg durch die Widerstände der Welt stärker hervor. Der Knecht offenbart in Jes 42,1–7 Gottes Singularität und Universalität, die Singularität im Hinaustragen des einen Gottesrechts für alle, die Universalität in seinem Missionsauftrag213. Einzigartiger Offenbarer ist er, weil er Gottes Singularität und Universalität wahr werden lässt214, die Singularität im einzigen Auserwähltsein (42,1), die Universali­ tät in seiner Eigenschaft als Lichtgestalt für alle Völker (42,6). 212 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 225. Widerstand und drohendes Scheitern macht Berges an der Unwilligkeit der Jerusalemer Gemeinde fest, die prophetisch-missionarisch auftretenden Neuankömmlinge „mit offenen Armen (zu) empfangen“ (a. a. O., S. 226). Vom Stil des missiona­ rischen Eifers könnte Hes 33,24 ff Zeugnis geben. In Jes 53 sieht Berges indes eher den Versuch einer „Aussöhnung innerhalb des Gottesvolkes post exilium“ (a. a. O., S. 299). 213 Mit dem Auftrag, Licht der Heiden zu sein, ist nicht notwendig ein „Hinausgehen in alle Welt“ verbunden. Das Licht kann auch einfach vom Zion strahlen und von dort aus die Heiden erleuchten – eine zur Völkerwallfahrt komplementäre Vorstellung (vgl. K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 207 und 219; U. Berges Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 74). 214 So deute ich „in Treue“ (42,3): wörtlich: ‫ לֶ ֱא ֶמת‬/ lä’ämät = für die Wahrheit (so auch K. Elli­ ger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 215).

Die Gottesknechtslieder 

345

Alles, was der Knecht tut und tun wird / soll, geschieht nicht nur im Auftrag, sondern „im Geiste“ Jahwes (42,1). So ist es Jahwe, der sich den Völkern öffnet, der nicht Schrecken und Gericht bringt, sondern Heil (42,2 f)215, der vom Ende her und auf das Ende hin handelt (42,4a.b) an einer noch auf das Heil wartenden Welt (42,4c)216. So ist es Jahwe, der sein Recht überall auf der von ihm geschaffe­ nen Welt aufrichten wird – in, mit und unter dem Knecht. Um dieses Recht geht es im Handeln Jahwes, im Handeln des Knechtes. Im ers­ ten Teil (vv 1–4) ist „Recht“ (‫ ִ מ ְשׁ ָפּט‬/ mischpāt) Leitbegriff mit drei verschiedenen Facetten. In v 1 steht das Recht den Heiden gegenüber, bevor sie es annehmen werden. Recht ist hier Rechtsanspruch Jahwes, den er gegenüber den Göttern der Heiden durchsetzt (vgl. 42,8fin). In v 3 geht es um Jahwes Rechtsentscheid gegen das „Gesetz der Welt, daß der Zerbrochene und Verlöschende sterben muß“217; es geht um Jahwes Rechtsentscheid gegen die Götter der Macht. In der Person des Knechts wird sich Jahwe „jedweder Anwendung von Gewalt enthalten, denn sein Motto lautet nicht Sieg, sondern Recht“218. V 4 stellt die Verbindung zwischen Recht und Weisung (‫ ִ מ ְשׁ ָפּ‬/ mischpāt und ‫ תוֹרה‬ ָ / torāh) her. Dabei geht es um all das, was sich aus der Singularität Jahwes, aus dem „Ich bin der Herr“ (v 6), ergibt. Es geht um Jahwes Rechtsordnung, insbesondere um das Lebensrecht der „Blinden“, „Gefangenen“, Verstoßenen (v 7) in einer vom Geist Gottes erfüllten Welt (v 5), das alles in, mit und unter dem Knecht. So steht Jahwe nicht mehr nur an der Seite Israels gegen eine feindlich gesonnene Außenwelt, sondern die Völker als Empfän­ ger des Rechts (in allen drei Ausprägungen) werden einbezogen in eine künftige auf Recht und Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Frieden gegründete Welt- und Gesellschaftsordnung219.

3.4.6 Das Bild des Knechts nach Jes 42,1–7 Das Bild des Knechts und das Bild Jahwes sind in 42,1–4 identisch. Jahwe präsen­ tiert hier den Knecht bzw. sich. Der Rückblick auf die Berufung (42,5–7) bzw. die rekapitulierte Beauftragung lässt im Du-Stil Jahwe und die Gestalt des Knechts 215 V 2 „ist wahrscheinlich vor dem Hintergrund früherer Gerichtsprophetie zu verstehen, bei der der Prophet das drohende Gericht Jahwes in Form schmerzerfüllten Schreiens in aller Öffentlichkeit verkündigen mußte (vgl. Jes 20,8; Ez 9,8; 11,13; 21,17). Diese Form der Verkündi­ gung ist nach 2b abgelöst durch die Verkündigung kommenden Heils“ (B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 249; vgl. auch K. Elliger, Deuterojesaja, a. a. O., S. 210). 216 Vgl. die gleiche eschatologische Struktur von Heilspräsenz („doch auf Hoffnung“) in Röm 8,18–25. 217 C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 79. 218 U. Berges, Jesaja 40–48, a. a. O., S. 231; vgl. auch E. Zenger, „Gewalt als Preis der Wahrheit? Alttestamentliche Beobachtungen zur sogenannten Mosaischen Unterscheidung“ in: F. Schweit­ zer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 50 f. 219 Ders., a. a. O., S. 229.

346

Gott und die Völkerwelt

auseinandertreten. Jahwe stellt dabei ein Verhältnis zu ihm her, eine Beziehung, nach der ihm der Knecht, so wie er ist, recht ist („Gerechtigkeit“ = ‫ צֶ ֶדק‬/ zädäq), und eine Verbindung, die der Hand (‫ יָ ד‬/ jād), mit der er ihn hält, behütet und zu etwas macht. Insofern kann ab 42,5–7 der Knecht auch methodisch separat be­ trachtet werden, freilich so, dass der Knecht zwar in die Selbstständigkeit des Handelns entlassen ist, dass aber der Erfolg nicht in ihm selbst begründet ist, sondern darin, dass Jahwe ihn hält, stützt und einsetzt (Das gilt auch schon für 42,1–4, wenn auch noch nicht so konturiert). So wird der Knecht „zum effekti­ ven Zeichen“ der Selbstverpflichtung Jahwes zugunsten seines Volkes (Bund) und Bringer einer auf Recht und Weisung beruhenden Lebensordnung für die Völker (Licht)220. Sein heilvoll Leben bewahrendes Auftreten setzt sich fort im Bringen von Erkenntnis (Augen öffnen) und Freiheit (Gefangene befreien) und in Teilgabe am Leben für Volk und Völker (aus dem Finstern holen). Haltung und Handeln entsprechen sich, was auch schon in 42,2 und 3 ablesbar ist. Als Auserwählter ist der Knecht auch Repräsentant einer allumfassenden (42,4) Heilszeit221, die per se, aber auch konkret, durch Gewaltfreiheit (42,2 und 3) und Recht, insbesondere für die Schwachen (42,7) geprägt ist. Der „Knecht“ ist und bleibt in allen vier Liedern Verheißung. Mit ihm ver­ bindet sich der Soll-Zustand einer neuen Zeit bzw. der Ist-Zustand des künftigen Heils. Es gibt keine individuell lebbare Knechtsethik. Denn zum einen ist der Knecht nicht an eine Institution gebunden. Anders der Messias / König. Auf ihn ist eine entsprechende Ethik übertragbar, weil er Amtsträger ist. Das Amt des Knechtes hingegen gibt es nicht. Zum anderen wäre der Knecht als Individuum nur bei den „Knechten“ wiederzufinden. Das ist jedoch eine spätere Entwick­ lung (vgl. Jes 54,17; 63,17; 65,9 f.13–15; 66,14). Ansonsten verweist er im jetzigen Kontext auch auf den Knecht Jakob / Israel und spiegelt so ein Sein und Sollen des Gottesvolkes wider222.

220 Ders., a.a.o., S. 236. 221 In Jes 51,4 sagt Jahwe von sich selbst, was hier dem Knecht zugeschrieben wird. Das ver­ deutlicht noch einmal den Offenbarungscharakter der Person des Knechts. – Literargeschicht­ lich ist interessant, wie das Gottesknechtslied die spätere Naherwartungsschicht, zu der Jes 51,4 gehört (so Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 220 ff), beeinflusst hat. 222 Dabei ist eine Unterscheidung zwischen der Gesamtheit des Gottesvolkes und der „Knechts­gemeinde“ als Teilmenge derselben m. E. unerheblich. Denn das Sollen / der Auftrag richtet sich an das ganze Volk, auch wenn am Ende nur eine Teilmenge das Existenzverständnis des Knechtes für sich übernehmen und leben sollte.

Die Gottesknechtslieder 

347

3.4.7 Ethnologische und ethische Implikationen Im Kontext ist es legitim und geboten, unter dem Knecht auch das Gottesvolk zu verstehen223. Unter dem Aspekt von Sein und Sollen macht die Zweiteilung von Jes 42,1–7 wiederum Sinn. Beschreibt der erste Teil (42,1–4) eher das Sein Israels, so ist der zweite (42,5–7) die ethische Forderung. Das Sein ist allerdings nicht eine Skizze der Mangelhaftigkeit, sondern ein unverrückbares Gegründet-Sein im Herrn („mein Auserwählter“, „Wohlgefallen“, „meinen Geist gegeben“, „ich halte ihn aufrecht“). Die Singularität Jahwes bildet sich im Gottesvolk als einzig auserwähltem Volk unter den Völkern vollständig ab. So bestimmt die Singulari­ tät hier auch das Selbstverständnis Israels. Sie führt aber nicht zur Abgrenzung und Abschottung gegenüber der Völkerwelt, sondern es verbindet sich mit ihr ein Sendungsbewusstsein: das Gottesrecht hinauszutragen und draußen aufzurichten, nicht mit Gewalt und zwangsweise, sondern als Erfüllung einer Erwartung, und so zum friedlichen Miteinander224 unter dem einen Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat (42,5), beizutragen. Die universale Ausbreitung des Gottesrechts ist auf verschiedene Weise vorstellbar. Hier scheint tatsächlich eine Art dynamischer Mission intendiert zu sein. Sie ist u. a. belegt in Jes 66,19. Im Unterschied dazu mag es eine Art statischer Mission geben, nämlich lediglich als Licht auf dem Zion zu leuchten mit der zwangsläufigen Wirkung der Erleuchtung der Heiden. Ist daran Jes 61,8 f gedacht? Beide Arten scheinen in 42,3 f und 42,6 angesprochen zu sein. Die wohl geläufigste Art ist die der Integration von Fremden. Sie ist am ehesten auch mit der Vorstellung der Völkerwallfahrt kompatibel. Als integriert galt der Fremde, der Jahwe als alleinigen und einzigen Gott bekannte und den Sabbat hielt (Jes 56,4.6). Diese Art findet sich in Jes 56,3–6. Sie ist aber nicht im Gottes­ knechtslied angesprochen225. Zum Seinsverständnis Israels kommt in 42,5–7 die ethische Forderung als An­ rede Gottes an seinen „Knecht“. Sie verstärkt das Selbstverständnis im Sinne des gottwohlgefälligen Verhaltens innerhalb des Gottesvolkes226 und des vorbildhaf­ 223 H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 45,8–49,13) (BK XI/2), a. a. O., S. 338. 224 Gegensatz zum Gottesrecht sind Raub und Gewalttat (Jes 61,8). 225 Dass der Sabbat „als privilegiertes Heiligungsmedium neben dem Tempel hervorgehoben wird“, findet sich schon (für das Volk Israel!) Ex 31,12–17. Nach C. Nihan ist das eine spätpries­ terliche Fortschreibung des Heiligkeitsgesetzes (C. Nihan, „Das Sabbatgesetz Exodus 31,12–17, die Priesterschrift und das Heiligkeitsgesetz“ in: R. Achenbach u. a. [Hg.], Wege der Freiheit. Zur Entstehung und Theologie des Exodusbuches [AThANT 104], Zürich 2014, S. 146). 226 Die Deutung des „Knechtes“ auf das gesamte Gottesvolk könnte in 42,6 zu Schwierig­ keiten führen: Wie kannst „du“, das Volk, zum Bund für das Volk werden? U. Berges sieht den Ausweg in der Postulierung der „Knechtsgemeinde“: „Die erst heimkehrwillige, dann tatsächlich heimgekehrte Gola … weiß sich als der Ebed, der das Wortamt an der zögerlichen Bewohner­ schaft Jerusalems übernimmt“ (Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 359). Indes ist dieser Umweg nicht nötig. Ich bleibe bei Gesamt-Israel und interpretiere: „Deine Existenz, Israel, ist das sichtbare

348

Gott und die Völkerwelt

ten Leuchtens in Richtung auf die Völker. Es geht nicht mehr um die Vernichtung der Völker, sondern um deren Einbeziehung in ein heilvolles Leben (42,7). Inten­ diert ist ein friedliches Miteinander auf weltpolitischer Ebene227.

3.4.8 Das Gottesbild nach Jes 50,4–9 „Gott der Herr“ und das Ich des leidenden Gerechten (der im Kontext als Gottes­ knecht angesprochen werden kann) sind untrennbar aufeinander bezogen. So gibt dieses Lied Zeugnis von der Durchdringung von Theologie und Ethik, von Rechtfertigung und Recht. Da der Redende ein leidender Gerechter ist, also ein Mensch in nachvollziehbarer und erfahrbarer Menschlichkeit, wird von ihm auch – indirekt – eine Beschreibung allgemeinen Menschseins und – direkt – eine umzusetzende ethische Forderung ausgehen. Im Kontext gelesen, wird auch nach der Israel-Affinität des Knechtes (50,10) gefragt werden müssen. Dass das Gottesbild Grundlage des Vertrauenspsalms ist, ist durch den vier­ maligen Einsatz „Gott der Herr“ unüberhörbar. Dabei geht es in 50,4.5 um die Be­ gabung durch Gott. Die Begabung ist keine Beauftragung; sie ist ein Können, das der Begabte freilich als Gabe und Aufgabe betrachtet: Er sei „nicht widerspenstig gewesen“, sondern habe sich der Herausforderung gestellt. Diese angewandte Begabung führt ins Leiden. Hier wird sich Gott als parteilich erweisen, sich an die Seite des Leidenden stellen und dessen Gerechtigkeit – notfalls im Rechts­ streit – bestätigen: öffentliche Rechtfertigung des Gerechten vor den Ungerechten (50,7.9). Weil aus dem angewandten Können Leiden folgt, schwingt hier – wie überhaupt in den Liedern vom leidenden Gerechten – die Theodizeefrage mit. Begabung, Parteilichkeit, Rechtfertigung des Gerechten und Theodizeefrage sol­ len näher betrachtet werden. Der Begabung liegt Gottes positive Macht und Kraft (potestas) zugrunde. Sie ist schon immer bezeugt, theologisch bedacht und existentiell erfahren: Jes 40,29–31 (Grundschicht nach B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 220 ff). Aus dieser po­ testas holt der „Jünger“ des Herrn seine Potenz, er empfängt Anteil an der nie ermüdenden Kraft Gottes228. Angesichts tiefster Erniedrigung tritt Gott an die Seite des zu Unrecht Leiden­ den. Dieser hat im widerstandslosen Empfang der Schläge faktisch schon seine Schuld einräumen müssen, sich geschlagen gegeben229. Da ergreift Jahwe für ihn Partei, macht sich zum Herrn seines Rechts, entmachtet die „Baale“, die Recht be­ Zeichen des Bundes für alle“ – mit der impliziten ethischen Forderung, diese Existenz zu be­ wahren und nicht aufs Spiel zu setzen. 227 U. Berges, „Die Zionstheologie des Buches Jesaja“, a. a. O., S. 194. 228 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 388. 229 C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kapitel 40–66), a. a. O., S. 186.

Die Gottesknechtslieder 

349

halten wollen, und lässt die Feinde „zerfallen wie Kleider, die die Motten fressen“. Wie das geht, ob durch das gewaltige Wort oder durch den gewaltigen Arm, bleibt offen. Es geht nicht darum, einen gewalt-tätigen, sondern einen Partei ergreifen­ den Herrn vorzustellen. Parteinahme und Rechtfertigung des Gerechten hängen eng miteinander zu­ sammen. Gott wendet das Leiden und damit den ungerechtfertigten Schuldspruch der Feinde. Darüber hinaus spricht er die Feinde für schuldig, indem er sie zerfal­ len lässt. In all dem setzt er den „Jünger“ ins Recht und spricht ihn frei. Der „Jün­ ger“ muss nicht mehr um sein Recht kämpfen, weil Gott für ihn entschieden hat. Parteinahme und Rechtfertigung des Gerechten kann man nicht ohne die Theodizeefrage bedenken; denn das als Aufgabe aufgefasste Können führt ins Leiden. Dass Leiden, Schmach und Erniedrigung nicht Strafe für begangene Sün­ den ist, ist unumstrittene Aussage aller derartiger Lieder. Kann dann Gott nicht das Leiden des Gerechten vermeiden? Das Lied gibt die Antwort: Die „Baale“ des Rechts, auf die sich die Gewalttäter berufen und von denen her sie ihre violentia beziehen, sind nun einmal in der Welt. Von ihnen kommt das unsägliche Leiden, nicht von Jahwe. Jahwe kann nicht mehr und nicht weniger, als den Attacken des Bösen zu widersprechen. Und er und nur er will es auch. Eigene Abwehr der Ge­ walttäter steigert nur die Spirale der Gewalt und setzt ins Unrecht. Darum will Gott das Ertragen des Leidens, um es selbst in der Rechtfertigung des Gerechten zu überwinden.

3.4.9 Ethische Implikationen Jes 50,4 f stellt eine besonders enge Verbindung von Frömmigkeit und Ethik her. Die Frömmigkeit besteht in einer sensiblen Hörfähigkeit auf das aktuelle Wort Gottes (vgl. das doppelte „am Morgen“). Daraus folgt ethisch der Gebrauch der Zunge mit dem Ziel, Menschen aufzurichten. Das Wort Gottes, empfangen durch das „Ohr“, gibt Kraft, das Gebotene zu tun. 50,5a spricht wiederholt von der Sensibilität für Gottes Wort, nun offenbar mit einer anderen ethischen Zielsetzung: Du sollst Ungewöhnliches tun, dich anders verhalten als es gemeinhin von Menschen bekannt ist und erwartet wird. – Das allgemein bekannte Verhalten bei Gewalterfahrungen ist Abwehr, Zurückschla­ gen, Verteidigung von Recht und Ehre. So sieht es der Lieddichter, so ergibt es sich aus der Umkehrung des in 50,6 beschriebenen Verhaltens. Die Haltung aber, die aus der in Jes 50,4 f beschriebenen Frömmigkeit kommen möge, ist nicht die des inneren Widerstands und der Klage über den unangenehmen Auftrag („nicht widerspenstig gewesen“), sondern die Haltung des „bejahende(n) Anneh­men(s)“230 trotz zu erwartender körperlicher, verbaler oder seelischer Gewalt. Ebenso sind 230 E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht“, a. a. O., S. 187.

350

Gott und die Völkerwelt

mit jener Frömmigkeit keine gewaltsamen Aktionen zur Abwehr von Aggressio­ nen vereinbar, sondern das Hinhalten, Aushalten, Durchhalten. Motiviert wird das nicht mit einer Bloßstellungstaktik, auch nicht mit einer Leidensethik in dem Sinne, dass Unrecht leiden besser sei als Unrecht tun (was ja voraussetzen würde, dass Unrecht tun gut sei!), sondern damit, dass „ich gewiss nicht zuschanden werde“, weil „Gott der Herr mir helfen wird.“231 Das bedeutet: Denen, die mich zur Schande machen wollen, liefere ich mich mit meiner ganzen Person (Rücken und Wange = hinten und vorn232) aus. Damit lasse ich deren Schande auf mich übergehen, mache mich freiwillig zur Schande. Da sich „Schande“ mit „Schuld“ verbindet, ist hier von einer freiwilligen Übernahme von Schuld die Rede, die sich aus der Frömmigkeit des Geschlagenen ergibt. Dass der Weg des bewussten (Er-) tragens der Aggression und der freiwilligen Schuldübernahme nicht zum Zu­ schanden-Werden vor Gott führt, sondern – im Gegenteil – zur Rechtfertigung der Person und ihres Tuns durch Gott, dessen darf sich der Hörende, der Gehor­ same und Gottergebene, sicher sein233. Um die Haltung des Gottvertrauens und der Gewissheit geht es in 50,7b-9. Gottvertrauen schafft Stärke inmitten der Schwäche, eine Stärke, die aushält und abprallen lässt (50,7), eine Stärke, die in der Gewissheit besteht, dass Gott für mich eintritt (50,8) und mein Recht und meine Ehre verteidigt, ohne dass ich gewalt­ tätig werden muss (50,8.9).

3.4.10 Zur Frage der Israel-Affinität Eine Israel-Affinität lässt sich schwerlich herstellen; denn erstens handelt das Lied nicht primär von einem „Knecht“, zweitens ist „von keinem Auftrag an Israel, der Diaspora oder den Völkern die Rede“234. Drittens ergäbe sich die Schwierigkeit zu erklären, wer die „Müden“ sind, zu denen Israel reden soll – es sei denn, man setzt die Knechtsgemeinde als Hörende und Redende voraus, wofür es aber kei­ nen Hinweis gibt235. Die Kommentierung von 50,4–9 mithilfe der (kollektiven) 231 Das dürfte auch für eine Deutung von Mt 5,39 / Lk 6,29 von Belang sein. 232 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 104. 233 Dass Jes 50,4–9 vor Jes 52,13–53,12 angeordnet ist (freiwillige Übernahme als Vorbe­ reitung des Stellvertretungsgedankens), dürfte kein Zufall sein. Das hat auch H.-J. Hermisson gesehen (Deuterojesaja [Jes 49,8–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 343). Allerdings ist der Weg „vom notwendigen [kursiv von mir]Leiden des Knechts im dritten Lied zum stellvertretenden Leiden“ im vierten Lied nicht ganz exakt beschrieben, weil das Leiden des Gerechten in 50,4–9 eben keiner Notwendigkeit, sondern einer Freiwilligkeit folgt. 234 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 391 Anm. 343. 235 Dass die „Müden“ mühelos mit dem „Israel im Exil, das die Hoffnung aufgegeben hat und die Botschaft vom Heil nicht glauben mag“, identifiziert werden können, wenn der Ich in 50,4–9 mit dem Gottesknecht gleichgesetzt wird, führt H.-J. Hermisson vor (Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 146 u. ö.).

Die Gottesknechtslieder 

351

Knechtsideologie im Sinne einer Entscheidung für oder gegen den „Knecht“ (vgl. die Parallelität von Vertrauensversen mit dem Hoffnungsvers [v 7 + v 9a // v 10] und von den beiden Gerichtsversen [v 9b // v 11]) steht auf einem anderen Blatt.

3.4.11 Das Gottesbild nach Jes 49,1–6 Wie auch schon in den beiden zuvor behandelten Gottesknechtsliedern sind Got­ tesbild und Knechtsbild aufs engste miteinander verwoben. Was für den Knecht gilt, gilt für Jahwe und umgekehrt. Es gibt nur einen Satz, der die enge Ich-DuBeziehung zwischen Jahwe und Knecht bzw. die Ich-Er-Verschränkung zwischen Knecht und Jahwe auflöst zugunsten einer Misserfolgsaussage allein des Knechts (49,4a). So wird das Gottesbild in 49,1–4 vorwiegend indirekt, in 49,5–6 vor­ wiegend direkt erhoben, während das Umgekehrte für das Bild des Mittlers gilt. In 49,3 spricht Jahwe ein erstes Mal. Hier fasst er sein Wirken an und mit dem Knecht zusammen: An ihm und durch ihn will er sich verherrlichen. An ihm und mit ihm will er sein Werk krönen236. Die Vollendung seines Werkes besteht darin, dass sein Heil nicht nur dem neuen Israel aus heimkehrender Gola, „Zerstreuten“ und Daheimgebliebenen gilt, sondern sich zu den Völkern hin öffnet. „Licht“ und „Heil“ für alle Völker auf Erden bedeutet Erkenntnis von Gottesrecht und Gerechtigkeit sowie Schalom in universaler Dimension. Dies alles bringt Jahwe nicht etwa am Ende langer Kriege, sondern als Gabe seines besonderen Beauf­ tragten, als Werk seines Knechtes237. Dabei bleibt das Bundesverhältnis Jahwes mit Israel Grundlage für die Teilhabe der „Inseln“ und der „Völker“ daran. Ihre Teilhabe besteht im „Hören“ des Gotteswortes, das an den Knecht ergeht und ihr Heil inkludiert. Das Gotteswort ist allerdings kein „stilles, sanftes Sausen“ (1.Kön 19,12), son­ dern es hat Durchschlagskraft „wie ein scharfes Schwert“ und eine Reichweite wie ein „spitzer Pfeil“. Wie anders wirkte es sich doch in Jes 42,2 f – geistgeleitet – und in Jes 50,4 – seelsorgerlich – aus! Hier offenbart sich die ganze Kraft, Macht, Aggressivität des Gotteswortes im Wort (Vergleich: „meinen Mund wie …“) und in der Person (Metapher: „mich zum spitzen Pfeil gemacht“) des Knechts, ohne freilich zerstörerisch zu wirken, im Gegenteil: „zurückbringen“, „sammeln“, „auf­ richten“, „wiederbringen“, das Heil hinaustragen ist sein machtvolles Werk mit dem Knecht und durch ihn. Ihm, dem Knecht, gilt daher auch Jahwes besonderer Schutz.

236 Die Wurzel ‫ ָ פּ ַאר‬/ pā’ar = „verherrlichen“ steht auch hinter ‫ ְ פּ ֵאר‬/ pᵊ’ēr = Kopfschmuck und ‫ארה‬ ָ ‫ ֻ פּ‬/ pu’rāh = Wipfel. 237 H. Irsigler, a. a. O., S. 31.

352

Gott und die Völkerwelt

3.4.12 Das Bild des Knechts nach Jes 49,1–6 Zwei Seinsweisen durchdringen sich im Wesen des Knechtes: Er ist geboren aus dem Mutterschoß wie jeder andere Mensch auch. Das macht ihn menschlich und bringt ihn uns nahe. Zugleich ist er vom Mutterschoß an berufen, Gottes Knecht und Vertrauter zu sein. Das lässt ihn wissen, wie er sich sehen darf und wozu er gesandt ist. Auch wenn seine Verkündigung auf Frieden und Heil für alle Welt zielt, ist sie doch auch Ausbreitung des Gottesrechts gegen die nichtigen Götzen, somit verbunden mit schneidenden und scheidenden Worten und mit dem Ein­ satz der ganzen Person zur Abwehr von Angriffen. Der Gesandte Gottes hat Vie­ les zu ertragen in Erfüllung seines Auftrages. Hier deutet es sich an, in 49,4 wird es offenbar. So ist das unter den Bedingungen des Hineingeboren-Seins in diese Welt. Vor ihm hat Jeremia die gleiche Erfahrung gemacht (Jer 15,10; 20,14). Dem Knecht steht allerdings auch nur die Kraft seiner Worte zu seiner Verteidigung zu Gebote. Als von Anfang an Berufener kann er sich dabei der schützenden Hand Jahwes gewiss sein. Allein im treffenden Wort liegt die Chance der Ausbreitung des Gottesrechts wie auch die Kraft der Verteidigung. Diese Sicht der sich aus­ breitenden Gottesherrschaft kann nach all den Jahrhunderten der Jahwe-KriegsIdeologie nicht hoch genug eingeschätzt werden238. 49,4 ist ein eindrückliches Zeugnis für das existentielle Selbstverständnis des Knechts. In seinen beiden Teilen zeigt der Vers einerseits den von der Mutter Geborenen, der das Ist resümiert: In einer heil-losen Welt bleibt ihm am Ende eines enormen Kräfteeinsatzes für die Durchsetzung des Gottesrechtes bis zu den „Inseln“ nur die Vergeblichkeitserfahrung. Andererseits hat er als Berufener und Gesandter Gottes ein besonderes Wissen, aufgrund dessen er sich als ein ande­ rer denn als Gescheiterter sehen darf: „Mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott“. Die Welt, wie sie einst sein wird, heil bis an ihre Enden, ist schon bereitet, was dem Wirken des Knechts trotz allem Rechtfertigung und Sinn gibt239. Im Geehrt-Sein vor dem Herrn lassen sich Frustrationserfahrungen überwinden. Eine spezielle Knechtsethik ist daraus aus oben genannten Gründen nicht ab­ leitbar, wohl aber ist ein allgemeines Abrücken von der Jahwe-Kriegs-Ideologie erkennbar zugunsten eines wortmächtigen Durchsetzens des Gottesrechts als Grundlage für eine heilvolle Welt. Dieser Prozess kann kaum von einem Einzel­ nen allein geleistet werden, wenn nicht ein Volk hinter ihm steht bzw. sich mit 238 Das unterschätzt H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 45,8–49,13) (BK XI/2), a. a. O., S. 346 f. 239 H.-J. Hermisson unterscheidet zwischen „vorläufiger Realität“ und „Wirklichkeit“, um den Kontrast zwischen v 4a und v 4b darzustellen („Der Lohn des Knechts“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit, Tübingen 1998, S. 184).

Die Gottesknechtslieder 

353

ihm identifiziert240. So liegt die Frage auf der Hand, ob sich in diesen Versen nicht auch ein Selbstverständnis Israels ausdrückt.

3.4.13 Ethnologische und ethische Implikationen Dass Jes 49,1–6 im synchronischen Zusammenhang auch als Selbstzeugnis Is­ raels gelesen werden kann, steht außer Frage. Die Vorschaltung von 49,1–6 vor 49,7 bringt das Gottesknechtslied in das Licht eines kollektiven Verständnisses. Außerdem ist es schon sehr früh, wenn auch nicht von Anfang an, als Lied auf die besondere Rolle Israels unter den Völkern gehört und interpretiert worden: 49,3! Pro­blematisch im Sinne eines kollektiven Verständnisses bleibt 49,5: Der Knecht Israel hat an Jakob eine Aufgabe, und zugleich geschieht etwas mit ihm: Sammlung. Letzteres ist gut verständlich, Ersteres eigentlich nur dann, wenn der „Knecht“ eine relevante Teilmenge innerhalb Gesamtisraels ist, die Führungsan­ spruch im Blick auf die Rückführung erheben kann und auch erhebt. Am Ende wird die Teilmenge mit dem Gesamt identisch und am Zion erhöht sein (Jes 52,13)241. Israel sieht sich zwischen dem Glauben an die Sinnhaftigkeit seiner Rolle unter den Völkern und der Erkenntnis der scheinbaren Vergeblichkeit seines Wirkens (49,4). In dieser Spannung gewinnt das zu verkündigende Gotteswort sowohl die treffende Klarheit der Überzeugungskraft als auch die schneidende Schärfe der Abgrenzung (49,2)242. Die Ambivalenz des Glaubens bzw. der Erkenntnis wird aufgehoben im Sollen Israels (49,5 f). Israel soll werden wie der Knecht. Ganz Israel soll sich religiös und ethisch erneuern, was sinn- und wirkungsvollerweise am ehesten in Jahwes spür­ barer Gegenwart, in Jerusalem, auf dem Zion, geschehen kann243. Dazu bedarf es einer religiös und ethisch bereits erneuerten Kerngemeinde, die den Prozess auf die Gesamtheit auszudehnen imstande ist. Das erneuerte Israel wird sich selbst nicht genug sein. Es hat für sich den Ret­ tungswillen Jahwes in überwältigender Weise erfahren. So sieht es seine Rolle und Aufgabe nun darin, diese Rettungsmacht auch universal bekannt zu machen. Wei­ tergabe der heilvollen Erfahrung wird zum ethischen Imperativ, dessen Urheber 240 H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 45,8–49,13) (BK XI/2), a. a. O., S. 363: „Der pro­ phetische Gottesknecht wird zum ‚Licht der Welt‘ nur zusammen mit dem Israel, das er jetzt noch als einzelner repräsentiert und vertritt.“ 241 „Daß zur Erfüllung seiner weltweiten Aufgabe auch ein künftiges, gewandeltes Israel ge­ hört, ist … in der Zukunftshoffnung Dtjes’s vorausgesetzt …“ (H.-J. Hermisson, Deuterojesaja [Jesaja 45,8–49,13] [BK XI/2], a. a. O., S. 355). 242 Vergleiche und Metaphern (hier: „scharfes Schwert“) sind mehrdimensional, je nach Leseperspektive. 243 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 41 weist auf den lokalen und ethischen Doppelsinn von „umkehren“ hin.

354

Gott und die Völkerwelt

Jahwe ist. Weitergabe der heilvollen Erfahrung geschieht in weithin leuchtender Hoffnung (49,6) und Verkündigung (49,1), auf dass die unheile Welt durch das auserwählte Volk am Ende (49,6) heil werde.

3.4.14 Das Gottesbild von Jes 53,2–11a Im so genannten Mittelteil wird das Bild des leidenden Gerechten weit ausge­ zeichnet, ebenso einer Wir-Gruppe, die angesichts seines Geschicks zu einem Erkenntnis- und Existenzwandel gelangt. Das Gottesbild ist dadurch in den Hin­ tergrund gerückt, von dort aber durchdringt es die gesamte Darstellung. Von Gott ist nur viermal direkt, einmal indirekt die Rede, aber die mit ihm verbundenen Aussagen sind gegenüber herkömmlichen Gottesvorstellungen deutlich über sie hinausweisend. Die herkömmliche Vorstellung wird noch in 53,4b zitiert: Ein so unansehn­ licher Mensch voller Krankheit und Schmerzen kann nur ein für seine Sünden von Gott Geschlagener sein. Der gewalt-tätige Gott schlägt und plagt den Sünder, wo­ raus umgekehrt geschlossen wurde: Der Geschlagene und Geplagte ist ein Sünder. Wie das Buch Hiob mit dieser Anschauung bricht, so auch dieses Lied: Das „Aber“ in 53,5 ist ein deutliches Nein. In Form des passivum divinum wird hier ein an­ deres Gottesbild vermittelt: Gott hat den Entstellten unseretwegen, „um unserer Sünden willen“, durchbohrt und unseretwegen, „um unserer Verschuldungen willen“, zermalmt. Um es noch einmal klar auszusprechen: „Der Herr ließ unser aller Schuld auf ihn treffen“ (53,6). Der alte Tat-Folge-Zusammenhang war schon zerbrochen. Jes 50,4–9, das unschuldige Leiden des Gerechten, zeigt das. Nun ge­ winnt – zumindest in diesem speziellen Fall – das Leiden des Gerechten wieder eine Bedeutung, indem eine „abgeleitete“ Form des Tat-Folge-Zusammenhangs konstruiert wird. Gott lässt die Strafe für die Schuld nicht den / die Verursacher treffen, sondern einen anderen, der sie stellvertretend trägt. Dieser andere ist kein jeweils Beliebiger, sondern einer, an dem der Herr sein „Gefallen“ hat (53,10a). Jes 42,1 klingt an. Durch ihn und nur durch ihn wird das Vorhaben des Herrn, das er rückblickend schon immer im Sinn hatte (42,4; 49,3 f; 50,7), gelingen (53,10d). Das Vorhaben ist unser Frieden (53,5). Gott ist ein Gott des Friedens, und zwar unseres Friedens, der sich einstellt, wenn uns die Strafe für unsere Schuld nicht mehr trifft und wir hineingenommen sind in den Frieden dessen, der stellvertre­ tend für uns die Schuld trägt und die Strafe leidet. Sein Friede (53,11) ist unser Friede. Dass zu diesem Prozess die „Erdrückung mit Krankheit“ des Stellvertreters gehört, ist unglaublich (vgl. 53,1). Daher das Angebot, mithilfe kultmetaphori­ scher Deutung den Akt des Glaubens leichter vollziehen zu können (53,10b)244. 244 Dem kerygmatisch ausgerichteten Theologen reicht nicht ein Hinweis auf die Weisheit, dass der Herr nicht ewig verstößt und die Menschen nicht von Herzen plagt (Klgl 3,31–33), um

Die Gottesknechtslieder 

355

Denn was Gott an „uns“ tut, ist so groß, dass es nur metaphorisch („Schuldopfer“) gesagt werden kann. Zu Recht bemerkt U. Berges: „Da das Blut eines Menschen im AT keine reinigende Wirkung haben kann, ist der Begriff des ‚Ascham‘ (scil. Schuldopfers) hier allein kult­ metaphorisch zu verstehen. Von Kultmetaphorik spricht man dann, wenn kultische Vorstellungen und Begriffe in nicht-kultischen Zusammenhängen verwendet werden.“245 Hinzu kommt, dass nicht eine Opferhandlung als solche dargestellt wird, sondern dass etwas als Opferhandlung möglichst interpretiert werden soll. Und schließlich geht es nicht um einen Opfertod und das im Zusammenhang damit gesprengte Blut (Lev 4,6.17; 16,14.15.19), sondern um ein ganzes Opferleben. Dennoch geht dieses als Schuldopfer zu interpretierende Opferleben nach Gottes Gefallen über bloße Metaphorik hinaus, in­ sofern es der Wir-Gruppe eine neue heilsame Gottesbeziehung eröffnet. Sicher bewirkt nicht jedes Opferleben solches, aber eben das Opferleben dieses Auserwählten. Die Singularität dieses Opferlebens weist den Weg zur Einzigartigkeit und Einmaligkeit des Opfertodes Jesu, zu dessen Deutung neben Jes 53 auch Lev 4 und Lev 16 herangezogen werden kann.

Es bleibt freilich ein Stachel: Der Auserwählte leidet den Tod schon mitten im Leben (Verachtung, Verlassenheit, von Krankheit geplagt), „obwohl er niemand Gewalt getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist“ (53,9). Für ihn ist – im Unterschied zum leidenden Gerechten – Genesung nicht vorgesehen. Ist Gott Sadist? Zur Antwort ziehe ich 53,10 und 11a heran. 53,10d spricht vom „Vorhaben des Herrn“. Nach allem bisher Gesagten ist das Ziel des Herrn nicht die Vernichtung des Gerechten, sondern der Gottesfriede über denen, die des­ sen Wunden als ein außerordentliches, überraschendes, unverdientes Heils- und Gemeinschaftsangebot Gottes erkennen und anerkennen (53,5)246. – Geht Gott dabei nicht aber über die „Leiche“ des Auserwählten (53,10a)? Sicher ist: Er hebt das Leiden des Gerechten – anders als in den Psalmen – nicht auf. Auf der anderen Seite ist von einem physischen Tod nicht die Rede. Das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, ist ein Vergleich. Demzufolge ist auch „durchbohrt“ und „zermalmt“ metaphorisch zu verstehen. Dass er ein „Grab bei den Frevlern und beim Reichen“ erhielt, heißt nicht, dass er dort begraben ist, sondern dass der Gewaltlose (53,9) ein künftiges Grab bei Gewalttätern und Gottlosen zugespro­ chen bekommt und damit zutiefst herabgewürdigt wird247. Gott will das Heil für die Heil-losen durch einen zutiefst Entwürdigten bringen und damit diesen zu das Gottesbild zu komplementieren. Wer der „Erdrückung“ einen Heilssinn abgewinnen will, muss tiefer schürfen. 245 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 269; vgl. auch B. Janowski, Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Thema biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 2007 (BThSt 84), S. 75. 246 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 267. 247 Vgl. auch die Metaphorik in Hi 17,1: „Mein Geist ist zerbrochen, meine Tage sind ausge­ löscht; das Grab ist da.“ – Anders H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI/3), a. a. O., S. 371, 387 f, 390.

356

Gott und die Völkerwelt

höchsten Ehren erheben. Gottes Weisheit, die weiser ist als Menschen sind. „Aber wer von den Zeitgenossen bedenkt das?“ Die „Tode“ des Gerechten sind metapho­ risch zu verstehen (53,8 f), was sich an der Übersetzung in 53,8 sprachlich auch im Deutschen gut nachempfinden lässt. Gott wird sein Werk, zugleich das Werk seines Auserwählten, nämlich Frieden für die Geheilten, nicht der Vernichtung preisgeben, sondern ihm Beständigkeit verleihen (53,10c). Der Geplagte selbst wird teilhaben an Gottes Herrlichkeit, und er darf sich der Nähe Gottes gewiss sein (53,11a), einer Nähe, die – anders als in 50,8 – zugegebenermaßen unter dem Gegenteil verborgen ist.

3.4.15 Ethische Implikationen im Blick auf Jes 53,2–11a Ethische Aspekte hinsichtlich der Gewalt- bzw. Friedensthematik lassen sich in doppelter Hinsicht entfalten, zum einen am Beispiel des besonderen Menschen, zum anderen am Exempel der Wir-Gruppe. Der besondere Mensch ist zwar in dem zunächst selbstständig überlieferten Teil Jes 53,2–11a ein leidender Gerechter und somit in seinem Sollen übertragbar auf die Menschen schlechthin, aber er ist eben auch ein besonderer Mensch, der in seiner von Gott aufgetragenen Stellver­ treterfunktion (vgl. 53,5.6.10a) einmalig ist und somit bereits Züge des Knechts trägt, ohne in diesem Teilstück so bezeichnet zu sein.248 Der besondere Mensch ist ein tragender und ertragender Mensch. Er erträgt Verachtung und Verlassenheit, er erträgt soziale Isolation ohne Aufbegehren. In seiner grenzenlosen Duldsamkeit trägt er „unser“ krankhaftes Wesen. Mehr noch: Er lässt auch nach dem Willen des Herrn „unser aller Schuld auf sich treffen“. Die Schläge des Herrn trägt er willig ohne Murren. Wiewohl er unter Misshandlung und Rechtsbeugung249 litt und durch körperliche Gewalt oder verbales Auf­ begehren dagegen hätte angehen können, verzichtet er auf jede Gewalt und jedes Unrecht. Unrecht tun als Kampfmittel gegen Gewalttat ist für ihn völlig ausge­ schlossen, und er kann auch nicht sagen, dass Unrecht leiden besser sei; denn was er erleidet, fasst er nicht in die Kategorie des Unrechts, sondern der gehorsamen, unhinterfragbaren Willenserfüllung Gottes (das Bild vom Lamm 53,7, unterstri­ chen durch den parallelismus membrorum250). Sein Weg, davon ist er überzeugt, ist der von Gott gebotene Weg. Den geht er konsequent und nähert sich damit dem Prädikat der Sündlosigkeit (vgl. 2.Kor 5,21). – Ist der Weg dieses Opfer­ lebens auch ein Weg für „uns“? Der leidende Gerechte, der „uns“ trägt, ist uns vor 248 Darin zeigt sich ein späteres theologisches Entwicklungsstadium als Jes 50,4–9. In Jes 50,4–9 geht es um den leidenden Gerechten, hier jedoch um den stellvertretend Leidenden. 249 „Rechtsspruch“ (53,8) ist Rechtsbruch. 250 Das Bild vom Lamm bezeichnet kein kultisches Opfergeschehen, sondern die „aktive Passivität“ des leidenden Gerechten (Ausharren, Duldsamkeit) (U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 257 und S. 260; so auch B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 327).

Die Gottesknechtslieder 

357

Augen gestellt. „Wir“ – im Text ein performatives, d. h. auf uns hin durchsichtiges „Wir“251 – können ihm folgen, soweit es uns möglich ist. Er trägt uns: unser duld­ sames Durchhalten, aber auch unser Versagen, unsere Gewalt. Die absolute Besonderheit dieses Menschen besteht im Wegtragen unserer Schuld. Ist das allgemeinmenschliche Mittragen nachvollziehbar und ethisch ein­ forderbar, so ist das Wegtragen ein Akt göttlichen Handelns durch den Auserwähl­ ten. U. Berges sieht in der Gedankenentwicklung von 53,4–6 den Bedeutungswan­ del vom Mittragen zum Wegtragen252. Das bedeutet auch einen Übergang vom leidenden Gerechten zum Knecht und einen Wandel von einer exemplarischen Existenz zu einer Proexistenz. Sein Opferleben ist nicht nur beispielhaft, sondern existenzverändernd „für uns“253. Weil das „Wir“ performativen Charakter hat, ist auch in ihm etwas über uns bzw. den Menschen zu erfahren. Insofern haben die Wir-Passagen anthropolo­ gischen Charakter. Da sie zugleich auch Bekenntnisform haben, wird die Verbindung von Anthropologie und Theologie deutlich; und da sie von kohortativen kerygmatischen Reflexionen durchzogen sind, deuten sie auch eine zu erwartende Haltung an. Zur Anthropologie der „Wir“ gehört die Verdrängung der eigenen Hässlichkeit. Sie geschieht in der Absonderung vom Gestaltlosen, sozial Ge­ ächteten (Verbergen des Angesichts). Dass die Abgrenzung vom großen Minus ein Nicht-Wahrhaben-Wollen des eigenen Defizits ist, wird den „Wir“ erst später klar („… unsere Krankheit …“). Dass der, den „wir“ für das große Minus hielten, nun für „uns“ zum großen Plus geworden ist, ist keine nachzeichenbare Ent­ wicklung, sondern ein gnadenhafter Schuldableitungsakt Jahwes. Der Gnaden­ akt selbst kann nicht beschrieben, die Erkenntnis desselben nur im Nachhinein im Bekenntnis ausgesprochen werden. Die Erkenntniswende ist zugleich eine Existenzerneuerung: Im einst Verachteten nun den „für uns“ leidenden Gerech­ ten sehen bedeutet, den Weg vom Blinden zum Sehenden, vom (rückblickend betrachtet) Sünder zum „Geheilten“ gegangen zu sein254. Im performativen Wir steckt eine theologische Implikation: Gott hält diesen Weg für jeden von uns offen. 251 O. Dangl, a. a. O., S. 106. 252 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 247 f. 253 Der Stellvertretungsgedanke ist nicht neu. Mose bietet Gott an, ihn aus dem Buch des Lebens zu streichen statt des ganzen Volkes (Ex 32,32). Neu ist das gezielte göttliche Vorhaben (v 10d) zur Entsündigung der „Wir“ durch eine verachtete Gestalt sowie die Entgrenzung dieser Gottes- bzw. Knechtstat auf das Heil der Völker hin (vgl. auch den Herleitungsversuch über das Fürbittamt Jeremias und über die Heilsverkündigung Deuterojesajas unter Einschluss der ers­ ten drei Gottesknechtslieder bei H.-J. Hermisson, Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 429 ff). – Das Wegtragen der Schuld im Kultgeschehen am großen Versöhnungstag (Lev 16,10.20–22) ist mit Jes 53 nicht vergleichbar, da der Sündenbock einem Wüstendämon geopfert wird. 254 Die Gruppe der „Wir“ erkennt und bejaht im Glauben „die Sinnhaftigkeit des von Jahwe beschlossenen Heilsweges trotz seiner Ungewöhnlichkeit“ (E. Haag, „Die Botschaft vom Gottes­ knecht“, a. a. O., S. 175; vgl. auch G. Kittel, Der Name über alle Namen II, Göttingen 1990, S. 55).

358

Gott und die Völkerwelt

Die homologische Mitte 53,5 wird noch einmal gerahmt durch eine Interpretation der Gestalt, jetzt und einst (53,4a und 4b) und einst und jetzt (53,6a und 6b). – Gottes Gnadenakt der Existenzumwandlung ist unglaublich (53,1), aber wahr (53,8)255. Wer ihn erfahren hat, muss ihn – wie es hier geschieht – verkündigen. Diese Haltung folgt für die „Wir“256 aus dem geschenkten Frieden und macht sie zu Knechtsnachfolgern mit missionarischem Impetus257.

3.4.16 Das Gottesbild nach Jes 52,13–15; 53,11b-12 Gott hat im wahrsten Sinne des Wortes durch den Knecht „Unerhörtes“ geschehen lassen (52,15). Der so genannte Mittelteil hatte das als Erkenntnis- und Existenz­ wende erzählt, hier wird es als Erhöhung des Erniedrigten und darin zugleich als Wende von „epochale(r) Bedeutung“258 dargestellt: Das Entsetzen der Völker wird durch die Erhöhung des Knechts in Staunen und Segen für sie verwandelt werden (52,14a → 52,15a). Wenn es um das Gottesbild geht, kann vom Knecht nicht abgesehen werden; denn Jahwe ist in ihm repräsentiert und handelt durch ihn. Indes spricht Jahwe in dem Gottesknechtslied, das jetzt den so genannten Rahmen bildet, auch von seinem ureigenen Handeln in 53,12. Um das klarer herauszustellen, gliedere ich 53,12 wie folgt: 53,12a: Darum will ich ihm Anteil geben bei den Vielen,   12b: und im Blick auf die Starken soll er Anteil haben an der Beute,   12c: dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern zu­ gezählt ist.   12d: Und er hat die Sünde der Vielen getragen und ist für die Übeltäter eingetreten. 53,12d ist im fortlaufenden Text eine interpretierende Wiederholung von 53,12c. Sie hat homologischen Charakter und ist funktional daher 53,5 ähnlich, vielleicht ein Bekenntnis der (Knechts)gemeinde. In seiner Ich-Rede bestätigt Gott nun dieses Bekenntnis (53,12a-c)259, insbesondere in der Würdigung des Lebens des Knechtes als ein verkanntes („den Übeltätern zugezählt“) Opferleben („sein Leben 255 Die Wahrheit kommt noch deutlicher zum Ausdruck, wenn man das ‫ כִּ י‬/ ki nicht mit „denn“, sondern mit „dass“ übersetzt (H.-J. Hermisson, Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 326). 256 In 53,8 identifizieren sich die Wir mit „seinem Volk“. 257 Zum missionarischen Impetus des Knechts vgl. Jes 42,1.4; 49,1.6; 52,15. 258 C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 210. 259 Das impliziert nicht eine literarische Entwicklung, etwa vom Bekenntnis (53,12d) zur Erweiterung (53,12a-c) oder umgekehrt. Beides ist möglich. Ich glaube eher, dass sich das ge­ bräuchliche Bekenntnis 53,12d dem Lieddichter als Abschluss angeboten hat.

Die Gottesknechtslieder 

359

in den Tod gegeben“260). Würdigung ist nicht nur verbale Anerkennung (53,12c), sondern auch Zusicherung eines beständigen Wertes, einer unumstößlichen Würde (53,12a.b)261. Was im so genannten Mittelteil mit „Nachkommen sehen“ und „lange leben“ gesagt ist (53,10c), das meint hier „Anteil geben … und … An­ teil haben an der Beute“ (53,12b). Jahwe favorisiert den Weg des stellvertretenden Opferlebens, auf dem er Ablehnung in unverdienten Segen (52,14 f) und Sünden­ existenz in gerechtfertigtes Sein (53,11b) wandeln kann262. Hier sind auch die Übeltäter mit einbezogen (53,12c.d)263. Indem Jahwe den Knecht am Ende erhöht (52,13; 53,12a.b) und so auch in tiefster Erniedrigung zu ihm steht, bekennt er sich zum Weg des Friedens und der Versöhnung der Welt („der Vielen“) mit sich264.

3.4.17 Das Knechtsbild nach Jes 52,13–15; 53,11b-12 Die Konturen des Knechtsbildes heben sich markant von denen der anderen Gottesknechtslieder ab. Der Knecht nach Jes 42 trägt missionarische Züge. Für Jahwe im Einsatz trägt er in Treue das Gottesrecht in die Welt. Jes 50 stellt ihn als religiös aufnahmebereiten Seelsorger dar, der Nackenschläge mit Gottvertrauen erträgt. In Jes 49 weiß er sich, wenn auch manchmal verzweifelnd, berufen zur Sammlung Israels und zum Licht der Heiden. Der Knecht befindet sich als Aus­ erwählter entweder auf der Straße des Erfolgs (Jes 42), oder sein Leiden ist von vorübergehender Natur (Jes 49; 50). In Jes 52/53 ist das anders. Hier gehört das Leiden zur Existenz des Gottesknechts. Er hat Züge des leidenden Gerechten an­ genommen und ist über ihn hinausgewachsen zu einem Gerechten, der in seinem Leiden bis zum Äußersten den Sinn seines Opferlebens (Mittragen und Wegtragen fremder Schuld) sieht und dessen Restitution für ihn und andere nicht unmittel­ 260 Nicht der physische Tod ist gemeint, sondern das Abgeschnitten-Sein vom Leben durch Entmenschlichung (52,14) und Sündenbockexistenz (53,11b) (vgl. auch Hi 30,19.23: „Man hat mich in den Dreck geworfen, dass ich gleich bin dem Staub und der Asche … Denn ich weiß, du wirst mich zum Tod gehen lassen, zum Haus, da alle Lebendigen zusammenkommen.“ Ebenso: Wer nicht mehr des Herrn Werke verkündigen kann, ist vom Leben abgeschnitten, „gestorben“ [Ps 118,17]). 261 H.-J. Hermisson spricht in seiner Deutung von 53,12a.b von einer Redintegration des Leidenden in seine Gemeinschaft nach Aufhebung seines Geschicks (Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 412). Vgl. auch schon ders., „Der Lohn des Knechts“, a. a. O., S. 195. In „Israel und der Gottesknecht bei Deuterojesaja“, a. a. O., S. 218 näher bestimmt als die Redintegration bei den „Vielen“ eines neuen Israel. 262 Paulus deutet die Erwählung gerade des Verachteten als Gottes pädagogisches Handeln gegen jegliche Einbildung der Weisen und gegen jeglichen Selbstruhm der Starken (1.Kor 1,26–29). 263 Die Sünde(n) ist vorwiegend eine Existenzbeschreibung, Übeltaten eher einzelne Aktual­ sünden. 264 Paulus knüpft in der Interpretation von Tod und Auferweckung Jesu daran an (Röm 4,25 → 5,1 und 2.Kor 5,19).

360

Gott und die Völkerwelt

bar offensichtlich ist265. Die Gestalt des stellvertretend leidenden Gottesknechts ist geboren, und sie ist das Proprium von Jes 52/53. Von vornherein ist dem Knecht der Platz in Jahwes Nähe zugesagt (52,13; vgl. 42,1). Aber der Weg des Knechts beginnt und endet in tiefster Erniedrigung. Sein Dasein ist fern jeder erkennbaren Menschenwürde, er verbreitet unwillentlich Abscheu und Entsetzen (52,14). Diese Erniedrigung, ob sie nun von ihm selbst, von Gott oder von den Vielen ausgeht, ist Bezugsrahmen für das, was er in ihr und mit ihr tut: Er trägt ihre Sünden (53,11fin). Mittragen und Wegtragen grei­ fen hier ineinander, Gerechtigkeit schaffen setzt das Wegtragen jedenfalls voraus. Das Tragen der Sünden erschwert seinen Weg in Niedrigkeit. Dass die Niedrigkeit nach göttlicher Weisheit eigentlich Hoheit ist, ist dem Knecht noch verborgen. Dem Hörer / Leser wird es in den hoheitlichen Zukunftsaussagen (er wird viele Heiden besprengen, er wird den Vielen Gerechtigkeit schaffen) bereits mitgeteilt. „Er, der Gerechte, mein Knecht“ lehnt sich nicht auf. Er ist aber auch nicht das Opfer göttlicher Willkür. Denn er geht seinen Weg selbstbestimmt. Nicht Gott, er hat sein Leben der Todesnähe preisgegeben. Nicht die Vielen haben ihn zu den Übeltätern gerechnet, sondern er ließ sich unter sie zählen266. Wir haben es hier wieder mit einem Fall aktiver Passivität zu tun – oder: mit einer Selbstbestimmung zum Leiden. Und schließlich ist das Eintreten für die Übeltäter (53,12d) mehr als Tragen, es ist Stellvertretung unter Einsatz der ganzen Existenz267. Gott ist nicht Urheber dieses Weges. Aber er gibt seinem Knecht auf Schritt und Tritt Recht. So kann „er, der Gerechte, mein Knecht, den Vielen Gerechtigkeit schaffen“ (53,11b) und so seine Pro-Existenz verwirklichen268. Der Weg des Knechtes lässt sich nachzeichnen und im Glauben interpretieren. Eine Empfehlung zur Nachahmung aber gibt es nicht. Aus gutem Grund: „Die Überwindung der Gewalt erfolgt aufgrund einer eigenen Heilsinitiative Gottes und ist daher der Sache nach mit dem Werk der Erlösung identisch“269. Das im so genannten Rahmen gedichtete Gottesknechtslied bringt gegenüber dem Lied vom stellvertretenden Leiden des Gerechten nichts Neues. Als Rahmen verstärkt es die für den Mittelteil typischen Züge. Es prägt dem stellvertretend leidenden Gerechten das Siegel des Gottesknechts auf (s. o. unter AT 3.4.2 zu Jes 52,13–53,12), und es erzählt alles, was über den Knecht zu sagen ist, als Erfolgs­ geschichte wider den Augenschein. 265 Das hat in der Auslegungsgeschichte gelegentlich dazu geführt, seine Restitution post­ mortal anzunehmen (vgl. z. B. C. Westermann, Das Buch Jesaja [Kap. 40–66], a. a. O., S. 215; H.-J. Hermisson, Deuterojesaja [Jesaja 49,14–55,13] [BK XI/3], a. a. O., S. 427; L. SchwienhorstSchönberger, „Josua 6 und die Gewalt“, a. a. O., S. 467). 266 C. Westermann legt auf den reflexiven Gebrauch der Nifal-Passiv-Form Wert (Das Buch Jesaja [Kap. 40–66], a. a. O., S. 216). 267 Ders., a. a. O., S. 217. 268 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 273 f. Vgl. auch die Wirkungsgeschichte dieser Theo­ logie in der Interpretation durch Paulus Röm 5,19b. 269 E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht“, a. a. O., S. 211.

Die Gottesknechtslieder 

361

Das reine Gottesknechtslied, also der Rahmen, ist in seiner dogmatischen Aus­ sage völlig ausreichend und vollständig. Vom narrativen Aspekt her ist es allerdings dürr. Die erzählerische Komponente des Liedes vom stellvertretend leidenden Gerechten haucht ihm Leben ein. Das performative Wir erleichtert die Identifi­ kation des Hörers / Lesers mit dem Erzähler und Verkündiger und die Adaption.

3.4.18 Selbstsicht Israels in Sein und Sollen? Diachronische Betrachtung hat eine individuelle Deutung des Knechts nahegelegt und eine anthropologische Interpretation der Wir mit entsprechendem Haltungs­ profil nach sich gezogen. Man wird dieser Deutung den Vorzug vor der kollektiven Sicht des Knechts geben müssen, nicht zuletzt auch wegen der impliziten Sünd­ losigkeit desselben (Jes 53,9). Dennoch bleibt die Frage, ob nicht eine kollektivis­ tische Lesart möglich ist, ja ob sie sich nicht im Kontext der Geschichte Israels oder im Zusammenhang der Kapitel anbietet. Aufgrund der Erwählung – so sieht es die biblische Geschichtsschreibung – hat Israel eine Sonderstellung unter den Völkern, die es ihm nicht gerade leicht macht, im Gefüge der orientalischen Mächte zu bestehen und seine religiöse Identität zu wahren. Nicht nur, dass es vor Jahwe und der Welt einen „großen Namen“ hat, es sieht sich auch gesandt, den er­ haltenen Segen „allen Geschlechtern auf Erden“ weiterzugeben (Gen 12,2 f). Dem widersprechen offensichtlich die erlebten Niederlagen und Deportationen der Jahre 733 und 722 (Ende Samarias) sowie 587/6 (Zerstörung Jerusalems und des Tempels). Der getreue Knecht Israel (Jes 49,3) sieht nicht mehr gut aus, teils aus eigenem Verschulden, teils wegen der geschlagenen Wunden. Er kann – so scheint es – seinen Auftrag nicht mehr ausführen, weil Erwählung offenbar verspielt (Jes 52,14) und er „aus dem Lande der Lebendigen weggerissen“ ist (Jes 53,8). In Selbsterkenntnis schätzt Israel seine Lage als desolat ein, jedoch nicht ohne Hoff­ nung. Denn es gelten weiterhin „… die Bundesschlüsse … und die Verheißungen“ (Röm 9,4)270, das kann zumindest als Glaubensgewissheit (Jes 53,1) ausgespro­ chen und weitergegeben werden. Beauftragt und ausgegrenzt werden, erwählt und verachtet werden gehört zur prophetischen Existenz, ebenso in die Grube geworfen und wieder herausgeholt werden (Jer 38). Israel durchlebt in seiner Geschichte von den Anfängen bis zum Exil die Höhen und Tiefen seiner prophetischen Existenz, und diese ist mit dem Exil keineswegs zu Ende, sondern sie setzt sich in ihm und nach ihm fort. Im Exil, besonders aber auch am Ende desselben, bedarf das Strafleiden einer Interpreta­ tion. Das neue Israel, das seine prophetische Existenz weiterhin annimmt, trägt die Strafe für die früheren Generationen mit (vgl. Jes 53,6: „wir gingen …“), die in die Irre gingen, wie auch für das eigene Versagen und das der Zeitgenossen, 270 Paulus erwähnt hier auch die „Kindschaft“, was dem kollektiven Knechtsein entspricht!

362

Gott und die Völkerwelt

die das alles noch nicht denken können (53,8). So kommt es zur Übertragung des Gedankens des stellvertretenden Leidens vom individuellen auf den kollektiven Knecht. Die im stellvertretenden Leiden wahrgenommene prophetische Existenz hat eine Binnen- und eine Außenperspektive. In der Binnenperspektive eröffnet sich durch das so gedeutete und in dieser Deutung von der Gemeinschaft auch angenommene Strafleiden eine neue heilvolle Gottesbeziehung jenseits der Exil­ sereignisse271. In der Außenperspektive kann der Erwählungsglaube neu wirksam werden im Segen für die Völker (52,15), der auch das Tragen von deren Sünden einschließt (53,12). „Dadurch wird der in unerwarteter Weise wirkende Arm ­Jahwes schließlich … allen Völkern offenbar.“272 Allgemeingeschichtliche Erfahrungen verdichten sich in der theologischen Reflexion nachexilischer Reformbestrebungen. Eine solche Reflexion liegt im Kontext von Jes 52,13–53,12 vor, und sie bezieht selbstverständlich das vierte Got­ tesknechtslied ein. Zur Kontextbetrachtung reicht im Wesentlichen Jes 51,1–52,12 und Jes 54 f. Jes 52,13–53,12 im Rahmen dieses Kontextes, also im Blick auf den Endtext synchronisch auszulegen, ist eine mögliche, legitime, möglicherweise vom Endredaktor gewollte Betrachtungsweise und kann bei entsprechender Exe­ gese zur Selbstdefinition Israels als Knecht führen. Jes  52,13 f: Der Knecht ist das sich beim Auszug aus Mesopotamien neu kons­ tituierende Gottesvolk. Das legt die enge Verbindung von Jes 52,12 mit 52,13 nahe. So wie der Herr einst den Auszug aus Ägypten anführte und abschloss (Ex 12,11), so wird er es auch hier tun. Mit der rahmenden Begleitung des Weges durch Jahwe ist das Gottesvolk – das alte und das neue – im wahrsten Sinne des Wortes de-finiert. Hier ist es „mein Knecht“, Jahwe eng vertraut und ihm die­ nend, auch und gerade in Niedrigkeit die Hoheit im Verborgenen in sich tragend. Der auf dem Weg befindlichen Gola wird schon jetzt die Erneuerung Jerusalems (Jes 51,17–21) und des Zion (Jes 52,1–3.7) zugesprochen. Das neue Israel wird real und symbolisch greifbar am erneuerten Zion, dem „Berg, da des Herrn Haus ist“ und der „fest steht und höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben“ ist (Jes 2,2). Darum gibt es Parallelen zwischen dem Knecht Israel und dem künftigen Kristallisationspunkt der Frau Zion. Beide werden von Jahwe erhöht sein und in die Völkerwelt hineinleuchten, beide werden zuvor aber Zeiten der Erniedrigung durchleben müssen (vgl. Jes 52,14 mit 54,1): Das neue Israel trägt die Wunden des Geschlagen-Seins und die Spuren der Verachtung noch an sich, und Zion hat eine Zeit der Unfruchtbarkeit hinter sich. Scham und Schande wird der Herr verwandeln in Erhöhung (Jes 52,13) bzw. in Freude und Jauchzen (Jes 54,1); Zion wird – wie einst Sara – zur Stammmutter des neuen Israel hochstilisiert. Dahin­ ter steht weder Politik noch Ideologie, sondern der Herr selbst, der zum neuen

271 U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 254. 272 B. M. Zapff, Jesaja 40–55, a. a. O., S. 323.

Die Gottesknechtslieder 

363

Israel sein Herr-Knechts-Verhältnis und zum Zion sein Mann-Frau-Verhältnis begründet (vgl. Jes 52,13 mit 54,5). Beides gehört in einem heilsgeschichtlichen Prozess zusammen wie Weg und Ziel. Erben des „Knechts“ werden „die Knechte“ sein (Jes 54,17), auf dem Zion, in Jerusalem und wo immer Zion seine Zelte aus­ breiten wird (Jes 54,2 f). Jes 52,15: Der Knecht wird „viele Heiden besprengen“. Im theologischen wie unmittelbaren Kontext lässt sich der Knecht auf das Volk Israel deuten. Der theo­ logische Kontext ist aus Gen 12,2 f ersichtlich, der unmittelbare Kontext redet Israel und Jerusalem an als Zeichen des Friedens und des Heils, das „den Augen aller Völker“ bis an der „Welt Enden“ sichtbar werde (Jes 52,7–10). Indikativ und Imperativ liegen hier ineinander. Bei Tritojesaja hat das Leuchtzeichen sogar die Kraft, auch andere Völker zu Leuchtzeichen zu machen und die Herrlichkeit des Herrn bis „zu den fernen Inseln“ zu verkündigen (Jes 66,19). Mit der Ausbreitung des Jahweglaubens ist der Gedanke des Weltfriedens verbunden. Dieser ist freilich nicht als politisches Konzept zu haben, sondern nur unter Anerkenntnis der Er­ lösungsbedürftigkeit des Menschen (vgl. Jes 51,9–11 mit 53,11b.12). Noch „prah­ len die Tyrannen“ über „mein Volk“ (Jes 52,5), aber „einst werden Könige ihren Mund vor ihm zuhalten“ (Jes 52,15). Die Gleichsetzung von „meinem Knecht“ und „meinem Volk“ ist im Endtext vollzogen. Jes 53,1: Diese Gleichsetzung vollzieht sich auch unter dem „Arm des Herrn“. Wenn er über dem erniedrigten „Knecht“ offenbar wird, dann über den „Trüm­ mern Jerusalems“ wie einst über den Sklaven Ägyptens (Jes 52,9 f; 51,9–11). Jes 53,5: „Unser Friede“, der Friede derer, die Söhne und Töchter des neuen Is­ rael sind, hat seinen Grund im stellvertretenden Leiden des „Knechts“; in Jes 54,9 f wird es mit einem anderen Theologumenon erklärt: Grundlage „unseres Frie­ dens“ wird ein neuer Bund mit Israel sein, ein Bund ewigen Friedens, der diesen so fundamental festigt wie der Noahbund den Bestand der Erde. In der Zusammen­ schau von Jes 53,5 und 54,9 f wird die Entsprechung von „Knecht“ und „Israel“ deutlich. Der neue Friedensbund zwischen Jahwe und seinem Volk – m. a. W.: zwischen Jahwe und „uns“, der Knechtsgemeinde, – bringt Reichtum, Stabilität, Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit, Unbesiegbarkeit (54,11–17)273. Jes 53,10c: Das Heilswerk des stellvertretend die Sünde (z. B. Jes 51,12 f) tra­ genden und Marter (z. B. Jes 52,4b) leidenden Israel wird Bestand haben. Diese Zusage ist gedeckt durch die Ausbreitungsverheißung an Zion (Jes 54,3: „…deine Nachkommen werden Völker beerben …“). Jes 53,10d: Der Herr hat einen Plan mit seinem Knecht. Es versteht sich, dass dieser Plan auch „gelingen“ wird (Jes 52,13; 53,10d). Dieser Plan kann unter dem Aspekt der kollektiven Deutung als Geschichtsplan mit seinem Volk gedeutet 273 Jahwe bleibt Herr über Rüstungsproduktion und Waffenverwender. Er schafft Friede für Israel hier nicht durch Umwandlung der Schwerter zu Pflugscharen, sondern durch Gleichge­ wicht der Kräfte (54,16 f).

364

Gott und die Völkerwelt

werden274. Wenn das zutrifft, hätte Israel seine geschichtliche Existenz als eine dem Plan und Auftrag dienende Existenz verstanden, was ebenfalls Indikativ und Imperativ, Faktum und Soll umschließt. In der Tat wirft Jes 55,8–11 ein ent­ sprechendes Licht auf Jes 53,10d: Die Pläne des Herrn sind oftmals höher als des Volkes Gedanken. Nichtsdestoweniger wird das ins „Wort“ gefasste Vorhaben des Herrn „gelingen“ (Jes 55,11)275, und Israel ist gut beraten, sich dem gelingenden Wort einzuordnen (Jes 55,12 f). Jes 53,11a: Der Knecht wird nach Gottes Plan ein Leidender zwar sein, aber durch das Leiden hindurch auch ein Erlöster, eine Fokussierung dessen, was über Zion und Jerusalem gesagt ist (Jes 52,3), auf den Knecht. So kann Israel seinen historischen Leidensweg deuten, zugleich als Stellvertretung zur Erlösung für die Vielen (vgl. Jes 53,12b mit 52,11). Was am Knecht geschieht, wird auch den Vielen zur Rettung. Jes 53,11b.12: Der universale Zug der künftigen Rehabilitierung des Knechts sagt unter kollektivem Aspekt etwas aus über Selbstverständnis und Auftrag Is­ raels unter den Völkern: „Siehe, du wirst Heiden rufen, die du nicht kennst, und Heiden, die dich nicht kennen, werden zu dir laufen um des Herrn willen, deines Gottes, und des Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat“ (Jes 55,5). Wie der Gottesknecht in früher Überlieferungsgeschichte eine urtypische Ge­ stalt mit exzeptioneller Nähe zu Gott und den Menschen ist, so ist er in später Tradition das Urbild des neuen Israel. Weil die Gottesknechtslieder sich von einem individuellen zu einem kollektiven Ver­ ständnis hin entwickelt haben und nicht von vornherein als Lieder für Selbstverständnis und Rolle Israels unter den Völkern konzipiert waren, ist es nicht möglich, alle Züge des Gottesknechts und der mit ihm genannten Personen 1:1 auf Israel zu übertragen. Das ist bei einem gleichnishaften Verständnis auch nicht nötig. Ein grundsätzlich kollektives Verständnis zwänge allerdings dazu. Die Auslegung nähme dann, um in sich schlüssig zu bleiben, allegorische Züge an. Am weitesten geht in dieser Hinsicht U. Berges276.

Exkurs: Stellvertretender Sühnetod des Gottesknechts? Gelegentlich wird das Geschick des Gottesknechts nach Jes 53 mit dem Begriff „stell­ vertretender Sühnetod“ belegt. So begründet E. Haag diese seine Sicht damit, dass der Gottesknecht „in dem von Gott verhängten Strafgericht trotz persönlicher Unschuld dennoch genau wie die Sünder dahingerafft worden ist“277. Der Stellvertretungsgedanke allein reiche zur Bewertung des mittlerischen Einsatzes nicht aus; zu berücksichtigen sei neben dem Gehorsam des Gottesknechts „die Anordnung Jahwes und … die Of­

274 Ders., a. a. O., S. 271. 275 Jes 53,10d und 55,11 jeweils eine Form von ‫ צלח‬/ zlch = gelingen. 276 Vgl. U. Berges, Jesaja 49–54, a. a. O., S. 230–277; ders., Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 103 und 525. 277 E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht“, a. a. O., S. 206.

Die Gottesknechtslieder 

365

fenbarung seiner Macht im Schicksal des Mittlers“, die „den Charakter einer wahrhaft einmaligen stellvertretenden Sühne“ hätten und damit einen „Wert, der alle bisher bekannten Vorstellungen von der Vermittlung des göttlichen Heils wesenhaft“ über­ stiegen278. – Unschuldiges Erleiden von Gewalt ist auch für H. Irsigler der Hinter­ grund dafür, dass „ein letztgültiger Plan Jahwes“ gelingt, nämlich „‚Schuldtilgung‘ oder ‚Sühneleistung‘“279. Dass von einem stellvertretenden Leiden die Rede ist, ist unstrittig. Ist es aber auch ein Sühneleiden? Anlass, es so zu sehen, gibt 53,10b: „Wenn du sein Leben doch als Schuldopfer (‫א ָשׁם‬/’āschām) ָ ansähest.“ Lev 4–5 unterscheidet Sündopfer (‫ ַ ח ָטּאת‬/ chattā’t) und Schuldopfer (‫ ָ א ָשׁם‬/ ’āschām). Das Sündopfer heilt versehentliche Sünden gegen ein Gebot des Herrn (z. B. Lev 4,2). Sündigen kann ein Priester (Lev 4,3), die ganze Gemeinde (Lev 4,13), ein Stammesfürst (Lev 4,22) oder sonst jemand (Lev 4,27). Das Sündopfer ist mit einem Opfertier verbun­ den280. – Das Schuldopfer tilgt im Wesentlichen Schuld, die den Herrn unmittelbar oder mittelbar desavouiert (sich vergreifen an Geweihtem [Lev 5,14–16], den Nächsten schä­ digen [Lev 5,20–26], gegen ein Gebot handeln [Lev 5,17–19]). Die Schuld (‫ ָ א ָשׁם‬/ ’āschām) lässt sich als Sünde definieren, die mit der Wertminderung einer Sache oder mit einer Schädigung des Nächsten verbunden ist. Das Schuldopfer wird durch ein Opfertier er­ bracht. Darüber hinaus ist der Schaden zu ersetzen (Lev 5,16; 5,23 f). Wo der Schaden eher ideeller Art und daher materiell schwer einzuschätzen ist, soll der Wert des Opfer­ tieres in angemessenem Verhältnis zum Schaden stehen (Lev 5,18.25). Entscheidend ist, was die Akteure jeweils tun und welche Wirkung dem zugespro­ chen wird. Beim Sündopfer – legt der, der eine Sünde (‫ ַ ח ָטּ ָאה‬/ chattā’āh) begangen hat, die Hand auf den Kopf des Opfertieres – und schlachtet es281. – Dann bringt in jedem Fall der Priester das Blut des Opfertieres in die Stiftshütte – und streicht etwas davon an die Hörner des Altars282 – und gießt den Rest des Blutes an den Fuß des Brandopferaltars. Das Opfertier gilt in jedem Fall als „Sündopfer“ (‫ ח ָטּאת‬ ַ / chattā’t). Die Wirkung, die der priesterlichen Handlung zugesprochen wird, wird in fast allen Fällen283 mit den gleichen Worten beschrieben: „So soll der Priester die Sühnung für ihn / sie vollziehen (‫ כִּ ֶפּר‬/ kippär), und ihm / ihnen wird vergeben“ (Lev 4,20.26.31)284. In entsprechender Weise handelt der Priester auch mit dem Schuldopfer: 278 Ders., a. a. O., S. 209. 279 H. Irsigler, a. a. O., S. 31. 280 Nur im Ausnahmefall ist statt eines Tieres „ein zehntel Scheffel feinstes Mehl als Sünd­ opfer“ erlaubt (Lev 5,11). 281 Im Fall der sündigenden Gemeinde legen die Ältesten die Hände auf den Kopf des Tieres und schlachten es. 282 Im Fall „Priester“ und „Älteste“: Räucheraltar in der Stiftshütte, im Fall „Stammesfürst“ und „Sonstige“: Brandopferaltar. 283 Außer im Fall „Priester“. 284 Lev 5,6.10.13 fügt noch hinter „vollziehen“ hinzu: „wegen seiner Sünde“ (‫ ַ ח ָטּאת‬/ chattā’t). „Sündopfer“ (Lev 5,6.9.12) und „Sünde“ sind hier dasselbe Wort.

366

Gott und die Völkerwelt

– „An der Stätte, wo man das Brandopfer schlachtet, soll man auch das Schuldopfer schlachten – und sein Blut ringsum an den Altar sprengen“ (Lev 7,2). Die Wirkung ist die gleiche wie beim Sündopfer: „So soll der Priester die Sühnung für ihn vollziehen (‫ כִּ ֶפּר‬/ kippär) vor dem Herrn, und ihm wird alles vergeben, was er getan und womit er sich verschuldet hat (‫ עשׂה ַא ְשׁ ָמה‬ ָ / ’āŝāh ’aschmāh)“ (Lev 5,26; vgl. auch 5,16.18). Lev 7,7 rückt Sündopfer und Schuldopfer hinsichtlich des Wirkungsgesetzes zusam­ men. Beide dienen der Sühne. Es fehlt allerdings im Hebräischen der Begriff „Sühnop­ fer“, wiewohl es der Sache nach in beiden Fällen beschrieben wird: „Wie das Sündopfer (‫ ַ ח ָטּאת‬/ chattā’t), so soll auch das Schuldopfer (‫ ָ א ָשׁם‬/ ’āschām) sein; für beide soll ein und dasselbe Gesetz gelten; sie sollen dem Priester gehören, der damit die Sühnung vollzieht (‫ כִּ ֶפּר‬/ kippär)“. Sühnung ist Vollzug und Ziel mittels eines entsprechenden Opfers. Zusammenfassend gilt: Ein Opfer mit sühnender Wirkung setzt neben rituellen Handlungen voraus – – – –

den Tod eines Tieres, das Blut des geopferten Tieres, einen Priester, einen Altar.

Lässt sich das in theologisch fortentwickelter Form auf Jes 52,13–53,12 übertragen? Eine erste Voraussetzung dafür wäre, dass der Gottesknecht tatsächlich einen gewalt­ samen Tod erlitten hätte. Zweitens hätte dabei Blut fließen müssen. Wäre er tatsächlich „durchbohrt“ und „zermalmt“ worden, dann hätte er wohl aus allen „Wunden“ geblutet. Drittens wäre die sühnende Kraft von Menschenblut vorausgesetzt, was ausgesprochen schwierig ist (Gen 9,6; Ex 21,12; Gen 22). Priester und Altar fehlen, was hingenommen werden könnte285. Allerdings treffen schon die ersten beiden Voraussetzungen nicht zu. Wie gezeigt, sind Tod und Lebenszerstörung metaphorisch zu verstehen, wenngleich sie nicht weniger existenzvernichtend sind als realistische Tötung. Von daher ist die Bezeichnung „Sühnetod“ für das Ende des Gottesknechts voreilig. Nun macht allerdings ein zeitgenössischer Kommentator selbst den Vorschlag: „Wenn du sein Leben doch als Schuldopfer ansähest.“ In Anlehnung an Lev 7,7 gilt: Das Schuldopfer dient der Sühnung. Mit anderen Worten: „Wenn du seinem Leben doch eine sühnende Wirkung für dich beimessen könntest.“ Wir kommen der „stellvertretenden Sühne“ sehr nahe. Nur: Sie wird nicht als Tatsache dargeboten, sondern sie ist Inter­ pretationssache („als Schuldopfer“). Und sie ist nicht auf den Tod fokussiert, sondern auf das gesamte (Opfer)leben. Der Weg zur stellvertretenden Sühne als meine Existenz verändernde Kraft ist gebahnt, aber noch nicht vollendet286. Im Blick auf Jes 52,13–53,12 ist daher am ehesten von einem „stellvertretenden Opferleben“ zu reden.

285 Anders Hebr 7,23–28; 9,11. 286 Zur Vollendung des Weges in Jesus Christus vgl. G. Scholz, „Der Tod Jesu Christi“, a. a. O., S. 36 f.

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

367

3.5 Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja Tritojesaja kann zu Recht als dritter Teil des jesajanischen Gesamtwerkes gelten. Nach den Themen „Recht und Gerechtigkeit“ mit Schwerpunkt „Gericht“ bei Protojesaja (Jes 5,16) und „Heil und Gerechtigkeit“ mit entsprechender Heils­ perspektive bei Deuterojesaja (Jes 48,18) geht es bei Tritojesaja um die Kombi­ nation Recht / Gerechtigkeit / Heil mit der Heilsverkündigung für Israel und die Völker (Jes 56,1), allerdings nicht ohne Drohkulisse für alle Abtrünnigen (z. B. Jes 65,2–7.11–15) und Widerspenstigen (z. B. Jes 60,12).287 Nichtsdestoweniger ist Tritojesaja ein autonomes Werk mit deutlichem Unterschied zu Deuterojesaja. Es ist „nach der Wiedereinweihung des Tempels 515 v. Chr. entstanden … und damit deutlich nach der Entstehung der dt-jes. Grundschrift …“288. Dement­ sprechend „ist die Existenz eines jüdischen Gemeinwesens in Jerusalem“ voraus­ gesetzt289, das einerseits im Aufbau begriffen ist (z. B. Jes 60,10; 61,4), andererseits ob einer nur äußerlichen Jahweverehrung gerügt wird (z. B. Kap. 58). Die Gefahr einer Spaltung innerhalb des Gottesvolkes wird spürbar, wobei die Getreuen sich „Knechte“ nennen, ohne dass dabei eine direkte Nachfolge des Gottesknechts in den Blick kommt290. Schließlich spielen die Völker eine erheblich stärkere Rolle im Heilsgeschehen, als das bisher der Fall war. Auch sie werden in die Heilsgemeinde am Zion integriert (z. B. Jes 56,6–8), auch sie werden „an den Enden der Erde“ das Zeichen in der Mitte der Welt sehen (Jes 62,10–12; vgl. Ps 48,3) und dazu Stellung nehmen müssen (Jes 60,12; 66,15–19). Das spezielle Profil von Tritojesaja rechtfertigt eine eigene von Proto- und Deu­ terojesaja unabhängige Quellenanalyse – ungeachtet dessen, dass bis zur Endredak­ tion des Jesaja-Buches Beeinflussungen hinüber und herüber stattgefunden haben. Ich gehe davon aus, dass in Tritojesaja verschiedene Propheten unterschied­licher Prägung ihre Stimme erhoben haben. Diese Redepassagen wurden unter Einfü­ gung weiterer Teile (prophetische Predigt Jes 59,1–8.15b-20 mit eingelassenem Sündenbekenntnis des Volkes Jes 59,9–15a; Loblied des Herrn Jes 61,10 f; Bußund Bittgebet des Gottesvolkes Jes 63,7–64,11; rechtsähnliche Sätze zu falschem Gottesdienst mit Gottesurteil Jes 66,3 f) zum Prophetenbuch zusammengefügt. Ich mache im Wesentlichen zwei verschiedene Prophetenkerygmata aus, die sich im jeweils dahinterstehenden Gottesbild unterscheiden. Das eine Gottesbild 287 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 510. 288 B. M. Zapff, Jesaja 56–66, a. a. O., S. 343. Vgl. zum „Bethaus“ Jes 56,7; 60,7; 62,9; 66,6; zum Priester- und Levitendienst Jes 61,6; 66,21. Demgegenüber muss das Buß- und Bittgebet des Volkes Jes 63,7–64,11 – hier 64,10 – älter sein. 289 Ders. ebd. 290 Die „Knechte“ sind die „Stämme …, die dein Erbe sind“ (Jes 63,17), die „Auserwählten“ aus den Erben Jakobs und Judas (Jes 65,9) (vgl. auch Neh 1,6.10 f; 9,36).

368

Gott und die Völkerwelt

ist geprägt vom asymmetrischen Heilshandeln (Gnade und Barmherzigkeit über­ winden letztendlich Zorn und Gericht), das andere vom ius talionis (Erlösung für die Gerechten, Verstoßung der Abtrünnigen). Diese verschiedenen Kerygmata ordne ich je einer Prophetenschule (bzw. einer „Quelle“) zu291. Die „Quelle“ des asymmetrischen Heilshandelns findet ihren klassischen Ausdruck in Jes 57,14–19: „Ich will nicht immerdar hadern und nicht ewiglich zürnen …, sondern ich will sie heilen und leiten und ihnen wieder Trost geben“ (57,16–18). Ihr sind weitere Zukunftsvisionen eingeordnet: Frieden, Gerechtigkeit und Segen für das Volk (Jes 57,19; 60,17b.18; 61,9), Jerusalem als Mitte der Welt (Jes 62,2.7.10), Völker­ wallfahrt zum Zion (Jes 56,7; 60,3), aber auch alle Verstreuten werden hier ihre Mitte finden (Jes 60,9), Integration der Fremden als Gleichberechtigte (Jes 56,3 ff), als Fremdarbeiter (Jes 60,10), als Diener (Jes 61,7), als Sklaven (Jes 62,8), Heil für alle Menschen (Jes 56,2), der Tempel ein Bethaus für alle Völker (Jes 56,7; 60,7), die Einheit von Heiligkeit und Zuwendung in Gott (Jes 57,15; 66,1 f), der neue Himmel und die neue Erde für Jerusalem und die Welt (Jes 65,16 f). Damit nicht alles in einem Heils-Nivellismus aufgeht, bleibt flankierend der Zorn gegen die bewusst Gottlosen bestehen (Jes 57,20 f; 66,14b). – Die andere „Quelle“ setzt im Verhältnis Jahwe – Israel das ius talionis in Geltung. Bezeichnend dafür ist Jes 65,6–10: Dem neuen, aus Jahwes „Knechten“ bestehenden Israel wird es gut gehen, während all den „Missetätern“ ihr Götzendienst „heimgezahlt“ werden wird. Gutes und Böses sind im Sinne vergeltender Gerechtigkeit verteilt, die „Er­ lösung“ für Zion ist lediglich die Variante des „Grimms“ für Jahwes „Widersacher“ (Jes 59,15b-20). Sogar das Völkergericht wird bemüht als Folie, vor der Israels Er­ lösung aufleuchtet (Jes 59,18b-19; 63,1–6). Neben den oben genannten Einfügungen sind also zwei Prophetenkerygmata („Quellen“) zu unterscheiden: – Verkündigungslinie ASYM (asymmetrisches Heilshandeln Gottes nach dem Prinzip der Gnadenformel) – Verkündigungslinie SYM (symmetrisches Handeln Jahwes nach dem Prinzip des ius talionis) ASYM

SYM

Jes 56,1–8

Jes 56,9–57,13

  57,14–20

  58,1–14

  60,1–22

  63,1–6

291 Weitere Differenzierungen sind möglich (z. B. K. Koenen, Ethik und Eschatologie im Tritojesajabuch [WMANT 62], Neukirchen-Vluyn 1990, S. 241–258), aber – eine bestimmte Überlieferungsstufe vorausgesetzt – nicht erforderlich. Anderen Modellen mangelt es an letzter Überzeugungskraft (B. M. Zapff, Jesaja 56–66, a. a. O., S. 344 ff, C. Westermann, Das Buch Jesaja [Kap. 40–66], a. a. O., S. 245).

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

  61,4–9

369

  65,1–15.16a.b

  62,1–12   65,16c-24(f)   66,1–2.5–14

Die asymmetrische Darstellung des Heilshandelns Jahwes bekommt einen deut­ lichen Vorzug vor der symmetrischen292. Das ist die Entwicklung des Gottesbildes im Alten Testament hin zum Neuen. Zu nennen sind noch einige Zusätze: ein absolutes Völkergericht in 66,15–17 (vgl. 65,3b-5), ein relatives mit Errettung Einzelner, die als Missionare ausziehen, in 66,18 f; der Völkermarsch nach Zion 66,20 (vgl. 60,3–7); der Priesterdienst 66,21 (vgl. 61,6); neuer Himmel und neue Erde als Symbol der Bestandsgarantie für das neue multinationale („alles Fleisch“) Israel 66,22 f (vgl. 65,15 [„Name“] und 65,17 [„neuer Himmel und neue Erde“]). – Völlig unpassend am Schluss 66,24, wahr­ scheinlich von einem „Propheten“, der Heilsnivellierung befürchtete. Im Blick auf Gottesbild und Ethik, fokussiert auf das Thema Gewalt und Ge­ waltüberwindung, sollen folgende Passagen näher betrachtet werden: Jes 56,1–8; 60,1–22; 65,16c-24(f).

3.5.1 „Mein Haus wird ein Bethaus für alle Völker sein“ (Jes 56,1–8) Im Sinne der dargestellten Prophetenkerygmata kann Jes 56,1–8 als Überliefe­ rungseinheit gelten293. Gottesbild und Ethik sind in diesem Text aufs engste miteinander verknüpft. Das Sollen ist in der eschatologischen Nähe Jahwes gegründet: „So spricht der Herr: Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbart werde“ (56,1). Diese escha­ tologische Heils- und Gerechtigkeitsverheißung spiegelt sich in den folgenden göttlichen Begründungssätzen (56,4 und 7c); ebenso in der damit verbundenen Konkretisierung der Ethik, in der näher benannt wird, was Wahrung von Recht und Gerechtigkeit bedeutet. 292 Die beiden Verkündigungslinien entsprechen cum grano salis der Verteilung der Texte auf Tritojesaja, den Schüler Deuterojesajas, und einen Redaktor bei K. Koenen, a. a. O., S. 239. Sie entsprechen in etwa auch W. Laus „Tradentenkreisen“, wobei Kreis I das voraussetzungslose Segenshandeln Jahwes betone, während Kreis II (kultisch orientiert) und Kreis III (sozialkritisch geprägt) die Ambivalenz von Segen und Fluch sich auswirken lasse (W. Lau, Schriftgelehrte Pro­ phetie in Jes 56–66, Berlin, New York 1994 [BZAW 225], S. 118; 168; 201). Vgl. auch U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 421. 293 So auch U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 510. Anders B. M. Zapff, Jesaja 56–66, a. a. O., S. 355 und K. Koenen, a. a. O., S. 12.

370

Gott und die Völkerwelt

Methodisch lassen sich Gottesbild und Ethik getrennt darstellen, indem für das Gottesbild diejenigen Verse in Anspruch genommen werden, in denen der Herr spricht, für die Ethik weitgehend jene Verse, in denen vom Herrn in der 3. Person die Rede ist.

3.5.1.1 Gottesbild Gott kommt. Das ist ein teleologisches Geschehen. Sein Kommen wird schon in Jes 40,10 als siegreicher Einzug in Jerusalem, als Inbesitznahme des Zion, als „gewaltiges“ Ereignis vorgestellt. Tritojesaja mag darauf Bezug nehmen, wörtlich in Jes 62,11, der Sache nach in Jes 60,1 f. Das „Gewaltige“ verliert seine Ambigui­ tät und erscheint als „Herrlichkeit“, so auch in Jes 56,1: Jahwe kommt als Heilsund Gerechtigkeitsbringer. Entsprechend wünscht er sich auch „Menschen“ und „Menschenkinder“, die handelnd mit ihm konform gehen. Sie alle werden end­ zeitliche Heilsempfänger (vgl. den Makarismus 56,2), so sie denn das Recht wah­ ren und Gerechtigkeit üben, d. h. den Sabbat halten und „nichts Arges tun“. Der Jahweglaube wächst über die Grenzen Israels hinaus und schickt sich an, Glück und Heil allen Menschen zu verheißen (vgl. 56,7c). Natürlich kann die Menschheit nicht bedingungslos am Heil, das über Israel kommt, partizipieren, wenn denn der wahre Israelit durch das Bundeszeichen der Beschneidung eine besondere Bezie­ hung zu Jahwe hat. Daher setzt Jahwe ein weites Partizipations- und Integrations­ kriterium ein: die Sabbatheiligung und nichts Böses zu tun294. Das ermöglicht allen – gedacht ist im Folgenden vor allem an Proselyten und Eunuchen –, am Bund teilzuhaben (56,4.6). Dieser wird zu dem Zweck in einen größeren Rahmen gestellt. „Mein Bund mit ihnen“ sind „mein Geist“ und „meine Worte“, die durch Vermittlung des Propheten auf ihnen ruhen und in ihnen wirken (Jes 59,21). Es gibt sogar so etwas wie ein Bundeszeichen für die Eunuchen: ein Denkmal im Tempel (‫ יָ ד וָ ֵשׁם‬/ jād wāschēm = Denkmal und Name) (56,5), auf dass sie, die sie bis­ her aus der Gemeinde ausgeschlossen waren (Dtn 23,2), nun einen ewigen Namen bekommen295. Ein so hervorgehobenes Bundeszeichen wird den Proselyten nicht zuteil, sie müssen sich mit der Freude im Tempel (56,7a) begnügen. Jahwes Heil ist Gabe für alle Menschen und Völker. Es geht hinaus zu ihnen (56,1–2.7c-8), trifft sie aber auch im Lebensbereich der Gemeinde (56,3–7a.b). Welch eine fundamentale Veränderung im Gottesbild und im religiösen Denken

294 Natürlich ist es die Kultgemeinde, die das Verhältnis des eschatologischen Gottesvolkes zu den bisher nicht zum Bund bzw. Kult gehörenden Menschen neu bestimmt; aber sie weiß sich durch Jahwe dazu autorisiert (vgl. U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 512). 295 Das Pendel der Integration schlägt extrem weit aus: War ihnen bisher der Zugang zur Gemeinde verwehrt, so werden sie jetzt sogar über die Israeliten hinausgehoben; deren Zukunft besteht „nur“ im Segen vergänglicher Nachkommenschaft, die Zukunft der Eunuchen hingegen in unvergänglicher Personalität (56,5).

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

371

bei Tritojesaja! Jahwes Anspruch zielt auf Herrschaft über alle Menschen und Völ­ ker, in Jes 65,25 sogar über den gesamten Kosmos; und Stärke und Bestand des Gottesvolkes wird längst nicht mehr durch Kriege gesichert, in denen Jahwe als Kriegsgott für sein Volk Partei ergreift, sondern durch Frieden in der Ferne und in der Nähe (Jes 57,19), dessen Grundlage Integration der völkisch und kultisch Fremden durch Toravermittlung ist296.

3.5.1.2 Ethische Aspekte Mit der fundamentalen Veränderung im Gottesbild geht auch ein gesellschaftli­ ches Umdenken von nicht zu unterschätzendem Ausmaß einher. Jahwes erklärter und ungebrochener Integrationswille (56,8) muss Konsequenzen im Handeln der Kultgemeinde haben. Umgekehrt hat natürlich die vorgefundene Situation im Lande nach dem Exil Auswirkungen auf das Gottesbild und die Praxis der Fröm­ migkeit. Stadt und Land sind auch von „Fremden“ bewohnt, wozu in erster Linie wohl die Edomiter und Ägypter zählen, aber auch die nicht besonders geschätzten Ammoniter und Moabiter (vgl. Dtn 23,4–9). Ein neues Verhältnis musste zu die­ sen gefunden werden, was bei den verwandten Edomitern und den heilsgeschicht­ lich verbundenen Ägyptern nicht schwer zu fallen schien (vgl. Dtn 23,8–9), wohl aber bei den Erbfeinden, den Ammonitern und Moabitern. Das neue Verhältnis war auf Integration ausgerichtet, zwar nicht um jeden Preis, sondern unter der Be­ dingung der Anerkennung der Toragebote. Diese kultisch-politische Richtungs­ entscheidung erhielt ihren religiösen Überbau durch ein entsprechend universal ausgerichtetes Bild eines heilwirkenden Gottes. Man kann geradezu von einem Paradigmenwechsel in Ethik und Gottesbild sprechen. Der exilisch-deuteronomische Grundsatz im Blick auf die Ammoniter und Moabiter: „Du sollst nie ihren Frieden noch ihr Bestes suchen dein Leben lang“ (Dtn 23,7) ist dem nachexilisch- tritojesajanischen Leitbild gewichen: „Der Fremde, der sich dem Herrn zugewandt hat, soll nicht sagen: Der Herr wird mich scheiden von seinem Volk“ (Jes 56,3). Recht und Gerechtigkeit, eschatologische Gabe, ist präsentische Aufgabe: Es gilt, beides zu verwirklichen sowohl für das Gottesvolk als auch für den Fremden in kultischen und ethischen Minimal­ forderungen als auch im interaktionellen Verhältnis zwischen Einheimischen und Fremden. Vorbereitet wird der Paradigmenwechsel vermutlich durch das Exil, insbesondere durch einen Brief des Propheten Jeremia an die Exulanten mit dem Kernsatz: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn, denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl“ (Jer 29,7). Das Bestreben, sich zu integrieren, ohne sich zu assimilieren, hat zu einem gelungenen friedlichen Miteinander in Ba­ bel geführt, und dieses Modell wird jetzt umgekehrt in Jerusalem und Umgebung

296 U. Berges, „Die Zionstheologie“, a. a. O., S. 193.

372

Gott und die Völkerwelt

mit den „Fremden“ praktiziert. Es steht unter der Verheißung des Herrn: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung“ (Jer 29,11). Recht wahren und Gerechtigkeit üben bedeutet: daran festhalten, und es zielt auf das Tun (Jes 56,2). Das betrifft für alle Gruppen die Sabbatheiligung (vgl. auch schon Ex 20,8). Der Sabbat nimmt wohl deshalb eine das neue Gottesvolk profilierende Stellung ein, weil er auf die Nähe Jahwes verweist, sowohl im futu­ risch- (Jes 56,1) wie auch im präsentisch-eschatologischen Sinn (Jes 58,13 f). Er ist identitätsstiftend. So kann die Sabbatheiligung für Tritojesaja als das höchste Gebot gelten297. Die übrigen Gebote sind nicht geringer zu achten, wenngleich zu subsummieren unter dem Titel „erwählen, was mir wohlgefällt“ (56,4) bzw. „nichts Arges tun“ (56,2), was mit Sicherheit auch die Gewalttat ausschließt. – Recht und Gerechtigkeit wird auch in aktiv betriebener Integrationspolitik ver­ wirklicht (56,3). Der Proselyt soll Zugang zum Tempel haben. Ob das auch für den Eunuchen gilt, wird nicht deutlich. Zumindest soll er nicht als minderwertig betrachtet werden – im Gegenteil! Wo Recht und Gerechtigkeit in dieser Weise herrschen, da erblühen Gewaltfreiheit und Frieden298. Wie keine andere prophetische Schrift eröffnet Tritojesaja eine theologische und ethi­ sche Perspektive, die auf eine gemeinsame Jahweverehrung durch die Gerechten aus Israel und den Völkern hinausläuft299. Dieses Konzept bleibt teilweise Desiderat, und es ist auch nicht unumstritten. Das Verhältnis zu Edom ist offenbar weiterhin ungeklärt (Jes 63,1–6), das zu Moab sehr ambivalent (Jes 15 und 16), wie der „Gehorsam“ der Am­ moniter als Folge der Heilszeit aussieht, wird nicht weiter erklärt (Jes 11,14), und die nachexilische Restaurationspolitik unter Esra und Nehemia ist auf Abgrenzung von den Fremden ausgerichtet (Neh 9,2; 10,29). Es geht nicht nur um das Verbot so genannter Mischehen (Esr 10,1–4; Neh 13,23–27)300, sondern um Ausschluss von Ausländern vom öffentlichen Leben (Neh 2,19 f) nach angeblich traditionellem Vorbild (Neh 9,7 f.23–25). Dass der Tempel, der ein Bethaus für alle Völker sein soll, von diesen gelegentlich of­ fenbar für sachfremde Zwecke missbraucht wird (Neh 13,4–9), spielt der restriktiven Ausländerpolitik Nehemias (bes. Neh 13,30) in die Hände. Die integrative Intention Tritojesajas und die restriktive Position Nehemias stehen einander gegenüber und liefern sich gegenseitig Argumente für einen fruchtbaren Streit. Die Tendenz zur Völkermission, sei es dass die Völker zum heiligen Berg geführt werden (Jes 56,7), sei es dass sie selbst andere Völker gewinnen (Jes 66,18 f), ist angelegt301. Die 297 Ein Gebot, am Sabbat kriegerische Kampfhandlungen einzustellen, gibt es nicht. Schließ­ lich sind Kriege in der Regel Jahwekriege. 298 U. Berges, Das Buch Jesaja, a. a. O., S. 515. 299 U. Berges, „Die Zionstheologie“, a. a. O., S. 190. 300 Begründung: Ausländische Frauen verleiten zur Sünde (Neh 13,26). 301 Vgl. auch B. J. Diebner, „Jesaja 56,1–8 entsprechend Jesaja 66,18–24 und die prophetische Überbietung der Torah“ in: A. v. Dobbeler (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger zum 60. Geb.) Tübingen 2000, S. 36. Hier mit negativer Bewertung: „kulturelle Ent­ mündigung und Einverleibung anderer Ethnien“.

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

373

Diskussion, wem das Heil Gottes primär bzw. exklusiv gilt, ist zu Jesu Zeiten noch im Gange, wird aber zugunsten eines Heilsuniversalismus für alle Glaubenden entschieden (vgl. Mk 7,24–30; deutlicher noch bei Mt 15,24).

3.5.2 „Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir“ (Jes 60,1–22) Jes 60 gehört als Ganzes zur ASYM-Prophetie. Die Komposition zeigt ein hohes Maß an Geschlossenheit. Aus ihr scheinbar herausfallende Verse sind theologi­ sche Kennzeichen dieser „Quelle“ (z. B. 60,10b und 12)302. Die Ouvertüre 60,1–3 enthält beides: Licht über Jerusalem, Völkerzug zum Zion. Dann wird zunächst die Völkerhuldigung303 mit Jerusalem als Mittelpunkt der Welt entfaltet, bevor zum Licht über Jerusalem zurückgelenkt wird. Im Huldigungszug der Völker sind auch „Söhne“ und „Töchter“ des Gottesvolkes. Als „Gerechte“ (60,21) bilden sie zusam­ men mit den „Fremden“ (60,10) die neue Bevölkerung der Stadt und des Landes. Auch hier sind – wie in Jes 56,1–8 – Gottesbild und Ethik aufs engste miteinan­ der verknüpft. Hinzu kommt noch der Blick auf eine Erde ohne Jahweverehrung, in deren Finsternis auch Israel zeitweise hineingerissen war. Gegenwärtige Welt­ sicht verbindet sich mit erinnerter Selbstsicht (Jes 60,2a↔10b; 15a; 20c).

3.5.2.1 Das Gottesbild Das Gottesbild wird sowohl prophetisch entworfen (60,1–2) als auch in Selbst­ kundgaben Jahwes entfaltet (60,4–18). Der Herr ist heraufkommendes Licht, aufgehende Herrlichkeit (60,1–2), er ist Zorn überwindende Gnade und über­ fließendes Erbarmen (60,10b), er ist Herr und Bringer des Friedens und der Ge­ rechtigkeit (60,17). An diesen drei Prädikaten ist die Entfaltung des Gottesbildes in Kap. 60 ausgerichtet. Das Kommen des Herrn ist für die Ziongemeinde angesagt, und zwar als end­ zeitliches, letztgültiges Ereignis (vgl. die Ewigkeitsverheißungen in 60,19–22). Die Ansage ist bereits Antizipation der baldigen Zukunft (vgl. im Hebräischen die Perfektformen ‫ ָ ּבא‬/ bā’ = „ist gekommen“ und ‫ זָ ַרח‬/ sārach = „ist aufgegangen“ mit den Im-Perfekt-Formen ‫ יִ זְ ַרח‬/ jisrach = „wird aufgehen“ und ‫ יֵ ָר ֶאה‬/ jērā’äh = „wird erscheinen“; vgl. auch 60,1–2 mit 60,22). Die Analyse der kunstvollen Poesie lässt das Gottesbild profiliert hervortreten: 302 Gegen B. M. Zapff, Jesaja 56–66, a. a. O., S. 382; gegen C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 243 und 287; gegen W. Lau, a. a. O., S. 23. 303 Ich rede hier von Völkerhuldigung und nicht von Völkerwallfahrt im Sinne von Jes 2 und Jes 4. Ging es dort um ein Wallen zum heiligen Berg, um das Gottesrecht und den Schutz Jah­ wes zu empfangen, so geht es hier vorwiegend um mitgebrachte Huldigungsgaben, mit denen zweifelsohne indirekt auch Jahwe gehuldigt wird (vgl. auch C. Westermann, Das Buch Jesaja [Kap. 40–66], a. a. O., S. 286).

374

Gott und die Völkerwelt

Dein Licht

ist gekommen

Die Herrlichkeit des Herrn

ist über dir aufgegangen

Über dir wird aufgehen

der Herr

und seine Herrlichkeit

wird über dir erscheinen

Das Licht ist die Herrlichkeit des Herrn, und diese ist der Herr selbst. Was jetzt noch nicht voll erfahrbar ist (unvollendete Gegenwart), ist in der Verheißung schon da (Perfekt). Das Kommen Jahwes ist ein Kommen zur Rettung und Er­ lösung (‫ מֹושׁיעֵ ך‬ ִ / mōschī’ēch = dein Retter; ‫ ג ֲֹאלֵ ך‬/ goᵃlēch = dein Erlöser) mit Macht (‫ ֲ א ִביר‬/ ᵃvīr) (60,16b; vgl. 56,1; 62,11); aber diese Macht ist völlig unkriegerisch, sondern ganz einfach „anziehend“, sie zieht die Völker zum Zion hin, und zwar so, dass sie freiwillig kommen, dem Volk Gottes dienend, indem sie Söhne und Töchter rückführen, Reichtum bringen und den Wiederaufbau fördern, und Jahwe dienend, indem sie den Tempel zieren, Zion als heiligen Berg und Jerusalem als heilige Stadt anerkennen. Wenn auch nur Israel und darin Jahwe dienend304, haben die Völker teil an Jahwes Wohlgefallen, weshalb ihnen „das Haus meiner Herrlichkeit“ (60,7) zur Verfügung steht. Der Dienst der Völker an Israel ist – wenn auch freiwillige Leistung (denn es gibt auch Völker, die nicht dienen wollen [60,12]) – so doch in anderer Perspek­ tive Jahwes Werk. Denn er hat seinen Zorn zugunsten des Erbarmens für immer überwunden (60,10). Wie sich in Gott Zorn in Erbarmen verkehrt hat, so kehren sich auch auf Erden die Machtverhältnisse zugunsten Israels um. Die ehemaligen Unterdrücker werden zu Dienern, die Unterdrückten zu Befreiten, in Frieden und Wohlstand Lebenden werden. Jahwe wird seine Macht nutzen, Frieden und Gerechtigkeit in Israel einzuset­ zen. Friede und Gerechtigkeit werden zu hypostasierten Gewalten Jahwes (60,17). Jahwe ist ein Gott des Friedens und der Gerechtigkeit, weit entfernt vom Kriegs­ gott aus Zeiten der Not und der Ohnmacht. Jahwe will ein solcher Gott sein, weil er weiß: Wo Friede herrscht, kann Gerechtigkeit erblühen, und umgekehrt ist Ge­ rechtigkeit eine Grundvoraussetzung für den Frieden. Das weiß auch Jes 11, wel­ ches Tritojesaja nahe steht. Unter der Herrschaft von Frieden und Gerechtigkeit – nicht zunächst als ethische Qualitäten, sondern als göttliche Mächte – werden die Verheißungen von Land, Bevölkerungsreichtum und Wohlstand wahr werden.

304 Mit C. Westermann, Das Buch Jesaja (Kap. 40–66), a. a. O., S. 243 gegen B. M. Zapff, Jesaja 56–66, a. a. O., S. 385.

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

375

3.5.2.2 Ethische Implikationen Natürlich zieht ein solches Gottesbild eine entsprechende Ethik nach sich. Sie lässt sich ebenfalls an drei Fixpunkten festmachen: „Werde licht“ (60,1), „kein Frevel mehr“ (60,18), „lauter Gerechte“ (60,21). Kap. 60 beginnt mit einer Aufforderung zu einem ethisch motivierten Auf­ bruch: „Mache dich auf, werde hell!“ Dieser Aufbruch entspringt nicht einer auto­ nomen Entscheidung, sondern steht in Korrespondenz zum Kommen des Herrn. Das Kommen des Herrn setzt zwei korrespondierende Bewegungen frei: das na­ hezu magische Angezogen-Werden der Völker und den Aufbruch, zu werden wie das Licht, das vom Herrn ausgeht. Das heißt, dem Herrn entgegenzugehen in der Überwindung von Gewalttat, Verheerung und Zerstörung im Land, im Aufrichten von Rettung und Ruhm (60,18). Voraussetzung dabei ist das ständige Achten auf die Heilstaten des Herrn („Hebe deine Augen auf und sieh umher …“ [60,4; vgl. Jes 9,1]), das dankbare Walten-Lassen seiner Herrlichkeit, so dass eigene Aktivität ein Entgegen- und Konform-Gehen mit dem Herrn bleibt. Nicht zuletzt hat die Einsetzung der Gerechtigkeit als „Vögte“ zur Folge, dass die Gerechtigkeit sich auch als ethische Qualität ausbreitet, Gewalt, Verheerung und Zerstörung überwindet und so zum verheißenen Heil des Volkes beiträgt. Von einer erzwungenen Dienstbarkeit der Völker und deren Mitarbeit am neuen Tem­ pel als einem Ort des Völkerfriedens spricht auch Hag 2,6–9. Hier ist eine kosmische Erschütterung durch Jahwe Ursache für das Herbeibringen von Gold und Silber durch die Heiden. Die „Herrlichkeit des neuen Hauses“ wird „größer“ sein als die des vorigen, schon allein wegen ihrer friedenstiftenden Funktion.

3.5.2.3 Weltsicht In der Ouvertüre begegnet eine Reflexion über die Welt, die außerhalb des Heils­ werkes Jahwes steht. Diese Welt ist finster, dunkel, lebensfeindlich. Eine solche Welt wird als existierend vorausgesetzt. Wenn über Zion nun das Licht aufgeht, muss es vorher auch zu dieser dunklen Welt gehört haben. Es ist die Welt ohne Jahwe bzw. unter dem Zorn Jahwes. Dass Zion bis jetzt zu dieser Welt gehört hat, wird bestätigt: „In meinem Zorn habe ich dich geschlagen …“ (60,10); „Dafür, dass du die Verlassene und Ungeliebte gewesen bist, zu der niemand hinging …“ (60,15); „Die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben“ (60,20) (vgl. Jes 51,17 ff). Nun aber ist es hell geworden, nicht nur für Zion, das Gottes Erbarmen erfahren hat, sondern auch für die Völker, die den Zion als Jahwes Heiligtum anerkennen und dem Herrn direkt oder indirekt dienen. Die Möglichkeit, dem Dunkel, der Finsternis, der Lebens-feindlichkeit zu entkommen, besteht also auch für die Völ­ ker – im Dienst „für den Heiligen Israels, der dich herrlich gemacht hat“ (60,9). Man kann freilich auch den Dienst verweigern. Dann droht wieder Finsternis, Verderben, Tod (60,12).

376

Gott und die Völkerwelt

3.5.3 „Ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ (Jes 65,16c-25)305 War bisher Erneuerung von Stadt und Land – unter Einbeziehung der Völkerhul­ digung – Ziel göttlichen Handelns, so ist das Heil Jerusalems, des Volkes, der Aus­ erwählten, der Gesegneten jetzt in einem größeren Zusammenhang zu sehen: Es ist Auswirkung einer grundsätzlichen Neuschöpfung der Welt. Diese bildet denn auch den literarischen Rahmen (65,17.25) von Lebensfülle, Wohlstand und Segen für Stadt und Land306. Die Neuschöpfung mit Konzentration auf Jerusalem ist ein eschatologisches, d. h. endgültiges Geschehen, das jetzt beginnt (65,17.18: ‫ ּבֹורא‬ ֵ / ​ bōrē’ = ich schaffe gerade), nachdem sich Gottes Zorn in Erbarmen gewandelt hat und frühere selbstverschuldete Nöte des Volkes bei Jahwe für immer vergessen sind (65,16c)307.

3.5.3.1 Das Gottesbild Gott tritt hier wieder als Überwinder seiner zerstörerischen Kräfte zugunsten seiner Schöpfungsmacht auf308. Diese setzt er ein, um jetzt (65,18.19: „Ich schaffe gerade“) eine neue Welt zu schaffen. In ihr müsste all das nicht mehr gelten, was in der alten Welt von Übel war: Angst und Not, Weinen und Klagen, Kinder­ sterblichkeit und allzu früher Tod, Vergeblichkeit der Existenzsicherung, Ver­ geblichkeit der Arbeit, Vergeblichkeit des Kinderzeugens. In der Tat wird er es tun: Freude und Wonne wird herrschen, keine Tränen mehr (vgl. Jes 25,8), keine Kindersterblichkeit, erfülltes Leben bis ins hohe Alter, Aufhebung des Vergeblich­ keitsfluchs (vgl. Dtn 28,30 ff) und Verwandlung in Segen. Auch den Krieg wird er abschaffen, denn Kinder sollen nicht „für einen frühen Tod gezeugt“ werden. 305 Vgl. dazu auch „Das messianische Friedensreich (Jes 11,1–9[10])“, s. o. unter AT 3.3.4. 306 Hier zeigt sich, dass traditions- und literargeschichtlich Disparates (65,25 im jetzigen Kontext) synchronisch sinnvoll zusammengebracht werden kann. Darauf macht immer wieder B. Obermayer aufmerksam (z. B. a. a. O., S. 55). 307 Aus theologischen Gründen gehört 65,16c als Negativfolie zur Verheißung hinzu: Erbar­ men überwindet Abwendung, Gnade überwindet Zorn. Eine Umstellung (C. Westermann, Das Buch Jesaja [Kap. 40–66], a. a. O., S. 324: vv 18a.16c.17.18b) ist nicht erforderlich. Das „denn“ in 65,16c ist ein misslungener Anknüpfungsversuch. 308 B. Obermayer missdeutet m. E. das redaktionelle Zusammenspiel von Jes 65,1–16b mit 65,16c-25: „Ein Gottesberg frei von zwischenmenschlicher Gewalt bedarf nach Ansicht von Jes 65 des gewaltsamen Eingreifens durch JHWH … Noch einmal scheint JHWH als Gewalt­ täter in Erscheinung treten zu müssen“ (a. a. O., S. 307). Darum geht es aber nicht, sondern um die Überwindung des Zorns in Jahwe selbst. Demgegenüber hebt W. Lau die unterschiedlichen theologischen Intentionen von Jes 65,1–16b und 65,16c–25 deutlich hervor und weist sie zwei verschiedenen Tradentenkreisen zu (a. a. O., S. 134). Endredaktionell kann man darauf dann die These von der Prävalenz des asymmetrischen vor dem symmetrischen Heilshandeln aufbauen (ähnlich Lau, a. a. O., S. 135).

Recht, Gerechtigkeit und Heil für Israel und die Völker bei Tritojesaja

377

Der Neuschöpfungsprozess dauert an (Im-Perfekt-Formen): „Ehe sie rufen, will ich antworten …“ (65,24). Damit ist der geschichtlich belastete bzw. unterbro­ chene Zugang zu Gott wieder frei – durch eine einseitige Willenserklärung des Herrn. Mehr noch: Entsprechend dem kosmischen Einstieg in das Heil ist auch der Schluss gestaltet. Hier werden prälapsarische Zustände verheißen: paradiesi­ scher Schöpfungsfrieden309, der sich dann selbstverständlich auch auf das Volk „auf meinem ganzen heiligen Berge“ auswirkt: „Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun“ (65,25), was auch Gewaltlosigkeit impliziert. Der Bruch, der durch den Fall erzeugt ist, scheint perspektivisch aufgehoben. Das alles ist ein kosmi­ sches Geschehen, aber der Abschnitt zeigt auch, dass dieses nicht primär um des Kosmos, sondern um Jerusalems willen geschieht (vgl. den Übergang von 65,17 zu 18 und die Zuspitzung auf den Zion 65,25). Jahwe setzt also seine ganze Macht (potestas) ein, um Verletzungen (violentia) zu heilen und ein „Horn des Heils (cornu salutis) aufzurichten“ (vgl. Lk 1,69). Die Macht der Freude, des Lebens, des Friedens wird sich perspektivisch durchsetzen. Selbst das Erbarmen scheint überwunden zugunsten einer Sabbatfreude, die Jahwe nach der Neuschöpfung zusammen mit seinem Volk genießt (65,18 f). Hier beginnt sich ein Gottesbild auszuprägen, das dann im Neuen Testament beherrschend wird.

3.5.3.2 Ethische Implikationen Der neue Himmel und die neue Erde ist ein schöpferischer Akt Gottes (65,17.18: ‫ ּבֹורא‬ ֵ / bōrē’ = ich schaffe gerade). Indem er ihn ansagt, initiiert er ihn und alles, was damit im Einzelnen zusammenhängt: anhaltende Freude, erfülltes Leben durch Länge und sinnvolle Arbeit, Wohlstand, Freiheit und Selbstbestimmung, dauernde Abwesenheit des Krieges. Die entsprechenden Verse 19–23(24) sind in die Form einer Willenskundgabe Jahwes gefasst. Liest man das als einen auszuführenden Willen Jahwes, dann kann das als ethische Forderung gelten: Sorge in Jerusalem für andauerndes Glück und anhaltende Zufriedenheit, gib Gelegenheit für ein erfülltes Leben und sinnvolle Arbeit, fördere Wohlstand, Freiheit und Selbstbestimmung, schaffe den Krieg ab und lebe den Frieden! Liest man es als genuines Schöpfungswerk Jahwes, dann ist alles Gottes Werk, Gnade, Ausdruck seiner ureigenen Freude (65,19). Die Tendenz des Textes neigt sich zu Letzterem. Denn für Jerusalem bleibt nur eines: die Haltung der Freude „über das, was ich gerade schaffe“ (65,18). Und von den so genannten ethischen Forderungen ist eini­ges ohnehin unverfügbar: anhaltende Freude, langes Leben, dauernder Friede. Nichtsdestoweniger darf Gottes Wille auch als Verpflichtung für uns gelesen wer­ den. Der Text bewahrt uns zugleich davor, alles aus eigener Kraft für machbar 309 Ein Prophet, dem diese Vision zu weit ausgreifend erschien, zieht sie wieder ein Stück weit in diese Welt zurück, indem er den Frieden zwischen Mensch und Schlange noch nicht ge­ kommen sieht.

378

Gott und die Völkerwelt

zu halten. Erfüllbar werden Forderungen nur mit Gottes Hilfe, auch der Friede (65,23), auch die Überwindung des Bösen (65,25fin).

3.6 Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch Im prophetischen Schrifttum prägt sich zunehmend ein Gottesbild aus, das Jahwe mehr und mehr zu einem Gott der Völker werden lässt. Er lässt sie am wieder­ gewonnenen Heil Zions partizipieren, errichtet seine Herrschaft über sie durch eine von Recht und Gerechtigkeit bestimmte Ordnung und bringt so Frieden für die Nahen und die Fernen. Nichtsdestoweniger ist im Jeremiabuch das gleiche Phänomen zu beobachten wie bei Protojesaja und Ur-Micha: Primär Konzentration auf das Gottesvolk mit der Ansage des Unheils, verbunden mit all der zerstörerischen Gewalt-Tätigkeit des Herrn. Wenn man in Anschlag bringt, was die exilische und frühnachexilische Zeit unter echter Prophetie versteht, verwundert das nicht. Außer dass sie von Jahwe310 (durch Berufung) legitimiert311 und damit beglaubigt312 sein muss, ist sie in jedem Fall als echt anzusehen, wenn sie Unheil verkündet. Nicht der Unheils-, sondern der Heilsprophetie wird die Beweislast auferlegt, wie am Beispiel Hanan­ jas sehr anschaulich durchgespielt wird (Jer 28). Die Unheilsprophetie entspricht, da sie als echt angesehen wird, auch den Erwartungen der Rezipienten. – Indes drängt sich auch bei Jeremia in die verkündigende Überlieferung die Ambiguität des traditionellen Gottesbildes hinein, und diese sorgt für den heilskerygmati­ schen Ausgleich. Der kann aber nicht à la Hananja vor sich gehen („In zwei Jahren ist alles vorbei“), sondern er bringt Gottes Bundestreue, einen innergöttlichen Sieg der Barmherzigkeit über das Gericht, Umkehr und Vergebung zur Sprache. Das ist bei Jeremia nicht anders. Darum muss, bevor das Heil, die neue, ganz andere Zeit thematisiert wird (Jer 30 f), ein Blick auf die Unheilsverkündigung und die damit angesagte Gewalt-Tätigkeit Gottes geworfen werden.

3.6.1 Die Urrolle im Licht von Jer 36,1–7 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Jer 36,1–7. Unabhängig von der Frage, ob Kap. 36 entstehungsgeschichtlich verwertbar sei313 oder eher eine „kons­ truierte Erzählung“314, geht daraus hervor, dass mit einer Urrolle zu rechnen ist, 310 und nicht von einem anderen Gott (Dtn 18,20b). 311 Dtn 18,20a; vgl. Jer 23,16b.21. 312 Kriterium des Eintreffens (Dtn 18,22) 313 So W. Rudolph, Jeremia, Tübingen 21958 (HAT 12), S. 211 f; A. Weiser, Das Buch Jeremia, Göttingen 41966 (ATD 20/21), S. 322 f. 314 G. Fischer, Jeremia 26–52, Freiburg 2005, S. 285.

Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch

379

die nur Unheilsankündigungen enthielt (36,3.7b). Diese scheint in Jer 25,1–14 einen Abschluss erhalten zu haben (bes. 25,13)315. Möglicherweise gehören die Kapp. 21–24 zu den „vielen ähnlichen Worten“, die der Neuverfassung der Rolle „hinzugetan“ wurden (36,32). So ist der Ursprung des Jeremia-Buches in 1,1– 25,1–14 zu suchen. Umstritten sind die Konfessionen (Jer 12,1–6; 15,10.15–18; 20,7–11.12 f.17–18). Die Hypothese interpretatorisch eingeflochtener Klagepsalmen lässt sich nicht ganz von der Hand weisen316. Ich halte sie aber für authentisch; denn die Person Jeremias ist von vornherein mit der Bürde seines Amtes verbunden, wofür F. Ahuis nicht zuletzt Baruch „als Tradent der Leidenserfahrungen Jeremias“ namhaft macht317. – Gleiches gilt für die Gebete in Kap. 14. Sie sind als integraler Bestandteil eines Zwiegesprächs Jeremias mit Jahwe zu werten und werden durch Jer 18,20c als authentisch bezeugt. – Schließlich sind auch die Klagegebete Jer 18,18–23; 17,14–18; 11,18–20 Jeremia zuzurechnen; denn sie weisen Bezüge zu Bedrohungssituationen seiner Biographie auf (z. B. Jer 11,21–23; 20,2.8; vgl. Jer 38,4–6).

Jer 36,1–7 wirft noch weitere Schlaglichter auf die Unheil verkündende so ge­ nannte Urrolle. Sie gibt den dort niedergeschriebenen Worten Jeremias Authen­ tizität und Autorität: Es sind Jeremias Worte, die dort zu lesen sind; denn Jeremia hat, was er vom Herrn empfangen hat, dem Baruch diktiert, und dieser hat es öf­ fentlich verkündet (36,4.8). Die Betonung, dass die Autorität Jeremias hinter den Worten der so genannten Urrolle steht, ist so deutlich, dass man daraus schließen muss, sie sei angezweifelt oder bestritten worden. In der Tat bezogen sich manche Zweifel damals auf die Autorität Jeremias (vgl. Jer 7,4.8.27; 11,21b; 17,15; 20,10)318 bis hin zu Selbstzweifeln (Jer 4,10; 14,13)319. Die Authentizität stand damals frei­ lich nicht gesondert zur Disposition. Allein auch hier ist Jer 36,4 zu hören: „… wie Jeremia sie (scil. die Worte des Herrn) ihm sagte“ (vgl. auch Jer 25,13). – Des Weiteren richtet Jer 36,1–7 den Blick über Israel und Juda hinaus auf die Völker, so wie es auch im Berufungsbericht Jer 1,5 angelegt ist. Damit sind nicht nur die typischen Fremdvölkerorakel, wie sie bei allen großen Propheten und auch Ze­ fanja üblich sind, gemeint, sondern den Völkern kommt eine Rolle im Plan Jahwes zu (Jer 25,8–11). – Schließlich wird die Zielrichtung der Unheilsankündigungen angegeben: „… damit ich ihnen ihre Schuld und Sünde vergeben kann“ (36,3). 315 Wenn sich eine (erweiterte) Urrolle auch nicht bis ins Einzelne rekonstruieren lässt, ist mit ihrer Existenz doch sicher zu rechnen (vgl. E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 431). 316 Vgl. A. H.J. Gunneweg, „Konfession oder Interpretation im Jeremiabuch“ in: ZThK 67/​ 1970, S. 395 ff; P. Welten, „Leiden und Leidenserfahrung im Buch Jeremia“ in: ZThK 74/1977, S. 144. 317 F. Ahuis, Der klagende Gerichtsprophet, Stuttgart 1982 (Calwer Theologische Monogra­ phien 12), S. 185 f. 318 Das spiegelt sich auch im so genannten Baruch-Bericht Jer 26,7–19; 28,10 f. 319 In 4,10 ist wie in 14,13 zu lesen: ‫ וָ א ֵֹמר‬/ wā’omēr = „und ich sprach“ und nicht – wie LXX in 4,10 – ‫ וְ ָא ְמרּו‬/ wᵊ’āmᵊrū = „und sie sprachen“.

380

Gott und die Völkerwelt

Sie steht in diametralem Gegensatz zur protojesajanischen Intention der Un­ heilsverkündigung: „dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen“ (Jes 6,10)320. Damit ist klar: Die urjesajanische Verkündigung ist Ansage des un­ widerruflichen Unheils aufgrund des eingetretenen Zu-Spät; das urjeremianische Kerygma hat die Umkehr noch im Auge; das angedrohte Unheil – so ernst es auch gemeint ist – hat eine pädagogische Funktion. Es wird in aller Härte beschrieben, um nicht verwirklicht werden zu müssen. Dem liegt das bekannte ambigue Got­ tesbild zugrunde: Jahwe gedenkt, Unheil zu tun, aber er möchte letztendlich vergeben (36,3). Vergebung aber setzt eine freie ethische Entscheidung des Hauses Juda zwischen dem „bösen Weg“ und der demütigen Umkehr voraus (36,3.7). Beides, Gottes wie auch des Volkes Entscheidung, steht unter dem Vorzeichen des „Viel­ leicht“. Dieses wahrt beiden Seiten ihre Freiheit, enthält aber auch Hoffnungs­ potential, und von daher kann dem angedrohten Unheil bei aller Ernstnahme auch eine aufrüttelnde Funktion zugesprochen werden321. Jer 36,1–7 enthält so eindeutige formale (Echtheits- bzw. Autoritätsfrage), in­ haltliche (Völkerprophet) und theologische (Unheil und Vergebung) Hinweise auf die so genannte Urrolle, dass man von einer Entstehung derselben um oder nach 605 v. Chr. ausgehen kann. Geht man allerdings mit G. Fischer davon aus, dass das Jeremia-Buch „ein Produkt schriftstellerischer Tätigkeit“ aus dem 4. Jh. v. Chr. ist, dann muss man staunend zur Kenntnis nehmen, wie genau der Schriftsteller in 36,1–7 Inhalt und Intention der Kapitel 1–25,14* beschreibt322. Die These einer deuteronomistischen Überarbeitung des Jeremiabuches, von W. ­Rudolph einst ins Spiel gebracht, wird inzwischen nicht mehr vertreten. Es ist wohl umgekehrt: Der Deuteronomist nimmt typische Wendungen der prophetischen Gottesrede auf, um die exilische und frühnachexilische Gemeinde an die prophetische Verkündigung zu erinnern und so die religiöse Identität des Volkes zu erhalten323.

Jeremias Prophetie ist fundamental betrachtet Unheilsansage. Jedoch ist das Vor­ hergesagte nicht unumkehrbar: Dem Volk wird zwar bescheinigt, Augen zu ha­ ben, die nicht sehen, und Ohren, die nicht hören; aber dieser Zustand wird nicht 320 Völlig anders von anderen Voraussetzungen her G. Fischer, Jeremia 1–25, Freiburg 2005, S. 68. 321 Die gleiche Funktion des „Vielleicht“ ist auch in Jer 21,1–10 zu erkennen. Dem Herrn wird die Entscheidung über ein „Wunder“ überlassen (21,2); dieser macht es abhängig von der Entscheidung des Volkes (21,8 f). 322 Zwangsläufig wird man durch die Punktgenauigkeit der Themen Autorität, Völkerpro­ phet, Unheil und Vergebung auf den Buchteil Kap. 1–25,14* geführt, was die Neigung, ihn als Urrolle zu betrachten, verstärkt. – Leider kann G. Fischer nicht angeben, in welcher historischen Situation des 4. Jh. das Prophetenbuch zu sprechen beginnt (G. Fischer, Jeremia 26–52, a. a. O., S. 670). 323 So schon J. Bright, „The Date of the Prose Sermones of Jeremiah“ in: JBL 70/1951, S. 27; A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. XXXVII.

Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch

381

festgeschrieben, so dass er zur Verwerfung führe (so Jes 6,9 f), sondern durch den Aufruf „Hört zu …“ auf Zukunft hin geöffnet (Jer 5,20 f). Dieser letztend­ lichen Offenheit der Zukunft entspricht die Ambiguität Gottes, der über seinem Wort wachen will, dass er’s tue (Jer 1,12). Welches Wort gemeint ist, bleibt in der Schwebe – Gerichtswort, Gnadenwort, Wort über Israel oder die Völker324. Das Gerichtswort kann vollgültig und ohne Aussicht auf Gnade zum Ausdruck kommen. Das ist auch notwendig, um nichts vom Ernst der Gerichtsankündi­ gung zu nehmen. Oft verbindet sich damit Androhung der Gewalt-Tätigkeit Jahwes, in der er den Feind aus dem Norden benutzt. Solche Gerichtsworte sind in Jer 4,5–8.9.11–12.15–18 gesammelt325. Er, der uneingeschränkte Herr über die Völker, durchaus mit zwei Gesichtern (vgl. Jer 18,7–10: ausreißen und pflanzen), bezeichnet sich, alle Erwartungen brüskierend und alle bisherigen Bilder von sich zerstörend, als „Verderber der Völker“ (4,7), gern auch im Bild des aus dem Versteck hervorbrechenden Löwen (4,7; 5,6; die Beliebtheit des Bildes setzt sich fort in Jer 25,38 und 49,19 // 50,44). Als solcher will er sich auch Jerusalem und Juda gegenüber zeigen. Seiner Violence-Gewalt („verwüsten“ und „verbrennen“) kann niemand entkommen. Der Ernst wird unterstrichen: Es bleibt nur Klagen und Heulen (4,8). Wir haben es bei Jeremia mit einem Herrn zu tun, der „des Erbarmens müde“ ist (Jer 15,6) und der sich ausdrücklich zur Gewalt bekennt – er hat angesichts der Treulosigkeit keine andere Wahl (Klagt doch über die Gewalt [Jer 9,18], ich will das Schwert hinter euch herschicken, bis es aus ist mit euch [Jer 9,15]). Bilder des unabänderlichen Gerichts tauchen auch in einer Vision und in Zeichenhand­ lungen auf. In der Vision vom siedenden Kessel (Jer 1,13–16) macht sich Jahwe selbst zum Herrn des Unheils. Er benutzt die Völker des Nordens, um mit ihnen das Gericht an Jerusalem und Juda zu vollziehen. Das Bild vom überkochenden siedenden Wasser erweist das Gericht als einen Gewaltakt Jahwes gegen sein Volk326. Zu ahndendes Übel ist Israels Treuebruch und Götzendienst, aus dem sich alle weiteren Übel ergeben (Dieb­ stahl, Mord, Ehebruch, Meineid [Jer 7,9], Lüge, Gewalt, Bosheit, Betrug, Verleumdung, Täuschung [Jer 9,1–5]). – Die Zeichenhandlung vom verdorbenen Gürtel (Jer 13,1–11) veranschaulicht den Ernst des Gerichts, ebenso die Zeichenhandlung von den gefüllten Weinkrügen (Jer 13,12–14) mit dem abschließenden Jahwewort: „Ich will weder scho­ nen noch barmherzig sein und sie ohne Mitleid verderben.“ Auf Gericht ohne Gnade weist auch der zerschmetterte Krug (Jer 19), die zerschmetterte Stadt, deren Bewohner durchs Schwert fallen und den Vögeln zum Fraß vorgeworfen werden. Jahwe steht hinter dieser Gewalt und bekennt sich zu ihr. 324 Jer 1,11 f gehört nicht zum ursprünglichen Berufungsbericht. Dieser endet mit der Sen­ dung in 1,10. Jer 1,11 f reflektiert nachträglich das in den Gerichts- und Gnadenansagen zum Ausdruck kommende Gottesbild. 325 Zu Jer 4,10 s. Anm. 319. Jer 4,13 f sind keine Gottesworte, sondern interpretative und imperative Worte des Propheten. 326 Angesprochen sind immer das Volk, die Könige, die Fürsten, die Priester (Jer 1,18), die Propheten (Jer 2,26; vgl. Jer 4,9).

382

Gott und die Völkerwelt

So muss es offenbar sein um der göttlichen Pädagogik willen. Diese zeigt sich, verbunden mit dem Aufruf zur Besserung, in kurzen Texten (Jer 4,3–4; 6,6–8; 18,11). Pädagogische Intention braucht Druck, aber auch Gelegenheit, noch wirk­ sam zu werden („5 vor 12“). Dass Pädagogik offensichtlich nicht greift, ist gött­ licher Schmerz (Jer 4,19–22)327. Vor allem aber sind die drei großen Reden der „Urrolle“ vom Gedanken der göttlichen Pädagogik durchzogen: Jahwes Gerichtsrede (Jer 2,1–3,5), die Tempel­ rede (Jer 7,1–15) und Jeremias Abschlussrede (Jer 25,2–11 [12–14]).

3.6.1.1 Die Gerichtsrede In der Gerichtsrede begibt sich Jahwe in die Rolle des Anklägers und Erziehers (Jer 2,5). Als Ankläger konkretisiert er die „Sünde“ (2,13): Götzendienst (2,17), Heilssuche bei Ägyptern und Assyrern (2,18.36), falsches Freiheitsverständnis zugunsten von Beliebigkeit (2,20.31). Jahwe, der Ankläger, spricht von „deiner Schuld“ (2,22) und dem daraus folgenden Elend. „Das alles hast du dir doch selbst bereitet, weil du den Herrn, deinen Gott verlässt …“ (2,17). Für die Folgen seiner Taten wird Jakob / Israel selbst verantwortlich gemacht. So tritt Jahwe als potentiel­ ler Gewalt-Täter („Alle meine Schläge …“ [2,30; vgl. 2,19]) hinter die Selbstver­ schuldung Israels zurück. Umso besser kann er als Erzieher hervor­treten: Israel soll einer Sache innewerden und etwas erfahren. Lernziel: Den Herrn, deinen Gott, zu verlassen, bringt Jammer und Herzeleid (2,19). Dazu muss Israel zum Nachdenken gebracht werden: „Bedenke“ (2,23). Dazu muss es auch einsehen, dass es völlig deplatziert ist, mit dem Richter zu rechten (2,23.29.35). – Jahwe indes muss in seinem Erziehungshandeln die Vergeblichkeitserfahrung machen: „Alle meine Schläge sind vergeblich an euren Söhnen, sie lassen sich doch nicht erziehen“ (2,30). Jahwes pädagogische Absicht, mit Schlägen dem Bösen zu weh­ ren, scheinen fehlgeschlagen: „Siehe, so hast du geredet, und du wirst Böses tun und wirst dir nicht wehren lassen“ (3,5; eig. Übers.).

3.6.1.2 Die Tempelrede Die Tempelrede beginnt mit einem Aufruf zur Besserung und einer daran ge­ knüpften Verheißung Jahwes (Jer 7,3). Das wiederholt sich in ausführlicher Form in 7,5–7, wobei die Besserung – in Ge- und Verbote aufgeteilt – klare ethische Konturen annimmt (recht handeln, keine Gewalt gegen Wehrlose, kein unschuldi­ ges Blut vergießen, nicht anderen Göttern dienen). Der Anreiz zur Einhaltung die­ 327 Jer 4,14 und 4,27 sind Einsprengsel eines Redaktors (vielleicht Baruchs Zweitschrift ge­ schuldet?), dem unbedingte Gerichtsankündigung zu einseitig erschien. – Jer 13,15–17 ist eine erste Fortschreibung der beiden Zeichenhandlungen vom verdorbenen Gürtel und von den ge­ füllten Weinkrügen – aus gleichem Grund.

Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch

383

ser ethischen Normen ist in dreifacher Weise gegeben: 1. durch das Recht (‫ ִ מ ְשׁ ָפּט‬/ ​ mischpāt), 2. durch Schaden bei Nichtbeachtung (‫ לְ ַרע‬/ lᵊra῾), 3. durch Verheißung Jahwes, bei Einhaltung im Tempel und im Lande Wohnung zu behalten328. Daran schließen sich in 7,8–15 Beschuldigung (Diebe, Mörder, Ehebrecher, Meineidige, Götzendiener, Missbrauch des Tempels) und Gerichtsdrohung („verstoßen“) an. Die Tempelrede enthält eine implizite Pädagogik, die im Aufruf zur Besserung enthalten ist. Denn dieser Aufruf hält ja eine Besserung für möglich und spricht somit den potentiellen Besserungswillen derer von Juda (7,2) an. Fünf vor zwölf ist das noch möglich. Der Zeit-Druck erhöht die potentielle Wirksamkeit dieser Pädagogik. Ziel der göttlichen Pädagogik ist dies: „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ (Jer 7,23)329.

3.6.1.3 Jeremias Abschlussrede Eine Abschlussrede enthält Rückblick, Beurteilung der gegenwärtigen Lage und Ausblick330. Der Rückblick ist als Jeremias persönliches Wort in Jer 25,2–7 ge­ geben331. Die Beurteilung der gegenwärtigen Lage ist als Jahwewort stilisiert und findet sich in 25,8–11. Nimmt man die dreiteilige Form einer Abschlussrede als Kriterium für ihre ursprüngliche Einheit, dann gehört 25,12–14 konstitutiv hinzu. Die 70 Jahre wären dann Symbolzahl für eine lange, aber absehbare Zeit. Es gibt aber auch Gründe, 25,12–14 als heilsperspektivische Fortschreibungen mit vati­ cinia ex eventu zu lesen.

328 Diese Verheißung ist zweimal überliefert, und jedes Mal in unterschiedlichen Varianten: Jer 7,3: masoretischer Text: ‫ ֲַ ו ֲא ַשׁכְּ נָ ה ֶא ְתכֶ ם‬/ wa’ᵄschakᵊnāh ’ätᵊchäm = ich werde euch wohnen lassen (Impf. Piel); App. (gestützt auf Aquila und Vulgata): ‫ וַ ֶא ְשׁכְּ נָ ה ִא ְתּכֶ ם‬/ wa’äschkᵊnāh ’itᵊchäm = ich werde bei euch wohnen (Impf. Kal). Jer 7,7: masoretischer Text: ‫ וְ ִשׁכַּ נְ ִתּי ֶא ְתכֶ ם‬/ wᵊschikanti ’ätᵊchäm = ich habe euch wohnen las­ sen (Perf. Piel); App. (gestützt auf Vulgata und div. Handschriften): ‫ וְ ָשׁכַ נְ ִתּי ִא ְתּכֶ ם‬/ wᵊschāchanti ’itᵊchäm = ich habe bei euch gewohnt (Perf. Kal) = ich habe bei euch Wohnung genommen. Ich entscheide mich in beiden Fällen für die Lesart des Apparates. Zwar hätte das WohnenLassen bzw. das lange Bleiben im Lande eine Parallele in Ex 20,12 // Dtn 5,16, aber hier ist mit „diesem Ort“ (7,3.7) der Tempel gemeint, in dem nur Jahwe wohnen kann (vgl. W. Rudolph, a. a. O., S. 46). In 7,7 ist zwar gegenüber 7,3 eine Variation in der Verbform zu verzeichnen (Per­ fekt statt Im-Perfekt). Das mag aber mit der Ewigkeitsgarantie zusammenhängen: Jahwes Woh­ nen wird im Fall der Besserung vollendete, immerwährende Gegenwart sein. 329 Die Zielformulierung stammt möglicherweise aus der Überarbeitung der so genannten Urrolle, denn sie steht so (bzw. umgekehrt oder leicht abgewandelt) noch in Jer 11,4; 24,7; 30,22; 31,1.33; 32,38. Hes 11,20 kann jeremianisch beeinflusst sein. Lev 26,12 deutet zusammen mit Jer 11,4 und 31,1 darauf hin, dass die Formel sich gern mit dem Exodusmotiv (vgl. auch 7,22) – sei es Ägypten oder Babylon – verbindet. 330 Vgl. den Aufbau des Dtn und die Abschiedsrede des Paulus Apg 20,17–35. 331 Trotz 25,1 und 7. V 1 ist der Form geschuldet, v 7 ist wie vv 3 ff Zitat von ehemaligen Jahweworten, auch wenn es sich schon der Form echter Jahweworte in 25,8 ff angleicht.

384

Gott und die Völkerwelt

Der Rückblick enthält zwei bekannte Gedanken: 1. Das Unheil ist selbstverschuldet gekommen: „… ihr erzürntet mich zu eurem eigenen Unheil“ (25,7fin). Es gibt keinen Unheilsplan Jahwes gegen sein Volk – vgl. im Gegensatz dazu Jes 5,25; 9,11.16.20; 10,4. Der Herr hat das Unheil nicht gewollt (25,6fin). 2. Umkehr wäre immer möglich gewesen und damit auch Abwendung des Unheils (25,5 f). Somit war das Ziel Jahwes, Unheil anzudrohen, um es nicht kommen zu lassen („… damit ich euch nicht Unheil zufügen muss“ [25,6fin]). – Diese Pädagogik scheint nun fehlgeschlagen, also wird Jahwe jetzt von seinem verlängerten Arm Nebukadne­ zar Gebrauch machen und das Gericht vollziehen, den Bann vollstrecken „über diesem Land … und allen diesen Völkern ringsum“ (25,9). Fünf nach zwölf? Nein! Das ist eine Ankündigung, allerdings mit höchstem Ernst. Wenn aber Jahwe „an diesem Lande, gegen das ich geredet habe“, alle seine Worte in Erfüllung gehen lässt (25,13), dann auch dies: „Bekehrt euch, ein jeder von seinem bösen Wege und von euren bösen Werken, so sollt ihr in dem Lande, das der Herr euch und euren Vätern gegeben hat, immer und ewiglich bleiben“ (25,5). – Angenommen, 25,12–14 ist das Produkt von Fortschreibern, dann hat die unerschöpfliche Ge­ duld Jahwes durch das Gericht hindurch sie bewogen, Jahwes Gnadenakt nach „70“ Jahren als vaticinium ex eventu zur höheren Ehre des Herrn preisend zu ergänzen. Nun geht es nicht mehr um göttliche Pädagogik, sondern um die Supe­ riorität von Barmherzigkeit und Gnade vor Zorn und Gericht in Gott und deren geschichtliche Auswirkung.

3.6.2 Redaktionelle Einsprengsel und kompilatorische Fortschreibungen Die Superiorität der Gnade vor dem Gericht ist zwar Voraussetzung einer gött­ lichen Pädagogik, kommt aber in der jeremianischen Urschrift im Wesentlichen nur redaktionell zum Tragen, z. B. in Einsprengseln wie Jer 4,27 oder in zwei Text­ blöcken, die eher kompilatorischen Charakter haben.

3.6.2.1 Jer 3,6–18 Jer 3,6–18 ist ein Textblock, der so zusammengesetzt ist, dass die Gnade über das Gericht siegt. Dabei bildet 3,6–10 durch die Botenformel zu Beginn und am Ende eine Einheit. Ebenso verhält es sich mit 3,11–13. Der Abschnitt 3,14–15 (Rück­ kehr- und Hirtenverheißung) wird wiederum durch Botenformel eingeleitet. In 3,16 beginnt etwas Neues, eingeleitet durch „spricht der Herr“. Thematisch wird „Zion“ aus 3,14b aufgenommen und in 3,16–18 hinsichtlich des „Thrones Jahwes“ und der Völkerwallfahrt weitergeführt, Zeichen für eine spätexilisch-frühnach­ exilische Entstehungszeit. – In 3,6–10 spricht Jahwe einen Schuldspruch über Israel und Juda. Ein förmliches Gerichtsurteil fällt nicht, das Gericht über Israel ist ja seit 722 v. Chr. bereits vollzogen. Unausgesprochen kann Juda daraus Kon­

Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch

385

sequenzen ziehen. In 3,11–13 wird nun Israel Gnade in Aussicht gestellt, ein Ende des Zorns, der nicht „ewiglich“ dauert. Das impliziert die Superiorität der Gnade (3,12). Voraussetzung ist freilich die Schuldanerkenntnis Israels (3,13). Diese be­ wahrt vor dem Missverständnis und der Illusion „billiger Gnade“. Jer 3,14–18 ist wohl Gesamtisrael gewidmet332. Dem neuen Israel wird Heil zugesagt – unter gleicher Voraussetzung: „Kehrt um …“ (3,14). Die Restitution des ganzen Landes ist sehr bedeutsam. Denn die Bundeslade, Zentrum des Allerheiligsten, Ort der Vergegenwärtigung des Herrn und Symbol des Sinaibundes, wird es nicht mehr geben, und sie wird auch nicht mehr benötigt. Warum? Weil nun Jerusalem „des Herrn Thron“ sein wird, Ort der Präsenz des Herrn, heilige Stadt. Hier besteht eine Wechselbeziehung zwischen Jerusalem als heiliger Stadt und den Heiden (3,17): Wenn sich Jerusalem als Thronsitz Jahwes präsentiert, werden die Heiden kommen; denn mit einer Bundeslade aus Zeiten des Auszugs können sie sich nicht identifizieren, wohl aber mit einer Einwohnung Jahwes in einer Stadt bzw. an einem Ort, dem Zion333. Damit ist der Frieden vorbereitet, der Frieden mit Jahwe und der Völkerfrieden; denn „sie werden nicht mehr wandeln in der Verstockt­ heit ihres bösen Herzens“ (3,17; eig. Übers.). Allerdings ist der neue Wandel hier noch Sache vorgängiger Entscheidung. Die Gebote sind den Beteiligten hier – im Unterschied zu Jer 31,31–34 – noch nicht ins Herz geschrieben.

3.6.2.2 Jer 23,1–8 Jer 23,1–8 verkündet insgesamt gesehen ebenso wie Jer 3,6–18 den Sieg der Barmherzig­ keit Jahwes über das Gericht. Im Einzelnen wird hier nicht näher darauf eingegangen, weil das Ergebnis dem von Jer 3,6–18 im Wesentlichen gleicht. Das kommt schon in der gleichartigen Struktur beider Texte zum Ausdruck, die wiederum ihre Konsistenz bzw. eine evtl. Fortschreibung erkennen lässt: Jer 3,6–18 6–10: treuloses Verhalten Israels und Judas 11–13: Umkehrruf des Herrn 14: Rückkehrverheißung 15: „Hirten“ sollen die Herde „weiden“

Jer 23,1–8 1–2: treuloses Verhalten der „Hirten“ (Umkehrruf fehlt, weil es nicht um das Volk, sondern um Hirten geht; diese werden heimgesucht und ersetzt) 3: Rückkehrverheißung 4: „Hirten“ sollen die „Herde“ „weiden“

332 3,16–18 macht das wahrscheinlich – trotz des in 3,11 auf das Nordreich bezogenen Abtrünnigkeitsprädikats. 333 Ein ähnlicher Gedanke hat auch die christliche Heidenmission geprägt, als sie den Völ­ kern nicht das mosaische Gesetz, sondern Gott in Christus predigte.

386

Gott und die Völkerwelt

16–18: Neuinterpretation der Heils­ geschichte: Nicht mehr „Bun­ deslade“ ist Thronsitz Jahwes, sondern Jerusalem

5–6: Verheißung eines gerechten Da­ vididen (evtl. Fortschreibung wg. poetischer Struktur und Ähn­ lichkeit mit Jes 9,5–6)334 7–8: Neuinterpretation der Heils­ geschichte: Nicht mehr „Auszug aus Ägypten“ ist das Urdatum, sondern neuer Auszug aus den Ländern des „Nordens“

3.6.3 Jeremia, der Völkerprophet Wiewohl Jeremia primär der in letzter Minute warnende Unheilsprophet für Juda ist, ist er doch auch in spezifischer Weise Völkerprophet. So lautet von Anfang an sein Auftrag (Jer 1,5), und so fasst Jahwe seinen Auftrag an entscheidender Stelle seines Lebens zusammen (Jer 36,2). Die Einbeziehung der Völker in den Heils­ plan Jahwes hatte auch schon in den Gottesknechtsliedern Gestalt angenommen (Jes 42,1.3.4.6; 49,1.6; 52,15), erst recht wird sie bei Deuterojesaja thematisiert, fokussiert auf „meinen Hirten“ Kyros (Jes 41,2–4; 41,25–26; 43,14–17; 44,28–45,7; 45,13; 48,14b-15), aber auch allgemein (Jes 45,14; 45,22–24a; 51,4–6; 55,1–5). ­Jeremia wirkt zeitlich vor Deuterojesaja, sein zeitliches und sachliches Verhältnis zu einer Sammlung von Gottesknechtsliedern kann nicht geklärt werden, da er auf sie nicht Bezug nimmt. Nichtsdestoweniger ist es für das jeremianische Gottesbild aufschlussreich, wie die Völker, deren Prophet Jeremia auch ist, in Gottes Heilsplan eingebunden werden. Hier spielen sie unterschiedliche Rollen. a) Die Völker als Zuschauer (Jer 6,18 f): In Jer 6,18 f redet Jeremia im Auftrag des Herrn die Völker, ja, die gesamte Erde, an: Alle sollen hinschauen und sehen, wie es einem Volk geht, das Jahwe nicht achtet. Es versteht sich, dass das Hinschauen einen pädagogischen Effekt haben soll. Jahwes Pädagogik gilt nicht nur seinem Volk, sondern auch den Völkern. Wie aber können die Völker Jahwe achten? Darauf gibt Jer 12,14–17 eine Antwort. b) Gericht und Gnade auch für die Völker (Jer 12,14–17): In Jer 12,14–17 gilt es als Sakrileg, „das Erbteil anzutasten, das ich meinem Volk Israel zugeteilt habe“. Die „bösen Nachbarn“ wird Jahwe daher bestrafen. Er wird sie aus ihrem Land „reißen“, vertreiben und so das Haus Juda befreien. Jahwes größeres und grenzenloses Erbarmen gilt aber auch ihnen, und so wird er sie in ihr Stammland zurückbringen. Jeremia verkündet hier gemäß seinem Auftrag 334 In Jes 9,5–6 ist (durch „Kind“) universalistisch erweitert und antizipiert, was in Jer 23,5–6 (durch den Davididen) partikularistisch verheißen wird.

Gottesbild und Ethik im Jeremia-Buch

387

„über Völker und Königreiche“ deren Einsturz ebenso wie deren Wiederaufbau (Jer 1,10). An eine Umkehr im Denken und Handeln der Völker scheint bis 12,15 nicht explizit gedacht zu sein. Allerdings wird genau dieser Ton in 12,16 ange­ schlagen. Die hier beschriebene Sinnesänderung führt dann sogar wieder zum Wohnen der Nachbarvölker „inmitten meines Volkes“. – Die Sinnesänderung besteht darin, beim Namen Jahwes zu schwören: „So wahr der Herr lebt!“ Dieser Schwur ist eine Anerkenntnis Jahwes als Herrn über alle Herren, der zugleich mitten im Lande wohnt und sich hier als der Wirksame und Lebendige erweist. So und nur so können die immigrierten Völker Jahwe achten (s. zu Jer 6,18 f). Das ist freilich ein Lernprozess: Die Völker sollen das rechte Schwören ja „von meinem Volk lernen“. D. h. sie sollen hinschauen (6,18 f), Konsequenzen ziehen, an Bekanntes anknüpfen und es in Frage stellen („beim Baal schwören“ [12,16]), das Rechte tun. Göttliche Pädagogik mit Strafandrohung (12,17) für den Fall, dass die religiöse Umerziehung nicht fruchtet. Für den Israeliten im Lande ist eine solche religiöse Neuorientierung der nun koexistenten Nachbarn lebenswichtig, weil er andernfalls Kontaminierung durch Baalskult und damit Heilsverlust fürchten muss. Die Neuorientierung ist für das Stammland der Nachbarn nicht intendiert (vgl. 12,14–15). c) Jahwe, der Herr der Völker (Jer 18,7–10): Jahwe kann den Völkern Gleiches zuteilwerden lassen wie Israel und Juda, Ge­ richt und Gnade, Wegführung und Rückkehr. Denn er ist ihr Herr (vgl. auch Jer 10,10)335. Jahwes Herrsein über alle Völker legitimiert Jeremia schließlich, Völ­ kerprophet zu sein. Nirgendwo kommt die Verbindung zwischen Jahwes Völker­ herrschaft und Jeremias Amt als Völkerprophet so knapp und prägnant zum Ausdruck wie in Jer 18,7–10, Jahwes Wort vom Ausreißen und Einreißen wie ent­ sprechend vom Bauen und Pflanzen. Hier allerdings ist die Sinnesänderung des jeweiligen Volkes als Grundlage für Jahwes Ratschluss mit eingebaut, sei es zum Guten oder zum Bösen. Die Umentscheidung Jahwes aufgrund jener Sinnesände­ rung ist mit einer bekannten Gefühlsregung verbunden: Reue. Die klare Struktur des Abschnitts lässt sich in einer Skizze wiedergeben: Jahwe Böses

Jahwe

Reue

Unheil

ein Volk

Heil Entscheidung

Gutes

ein Volk

335 Mit A. Weiser betrachte ich Jer 25,15–38 als „unabhängig von den Gerichtsworten über Juda und Jerusalem (25,1–14) entstanden und deshalb für sich zu nehmen.“ Sie gehören eng mit den Fremdvölkersprüchen Kapp. 46–51 zusammen, wie die Septuaginta beweist und wie die Völkerauswahl in Kapp. 46–51 im Vergleich mit 25,15–38 und deren nahezu gleiche Reihenfolge (bis auf Edom) zeigt (Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 222).

388

Gott und die Völkerwelt

d) Die Völker als Vollzugsorgane Jahwes (Jer 1,13–16; 25,8–11): Als Herr der Völker kann Jahwe diese auch zu seinen Vollzugsorganen gegenüber Israel und Juda machen. In Jer 1,13–16 hat Jeremia dies als Wort des Herrn auszu­ richten. Unspezifisch werden sie „alle Geschlechter der Königreiche des Nordens“ genannt. Sie kommen nicht planlos, sondern auf Geheiß Jahwes zum Gericht über Jerusalem und alle Städte Judas. Jer 25,8–11 wiederholt diese Ankündigung; unter „allen Völkern des Nordens“ wird nun aber besonders Nebukadnezar II. hervor­ gehoben, der hier im Munde Jahwes bereits mit dem Titel „Knecht“ belegt wird. Er wird gewürdigt, ganz im Dienst des Bannvollstreckers336 an Juda und „allen diesen Völkern ringsum“ (!) zu stehen. Im Baruchbericht gibt es für die von Nebukadnezar II. beherrschten Völker, also auch für Juda, eine Alternative: Wenn sie ihm, dem Statthalter der Schöpfung (27,6!), unter­ tan bleiben, können und sollen sie ihr Land schöpferisch gestalten (27,11). Prägt das ambivalente Nebukadnezarbild die jeweilige Audition?

3.6.4 Jahwes innergöttliches Ringen (Bund, Schmerz und Reue)  Das Jeremia-Buch wird von der Bundesformel „Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“ durchzogen (Jer 7,23; 11,4; 24,7; 30,22; 31,1.33; 32,38). Das ist redaktionell gewollt; denn die Bundesformel drückt die unverbrüchliche Zu­ wendung Jahwes zu seinem Volk aus. Die Zuwendung ist so stark, dass er es als sein eigen betrachtet – nicht im Sinne eines usurpatorischen Besitzens, sondern als einen Teil von sich selbst337. Daher kann die Bundesformel in Dtn 26,17–19 auch in diesem Sinn umschrieben und erläutert werden: „… dass du sein eigenes Volk sein wollest, … damit du dem Herrn, deinem Gott, ein heiliges Volk seist, wie er zugesagt hat.“ Diese enge Bindung ist – menschlich gesprochen – nicht ohne Emotionalität zu haben. Affektivität wird auch Jahwe zugesprochen, in der Erscheinungsform von Schmerz, Mitleid, Reue338. Sofern Gottes Mitleid Schmerz über das von ihm selbst zugefügte Leid ist, lässt sich das, was anthropomorph Reue genannt wird, auch als innergöttliches Ringen mit seinen beiden Seiten beschrei­ ben. – Jer 18,7–10 stellt Reue als innere Bewegung Jahwes dar, die aufgrund der Verbundenheit – nicht nur mit dem auserwählten, sondern auch mit dem jeweils 336 Jer 4,7: des „Verderbers der Völker“. 337 Selbst da, wo die Formel das Verb „nehmen“ (‫ לָ ַקח‬/ lāqach) verwendet („Ich werde euch mir zum Volk nehmen und werde euch zum Gott sein“ [Ex 6,7a]), ist damit eine Sorge- bzw. Parteinahmeverpflichtung Gottes für sein Volk verbunden (vgl. auch Dtn 4,19b). 338 Rache (Jer 5,9.29; 9,8) rechne ich nicht dazu, weil sie zwar in unserem Sprachgebrauch voller Emotionalität steckt, im Alten Orient jedoch ein (rational begründbares) Recht ist, das Menschen zusteht, besser aber von Jahwe wahrgenommen wird, damit er Gericht halten kann und Gewalt nicht ausufert (Dtn 32,35). Nichtsdestoweniger fragt sich Gott an den genannten Stellen, ob er sich nicht rächen sollte. Gott ringt also mit der Gewalt-Tat der violence. Dieses Ringen verdeutlicht den Gerichtsernst ebenso wie die pädagogische Intention.

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

389

ausgewählten Volk – das jeweils Zugdachte ins Gegenteil verkehrt. Mal siegt der Heilswille über das vorgesehene Unheil, mal siegt die Zerstörungsmacht über das verheißene Gute, jeweils in Interdependenz mit der Entscheidung des Volkes. Die Skizze (s. o. unter 3.6.3) deutet diese geschichtstheologische Gesamtschau an. Sie hat viel Ähnlichkeit mit dem deuteronomistischen Geschichtsschema (s. o. unter AT 2.14.7), wo sich Zorn und hilfreiche Reaktion Jahwes („Erbarmen“) gegen­ überstehen und durch das jeweilige Verhalten Israels ausgelöst werden. – In Jere­ mias Schmerz über die Bosheit und schlimme Lage Israels dringt Jahwes Schmerz über sein Volk nach außen. In Jer 4,19–28 mischen sich Jeremias und Jahwes Klage zu einer Worteinheit. In ihr drückt sich die Zerrissenheit Jahwes aus (4,27!), die er dann doch nicht zulassen will zugunsten seines „grimmigen Zorns“ (4,26.28). Anders im Baruchbericht. In Jer 26,3 gibt der Herr mit der Aufforderung zur Tempel­ rede zugleich ihr letztes Ziel an: eine mögliche Bekehrung des Volkes zu bewirken, um so die göttliche Reue über zugedachtes Übel auszulösen. Jeremia verkündigt eine mögliche Reue (26,13), und die „Oberen“ erinnern sich, dass Gott schon einmal Reue gezeigt hat (26,19). – Inzwischen ist die Reue des Herrn über „das Unheil, das ich euch angetan habe“, eingetreten (Jer 42,10). Der Baruch-Bericht bringt sie mit der Superiorität der göttlichen Barmherzigkeit vor dem Gericht in Zusammenhang (42,12). Zwar wird Letzteres nicht ausgeblendet (42,17), aber es fungiert lediglich als „Warnung“ (42,19).

An diese Art der Prophetie ist das wegen Jer 31,9 so genannte „Trostbüchlein für Ephraim“ (Kapp. 30 f)339 anschlussfähig, eine Sammlung von Heilsworten, die in der Verheißung eines neuen Bundes für Israel und Juda gipfelt.

3.7 Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein 3.7.1 Zur Frage der Entstehungsgeschichte Zu klären ist: An wen ist das Trostbüchlein gerichtet? Ist ein Wachstumsprozess innerhalb der Kapp. 30/31 zu erkennen? In welche Zeit spricht das Trostbüchlein vermutlich hinein?

3.7.1.1 Der Adressat Das Trostbüchlein ist in seiner jetzigen einheitlichen Form340 an das Gesamt­ volk Israel (einschließlich Juda) in der Gola gerichtet. Die redaktionelle Ver­ knüpfung zwischen Trostbüchlein und Baruchbericht (Jer 30,1–3) spricht von 339 Auf die Erweiterung des Trostbüchleins durch die Kapp. 32–35 wird hier nicht eingegangen. 340 Zum Versuch, eine plausible Endstruktur herauszuarbeiten, vgl. G. Fischer, Jeremia ­26–52, a. a. O., S. 121.

390

Gott und die Völkerwelt

„Israel“ und „Juda“, die ursprüngliche Einleitung Jer 30,4 und die Verknüpfung mit den Anhängen (31,27 f) ebenso. Die Anhänge (insbes. Jer 31,31–34, aber auch 31,35 f.37.38–40) atmen denselben Geist. Ansonsten der gleiche Befund (z. B. 30,10.17; 30,18; 31,10–14; 31,21 f)341. Insbesondere gilt die Bundesformel 30,22 (vgl. 31,1) „allen Geschlechtern Israels“ (vgl. auch die in Dtn 29,12 bearbeitete Bundesformel, die alle im Blick hat).

3.7.1.2 Die Entstehungsgeschichte des Trostbüchleins Die Entstehungsgeschichte des Trostbüchleins ging in verschiedenen Etappen vor sich. Jer 30 ist getrennt von Jer 31 entstanden. Beiden Teilen lagen wohl Prophe­ zeiungen zugrunde, die in je einer Schrift zusammengefasst wurden342. In 30,4 ist die Überschrift über Kap. 30 noch deutlich zu erkennen. Vielleicht hat 31,2 eine ähnliche Funktion im Blick auf Kap. 31. Höhe- und Schlusspunkt des ersten Teils ist der „Fürst“, der mit Jahwe Immediatverkehr hat. Das Ende ist mit ‫נְ ֻאם יְ הוָֹ ה‬ (nᵊ’um jahwe = spricht der Herr) gesetzt (30,21). – Der zweite Teil scheint sich als Traumvision und -audition geben zu wollen: „Der Herr ist mir erschienen von ferne“ (31,3) … „Darüber bin ich aufgewacht und sah auf und hatte so sanft geschlafen“ (31,26). In einem nächsten Schritt wurden die beiden Teile miteinander verbunden. Dazu diente die Bundesformel 30,22 und 31,1343. Was als Schrift in 30,4–31,26 umlief344, wird „in ein Buch“ eingetragen (30,2). Ob dies ein eigenes Büchlein („Trostbüchlein“) ist oder ob damit schon die redak­ tionelle Verbindung mit dem im Entstehen begriffenen Jeremia-Buch gemeint ist,

341 W. Rudolph wollte eine spätere Juda-Schicht von einer früheren Israel-Schicht (gemäß der Reihenfolge der Exile) abgehoben wissen (a. a. O., S. 172). 342 Bei den beiden Kapiteln handelt es sich „nicht um ein einheitlich konzipiertes Gedicht, sondern um eine Sammlung von verschiedenen Worten …, die zwar unter dem gleichen Thema zusammengefaßt sind, aber doch den mosaikartigen Charakter des Ganzen erkennen lassen“ (A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 265; ebenso S. Herrmann, Die prophetischen Heilser­ wartungen im Alten Testament, Stuttgart 1965, S. 217 und J. Schreiner, Jeremia II, [25,15–52,34], Würzburg 1984, S. 174). 343 30,23 f ist eine deplatzierte Unheilsweissagung, von der man nicht einmal weiß, wem sie gelten soll, den Frevlern des eigenen Volks oder den gottlosen Heiden. Sie kommt aus 23,19 f. Vielleicht ist sie durch 30,20b veranlasst. 344 Ob 31,18–20 ursprünglich dazu gehört, ist die Frage. Denn Bekehrung und Buße einer­ seits, Gottes Drohen und Erbarmen andererseits ist eigentlich nicht das Thema des Trostbüch­ leins, sondern die große Wende, die Jahwe ohne Vorleistung „aus lauter Güte“ (31,3) herbeiführt. Daher klingt auch 30,11d fremd. 30,11d steht übrigens auch in Widerspruch zu dem Rückblick in 30,14b und ist vermutlich aus 46,28 hier eingeflossen. Dort fügt es sich als Trostwort für Israel gut in die Gerichtsworte an die Völker ein (vgl. auch 50,20; 51,36). In der Septuaginta fehlt die gesamte Passage 30,10 f (Septuaginta: 37,9 → 12)!

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

391

fragt sich. Ich könnte mir Letzteres gut vorstellen345. Bei diesem redaktionellen Einbau wird das Kommende summarisch zusammengefasst: Schicksalswende = Zeitenwende für Israel und Juda: restitutio ad integrum. „Schicksal wenden“ und „wiederbringen“ werden als Leitmotive herausgestellt (zu „Schicksal wenden“ [‫ שׁוּב ְשׁבוּת‬/ schūv schᵊvūt] vgl. 30,18; 31,23; zu „wiederbringen“ [‫ שׁוּב‬bzw. ‫ ָ ה ִשׁיב‬/ ​ schūv bzw. hāschīv] vgl. 31,6.21). – Auch am Ende der Trost-Einheit wird die Verbindung mit dem Jeremia-Buch herausgestellt: 31,27 f zeigt deutlichen Bezug zu Jer 1,10–12: „wachen – einreißen“; „wachen – bauen“346. Die Verheißung des neuen Bundes (31,31–34) schießt über den Rahmen der Trosteinheit hinaus347, ebenso alles, was noch folgt. Sie gehört hierhin, weil sie unverbrüchliches Heil für das Haus Israel und Juda verheißt, durchbricht aber inhaltlich alles bisher Vorstellbare.

3.7.1.3 Zeitliche Einordnung Für die zeitliche Ansetzung muss man davon ausgehen, dass die gesammelten Pro­ phezeiungen dem Trost der Exilierten sowohl von 722 wie auch mindestens von 597 dienen. So könnten die jeweiligen Teil-Schriften nach 597 und ggf. vor 587 entstanden sein. Die Gesamt-Trostschrift Kapp. 30/31 ist aber auf jeden Fall nach 587 konzipiert, und die hohe Erwartung, die sich auf die Restitution der Zionsge­ meinde richtet, legt überhaupt die Konzeption des „Büchleins“ nach 587 nahe348. Die Integration in das werdende Jeremia-Buch geschah ja auch erst nach 580 (vgl. das zum Baruch-Bericht Gesagte). Wann die Verheißung des neuen Bundes hinzutrat, lässt sich nicht auf Jahr und Tag genau sagen. Aber sie ist intratextuell vorbereitet (z. B. durch 30,18–21 oder durch 31,22), und sie ist offenbar auch He­ sekiel nicht unbekannt (vgl. Hes 11,19 f; 36,26 f). Sie muss zu den Erwartungen, Hoffnungen, Prophezeiungen jener Zeit gehört haben. Eine zeitliche Ansetzung in Verbindung mit der Josia-Reform kann nur dann erwogen werden, wenn man Kapp. 30/31 für echt jeremianisch hält349. Das ist aber zu bezweifeln.

345 Vgl. den möglicherweise bewussten Anschluss an Jer 29,32: „… das Gute, das ich meinem Volk tun will …“. 346 31,29 f stehen damit nicht in inhaltlichem Zusammenhang und sind daher wohl später hinzugekommen. 347 Auch J. Schreiner spricht im Blick auf Jer 31,27–34(40) von einer „Ergänzung der Samm­ lung“ (Jeremia II, a. a. O., S. 174 f). 348 J. Schreiner zu 31,8: „An der großen (kultischen) Versammlung der Gemeinde des Herrn beim Heiligtum Jahwes hat erst die nachexilische Zeit Interesse (1.Kön 8,65; 2.Chr 30,18)“ (Jere­ mia II, a. a. O., S. 182). 349 Z. B. A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 267.

392

Gott und die Völkerwelt

3.7.2 Zur Frage der Verfasserschaft Die Frage der Verfasserschaft wurde und wird in der Forschung kontrovers disku­ tiert. Jeremia wird als Autor der Sprüche angenommen (Wildberger350, W ­ eiser351) bzw. abgelehnt (R. Smend352, Heaton353), oder ihm wird wenigstens ein Kern zu­ geschrieben (S. Herrmann354). Ein gewichtiges Argument gegen eine jeremiani­ sche Verfasserschaft ist m. E. das gegenüber Jeremia veränderte Gottesbild. War dort der Gedanke der Pädagogik Gottes prägend, so muss man konstatieren, dass er hier fehlt. War dort das Heil nicht ohne Besserung zu haben, Besserung am ehesten durch uneingeschränkten Gerichtsernst zu erreichen und zudem ein freier Willensakt, so geschieht die Wende zum Heil hier durch eine Tat Gottes, scheinbar bedingungslos, zumindest ohne Aufruf zur Besserung. Die eschatologi­ sche Gabe der Gnade trifft auf das zeitliche Gericht und wendet es. Selbst da, wo das Stichwort „Bekehrung“ fällt (31,18), wird sie nicht als Willensakt begriffen, sondern als eine vorgängige Tat Gottes. Und Gottes Reaktion auf Ephraims Bitte um Bekehrung ist nicht an dessen Reue, Buße, Besserung geknüpft, sondern an das innergöttliche Erbarmen (31,20)355. „Wenden“ (‫ שׁוּב‬/ schūv) als Tat Gottes wird zum tragenden Stichwort in Kapp. 30/31. Dadurch bekommen diese Kapitel ein eindeutiges, unumkehrbares Gefälle vom Unheil zum Heil und werden, dem aus erweiterter Urrolle und Baruch-Bericht entstehenden Jeremia-Buch hinzugefügt, zu einem exklusiven Gegengewicht gegen die weitgehend aus Gerichtsworten be­ stehende originäre Jeremia-Verkündigung356. Insgesamt ist so das ambigue Bild Gottes als eines gerecht nach dem ius talionis Handelnden einerseits und eines von der Barmherzigkeit Überwundenen andererseits gewahrt – wie wir es auch schon bei der Gesamtschau von Jesaja und Micha wahrgenommen haben.

350 H. Wildberger, Art. „Jeremiabuch“ in RGG3III, Sp. 589. 351 A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 264 ff. 352 R. Smend, Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte, Freiburg, Leipzig, Tü­ bingen 21899, S. 249 ff. 353 E. W. Heaton, Die Propheten des Alten Testaments, München 1959, S. 32. 354 S. Herrmann, a. a. O., S. 217. 355 Insofern ist 31,20 die göttliche Antwort auf Ephraims Bitte in 31,18. Der innere Zwang zur Buße und die daraus folgende Einsicht ist eine nachträgliche Pädagogisierung im Sinne der (erweiterten) Urrolle. Die gleiche Absicht ist hinter 30,11b zu vermuten. Zwar könnte man hie­ rin die Superiorität der Gnade vor dem Gericht erblicken (wie 31,20), so A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 271; das trifft es hier aber nicht, weil „maßvolle Züchtigung“ offenbar einem Konzept Jahwes folgt. 356 So auch J. Schreiner, Jeremia II; a. a. O., S. 175.

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

393

3.7.3 Absolute Wende als Thema Die Bezeichnung der Kapp. 30/31 als „Trostbüchlein“ verniedlicht m. E. die wahre Thematik. Zwar ist dreimal vom Trösten die Rede (31,9357.13.15), aber reale Grundlage des Trostes ist die absolute Wende. Diese stellt sich zunächst als Schick­ salswende dar, so in 30,18 und 31,23, daher zu Recht auch in 30,3 so zusammen­ gefasst. ‫ שׁוּב ְשׁבוּת‬/ schūv schᵊvūt ist terminus technicus jener Wende. Diese reali­ siert sich in Bildern der Rückkehr, der Wiedererrichtung von Stadt und Burg, der (Wieder)erweckung eines Herrschers aus der Mitte des Volkes mit persönlicher Nähe zu Jahwe. Daraus erhellt, dass Wende nicht allein eine politische ist, sondern zugleich auch eine existentielle, die das Gottesverhältnis des Volkes betrifft. Die Schicksalswende spielt sich „in jenen Tagen“ (‫ ַ בּיָּ ִמם ָה ֵהם‬/ bajjāmīm hāhēm) ab, also in dieser Zeit358, und strebt dem Höhepunkt der Prophetie in der Zeitenwende „nach diesen Tagen“ (‫ ַ א ֲח ֵרי ַהיָּ ִמים ָה ֵהם‬/ ’achᵃrē hajjāmīm hāhēm) 31,31–34 zu359. Die Prophezeiung der Zeitenwende in 31,31–34 ist ein zwar vorbereitetes, aber in sei­ ner Ansage absolutes Novum, das dem Gottesbild einen in seiner Deutlichkeit so noch nicht dagewesenen Akzent verleiht. Die Wende als Thema wird außerdem unterstrichen durch den gehäuften Gebrauch von ‫ שׁוּב‬/ schūv = zurückkommen, wiederkehren (30,10; 31,16.17.21; in 31,18 f „sich bekeh­ ren“) bzw. ‫ ֵ ה ִשׁיב‬/ hēschīv = wiederbringen (30,3; in 31,18 „bekehren“). Dass ‫ ֵ ה ִשׁיב‬/ hēschīv hier nicht nur „wiederbringen“ heißt, sondern auch im Sinn von „bekehren“ gebraucht wird, zeigt, dass es nicht nur um eine Schicksalswende, sondern auch um eine Existenz­ wende von Gott her geht. Sachlich ist die Wende in den entscheidenden Tätigkeiten Jahwes enthalten (30,8: das Joch zerbrechen, die Bande zerreißen; 30,10: erretten; 31,11: erlösen360; 31,13: verwandeln). Der absolute Gegensatz zwischen Alt und Neu wird durch häufiges „Nicht mehr (… sondern)“ gekennzeichnet (30,8 f; 31,34.40).

3.7.4 Gottesbild, Anthropologie und Ethik Heilsprophetie hat ihren Grund in einem Gott, dem „das Herz bricht“, wenn er Unheil androhen muss, und der letztendlich vom Erbarmen überwunden wird (Jer 31,20). Sie hat ihr Ziel darin, diesen Gott zur Sprache zu bringen. Das „Trost­ büchlein“, besser: die Wende-Schrift, macht diesen Gott transparent, indem sie ihn 357 ‫ נחם‬/ nchm (trösten) ist für 31,13 und 15 gesichert, für 31,9 ziehe ich es mit der Septuaginta vor. Die Alternative wäre ‫ חנן‬/ chnn (gnädig sein); das passt aber nicht so gut zu „weinen“. 358 Die Letztgültigkeit der Wiederherstellung Israels als Geschehen in dieser Zeit wird viel­ fach betont: 30,3.8; 31,1.6.27.29.31.38. 359 Kontinuität und Diskontinuität in der Bundesverheißung rechtfertigen, von einer Zeiten­ wende zu sprechen. 360 vom Joch der Gefangenschaft.

394

Gott und die Völkerwelt

sein Volk über den Weg der Schicksalswende zu einer Zeitenwende führen lässt. Im Folgenden werden Stationen dieses Weges markiert.

3.7.4.1 Jer 30,12–17 Die Wende muss sich zunächst einmal in Gott vollziehen, bevor sie sich auf Volk und Land auswirken kann. In einer (prophetischen) Rede an das Volk reflektiert und rechtfertigt Jahwe sein unbarmherziges Verhalten, das zu Deportation und Gola geführt hat: „Um deiner großen Schuld und um deiner vielen Sünden wil­ len …“. Unheilbare Wunden sind kein Grund zu jammern, sondern nur gerecht. Damit steht auch Jahwe ganz auf dem Boden des ius talionis und reagiert auf Bundesbruch mit Feindschaft. Der zweite Abschnitt seiner Rede (30,16 f) beginnt mit „Darum …“ (‫ לָ כֵ ן‬/ lāchēn). Zu erwarten wäre nach dem „Darum“ eine Bestätigung, Perpetuierung, Verschär­ fung der Strafe. Aber die Folgerung („darum“), die Jahwe daraus zieht, ist diame­ tral entgegengesetzt: Darum sollst du wieder gesund und heil werden, und meine Gerechtigkeit wird sich an deinen Feinden auswirken. Jahwe wandelt Trauer in Freude (31,13), ohne Verdienst, scheinbar grundlos. Dennoch gibt es Gründe. Sie liegen nach der Wende-Schrift aber nicht im Besserungswillen des Volkes, son­ dern in Jahwe selbst. In ihm siegt nach diesen Versen seine Parteinahme für sein Volk, die für Israel letzter Anker in der Not schon immer war. Diese Parteinahme rechtfertigt vom Sinngehalt her auch das „Darum“: „Darum“ soll alles anders wer­ den, „darum“ wird sich alles wenden (30,16). Die Parteinahme für das leidende Israel löst in Gott Güte (‫ ֶ ח ֶסד‬/ chäsäd) aus, und er gedenkt seiner Israel schon im­ mer tragenden Liebe, die das ius talionis überwindet (31,3.9.20)361.

3.7.4.2 Jer 31,3–6 In Jer 31,3 bekennt Jahwe sich zur Liebe, die all sein Handeln in Bezug auf sein Volk motiviert, damit auch zur immer wieder sich durchsetzenden Güte. Die Liebe ist der sich durchziehende Grundton durch alle Worte, sie ist „Liebe der Ewigkeit“ (‫ ַ א ֲח ַבת עוֹלָ ם‬/ ’achᵃvat ’ōlām). Aus ihr ist Israel nie herausgefallen. Darum ist sie auch Grundlage und Antrieb der Erneuerung Israels durch Wiederherstellung des Gottesverhältnisses, wie es einmal war, und damit auch der ursprünglichen Gesellschaftsverhältnisse, über denen schalom lag. Das dreimalige „Wieder“ (‫ עוֹד‬/ ’ōd) am Beginn jeder Verszeile (31,4a.4b.5) unterstreicht die Restitution des heilvollen Anfangszustands. 31,2 deutet den Anfangszustand als Jahwes gnädige Begleitung in der Wüste, die sich in der Ruhe im Land und in der Kultgemeinschaft am Zionstempel (31,6) aktu­ 361 Auch Weiser erklärt diese Prophezeiungen als Folge eines innergöttlichen Vorgangs (Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 281).

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

395

alisieren wird. Das dreimalige „Wieder“, das den Bogen von der Anfangszeit zur Jetztzeit schlägt, ist gleichsam die Brücke, die Jahwe über all die Sünden und Mis­ setaten der Vergangenheit hinweg baut und sie so unter sich liegen lässt362. Unter dem Einfluss des dreimaligen „Wieder“ steuert 31,3–6 auf 31,34b zu.

3.7.4.3 Jer 30,18–21 Egal, ob man eine literarkritische Differenzierung (Neukonstituierung und Ju­ bel des Volkes [30,18–20] + spätere Anfügung eines priesterlichen Herrschers [30,21]) oder ein einheitliches literarisches Produkt mit zweifacher thematischer Steigerung (Hütten Jakobs, Stadt, Burg; Söhne, Gemeinde, Fürst) annimmt, die Verkündigungstendenz verläuft von der Schicksalswende (30,18) zur Zeitenwende (30,21). Denn ein sakrales Königtum363, das an den Bundesschluss mit Mose er­ innert, ist keine Erneuerung alter, idealer Verhältnisse (wie 30,9), sondern etwas völlig Neues. Der Weg führt über Jer 31,22b zu 31,31–34. Jahwe ist ein Gott der Ruhe und des Friedens für Israel geworden. Spätere Inter­ preten haben das auch so gesehen (vgl. 31,2b); diese Interpretation legt sich nahe: Alle Bedränger werden unschädlich gemacht (30,20); nicht mehr Jammer und Kriegsgeschrei werden zu hören sein, sondern Lob- und Freudengesang; Söhne sterben nicht mehr im Krieg, sondern die Bevölkerung wächst; Jahwe verleiht Herrlichkeit (‫ כָּ בוֹד‬/ kāvōd) von seiner Herrlichkeit (30,20) – nicht nur dem Volk, sondern auch dem im Einklang mit dem Volk auserwählten Fürsten (30,21)364. Wenn Jahwe auch die Wende zu einer völlig neuen Heilszeit vollzieht, ist nicht zu übersehen, dass dies das Ergebnis einer ständigen innergöttlichen Spannung ist. Die äußere Wende ist Folge einer innergöttlichen Wende365, die sich im „Er­ barmen“ realisiert (30,18) und in der Neuverleihung der „Herrlichkeit“ (30,19: Wiederaufbau von Stadt, Burg, Gemeinde) geschichtlich offenbart. – Dabei bleibt die „Herrlichkeit“ ambivalent. Sie wirft Glanz auf sein Volk, Heimsuchung aber auf die Bedränger. Ein Ergänzer hat die vernichtende Dynamik der Herrlichkeit Jahwes in 30,23 f noch betont. – Der Glanz Jahwes fällt auch auf seinen Erwählten, einen Menschen aus der Mitte des Volkes, dem wie Mose Immediatverkehr ge­ währt wird. Der „Fürst“ darf in die Sphäre des Glanzes eintreten. Er bleibt Mensch, ist zugleich aber außergewöhnlich durch die Folgen seiner Erwählung. Indes bleibt die Nähe zu Jahwe gefährlich (vgl. Ex 19,21 f.24b; 24,11). Wer eigenmächtig wagt, in die Sphäre des Glanzes zu treten, riskiert sein Leben366. 362 G. Fischer, Jeremia 26–52, a. a. O., S. 147. 363 A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 274. 364 Eine inhaltliche und theologische Nähe zu Jes 9,1–6 und 11,1–5 ist nicht zu verkennen. 365 G. Fischer, Jeremia 26–52, a. a. O., S. 135. 366 Zwar ist die Angst vor der unwillkürlichen Begegnung mit dem Heiligen seit Ri 13,21–25 obsolet, was aber nicht die Bestrafung der Anmaßung aufhebt (vgl. die Abimelech-Geschichte Ri 9).

396

Gott und die Völkerwelt

3.7.4.4 Jer 31,21–22 Jer 31,21–22 hebt sich durch den Inhalt und durch die Anrede „Jungfrau Israel“ als eigenständige Überlieferung ab367. Es differenziert sich intern noch einmal als Wort des Herrn (31,21.22a368) und Wort über den Herrn (31,22b.c). Nimmt man 31,21–22 als Einheit, wäre hier erstmalig eine Verknüpfung von Theologie und Ethik gegeben. Ich gehe von dem selbstständig überlieferten Wort 31,22b.c aus. Etwas völlig Neues (‫ ֲ ח ָד ָשׁה‬/ chᵃdāschāh, wie 31,31) wird der Herr schaffen. Es handelt sich um einen schöpferischen Akt wie am Anfang (‫ ָ בּ ָרא‬/ bārā’ wie Gen 1,1). Eine bloße Er­ neuerung von Altem wäre nicht mit dem Verb „erschaffen“ verbunden worden. Die Grenze zwischen Schicksalswende und Zeitenwende ist offen. Das gänzlich Neue wird er ‫ ָ בּ ָא ֶרץ‬/ bā’āräz = „im Lande“ schaffen. Insofern ist das Land Israel / Juda das Zentrum der Wende. ‫ ָ בּ ָא ֶרץ‬/ bā’āräz ist aber auch offen für die Übersetzung „auf der Erde“. Das ist sicher nicht primär gemeint, aber nicht ausgeschlossen. Primär ist freilich gemeint: „Die Verwünschte wird umhergehen als Starker“ (31,22c)369. Dem hat sich eine Aufforderung zur Heimkehr angegliedert (31,21.22a). Alles ist vorbereitet im Land. Nun trage du, Israel, deinen Teil zu einer erfolgreichen Rückkehr bei! Die Wende bedarf der aktiven Mitwirkung der Exulanten. Dieser Gedanke ist – abgesehen von der sekundären Eintragung 31,19 – singulär in der Trostschrift. So ist hier an einen nachträglich der Verheißung angegliederten Imperativ zu denken, der in 31,22a durch Metaphorisierung der Umkehr-Verben (31,21: realistisch, 31,22a: metaphorisch) moralisiert wird. Die Doppelbödigkeit der „Umkehr“ kann auf einen einzigen Ergänzer zurückgehen.

3.7.4.5 Jer 31,31–34 Jer 31,31–34 gehört zu den späteren Ergänzungen der Trostschrift nach 580 v. Chr. Darauf weist der jeweilige Neueinsatz nach 31,26 hin (31,27 gleichlautend 31,31). Nichtsdestoweniger spitzt die Verheißung des neuen Bundes die Heilshoffnungen der damaligen Zeit in einer durch nichts zu übertreffenden Weise zu und bildet in seiner jetzigen Stellung den Zielpunkt aller mit der Zeitenwende verknüpften Erwartungen. Traditionsgeschichtlich fließen zwei Überlieferungen zusammen: die Vorstel­ lung vom Bundesschluss mit Israel und die Vorstellung von der gelebten Gottes­ 367 A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 281. 368 A. Weiser hält 31,21 f für ein Prophetenwort. Das ist aber unwahrscheinlich, weil „Jung­ frau Israel“ auch in 31,4 Anrede Jahwes an Israel ist. 369 Luther übersetzt: „Die Frau wird den Mann umgeben“ (30,22c). Ich bleibe indes beim masoretischen Text und übersetze wie oben. Denn ‫ סבב‬/ sbb im Po’el heißt „umhergehen“, und „Starker“ steht ohne Artikel, also attributiv.

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

397

gemeinschaft, konzentriert in der Bundesformel370. Letztere ist eingeschweißt in die Verheißung des neuen Bundes und – wenn auch ein Wanderlogion – hier fester Bestandteil von Jer 31,31–34. Die Einheit wird durch die Struktur unterstrichen. 31,31 ist fanfarenartige Überschrift, unentfalteter Kern der neuen Zusage: Jahwes Heil kommt – gewiss zu seiner Zeit, – für ganz Israel, – als neuer Bund. Das wird im Folgenden expliziert: – Die kommende Zeit wird näher beschrieben als Zeit „nach dieser Zeit“ (31,33). – Dass das Volk Israel Adressat der Zusage ist, wird in 31,33 wiederholt, in der Bundesformel daselbst bekräftigt und im Verweis auf die Lehre bestätigt (vgl. Dtn  6,6 f.20–25). – Der neue Bund wird im Gegensatz zum alten profiliert durch ein zweifaches Nicht-Sondern-Schema (‫ ל ֹא … כִּ י‬/ lō’ …  ki)371: nicht brüchig, sondern inskri­ biert; nicht vermittelte, sondern unvermittelte Gotteserkenntnis. Das durch „Sondern“ angezeigte Neue hat jeweils einen neuen begleitenden Umstand: Das Gottesverhältnis / die Bundesformel bekommt eine neue Quali­ tät (31,33b), und eine grundsätzliche Vergebung ermöglicht den neuen Anfang (31,34c). Folgende Tabelle veranschaulicht Kern und Entfaltung: v 31 die kommende Zeit nach dieser Zeit (v 33a)

für Israel und Juda Israel (v 33a) mein Volk (v 33c) Lehre (v 34a)

neuer Bund nicht brüchig (v 32), sondern inskribiert (v 33b) ↓ begleitender Umstand: neu gefüllte Bundesformel (v 33c) nicht vermittelte (v 34a), sondern unvermittelte Gotteserkenntnis (v 34b) ↓ begleitender Umstand: grundsätzliche Vergebung (v 34c)

370 R. Rendtorff betont zwar die enge Verbindung von Bundesschluss und Bundesformel in priesterlichen und deuteronomistischen Texten, möchte aber „diese Zusammengehörigkeit nicht überbetonen, da beide, die Bundesformel und die Rede von der bᵉrît, ihr eigenes Profil haben und partiell durchaus unabhängig voneinander in Erscheinung treten“ (a. a. O., S. 31; vgl. auch S. 47 f). So auch schon H.-J. Hermisson, „Bund und Erwählung“ in: H. J. Boecker u. a., Altes Testament, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 226. 371 ‫ כִּ י‬/ ki in 31,33a und in 31,34b bedeutet „vielmehr“, „sondern“, in 31,34c „denn“.

398

Gott und die Völkerwelt

Die Art der Entfaltung und ihr Inhalt weisen deutlich über eine Schicksalswende für Israel hinaus auf eine Zeitenwende hin372. Was kommen soll, wird für die Zeit „nach dieser Zeit“ verheißen. Damit kann ein späterer Zeitpunkt gemeint sein, weil ja noch der alte Sinaibund – wenn auch einseitig gebrochen – in Kraft ist. Die Zeitansage ist aber auch offen für Neues, das „geschaffen“ (31,22), und Neues, das jenseits des jetzt Vorfindlichen „geschlossen“ (31,31) wird. Das Vorfindliche (Sinai­bund, Lehre) ist obsolet geworden, unmittelbarer Zugang ist gegeben in beide Richtungen: von Gott zum Volk durch Inskription der Tora, vom Volk zu Gott durch unmittelbare Erkenntnis. Das Nicht-Sondern ist so radikal, dass von einer Zeitenwende gesprochen werden muss. Diese wird unterstrichen durch die Tatsache, dass Jahwe die Missetaten Israels nicht nur vergeben will, sondern „ihrer Sünde nimmermehr gedenken“ (‫ ל ֹא … עוֹד‬/ lō’ … ’ōd). „Nimmermehr“ zieht eine unaufhebbare und undurchdringliche Grenze zwischen dieser und der neuen Zeit. Das Alte wird für immer dem Vergessen Jahwes anheim gegeben. Es kann dem Volk nie mehr angerechnet werden, es kann das Volk nie mehr einholen. Das radikal Neue wird durch spätere Fortschreibungen unterstrichen, die den Ewig­ keitcharakter des neuen Bundes hervorheben (31,35–36 und 31,37; vgl. auch 31,40b: „Die Stadt wird niemals mehr eingerissen … werden)373. Dieser wird in 32,40 noch einmal besonders unterstrichen.

Die verheißene Zeitenwende unterwirft alles einer radikalen Veränderung, das Gottesbild ebenso wie den Menschen und damit auch die Motivation zu seinem Tun. Gott wird einen neuen Bund aufrichten. Im alten Bund (Ex 24,3–8; 19,3–9; 31,18; 34,27 f; 20,2–17) war er als Herr aufgetreten. Daran erinnert er hier („… ob ich gleich ihr Herr war …“). Im neuen Bund ist der Titel „Herr“ zurückgestellt hinter den Allgemeinbegriff „Gott“ („… ich will ihr Gott sein“)374. Dem entspricht im alten Bund der fordernde Gott, der „gebietende“ Herr (Ex 19,7). Als Herr steht er eindeutig über dem Volk, weswegen man den Bundesschluss als Verpflichtung von oben nach unten beschreiben kann375. Zwar erfolgt jedes Mal im Zusam­ menhang mit der Erwähnung der Verpflichtung die Ratifizierung durch das Volk (Ex 24,3.7; 19,8), was die Bundesschließenden aber nicht zu gleichberechtigten Partnern macht. Denn der Blutritus impliziert neben dem Zeichen des Bundes­ schlusses („… das Blut des Bundes“ [Ex 24,8]) auch eine Selbstverfluchung für den 372 G. Fischer, Jeremia 26–52, a. a. O., S. 175. Ich kann nur dazu ermutigen, das radikal Neue, das hier versuchsweise formuliert wird, auch möglichst klar herauszuarbeiten und zu benennen. In der gängigen Sekundärliteratur wird das radikal Neue meist zugunsten einer Erneuerung des Alten abgeschwächt (vgl. R. Rendtorff, a. a. O., S. 75: Der Bund, der schon immer bestand, wird „neu in sein Recht gesetzt“). 373 So auch W. Rudolph, a. a. O., S. 186 und 189. 374 Daher gilt auch nicht mehr „Erkenntnis des Herrn“, sondern unmittelbare Gotteserkenntnis. 375 So E. Kutsch, Neues Testament – neuer Bund?, Neukirchen 1978, S. 32 f.

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

399

Fall der Nichteinhaltung der Gebote376. – Im neuen Bund tritt Gott dem Volk zwar auch gegenüber („sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein“), zugleich sucht er aber auch die Einheit mit ihm. Von ihm geht das gleiche Gesetz mit den gleichen lebensdienlichen Inhalten (‫ תוֹרה‬ ָ / tōrāh) aus wie im alten Bund (31,33), aber es ist nicht mehr Forderung, sondern Gabe. Gott senkt seine Lebensgabe so tief in das Innere eines jeden Israeliten ein377, dass sie zur unauslöschlichen Begabung wird, den Menschen von der Mitte her ganz ausfüllt und so zu einem neuen Sein führt. Mit der Gabe gibt sich Gott selbst, und der Be-gabte gibt sich in der gleichen Unmittelbarkeit Gott. Diente der alte Bund der Erschließung eines Lebensweges für den Israeliten (Dtn 28), so dient der neue Bund der „Selbster­ schließung Gottes“378. Gott wird sich unmittelbar zu erkennen geben (31,34b), er wird unmittelbar ein-leuchten379. Wenn Gotteserkenntnis das von Gott selbst herbeigeführte Ziel des neuen Bundes ist, dann ist es nichts anderes als das EinsSein des Menschen mit Gott. Wie das aussehen kann, darüber sagt Jer 31,31–34 nichts. Hier ist dem Neuen Testament weiter Raum gegeben (Jh 17,21). Allein die Voraussetzung dafür schafft Gott: Vergeben der schuldhaften Taten und Vergessen der Sünden. M.a.W.: Überwindung der Kluft zwischen seinem Gebot und dem Wollen des menschlichen Herzens. Kurz: einen neuen Anfang. Wie sich im Wirken Gottes Kontinuität (im Inhalt des Gesetzes und im Zu­ gehörigkeitsbekenntnis) und Diskontinuität (neuer Bund und die entsprechend neue Füllung der Bundesformel) zeigt, so auch im Bild vom Menschen. Die Ge­ schichte der Veränderung des Menschen vollzieht sich am vorfindlichen Men­ schen. In diesem Sinne ist sie creatio continua, creatio in der Unverfügbarkeit der neuen Daseinsgewährung, continua im Handeln am gleichen Haus Israel und dem gleichen Objekt des Vergebens und Vergessens. Gott wird keinen anderen Men­ schen schaffen. Er wird ihm allerdings eine neue „Identität“ geben. Die bisherige Identität ergab sich aus dem Sollen, welches zum Sein führte: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor den Völkern; … ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk …“ (Ex 19,5 f). Die neue Identität wird ein neues Sein ohne die Vorbedingung des Sol­ lens darstellen. Das Alte Testament kann mehr noch nicht formulieren. Das Neue Testament bringt es auf den Punkt: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue 376 E. Kutsch, a. a. O., S. 31 f mit Beispielen aus der altarabischen Literatur. Dass das Blut auch fluchbringend sein kann, zeigt Mt 27,25 und davor auch die Judas-Szene Mt 27,3–10. 377 Das Innere wird mit einer Art Hendiadyoin beschrieben: „ins Herz geben und in den Sinn schreiben“. ‫ ְ בּ ֶק ֶרם‬/ bᵊqäräm zielt auf die innerste Mitte, ebenso ‫ לֵ ב‬/ lev mit dem Akzent des aus der Mitte heraus Sinnens und Trachtens. G. Fischer spricht von einer „doppelt betonte(n) Unmittelbarkeit“ (a. a. O., S. 172). 378 A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 287 f. 379 Die unmittelbar ein-leuchtende Gotteserkenntnis war bisher nicht gegeben. Man be­ trachte den Kontext von Ex 6,7 („… aber sie hörten nicht auf ihn vor Kleinmut und harter Arbeit“) und von Lev 26,12 („Werdet ihr mir aber nicht gehorchen …“).

400

Gott und die Völkerwelt

Schöpfung (καινὴ κτίσις / kainē ktisis)380, das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2.Kor 5,17). Gott wird dem Menschen ein neues Sein geben, bei dem sich ein vorlaufendes Sollen erübrigt. Diese Zielaussage ist in ihren Konsequenzen zu bedenken. Die Worte des alten Bundes waren zu Gehör gebracht bzw. in ein Buch geschrieben (Ex 24,3 f.7). Sie standen auf Tafeln (Ex 34,28; 31,18), verwahrt in der Lade der Stiftshütte (Ex 25,21 f; 26,33 f). So waren sie dem Volk „vorgelegt“ (wörtlich: „vor ihr Angesicht gestellt“)381. Damit ist die Entscheidungsfreiheit ge­ geben zur Zustimmung oder Ablehnung, zu tun, was dem Herrn wohlgefällt oder missfällt, zum Weg des Lebens oder des Todes. Der neue Bund von Jer 31,31–34 macht sie überflüssig und avisiert einen quasi paradiesischen Zustand382. Er macht den ethischen Imperativ zum lebensbestimmenden Indikativ. Das so quali­ fizierte Sein setzt toragemäßes Verhalten als Lebensäußerung von selbst aus sich heraus und scheint jedwede Ethik obsolet zu machen. Dennoch ist Jer 31,31–34 grundlegende Vision und Realität für Qumran einerseits und für die Urgemeinde andererseits geworden. Der neue Bund ist gemäß der Ausrichtung der alttestamentlichen Schriften mit dem Volk Israel geschlossen, und zwar mit dem ganzen Volk. Diese Ganz­ heit erfährt in Qumran eine elitäre Verengung auf den Rest der „Willigen“ (1 QS 5,7–13; 6,13–23) und eine Tendenz zur Individualisierung im Bundesschluss zu Damaskus, bei dem es um Ein- bzw. Ausschluss Einzelner geht (Dam 19,33–20,1; 20,8–13). Die mehrfache Bundeserneuerung weist einerseits auf den grundsätzli­ chen Ewigkeitscharakter, andererseits auf die Möglichkeit ethischer Erfüllung bzw. Verfehlung und somit gerade nicht auf eine prizipielle Erneuerung des Menschen. Im Neuen Testament erfährt sie eine Universalisierung im Blut Jesu, das vergossen ist ὑπὲρ πολλῶν / hypèr pollōn = für viele, wobei „viele“ die universale Ganzheit repräsentiert. Mit Jesus und Paulus sind die Türen des „Hauses Israel“ weit ge­ öffnet auf die Welt und damit den Menschen hin (Mk 7,24–30 par Mt 15,21–28; Mk 15,39 // Mt 27,54 // Lk 23,47; Röm 1,16; 3,29 f; 1.Kor 1,24). Aufgrund der in Jer 31,31–34 wie auch in Mk 14,24 // Mt 26,28 repräsentierten Ganzheit „sollte man nicht leugnen, daß die Verheißung vom neuen Bund darauf angelegt ist, die Schranken des AT zu sprengen …“383, und in seiner theologisch-anthropologi­ schen Aussage weiter greift als nur bis zu den Grenzen des Hauses Israel. Man darf Gottes Verheißung für sein Volk zugleich als Verheißung für das weltweite Gottesvolk und darin als Vision des neuen Menschen verstehen. Was der Text zur Frage nach Gewalt und Gewaltüberwindung austragen kann, entscheidet sich an den theologisch-anthropologischen Begriffen „Missetat“ (‫ עָ וֹן‬/ ’āwōn) und „Sünde“ (‫ ַ ח ָטּאת‬/ chattā’t). Sie wird es im neuen Bund, d. h. nach 380 Oder besser: „… so hat er eine neue Identität“? 381 In Ex 19,7 und 21,1 mit ‫ ִ שׂים‬/ sīm = setzen, stellen, legen, in Dtn 11,26 und 30,15 mit ‫ נָ ַתן‬/ nātan = geben, in Jos 24,25 sīm ohne ‫ לִ ְפנֵ י‬/ lifnē = vor (ihr Angesicht). 382 G. Fischer: „… die grundlegende innere Verkehrtheit wird so geheilt“ (a. a. O., S. 173). 383 W. Rudolph, a. a. O., S. 185.

Gottesbild und Ethik im Trostbüchlein

401

der Zeitenwende, im Blick auf den neuen Menschen nicht mehr geben. Eine Unterscheidung zwischen „Missetat“ und „Sünde“ zu treffen erscheint wegen des Hendiadyoin-Charakters dieses Satzes müßig. Beides, auch wenn es sich auf ein Schuldig-Werden im zwischenmenschlichen Bereich bezieht, tangiert immer das Gottesverhältnis. Im nichtpriesterlichen Erzählbereich der Urgeschichte kann auf den Sündenfall und auf Kain und Abel verwiesen werden. Durch die Emanzipation von Gott wird die ur­ sprüngliche Bestimmung zur Freiheit verdunkelt, der Mensch kommt dem Verlangen der Sünde nach, und diese zieht Gewalt nach sich (vgl. auch Sodom). In der deuteronomistischen Literatur ist Sünde ein kollektives Geschehen, auch wenn sie ein Einzelner – wie z. B. Achan oder einer der Könige – begeht. Sünde ist Bundes­ bruch und darin Ungehorsam und Abgötterei. Eine spezielle Prägung durch „Gewalt“ liegt nicht vor. In der prophetisch-weisheitlichen Literatur ist Sünde ein Existential. Sie ist Verhäng­ nis im postparadiesischen Zustand und in dem unüberwindbaren Abstand zwischen Gott und Mensch begründet (Hiob). Nichtsdestoweniger gibt es eine persönliche Ver­ antwortung für Schuld (Hiob) jenseits aller kollektiven Verantwortung (Hes 18). Aber es gibt auch ein stellvertretendes Tragen von Schuld, damit die Schuldig-Gewordenen, die das erkennen, Frieden hätten.

Für den Wegfall von „Missetat“ und „Sünde“ in der neuen Zeit können alle drei Bedeutungsrichtungen in Anschlag gebracht werden. So wird es in der neuen Zeit keine Gewalt mehr geben. Sie ist ja in der gegenwärtigen Zeit das Ergebnis der Trennung von Gott. Wenn und weil Gott diese Trennung durch Inskription des Gesetzes ins Herz aufheben wird, ist damit Frieden hergestellt zwischen Mensch und Gott wie auch zwischen den Menschen untereinander. Der deuteronomistische Sündenbegriff spielt ebenfalls in den Text hinein durch den Rückgriff auf die Bundestheologie. Missetat und Sünde sind auch identisch mit Abfall und Götzendienst („… der Bund … mit ihren Vätern …, den sie nicht gehalten haben …“). Das soll vergeben und vergessen sein für immer, durch Inskription der Tora ins Herz in Zukunft nicht mehr vorkommen. Der neue Bund kann nicht mehr gebrochen werden. Darin ist angelegt, was wenig später in Jer 32,40 und in Qumran dem neuen Bund Ewigkeitscharakter verleiht. Schließlich spielt auch die existentielle Dimension der Sünde in den Text hin­ ein. Wo Gotteserkenntnis nicht Weg, sondern Lebensgrund ist, wo der Mensch in Einheit mit Gott lebt, und zwar nicht als Verpflichtung, sondern als Gabe, da wird die alte Schöpfung, deren unauslöschliches Markenzeichen der Sündenfall war, überwunden sein. Die Schöpfung Gottes wird eine neue Qualität und der Mensch eine neue Identität bekommen. Was hier allerdings noch nicht als überwunden deklariert wird, sind Leid und Tod. Aber auch darauf ist der Blick gelegentlich gerichtet (vgl. Jes 25,6–8; 35,8–10). Offb 21,3–5a knüpft mit der Bundesformel und der Deklaration, alles „neu“ zu machen, daran an und zieht die Linie über die Beseitigung des Leides bis zur Vernichtung des Todes hin aus.

402

Gott und die Völkerwelt

Der Gedanke von der Neuheit des Herzens ist dieser Zeit nicht fremd. Hesekiel knüpft an ihn an in Hes 11,19–21 und in Hes 36,26–28. Allerdings reicht er in der Beschreibung des Neuen nicht an Jer 31,31–34 heran, sondern er bleibt auf der Ebene von Jer 24,7. D. h. Es geht nicht um einen völlig neuen Bund Gottes mit den Seinen und verbunden damit um eine neue Identität des Menschen, sondern es geht um eine geistige und ethische Neuausrichtung des aus der Diaspora zurückgebrachten Volkes im Lande (Hes 11,19). Gott will sie durch seinen Geist bewirken (Hes 36,27), und er bietet als Lohn für die innere Neuausrichtung, die Bundesformel zitierend, eine Erneuerung des alten Bundes an (Jer 24,7b; Hes 11,20b; 36,28b). Der Mensch bleibt in die Entscheidung gestellt, ob er sich auf die Gabe des „fleischernen Herzens“ einlässt oder lieber sein „steinernes Herz“ behalten will (Hes 11,19–21). Wenn er sich denn für den Weg der „Gebote“ und „Rechte“ entschieden hat, soll er wissen, dass das durch den Geist Gottes geschehen ist (Jer 24,7; Hes 11,19 f; 36,26 f). Es geht also um eine geistbewirkte Umorientierung der Seinen von Verstockten zu solchen, die ihm nicht aus Zwang, sondern aus innerem Drang folgen. Diese Umorientierung ist keine Umwandlung des Menschen, wiewohl Hes 36,26 f dem am nächsten kommt (durch die vorherige Reinigung von aller Unreinheit [Hes 36,25]).

Sofern mit dem neuen Bund in Jer 31,31–34 auch der neue Mensch avisiert ist, macht der Text durch seine notwendigerweise fehlende ethische Dimension eine implizite Aussage von enormer Tragweite: Der neue Mensch kann sich nicht selbst erfinden, weder durch ethischen Rigorismus (Erfüllung aller 613 Ge- und Ver­ bote) noch durch Eindringen in die tiefsten Geheimnisse der Gottheit. Der neue Mensch kann nur von Gott her kommen (2.Kor 4,6). Das ist nicht explizit gesagt und kann es auch gar nicht, weil es weit über die Zeit des Gesagten hinausgreift bis heute. Das aber ist das Besondere dieses Textes, dass er bewusst alle Zukunft umgreift. So kann auch die neue gewaltfreie Welt nur von Gott her kommen. Als Chris­ ten wissen wir darum, dass die mit Gott und mit sich selber versöhnte Welt schon in Christus gekommen ist (2.Kor 5,19). Die Taufe verbindet uns mit dem neuen Menschen Jesus Christus (Röm 6,3–6) und gibt uns eine neue Identität. So kön­ nen wir uns als alte Menschen im neuen Gottesbund auf den Weg machen und das Neue wagen.

3.8 Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift? Nahum ist ein Zeitgenosse Jeremias. Beide haben die Kultreform Josias (ab 622) und seine Erfolge bei der Restitution des davidischen Reiches miterlebt (bis 609)384. Beide reagieren aber höchst unterschiedlich darauf. Während Jeremia 384 Termini zur zeitlichen Eingrenzung der Wirksamkeit Nahums aus dem Buch heraus: Zerstörung Thebens durch die Assyrer 663 v. Chr. (Nah 3,8), erwartete Zerstörung Ninives durch die Babylonier und Meder 612 v. Chr. (Nah 3,7).

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

403

zur Zeit Josias in beredter Weise schweigt, unterstützt Nahum freudig jubelnd Josias militärische Expansionspolitik und kann seinen Patriotismus offenbar in Herrenworte einkleiden (Nah 1,12 f). Darüber hinaus bezeichnet sich Jeremia als Prophet der Völker und kann auch ihnen Heil in Aussicht stellen, wenn sie Jahwe als ihren Herrn anerkennen. Jahwes Erbarmen spielt dabei eine Rolle (Jer 12,15), während hingegen Nahum nicht nur nichts davon kennt, sondern im Namen des Herrn das Gegenteil verkündet: Zerstörung Ninives und seiner Bewohner an Leib und Seele – ohne Mitleid und Erbarmen (Nah 3,5–7). Da muss sich die Frage erheben: Im Namen welches Herrn redet Nahum? Im Namen eines unerbittlichen Kriegsgottes, dem Lobpreis gebührt, weil er „Ross und Mann ins Meer gestürzt hat“ (Ex 15,1)? Hat nicht Gott inzwischen mehr von sich offenbart? Ist er nicht auch der, auf dessen Weisung die Völker warten (Jes 42), der sein Heil bis ans Ende der Erde bringen will (Jes 49), der Nationen nieder­ reißen und wieder aufbauen kann (Jer 18,7–10)? Das alles und noch mehr fehlt bei Nahum. Er bleibt hinter den Gottesknechtsliedern und hinter Jeremia, seinem Zeitgenossen, zurück. Im Zusammenhang mit seinem Gottesbild gerät auch seine Anerkenntnis als Prophet auf den Prüfstand. Vor der Erörterung der theologischen Fragen sind Inhalt und Aufbau in Ver­ bindung mit dem Wachstumsprozess zu skizzieren.

3.8.1 Inhalt und Aufbau Das Buch Nahum ist in Nah 1,1 überschrieben mit „Last“ (‫ ַ מ ֶשּׂא‬/ massa’) und „Schau“ (‫ חזוֹן‬ ָ / chāsōn). „Last“ steht für „Gottesspruch“, „Orakel“. Damit wird auf die „Auditionen“ (z. B. 1,12; 2,14; 3,5 u. ö.) und „Visionen“ (z. B. 2,4; 3,2 f u. ö.) ver­ wiesen. Es folgt ein Theophanie-Hymnus in Akrostichen bis zum Buchstaben ‫כּ‬ (kaf), der Gottes gewaltige Macht besingt, die erzittern lässt, aber auch beschirmt (1,2–8). In 1,8 leitet er zu den Worten Nahums über durch die Wendung „ein Ende machen“, „vollständig vernichten“ (‫ כָּ לָ ה ָע ָשׂה‬/ kālāh ’āsāh). Ab 1,9 beginnen Nahums Worte. Die kosmisch-globale Ebene des Psalms ist verlassen, die religiös-nationale Ebene betreten. Mit „ihr“ sind die Nineviten aus 1,1 angesprochen; ihre vollständige Vernichtung wird angekündigt (‫ כָּ לָ ה עָ ָשׂה‬/ kālāh ’āsāh) – ohne Erbarmen („Das Unglück wird nicht zweimal kommen“, d. h.: nicht nach und nach)385. Ninive wird aus Thronnachfolgewirren nicht gestärkt hervor­ gehen (1,10). Der Untergang Ninives ist Folge („Denn …“) der völligen Verwüs­ tung und unerträglichen Unterdrückung Israels (2,3), die als Bosheit wider den Herrn gedeutet wird (1,11). Im Zentrum der Verkündigung Nahums steht die Wiederauferstehung Israels und Judas zu nationalem Ruhm, worin freilich auch Ruhm, Ehre und Macht des 385 Anders H.-J. Fabry, Nahum, Freiburg 2006, S. 91 und 148.

404

Gott und die Völkerwelt

Herrn zum Ausdruck kommt. Dieser Verkündigung ist der Untergang Ninives ein- und untergeordnet. Darum wechselt der Blick ab und zu sprunghaft in einen anderen Raum, hier von 1,11 (Ninive) zu 1,12 f (Israel), dann wieder nach Ninive (1,14), dann in prophetischer Antizipation zu einem befreiten und sicheren, in Frieden feiernden Land (2,1)386. In 2,2 wieder Bild- und Szenenwechsel nach Ninive: Die gewaltigen Verteidigungsanstrengungen Ninives sind – Blick wie­ der auf die rollenden Kriegswagen der Israeliten (2,3–5)387 – vergebliche Mühe (2,2). Nahum sieht den Kampf um Ninive kommen und Stadt und Land heillos untergehen (2,6–14). – In 3,1–7 werden die Folgen der vernichtenden Niederlage geschildert: Leichenberge (3,3), Herabwürdigung und Schändung durch den Sie­ ger und neuen Besitzer Jahwe (3,5–7) – mit der Verwüstung Ninives ist auch der Gott Assur hinweggefegt. – 3,8–19 ist ein Abgesang auf den Untergang der stolzen Stadt: Aus der Geschichte (Theben) kann man die Vergeblichkeit der Rüstungs­ anstrengungen lernen (3,8–11.14–15). Wie Ninive wird es allen Städten des assy­ rischen Reiches gehen (3,12–13). Händler, Wachleute und Schreiber388 werden sich verkriechen, aber wenn sie Morgenluft wittern, sich davonmachen (3,16–17). Auflösung allenthalben, auch am Königshof und in der Hierarchie, auch im ge­ samten Volk (3,18–19).

3.8.2 Wachstumsprozess Es gibt keinen überzeugenden Grund, Nah 1,9–3,19 Nahum abzusprechen. Sollte dieser Prophet auch Spruchgut gesammelt haben, so ist er es doch gewesen, der es aufgeschrieben hat als national-religiöses Dokument der Josia-Zeit389. Dieses Dokument ist durch 1,1 als Prophetie qualifiziert, sowohl in seinem auditiven wie auch in seinem visionären Charakter. Solche Überschriften gehören zu prophe­ tischen Büchern, so dass davon auszugehen ist, dass die Spruchsammlung sehr bald – durch Nahum selbst oder einen Schüler – diese Überschrift erhielt. Text­ liche Inkohärenzen, die durch Wechsel der Szenen und damit auch in der Anrede 386 Ich betrachte den häufigen Szenenwechsel als gewollt. Er beleuchtet die Apokalypse dort, um die Wieder- auferstehung hier umso heller erstrahlen zu lassen; und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Von daher halte ich nichts von Versumstellungen (z. B. gegen H. Lampar­ ter, „Der Prophet Nahum“ in: R. Frhr. v. Ungern-Sternberg, H. Lamparter, Der Tag des Gerichtes Gottes [Habakuk, Zephanja, Jona, Nahum], Stuttgart 1960, S. 217 f im Blick auf 1,10 f.12 f; 2,1.3; gegen K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II. Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi [ATD 25,2], Göttingen 81982, S. 11 im Blick auf 1,10; gegen E. Sellin, G. Fohrer, a. a. O., S. 493 im Blick auf 1,9). 387 Anders H.-J. Fabry, a. a. O., S. 170. 388 ‫ ַ ט ְפ ְס ִרים‬/ tafsᵊrīm ist eine schwer deutbare Tätigkeitsbezeichnung. Bei Assyrern und Medern tupsarru = Tafelschreiber (vgl. Gesenius, s. v. ‫ ִ ט ְפ ָסר‬/ tifsār). 389 H.-J. Fabry spricht von „prophetischen Sentenzensammlungen gegen Assyrien, die am Schreibtisch mehr recht als schlecht zu einzelnen Reden gefügt worden sind“ (a. a. O., S. 88).

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

405

entstehen, sind inhaltlich erklärt. Darüber hinaus sind die Verse 1,9–3,19 bestens miteinander vernetzt z. B. durch Botenformel bzw. –spruch (1,12; 2,14; 3,5), durch die Herausforderungsformel (2,14; 3,5), durch die Nennung Ninives (1,1a; 2,9; 3,7) und durch zahlreiche verbale Karikaturen (2,12–14; 3,3b; 3,4; 3,16 f; 3,18 f). Einzig der Theophanie-Hymnus Nah 1,2–8 ist ein späterer Zusatz390 mit einem anders profilierten Gottesbild. Präsentiert sich Jahwe in 1,9–3,19 als Herr der Geschichte, so im Psalm als Herr der Schöpfung. Er trägt urtümlich mythische Züge, kommt gewaltig daher in Sturm und Wetter, lässt die Erde erbeben, ist voller Zorn und Grimm, die mit Feuer, Flut und Zerspringen von Felsen assoziiert werden. Das alles hat natürlich auch mit dem Menschen zu tun: Der Feuersturm frisst die Feinde. Wie ein Fels bzw. wie eine Festung aber stehen die im Feuersturm und in der Flut, die auf Jahwe trauen. Der jähe Abbruch in 1,8 bei ‫( כּ‬kaf) ist Absicht. Wo ein Ende gemacht wird mit den Widersachern, wo sie vollständig vernichtet werden (‫ כָּ לָ ה ָע ָשׂה‬/ kālāh ’āsāh), da ist für immer Schluss mit ihnen – der Hymnus kann enden. Im Hymnus wie in der Grundschrift bleiben wenige Problemverse, die zu unter­ schiedlichen Betrachtungen und Urteilen geführt haben: Im Hymnus ist es 1,2b-3a. Diese Verse gehören nicht zum Hymnus. Sie fallen aus dem Akrostichos heraus und sind eine diskursive Fortschreibung von 1,2a (s. dazu AT 3.8.7). In der Grundschrift berei­ tet 1,10 Übersetzungsschwierigkeiten (s. Anm. 392), und die Heuschrecken-Metapher 3,15–17 weist deutlich redaktionelle Spuren auf. Die Unheilsansage gegen Ninive und Stadt und Land schließt mit den Worten „und das Schwert wird dich töten“ (3,15a). In 3,16–17 werden Händler, Wachleute und Schreiber mit Käfern und Heuschrecken bzw. mit Heuschrecken, Heuschreckenbrut und Heuschreckenschwärmen verglichen. Dazwischen wechselt die Larven-Metapher zweimal ihren Sinn (3,15b und c), und die Anredeform wechselt zwischen Femininum (bezogen auf die Stadt) und Maskulinum (wohl bezogen auf die Gewerbetreibenden: Händler, Wachleute, Weber)391.

3.8.3 Das Gottesbild Das Gottesbild der Grundschrift ist im Umkreis des Botenspruchs bzw. der Boten­ formel zu erheben. Hier kommt der Kontext von Nah 1,12; 2,14 und 3,5 in Frage.

3.8.3.1 Der Kontext von Nah 1,12 Im Kontext von Nah 1,12 erweist sich Nahum als Heilsprophet. Das ist er durch­ weg, insofern Untergang von Assur Heil für Israel und Juda bedeutet; aber im Umkreis von 1,12 ist das künftige Heil Israels, sein Schalom (2,1), ausdrücklich thematisiert. 390 Wegen der Nähe zu P als exilisch-nachexilisch eingestuft (K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 6). 391 Noch differenziertere Literar- und Redaktionsgeschichte dieser Verse bei H.-J. Fabry, a. a. O., S. 207.

406

Gott und die Völkerwelt

Das Heil / der Friede ist aber nur durch einen Vernichtungskrieg hindurch zu haben, den Jahwe als Kriegsgott führt, Partei ergreifend für Jakob / Israel (2,3) und Juda (2,1): „Jetzt will ich sein (scil. Assurs) Joch, das du trägst, zerbrechen und deine Bande zerreißen“ (1,13). Es wird der Sieg Jahwes über den Gott As­ sur (1,14b), der Sieg Israels über Assyrien (1,14a) sein. Der Vernichtungskrieg wird total sein. Der Prophet (2,1) bzw. Jahwe (1,14) bedient sich des Vokabulars des Vernichtungsbanns (bes. 1,14: „ganz ausgerottet“ [‫ כֻּ ׂלּה נִ כְ ָרת‬/ kulloh nichrāt]). Diese Totalität der Vernichtung ist auch in 1,9 f herbeigeredet: vollständige Ver­ nichtung und gänzliche Verbrennung (wörtl.: „Verzehrung“) einer dekadenten Führungsclique392. Dass Jahwe aktiver Kriegsherr ist, ist nicht zu übersehen, dass er parteiischer Kriegsgott ist, unbestreitbar. Er wird „die Pracht Jakobs erneuern wie die Pracht Israels“ (2,3). So werden nicht nur wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstand einkehren, sondern es wird auch ein kraft- und eindrucksvolles, rasselndes und glänzendes Heer aufgestellt werden, in dem sich Jahwe selbst verkörpert. Im Glanz des Lichts und in aufblitzendem Kriegsgerät spiegelt sich seine Epiphanie (2,4 f; vgl. 3,3)393.

3.8.3.2 Der Kontext von Nah 2,14 Der „Spruch des Herrn“: „Siehe, ich will an dich …“ steht inmitten eines Spottge­ dichts, ich nenne es „verbale Karikatur“; denn hier wird im Bild des Löwen ein ver­ meintlich Starker gemalt, dessen wahre Schwäche in bildlichen Worten vorgeführt wird394. Die Löwenmetapher (2,12–13.14aγ [„… das Schwert soll (deine) jungen Löwen fressen“]) setzt die vorangegangene Preisgabe an die Lächerlichkeit (schlot­ ternde Knie und bleiche Gesichter) verstärkend fort. Das alles ist seit 2,3 keine Gottesrede mehr, sondern Menschenwort. Durch 2,14aα.β.b wird die Löwenmeta­ 392 Nah 1,10 ist wegen Unübersetzbarkeit für allerlei Interpretationen offen (Übersetzungs­ grundlage sehr spekulativ): BHS wörtl.: „Denn bis dass Dornensträucher von verschlungenen Zweigen, und wie ihr ­Zechen sind sie bezecht. Sie sollen verzehrt werden wie trockenes Stroh vollständig.“ Luther: „Denn wenn sie auch sind wie Dornen, die noch ineinanderwachsen und im besten Saft sind, so sollen sie doch ganz verbrannt werden wie dürres Stroh.“ Elliger (unter Einschluss des Weherufs 3,1): „Weh, Stadt des Dornengestrüpps, das voll ist von Löwen! Es wird verzehrt wie dürre Stoppeln.“ Fabry: „Ja, so weit wird es kommen: dichtes Dornengestrüpp und wirres Windengerank. Verzehrt werden sie wie trockene Spreu ganz und gar.“ Mein Vorschlag: „Denn ein Raub von Dornensträuchern mit verschlungenen Zweigen sind sie, und gemäß ihrem Zechen sind sie bezecht. Sie sollen verzehrt werden wie trockenes Stroh, vollständig. 393 H.-J. Fabry, a. a. O., S. 190. 394 Dabei geht es selbstverständlich um Assyrien, egal ob es durch Ninive repräsentiert wird oder sich in Assurbanipal oder einem Interimsherrscher und den Seinen verkörpert.

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

407

pher zur Gottesrede geweiht. Nahum hat die Löwenmetapher als verbale Karikatur offenbar gekannt und sie seiner Prophetie dienstbar gemacht395. Damit prägt er das Gottesbild in ganz eigener Weise. Die Karikatur wird zum Herrenwort erhoben, der Herr wird zum Spötter. Das ist eine sehr subtile Art von Gewalt, die ebenso zur Demütigung führt wie die wenig später angedrohte sexuelle Gewalt. Diese Form der Gewalt-Tätigkeit Gottes ist nicht neu. In 2.Kön 19,21 ff antwortet der Herr durch den Propheten Jesaja auf das Gebet des Hiskia: „Die Jungfrau, die Tochter Zion, verachtet dich (scil. Sanherib) und spottet deiner. Die Tochter Jerusalem schüttelt ihr Haupt hinter dir her.“ Wie dieser Spott und Hohn Gottes in blanke Gewalt-Tätigkeit umschlägt, wird 2.Kön 19,28 deutlich: „Weil du (scil. Sanherib) denn gegen mich tobst und dein Übermut vor meine Ohren gekommen ist, so will ich dir meinen Ring in deine Nase legen und meinen Zaum in dein Maul und will dich den Weg wieder zurückfüh­ ren, den du hergekommen bist.“ – Und der Psalm 2 fasst zusammen: „Der im Himmel wohnt, lacht ihrer, und der Herr spottet ihrer“, nämlich derer, die ihn nicht als Herrn der Welt anerkennen wollen (v 4). Aber es bleibt nicht bei verbaler Gewalt, sein Spott wandelt sich in „Zorn“, „Grimm“ und „Schrecken“, umgesetzt von seinem „König“ und „Sohn“ (v 6 f): „Du sollst sie mit einem eisernen Zepter zerschlagen, wie Töpfe sollst du sie zerschmeißen“ (v 9).

Diese Beispiele zeigen, dass Hohn und Spott in Gewalt-Tätigkeit umschlagen, so auch hier nach der Verschmelzung von Löwenmetapher und „Weihe“: „Siehe, ich will an dich, spricht der Herr Zebaoth, und deine Wagen anzünden, und das Schwert soll deine jungen Löwen fressen“ (2,14). Die Herausforderungsformel – vgl. auch 3,5 – leitet meist eine besonders harte gewalttätige Bestrafung durch Jahwe ein (so auch Jer 50,31 und 51,25 gegen Babel; Hes 5,8 gegen Jerusalem; Hes 21,8 gegen Israel; Hes 35,3 gegen Seïr), gelegentlich verbunden mit verbaler Kari­ katur (so auch Hes 29,3.10 gegen den Pharao; Hes 38,3 gegen Gog)396. Jahwe wirkt als der Zerstörer schlechthin (vgl. 2,2: „… der dich zerschmettert“); Ausrottung, Vernichtung ist im Allgemeinen das Ziel. Dass der „Zerschmetterer“ Assurs zugleich der „Erlöser“ Israels ist, wird im Umkreis des „Herrenworts“ 2,14 mit keiner Silbe erwähnt (anders Jer 51,34). Im Gegenteil: Im Folgenden (3,1–3) wird sichtbar und hörbar der martialische Zug ausgemalt, das Auge des siegreichen Kriegers weidet sich an der „Unzahl von Leichen“ auf dem Schlachtfeld. Selbst im Tod werden sie entwürdigt: Man stol­ pert über sie. Mittendrin sichtbar-unsichtbar Jahwe, im Blitzen der Spieße seinen Glanz widerspiegelnd. 395 Die umgekehrte Vermutung, das ursprüngliche Jahwewort sei in 2,14aα.β.b als Fortsetzung von 2,11 zu finden und die Löwenmetapher habe sich sekundär angelagert (H.-J. Fabry, a. a. O., S. 179 f), halte ich bei Nahums Vorliebe für Sprachkarikaturen für weniger wahrscheinlich. 396 Eine literarische Abhängigkeit ist nicht nachzuweisen. Die Herausforderungsformel mag ein Idiom der Zeit sein.

408

Gott und die Völkerwelt

3.8.3.3 Der Kontext von Nah 3,5 Das dritte Herrenwort kündigt mit derselben Herausforderungsformel eine Iden­ tität vernichtende Gewalt-Tat Jahwes an: Tiefste Herabwürdigung der personi­ fizierten, zur Hure gestempelten Stadt. Die Erniedrigung beginnt schon397 mit dem Schimpfwort „Hure“398. Diese Klassifizierung soll nun die folgende exzessive Gewalt-Tat Jahwes rechtfertigen399. Als ob Nahum gespürt hätte, dass er so viel exzessive Gewalt gegen eine „Frau“400 dem Leser nicht unkommentiert zumuten könne. Das Etikett „Hure“ aber macht alles verständlich. Jahwe kündigt an, der „Frau“ Ninive ihre Würde und damit ihre Identität zu nehmen. Was auch immer man unter Kriegsrecht mit einer Stadt und ihren Be­ wohnern machen kann: das Anstößige ist hier die Metapher. Im Bild wird hier eine Frau bloßgestellt und entehrt. Wenn sie sich denn als „Hure“ schon selbst zur Schande gemacht hat, wird sie noch einmal umso tiefer gedemütigt, indem ihre geschändete Blöße, ihre „Schande“, öffentlich zur Schau gestellt wird. Die Ernied­ rigte wird vorgeführt und von Jahwe mit dem beworfen werden, was sie in seinen Augen ist: „Unrat“. Dabei trägt sie immer noch das „Gewand“401, das Jahwe zur Schau hochhebt. Hohn, Spott und Verachtung mischen sich zu einem dämonisch anmutenden Gewalt-Geschehen, das sich – zumindest erzählt – noch einmal wiederholen soll: der Purpurmantel, die Dornenkrone, das Schauspiel, das An­ spucken. Ziel ist die totale Entmenschlichung jener „Frau“, was – selbst als Bild – nahezu unerträglich ist402, außerhalb des Bildes die völlige Verwüstung der Stadt, die Demoralisierung ihrer Bewohner und die Zerstörung sämtlichen gesellschaft­ lichen Lebens. 397 G. Baumann behandelt Nah 3,4–7 zu Recht als in sich geschlossene Einheit, die sich in Be­ gründung der Bestrafung (3,4), Bestrafung selbst (3,5 f) und Folgen der Bestrafung (3,7) gliedert (dies., „Gott als vergewaltigender Soldat im Alten Testament“ in: B. Heininger, S. Böhm, U. Sals [Hg.], Machtbeziehungen, Geschlechterdifferenz und Religion, Münster 2004, S. 56). 398 „Hure“ ist zum Schimpfwort, allerdings mit Symbolkraft, abgewandelt. Mit abgöttischem Blendwerk macht sie die Völker „trunken“ und bindet Land und Leute, freilich gegen Geld / Tri­ but an sich. Daher wird ihr auch das Schicksal, selbst „trunken“ zu werden, prophezeit (3,11). Zur Funktion von „Hure“ als Schimpfwort vgl. G. Baumann, „Gott als vergewaltigender Soldat“, a. a. O., S. 57. 399 In der Tat bewegt sich Jahwe innerhalb der Legalität, „da eine Prostituierte keines Mannes Eigentum ist“ (G. Baumann, „Das Buch Nahum“ in: L. Schottroff, M.-Th. Wacker [Hg.], Kom­ pendium Feministischer Bibelauslegung, Gütersloh 1998, S. 350). 400 Dass kriegsgefangene Männer nackt abgeführt werden, erschien normal (Relief auf dem Bronzetor der assyrischen Stadt Balawat, zu sehen bei B. Obermayer, Art. Krieg (AT), in: Das Wis­ senschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2011, S. 11 [aufgerufen 10.3.2020]). 401 Hier aufgrund des Gewandsaumes dem hohenpriesterlichen Gewand angeglichen. Ver­ höhnung ist nicht zu überhören. 402 Nicht zuletzt aus schöpfungstheologischen Gründen, abgesehen davon, dass die Hure Ra­ hab in positivem Licht erscheint (Jos 2; 6). Auch der charismatische Führer Jefta ist Sohn einer Hure (Ri 11,1), und eine gottgewollte Ehe mit einer Hure ist möglich (Hos 1).

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

409

Gewalt verbindet sich – im Bild – mit sexueller Entwürdigung. Es liegt daher nahe, von Jahwe als vergewaltigendem Soldat zu sprechen – so G. Baumann im gleichnamigen Aufsatz. Allerdings räumt sie ein, dass es im Hebräischen nicht wirklich ein Wort für „vergewaltigen“ gibt. Im Zusammenhang Nah 3,4–7 komme ‫ ָ שׁ ַדד‬/ schādad = „verwüsten“ dem zwar sehr nahe, aber es könne nicht darauf zugespitzt werden403. Daraus zieht sie den Schluss: „Es geht in erster Linie um Herabsetzung und Entwürdigung, Sexualität ist dabei nur das Mittel“404. Dem ist hinzuzufügen: Es geht bei aller Fragwürdigkeit des Bildes um die Sache: Zer­ störung Ninives, Entmenschlichung seiner Bewohner, Flucht (3,11). Und Jahwe ist der Zerstörer – ohne Mitleid.

3.8.4 Ethische Probleme Nahums flammender Nationalismus, der im Zuge der Regentschaft Josias Israel wieder groß werden lassen will, führt im Zusammenhang mit dem Gottesbild zu ethischen Problemen.

3.8.4.1 Ethische Probleme im Umfeld von Nah 1,12 In Nah 1,12 f wird Israel-Juda die nationale Wiederauferstehung verheißen. Hoff­ nungsbild der baldigen Erlösung vom fremden Joch. Solche Hoffnungsbilder wur­ den in der wechselvollen Geschichte Israels immer wieder beschworen, allerdings waren sie in aller Regel verbunden mit einem Namhaft-Machen von Schuld, die in die Situation der Bedrängnis, der Verwüstung, der Exilierung geführt hat. Zur Identitätsbestimmung Israels gehörte stets außer der Tatsache der Erwählung im­ mer auch das Bekenntnis zur historischen und fortwirkenden Schuld. Bei Nahum fehlt der Gedanke der Schuldverarbeitung. Unmittelbar vor 1,12 f oder dahinter müsste er kommen, was aber nicht der Fall ist. Aus Jahwes Er­ klärung der vergangenen und nun nicht wieder zu erwartenden „Demütigung“ ist ein Schuldbekenntnis beim besten Willen nicht herauszulesen, zumal das Achtergewicht der Aussage auf dem „nicht wiederum“ liegt405. Wenn also die Wiederherstellung der Identität Israels nicht an ein Schuldbekenntnis anknüpft, woran dann? Die Identität bestimmt sich offenbar durch das Feind-Verhältnis zu „dem Ruchlosen / Belial“ (Maskulinum [2,1] oder Neutrum [1,11a]406), durch 403 G. Baumann, „Gott als vergewaltigender Soldat“, a. a. O., S. 59. Ähnlich H.-J. Fabry, a. a. O., S. 197 f. 404 G. Baumann, „Das Buch Nahum“, a. a. O., S. 350. 405 Anders H.-J. Fabry, a. a. O., S. 150. 406 1,11 wörtl.: „Von dir ist hergekommen, der Böses gegen Jahwe plant, der ‚Belial‘ beschließt.“ 2,1b wörtl.: „Denn nicht setzt mehr fort über dich zu kommen ‚Belial‘.“

410

Gott und die Völkerwelt

gewaltsame Befreiung davon in einer eindrucksvoll martialischen407, siegreichen Schlacht (2,2–5.6–9; 3,1–3). Auf dieser Grundlage kann Juda wieder seine Feste feiern (2,1). Natürlich gehören die religiösen Feste auch zur nationalen Identität Israel-Judas, aber Voraussetzung dafür ist die glorreiche Ausrottung des Ruch­ losen („Belial“ [2,1]). Eine solche Haltung, die nicht aus der Selbsterkenntnis schöpft, sondern sich aus Feindbildern nährt, führt zu Selbstüberschätzung und Verherrlichung von Gewalt. Dieser Gefahr erliegen Nahum und alle, die seinen Gedanken folgen.

3.8.4.2 Ethische Probleme im Umfeld von Nah 2,14 In Nah 2,14 erleben wir – zumindest in der Ankündigung, aber auch als wirk­ mächtiges Wort (Ps 33,9) – das gewalt-tätige Handeln Jahwes. Mit Feuer und Schwert will er Assyriens Heer vernichten und so dem Rauben ein Ende machen. Nach altem Denkmuster könnte das Israel zur Duldung der Unterdrückung und zum Warten auf Jahwes Eingreifen führen. Hier so nicht. Hier – so wird sugge­ riert – kann Israel nicht abseits stehen, wenn Jahwe brutale Gewalt ankündigt. Israel wird durch Jahwes Ankündigung geradezu in den Krieg hineingetrieben (3,1–3). Krieg ist der Weg zur Befreiung. Dabei darf und soll sich das Rauben, das bisher zu erdulden war (3,1), nun gegen den Feind wenden. Es wird geradezu zur ethischen Forderung (3,10 f).

3.8.4.3 Ethische Probleme im Umfeld von Nah 3,5 Gleiches gilt für den Kontext von Nah 3,5: Israel kann nicht abseits stehen, wenn Jahwe ein derartiges „Schauspiel“ für Ninive ankündigt. Alles, was Jahwe beab­ sichtigt, ist auch für den israelitischen Krieger erlaubt: Verhöhnung und Erniedri­ gung der Bewohner, Entmenschlichung und Identitätsraub. Gefühle wie Bedauern oder Mitleid, die aus der Gewalt herausführen könnten, sind nicht erwünscht. So muss man mit G. Baumann schlicht festhalten: „Das Buch Nahum weist keinen Weg aus der Gewalt.“408

407 Anders H.-J. Fabry, a. a. O., S. 158 und 168 f, der statt „den Stolz Jakobs wiederherstellen“ übersetzt: „den Stolz Jakobs zurückweisen“ (‫ שׁוּב‬/ schūv = wenden). Allerdings passt Fabrys Über­ setzung nicht in den Zusammenhang. Er lässt sich von der Septuaginta leiten (ὕβρις / hybris für „Stolz“) und möchte eine deuteronomistische Bußtheologie hineinlesen (vgl. auch S. 150 zu Nah 1,12). 408 G. Baumann, „Das Buch Nahum“, a. a. O., S. 351; gegen H.-J. Fabry, der – völlig zu Un­ recht – „das Privileg der gerechten Vergeltung“ hier ganz in Gottes Hände gelegt sieht (a. a. O., S. 109) und die Verrohung produzierende Wirkung exzessiver Gewaltsprache unterschätzt (a. a. O., S. 199).

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

411

3.8.5 Nahum – ein Prophet? Nahum hat schlussendlich Aufnahme im Dodekapropheton gefunden. Theologisches Urteil hat ihn somit als „Propheten“ eingestuft. Mir scheint aber nicht erst in der Aus­ legungsgeschichte die Frage nach dem Wert und der Wahrhaftigkeit seiner Prophetie gestellt worden zu sein409, sondern schon im vorkanonischen Werdeprozess. Dieser Frage hat er sich als Heilsprophet – denn neben den ausdrücklichen Heilsworten Nah 1,12; 2,1.3–5 ist Ninives Unheil Israels Heil – ohnehin zu stellen. Die prophetische Zunft hat bekanntlich Beurteilungskriterien erstellt: 1. Wer sein eigenes Wort als Herrenwort ausgibt, ist ein falscher und zu eliminierender Prophet (Jer 23,31; Hes 13,4–9; Dtn 18,20). 2. Wer Frieden prophezeit im Namen des Herrn, ohne vom Herrn beauftragt zu sein, ist ein falscher Prophet (Jer 14,14 f; 23,32; Hes 13,10). 3. Wer nicht ausdrücklich vom Herrn beauftragt ist und sich nicht auf ihn berufen kann, wer also – Gesichte aus dem Herzen (‫ ֲ חזֹון לִ ָּבם‬/ chᵃsōn libām) (Jer 23,16; vgl. Hes 13,6 f), – Träume (‫ ֲ חלןֹם‬/ chᵃlōm) (Jer 23,28; vgl. 23,25), – „Plagiate“ (Jer 23,30) verkündet, ist ein falscher Prophet. 4. Propheten oder Priester, die von der „Last / dem Orakel des Herrn“ (‫מ ָשּׂא  יְ הֹוָ ה‬/  ַ massā’ jahwe) reden statt vom „Wort des Herrn“, reden nicht recht. Sie „verdrehen“ das Wort des Herrn (Jer 23,33–40). 5. Ein Heilsprophet erweist sich dann als vom Herrn gesandt, wenn seine Prophetie in Erfüllung geht (Jer 28,9). 6. Ein Prophet, der mit eintreffenden Zeichen und Wundern zu anderen Göttern ver­ führen will, ist ein falscher Prophet (Dtn 13,3 f). 7. Ein Prophet, der im Namen anderer Götter weissagt, ist ein falscher Prophet (Dtn 18,20). 8. Ein Prophet, der im Namen des Herrn redet, dessen Wort aber nicht erfüllt wird, ist ein falscher Prophet (Dtn 18,22). An diesen Kriterien, insbesondere an denen aus dem Jeremia-Buch, ist Nahum zunächst zu messen; denn ohne dass Jeremia Nahum ausdrücklich nennt, scheint er doch ein kri­ tisches Verhältnis zu ihm gehabt zu haben. Das geht aus Jeremias Last-/Orakel-Polemik hervor wie auch aus der Ähnlichkeit der von ihm verworfenen Verkündigung Hananjas mit der Nahums. Für ihn muss Nahum ein falscher Prophet gewesen sein:

409 Zweifel an der prophetischen Berufung bei K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Pro­ pheten II, a. a. O., S. 3 und S. 9 (1. Aufl. 1950) und H. Lamparter, a. a. O., S. 224; „echte Prophetie“ wird z. B. von H.-J. Fabry, a. a. O., S. 27, vorausgesetzt.

412

Gott und die Völkerwelt

Hananja „Prophet“ genannt (Jer 28,1) Botenformel + Herrenwort: „Ich habe das Joch des Königs von Babel zerbro­ chen“, ich werde alles wiederherstellen; „denn ich will das Joch des Königs von Babel (Nebukadnezar) zerbrechen“ (Jer 28,2–4). geweissagter Zeitraum des Eintreffens: zwei Jahre (Jer 28,3.11) Jeremias Widerspruch: Das Gegenteil wird eintreten (Jer 28,12–17)! Das Gegenteil ist eingetreten: 597 und 587.

Nahum Botenformel + Herrenwort: „… jetzt will ich sein (Assurs) Joch, das du trägst, zerbrechen und deine Bande zerreißen“ (Nah 1,13). geweissagter Zeitraum des Eintreffens: jetzt (Nah 1,13)

Ninive ist erobert, aber durch ba­ bylonische und medische Truppen (612 v. Chr.). Acht Jahre später unter­ wirft sich Jojakim dem Babylonier Nebukadnezar. Aufstände und er­ neute Unterwerfungen führen 597 und 587 zur endgültigen Niederlage und Deportation.

Insgesamt ist festzustellen: – Nahum trennt in Kap. 2 (Löwenmetapher) und insbesondere in Kap. 3 nicht eindeutig zwischen Gotteswort und eigenem Wort. – Dass er visionäre oder auditive Eingebungen hatte, ist nicht zu bestreiten. – Den Untergang von Ninive vorauszusehen, entspricht weltpolitischem Gespür. Prophetischer Gaben bedarf es dafür nicht. – Kap. 1 und 2, aber auch Kap. 3, sofern nicht Gottes Wort, sind durchzogen von teils ausgewiesener (Kap. 1und 2), teils nicht deutlich gekennzeichneter (Kap. 3) persönlicher Rede, die von national-religiösem Eifer glüht. „In der ungeheuren nationalen Leidenschaft liegt die Größe, aber auch die Grenze der Prophetie Nahums.“410 – Von einem Berufungserlebnis ist bei Nahum nicht die Rede. Auch wird er in der Überschrift (1,1) nicht ausdrücklich als Prophet bezeichnet. Beides ist nicht zwingend; aber in Verbindung mit den anderen Punkten ist bei dem Heilspro­ pheten Nahum wohl eher an einen verkündigenden und zugleich schreibenden Hofpropheten zu denken.

410 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 3.

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

413

3.8.6 Nahum – eine national-religiöse Propagandaschrift Nahum sind prophetische Elemente nicht abzusprechen. Nichtsdestotrotz sind drei Herrenworte, verstreut über drei Kapitel, wenig411. Die persönlichen Worte, und seien sie auch unter den Einfluss der Herrenworte geraten, überwiegen bei weitem. Das Menschenwort des Propheten ist voller Gewaltbilder von Gott, voller Feindpropaganda und voller verbaler Karikaturen, die den Feind der Lächerlich­ keit preisgeben. Das sind seit alters bis heute Mittel psychologischer Kriegsfüh­ rung, die aus Chauvinismus erwachsen und diesen befördern412.

3.8.6.1 Gewaltbilder von Gott Vor dem Hintergrund der Restitutionszusage Jahwes an Israel wird Gott als Aus­ rotter der königlichen Nachkommenschaft in Assur dargestellt, als Zerstörer der assyrischen Identität und als Totengräber der Dynastie – kein Grabmal wird an den König mehr erinnern (1,14). Jahwe wird wieder zum Kriegsgott gemacht, der die militärische Aufrüstung Israels gegen Assur mit betreibt und gut heißt (2,3–5).

3.8.6.2 Feindpropaganda Die Stadt Ninive wird einerseits in den schrecklichsten Farben gemalt, voller Mord, Lügen und Räuberei, eine Stadt, in der Anarchie herrscht, in der einzig das Recht des Stärkeren gilt und in der man seines Lebens nicht sicher sein kann (3,1). Eine Stadt, die befreit werden muss und befreit werden wird durch rasselnde Räder und jagende Rosse: „Reiter rücken herauf mit glänzenden Schwertern und blitzenden Spießen“. – Andererseits sieht der Prophet schon jetzt, wie die Mäch­ tigen und Angesehenen Ninives bleich werden vor Angst, „aller Herzen verzagen und die Knie schlottern“ (2,8.11). Die anarchischen Verhältnisse in der Stadt und die Aufgabe ihrer „Befreiung“ berechtigen die Krieger Israels selbst zum Raub und zur Plünderung der Schätze (2,10), aus Rache (vgl. 2,3b), nicht zuletzt wohl auch aus religiösen Gründen (1,14b).

411 Im Vergleich: Bei Haggai (ca. 100 Jahre später) verteilt sich Boteneinleitungsformel sechs­ mal und Botenzwischen- bzw. Botenschlussformel fünfzehn Mal über nur zwei Kapitel! 412 Auch E. Sellin, G. Fohrer verkennen den „propagandistischen Charakter des Buches“ nicht (a. a. O., S. 496).

414

Gott und die Völkerwelt

3.8.6.3 Verbale Karikaturen Verbale Karikaturen dienen dazu, den Feind lächerlich zu machen und so die eigene Überlegenheit herauszustellen, ggf. auch aus dieser Überlegenheit heraus einen Teil eigener Identität zu definieren. Solche verbalen Karikaturen finden sich gehäuft im 3. Kapitel, aber auch schon in 2,12, hier sogar von Nahum in den Wirkbereich des Herrenwortes 2,14 gestellt. Der „raubende Löwe“ wird als machtlos demaskiert werden: „Wo ist nun die Woh­ nung der Löwen …?“ Die Räuber-Beute-Beziehung wird bemüht, das Bild zur Ka­ rikatur der Löwenmacht werden zu lassen: Wird in der Regel der Löwe (= Assur) als das Raubtier angesehen und notgedrungen respektiert, so nun nicht mehr. Das Schwert der Gotteskrieger ist nun der Räuber, der sich den Löwen als Beute holt. Weitere Karikaturen in Kap. 3: Leichen, über die man stolpert, zugleich eine Entehrung des Feindes413 (3,3); Ninive als Hure: der schöne Schein (3,4) kont­ rastiert mit dem Unrat, der auf sie geworfen wird (3,6), ein „Schauspiel“, vor dem man wegläuft; Städte fallen Israels Kriegern wie reife Feigen zu, wie von selbst, ohne zu pflücken, ohne Kampf (3,12); Ninives Krieger sind wie „Weiber“ (3,13); die Feinde öffnen die Stadttore (3,13) – alles Widersinnigkeiten, die man nur als Karikatur verstehen kann; Händler, Wachleute und Schreiber als Käfer, die das Weite suchen, „wenn die Sonne aufgeht“ (3,16 f); schlafende Beamte und ein da­ hinschlummernder König (3,18). Am Ende der Karikaturen Schadenfreude über so viel Peinlichkeit und Unglück414. Das steht einer überlegenen, nationales Pathos pflegenden Gruppe wohl an. Sie kann mit klatschenden Verbündeten rechnen („Alle …“ [3,19]).

3.8.7 Die Funktion des Hymnus Nah 1,2–8 und sein Gottesbild Dass Nahum von charismatisch-prophetischer Seite die Kritik traf, die alle be­ zahlten Hofpropheten zu spüren bekamen, lässt sich denken. Erst recht musste er im Verdacht stehen, ein falscher Prophet zu sein, als 597 und 587 v. Chr. das Volk ins Exil ging und die Hoffnungen, die er insbesondere mit seinen Worten vom Ende aller Demütigungen und vom Feiern identitätsstiftender Feste geweckt hatte, zerstoben. Die exilische Gemeinde war gewillt, ihn zu retten. So musste sie all das, was er als Herrenwort verheißen bzw. als eigenes Wort gepredigt hatte, mit einem neuen theologischen Vorzeichen versehen. Sie hat das mit dem Hymnus getan. In ihm werden die in Nah 2 und 3 beschriebenen bzw. visionär gesehenen

413 H.-J. Fabry, a. a. O., S. 190. 414 H.-J. Fabry hält 3,18 f für redaktionell. Aber Schadenfreude ist ein dramatisch entspannter, natürlicher Abschluss des Ganzen.

Nahum – Wort des Herrn oder Propagandaschrift?

415

„Geschichtswahrheiten“ in einem Weltordnungsgeschehen Gottes415 aufgehoben, das das Gesagte jederzeit – zu welcher Zeit auch immer – wirksam werden lassen kann. Es geht, so sehr man sich das aus heutiger Sicht auch wünschen würde, eher nicht um eine „Purgierung“416 des in den Kapp. 2 und 3 gemalten Gottesbildes, als vielmehr um eine Vertiefung. Der Schöpfergott ist von furchtbarer, nieder­ schmetternder und zugleich wunderbarer, erhabener Herrlichkeit417. Es entsteht das Bild eines eifernden Gottes, der eine unheimliche Macht entfalten kann so­ wohl zur Erhaltung wie auch zur Zerstörung. Die Ambiguität ist Signum seiner Majestät. Damit sind die „zufälligen Geschichtstatsachen“ theologisch eingefan­ gen, und der Nahum-Rezipient weiß, wie er Nah 1,9–3,19 zu lesen hat: Ninive ist Babylon. Damit ist alles gesagt und der Glaube an die Füße des einstigen „guten Boten, der da Frieden verkündigt“ (Nah 2,1; vgl. Jes 52,7), wiederhergestellt und gestärkt. Möglich wird diese neue, vertiefte Rezeption durch die Kompatibilität des Hymnus mit der übrigen Nahum-Schrift. Der zornig und grimmig vergeltende Gott findet seinen Anschluss im Aufgebot der Gewaltigen (2,6); die, die auf ihn trauen, sind die, die nicht mehr gedemütigt werden, sondern frei ihre Feste feiern sollen (1,12 f; 2,1). Die offenbar nicht nur künstlerische, sondern auch künstliche Zusammen­ stellung der Psalmverse418 lud ein, den Hymnus ergänzend zu kommentieren. Ein erster Kommentar liegt in 1,2b vor. Hier wird die Vergeltung Gottes hervor­ gehoben. Er ist ein Gott der Rache, der keine Rivalen neben sich duldet. Israels Feinde sind auch seine Feinde (vgl. Ex 23,22). Der eifernde Gott wird hier na­ tional-religiös interpretiert419. Dem widerspricht 1,3a unter Rückgriff auf die Gnadenformel Ex 34,6 f. Vergeltung und Rache werden mit Zorn und Grimm (1,6) assoziiert; dem steht Gottes Geduld entgegen. Der Schuld der Feinde, die nie vergessen wird, steht die Schuld aller gegenüber, die zwar Strafe verlangt, die am Ende aber in Gnade und Vergebung aufgehoben ist. Der Ergänzer von 1,3a 415 G. Baumann, Gottes Gewalt im Wandel. Traditionsgeschichtliche und intertextuelle Stu­ dien zu Nahum 1,2–8 (WMANT 108), Neukirchen-Vluyn 2005, S. 75 und S. 177. 416 So H.-J. Fabry, a. a. O., S. 92. 417 So K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 4. 418 Es handelt sich weniger um wörtliche Anleihen an Bekanntes, als vielmehr um Motiv­ übernahme: v 2a → Ex 20,5 u. ö. v 3a → Ex 34,6 f v 3b → Ri 5,4 f vv 4 f → Ps 77,17 ff vv 5 f → Ps 97,5 v 7 → Ps 145,9; Anklänge an Ps 46,2 und 1,6 Anders G. Baumann, Gottes Gewalt im Wandel, a. a. O., S. 82. 419 Ist das ein Versuch, Gott vor den eigenen Karren zu spannen oder ein Appell an die Partei­ nahme Gottes für sein Volk? Ich glaube, Ersteres – wegen des Widerspruchs in 1,3a. Anders G. Baumann, Gottes Gewalt im Wandel, a. a. O., S. 82.

416

Gott und die Völkerwelt

versucht, den national-religiösen Akzent abzuschwächen zugunsten des vertieften Gottesbildes, in dem der ambigue Gott wieder zu seinem Recht kommt, allerdings mit deutlichem Mehrgewicht auf der Gnade. Mir scheint dieser Versteil sogar weit über die nationalen Grenzen Israels hinauszureichen; denn die Aussage, dass Jahwe ganz sicher niemanden ungestraft lässt, umfasst Israel und die Völkerwelt. Der Verkündigung des Heilswillens Jahwes für die Völker etwa bei Deuterojesaja entspricht die Erkenntnis des Strafhandelns auch an Israel420.

3.9 Der Gott des Friedens bei Protosacharja (Sachj 1–8) Der Grundbestand von Protosacharja ist in den sieben Nachtgesichten zu sehen. Was darüber hinausgeht, ist als Fortschreibung bzw. redaktioneller Zusatz anzu­ sehen421. Im Zentrum steht formal und inhaltlich das vierte Nachtgesicht (= die fünfte Vision422). Es umfasst in seiner Urform Sachj 4,1–5.11.14423. Kern ist die Vi­ sion zweier Gesalbter, eines königlichen und eines priesterlichen, die dem „Herr­ scher aller Lande“ verpflichtet sind (4,14). Die Verpflichtung, die aus der Einset­ zung durch Jahwe resultiert und in der Verantwortung vor ihm zum Ziel kommt, wird in der Vision sichtbar in der Stellung der beiden „Ölbäume“ zur Rechten und zur Linken des „Leuchters“, wobei der „Leuchter“ für die Lichtherrlichkeit Jah­ wes steht, die den beiden Repräsentanten Einsicht und „Erleuchtung“ vermittelt (Jes 11,2), die beide miteinander verbindet, die Kultus und Politik in dem einen Herrn „aller Lande“ eint424 und so zu Frieden, Eintracht, Mitmenschlichkeit und 420 Mit G. Baumann stimme ich in der Erkenntnis des weltweiten „Handlungsradius“ Jahwes überein, nicht aber darin, dass „jetzt das Strafhandeln statt des Gnadenhandelns als göttlicher ‚Wesenskern‘ festgeschrieben“ werde (G. Baumann, Gottes Gewalt im Wandel, a. a. O., S. 88 und S. 92). 421 Vgl. A. Deissler, Zwölfpropheten III. Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, Würzburg 1988, S. 267. 422 Die Lutherbibel zählt die Visionen. Danach enthält Kap. 3 die vierte Vision, die aber kein Nachtgesicht ist. Sie hebt sich auch sonst von den Nachtgesichten ab dadurch, dass es hier nicht um rätselhafte Wesen oder Dinge geht, die gedeutet werden müssten, sondern um historisch ve­ rifizierbare Gestalten (Hoherpriester Jeschua, „Spross“ = künftiger König Serubbabel). Folglich ist der „Engel des Herrn“ hier auch nicht der angelus interpres (vgl. auch K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II; a. a. O., S. 120). Diese Vision ist dem Schülerkreis Protosacharjas zuzuschreiben (A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 267). 423 Die Serubbabel-Sprüche 4,6–10a sind hier zu Ehren des „zweiten“ Gesalbten eingefügt. 4,10b ist entweder von 3,9 her versprengt, oder es soll die Siebenzahl der Augen (3,9) und der Lampen (7x7) (4,2) gleichermaßen nachträglich deuten. 4,11 nimmt die Frage von 4,5 präzisiert wieder auf und erhält – nach sekundärem Exkurs in 4,12.13 – in 4,14 eine Antwort. 424 Die Zuordnung beider beschreibt R. Hanhart mit äußerer Ermöglichung (Serubbabel, vgl. 4,6–10) und innerer Verwirklichung (Jeschua, vgl. 3,1–10) der neu sich konstituierenden Glau­ bensgemeinschaft (R. Hanhart, Sacharja 1–8 [BK XIV/7,1], Neukirchen-Vluyn 1998, S. 301). Das aber ist nicht aus dem vierten Nachtgesicht (= fünften Vision) herauszulesen, sondern eben nur aus den Zusätzen (z. B. 6,9–15a).

Der Gott des Friedens bei Protosacharja 

417

Ehrlichkeit führt. Die sozialethischen Konsequenzen dieser Vision liegen auf der Hand, werden aber erst in der nachträglichen Historisierung 6,9–15 (hier bes. 6,13) sowie in den Rahmenkapiteln 7 und 8 (hier bes. 7,9–10 und 8,16–17) aus­ geführt425. Zwar ist Jahwe der „Herr aller Lande“, aber im Rahmen des protosach­ arjanischen Grundtextes ist er der Friedensbringer nur für Juda426 und Jerusalem.

3.9.1 Die Nachtgesichte in Tradition, Fortschreibung und Redaktion Die Nachtgesichte laufen auf das vierte im Zentrum zu bzw. kommen von ihm her. Alle werden redaktionell als „Wort des Herrn an Sacharja“ ausgewiesen und durch die Zeitangabe in 1,7 als Gesichte einer einzigen Nacht zusammengebunden. Das erste Nachtgesicht (= die erste Vision) (1,8–15) lässt Jahwes „Eifer“ erken­ nen, dass er Jerusalem, den Zion und Juda427 der Herrschaft der „stolzen Völker“ wieder entziehen werde. Das ist sein Weg zum Frieden (‫ ָ שׁלֹום‬/ schālōm) (8,12) und zum Segen (‫ ְ ּב ָרכָ ה‬/ bᵊrāchāh) (8,13) für sein Volk. Das Nachtgesicht wird in 1,16 f fortgeschrieben („Darum …“, „Und weiter …“): Das Gute, das dem wiedererwählten Jerusalem zuteil wird, bedeutet zugleich Heil für das ganze Land (vgl. auch die Fortschreibung in 2,16).

Die Heilsperspektive verdrängt das Bewusstsein eigener Schuld an Katastrophe und Exil. Schuld am Untergang Jerusalems und Judas sind – ähnlich wie bei Nahum (Nah 1,11 und 2,1) – nicht die eigenmächtigen Könige oder das götzendienerische Volk selbst, sondern die „stolzen“, in ihrer Machtfülle arroganten und Juda miss­ achtenden Völker (‫ שׁ ֲאנָ ן‬/ scha’ᵃnān ַ = sicher, stolz, übermütig)428. Diese Tendenz zur Schuldverschiebung liegt auch dem zweiten Nachtgesicht (= der zweiten Vision) zugrunde (2,1–4). Hier wird die gesamte Völkerwelt (vier Hörner = vier Himmelsrichtungen) für die Gola verantwortlich gemacht429. Die gleiche Tendenz auch in der Fortschreibung des dritten Nachtgesichts (= der 425 Zu 6,9–15 vgl. K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 128; zu Kapp. 7 und 8 vgl. A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 267. 426 Groß-Israel ist nicht im Blick (vgl. aber die Glosse 2,2; auch 8,13, wo „und Israel“ wohl im Zuge der Gesamtredaktion ergänzt wurde [vgl. „Israel“ in Sachj 11,14; 12,1]). 427 1,16 und 1,17 geben sich durch „Darum“ und „Und weiter“ als Ergänzungen zu erkennen (K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 116). 428 Diese Sicht entwickelt sich im Gespräch des Boten mit dem Herrn. Hierin rekurriert der Bote auf die Gnadenformel und kontrastiert sie mit der Realität: ausbleibendes Erbarmen und schon siebzig Jahre andauernder Zorn (1,12). Der Herr antwortet mit einer Deutung seines Zorns: Nur geringer Zorn über Juda und Jerusalem („langsam im Zorn“ = „geduldig“), allerdings großer Zorn über die Völker, weil sie den Untergang Israels beschleunigt haben (1,15). – Anders R. Hanhart, a. a. O., S. 85. 429 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O. S. 109.

418

Gott und die Völkerwelt

dritten Vision): 2,10–13. Sacharja und sein Schülerkreis sind bei der Geschichts­ deutung offenbar an den Punkt gekommen, wo sie die Gola nicht mehr als Liebe sub contrario abscondita sehen konnten, sondern als eigengesetzliches und z. T. auch widergöttliches Handeln der Völker. Dem versucht der deuteronomistisch stilisierte Rahmen (1,1–6 und 7,1–8,19) entgegen­ zuwirken. Des Herrn Ruf zur Umkehr ist verbunden mit einer Erinnerungskultur, die den Ungehorsam der Väter (1,4) und den daraus folgenden Zorn des Herrn (1,2) nicht aus dem Auge verliert. Umkehr ist ein permanenter Prozess, der sich aus der Erinnerung speist und in der täglichen Hinwendung zu Gott Gestalt annimmt. Geschichtsbearbei­ tung auf dieser Grundlage ist etwas völlig anderes als sich als Opfer „stolzer Völker“ zu sehen. – Gleiches lässt sich auch für 7,9–14 sagen. Aufarbeitung von Schuld ermöglicht Neuanfang. Das sagt 8,9–19 durch Ermutigung zum Anpacken, zur Furchtlosigkeit, zum Frieden. Unter diesem Blickwinkel – sagt der Rahmen-Redaktor – soll das Inliegende gelesen werden. Ähnlich denkt gut 300 Jahre später Tritosacharja. Die Gestalt des von der Sünde des Volkes „Durchbohrten“ atmet deuteronomistischen Geist. Freilich ist Schuldaner­ kenntnis dort nicht demütige Bereitschaft zum Tragen der Gola (wie im dtr gepräg­ ten Rahmen Sachj 1,6), sondern Grund der Entsündigung und Voraussetzung für einen Neuanfang. Das zeigt: Es gibt über die Jahrhunderte hin zwar Motivverdrän­ gung, aber auch Motivwiederkehr, möglicherweise mit veränderter Intention (vgl. dazu AT 1.4.4.2).

Das dritte Nachtgesicht selbst aber (= dritte Vision) (2,5–9) zeigt Jerusalem als of­ fene Stadt „ohne Mauern“ (2,8), in der alle Platz finden, die sich danach sehnen. Das vom Himmel gewollte Jerusalem, die offene Stadt, die auf Abgrenzung und Wehrhaftigkeit verzichtet, weil sie es will und weil sie es sich leisten kann. Denn der Herr selbst ist, sie verherrlichend, in ihr und, sie schützend, um sie herum. Die vielen Menschen sind in der ersten Fortschreibung (2,10–13) die Heimkehrer aus dem Exil, in der zweiten Fortschreibung (2,14–15) die herbeiströmenden Völker, deren Gott Jahwe auch sein will! Die real gedachte Offenheit der Stadt schließt in der zweiten Fortschreibung die Bedeutungsoffenheit der „Menge“ (2,8) ein, ebenso die Offenheit des in der Stadt einwohnenden Herrn für alle Völker. Auch sie „sollen mein Volk sein“ (2,15). Es ist nominell die Aufnahme der zuströmenden Völker in den Bund!430 Eine Vision, die der Realität weichen musste. Realität ist der Mauerbau unter ­Nehemia (Neh 2,17) als Ausdruck urbaner und nationaler Identität. Wie sehr Mauerbau und Aus­ grenzung miteinander korrelieren, wird in den Ausschlussverpflichtungen (Neh 10,31; 13,1–3 u. ö.) besonders deutlich.

430 Diese Vorstellung ist in zeitgeschichtlichen Migrationsbewegungen begründet (vgl. auch schon Jes 56,1–8), trifft sich aber mit der mythologischen Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion. – Über die globale Jahwe-Königs-Ideologie tastet sich Ps 47,10 an die erweiterte Bun­ desvorstellung heran.

Der Gott des Friedens bei Protosacharja 

419

Das dritte Nachtgesicht weist bereits auf das vierte (= fünfte Vision) (4,1–5.11.14) hin: Die im dritten Gesicht angekündigte Verherrlichung des Herrn in seiner Stadt nimmt im vierten Gestalt an in den 7×7 Lampen des Leuchters mit den beiden Ölbäumen zur Rechten und zur Linken (s. o.). Waren die Fortschreibungen des ersten und des dritten Nachtgesichts vom Ausgang des Heils aus Jerusalem in alle Städte und zu den herbeiströmenden Völkern geprägt, so ist das vierte Nachtgesicht historisierend fortgeschrieben worden. Die zwei Gestalten (4,14) werden mit dem Hohenpriester Jeschua (Sachj 3,1–10) und dem „Spross“ Serubbabel (4,6–10a) identifiziert. Werden sie in Kap. 3 und in Kap. 4 in je ihrer eigenen Aufgabe ge­ sehen, so werden sie in 6,9–15 noch einmal in ihrer Beziehung zueinander beschrieben. In 3,1–10 geschieht die zeitgeschichtliche Konkretisierung mit den Elementen einer Satansvorstellung, die Hi 1–2 nicht allzu fern ist431, mit einer an Jes 6,5–7 erinnernden Entsündigungszeremonie und mit einer Sonderstellung Jeschuas zum Herrn, die dem in Jer 30,21 f verheißenen Immediatverkehr des „Fürsten“ gleichkommt. In 3,9 f wirkt sich Jeschuas Entsündigung auf das ganze Land aus. Man wird freundlich miteinander umgehen, sich einladen „unter den Weinstock und unter den Feigenbaum“ und mitein­ ander feiern. In dieser visionären Fortschreibung ist das gelingende Miteinander keine Forderung, sondern Ergebnis einer menschlichen Neuwerdung. Der zweite Gesalbte wird mit dem Davididen Serubbabel identifiziert. Er ist der Begründer des neuen Tempels und wird auch sein Vollender sein. Er ist derjenige, der die Herrschaft des Hohenpriesters Jeschua über sein „Haus“ ermöglicht – „Haus“ als Tempel, aber auch als Haus Juda! Als Spross Davids und Gesalbter des Herrn ist er auf Gewaltlosigkeit und den Geist des Herrn verpflichtet. Nicht sich auf Heer und Kraft stützende Selbstgewissheit ist der Weg in eine heilvolle Zukunft, sondern das Wissen um die Einwohnung des Geistes in der Stadt (vgl. 2,9). Anders als in 3,10 ist Neuausrichtung am Geist des Herrn hier ethische Forderung, vor allem Königsethik. Das Verhältnis von Ermöglichung (Serubbabel) und Verwirklichung (Jeschua) wird in 6,9–15a entfaltet (s. o. Anm. 424). Beide Gesalbten sind aufeinander (an)gewiesen: „Es wird Friede sein zwischen den beiden.“ Der Tempelbau ist ein Völker übergreifendes Projekt (6,15). Damit ist die Völker übergreifende Jahweverehrung präludiert432.

Frieden und Segen können unter irdischen Verhältnissen für Stadt und Land nur erhalten bleiben, wenn das Böse bestraft (5,3) und die Sünde aus dem ganzen Land entfernt wird (5,7.11). Davon handeln das fünfte und sechste Nachtgesicht (= sechste und siebte Vision) (5,1–4.5–11). Sie nehmen bei aller Friedens- und Heilserwartung zugleich auch die Welt, wie sie ist, in den Blick, einschließlich um­ strittener Immobilienfragen, die sich angesichts der Heimkehrer stellen (5,3 f)433. Die personifizierte Gottlosigkeit sollte im Lande unschädlich gemacht (5,8) und

431 A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 278. 432 Auf Einzelprobleme (z. B. eine Krone – zwei Kronen) gehe ich nicht ein. 433 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten, a. a. O., S. 283; R. Hanhart, a. a. O., S. 346.

420

Gott und die Völkerwelt

heimatlos sein (5,9); aus der Welt schaffen kann man sie freilich nicht, aber we­ nigstens dahin, wo sie hingehört, ins Land Schinar (5,11)434. Nun steht der Zeit der Gnade und des Segens nichts mehr im Wege. Davon handelt das siebte Nachtgesicht (= die achte Vision) (6,1–8). Es hat manches mit dem zweiten (die vier Schmiede) und dem dritten (eine große Menge Menschen) gemein. Die vier Rosse werden vom angelus interpres „Winde“ genannt (‫ ֻ רחֹות‬/ ​ ruchōt). Das deutet auf die vier Himmelsrichtungen. Man könnte auch „Geister“ übersetzen; besser „Geistträger“, denn sie kommen ja von dem her, der den Geist hat (6,5). Den Geist des Herrn wollen / sollen sie nun in alle Himmelsrichtungen tragen (6,6.7)435. Frieden und Segen für Jerusalem ist Gabe und Aufgabe. Die Gabe ist im vierten Nachtgesicht beschrieben, die Aufgabe hier: den Geist des Herrn in alle Lande bringen und so dem „Herrscher aller Lande“ überall Ehre zu verschaf­ fen. Besonders angesprochen ist der Norden (6,8), d. h. die dort in der Diaspora Lebenden. Ruht der Geist des Herrn auf ihnen, wird ihnen die Rückkehr nach Jerusalem nicht schwer fallen.

3.9.2 Vom Gott des Friedens zum Gott der Völker (Sachj 8,20–22) Am Ende von Protosacharja – und vermutlich auch am Ende einer zeitlichen Entwicklung – steht 8,20–22436. Dieser Abschnitt kann als Fortschreibung des Rahmens gelesen werden: Der Zweierschritt „Rückblick auf die Zeit des Gerichts (7,7–14) – Vorausblick auf das künftige Heil (8,1–19)“ wird zum Dreierschritt: Das künftige Heil gilt nicht nur dem Gottesvolk, sondern es ist allen Völkern an­ geboten. – Daraus ist zu schließen: Das Heilsangebot an die Völkerwelt ist zwar eine Weiterentwicklung innerhalb der israelitischen Religionsgeschichte, sie hebt sich aber nicht prinzipiell von der Heilsprophetie für das Volk ab, sondern hat ge­ nau in dieser ihren Ursprung. Wie 2,14 f kann auch 8,20–22 aufbauen auf einem weltoffenen und jahweerfüllten Jerusalembild, auf dem Zustrom der Völker nach Jerusalem und auf einem Jahwebild, das ihn als „Herrn aller Lande“ ausweist. Jahwe stellt sich auf dem Zion der Völkerwelt zur Verfügung. Zion ist auch hier Ziel und Zentrum der heilszeitlichen Völkerwanderung (vgl. Jes 2,2–4 / Mi 4,1–4; Jes 60,3 ff; 66,18 ff). Wie in 2,14 f führt der Weg dorthin, wenn es denn ein Weg zur Gnade und zum guten Rat sein soll (‫ ִ חּלָ ה‬/ chillāh = anflehen; ‫ ִ ּב ֵּקשׁ‬/ ​

434 Während ‫ ה ָא ֶרץ‬ ָ / hā’āräz in Sachj 1–8 im Allgemeinen „Land“ bedeutet, weitet es sich in 5,5–11 auf „die ganze Erde“ hin. Denn die Bekämpfung und endgültige Verbannung der Gott­ losigkeit trägt mythische Züge, die auf Verhängnis und Rettung der Welt verweisen. 435 Bei 6,6 muss rot = Osten gedanklich ergänzt werden. Anders R. Hanhart, a. a. O., S. 393 f. 436 Von 8,23 wird abgesehen. Dieser Vers ist ein sehr später Nachtrag. Denn die Heilsaneig­ nung geschieht hier nicht mehr an einem Ort (Zion), sondern durch Teilhabe an einem jüdischen Menschen, d. h. am Judentum allgemein.

Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs 

421

biqqesch = suchen [8,21 f]). Das Besondere an diesem kleinen Abschnitt liegt in 8,21. Innerhalb des Völkerstroms zum Zion entwickelt sich eine Art Eigengesetz­ lichkeit: Ziel und Zweck werden nicht mehr von Jahwe definiert (etwa: „sie sollen mein Volk sein“), sondern von den Völkern selbst: Zweck ist, Gnade und Rat zu suchen. Weiter zeigt sich die Eigengesetzlichkeit in einer Kettenreaktion des Auf­ rufs mitzukommen. Das heißt: Der letztendliche Heilswille Jahwes für alle Völker wird zum Willen und Streben jener Völker selbst nach Jahwes Rat und Gnade. So ist dies eine Eigengesetzlichkeit nicht gegen den Willen des Herrn, sondern ganz in seinem Sinn und ganz in seinem Geist. Denn „so“ hat er ja auch „gesprochen“ (8,20). Die Heilsgabe, nämlich die Aussicht, zum Gottesvolk zu gehören, wird nicht ausdrücklich verheißen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass der Herr ihnen diese nicht vorenthalten wird. So steht 8,20–22 in der Tradition von Jes 11 und insbesondere dessen Fortschreibung in Jes 11,10.

3.10 Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs über Jerusalem und die Völker (Sachj 9–11; 13,7–9) „Deuterosacharja“ ist ein Sammelbegriff von unterschiedlichem, prophetischem Material aus griechischer und postgriechischer Zeit (vom Zug Alexanders des Großen nach Palästina ab 332 v. Chr. über die Einnahme Jerusalems durch Ptole­mäus I. 312 oder 302 v. Chr. und das anschließende Exil in Ägypten [vgl. Joel ­4,4–8, s. u. unter AT 3.13.1] bis hin zur aufkeimenden Hoffnung auf Rück­ kehr um 300 v. Chr.437).

3.10.1 Sachj 9–11; 13,7–9 Besonders disparat ist das Material in Kap. 9438. In drei Blöcken wird – gemäß dem Eroberungszug Alexanders des Großen – Unheil über Syrien (Damaskus, Land Hadrasch, Hamat), Phönizien (Sidon, Tyros) [1. Block: 9,1–4] und Philistäa (Aschkelon, Gaza, Ekron) [2. Block: 9,5–6a] angesagt, wobei Jahwe die „Ausrot­ tung“ des philistäischen Hochmuts noch einmal besonders für sich in Anspruch nimmt [3. Block: 9,6b-8].

437 Rückkehr unter Ptolemäus II. (285–246). Vgl. dazu A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 294 ff. 438 9,1–17 (P. L. Redditt) bzw. 9,1–10 (A. Kunz) als chiastisch angelegte Ringkomposition anzusehen, scheint mir – auch bei synchronischer Betrachtungsweise – aufgesetzt (P. L. Red­ ditt, Sacharja 9–14, Stuttgart 2014, S. 16; A. Kunz, Ablehnung des Krieges. Untersuchungen zu Sacharja 9 und 10 [HBS 17], Freiburg 1998, S. 190).

422

Gott und die Völkerwelt

Sachj 9,9 f hebt sich inhaltlich und zeitlich von der redaktionellen Einheit Sachj 9–11 (13,7–9) ab439. Inhaltlich ist es im Gesamttext Deuterosacharjas die einzige Heilsweissagung, die Israel und den Völkern gilt, und es ist der einzige Text, der Aussicht auf Weltfrieden durch Vernichtung aller Waffen eröffnet. So ist er mit Jes 2,2–4 / Mi 4,1–4 sowie mit Jes 9 und Jes 11 verwandt, hebt sich aber auch von diesen Texten ab durch die betont deszendente Königsgestalt. Die Denk­ weise dieses Abschnitts ist mit religiösen Vorstellungen hassidischer Kreise um 150 v. Chr. kompatibel, was eine Ansetzung von Sachj 9,9 f in dieser Zeit möglich macht440. Ohne diesen Text bleibt Jahwe – und nur er allein – Kriegsherr bis zur Heimführung der Gefangenen aus Ägypten und Assyrien (vgl. 9,8; 10,3b-12). Völlig überraschend – und doch wie selbstverständlich – ist in 11,10 f vom Bund „mit allen Völkern“ die Rede441, den der von Jahwe beauftragte Hüter der Schafe geschlossen habe, nun aber ob der Verantwortungslosigkeit der „Käufer“ und „Verkäufer“ aufheben werde. Der Ausdruck wie auch der Gedanke ist im AT analogielos und von daher auch schwer erklärbar. Selbst Jes 42,6 und 49,8 gehen nicht so weit, dass der Bund auf alle Völker ausgedehnt wäre, auch wenn Israel ein Licht für die Völker sein sollte und dadurch das Heil bis an die Enden der Erde reichen werde. Sollte hier eine Umkehrung des Gedankens von Gen 12,3 vorliegen? Dann käme nicht nur der Segen über Israel allen Völkern zugute, son­ dern der Fluch über Israel hätte ebensolche weltweiten Auswirkungen. Das alles wie auch die ominöse Gestalt des Hüters ist singulär. Am Ende ist der Bund mit dem geläuterten Rest Israels die bleibende Konstante (13,9). Dennoch bleibt die Wendung vom „Völkerbund“, den der Beauftragte angeblich geschlossen hatte, bemerkenswert. Sie mag sich aus Jes 11,10; 42,6 und 49,8 speisen und passt in die Gedankenwelt von Sachj 9,10.442

439 Zur redaktionellen Einheit Kapp. 9–11 vgl. die gleichlautenden Neueinsätze in 9,1 und 12,1. 13,7–9 kann als Schluss von Kap. 11 angesehen werden (vgl. die Verbindung von 11,17b [„Schwert“] zu 13,7–9). 440 W. Eisenbeis, Die Wurzel Šlm im Alten Testament, Berlin 1969, S. 219. 441 Den Plural durch den Singular zu ersetzen, besteht textkritisch kein Anlass. 442 Immer wieder sind andere Deutungen versucht worden. Im Anschluss an 1.Kön 4,20 hat man die „Völker“ mit der zahlreichen Bevölkerung Israels und Judas erklären wollen (King James Version: „… my covenant which I made with all the people“ = mit der ganzen Nation). Auch Hos 2,20 wurde herangezogen, wo Gott einen Bund mit der Fauna schließt, damit Israel sicher wohnen kann. Das erinnert aber eher an den Noahbund und weist auf keinen Völkerbund (vgl. dazu R. Jamieson, A. R. Fausset, D. Brown, Commentary Critical and Explanatory on the Whole Bible, Grand Rapids, MI, 1871, z.St.) (https://www.biblestudytools.com/comm) (aufgerufen 10.3.2020).

Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs 

423

3.10.2 Sachj 9,9 f Der Text Sachj 9,9 f wirkt wie ein Stein aus einer anderen Welt. Bei einem Kontext aus Unheilsweissagungen gegen Städte und Länder, Jahwekriegen für Juda, Schelte der treulosen Hirten fragt man sich nach dem Grund für einen solchen Text an dieser Stelle. Vielleicht soll es ein Gegentext sein gegen das verantwortungslose Treiben jener Hirten (11,4–17), aber auch gegen die rücksichtslose Machtpolitik „Jawans“ (= Griechenlands) zuungunsten Judas und Ephraims (9,13). So wird er unter der Hand zu einem Gegentext gegen den Kriegsgott Jahwe (vgl. den Bogen­ spanner 9,13 mit dem Bogenzerstörer 9,10; den Kriegsross-Ausrüster 10,3 mit dem Abrüster in 9,10).

3.10.2.1 Gottesbild Zwar kommt in Sachj 9,9 f nicht Jahwe selbst, um Frieden zu bringen, sondern „dein König“, Jerusalem! Der Friedenskönig ist aber eindeutig Jahwes Gesandter und darin Empfänger und Weitergeber von dessen Gnadengaben. Das ergibt sich nicht nur aus dem Vergleich mit Mi 5,1–3, wo der messianische König „in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes“ auftreten wird, sondern auch aus Sachj 9,10, wo Jahwe selbst dem Messias den Weg bereiten wird („ich will …“). Der Friede breitet sich zunächst am Zion aus, dann bis ans Ende der Erde. Er gründet sich auf die Gerechtigkeit des Königs, die zugleich Jah­ wes Gerechtigkeit ist, auf die erfahrene Hilfe, die ihn zugleich zum Helfer macht, auf die Entäußerung aller Macht, die zugleich den Macht- und Gewaltverzicht Gottes widerspiegelt und ihn im Einklang mit Gottes Willen zum Friedenskönig über alle Welt macht. Bezeichnend ist hier im Unterschied zur bisherigen Zions­ theologie, dass die Richtung wechselt: Nicht mehr strömen die Völker zum Zion, sondern vom Zion strömt Heil aus; es ist nicht Ergebnis eines langen Weges, sondern Jahwes Gabe an die „Tochter Zion“, die „Tochter Jerusalem“ zuerst (9,9a), dann aber auch an die Völkerwelt (9,10b). Es handelt sich hier um einen nicht zu unterschätzenden, geradezu epochalen Richtungswechsel in der Theologie, der seine Auswirkungen bis ins Neue Testament hinein hat: das Evangelium „den Juden zuerst und ebenso den Heiden“ (Röm 1,16; vgl. Apg 1,8).

3.10.2.2 Ethische Aspekte? Kann man hier von einer Königsethik sprechen? Wenn man dabei an ein Sollen denkt, wird es schwierig. Denn Ethik muss umsetzbar sein. Das kann man für die bisherigen messianischen Texte auch sagen: Recht und Gerechtigkeit, Friede und Sicherheit im Land sind umsetzbar, wenn der König mit gutem Beispiel voran­ geht. Bei Sachj 9,9 f drängt sich allerdings eher der Eindruck auf, als hätten wir es

424

Gott und die Völkerwelt

hier nicht mit einem Sollen, sondern mit einem künftigen Sein des neuen Königs zu tun; denn Gerechtigkeit und Hilfsbereitschaft sind zwar zu erwartende Eigen­ schaften, nicht aber die Entäußerung von aller Macht und Herrschergewalt. Das beschreibt ein völlig neues Sein des Königs. Hinzu kommt seine Weltherrschaft des Friedens, die ohne Herrschergewalt („er wird Frieden gebieten …“) nicht vor­ stellbar, aber doch offenbar angestrebt ist (dienen statt herrschen, arm und auf einem Esel reitend). Betrachten wir von hier aus noch einmal die Eigenschaften des künftigen Kö­ nigs. Als dynamische Begriffe bezeichnen sie eine ihm verliehene, sich in seiner Sphäre weiter ausbreitende Würde. Am ehesten lässt sich das am Wort „Helfer“ zeigen. Wörtlich übersetzt müsste es „geholfen“ heißen (‫ נֹושׁע‬ ָ / nōschā’)443. Zusam­ men mit „gerecht“ (‫ צַ ִּדיק‬/ zaddīq) und „arm“ (‫ עָ נִ י‬/ ’ānī) wird vom König gesagt, er sei gerecht, geholfen und demütig. Die Kombination „geholfen“ und „arm / demütig“ ergibt einen Sinn: Er steht vor Gott mit leeren Händen und empfängt sich ganz von ihm444. Das Gleiche kann auch für „gerecht“ gelten. Es ist eine von Gott emp­ fangene Gerechtigkeit. Gleichzeitig ist diese Gerechtigkeit darauf angelegt, andere in dieselbe mit hineinzunehmen (vgl. Röm 3,26: Gott, der „selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus“; vgl. auch 2. Kor 1,3 f). So ist der König als der Gerechte zugleich der vor Gott Zurechtbringende, als der „Geholfene“ zugleich der Helfer und als der Arme zugleich der Seligmachende (vgl. Lk 6,20 par). Er ist schließlich der, der auf dem Eselsfüllen einzieht, sich aller Macht entäußernd und gerade darin von Jahwe zum Welten„herrscher“ erhöht (vgl. Phil 2,6–11). So weist die Ankündigung eines solchen messianischen „Herrschers“ weit über die Ethik hinaus auf eine mit Jahwe in völligem Einklang stehende, wesensgleiche Gestalt. Ihr bereitet Jahwe selbst den Weg („Denn …“ [v 10 a]); und auf ihr Wort hin wird Jahwe alles Kriegswerkzeug ausrotten und zerstören („Denn …“ [v 10b]). Die Ächtung des Kriegshandwerks ist Ausdruck einer eschatologischen Friedens­ hoffnung, die weit ins NT hineinreicht.

443 Die Septuaginta ändert allerdings in σώζων / sōzōn = helfend. 444 A. Kunz-Lübcke stellt bei synchronischer Lektüre die Verbindung zu Sachj 9,8 her: Jahwe selbst bezieht vor seinem „Haus“ Jerusalem Position, und so ist der König ein „Geholfener“ bzw. „Geretteter“ („Eschatologisierung von Krieg und Frieden in der späten Überlieferung der Heb­ räischen Bibel“ in: F. Schweitzer [Hg.], Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 272).

Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs 

425

3.11 Tritosacharja: Jerusalem und die Völker am Ende der Zeit. Vom Kriegsgott für Jerusalem zum gnädigen Gott für die Völker (Sachj 12–14) Auch Tritosacharja hält den Segen des Herrn für alle Völker bereit. Der kommt am Ende der Zeit, verbunden mit einem apokalyptischen Geschehen (Sachj 14,4–8), und er besteht im Königtum Jahwes über alle Lande (14,9). Wirksam wird der Segen in der Proskynese der Heiden (14,16 f), und er materialisiert sich in frucht­ barem Regen (zu erschließen aus 14,17). Dieses apokalyptisch eingefärbte End­ zeitbild malt Kap. 14. Es ist untrennbar mit Kapp. 12 und 13 (ohne 13,7–9) ver­ bunden. Daher ist es im Kontext zu betrachten.

3.11.1 Sachj 12–14 3.11.1.1 Traditionsgeschichtliche und inhaltliche Einheitlichkeit Dass Kapp. 12–14 als Einheit zu betrachten ist, macht der einleitende Vers („Dies ist die Last …“) deutlich. Inhaltlich sind diese Kapitel eschatologisch, teilweise auch apokalyptisch, profiliert. Darauf weist das gehäuft vorkommende „zu dieser Zeit“ (‫ּבּיֹום  ַההּוא‬/  ַ bajōm hahū’) (Kapp. 12 und 13: 10 mal; Kap. 14: 7 mal)445, das sehr oft verbunden ist mit dem Geschick aller Völker (bes. 12,1–6). Die Totalität des Geschehens im Bösen (Kapp. 12 ff, bes. 14,12 ff) wie im Guten (bes. 14,16 ff; vgl. auch 2,15 und 8,23), verbunden mit der Zeitangabe, macht diese zur End­ zeitbeschreibung446. Auch sind die Kapitel inhaltlich einheitlich gestrickt, so dass eine traditionsgeschichtliche Trennung der Kapp. 12 und 13 von Kap. 14 nicht in Frage kommt447. Das Muster „kosmische Dimension – universale Dimension – Jerusalem – theologische Aussage“ wiederholt sich: 12,2–13,1 und 14,3–19. Die theologische Aussage zielt in beiden Abschnitten nach dem Gericht über alle Völker auf die Wiederkehr des göttlichen Glanzes, in 13,1 durch Entsündigung des Hauses Da­ vid, in 14,9 durch Jahwekönigtum über alle Lande. Dass die Geschichte Jerusa­ lems der Verheißung „Jerusalem bleibt“ (12,6; 14,10) zuwider läuft, wird nicht verschwiegen (14,1–2), im Gegenteil: sie wird indirekt theologisiert, insofern sie 445 Sachj 12,3.4.6.8 (2×).9.11; 13,1.2.4; 14,4.6.8.9.13.20.21. 446 Davon sind Sachj 3,10 und 9,16 als Verheißungen für eine erreichbare Zukunft auszu­ nehmen. 447 Vertreter einer traditionsgeschichtlichen Trennung machen geltend, dass 12,1–13,6 Got­ tesrede, 14,1–21 Prophetenrede sei (K. Elliger, Die zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 168; A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 310). Aber so strikt lässt sich das nicht durchhalten (vgl. 12,7–8; 14,2). In Kapp. 12 und 13 ist ein schleichender Übergang von der Gottesrede in die Prophetenrede zu vermuten (vgl. 12,11 ff; 13,3 ff).

426

Gott und die Völkerwelt

den Hintergrund bildet für das umso herrlichere Auftreten des in Jerusalem woh­ nenden Weltenkönigs.

3.11.1.2 Literarische Bemerkungen Außer 13,7–9, dem Ende von Kap. 11 (Dtsachj), gibt es nur unwesentliche Erwei­ terungen und Einschübe (z. B. 14,19.20 f.21fin). Außerdem wirkt nach dem Sieg des Königtums Jahwes über alle Lande und damit auch über alle vermeintlichen Gottheiten (vgl. die Einzigkeit Jahwes 14,9), schließlich nach der Erhöhung Jeru­ salems die Rede von Plagen gegen alle Völker (14,12–15) und vom Gottesschre­ cken (14,13) deplatziert. 14,16 schlösse gut an 14,11 an. Ein besonderes Problem ist die Juda-Jerusalem-Rivalität. Diese nimmt an zwei Stellen die Schärfe endzeitlichen Kampfes an: 14,14 und 12,2b. Auch Juda wird am Ende gegen Jerusalem kämpfen. Wie der Kampf ausgeht, kann man aufgrund des Kontexts ahnen (14,14). Und auch Juda wird vom „Taumelbecher“ getroffen werden und so mit den „Völkern“ das gleiche Schicksal erleiden (12,2b)448. Aber das sei ferne! Darum wird der Herr über das Haus Juda seine Augen offen halten (12,4b). Eine derart tödliche Rivalität zwischen Stadt und Land lässt sich nur er­ klären aus dem Aufstand der Makkabäer gegen die Besatzungsfürsten in Juda (vgl. 1.Makk 2,31–38; 3,1–9). Letztere müssen am Ende die Stärke des Herrn Zebaoth, des Gottes derer in Jerusalem, anerkennen (12,5)449. Es folgt eine projudäische Stimme, die der Errettung Judas die Präferenz gibt gegen die Selbstherrlichkeit Je­ rusalems (12,7). Jerusalem lässt das nicht unkommentiert, hebt Gottes Schutz für die Stadt hervor (12,8a), außerdem die Hebung des sozialen Niveaus (12,8b)450, die in einer verbalen Vergottung des Hauses David endet (12,8c) (ägyptischer Einfluss?). Ein letzter Kommentator muss das natürlich abmildern: Es reicht, den kommenden David mit einem Engel des Herrn zu vergleichen (12,8d). Kurz: Hier liegt eine rivalisierende Fortschreibung bis zur Überschreitung einer roten Linie vor451.

448 So auch K. Elliger, Die zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 166. Anders A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 305. 449 Meine wörtliche Übersetzung: „Und die Fürsten Judas werden sagen in ihrem Herzen: Stärke (‫ ֵ א ְמצָ ה‬/ amzāh [Hapaxlegomenon] sind mir die Bewohner Jerusalems in dem Herrn Ze­ baoth, ihrem (!) Gott.“ Der Text ist unklar. Ich interpretiere das Substantiv „Stärke“ in kompa­ rativischem Sinn: „Stärker …“. Einen Bekehrungssinn lege ich dem Satz nicht bei. 450 „Straucheln“ (‫ ּכָ ֵשׁל‬/ kāschal) setze ich gleich mit „schwach sein“ (vgl. Lutherbibel 2017 mit 1984). 451 Von einer solchen Rivalität ist bei Protosacharja (1,17) noch nicht die Rede.

Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs 

427

3.11.1.3 Das Gottesbild in Sachj 12,1–13,6 Der Gott des Kosmos (12,1) ist ein Gott aller Völker und zugleich der Gott seines Volkes. Allerdings ist seine Haltung zu den Völkern diametral entgegengesetzt zu der gegenüber Juda und Jerusalem. Da sich „alle Völker auf Erden gegen Jeru­ salem versammeln werden“ (12,3), werden sie sich an Jerusalem „wund reißen“ und vom Feuer Judas verzehrt werden (12,6). Jahwe steht hinter seinem Volk, er steht hinter dem Kriegsgeschehen, ohne direkt einzugreifen, er ist der Kriegsgott im Hintergrund, der darauf „bedacht ist“ (!) (12,9), alle Heiden auszulöschen, die gegen Jerusalem gezogen sind. Seine Regie liegt in der Kraft seiner Gedanken! So wird man letztlich auch vermuten dürfen, dass der Ansturm der Völker auf Je­ rusalem keiner Eigengesetzlichkeit folgt und kein Zufall ist, sondern vom Herrn gewollt, um sie zu vernichten. Das alles geschieht zur Rettung Judas, zum Schutze Jerusalems. Hier ist ins Allgemeine und damit ins Endgültige erhoben, was bei den Fremdvölkern für bestimmte Völker galt: Deren Unheil ist Israels Heil. Weil der im Hintergrund Regie führende Kriegsgott Partei ergreift für sein Volk. Diese Gnade ist keine billige Gnade. Sie ist gebunden an das Gebet, hier speziell an die Klage über die Befleckung und Verunreinigung des Landes durch fremde Truppen, aber auch durch Götzendienst (vgl. 13,2). In der Klage wächst die Ein­ sicht, durch die Verödung und Entvölkerung des Landes (vgl. 1.Makk 3,42–54) Jahwe selbst perforiert zu haben (12,10b-14)452. Ist die Schuld beklagt, kann ein Neues beginnen mit dem Haus Davids und den Bürgern Jerusalems. Die Sünde wird abgewaschen (13,1). Zu jener Zeit wird wahr werden, was schon in Jer 31,31–34 prophezeit ist. Äußeres Zeichen dafür ist, dass Jerusalem „hoch auf­ ragen“ wird (14,10; vgl. auch Jes 2,2 / Mi 4,1)453. Ein neuer David ist hier allerdings nicht in Sicht – er muss in der Makkabäer- bzw. Hasmonäerzeit Sehnsucht bleiben. Indessen wird Jahwe sein Königtum selbst ausüben (14,9.16). Bemerkenswert ist allerdings, dass die Entsündigung hier dem Königshaus und den Bürgern Jerusalems gilt, während sie sich in Sachj 3,1–10 auf den Hohenpriester Jeschua bezieht, aber nicht unbedingt auf den „Spross“, wenngleich sie sich über Jeschua auf das ganze Land erstreckt. Im Gesamtzusammenhang des Sacharja-Buches ist so das Gleichgewicht zwischen Hohempriester und König hergestellt, was aber eher Zufall als bewusste Redaktion zu sein scheint.

452 Die Verheißungs- und Klageansage in 12,9–14 entspricht auffallend der „historischen“ Situation in 1.Makk 3,42–54 (vgl. auch das Gebet um Gnade als Voraussetzung für Jahwes Hilfe [12,10/1.Makk 3,44]). 453 Hier ist eine von vielen Brücken von Kapp. 12/13 zu Kap. 14 geschlagen (12,6b ↔ 14,10b).

428

Gott und die Völkerwelt

3.11.2 Sachj 14,1–21 3.11.2.1 Gottesbild Der in diesen Versen gespannte Bogen zeigt ein Gottesbild, das die Gewalt in sich trägt und sie zugleich in sich überwindet. Der Völkersturm auf den Zion und das Leiden Jerusalems scheinen gottgewollt (Es kommt „für den Herrn“ die Zeit [14,1: ‫ לַ יְ הוָ ה‬/ lajahwe]); aber nicht um Jerusalem zu strafen, sondern um die he­ rantobenden Völker an Ort und Stelle in der Heiligen Schlacht („am Tage der Schlacht“ [14,3]) zu schlagen. Im Unterschied zu 12,6 tritt Jahwe hier aktiv als Kriegsgott auf und ergreift Partei für sein Volk. Dieses Motiv gerät jetzt in das Licht der apokalyptischen Theophanie (Spaltung des Ölbergs) und des paradiesi­ schen Glanzes (nur noch Wärme und Licht454) (vgl. Jos 10,12b–14). Das neue para­ diesische Jerusalem (vgl. Gen 2,10–14) wird Thronsitz Jahwes als einzigen Königs aller Lande. Der Text hat einen ersten Gipfel in der Einzigkeit und Einzigartig­ keit Jahwes und seines Namens. Diese begründen auch den ewigen Frieden über Jerusalem (14,11b). Der Text strebt, möglicherweise gewollt vor einer Negativfolie (14,12–15), auf einen zweiten Gipfelpunkt zu, der jährlichen Huldigung der übrig gebliebenen Heiden vor dem Herrn aller Lande. Jahwe bekommt ein anderes Ge­ sicht. Als unumstrittener Weltenkönig wird er die Huldigung der Heiden positiv aufnehmen und auch sie als sein Volk ansehen (vgl. Sachj 2,15; 8,22; 9,10b). Er wird ihnen Regen schenken, d. h. gnädig sein. Das ist für den Weltenkönig kein Muss, sondern an die Huldigung gebunden, Gnade also keine billige Gnade. So wird in Sachj 14 in einzigartiger Weise nachgezeichnet, wie sich Jahwe vom Kriegsgott zugunsten Jerusalems zum gnädigen Gott für alle Völker wandelt. Sachj 14,16 steht in der Tradition von Sachj 2,15; 8,22 und 9,10b und erdet die bisherigen Verheißungen im Blick auf Zeit (jährlich) und Ort (Laubhüttenfest). Hinsichtlich der gesamten tritosacharjanischen Schrift ist festzustellen: Aus dem Gott „für die Völker“, der eigentlich ein Gott „gegen die Völker“ ist (12,2), ist der Gott „für alle Völker“ im wahrhaft positiven Sinn geworden, was freilich nicht ohne uni­ versale (Kampf gegen Jerusalem, um dort alle Völker zu schlagen) und kosmische (Ölberg­spaltung) Verwerfungen vonstatten gegangen sein wird.

454 14,6: Die Textlesart gibt weder in sich noch im Zusammenhang mit 14,7fin Sinn: „… und nicht wird sein Licht, Prächtiges, Eis“. Ich ziehe den Vorschlag des Apparates vor (u. a. LXX): „… und nicht wird sein Kälte und Erfrorenes und Eis“. So auch Luther 1984. Anders Luther 2017 nach A. Deissler, z.St.

Deuterosacharja und das Kommen des Heilskönigs 

429

3.11.2.2 Ethische Implikationen Die Völker haben einst Zugang zum Herrn und König über alle Lande, wenn sie das Laubhüttenfest mitfeiern. Nicht mehr der Sabbat (vgl. Jes 56,4.6; s. o. unter AT 3.5.1.2) wird als entscheidendes Integrationskriterium genannt, sondern das Laubhüttenfest (vgl. Dtn 16,11–14). Das mag den Zugang der Heiden zur Kult­ gemeinschaft des Gottesvolkes erleichtern. Denn ein „Erntedankfest“ ist Außen­ stehenden plausibler als Sabbatriten. Wenn diese Interpretation richtig ist, ist in 14,16 nicht nur eine Zukunftsvision eröffnet, sondern in ihr zugleich ein erster Schritt in Richtung auf politische Umsetzung getan. Exkurs: Sacharja – Datierungsfragen Das Buch Sacharja ist aus drei Teilschriften zusammengesetzt, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Die Entstehung dieser Schriften ist ein Prozess, an dessen vor­ läufigem Ende die jeweilige Grundschrift steht. Diese wird hier zu datieren versucht. Da­ von sind redaktionelle Rahmungen und Verbindungen, Fortschreibungen, messianische bzw. eschatologische Heilsverheißungen für Jerusalem und die Völker ausgenommen. Dazu siehe jeweils dort. Protosacharja macht eindeutige Zeitangaben. Die Prophetie beginnt im zweiten Jahr des Königs Darius, also 520 v. Chr. (Sachj 1,1.7). Der Tempel ist noch nicht wieder auf­ gebaut (4,8; 6,15), Serubbabel im Amt, Jeschua designiert. Vom Bau der Stadtmauer ist man weit entfernt (2,8). Die Entstehung von Protosacharja ist in der Zeit nach 520, aber noch vor 515 (Tempelweihe) anzusetzen. Deuterosacharja bewegt sich mit seinen zeitgeschichtlichen Anknüpfungen ca. 200 Jahre später. Hier fallen Städte und Regionen dem „Herrn“ anheim, der als Bedrän­ ger und Feind Israels anzusehen ist (9,4) – mit Ausnahme Jerusalems (9,8) –, und zwar ungefähr der Marschrichtung Alexanders des Großen folgend (333/32)455. Die Ein­ nahme Jerusalems erfolgte erst unter Ptolemäus I. (312), was die Exilierung nach Ägyp­ ten auslöste und damit einen aggressiven Ton gegenüber „Jawan“ (9,13 ff). Die Rückkehr aus Ägypten (und noch mancher Siedler aus Assyrien) bleibt Hoffnung (10,8–12). Eine Abfassung von Deuterosacharja um 300 erscheint möglich456. Für Tritosacharja – sofern man es nicht mit Deuterosacharja zusammenlegt – wird eine Datierung für kaum möglich gehalten, weil das eschatologisch-apokalyptische Gemälde keinerlei historische Anknüpfungspunkte biete457. Dem ist aber m. E. nicht so. Ich datiere Tritosacharja in die Zeit des Makkabäeraufstands bzw. in die Zeit bald danach, also in die Zeit zwischen 170 und 140 v. Chr.458 Hauptbeleg dafür scheint mir die Klage über den Durchbohrten zu sein (12,9–14), dann aber auch der Völkersturm auf Jerusalem (14,1–2), der an die Zerstörung und Plünderung Jerusalems durch Apol­ lonius 168 v. Chr. denken lässt, und die prophetenkritische Passage 13,1–6. Deutet man 455 A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 296; anders A. Kunz, Ablehnung des Krieges, a. a. O., S. 195 ff; 199 ff. 456 A. Deissler, Zwölfpropheten III, a. a. O., S. 310. 457 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, a. a. O., S. 144 und 167. 458 A. Deissler will das nur für die eingeschobenen Judatexte gelten lassen (Zwölfprophe­ ten  III, a. a. O., S. 307).

430

Gott und die Völkerwelt

schließlich die antiprophetische Tendenz in 13,2–6 als Ende des berufenen Prophe­ tentums und Beginn einer Art Kanonisierung, bei der nicht Auditionen und Visionen zählen, sondern Schriftgemäßheit religiöser Aussagen459, läge man auch hier – nach 200 v. Chr.460 – richtig.

3.12 Heil statt Gericht für gottesfürchtige Heiden (Jona 1–2,1.11; 3–4) Die Jonanovelle ist in ihrer epischen Breite eine narratio des Ps 107,23–32, ver­ bunden mit dem Auftrag einer Unheilspredigt über Ninive „fünf vor zwölf “, der zur Infragestellung des Prophetenschicksals vor sich selbst und vor Gott führt461. In beidem, der Verkündigung des drohenden Zuspät und dem Leiden am eigenen Prophetendasein, ähnelt die Jonanovelle dem Jeremia-Buch462.

3.12.1 Literarkritik Literarisch bereitet das Jona-Buch wenig Probleme. In die Prosaerzählung ist der Jonapsalm 2,3–10 eingelassen. Er ist ein Produkt geschickter Handwerkskunst, zusammengesetzt aus bekannten Psalmzitaten und -motiven463, und dient im Endtext der Verlangsamung der Erzählung angesichts der drei Tage und drei Nächte Jonas im Bauch des Fisches. Ebenso können 4,5 und 4,8a.b als retardie­ rende Momente gelesen werden464. Somit ist das Jona-Buch eine in sich geschlossene Erzählung465. Als solche ist sie mehrdimensional. F. W. Golka hat in seiner Jona-Monographie die Themen­ 459 K. Elliger, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten II, S. 172. 460 O. Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, a. a. O., S. 300. 461 Zur Strukturgleichheit von Ps 107,23–32 und Jona 1 vgl. die Synopse bei G. Scholz, Di­ daktik neutestamentlicher Wundergeschichten, a. a. O., S. 75. 462 A. Deissler, Zwölfpropheten II. Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Würzburg 1984, S. 150. Dazu gehört auch die Zurückhaltung Jahwes hinsichtlich seines Zorns gegen die Feinde, Grund zur Klage sowohl für Jeremia wie auch für Jona. 463 G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten, a. a. O., S. 73. Auflistung aller Anklänge bei A. Deissler, Zwölfpropheten II, a. a. O., S. 159. 464 Zu 4,5: Nicht die Hütte, sondern der Rizinus ist der fragliche Schattenspender. Zu 4,8a.b: Der zusätzliche Ostwind mit der stechenden Sonne steigert die Spannung hinsichtlich der zu erwartenden Reaktion Jonas auf die bereits vertrocknete Rizinusstaude (F. W. Golka, Jona, Stuttgart 1991, S. 94). Auch H. W. Wolff sieht hier ein retardierendes Moment (Dodekapropheton 3. Obadja und Jona [BK XIV/3], Neukirchen-Vluyn 1977, S. 145). 465 Dass die angeblichen Spannungen innerhalb von 1,5b-16 „Ergebnis eines mehrphasigen Neuleseprozesses“ seien (P. Weimar, Jona, Freiburg 2017, S. 181 f), überzeugt nicht. – Ebenso verfängt der gelegentliche Versuch nicht, die Kapp. 3 und 4 traditionsgeschichtlich von Kap. 1

Heil statt Gericht für gottesfürchtige Heiden 

431

vielfalt aufgezeigt: z. B. Gottesfurcht der Heiden als Vorbild für Israel, Gottes Fürsorge für alle seine Geschöpfe, Sinn der Unheilsprophetie; ins Zentrum aber hat er „Gottes Vorrecht der Reue“ gerückt.466 Schon allein in dieser thematischen Zuspitzung spricht sich der in dieser Arbeit vertretene Gedanke aus, dass in Gott selbst Vernichtungsabsicht (Gericht) und Erhaltungswille (Gnade) ineinander lie­ gen und in einem innergöttlichen Geschehen die Vernichtungsabsicht vom Er­ haltungswillen überboten wird, ja hier die Vernichtungsabsicht letztlich sogar im Dienst des Erhaltungswillens steht.

3.12.2 Das Gottesbild Beleuchtet man das in der Jonaerzählung sichtbar werdende Gottesbild, gerade auch unter dem Aspekt der Gewalt-Tätigkeit und der Gnade, näher, heben sich leicht drei Themenkreise heraus: 1. Gott ist der Herr der Natur. 2. Gott ist der Herr der Geschichte. 3. Gott ist der Herr seiner selbst. Dass Gott der Herr der Natur ist, ist in Israel unumstrittener Glaubenssatz (z. B. Ps 104,4.9; Ps 77,17; Ps 107,23–30), noch tiefer in der Überlieferung verwurzelt die Erfahrung Gottes als Herr der Geschichte – primär Israels (Dtn 26,5–9), aber auch der Völker (z. B. Ps 2; 7,9; – Ps 65,8 verbindet Herrschaft über Natur und Geschichte miteinander). Neu im Jona-Buch ist die Thematisierung der SelbstBeherrschung Gottes. Sie ist nahezu identisch mit der konstruktiven Reue, wie sie auch in Ex 32,9–14 aufscheint und wie sie sich in Jonas Missmutsäußerung 4,2 spiegelt. In sie spielen aber auch noch das Mitleid und das Umdenken Jahwes hinein. Insofern geht sie über die konstruktive Reue hinaus. Der neue Gedanke der Selbst-Beherrschung Gottes macht sich im Jona-Buch überall geltend, auch da, wo Gott als Herr der Natur bzw. der Geschichte erscheint. In Kap. 1 steht die Herrschaft Gottes über die Natur im Vordergrund (vgl. 1,9). Gott bedient sich der entfesselten Naturgewalten von Sturm und Wasser, um seinem Willen Geltung zu verschaffen (1,4). Dabei erscheint das Unwetter auf dem Meer als Strafe Gottes für Jonas Fluchtversuch. Gottes Verderben bringen­ des Handeln – in Ps 107,23–32 reine Willkür – erhält so eine Rechtfertigung. In zu lösen; denn der in 1,1 erteilte Auftrag, gegen Ninive zu predigen, ist in 2,11 noch nicht erfüllt. Auch eine spätere Vorschaltung von Kap. 1+2,1.11 vor Kapp. 3 und 4 ist nicht zwingend anzu­ nehmen; denn Kap. 1 passt hervorragend zu Jonas Widerwillen gegen alle Ansprüche, die Jahwe an ihn stellt. Vgl. außerdem die Verflechtungen 1,1 mit 3,1 und 1,6 mit 3,9. 466 F. W. Golka, a. a. O., S. 17; ähnlich Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, a. a. O., S. 98; P. Weimar, Jona, a. a. O., S. 354 f.

432

Gott und die Völkerwelt

der Entwicklung vom sehr alten Psalm 107467 zum spätnach-exilischen JonaKapitel 1468 hat sich eine Theodizee herausgebildet. Heidnische Seeleute können sie natürlich nicht als solche erfassen; darum können sie nur Jahwes Willkür sehen und akzeptieren (1,14: „… denn du, Herr, tust, wie dir’s gefällt“)469. Die Theodizee hat hier den Tat-Folge-Zusammenhang zur Voraussetzung. Allerdings ist hier eine Entdogmatisierung und Aktualisierung zu beobachten: Der vor Jahwe fliehende Berufene muss aus dem Munde der heidnischen Seeleute erfahren, dass es „viel­ leicht“ ein „Gedenken“ der „Gottheit“ (‫ֹלהים‬ ִ ‫ ָ ה ֱא‬/ hā-ᵆlohīm) an sie gibt. Der Ge­ danke der Selbst-Beherrschung klingt in dem „Gedenken“ an. Gott könnte „viel­ leicht“ den Tat-Folge-Zusammenhang unterbrechen. Aber noch bedarf es über das Gebet hinaus (1,14) in den Augen der heidnischen Seeleute des Opfers (1,15). Gott nimmt das Opfer an, „gedenkt“ jener Seeleute, erweist sich so auch schon hier als ihr Gott und lässt sie nicht verderben (1,15). Das bestrafte Opfer freilich errettet er durch seine Herrschaft über die Kreatur470 aus dem Todes­rachen; denn es ist sein auserwähltes Werkzeug (2,11). Der gedenkende Gott kehrt die Macht des Verderbens um mittels eines Wunders. Zum Dass der Gefährdung und dem Dass der Errettung (Ps 107) tritt in der Epik das Wie der Umkehrung. Kap. 3 zeigt Gott als Herrn der Geschichte. Bewusst scheint diese Dimension neben die der Natur gestellt worden zu sein; denn es gibt eine deutliche Parallele in der Anerkenntnis des Herrseins Gottes durch den König der Niniviten hier und durch die Seeleute dort. Dies wird in 3,9 fast wortgleich wie in 1,6 bekannt: 1,6: „Vielleicht wird die Gottheit an uns gedenken, dass wir nicht untergehen.

3,9: Vielleicht kehrt die Gottheit um und es reut sie…, dass wir nicht untergehen.

Die Möglichkeit der Selbst-Beherrschung wird beide Male („gedenken“ [‫ עָ ַשׁת‬/ ​ ’āschat], „gereuen“ [‫ נִ ַחם‬/ nicham]) ins Auge gefasst. Wohlgemerkt: die Möglich­ keit! Das „Vielleicht“ (‫ אּולַ י‬/ ulai [1,6] und ַ‫י־יֹודע‬ ֵ ‫ ִ מ‬/ mi jodeᵃ [3,9]) schließt beides ein: dass aus der Möglichkeit die heilvolle oder die unheilvolle Wirklichkeit wird (vgl. Jer 21,2). Schließlich aber wird auf der Ebene der Erzählung von den Heiden, auf der Ebene der Sachaussage für die Heiden vorausgesetzt, dass Gott „gnädig, barm­ 467 H.-J. Kraus, Psalmen II, Neukirchen-Vluyn, 31966, S. 737. 468 H. W. Wolff, Dodekapropheton 3. Obadja und Jona, Neukirchen-Vluyn 21991 (BK XIV/3), S. 87. 469 P. Weimar nennt das ein „Bekenntnis zu Gottes Freiheit und Souveränität“ (Jona, a. a. O., S. 181). Die Grenze zwischen absoluter Freiheit und Willkür ist fließend. Bezogen auf Gott ist beiden gemeinsam, dass sie sich menschlichen Gesetzen und Maßstäben entziehen. Dabei ist Freiheit eher positiv, Willkür negativ konnotiert. Hier scheint sich dem Geschehen eher eine negative Konnotation nahezulegen. Positiv dagegen Ps 115,3; daher dort eher Freiheit. 470 Die Jonanovelle drückt diese Herrschaft gern mit „er bestellte“/„ließ kommen“ aus (2,1; 4,7(f): ‫ וַ יְ ַמן‬/ wajᵊman). Den Sturm in 1,4 allerdings „schleuderte“ er aufs Meer entsprechend seiner Vernichtungsgewalt (‫ ֵ ה ִטיל‬/ hētīl).

Heil statt Gericht für gottesfürchtige Heiden 

433

herzig, langmütig und von großer Güte“ (4,2) ist – das Urbekenntnis Israels471. Also ist Gott auch ihr Herr, zu ihrem Heil. Im „Glauben“ der Niniviten (3,5) ist der Gott Israels auch bei ihnen angekommen. Er hat sich von seinem Zorn ab- und ihnen zugewandt (‫ יָ שׁוּב‬/ jāschūv) (3,9). Das Ende des 3. Kapitels (3,10) zeigt das Herrsein Gottes über sich selbst. Er fällt sich selbst in den Arm (‫ וְ ל ֺא ָע ָשׂה‬/ wᵊlō’ ’āsāh = und er tat’s nicht), bevor er das unheilvolle Strafgericht ausführt. Gottes Umdenken hat hier eine andere Qualität als bei der Sintflut: Dort geschah es nach der Flut (Gen 8,21 f) – der Schuld-StrafeZusammenhang ist gewahrt; hier geschieht es vor der Tat – der Schuld-Strafe-Zu­ sammenhang ist unterbrochen! Das 4. Kapitel liest sich als Selbstrechtfertigung Gottes für seine Beherrschung. Die Frage an Jona: „Meinst du, dass du mit Recht zürnst?“ (4,4) ist eine Infragestellung des Prinzips, dass Gnade, Barmherzigkeit, Langmut und Güte (4,3) nur Israel gelte. Die Frage soll Jona – und damit auch den Leser – über das allzu eng auf Israel begrenzte Denken hinausführen und Gottes Wesen auch für die Völkerwelt gelten lassen. Das Jona-Buch schließt offen. Warum? Weil Jona nicht mehr antworten kann und mag? Weil er sich geschlagen gibt? Das mag auf der Ebene der Erzählung so sein. Offene Schlussszenen beziehen aber immer auch den Leser mit ein. Seine Stellungnahme ist gefragt472. Am Ende des Jona-Buchs steht die Frage: Bleibst du, der du die Geschichte hörst bzw. liest, wie Jona (4,2) bei der Maxime: „Gnade für Israel, aber keine Gnade für die Völker“, oder lässt du dich weiterführen über den Tellerrand Israels hinaus zu der Erkenntnis der unergründlichen Selbstbeherr­ schung Gottes auch gegenüber den Völkern? Israel hat sich weiterführen lassen (vgl. Jes 19,23–25). Die Theologie der Gnade für alle Völker weist in die Zeit des Neuen Testaments473, und die Erkenntnis, dass Gott schon öfter den Zusammen­ hang von Tat und Unheilsfolge zu Israels Gunsten durchbrochen hat, schlägt sich in Ex 32,9–14, einem späteren Nachtrag, nieder. Der im Jona-Buch enthaltene Gedanke der Selbstbeherrschung Gottes impli­ ziert wiederum ein virtuelles Gleichgewicht von Gericht und Gnade in Gott, wel­ ches letztendlich zugunsten der Gnade kippt474. Die in der Novelle entwickelte Theologie wird im Jonapsalm als authentisches Glaubenserlebnis bestätigt (vgl. das zur Hiobdichtung Gesagte unter AT 1.10.1). Das Jona-Buch gehört mit seinem universalistischen Heilsgedanken, der Öff­ nung der aus vorexilischer Zeit475 stammenden Gnadenformel Ex 34,6 für die Völker, deutlich in die nach-exilische Zeit. Dabei darf man nicht verkennen, dass 471 Zu den vorexilischen Grundlagen, deuteronomistischen Verdrängungsversuchen und zur wiedererlangten nachexilischen Bedeutung von Ex 34,6 f vgl. H. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“ in: Ders., Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2004, S. 3 ff. 472 Vgl. Mk 16,1–8; Mk 10,17–22 parr; Lk 15,11–32; Mt 20,1–16. 473 So auch A. Deissler, Zwölfpropheten II, a. a. O., S. 152. 474 Vgl. auch ders., a. a. O., S. 164. 475 H. Spieckermann, „‚Barmherzig und gnädig ist der Herr …‘“, a. a. O., S. 4 f.

434

Gott und die Völkerwelt

die nachexilische Zeit nicht eo ipso die Weltoffenheit Israels und damit den Ge­ danken, dass das Heil auch den Völkern gehöre, begünstigte. Auch zwischen 538 und ca. 300 v. Chr., dem terminus ad quem des Jona-Buches476, war Israel von fremden Mächten beherrscht. Sollte „Ninive“ eine Chiffre für sie sein und Jona Israel verkörpern, so stellt die Erzählung die Frage: „Ist Israel bereit, von dem Mitleid …, das es sich selber in der tiefsten Trauer über die abgestorbene Rizinus­ staude entgegenbringt, zum Mitleid Gottes mit der Weltstadt voranzuschreiten, deren Einwohner Gott auch ‚großgezogen‘ hat?“477 Zumindest konnte unter der relativ liberalen Perserherrschaft diese Frage gestellt werden.

3.12.3 Ethnologisch-ethische Implikationen Gerade der offene Schluss des Jona-Buches öffnet es hin zu einem neuen Verhalten Israels als Ganzem, damit aber auch der Herrschenden, des Volkes und des Einzel­ nen478, gegenüber den Völkern. Das neue Verhalten stellt sich sicher nicht sofort ein, sondern es wird vorbereitet durch eine neue Sicht der Völker. Das Jona-Buch regt an, sie mit den Augen Gottes zu sehen. So gesehen sind die übrigen Völker – von der grundsätzlichen Erwählung Is­ raels abgesehen479 – nicht besser und nicht schlechter als Israel selbst. Sie haben teil an der allgemeinen „Bosheit“ der Menschheit, wie auch Israel selbst darin eingeschlossen ist (Ex 32,9). Daran – das weiß jeder Israelit aus der eigenen Ge­ schichte – ändert auch ihre einstweilige Bekehrung (3,5–10) nichts. Wenn Gott aber seine Sicht ändert, wenn er die Bekehrung gelten lässt und umdenkt (3,9 f)480, wenn er sein Umdenken nicht allein mit der Bekehrung, sondern auch noch mit seinem Mitempfinden mit einer orientierungslosen Masse begründet (4,10 f; vgl. später Jesus bei der Speisung der Fünftausend Mk 6,34)481, dann wird es auch Zeit für Jona / Israel482 umzudenken. Dann wird es Zeit, das Bekenntnis Is­ raels von der Gnade, Barmherzigkeit, Langmut und Güte Gottes (4,2) auch auf 476 Vgl. die Erwähnung der „zwölf Propheten“ in Sir 49,12. R. Weimar geht ins 3. Jh. v. Chr. zurück (Jona, a. a. O., S. 65). 477 Jörg Jeremias, Reue, a. a. O., S. 105. 478 Jona ist als Gestalt mehrdimensional. Er vertritt eine Richtung der Prophetie, die das Gericht nicht als unumstößliche Tatsache, sondern als Warnung ankündigt. Er steht außerdem für Israel. Und es geschieht auch eine Identifikation zwischen ihm und dem Leser, um diesen theologisch und ethisch mit auf den Weg zu nehmen. 479 An Jona (Jörg Jeremias: „Jona-Israel“) ergeht das Wort des Herrn (1,1; 3,1), und Erwäh­ lung schließt Leiden nicht aus (vgl. die Gottesknechtslieder) (4,3). 480 So auch P. Weimar, Jona, a. a. O., S. 347 ff; S. 389. 481 „Mitempfinden“ geht über konstruktive Reue hinaus und weist auf die allem wechsel­ seitigen Verhalten vorausliegende Motivation Jahwes (P. Weimar, Jona, a. a. O., S. 443). 482 Durch die Gestalt Jonas wird Israel „ein Spiegel vorgehalten“: Aufsagen des Credo al­ lein (1,9) reicht noch nicht zum Israeliten, sondern Inklusion bekehrter Heiden gehört dazu (A. Deissler, Zwölfpropheten II, a. a. O., S. 157).

Joel – Vorläufer Jonas oder Rückfall in finstere Zeiten?

435

die Völker zu beziehen und es in der eigenen Sicht auf die Völker umzusetzen. In der Sicht zunächst und dann auch im Handeln.483 Die zweimalige Frage Gottes an Jona, ob er denn glaube, mit Recht zu zürnen (4,4.9), öffnet die Theologie (und die Völkeranthropologie) der kleinen Schrift auf die Ethik hin. Denn es geht darum, ob Israel auch den anderen Völkern die liebende und schützende Zuwendung Gottes zuerkennen und gönnen will oder nicht.484 Dass Israel diese Aufgabe und Verantwortung hat, ist schon bei Deuterojesaja gesagt (Jes 49,6 f); und so ist auch hier „die Erwählung Israels zum Botendienst in der Völkerwelt“ zunächst leise anklingendes, aber immer stärker werdendes Thema485.

3.13 Joel – Vorläufer Jonas oder Rückfall in finstere Zeiten? Die Frage nach dem Gottesbild unter besonderer Berücksichtigung der Gewalt im Joel-Buch ist verbunden mit der Gliederung, und diese wiederum ist gekenn­ zeichnet durch markante Zitate (Joel 2,13 vgl. Jona 4,2 bzw. Ex 34,6; Joel 3,1 vgl. Jes 44,3b bzw. Num 11,29 und Hes 39,29). Entsprechend sind auch die ethischen Implikationen in Zitaten konzentriert (Joel 2,12 f vgl. Jer 18,8; 26,3.13; Joel 2,21 vgl. Ps 126,2 f; Joel 4,10 vgl. Jes 2,4 / Mi 4,2). Die Zitate werfen die Frage nach der relativen Chronologie auf: Interpretiert bzw. verändert Joel durch sie Vorgege­ benes oder ist er eine Vorstufe von Jona 4,2; Jes 2,4 / Mi 4,3; Jes 44,3b? Das wird besonders im Blick auf die Gnadenformel und ihren Kontext bei Joel und Jona (Joel 2,13 und Jona 4,2) diskutiert. – Zuvor aber ein Blick auf die Literargeschichte.

3.13.1 Literarisches Eine literargeschichtliche Zweiteilung (Kapp. 1 und 2 hauptsächlich zeitgeschicht­ lich, Kapp. 3 und 4 eschatologisch orientiert) ist nicht überzeugend; denn der für Israel angedrohte Tag des Herrn (2,1) ist ebenso eschatologisch-apokalyptisch ausgemalt (bes. 2,10 f) wie der Tag des Herrn für die Heiden (4,14 f). Das Gericht über die Heiden am Tag des Herrn ist – wie auch sonst – Heilserweis des auf dem Zion wohnenden Herrn für sein Volk (4,16 f) und darin Fortsetzung des direkten Heilserweises 2,18–3,2. Das Buch Joel ist als literarische Einheit zu lesen486. 483 Das Buch Ruth ist ebenfalls ein Zeugnis für das allmähliche Öffnen nationaler Schranken bei gleichzeitigem Identitätsbewusstsein, möglicherweise im Widerspruch zum „Reinheitsge­ bot“ Nehemias (Neh 13,23–30; vgl. Dtn 23,4). Zur nachexilischen Ansetzung des Buches Ruth vgl. O. Kaiser, Einleitung, a. a. O., S. 154. 484 Jörg Jeremias, Reue, a. a. O., S. 105. 485 H. W. Wolff, Dodekapropheton 3, a. a. O., S. 100. 486 Das schließt nicht aus, dass Heils- und Unheilsworte eine je eigene Überlieferungsge­ schichte haben. Auf jeden Fall sind sie, wie die Gliederung zeigt, sehr planvoll hintereinander-

436

Gott und die Völkerwelt

Ausgenommen sind einige wenige Ergänzungen. Unumstritten ist 4,4–8 ein Nachtrag487. Er stellt eine spätere Historisierung des endzeitlichen allgemeinen Völkergerichts dar. Es geht hier offenbar um den Sklavenverkauf von Judäern nach Ägypten, den Tyros und Sidon im Auftrag Ptolemäus’ I. betreiben, nach­ dem dieser Juda und insbesondere Jerusalem besetzt hatte (4,6). Das war um 312 bzw. 302 v. Chr.488 Damit ist zugleich ein terminus ante quem der Abfassung des Joel-Buches gegeben – vorausgesetzt, 4,4–8 ist kein vaticinium ex eventu. – Ähnliches gilt für 4,18–20. Ägypten und Edom stehen symbolisch-exemplarisch für die israelfeindliche, bald wüst liegende Völkerwelt. Vor diesem Hintergrund wird das Heil Judas und Jerusalems (üppige Fruchtbarkeit, friedliches dauerhaftes Wohnen unter dem Schutz des auf dem Zion residierenden Herrn) meditiert, wie­ wohl in 4,17 schon ein triumphaler Abschluss erreicht war. Nachträglich489 wird der auf dem Zion Residierende noch zum Kriegsrichter gemacht (4,21). – 4,11b ist ein sekundärer Zwischenruf. – Das Kap. 3 in Gänze für echt zu halten, bereitet Schwierigkeiten. Es besteht aus einem Mosaik von Vorstellungen und Themen: Geistausgießung über „alles Fleisch“, näherhin über Israels Söhne und Töchter, Alt und Jung. Dann werden auch Knechte und Mägde angehängt. Plötzlich blitzt wieder der „große und schreckliche“ Gerichtstag auf. Doch es kommt Rettung in den Blick. Der Zion ist die Rettung für die, die den Namen des Herrn anrufen (vgl. Ob 17). Wer sind sie? Israeliten? Auch Heiden?490 Gerettet werden auch die „Entronnenen, die der Herr (be)rufen wird“491. Wer sind sie? Weitet sich die Heilszusage hier in Richtung auf die Heidenwelt? Das würde dem Duktus des Joel-Buches zuwider laufen. Der Verdacht wird genährt, dass ein späterer Theo­ loge den Gedanken hinzugefügt hat: Wenn der große Gerichtstag kommt, werden die gerettet werden, die den Herrn bekennen und auch solche, die vom Herrn ge-/ berufen werden (Letztere sind dem Theologen auch deshalb wichtig, um die Frei­ heit des Herrn nicht zu beschränken.). Wenn das so ist, kann nur 3,1(f) als echt gelten. Das legt sich sogar nahe. Denn 3,1(f) ist ein markantes Gliederungszitat am und nebeneinandergeschaltet. Die äußerst planvoll gestaltende Hand zeigt sich auch in der Ein­ leitung 1,1–4. Hier hat der Verfasser 2,25 herausgegriffen und aus dem Faktum ein Bild gemacht für den kontinuierlichen Niedergang des Volkes. Er bindet dies ein in eine Geschichtsdidaktik: Die Vergangenheit („Väter“) muss für die Gegenwart („eure Kinder“) fruchtbar gemacht wer­ den und für die Zukunft eine Erinnerungskultur begründen (den Kindern und Kindeskindern erzählen). 487 A. Deissler, Zwölfpropheten I. Hosea, Joel Amos, Würzburg 1981, S. 66; H. W. Wolff, Dode­kapropheton 2, Joel und Amos (BK XIV / 2), Neukirchen-Vluyn 31985, S. 7. 488 Josephus berichtet im Anschluss an die Eroberung Jerusalems von Deportationen, Ty­ ros und Sidon beteiligen sich (M. Beck, Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton. Studien im Spannungsfeld von Traditions- und Redaktionsgeschichte [BZAW 356], Berlin, New York 2005, S. 150). 489 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 55. 490 So H. W. Wolff, Dodekapropheton 2, a. a. O., S. 82. 491 3,5c („… und bei den Entronnenen …“) wirkt „wie nachgetragen“ (ders. ebd.).

Joel – Vorläufer Jonas oder Rückfall in finstere Zeiten?

437

Ende des Heils für Israel und am Beginn des Gerichts über die Heiden. Inhaltlich sagt es, dass für geisterfüllte Menschen Unterschiede in Geschlecht, Alter, sozialer Schicht keine Relevanz haben (vgl. Gal 3,28).

3.13.2 Gliederung Markante Gliederungszitate erlauben zugleich einen Zugriff auf das Gottesbild. Die Gnadenformel (2,13b) steht zwischen der Gerichtspredigt über Israel und der Heilszusage. Die Gerichtspredigt ist teils als reines Prophetenwort (Kap.1 außer 1,6 f), teils als Gotteswort gestaltet. Klar wird aber am Ende des ersten Teils, dass der Herr das in schrecklichen Bildern beschriebene Heer befehligt, das am Tag des Herrn gegen Juda und Jerusalem heraufzieht (2,11). Nach 2,13b tritt die Wende ein. Die für möglich gehaltene Reue des Herrn (2,14) wird durch einen Aufruf zu einem priesterlichen Bußgottesdienst zu befördern versucht (2,15–17), mit Erfolg: Der Herr wird den Feind aus dem Norden austrocknen und versenken (2,20)492, Gottes eigenes Land wird künftig furchtlos und in Wohlstand und Freude leben können – für immer (2,21–27). Das nächste markante Gliederungszitat ist Joel 3,1. Es führt zum Höhepunkt des Heils über Gottes Volk, der Geistausgießung. 4,1 knüpft daran an: „Siehe, in jenen Tagen und zur selben Zeit, da ich das Geschick Judas und Jerusalems wen­ den werde …“, um das Endgericht über die Völker (4,9–16a) zum endzeitlichen Heil für Jerusalem werden zu lassen. Im Übrigen endet Abschnitt 3 (4,17) fast wörtlich und sinngemäß genauso wie Abschnitt 2 (2,27) mit der Verheißung einer neuen Erfahrung: Ich, euer Gott bin mitten unter euch bzw. auf dem Zion. Dem Nicht-Mehr-Zuschanden-Werden (Abschnitt 2) entspricht positiv die Heiligung Jerusalems (Abschnitt 3). Das Ganze hat Ewigkeitswert (negativ ausgedrückt: „nicht mehr“ [‫ וְ ֵאין עׂוד‬/ wᵊēn ’ōd oder ‫ לׂא … עׂוד‬/ lō’… ’ōd], positiv gewendet: „auf ewig“ [‫ לְ עׂולָ ם‬/ lᵊ’ōlām]).

3.13.3 Gottesbild Die Gliederungszitate werfen ein Schlaglicht auf das Gottesbild. In 2,13b wird die Gnadenformel zitiert. Sie bildet das Gegengewicht gegen die Schilderung des Tages des Herrn, den dieser heraufführen wird. Der Tag des Herrn bringt über Israel „Verderben vom Allmächtigen“ (1,15). Es ist ein „finsterer Tag“ mit einem gespenstischen Heer, welches verbrannte Erde zurücklässt (2,2 ff). Das alles nicht ohne, sondern ausdrücklich mit dem Herrn als Befehlshaber, der den Kosmos zu 492 2,20fin („denn er hat Großes getan“) halte ich für eine Glossse, die aus 2,21 eingedrungen ist.

438

Gott und die Völkerwelt

seinem schrecklichen Endkampf in Dienst nehmen wird (2,10 f). Gott zeigt sein schreckliches Antlitz, aber ähnlich wie bei Jeremia offenbar lediglich aus pädago­ gischem Grund; denn „auch jetzt noch“ ist Zeit zur Bekehrung (2,12). Das und nicht die Vernichtung ist Gottes Ziel. Allein schon darin zeigt sich Gottes Gna­ denwille (1. Abschnitt). Dieser wird dann in 2,13b ausdrücklich als sein Wesen beschrieben: „Denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte“. Ist das sein Wesen und die Ankündigung seines finsteren Tages zwar für ihn eine Möglichkeit, aber nicht letzte Wirklichkeit, so ist anzunehmen, dass gerade Gnade, Barmherzigkeit, aus­ gebremster Zorn (Geduld) und große Güte sich letztendlich in Gott durchsetzen und seinen finsteren Tag hinter sich lassen werden. Nun steht die Gnadenformel 2,13b in einem engeren Kontext. Mit der vorange­ henden Aufforderung zur Bekehrung (2,12.13a) ist sie durch „Denn“ verbunden. Das bedeutet: Gottes Wesen ist die Grundlage für die Möglichkeit der Umkehr. Die Jona-Erzählung erweckt eher den umgekehrten Eindruck: Die Sinnesände­ rung der Niniviten evoziert Gottes Barmherzigkeit und Reue. – Zum Kontext der Gnadenformel gehört auch (in beiden Fällen: Joel 2,13b.14 / Jona 4,2b) die Reue Gottes. Sie wird deutlich als konstruktive Reue benannt: „es reut ihn bald die Strafe“, und zu seinem Wesen gezählt. Das bedeutet zweierlei: Zum einen erhält die Strafe kein endgültiges Gewicht; zum anderen wird die sich zur Gnade hin verschiebende Balance zwischen Zorn und Güte als innergöttliches Geschehen festgehalten. Die Verschiebung zur Gnade hin ist freilich keine Selbstverständ­ lichkeit, sondern auch wieder Gnade, was der Theologe durch das hoffnungsvolle, aber nicht selbstgewisse „wer weiß“ ( ַ‫יוֹדע‬ ֵ ‫ ִ מי‬/ mī jōdē’a) zum Ausdruck bringt (vgl. Jona 1,6; 3,9). Die vertrauensvolle Kommunikation mit Gott (2,13–17) wird den erhofften Segen befördern, was dann ja auch in der Sicht des Propheten geschehen wird (2,18 ff), freilich unter Austrocknung und Versenkung des Feindes (2,20). Ex 14,26–31 lässt grüßen (2. Abschnitt). Das Gliederungszitat Joel 3,1 ist Vollendung der erwarteten gewaltigen Großtat Gottes (2,21). Nach Vernichtung des Feindes in Wüste und Meer wird Gott den Kindern Zions neue Lebensqualität im Land bringen (2,23–26) und schließlich „mitten unter Israel“ wohnen (2,27). Das Wohnen wird nun näherhin als Geist­ ausgießung „über alles Fleisch“ expliziert. Die gewaltige Großtat Gottes besteht letztendlich darin, dass es in Israel kein „Fleisch“ mehr geben wird, ohne vom „Geist“ durchdrungen zu sein. „Fleisch“ und „Geist“ bilden in Israel eine unlös­ liche Einheit. Dabei bleibt das „Fleisch“, was es ist, und auch Gott bleibt er selbst, und doch ist eine „Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung“493 hergestellt, die nicht nur die Kluft zwischen Gott und Mensch, sondern auch die sozialen Schranken überwindet (3. Abschnitt).

493 A. Weiser, Das Buch der zwölf Kleinen Propheten I, a. a. O., S. 120.

Joel – Vorläufer Jonas oder Rückfall in finstere Zeiten?

439

Ist nun Gott so gewaltig, dass dem „Fleisch“ keine Luft zum Atmen mehr bleibt? Ein späterer Theologe hat dieses Problem gesehen, aber nur zur positiven Seite hin gelöst: „Wer des Herrn Namen anrufen wird, der soll errettet werden“ (3,5a). Un­ ausgesprochen gibt es also auch die, die den Namen des Herrn nicht anrufen wer­ den. Deutlicher ist da Mk 16,16. Die Freiheit des Einzelnen scheint trotz Bindung gewahrt. – Einem weiteren Theologen ging es offenbar auch noch einmal um die Freiheit Gottes. Sie kann nicht durch Anrufung bzw. Nichtanrufung eingeschränkt werden. Daher Errettung auch für die „Entronnenen, die der Herr rufen wird“.

3.13.4 Ethische Implikationen Die Anknüpfung an Bekanntes ist schon beim Gottesbild deutlich geworden und setzt sich bei den ethischen Konsequenzen fort. Eine solche Verfahrensweise ist kein Zufall, sondern sie hat einen Sinn: Joel will bezeugen, dass er auf dem Boden der alten Überlieferungen steht, auch wenn er sie fortentwickelt. Er verbirgt kei­ neswegs seinen konservativen Zug. Auch das geschieht nicht ohne Grund: Offen­ bar gehen ihm „moderne“ Entwicklungen zu weit. Die ethischen Implikationen des 1. Abschnitts laufen auf den Ruf zur Um­ kehr hinaus (2,12). Umkehr ist eine religiöse Haltung, die – das ist die Botschaft des 2. Abschnitts – zu Wohlstand (2,19), Frieden (2,20), Fruchtbarkeit (2,23), Reichtum (2,24–26), Heiligung (2,16) führt; eine Haltung, die all das umkehrt, was ein gottvergessenes Land zu ertragen hatte. Frieden mit dem Herrn und An­ erkennung seiner Herrschaft (2,27) führen zu einer geschenkten Friedens- und Wohlstandszeit. Was es noch zu tun gibt an kriegerischen Handlungen, besorgt der Herr selbst (2,18.20). Eine weitere Haltung ist die Furchtlosigkeit (2,21 ff). Sie erwächst aus dem Gottvertrauen und erzeugt Fröhlichkeit. Es ist das Vertrauen auf jenen Gott, der gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte ist und den deshalb die Strafe gereuen wird. Die geschenkte Friedenszeit kann in Furchtlosigkeit und Fröhlich­ keit genossen werden. Das gilt für das Land, alle Tiere auf dem Felde und beson­ ders für die „Kinder Zions“. Dieser Dreiklang unterstreicht die gelebte Haltung als Antwort auf Gottes Wundertaten. Friede für Israel war das Thema des 2. Abschnitts. Er ist ein Geschenk Jahwes. Eine aktive Mitgestaltung Israels am Friedensprozess ist nicht erkennbar und ob des nachhaltigen Waltens Jahwes wohl auch nicht notwendig. Ganz anders im 3. Abschnitt. Was Friede für Israel ist, ist totaler Krieg gegen die Völker. Jahwe ruft zum „heiligen Krieg“ auf (4,9). Zwar wird er diesen Krieg führen, aber Israel kann dabei nicht abseits stehen. Der „heilige Krieg“ erfordert die totale Mobil­ machung: die „Starken“, die „Schwachen“, „alle Kriegsleute“ werden zu den Waf­ fen gerufen. Und die Waffen sind zu schmieden. Der Weg der Vernichtung aller Waffenarsenale (Jes 2,4 / Mi 4,3) ist keine Option mehr. Die Wirtschaft hat sich der

440

Gott und die Völkerwelt

Kriegswirtschaft unterzuordnen: „Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße!“ (4,10). Israel wird von Jahwe in den entscheidenden Endkampf gegen das Böse geführt (4,13), das in den kriegerischen Heiden Gestalt annimmt; Israel lässt sich führen, weil es sich auf seinen Kriegsherrn verlassen kann (4,16).

3.13.5 Das Verhältnis von Joel- und Jona-Buch Dass das Joel-Buch vor 312 bzw. 302 v. Chr. entstanden sein wird, wurde oben schon vermutet. Weil „Priestertum und Kultus … eine im Unterschied zur vor­ exilischen Schriftprophetie bedeutsame Stellung“ einnehmen, nimmt A. Weiser eine nachexilische Entstehung nach 400 v. Chr. an494. Somit liegt es innerhalb des Zeitraums, der auch für das Jona-Buch vorausgesetzt wurde (zwischen 538 und 300 v. Chr.). Eine zeitliche Verhältnisbestimmung ist indes außerordent­ lich schwierig und die Basis dafür sehr schmal. Sie besteht aus den zwei Zitaten Joel 2,13 (vgl. Jona 4,2) und Joel 4,10 (vgl. Jes 2,4) und deren unmittelbarem Kontext. In Joel 2,13 wird die Gnadenformel aus Jona 4,2 zitiert. In beiden Fällen ist in unmittelbarem Zusammenhang damit von Gottes Reue über sein Strafgericht die Rede; bei Joel bezieht sie sich auf „sein Land … und sein Volk“ (Joel 2,18; vgl. 2,27), bei Jona auf das fremde Volk (Jona 3,9; 4,11). Dass die Gnadenformel bei Joel und bei Jona nicht unabhängig voneinander Eingang gefunden hat – etwa durch Rückgriff auf Traditionen, die Ex 34,6 bzw. Jer 18,8 (vgl. Jer 26,3.13 oder 7,3) zugrunde liegen –, wird durch ihre strukturelle Gleichartigkeit, insbesondere durch ihre jeweilige Verbindung mit der Reue Gottes, nahegelegt. Also scheint Abhängigkeit zwischen Joel und Jona zu bestehen. Aber in welcher Richtung? F. W. Golka postuliert, dass Joel kein „Reaktionär“ ist und mit dem Gedanken der zunächst nur auf Israel bezogenen Reue Gottes den Weg bereitet zur Ausdehnung derselben auf die Heiden.495 Insofern bestünde ein theologischer Gedankenfort­ schritt hin zu Jona. H. Spieckermann bestreitet das und sieht in Joel eben jenen Reaktionär. Er kann sich dabei auf das andere „Zitat“ berufen: In Joel 4,10 wird Jes 2,4 / Mi 4,3 auf den Kopf gestellt: „Macht aus euren Pflugscharen Schwerter und aus euren Sicheln Spieße“. Aufruf zum „heiligen Krieg“ gegen die Heiden (4,9)496. Joel kannte offenbar Jes 2,4 / Mi 4,3 (vgl. seine Vorliebe für Zitate), also auch den hier zu Tage tretenden Gott für alle Völker. Die bewusste Umkehrung des Zitats in Joel 4,10 ist eine Abwendung von diesem Gottesbild zurück in national-religiöse Vorstellungen. Erklärbar – wenn auch nicht zu rechtfertigen – ist das durch Ab­ 494 A. Weiser, Das Buch der zwölf kleinen Propheten I, a. a. O., S. 106. Zum Priestertum und zum Kultus vgl. Joel 1,13; 2,17; zur Abschottung Jerusalems 4,17. 495 F. W.  Golka, a. a. O., S. 44. 496 H. Spieckermann, „‚Barmherzig und gnädig ist der Herr …‘“, a. a. O., S. 17.

Obadja 

441

schottungstendenzen der aus dem Exil Heimgekehrten unter Esra und Nehemia (vgl. auch Joel 4,17). Die zu errichtende Stadtmauer um Jerusalem dient nicht nur der Verteidigung, sondern der Ausgrenzung aller nichtjüdischen Menschen und der Abwehr aller fremden Sitten, die der Reinheit des Volkes nicht dienlich sind (Neh 2,20; 3,33–38; 13,3.23–31). Neue Identitätsfindung geschieht durch Fokus­ sierung auf den Feind (Neh 4,1–17; 6,6 f.15 f). Das ist die Atmosphäre, in der eine Schrift wie Joel entstehen kann.497 Zu konstatieren ist: Rückfall hinter Jesaja 2,4 / Mi 4,3 ist erst recht Rückfall hin­ ter Jona. In diesem Sinn ist auch Joel 2,13 f ein Rückfall hinter Jona 4,10498. Das „Mitschwingen der nationalistischen Beschränktheit“499 ist deutlich zu spüren und keineswegs „zugunsten einer Verinnerlichung des Gottesverhältnisses“ abge­ streift500. Vor dem Hintergrund einer inzwischen universalistischen Gotteserfah­ rung im Sinne des endzeitlichen Heils für die Völkerwelt erscheint das Gottesbild des Joel-Buches geradezu als Missbrauch des Gottesnamens, ja, als Versuch, die Macht des Herrn nationalpolitisch zu funktionalisieren. Das mag dadurch etwas abgemildert werden, dass ein ebenso „finsterer“ Tag des Herrn (2,2) mit einem alles verwüstenden Feind (2,2–5) und einem den Kosmos aufbietenden, heran­ donnernden Herrn (2,10 f) auch Israel angedroht wird; allerdings nach jeremiani­ schem Vorbild mit dem Ziel der Umkehr Israels im letzten Augenblick (2,12 f). Die Kritik partikularistischer Verengung der Heilsbotschaft bleibt. Sie lässt sich auch nicht damit beschönigen, dass die „zeitgeschichtlichen und nationalen Bindungen des Glaubens … erst durch den Geist des Neuen Testaments endgültig gesprengt worden“ seien501: Sie waren schon gesprengt!

3.14 Obadja – Prophetie oder national-religiöse Kampfschrift gegen ein verhasstes Brudervolk? Obadja 1–21 ist in seinem ersten Teil (1–16) eine Neufassung von Jer 49,7–22 (insbes. Jer 49,7–16). Denn es blickt nach partiellem Eintritt der jeremianischen Prophezeiungen auf diese zurück (vgl. bes. Ob 5.16 mit Jer 49,9.12)502. 497 Der Rechtfertigungsversuch von Jörg Jeremias, hier gehe es nicht um die Heiden, sondern um die „große Bosheit“, die unter Aufbietung aller Mittel ausgerottet werden müsse, überzeugt mich nicht (Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 51 f). 498 So auch H. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr …“, a. a. O., S. 17, dort auch Anm. 41. Etwas vorsichtiger urteilt Jörg Jeremias, Reue, a. a. O., S. 97: Kap. 4 „klingt gera­ dezu wie eine Kampfansage an das Buch Jona.“ 499 A. Weiser, Das Buch der zwölf kleinen Propheten I, a. a. O., S. 127. 500 Ders., a. a. O., S. 126. 501 Ders., a. a. O., S. 127. 502 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 64. Anders, aber we­ niger überzeugend A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 408. – H. W. Wolff nimmt eine ge­ meinsame mündliche Überlieferung an (Dodekapropheton 3, a. a. O., S. 21).

442

Gott und die Völkerwelt

Wenn dem so ist, ist das im Buch Obadja Dargebotene kein gehörtes Prophe­ ten-, sondern nachgesprochenes Menschenwort. Diese Tatsache muss unter dem Aspekt, von wem hier Gewalt ausgeht, gewertet werden. Weil Ob 1–21 über bloße Zitation von Jer 49,7–16 hinausgeht, ist zu fragen: Kann davon etwas als Prophetie gewertet werden, und wie ist sie profiliert im Blick auf Jerusalem, im Blick auf Edom, im Blick auf die Völker? Welches Gottes­ bild steht dahinter? Schließlich sind die späteren Ergänzungen im Blick auf Gottesbild und mög­ liche Handlungsanweisungen zu prüfen. Jer 49,7–22 (vgl. Jes 21,11; 34,5–15; Hes 25,12–14; Am 1,11–12; Ob 1–21)

Ob 1–21 (vgl. Jer 49,7–22)

7a Über Edom. So spricht der HERR Zebaoth: 7b Ist denn keine Weisheit mehr in Teman? Ist denn kein Rat mehr bei den Klugen? Ist ihnen die Weisheit ausgegangen? 8 Flieht, wendet euch und verkriecht euch tief, ihr Bürger von Dedan! Denn ich lasse Unheil über Esau kommen, die Zeit seiner Heimsuchung. 9 Wenn Winzer über dich kommen, werden sie keine Nachlese übrig las­ sen, wenn Diebe des Nachts über dich kommen, werden sie nach Herzenslust verwüsten.* 10 Denn ich habe Esau entblößt und seine Verstecke aufgedeckt, dass er sich nicht verbergen kann. Seine Nachkom­ men, seine Brüder und seine Nachbarn sind vernichtet, dass keiner von ihnen mehr da ist. 11 Verlass nur deine Waisen, ich will sie am Leben erhalten, und deine Wit­ wen sollen auf mich hoffen. 12 Denn so spricht der HERR: Siehe, die es nicht verdient hatten, den Kelch zu trinken, müssen trinken, und du solltest ungestraft bleiben? Du sollst nicht ungestraft bleiben, sondern du musst auch trinken.

1a Dies ist es, was Obadja geschaut hat. 1b So spricht Gott der HERR über Edom: – 1c Wir haben vom HERRN eine Bot­ schaft gehört, ein Bote ist unter die Völker gesandt: Wohlauf, lasst uns wider Edom streiten! – 2 Siehe, ich habe dich gering gemacht und sehr verachtet unter den Völkern. 3 Der Hochmut deines Herzens hat dich betrogen, weil du in den Felsen­ klüften wohnst, in deiner erhabenen Höhe, und du sprichst in deinem Her­ zen: Wer will mich zu Boden stoßen? 4 Wenn du auch dein Nest adlergleich hoch bautest und es zwischen die Sterne gesetzt wäre, dennoch will ich dich von dort herunterstürzen, spricht der HERR.* 5 Wenn Diebe oder Räuber nachts über dich kommen, ach wie bist du da zunichte geworden! Ja, sie stehlen, bis sie genug haben. Und wenn die Winzer über dich kommen, so lassen sie doch eine Nachlese übrig, nicht wahr?* 6 Ach, wie ist Esau durchsucht, wie sind seine Verstecke aufgespürt!

Obadja 

443

13 Denn ich habe bei mir selbst ge­ schworen, spricht der HERR, dass Bozra zum Entsetzen, zur Schmach, zur Wüste und zum Fluch werden soll und alle seine Städte zur ewigen Wüste. 14 Ich hab eine Kunde vernommen vom HERRN, ein Bote ist unter die Völker gesandt: Sammelt euch und kommt her wider Edom; macht euch auf zum Kampf! 15 Denn siehe, ich habe dich gering ge­ macht unter den Völkern und verachtet unter den Menschen.* 16 Der Schrecken vor dir hat dich be­ trogen und der Hochmut deines Her­ zens, weil du in Felsenklüften wohnst und hohe Gebirge innehast. Wenn du auch dein Nest adlergleich hoch bautest, dennoch will ich dich von dort herunterstürzen, spricht der HERR.* 17 Also soll Edom wüst werden, dass alle, die vorübergehen, sich entsetzen und spotten über alle seine Plagen. 18 Gleichwie Sodom und Gomorra samt ihren Nachbarn zerstört wurden, spricht der HERR, so soll auch dort niemand wohnen noch ein Mensch darin hausen.

7 Alle deine Bundesgenossen haben dich bis zur Grenze zurückgetrieben. Alle deine Vertrauten haben dich be­ trogen und überwältigt; die dein Brot essen, haben dich verraten. – Esau hat keine Einsicht. – 8 Was gilt’s?, spricht der HERR, ich will zur selben Zeit die Weisen in Edom zunichte machen und die Klugheit auf dem Gebirge Esau. 9 Auch deine Starken, Teman, sollen verzagen, auf dass alle auf dem Gebirge Esau ausgerottet werden. 10 Um des Mordens willen, um der Gewalttat, an deinem Bruder Jakob be­ gangen, sollst du zuschanden werden und für immer ausgerottet sein. 11 Zu der Zeit, als du dabeistandest und sahst, wie Fremde sein Heer ge­ fangen wegführten und Ausländer zu seinen Toren einzogen und über Jeru­ salem das Los warfen, da warst auch du wie einer von ihnen.

19 Siehe, wie ein Löwe heraufkommt aus dem Dickicht des Jordans in die wasserreichen Auen; so will ich sie eilends daraus wegtreiben und den, der erwählt ist, dort einsetzen. Denn wer ist mir gleich, wer will mich meistern, und wer ist der Hirte, der mir wider­ stehen kann? 20 So hört nun den Ratschluss des HERRN, den er über Edom gefasst hat, und seine Gedanken, die er über die Einwohner von Teman hat. Was gilt’s? Man wird sie fortschleifen, die schwa­ chen Schafe; ihre Aue wird sich über sie entsetzen. 21 Vom Krachen ihres Sturzes erbebt die Erde, und ihr Geschrei hört man am Schilfmeer.

12 Du hättest nicht herabsehen sol­ len auf deinen Bruder zur Zeit seines Elends und dich nicht freuen über die Söhne Juda zur Zeit ihres Untergangs und mit deinem Mund nicht so stolz reden zur Zeit der Not. 13 Du hättest nicht zum Tor meines Volks einziehen sollen zur Zeit seines Verderbens, gerade du nicht herab­ sehen auf sein Unglück zur Zeit seines Verderbens, nicht nach seinem Gut greifen zur Zeit seines Verderbens. 14 Du hättest nicht stehen sollen an den Fluchtwegen, um seine Entronne­ nen zu morden, seine Übriggebliebe­ nen nicht ausliefern sollen zur Zeit der Not.

444

Gott und die Völkerwelt

22 Siehe, er fliegt herauf wie ein Adler und breitet seine Flügel aus über Bozra. Zu der Zeit wird das Herz der Helden in Edom sein wie das Herz einer Frau in Kindsnöten.

[15a Denn der Tag des HERRN ist nahe über alle Völker.]

Jer 49,7a → Ob 1b Jer 49,7b → Ob 8 Jer 49,9 → Ob 5 Jer 49,12 → Ob 16 Jer 49,14–16 → Ob 1c-4

15b Wie du getan hast, soll dir ge­ schehen, deine Tat fällt auf deinen Kopf zurück. 16 Denn wie ihr auf meinem heiligen Berge getrunken habt, so sollen alle Völker täglich trinken; ja, sie sollen’s saufen und ausschlürfen und sollen sein, als wären sie nie gewesen.

*Grundlage der Übersetzung ist der Luthertext. Die mit * versehenen Verse richten sich nach der Übersetzung von Jörg Jere­ mias (ATD 24,3). Sie lehnt sich stärker an den masoretischen Text an und hebt an den entsprechenden Stellen Ge­ meinsamkeiten und Unterschiede zwi­ schen Jer 49 und Ob deutlicher hervor.

17 Aber auf dem Berge Zion wird Rettung sein, und er soll heilig sein, und das Haus Jakob soll seine Besetzer besitzen. 18 Und das Haus Jakob soll ein Feuer werden und das Haus Josef eine Flamme, aber das Haus Esau Stroh; das werden sie anzünden und verzehren, sodass vom Hause Esau keiner entrin­ nen wird; denn der HERR hat’s geredet. 19 Und die im Südland werden das Gebirge Esau besitzen und die im Hügel­land das Land der Philister. Ja, sie werden das Gefilde Ephraims und das Gefilde Samarias besitzen und Benjamin das Gebirge Gilead. 20 Und die Weggeführten von Israel werden das Gebiet der Kanaaniter bis nach Sarepta besitzen, und die Weg­ geführten von Jerusalem, die in Sefarad sind, werden die Städte im Südland besitzen. 21 Und es werden die Geretteten auf den Berg Zion ziehen, um das Gebirge Esau zu richten, und die Königsherr­ schaft wird des HERRN sein.

Jes 34,5–10 5 Denn mein Schwert ist trunken im Himmel, und siehe, es wird herniederfahren auf Edom und auf das Volk, an dem ich mit dem Bann belegt habe zum Gericht.

Obadja 

445

6 Des HERRN Schwert ist voll Blut und trieft von Fett, vom Blut der Lämmer und Böcke, vom Nierenfett der Widder. Denn der HERR hält ein Schlachten in Bozra und ein großes Opfer im Lande Edom. 7 Da werden Wildstiere mit ihnen niedersinken und junge Stiere samt den Büffeln. Und ihr Land wird trunken werden von Blut, und die Erde wird triefen von Fett. 8 Denn es kommt der Tag der Rache des HERRN und das Jahr der Vergeltung, um Zion zu rächen. 9 Da werden Edoms Bäche zu Pech werden und seine Erde zu Schwefel; ja, sein Land wird zu brennendem Pech werden, 10 das weder Tag noch Nacht verlöschen wird, sondern immer wird Rauch von ihm aufgehen. Und es wird verwüstet sein von Geschlecht zu Geschlecht, dass niemand hindurchgehen wird auf ewige Zeiten, … Hes 25,12–14 12 So spricht Gott der HERR: Weil sich Edom am Hause Juda gerächt und sich schwer verschuldet hat mit seiner Rache, 13 darum spricht Gott der HERR: Ich will meine Hand ausstrecken gegen Edom und will von ihm ausrotten Menschen und Vieh und will es wüst machen von Teman bis nach Dedan, und sie sollen durchs Schwert fallen. 14 Und ich will mich an Edom rächen durch mein Volk Israel, und sie sollen mit Edom umgehen nach meinem Zorn und Grimm, dass sie meine Vergeltung erfahren sollen, spricht Gott der HERR. Am 1,11–12 11 So spricht der HERR: Um der drei, ja der vier Frevel willen derer von Edom will ich es nicht zurücknehmen, weil sie ihren Bruder mit dem Schwert verfolgt und alles Erbarmen von sich getan haben und immerfort wüteten in ihrem Zorn und an ihrem Grimm ewig festhielten; 12 sondern ich will Feuer schicken nach Teman, das soll die Paläste von Bozra verzehren.

3.14.1 Motiv-, Form- und Literarkritik Ob 1a ist schlussendliche Zuschreibung des Folgenden an eine Prophetengestalt namens Obadja. Das „Wir“ in Ob 1c kann sich nicht auf jene Einzelgestalt bezie­ hen. Die Botenformel Ob 1b ist Originalzitat aus Jer 49,7a, wobei danach nicht Jer 49,7b, sondern Jer 49,14–16 zitiert wird (Ob 1c-4). In Form eines Spottliedes schließt sich das Treiben der Diebe und Räuber samt räuberischen Weinlesern an (Ob 5), was – in umgekehrter Reihenfolge – Jer 49,9 entnommen ist. Das Spott­ lied setzt sich in Ob 6 (Zusammenfassung von Ob 5) und Ob 7 (Opfer von Betrug und Verrat durch falsche Freunde) fort und mündet in die vom Herrn beabsich­ tigte Vernichtung der geistigen „Elite“ (Ob 8) – in Aufnahme von Jer 49,7b. – Die Vernichtung der geistigen „Elite“ gibt das Stichwort für die „Ausrottung“ der militärischen „Elite“, der „Starken“ (Ob 9). In Ob 10 trifft der Vernichtungsbann schließlich alle Edomiter „um des Mordens willen, um der Gewalttat, an deinem Bruder Jakob begangen“. Die „Gewalttat“ wird in Ob 11–14 entfaltet: unterlassene Hilfeleistung, Teilhabe an der Beute der Sieger, Schadenfreude, Hochmut, Raub,

446

Gott und die Völkerwelt

Mord, Verrat. Der Gedanke des Vernichtungsbanns an Edom ist nicht neu (vgl. Jes 34,5; Hes 25,13), ebenso der Vorwurf des mehrfachen Frevels am Brudervolk (Am 1,11). In Ob 15a.16 kommen die Völker als Feinde und vom Herrn zu Richtende ins Spiel. Währenddessen setzt Ob 15b die vv 11–14 zusammenfassend fort. Somit ist Ob 11–14 durch den summarischen Charakter von Ob 10 und Ob 15b gerahmt. Ob 16 nimmt Jer 49,12 auf, allerdings mit verändertem Sinn. Ging es bei Jere­ mia um die Bestrafung Edoms, so hier um die der Völker. Klang bei Jer 49,12 die Reue Gottes über das Strafgericht an seinem Volk durch503, so hier das überstan­ dene Strafgericht des Gottesvolkes, das für die Völker grundsätzlich vernichtender ausfallen wird. Ob 17 setzt die Heilsweissagung für das Haus Jakob ein. Durch die Stichwörter „Berg Zion“ und „Rettung“ besteht ein literarischer und inhaltlicher Konnex mit Ob 21. Diese beiden Verse gehören zusammen. Eingeschoben ist Ob 19 und 20 mit einer Besitzstandsbeschreibung eines neuen Groß-Israel unter Einschluss edomitischer, philistäischer und phönizischer Ge­ biete. Eingeschoben scheint auch Ob 18 zu sein. Denn hier zeigt sich – wie in Ob 19 und 20 – die gesamtisraelitische Perspektive, der Blick auf die Vernichtung Esaus durch Feuer (vgl. Jes 34,9; Am 1,12) klappt nach, und die Abschlussformel „denn der Herr hat’s geredet“ findet sich gelegentlich am Schluss von literarischen Zusätzen (vgl. Jes 22,[24-]25; 25,[6-]8; Joel 4,[4-]8)504. Somit bleibt als Grundschrift Ob 1b-14.15b.17.21, davon Unheil über Edom Ob 1b-14.15b, Heil für Jakob Ob 17.21. Ziel von Ob 1b-14.15b.17.21 ist die Ansage baldiger Rettung für das Haus Ja­ kob (Ob 17), verbunden mit dem Strafgericht über Edom (Ob 21). Um Letzteres zu begründen, wird eine alte Prophezeiung (Jer 49,7–22) verifiziert und die Ge­ walttat Edoms an seinem unsolidarischen, ja feindlichen Verhalten gegenüber Juda im Jahr 587 exemplifiziert (Ob 10–14.15b). Ein Stilmittel der Streitschrift ist die verbale Karikatur, die der Verfasser aus Teilen von Jer 49 und Eigenproduktion zusammengesetzt hat. Der Krieg der Völker (!) gegen Edom steht unmittelbar bevor (Ob 1c), damit auch das Gericht derer vom Zion über das Gebirge Esau (Ob 21). So ist der Weg der Tradierung von Jer 49 hin zu Obadja auch intentio­ nal erklärt: Aktualisierung und Verifizierung einer alten Prophezeiung soll zur Emotionalisierung im Hinblick auf das Strafgericht am verhassten Brudervolk führen. Eine so aufgeheizte Atmosphäre kann nur gegen Ende des Exils entstehen. Die Rückkehr mag begonnen haben, steht aber erst am Anfang. Denn wenn ein Ergän­ 503 Anders W. Rudolph, a. a. O., S. 269, der hier „jüdische Einbildung und verkehrtes Erwäh­ lungsbewußtsein“, also versäumte Schuldbewältigung diagnostiziert. 504 H. W. Wolff, Dodekapropheton 3, a. a. O., S. 6.

Obadja 

447

zer Jerusalemer noch in Sefarad (= Sardes)505 weiß (Ob 19), muss die Streitschrift um 538 entstanden sein. Entstehungsort der Streitschrift kann sinnvollerweise nur in Edoms Nachbarschaft, also Juda / Jerusalem sein506.

3.14.2 Die Streitschrift als Menschenwort und Gotteswort (Ethik und Gottesbild in Ob 1b-14.15b.17.21) Die Streitschrift beginnt in Ob 1b mit einem über fünf Verse reichenden Zitat aus Jer 49. Allein schon diese Tatsache erweist das Gesagte als Menschenwort. Daran ändert auch die Botenformel Ob 1b nichts; denn auch sie ist Zitat (vgl. Jer 49,7a). Erst recht zeigt das „Wir“ (Ob 1c) an, dass hinter dem Aufruf zum Streit nicht ein Prophet steht – anders in Jer 49,14! –, sondern eine Gruppe von Menschen, vielleicht eine Gemeinde von Jahwetreuen in Jerusalem, die sich als Vorläufer der „Geretteten auf dem Zion“ versteht507. Sie nehmen das jeremianische Gottes­ wort für sich in Anspruch und geben die „Quelle“ an: „So spricht Gott, der Herr, über Edom“ (Ob 1b)508. Ebenso ist der so genannte Abschluss in Ob 4 („spricht der Herr“) zu werten (vgl. Jer 49,16fin). Ein anderes Gewicht gewinnt die Boten­ formel in Ob 8. Sie kann „Quellenangabe“ sein (vgl. Jer 49,7), sie kann aber auch Ob 8–14.15b als Herrenwort ausweisen wollen. Das umso mehr, als der totale Vernichtungsbann in der Regel von Jahwe ausgeht (Ob 9 f), die Anrede „dein Bruder“ sinnvoll nur von einem Dritten, hier also Jahwe, kommen kann (Ob 12) und „mein Volk“ Jahwe eindeutig als Sprecher ausweist. Das bedeutet: Ab Ob 8 geht Menschenwort schleichend in Herrenwort über. Die Wir-Gruppe ruft zur Gewalt gegen Edom auf. Sie tut das mit zitierten Herrenworten und einer darauf folgenden verbalen Karikatur des Gegners. Diese fußt auf der Weissagung Jer 49,9. Sie kommt zwar aus dem Mund der Wir-Gruppe, aber ein Verständnis als sich erfüllendes Gotteswort wird in Kauf genommen. Auf jeden Fall ist die subtile verbale Gewalt Vorspiel der offenen Gewaltankündigung durch den Herrn in den vv 8 und 9. An den Konnex von verbaler Karikatur und offener Gewaltankündigung bei Nahum sei erinnert. Die Durchdringung von Ge­ waltpredigt gegen Edom mit entsprechenden tatsächlichen (weil zitierten) oder so genannten (wer von den Wir will sie empfangen haben?) Herrenworten ist Ab­

505 Zu Sefarad = Sardes A. Weiser, Das Buch der zwölf kleinen Propheten I, a. a. O., S. 214; Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 74. 506 Auch A. Weiser sieht die Entstehung „unter den jahwetreuen Kreisen der in Palästina zurückgebliebenen Bevölkerung“ (Das Buch der zwölf kleinen Propheten I, a. a. O., S. 207). 507 Ob es Daheimgebliebene oder bereits Rückkehrer sind, lässt sich nicht ausmachen. 508 Primärquelle ist für den Verfasser der Streitschrift Jeremia, auf den er qua Zitat verweist, Sekundärquelle das Wort Gottes. Letztere ist für den Verfasser aber nur nachgeordnet von Be­ lang, für Jeremia dagegen ist sie Primärquelle.

448

Gott und die Völkerwelt

sicht. Dahinter steht die Intention, den Aufruf zum unmittelbar bevorstehenden Angriff auf Edom (Ob 1c: „Wohlauf “ ist Fanal zum Angriff – im Unterschied zur „Sammlung“ von Jer 49,14509) theologisch zu legitimieren. Die Legitimation der Kriegsgewalt gegen Edom geschieht zum einen dadurch, dass die Wir-Gruppe der Überzeugung ist und diese auch vermittelt, durch ihren Krieg werde die Prophe­ tie Jeremias wahr. Zum anderen geschieht sie dadurch, dass in Ob 8–14.15b ein Gottesbild gezeichnet wird, das Jahwe als Vollstrecker des ius talionis an Edom erscheinen lässt. Das ist besonders in den Rahmenversen 8 und 15b erkennbar. Das göttliche ius talionis wirkt sich verheerend für Edom aus: „Wie du getan hast, soll dir geschehen, deine Tat fällt auf deinen Kopf zurück“ (Ob 15b). Und es wirkt sich glanzvoll für Jakob aus: „… und das Haus Jakob soll seine Besetzer besitzen“ (oder: „… seine Besitzungen [wieder] in Besitz nehmen“) (Ob 17). Der Krieg gegen Edom (Ob 1), in seinem Ausgang schon als Zusammenbruch des Bruder­ volks vom Herrn beschlossen (Ob 4), findet sein Ende im Gericht über das „Ge­ birge Esau“. Es wird von den „Geretteten auf dem Berg Zion“ vollzogen – nach den Regeln des ius talionis (vgl. Ob 21 mit Ob 10 und 15b), die ja durch entsprechendes göttliches Handeln legitimiert sind. Hinter der Siegerjustiz wird sich zugleich die Königsherrschaft des Herrn offenbaren. Man kann das Bekenntnis zur eschato­ logischen Königsherrschaft des Herrn auch als Verneigung vor dem Herrn werten, die ihm den Sieg abtritt und so dem „Hochmut“ (vgl. Ob 3) wehrt. In Ob 1–12 wird deutlich, wie eng Theologie und Ethik miteinander verwoben sind. Sie sind methodisch kaum zu trennen, weil Gottesbild und Handlungsorien­ tierung in einem unlösbaren Analogieverhältnis zueinander stehen, und sie sind sachlich nicht zu scheiden, weil sie zu einer Form national-religiöser Frömmig­ keit verschmelzen, die ihre Identität nicht nur aus der Königsherrschaft Jahwes, sondern auch aus dem Gericht über Edom bezieht. Wenn wir Ob 1b-14.15b.17.21 zeitlich um oder kurz nach 538 v. Chr. ein­ ordnen, kommen wir zu dem Urteil: Hier reden Vertreter einer alten Zeit, die noch voll auf dem Boden des ius talionis stehen, sowohl was göttliches als auch was menschliches Handeln betrifft, für die der Absturz und die Vernichtung der Feinde Heil für Israel bedeutet und für die die Völker als mögliche Teilhaber an Israels Segnungen keine Rolle spielen. Die Völker kommen nur im Zitat Ob 1c vor als Verbündete gegen Edom, dann in Ob 2 und 7 als Folie, vor der Edom dümm­ lich und lächerlich erscheint. – Die neue Zeit, die Zeitenwende, die sich mit den Gottesknechtsliedern verbindet und dann so eindrückliche Spuren bei Deuteround Tritojesaja, bei Proto-, Deutero- und Tritosacharja und im Buch Jona hinter­ lässt, also vom letzten Drittel des 5. Jh. bis zum 2./3. Jh. v. Chr., kommt bei Obadja nicht vor. Ich bezeichne diese Schrift, insbesondere den hier umgrenzten Streit­ schrift-Teil, jedoch nicht – wie das Joel-Buch – als „Rückfall“. Denn wir haben es 509 Auch bei Jeremia ist der Untergang über Edom verhängt, aber es fehlt national-religiöser Fanatismus (A. Weiser, Das Buch Jeremia, a. a. O., S. 407).

Obadja 

449

hier nicht wirklich mit Prophetie zu tun, sondern mit einer Propagandaschrift, ähnlich wie Nahum. Dazu passen die diesen Charakter verstärkenden Ergänzungen. Wann welche Ergänzung hinzugekommen ist, wird sich nicht mit Sicherheit sagen lassen. Ich gehe daher nach einer nachvollziehbaren Logik vor. Ich stelle mir vor, dass die Propagandaschrift als Erstes über Edom hinausgegriffen und einen Besitzstand für das neue „Israel“ (dieser Name in Ob 20) reklamiert hat, der die Grenzen des alten Reichs zur Zeit Davids und Salomos sowie die Philistergebiete umfasst (Ob 19.20). Es geht nicht nur um die Niederringung des verhassten Bruders, sondern um Groß-Israel. Der nationale Zug verstärkt sich. – Er kommt auch in Ob 18 zum Ausdruck; denn hier tritt das vereinte Israel, das Haus Jakob und das Haus Joseph, gemeinsam auf, um Edom niederzubrennen bzw. auszurotten. Diese Ergänzung passt vor die Aufzählung aller Gebiete und hinter den kompakten Edom-Frevel. Ob 18 hat darüber hinaus eine theologische Bedeutung: „Denn der Herr hat’s gere­ det“ stellt die gesamte auf Edom ausgerichtete Vernichtungsstrategie als Werk im Auftrag des Herrn dar. Das hat die ursprüngliche Propagandaschrift so deutlich nicht gesagt. Der Krieg gegen Edom wird nicht mehr nur theologisch legitimiert, er wird zur Gehorsamsleistung. – Schließlich sind noch Ob 15a und 16 hinzu­ gekommen. Diese Verse werfen die Edomiter mit allen Heidenvölkern in einen Topf. Sie alle sollen – was Israel schon hinter sich hat – aus dem Taumelbecher zu ihrem Verderben trinken (Jer 25,15). Hier tut Jahwe selbst noch ein Übriges; denn nur er kann den Taumelbecher reichen (Jer 13,12–14; Jer 25,15 ff; Jes 51,17–23). Damit wird der Gedanke der Gehorsamsleistung noch einmal gesteigert: Letzt­ lich ist es Jahwe, der Edom (und mit Edom symbolisch alle Heiden) niederringt und dazu das Haus Jakob und das Haus Joseph in Dienst nimmt (vgl. Hes 25,14; 35,10). Unter der Hand hat sich die Sicht auf die Völker verschoben: Ob 1c und Ob 2 ging es noch mit den Heidenvölkern gegen Edom, jetzt geht es gegen Edom und alle Heidenvölker510. Schlug der nationale Gedanke in den Grenzen des davidisch-salomonischen Reiches durch, so der religiöse in der Deklaration dieser Schrift als Prophetie. So kommt es last not least zur Pseudonymität: „Die Schau des Obadja“. Die Kürze dieses Verweises, die Diastase zwischen „Obadja“ und „Wir“ wie auch der ge­ ringe Bekanntheitsgrad511 lassen auf einen Aufwertungsversuch dieser Schrift schließen512. 510 Edom als „Prototyp der feindlichen Welt“: Jes 34,2.5 ff; Hes 36,5; Joel 4,2.12.19; Am 9,12 (H. W. Wolff, Dodekapropheton 3, a. a. O., S. 7 und 43). 511 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 61. 512 Man kann das auch als „schriftgelehrte Prophetie“ bezeichnen (Jörg Jeremias, a. a. O., S. 57), wobei eine solche Art der auditiven und visionären Ursprünglichkeit entbehren würde. Man kann es auch bei Ernstnahme des persönlichen Ausweises als Plagiat bezeichnen, was unter das Verdikt von Jer 23,30 fiele. Aber all das ist nicht nötig, wenn man „Obadja“ als epitheton ornans betrachtet.

450

Gott und die Völkerwelt

3.15 Daniel – supra- oder posthistorische Gottesherrschaft? Gottesfriede nach letzter Schlacht gegen das Böse Das Danielbuch ist in verschiedener Hinsicht zweigeteilt. Auf den ersten Blick fallen im Urtext hebräische (Dan 1–2,4a; 8–12) und aramäische (Dan 2,4b – 7) Abschnitte auf. Sodann enthält es spezifisch apokalyptische Vorstellungen erst im zweiten Teil (Kapp. 7–12), während der erste Teil eher legendarisch geprägt ist (Kapp. 1–6). Die zeitliche Perspektive ist im ersten Teil eine Dreikönigsherrschaft (Nebukadnezar – Belsazar – Darius), während im zweiten Teil eine Vier-ReicheAbfolge gilt. Am Ende wird sich die Gottesherrschaft durchsetzen. Sie erscheint im ersten Teil eher supra-, im zweiten Teil eher posthistorisch, wobei eine eindeutige Zuweisung nicht immer möglich erscheint. Im Folgenden soll eine Klärung, zu­ mindest aber eine Positionierung versucht werden.

3.15.1 Literargeschichtliches Die Entstehung des Danielbuches ist ein bis heute nicht befriedigend geklärter Prozess. Ich folge einer erweiterten Fragmentenhypothese513. Danach sind zwei in der Perserzeit (5./4. Jh. v. Chr.) entstandene514, von Daniel handelnde Weis­ heitserzählungen (Nebukadnezars Traum vom Weltenbaum [3,31–33 + Kap. 4] und die Legende von Daniel in der Löwengrube [Kap. 6]) mit einer parabolischen Geschichtsdarstellung vom Untergang Babels (Belsazars Gastmahl [Kap. 5])515 zu einer so genannten Grundschicht vereint worden (Kapp. 3,31–33 + 4–6). Das ge­ schah um 198 herum, als das ptolemäische Palästina endgültig unter seleukidische 513 Vertreten z. B. von E. Haag, Daniel, Würzburg 1993, S. 7 f. Vorläufer schon bei O. Kaiser, Einleitung, a. a. O., S. 239 ff. – Anders G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 12 1979, S. 524 und N. W. Porteous, Das Buch Daniel, Göttingen 31978 (ATD 23), S. 11, die eine einheitliche Gestaltung durch einen makkabäischen Verfasser voraussetzen. 514 Die Annahme der Perserzeit lässt sich damit begründen, dass Nebukadnezars Traum vom Weltenbaum eine Nebenform in Nabonids Gebet angesichts seiner Geschwürerkrankung in Teman und eine Vorform in der Inschrift des historischen Nabonid († 539 v. Chr. nach Nie­ derlage gegen Kyros?) auf der Stele zu Harran hat (vgl. dazu K. Koch; Daniel 1–4 Neukirchen-­ Vluyn 2005 [BK XXII / 1], 408 ff). Zwischen erzählter Zeit (Nebukadnezar um 605 v. Chr.) und Entstehungszeit (nach 539 v. Chr.) lägen dann 70–80 Jahre, genug Zeit, um in der damali­ gen Gegenwart mit historischen Figuren jahwefreundlichen Besatzungsherrschern Respekt zu zollen, anderen den Untergang zu prophezeien. – Zudem folgt Nebukadnezars Traumbericht „einem persischen Muster von Königsinschriften, wie es seit Darius I. zu belegen ist“ (Absen­ der und Adressat in hymnischer Form, Lob der eigenen Herrschaft, Abschluss-Lobpreis Gottes und / oder Aufruf zu Gehorsam) (K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 402). – Im Übrigen könnte in der späteren Volkserzählung der Assyro-Babylonier Nabonid mit „Nebukadnezar“ gleichgesetzt worden sein (vgl. dazu K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 407). 515 Das passt von der Entstehungszeit her ebenfalls in die Perserzeit.

Daniel 

451

Herrschaft kam (Antiochus III., 223–187 v. Chr.). Die Grundschicht folgt ihrer in­ neren Struktur nach einer Drei-Generationen-Herrschaft: Nebukadnezar – Belsa­ zar – Darius516 (vgl. Jer 27,5.7). Angesichts der politischen Machtlosigkeit Palästi­ nas setzt hier eine theologische Reflexion über Herkunft, angemessenen Gebrauch und Missbrauch von Macht ein. Diese Reflexion schafft sich eine Identitätsfigur des Gottesvolkes, Daniel. Die Grundschicht ist in Aramäisch geschrieben. Wenn man die Entstehung der Grundschicht um die Jahrhundertwende von 3. zum 2. Jh. v. Chr. annimmt, vollzieht sich die Entwicklung hin zum maso­ retisch-kanonischen Danielbuch innerhalb einer Generation; denn um 165 ist es abgeschlossen517. In dieser Zeit wird die Grundschrift ins Griechische übersetzt und dabei völlig neu bearbeitet. Die Neubearbeitung wird später von der Septua­ ginta übernommen518. In dieser Zeit schreitet die Hellenisierung Palästinas spür­ bar voran, was zum Konflikt mit dem Jahweglauben führt. Davon zeugt, überträgt man die erzählte Zeit in die Entstehungszeit, das eisenharte vierte, das Seleukiden­ reich (Dan 2,40), wie auch die Forderung der göttlichen Königsverehrung (Dan 3). So kommen am Beginn mindestens Dan 2,4b – 3,30 hinzu, wahrscheinlich aber auch Dan 1–2,4a. An 3,31–33; 4–6 schließen sich die Kapp. 7 und 8 an mit der glei­ chen Tendenz. Kap 7 mit der Vision von den vier Tieren zielt ähnlich wie Kap 2 auf das eisenharte Seleukidenreich, das seine Königsideologie gegen andere kulturelle Identitäten rücksichtslos durchsetzen will (vgl. 2,40 mit 7,7), ebenso das 8. Kapitel (vgl. die Deutung der Vision vom Widder und vom Ziegenbock [8,20–26]). So­ wohl der Vorbau (Kapp. 1–3,30) wie auch der „Anhang“ (Kapp. 7–8) nähren die Gewissheit, dass Jahwe, der Schöpfer und Geschichtslenker, als der stets präsente Gott die Oberhand im religiös-kulturellen Ringen behalten wird. Darauf zielt der alle Reiche zermalmende Stein, der sich zum weltumspannenden Berg (Zion) ent­ faltet (2,34 f; vgl. Jes 2,2–4 / Mi 4,1–3), ebenso die Tötung des vierten Tieres, mit dessen Verbrennung auch die Macht aller Mächtigen gebrochen ist (7,11 f), sowie die Weltherrschaft der „Heiligen des Höchsten“ (7,27). – Nichtsdestoweniger sind schon hier Textabschnitte eingebaut, die Gottes endgültige Herrschaft nicht als etwas Präsentisch-Eschatologisches, sondern als ein futurisch-posthistorisches Ereignis ansehen. Es handelt sich um 2,44 f als Weiterentwicklung von 2,35b sowie um 7,9–10.13–15, vielleicht auch 7,27b. Daran wird deutlich, dass sich in jener Generation ein doppeltes Verständnis von Gottes Herrschaft entwickelte, ein eher traditionelles, wonach Gott als der Herr aller Herren stets präsent ist, ohne die irdische Herrschaft aufzuheben, und ein anderes, eher apokalyptisches, wonach 516 Der weite Abstand vom Erzählten von 400–500 Jahren und das geringe historische Inter­ esse des Kompilators der Grundschicht erklärt die falschen Namen: Belsazar ist Sohn Nabonids und führt dessen Geschäfte in Babylon während dessen Aufenthalt in Teman. Er wird 539 von Kyros – und nicht von Darius – geschlagen und getötet. 517 Schändung des jüdischen Kultes und Tempels von 168 v. Chr. ist vorausgesetzt (Dan 8,12 f; 9,17; 11,36 f), die Wiederweihe des Tempels nicht erwähnt (165 oder 164 v. Chr.). 518 In dieser Arbeit halte ich mich an den masoretischen Text.

452

Gott und die Völkerwelt

Gottes Herrschaft als einzig sich durchsetzende, posthistorische Größe „immer und ewig“ bleiben wird (Dan 12,2 f). – Die nun entstandenen Kapp. 1–3.4–6.7–8 folgen einer neuen Geschichtstheologie: Der Leitgedanke ist nicht mehr die DreiKönigs-Folge, deren Macht durch Jahwe gegeben und genommen wird, je nach Demut und Hochmut (4,29), sondern die Vier-Reiche-Theorie, deren Skopus das Ende dieser Reiche und der Beginn der Gottesherrschaft ist519. – Die Erweiterung von drei auf acht Kapitel geschah in der so genannten vormakkabäischen Zeit. Man blieb zunächst bei der aramäischen Sprache. Allerdings hatte das vormakka­ bäische Danielbuch mit 8,27a.b520 einen Abschluss erreicht. Um es in den Kanon der heiligen Schriften aufzunehmen, bedurfte es offenbar auch der „heiligen“ Sprache, zumindest im Rahmen. So wurden Teile am Anfang (Kapp. 1–2,4a) und am Ende (Kapp. 7–8,27a.b) ins Hebräische übersetzt521. – Die Kapp. 9–12 sind – ungeachtet literarischer Nahtstellen (9,1; 9,19; 10,1; 11,1) – letztlich der End­ redaktion der so genannten Makkabäerzeit zuzuschreiben. Denn im Bild des alles zerstörenden und verwüstenden „Fürsten“ (9,26) und des „Königs“, der sich „überheben und großtun wird gegen jeden Gott“ (11,36), spiegelt sich der letzte Feind vor dem Ende, Antiochus IV., dessen Aus durch Judas Makkabäus erhofft und geweissagt wird (11,45). Die Kapp. 9–12 sind deutlich geprägt von der Er­ wartung einer posthistorischen Gottesherrschaft (12,1–3). Sie sind in Ergänzung des bisherigen Schlusses in Hebräisch geschrieben. Sollte die zeitliche Einordnung stimmen, wären sie in nicht mehr als ein bis drei Jahren entstanden522. Exkurs: Suprahistorische und posthistorische Königsherrschaft Gottes Die Königsherrschaft Gottes zeichnet sich dadurch aus, dass sie „ewig“ bleibt. „Ewig“ kann den Sinn von „über-zeitlich“ bzw. „supra-historisch“, aber auch von „nach-zeitlich“ bzw. „post-historisch“ haben. Unter „überzeitlich“ verstehe ich eine unverrechenbare Dimension, die gleichwohl im Rahmen der Zeit erfahrbar und dem Glauben zugänglich ist. Posthistorisch ist hingegen eine Dimension, die zwar gedacht und geglaubt werden kann, jedoch nicht hier und jetzt erfahrbar und von daher nur metaphorisch benennbar523. 519 Wie man die genannten drei Könige in dieser Reihenfolge nicht in der Historie suchen darf, ebenso wenig darf man die vier Reiche historisch verifizieren. Egal, wie man sie benennen mag (vgl. den textimmanenten Versuch in 8,20 ff), wichtig ist allein der Skopus! 520 8,27c ist redaktionelle Überleitung zu Kapp. 9–12 (E. Haag, Daniel, a. a. O., S. 66). 521 Zu den Theorien der Übersetzung vgl. K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 17. 522 Die relativ kurzen Zeiträume des literarischen Wachstums und der Endredaktion sind bei der Annahme eines Autorenkollektivs mit einem Selbstverständnis von Sir 39,1–12 (vgl. Dan 9,22 f; 10,12; 11,33) durchaus wahrscheinlich. 523 E. Haag, Daniel, a. a. O., S. 19, spricht von Metahistorie im Unterschied zum „Ablauf der empirischen Geschichte“. Metahistorie definiert er als den für die real existierende His­ torie „konstitutiven Hintergrund“. Damit hat er ein wichtiges Kriterium für die Apokalyptik benannt. Allerdings differenziert der Begriff „Metahistorie“ nicht zwischen suprahistorischer Präsenz Gottes und der Aufrichtung seiner posthistorischen Herrschaft. Eine solche Differen­ zierung aber schärft den Blick für unterschiedliche Erscheinungsformen der Gottesherrschaft im Danielbuch.

Daniel 

453

Die suprahistorische Gottesherrschaft ist in Dan 6,27 gemeint; denn das „unver­ gängliche Reich“ ist Darius’ Gotteserfahrung unbeschadet des Bestehens seines „ganzen Königreichs“. Posthistorisch ist Dan 2,44 zu verstehen. Das hier zu errichtende Gottesreich wird alle Königreiche „zermalmen“ und selbst für immer an deren Stelle treten. In diesem Reich wird Gott die Herrschaft direkt ausüben, „sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen“. In posthistorischem Licht ist auch Dan 12,1–3 zu sehen. Zwar wird die „Errettung“ des Volkes in apokalyptischer Weise zunächst scheinbar innerweltlich beschrieben: Auf eine „Trübsal, wie sie nie gewesen ist“, folgt der Durchbruch zum Heil. Aber die damit verbundene Auferstehung der Toten weist in posthistorische Richtung. Dazu passt die Realisierung des himmlischen Jahwesieges auf Erden (vgl. Dan 10,13.20; 12,1). Zur posthistorischen Vorstellung gehört wohl auch die Vision des „Hochbetagten“ und des „Menschensohns“ (Dan 7,9–10.13–15). Daniel sieht in einer himmlischen Szene die Vorbereitung zur Errichtung der ewigen Gottesmacht auf Erden, einem „Reich“ ohne Ende. Der „Hochbetagte“ ist Gott selbst, der den himmlischen Thron besteigt, Ort seiner allen Mächten überlegenen Herrschaft, Ort des Gerichts über sie. Auf Erden herrscht er durch einen Repräsentanten. Die Gestalt bleibt im Dunkel, lässt sich nicht historisch verifizieren, nur im Bild (!) beschreiben: wie eines Menschen Sohn524. Er erhält alle Attri­bute Gottes („Macht, Ehre, Reich“). V 14b („Seine Macht ist ewig …“) ist bewusst so gehalten, dass das Possessivum „Seine“ sich sowohl auf den Menschensohn als auch auf den Hochbetagten beziehen kann. Trotz offensichtlicher Tendenz ist die Zuordnung der Menschensohn-Vision zur posthistorischen Reichsvorstellung nicht ganz eindeutig. Denn wenn ein irdischer Re­ präsentant die Herrschaft Gottes übernimmt, entsteht ja wieder ein Reich nach welt­ lichem Muster; und wer sagt denn, dass ein neuer „Davidide“ das nicht aufrichten könne – unbeschadet der suprahistorischen Herrschaft Gottes? Gleichwohl scheint das hier nicht gemeint zu sein. Der metaphorische Charakter der Menschensohngestalt weist auf posthistorische Vorstellungen. Nicht eindeutig zuzuordnen sind auch Dan 7,18 und Dan 7,27. Nach Dan 7,18 „werden die Heiligen des Höchsten das Reich empfangen und werden’s immer und ewig besitzen“. Die Heiligen des Höchsten erhalten das Gleiche, was dem Menschensohn zuteil wurde (7,14). Wie ist das zu deuten? Ist der Menschensohn zu­ gleich auch Repräsentant der Heiligen des Höchsten? Repräsentant Gottes und des Got­ tesvolkes in einer Person? So weit denkt das Alte Testament noch nicht. Die „Heiligen des Höchsten“ sind allerdings die Repräsentanten Gottes auf Erden. Als solche stellen sie in ihrer irdischen Herrschaft die Herrschaft Gottes dar und bilden sie ab. Gottes Herrschaft bleibt überzeitlich, wird aber in der Herrschaft der Heiligen des Höchsten zeitlich erfahrbar. Insofern gehört Dan 7,18 in die Kategorie der historisch erfahrbaren, mit den Augen des Glaubens erkennbaren Gottesherrschaft. Allerdings werden die Hei­ ligen des Höchsten durch den Empfang der Gottesherrschaft zu neuen Menschen, zu einer neuen Gemeinde, die in ihrer Herrschaft gar nicht anders kann als in der Einheit mit Gottes Willen zu regieren. Was dem neuen Menschen bei Jeremia gegeben ist, ist hier der neuen Gemeinde gegeben: Erneuerung des Herzens und des Herrschens durch Empfang des Reiches. 524 E. Haag, Daniel, a. a. O., S. 59 f.

454

Gott und die Völkerwelt

Gleiches gilt für Dan 7,27. Auch hier wird das neue Gottesvolk konstituiert durch die Gabe des Reiches von oben her. Das Reich hat Ewigkeitscharakter, ist aber „unter dem Himmel“, also intra-historisch angesiedelt. Der Versuch, intra- und posthistorische Di­ mension miteinander zu verschmelzen, führt letztendlich zur Historisierung der Gottes­ herrschaft, was eigentlich nach 2,44 („Sein Reich wird auf kein anderes Volk kommen“) nicht mehr möglich werden sollte.

3.15.2 Das Gottesbild in der Grundschicht Im Gottesbild sind auch hier zwei wesentliche Züge zu finden, die sich in der pro­ phetischen Literatur bereits entwickelt haben bzw. sich in ihr von den erzählenden Texten her kontinuierlich weiterentwickelt haben. Der eine Zug ist die Ausgestal­ tung Jahwes zum Gott der Völker. Im Rahmen der Arbeit ist diese Linie besonders herauszustreichen, weil sie den Jahweglauben für die Welt öffnet und letztlich auf den Gott Jesu Christi weist. Der andere Zug ist bekannt: Gottes Parteinahme für die Seinen, die Gewalt gegen die Bösen durchaus impliziert.

3.15.2.1 Nebukadnezars Traum vom Weltenbaum (Dan 3,31–33 + 4,1–34) Die Erzählung setzt ein und endet mit einer Doxologie des „Höchsten“ bzw. des „Königs des Himmels“ aus dem Munde Nebukadnezars. Sie kommt einer Doxolo­gie Jahwes gleich. Sie markiert den gegenwärtigen religiösen Status Ne­ bukadnezars als eines für den Jahweglauben Gewonnenen. Der Bericht zwischen den beiden Doxologien (4,1–33) ist so gesehen Rückblende. Den Bericht gibt Ne­ bukadnezar im Ich-Stil (4,1–15.31–33). Der Er-Stil in Bezug auf den König setzt da ein, wo Daniel deutend in Aktion tritt und als sprechender Akteur das Feld beherrscht (4,16–24). Dieser Stil wird in 4,25–30 fortgeführt. Es ist die Zeit, in der der König sein wahres Ich verliert. Das wahre Ich ist eines, welches ein gött­ liches Gegenüber kennt. Nebukadnezar lebt anfangs in dieser Gewissheit (vgl. Dan 4,5 f.15). Darum kann er auch „Ich“ sagen (4,1 u. ö.). Ab 4,25 aber lässt er seine eigene Herrlichkeit verehren (4,27), ohne die übergeordnete Macht des Höchsten zu erkennen (4,29). So verliert er sein Ich, man kann nur noch über ihn reden wie über einen von einem Dämon Besessenen. Aber das Ich kommt wieder in dem Moment, wo er lobend und preisend seine Augen zum Himmel erhebt (4,31 ff). Nun kann er auch wieder von sich erzählen und Gott preisen (4,34; 3,31–33)525.

525 K. Koch deutet den Er-Stil als Selbstdistanzierung des Königs von seinem einstigen über­ heblichen Wesen mit jenen erniedrigenden Folgen (Daniel 1–4, a. a. O., S. 408).

Daniel 

455

Der Bericht macht einen in sich geschlossenen Eindruck526. Er zeigt Nebukad­ nezar als einen religiös eingestellten Menschen (4,5). Für den König ist der „Geist der Götter“ nicht auf sein Volk beschränkt, sondern er billigt ihn auch Daniel zu (4,5 f.15). Diese erzählte Offenheit ist Voraussetzung für die hier propagierte, ins­ besondere in den beiden Doxologien zutage tretende „Ökumene“. „Ökumene“ im Sinne des Redaktors der Grundgeschichte kann aber nicht nur allgemeine Religiosität bedeuten, sondern setzt einen spezifischen religiösen Er­ kenntnisprozess seitens des Nichtjuden voraus. Es geht um das Offenbarwerden der Wahrheit (4,34). Die „Wahrheit“ ist, „dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will“ (4,14.22.29). Diese Erkennt­ nis ereignet sich in Nebukadnezar. Allerdings ereignet sie sich durch Selbstüber­ hebung und Ichverlust hindurch, dargestellt in seinem Wandel (4,25–29) und in seiner Tiergestalt (4,30). Dann aber bricht die Erkenntnis aus ihm heraus, formu­ liert in höchsten Tönen, einem Bekenntnis gleich: Er preist „den, der ewig lebt, dessen Gewalt ewig ist und dessen Reich für und für währt“. Er betont Gottes absolute Freiheit und anerkennt sie, damit auch dessen Macht als „Will-kür“ („Er macht’s, wie er will, mit dem Heer des Himmels und mit denen, die auf Erden wohnen“ [4,32]). Die ihm zuteil werdende königliche Herrlichkeit schreibt er nicht mehr seiner eigenen vermeintlichen absoluten Vollkommenheit zu, sondern er nimmt sie als Geschenk des Himmelskönigs an („Darum …“ [4,34]). Dieser Himmelskönig trägt eindeutig die Eigenschaften Jahwes (der Höchste, ewig wirk­ sam in Schöpfung und Geschichte, absolute Freiheit, sein Tun ist Wahrheit und Gerechtigkeit, erhöhen und erniedrigen), was ebenso auch aus der Einleitung 3,31–33 spricht (er tut „Zeichen und Wunder“); ja, dieser Himmelskönig ist Jahwe. Der Bericht erzählt von der Ankunft des Jahweglaubens in Babylon, ja mehr noch: von der durch eine „großkönigliche(…) Enzyklika“527 angestoßenen Verkündi­ gung Jahwes als des höchsten Gottes unter „allen Völkern“ (3,31). K. Koch schreibt zutreffend: „Nebukadnezar vollzieht … nicht nur eine regelrechte Konversion, sondern erhebt die Verehrung dieses Höchsten ‚zur Staatsreligion des babyloni­ schen Weltreichs‘“. Und zu Recht zitiert er in diesem Zusammenhang R. Albertz: „… in dieser Erzählung versichert sich eine jüdische Diasporagemeinde ihrer selbstbewussten Erwartung, daß ihr partikularer Glaube einmal Weltgeltung be­ kommen werde, die der universalen Macht ihres Gottes entsprach“528. Die Erwartung universalen Heils, das von Jahwe ausgeht, hatte sich in der Tat schon ca. 350 Jahre vorher, zur Zeit Deuterojesajas, herausgebildet. Zwischen Deuterojesaja und der so genannten apokalyptischen Literatur gibt es jedoch in dieser Hinsicht einen ent­ scheidenden Unterschied. Stand dort die Sehnsucht nach universalem Heil im Fokus, so 526 Lediglich 4,13–14 (Baumstumpf mit Herz) scheint aus 4,30 herausgewachsen. In Daniels Zitierung der Wächterworte (4,20.22) kommt 4,13–14 nicht vor. 527 K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 387 nach 3,34b (ἐγκύκλιον / enkyklion = Rundbrief). 528 Ders., a. a. O., S. 388; R. Albertz, Der Gott Daniels, Stuttgart 1988 (SBS 131), S. 41 f.

456

Gott und die Völkerwelt

ist hier – einer strukturierten Zeitabfolge geschuldet – vor das Heil das Unheil gesetzt, vor die endgültige Gottesherrschaft Kampf und Krieg, vor die „Errettung“ „eine Zeit so großer Trübsal, wie sie nie gewesen ist“ (12,1). Darum gehört in der NebukadnezarGeschichte auch Ichverlust und tiefer Sturz vor die Erkenntnis des Höchsten und vor das Bekenntnis, dass all sein Tun Wahrheit ist.

3.15.2.2 Daniel in der Löwengrube (Dan 6) Den gleichen ökumenischen Skopus hat auch die Legende von Daniel in der Löwengrube. Hier ist es Darius I., der – so erzählt die Geschichte – durch seine tolerante Religionspolitik (6,15–25) den Boden schafft für das Ergriffen-Werden durch den Gott Daniels und der diesem Gott – unbeschadet seiner eigenen könig­ lichen Macht – den Siegeszug unter „allen Völkern und Leuten aus so vielen ver­ schiedenen Sprachen auf der ganzen Erde“ überlässt (6,26). Auch er verfasst eine Enzyklika mit Bekenntnischarakter zum Gott Israels (unumschränkte Herrschaft, Retter und Nothelfer [= Parteinahme für die Bedrängten], Zeichen und Wunder), der nicht nur überzeitlich herrscht, sondern auch geschichtlich konkret handelt („Der hat Daniel von den Löwen errettet“ [6,28b].). Die Legende von Daniel in der Löwengrube handelt auch von der Parteinahme Gottes für den todgeweihten Daniel. Der in die Strukturen institutioneller Gewalt eingebundene und von ihnen gefesselte König erhofft sich zwar diese Parteinahme „des lebendigen Gottes“ (6,21!), kann sich ihrer aber nicht sicher sein (6,17–19). Daniel freilich vertraut ihr und wird auf wunderbare Weise gerettet (6,22 f.24c). Parteinahme Gottes impliziert zugleich dessen Gewalt gegen die Bösen. Sie fallen den Löwen zum Opfer.

3.15.3 Ethische Implikationen der Grundschicht Unter gewalt-ethischem Gesichtspunkt geht es in allen drei Königslegenden der Grundschicht um strukturelle Gewalt, um eine Herrscher-Ethik. Dass diese struk­ turelle Gewalt zur Durchsetzung im Extremfall der violence-Form bedarf, versteht sich für die Zeit von selbst, wenngleich auch das im Falle des Darius (Kap. 6) in Frage gestellt zu sein scheint. Die Nebukadnezar-Geschichte lehrt Herrschergewalt als eine von Gott ver­ liehene (oder auch genommene) zu verstehen (4,14.22 f). Sie ist wie die Gottes nahezu unumschränkt (4,33), aber sie darf nicht zur Unterdrückung der Armen missbraucht werden; das wäre Sünde (4,24). Im Gegenteil, sie soll der Gerechtig­ keit Gottes (4,34) zum Durchbruch verhelfen (4,24). Außerdem darf sie nicht zur Selbstüberhebung und Vergötterung der eigenen Person führen; denn Größen­ wahn („Stolz“ [4,34]) ist eine Art von Wahnsinn und wird mit Demütigung be­ straft (4,25–30.34).

Daniel 

457

Die Belsazar-Legende fasst das auf ihre Weise noch einmal zusammen. B ­ elsazar ist der Antipode zu Nebukadnezar, dem in sich Ruhenden, dann aber Abstür­ zenden, aber wieder zu wahrer Gotteserkenntnis Kommenden; Belsazar der aus­ schweifend Lebende, der nicht achtet, was anderen heilig ist, den die orakelhafte Gottesbegegnung zwar erschrickt, der aber keine Konsequenz der Demut und der Gottergebenheit (5,23) daraus zieht. In diesem Zusammenhang wird noch einmal sehr eindrücklich auf die Königsmacht als eine gottgegebene und gottähnliche Macht verwiesen und so die Königsethik als Auswirkung göttlichen Wesens dargestellt (5,19). Das Problem der strukturellen Gewalt wird noch einmal am Beispiel Darius (Kap. 6) auf hohem Niveau reflektiert. Der König ist in die Strukturen institu­ tioneller Gewalt eingebunden. Er ist eben nicht absolut frei, wie es in der Nebu­ kadnezar-Geschichte noch schien und in der Belsazar-Legende bestätigt wurde (5,19). Er ist an das Prinzip der Unaufhebbarkeit der medisch-persischen Gesetze gebunden (6,9), und er hat sich durch seine Fürsten in eine gottgleiche Position drängen lassen, aus der er nun aus Prinzip nicht mehr herauskommt. Er hat sich überhoben und ist nun wider Willen, aber per Gesetz aktiver Gewalttätigkeit ausgeliefert: Er muss den „Knecht des lebendigen Gottes“ (6,21) den Löwen zum Fraß vorwerfen. Sein Gerechtigkeitsempfinden und sein Gewissen stehen dagegen (6,15–19). Eine weise Entscheidung, um aus dem Konflikt herauszukommen, gibt es nicht. Nur der „lebendige Gott“, nur ein Wunder kann helfen. Und – es tritt ein! So ist der „lebendige Gott“ nicht nur der Retter Daniels, sondern auch der Nothelfer des Darius; denn Daniel überlebt (wie) durch ein Wunder. Nun freilich hat Darius keinerlei Skrupel, die Intriganten den Löwen vorzuwerfen, sie zu tö­ ten. Strukturelle Gewalt, wenn sie denn gerecht ist, schließt die Todesstrafe hier ein. Abgelehnt wird unrechte, willkürliche Gewalt, erst recht, wenn und weil sie zu unrevidierbaren Fehlentscheidungen führen kann, und erst recht dann, wenn die Motive der Berater unlauter sind. Der Versuch der Eingrenzung königlicher Gewalt ist nicht zu übersehen. Allerdings ist der Erzählung auch das Problem­ bewusstsein inhärent, dass unrechte, willkürliche Gewalt – abgesehen von der Schwierigkeit, sie im Einzelfall zu definieren – systemimmanent sein kann.

3.15.4 Das Gottesbild in der Erweiterungsschicht (Dan 1,1–3,30; 7,1–8,27a.b) Die Erweiterungsschicht vertieft das in der Grundschicht angelegte Gottesbild. War dort das „missionarische“ Lern- und Erkenntnisziel, „dass der Höchste Gewalt hat über die Königreiche der Menschen und sie gibt, wem er will“ (4,22.29.[14]), so wird das hier sowohl im gleichen präsentischen Sinn aufgenommen als auch im futurisch-eschatologischen Sinn erweitert. Dabei liegt der Akzent in Kap. 2 stärker auf der präsentisch-überzeitlichen Sicht der Gottesherrschaft, in Kap. 7 eher auf

458

Gott und die Völkerwelt

der futurisch-posthistorischen Bedeutung derselben. Synchronisch gelesen ver­ tieft Kap. 4 die präsentisch-überzeitliche Sicht, die futurisch-posthistorische Deu­ tung der Gottesherrschaft hat sich im Schlussteil des Danielbuches durchgesetzt. Ob sich nun das eine oder andere eschatologische Gottesverständnis im Text und damit im Denken der Rezipienten durchzusetzen beginnt, zielführend ist einzig die Frage, inwieweit Jahwe, der Gott über alle Welt, auch der Gott für alle Welt ist.

3.15.4.1 Nebukadnezars Traum von den vier Weltreichen (Dan 2) Dan 2,1–49 ist eine in sich abgerundete Erzähleinheit529. Literarkritisch relevant ist in diesem Zusammenhang nur die politisch aktualisierte Hinzufügung 2,42 f (vgl. 11,5.17)530, die kein Pendent im Traum selbst hat. Die posthistorische Ten­ denz in 2,44 zeigt das Aufkommen apokalyptischen Denkens neben den zeitge­ nössischen präsentisch-eschatologischen Vorstellungen. Reichweite und Zeitpunkt der göttlichen Herrscherfunktion spielen eine Rolle in Daniels Gebet (2,19–23), in Nebukadnezars Traum (2,27–36a), in dessen Deu­ tung (2,16b-41.44–45) und schließlich in Nebukadnezars Bekenntnis (2,47). Daniels Gebet preist Gottes Eigenschaften, die die Eigenschaften der chaldäi­ schen Götter offenbar bei weitem überschreiten, allein schon deshalb, weil jene „nicht bei den Menschen wohnen“ (2,11) und daher nichts von ihrer Weisheit und Stärke an (selbsternannte?) Wahrsager und Zeichendeuter abgeben können. Anders der Gott Daniels. Er besitzt Weisheit und Stärke, er offenbart, was tief verborgen ist, und er verleiht Weisheit und Stärke jetzt, er offenbart Daniel jetzt, was noch im Finstern liegt. Er ist der stets auf die Seinen sich zubewegende Gott. Außerdem ist er Herr über die Zeiten, was Schöpfung und Geschichte umgreift, mithin seine Universalität beschreibt. Er ist Herr über Zeit und Stunde, d. h. über Heil und Unheil, woraus – seiner Bewegung entsprechend – das politische Auf und Ab auf Erden folgt. Nur bei ihm ist Licht und somit Erleuchtung für Daniel. Der Gott Daniels ist bereits im Verborgenen der Gott Nebukadnezars; „denn du hast uns des Königs Sache kundgetan“. Und er wird über einen missionarischen Impuls (2,28) dem Nebukadnezar auch als sein Gott offenkundig werden (2,47). Dass der Gott Daniels „ein Gott über alle Götter“ ist, bestätigt am Ende Nebukad­ nezar; und nicht nur über alle Götter, sondern auch über alle Könige, womit er sich diesem Gott unterwirft und dieser Gott zu seinem Gott wird. Über die Brücke „Gott des Himmels“ (2,37.44 u. ö.) ist der König zum Gott der Wahrheit durchge­ drungen und proklamiert ihn nun zweifelsfrei als den universalen präsentischen absoluten Herrscher (2,47). Diese Proklamation ist zugleich das Bekenntnis der vormakkabäischen Zeit: Glaube ist Glaube in Bewegung hin zu den Völkern, weil 529 K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 105 unter Verweis auf 2,1, den Spannungsbogen, der auf Daniel zielt, Daniels Wort-Aktion und glückliches Ende mit positivem Ausblick für Daniel. 530 In diesem Zusammenhang ist auch „und Zehen“ in 2,41 zu streichen.

Daniel 

459

Gott diesen Weg vorausgeht und – suprahistorisch gesehen – dort schon längst angekommen ist.

3.15.4.2 Daniels Vision von den vier Tieren und dem Menschensohn (Dan 7) Die Kapp. 7 und 8 sind wieder in sich jeweils geschlossene Einheiten (vgl. die Zeitangaben 7,1 und 8,1 sowie die Schlussbemerkungen 7,28 und 8,27). Nichts­ destoweniger hat das hier zu behandelnde Kap. 7 vermutlich seine spezifische Traditionsgeschichte. Die kann man sich so vorstellen: Es gab zwei voneinander unabhängige Visionsberichte, die Vision vom Uralten mit dem so genannten Menschensohn (7,9–10.13–15) und die Vision von den vier Tieren (7,2–8.11–12). Beide Visionen wurden im Lauf des Überlieferungsprozesses miteinander ver­ schmolzen. Dabei kam die Menschensohnvision der Tiervision entgegen, weil in der nun fusionierten Version klar wurde, was geschah, nachdem allen Tieren die Macht genommen war. Umgekehrt bekam auch die Menschensohnvision einen „chronologischen“ Aufhänger. Die Auslegung 7,16–18 ist konstitutiver Bestandteil des Gesichtes (vgl. auch 2,15–19). Dabei ist die Deutung der Tiere völlig unspek­ takulär, die Deutung des Menschensohns aber sehr erstaunlich: Menschensohnvision

Deutung

7,14: Ihm (dem „Menschensohn“) wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen die­ nen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.

7,18: Die Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen und werden’s immer und ewig besitzen.

Folglich wird der, der wie eines Menschen Sohn aussieht, in der Deutung mit den Heiligen des Höchsten, einer irdischen Instanz, gleichgesetzt. Man wird darin den Versuch einer Historisierung erblicken müssen, die die posthistorische ReichGottes-Idee renationalisieren möchte. Diese Tendenz setzt sich in einer weiteren, möglicherweise späteren Deutung (7,19 ff) fort. Hierbei geht es um das vierte Tier, insbesondere um die Funktion der Hörner. Bei der Wiederholung des Visionsbildes kommt gegenüber der ur­ sprünglichen Fassung hinzu, dass das eine Horn gegen die Heiligen des Höchsten kämpft, bis der Uralte kommt und den Heiligen des Höchsten Recht schafft und das Reich übergibt (7,21 f). Das ist eine zeitgeschichtliche Aktualisierung, bezogen auf Antiochus IV. (vgl. bes. 7,25). Er ist das personifizierte Böse schlechthin, der eine nie dagewesene Bedrängnis der Heiligen bringen wird, Wendepunkt hin zur Vernichtung desselben und zur „ewigen“ Herrschaft der „Heiligen des Höchsten“.

460

Gott und die Völkerwelt

Eine solche Historisierung kann ihre Ursache darin haben, dass man mit einer Darstellung des nur Posthistorischen unzufrieden wurde, weil man sich ja noch mit der bedrängenden Gegenwart auseinandersetzen musste. So verlagerte sich möglicherweise der Erzähl- und Rezeptionsakzent auf die Betonung „der himm­ lischen Macht, die durch die treuen Juden handelt, im Gegensatz zu der Macht des Chaos, die durch die Königtümer dieser Welt handelt“531.

3.15.4.3 Die drei Männer im Feuerofen (Dan 3,1–30) Wie in der Grundschicht, so wird auch in der Erweiterungsschicht das Gottes­ bild durch den Zug der Parteinahme Gottes für die bedrängten Seinen komplet­ tiert. Gott erweist sich für die Seinen in aussichtsloser Situation als der Rettergott schlechthin, damit als der größte. So kommt er – nicht im bejubelten Triumphzug, nicht in Verehrung durch zu ihm Wallende, sondern durch Krisensituationen hin­ durch – zu den Völkern. Die Seinen in aussichtsloser Situation werden als Märtyrer dargestellt, die auf­ grund der Weigerung, die Gottheit Nebukadnezars anzubeten, mit dem Tod durch Verbrennung im Ofen bedroht werden. Sie halten jedoch an der Treue zu Gott in jeder Hinsicht fest: Sie überlassen die Antwort auf Nebukadnezars Ansinnen Gott (3,16). Sie erwarten, was kommen mag, in grenzenlosem Vertrauen auf „unseren Gott, den wir verehren“ (3,17). Sie würden auch und gerade in der Akzeptanz des Schweigens Gottes für ihn Zeugnis ablegen (3,18). Für sie steht weder ihre Treue zu Gott noch Gottes Freiheit in Frage. Das ist Theologie des Martyriums, wie sie zu beginnendem apokalyptischem Denken passt und wie sie z. B. auch von Jesus ge­ lebt wird (Mk 14,36 / Mt 26,39 / Lk 22,42). – Gottes Bei-stand wird hier sehr wört­ lich genommen: Er steht in Gestalt eines Engels bei den Dreien im Feuer und lässt sie unversehrt532; der König hat den Schimmer einer Ahnung: „Der vierte sieht aus, als wäre er ein Sohn der Götter“ (3,25). Aber ohne göttliche Gewalt geht auch hier der Beistand nicht ab: Es scheint, als seien die Exekutoren einem Unglück an­ heimgefallen und von Feuerflammen erfasst worden (3,22). Die Erkenntnis der Macht Gottes führt den König zur Anerkenntnis: Der Gott, der euch aus meiner Hand erretten kann, ist größer als jeder andere (3,29b)! Der Siegeszug Jahwes in die Völkerwelt ist vorbereitet533, wenn auch noch nicht vollendet. Es reicht, wenn alle Welt diesen Gott nicht „lästert“ (3,29a), respektiert.

531 N. W. Porteous, Daniel, a. a. O., S. 95. 532 N. W. Porteous weist auf Jes 43,1–2 bzw. Ps 66,10–12 als metaphorische Grundworte für diese Märtyrer-Wundergeschichten hin (a. a. O., S. 43 f). – Zu Bildworten als Grundlagen für Wundergeschichten vgl. G. Scholz, Didaktik, a. a. O., S. 17–23. 533 K. Koch: „Hier setzt sich ein Wunschtraum vom idealen Fremdherrscher in der Legende durch“ (Daniel 1–4, a. a. O., S. 305).

Daniel 

461

3.15.5 Ethische Implikationen der Erweiterungsschicht Ethische Implikationen sind im Kap. 2 und 3 gegeben. Wiederum geht es um Recht und Missbrauch struktureller Gewalt. Ausgangspunkt für die Rechtferti­ gung struktureller Gewalt ist 2,36–38: Die Gewalt über Länder, Nationalitäten, ja sogar über die Tiere ist dem Großkönig vom Gott des Himmels gegeben. Das Gewaltmonopol in der Hand des Großkönigs, dem auch Israel sich notgedrungen, aber gottgewollt, zu unterwerfen hat, dient dem gedeihlichen Zusammenleben der Völker. Das Recht zur Durchsetzung struktureller Gewalt wird anerkannt, dem König zuerkannt; von ihm wird auch die Durchsetzung erwartet, auch wenn es ein von Gottes Gnaden fremder König ist. Dass Gott als Lenker der Geschichte (vgl. die der Apokalyptik eigenen Berechnungen) in einer bestimmten geschichtlichen Epoche einen Fremdherrscher zum Mittel seines Heilsplans machen kann, wird in dieser Schicht konstatiert und akzeptiert, es wird hier nicht als Demütigung eines zur Mitwirkung am Heilsplan nicht mehr fähigen Israel angesehen. Erst in der zweiten Erweiterungsschicht wird Fremdherrschaft als Folge der Abtrünnig­ keit Israels gewertet (vgl. Daniels Bußgebet Kap. 9, bes. v 8: „Ja, Herr, wir, unsere Könige, unsere Fürsten und unsere Väter müssen uns schämen, dass wir uns an dir versündigt haben.“). Die Übergabe struktureller Gewalt in die Hand des Großkönigs birgt natür­ lich auch die Gefahr des Missbrauchs. Dieser erliegt der König zweimal; anders gesagt: An zwei Beispielen wird auf den Missbrauch der im Prinzip notwendigen Macht hingewiesen. Beispiel 1: Versuch, die Traumdeuter umzubringen In die offenbar chronische Selbstüberschätzung des Königs platzt ein Traum, der ihn schwer erschüttert, vermutlich weil er in ihm eine Zukunft angesagt sieht, die er mit den Instrumenten seiner Macht nicht beeinflussen kann. Das erzeugt zum einen Angst – das wird außer in 2,1.3 nicht weiter ausgeführt –, zum anderen – in Projektion seiner Überschätzung auf die Traumdeuter – Maßlosigkeit, nämlich das unmögliche Verlangen, ihm seinen Traum zu erzählen, andernfalls ihnen die Todesstrafe droht. Dass das Verlangen von Unmöglichem bei Nichterfüllung mit dem Tod sanktioniert werden soll, ist eindeutiger Machtmissbrauch; denn die Ge­ schichte macht deutlich, dass es sich dabei niemals um den Tod als Strafe handeln kann, sondern um Mord und damit um eine Gebotsübertretung des Dekalogs. Denn die Weisen aus Babylon und Daniel erklären ziemlich gleichlautend, dass die Kompetenzprüfung eine Zumutung ist, weil sie in den Weisen quasi Gottessöhne sieht, was sie nicht sind (2,11.28). Zu Erbringendes, was definitiv nicht erbracht werden kann, unter Todesstrafe zu stellen, wäre eine Missachtung der Götter und somit Mord. Missbrauch liegt in der Unmögliches fordernden Überschätzung der Untertanen und in der unangemessenen „Straf “-Reaktion.

462

Gott und die Völkerwelt

Beispiel 2: Die drei Männer im Feuerofen Hierzu hat K. Koch in aller Deutlichkeit „die implizite politische Theorie und Ethik“ auf den Punkt gebracht: „… vom Monarchen selbst wird eine Einsicht in die Beschränktheit seiner Machtmittel und die Bereitschaft zur Deutung einer aus dem Rahmen fallenden Kultübung, der judäischen, gefordert. Durch den Be­ fehl zu einem für das Reich und alle seine Bürger verbindlichen Statuenkult hat Nebukadnezar beides verweigert.“534 So ist auch hier – wie schon Dan 6 – eine implizite Königsethik auszumachen. Dem König, auch dem fremden, ist von Gott Macht übertragen. Die hat er im Be­ wusstsein der Beschränkung seiner Macht durch die Grenzen des Möglichen und durch unverzichtbare Spezifika andersartiger Religionsausübung wirkungsvoll durchzusetzen. Machtmissbrauch liegt im Verlangen nach Unmöglichem, noch dazu, wenn es mit Gewaltanwendung verbunden ist, und in der Verabsolutierung der eigenen Religion bzw. Staatsideologie, ohne das Bestreben der unterworfenen Völker, bes. des jüdischen, nach Bewahrung der Identität zu achten535. Dass Letz­ teres doch möglich ist, zeigen die positiven Erfahrungen der Perserzeit. Die Ge­ fahr des Machtmissbrauchs ist nie überwunden, aber durch Zur-Sprache-Bringen ist dem unreflektierten Einbruch gewehrt.

3.15.6 Das Gottesbild in der zweiten Erweiterungsschicht Der apokalyptische Teil beginnt mit Daniels Bußgebet (9,1–19a), es folgt eine Vision vom „Ende“ (9,[20]21–27). Ab 11,2 wird die Abfolge der Reiche, Kämpfe und Fürsten bis zum „Ende“ geschildert, bis dieses, wie schon in 9,24–27 über das „Volk“ und die heilige Stadt, so hier über „das herrliche Land“ „zwischen dem Meer und dem heiligen Berg“ hereinbricht, das Ende dann aber selbst der Ver­ nichtung anheimfällt (9,27cβ; 11,45b). Für das Gottesbild des Danielbuches sind die Kapp. 9,(20)21–27, 11 und 12,1–4 von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt auch deswegen, weil in jenem Theo­ logenkreis, der die zweite Erweiterungsschicht angefügt hat, zugleich die Endre­ daktion gesehen werden kann und weil die Kapitel, auf die alles hinausläuft, dem Vorangegangenen Richtung und Ziel geben (Achtergewicht).

534 K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 311. 535 Israel hat nie ein Völker umspannendes Weltreich geführt, von daher auch nie selbst ver­ wirklichen müssen, was es hier von einem „Nebukadnezar“ fordert.

Daniel 

463

3.15.6.1 Das Gottesbild in Dan 9,(20)21–27 Der in Jahrwochen gegliederte Ablauf ist typisch für apokalyptisches Denken. Darin ist Gott letztendlich der Gott des Heils. Gericht und Verderben sind nicht sein letztes Wort. Es gehört freilich zum Realismus der Apokalyptik, dass die Not der real existierenden Welt nicht übergangen, sondern wahrgenommen, ernst genommen und zur Sprache gebracht wird. So läuft Geschichte eben ab. Anders gesagt: So lässt Gott nach seinem heilsgeschichtlichen (Zeit)plan Geschichte eben ablaufen: Das Böse, Widergöttliche darf sich austoben, bis es reif ist, selbst dem Verderben anheim zu fallen. Wir haben es bei der Erlösung mit dem gottgewoll­ ten Verderben des Verderbers zu tun536. Es ist der durch Gabriel prophezeite kosmische Sieg Jahwes in seinem Krieg mit dem Bösen. Ist dieses Letzte noch Teil der Geschichte oder ist es durch „Bis“ als posthistorisch von der Geschichte abgegrenzt? Der in 9,27fin gegebene Hinweis ist noch zu schwach, um hier Ein­ deutiges sagen zu können. Auf jeden Fall kommt der kosmische Sieg nur dem Gottesvolk zugute, ist die eschatologische Königsherrschaft Gottes eine lediglich auf sein Volk bezogene. Eine universale Tendenz ist nicht gegeben.

3.15.6.2 Das Gottesbild in Dan 11–12,1–3 Das Kap. 11 bildet in der realen Geschichte ab, was sich im Himmel ereignet. 45 Verse sind der Historie gewidmet, rückblickend als vaticinia ex eventu auf die Perserzeit über Griechenland und die Diadochenreiche mit ihren kriegerischen und friedlichen Machtkämpfen (Heiraten, „an einem Tisch verlogen miteinander reden“), in die auch Palästina hineingezogen wird, bis in die Gegenwart. Der „ver­ ächtliche Mensch“ ist Antiochus IV. Epiphanes537. Er „vernichtet“ den „Fürst des Bundes“, Onias538 und betreibt eine rücksichtslose Hellenisierungspolitik. „Aber es wird (auch) mit ihm ein Ende nehmen und niemand wird ihm helfen“ (11,45). Die reale Geschichte bleibt aber mit dem Himmel verbunden, nicht nur im Ver­ hältnis von Urbild und Abbild, sondern auch durch die Lenkung Gottes. Diese tritt stets hervor durch den Hinweis auf die göttliche Bestimmung von Zeitabschnitten (11,24.27.29.33.35.40). Gott ist und bleibt Herr der realen Geschichte, auch wenn sie aus dem Ruder zu laufen scheint. Gottes Lenkung verleiht der Geschichte voller Kriege, Verfolgungen, Trübsal einen Sinn; denn je apokalyptischer, desto näher das Ende und die Erlösung. 536 Gemeint ist mit dem „Verderber“ Antiochus IV. Aber letztlich ist es den Verfassern des Danielbuches gleichgültig, wer geschichtsgestaltend gewirkt hat, weil es eigentlich Gott ist, der die Geschichte lenkt und durch wen auch immer Gutes vor Bösem kommen lässt, damit das Böse umso mächtiger wüte und die Erlösung sehnlichst erwartet werde. 537 E. Haag, Daniel, a. a. O., S. 76. 538 Ders., Daniel, a. a. O., S. 77.

464

Gott und die Völkerwelt

In diesem Zusammenhang nimmt Antiochus IV. Züge des Anti-Jahwe an539: Er „wird sich überheben und großtun gegen jeden Gott“, auch gegen die Götter seiner Väter, und „Ungeheuerliches“ reden. Er wird einzig und allein die Macht vergöttern (11,38 f). Bei alledem bleibt er jedoch ein Antipode Jahwes auf Erden, er ist kein „Satan“ im Hofstaat Gottes (Hi 1,6 ff); er hinterlässt eine Blutspur im „herrlichen Land“ und wird es zu seinem eigenen Land machen (11,41.45). Der Letzte aller Kriege spielt sich zwischen Himmel und Erde ab, zwischen der Macht des Verderbens und der Errettung, repräsentiert durch Michael. Dabei wird – ein innergeschichtliches Ereignis – der Verderber selbst vernichtet werden (11,45b). Die Erlösung kommt in 12,1, hier nun wieder, weil noch nicht bzw. nicht mehr reale Geschichte, als entscheidende Wende im Himmel540. Die Errettung des Vol­ kes Israel (!) geschieht durch Eintreten des Erzengels für sein Volk (‫ עָ ַמד‬/ ’āmad  = sich hinstellen). Da von keiner Herabkunft des Engels die Rede ist, wird sich die Wende im Himmel ereignen, aber mit Auswirkungen für die Vielen. Hier begegnet wieder das grenzmarkierende „bis zu jener Zeit“. Markiert es eine prinzipielle Äonenwende oder lediglich die Abgrenzung zweier historischer Abschnitte? Da diese Frage nicht eindeutig zu beantworten ist, wird man ein be­ wusstes Oszillieren zwischen beiden Möglichkeiten voraussetzen müssen. Zum einen ist die Errettung des Volkes Ergebnis eines historischen Ereignisses, nämlich des Endes des Verderbers, insofern selbst auch historisches Ereignis. Zum anderen gehören zum geretteten Volk auch die erwachten Entschlafenen, womit es sich um eine völlig neue Zeitqualität handelt. An Letzteren werden die posthistorischen Machterweise des gerechten, belohnenden oder bestrafenden Gottes wirksam. Gottes Handeln folgt hier dem fortdauernden Tat-Tatfolge-Zusammenhang, der seine Wirksamkeit über den Tod hinaus behält541. Und Gottes Wirken wird hier (zunächst) nur für sein Volk vorausgesetzt542. Das nationale Element bleibt beim Wirken Gottes vorherrschend. Das gilt auch für die, die bei der großen Äonen­ wende noch leben: Die Lehrer der Gerechtigkeit nehmen himmlischen Glanz an und werden ihre Zugehörigkeit zur göttlichen Sphäre nie verlieren. Kann man in 12,2 von einer letzten Errettung aus der Vernichtungsgewalt des Todes reden? Vom Tod des Todes (Offb 20,14a; 21,4)? Der Sache nach ja. Der Intention nach nicht. Denn hier geht es darum, dass außer den Lehrern auch die treuen Entschlafenen am Glanz der posthistorischen Gottesherrschaft teilhaben werden. Der Tod ist nicht „der letzte Feind, der vernichtet wird“ (1.Kor 15,26), sondern Ort und Zeit der Ruhe, „bis du auferstehst zu deinem Erbteil am Ende der Tage“ (12,13).

539 Ders., Daniel, a. a. O., S. 11 f und 74. 540 Das feierliche Post-Finale wird durch die poetische Form von 12,1–3 unterstrichen. 541 K. Koch, Daniel 1–4, a. a. O., S. 293 mit Verweis auch auf Offb 14,13. 542 Die Vielen (12,2) sind in der Klammer zwischen dem „Volk“ und den „Lehrern“ die Israeliten.

Daniel 

465

3.15.7 Zusammenfassung Die endredaktionellen Kapitel 9–12 mit ihrem Schwerpunkt auf der posthisto­ rischen Gottesherrschaft geben wegen ihres Achtergewichts eine Leseanweisung für das gesamte Danielbuch543. Dabei verwischen sie Aussagen über die schon jetzt bestehende Königsherrschaft Jahwes nicht, im Gegenteil, sie lassen sie be­ stehen, weil auch für den / die Endredaktor(en) Gott der ist, der jetzt regiert und der nach dieser Zeit kommt. Sie können anknüpfen an Aussagen mit posthisto­ rischer Tendenz in der ersten Ergänzungsschicht. Der Respekt der Endredaktoren vor der Überlieferung berechtigt auch uns, das Profil der jeweiligen Schichten herauszuarbeiten und sichtbar zu machen. Dabei fiel bei der Grundschicht eine Drei-Königs-Folge auf, Gott war der Herrschaft Ge­ bende und Nehmende, der auch von fremden Herrschern Anerkannte. Er war suprahistorisch und universal präsent. Für sein Volk war er stets als Partei Ergreifender da, ohne auf seine Anerkennung als universaler Gott zu verzichten. – In der ersten Ergänzungsschicht wurde die Drei-Königs-Folge von der Vier-Reiche-Theorie ab­ gelöst. Den vier Reichen folgt die Gottesherrschaft. Dabei ist die Gottesherrschaft teils präsentisch, teils futurisch vorgestellt. Wo sie – wie in Kap. 2 – eher präsenti­ schen Charakter hat, wird sie dem Fremdherrscher gleichsam missionarisch vor­ gestellt (vgl. 2,28 mit 2,47). Der posthistorische Aspekt der Gottesherrschaft zeigt sich verstärkt in Kap. 7. Es handelt sich um den Wunsch nach Überwindung alles Bösen, Bedrückenden, Vernichtenden. Zwei Motive führen dabei vom univer­salen Gottesgedanken weg in eine Renationalisierung desselben: 1. Das Böse, Bedrü­ ckende, Vernichtende empfindet in erster Linie das Gottesvolk für sich, so kann der Wunsch eigentlich primär nur für selbiges formuliert werden. 2. Die Frage, welchen Anknüpfungspunkt und welchen Sinn eine posthistorische Herrschaft Gottes haben soll, wird im Sinne einer Bindung dieser Herrschaft an das „Volk der Heiligen des Höchsten“ beantwortet. Dass posthistorische Gottesherrschaft nur dem Volk zugute kommt, ist zwar – auch in Kapp. 11 und 12 – die Regel, aber es gibt auch eine Ausnahme: die Deutung des die ganze Welt erfüllenden Steins (2,44 f). – Die zweite Ergänzungsschicht zeichnet sich durch deutliche Renationalisierung der endzeitlichen Gottesherrschaft aus. Mit dieser Partikularisierung ist freilich auch eine Rehistorisierung verbunden und somit die Frage, wieweit eine qualitative Zeitenwende überhaupt noch im Blick ist (z. B. 10,14). Am Ende aber 543 Dass die Leseanweisung erst am Ende steht, ist normal. Denn die Autoren können da­ von ausgehen, dass Bücher oder Geschichten mehrmals gelesen werden (vgl. z. B. die Josephs­ geschichte mit Gen 50,20 oder das Markusevangelium mit Mk 16,7). – So ist der Schluss von J. J. Collins nicht abwegig: „It is very probable that the stories of miraculous deliverance in Daniel 3 and 6 were read as metaphors of resurrection in the final redaction of the book“ (J. J. Collins, Daniel. A commentary on the Book of Daniel, Mineapolis 1993, S. 194).

466

Gott und die Völkerwelt

lassen die Ergänzer keinen Zweifel an ihrer Auffassung von der Durchsetzung einer posthistorischen Gottesherrschaft durch alle Kämpfe und Kriege, Verderb­ nisse und Blutspuren, Schmähungen und Leiden hindurch. Die Tabelle verdeutlicht das: Die Drei-Königs-Folge

Das Vier-Reiche-Schema

Das apokalyptische Finale

impliziert eine supra­ historische Königsherr­ schaft Gottes

impliziert neben der supra­historischen ten­ denziell stärker die post­ historische Königsherr­ schaft Gottes

impliziert eine posthisto­ rische Gottesherrschaft (Oszillieren zwischen historischer Zeitenwende und posthistorischer Äonenwende)

und eine universale Gottesherrschaft

und neigt zur partiku­ laren Gottesherrschaft (Renationalisierung)

und ist partikularistisch ausgerichtet

kaum Berechnungen (nur 4,[13]20.22.29 gleichlau­ tend 7 Zeiten)

gelegentliche Berechnun­ gen (7,25: 3½ Zeiten; 8,14: 2300 Abende und Morgen)

Berechnungen werden zum Thema: 9,2! 9,24–27: 70 Wochen (7+62+1) Tendenz steigend im Nachtrag: 12,7: 3½ Zei­ ten; 1290 Tage; 12,8: 1335 Tage

Wenn denn die posthistorische Macht Gottes stellvertretend dem „geretteten Volk“, dem „Volk der Heiligen des Höchsten“ gegeben werden sollte, dann muss man feststellen: Nach dem Danielbuch ist der Weg zu einem neuen Israel mit Blut und Feuer gebahnt. Denn ein letzter Gewaltakt ist nötig, damit es zur Beendigung der Gewalt in der Welt kommt: die große Schlacht im Himmel und auf Erden, in der alles Böse vernichtet und nur die Gerechten für immer überleben werden. Auch diese am Gewaltdenken orientierte Vorstellung von der ewigen Gottesherr­ schaft gehört in den Strom alttestamentlicher Überlieferung hinein. Der apokalyptische Zug, dass immer unerträglicher werdende Drangsal und Gewalt nur durch Gewalt besiegt werden können, verstärkt sich in der entsprechenden Literatur zur Zeit der Makkabäeraufstände. Die Kolumne I der Kriegsrolle von Qumran (1QM I) beschreibt den Endkampf der „Söhne des Lichts“ gegen die „Söhne der Finsternis“ (1QM I, 1–4a): „Zu seiner Zeit“ ergreift Gott Partei für die Söhne des Lichts, um „zu vernichten und auszurotten das Horn (Belials)“ (1QM I,4b). Gemeint ist Antiochus IV., der mitsamt seinem „Los“ dem göttlichen Vernichtungsbann preisgegeben wird (1QM I,4b-5). Die Blutspur des heiligen Krieges ist die Spur „des Heils für das Volk Gottes“ (1QM I,5), und am Ende wird Gottes „erhabene Größe leuchten“ in Form von universaler Gottes­ erkenntnis und Gerechtigkeit, ewigem Frieden (!) und Segen, nie endender Ehre und

Daniel 

467

Freude (1QM I,8–9). P. Lampe kommentiert: „Das Zukunftsbild von 1QM I verspricht den makkabäischen Kämpfern, daß ihr Aufstand in einen Endkampf gegen die Völker einmünden werde, den Gott selbst in seiner letzten Phase entscheiden werde, um ewi­ ges Heil herbeizuführen. Mit dieser Zukunftsperspektive im Kopf läßt sich wacker das Schwert schwingen: Eschatologie als propagandistisches Mittel“544.

544 P. Lampe, „Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln, Stuttgart 1981 (SBS 101), S. 82. – Lampe verweist auch auf die Tiervision des äthiopischen Henochbuches (äth. Hen 83–90; bes. 90), wo die gleiche Tendenz zu beobachten sei (a. a. O., S. 82 ff).

Fazit Die Koinzidenz der Gegensätze ist ein Wesensmerkmal Gottes. Im Blick auf die daraus entspringende Wirkmächtigkeit spreche ich von der Ambiguität Gottes. Es gibt eine synchronisch und eine diachronisch begründete Ambiguität Got­ tes. Synchronisch stellt sie sich z. B. in Prophetenworten dar: Jes 54,7: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ Jes 45,6 f: „Ich bin der Herr und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“ Synchronisch stellt sich die Ambiguität auch in geschlossenen Erzählungen dar wie z. B. in der Sintflutgeschichte nach N wie nach P. Von diachronisch begründeter Ambiguität spreche ich, wenn diese durch er­ gänzende Gegentexte entsteht wie z. B. bei Jesaja oder Micha, oder wenn sie in einer geistesgeschichtlichen Entwicklung begründet ist, die sich in verschiedenen Phasen unterschiedlich niedergeschlagen hat, z. B. der Mythos vom Völkersturm auf den Zion, bei dem Jahwe als Kriegsgott zur Abwehr der Völker erscheint, aus dem sich die Vorstellung von der Völkerwallfahrt zum Zion entwickelt hat, wo Jahwe allenthalben Recht schafft und aller Welt Frieden schenkt. Man kann die Ambiguität auch als absolute Freiheit Gottes beschreiben. Sie ist in ihren Auswirkungen nicht mehr hinterfragbar, menschlichen Maßstäben und Bewertungskriterien entzogen (Gen 4,4b.5a). Die Koinzidenz entfaltet sich geschichtlich als Zerstörungs- und Erhaltungs­ wirken, als Fluch und Segen, als Gericht und Gnade. Sie ist nichts in Gott Ru­ hendes, sondern die Gegensätze sind in steter Bewegung mit der Tendenz eines Übergewichts der positiven vor den negativen Kräften. Das hat von alters her die Gnadenformel Ex 34,6 zum Ausdruck gebracht: Strafende Gerechtigkeit und heilende Güte koinzidieren in Gott, wobei überfließende Güte ein heilsames Un­ gleichgewicht schafft. Das macht letztendlich auch die Lebendigkeit Gottes aus, die in seiner Reue und in seiner Ansprechbarkeit erfahrbar wird. Je weiter die Zeit fortschreitet und die Literatur sich weiterentwickelt, desto stärker wird das Übergewicht der positiven vor den negativen Kräften (vgl. Deutero- und Trito­

Fazit

469

jesaja gegenüber Jesaja[auth.] und die Trostschrift Jer 30 f gegenüber der Urschrift Jeremias), bis schließlich Gottes Offenbarung in Jesus Christus den endgültigen Sieg der Liebe und des Friedens Gottes über seinen Zorn verkündigt. Rückfälle auf dieser Linie sind nicht ausgeschlossen (Nahum, Joel, [Obadja,] Offenbarung des Johannes)1. Reue und Ansprechbarkeit sind in die Koinzidenz der Gegensätze mit hinein­ genommen. Beide sind ambivalent. Die „destruktive Reue“ ist Reaktion auf die Gottesverdrängung des Menschen bzw. seiner „Untreue“ (Gen 6,6). Mithilfe der „konstruktiven Reue“ fällt Gott sich selbst in den Arm, beschränkt sein Zerstö­ rungspotential und stellt die alte Beziehung wieder her, entweder voraussetzungs­ los oder nach Rückkehr der Israeliten in die Bundestreue oder entsprechendem Fürbittgebet (Ex 32,34; 2.Sam 24,16 ff // 1.Chr 21,15 ff), im Blick auf Ninive nach Abkehr dieses Volkes von seiner Bosheit. – Aber auch das Gegenteil von An­ sprechbarkeit nimmt Gott für sich in Anspruch: „Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht …“ (Jes 1,15). „… und wenn sie zu mir schreien, will ich sie nicht hören“ (Jer 11,11.14). Bei aller inneren Gegensätzlichkeit möchte der Herr aber ansprechbar bleiben: „…seine Ohren sind nicht taub geworden, so dass er nicht hören könnte, sondern eure Verschuldungen scheiden euch von eurem Gott, und eure Sünden verbergen sein Angesicht vor euch, dass ihr nicht gehört werdet“ (Jes 59,1 f). Die Koinzidenz der Gegensätze in Gott wird schon sehr früh nicht durchge­ halten. Das Satanische wird aus dem Göttlichen ausgegliedert und zur eigenen Person / Un-person gemacht (Hiob-Rahmen, Offenbarung des Johannes). Der Gestalter des Hiob-Rahmens versucht das Göttliche und Satanische in dem einen Gott wieder zusammenzuführen. Zum Gesicht Gottes gehört seine Heiligkeit. Weil Gott nicht in Stein gehauen ist, sondern Person, d. h. ansprechbar, reagierend, sich selbst beschränkend und über der Geschichte nicht ontologisch wesend, sondern in ihr wirkend, ist er wandelbar und seine Heiligkeit veränderbar. Führte die Begegnung mit ihr nach ältestem Glauben zum Tode (Ex 19; 24), so ist dieser Glaube später einem Diskurs unterworfen: Gott zeigt sich hier und jetzt, erst verhüllt, dann unverhüllt, und 1 Auch E. Zenger hat beobachtet, „dass die Religions- und Theologiegeschichte Israels sich nicht als eine geradlinig verlaufende Geschichte des Abbaus der religiösen Gewaltaspekte be­ greifen lässt, sodass die spätalttestamentliche Theologie alles religiös motivierte Gewaltpotential überwunden hätte. Es ist unbestreitbar, auch in der Spätzeit gibt es massiv gewaltimprägnierte Texte. Und es gibt vielfach zeitgleich gewaltkritische und gewaltverkündende Texte, jeweils mit JHWH als Subjekt des Handelns. Gleichwohl lässt sich mit dem Aufkommen des selbstreflexiven Monotheismus eine sukzessive Zunahme der gewaltkritischen, ja sogar der Gewalt überwinden wollenden Stimmen beobachten, deren Auslöser das monotheistische Wahrheitskonzept selbst ist“ (E. Zenger, „Gewalt als Preis der Wahrheit“, a. a. O., S. 41). Das monotheistische Wahrheits­ konzept ist die „Metamorphose des ‚eifersüchtigen‘ Gottes zum ‚barmherzigen‘ Gott, dessen letztes Wort die Vergebung ist“ (ders., a. a. O., S. 55).

470

Fazit

wer ihm begegnet und seiner gewahr wird, erschrickt zwar, weil er dem Heiligen begegnet ist (Gideon, Manoach, Daniel, Erscheinungen des Auferstandenen vor den Jüngern, Berufung des Paulus). Gott selbst aber überwindet bei Wahrung des Numinosen in sich sein furchterregendes Antlitz hin zum menschenfreundlichen Gesicht. Diese Erkenntnis ist Ergebnis von biblischen Glaubenserfahrungen, die im Diskurs mit ähnlichen oder entgegengesetzten gewonnen werden2. Das ambigue Gottesbild ist, abhängig von der jeweiligen historischen und geis­ tesgeschichtlichen Situation, unterschiedlich. Die größtmögliche diachroni­sche Ambiguität besteht zwischen Gott als „rechtem Kriegsmann“ und dem „Gott des Friedens“, wie er sich seit Deuterojesaja abzeichnet und dann das Neue Testament erfüllt. Nun ist Krieg in der Antike eine durchaus nicht geächtete, allseits akzep­ tierte Form der Auseinandersetzung, in der sich auch die Stärke und Ordnungs­ macht des eigenen Nationalgottes zu bewähren hatte. Von daher verwundert die Rede von Jahwe als dem „rechten Kriegsmann“ nicht. Andererseits ist es erklä­ rungsbedürftig, dass Gewalt, und zwar nicht nur als potestas, sondern auch als violentia, in Gott hineinverlegt wird, während sie als ethische Norm eher fragwür­ dig und überwindungsbedürftig ist, gar verworfen wird und unter das Verdikt der Sünde gerät (Kain, Gen 4,7). Die theologische Erklärung hängt mit der Erwählung zusammen: Für den Erwählten, sei es ein Einzelner (z. B. Jakob) oder ein Volk (Israel), hat Jahwe Partei zu ergreifen, notfalls für ihn zu kämpfen. Das tut Jahwe. Er ist ein parteilicher Gott zugunsten seines bzw. seiner Erwählten. So erklärt sich auch, dass der Kriegsgott Jahwe in Ri 6,24 das Attribut „Der Herr ist Friede“ erhält: Durch gewaltsame Beendigung des Chaos eröffnet er neue heilvolle Le­ bensmöglichkeit (vgl. auch 1.Kor 14,33)3.

Wo Gott als gewalt-tätig erlebt wird und so auch beschrieben werden kann, ist auch gewalttätiges Tun des Menschen sanktioniert, sei es zur Herstellung der „Ge­ rechtigkeit“, sei es zur Gewalteindämmung. Ausnahme: da, wo Gott dem Volk das gewaltsame Handeln „abnimmt“, wo das Volk die Gewalt ganz „in Gottes Hände legen“ darf, wo es auf Gewalt verzichten kann in der Gewissheit, dass Gott ein­ greifen wird. Wo Gott oder sein „Knecht“ als Bringer des Friedens bis hin zu den weit entlegenen Inseln verkündet wird, da wird dann auch die allgemeine Frie­ 2 R. Pfaller billigt gerade älteren Kulturen „ein Bewusstsein von der Ambivalenz des Hei­ ligen“ zu, die zu einem „komplementär konzipierten“ Gottesbild führe (Erwachsenensprache, Frankfurt 52018, S. 196). 3 Im assyrisch-babylonischen Bereich dient der Krieg dazu, das Chaos einzudämmen und die Ordnung des Schöpfer- und Reichsgottes durchzusetzen: Er ist also positiv konnotiert (vgl. E. Otto, „Zwischen Imperialismus und Friedensoption. Religiöse Legitimation politischen Han­ delns in der orientalischen und okzidentalen Antike“ in: F. Schweitzer [Hg.], Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006 [Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theo­ logie 29], S. 252; ders., Deuteronomium 12,1–23,15 [Deuteronomium 12–34, 1.Teilband], a. a. O., S. 1600 f.; ebenso M. Laas, … zum Kampf mit Kampf umgürtet. Untersuchungen zu 2 Sam 22 unter gewalthermeneutischen Perspektiven, Göttingen 2018 [BBB 185], S. 18 und 343).

Fazit

471

denshoffnung zum Programm erhoben. Insofern scheinen sich Universalismus und die Ausbreitung einer Sphäre des Friedens zu bedingen. Biblisch-anthropologisch gesehen lebt der Mensch zwischen Bestimmung (zum Ebenbild Gottes) und Bestimmtheit (durch die Sünde). Das beginnt in Schöpfung und Fall und wird von Paulus in Röm 7 existentiell erfahren. Während sie prälap­ sarisch noch koinzident gedacht werden, fallen sie postlapsarisch auseinander. Die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit bleibt und findet z. B. in Jer 31,31–34 ihren Ausdruck. Derweil erzeugt der von der Sünde bestimmte Mensch Ungerechtigkeit, Neid, Hass, Gewalt. Eine prinzipielle Änderung ist nur möglich durch ein „neues Herz“, bzw. durch einen neuen Menschen. Prototyp des neuen Menschen ist Jesus Christus. In ihm werden Bestimmung und Bestimmtheit wieder zusammengesehen, so dass er wie in Urzeiten wieder den ungehinderten Zugang zu Gott hat und ermög­ licht. An ihm können wir teilhaben durch Sinnesgleichheit (Phil 2,5 ff) oder durch Gleichgestaltung in der Taufe (Röm 6). So kann die Sünde nicht mehr zum Tragen, zur Herrschaft kommen (Selbstruhm ist ausgeschlossen, Röm 3,27), wiewohl sie vi­ rulent vorhanden bleibt („Lass dich nicht vom Bösen überwinden …“ [Röm 12,21]). Neben der Dialektik von Bestimmung und Bestimmtheit gibt es im AT bereits eine andere Denkrichtung. Danach wird das Leben des Menschen nach seiner Bestimmung von Gott her ermöglicht durch ein neues Verhältnis Gottes zum Menschen („Rechtfertigung“, Erneuerung des Herzens). Gottes Gerechtigkeit wird nicht mehr durch das Tat-Folge-Schema interpretiert, sondern als zurechtbrin­ gende Gerechtigkeit erlebt und verkündet (z. B. Hiob). Ethik ist Forderung und Verhalten. Biblische Ethik ist von der Forderung Gottes, wie der Mensch sein soll, nicht zu lösen (Mi 6,8). Daher ist eine Heraus­ lösung der Ethik aus dem alttestamentlich-theologischen Referenzrahmen her­ meneutisch nicht überzeugend, selbst dann nicht, wenn sich ähnliche ethische Forderungen unter anderen kulturellen und religionsgeschichtlichen Bedingun­ gen herausgebildet hätten. Die ethische Forderung trifft auf eine dem Menschen seit der Schöpfung verliehene Gabe, die Gabe der (relativen) Freiheit, die eine Entscheidung evoziert. Gottes Forderung zielt auf eine Haltung des Gehorsams, des Vertrauens, des Walten-Lassens Gottes (Opferung Isaaks, Hiob-Dichtung). Daraus resultiert, je nach Entscheidung, ein „frommes“ oder sündhaftes Verhal­ ten (Gen 4,7). Das fromme Verhalten führt im AT zum „Leben“, die „Sünde“ zum „Tod“ (Dtn 28). Das NT dreht die existentielle Wegbeschreibung um: Du hast das Leben durch und in Jesus Christus, also wirf es nicht weg! Die Haltung zur menschlichen Gewalt zeigt in der Bibel eine Bandbreite von der Bejahung der vergeltenden Gewalt („Gewaltprävention“ im apodiktischen Recht und im ius talionis) bis zur Überwindung der Gewalt in der Bergpredigt. Dazwischen liegen Versuche der Gewaltreduktion mit dem Ziel des Ausgleichs, der Mäßigung mit dem Ziel der Deeskalation, der Gewaltvermeidung mit dem Ziel der Versöhnung (Gesetzestexte in Ex 21, Sodom-Geschichte, Jakob-Esau-Sa­ genkranz). Das Neue Testament, insbesondere Paulus, sieht Gewaltüberwindung

472

Fazit

nur eingebettet in das große Versöhnungswerk Gottes mit der Welt. Vordenker finden sich in der Gottesknechtstradition, insbesondere dort, wo die universale Herrschaft Jahwes als universale Friedensherrschaft gedacht ist und wo vertikale und horizontale Friedenssehnsucht zusammenkommen. Der Weg vom Alten zum Neuen Testament ist – gerade was die Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung anbelangt – gebahnt. Aus den entsprechenden Webfäden wird mehr und mehr ein Teppich der Gewaltlosigkeit und des all­ umfassenden Friedens, der im Neuen Testament vollendet wird. Das haben die wiederholt hergestellten Bezüge gezeigt. Den Teppich auszurollen wird nun die Aufgabe sein. Das Gottesbild wird – bei aller Ambiguität – schärfer und eindeuti­ ger in Richtung Friedens- und Versöhnungshandeln, entsprechend auch das Bild des neuen Menschen einschließlich der Ethik. Über beiden Testamenten wirkt bis heute das Wort: „Gehet hin in Frieden“. Es hat die Montagsdemonstrationen zur friedlichen Revolution werden lassen.

Teil 2: Neues Testament

Einleitung

Die Frage von Gewalt und Gewaltüberwindung ist eine Menschheitsfrage. Ge­ walt muss permanent neu überwunden werden, wenn Menschen ein gutes Leben haben wollen, wenn die Menschheit – an der äußersten Grenze ihrer Selbstver­ nichtungsmöglichkeiten – überleben will. Daher ist diese Frage nicht auf das Alte Testament beschränkt, sondern sie bestimmt die biblischen Schriften weiter und findet im Neuen Testament zu einer Friedensparänese und zu einem Versöh­ nungskerygma, die die Welt ohne Tränen als eschatologisches Gottesgeschenk erscheinen lassen, reales Friedenshandeln als mit dem Gotteswillen konformes Tun aber keineswegs ausschließen. So gehören Altes und Neues Testament zusammen, weil die Fäden der Ge­ waltbewältigung und -überwindung, die das AT in Theologie, Anthropologie und Ethik webt, im NT zu einem breiten Teppich mit Mustern von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von Rechtfertigung und Versöhnung werden. Nicht zuletzt aber auch deswegen, weil der eine Gott trotz vieler unterschiedlicher Bilder und durch innere Wandlungen hindurch der gleiche bleibt. Nicht zuletzt auch, weil der Mensch, zerrissen zwischen Bestimmung und Bestimmtheit, in Jesus Christus sein Ziel findet. Ein zentraler Begriff, in dem Theologie, Anthropologie und Ethik zusammen­ kommen, ist die Gottesherrschaft (βασιλεία τοῦ θεοῦ / basileia tou theou). Er um­ greift auch Altes und Neues Testament (‫ ַ מלְ כּות יהוה‬/ malchūt jahwe). Er eignet sich daher für ein paar überleitende Gedanken.

1. Die Gottesherrschaft als Garant universalen Friedens im Neuen Testament

Das Verständnis der Gottesherrschaft hat sich im Alten Testament von einer par­ tikularen zu einer universalen Größe entwickelt. Partikular war sie zunächst nur auf Israel bezogen, dann wird sie für die fernen Inseln, also für die bewohnte Erde, erwartet, und sie gilt universal auch für die großen Reiche des Vorderen Orients (vgl. auch den Weg des Christuszeugnisses nach Apg 1,8). Die Gottesherrschaft bringt schālōm, so sie denn anerkannt und ihr in der Alleinverehrung Jahwes Raum gegeben wird. Andernfalls das Gegenteil (vgl. die negativ beurteilten Kö­ nige des Dtr und etwa Belsazar). Als universale Größe erscheint sie dann auch im Neuen Testament. Als In­ diz dafür, dass partikularistische Verengung überwunden bzw. zu überwinden ist, mag die anfängliche Zurückweisung der Syrophönizierin durch den marki­ nischen (und matthäischen) Jesus dienen, die dann von Jesus selbst korrigiert wird (Mk 7,24–30)1. Auch Jesu Verwunderung über den Glauben außerhalb Israels gehört zu den Lektionen, die der Leser / Hörer lernen soll: Die Aufnahme­ fähigkeit für die Segnungen des Reiches Gottes ist außerhalb Israels vorhanden (Mt 8,10 / Lk 7,9 = Q)! Ließ sich die Gottesherrschaft im Alten Testament im Allgemeinen (außer in apokalyptischen Texten) als eine suprahistorische Gegebenheit beschreiben, so muss man im Blick auf den neutestamentlichen Befund von einer intrahistorischen Größe sprechen, die ihr Dasein einem unaufhörlichen und letztendlichen Kom­ men verdankt. Denn das Reich Gottes ist in der Person Jesu da, und er leitet zum Beten um das Kommen an. Es ist davon auszugehen, dass die Personalisierung des Reiches Gottes, wie sie Q darbietet, dem Selbstverständnis Jesu entspricht: „Wenn ich … durch Gottes Finger die Dämonen austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Lk 11,20 / Mt 12,28). Man kann die Präsenz des Reiches Gottes in Jesu Person als aufleuchtend oder subversiv beschreiben, auf jeden Fall ist sie aktuell und punktuell sinnlich wahrnehmbar in Jesus selbst, in seinen Heilungen, in seinen Worten, insbesondere in seinen Gleichnissen und in seinen Gastmahlen. Die sinnliche Wahrnehmung wird durch die Akzeptanz Jesu als des Heilsbringers („aus Glauben“) zur Glaubenserfahrung („in den Glauben“) transformiert. Daher kann Markus (und ihm folgend Matthäus) zu Recht Jesus so hören: „Die Zeit ist

1 Mt unterstreicht den inneren Wandel Jesu durch dessen wiederholte Fixierung auf die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (neben Mt 15,24 auch Mt 10,6).

Die Gottesherrschaft als Garant universalen Friedens im Neuen Testament 

477

erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen (ἤγγικεν / ēngiken, Per­ fekt!). (Tut Buße und glaubt an das Evangelium)“ (Mk 1,15 / Mt 4,17). Der schālōm des präsenten Gottesreiches bewirkt Vernichtung alles Dämoni­ schen, Heilung, Verhaltensänderung z. B. in Richtung auf Vergebung, Gewaltüber­ windung. Im Blick auf das ethische Thema „Gewalt und Gewaltüberwindung“ sowie im Blick auf die theologischen Grundlagen werden in der Jesustradition insbesondere die Bergpredigt und vereinzelte Jesusworte bedeutsam sein, ebenso das Wort vom Dienen und Herrschen. – Wird in diesen Bereichen der Histori­ sche verkündigend dargestellt, so ist es in der Passionsgeschichte umgekehrt: Hier wird der Verkündigte in einen historischen Rahmen gestellt. Darum verdient die Passionsgeschichte im Rahmen dieser Arbeit eine besondere Behandlung. – In der Briefliteratur ist das in Christus und im Heiligen Geist präsente Gottesreich vorausgesetzt (vgl. bes. Röm 14,17), wenn auch für den Frieden als theologische und ethische Größe nicht namhaft gemacht. An die Stelle der Reich-GottesTerminologie ist der Versöhnungsbegriff getreten2. – Ähnlich wie das Buch Daniel im Alten, so spielt die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament eine Sonderrolle. Der im Himmel bereits vorgezeichnete Sieg Gottes und Christi (Offb 12,10–12a) ist ins Verhältnis zu setzen zu den als Gericht deklarierten Pla­ gen über die Welt; außerdem ist die tausendjährige Mitregentschaft der aufer­ standenen Märtyrer mit Christus in der Heilsgeschichte zu verorten wie auch die Herabkunft des himmlischen Jerusalem.

2 U. Luz spricht stattdessen vom Rechtfertigungsgeschehen. Das ist aber nur ein Teilaspekt des Versöhnungshandelns Gottes (s. u. Anm. 20) (U. Luz, „Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann [Hg.], Eschatologie und Friedenshandeln, Stuttgart 1981 [SBS 101], S. 160).

2. Bergpredigt / Feldrede: Seligpreisungen und Aufruf zur Feindesliebe (Mt 5,3–12 / Lk 6,20–23; Mt  5,21–48 / Lk  6,27–36)

Die Bergpredigt / Feldrede zeichnet sich durch reichlichen Q-Stoff, aber auch deut­ liche Bearbeitung durch den jeweiligen Evangelisten aus. Der Q-Stoff führt uns in größtmögliche Nähe zu Jesus1.

2.1 Erste literarische Beobachtungen Seligpreisungen und Aufforderung zu entwaffnender Kreativität um der Überwin­ dung der Feindschaft willen gehören schon in Q zusammen. Lukas hat zwischen Seligpreisungen und Aufruf zur Feindesliebe die Wehesprüche gegen Reiche, Satte, Spötter und Eitle geschoben (vgl. Lk 6,24–26), Matthäus die Jüngerstärkung (Mt 5,15 f) und Jesu Stellung zum Gesetz und zur Gerechtigkeit (Mt 5,17–20)2. Der Q-Stoff schmilzt jedoch zusammen bei den Seligpreisungen auf Mt 5,3 / Lk 6,20 (Seligpreisung der Armen) (1) Mt 5,4 / Lk 6,21b (Seligpreisung der Trauernden / Weinenden) (2) Mt 5,6 / Lk 6,21a (Seligpreisung der Hungernden) (4) Mt 5,11 / Lk 6,22 (Seligpreisung der Gehassten) (9) Mt 5,12 / Lk 6,23 (Verheißung von Lohn im Himmel), bei den „Antithesen“ auf Mt 5,38–42 / Lk 6,29–30 (Wiedervergeltung) (5) Mt 5,43–48 / Lk 6,27–28.32–36 (Feindesliebe) (6) Dabei ist Verzicht auf Wiedervergeltung bei Lukas eine Konkretion der Fein­ desliebe.

1 Sicher unterliegt Q bis zu seiner schriftlichen Fixierung auch einer traditionsgeschicht­ lichen Entwicklung, die in umgekehrter Richtung nicht mehr bis zu authentischen Jesusworten zurückverfolgt werden kann. Dennoch ist das Spruchgut (auch wegen des Fehlens passions­ theologischer Reflexionen) das älteste Jesuszeugnis, das an die vorösterliche Zeit anknüpft (G. Strecker, „Die historische und theologische Problematik der Jesusfrage“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 168 und S. 170). 2 Die Einschübe entsprechen den redaktionellen Bedürfnissen: Lukas’ Solidarität mit den Armen entspricht das Wehe gegen die Reichen, Matthäus stellt Jesus als Lehrer der Gerechtigkeit dar, dessen Werk die Jünger fortzuführen haben.

Erste literarische Beobachtungen 

479

Q wurde offensichtlich von Matthäus und Lukas bearbeitet. Soweit es geht, ist die ursprüngliche Q-Form zu ermitteln. Insgesamt scheint mir bei den Selig­ preisungen die lukanische Ihr-Form ursprünglich zu sein3. Sie ist Anrede an die Jünger, was auf die aktuelle Redesituation im Leben Jesu weist. Die matthäische Version ist die eines distanziert räsonierenden Weisheitslehrers. Dahinter steht die bewusste Konturierung des matthäischen Jesusbildes4. 1.Seligpreisung: Ich gehe von der Ursprünglichkeit der lukanischen Fassung aus. Die Jesusbewegung war eine Schar von eher Armen, bestimmt nicht ein Netzwerk von Reichen. Die „geistlich“ Armen bei Mt verdanken sich bereits theologischer Interpretation der Armut bzw. einem theologisch erweiterten Armutsbegriff. Mat­ thäus hat auch erwartungsgemäß „Reich Gottes“ in „Reich der Himmel“ geändert. 2.Seligpreisung: In der Ihr-Form ist wohl die mt Aussage der zweiten Seligprei­ sung ursprünglich. Lukas wird wohl den Wortlaut der zweiten Seligpreisung an sein drittes Wehe angeglichen haben. 4.Seligpreisung: Auch hier interpretiert Matthäus durch Erweiterung: „… nach der Gerechtigkeit“. Dadurch tritt – wie bei der Armut – eine Metaphorisierung von Hunger und Durst, eine Vergeistigung, ein. Lukas ist ursprünglicher. 9.Seligpreisung: Hier bestätigt Matthäus die Ihr-Form. Ich bleibe aber bei der lk Version; denn „verfolgen“ (Mt) weist auf eine spätere Zeit, „verstoßen“ (Lk) ist ursprünglicher, indes sicherlich die Grundlage für spätere Erwähnung der Ver­ folgung (vgl. Lk 10,16 und Mk 6,11 / Mt 10,14 / Lk 9,5). Die Verwerfung der Jünger geschieht – das überliefert Q in jedem Fall – aufgrund der Zugehörigkeit zu Jesus. Ich schließe mich hier der mt Formulierung „um meinetwillen“ an. Denn „um des Menschensohnes willen“ ist wohl kaum dem Selbstverständnis Jesu gemäß, sondern theologische Interpretation seiner Person. Abschluss der Seligpreisungen: Im ersten Teil (Mt 5,12a) ist Matthäus der Vor­ zug zu geben. Denn „an jenem Tage“ (Lk 6,23) unterstreicht die von Lukas auch sonst hervorgehobene Zukünftigkeit des Lohns. Außerdem scheint die temporale Bestimmung durch den „Menschensohn“ assoziativ evoziert zu sein. Der Schluss (Lk 6,23c) ist ursprünglicher als bei Matthäus. Dort wird Lk 6,23c verdeutlicht unter Rückgriff auf Mt 5,10 („verfolgt“). Somit ergibt sich als vermutlich ursprünglicher Q-Text: Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer (1). Selig seid ihr, die ihr (jetzt) Leid tragt; denn ihr sollt getröstet werden (2). Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden (4). Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und euch ausstoßen und schmä­ hen um meinetwillen (9). 3 So auch U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), Zürich, Einsiedeln, Köln, Neu­ kirchen-Vluyn 52002 (EKK I / 1), S. 270. 4 U. Luz bringt die 3. Pers. Pl. mit der Verschiebung jesuanischer Eschatologie zur Gemein­ deparänese hin in Verbindung (ders. ebd.).

480

Bergpredigt / Feldrede

Seid fröhlich und „jubelt“5, denn euer Lohn wird reichlich sein im Himmel (Mt 5,12a). Denn das Gleiche haben ihre Väter den Propheten getan (Lk 6,23b). Auffällig ist, dass die Seligpreisungen nach Q Menschen im Blick haben, die an Defiziten leiden: Armut, Leid, Hunger, Hass. Es geht um Notsituationen (Armut, Leid, Hunger), die auch mit Gewalt (Hass usw.) verbunden sein können6. Die bei Matthäus hinzukommenden Seligpreisungen beziehen sich im Wesentlichen auf Gaben, die Gewalt überwindend eingesetzt werden können (Sanftmut [3], Barm­ herzigkeit [5], Lauterkeit [6], Friedfertigkeit [7]). Selbst die Verfolgten [8] haben etwas Positives einzubringen: ihre Gerechtigkeit. Die so genannten Antithesen finden sich nur bei Matthäus, spiegeln sich aber bei Lukas in Form von entwaffnender Kreativität. Die lk Version verdient den Vorzug, wie gezeigt werden wird.

2.2 Das Gottesbild in den jesuanischen Seligpreisungen (Q) Armut, Leid, Hunger, Ächtung sind Lebensschicksale, die eine Gruppe von Men­ schen erleidet. Diese ist von Jesus angesprochen. Die Schicksale haften ihnen an, ohne etwa anthropologische Grundkonstanten zu sein. Als Notsituationen kön­ nen sie ein schicksalhaftes Verhängnis darstellen, sie können aber auch von Geg­ nern provoziert worden sein, so dass erlittene Gewalt, sei sie auch noch so subtil, eine Rolle spielt7. Lk 6,23c, von Mt in 5,12c deutlicher konturiert, weist in diese Richtung8. Auf jeden Fall können Not und Hass Nährboden für Gewalt und Gegengewalt sein. All diese Leiden sind umfangen von Gottes Fürsorge bzw. Parteinahme. Das wird formal mittels Klammertechnik deutlich: Es beginnt mit der Teilgabe am „Reich Gottes“ und endet, alle Seligpreisungen inkludierend, mit „reichem Lohn im Himmel“. Dazwischen (2. und 4. Seligpreisung) ist die Fürsorge Gottes im passivum divinum (Futur) ausgedrückt. Eine Änderung der Verhältnisse wird 5 ἀγαλλιᾶσθε / agalliāsthe; auch Lukas drückt den Jubel aus mit σκιρτήσατε / skirtēsate = springt fröhlich. Vielleicht ist σκιρτήσατε / skirtēsate ursprünglicher, weil ἀγαλλιᾶσθε / agalliāsthe ekklesiologisch ausgerichtet erscheint (vgl. Apg 2,46; 1.Petr 1,6–8; 4,13). Der eschatologische Aspekt bleibt in beiden Fällen gewahrt im himmlischen Lohn. 6 Die griechische π-Alliteration ist rein zufällig. Sie fehlt in der 9. Seligpreisung (anders G. Strecker, Die Bergpredigt, Göttingen 1984, S. 30 und U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 271). 7 Darauf könnte πενθοῦντες / penthountes = „Leid Tragende“ hinweisen. In der Verbindung mit Armut, Hunger und Ächtung scheint mir weniger die schicksalhaft individuelle, als viel­ mehr die provoziert gesellschaftliche Komponente zu überwiegen. So ist es auch im Bezugstext Jes 61,1–3: Den „Trauernden“ ist dort von den Gegnern „Asche“, „Trauerkleid“, „betrübter Geist“ gegeben, von Gott aber künftig „Schmuck“, „Freudenöl“ und „Lobgesang“. 8 Gedacht sein könnte an Jeremia oder den Gottesknecht.

Das Gottesbild in den jesuanischen Seligpreisungen 

481

nicht für das Hier und Jetzt in Aussicht gestellt – das trüge revolutionäre, also vermutlich gewaltsame Züge –, sondern für das Dort (Lohn im Himmel) und Dann (Futur). Das Jetzt bleibt leidvolles Faktum (4. Seligpreisung), es steht aber unter der Lohnverheißung des Vaters, Gottes Kinder zu werden (vgl. Lk 6,35c). Im Umkehrschluss wird, auch wenn es nicht ausdrücklich gesagt ist, das Gericht erge­ hen über die, die ausbeuten, Leid zufügen, hungern lassen, Lebensmöglichkeiten denen beschneiden, die sich zu Jesus bekennen. Das alles sind im Positiven wie im Negativen eschatologische Ereignisse, wobei man davon ausgehen kann, dass nach Jesu Verständnis das Eschaton bereits in die Geschichte, und sei es auch als Zu­ kunftsgewissheit, hineinwirkt. Die Zukunftsgewissheit ist durch seine Person ver­ bürgt: „Wenn ich mit Gottes Finger die Dämonen austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen“ (Q: Lk 11,20 / Mt 12,28). Wenn das Reich Gottes „kommt“ (φθάνειν / phthanein), hat es eine futurische wie auch präsentische Komponente; es ist nicht auf die eine oder andere Komponente festlegbar oder reduzierbar9. Das ist bei der Interpretation der 1.Seligpreisung in Anschlag zu bringen. Wenn die Herrschaft / das Reich Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ / basileia tou theou) kommt, be­ seitigt sie das Unheil (τὰ δαιμόνια / ta daimonia) und bringt Heil (‫ ָ שׁלוֹם‬/ schālōm). Das ist traditionell und im Sinne Jesu ganzheitlich zu sehen: Heilung und Heil10. Ebenso beinhaltet ‫ שׁלוֹם‬ ָ / schālōm umfassenden Frieden, den Jesus in den Wor­ ten kreativen Gewaltverzichts anmahnt11. So besagt die 1.Seligpreisung nach Q, also wohl im Sinne Jesu: Euch Armen gehört das Reich Gottes, ihr Armen habt teil an Gottes Herrschaft, euch Armen ist Anteil an Gottes Herrschaft gegeben, Gott lässt euch teilhaben an seinem Heil und an seinem Frieden. Ob das schon jetzt spürbare Auswirkungen hat oder erst „letzten Endes“ zur Geltung kommen wird, bleibt offen. Es kann offen bleiben, weil ja die Armen bereits jetzt von Jesus wahrgenommen, angesprochen und seiner Gemeinschaft teilhaftig werden. Den Armen wird schon jetzt „das Evangelium gepredigt“ (vgl. Jes 61,1), die frohe Bot­ schaft von der (suprahistorischen und zugleich intrahistorischen) Gottesherr­ schaft (Mt 11,5 / Lk 7,22 [Q]), die in Jesus personhaft Gestalt angenommen hat (Mt 11,6 / Lk 7,23 [Q]). Sie sind in die Wirkmächtigkeit des Wortes Jesu, die sich als sich erfüllende Verheißung versteht (Lk 11,20 / Mt 12,28 [Q]), hineingenom­ men. Jesus sieht sich in der Tradition des Bundesbuches, wo die Armen unter den

9 Vgl. auch W. Dietrich, M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, S. 129. 10 Markus hat das treffend dargestellt in Mk 2,1–11. 11 Sein Schwertwort Mt 18,34 / Lk 12,51 (Q) steht dem nicht entgegen. Es ist kein dogma­ tischer Lehrsatz, sondert atmet den Geist der Ursprünglichkeit, der einer konkreten Situation eigen ist. Gleichgültig, welche Version man vorzieht, ist „Frieden“ (εἰρήνη / eirene) mehrdeutig. Zum einen will Jesus das Missverständnis abweisen, er sei ein politischer Messias, zum anderen weist er auf die „Devianz“ seines und seiner Nachfolger Lebensstil hin (W. Dietrich, M. Mayor­ domo, a. a. O., S. 43–47).

482

Bergpredigt / Feldrede

besonderen Schutz Jahwes gestellt sind12. Dieser (Rechts)schutz wirkt sich dort aus im Erhörtwerden und in der Erfahrung von Gnade, was am sozialen Zustand des Armen, der Witwe, des Waisen nichts ändert, wohl aber Jahwes Zorn über die Bedrücker und Ausbeuter erwarten lässt (Ex 22,20–26). Wenn Jesus sich in dieser Tradition sieht und entsprechend handelt, ist das neben Lk 11,20 / Mt 12,28 ein weiterer Beleg dafür, dass er das Kommen der Gottesherrschaft mit seiner Person verbunden sah. Im Blick auf die Armen sagt Jesus also über Gott: – Gottes Reich kommt und ist da. – Es ist eine Herrschaft, die Heil und Frieden bringt, Fülle, wo vorher Mangel war. – Die Fülle besteht in der Teilgabe an seiner Herrschaft denen, die jetzt nichts haben. – Zu erfahren ist das in seiner, Jesu, Person. Dieses Gottesbild gilt ebenso auch für die weiteren drei Q-Seligpreisungen. Der deutliche Gegensatz zwischen der hinzunehmenden Gegenwart (νῦν / nyn = jetzt) und der zu erwartenden Veränderung durch Gott (passivum divinum im Futur) zeigt den futurisch-eschatologischen Charakter göttlichen Handelns, wel­ ches nichtsdestoweniger mit Jesu Verheißung schon jetzt beginnt.

2.3 „Selig“: eine anthropologische Bestimmung? Während das Gottesbild im zweiten Teil des Makarismus enthalten ist, geht es im ersten Teil um den Menschen. Da seine Befindlichkeit lediglich mit „selig“ (μακάριος / makarios) ohne Prädikatsmodus (Indikativ, Optativ oder Konjunktiv) angegeben ist, kann bei indikativischer Satzergänzung gefragt werden, ob es um eine religiös-anthropologische Charakterisierung des Menschen – etwa als Kind Gottes (vgl. Mt 5,45a / Lk 6,35c) – geht. Indes muss das verneint werden, denn es sind nicht alle Menschen, sondern nur eine bestimmte Gruppe angesprochen („ihr“); und selbst wenn man den mt Text für ursprünglich hielte („sie“), bleibt die Gruppenauswahl bestehen.

2.4 Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen (Q) Die Ethik der Seligpreisungen liegt nicht etwa in einer Glorifizierung des Leidens wie z. B. in 1.Petr 4,13 f. Dort werden die um Christi willen Geschmähten selig gepriesen. Ihre Freude soll das Mitleiden mit Christus sein in Erwartung einer Freude und eines Jubels bei der Offenbarung von Christi Herrlichkeit. Diese Art der Leidensethik setzt Kreuz und Auferstehung voraus. Die Freude indes, die die 12 Der besondere Schutz wird später stellvertretend vom gerechten König erwartet (vgl. auch Ps 72, 2.4.12 ff; 132,15).

Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen 

483

Seligpreisungen erzeugen wollen, hat ihren Grund in der eschatologischen Um­ kehrung der Verhältnisse. Die sich daraus ergebende Ethik liegt in der Auswirkung eines Zustands, der mit μακάριος / makarios = „selig“ beschrieben wird. Unter ethischer Perspektive wird gesagt: Du Armer, Leidender, Hungernder, Ausgesto­ ßener sollst / darfst selig sein, weil im Himmel Leiden in Freude verwandelt wird. Was „selig“ heißt, ist näher zu definieren. Zum einen lässt es sich aus den Seligpreisungen selbst erklären. Das Fazit: „Seid fröhlich und jubelt, denn euer Lohn wird reichlich sein im Himmel“, kann als Interpretation gelesen werden. Danach drückt „selig“ einen momentanen wünschenswerten Zustand aus: Fröh­ lichkeit und Jubel, Heiterkeit und Tanz13. Dieser Zustand ist in eschatologischer Erwartung motiviert. Hier kommt hinzu, dass er, wenn er denn gelebt wird, das Gegenteil dessen signalisiert, was Armut, Leid, Hunger und Ausgrenzung in der Regel hervorbringt: Resignation, Verzweiflung, ggf. auch Widerstand und Gewalt. Seligsein ist eine Haltung, die im Gottvertrauen wurzelt (z. B. Ps 2,12c; 34,9b; 84,13; Jes 30,18c) und in den jesuanischen Seligpreisungen, beeinflusst durch die Eschatologie des äth. Henoch (58,2: „Selig seid ihr Gerechten und Auserwählten; denn herrlich wird euer Los sein.“), dann zu einer Haltung gläubigen Wartens und harrenden Duldens angesichts der sich realisierenden Gottesherrschaft führt14. Wer selig ist, kann alles Gott überlassen. Diese Haltung ist alles andere als ge­ waltbereit, im Gegenteil: friedensfördernd. Wenn Jesus diese Haltung bestärkt, läuft das keineswegs auf Konfliktvermeidung durch Vertröstung hinaus, sondern auf Stärkung des Gottvertrauens durch Verweis auf das kommende Heil als eine alles wendende Kraft15. Diese Stärkung hat einen aktuellen Grund. Er ergibt sich aus der Interpretation des so genannten Stürmerspruchs Mt 11,12 f / Lk 16,16 (Q). Die Interpretation ist umstritten. G. Strecker hat die wahrscheinliche Urfassung eruiert16: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes (Lk 16,16a). Von da an (Lk 16,16b) leidet das Reich Gottes Gewalt (βιάζεται / biazetai) (Mt 11,12a), und Gewalttäter (βιασταί / biastai) rauben es (ἁρπάζουσιν / harpazousin) (Mt 11,12b)“. Statt „leidet das Reich Gottes Gewalt (βιάζεται / biazetai)“ wird gelegentlich auch me­ dial übersetzt: „drängt sich das Reich Gottes mit Macht herein“17. Das aber ist wenig 13 σκιρτάω / skirtaō bei Lk = hüpfen, springen, vgl. √sker → scherzen. 14 „Die Makarismen sind … Proklamation der … jetzt schon … gültigen Ordnung der Herr­ schaft Gottes“ (P. Hoffmann, „Eschatologie und Friedenshandeln in der Jesusüberlieferung“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann [Hg.], Eschatologie und Friedenshandeln, Stuttgart 1981 [SBS 101], S. 136). 15 So übrigens auch schon Jes 57,1 f: „… Ja, der Gerechte ist weggerafft durch die Bosheit und geht zum Frieden ein.“ Gott ist gerechtfertigt nicht durch die Beseitigung der Bosheit, sondern durch das Bringen „ewigen Friedens“ (Theodizee!). 16 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, Göttingen 1962 (FRLANT 82), S. 167. 17 Z. B. W. Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus, Berlin 31972 (ThHKNT 1), S. 309. Zur Diskussion vgl. E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 1982 (NTD 2), S. 170.

484

Bergpredigt / Feldrede

wahrscheinlich, weil die Verkündigung der unmittelbaren Nähe des Gottesreiches bzw. die punktuelle Realisierung in Jesu Worten und Taten nichts mit einem gewaltsamen Einbruch zu tun hat. Zudem wird das Erleiden von Gewalt parataktisch mit den „Ge­ walttätern“ (βιασταί / biastai) verbunden, so dass auch von daher im ersten Teil des Spruches an Gewalt im negativen Sinn zu denken ist. – Umstritten ist auch die Über­ setzung von ἁρπάζουσιν / harpazousin. „Rauben“ die Gewalttäter das Reich Gottes oder „reißen sie es an sich“? Wenn sie es an sich reißen, wollen sie es selbst besitzen bzw. für sich herbeizwingen. Das wird von den gewaltsam agierenden Zeloten gesagt. – Wenn die Gewalttäter es aber rauben bzw. wegnehmen, fragt sich, wem? Sicher denen, de­ nen es verheißen ist, also z. B. den hier Seliggepriesenen. Als solche „Räuber“ kämen die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ in Betracht (vgl. Mt 23,13/Lk 11,52 [Q]). Sie ver­ schließen das Reich Gottes vor den Menschen (Mt 23,13a), weil sie den Schlüssel „weg­ genommen“ haben (αἴρειν / airein) (Lk 11,52a). Eine Entscheidung zwischen Zeloten und Pharisäern / Schriftgelehrten als „Gewalttäter“ fällt schwer. Zeloten sind in der Tat Gewalttäter, aber es ist nicht verbürgt, dass Jesus sich je um die Zelotenbewegung ge­ kümmert hat18. Pharisäer und Schriftgelehrte sind keine Gewalttäter, es sei denn man weitet den Begriff auf subtile geistige Gewalt aus, die in Ausgrenzung missliebiger und unbequemer Gruppen und in der Versagung von Heilsgütern zum Ausdruck kommt19.

So gesehen nehmen die Schriftgelehrten und Pharisäer den von Jesus Gepriesenen (den Zugang zum) Reich Gottes weg und reißen es an sich20. So leidet dann das Reich Gottes, weil es da ist, Gewalt. Jesus ruft mit den Seligpreisungen dazu auf, dieser Gewalt nicht mit Gegengewalt (die angesichts der Notlagen wenig subtil wäre) zu begegnen, sondern auf den Herrn zu harren, „der meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist“ (Ps 42/43). Die Übersetzung von μακάριος / makarios = „Wohl (denen) …“ lässt an einen Segen denken. Es muss jedoch klar unterschieden werden zwischen Segen und Seligpreisung. Die Seligpreisung, auch wenn sie mit einer eschatologischen Verheißung verbunden ist, ist eine Benediktion des gegenwärtigen Zustands und bezieht sich auf diesen. Der Segen hingegen eröffnet, auch wenn er in eine möglicherweise andersartige Situation hineinge­ sprochen ist, im Allgemeinen eine Zukunftsperspektive. Kurz: Seligpreisung wie Segen haben einen Heilsweg im Blick. Dabei kreist die Seligpreisung um den Ausgangspunkt, der Segen zielt auf den Endpunkt. Am deutlichsten ist der Zukunftsaspekt des Segens in den Erzvätergeschichten ge­ geben (z. B. Gen 12,1–3). Im Deuteronomium rücken Gegenwarts- und Zukunftsaspekt 18 Nur Lukas macht aus Simon dem Kanaanäer Simon den Zeloten (Lk 6,15; Apg 1,13). 19 G. Theißen deutet „Gewalttäter“ im Sinne einer Selbststigmatisierung der Jesusbewe­ gung, also gewissermaßen in Anführungszeichen gesetzt („Jünger als Gewalttäter [Mt 11,12 f; Lk 16,16]. Der Stürmerspruch als Selbststigmatisierung einer Minorität“ in: Annette Merz, Gerd Theißen [Hg.], Jesus als historische Gestalt [FS Gerd Theißen zum 60. Geburtstag], Göttingen 2003 [FRLANT 202], S. 162). Aber „wer hätte das verstanden?“ fragt schon E. Schweizer, a. a. O., zu der offenbar schon älteren „Zitatlösung“. 20 G. Strecker denkt an den Ausschluss der ersten Christen aus der Synagoge und an die damit zusammenhängende Verfolgung der „Kirche“ durch die „Synagoge“ (Die Bergpredigt, a. a. O., S. 46).

Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen 

485

des Segens sehr eng zusammen, so dass man inhaltlich fast an einen Makarismus denken könnte (Dtn 28,3–6; 7,13–16). Inhalt des Segens ist neben Nachkommenschaft und Fruchtbarkeit auch Friede. Friede und Heil treffen sich im ‫ ָ שׁלוֹם‬/ schālōm. Einen mit ‫ ָ שׁלוֹם‬/ schālōm eingeleiteten Segen finden wir ausdrücklich in Jes 57,19: ‫ ָ שׁלוֹם ָשׁלוֹם לָ ָרחוֹק וְ לֵ ָקּרוֹב‬/ schālōm schālōm lārāchōq wᵊlaqārōv (= Friede, Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe). Die Verbindung von Segen und Frieden zieht sich durch beide Testamente. Zu nennen ist hier auch der aaronitische Segen Num 6,24–26. Ps 29,11 erklärt gerade das Segnen mit Frieden zu einer genuinen Wirkweise des Herrn. Ps 128 verbindet in kunstvoller Weise einen Makarismus mit dem Segen und endet schließlich mit einer allgemeinen Segens­ formel. V 1: „Wohl dem, der den Herrn fürchtet …, wohl dir, du hast es gut“. Gerade in der Betonung des augenblicklichen Befindens kommt der Schwerpunkt auf dem Zustand zum Ausdruck. Dann werden Fruchtbarkeit und Gedeihen, zuvor Grund des Makarismus (v 2), zur Verheißung und so zum Inhalt des Segens (vv 3–4); schließlich kommt noch der versprochene Ausblick auf eine glückliche Zukunft Jerusalems zum Se­ gen hinzu (vv 5–6a). Die abschließende Friedens-/Segensformel darf als eine Art forma­ lisierter Segen und so als versatzartiger Schluss angesehen werden (v 6b; vgl. Ps 125,5b). Hierher gehören auch Gruß- und Abschiedsformeln wie „Geh hin in Frieden“ (z. B. Ex 4,18; 1.Sam 1,17; 2.Kön 5,19) oder „Friede sei mit euch“ o.ä. in der Briefliteratur. Eine reflektierte Form des Grußes mit Tiefgang ins Innere des Menschen finden wir im Friedensgruß des Auferstandenen Lk 24,3621. Auch in der Briefliteratur gibt es über die Formel hinaus ausdrückliche Friedenssegnungen (εἰρήνη / eirēnē) (Röm 15,13; Phil 4,7; 1.Tim 5,23; Kol 3,15; 2.Thess 3,16). Friedenssegnungen und Seligpreisungen unterscheiden sich schließlich durch das einleitende Wort. ‫ ֲ א ְשׁ ֵרי‬/ ᵃschrē wird von der Septuaginta mit μακάριος / makarios wieder­ gegeben und heißt „selig sind …“ oder „wohl denen …“, so auch im NT. ‫ ָ שׁלוֹם‬/ schālōm ist Einleitung der Friedenssegnung, von der Septuaginta mit εἰρήνη / eirēnē übersetzt, so auch im NT22.

21 Aus Jh 20,19.26 hier eingedrungen? 22 Als Beispiel sei auf Ps 128 verwiesen.

3. Die Seligpreisungen als Teil des Lukasevangeliums (Lk 6,20–23)

Die lukanische Fassung der Seligpreisungen entspricht, wie dargestellt, weitge­ hend der Q-Fassung. Erweiterungen wie bei Mt gibt es nicht. Daher muss die Einordnung in den Kontext lukanische Interpretationsschwerpunkte aufdecken. Zunächst fallen die Weherufe im unmittelbaren Anschluss auf (Lk 6,24–26). Sie bilden in gewisser Entsprechung zu den Seligpreisungen die Negativfolie des Gerichts, von der sich die Verheißung des Heils umso heller abhebt. Dass die Ar­ men selig gepriesen werden, wird noch einmal mehr dadurch unterstrichen, dass die Reichen ohne Trost leer ausgehen. Für die jetzt Satten und Lachenden kehren sich die Dinge am Ende um; die anerkannten Schönredner werden wie die fal­ schen Propheten dem Gericht verfallen. Die Weherufe sind Produkte lukanischer Redaktion und machen klar, dass das Evangelium des Lukas für die Deklassierten da ist. Hier wird nichts metaphorisiert oder spiritualisiert. Die Gleichnisse vom reichen Kornbauern (Lk 12,16–21) und vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16,19–31), alle SLk, sprechen hier eine deutliche Sprache. Sodann ist der rote Faden der Evangeliumsverkündigung des Lukas zu be­ achten. Was er zu sagen hat, ist Evangelium in reflektierter Gestalt. Die beiden anderen Synoptiker verwenden zwar auch das Wort „Evangelium“, aber nicht so auffällig reflektiert wie Lukas. Die Programmatik der Predigt Jesu wird zu Beginn klar benannt: „… zu verkündigen das Evangelium den Armen“. Im Einzelnen heißt das: den Gefangenen Freiheit, den Blinden Heilung, den Zerschlagenen Mut zum Leben, und zwar „heute“ (Lk 4,16–21). Der Evangeliumsbegriff begegnet im Lkev zum letzten Mal in Lk 16,16: „Das Gesetz und die Propheten reichen bis Johannes. Von da an wird das Evangelium vom Reich Gottes gepredigt“1. Ziel­ gruppe des Evangeliums sind die „Armen“ (Lk 4,18), Inhalt ist das Reich Gottes (Lk 16,16). Wenn dem so ist, dann ist es nur einleuchtend, konsequent und der Wahrheit entsprechend, dass „ihr Armen selig zu preisen seid, denn das Reich Gottes ist euer“ (Lk 6,20). Arme, Evangelium und Reich Gottes liegen bei Lukas auf einer Linie. Bestätigt werden diese Beobachtungen durch kleinere Wegmar­ ken: Die Programmatik wird in Nazareth verkündigt, es folgt Kapernaum mit Predigt „in Vollmacht“, bis Jesus „auch den anderen Städten das Evangelium vom Reich Gottes predigen“ muss (Lk 4,43). Nach wunderhafter Petrusberufung, Tun 1 Die Sache des Evangeliums entfaltet sich indes weiter, auch ohne dass der Begriff genannt wird. Die „Predigt des Evangeliums“ erscheint in Lk 16,16 als Epochenbegriff, so dass alles Wei­ tere unter dieser Überschrift steht, bis sich in Apg 1,8 eine neue Epoche öffnet.

Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen 

487

und Reden in Vollmacht und der Berufung der Zwölf folgen die Seligpreisungen. Die Linie Arme – Evangelium wird in Lk 7,22 wieder zitiert. Hier greift Lukas auf Q zurück. Nach der Aussendung tun die Jünger das Gleiche: „Sie predigten das Evangelium …“ (Lk 9,6), bis die Linie in Lk 16,16 ein letztes Mal auftaucht. Das Reich Gottes hat immer eine präsentische und eine futurische Kompo­ nente. Bei Lukas ist die präsentische stärker betont als bei Matthäus. Das passt zu einem realistischen Verständnis der Armen und sonstigen Notleidenden, denen in der Verheißung schon jetzt ein Mehrwert an Leben zuteil wird. Die präsentische Komponente ist durch Lk 7,22 (Aorist im Unterschied zu Mt 11,4 [Präsens]2) und durch Lk 17,20 (egal wie man ἐντὸς ὑμῶν / entos hymōn = „in euch“ oder „in eurer Mitte“ übersetzt) unterstrichen. Wo sich das Reich Gottes (in der Gestalt und Verkündigung Jesu) realisiert, da zieht Frieden ein. Eine scheinbar unbedeutende Szene des lukanischen Sonderguts lässt das blitzartig aufleuchten. Zu Beginn der großen Reise nach Jerusalem wer­ den Jesus und seine Jünger in einem Samaritanerdorf nicht aufgenommen. Die Jünger wollen es mit Feuer vernichten. Jesus aber „bedroht“ sie, wie er sonst Dämonen bedroht (ἐπετίμησεν / epetimēsen). Sie tun es nicht. Nicht weniger ge­ schieht hier als die Außerkraftsetzung des Vernichtungsbanns. Wer damit spielt, ist von einem Dämon besessen. Wer das Evangelium vom Reich Gottes bringt, so Lukas, kann nicht Städte vernichten3, allenfalls deren Staub von den Füßen schütteln (Lk 9,5 parr). Schließlich verbindet sich Armut – Evangelium – Reich Gottes mit Frieden in der lukanischen Geburtsgeschichte des Heilands. Die zentralen Stichworte der Frohbotschaft werden Wesens- und Wirkmerkmal des verkündigten Christus: – In Armut und Niedrigkeit wird er, den Umständen geschuldet, geboren (Lk 2,7). – Die Ersten, denen die frohe Botschaft gilt, sind die Ärmsten der Gesellschaft (Lk 2,8–14). – Das Evangelium ist Christus der Heiland (vgl. auch Mk 1,1: „das Evangelium von Jesus Christus“). Jetzt, hier, „heute“ nimmt es Gestalt an (Lk 2,10 f). – Das Evangelium von Christus ist das Evangelium vom Reich Gottes „in der Höhe“ und „auf Erden“ (Lk 2,14). – Auf der Erde verwirklicht es sich durch Ausbreitung von Frieden (Lk 2,14b). – Der Frieden kommt „den Menschen seines Wohlgefallens“ zugute. Und das sind die Armen und Hungrigen, die Trostbedürftigen und Ausgestoßenen (vgl. Lk 1,48.52–54; 1,78 f; 2,25.29; 4,18 f). 2 Aorist deutet auf das tatsächlich Geschehene, Präsens impliziert interpretierendes Hören und Sehen (G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten, a. a. O., S. 133 ff). 3 Dass bannähnliche Fluchsprüche dämonischer Besessenheit entspringen, unterstreicht Kodex D, indem er ergänzt: „Ihr wisst nicht, welch Geistes ihr seid.“ Die Koine und weitere Ko­ dizes fügen hinzu: „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, Menschenleben zu verderben, sondern zu retten.“ Dadurch wird der Vernichtungsbann einmal mehr aufgehoben.

4. Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums (Mt 5,3–12)

Matthäus ergänzt seine Q-Vorlage durch Seligpreisungen von Tätern der Gerech­ tigkeit. Dazu gehören in erster Linie die Sanftmütigen (Mt 5,5), die Barmherzigen (Mt 5,7), die aus reinem Herzen Handelnden (Mt 5,8), die Friedensstifter (Mt 5,9) und die wegen Rechttun Verfolgten (Mt 5,10). Das Tun der Gerechtigkeit ist ein Grundanliegen des Matthäus. Es ist die vornehmste Aufgabe der Jüngerschaft. Durch das Tun ihrer guten Werke kommt die sehende Welt zum Lobpreis des Vaters im Himmel (Mt 5,16). Und: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 5,20). Das Tun der Gerechtigkeit steht zwischen dem Lehren bzw. Hören und dem Lohn. Jesus lehrt und handelt (Mt 5,2; 7,28 f; 8,1 ff; 9,35), die Jünger hören und tun (Mt 7,24–27 / Lk 6,47–49). Das Hören ist im Tun umzu­ setzen. In Mt 5,16 ist es missionarisch, in Mt 5,20 ethisch motiviert. Das Tun ist automatisch in den Tat-Folge-Zusammenhang eingereiht. Das Tun der Gerech­ tigkeit wird belohnt: Die Sanftmütigen werden die Erde besitzen, den Barmher­ zigen wird Barmherzigkeit widerfahren, die Reinen werden mit dem Privileg der Gottesschau belohnt, die Friedensstifter werden in Gottes Nähe gerückt, und die Märtyrer werden zu Mitregenten Gottes. Der Lohngedanke durchzieht auch die von Matthäus hervorgehobenen christlichen „Tugenden“ Almosengeben, Beten, Fasten. Die Eingliederung des Tuns in den Tat-Folge-Zusammenhang verstärkt die ethische Ausrichtung der Seligpreisungen durch Matthäus. Der ethische Kern der Seligpreisungen verlagert sich von einer durch „Selig“ (μακάριος / makarios) bestimmten Haltung zu konkreten Handlungen, die der Gerechtigkeit entspre­ chen und dem Frieden dienen. Durch den Tat-Folge-Zusammenhang tritt auch die Kontur Gottes deutlicher hervor; denn er ist es, der jeden in je eigener Weise belohnt.

4.1 Der ethische Kern der Seligpreisungen Matthäus bemüht sich, den Tatcharakter auch dort einzutragen, wo ursprünglich ein zu erleidender Zustand beschrieben wird. Das ist Mt 5,3; 5,6 und 5,11 der Fall. Aus den Armen werden die geistlich Armen, aus den Hungernden und Dürsten­ den die nach Gerechtigkeit Lechzenden bzw. Strebenden1. So werden auch hier

1 Dabei werden die Passiva „arm“ und „hungrig“ zwangsläufig metaphorisiert.

Der ethische Kern der Seligpreisungen

489

die Haltung der geistlichen Armut und die Aktivität des Gerechtigkeitsstrebens zur ethischen Maxime. – In 5,11 ergänzt Matthäus: „und sie lügen (damit)“. U. Luz erkennt darin das „ethische Interesse“ des Matthäus2. Eine nähere Begründung findet man bei ihm in diesem Zusammenhang nicht. Dennoch ist ihm zuzustim­ men. Denn im Umkehrschluss heißt die matthäische Ergänzung: Wenn die Ver­ folger „lügen“, tun die Verfolgten Rechtes, verwirklichen die Gerechtigkeit. Dieses Tun wäre ohne die matthäische Ergänzung so nicht herauszulesen. Der Konnex von Hören / Lehren und Tun ist Matthäus wichtig, das Einste­ hen für das Gehörte / Gelehrte durch die Tat. Die Tat als ethische Forderung ge­ winnt Bekenntnischarakter (neben der matthäisch-redaktionellen Reihenfolge von Kapp. 5–7 und Kapp. 8–9 auch in der Aussendungsrede die Abfolge von Mt 10,7.8 und in der Pharisäerrede der Widerspruch von Reden und Tun bei den Pharisäern und Schriftgelehrten: Mt 23,3 f.23). Darum hat das Tun bei Mt in den Seligpreisungen auch ein so starkes Gewicht. Die Gliederung der Seligpreisungen und die matthäischen Ergänzungen entsprechen den erkennbaren Anliegen des ersten Evangeliums. Mit G. Strecker geht man nicht fehl, in Matthäus einen „christlichen Schriftgelehrten“ zu sehen (vgl. auch den Hinweis auf diese in Mt 23,24), der sich hinter die Lehre und Verkündigung Jesu stellt3. Entsprechend werden die Seligpreisungen Jesu auch gegliedert. Sie stehen unter der Überschrift der Lehre (Mt 5,1), gehen dann aber auch in Verkündigung über. Der Lehrer Jesus spricht in Mt 5,3–10 Menschen in der 3. Person an, der Verkündiger der Botschaft vom Reich (vgl. Mt 4,23; 9,35) ab Mt 5,11 die Jünger und das Volk in der 2. Person. Außerdem bildet die Verheißung des Himmelreichs eine Klammer um die Lehrworte (Mt 5,3 und 5,10).

Im Einzelnen entsprechen die Aktivitäten der Sanftmut, der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Lauterkeit und der Friedensarbeit matthäischen Anliegen, für die der Evangelist auch sonst in seinem Evangelium wirbt. Er schreibt Sanftmut Jesus selbst zu, und zwar so, dass sie sowohl – innerhalb des Erzählflusses – vom Menschen Jesus als auch – innerhalb der Verkündigung des Matthäus – vom Gottessohn ausgeht. In Mt 11,28 spricht der Irdische die von Beschwernissen aller Art Geplagten an, zu ihm zu kommen, um bei ihm Ruhe zu finden. Die Ruhe aber stellt sich nicht von selbst ein, sondern sie ist ein Lernprozess („lernt von mir“). Zu lernen sind Sanftmut und Demut, nicht mehr und nicht weniger („denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“4). Wer sich diesem Lernprozess nicht unterzieht, verbleibt in selbstzerstörerischer und revolutionärer Unruhe. Das nur bei Mt überlieferte Wort lässt sich auch als Wort des Auferstandenen für die Ge­ 2 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 289. 3 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 39 f und 126. Διδάσκειν didaskein = „lehren“ und κηρύσσειν / kēryssein = „verkündigen“ sind zwar spezifische Sprechakte, durch­ dringen sich aber gegenseitig: In jeder Lehre steckt Verkündigung, umgekehrt hat Verkündigung auch eine lehrhafte Komponente. 4 Im Gegensatz zur Gesetzesobservanz der Pharisäer und Schriftgelehrten (Mt 23,4).

490

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

meinde hören. Die Anrede an „alle“, das lernende Aufschauen, die Verheißung des Seelenfriedens sprechen dafür. In Mt 21,5 zitiert Matthäus (als Einziger) Sachj 9,95. Zugleich interpretiert er das Zitat in Richtung auf Sanftmut des messiani­ schen Königs. Ein Vergleich von masoretischem Text, Septuaginta und Matthäus verdeutlicht das: MT

LXX

Mt

‫ִהּנֵ ה ַמלְ ּכֵ ך‬

ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου

ἰδοὺ ὁ βασιλεύς σου

‫יָבֹוא לָ ך‬

ἔρχεταί σοι

ἔρχεταί σοι

‫נֹושׁע הּוא‬ ֶ ְ‫צַ ִּדיק ו‬

δίκαιος καὶ σῴζων αὐτός

‫ל־חמֹור וְ עַ ל־עַ יִ ר‬ ֲ ַ‫ָענִ י וְ רֹכֵ ב ע‬

πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὑποζύγιον καὶ πῶλον νέον

πραῢς καὶ ἐπιβεβηκὼς ἐπὶ ὄνον καὶ ἐπὶ πῶλον υἱὸν ὑποζυγίου

‫ן־אתֹנֹות‬ ֲ ‫ֶּב‬ Siehe, dein König

Siehe, dein König

Siehe, dein König

kommt zu dir,

kommt zu dir,

kommt zu dir,

gerecht und geholfen6 ist er,

gerecht und helfend ist er,

arm und reitend auf einem Lasttier, und zwar7 auf einem jun­ gen Esel,

sanftmütig und reitend auf einem Lasttier, und zwar8 auf einem jun­ gen Füllen.

dem Sohn von Eselinnen9.

sanftmütig und reitend auf einem Esel, und auf dem Füllen, dem Sohn eines Lasttiers.

Die Synopse zeigt: Der masoretische Text Sachj 9,9 ist über die Jahrhunderte einer fortlaufenden Interpretation unterzogen. Die Septuaginta ersetzt „geholfen“ sinnvollerweise durch „helfend“. Allein schon dadurch aber wird der Charakter des Messias als eines primär Hilfe Empfangenden verkürzt und der Ton auf seine errettend helfende Aktivität gelegt. Gleiches geschieht noch augenfälliger bei der Interpretation von „arm“ als „sanftmütig“. ‫עָ נִ י‬/῾ānī = „arm“ bedeutet auch

5 Die Nähe zu Jes 62,11 kann hier unberücksichtigt bleiben. 6 Zu Sachj 9,9 f s. o. unter AT 3.10.2. 7 „und“ im Sinne von „und zwar“. 8 S. Anm. 7. 9 Plural der Gattung.

Der ethische Kern der Seligpreisungen

491

„leidend“, „gebeugt“. Die passive Haltung wohnt dem Wort inne. Der interpreta­ tive Übergang zu ‫ עָ נָ ו‬/ ῾ānāw = „demütig“ ist fließend. Gehört Demut auf die aktive oder passive Seite? In Mt 11,29 finden wir es zusammen mit Sanftmut, also eher auf der aktiven Seite. Die Nähe von „arm“ zu „demütig“, aber auch bewusste Be­ tonung der Friedensaktivitäten des messianischen Königs lassen die Septuaginta „arm“ im Sinne von „sanftmütig“ interpretieren. Die ganz andere Macht zeichnet diesen König aus: Milde statt Strenge, eben Sanftmut. Eine Aktivität neben Gerech­ tigkeit und Hilfe, verbunden mit einem „Zug nach unten“ (E. Bloch). Matthäus übernimmt den Begriff „sanftmütig“ aus der Septuaginta (oder einer Schriftzita­ tensammlung), streicht aber „gerecht“ und „helfend“. Er übernimmt das „Füllen“ aus der Septuaginta und übernimmt zusätzlich „den Sohn von Eselinnen“ schein­ bar aus dem masoretischen Text. In Wirklichkeit wird ihm eine griechische Über­ setzung (oder eine Schriftzitatensammlung, die Jesus als den erwarteten Messias erwies10) vorgelegen haben, in der diese Erklärung schon stand. Im Übrigen bedeutet bei ihm καί nicht mehr „und zwar“, sondern „und“, wie der „Einzug in Jerusalem“ zeigt (Mt 21,2.7)11. Der interpretative Eingriff des Matthäus ist nicht zu übersehen. Der Einzug in Jerusalem ist der Beginn des Weges zur Hoheit in Niedrigkeit12. Der Gang ans Kreuz ist als erniedrigendes Lebensende alles andere als aktive Rechtsdurchsetzung13 oder helfendes Eingreifen zugunsten Benachtei­ ligter14. Daher ist dieses Wirken hier gestrichen. Die ganz andere Hoheit, die auf Demonstration von Macht verzichtet, ist allenfalls noch mit Sanftmut und Milde zu charakterisieren. Jesus erweist sich als sanftmütig sogar angesichts des Angriffs auf sein Leben. Das entspricht nach Mt seiner Rolle als Kyrios15. Darin ist er Vor­ bild für die Gemeinde. So kann er nach Mt auch die Sanftmütigen selig preisen. Denn als solche, und nur als solche, werden sie Herren über die Erde sein. Des Weiteren ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit ein zentrales matthäi­ sches Anliegen. Es leitet das Evangelium anlässlich der Taufe Jesu durch den Täufer ein (Mt 3,15), und es findet sich gegen Ende mit dem Hinweis auf den „Weg der Gerechtigkeit“, den Johannes gewiesen habe, der aber von den religiö­ sen Führern des Volkes unbeachtet geblieben sei (Mt 21,32; vgl. auch 3,7–10). 10 So G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 50; 74; 83 f. 11 Mt findet die Einzugsgeschichte bei Mk. Da er sie aber durch das Reflexionszitat absichern will, kommt es bei ihm, der καί = „und“ als Aufzählung versteht, zu dem Missverständnis zweier Tiere. 12 Dass Mt die Hoheit Jesu im Leiden betont, hat G. Strecker herausgestellt (Der Weg der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 181 f). Die Passion wird „als ein Geschehen um den eschatologischen Kyrios“ charakterisiert (vgl. die mt Titeleintragungen κύριος / kyrios = „Herr“ in 26,22 und υἱὸς τοῦ θεοῦ / hyios tou theou = „Sohn Gottes“ in 27,40.43). 13 Jesus antwortet (bei Mt ausdrücklich) nichts auf die Anschuldigungen der Hohenpriester und Ältesten (27,12). 14 Der nicht mehr helfen kann, muss scheinbar (!) auch selbst auf Hilfe verzichten (27,42 f). 15 Seine Macht ist anderer Art: Vgl. Mt 28,18. Johannes reflektiert das auf seine Weise (Jh  18,36 f).

492

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

Johannes verkündet bereits als Herold des Kommenden den Weg der Gerechtig­ keit, der in „Buße“ und „guter Frucht“ besteht und mit der Taufe beginnen kann. Buße und gute Frucht kann nur Rückkehr zum ursprünglichen Geist des Gesetzes und der Propheten bedeuten (vgl. Mt 5,17). Dass Jesus die Johannestaufe an sich vollziehen lässt, bedeutet, dass er die Rückkehr zu diesem ursprünglichen Sinn in Wort und Tat leben will. „Alle Gerechtigkeit“ – d. h. Gesetz und Propheten – sollen in ihm „erfüllt“ werden (Mt 5,17). Die Himmelserscheinungen bei der Taufe sind Bestätigung durch Gott. Am Ende wird sich angesichts des Kreuzes zeigen, dass der zum Gottessohn Adoptierte derjenige war und ist, der die Ge­ rechtigkeit aufgerichtet hat und es weiter tut (vgl. die Frau des Pilatus: „… Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten …“ [Mt 27,19]). – Das matthäische Anliegen, die Gemeinde auf den Weg der Gerechtigkeit zu führen, dem Erfüller der Gerechtigkeit folgend, wird allein durch die Häufung der Gerechtigkeitspar­ änese in der Bergpredigt deutlich: in den Seligpreisungen zweimal (5,6.10), das zweite Mal wohl zur Verdeutlichung von 5,11 f (Q); in 5,20 als Überschrift über die neue Tora, deren Tun die neue Gerechtigkeit ist, die – in Abgrenzung gegen das Tun der Schriftgelehrten und Pharisäer – zur Seligkeit bzw. ins Himmelreich führt; in 6,1 als soziales Handeln, das motiviert sein soll durch barmherzige Güte aus reinem Herzen, nicht aus Selbstdarstellung; in 6,33 als eine vom „himm­ lischen Vater“ gegebene Gerechtigkeit, gegeben aber nicht im paulinischen Sinn zuerkannter Gerechtigkeit, sondern gegeben im Sinn eines letzten, nicht hinter­ fragbaren Gesetzes, um es zu tun (vgl. Mi 6,8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“16). Dem korrespondiert das 23. Kapi­ tel: Hier wird die „schlechtere“ Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten17 angeprangert, die den Weg ins Himmelreich mitnichten erschließt (23,13). Die „bessere“ Gerechtigkeit ergibt sich aus dem Gegenteil dessen, was die scheinbar Frommen (23,28) tun. So gilt für das Volk und die Jünger: Hören bzw. Lehren des 16 MT: Man hat dir, Mensch, angezeigt, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Recht tun und Güte lieben und „einsichtig“ wandeln mit deinem Gott (in Anlehnung an Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha, a. a. O., S. 198 und 204). LXX: Ist dir nicht angezeigt, Mensch, was gut ist? Oder was der Herr von dir fordert? Nichts als Recht tun und Erbarmen lieben und bereit sein, mit dem Herrn, deinem Gott zu wandeln. Der Vergleich der Übersetzungen wirft ein Licht auf das interpretative Moment: In MT und LXX sind Recht tun und Barmherzigkeit parallel geschaltet (vgl. den Barmherzigkeits-Makaris­ mus [5,7 {MtRed}] nach dem Gerechtigkeits-Makarismus [5,6 {Q+MtRed}]), Luther interpre­ tiert „Recht tun“ durch „Gottes Wort halten“, um die Tun-Ethik zugunsten einer Hören-Ethik zurückzudrängen. Mit der hebr. Wurzel ṣn῾ quälen sich alle ab: √ṣn῾ = „einsehen und gut heißen, wie Gott deinen Weg mit dir geht“ (vgl. Hi 2,10). Ist das „Demut“? Das Griechische hätte hier das Wort ταπεινός bereit. Ich schlage vor: „… bereitwillig zu wandeln mit deinem Gott“ (vgl. auch Traktat Sukka 49b: „… unauffällig gehen mit deinem Gott“). 17 Mt differenziert nicht zwischen den Gruppen, sondern typisiert sie (G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 137 Anm. 3 und S. 140).

Der ethische Kern der Seligpreisungen

493

Gesetzes und Tun müssen übereinstimmen (23,3); Brüderlichkeit und Dienst er­ höhen einen Menschen, nicht Selbstgerechtigkeit und Heuchelei (23,5–15); den Geist des Gesetzes zu leben, ist dessen Erfüllung (Recht tun, Barmherzigkeit üben, Glauben leben), nicht Buchstabentreue (23,23). Nirgends fällt hier das Wort „Ge­ rechtigkeit“ (δικαιοσύνη / dikaiosynē), der Sache nach ist sie aber präsent. Erst in Mt 23,35 ist vom „gerechten Blut“ (αἷμα δίκαιον / haima dikaion) die Rede, das von den Märtyrern stammt, eine Spiegelung der „um der Gerechtigkeit willen Verfolgten“ von Mt 5,10. Wie sich zeigt, sind Gerechtigkeit und Barmherzigkeit oft miteinander verbun­ den. Barmherzigkeit ist Ausdruck der Gerechtigkeit. Das hat seine Wurzel bereits im AT (vgl. Ps 37,21) und tritt im NT verstärkt hervor. So wird auch Barmher­ zigkeit zu einem Anliegen des Matthäus. Zweimal fügt Matthäus das Hoseazitat Hos 6,6 in den überlieferten Text ein (9,13; 12,7). In Mt 23,23 schafft er selbst die Verbindung von Recht und Barmherzigkeit und interpretiert damit zusammen mit „Glauben“ den Q-Text, der wohl an dieser Stelle nur „das Recht und die Liebe Gottes“ (vgl. Lk 11,42) enthielt. In Mt 20,30 / Mk 10,47 / Lk 18,58 ist das „Erbar­ men“ zwar aus Mk übernommen; aber es taucht typischerweise bei der Heilung zweier Blinder Mt 9,27–31 (SMt!) wieder auf. Schließlich wird auch das Ideal der Barmherzigkeit bei Mt in einer Rede entfaltet, der Endzeitrede Mt 25,31–46. Auch hier fällt der Begriff nicht, ist aber der Sache nach da – und als Handlungsweise der „Gerechten“ beschrieben (25,37.46). Die Reinheit des Herzens ist eine Zuspitzung des Themas „Reinheit“, das Mat­ thäus ebenfalls wichtig ist. Gern übernimmt er daher von Q Mt 23,25 f: Innere Reinheit hat Priorität vor äußerer. Das Lehrgespräch mit den Pharisäern und Schriftgelehrten vertieft diesen Gedanken (Mt 15,1–20). Zwar hat Matthäus die­ ses von Mk 7,1–23 übernommen, aber Lukas hat es nicht übernommen, was die Wichtigkeit dieses Themas für Matthäus bezeugt, zumal er die Markus-Überliefe­ rung stärker als der zweite Evangelist konturiert: Er schaltet die „Überlieferungen“ zum Händewaschen und zum Elterngebot hintereinander, um sie durch das Zitat Jes 29,13 zu entkräften, sodann hebt er die Wichtigkeit und Reformbedürftigkeit der Reinheitsfrage dadurch hervor, dass „die Pharisäer an dem Wort Anstoß nah­ men“ (15,12 [MtRed]), und schließlich unterstreicht der pointiert zusammenfas­ sende Schlusssatz noch einmal das Thema „wahre Reinheit“ („Das ist es, was den Menschen verunreinigt; das Essen mit ungewaschenen Händen aber verunreinigt den Menschen nicht“ [Mt 15,20, eig. Übers.] – gegenüber Mk 7,23: „All dieses Böse kommt von innen heraus und verunreinigt den Menschen“ [eig. Übers.]). Schließlich ist auch das Frieden-Stiften ein matthäisches Anliegen. Das beginnt im persönlichen, privaten Bereich: Die Versöhnung mit dem Bruder ist Voraus­ setzung für eine würdige und von Gott akzeptierte Opfergabe am Altar (Mt 5,23 f [SMt]). Das setzt sich im öffentlichen Bereich mit der außergerichtlichen Einigung mit dem Gegner fort (Mt 5,26 [Q]), und das findet seinen alle Grenzen überschrei­ tenden Zielpunkt im Gebot der Feindesliebe Mt 5,43–48, das zwar Q-Stoff ist, aber

494

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

von Matthäus zu einem eigenen antithetischen Thema ausgebaut und so neben dem Gebot der Nichtvergeltung Mt 5,38–42 besonders stark gewichtet wird. SMt ist das Schwertwort im Passionsbericht (26,52). Mit Gewalt gegen erlittenes Un­ recht vorzugehen heizt nur Gewalt an, und Gewalt ist die Sprache der Gottlosen (Ps 37,35). Hier geht es aber darum, Gott zur Sprache und zur Ehre kommen zu lassen, auf dass sich die Schrift erfülle (Mt 26,54). Da die Erweiterungen der Seligpreisungen in der mt Form den Anliegen des Evangelisten entsprechen, können sie auch u. a. von den jeweiligen Fixpunkten her gedeutet werden. Wer die „geistlich Armen“ sind, ist in der Auslegungsgeschichte Gegenstand verschiedener Deutungsversuche18. Ich ersetze den metaphorisierten Armuts­ begriff durch eine andere Metapher: „Bettler“19. So finde ich mich bei Luthers letzter anthropologisch-theologischer Erkenntnis wieder: „Wir sind alle Bettler, hoc est verum“20. Wohlgemerkt: Bettler sein ist eine Aktivität, die dahin führt, bei Gott seine Hilfe zu suchen21. Wer vor Gott tritt (Aktiv!), ohne etwas vorweisen zu können, alles von ihm erwartend, der bekommt alles von ihm geschenkt, hier: das Himmelreich22. Matthäus greift nicht zufällig auf ein Q-Wort Jesu zurück: „… wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ (Mt 23,12 / Lk 18,14), woraus einmal mehr deutlich wird, dass Bettler-Sein eine Bewegung (nach unten) darstellt23. – Den geistlich Armen wird eine Sphäre des Friedens zugesprochen. Das geht aus den Seligpreisungen nicht direkt hervor, wohl aber aus Ps 37, der Jesus und dem Evangelisten sicher vertraut war. Hier tauchen die geistlich Armen unter einem anderen Titel auf. Es sind die Stillen, die des Herrn harren (Ps 37,7). Ihnen wird zugetraut, von Zorn und Grimm Abstand zu nehmen, weshalb sie auch dazu auf­ gefordert werden (Ps 37,8). Der Friede ist die Sphäre, mit der auch der „Gedemü­ tigte“ (‫ עָ נָ ו‬/ ῾ānāw) sich identifizieren („Friede haben“) und in der er hier und jetzt 18 Systematisch erörtert und zusammengefasst bei U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 277 f. 19 Das wird gestützt durch den Ausdruck πτωχός / ptōchos = „(bettel)arm“ im Unterschied zu πένης / penēs = „arm“ (im Sinn einer durch Arbeit überwindbaren Armut) (vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 276). – Dem entspricht der Unterschied zwischen „bettel­arm“ und „bedürftig“ in Ps 37,14 (‫ עָ נָ י‬und ‫῾[ ֶא ְביֹון‬ānī und ’ävjōn]. LXX: πτωχὸν καὶ πένητα [ptōchon kai penēta]). 20 WA 48, S. 421. In diese Richtung deutet auch J. Schniewind, Das Evangelium nach Mat­ thäus, Göttingen 51950 (NTD 2), S. 41 und Th. Zahn, Das Evangelium des Matthäus, Leipzig 1903 (KNT 1), S. 183. 21 So auch E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 50. 22 Aufgrund des Geschenkcharakters des Himmelreichs fällt es schwer, grundsätzlich von „Einlassbedingungen“ zu sprechen (gegen G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 34; mit E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 46: Hier geht es nicht um Bedingungen, sondern um Zuspruch. Ebenso P. Fiedler, Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006 [ThKNT 1], S. 109 f). 23 Ich möchte „arm“ nicht mit „demütig“ gleichsetzen, wenngleich das wegen ‫ עָ נִ י‬und ‫῾( עָ נָ ו‬ānī und ῾ānāw) naheliegen mag. Aber es sind zwei verschiedene Wörter.

Der ethische Kern der Seligpreisungen

495

leben kann („das Land erben“) (Ps 37,11). Nur der Gottlose kann sie gewaltsam zerstören (Ps 37,14). Wer aber arm und fromm bleibt, d. h. gewaltlos und alles von Gott erwartend, wird überleben (Ps 37,18.37). Eine interessante Interpretation dieser Seligpreisung bietet der Jakobusbrief (Jak 2,5 f). Den Makarismus erhebt er zur Erwählung (vgl. auch 1.Kor 1,26), die „Armen“ bleiben die real Mittellosen, ihnen wird aber eine besondere Qualität zugesprochen: „im Glau­ ben reich“ („reich“ wird dabei metaphorisiert). Nicht aufgrund ihrer Armut allein wird ihnen „das Reich“ verheißen (so Lukas), sondern aufgrund ihrer besonderen Qualität. Darum sind sie besonders zu ehren und nicht zu verachten. Von den real Reichen allerdings geht „Gewalt“ aus. Wenn also jemandem Ehrerbietung entzogen werden sollte, dann den gewaltsamen Reichen und nicht den – im Umkehrschluss – gewalt­ losen Armen.

Die den Weg der Gerechtigkeit zu gehen beabsichtigen, stehen im Mittelpunkt der Unterweisung des Lehrers24. Die Unterweisung hat eine ethische Dimension. Der in der Nachfolge Stehende, nach Gerechtigkeit Strebende soll tun, was dem Willen Gottes entspricht25, also das, was im Gesetz und bei den Propheten überliefert ist. Dabei ist nicht Buchstabentreue gefragt, auch nicht Dogmatisierung zeitbedingter Vorstellungen26, sondern der Geist des Gesetzes27 und die Umsetzung sozialer Gerechtigkeit28. So gesehen findet sich die neue, „bessere“ Gerechtigkeit im Fort­ gang der Bergpredigt: Versöhnung statt Zorn und Rufmord, Entgegenkommen statt Prozess, Treue statt Zerstörung fremder und eigener Ehe, selbstverständ­ liche absolute Wahrhaftigkeit, keine Vergeltung, sondern überraschende Größe, Feindesliebe statt Feindeshass29. Damit der Nachfolger Jesu seinen Mitmenschen gegenüber nicht als besserwisserisch erscheint, soll er bei sich selbst anfangen, nach der „besseren“ Gerechtigkeit zu leben, d. h. Buße tun, sich des Richtens ent­ halten und den Balken im eigenen Auge erkennen (Mt 7,1–6). Das kann nur und soll ein lebenslanges „Hungern und Dürsten“ nach der „besseren Gerechtigkeit“ sein. Die mt Ethik verlangt nicht, dass der Jünger dort schon angekommen ist. Dass er aber strebend sich bemüht, das Ziel zu verwirklichen, das erwartet sie durchaus. Bei Paulus klingt das so: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit 24 Vgl. die Mittelpunktstellung in Mt 5,6, aber auch die Unterstreichung der Gerechtigkeit am Ende der Lehre in 5,10. 25 Etwa: „Suchet vielmehr zuerst sein Reich und seine Gerechtigkeit“ (nach Mt 6,33). 26 Etwa Reinheitsvorschriften (vgl. Mt 15,1–20). G. Strecker weist auch auf die Tradition des heiligen Krieges im AT hin, welche für den Bergprediger obsolet ist (G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 40). 27 Etwa die Verschärfungen der Gebote (Mt 5,21 ff; 5,27 ff) und die Antithesen (Mt 5,33 ff; 5,38 ff: 5,43 ff). 28 Etwa Almosengeben (Mt 6,1 ff) oder Offenheit für den Bittenden (Mt 5,42). 29 Wie das gehen kann, dazu zeigt Q offenbar einen Weg auf, der von Lk und Mt jeweils aus­ gestaltet wird. Mt: „Bittet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44); Lk: „Tut wohl denen, die euch hassen, segnet, die euch verfluchen, bittet für die, die euch beleidigen“ (Lk 6,27 f).

496

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18). Der Hunger und Durst nach Gerechtig­ keit ist der ethische und psychologische Antrieb, die Armut der Armen (Lk 6,20) schon hier und jetzt zu überwinden. Die nach Gerechtigkeit Strebenden werden von Gott ihren Lohn empfangen, „sie werden gesättigt werden“. Der Lohn liegt in der Zukunft. Ob noch in dieser Welt oder erst in jener, bleibt hier offen. Bei den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten liegt der Lohn im Himmel; denn eine Re­ habilitation und allgemeine Ehrung ist wohl auf Erden von der Mehrheitsgesell­ schaft nicht zu erwarten. – Hier (Mt 5,10) wie auch dort (Mt 5,6) ist „Gerechtig­ keit“ eine Frieden schaffende Losung, zugleich eine anti-aggressive Haltung und Handlungsweise. In Mt 5,10 lassen sich die Gerechten „verfolgen“, sie wehren sich nicht. Sie tun es nicht, weil sie wissen: Sie sind die „um meinetwillen“ (Mt 5,11) Verfolgten30. Die Gerechtigkeit der Gerechten ist die von Christus gelebte und aufgerichtete Gerechtigkeit, die das Kreuz einschließt. Darum wehren sie sich nicht. In Mt 5,6 ist gerechtes Handeln gegen jede Art gemeinschafts-störenden und -zerstörenden Verhaltens gerichtet, sei es in Ehe und Familie, in der Gesell­ schaft oder der Beziehung der Völker untereinander. – Dass Gerechtigkeit auch Barmherzigkeit und Sanftmut bedeuten kann, ist in Mt 6,1 ff und 5,42 bzw. 5,38 ff und 5,43 ff schon deutlich geworden. Diese Handlungsweisen sollen jetzt in ihrer friedensfördernden Kraft genauer betrachtet werden. Barmherzigkeit wurde schon als ein besonderer Aspekt der Gerechtigkeit be­ schrieben (vgl. auch Ps 37,25 f). Sie hilft die Unbarmherzigkeit und Rücksichts­ losigkeit des „Frevlers“ (Ps 37,35) zu überwinden und dem Unrecht Leidenden wenigstens punktuell Befreiung zu bringen. Bezogen auf Mt finden wir die un­ barmherzige Welt ebenso wie das Mitleid(en) mit den Leidenden im Gleichnis vom Weltgericht wieder (Mt 25,31–46): Nicht Hunger und Durst, nicht Fremdheit und Nacktheit, nicht Krankheit und Gefangenschaft sind die eigentliche Unbarm­ herzigkeit, sondern dass diese Menschen nicht beachtet werden, ausgeschlossen bleiben. Barmherzigkeit ist die Zuwendung zu diesen Menschen, die Teilgabe an den existentiell notwendigen Gütern, die Begegnung mit ihnen und das SichEinlassen auf sie mit dem Ziel der Überwindung der jeweiligen existentiellen Notsituation. Barmherzigkeit ist auch bereits der „Inbegriff der jüdischen Liebes­ werke“31: „Über jeden, der sich über Mitgeschöpfe erbarmt, erbarmen sie sich vom Himmel her, und über jeden, der sich über Mitgeschöpfe nicht erbarmt, erbarmen sie sich auch vom Himmel her nicht“32. Andererseits sind der Barmherzigkeit 30 Die Hintereinanderschaltung von 5,10 und 11 ist beabsichtigt (G. Strecker, Die Bergpre­ digt, a. a. O., S. 44). Auf die inzwischen gegenüber Q veränderte Verfolgungssituation (Heiden gegen Christen) gehe ich hier nicht weiter ein (s. dazu G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 46). 31 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 285. 32 Traktat Schabbat 151b (nach: Der babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Mayer, München 41978, S. 514; vgl. auch H. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I (Das Evangelium nach Matthäus), München 101994, S. 203.

Der ethische Kern der Seligpreisungen

497

auch Grenzen gesetzt: „Es ist verboten, einem Menschen, der kein Wissen (um die Tora) besitzt, Barmherzigkeit zu erweisen“33. Der Angehörige des ῾am-ha’āräz scheint also weitgehend von der Barmherzigkeit ausgeschlossen. Der matthäische Barmherzigkeitsbegriff zieht diese engen Grenzen nicht, im Gegenteil, er hat sie, anknüpfend an den weiten Auslegungshorizont, überwunden (Mt 25,31–46). Barmherzigkeit ist eine Konkretion sozialer Gerechtigkeit, die ihren Lohn nach sich zieht. Nicht um des Lohnes willen tut der Barmherzige sein Werk – der kommt als Tatfolge ohnehin auf ihn –, sondern um der Gerechtigkeit willen, die sich in Jesus erfüllt hat und auf Verwirklichung drängt. Insofern hat die Barmher­ zigkeit teil am friedenstiftenden Wirken der Gerechtigkeit. Die Sanftmütigen sind Menschen von demütiger Ergebung oder auch von ge­ lassener Güte. Beides schwingt mit und vereinigt sich zu einem Verhalten, das man lernen kann und soll (Mt 11,29). Die Seligpreisung geht fast wörtlich auf Ps 37,11 zurück. Matthäus hat offensichtlich den Septuaginta-Text gekannt. Dort steht πραεῖς / praeis für ‫ עֲ נָ וִ ים‬/ ’ᵃnāwīm = „Gedemütigte“, „Demütige“. Die Septuaginta nimmt also die passive Färbung des Zustands auf34. Zugleich ist πραΰτης / praÿtēs = „Milde“ im Griechischen eine Tugend35, also aktivisch konnotiert. Die Bedeu­ tung in ψ 36,11 (Ps 37,11) oszilliert zwischen Zustand und Haltung36. So eröffnet die Septuaginta eine Bedeutungsbreite, die von Matthäus aufgenommen und in seinem Sinn zugespitzt werden kann auf „Milde“, „Freundlichkeit“, „Sanftmut“. In Mt 5,5 meint πραεῖς / praeis eine Haltung, also „die Sanftmütigen“. Das ergibt sich zum einen daraus, dass die mt Einfügungen in die Seligpreisungen durchweg auf Haltungen abzielen, zum anderen daraus, dass Matthäus in 11,29 den Begriff der Demut deutlich aus der πραΰτης / praÿtēs ausklammert37. Übrig bleibt dann lediglich „Sanftmut“, die spezifisch matthäische Färbung des Begriffs (vgl. auch Mt 21,5). – Für Matthäus ist Jesus das Vorbild der Sanftmut. Jesus bringt durch seine Sanftmut Seelenfrieden; aber sie ist beileibe nicht nur auf reine Innerlichkeit gerichtet, sondern sie ist auch eine Haltung, die sich gesellschaftlich und poli­ tisch auswirkt. Durch seinen bewussten Verzicht auf Macht(demonstration) beim 33 Traktat Sanhedrin 92a (zit. nach H. Strack, P. Billerbeck, a. a. O., S. 205). 34 In der LXX steht πραΰς / praÿs für ’ānāw (U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 282). 35 Belegt seit Aristoteles in seiner Eudemischen Ethik, wo sie als Mittelweg zwischen Ge­ drückt-Sein und (berechtigtem) Zorn gilt. 36 Der Psalm legt sich auch inhaltlich nicht auf die „Passiven“ oder „Aktiven“ fest, wenn es darum geht, Erben des Landes zu werden (37,11: „Gedemütigte“ [pass.]; 37,22: „Gesegnete“ [pass.], 37,29: „Gerechte“ [akt.]). 37 … ὅτι πραΰς εἰμι καὶ ταπεινὸς τῇ καρδίᾳ …/hoti praÿs eimi kai tapeinos tē kardia = denn ich bin sanftmütig ↔ und von / im Herzen demütig. Dass die ταπεινοφροσύνη / tapeinophrosyne = „Demut“ hier keinen bloßen Zustand meint, sondern als Haltung auch auf die aktive Seite gehört, geht aus dem Zusatz τῇ καρδίᾳ / tē kardia = „von / im Herzen“ hervor. Denn das Herz ist – wie in der Septuaginta – „Bezeichnung des Ich als eines wollenden, planenden, trachtenden“ Wesens (R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 61968, S. 221).

498

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

Einzug in Jerusalem lässt er messianische Milde und Sanftmut (Sachj 9,9 LXX) zu einem gesellschaftspolitischen Faktor werden. Dem ordnet sich der ihm von den Evangelisten zugeschriebene Dienstgedanke ein (Mt 20,25–28 / Mk 10,42– 45 / Lk  22,24–26)38. Sanftmut, von den Gegnern als Schwäche ausgelegt, erweist sich am Kreuz als Demut und somit vor Gott als Größe (Mt 27,12 f / Mk 15,3–5). – Die Jünger, Repräsentanten der Gemeinde, werden durch die Seligpreisung zu analogem Handeln gerufen und befähigt: Hierarchieverzicht (Mt 18,1–5), Ver­ gebungsbereitschaft „von Herzen“ (Mt 18,21–35). Gerade die gemeindlich-ge­ sellschaftliche Komponente ist es, die die Sanftmütigen in der Nachfolge des Herrn zu Mandataren39 der Erde40macht. Sie und nur sie werden aufgrund ihrer Sanftmütigkeit das Mandat über die Erde im Sinne und nach dem Willen Gottes ausüben können. Ob die Verheißung der Erde eine sich jetzt schon realisierende oder eine sich erst künftig bewahrheitende ist, bleibt offen. Wahrscheinlich ist der Gedanke der realizing eschatology leitend, wonach die Zukunft in jedem Moment der Gegenwart schon begonnen hat. – Die Sanftmütigen leben wie die geistlich Armen in der Sphäre des Friedens. Sie identifizieren sich mit ihm als ihrer Le­ bensfreude und strahlen ihn auch aus (Ps 37,11). Ihr Herz ist frei von revolutio­ närer oder selbstzerstörerischer Unruhe (vgl. dagegen das Schwert des Gottlosen [Ps 37,14 f], aber auch des „Gotteskriegers“ [Mt 26,52 {SMt}], die beide durch den Gebrauch des Schwertes umkommen werden). Die πραεῖς / praeis sind in der hellenistischen Tugendlehre, im NT und in frühchristlicher Zeit41 jedem Zornes­ ausbruch, jeder Gewalttätigkeit, jeder Konfrontation abhold, sondern allein durch Frieden und Güte bestimmt. Durch die Seligpreisungen wird diese Haltung zur christlich-ethischen Maxime erhoben. In der sechsten Seligpreisung wird die Reinheit des Herzens gepriesen. Es ist gut möglich, dass Matthäus dazu durch das Schulgespräch Jesu mit den Pharisä­ ern (Mt 15,1–20 par) angeregt wurde. Denn darin ist das Herz der Ort, an dem Unreines sich einnistet, bevor es nach außen dringt, und an dem das Böse den Menschen verdirbt, bevor er es herausgelassen hat (Mt 15,11 in Verbindung mit 38 Matthäus hat die Vorbildfunktion Jesu mehr hervorgehoben als Markus: Mt 20,28: ὥσπερ / hōsper = gleichwie; Mk 10,45: καὶ γὰρ / kai gar = denn. 39 Wörtl.: „Sie werden die Erde erben“. Luther spitzt zu: „Sie werden das Erdreich besitzen“. Das Erbe ist Besitz und zugleich anvertrautes Gut. Ich ziehe im Blick auf die Erde den Aspekt des anvertrauten Gutes vor. Nur wer „sanft“ auch mit der Schöpfung umgeht, wird sie erhalten, um sie zu besitzen. 40 Die ehemalige Landverheißung (Ps 37,11) „ist längst ins Kosmische transponiert worden“ (mit U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 283; A. Lindemann, „Gewaltfrei? Zum Jesusbild in den Evangelien“ in: F. Schweitzer [Hg.], Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 462; gegen P. Fiedler, a. a. O., S. 111). Anfänge sind in Jes 56,1–8 und Sachj 9,10b schon vorgezeichnet. Mit γῆ / gē = „Erde“ ist gerade nicht „das in Jesus Christus gegenwärtige (…) Gottesreich“ gemeint (gegen G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 37 f und E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 47). 41 G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 37 Anm. 37.

499

Der ethische Kern der Seligpreisungen

15,18). Umgekehrt dürfte dann das Herz auch der Ort sein, an dem Reines ver­ borgen ist, bevor es „Vollkommenes“ wirken kann (Mt 5,48), und an dem das Gute den Menschen veredelt, bevor er Gutes tun kann. Was dort im Personkern wächst, bezeichnen wir als Gesinnung. Matthäus tut also recht daran, wenn er diejenigen selig preist, die reinen Herzens sind; denn aus dem reinen Herzen erwächst die gute, gerechte, „vollkommene“ Tat. – Mt 15,1–20 par (hier 15,8 und 9) weist von sich aus noch zurück auf Jes 29,13: „Dies Volk ehrt mich mit den Lippen, ihr Herz aber ist weit entfernt von mir; vergeblich verehren sie mich, weil sie Lehren lehren, die Gebote von Menschen sind.“

A B A‘ B‘

Aus dem Parallelismus ergibt sich: Lippenbekenntnisse ohne Tiefgang sind nichts wert vor Gott. (A → A‘) Ein Herz, das die Gebote Gottes nicht internalisiert hat, ist gott-los. (B → B‘) Demnach dürfte gelten: Ein Herz, das die Gebote Gottes sein eigen nennt und sie zur Geltung bringt, ist rein. Tatsächlich wird dies wiederum durch Ps 37 be­ stätigt. In Ps 37,30 f heißt es: „Der Mund des Gerechten spricht Weisheit, und seine Zunge redet das Recht. Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen, seine Tritte gleiten nicht.“

Mit anderen Worten: Wes Herz vom Gesetz erfüllt ist, des Mund geht von Weis­ heit und Recht über. Aus reinem Herzen kommen Weisheit, Recht und Gerech­ tigkeit. – Davon, dass Ps 37 dem Matthäus bekannt war, darf inzwischen aus­ gegangen werden. Ebenso werden auch Ps 24,4 und Ps 73,1 genannt, in denen die Unschuldigen als Fromme „reinen Herzens“ bezeichnet werden42. Darüber hinaus können Ps 24 und 73 noch stärker ausgewertet werden. Der Unschuldige reinen Herzens „ist nicht bedacht auf Lüge und schwört nicht zum Trug“, d. h. er ist bedacht auf die Einhaltung des Gesetzes. Des Weiteren wird ihm der Segen des Herrn verheißen (Ps 24,5). Dem entspricht bei Matthäus die Umwandlung in einen Makarismus. In Ps 73 bleibt der im Herzen Reine durch alle Anfechtungen hindurch in der Gemeinschaft mit Gott (Ps 73,23) und weiß sich dort auch auf­ genommen (Ps 73,24). Dem entspricht bei Matthäus die Verheißung „denn sie werden Gott schauen“. Gewährung der Gottesschau ist das Geschenk außerge­ wöhnlicher Gemeinschaft. Für die, die reinen Herzens sind, beginnt sich das Reich Gottes schon zu verwirklichen, und es wird sich in der Gabe außergewöhnlicher Gottesgemeinschaft vollenden. Dass ein reines Herz auch nicht auf Unrecht und

42 Ders., Die Bergpredigt, a. a. O., S. 41.

500

Die Seligpreisungen als Teil des Matthäusevangeliums 

Gewalt bedacht ist, sondern auf Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden, da­ von darf ausgegangen werden, auch wenn es nicht wörtlich erwähnt ist. Frieden untereinander zu halten ist zentrales christliches Gebot. Das NT be­ nutzt dafür die ermunternde Aufforderung εἰρηνεύετε / eirēneuete = haltet Frieden (Mk 9,50; Röm 12,18; 1.Thess 5,13). In Mk 9,50 ist diese Aufforderung absolut gebraucht. Paulus scheint sie ebenso absolut auch in 1.Thess 5,13 zu benutzen. Al­ lerdings rechnet er bereits in diesem frühen Brief mit der menschlichen Schwäche und passt die Forderung der Lebenswirklichkeit an: „Seht zu, dass keiner dem an­ deren Böses mit Bösem vergelte, sondern jagt allezeit dem Guten nach füreinander und für jedermann“ (1.Thess 5,15; vgl. Ps 34,15). Gleiches tut er in Röm 12,18 und 14,19: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18); „Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Röm 14,19). Der anthropologische Grund für diese Haltung ist in Phil 3,12–14 gelegt: Noch unvollkommen, erstrebe ich das Ziel der Vollkommenheit in der Hoffnung, so meine Existenz zu gewinnen, aber auch mit dem Risiko, das Ziel zu verfehlen. In Mt 5,9 ist von den εἰρηνοποιοί / eirēnopoioi die Rede. Darin steckt ähnlich wie bei denen, die dem Frieden nachjagen, ein dynamisches, darüber hinaus aber auch ein effektives Moment: Es sind die Frie­ densmacher, die Friedensstifter. Hier kommt der Tatcharakter der matthäischen Einfügungen besonders gut zum Ausdruck, und es wird deutlich, dass es sich da­ bei um ethische Maximen handelt. Diese Seligpreisung geht über Gewaltlosigkeit im Sinne des passiven Widerstands hinaus, sie ist erfolgsethisch orientiert und spornt die in ihrem Tun an, die aktiv und kreativ den Frieden erarbeiten, fördern, erhalten und zwar bedingungslos, wie die Bergpredigt nun einmal im Unterschied zu Paulus ist. Die Maxime, Frieden zu stiften, gilt unbedingt. Damit steht sie im Gegensatz z. B. zu den Kriegsgesetzen Dtn 20. Das Friedensgebot gilt dort nur bedingt: Bei kampfloser Kapitulation der feindlichen Stadt sollen Leib und Leben der Gegner geschont werden – bei Fronpflicht, versteht sich (Dtn 20,10–11). An­ sonsten ist der Frieden seitens Israels nur ein Angebot, er muss nicht um jeden Preis erarbeitet, gefördert, erhalten werden. Wird das Angebot abgelehnt, herrscht eben Krieg mit allen Konsequenzen für die feindliche Bevölkerung einschließlich Bann (Dtn 20,12–15.16–18). So gesehen ist die ethische Maxime eine Antithese zu Dtn 2043. Sie weist im matthäischen Kontext auf die sechste Antithese der Berg­ predigt voraus (vgl. auch hier wie dort die gleiche Verheißung, Söhne Gottes zu heißen). – Im Jakobusbrief zählt der Friedensstifter zu den Weisen. Er wird die „Frucht der Gerechtigkeit“ ernten (Jak 3,18). – Die Seligpreisung der Friedens­ stifter findet sich auch in der rabbinischen Literatur44. Jochanan ben Zakkai soll 43 Antithetisch kann auch auf 1.Kön 2,5–6 verwiesen werden: Davids letzter Wille ist, dass Joab auch im Tode keinen Frieden finde. Liest man Mt 5,9 als Antithese dazu, wird man diese in der ersten Antithese der Bergpredigt entfaltet finden. 44 ‫ ָ ע ָשׂה ָשׁלֹום‬/ ’āŝāh schālōm = „Frieden schaffen“ ist hier terminus technicus.

Die Kontur Gottes in den matthäischen Seligpreisungen

501

die Friedensverheißung zwischen Gott und Mensch dem zugesprochen haben, der „Frieden zwischen zwei Männern oder zwischen einem Mann und seinem Weibe oder zwischen zwei Städten oder zwei Nationen oder zwei Regierungen oder zwei Familien stiftet“45. Friedensstiftung bezieht sich hier auf den zwischen­ menschlichen, den ehelichen und den politischen Bereich und geht konform mit Mt 5,23 f.31 f.43 f. – Die Hochschätzung des Friedensstifters, der ohne Wenn und Aber Frieden schafft, kommt in seinem vor Gott schon jetzt geltenden Titel „Sohn Gottes“ zum Ausdruck. Dieser Titel zeigt, dass Frieden-Stiften (und da­ mit dem Chaos wehren46) ureigene, dem Menschen von Gott zugedachte Gabe und Aufgabe ist: „Wer ‚Sohn Gottes‘ ist, der ist zur Eigentlichkeit seiner Existenz gekommen“47.

4.2 Die Kontur Gottes in den matthäischen Seligpreisungen Der Tatcharakter der bei MtRed selig Gepriesenen lässt im Gegenüber auch die Tat-Konturen Gottes, sein Wirken deutlicher als bei Lukas hervortreten. Sein Wirken ist identisch mit der Tatfolge innerhalb der „schicksalwirkenden“ Sphäre. So kann Gottes reaktives Tun weitestgehend mit „Lohn“ beschrieben werden. So zusammenfassend in Mt 5,12, des Weiteren Mt 5,46; 6,2 f; 6,16.18. Der Lohn ist eine eschatologische Verheißung. Demgegenüber kommt die „Strafe“ kaum vor: in einem einzigen Satz: Mt 5,20. Und in Form von bloßer Nicht-Belohnung in Mt 5,46; 6,3; 6,16. Anders im AT, wo eine Ausgewogenheit von Lohn und Strafe herrscht, wenn am Ende auch der gnädige Gott über den zornigen und strafen­ den siegen mag. Anders auch bei Lukas mit den Wehe-Worten im Anschluss an die Seligpreisungen. In den matthäischen Seligpreisungen ist eine Korrektur des alten Gottesbildes zu beobachten: Gott ist mit den Sanftmütigen, nicht Schutz­ herr und Anführer im Jahwekrieg; er ist mit den Friedensstiftern und darin Geber einer sonst nie dagewesenen Gottesgemeinschaft; er lässt die, die in seinem Geiste wandeln, sich in außergewöhnlicher Schau nahen. Der nahe, sich offenbarende Gott gewinnt Gestalt, der ferne, verborgene Gott tritt weit in den Hintergrund.

45 Midrasch Mechilta 81a, zit. bei H. Strack, P. Billerbeck, a. a. O., S. 215; vgl. dazu auch P. Lapide, Die Bergpredigt – Utopie oder Programm, Mainz 1982, S. 41. 46 Vgl. 1.Kor 14,33. 47 G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 44.

5. Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität

Es geht hier zunächst um den Q-Stoff in größtmöglicher Ursprünglichkeit, also um größtmögliche Nähe zur ipsissima vox Jesu, somit um die Aufhebung des ius talionis und die Feindesliebe. Die Synopse erweist die Lukas-Version als die im Allgemeinen ursprünglichere, wobei sich auch hier noch ältere und jüngere ­Q-Traditionen voneinander abheben lassen. Synopse „Antithesen“ (eigene Übersetzung) Lk 6,27–36

Mt 5,38–48

27: Euch aber … sage ich: 27: Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen,

38: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Auge um Auge und Zahn um Zahn. 39: Ich aber sage euch, dem Bösen nicht zu widerstehen; sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin. 40: Und wer mit dir rechten und dein Hemd nehmen will, dem lass auch den Mantel. 41: Und wer dich nötigt, eine Meile zu gehen, mit dem geh zwei. 42: Dem, der dich bittet, gib, und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab.

28: segnet die, welche euch fluchen, bittet für die, welche euch beleidigen. 29: Dem, der dich auf die Backe schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dir dem Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht.

43: Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44: Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen,

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

503

30: Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück 31: Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, ebenso sollt auch ihr ihnen tun. 32–34: Und wenn ihr (nur) die liebt, die euch lieben … 35a: Vielmehr liebet eure Feinde 35b: und tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten. 35c: Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; 35d: denn er ist gütig gegen die Un­ dankbaren und Bösen.

45: damit ihr Söhne eures Vaters in den Himmeln werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und regnen über Gerechte und Ungerechte.

46–47: Denn wenn ihr (nur) die liebt, die euch lieben … 36: Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barm­ herzig ist.

48: So sollt nun (auch) ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkom­ men ist.

Unterstreichungen: nicht unterstrichen: ältere Traditionsstufe (ersetze aber Lk 6,32–34 durch Mt 5,46–47 und in Lk 6,35c „Söhne des Höchsten“ durch Mt 5,45a „Söhne eures Vaters“) ____________ jüngere Traditionsstufe Punkt – Strich: weitere Reflexionsstufe (ersetze aber Lk 6,35d durch Mt 5,45b)  Q-Red. Lk-Red. Umstellungen (Pfeilrichtung vom Ursprünglichen zum Fortentwickelten): Lk 6,27 → Mt 5,44 Lk 6,29.30 → Mt 5,39b.40.42 Lk 6,32–34 ← Mt 5,46–47

Die Aufforderung zu entwaffnender Kreativität ist in Lk 6,27–36 nicht antithetisch formuliert. Das scheint der ursprünglichen Q-Form am nächsten zu kommen. Die Antithesen Mt 5,38.39a und 5,43.44 sind, wie das Mtev in diesem Bereich zeigt, Werk des Matthäus und passen zum Lehrer der neuen Tora, als der Jesus hier dar­ gestellt wird. Somit wird auch die bei Lukas zu findende Einheit von Feindesliebe und Widerstandsverzicht ursprünglich sein. Die Goldene Regel Lk 6,31 ist zwar Q-Stoff (vgl. Mt 7,12), aber ein Wanderlogion, das im Laufe des Überlieferungs­ prozesses hier oder dort seinen Ort findet. Es gehört nicht notwendig in den ur­

504

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

sprünglichen Zusammenhang der Worte Lk 6,27–36. – Der Abschnitt weist eine die Klammertechnik verwendende Struktur auf: Feindesliebe samt generellem Gewaltverzicht (Lk 6,27–29) uneigennützige Großzügigkeit (Lk 6,30) gegen Liebe und Großzügigkeit aus Eigennutz (Lk 6,32–34) vielmehr Feindesliebe und Großzügigkeit (Zusammenfassung) (Lk 6,35a.b)  Lohn: „Söhne des Höchsten“ (Lk 6,35c) + Grund: „er ist gütig“ (Lk 6,35d), ethisch-theologischer Grundsatz auf Lk 6,27– 35a.b insgesamt bezogen, Zuspitzung des ethisch-theologischen Grundsatzes und Abrundung des Gebotes der Feindesliebe (Lk 6,36), auf Lk 6,27–35 insgesamt bezogen. Die Klammertechnik weist bereits auf eine Verschriftlichung der mündlichen Tradition. Dabei erscheint freilich Mt 5,46–47 gegenüber Lk 6,32–34 ursprüng­ licher1. Matthäus exemplifiziert Eigennutz an alltäglichen Beispielen, was Jesus näher kommt. Lukas theologisiert die Beispiele und gleicht sie den vorher genann­ ten Aktivitäten „Liebe“, „Gutes tun“, „leihen“ an. Matthäus nimmt Rache- bzw. Rechtsverzicht und Feindesliebe thematisch auseinander. Dadurch entfällt bei ihm die zweimalige Erwähnung der Feindesliebe, und die Ablehnung uneigennützi­ gen Handelns wird negativer Kontrapunkt zur alle Konventionen sprengenden Feindesliebe. Im Einzelnen ist zum Grundtext, wie er in Lk 6,27–30 zu finden ist, zu be­ merken: – v 27 („Euch aber …“): Q-Red., Überleitung – v 27 („betet für die, die euch hassen“): ursprünglich; dies hat wohl Anlass zu Mt 5,43 („… und deinen Feind hassen“) gegeben. – v 28 („segnet …“): ursprünglich – v 28 („bittet für die, welche euch beleidigen“): ursprünglich; „beleidigen“ (ἐπηρεάζοντες / epēreazontes) wird bei Matthäus zu „verfolgen“ (διώκοντες / ​ diōkontes). Zur Anspielung auf Verfolgungssituation vgl. schon Mt 5,112. – v 29a („Backe“): ursprünglich; Mt 5,39 („rechte Backe“): mt Verdeutlichung der mitschwingenden Verachtung – v 29b („dem, der dir den Mantel nimmt …“): ursprünglich; Logik spricht für Mantel vor Unterrock. Matthäus stellt um, muss daher das Geschehen von einer Gewaltszene zu einer Rechtssache („wer mit dir rechten … will“) machen. – v 30a („Jedem, der dich bittet, gib …“): ursprünglich; auch hier – bes. für v 30b – gilt: Matthäus wendet in zivilrechtliche Bahnen, was bei Lukas auch Betrug oder Raub sein kann.

1 E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 81; G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 90 und 94 f. 2 Einige (unbedeutendere) Handschriften füllen Mt 5,44 im Sinne von Lk 6,27 f auf.

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

505

– v 30b („von dem, der dir das Deine nimmt …“): ursprünglich; zugrunde liegt bei Lukas (und wohl auch bei Q) ἀπο τοῦ αἴροντος / apo tou airontos = von dem, der raubt. Bei Matthäus abgemildert: τῷ θέλοντι … λαβεῖν / tō thelonti … labein = dem, der … nehmen will3. Somit lautet Q bis dahin: Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Dem, der dich auf die (eine) Backe schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück.

Zu Lk 6,32–34 wurde schon auf den ursprünglicheren Text Mt 5,46–47 verwiesen. Somit können Diskussionen um „Dank“ oder „Lohn“ entfallen, zumal „Lohn“ (Mt 5,46) durch Lk 6,35c als vermutlich ursprünglich belegt wurde4. – Lk 6,35a.b gehört im Sinne der Klammertechnik hierhin (aber Streichung von „und leihet“). Die Logik des Abschlusses macht die Lohnverheißung für Feindesliebe und Gut­ taten an dieser Stelle plausibel, ebenso die Konkretion des Lohns als Sohnschaft (Lk 6,35c). Bei Matthäus ist sie infolge der thematischen Trennung von Vergel­ tungsverzicht und Feindesliebe an andere Stelle gerückt (Mt 5,45). Die Verhei­ ßung, „Söhne eures Vaters“ zu sein (Mt 5,45), kommt Jesus näher als die Verhei­ ßung, „Söhne des Höchsten“ zu werden (Lk 6,35c). Die Anrede „Vater“ ist bei Jesus belegt (vgl. u. a. Lk 11,2), der „Höchste“ ist auch jüdische Gottesbezeichnung (vgl. Dan), aber von Jesus nicht benutzt, allerdings von Lukas dem Verkündigungsengel Gabriel in den Mund gelegt (Lk 1,32.35) und in den Lobgesang des Zacharias ein­ gebracht (Lk 1,76). – Originär ist die Kombination von finaler (wozu?) und kausa­ ler (warum?) Begründung. Gutes tun wird vom Ziel her („damit ihr Kinder eures Vaters seid“) und analog („denn er lässt seine Sonne aufgehen …“) begründet. Die analoge Begründung bei Matthäus scheint gegenüber Lukas ursprünglicher; dieser nimmt mit den „Undankbaren“ seinen Dank-Begriff wieder auf. – Den ab­ schließenden ethisch-theologischen Grundsatz hat Lukas getreuer als Matthäus überliefert. Die Barmherzigkeit ist eine im alttestamentlich-jüdischen Denken verankerte Wirkweise Gottes (vgl. Ex 34,6 u. ö.), mit der auch Jesus fest gerech­ net hat, während der matthäische Abschlusssatz der Theologie und Ethik des 3 Vgl. G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 87. 4 Zwar könnte Lukas hier redaktionell auf Lk 6,23 zurückgegriffen haben; aber „Lohn“ ist dort eine Q-Vorstellung. Warum sollte für „Lohn“ hier nicht das Gleiche gelten?

506

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

­ atthäus entspricht, der die „bessere Gerechtigkeit“ der Jesusgemeinde (Mt 5,20) M gegenüber der minder qualifizierten Gerechtigkeit der Pharisäer und Schriftge­ lehrten absetzen will. Die „bessere Gerechtigkeit“ besteht in der vollkommenen Erfüllung der neuen Tora, d. h. in der vollkommenen Liebe (Mt 22,36–40 parr)5. So lautet der Rest der Aufforderung zu entwaffnender Kreativität: Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für einen Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden (Mt 5,46 f)? Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes, (…) wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. Somit wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder eures Vaters (…) sein (nach Lk 6,35a-c). Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45b). Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Wenn Lukas im Wesentlichen Inhalt und Reihenfolge des Q-Stoffs bewahrt hat, dann folgen auf die Seligpreisungen der „Passiven“ die Anweisungen an die „Aktiven“ (vom viermaligen lukanischen Wehe Lk 6,24–26 abgesehen). Es sind Aufforderungen zu ent­ waffnender Kreativität, somit ethische Maximen (Lk 6,27.28; Mt 5,46.47; Lk 6,35a-c) und Fallbeispiele (Lk 6,29.30). Eine Begründung im Gottesbild erfährt diese Ethik erst am Schluss, zunächst in Lk 6,35c, dann auch in Mt 5,45b, auf den Punkt gebracht in Lk 6,36. In den beiden Abschnitten „Liebet eure Feinde …“ und „Wenn ihr die liebt, die euch lieben …“ kann noch ein weiterer Schritt zurück in den Werdeprozess von Q getan werden. Es fällt auf, dass Lk 6,27.28 in der 2. Person Plural gesprochen sind. Lk 6,29.30 reden den Gesprächspartner in der 2. Person Singular an, parallel dazu Mt 5,39b-42. V 31 wurde bereits als eingeschobenes Wanderlogion erkannt. In Lk 6,32 ff setzt sich der Ihr-Stil von Lk 6,27.28 fort. Von daher ist an eine überlieferungsgeschichtliche Einheit dieser Verse zu denken, zumal sie auf apodiktischer Grundlage (vv 27–28) beruhen. Lk 6,29–30 / Mt 5,39b-42 (mt bearb.) hingegen beschreiben konkrete Fälle und sind folg­ lich kasuistisch formuliert. Dies und die Du-Anrede lassen sie als eigene Traditionslinie erscheinen. Sie könnte jünger sein als die andere; denn ihr fehlt die ursprüngliche Leben­ digkeit, sie trägt Züge der Verallgemeinerung: Das „Du“ ist kein persönliches, sondern ein unpersönliches „Du“ (= man). Als solches weist es über die fingierte Situation hinaus und reicht bis zum heutigen Rezipienten. Aber auch diese beiden Traditionsstränge sind in sich uneinheitlich. Der jüngere besteht aus zwei Forderungstypen: Lk 6,29 / Mt 5,39b.40 (mt bearb.): zwei durch „und“ verbundene Forderungen nach Widerstandsverzicht,

5 W. Trilling, Das wahre Israel, Leipzig 1975 (Erfurter Theologische Studien 7), S. 196.

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

507

Lk 6,30 / Mt 5,41 f: zwei durch „und“ verbundene Forderungen nach uneigennütziger Großzügigkeit. Der ältere Traditionsstrang hat – wie gesagt – in Lk 6,32–34 nicht seinen ursprüng­ lichen Wortlaut, sondern in Mt 5,46–47. In ihm ist von „Leihen“ nicht die Rede (vgl. aber Lk 6,34). Abschließend wird dann die Feindesliebe noch einmal unterstrichen (Lk 6,35a), zunächst verbunden mit dem Lohngedanken (Lk 6,35c) (finale Begründung der Feindesliebe). Die weitere Begründung (nun wieder aus Mt 5,45b) scheint später hinzugewachsen6, denn sie bewegt sich nicht im alten Tat-Tatfolge-Schema, sondern scheint den Imago-Dei-Gedanken ethisch zu reflektieren. Das ist eine der Bergpre­ digt bzw. Feldrede eigene theologische Durchdringung der Ethik. Diese Theo-Ethik ist dann in Lk 6,36 noch einmal auf den Punkt gebracht. Dieser Vers wird der Hand des Q-Redaktors entstammen (vgl. auch Mt 5,48). So ergeben sich bis zur Verschriftlichung der Q-Quelle mehrere Traditionsstufen: 1. ältere Traditionsstufe: Lk 6,27–28 (apodiktische Liebesforderungen) + Mt 5,46–47 (gegen Liebe aus Eigennutz) + Lk 6,35a (noch einmal: Feindesliebe) + Lk 6,35c (Lohngedanke: „Söhne eures Vaters“) 2. jüngere Traditionsstufe: (schon zusammengewachsen aus Lk 6,29 + Lk 6,30) wird eingebaut zwischen v 28 und v 32 (ohne v 31!) Dadurch ergibt sich auch eine erweiterte Konsequenz in v 35. Nach v 35a folgt nun v 35b (ohne „leihet“). 3. weitere Reflexionsstufe: Mt 5,45b (mindestens bis „Böse und Gute“)  Theo-Ethik 4. letzte Stufe („Q“): Abschlusssatz Lk 6,36 und vielleicht auch Lk 6,31 (vgl. Mt 7,12), obwohl hier Anthropo-Ethik!

Der Fokus der Betrachtung aller eruierten Teile liegt wieder auf Gottesbild, an­ thropologischen und ethischen Implikationen, soweit sie vorhanden sind und für das Thema Gewalt und Gewaltüberwindung etwas hergeben. Ich folge der beschriebenen Überlieferungs- und Literargeschichte. Die älteste Q-Tradition (Q1) lautet: Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für einen Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? 6 „später“ ist freilich ein relativer Begriff, wenn man bedenkt, dass zwischen der Memorie­ rung der Jesusworte und der Evangelienfixierung nur etwa 40–50 Jahre liegen.

508

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden (Mt 5,46 f)? Vielmehr liebt eure Feinde. Somit wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder eures Vaters (…) sein (nach Lk 6,35a-c).

5.1 Jesu Ethik (Q1) Jesu Ethik ist radikale Friedensethik. Gegen Feindschaft setzt er Liebe zum Feind, gegen Hass das Gebet für den Hasser, gegen Verwünschung den Segen für den Fluchenden, gegen Beleidigung die Bitte für den Kränkenden. Jesus überwindet eine Leben und Gesellschaft zerstörende Gewalt nicht durch ein Mehr an Gewalt, nicht durch die Fortsetzung einer nach oben offenen Spirale – das wäre Abschre­ ckung, sondern durch das glatte Gegenteil davon. Er versucht, den Sumpf der Gewalt, sei sie körperlicher oder verbaler Art, auszutrocknen durch Handlungs­ weisen, die ihn bzw. die angeredeten Jünger gegenüber den Gewalttätern ohn­ mächtig erscheinen lassen, in Wahrheit aber die einzige Macht in sich bergen, die das Leben erhalten und die Gesellschaft befrieden kann: Liebe, Fürbitte, auch für den Verfolger (Lk 6,22 par), segnen statt verfluchen und auch den Fluchenden in den Segen einschließen. Dieses Gegenmittel, erwachsen aus der Umkehrung des Zerstörerischen, ist entwaffnend in zweierlei Hinsicht: Es entwaffnet den Jünger; denn er hat keine Waffe in der Hand, kein „Schwert“ im Mund, er hat nur das Vertrauen auf eine außerhalb seiner selbst liegende Kraft der Liebe, des Gebets, des Segens. – Und es entwaffnet den Gegner; denn seine Feindschaft scheint ins Leere zu gehen, die Re­ aktion der Angegriffenen ist ihm strategisch nicht plausibel; er wird, in die Liebe, das Gebet, den Segen hineingenommen, seine Position neu bestimmen müssen. Die Angegriffenen – so fordert Jesus – mögen sich bewusst in eine Situation der scheinbaren Schwäche begeben. Es ist in Wahrheit ihre Stärke, denn sie haben die außerhalb ihrer selbst liegende Kraft hinter sich. Diese sorgt auch – wie eh und je – für die „Entwaffnung“ ihrer Feinde7. Jesus verlangt seinen Jüngern mit einer solchen Ethik Außerordentliches ab. Es ist eine Ethik wider alle menschlichen Affekte, die nachträglich rationalisiert werden könnten mit der Weisheit, dass man sich schließlich nicht unterkriegen lassen darf. Gewalt evoziert in der Regel Gegengewalt mit der Absicht, die Gewalt zu stoppen. Bekanntermaßen aber ist meist das Gegenteil der Fall. Aus dem Teu­ felskreis der Gewalt mit Liebe, Gebet und Segen für die Gewalttäter auszubrechen, 7 Später wird Paulus unter anderen Umständen zu einer ähnlichen Haltung durchdringen (2.Kor 12,6–10). In 1.Kor 4,12 f setzt er Jesu Gebot in eigene Lebenspraxis um.

Anthropologische Aspekte 

509

ist ein intellektueller und emotionaler Sprung über den eigenen Schatten. Dazu muss Jesus anleiten und Mut machen, will er seiner Forderung zum Durchbruch verhelfen. Er tut es im Folgenden. Er gibt denen, die sich auf die Ethik der Ge­ waltlosigkeit einlassen, ein „elitäres“ Bewusstsein: Ihr seid etwas „Besonderes“ (περισσόν / perisson [Mt  5,47])8. Ihr hebt euch aus der Masse heraus. Dort liebt man nur die, von denen man geliebt wird, dort ist man nur freundlich zu denen, von denen man Freundlichkeit erfährt. Emotional verständlich und logisch ein­ sichtig, wenn man risikolos kommunizieren will. Es ist ein allgemeines Verhalten nach dem positiv gewendeten ius talionis. Die Jünger aber dürfen wissen, dass sie aufgrund ihres Friedensrisikos, das – wiewohl es scheitern kann – sich an der Kraft Gottes festmacht, etwas „Besonderes“ sind (vgl. auch die 9. Seligprei­ sung nach Q). Sie heben das ius talionis durch Neutralisierung der gegenteiligen Aktivitäten auf (Liebe+ ≤ Feind−; Gebet+ ≤ Hass−; Segen+ ≤ Fluch−; Fürbitte+ ≤ Be­ leidigung−). Wenn und weil das liebende und segnende Friedenshandeln letztlich nicht scheitern wird, wird gerade darin der Lohn der Jünger liegen (Mt 5,46). Es ist der Erfolg ihres Friedenshandelns, wobei hinter diesem Erfolg die unverfügbare Kraft von außen steht9. Diese Kraft wird letztendlich nicht nur außerhalb der Jünger – gleichsam im Hintergrund – wirken, sondern sie wird in sie kommen. Sie werden – das wird das „Besondere“ steigern und theologisch legitimieren – Kinder ihres Vaters im Himmel sein. Das ist ihr unverlierbarer Lohn, und die Verheißung desselben ist ein starker ethischer Ansporn.

5.2 Anthropologische Aspekte (Q1) Wenn das Praktizieren jesuanischer Ethik bedeutet, über den eigenen Schatten zu springen, dann kann man, die Metapher fortsetzend, sagen, dass der Schatten zu mir gehört, mein Menschsein bestimmt und weitgehend auch ausmacht. Gleiches mit Gleichem zu vergelten scheint geboten10, um Unangenehmes abzuwehren, Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen, kurz: das Zusammenleben zu er­ möglichen. Daraus hat sich das ius talionis entwickelt. Wenn es auch gelegentlich in Frage gestellt wurde, hat es doch immer wieder eine die Gesellschaft stabilisie­ rende Funktion und Kraft erlangt. Gott wird sogar der doppelte Vergeltungsschlag 8 Im Allgemeinen wird angenommen, τί περισσὸν ποιεῖτε / ti perisson poieite = „was tut ihr Besonderes?“ sei MtRed, aus Mt 5,20 übernommen. Ursprünglich könnte hier (wie in Mt 5,46) τίνα μισθὸν ἔχετε / tina misthon echete = „was für einen Lohn habt ihr?“ gestanden haben (z. B. G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 96 Anm. 76). Das ist aber nicht zwingend. Ebenso könnte Mt 5,17–20 ein programmatisches Summarium sein, für das Mt den Stamm περισσ-/periss- = „mehr sein als“ aus der Tradition übernommen hat. 9 Lohn (μισθός / misthos) ist hier wie auch Lk 6,35c zweidimensional (äußerer Erfolg + Gottes Gabe). Hier (Mt 5,46) ist eher der äußere Erfolg gemeint, in Lk 6,35c Gottes Gabe. 10 Wenn man von der Alternative „Fluchtverhalten“ absieht.

510

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

zugestanden (Jes 40,2; 61,7; Jer 16,18; 17,18). Das NT empfiehlt offensichtlich einen anderen Weg11. Paulus rät ab, Böses mit Bösem zu vergelten. Dem Guten nachzujagen soll stattdessen die Devise sein (1.Thess 5,15). Apodiktischer klingt es im 1. Petrusbrief: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Schelt­ wort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, auf dass ihr den Segen erbt“ (1.Petr 3,9). Hier kommt auch die Neutralisierung der gegenteiligen Aktivi­ täten stärker heraus als bei Paulus, der das Böse links liegen lässt und stattdessen unbeirrt das Gute erstrebt. Wenn die Forderung, Böses mit Segen, Gebet und Liebe zu überwinden, so eindeutig erhoben wird, dann besagt das zweierlei. Erstens: Der Mensch neigt nicht gerade zu solchem Verhalten. Zweitens: Dennoch ist dem Menschen ein solches Verhalten möglich, wenn er denn emotional und rational über seinen Schatten springt. Hier kommt nun die christliche Anthropologie ins Spiel: Ganz aus sich selbst heraus bestimmen ihn andere Kräfte des Überlebens. Es wird ihm aber gelingen im Vertrauen auf die Kraft, die außerhalb seiner selbst wirkt, die in der Feindesliebe, im Gebet, im Segen, in der Fürbitte in ihn hineinkommt und ihn, in ihm wirkend, zu einem neuen Menschen, Kind seines Vaters im Himmel, macht. Auf diese Kraft hin ist der Mensch ansprechbar. Auf das Vertrauen in diese Kraft hin spricht Jesus ihn an. Die religiöse Ansprechbarkeit gehört zum Menschsein hinzu.

5.3 Zum Gottesbild (Q1) Die jesuanische Friedensethik ist Handlungsanweisung auf der Grundlage des von Jesus erkannten Gotteswillens, und dieser ist eindeutig auf Gewaltüberwindung durch Friedenshandeln gerichtet. Durch Jesus spricht der Gott des Friedens, der die vermeintlichen Götter der Macht depotenziert. Gott ist die Kraft, die das Frie­ denshandeln der Jünger fordert und fördert, der bei ihnen ist, wenn sie wehrlos „in den Frieden ziehen“, und der sie am Ende12 konsequent auszeichnet mit einer neuen Würde, die unmittelbaren Zugang zu ihm eröffnet („Kinder“). Damit hat sich das Gottesbild gegenüber der Gestalt des Kriegsgottes total gewandelt, freilich nicht ohne Übergänge, denn die Sehnsucht nach einem endgültigen, weltweiten Friedensreich (Jes 2,4 / Mi 4,3; Jes 9,1–6; 11,10; 42,4; 45,22–24a; 49,6; 65,17 ff) ist in nachexilischer Zeit mehr und mehr gewachsen. 11 Nicht ganz unvorbereitet. Vgl. Spr 20,22: „Sprich nicht: ‚Ich will Böses vergelten‘. Harre des Herrn, der wird dir helfen.“ 12 Ob das präsentisch oder eschatologisch zu verstehen sei, muss nicht gegeneinander aus­ gespielt werden. Denn das Ziel der Gottessohnschaft steht zwar noch aus, es bestimmt aber schon die gegenwärtige Existenz (G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 94). „Euer Vater“ gilt schon jetzt!

Jesu Ethik (Q2)

511

5.4 Jesu Ethik (Q2) Die älteste Q-Tradition (Q1) hat sich mit Fallbeispielen – logischerweise in kasu­ istischer Form – verbunden. So entsteht durch Einfügung von Lk 6,29 f und deren Zusammenfassung Lk 6,35 (ohne „und leihet“), hinter die Zusammenfassung von Q1 (Lk 6,35a) gesetzt, das jüngere Produkt Q2. Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Dem, der dich auf die (eine) Backe schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für einen Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden (Mt 5,46 f)? Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes, (…) wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. Somit wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder eures Vaters (…) sein (nach Lk 6,35a-c).

Diese Worte Jesus abzusprechen besteht kein Grund. Wir kennen seine narrati­ ven Fähigkeiten, die sich u. a. in Beispielgeschichten entfalten. Diese Fallbeispiele, Backenschlag und Mantelraub, sind Minierzählungen, die das allgemeine, recht theoretische Gebot der Feindesliebe anschaulich machen. Und um dieses Gebot geht es im Prinzip auch bei Gebet, Segnung und Fürbitte, wie Lk 6,35a zeigt. Es ist allerdings nicht zwingend, dass Jesus die Fallbeispiele in unmittelbarem Zusam­ menhang mit seinen apodiktischen Gebotsforderungen gesprochen hat. Denn sie mögen zwar auf die Feindesliebe allgemein Bezug nehmen, nicht aber auf Gebet, Segen und Fürbitte im Besonderen. Vielleicht hat Jesus sie zu anderer Gelegenheit gesprochen. Auf jeden Fall folgen sie, zumindest Lk 6,29, der gleichen Logik wie Lk 6,27.28: Aufhebung des ius talionis durch Tun des Unerwarteten: als Geschla­ gener sich geschlagen geben, als Beraubter sich freiwillig bloß stellen13. Der Ge­ 13 Sollten die Beispiele des Geschlagen- und Beraubtwerdens ursprünglich ein Eigenleben geführt haben, wäre ein Bezug zu Jes 50,6 f nicht ausgeschlossen: Dem leidenden Gerechten ist Gottes Hilfe nicht fern. Der jetzige Kontext legt diese Deutung allerdings nicht nahe.

512

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

danke der uneingeschränkten Großzügigkeit passt nicht ganz ins Konzept, führt aber zu der neuen Zusammenfassung, Gutes zu tun, ohne etwas zurückzuerwar­ ten, mit anderen Worten: am Haben nicht um des Habens willen festzuhalten (nicht an der Ehre, dem unmittelbaren Besitz, dem Geborgten). Q2 verstärkt den Friedensweg der Aufhebung des positiv gewendeten ius talionis (Mt 5,46 f wird durch Lk 6,35b [ohne „leihet“] unterstrichen) und unterstellt alle genannten Fälle der berechtigten, konsequenten Lohnerwartung. Gottesbild und Menschenbild bleiben gegenüber Q1 unberührt, durch die Beispiele und deren besonderer Zu­ sammenfassung wird die Ethisierung verstärkt. Der Gedanke der uneigennützigen Großzügigkeit passt entfernt zu einer Aufhebung des positiv gewendeten ius talio­ nis, korrespondiert aber bereits mit der grenzenlosen Güte Gottes (Lk 6,35d) und seiner beispielhaften Barmherzigkeit (Lk 6,36). Beide Verse sind noch nicht Be­ standteil von Q2, die Tendenz dahin deutet sich aber in Lk 6,30.35b an.

5.5 Weitere Reflexionsstufe (Q3) 5.5.1 Gottesbild Q2 hatte durch Fallbeispiele und deren Zusammenfassung die Ethisierung von Q1 verstärkt. Q3 verlagert das Gewicht nun wieder ein Stück in Richtung Theologi­ sierung. Gutes tun wird begründet mit der grenzenlosen Güte Gottes, der seine Schöpfung liebt und leben lässt, insbesondere den Menschen, und zwar gerade ihn in seiner Güte und in seiner Bosheit, in seiner Gerechtigkeit und in seiner Ungerechtigkeit. Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, bittet für die, die euch beleidigen. Dem, der dich auf die (eine) Backe schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für einen Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden (Mt 5,46 f)? Vielmehr liebt eure Feinde;

Q-Redaktion 

513

tut Gutes, (…) wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. Somit wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder eures Vaters (…) sein (nach Lk 6,35a-c); denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45b).

Die Erweiterung im Gottesbild knüpft an die ἀγαθοποιοῦντες / agathopoiountes = „Gutes Tuenden“ (Lk 6,35b) an, die wiederum die Großzügigen von Lk 6,30 sind. Sie grundiert und bestärkt sie in ihrer Güte, die unabhängig vom Verhalten des Empfängers sein soll.

5.5.2 Ethische Implikationen Wenn Gott seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte, dann ist ihm jeder Mensch, egal welcher morali­ schen Qualität, gleich viel wert. Die unterschiedslose Wertschätzung durch Gott begründet die Menschenwürde. Neben der Ebenbildlichkeit (Gen 1,26 f) ist dies eine weitere Säule14. Da dieser Satz am vorläufigen Schluss dieser Q-Einheit steht, lässt er den ganzen Text im Licht der Würdigung des Menschen schlecht­ hin erscheinen. So eignet auch dem Feind Menschenwürde, und er ist daher als Mensch zu lieben. Gleiches gilt für jeden anderen körperlichen oder verbalen Gewalttäter auch. So ist das „Besondere“ des Jüngerdaseins die imitatio Dei, die Anerkenntnis der Menschenwürde gegenüber jedermann, nicht mehr und nicht weniger.

5.6 Q-Redaktion (Q4) Wenn Q als Quelle von Jesusworten verschriftlicht wird, ist redaktionelle Über­ arbeitung erforderlich. Diese hat die Einleitung Lk 6,27a geschaffen, außerdem die zusammenfassenden Grund-Sätze Lk 6,31 und 6,36. Die Goldene Regel wird zwischen Lk 6,30 und „Mt 5,46 f “ eingeschoben. Formal schafft sie hier den Über­ gang von der Anrede in der 2. Person Singular zur 2. Person Plural, inhaltlich be­ gründet sie die uneigennützige Großzügigkeit aus sozialen Beziehungen heraus. Euch aber sage ich: Liebet eure Feinde, betet für die, die euch hassen, segnet die, welche euch fluchen, 14 Weitere Säulen: Gal 3,26–28; Röm 2,11 in Verbindung mit Röm 3,22–24. Unterschiedslos auf ganz Israel bezogen: Jes 43,3.4.

514

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

bittet für die, die euch beleidigen. Dem, der dich auf die (eine) Backe schlägt, biete auch die andere dar, und dem, der dir den Mantel nimmt, verweigere auch den Rock nicht. Jedem, der dich bittet, gib, und von dem, der dir das Deine nimmt, fordere es nicht zurück. Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, ebenso sollt auch ihr ihnen tun. Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für einen Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden (Mt 5,46 f)? Vielmehr liebt eure Feinde; tut Gutes, (…) wo ihr nichts dafür zu bekommen hofft. Somit wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Kinder eures Vaters (…) sein (nach Lk 6,35a-c); denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45b). Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Friedensverträgliches und gemeinschaftsförderndes Verhalten aus gelingender Mitmenschlichkeit heraus zu begründen, ist zwar allgemein plausibel, trägt aber kein spezifisch christliches Profil. Dass die Goldene Regel trotzdem hier Eingang gefunden hat, mag an ihrer allgemeinen Verbreitung auch im nichtchristlichen Raum liegen, aber auch daran, dass sie Mt 5,46 f präludiert. Denn wenn ich um­ fassenden Frieden haben will, nützt es nichts, wenn ich mich nur unter Freunden bewege (Mt 5,46 f), sondern dann muss ich den Feind „entwaffnen“, damit er in mir nicht mehr den Feind sieht. Die Q-Redaktion stellt am Schluss allerdings den gesamten Text in den Kon­ nex von göttlicher und menschlicher Barmherzigkeit hinein (Lk 6,36). Der Vers ist ein Musterbeispiel dafür, dass biblische Ethik ihr eigenes Profil darin hat, dass sie theologisch begründet ist. Ethische Grundsätze mögen in anderen Religio­ nen durchaus auch Anerkennung finden und gültig sein (s. Goldene Regel). Das ändert aber nichts an der durchgängigen biblischen Eigenart des Konnexes von Ethik und Theologie. – Die Barmherzigkeit Gottes ist Vorbild für menschliche Barmherzigkeit als angemessenes Sozialverhalten. Wie der Herr schon immer οἰκτίρμων / oiktirmōn = „barmherzig“ war (Ex 34,6), so ist er es noch (οἰκτίρμων ἐστίν / oiktirmōn estin), und so sollen auch wir es sein (Γίνεσθε οἰκτίρμονες / gi­ nesthe oiktirmones). Barmherzigkeit ist der lebenslange Weg zur Kindschaft. Hier kann der Q-Redaktor an Lk 6,35c anknüpfen. Barmherzigkeit ist auch mehr als

Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

515

Gerechtigkeit. Denn der barmherzige Vater „lässt regnen über Gerechte und Un­ gerechte“. So bringt der Q-Redaktor Gerechtigkeit (Mt 5,45b) und Barmherzig­ keit (Lk 6,36) miteinander ins Gespräch, und zwar so, dass Barmherzigkeit eine Funktion der Gerechtigkeit und in dieser Form auch ethische Maxime für uns ist.– Das Achtergewicht von Lk 6,36 bedingt seine Ausstrahlung auf den gesamten Text, so dass Barmherzigkeit zur Grundhaltung wird, die es ermöglicht, jede Art von Gewalttätigkeit zu überwinden, nicht nur, weil sie mit dem Herzen, sondern auch mit den Augen Gottes sieht.

5.7 Aufruf zu entwaffnender Kreativität (LkRed) Lukas hat der bis hierhin entwickelten Ethik, Anthropologie und Theologie nichts Neues hinzugefügt. Lediglich für Mt 5,46.47 (Q) hat er eigene Formulierungen ge­ funden. Zum Lieben und Gutes-Tun an Freunden kommt das Leihen, was er dann entsprechend auch in 6,35b einfügt. Der „Lohn“ (Mt 5,46) wird eindeutig zum weltlichen „Dank“ (Lk 6,33.34), um ihn vom himmlischen Lohn (Lk 6,35) deut­ lich abzusetzen. Nichtsdestoweniger theologisiert Lukas diese Passage, weil er die positive Anwendung des ius talionis den „Sündern“ zuschreibt, so dass die Jünger, die das ius talionis – wie auch immer angewandt – aufheben, unausgesprochen zu „Gerechten“ werden. So wird ihr elitärer Status zwar nicht als ein „besonderer“ (Mt 5,47 [Q]) hervorgehoben, aber doch dezent angedeutet. Die lukanische Form von Lk 6,35d überrascht, gerade auch nach der plausiblen Ausführung von Q3, dass Gottes großherzige Güte Guten und Bösen gilt. Nun be­ hauptet Lukas (Red.) Gottes Güte nur für die Undankbaren und Bösen, und das nach der Begründung für den Lohn wahren Jüngerverhaltens. Lukas stellt einen anderen Zusammenhang her als Q3. Er sagt: So gütig wie Gott gegen die Undank­ baren und Bösen ist, so „gütig“ sollt auch ihr gegen eure Feinde sein. Damit ist Lk 6,36 präludiert. Die Verengung auf die „Undankbaren und Bösen“ erscheint in Lk 6,36 mit der Forderung nach Barmherzigkeit geweitet.

5.8 Antithesen (MtRed) Matthäus löst den Aufruf zu entwaffnender Kreativität, bei dem Verzicht auf Ver­ geltung ein Sonderfall der Feindesliebe ist, in zwei gleich gewichtige Antithesen auf, die Antithese zur Vergeltung (Mt 5,38–42) und die Antithese zum so genann­ ten Feindeshass (Mt 5,43–48). Durch den eigenen Themenschwerpunkt „Vergel­ tung“ kann er an Ex 21,24 anknüpfen, und er gewinnt so einen weiteren Schwer­ punkt „Feindesliebe“, den er als solchen neu aufbauen kann. Durch die Form von These („Ihr habt gehört, dass gesagt ist“) und Antithese („Ich aber sage euch“) stellt sich Jesus als Lehrer der neuen Gerechtigkeit – will heißen: als Lehrer einer

516

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

reformierten Gerechtigkeitspraxis – dar (Mt 5,17.20 in Verbindung mit 5,16). Es geht um neue Handlungsorientierung. Die alte Handlungsorientierung war Gottes Wort (passivum divinum), die neue ist es auch; denn der hier „Ich aber“ sagt, tritt auf als der in Vollmacht (ἐξουσία / exousia) Redende und Handelnde (Mt 7,28 par; 9,6 par; 9,8) und auch als einer, der diese Vollmacht weitergibt (Mt 10,1). So sind die Antithesen Elemente einer neuen Ethik. Diese steht im Vordergrund. Gerade aber, weil beides, These und Antithese, Gottes Wort zu sein beansprucht, steht das Gottesbild auf dem Spiel.

5.8.1 Die Ethik der 5. und 6. Antithese Das Recht auf Wiedervergeltung hat im AT eine befriedend sanktionierende Funktion. Es will einer übertriebenen Rache (Gen 4,23 f) wehren und lässt le­ diglich eine angemessene Vergeltung zu (Ex 21,23 f), so dass der Gerechtigkeit Genüge getan ist (z. B. Dtn 25,1–3). Auch Gott vergilt (Ex 34,7b; Jes 49,26; Weish 11,16), sogar doppelt (Jes 40,2; 61,7; Jer 16,18; 17,18). Dieses Recht nimmt er sich, woraus er freilich auch die Verheißung doppelter Restitution für sein Volk ableiten kann (Jes 61,7)15. Das ius talionis hat Gewalt begrenzt und rechtlich reguliert. Gegenüber unbe­ herrschter und marodierender Gewalttätigkeit ist diese Begrenzung ein Fortschritt gewesen. Jesus steht demgegenüber in der Tradition von Gewaltüberwindungs­ konzepten. Deren gab und gibt es einige: Gewaltüberwindung in akzeptierter Ver­ schiedenheit (Jakob-Esau-Sagenkranz), in versöhnter Einheit (Josephs­geschichte), in den jesajanischen Konzepten des Völkerfriedens als Gottesgeschenk (Jes 2; 9; 11), des Gottesknechts als Bringer des Heils bis an die Enden der Erde (Jes 42; 49), als Unrecht Leidenden (Jes 50; 53) und der Integration der Völker in den Lichtglanz des Herrn (Jes 56; 60; 61). Jesu Konzept der entwaffnenden Kreativität knüpft am ehesten an Jes 50,6 an. Demonstrative Wehrlosigkeit ist hier wie dort unterfüttert durch das Vertrauen auf Gottes Mitsein (Jes 50,6 / Lk 6,35c)16. Matthäus verstärkt diese „pazifistische“ Linie Jesu17. Denn er macht das ius talionis ausdrücklich namhaft, um es aufzuheben und durch eine neue, weiter­ 15 In Offb 18,6 ruft er das sündlose Volk zur doppelten Vergeltung an „Babylon“ auf, was auf eine Aushöhlung des Vergeltungsrechts hinausläuft. Ob diese zur Zeit des Matthäus schon virulent war, hängt von der Terminierung beider Schriften ab. Auf jeden Fall unterstreicht die doppelte Vergeltung den Hang der Offenbarung zu strafender Gewalt. 16 S. o. unter AT 3.4.9 und Anm. 231 dort. 17 Mit „Pazifismus“ ist Jesu Haltung freilich unzureichend beschrieben. Als Kürzel sei es erlaubt. Es ist eine Haltung radikaler Fried-tätigkeit, d. h. einer Art von Aktivität, die gerade in dieser Form von Passivität liegt. Sie ist aktiv in der Kreativität der überraschenden Dahingabe, passiv in der Erwartung des Erfolges. Man sollte aber nicht von einer „Strategie“ der Gewalt­ losigkeit sprechen (gegen P. Lapide, Er predigte in ihren Synagogen, Gütersloh 1982, S. 55); denn „strategisch“ gesehen bleibt der Gegner zu bekämpfen, was dem Konzept Jesu zuwider liefe (vgl.

Antithesen 

517

führende, umfassendere Haltung zu überwinden. Der verstärkende Charakter macht sich auch in den typischen Ergänzungen bemerkbar. Widerstand gegen Menschen, die mir Böses wollen18, wird ausgeschlossen. Auch passiver Wider­ stand würde noch unter das ius talionis fallen. Stattdessen nicht nur Hinnahme offensichtlicher19 Entehrung, sondern Dahingabe der eigenen Person. Nicht nur Hinnahme von Räuberei, auch wenn sie sich einen offiziellen Anstrich gibt, son­ dern Dahingabe dessen, was äußeres Zeichen der Menschenwürde ist. Die An­ rufung des Richters in betrügerischer Absicht signalisiert dabei den Missbrauch des Rechts und damit auch die Fragwürdigkeit des Vergeltungsrechts als Frie­ densinstruments. Zur Entehrung und betrügerischen Erpressung kommt noch der Tatbestand der Nötigung20. Ihr könnte man die Weigerung entgegensetzen. Aber auch das widerspräche dem radikalen Pazifismus21. Ein Nachfolger Jesu soll sich auf keinen Fall provozieren lassen, sondern Sanftmut und Friedfertigkeit zur Geltung bringen (Mt 5,5.9). Kommt das nicht einer Selbstaufgabe gleich? Es ist zumindest das Aufgeben des Vertrauens auf die eigene Durchsetzungskraft. Sie würde nach der Ansicht des Matthäus in das weite Feld der Gewalt und damit auf den Kampfplatz dieser Welt führen. Sein Ziel aber ist der „Himmel“. Darum muss „eure Gerechtigkeit“ eine andere sein als die weltläufige (Mt 5,20). Sie wird vom „Vater im Himmel“ belohnt (Mt 5,45)22, sie führt in den „Himmel“ (Mt 5,20) und sie versetzt schon hier in den Status der Vollkommenheit (Mt 5,48)23. Diese Zusagen, die auch auch E. Brandenburger, „Perspektiven des Friedens im Neuen Testament“ in: Bibel und Kirche 37/1982, S. 59). 18 Mt 5,39: „… dem Bösen …“ (πονηρῷ / ponērō) ist wohl Masculinum, nicht Neutrum (mit G. Strecker, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 86 und M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 2015 [NTD 1], S. 94 gegen U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 390 f). 19 Schlag auf die rechte Backe geschieht mit dem Rücken der rechten Hand, die höchste Form der Demütigung. 20 Dieses Beispiel bezieht sich auf das Weggeleit, verbunden mit bestimmten Dienstleistun­ gen, das ein Reisender fordern konnte. 21 M. Käßmann sieht im Mitgehen eine mögliche Form des Protestes (Gewalt überwinden, Hannover 32001, S. 49), M. Konradt im Hinhalten der rechten Backe eine „Art gewaltlose Gegen­ provokation“ („ ‚… damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet‘. Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht in Mt 5,38–48“ in: W. Dietrich, W. Lienemann [Hg.], Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, S. 81; auch ders., Das Evangelium nach Matthäus, a. a. O., S. 95). Dies aber entspricht nicht der Radikalität der Forderung Jesu. Diese kennt keine „Strategie“ der Gewaltlosigkeit (so dann auch M. Konradt, „ ‚… Damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet‘“, a. a. O., S. 89 im Blick auf die Feindesliebe), sondern nur das radikale Vertrauen auf den entwaffnenden Effekt völliger Wehrlosigkeit. 22 Mt 5,45–48 steht bei Matthäus als Abschluss für alle Antithesen (E. Schweizer, Das Evan­ gelium nach Matthäus, a. a. O., S. 82). 23 Matthäus ersetzt den Imperativ Γίνεσθε / ginesthe = „seid“ (Lk 6,36) durch den futurisch ausgedrückten Modus des Sollens (Ἔσεσθε / esesthe = „ihr sollt sein“ [Jussiv]), vermutlich in Angleichung an Dtn 18,13 (LXX) und Lev 19,2 (LXX). Zu γίνεσθε / ginesthe als Imperativ von εἶναι / einai = „sein“ vgl. Mt 10,16.

518

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

schon aus den Seligpreisungen bekannt sind, machen es möglich und attraktiv, radikalen Pazifismus zu leben24. – Dass diese Haltung dem entspricht, der „alle Gerechtigkeit erfüllen“ muss (Mt 3,15 [MtRed]) bis ans Kreuz, sei am Rande er­ wähnt, auch wenn der Gerechtigkeitsgedanke im matthäischen Passionsbericht (außer Mt 27,19.24 [MtRed]) an keiner relevanten Stelle vorkommt25. Erwähnt wird dort allerdings der Verzicht auf (Waffen-) Verteidigung (Mt 26,52 [MtRed]), der mit dem Widerstandsverzicht in Mt 5,39 korrespondiert26. Die Feindesliebe bekommt durch eine eigene, von Matthäus gebildete Antithese gegenüber Q und Lk besonderes Gewicht. Sie wird begründet durch ein Teilzitat dessen, was Gott eh und je gesagt haben soll: Du sollst deinen Nächsten lieben“. Das ist in der Tat Gottes Wort nach Lev 19,18. Feindeshass als wörtlich gegebenes Gebot sucht man im AT allerdings vergebens. Im Gegenteil: Lev 19,17 verbietet den Bruderhass, was auch als Verbot des Feindeshasses gelesen werden könnte; denn in dem Moment, wo ich meinen Bruder hasse, ist er mein potentieller Feind. Konsequenterweise wird der Hass auch in der älteren rabbinischen Literatur ver­ worfen27. Warum also formuliert Matthäus das Gebot der Feindesliebe nicht als Steigerung der Nächstenliebe: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘. Ich aber sage euch: Ihr sollt darüber hinaus auch eure Feinde lieben“? Dann wäre der Feind ein Spezialfall des Nächsten28, und es entfiele das Pseudo-Gotteswort: „Du sollst deinen Feind hassen.“ Wenn Matthäus es nicht tut, muss er einen Grund dafür haben. In Frage kommen ein formaler und ein inhalt­ licher Grund. Formal hat Matthäus auf die Q-Vorlage Lk 6,27 zurückgegriffen. Hier kommt das Wort μισεῖν / misein = „hassen“ vor, allerdings im synonymen parallelismus membrorum mit „Feind“: So erscheint der Feind als Hasser, ich als der dennoch Liebende und der Beter. Daraus nun ein alttestamentliches Hassge­ bot zu konstruieren, ist die „Leistung“ des Matthäus. Bei der Frage, was man dafür inhaltlich heranziehen könnte, bleibt nur die göttliche Aufforderung, den Feind zu vernichten; denn Hass hat – anders als Gleichgültigkeit – etwas Vernichtendes. So kommt der gebotene Vernichtungsbann in Frage (Dtn 20,16–18) oder auch das Austilgen der Erinnerung an den Erzfeind Amalek (Dtn 25,17–19). Weil gebotene Vernichtung des Feindes zwar ein Rechtsakt, aber ohne emotionale Beteiligung nicht möglich, wie Matthäus wohl zu Recht sieht, nach jesuanisch-matthäischer 24 Es geht nicht darum, den Gegner zu erniedrigen (so aber M. Käßmann, Gewalt über­ winden, a. a. O., S. 49); das wäre verdeckte Aggression. 25 Zur Diskussion um eine eventuelle passionstheologische Deutung des Gerechtigkeits­ begriffs bei Matthäus vgl. G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, a. a. O., S. 180 Anm. 1. 26 Ders., a. a. O., S. 183. 27 Ders., a. a. O., S. 24 f Anm. 5. 28 Matthäus steigert in der 1., 2., 4. Antithese, einen echten Gegensatz baut er in der 5. und 6. Antithese auf, in der 3. Antithese geht der Gegensatz in juristischen Spitzfindigkeiten unter. Dabei ist zu beachten, dass die echten Antithesen SMt-Stoff beinhalten, die Steigerungen weit­ gehend Q-Stoff sind, bei der 3. Antithese ist gleichzeitig Mk-Stoff im Spiel.

Antithesen 

519

Ethik nicht mehr aufrecht erhalten werden kann (vgl. die Seligpreisung der Sanft­ mütigen und Friedfertigen, aber auch das Tötungsverbot), muss alles, was aus Hass erwächst, aufgehoben werden, also auch der Feindeshass29. Da menschliches Mit­ einander nur gelingt oder misslingt in Liebe oder Hass (Gleichgültigkeit, wenn es sie denn überhaupt gibt, wäre Beziehungslosigkeit), kann Hass nur durch Liebe überwunden werden30. Weg vom Hass, hin zur Liebe, auch und gerade gegenüber dem Feind, das ist letzte Konsequenz des Umkehrrufs des markinischen Jesus, den sich auch Matthäus zueigen macht (Mk 1,15 → Mt 4,17 par). Zu diesem ethi­ schen Quantensprung ruft der matthäische Jesus auf, zur Nächstenliebe auch und gerade gegenüber dem Feind. Liebe in diesem Sinn ist Aufbau einer lebensdien­ lichen Beziehung so, wie es auch Lev 19,18 beschrieben ist: niemanden verleum­ den, das Leben des Nächsten nicht zunichte machen, den Bruder nicht hassen, den Nächsten zurechtweisen, wenn es notwendig ist, und nicht weggucken, sich nicht rächen, großmütig sein. Allein daran könnte sich der Hörer / Leser der mt Bergpredigt orientieren. Matthäus beschreibt den Weg der Liebe mit den Worten: „ Betet für die, die euch verfolgen.“ Im parallelismus membrorum ist der Feind nicht mehr der Hasser wie bei Lukas, sondern der Verfolger (vgl. Mt 5,11 [„ver­ folgen“ = red.]). Der Hasser war bei Matthäus ich, aber ich soll es nicht mehr sein. Der Schlüssel zur Überwindung der Gewalt produzierenden Feindschaft liegt bei mir. Ich soll den Hass überwinden. Durch Liebe. Der Feind ist lediglich der „Ver­ folger“. Das ist schlimm genug. Aber nicht er muss sich primär ändern, sondern ich, sollen Feindbildfixierungen und Gewalt überwunden werden. Entfeindung schaffe ich durch innere Umkehr (Hass zu Liebe wandeln), durch eine neue Ein­ stellung (lebensdienliche Beziehung aufbauen), durch die Kraft des Gebets, die meine Einstellung beeinflusst und über Gott auch den Feind erreicht. So zielt das Gebot der Feindesliebe bei Mt nicht auf eine Diskriminierung des Feindes, son­ dern auf eine Integration in eine vom Liebesgebot geprägte und auf die „Gütekraft“ vertrauende Gemeinde31. Es folgen theologischer Grund und Verheißung nach Q (Mt 5,45). Der „Lohn“ in Mt 5,46 lässt im Zusammenhang des Mtev über die Verheißung der Sohnschaft hinaus (Q1) an die Gabe des „ewigen Lebens“ denken (Mt 19,16–22 parr). Dass Matthäus gegenüber Q radikalisiert, wurde schon bemerkt: radikaler Pazi­ fismus, radikale Widerstandslosigkeit, radikaler Rechtsverzicht, radikale Feindes­ 29 Andere Herleitungen des so genannten Hassgebotes, etwa aus der Qumran- oder TargumLiteratur sind spekulativ (vgl. G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit, S. 24 f Anm. 5). 30 P. Lapide, Die Bergpredigt, a. a. O., S. 79: Der 6. Antithese liegt die Erkenntnis zugrunde, „daß es nicht genügt, aus dem brutalen Gegeneinander ein gleichgültiges Nebeneinander zu ma­ chen, denn der Mensch hat es in sich, zum fruchtbaren Miteinander aufzurücken, das in einem liebevollen Füreinander gipfeln kann.“ 31 J. Ebach, Das Erbe der Gewalt, Gütersloh 1980, S. 63. Zur „Gütekraft“ vgl. M. Arnold, „‚Einfach nur zuschauen‘? Was würde Jesus tun? Gütekraft als Kernelement zukunftsfähiger Friedensethik“ in: DPfBl 115/2015, S. 254 ff.

520

Die „Antithesen“ oder der Aufruf zu entwaffnender Kreativität 

liebe. Zu Recht ist das Ganze in die Form von Antithesen gegossen. Radikal ist folglich auch der Schluss. Gebündelt („also“) werden die ethischen Forderungen durch die Vollkommenheitsforderung. Sie überbietet die ursprüngliche Barmher­ zigkeitsforderung und lehnt sich an den Aufweis des Weges der „besseren Gerech­ tigkeit“ an. Wenn die „bessere Gerechtigkeit“ der Schlüssel für das Himmelreich ist, kann das Ziel nur sein, durch sie eine Vollkommenheit in Einstellung und Handeln zu erlangen, die sich an der Vollkommenheit des himmlischen Vaters orientiert32. Radikaler geht es nicht! So kann man abschließend formulieren: Der Weg aus der Gewalt ist der Weg in Vollkommenheit zur Vollkommenheit. Will man daran nicht verzweifeln, so muss man sagen: Matthäus bietet kein Pa­ tentrezept zur Gewaltüberwindung, sondern dieselbe ist ein lebenslanger, je und je zu aktualisierender Prozess. Bedenkt man, dass Stephanus, der Jesus-Tradition folgend, selbst im Martyrium noch für seine Feinde gebetet hat (Apg 6,60), muss man das Rachegebet Offb 6,10 und die hasserfüllten Bilder der Offenbarung (z. B. Offb 9,4–6) als Rückfall hinter die ethischen Spitzensätze der Liebe und des Friedens beurteilen.

5.8.2 Theologische Aspekte der 5. und 6. Antithese Jesus, der – besonders in der mt Bergpredigt – den Anspruch erhebt, der Exeget des Gotteswillens zu sein, stellt sich scheinbar gegen Gottes Wort. Das scheint paradox, ist aber andererseits geradezu eine Konsequenz aus dem Gottesbild, wie es sich bisher, vornehmlich im Alten Testament, dargestellt hat. Ich nehme hier Bezug auf Gottes Ambiguität. Eine Musterformulierung dafür ist in Jes 45,6b-7 zu finden: „Ich bin der Herr und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe das Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“ In aller Ambiguität gibt es in Gott ein tendenzielles Übergewicht des Lichtes und des Friedens, das er als Segen den Menschen zugute kommen lässt (Num 6,24–26), das er allen über seine Heiligkeit Erschrockenen zum Frieden gereichen lässt (Ri 6,24), das er seinem Volk und der Welt zum Heil einsetzen wird (Jes 9,6; 54,10; 66,12). Jesus lässt den Gott der richtenden Gerech­ tigkeit zu Wort kommen, zugleich aber ist er das lebendige Abbild des Frieden stiftenden Gottes; und dadurch, dass er leibhaftig die Licht und Frieden bringende Seite Gottes vertritt und sie als letztes Wort zur Sprache bringt, verkörpert er ihre 32 τέλειος / teleios = „vollkommen“ wird mit dem hebr. ‫ ּת ִמים‬ ָ / tāmīm gleichgesetzt. Es be­ zeichnet eine „lückenlose Geschlossenheit“ mit Gott (W. Trilling, a. a. O., S. 194). Die Forderung setzt die „lückenlose Geschlossenheit“ Gottes mit den Jüngern als Indikativ voraus. Daraus folgt der hier ausgesprochene Imperativ. So gleicht diese Forderung in etwa der alten Bundesformel Jer 7,23 u. ö. Trilling verweist auch auf Lev 19,2 (Heiligkeitsforderung) (a. a. O., S. 195).

Antithesen 

521

Letztgültigkeit. Gott steht also nicht gegen Gott, sondern Gott bleibt sich treu in seinem letztendlichen Rettungswillen und Friedenshandeln hin auf eine neue Welt ohne Vergeltung und Hass. Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen; die Zeit ist reif, Gottes Seite der radikalen Gewaltlosigkeit und der uneingeschränkten Menschenliebe bis zur Selbsthingabe zur Darstellung zu bringen und möglichst viele in diese Existenzweise hineinzunehmen mit der Verheißung, seine Kinder zu werden, und mit dem Ziel, vollkommen zu sein.

6. Markus als Quelle von Jesusworten?

Markus ist der älteste, vor 70 n. Chr. schreibende Evangelist; er folgt, wenn auch mit einem Abstand von 30–35 Jahren, Q. Wie die Logienquelle dient auch er als Grundlage für die beiden anderen Synoptiker. Daher ist die Frage berechtigt, ob sich bei ihm auch historisch wahrscheinliche Jesuslogien finden. Sollten sich diese nicht als historisch plausibel erweisen, würden sie aber immerhin noch etwas über das markinische Jesusbild aussagen. Betrachtet werden: – das Wort vom Salz und vom Frieden (Mk 9,50) – Worte vom Herrschen und Dienen (Mk 10,41–45) – das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) – Jesu Barmherzigkeit in Wort und Tat – die Endzeitrede (Mk 13)

6.1 Das Wort vom Salz und vom Frieden (Mk 9,50) 6.1.1 Kontext und literarische Aspekte Das Jesuswort „Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander“ (Mk 9,50b) steht an markanter Stelle. Es schließt Jesu Weg mit seinen Jüngern in Galiläa ab, bevor Jesu Aufenthalt in Judäa mit dem baldigen Hinaufzug nach Jerusalem be­ ginnt (Kapp. 10 f)1. Von daher kann es – wenn auch nicht als Abschiedswort – so doch aber als wegweisendes Wort für gelebte Jüngerschaft auch in nachjesuani­ scher Zeit gelesen werden. Aber auch im Blick auf den engeren Kontext ist Mk 9,50 von Bedeutung. Es kommt von der 2. Leidensweissagung her. Markus fügt ihr das Jüngerunverständ­ nismotiv an (Mk 9,32). Dieses wird sofort dokumentiert durch den Rangstreit der Jünger: „Der Größte“ ist angesichts der Passion Jesu die falsche Kategorie (Mk 9,33–37). Ähnlich unangemessen ist angesichts des Kreuzes eine selbst zu­ gesprochene Exklusivität der Jünger (Mk 9,38–40)2. Es folgt eine Warnung an Ab­ werber (Mk 9,43) und eine Trias von Ärgernissprüchen (Mk 9,43.45.47 f). Daran schließen sich die Bildworte vom Feuer und vom Salz an (Mk 9,49.50a), wobei Letzteres in den Aufruf zum Frieden untereinander mündet (Mk 9,50b). Es fällt



1 An dieser Stelle schiebt sich der lukanische Reisebericht ein. 2 Anders dagegen die den Jüngern von Jesus zugesprochene Exklusivität in Mt 5,47.

Das Wort vom Salz und vom Frieden (Mk 9,50)

523

auf, dass 9,50b zum Rangstreit zurücklenkt und daran anknüpft. Durch Mk 9,33 f und 9,50b ist eine die Sprüche „zusammenfassende Inklusion“ geschaffen3. Die sich um ein Jesuswort rankenden narrativen Einheiten Mk 9,33–37 und Mk 9,38–40 werden vormarkinischen Ursprungs sein, ebenso die Worte 9,41 und 42 und die Trias Mk 9,43.45.47 f4. Gleiches lässt sich auch von Mk 9,49 und 50a vermuten. Für Mk 9,50a ist sogar ein jesuanischer Hintergrund wahrscheinlich; denn sinngemäß findet er sich auch in Q (Mt 5,13 / Lk 14,34 f). Dass dieses Jesus­ wort von allen Synoptikern bearbeitet wurde, ist augenscheinlich. Dem muss hier nicht weiter nachgegangen werden. Für den entscheidenden v 50b wird lediglich die Bedeutung des Bildwortes „Salz“ wichtig sein. Bleibt zu klären, ob wir uns mit 9,50b auf jesuanischem Boden befinden. Bis jetzt ist 9,50b in seiner redaktionellen Funktion in Erscheinung getreten (Schluss­ wort vor dem Weg nach Jerusalem). Das spricht allerdings noch nicht gegen ein authentisches Jesuswort, welches Markus redaktionell eingesetzt haben könnte. Εἰρηνεύετε / eirēneuete heißt: lebt den Frieden. Das scheint aber eher eine Ge­ meinderegel zu sein als ein situatives Jesuswort. Sie stünde dann im Kontext mit anderem beispielhaften Verhalten in der Gemeinde und entsprechender Paränese. Als authentisches Jesuswort stünde dem die Klarstellung „Schwert statt Frieden“ (Mt 10,34–36 / Lk 12,51–53 [Q]) entgegen. Mk 9,50b darf folglich als vormarki­ nische Gemeinderegel gelten, die Markus redaktionell an diese Stelle gesetzt hat.

6.1.2 Markinische Friedensethik Das Bildwort „Salz“ wird im Zusammenhang des Satzes zum Symbol. Es kann von daher in entsprechender Bedeutungsbreite wahrgenommen werden: Bewah­ rung der Spannkraft (Bewahrung vor Fäulnis), gesellschaftsverändernde Kraft (so eher Mt 5,13), das Wort Jesu (würde gerade an dieser Stelle zusammenfassend Sinn m ­ achen), Opferbereitschaft (vgl. Mk 9,49), Symbol der Gastfreundschaft5. ­Markus wird es in dieser Reihenfolge in absteigender Skala verstanden haben. Zudem ist es in Konnex mit dem Aufruf zum Frieden zu bringen: „All eure Spannkraft hat letztlich dem Frieden untereinander zu dienen. Darin liegt eure Besonderheit in dieser Welt.“ So möchte der markinische Jesus seine Worte um­ gesetzt wissen. Diesem Geist des Friedens untereinander (womit die markinische Gemeinde gemeint ist) widerspricht der Rangstreit; denn er kennt ein Oben und ein Unten, Hierarchie, Macht. Diese impliziert zumindest strukturelle Gewalt, 3 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20), Neukirchen-Vluyn 1979 (EKK  II / 2), S.  63. 4 Ders., a. a. O., S. 67. 5 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 66 f. Dem entspricht die bisherige Übersetzung „in euch“ (ἐν ἑαυτοῖς / en heautois). „bei euch“ (Lutherübers. 2017) ist zu unbe­ stimmt und lässt fragen: Wozu?

524

Markus als Quelle von Jesusworten?

kann aber auch den Keim gewaltsamer Auflehnung enthalten. Daher sind Kate­ gorien der Macht für den markinischen Jesus unbrauchbar. An ihre Stelle tritt die Kategorie des Dienens (Mk 9,35; vgl. 10,41–45). Ist aber nicht der, der solches lehrt, der Meister? Der markinische Jesus verwirft auch dies; denn er identifiziert sich mit einem Kind (Mk 9,36 f), und darüber hi­ naus verweist er im Symbol des aufgenommenen Kindes nicht auf sich, sondern auf die geistliche Aufnahme des Vaters im Himmel, dem er in der gleichen Weise wie die Jünger unterstellt ist (Mk 9,37b)6. So ist markinische Friedensethik eine Ethik des Dienens und darin eine sogar strukturelle Gewalt hinter sich lassende Ethik. Das wird durch Mk 10,41–45 bestätigt.

6.2 Das Wort vom Herrschen und vom Dienen (Mk 10,41–45) 6.2.1 Kontext und literarkritische Aspekte Das Wort vom Herrschen und vom Dienen endet markant mit dem Lösegeld­ logion. Mk 10,45 ist ähnlich wie 9,50 ein Endpunkt7. Es fasst den bisherigen Lebensweg Jesu als einen Weg des Dienens zusammen und blickt voraus auf das Folgende, den Einzug in Jerusalem und die Dahingabe des Lebens. Das Löse­ geldlogion ist als Wort vom gekommenen Menschensohn formuliert und von daher nicht als authentisches Jesuswort anzusehen. Es gehört jetzt konstitutiv zu den Worten vom Herrschen und Dienen (Mk 10,41–44), wie der Vergleich mit Mt 20,24–28 zeigt8. – Vorauf geht die 3. Leidensweissagung mit einer ähnlich un­ verständigen Haltung, hier der Zebedaiden, wie in 9,34: Jakobus und Johannes wollen in der „Herrlichkeit“ besser gestellt sein als die übrigen Jünger. Jetzt gehört Mk 10,35–40 mit 10,41–45 zusammen (synoptischer Vergleich!)9; denn es erklärt den Unwillen der übrigen Zehn und lässt aufgrund der Antwort Jesu vermuten, dass sie sich am Ranking beteiligen wollen. Wenn auch die Komposition von Mk 10,35–45 einen relativ geschlossenen Eindruck macht, ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bitte der Zebedaiden um die besten Plätze in der „Herrlich­ keit“, die Worte vom Herrschen und Dienen und das Lösegeldlogion in der Tradi­ tionsgeschichte jeweils gesondert umliefen und vormarkinisch oder von Markus

6 Dass Jesus das wohl ähnlich gesehen hat, geht aus Mt 10,24 / Lk 6,40 hervor (Q). – Völlig anders unter christologischem Einfluss Mt 23,6–11 (SMt). 7 W. Bösen, Für uns gekreuzigt? Der Tod Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2018, S. 96. 8 Es fehlt bei Lk. Dort ist es wohl wegen des Einbaus der Worte vom Herrschen und Dienen in die Abendmahlsszene weggebrochen und durch den Vergleich des am Tisch Bedienten mit dem Dienenden ersetzt. 9 Lukas strafft. Er hat das Ranking schon in 9,46 erwähnt und jetzt (22,24) noch einmal. Darum ist eine apophthegmatische Einheit für ihn entbehrlich.

Das Wort vom Herrschen und vom Dienen 

525

zu einem Lehrgespräch zusammengefügt wurden10. Zum jesuanischen Urgestein gehören aber auch die apophthegmatischen Einheiten nicht; denn Mk 10,35–40 setzt Reflexion über die Heilsbedeutung des Kreuzes voraus, und Mk 10,41–44 hat über den engen Jüngerkreis hinaus ein Soziogramm der Gemeinde vor Augen, parallel und im Gegensatz zu den Fürstentümern.

6.2.2 Markinische Dienstethik Es genügt, Mk 10,41–45 zu betrachten. Hier wird auf der Grundlage einer „imita­ tio Christi“ das „Praktizieren einer machtkritisch fundierten christlichen Binnen­ ethik“ gefordert11. Das Lösegeldlogion ist Ausgangspunkt der imitatio. Wozu der „Menschensohn“ gekommen ist, d. h. da ist, dazu ist auch das Leben des Jüngers bestimmt12. Der markinische Jesus sieht seinen Lebenssinn nicht im Herrschen („nicht …, dass er sich dienen lasse …“), sondern im Dienen. Das gilt an dieser entscheidenden Stelle rück- wie vorausblickend: Auch sein Sterben wird im Zei­ chen des Dienens stehen. Wenn sein Dienen ihn ans Kreuz führt – und Markus macht das ja von Anfang an klar, dass das die Folge seines Dienens sein wird (Mk 3,6) – dann wird das die Besiegelung, Bewahrheitung, Vollendung seines Denkens sein. Der johanneische Jesus spricht das in Bezug auf die dem Dienen innewohnende Liebe aus (Jh 15,13). Der markinische Jesus verbindet mit seinem Dienen bis ans Ende die Selbst­ hingabe zur Auslösung für viele13. Dieser Leben und Sterben einschließende Existenzsinn soll auch die Sozialgestalt des Jüngerlebens bzw. der Gemeinde be­ stimmen. Dabei gilt allerdings festzuhalten, dass die Hingabe Jesu als „Lösegeld für viele“ allein Jesu Sache ist14, ein Jünger kann nur bis Jh 15,13 kommen; oder: Größe erweist sich im Dienst („… sei euer Diener …“ [διάκονος / diakonos = (Be-) diener]), ganz oben (Erster) ist der, der freiwillig ganz unten (δοῦλος / doulos = Knecht) ist, Kreuzesnachfolge inklusive (Mk 10,38 f). Diese Ethik der Umwertung der Rang- und Wertskala schafft Distanz zur Welt bei gleichzeitigem Wirken in der Welt. Sie ist verantwortlich für jene „Binnenethik“, die zugleich als „macht­ kritisch“ wahrgenommen wird. Die so beschriebene Kultur des Dienens steht dem allgemeinen Machtge­ brauch gegenüber. Real erlebte Herrschaft ist in den Augen des markinischen Jesus nur „so genannte“ Herrschaft. Denn die Herrscher, von denen allgemein 10 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 98 f; W. Bösen, Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 96. 11 M. Vogel, „Theologien des Kreuzes“ in: ThLZ 136/2011, Sp. 732. 12 ἦλθεν / ēlthen – „(dazu) ist er gekommen“ drückt die Bestimmung des Lebens aus. 13 Zur Funktion des Lösegeldes nach Ex 21,29 f vgl. W. Bösen, Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 98. 14 M. Vogel, a. a. O., Sp. 732.

526

Markus als Quelle von Jesusworten?

gesagt werden kann, dass sie die Völker unterdrücken und die Macht gegen sie wenden (κατεξουσιάζουσιν / katexousiazousin), „scheinen“ nur Macht zu haben (δοκοῦσιν / dokousin). Die weltlichen Gewaltherrscher, die ihre Macht missbrau­ chen, indem sie dem Volk sein Recht nehmen und keine Gerechtigkeit walten lassen, entbehren vor Gott jeder Legitimität. Sie gelten zwar als Herrscher, sind es aber nicht15. Im Gegenüber zur christlichen Binnenethik des Dienens gerät das Praktizieren der Macht – jenseits aller strukturellen Gewalt – in das Licht der Gewalttat. Zwar ohne Aussicht auf unmittelbare Überwindung der Unterdrü­ ckungsmacht bleibt die christliche Ethik des Dienens jedoch ein Gegenentwurf.

6.3 Das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–31 parr) 6.3.1 Literarisches Das Doppelgebot der Liebe wird Jesus von den Synoptikern in den Mund gelegt als Antwort auf die Frage eines Gesetzeskundigen nach dem höchsten Gebot. Jeder der drei Synoptiker passt es redaktionell in seinen Kontext ein, und jeder koloriert es mit seinen speziellen Farben. Der markinische Jesus stellt die Gottesliebe, zitiert nach dem Schᵉma Jisrael (Dtn 6,4 f), allem voran. Dabei soll die Gottesliebe nicht nur dreifach (mit καρδία / kardia = Herz, ψυχή / psychē = Seele, δύναμις / dynamis = Kraft [Dtn 6,5])16, sondern vierfach (mit καρδία / kardia = Herz, ψυχή / psychē = Seele, διάνοια / dianoia = Erkenntnis, ἰσχύς / ischys = Stärke) ergriffen werden. Die Kraft des Verstandes (διάνοια / dianoia) bekommt dabei, typisch hellenistisch, einen besonderen Akzent17. In der Spiegelung durch den Schriftgelehrten kehrt Markus wieder zur Dreigliedrigkeit zurück: Er lässt διάνοια / dianoia = Verstand weg und ersetzt ψυχή / psychē = Seele durch σύνεσις / synesis = Vernunft, ein wei­ terer Gräzizismus. Dtn 6,5 (LXX)

καρδία / kardia = Herz

ψυχή / psychē = Seele

Mk 12,29

καρδία / kardia = Herz

ψυχή / psychē = Seele

Mk 12,33

καρδία / kardia = Herz

διάνοια /  dianoia = Verstand σύνεσις /  synesis = Vernunft

δύναμις/ dynamis = Kraft ἰσχύς/ ischys = Stärke ἰσχύς/ ischys = Stärke

15 Matthäus hat auf den feinen Unterschied zwischen Herrscher und Scheinherrscher verzichtet. 16 Das ist die LXX-Übersetzung des MT. 17 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 165.

Das Doppelgebot der Liebe 

527

Matthäus und Lukas bleiben in der Antwort Jesu bei der Dreigliedrigkeit, wobei Matthäus von Markus διάνοια / dianoia = „Erkenntnis“ übernimmt (mit Herz, Seele und Verstand) und Lukas von Markus ἰσχύς / ischys = „Stärke“ zitiert (mit Herz, Seele und Stärke). – Der markinische Jesus unterscheidet zwischen dem ersten Gebot der Gottesliebe und dem zweiten Gebot der Nächstenliebe. Eine völlige Gleichstellung ist hier noch nicht gegeben, aber sie ist vorbereitet dadurch, dass alle anderen Gebote als geringer eingestuft werden. Bei Matthäus ist die Gleich­ stellung vollzogen: Das erste wird als das größte Gebot interpretiert, und „das zweite ist ihm gleich“ (Mt 22,39)18. Bei Lukas sind die zwei Gebote schon zu einem verschmolzen als Antwort auf die Frage, wie das ewige Leben zu erlangen sei (vgl. Lk 18,18 parr). Der hier angedeutete synoptische Vergleich zeigt: Aufgrund des jeweiligen Kolorits ist es nicht möglich, ein Jesuswort in authentischer Fassung zu eruieren.

6.3.2 Die markinisch-jesuanische Liebesethik Zwei Dinge freilich sind dem markinischen Jesus wichtig: erstens die Verbindung von Gottesliebe und Nächstenliebe und zweitens die Neuinterpretation des Nächsten. Zum Ersten: Die Singularität Gottes, wie sie in Dtn 6,4 f formuliert ist, konnte in zwei Richtungen interpretiert werden und wurde faktisch auch je nach Anlass in beide Richtungen gedeutet. Zum einen verband sich mit ihr die Warnung an Israel, polytheistische Kulte Kanaans zu integrieren und damit die Alleinherr­ schaft Jahwes in Frage zu stellen (so z. B. der Kontext von Dtn 6,4 f), zum anderen richtet sich der Alleinherrschaftsanspruch Jahwes auch nach außen, indem er fremde Könige zittern und zagen lässt und sein Sieg über jene dankbar besungen wird (z. B. Jos 5,1; 6,21; Ri 5,31: Gottesliebe wird in Ri 5,31 mit Herrlichkeit be­ lohnt, Gottesfeindschaft mit Untergang)19. Indem der markinische Jesus Gottes­ liebe und Nächstenliebe miteinander verbindet, rückt er den Aspekt der Liebe als lebensdienliches Prinzip in den Vordergrund und drängt den Aspekt der Macht zurück. Die Liebe zum Nächsten wird durch die Gottesliebe fundiert. Daher auch die Zählung: das erste, das zweite Hauptgebot. Die Liebe zu Gott findet ihre Kon­ kretion und Erfüllung in der Nächstenliebe. Wer die Liebe zum lebensdienlichen Prinzip erhebt, der wehrt damit automatisch Perversionen der Macht. Das gilt es, für den markinischen Jesus festzuhalten. Zum Zweiten: Der Nächste ist in Lev 19,18 der Angehörige des Volkes Israel; denn der berühmte Grundsatz Lev 19,18b ist die positive Formulierung des glei­ chen negativ gewendeten Satzes in Lev 19,18a: „Du sollst dich nicht rächen noch 18 Ders. ebd. 19 Dass das als angemessene Parteilichkeit Jahwes empfunden wurde, wurde bereits ange­ merkt (s. o. unter AT 2.15.6).

528

Markus als Quelle von Jesusworten?

Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volkes. Wo auch immer „der Nächste“ in Kap.19 auftaucht, ist er Teil der „ganzen Gemeinde der Israeliten“, zu der Mose re­ den soll. In Mk 12,28–34 ist das so eindeutig nicht. Sicher handelt es sich hier um ein Lehrgespräch im schriftgelehrten Milieu des damaligen Israel (Mk 12,28.32 f), und Jesus zitiert das Schᵉma mit der typischen Anrede an Israel (Mk 12,29), unter die sich auch „der Nächste“ fügt (Mk 12,31). Und doch ist das Doppelgebot der Liebe im Sinne des markinischen Jesus auf die Welt hin geöffnet durch die Bemer­ kung, der Schriftgelehrte sei „nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 12,34). Das Reich Gottes / die Herrschaft Gottes (βασιλεία τοῦ θεοῦ / basileia tou theou) ist zwar zu­ nächst nur im Umfeld Jesu erfahrbar (Mt 12,28 / Lk 11,20), von Begrifflichkeit und Vorstellung her zunächst nur für Israeliten verstehbar, aber als sich realisierendes Heilsgeschehen seit Deuterojesaja für die Welt erwartbar. Der Schriftgelehrte wird hier durch seine Nähe zum Reich Gottes ein Repräsentant des weltweiten Heils, wenn und weil er Gott und den Nächsten liebt. Jeder ist eingeladen, in die Rolle des Repräsentanten einzutreten und Gott und den Nächsten zu lieben. Jeder ist eingeladen, auf dem Fundament der Gottesliebe die (Nächsten)liebe statt der Machtentfaltung zum lebensdienlichen Prinzip zu machen. Schranken der Nation spielen keine Rolle mehr. Ist der markinische Jesus damit richtig beschrieben, oder ist das ein Wunschbild, geleitet von der paulinischen All-Einheit der Menschen in Christus (Gal 3,28)? Die Proklamation des Reiches Gottes steht nach Markus am Beginn der Wirk­ samkeit Jesu (Mk 1,14 f). Sie wird zwar zunächst lokal begrenzt, in Galiläa, laut, aber wo sonst? Der Wortlaut hat nicht nur programmatischen, sondern darü­ ber hinaus grundsätzlichen Charakter. Ebenso sprechen die – schon vormarki­ nischen – Gleichnisse von der selbstwachsenden Saat und vom Senfkorn grund­ sätzlich von einer Eigendynamik der Ausbreitung der Gottesherrschaft, die klein (Galiläa) beginnt und immer größer wird (vgl. Apg 1,8). Dabei hat sich das Wissen darum erhalten, dass die Universalisierung der Heilsverkündigung Jesu – wenn man sie denn so verstehen durfte! – für ihn selbst alles andere als selbstverständ­ lich war: Heilung und Heil kamen zuallernächst den „Kindern“ Israels zu, und dann vielleicht auch noch den „Hunden“ (Mk 7,24–30)20. Aber er wird überwun­ den durch demütige Beredsamkeit und grenzen-loses Vertrauen. Der markini­ sche Jesus ist den Weg vom partikularistischen Bruder-/Schwester-Denken zum universalen Nächsten-Denken selbst gegangen und hat ihn so für jedermann eröffnet21. Lukas nimmt eine entsprechende Geschichte in sein Sondergut auf (Lk 10,29–37), und der Tugendkatalog in 1. Petr 1,5–7 endet mit der Öffnung der „brüderlichen Liebe“ hin zur „Liebe zu allen Menschen“. 20 Schärfer noch bei Mt 15,24. Israel wächst hier unübersehbar über seinen partikularisti­ schen Glauben hinaus. 21 Das wird durch die einzige Heilungsgeschichte in Q bestätigt: Dem Hauptmann von Ka­ pernaum bescheinigt Jesus einen so großen Glauben, wie er ihn bisher in Israel nicht gefunden hat (Mt 8,10 / Lk 7,9).

Die Barmherzigkeit Jesu als Rückseite des Gerichts

529

6.4 Die Barmherzigkeit Jesu als Rückseite des Gerichts Wenn Jesus in seinen Dämonenaustreibungen beansprucht, das Reich Gottes schon aufblitzen zu lassen (Mt 12,28 / Lk 11,20 [Q]), wenn er in seinen Worten die Nähe der Gottesherrschaft schon spürbar macht, kann man davon ausgehen, dass die Evangelisten in ihm den Exegeten des Gotteswillens und darüber hinaus auch den Repräsentanten Gottes auf Erden sehen. Wenn er Gott so repräsentiert, wie dieser sich in seiner Ambiguität bisher in den Schriften dargestellt hat, ist zu erwarten, dass er die Barmherzigkeit ebenso verkörpert wie das Gericht, und dass am Ende die Barmherzigkeit das Gericht einholt und überholt. Nun ist von der Barmherzigkeit Jesu in ihrer Transparenz auf Gott hin über das Evangelium verstreut die Rede, von Bedrängnis und Gericht komprimiert in einem Kapitel (Mk 13 parr). Der Wucht des 13. Kapitels steht der Spannungs­ bogen der Barmherzigkeit gegenüber, diesem wiederum wird der Ernst des Ge­ richtes zur Seite gestellt. In beidem ist auch immer das jeweils andere latent vorhanden. Es gibt drei Begriffe für „barmherzig sein“: οἰκτίρμων εἶναι / oiktirmōn einai (außer Lk 6,36 nur noch Jak 5,11): gehobenes (poeti­ sches) Griechisch mit Anklang an die Septuaginta (bes. Pss 24,6 LXX; 39,12 LXX; 50,3 LXX; 102,8 LXX; 110,4 LXX), ἐλεεῖν / eleein (am geläufigsten): psychische Reaktion und soziales Gewissen ange­ sprochen (vgl. ἐλεημοσύνη / eleēmosynē = Almosen), bei Matthäus aber auch das Er­ barmen des „Herrn“ (Mt 15,22; 20,30), σπλαγχνίζεσθαι / splanchnizesthai (gelegentlich): das Innerste („Eingeweide“) an­ sprechend, etwas zur Herzenssache machen, es sich angelegen sein lassen. Wo Jesus dies zugesprochen wird, klingt göttliches Erbarmen durch (z. B. Mk 6,34: 8,2)22.

Mk: Mk 5,1–20 Die ausführlichste Wundergeschichte, die Dämonenaustreibung bei Gerasa / Gergesa hat immer wieder zu literarischen Rekonstruktionen Anlass gegeben. Klar ist, dass Markus die Einleitung geschaffen hat (5,1.2a). Daher ist auch die Formung des Schlusses von seiner Hand möglich. Dafür kämen – außer der Abfahrnotiz 5,18a – 5,19 und / oder 5,20 in Frage. Diese beiden Verse werden im Folgenden avisiert, weil hier die Dämonenaus­ treibung als Tat der Barmherzigkeit des Herrn beschrieben wird, eine außerordentliche Machttat; denn schon von ferne wirkt Jesu Macht auf die vermeintliche Gegenmacht bedrohlich, ohne dass irgendein Wort fällt (5,6)23. Aufs Ganze gesehen gehen hier Macht

22 Vgl. dazu bes. R. Feldmeier, „Leiden und Barmherzigkeit der Gotteskinder. Die lukani­ sche Theologie des Erbarmens“ in: I. Fischer u. a. (Hgg.), Mitleid und Mitleiden, Göttingen 2018 (JBTh 30/2015), S. 116 ff (111–128). 23 5,8 ist als nachträgliche Erklärung unnötig und stößt sich außerdem mit dem Abschnitt 5,11–13.

530

Markus als Quelle von Jesusworten?

(5,9 ff) und Barmherzigkeit (5,19) eine heilsame Verbindung ein. Das war aber nicht immer so. Es ist von einem allmählichen Wachstum des Exorzismus auszugehen. Denn es gibt diverse Schlusspunkte und Neueinsätze, die – im Falle mündlicher Tradition – als Forterzählungen anzusprechen sind. Ein formgerechter Exorzismus hätte in Mk 5,14 sein Ende finden können: Furcht und Verkündigung sind Abschlussmotive anstelle eines Chorschlusses. Es soll aber weiter gehen. Die Hirten als Multiplikatoren erscheinen zu wenig. Die Stadt- und Landbewohner kommen zum Ort des Geschehens, sehen das Wunder24 und fürchten sich. Ein möglicher Schluss (vgl. Mk 16,8), aber zu berück­ sichtigen ist, dass ihre Furcht zu einer Konsequenz führt: zur Ausweisung Jesu aus der Stadt. Obwohl 5,18 einen markinischen Eingriff zeigt („Boot“), kann 5,17 nicht Schluss gewesen sein. Denn dann hätte Jesus im Zwielicht zwischen Gottessohn und Teufels­ verbündetem gestanden. Darum lässt die Erzählung nun wieder den Geheilten auftre­ ten. Nach der gelungenen Verkündigung der Hirten und der verhinderten Ausbreitung durch die heidnischen Stadtbewohner wird nun das Kerygma von der Barmherzigkeit Gottes, dargebracht vom potentiellen Nachfolger, siegen (5,19 f). Es ist das einzige Mal, dass Jesus nach einem Wunder direkt zur – begrenzten – Verkündigung aufruft. Diese lässt sich jedoch nicht im Rahmen halten, sondern überschreitet – erzählerisch gewollt – die Grenzen zum Heidenland (vgl. Mk 7,24–30). Ich sehe keinen Grund, v 20 von v 19 zu trennen25. Durch die Erklärung der Erweiterungen als Forterzählungen sind wir in der Lage, den Überlieferungsprozess von der jesusnahen Erzählung26 bis in den Umkreis der markinischen Gemeinde (Tendenz zur Heidenmission) zu verfolgen. Die vormar­ kinische Entstehungsgeschichte führt uns in die Zeit zwischen 40 und 69 n. Chr., die Endgestalt der Erzählung zeigt uns im Wesentlichen27 den markinischen Jesus.

Die Barmherzigkeit Gottes hat in Jesus Gestalt angenommen. Jesus deutet seine Tat als Tat des „Herrn“ (κύριος / kyrios) (5,19). In dessen Geist hat er gehan­ delt (Mt 12,28) und gezeigt, „wie der Herr … sich deiner erbarmt hat“ (ἠλέησέν σε / ēleēsen se). Das Erbarmen besteht in der Dämonenaustreibung, in der Ver­ nunftbegabung und in der Redintegration in die Gesellschaft. 5,20 vollzieht die Gleichsetzung der Tat des Herrn mit der Tat Jesu. In der Kombination von 5,19 und 20 ist Jesus das Fleisch gewordene Wort und der Mensch gewordene Geist Gottes28. Die Geschichte bekennt hier vollgültig, was der Gegenspieler im feind­ lichen Sinn auch weiß (5,7). Ihm allerdings widerfährt unbarmherzig das Gericht. 24 Von der Besessenheit zur „Vernunft“ (σωφροσύνη / sōphrosynē) (5,15) und weiter zum noch nicht ganz erfüllten Wunsch der Nachfolge (5,18). 25 Gegen J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 202. 26 Dass Jesus Exorzist war, scheint gesichert durch Mt 12,28 / Lk 11,20 (Q) und Mk 3,22. Darum nimmt auch E. Lohse einen „Überlieferungskern“ für Dämonenaustreibungen Jesu an (Die Wundertaten Jesu, Stuttgart 2015, S. 34). 27 Der markinische Jesus schickt nicht ausdrücklich zur Mission, sondern lässt sie allenfalls geschehen. 28 Vgl. auch R. Glöckner, Neutestamentliche Wundergeschichten, Mainz 1983, S. 92. Glöck­ ner verweist auch auf „Gottes Wunderwirken als Ausdruck seines Erbarmens“ in den Psalmen (a. a. O., S. 97).

Die Barmherzigkeit Jesu als Rückseite des Gerichts

531

Mk: Mk 9,14–29: Die Heilung des epileptischen Knaben verbindet einen Exorzismus mit Jüngerkritik. Beide Traditionen hatten ein vormarkinisches Eigenleben und sind wohl auch vormar­ kinisch bereits zusammengewachsen; denn Markus schafft eine Einleitung (9,14–16), die auf die kombinierte Geschichte hinführt. Diese lag den beiden Seitenreferenten vor, die sie wiederum – wie schon bei Mk 5,1–20 geschehen – kürzten. – Die Jüngerkritik entzündet sich bereits in der Jesuszeit an deren geringem Glauben. Q legt davon Zeug­ nis ab: Mt 17,20 / Lk 17,5–6. Sie wird im Zusammenhang dieser Heilungsgeschichte zur Klage Jesu über die Jünger (9,19)29 und zur Belehrung (9,28 f)30. – Grundlegend aber ist die Heilungsgeschichte, in der zugleich der (stellvertretende) Glaube des Bittenden angefordert wird (9,17–18.20–27), woran sich die Klage über den Unglauben der Jünger gut anlehnen konnte31.

Ausschlaggebend ist die Bitte des Vaters: „Wenn du aber etwas kannst, so er­ barme dich unser und hilf uns.“ Das Erbarmen (hier: σπλαγχνίζεσθαι / splanchni­ zesthai) wird hier von dem erwartet, dem eine außergewöhnliche Wirk-Macht (δύνασθαι / dynasthai = können) zugesprochen ist. Erbarmen und Macht werden hier zusammengebunden, um die Macht heilvoll auf den zu lenken, den Jesus sich angelegen sein lassen soll. Jesus aber überhört – geflissentlich – die Anrufung sei­ nes Erbarmens und spricht den Vater auf seine Glaubenskraft an, die Unmögliches möglich macht. „Was heißt hier: wenn du kannst?“ (9,23a). Wer glaubt, der kann! (9,23b). Von wem spricht Jesus? Von sich oder vom Vater? Beides ist intendiert. Der Vater versteht es jedenfalls auf sich bezogen und bittet indirekt auch um Er­ barmen für sich: „Hilf meinem Unglauben“ (9,24b)32. Jesu Thema aber ist nicht das Erbarmen, sondern der Glaube. Sein Glaube an Gottes δύναμις / dynamis = „Wirkmacht“ ist so stark, dass er mit ihm eine neue, heilvolles Leben schaffende Wirklichkeit hervorbringen kann (9,26 f). Diesen Glauben traut er auch dem Vater zu (9,23b) – und auch den Jüngern! Jesus hat allein durch seinen Glauben an der Dynamis Gottes teil und setzt sie heilvoll um. Denn Jesus zeigt faktisch durch die Heilung Erbarmen. Aber es geht ihm hier nicht in erster Linie darum. Es geht ihm um den Glauben an die Kraft des Glaubens und des Gebets. Weil das für ihn Ge­ wissheit ist, spiegelt er – allenfalls indirekt – Gottes Barmherzigkeit33.

29 Die Redeform der Klage ist der Jesustradition vertraut: Mt 11,16 f / Lk 7,31 f (Q); Mt 11,21– 23a / Lk  10,12–15 (Q). 30 9,28 f können markinisch sein (vgl. das Unverständnismotiv redaktionell auch Mk 4,11– 13). Matthäus hat die Verse gekannt und sie als Beleg für den „Kleinglauben“ der Jünger (vgl. Mt 8,26) genutzt. 31 Diese liegt zeitlich vor der markinisch gestalteten, summarisch formulierten Jüngeraus­ sendung Mk 6,7–13. 32 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 48. 33 Bei Mt ist Jesu mit Gottes Barmherzigkeit gleichgesetzt („Herr!“).

532

Markus als Quelle von Jesusworten?

Mk: Mk 6,30–44 / Mk 8,1–10:

Auch in den beiden Brotvermehrungsgeschichten34 spielt Jesu Erbarmen eine Rolle (6,34; 8,2). Es handelt sich vermutlich um zwei vormarkinische Versionen einer noch davor liegenden Grunderzählung. Markus verfolgt mit der Hintereinanderschaltung der beiden Versionen einen didaktischen Effekt: Wer nach der ersten Geschichte noch nicht verstanden hat, wer Jesus ist und was er gibt (6,52), kann die zweite, nachdem Nahrung und Brot zwischendurch in metaphorischem Sinn vorkam, mit offenen Sinnen hören (Mk 7,31–37) und lesen (Mk 8,22–26). Nach Abzug redaktioneller Einleitungsverse (6,30–33 und 8,1) lässt sich auf eine Grunderzählung schließen, die zwar nicht mehr rekonstruiert werden kann, deren Erzählgerüst aber deutlich wird: An einem abgelegenen Ort hat sich eine große Volksschar um Jesus versammelt. Es ent­ steht (aufgrund der vorgerückten Stunde und) aufgrund der Abgelegenheit eine Hungerund Mangelsituation. Ein Krisengespräch zwischen Jesus und den Jüngern führt zu keiner Möglichkeit der Abhilfe. Diese Notlage ruft Jesu Erbarmen (σπλαγχνίζεσθαι / splanchni­ zesthai) hervor. Er will sich die Not der großen Volksschar angelegen sein lassen. Er lässt das Volk sich lagern und sorgt durch die wunderbare Vervielfältigung der Vorräte für Abhilfe (dabei: er nahm – dankte – brach – gab). Die Jünger sind als seine Bevollmächtigten mit beteiligt. Das weitere Wunder: Alle werden satt, es bleiben sogar noch Reste übrig, die in Körbe eingesammelt werden.

Jesu Erbarmen bildet die erzählerische Brücke zwischen der Notlage und dem Wunder. Jesus ist kein Wundermann, der eine Mirakelschau inszeniert, sondern er kommt in der Not, um sich diese zu Herzen zu nehmen und Abhilfe zu schaffen. Darin verwirklicht er, was seit alters von Gott erhofft und erbeten wird (Ps 14,7; 22,20; 40,14; 70,2.6; 71,12; 96.13; 121,1 f; Jes 40,1.10; 60,1 f; 62,11). Er lässt Gottes Barmherzigkeit wahr werden35. Die Konkretion der Barmherzigkeit ist in jeder der beiden Speisungsgeschichten verschieden: In 6,34 verwirklicht sie sich primär in der „Lehre“ – die orientierungslose Schar erhält Ausrichtung auf den „Hirten“; erst dann geht es um die „Brote“. In 8,2.5 geht es auf der Erzählebene einzig um die Nahrung, wiewohl das Verstehen dessen, was hier gesagt sein soll, erst auf der Metaebene möglich ist. Bei alledem ist Jesu Mitgefühl gebremst. Nach Mk 6,37 nimmt er die Jünger in die Verantwortung: wahrer Jünger ist der, der die Not der Menschen – wie Jesus – zu seiner Herzensangelegenheit macht. „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Ohne – wie in Mk 9,19 – zu klagen, muss er auch hier ein Unvermögen der Jünger feststellen. Nichtsdestoweniger bleiben sie beteiligt und so mitverant­ wortlich (6,41; vgl. 9,29). In Mk 8 ist die Bremswirkung des Gesprächs nicht mehr zu erkennen; Jesus teilt das Mitleid mit seinen Jüngern und tut gemeinsam mit ihnen etwas. Johannes kennt in seiner Speisungsgeschichte den Zug des Mitleids übrigens nicht (Jh 6,1–13). Hier ist Jesus allein der hoheitsvoll Handelnde, die Jünger sinken zu Statisten herab.

34 Vgl. dazu auch G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten, a. a. O., S. 96 ff. 35 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 259.

Die Barmherzigkeit Jesu als Rückseite des Gerichts

533

In beiden Wundergeschichten, in der Heilung des Knaben und in der Speisung der Menge, ist die Tat der Barmherzigkeit Jesu, die aus seinem Vater-Glauben ent­ springt, das Gericht über Unglauben und Tatenlosigkeit, ein Gericht freilich, das nicht vernichtet, sondern aufhilft und auf den Weg bringt. Mk: Mk 10,46–52: Die Heilung des blinden Bartimäus ist eine „in sich homogene vormarkinische Über­ lieferung“36. Homogenität verrät der symmetrische Aufbau, vormarkinischer Ursprung wird durch markinische redaktionelle Eingriffe deutlich (10,46a; in 10,52 vielleicht „auf dem Wege“37).

Zweimal erschallt der Hilfeschrei des Bartimäus: „Sohn Davids (Jesus,), erbarme dich meiner!“ (10,47.48) (ἐλέησόν με / eleēson me). Er weiß, dass Jesus auf sein Erbarmen hin angesprochen werden kann; denn er hatte offenbar vorher schon von Jesus gehört. Wie in Mk 9,22 f scheint Jesus auch hier zunächst den Ruf nach Erbarmen zu überhören; denn dem verständnislosen Volk (einschließlich Jün­ gern) wird Raum gelassen, den um Hilfe Schreienden wie einen Besessenen zu behandeln („es bedrohten ihn viele, dass er schweige“ [10,48]). Der Blinde lässt sich jedoch nicht einschüchtern und wiederholt seinen Ruf um Erbarmen umso lauter. Auch hier reagiert Jesus nicht emotional, sondern sich zurücknehmend (στάς / stas = „stehen bleibend“ [10,49]) und die Vielen (einschließlich Jüngern) in das not-wendige Tun einbindend („Ruft ihn …“ [10,49]; vgl. „Gebt ihr ihnen zu essen“ [Mk 6,37]). Dann geht er formgerecht und wie ein Heiler vor mit der Frage: „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ (10,51). Barmherzigkeit verlangt ruhige Sachanalyse und mündet in beherztes Tun. Dabei lenkt Jesus – wie auch schon 9,23 – den Blick weg von seiner „Barmherzigkeit“ hin auf den Glauben des Geheilten (10,52). Dass sich in Jesu Barmherzigkeit Gottes Erbarmen wider­ spiegelt, macht die Wundergeschichte durch die Anrede deutlich: Anfangs redet Bartimäus Jesus mit „Sohn Davids“ an, was ein hoheitliches Messiasverständnis signalisiert. Nach der Wende hin zum Sehend-Werden nennt er ihn „Rabbuni“ = „mein Meister und Gott“38 (vgl. Jh 20,28). Der, der Erbarmen systematisch in die Tat umsetzt, hat Anteil am Erbarmen und Tun Gottes39. Jesu barmherziges Tun hat Glauben des Hilfsbedürftigen – und sei er auch stell­ vertretend – zur Voraussetzung. Über Unglauben ergeht das Gericht. Vielleicht ist

36 D. A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markuse­ vangeliums, Berlin / New York 1975 (BZNW 42), S. 130. 37 Fehlt bei Mt und Lk. 38 E. Lohse, Art. „ῥαββί“ in ThWNT VI, S. 962: „Im Judentum wurde die feierliche Anrede Rabbon oder Rabbuni fast ausschließlich auf Gott beschränkt, während der Schüler seinen Leh­ rer üblicherweise Rabbi nannte.“ 39 Bei Mt und Lk ist die Transparenz auf Gott hin durch die wiederholte Anrede „Herr“ noch deutlicher.

534

Markus als Quelle von Jesusworten?

die Verfluchung des Feigenbaums (Kap.11 parr) als eine Allegorie des Unglaubens (der keine Früchte bringt) und des Gerichts zu lesen. Fazit: In Jesu Barmherzigkeit spiegelt sich Gottes Erbarmen mit dem Hilfsbedürftigen und Orientierungslosen. Wenn Jesus sich zu barmherzigem Handeln entschlossen hat, ist ihm sein zurechtbringendes Tun eine Herzensangelegenheit. Es ist aller­ dings nicht voraussetzungslos. Aufseiten Jesu geht dem eine Prüfung voraus. Sie umfasst eine „Sachanalyse“ und, da die Tat in der Regel mit einem Wunder ver­ bunden ist, die Frage des Glaubens. Beides hat im Blick auf bloße Emotionalität des Handelns eine erhebliche Bremswirkung. Diese wird noch verstärkt durch den Appell an die Mitverantwortlichkeit der Jünger. – Wo Barmherzigkeit geschieht, da ergeht auch das Gericht: über das Dämonische, über Unglauben und Taten­ losigkeit. Über das Dämonische ergeht es unbarmherzig, über Unglauben und Tatenlosigkeit aufhelfend und auf den Weg bringend. Dass mit der Barmherzigkeit auch das Gericht gesetzt ist, ergibt sich allein schon aus der Gnadenformel Ex 34,6. Für die nichtmarkinischen Belegstellen gilt zunächst das Gleiche wie für die markinischen. Darüber hinaus bekommt die Barmherzigkeit gegenüber dem Ge­ richt ein stärkeres Gewicht (Mt 5,45b; 18,23–35). Die Gerichtssituation kann sogar ganz verdrängt werden (Mt 9,13). Ganz anders Lk 16,19–26: Hier ergeht das Gericht zusammen mit der Barmherzigkeit, das Gericht nach dem Schema von (Nicht-)Tat und (entsprechender) Tatfolge, das Erbarmen gründet in der eschatologischen Umkehrung der Verhältnisse, leitmotivisch schon in Lk 1,52 f vorangestellt. – In Lk 16,27–31 ist die Gabe von Gesetz und Propheten Zeichen von Gottes Barmherzigkeit, die man annehmen oder an der man scheitern kann. Das impliziert, wenn auch nicht wörtlich erwähnt, das Gericht.

6.5 Jesu Endzeitrede nach Markus als Offenbarung von Gottes Gericht und Barmherzigkeit Die Endzeitrede ist eine kunstvolle Komposition am Ende der Wirksamkeit Jesu, die apokalyptische Motive mit Elementen einer Abschiedsrede verbindet. Dass es vormarki­ nische Vorformen gab, lässt sich vermuten. Sätze wie „Wer aber beharrt bis an das Ende, der wird selig“ (13,13b) oder „Ihr aber seht euch vor! Ich habe euch alles zuvor gesagt“ (13,23) haben Abschlusscharakter. Zwischen 13,5–6 und 13,21–23 ist ein Text inklu­ diert, in dem die Bedrängnisse bis zu einem fast unerträglichen Höhepunkt sich steigern (13,19) und dann mit der Zusicherung, dass sie nie mehr so sein werden (13,19; vgl. Gen 8,21 f), nachlassen. Markus wird diesen Text einschließlich des Heilsdurchbruchs (13,24–27) vorgefunden haben. Das Gleichnis vom Feigenbaum hat er wohl in voller Gänze hinzugefügt (13,28–32). Es muss sich bereits vor seiner Zeit entwickelt haben: Zu 13,28 und 29 sind durch Fortschreibung 13,30–32 nach und nach hinzugekommen. Markus hat diesen Komplex aus Respekt vor der Überlieferung hinzugenommen. Ihm

Jesu Endzeitrede 

535

selbst mag man eine solche zusammenhanglose und widersprüchliche Wortfolge nicht zurechnen. Er schafft Klarheit durch das angefügte Gleichnis vom Türhüter (13,33–37). Um die Kunstform der Endzeitrede zu erfassen und die Barmherzigkeit in der all­ gemeinen Gerichtsszenerie herauszuarbeiten, aber auch um den Unterschied dieser Apokalypse zu der der Offenbarung des Johannes herauszustellen, ist zunächst eine Exegese Vers für Vers nötig. Ein Fazit wird dann die wichtigsten Linien noch einmal herausarbeiten.

13,1: Die Bewunderung des Monumentalen, des für die Ewigkeit Gebauten, durch die Jünger bildet die Folie, vor der Jesus im Kontrast dazu den Untergang des Tempels ankündigt. 13,2: Der markinische Jesus hat die bevorstehende Tempelzerstörung (70 n. Chr.) vor Augen, was Vernichtung nationaler und kultischer Identität bedeuten würde. Da mit der drohenden Zerstörung des Tempels auch die bisher gepflegte Gottesbe­ ziehung in Frage gestellt war, konnte diese Zerstörung nicht anders als Gericht gedeutet werden. Der Gerichtsgedanke ist hier zwar nicht offen ausgesprochen, aber im passivum divinum verborgen (ἀφεθῇ / aphethē = es wird gelassen werden = es wird bleiben [scil. kein Stein auf dem anderen]; καταλυθῇ / katalythē = es wird abgebrochen werden). 13,3: In den folgenden Versen wird das machtpolitische Zerstörungswerk allmählich in einen eschatologischen Horizont gerückt. Es geht um die Frage der „Vollendung“ (συντελεῖσθαι / synteleisthai [13,4]), das Wann (πότε / pote)  und Wie (σημεῖον / ​ sēmeion = Zeichen) des „Endes“ (τέλος / telos [13,7]) und schließlich um die gottgewollte Haltung des wahren Apokalyptikers: Beharrung bis ans Ende mit der Verheißung der Seligkeit (13,13). – Indem Jesus den Platz auf dem Ölberg gegenüber dem Tempel einnimmt, gewinnt er Distanz zum Monumentalen und die Freiheit, das Ende zu bedenken. Der engste Kreis der Jünger erwartet von Jesus Arkanwissen. Jesus wehrt das ab, indem er auf die Wann- und Wie-Frage nur unzureichend antwortet und letztlich auf die Haltung angesichts einer immer chaotischer werdenden Welt abhebt (13,13). Nicht das Wissen von Geheimnissen ist entscheidend, sondern die Haltung der Treue. 13,4: Die Vollendung „all dessen“ scheint wiederum als Gottes Werk angesehen zu werden (συντελεῖσθαι / synteleisthai: pass. div.) (vgl. auch 13,7: δεῖ / dei = es muss so sein).

536

Markus als Quelle von Jesusworten?

13,5 ist Weckruf und Überschrift über Fake News und Gesichte (13,6.7). Sie dienen nur dazu, die Jünger zu täuschen (πλανᾶν / planān). Davor sollen sie sich hüten. 13,6: Angebliche Messiasse gehören zu den Irreführungen, ebenso Kriege oder Kriegs­ gerüchte (nicht „Kriegsgeschrei“ wie Lutherübers.). Damit hat der Krieg seinen Wert als Endzeitkriterium verloren; denn er kann als solcher nicht als „das Ende“ (13,7) gedeutet werden. Zudem wird er schon im Vorfeld als Kriterium in Frage gestellt, weil sich sein Kommen als Gerücht erweisen kann40. Die Verbindung mit 13,7 schließt auch den Gedanken aus, der Messias könnte ein Kriegsherr sein (vgl. aber Offb 19,1–6). Im Zusammenhang mit dem Mkev ist er Friedenskönig (Mk 11,1–10). 13,7: 13,6 und 7 nehmen dem chaotischen Geschehen den Charakter des apokalypti­ schen Fahrplans und fordern vielmehr dazu auf, ruhig zu bleiben (μὴ θροεῖσθε / mē throeisthe = macht keinen Lärm). Das Ganze sei ein göttlich bestimmter Ablauf (δεῖ γενέσθαι / dei genesthai = es muss so geschehen; vgl. oben das pass.div.), der aber nicht auf ein göttlich herbeigeführtes baldiges Ende schließen lasse. Das Fazit, dass das Ende noch nicht da sei, führt zu 13,8. 13,8: Hier werden weitere chaotische Ereignisse geschildert (Kriege, Erdbeben, Hun­ gersnöte). Die Ereignisse sind alle sehr unspezifisch, so dass sie zum „normalen“ Chaos dazugehören (vgl. bei den Erdbeben: κατὰ τόπους / kata topous = hier und dort). Das ist zwar „der Anfang der Wehen“, zu ergänzen ist „erst der Anfang“, und wer weiß, wie lang sich solch ein Anfang erstreckt (vgl. 13,10). 13,9–11.13 malt eine typisierte Verfolgungssituation aus. Sie mag zum „Anfang der Wehen“ gerechnet werden, entbehrt aber in ihrer Allgemeinheit („vor Statthalter und Kö­ nige geführt“) jeder einmalig historischen Verankerung und ist darauf angelegt, Kraft zur Treue im Glauben zu geben für jede sich wiederholende Verfolgungs­ situation. Das zweimalige „um meinetwillen“ bzw. „um meines Namens willen“ (13,9 und 13) deutet das wiederholte Martyrium an.

40 Anders Lk 21,9. Er spricht nicht von Kriegsgerüchten, sondern von „Aufständen“. Außer­ dem wird das göttliche δεῖ / dei = „es muss so sein“ (unhinterfragbarer Gotteswille) angedeutet in einem apokalyptischen Fahrplan: „das muss zuvor geschehen“ (vgl. auch Lk 21,12).

537

Jesu Endzeitrede 

13,10 zeigt letztlich das sich verzögernde Ende der Tage an bzw. verstärkt die antiapo­ kalyptische Tendenz. Da in urchristlichen Gemeinden Apokalypse und Parusie zusammengedacht wurden (vgl. z. B. 13,4 mit Mt 24,3), spricht sich hier die Par­ usieverzögerung aus, was z. B. zusammen mit 13,8c den Text, wiewohl vormarki­ nisch, in die markinische Zeit verweist41. 13,12 ist hinzugewachsen, wohl als proapokalyptische (?) Fortschreibung. Denn das Chaos nimmt hier ungewöhnliche, um nicht zu sagen: unnatürliche Formen an. Die göttlich geordnete Welt (vgl. Gen 4,9–12; 22,11 f; Ex 21,15.17) wird mit Füßen getreten42. Exkurs: Die parallele Struktur von Mk 13,5–8 und 13,9–13 5b: Seht zu (βλέπετε / ble­ pete), dass euch niemand verführe!

AUFRUF ZUR WACHSAMKEIT

9a: Ihr aber seht euch vor (βλέπετε / blepete)!

6: Es werden viele kom­ men unter meinem Namen und sagen: Ich bin’s, und werden viele verführen. 7a.b: Wenn ihr aber hö­ ren werdet von Kriegen und Kriegsgerüchten, so fürchtet euch nicht.

WAS PASSIEREN WIRD (I)

9b: Sie werden euch den Gerichten überantwor­ ten, und in den Synago­ gen werdet ihr geschla­ gen werden, und vor Statthalter und Könige werdet ihr geführt wer­ den um meinetwillen,

Es muss so geschehen (δεῖ / dei).

SINN DES GESCHEHENS

ihnen zum Zeugnis.

7c: Aber das Ende ist noch nicht da.

ZEITANSAGE (I) PERIPETIE VOR DEM ENDE

10: Und das Evangelium muss (δεῖ / dei) zuvor gepredigt werden unter allen Völkern.

< IN DER EUCH >    WELT … UM MEINET WILLEN

41 Ich halte v 10 nicht für einen redaktionellen Zusatz, sondern – wie die Strukturanalyse erweist – für einen konstitutiven Teil des Textes (gegen J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 190). 42 Lk 21,16 versucht das abzumildern.

538

Markus als Quelle von Jesusworten?

8a.b: Denn es wird sich ein Volk gegen das an­ dere erheben und ein Königreich gegen das andere. Es werden Erdbeben ge­ schehen hier und dort, es werden Hungersnöte sein.

WAS PASSIEREN WIRD (II) < IN DER WELT EUCH > …

11: Und wenn sie euch hinführen und überant­ worten werden, so sorgt euch nicht vorher, was ihr reden sollt; sondern was euch in jener Stunde gegeben wird, das redet. Denn ihr seid’s nicht, die da reden, sondern der heilige Geist. IN DEN > 12 (Einschub): Und es FAMILIEN wird ein Bruder den andern dem Tod über­ antworten und der Vater das Kind, und die Kin­ der werden sich empö­ ren gegen die Eltern und werden sie zu Tode bringen. EUCH … > 13a: Und ihr werdet ge­ UM hasst sein von jedermann MEINETum meines Namens WILLEN willen.

8c: Das ist der Anfang (ἀρχή / archē) der Wehen.

ZEITANSAGE (II)

13b: Wer aber beharrt bis an das Ende (τέλος /  telos), der wird selig.

Die Synopse zeigt: Die Ankündigung des Endes in 13,5–8 und in 13,9–13 ist von gleichartiger Struktur. Es beginnt mit einem Aufruf zur Wachsamkeit (βλέπετε / blepete [13,5b.9a]). Daran schließt sich die Vorhersage des apokalyptischen Geschehens an. In 13,6–8a.b ist der Blick auf die Welt gerichtet; 13,9b-13 zieht den Kreis enger: Es geht um das Schicksal der Jünger bzw. der Gemeinde(n). Dem passt sich der vermutliche Einschub, die Familien betreffend, an. Die Begrenzungslinien sind eine Aussage zum Sinn des apokalyptischen Geschehens und eine erste Zeitansage (13,7c.10), die den zweiten Teil der Prophezeiung als Peripetie erscheinen lässt. Der Sinn des apokalyp­ tischen Geschehens wird einerseits in Gottes Ratschluss verlegt (δεῖ / dei = es muss so geschehen [13,7b]) und ist daher unhinterfragbar, andererseits erhält das kommende Martyrium eine Sinngebung als Christuszeugnis (13,9b). Die Zwischen-Zeitansage ist in 13,7c sehr allgemein, in 13,10 ist die Zwischen-Zeit so weit gedehnt, dass sie fast mit den Bedrängnissen parallel läuft; denn bis das Evangelium unter allen Völkern gepre­ digt ist, kann es dauern. Der Abschnitt 13,9b-13a ist an eben dieser Trennungslinie noch einmal durch ein weiteres Strukturmerkmal geteilt, durch den Hinweis, dass alles endzeitliche Leiden wegen Christus geschieht (ἕνεκεν ἐμοῦ / heneken emou = wegen mir [13,9b]; διὰ τὸ ὄνομά μου / dia to onoma mou = wegen meines Namens [13,13a]), d. h. um durch Gleichgestaltung mit Christus diesen zu bezeugen, wobei dieses Zeugnis ein passives ist. Damit ist im Bereich persönlichen Leidens noch einmal dessen Sinngebung

Jesu Endzeitrede 

539

unterstrichen. Weil diese Unterstreichung in 13,6–7a.b / 8a.b fehlt, kann man fragen, ob sie sekundär ist, was aber zum Verständnis des Abschnitts nichts austrägt. Am Schluss der Abschnitte ­13,5b-8c und 13,9a-13b findet sich jeweils eine konkrete eschatologische Zeitangabe: 13,8c: ἀρχὴ ὠδίνων / archē ōdinōn = Anfang der Wehen; 13.13b: τέλος / telos = Ende. Dabei ist die Zeitangabe in 13,8c zwar ein deutlicher Fixpunkt, aber auf Fort­ setzung angelegt. Die formale Parallelität der Abschnitte deutet also nicht auf getrennte Überlieferungen, sondern sie zeigt ein kunstvoll kombiniertes Ganzes.

13,14–20: Wenn man 13,11–13 als Peripetie liest, bricht nun in 13,14–20 der endzeitliche Gräuel der Verwüstung herein. Es wird alle Menschen (auch die Auserwählten!) in einer unvergleichlichen, nie dagewesenen Härte treffen (13,19 f). Die bis zum Äußersten zu erleidende Bedrängnis ist – nach apokalyptischem Muster – der letzte Akt vor dem Erscheinen der Richter- und Rettergestalt, hier des Menschen­ sohnes (13,24–27). Im Unterschied zur Johannesapokalypse wird das Erleiden der äußersten Bedrängnis hier nicht blutrünstig, martialisch oder sadistisch aus­ gemalt, sondern nur in Umrissen, die freilich Schlimmes erahnen lassen, ange­ deutet. Ein weiterer Unterschied zur Offenbarung besteht darin, dass die alte Welt nicht untergeht. Gott hält sich ausdrücklich an seine Zusage, seine Schöpfung zu erhalten; und so steht auch diese Bedrängnis (θλῖψις / thlīpsis) – ähnlich wie die Sintflut – unter dem Versprechen, wenn sie denn vorüber ist, sie nie wieder kommen zu lassen (13,19: καὶ οὐ μὴ γένηται / kai ou mē genētai = und sie wird bestimmt nicht mehr kommen). Schließlich werden in Mk 13 die Wehen und die Bedrängnisse nicht nachträglich als Bestrafungsakte Gottes an den Christenver­ folgern rationalisiert (vgl. aber Offb 6,10; 9,4.20; 14,9–11; 16,2.5 f.9.11.21; 17 f), sondern sie werden als notwendiges (δεῖ / dei = es muss [so sein][13,7.10]) End­ zeitdrama unhinterfragbar in den Willen Gottes verlegt43. Dass die Tragödie nur die eine Seite des Dramas ist, die Rettung indes die andere Seite, wird aus diversen Hinweisen deutlich: – Durchbruch des Menschensohns durch den Himmel (13,24–27) – Einmaligkeit der Bedrängnis mit Welterhaltungsperspektive (13,19)44 – „Verkürzung“ der schlimmen Tage (13,20)45 – Zugänglichkeit für das Gebet (13,18) So entfaltet sich zur Welt hin Gottes Wesen, in dem beides zusammenliegt: das Verwüstende (13,14) und das Schöpferische (13,19), das Dunkle („Gräuel“ [13,14]) 43 Anders Lk 21,22: Das unweigerlich Kommende wird hier als Rache Gottes (ἐκδίκησις / ​ ekdikēsis) interpretiert. Das ist immer noch recht unspezifisch. Was „steht geschrieben“? In Dtn 32,35 kündigt Jahwe Rache an den Verführern an, in Jer 5,29 an den Verführten. 44 Die Welterhaltungsperspektive fehlt bezeichnenderweise in Offb 16,18. 45 Die Notwendigkeit des apokalyptischen Ablaufs hebt Gottes Erbarmen nicht auf (vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 197).

540

Markus als Quelle von Jesusworten?

und die Herrlichkeit (13,26). In dieser coincidentia oppositorum bleibt Gott auf das Schöpferische und auf die Menschenfreundlichkeit hin ansprechbar (13,18). 13,14: „… das Gräuelbild46 der Verwüstung, hingestellt, wo es / er nicht sein soll …“ Die Wendung bietet ein grammatisches und ein theologisches Problem. Grammatisch handelt es sich um eine constructio ad sensum. Denn das Gräuel­ bild (τὸ βδέλυγμα / to bdelygma) ist Neutrum, das Partizip Perfekt ist Maskulinum (ἑστηκότα / hestēkota = hingestellt). Nachempfunden: „das Scheusal, der hinge­ stellt ist …“. Das Gräuelbild ist also bewusst personifiziert. Entsprechend offen ist auch das Genus im adverbialen Nebensatz („wo es / er …“). Theologisch: Der adverbiale Nebensatz lautet: ὅπου οὐ δεῖ / hopou ou dei (= „wo es nicht sein muss / darf / soll“). Positiv gewendet deutet er auf den unhinterfragba­ ren Gotteswillen hin, in dem ein verborgener Sinn steckt (vgl. 13,7.10; klassisch: Mk 8,31). Hier allerdings soll etwas nicht sein, was trotzdem mit Macht Platz greift. Wenn das, was nicht sein soll, nämlich eine nie dagewesene Verwüstung, bevorsteht, warum wird es nicht durch das göttliche οὐ δεῖ / ou dei = „es darf nicht, soll nicht sein“ verhindert? Weil das „Scheusal“ ebenfalls auf ein δεῖ / dei = „es muss sein“ pocht. Hier zeichnet sich der apokalyptische Machtkampf zwischen Gott und Satan bzw. zwischen Christus und dem Antichrist ab, der auch in der Mehrzahl erscheinen kann (13,6.21 f, vgl. Mk 5,9 par)47. Jetzt wird auch klar, warum das Gräuelbild personifiziert ist: Es ist der Satan in Aktion. Wiewohl er offenbar auch über ein δεῖ / dei = „es muss (sein)“ verfügt, ist sein Wille nicht der letzte. Letztendlich setzt sich das göttliche „er / es darf nicht / soll nicht sein“ durch (neben den Andeutungen in 13,19 f besonders in 13,24–27). 13,15 f: In diesem Endkampf gilt es für den, der überleben will, loszulassen, was ihn an diesen Ort bindet, der dem Scheusal überlassen wird (Land, Haus, Feld). Ansons­ ten würde er selbst der Macht des Scheusals verfallen.

46 So die Lutherübersetzung von 1984. Sie wird hier der von 2017 („den Gräuel“) vorgezogen. 47 Sein Wirken ist nicht an den Tempel gebunden (gegen W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, Berlin 31965 [ThHKNT 2], S. 266 und E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 149), sondern es bezieht sich auf das Gottesvolk allgemein (ὅπου οὐ δεῖ / hopou ou dei = wo auch immer es nicht sein muss / darf / soll). Die Kommentierungen, die den Tempel oder Jerusalem ins Spiel bringen, sind durch Mt 24,15 bzw. Lk 21,20 beeinflusst. Mt und Lk konnten mit der verallgemeinernden Ortsangabe nichts anfangen.

Jesu Endzeitrede 

541

13,17: Das Wehe gilt denen, die gebunden sind durch ein Kind. An ihnen wirkt sich die apokalyptische Bedrängnis besonders aus, weil ihnen die Fluchtmöglichkeit erschwert ist. Das Wehe (οὐαί / ouai) bezeichnet zwar äußerste Bedrängnis, aber auch kein Aus. 13,18: Bei aller Dramatik der Tage bleibt Gott dem Gebet zugänglich. Parteinahme für die Bedrohten und Wende in äußerster Bedrängnis stehen ihm nach wie vor zu Gebote. Das wird ihn dem Satan überlegen sein lassen. 13,19 f: siehe zu 13,14–20. 13,21–23 rekurriert auf 13,5–6 und bildet mit ihnen zusammen einen Rahmen: – falsche Messiasse (v  6 / vv  21–22) – Verführungen (vv  5–6 / v  22) – Jesus fängt an48, darüber zu reden (v 5);  Jesus beendet seine Rede ausdrücklich mit Rekurs auf dieselbe („alles“) (v 23). – Alles steht in der Klammer einer Verhaltensanweisung (die auch Strukturfor­ mel ist): βλέπετε / blepete = seht euch vor (v 5 [/v 9]/v 23) (Warnung vor Ver­ führung, Ermutigung zum Durchhalten). Die Rahmenelemente sind chiastisch angeordnet und weisen auf bewusst kunst­ volle Komposition hin: Redeanfang      Christusse Seht euch vor      Verführung Verführung      Seht euch vor Christusse      Redeende Verführung49 48 Das betonte „er fing an“ ist gut bezeugt, die Weglassung desselben weniger gut. Es macht im Zusammenhang des Rahmens auch Sinn. 49 Schießt über, ist aber vertretbar, um die Falschen, die in v 22 auch so bezeichnet sind, hier ebenfalls als solche zu erweisen. Mt übernimmt übrigens diese chiastische Struktur und fügt noch chiastisch die Gleichsetzung der Wiederkunft Jesu (Mt 24,3) mit der Wiederkunft des Menschensohns (Mt 24,27) hinzu.

542

Markus als Quelle von Jesusworten?

Aus strukturellen Gründen ist von der Einheit von 13,5–23 auszugehen. Dabei hat sich 13,5–13 bereits durch den parallelen Aufbau als zusammengehörig erwiesen. 13,14–20 könnte später hinzugekommen sein, weil 13,13b einen Abschluss bildet, der in 13,14–20 wieder aufgelöst wird. Bewiesen werden kann das aber nicht; denn die sich bis zur Unerträglichkeit steigernde Bedrängnis ist Kennzeichen christlich-jüdischer Apokalyptik mit dem Ziel, diese Unerträglichkeit durch das Gerettetwerden durchbrechen zu lassen (13,24–27). 13,21–23 gehört konstitutiv zur Einheit hinzu. Als redaktionell könnte man sie nur dann ansehen, wenn auch 13,5–6 redaktionell wäre. Das ist aber wegen der Strukturgleichheit mit 13,9 nicht der Fall50. Also muss ein vormarkinischer Composer 13,5–23 so zusammengestellt haben. Dazu gehört auch 13,24–27, sowohl im Sinne christlich-jüdischer Apo­ kalyptik als auch wegen des sich durchziehenden Stichworts der „Auserwählten“ (13,20.22.27). 13,24–27: Nach äußerster Bedrängnis bricht sich mit kosmischen Erschütterungen die Ret­ tung Bahn. Der Menschensohn erscheint theophanieartig am Himmel (vgl. Dan 7,13)51 mit viel Vollmacht (μετὰ δυνάμεως πολλῆς / meta dynameōs pollēs) und Glanz (καὶ δόξης / kai doxēs). Seine (Voll)macht besteht darin, die Auserwählten weltweit (!) zu sammeln, d. h. nach ihrer Rettung (vgl. 13,20) zu einer Gemeinde zusammenzuführen (13,27). So konkretisiert die Markusapokalypse die Zusage des „Nie mehr“ einer solchen Katastrophe. Die weltweite Gemeinde darf sich in der Sphäre des Menschensohns geschützt wissen52. Die ökumenische Perspektive des Heilshandelns Gottes ist in christlichen Gemeinden längst Selbstverständ­ lichkeit geworden. Die kosmischen Erschütterungen (13,24 f) gehören nicht mehr zum Schrecken und zur Bedrängnis. Sie sind ausdrücklich „nach jener Bedrängnis“ terminiert. Sie sind als theophane Begleitzeichen ähnlich wie der zerreißende Tempelvorhang (15,38) Vorankündigungen des Durchbruchs kosmischen Heils. Lukas hat das nicht verstanden. Bei ihm gehören die kosmischen Erschütterungen noch zum oben geschilderten Schreckensszenario (Lk 21,25 f). Auf jeden Fall geht die Welt nicht unter. Das wird in Offb 21,1 anders sein. Dort sind der erste Himmel und die erste Erde „vergangen“ (ἀπῆλθαν / apēlthan), und das Meer existiert nicht mehr (οὐκ ἔστιν ἔτι / ouk estin eti). Hier geht das Er­ scheinen des Menschensohns mit einer Sonnen- und Mondfinsternis einher und mit Meteoriteneinschlägen, „und die Kräfte des Himmels werden ins Wanken 50 Gegen W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 268. 51 Der Menschensohn-Ähnliche (Dan 7,13) wird hier zum Menschensohn und bei Mk ohne­hin zum wiederkommenden Christus (Mk 14,62). 52 So ist die Doppelformel „vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels“ zu verstehen (J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 202).

Jesu Endzeitrede 

543

kommen“, aber das Himmelsgewölbe wird nicht zusammenstürzen. Gott steht zu seiner Schöpfungs- und Erhaltungszusage und bleibt sich treu. In diesem Duktus christlicher Apokalypse spiegelt sich auch das inzwischen vertraute Gottesbild wieder. Er ist der, unter dessen Augen und mit dessen un­ ergründlichem Willen die große Bedrängnis über die Menschen kommt, der aber – in welcher Gestalt auch immer – letztendlich die Durchhaltenden und Auserwählten rettet und durch Verwüstungen hindurch seine Gemeinde sam­ melt und erhält. In der Koinzidenz der Gegensätze gibt es ein Übergewicht des Rettungs- und Erhaltungswillens53. 13,28–37: Das Ende der markinischen Apokalypse ist bestimmt durch Zuwächse, die sich mit der Frage der Nähe des Endes auseinandersetzen, wie sie zu bemerken sei und wie man sich angesichts der (unbestimmten) Nähe zu verhalten habe. Das Gleich­ nis vom Feigenbaum behandelt die Frage der Nähe (13,28–29), das Gleichnis vom Türhüter ruft zu steter Wachsamkeit auf (13,33–37), und die Verse dazwischen (13,30–32) kommentieren die Antwort, die das Gleichnis vom Feigenbaum gibt und leiten so auch zum Gleichnis vom Türhüter über. 13,28–29: Das Gleichnis vom Feigenbaum äußert sich konkreter zum Zeitpunkt der apo­ kalyptischen Wende als das bisher geschehen ist. Bisher wurde eine Avisierung des End- bzw. Wendepunktes vermieden (vgl. „Kriegsgerüchte“ [13,7]; „(erst) der Anfang …“ [13,8]; „ausharren bis ans Ende“ [13,13]; „(in) jene(n) Tage(n)“ [13,17.19.24]). Jetzt soll man vom Frühlingserwachen des Feigenbaums lernen, dass er / es nahe vor der Tür ist (ὅτι ἐγγύς ἐστιν ἐπὶ θύραις / hoti engys estin epi ­thyrais). Die griechische Form der 3. Person Singular lässt das Genus offen: Es (das Ende) oder er (der Menschensohn) ist nahe. Diese Unbestimmtheit ist zugleich ein Hinweis auf die Gleichsetzung von apokalyptischem Ende und Wiederkunft. Das Gleichnis vom Feigenbaum avisiert im Unterschied zur vorangehenden Apo­ kalypse einen nahen Zeitpunkt und trägt zur Verchristlichung apokalyptischen Gedankenguts bei, indem das Ende zugleich die Wende zur Parusie darstellt. 13,30–32: In Mk 13,30–32 sind höchst unterschiedliche, z. T. widersprüchliche Worte zum Ende bzw. zur Wende gesammelt. 13,30 äußert sich mehr dezidiert zum Zeit­ punkt: Maximal eine Generation noch, also ca. 30 Jahre, wird es bis zu den an­ gekündigten apokalyptischen Ereignissen dauern54. 13,32 relativiert das wieder: 53 Ähnlich auch A. Lindemann, „Gewaltfrei? Zum Jesusbild in den Evangelien“ in: F. Schweit­ zer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 452. 54 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 206.

544

Markus als Quelle von Jesusworten?

„Tag und Stunde“ soll nicht den Generationszeitraum spezifizieren, sondern ist ein allgemeiner Zeitbegriff: Niemand weiß, wann. 13,31 bekräftigt lediglich die ewige Wahrheit der Worte Jesu vor der Metapher (!) des Vergehens von Himmel und Erde55. 13,33–37: Markus klärt durch das Gleichnis vom Türhüter: Der ungewisse Zeitpunkt des Endes bzw. der Wende fordert zum „Wachen“, zur Stets-Bereitschaft auf. Sie ist Konsequenz urchristlicher Apokalyptik, die einen „Fahrplan“ vermeidet und so mit einem „Jederzeit“ rechnen muss. Fazit: Die Kunstform der markinischen Apokalypse ist durch die Parallelstruktur von Mk 13,5–8 und 13,9–13 erwiesen. Durch 13,5–6 einerseits und 13,21–23 anderer­ seits wird der Gräuel der Verwüstung mit Anstieg und Nachlassen inkludiert. Wer auch immer dem Text diese Gestalt verliehen hat, der hat sich etwas dabei gedacht: Das Grauen soll umschlossen sein von Jesu Weckruf und von seiner warnenden Stimme. Jesu Jünger, die Gemeinde, die „Auserwählten“ können gerettet werden, wenn sie auf die Stimme hören. So liegt in der Offenbarung des Unheils durch Jesus selbst ein gutes Stück Barmherzigkeit („Seht euch vor!“). Er kann und will indes Gottes Gericht und das unhinterfragbare Endzeitsze­ nario nicht aufhalten. Es kommt unweigerlich, wenn sich auch über das Wann nichts sagen lässt. Eingedenk dessen, dass hier bereits ein Jesusbild gemalt wird, ist in Rechnung zu stellen, dass nicht nur der Auferstandene spricht (das wissen die, die nach der Anweisung von Mk 16,7 das Evangelium zum zweiten Mal lesen), sondern auch der Wiederkommende. Je mehr sich die Parusie verzögert, umso weniger eindeutig werden scheinbare Zeichen und umso zurückhaltender ist die Wann- und Wie-Frage zu beantworten. Aber dass die große Bedrängnis kommt, steht fest. Sie ist geradezu Voraussetzung des Heilsdurchbruchs bzw. der Parusie. Das Heil aber kann nur erfahren werden vor dem Hintergrund des Gegenteils. Mitten im gottgewollten Unheil gilt den Jüngern Jesu und der Gemeinde sein „Fürchtet euch nicht“ und sein „Sorget euch nicht“, die Zusage der Präsenz des heiligen Geistes „in jener Stunde“. Der apokalyptische Machtkampf Gottes mit dem Scheusal ist angedeutet, jede Seite beansprucht für sich die Unausweichlich­ keit und Endgültigkeit des Kommenden, aber das göttliche „Es darf nicht sein“ setzt sich gegenüber dem Scheusal durch. Innergöttlich gesehen bleibt Gott bei aller Koinzidenz der Gegensätze auf das Schöpferische und auf die Menschen­ freundlichkeit hin ansprechbar.

55 Das Vergehen von Himmel und Erde wird hier nicht ausdrücklich erwartet (gegen J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 206).

Jesu Endzeitrede 

545

Die markinische Apokalypse vermeidet die Auswüchse der Johannesoffenba­ rung. Der Krieg ist dort Zeichen des Endes (Offb 6,3 f), hier ausdrücklich nicht (Mk 13,7). Gleiches gilt für Naturkatastrophen (Offb 6,12–17 / Mk 13,8b). Die markinische Apokalypse nimmt die Zeichen der Zeit, die auf eine unerträgliche endzeitliche Bedrängnis verweisen, durchaus ernst, vermeidet aber jegliche Per­ horreszierung und baut antiapokalyptische Elemente ein, die Zeit zur Bewährung geben. Sie stellt – anders als Offb 19,11–16 – weder Jesus noch den Menschen­ sohn als Kriegsherrn dar. Sie sieht dem künftigen Grauen realistisch entgegen, vermeidet aber eine blutrünstige oder gar sadistische Darstellung; der Rache­ gedanke hat hier keinen Platz, weil das Endzeitdrama Gottes unerforsch­lichem Willen entspringt. Vor allem aber steht Gott in allem Endzeitchaos zu seiner Erhaltungszusage. Nach der großen Bedrängnis gibt es eine Perspektive für diese Welt. In Offb 21,1 hingegen ist diese Zusage aufgehoben, was alles Weitere eher posthistorisch erscheinen lässt. Die markinische Apokalypse zeigt, dass es formal (äußerste Bedrängnis und Rettung) und inhaltlich (Kriege, Naturkatastrophen, Zusammenbrüche und neue Sammlung einer Heilsgemeinde) durchaus möglich ist, den Blick auf das Ende zu richten, ohne Gott die Treue zu seiner Generalzusage für die Welt abzusprechen. Aus dem apokalyptischen Weltverständnis resultiert für den Jünger bzw. die Gemeinde eine spezifische Haltung, die der Bewährung des Glaubens durch schwere Bedrängnisse hindurch bis ans Ende. Der ὑπομονή / hypomonē = „Be­ harrlichkeit“ ist fortdauernde Seligkeit verheißen. Verfolgungen ist nicht Wider­ stand und Gewalt entgegenzusetzen, sondern sie sind in Gott- und Christusver­ trauen zu ertragen in Erwartung der alles wendenden Kraft und Herrlichkeit des Menschensohns (vgl. „Ethische Implikationen der jesuanischen Seligpreisungen [Q]“, s. o. unter NT 2.4). – Darüber hinaus geht es hier um die Ausprägung einer Leidensethik, wie sie sich auch in 1.Petr 4,12–14 findet. Das persönliche Leiden des Jüngers bzw. das kollektive Leiden der verfolgten Gemeinde erhält einen „christologischen“ und einen homologischen Sinn: „christologisch“ wird die Gleichgestaltung mit Christus im Leiden beschworen, homologisch damit ein Bekenntnis zu Christus vollzogen. Dass diese Art der Leidensethik Gewalt verabscheut, versteht sich von selbst. – Diese Haltung durchzuhalten erfordert Vorsicht („Seht euch vor!“). Vorsicht vor Verführern, Scharlatanen und Fake News. Wer diese Vorsicht nicht walten lässt, verfällt ggf. Heißspornen zelotischer Provenienz und verlässt damit den Weg des beharrlichen Gottvertrauens und der friedfertigen Geduld.

7. Die Kreuzigung und das Kreuz. Das gewaltsame Ende des Gottessohnes

Es ist zu unterscheiden zwischen der Kreuzigung Jesu als historischem Ereignis und dem Kreuz als Zeichen, zwischen Faktum und Deutung bzw. Geschichte und Offenbarung. Das historische Ereignis bedurfte von Anfang an einer Beurtei­ lung, zugleich auch einer Deutung1. Historische Beurteilung findet sich bei den Synoptikern, ebenso wird die Bedeutung des Kreuzes bei ihnen reich entfaltet2. Auch Paulus tut das in seiner Weise, wobei die Abendmahlsworte wohl als Brücke zwischen den Synoptikern und Paulus gelten können. Das historische Faktum in­ des interessiert Paulus überhaupt nicht. Es ist vorausgesetzt, wird aber als solches nicht kommentiert. Eine Bemerkung allerdings weist in die historische Situation zurück, vor die sich die Jünger nach der Kreuzigung gestellt sahen: „Wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis (σκάνδαλον / skan­ dalon) und den Heiden eine Torheit (μωρία / mōria)“ (1.Kor 1,23). Für die Jünger war Jesus der Finger Gottes, der Dämonen austrieb und so das Reich Gottes schon in dieser Welt aufleuchten ließ (Mt 12,28 / Lk 11,20; vgl. Mt 11,4–6 / Lk 7,22). Die Kreuzigung hat daran nur kurzzeitig etwas geändert, aber nicht grundsätzlich. Eine solche gottgleiche Verehrung musste den Juden skandalös erscheinen; denn ein Gekreuzigter ist ein Verfluchter, niemals ein Messias (Dtn 21,23; vgl. Gal 3,13). Und die griechisch Gebildeten hielten den Gekreuzigten für einen „Spinner“ (Lu­ kian von Samosata) bzw. einen „Esel“3. Dass sich in Jesus nun – wie Paulus später schreibt – Gottes Kraft und Weisheit offenbart, und das dazu noch durch das Kreuz hindurch, ist den Jüngern „nach Emmaus“ klar4, bringt sie aber gegenüber Juden und Griechen in „Erklärungsnot“5.

1 Dabei ist der hellsichtige Durchblick durch die Geschichtstatsachen auf ihren Sinn hin geistgewirkt. Zum Offenbarungscharakter der Erkenntnis vgl. Lk 24,31: „Da wurden ihre Augen geöffnet“ (pass. div.) „und sie erkannten ihn.“ 2 Zur exegetischen Notwendigkeit, in einer Erzählung auch Wertungen zu erkennen und herauszuarbeiten, vgl. U. Sommer, Die Passionsgeschichte des Markusevangeliums, Tübingen 1993 (WUNT 2.Reihe, 58), S. 12. 3 Vgl. W. Bösen, Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 31 f. Die Zeugnisse stammen zwar aus dem 2. und 3. Jh. n. Chr. Spott und intellektuelles Unverständnis setzen aber viel früher ein (vgl. Apg 17,32). 4 „Emmaus“ bezeichnet hier einfach den (von Lukas narrativ gestalteten) Zeitpunkt des einzigartigen Offenbarungswissens, der nach Überwältigung und Zweifel – dafür steht „Galiläa“ (Mt 28,17) – eingetreten war. 5 W. Bösen, Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 37 ff.

Die Wertung der Kreuzigung Jesu

547

Den Mangel an authentischen Jüngerzeugnissen gleicht die von den Evangelis­ ten jeweils gestaltete Passionsgeschichte aus; denn in der Beurteilung der Kreu­ zigung und in der Deutung des Kreuzes liegt die gewachsene Antwort auf den Vorwurf der skandalösen und törichten Messiasverehrung.

7.1 Die Wertung der Kreuzigung Jesu6 In Mk 14,1 überlegen die Hohenpriester und Schriftgelehrten zwei Tage vor dem Passahfest, wie sie Jesus „mit List ergreifen und töten könnten“. Ein erster Hin­ weis auf Gewalt an Jesus im engeren Passionsbericht. Das ist nicht nur Tatsa­ chenbeschreibung, sondern zugleich Wertung. Die Tötung des Gottessohnes7 wird nicht einfach konstatiert, sondern der Weg dahin wird schon als frevelhaft charakterisiert: a) „Töten“ ist ein Verstoß gegen das 5. Gebot; b) das Ergreifen geschieht mit List, also hinterlistig; c) die Hohenpriester und Schriftgelehrten haben sich eh schon als konspirative potentielle Attentäter disqualifiziert (11,18; 12,12). Und sie werden sich selbst weiterhin als Verschwörer (14,43), als Neider (15,10) und als Aufwiegler (15,11) abstempeln. Die hasserfüllte Gewaltbereitschaft wird durch die naiv anmu­ tende, aber staatspolitisch motivierte Pilatusfrage „Was hat er denn Böses ge­ tan?“ ad absurdum geführt. Außerdem wird der Verrat des Judas als schändlich hingestellt (14,10.11.17–21). Die gewaltsame Gefangennahme 14,43–46 wird negativ gedeutet allein schon dadurch, dass Judas von den Hohenpriestern und Schriftgelehrten und Ältesten her kommt (14,43). Der Gewaltakt der Kreuzigung des Gottessohnes wird durch die Art der Schil­ derung und durch die Zeichnung der Akteure eindeutig verurteilt. Indes handelt es sich dabei nicht um ein ethisches, sondern um ein anthropologisches Urteil. Denn es steht nicht der Gewaltakt der Kreuzigung als Vollstreckung zur Diskus­ sion. Dieser ist unter rechtlichen Voraussetzungen anerkannt, wie 14,27 zeigt8. Wenn aber der Gottessohn das Ziel der Gewalttat ist, bewegt sich der Erzähler nicht mehr in der ethischen (= so soll der Mensch sich [nicht] verhalten), sondern

6 Zugrunde gelegt wird die Passionsgeschichte des Mkev. Zur exegetischen Notwendigkeit, in einer Erzählung auch Wertungen zu erkennen und heraus­ zuarbeiten, vgl. Anm. 2 dieses Kapitels. 7 Für Markus ist die Identifizierung Jesu als Sohn Gottes klar (außer 14,62 vgl. 1,1; 1,11; 9,7; 15,39). 8 Zur Zuständigkeitsfrage von Urteil und Vollstreckung zwischen Synhedrium und römi­ scher Verwaltung vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 284 ff.

548

Die Kreuzigung und das Kreuz

in der anthropologischen Dimension (= so ist der Mensch). Es geht ihm nicht um ein bestimmtes Verhalten oder dessen Änderung, sondern um eine menschliche Grundstruktur. Diese durchzieht die Bibel von Anfang bis Ende (Gen 8,21b), und sie besteht darin, dass der Mensch Gottes Macht und Autorität in der Schöpfung nicht anerkennen, sondern vielmehr usurpieren will. Genau diese Grundstruktur beschreibt Paulus in Röm 1,21 ff und in Röm 3,9–18 und zeigt im Anschluss an Jes 59,7, dass sie nicht zum Frieden führt, im Gegenteil. In diesem Licht ist auch der Frevel der Kreuzigung des Gottessohnes zu lesen. Daher sind auch die von Markus eingestreuten Leidensweissagungen Mk 8,31; 9,31; 10,32 synchronisch ge­ lesen nicht nur Zeichen göttlichen Vorauswissens, sondern Beschreibung mensch­ licher Auflehnung gegen Gott9 als anthropologisches Existential. Sie laufen zu auf Mk 14,41, wo der „Mensch“ aus Mk 9,31 generell in seiner anthropologischen Verfasstheit als „Sünder“ charakterisiert wird. Mk 8,38 und 9,19 werfen bereits im Vorwege ein Licht auf die anthropologische Grundkonstante der Gottesverdrän­ gung: Jesus spricht von den Menschen als dem „ehebrecherischen und sündigen Geschlecht“10; der Gottessohn muss das „ungläubige Geschlecht11 … ertragen“. Aber es ist offenbar Gottes Wille, dass das frevelhafte Wesen des Menschen in seiner ganzen Fülle zum Ausdruck kommt, damit Gott es in seiner grenzenlosen Güte im Mysterium des Kreuzes von Grund auf wandeln kann. So verstehe ich die etwas unbestimmte Notiz von der Schrifterfüllung Mk 14,49b12. So greifen Anthropologie und Theologie bzw. Christologie und Passionsgeschichte unauf­ löslich ineinander. Exkurs: Die anthropologische Grundstruktur, Christus und der neue Mensch (Phil 2,5–11) Die beschriebene anthropologische Grundstruktur bleibt auch im gewandelten, neuen Menschen erhalten, nur dass sie durch die Zusage und das gläubige Empfangen der göttlichen Gnade nicht wirksam wird (2.Kor 12,9). „Wo ein Mensch … die von Gott heraufgeführte Umkehrung seiner Daseinsverfassung anerkennt …, da ändert sich auch sein ‚Sinnen‘“13. Dieser gewagte Satz von Otto Weber kann am vorpaulinischen Hymnus Phil 2,6–11 und dessen Einbau in den Philipperbrief verifiziert werden. Der Hymnus fokussiert die Neuwerdung des Menschen zunächst auf Christus. Dieser war „in göttli­ cher Gestalt“ (ἐν μορφῇ θεοῦ / en morphē theou), usurpierte die damit gegebene Gott­ 9 Die Leidensweissagungen reden vom „Menschensohn“. Vgl. aber die mk Gleichsetzung von Menschensohn und Gottessohn in Mk 14,62. 10 „ehebrecherisch“ ist bezogen auf das Gottesverhältnis (vgl. Jer 3,6–10; 9,1–5; Jes 57,11– 13a.b; Hos 2,7–10) 11 Vgl. auch Dtn 32,20; Jer 5,2–6,1; Hes 12,2. 12 In Richtung auf die anthropologische Grundkonstante der Gottesverdrängung deutet auch Lukas in seinem Paralleltext: „Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis“ (Lk 22,53b). – Eine Verbindung zum Sacharja-Zitat in 14,27 ziehe ich nicht (anders J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 271). 13 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen-Vluyn 31964, S. 596.

Die Wertung der Kreuzigung Jesu

549

gleichheit (ἴσα θεῷ / isa theō)14 aber nicht für sich. Er ging nicht wie Gott über die Erde, sondern aus Gott. Dieser Daseinsverfassung (μορφή / morphē = Gestalt)15 entspricht der freiwillige Gehorsam bis zum Tod (ὑπήκοος μέχρι θανάτου / hypēkoos mechri thana­ tou). Aus dem Gehorsam resultiert die Menschwerdung, d. h. die Daseinsverfassung als „Knecht“ (μορφὴ δούλου / morphē doulou), die Daseinsweise „wie“ ein Mensch16. Der Weg des Lebens aus Gott, der Weg des Gehorsams, impliziert Machtverzicht, äußerste Dahingabe an die Welt, Selbsterniedrigung und damit Verzicht auf jegliche Art von Wehrhaftigkeit und Gewalt. Wohlgemerkt: Was hier unter der Person Jesu Christi ge­ schieht, ist keine ethische Entscheidung, sondern es ist die Daseinsverfassung des neuen Menschen, dessen Prototyp Jesus Christus ist17. Die Teilhabe daran ist ein Anliegen nicht primär des Hymnus, sondern des Paulus. Er fügt den Hinweis auf seine Kreuzestheologie mit all den Implikationen von Stellvertretung und Sühne ein, und vor allem ethisiert er den Hymnus durch seine Einleitung: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Ge­ meinschaft in Jesus Christus (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ / en Christō Iēsou) entspricht, d. h. wie es dem neuen Menschen entspricht. Der neue Mensch hat demnach ein neues „Sinnen“ und Trachten. Die Anspielung auf Gen 8,21 ist nicht zu überhören (‫[ יֵ צֶ ר לֵ ב‬MT] →διάνοια [LXX] → φρονεῖτε ἐν ὑμῖν [NT]/jēzer lēv [MT] → dianoia [LXX] → phroneite en hymīn [NT] = (Gedanken)gebilde des Herzens [Gen 8,21 MT] → Gesinnung [Gen 8,21 LXX] → gesinnt sein [Phil 2,5 NT])18. Sein Sinnen und Trachten ist darauf gerichtet, mit Christus gleichgestaltet zu werden. Als ein „in Christus“ Lebender ist er es bereits (In­ dikativ), er hat es aber auch umzusetzen (Imperativ) und ist dann zum Machtverzicht, zur liebenden Dahingabe an die Welt, zu Demut und Dienerschaft und zum Verzicht auf jegliche Art von Wehrhaftigkeit und Gewalt aufgerufen. Paulus macht das im Vor­ lauf auf den Hymnus in Phil 2,1–4 durch entsprechende ethische Weisungen deutlich19.

Die Passionsgeschichte ihrerseits zeigt indes zunächst den Menschen in seiner anthropologischen Bestimmtheit durch die Sünde. Diese Bestimmtheit entlässt 14 „Göttliche Gestalt“ und „Gott gleich sein“ interpretieren sich gegenseitig (J. Gnilka, Der Philipperbrief, Freiburg 41987 [HThKNT], S. 117; G. Barth, Der Brief an die Philipper, Zürich 1979, S. 42; G. Friedrich, Der Brief an die Philipper in: J. Becker, H. Conzelmann, G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonischer und Philemon, Göttingen 1985 [NTD 8], S. 152). 15 μορφή / morphē = „Gestalt“ wird als „Daseinsweise“ interpretiert und – bei Käsemann noch gleichbedeutend mit εἰκών / eikōn = „Ebenbild“ – im Unterschied dazu nicht analogisch, sondern ontologisch, also wesensmäßig unter Einschluss der Würde, verstanden (E. Käsemann, „Kritische Analyse von Phil 2,5–11“ in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göt­ tingen 1964, S. 66 f und S. 74; J. Gnilka; Der Philipperbrief, a. a. O., S. 113; G. Barth, a. a. O., S. 42; G. Friedrich, a. a. O., S. 152). 16 Das Menschsein Jesu Christi wird vorsichtig umschrieben. Es ist ein volles „In-derWelt-Sein“, aber eben auch ein neues Menschsein; daher ἐν ὁμοιώματι / en homoiōmati = „in Ähnlichkeit“ und ὡς / hōs = „wie“. Bei Paulus wird daraus die Freiheit von der Sünde (vgl. dazu G.  Friedrich, a. a. O., S. 152 f). 17 Dass dieser Weg letztlich von Gott durch die Erhöhung belohnt wird, steht hier vorläufig nicht zur Debatte. 18 Auch Jer 31,33 erwartet den neuen Menschen mit dem neuen „Sinnen“ (διάνοια [LXX]), das nur „heilig, gerecht und gut“ sein kann, weil es mit dem inskribierten Gesetz identisch ist. 19 G. Strecker, „Redaktion und Tradition im Christushymnus Phil 2,6–11“ in: Ders., Escha­ ton und Historie, Göttingen 1979, S. 143.

550

Die Kreuzigung und das Kreuz

ihn freilich nicht aus der Verantwortung. Denn „wehe dem Menschen, durch den der Sohn des Menschen verraten wird!“ (Mk 14,21 / Mt 26,24 / Lk 22,22)20. Daher kann das Verhalten des Menschen gegenüber dem Gottessohn auch als Frevel be­ schrieben werden. Hier greifen Anthropologie und Ethik unlöslich ineinander. Grundgelegt sieht die Bibel diese Komplexität im Sündenfall, einer freien Ent­ scheidung, die den Menschen endgültig an die „Erde“ bindet (Gen 3,19), aber die Entscheidungsfreiheit innerhalb seines Existenzrahmens aufrecht erhält. Die anthropologischen Aspekte der Passionsgeschichte sind am ehesten an den dargestellten Personen aufzuspüren. Sie tragen Indizien der Sünde in sich und führen somit auch direkt oder indirekt zur Gewalt am Gottessohn. Nach einem Blick auf das literarische Wachstum der Passionsgeschichte werde ich im Wesent­ lichen in entstehungsgeschichtlicher Reihenfolge vorgehen.

7.2 Traditions- und literargeschichtliche Bemerkungen zur Passionsgeschichte Unbestritten ist die Passionsgeschichte eine teils auf Erinnerung beruhende, teils an Psalmen, Weish 2,12–20 und Jes 53 sich anlehnende Historisierung des ur­ christlichen vorpaulinischen Bekenntnisses, wie es klassisch in 1.Kor 15,3–5 vor­ liegt. Ich gehe davon aus, dass das christologische Bekenntnis (Jesus ist gestorben und auferstanden) dem soteriologischen (für unsere Sünden) vorausliegt. Das geht u. a. aus dem ältesten Paulusbrief hervor (1.Thess 4,14), wo Paulus die sote­ riologische Aussage der Auferstehung der Toten aus der christologischen folgert. Auch Phil 2,6–11 entwickelt zunächst eine Christologie ohne offensichtliche So­ teriologie21. In der Apostelgeschichte begegnen in den Missionsreden bekenntnis­ artige Wendungen zu unterschiedlichen Zwecken. In reiner Form Apg 4,10: … ὃν ὑμεῖς ἐσταυρώσατε, ὃν ὁ θεὸς ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν …/hon hymeis estaurōsate, hon ho theos ēgeiren ek nekrōn = den ihr gekreuzigt habt, den hat Gott auferweckt von den Toten. Weitere homologische Anklänge in Apg 2,23 f; 2,36; 3,15; 5,30; 10,39b40; 13,28–30. Die Verben für „töten“ und „auferwecken“ variieren, nahezu gleich­ bleibend ist die Auferweckungsformulierung mit relativischem Beginn, wie es bei Bekenntnissen üblich ist. Lediglich Apg 2,36 ist der Kreuzigung die Einsetzung 20 Johannes verstärkt in 13,21–30 die Züge, die er in der Überlieferung findet: das Vorher­ wissen des Gottessohnes (v 26), die Bestimmtheit des Judas durch die unwiderstehliche Macht des Satans (v 27), die ungebrochene Verantwortlichkeit des Judas für sein Tun durch „Was du willst …“ (v 27). – In gleicher Weise spricht Q von der Unausweichlichkeit der Verführungen (wegen der anthropologischen Bestimmtheit) und der Verantwortlichkeit des Menschen für sein frevelhaftes Tun (Mt 18,7 / Lk 17,1). 21 Sie ist versteckt im Herrsein Christi (Phil 2,6–11) – andere Mächte haben keinen Herr­ schaftsanspruch mehr über mich – und in der paulinischen kreuzestheologischen Ergänzung (Phil 2,8c).

Traditions- und literargeschichtliche Bemerkungen zur Passionsgeschichte

551

in die Herrscherstellung entgegengestellt (vgl. auch Apg 5,31). In Apg 3,15 wird von Petrus auf die Zeugenschaft der Auferstehung verwiesen, Apg 10,10 erwähnt die Erscheinungen des Auferstandenen, ebenso Apg 13,31 mit der daraus resul­ tierenden Zeugenschaft. Diese homologischen Wendungen sind zwar von Lukas den Kontexten entsprechend in die Missionsreden eingebaut, ich vermute aber aufgrund einer relativ gleichbleibenden Struktur vorlukanische Homologien22. Sie haben in vorlukanischer Tradition alle die gleiche Intention: Gott wendet das Böse, das Menschen tun, letztendlich zum Guten, und zwar sowohl für den Ge­ schädigten, hier: Jesus – als auch für die Schädigenden, hier: die der Weisheit Ent­ behrenden (Apg 3,17), wenn sie denn Gottes Angebot annehmen (Apg 17,30 f). Im Kreuz wird der Mensch in seiner anthropologischen Bestimmtheit demaskiert; Gott bleibt dabei aber nicht stehen, sondern wendet das Böse, das Menschen tun, zum Guten im Angebot neuen Lebens aus der Vergebung (Apg 2,38). So wird zum zweiten Mal wahr, was Joseph seinen Brüdern zum Trost gesagt hat: „Ihr gedachtet es böse mit uns zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk“ (Gen 50,20). Was in der Genesis gesprochen ist, wird durch Kreuz und Auferweckung in eine umfassendere Wirklichkeit transponiert, in der ein neues Leben in unverbrüch­ licher Gottesgemeinschaft je und dann möglich ist. Diese vorlukanische und – wie ich meine – urchristliche Theologie, die das „Gestorben“ und „Auferweckt“ zunächst auf Jesus bezieht und darin den Gott, der alles wendet, erkennt, und dann – sekundär – diese Wende auch für den sündigen Menschen gelten lässt, muss man im Hintergrund sehen, wenn die Passionsgeschichte allmählich als Erzählung entsteht. Für die markinische Passionsgeschichte wird ein Wachstum vorausgesetzt. Um es nachzuvollziehen, bietet sich ein Vergleich mit Johannes an. D. Lührmann hat nachgewiesen, dass ab der Gefangennahme Jesu Markus- und Johannesevange­ lium kontinuierlich parallel laufen23: Mk

Jh

Gefangennahme

14,43–52

18, 1–11

„Prozess“ und Verleugnung des Petrus

14,53–72

18,12–27

Pilatus

15, 1–20

18,28–19,16

Kreuzigung und Tod

15,21–41

19,17–37

Bestattung

15,42–47

19,38–42

Frauen am leeren Grab

16, 1–8

20, 1–18

22 So auch L. Cerfaux, Christus in der paulinischen Theologie, Düsseldorf 1964, S. 26. 23 D. Lührmann, Das Markusevangelium, Tübingen 1987 (HNT 3), S. 227 f. U. Schnelle spricht von „Kompositionsanalogien zwischen dem markinischen und johannei­ schen Passionsbericht“. Die Unterschiede erklärt er durch „vorjohanneische Sondertraditionen“, besondere theologische Intentionen und Redaktionsarbeit (Einleitung, a. a. O., S. 532 f).

552

Die Kreuzigung und das Kreuz

So lässt sich ein Kern des Passionsberichts postulieren, der sich mit dem Geschick Jesu beschäftigt und das leere Grab – zumindest bei Markus – als notwendiges Pendent zur Verlassenheitsklage umfasst24. Diese (ältere) Erzählung ist christo­ logisch orientiert. Nach Lührmann gibt es zwischen dem Todesbeschluss Mk 14,1 f (vgl. Jh ­11,47–53) und der Gefangennahme Mk 14,43–52 (vgl. Jh 18,1–11) weitere Erzähleinheiten mit parallelen Inhalten: Todesbeschluss Salbung in Bethanien Judas’ Verratsplan Vorbereitung des Mahles Weissagung des Verrats Abendmahl Weissagung des Jüngerversagens Weissagung der Verleugnung des Petrus Gethsemane

Mk 14,1 f 14,3–9 14,10–11 14,12–17 14,18–21 14,22–25 14,26–27 14,29–3125

Jh 11,47–53 12,1–8 (12,4–6; 13,2.27)  – 13,21–30  – 16,32 13,36–38

14,32–42      42

(12,27 f) 14,31

Er rechnet daher Mk 14,1–42 ebenfalls noch zum Kern der Passionsgeschichte, was aber wegen der breiten Streuung der Erzähleinheiten im Johannesevangelium schwer nachzuvollziehen ist. Vielmehr wird man davon ausgehen können, dass sich der eigentliche Kern (Mk 14,43–16,8 / Jh 18,1–20,18) unterschiedlich weiter­ entwickelt hat26. – In der Tat bilden Todesbeschluss und Salbung in Bethanien sowohl bei Markus als auch bei Johannes einen Erzählzusammenhang. Sogar Ju­ das’ unlautere Absichten gehören auch bei Johannes in die Perikopenfolge hinein, wenn auch mit der Salbungsgeschichte verflochten. In der Markus-Gliederung erhalten die damit verbundenen Personen und Gruppen durch klare Einzelbe­ trachtung deutlicheres Profil: Jeder bereitet sich auf das Ende Jesu in seiner Weise vor, die Hohenpriester und Schriftgelehrten durch Todesbeschluss, eine Getreue durch die Vorwegnahme der Salbung, der Verräter durch das Übergabeangebot. Jesus selbst bereitet sich auf das Ende vor in Gethsemane. Zwischen Fremdvor­ 24 W. Bösen versucht noch einen Schritt weiter zurück zu gehen. Er möchte eine erste Aus­ erzählung von 1.Kor 15,3–4 (!) als „Webkern“ des werdenden „Teppichs“ sehen und kommt so zu Mk 15,21–16,8 als Urform (Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, Freiburg 1994, S. 35 ff). Jedoch: Die Kreuzigung hat notwendig eine Vorgeschichte, die miterzählt werden muss, wenn jene ver­ ständlich werden soll. 25 Mk 14,28 ist MkRed. Es passt nicht zu Mk 15,34. Es ist aus 16,7 zitiert und will hier die Weissagung der Zerstreuung relativieren. 26 Schon J. Jeremias sprach 1935 von einem sehr alten „Kurzbericht“ ab 14,43 und einem sich nach vorn entwickelnden „Langbericht“, den er bis zum Einzug nach Jerusalem zurückverfolgen kann (Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967, S. 87 ff).

Traditions- und literargeschichtliche Bemerkungen zur Passionsgeschichte

553

bereitung und Selbstvorbereitung liegt das theologische Zentrum des erweiterten Passionsberichts, das Abendmahl, dies wiederum gerahmt durch Weissagungen Jesu, des Menschensohnes = des Gottessohnes. – Die Gethsemane-Perikope zeigt beispielhaft den Wachstumsprozess. Beim Zusammenfügen der neueren mit der älteren Tradition diente die Gestalt des Petrus als Bindeglied. Die ältere Tradition erzählt von der Verleugnung (14,54.66–72), die jüngere von der Ankündigung der Verleugnung durch Jesus und Petri heftigen Widerspruch dagegen (14,29.31). In der Gethsemane-Perikope wird Petrus nach dem ersten Einschlafen der Jünger besonders zurechtgewiesen (14,37), Reaktion auf seine vorherigen vollmundigen Erklärungen. Es ist zu vermuten, dass die ursprüngliche Gethsemane-Geschichte auch beim ersten Einschlafen die Jünger allgemein im Blick hatte. Des Weiteren sind hier markinisch redaktionelle Eingriffe besonders augenfällig. Die Erwäh­ nung der drei Jünger Petrus, Jakobus und Johannes (14,33) erinnert an Mk 9,227. Für Markus geht es beim Gebet Jesu um den Binnenraum von Vater und Sohn („Abba“ [14,36]), zu dem nur die drei Auserwählten Zugang haben. Ursprünglich galt die Aufforderung zu wachen wohl allen Jüngern (14,32.34). V 40b gleicht in der Begründung Mk 9,6a, dient der Herausstreichung des Jüngerversagens und ist daher wohl redaktionell28. Schließlich bildet das Eintreffen der Leidensweissa­ gungen in 14,41 und 42 mit dem Spiel des Sinns von παραδιδόναι / paradidonai = „ausliefern“ (in 14,41), „verraten“ (in 14,42)29 den markinisch redaktionellen Übergang zur älteren Tradition mit Verrat und Gefangennahme. Ohne diesen Übergang hätte die jüngere Tradition geendet mit den Worten: „Es ist genug. Die Stunde ist gekommen … Steht auf, lasst uns gehen …“. Der Zusammenhang mit dem Folgenden wäre gewahrt durch den Rückgriff auf Mk 14,10 f und 14,18–21 (Verratsangebot und -ansage) und durch die Petrus-Zurechtweisung (Mk 14,37), so aber ist er noch glatter hergestellt. Im Zentrum der jüngeren Passionstradition steht, gerahmt von Weissagungen über das Jüngerversagen30, die Abendmahlsszene. Damit erhält das Passionsge­ schehen eine zweite Deutung. Es geht nicht mehr nur um die alles zum Besten wendende Kraft Gottes, sondern um das darin beschlossene Heil „für uns“. Die Christologie erhält als notwendige Ergänzung die Soteriologie. In der Wendung „für viele“ (14,24) ist der Stellvertretungsgedanke präsent, im „Blut des Bundes“ 27 Anders T. A. Mohr, Markus- und Johannespassion, Zürich 1982 (AThANT 17), S. 228. 28 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 257; D. Lührmann, a. a. O., S. 243 f. 29 Auf das breite Bedeutungsfeld verweist auch T. A. Mohr, a. a. O., S. 233, allerdings mit falscher Interpretation; denn 14,42 ist nicht „profan“ im Gegensatz zu 14,41(„theologisch re­ flektiert“), sondern beides ist theologisch reflektiert im Sinne des untrennbaren Konnexes von Vorherbestimmung und Verantwortung. Ähnlich auch U. Sommer, a. a. O., S. 116. 30 In beiden Fällen handelt es sich besonders um „einen von den Zwölfen“ (14,20), in 14,18–21 um Judas, in 14,27–31 um Petrus, dessen vollmundige Rede vom Dabeisein und der Zustimmung „aller“ inkludiert wird (14,27a.31b). Insofern sind letztlich alle in das Jüngerver­ sagen eingeschlossen.

554

Die Kreuzigung und das Kreuz

alles, was auf Sühne, Versöhnung und neuen Bund (vgl. Ex 24,8; Lev 4; 16) hin­ deutet. Die Abendmahlsperikope ist von ihrem Inhalt her31 vormarkinisch. Das wird dadurch belegt, dass sie von ihrem Inhalt und ihrer Theologie her im Mar­ kusevangelium sonst keine Rolle spielt. Zwar pflegt Jesus das Gemeinschaftsmahl, aber es hat im Wesentlichen integrativen Charakter für die „Sünder“ (Mk 2,17) bzw. für die „große Menge“ (Mk 6,34; 8,1)32. Zwar beschreibt der mk Jesus seine Lebenshingabe als beständigen „Tischdienst“ (διακονῆσαι / diakonēsai = zu Ti­ sche dienen) und seinen dazugehörigen Tod als „Lösegeld für viele“ (λύτρον ἀντὶ πολλῶν / lytron anti pollōn), dieser von ihm aufgenommene Traditionssplitter (vgl. 1.Tim 2,6) hat aber kein Gewicht gegenüber den drei Leidensweissagungen 8,31; 9,31; 10,33 f, in denen Markus33 summarisch seine auf den ältesten Passions­ bericht gestützte Wende-Theologie zusammenfasst34. – Bleibt noch der Blick auf Mk 14,12–16. Dieser Einschub macht das letzte Mahl Jesu zum Passahmahl. Da­ hinter steht vermutlich der mk Gestaltungswille, überlieferten Mahlfeiern im Blick auf das sonntägliche Herrenmahl einen kultischen Charakter zu geben (vgl. auch schon Mk 6,39–41; 8,6 f). – So hat die dem Markus überlieferte Passions­ erzählung zwei theologische Gipfelpunkte: der älteste ist das Kreuz; durch Fort­ schreibung und Angliederung von Perikopen nach vorn bildet sich ein zweites Sinnzentrum heraus: das Abendmahl. Beide sind eng mit dem Handeln Gottes am neuen und für den alten Menschen verbunden.

7.3 Anthropologische Aspekte in der älteren Passionsgeschichte Der ältere Teil der Passionsgeschichte weist in seiner Gliederung 2 × 3 Sequen­ zen auf: Verrat, Verhör, Verspottung // Verleugnung, Verhör, Verspottung. Die erste Sequenz verbindet sich mit Judas, dem Hohenrat und einigen weiteren Pro­ zessteilnehmern, die zweite mit Petrus, Pilatus und einigen Soldaten. Gerahmt werden die beiden Sequenzen jetzt vom Gebetskampf in Gethsemane und der Kreuzigung. Die hier auftretenden Menschen sind, insbesondere dann, wenn sie Namen tragen, unverwechselbare Individuen, zugleich aber offenbaren sie Typisches: So ist der alte Mensch. Dass der alte Mensch vom Urbild des neuen 31 mk Bearbeitung vorausgesetzt. 32 Dass es damit für die Betroffenen auch Heilscharakter hat, ist impliziert (vgl. Lk 19,9). 33 Die drei Leidensweissagungen sind von unterschiedlicher Herkunft. Mk 8,31 darf u. a. aufgrund des Verbs „verworfen werden“ statt „ausgeliefert werden“ als vormarkinisches Summa­ rium betrachtet werden, das, von Markus leicht redigiert („viel leiden“), als Vorlage für die beiden anderen Redaktionsprodukte gedient hat (G. Strecker, „Die Leidens- und Auferstehungsvoraus­ sagungen im Markusevangelium“ in: Ders., Eschaton und Historie, a. a. O., S. 60–67). Anders T. A.  Mohr, a. a. O., S. 308 ff. 34 Ein treffendes Beispiel für Markus’ Wende-Theologie ist auch die von ihm geformte Situ­ ation in 14,61 f: Die Hohenpriester sitzen über Jesus zu Gericht. Der Angeklagte aber wird selbst einst über seine Ankläger zu Gericht erscheinen.

Anthropologische Aspekte in der älteren Passionsgeschichte

555

literarisch umfangen ist, mag sein Aufgehobensein in ihm symbolisieren35. In der Gliederungsstruktur des Endtextes: 14,32–42: Gebetskampf in Gethsemane 43–52: Verrat des Judas 53–64: Verhör vor dem Hohenrat 65: Verspottung 66–72: Verleugnung des Petrus 15, 1–15: Verhör vor Pilatus 16–20a:Verspottung 20b-41:Kreuzigung

7.3.1 Judas Der alte Mensch lässt es an Treue zum Gottessohn und damit zu Gott fehlen. Er wechselt heimlich die Seite und schließt sich denen an, die die Deutungshoheit über das Leben und die Meinungsführerschaft in religiösen Fragen zu haben be­ anspruchen, den Hohenpriestern. Die Passionsgeschichte nennt das Verrat. Die jüngere Ergänzung schildert den Menschen in diesem Zusammenhang auch noch als korrupt. Die Sündhaftigkeit, die in Untreue, Konspiration und Korruption ihren Ausdruck findet, ist Nährboden der Gewalt, einer Gewalt, die auch vor dem Gottessohn nicht Halt macht. Der Verräter, nicht offensichtlich, aber sub contrario absconditus gewalttätig (Kuss), legt den Grund zur Gewalt und nimmt sie billigend in Kauf.

7.3.2 Der Hoherat Der Hoherat steht für den Menschen, der seinen intellektuellen Fähigkeiten ver­ traut und eben von daher auch Deutungshoheit über die Schrift und Meinungs­ führerschaft in religiösen Fragen beansprucht. Er hat sein fest gefügtes, traditio­ nell überkommenes Gottesbild und kann es weder verstehen noch ertragen, dass Gott ihm ganz anders gegenübertreten könnte als erwartet. Geschieht dies aber, wird das ganz Andere verdrängt, der dogmatischen Intoleranz unterworfen, „ge­ tötet“. So führen das Festhalten an Deutungshoheit und Meinungsführerschaft letztlich auch in einen Gewaltmechanismus hinein. 35 Wenn auch die ältere Passionsgeschichte streng christologisch konzipiert ist, bleibt die soteriologische Frage bestehen. Ich sehe sie in diesem Teil der Passionsgeschichte allenfalls im Zerreißen des (inneren) Tempelvorhangs gegeben (Mk 15,38; nach U. Sommer aber sekundärer Einschub! [a. a. O., S. 203]), ansonsten in der Mk 8,34–9,1 skizzierten Nachfolgetheologie, die „einen Konnex zwischen der Leidens- und Auferstehungsaussage mit der Parusieerwartung“ herstellt (J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 27 f).

556

Die Kreuzigung und das Kreuz

7.3.3 Weitere Prozessteilnehmer Dieser Gewaltmechanismus bleibt zunächst unter der Decke des Prozesses (Todes­ urteil) verborgen, entlädt sich aber in übelster Weise bei denen, die angesichts ihrer vermeintlichen Stärke alle Hüllen der Humanität fallen lassen und ihr wah­ res Wesen zeigen.

7.3.4 Petrus In Petrus steht uns der Mensch vor Augen, der sich aus Opportunismus und Furcht vor Nachteilen von Jesus lossagt. Er sagt sich von der Jüngergemeinde los – „auch du“ (καὶ σὺ / kai sy) deutet auf die Gemeinde (14,67), ebenso „einer von denen“ (οὗτος ἐξ αὐτῶν / houtos ex autōn) (14,69). Er sagt sich darüber hin­ aus von Jesus los, indem er fluchend schwört, ihn nicht zu kennen (14,71). Sein Verleugnen ist, wie J. Gnilka pointiert hervorhebt, ein „Sich-Lossagen“36. Er gibt damit nicht nur einen „Menschen“ preis (14,71), sondern den Gottessohn, dessen Wort im Gesamtzusammenhang der Passionsgeschichte inzwischen göttlichen Rang einnimmt (14,30)37. Weil der Mensch so ist, hatte es z. B. Bar Kochba leicht, die und nur die Christen zu schonen, die Christus verleugneten und schmähten. (JustApol 1,31,6). So ist bei diesem Menschentyp zwar keine offensichtliche Ge­ walt im Spiel, aber er setzt der Auslieferung Jesu an die Gewalt auch nichts ent­ gegen (15,1). Allerdings erkennt er seine Untreue als Verrat und bereut, sich so verhalten zu haben (14,72). In Petrus tritt uns der Mensch entgegen, der zwischen Treueversprechen und Furcht zerrissen wird und letztlich nur aus Gnade heraus Jünger bleiben kann (16,7)38.

7.3.5 Pilatus Die Pilatusszene knüpft inhaltlich an den Auslieferungsakt des Hohenrates an (15,1). Sie klingt aus mit der Auslieferung Jesu durch Pilatus an die Exekutive. Die Inklusion durch den jeweiligen Auslieferungsakt lässt den Fall Jesus als Durch­ lauf erscheinen, womit ein gewisses Unbeteiligtsein und eine deutliche Ignoranz des Pilatus signalisiert wird. Er gehört zu jenem Menschentyp, dem Jesus relativ gleichgültig ist und der unreflektiert nachspricht („König der Juden“ [15,2.9.12]), was er hört, und – wenn auch wenig überzeugt – tut, was das Volk will (15,14 f). 36 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 292. 37 Ders., a. a. O., S. 294. 38 Ders. ebd.; U. Sommer, a. a. O., S. 152.

Anthropologische Aspekte in der älteren Passionsgeschichte

557

Er ist die Personifikation des Typs, den Jesus mit den Worten beschreibt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich“ (Mt 12,30 / Lk 11,23 = Q), womit dieser ver­ deutlicht, dass es Neutralität ihm gegenüber nicht geben kann. So bereitet Pilatus’ Gleichgültigkeit die in seinen Augen zwar unrechtmäßige (15,14), aber schließlich von ihm in Kauf genommene Gewalttat vor.

7.3.6 Die Soldaten Die Soldaten und ihr in Gewalt ausartender Spott sind pars pro toto. Die übrigen Teile der Masse sind in der Kreuzigungsszene 15,29–32.35–37 beschrieben. In dieser Masse lebt sich noch einmal der alte Mensch aus. Er erträgt den besonde­ ren Anspruch eines Menschen nicht, über dessen Rede und über dessen „‚aktives‘ Schweigen“39 er sich nur wundern kann (15,5). Er erträgt die Unmittelbarkeit der Begegnung mit Gottes Anspruch und Zuspruch in Christus nicht (15,29–32) und drängt Gott in Gewalt produzierendem Spott aus seiner Welt hinaus. Der Ab­ lauf der entwürdigenden Ereignisse, erzählerisch verdichtet im Dreistundentakt, entlarvt die Entladung der Gewalt als abgrundtiefes Nein zu Gott und seinem Ge­ sandten. Über den alten Mensch ergeht schon hier das Gericht (15,33.38). Im Be­ kenntnis des heidnischen Hauptmanns wird bereits der neue Mensch sichtbar40.

7.3.7 Die Getreue von Bethanien und Joseph von Arimathäa Die bisher beschriebenen Gestalten umgreifen zum Teil die ältere Passionsge­ schichte und ihre Fortschreibung. Was über Judas, Petrus und die Hohenpriester und Schriftgelehrten im jüngeren Text steht, zieht die Linien des älteren Teils bruchlos aus. Eine besonders auffällige Stellung nehmen die Getreue von Betha­ nien (jüngerer Teil) und Joseph von Arimathäa (älterer Teil) ein. Beide Gestalten zeigen auf ihre Weise, dass es „unter diesem ehebrecherischen … Geschlecht“ (Mk 8,38) doch auch Menschen mit tiefer Verehrung für den Gottessohn gibt – Vorboten des neuen Menschen. Diese beiden sind lebendige Zeichen dafür, dass der alte Mensch sich für sein zerstörerisches Wesen nicht entschuldigen kann, weil er auch andere Möglichkeiten hat („Weh aber …“ [Mk 14,21]).

39 U. Sommer, a. a. O., S. 166. 40 Im Sinne des Interpretationsschemas Th. Bauers wäre die Gestalt Jesu ambig. Ambigui­ tätstoleranz führt zu angemessenem Bekenntnis (heidnischer Hauptmann: „… Mensch … Got­ tes Sohn …“), Ambiguitätsintoleranz entweder zu Fundamentalismus (Hoheprieseter) oder zu Gleichgültigkeit (Pilatus). Zu den beiden Polen der Ambiguitätsintoleranz, Fundamentalismus und Gleichgültigkeit, vgl. Th. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, Stuttgart 2018, S. 31 ff, bes.38–40.

558

Die Kreuzigung und das Kreuz

7.3.8 Jesus, der neue Mensch Jesus steht als ganz anderer, als neuer Mensch all den gewaltbereiten und gewalt­ sam handelnden Menschentypen gegenüber. Dieses Bild ergibt sich besonders aus dem älteren Teil des Passionsberichtes, wobei ich die Gethsemane-Perikope als bewusst hierhin gesetzte und so gestaltete Übergangseinheit hinzuziehe. Vom Gebetskampf bis zur Kreuzigung ist Jesus derjenige, der seinen unmittelbaren Leidensweg in aktiver Passivität41, ab 15,5 bis 15,33 in aktivem Schweigen (Urs Sommer) geht. Gewalt ist sein Weg nicht, es ist der Weg des „bösen und ehebre­ cherischen Geschlechts“ (Mt 12,39). Sein Weg ist es, sich in das, was sein muss (Mk 8,31), in Gottes Willen (Mk 14,36), einzufügen. Sein Weg nach Gethsemane ist – ohne dass jener hier namhaft gemacht wird – der des Gottesknechts aus Jes 53, der ebenfalls in aktiver Passivität (s. o. unter AT 3.4.17) den ihm bestimm­ ten Weg annimmt. Dabei ist er ganz Mensch, tiefste Gottverlassenheit in der Todesstunde spürend (15,34)42. Dieses Menschsein wird im Licht des Gottes­ knechts gesehen und damit als ein von Gott bestätigtes herausgehoben. Der neue Mensch tritt uns im Bild des Gottesknechts zunächst sehr allgemein entge­ gen in seiner aktiven Passivität. Dazu gehört nicht nur das bewusste Geschehen-Lassen dessen, was sein muss, und das aktive Schweigen, sondern auch das bewusst hinzu­ nehmende Ausgeliefert-Werden. Mit Blick auf Jes 53 kann man daher fragen, ob das Überantwortet-Werden Jesu an seine Richter und damit an den Tod ein Wahrwerden des Bildes vom Schaf ist, das zur Schlachtbank geführt wird (Jes 53,7)43. – Im Einzelnen sind die Parallelen zum Gottesknecht greifbar – in 14,61; 14,5 → Jes 53,7: Das Schweigen ist der Verzicht auf Widerstand, die Bewah­ rung des Heiligen vor der Herabwürdigung durch das Banale (was allerdings dann an der Person Jesu passiert) und die Fügung in Gottes Willen. – 14,65; 15,19 → Jes 50,6: Nach den Verhören wird Jesus angespuckt und geschlagen und erleidet somit das Schicksal des Gottesknechts aus Jes 50,6.Gerade dort kommt die Haltung der aktiven Passivität sehr deutlich zum Ausdruck: „Ich bot meinen Rücken dar …“; „mein Angesicht verbarg ich nicht …“. In 14,65 sind es die höhnen­ den Gewalttäter, die Jesus, dem Gottesknecht, das Gesicht verdecken. Sie tun es aus Verachtung. – 14,65; 15,19 → Jes 53,3: Diese abgrundtiefe Verachtung des Gottesknechts spricht auch aus Jes 53,3. Auch hier mag man die Gestalt, die nichts Wertvolles an sich hat, nicht sehen. Darum verbirgt man das eigene Angesicht vor ihr. Außerdem ist das 41 Beschreibungen wie „willig“ oder „freiwillig“ oder „gehorsam“ erfassen den Tatbestand nur unzureichend. „Aktive Passivität“ nimmt das göttliche δεῖ / dei = muss (z. B. Mk 8,31), das Jesus seinem Lebensweg voransetzt, am besten auf. 42 Markus hat dieses Menschsein wahrscheinlich auch in die Gethsemane-Perikope in 15,33 und 34 eingetragen. 43 So T. A. Mohr, a. a. O., S. 32.

Das Gottesbild in der älteren Passionsgeschichte

559

Anspeien und Ins-Gesicht-Schlagen ein Zeichen tiefster Verachtung, wie sie ja auch dem Gottesknecht widerfährt. Dieser „trägt“ unser „krankes“ Wesen und wird so zu unserem „Frieden“ (Jes 53,4 f). Das spricht die Passionsgeschichte so nicht aus. Möglich aber, dass diese bekenntnisartige Form narrativ in der Barabbas-Freilassung umgesetzt wird. – 15,27 → Jes 53,12: Ebenso hat die Passionsgeschichte die Gleichsetzung des Gottes­ knechts mit den Übeltätern in Erzählung umgesetzt, wobei Lukas ganz bewusst das Gebet für die Übeltäter in Jesusworte gekleidet hat (Lk 23,33 f). So kann Lukas mit Rückbezug auf die Feldrede (Lk 6,27 f) verdeutlichen, dass Jesus die Neuheit seines menschlichen Wesens bis in den Tod durchhält. Markus betont im letzten Wort Jesu stärker sein wahres Menschsein, wiewohl dieses für ihn insofern ein besonderes sein mag, als Jesus trotz des Gefühls der Gottverlassenheit an Gott festhält44. – 15,34 → Ps 22,2: Dass dem „Gottesknecht“ Jesus insbesondere noch das Handeln und Ergehen des leidenden Gerechten zugesprochen wird, macht ihn zu einer spe­ zifisch konturierten Knechtsgestalt, die Gewalt und Spott erträgt, weil sie es für sich so entschieden hat (vgl. z. B. das Schweigen in 14,61 und 15,5 mit Ps 38,14–16; 39,10) oder weil es nicht anders geht (vgl. z. B. Spott und Schmähungen in 15,29–31 mit Ps 22,7–9). – (14,24 → Jes 53,11.12) Ob sich die „Vielen“ aus den Abendmahlsworten an die „Vie­ len“ aus Jes 53,11.12 anlehnen, bleibt fraglich45. Wenn man den Aspekt des stellver­ tretenden Opferlebens des Gottesknechts aus Jes 53 hervorhebt, liegt es nahe, ihn hier auch auf Jesus zu übertragen. Aber die Verbindung scheint doch zu instabil, zumal die Anspielungen auf den leidenden, schweigenden und gottergebenen Knecht sonst nur im älteren Teil der Passionsgeschichte auftauchen. Der um das Abendmahl kreisende Teil hat dagegen durch Salbung und Weissagungen hoheitlichen Charakter. Der in Je­ sus begegnende neue Mensch ist hier weniger der Gottesknecht, als vielmehr der Got­ tessohn. Er ist hier eindeutig der Mensch, in, mit und unter dem Gott selbst handelt.

7.4 Das Gottesbild in der älteren Passionsgeschichte Die unüberhörbare indirekte Zitierung von Jes 50 und Jes 53 im älteren Teil der Passionsgeschichte lässt den Schluss zu, Gott müsse an Jesus dieselbe Kraft zur Wende erweisen wie an seinem Knecht; und zwar die Wende sowohl an ihm wie auch an denen, die ihm zugesetzt haben bis in den Tod. Was tödlich wirken sollte, müsste er zum Leben bestimmt haben wie Jes 53,10c.d, und wer sich an seinem Tod schuldig gemacht hat – und das ist der Mensch nach seinem alten Wesen –, der müsste durch seinen Tod in die Sphäre des Heils (‫ ָ שׁלֺום‬/ schālōm; σωτηρία / sōtēria) hineingenommen sein wie Jes 53,5b.6b. Tatsächlich aber lässt Gott den Tod zum Heil gereichen offenbar nur für seinen Sohn. Am Ende wandelt 44 Der Unterschied zwischen Mk / Mt und Lk ist auch schon in der Gethsemane-Perikope zu beobachten. Lukas streicht das heftige Zagen und spricht später von einem „angstvollen Kampf “ (ἀγωνία / agōnia). 45 J. Gnilka rechnet damit (Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 245 f).

560

Die Kreuzigung und das Kreuz

Gott Jesu Tod in das – freilich nur für das Auge des Glaubens sichtbare – Leben um: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier …“ Was sich tödlich hätte auswirken sollen, endet nach Gottes Willen im Leben. In der Umwandlung des Todes in sein Gegenteil ergreift Gott Partei für den sterbenden Gerechten und setzt ihn ins Recht. Der Weg zur Erhöhung, sei es zur Himmelfahrt (Lk 24,50–53; Apg 1,1–14; Jh 20,17), sei es zur johannei­ schen Erhöhungschristologie (z. B. Jh 12,32; 19,30), ist frei. Zwar ist in Jh 12,32 die Christologie bereits durch die Soteriologie ergänzt („Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen“). Das ist aber im alten markinischen Passionsbericht nicht der Fall. Es gibt jedoch einen leisen Versuch, durch Chris­ tusgemeinschaft in der Nachfolge am Christusgeschehen teilzuhaben. Es ist der Hinweis an die Frauen und an die Jünger samt Petrus, „nach Galiläa“ zu gehen; „dort werdet ihr ihn sehen …“ (16,7). Markus zitiert diesen Vers in 14,28 mit einer Nuance in der Jesus-Prophezeiung: „ich werde euch vorangehen …“ (προάξω ὑμᾶς / proaxō hymās). Das Pendent zu „vorangehen“ ist „nachfolgen“ bzw. „folgen“ (ἀκολουθεῖν / akolouthein) oder „hinter mir her gehen“ (ὀπίσω μου ἐλθεῖν / opisō mou elthein). Es findet sich in Mk 8,34 und meint Kreuzesnachfolge. Diese ver­ heißt als Christusgemeinschaft Lebensgewinn (8,35). So mag im Blick auf das gesamte Markusevangelium – eher als paränetischer denn als soteriologischer Lehrsatz – gelten: „Die Not kann nicht länger als Zeichen der Gottverlassenheit verstanden werden, denn Gott wird gerade im Leiden Jesu besonders deutlich erkennbar. Die Nähe Gottes zu dieser Welt zeigt sich am klarsten in der Passion Jesu. Gott ist nicht fern von den Ungerechtigkeiten dieser Welt. Damit verliert das Leiden in dieser Welt den Charakter des Letztgültigen und wird zu etwas Vorläu­ figem, aus dem Gottes Macht Neues schaffen kann“46. Dass man das Erscheinen des Auferstandenen für die Getreuen in Galiläa als positive Christusteilhabe werten kann, geht via negationis aus einem anderen, wohl von Markus zumindest stark redigierten Christuswort hervor: In 14,62 prophezeit Jesus eine apo­ kalyptische „Gemeinschaft“ mit seinen Richtern, die diese dem unerbittlichen Gericht preisgeben wird. So wird Christus, aufs Ganze des Evangeliums gesehen, Gericht und Gnade zur Geltung bringen. Die durch das Verhalten der Menschen bedingte Ambigui­ tät Gottes in Gericht und Gnade wird in Jesus Christus sichtbar.

Sucht man nach dem Grund, weshalb in der alten Passionsgeschichte die Chris­ tologie Vorrang vor der Soteriologie hat, mag man auf die Theologie ältester Be­ kenntnisformeln einschließlich des Philipperhymnus verweisen. Das allein aber erklärt das Phänomen noch nicht. Hinzu kommt die für die Passionsgeschichte typische Auslieferungs-Theologie, wie sie in Mk 14,41 par 9,31 auf den Punkt gebracht ist. Sie ist natürlich nur auf das Geschick des Menschensohns bezogen, 46 U. Sommer, a. a. O., S. 166. Bei Paulus wird dieser Trost durch bewusstes Einfügen von „(an) uns“ in einen soteriologischen Rahmen eingespannt (Röm 8,18; 2.Kor 4,17 f).

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

561

freilich nicht ohne ein von Menschen zu verantwortendes Handeln, das das Ge­ schehen initiiert oder begleitet. Schließlich kann sich der im Hintergrund ste­ hende Gottesknecht von Jes 53, in dessen Heil ja auch die „Wir“ mit einbezogen werden, in der älteren Passionsgeschichte markinischer Prägung nicht voll entfal­ ten, weil durch viele Psalmanspielungen und -zitate der leidende Gerechte dessen Bild etwas in den Schatten stellt. Der leidende Gerechte ruft Gott bekanntlich für sich um Hilfe. Hier hat Lukas dem Gottesknecht, der für die Übeltäter eintritt und sie so in seinen Frieden mit hineinnimmt, mehr Raum gegeben (Lk 23,34.43)47.

7.5 Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung der älteren Passionsgeschichte Der Mangel nahezu fehlender Soteriologie im ältesten Kern der Passionsgeschichte48 wird im jüngeren Vorbau durch die Abendmahlsperikope ausgeglichen. In ihr wird Jesu im Leiden gipfelnde Existenz als Pro-Existenz offenbart. Der im Kelch gereichte Wein ist „mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (14,24). In gleichem Sinn ist auch die Gabe des Brotes Dahingabe seiner gesamten Exis­ tenz für viele49. Das „für viele“ ist Zitat aus Jes 53,11b.12. So ist auch Jesu Leben und Leiden wie das des Gottesknechts ein stellvertretendes Opferleben. Es ist von Gott so gewollt und von ihm gerechtfertigt. Gewollt, weil es so vom Menschen­ sohn „geschrieben steht“ (14,21), gerechtfertigt durch hoheitliche Macht des Vor­ herwissens, die ihm im Umfeld des Abendmahls verliehen ist (Verrat des Judas [14,17–21], Jüngerflucht [14,27], Verleugnung des Petrus [14,29–31], Auffinden des Raumes für das „Passahmahl“ [14,12–16, MkRed], Ankündigung der Auf­ erstehung [14,28, MkRed]), mehr noch: durch das hoheitliche Wissen, das ihm mit dem Mahl gegeben ist (eschatologisches Logion [14,25]50). Wenn Jesus sich im Mahl „für viele“ dahingibt, ist damit über den engen Kreis der Jünger hinaus 47 Was U. Sommer bereits für Mk reklamiert, trifft eher für Lk zu: „So ist künftig Gott als der zu beschreiben, der sich im Gekreuzigten neben den schuldigen und gottverlassenen Menschen gestellt hat und durch diesen seinen Gesalbten den Sündern weiterhin seine Gegenwart schenkt“ (a. a. O., S. 209). 48 Die älteste Passionsgeschichte ist deswegen nicht etwa defizitär. Die Erzählung von der Erhöhung des Erniedrigten hat einen Glauben konstituierenden Wert, noch dazu, wenn im Er­ niedrigten Gott selbst ansichtig wird, der die Erniedrigung erträgt und dennoch nicht aufhört, Gott mit uns zu sein. 49 Das Geben des Brotes allein deutet noch nicht auf das die Passionsgeschichte durchzie­ hende Dahingeben; aber im Verein mit „Nehmet“ kommt es der Dahingabe gleich. 50 Bei Lk verdoppelt, vorangestellt, im Rahmen der Deutung des Mahls als Passahmahl (Lk 22,16.18) (vgl. W. Bösen, Jesusmahl – Eucharistisches Mahl – Endzeitmahl, Stuttgart 1980 [SBS 97], S. 16). Bei Paulus hat das eschatologische Logion eine andere Zielrichtung. Es ist erstens nicht ein Wort Jesu, sondern des Paulus, und es bezieht sich zweitens auf die Parusie und damit auf die Heilsbedeutung des Todes Jesu.

562

Die Kreuzigung und das Kreuz

auf die Gemeinde verwiesen, wann und wo auch immer sie sich versammelt. Die stellvertretende Dahingabe Jesu für die Seinen hat einen historischen Anknüp­ fungspunkt; denn das Heil kann nur wirksam werden, wenn es zur Welt kommt. Zugleich gilt sie über alle Zeiten hinweg universal51. In der Annahme und (körper­ lichen, somatischen und damit ganzheitlichen) Aufnahme des Heils soll die ganze Welt aus ihrem heillosen Zustand errettet werden und den Jes 53 versprochenen Frieden erlangen. Im Anschluss an die Hineingabe seines eingeborenen Sohnes in die Welt gilt: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde“ (Jh 3,17; vgl. Jh 12,47), was freilich das Gericht über den „Fürst dieser Welt“ impliziert (Jh 16,8–11), es aber endzeitlich übersteigt. Matthäus hat im Wesentlichen den mk Abendmahlsbericht übernommen, allerdings mit verdeutlichenden Interpretamenten. Beim Brotwort fügt er nach „Nehmet“ noch „esset“ ein (Mt 26,26). Dadurch will er die ganzheitliche Auf­ nahme Jesu und die somatische Einheit mit ihm betonen (vgl. das Essen der Buch­ rolle bei Hes 3,1–3). Die gleiche Funktion hat der spezielle Trinkbefehl (Mt 26,27). Das „Blut des Bundes“ ist nicht nur „für viele“ vergossen, sondern seine spezielle Bedeutung liegt auf der „Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28). Damit hat sich das Gewicht der Heilstat Jesu verlagert vom stellvertretenden Opferleben hin zum Sühnetod. Das Gewicht hat sich verlagert vom zeitlich und örtlich entgrenzten stellvertretenden Opfer hin zur Art und Wirkung des Blutopfers. Mit diesem Interpretament hat Matthäus nicht einen neuen Gedanken eingeführt, sondern er hat durch Interpretation besonders beleuchtet, was in den Abendmahlsworten Jesu schon immer impliziert war: der Gedanke des stellvertretenden Sühneto­ des. Die traditionsgeschichtliche Analyse der Abendmahlsworte wird das zeigen. Außerdem muss im Zusammenhang damit gefragt werden, ob das Theologume­ non des Sühnetodes das Gesicht des gewalt-tätigen Gottes endgültig offenbart oder ob das Gegenteil der Fall ist. Dazu NT 7.5.1.4. Die lukanische Version gleicht mehr der paulinischen als der markinischen Tradition52. Ich beginne mit 1.Kor 11,23–26. Das Brot wird über Mk / Mt hinaus sachgemäß als „mein Leib für euch“ gedeutet. Da das „für euch“ den Kreis der Vie­ len wieder auf die anwesende Jüngerschar eingrenzt, ist der Wiederholungsbefehl notwendig geworden. Er weist außerdem auf die iterative Applikation des Heils im Mahl hin. Das Kelchwort stellt den neuen Bund in den Vordergrund, der nun grundgelegt ist und den neuen Menschen in Christus konstituiert. Damit nimmt diese Tradition auf Jer 31,31–34 Bezug und lässt jene Vision wahr werden. Damit sind das Stellvertretungshandeln und die Sühnopfergabe nicht verdrängt, sondern 51 Das „für viele“ expliziert Matthäus im Missionsauftrag: alle Völker sollen zu Jüngern werden. 52 W. Bösen weist die mk-mt Tradition der Jerusalemer Gemeinde zu, die pln-lk eher der Gemeinde von Antiochien (Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 140).

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

563

sie sind notwendige Funktionen auf dem Weg zu einem neuen Bund, in dem die alten Sünden weggetragen sind und der neue Mensch durch das Opfer Christi neu „in Christus“ hervorgeht (Röm 3,25 f; 2.Kor 5,17). Lukas ergänzt unwesentlich: „mein Leib, für euch gegeben“ (Lk 22,19) + Wie­ derholungsbefehl. Entsprechend dem „für euch gegeben“ ist das Blut bei ihm „für euch vergossen“ (ohne Wiederholungsbefehl). Vielleicht ist in der Parallelisierung von „gegeben“ und „vergossen“ auf der Erzählebene die Freiwilligkeit des Selbst­ opfers Christi angedeutet („aktive Passivität“), auf der Rezeptionsebene auf dessen Sinnhaftigkeit hingewiesen. Der Rückblick auf die Traditionsgeschichte kann nicht bis zur ipsissima vox Jesu reichen – die uns vorliegenden Quellen setzen uns Grenzen, und die zahlrei­ chen Hypothesen, welche Deutewortformulierung die ursprüngliche sei, zeigen nur die Ratlosigkeit. Deshalb kann es nur darum gehen, intentional einen alten Kern herauszuschälen und offensichtliche Erweiterungen zu markieren. Dass ich das eschatologische Logion außer Betracht lasse, hat thematische, nicht exe­ getische Gründe. Ebenso bleiben die Zeichenhandlungen unberücksichtigt. Bei Gaben und Deuteworten folge ich dem Grundsatz, dass die einfachere Form der reflektierteren vorzuziehen sei. Außerdem ist darauf zu achten, ob aus Gründen des liturgischen oder rhetorischen Gleichgewichts Parallelisierungen vorgenom­ men wurden53. Markus kennt beim Brotwort nur die Formulierung: „Nehmt, das ist mein Leib.“ Matthäus übernimmt das mit dem Zusatz „esset“. Paulus findet die Ergänzung „Das ist mein Leib, der für euch“ vor. Die Lukasversion ist die längste: „Das ist mein Leib, der für euch (hin)gegebene.“ Der Reflexions- und Interpretationsprozess von der Markus- über die Pauluszur Lukasversion ist deutlich. Dabei ist der Sinn der gleiche geblieben, sein Profil geschärft. Das Kelchwort lautet bei Markus: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergos­ sene für viele.“ Matthäus ergänzt: „zur Vergebung der Sünden“. Bei Paulus finden wir die Formulierung: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.“ Lukas überliefert: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, der für euch vergossene.“54 Lukas gleicht sich an die Paulusversion an und parallelisiert die Für-Euch-Wen­ dungen. Dabei lehnt er sich an Markus an. Die Lukasversion ist also jünger als die Paulus- und die Markusversion. 53 Es ist auch möglich, dass gerade die einfache Form – um der Einprägsamkeit willen – eine Parallelisierung aufweist. 54 Das Relativpronomen bezieht sich grammatisch auf „Kelch“. Andernfalls müsste es im Griechischen heißen: „… in meinem Blut, dem für euch vergossenen“. Das ist aber nicht der Fall.

564

Die Kreuzigung und das Kreuz

Beim Deutewort des Kelches hat der Bund (διαθήκη / diathēkē) immer eine Rolle gespielt. Daher ist eine Streichung des Genetivs „des Bundes“, wie von T. A. Mohr vorgeschlagen55, nicht zu erwägen. Die markinische Fassung stellt das sühnende Blut in den Vordergrund, das den „Bund“ wiederherstellt, die paulinisch-lukanische Version die Neuheit des Bundes, weil es Jesu Blut ist. Diese Version repräsentiert eine reflektiertere Stufe. Außerdem weist diese Version in das heidenchristlich-antiochenische Gebiet, wo sich die „Heiden“ zwanglos in jenen neuen Bund integriert fühlen dürfen (vgl. Anm. 52; s. u. unter NT 7.5.2), während man in judenchristlich-jerusalemer Ge­ meinden sehr wohl mit der Sühnkraft des Blutes vertraut war. So darf die markinisch-matthäische Fassung als die ältere angesehen werden, die paulinisch-lukanische als die jüngere, wobei die paulinische älter ist als die lukanische. Im Sinne der Traditionsentwicklung gilt die Reihenfolge: Markus – Paulus – Lukas. Die Kernaussagen könnten demnach etwa folgenden Sinn gehabt haben: (Nehmt,) das ist mein Leib. … Das ist mein Blut des Bundes, das vergossene für viele56.

7.5.1 Die markinische Tradition Das Brotdeutewort ist ursprünglich unentfaltet überliefert worden. Da die Zei­ chenhandlung des Brechens und Gebens nicht auf Jesu Tod zu beziehen ist, sondern das übliche Ritual bei Mahlfeiern beschreibt57 und auf Annahme und Aufnahme zielt, ist an Stellvertretung und Sühne vorerst nicht gedacht. Der den Jüngern gegebene Leib (σῶμα / sōma) ist Jesu Wesen, wie er „leibt(e) und lebt(e)“, ist er selbst, was er den Seinen war und ist: persongewordene göttliche Liebe, lebendiges Wort der Vergebung, spürbare Kraft des Lebens in Heilungen und „Totenauferweckungen“, kurz: wahr gewordener Schalom. Das soll den Seinen weiterhin zugute kommen. Darum sollen sie ihn in sich aufnehmen. Da es letzte Worte sind, ist auch sein Tod mit im Blick. Auch dieser – als Abschluss eines selbstlosen Lebens – soll ihnen zugute kommen. Das ist zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber implizit enthalten. Die Spende des Ich ist zwar als temporäres Ereig­ nis geschildert, weist aber über die Erzählebene hinaus auf die Sinnebene: Wann und wo immer das Mahl in dieser Weise gefeiert wird, kommt Jesu Schalom und sein Tod den um seinen Tisch Versammelten zugute. Auch das ist hier noch nicht entfaltet, sondern erst in der paulinisch-lukanischen Fassung expliziert („… zu 55 T. A.  Mohr, a. a. O., S. 194. 56 So auch J. Jeremias, Die Abendmahlsworte, a. a. O., S. 165 und 183. 57 W. Bösen, Der letzte Tag, a. a. O., S. 106.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

565

meinem Gedächtnis“)58. – Der Christus in ihnen verlangt nach einem entspre­ chenden Verhalten untereinander. Auch das Kelchwort, am Wendepunkt des Lebens zum Tod gesprochen, deutet beides gleichermaßen als Opfer. Auf der Erzählebene findet das Opferleben seinen konsequenten Abschluss im Opfertod59. Das „Blut“, von dem im Deutewort die Rede ist, ist das Blut, das mit jedem Opfer verbunden ist, und hat mit der Kreu­ zigung nichts zu tun; denn diese ist unblutig. Folglich handelt es sich beim Deu­ tewort des Kelchs um Kultmetaphorik60. D. h. „Blut“ wurde aus dem Opferkult entlehnt und auf einen zunächst – auf der Erzählebene – nichtkultischen Zusam­ menhang, sich konzentrierend im feierlichen Mahl, übertragen. Eine Metapher fordert zum Sehen auf: „Seht mich als …“. Zur Aneignung („Nehmt!“) gesellt sich notwendig das rechte Sehen. „Blut“ allein wäre für das rechte Sehen noch zu un­ spezifisch. Es ist Sitz und Symbol des Lebens (Gen 9,4; Lev 17,14; Dtn 12,23), und die Austeilung des Weines als bloßes Blutsymbol könnte bedeuten: Ich gebe euch Anteil an meinem Leben als Opferleben.“ Damit aber wäre nichts anderes gesagt als beim Brotwort. Darum ist zur Eingrenzung und Verdeutlichung der Genetiv hinzugefügt: „Das ist mein Blut des Bundes“. Diese Worte weisen auf den Sinai­ bund Ex 24. Dort wird erzählt: Mose kommt mit den Geboten vom Berg und teilt sie dem Volk mit. Das Volk verpflichtet sich, „alle Worte, die der Herr gesagt hat, zu tun“ (Ex 24,3). Es folgt Niederschrift der Satzungen und Errichtung einer Kult­ stätte. Hier wird dem Herrn ein Brand- und ein Dankopfer dargebracht (Ex 24,5), Zeichen dafür dass der Herr als anwesend gedacht wird und man ihm daher an Ort und Stelle danken kann. Das Blut der Stiere wird teils an den Altar gesprengt, teils zum Volk hin, welches nochmals eine Selbstverpflichtung ausspricht. Das Blut wird zum Bundeszeichen des Sinaibundes. Da es an den Altar und an das Volk gesprengt ist, hält es beide wie ein Siegel zusammen, und Mose kann sagen: „Seht, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch geschlossen hat aufgrund aller dieser Worte“ (Ex 24,8). Jesus beansprucht also durch sein Opferleben bis in den Tod, den zerbrochenen Sinaibund wieder neu in Kraft zu setzen. Er tritt damit in die Fußstapfen des Mose und kann – so wie die vormarkinische Tradition und ihr folgend auch Markus – in der Vollmacht des Gottessohnes den alten Bund mit neuem Leben erfüllen. Der Jesusbund ist in diesem Überlieferungsstadium ein er­ neuerter Bund, der alte Inhalte wieder belebt, der aber auch Neues bringt, das im Mosebund, zumindest in Ex 24,8 – so nicht angelegt war. Dazu aber später (NT 7.5.1.1–7.5.1.4). Es geht zunächst um den erneuerten Bund. 58 Vgl. dazu U. Sommer, a. a. O., S. 80 f; W. Bösen, Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 148. 59 Das ändert nichts an der Tatsache, dass auf literargeschichtlicher Ebene die Passionsge­ schichte nach rückwärts zum Evangelium entwickelt wurde. 60 Zur Kultmetaphorik vgl. B. Janowski, „Das Leben für andere hingeben“ in: V. Hampel, R. Weth (Hg.), Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 64 f.

566

Die Kreuzigung und das Kreuz

Wenn Jesus mit der Formulierung „Das ist mein Blut des Bundes“ in die Nach­ folge des Mosebundes, diesen erneuernd, eintritt, muss er davon ausgegangen sein, dass er in seiner bisherigen Gültigkeit außer Kraft gesetzt worden ist. Da unser Jesusbild von Markus gezeichnet ist, kann ich mich auch nur auf Markus berufen, wenn es darum geht, Jesu Verhältnis zum Sinaibund zu bestimmen. Nach Markus ist er davon ausgegangen, dass dieser alte Bund von den jüdischen Autori­ täten gebrochen worden ist. Beispiele: Mk 2,27: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Also: Auf den ursprünglichen Gotteswillen ist zu hören. Er ist gute Weisung für den Menschen. Er ist zu tun. Sklavische Buchstabentreue ist Untreue gegen Gottes Willen. Mk 3,35: In diesem Sinn ist auch Mk 3,35 – außer dass es tiefere Beziehungen gibt als Familienbande (vgl. auch Jh 19,26 f) – polemisch gegen die Autoritäten gerichtet. Sie tun schwerlich Gottes Willen. Mk 7,6–13: Bundesbruch entsteht auch durch „Heuchelei“. Gemeint sind „Lippen­ bekenntnisse“ zu Gott ohne innere Beteiligung. Das führt einerseits zu die Gebote um­ zäunenden Menschensatzungen, denen zu Unrecht göttliche Qualität zugebilligt wird, und andererseits zu widergöttlichem Handeln, wenn und weil jene Menschensatzungen in Widerspruch zu den mosaischen Geboten geraten. Mk 10,2–9: Nun kann scheinbar Gottesrecht gegen Gottesrecht stehen. Nach Num 30,3 soll man z. B. Eide halten. Wenn also jemand schwört, den Versorgungsanteil sei­ nes Vermögens, der den alten Eltern zugedacht ist, dem Tempel zu opfern, müsste er das tun. Das kommt allerdings einem Bundesbruch gleich, weil die im vierten Gebot formulierte Ehrung der Eltern dem ursprünglichen Gotteswillen und dem allumfassen­ den Liebesgebot entspricht. – Gleiches gilt für die Ehe. Gottes ursprüngliche, liebevolle und segensreiche Schöpfungsordnung, geschützt durch das Gebot, die Ehe nicht zu brechen, hat Vorrang vor Ausnahmeregelungen, auch wenn sie von Mose stammen. Wer die Ausnahmeregelungen zur allgemeinen (gottgewollten) Regel erhebt, bricht den Bund. Mk 10,1–22: Für Jesus gelten die Gebote noch. Der Sinaibund ist von Gottes Seite her nicht verworfen. Wäre also das Leben nach den Geboten, das Leben gemäß der alten Bundesverpflichtung, ein Weg, das „ewige Leben“ zu erlangen? Der Fortgang des Ge­ sprächs Jesu mit dem reichen Jüngling lässt daran zweifeln. Nach Jesu Überzeugung hilft nur die Erfüllung der Gebote durch die Liebe, d. h. durch totale Hingabe, zum ewigen Leben (vgl. Mk 8,34 f). Nur so kann der alte Bund mit neuem Leben erfüllt werden. Auf diesen Weg möchte Jesus den reichen Jüngling mitnehmen. Mk 12,28–34: Gleiches sagt Jesus mit anderen Worten dem Schriftgelehrten, der nach dem höchsten Gebot fragt. Die Gebote bleiben in Kraft, Gottes Angebot bleibt beste­ hen, auch wenn Menschen sich in leeren Ritualen (Mk 12,33) verlieren. Liebe zu Gott, und zwar nicht nur mit den Lippen, sondern „von ganzem Herzen“ (Mk 12,30), und Liebe zum Nächsten, als sei er ein Teil von mir, könnten den alten Bund wieder in Kraft setzen. Aber außer diesem Schriftgelehrten („Du bist nicht fern vom Reich Gottes“) und vielleicht noch dem reichen Jüngling sind alle anderen fern vom ehemaligen Treue­ bund.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

567

Der Durchgang durch die markinischen „Gesetzestexte“ zeigt, wie sich die Je­ rusalemer Urgemeinde die Wiederherstellung des Bundes durch Jesus vorstellte: Durch sein Opferleben, insbesondere aber durch seinen zu erwartenden Tod er­ neuert Jesus den durch Israels Untreue zerbrochenen Bund mit Gott und stellt so eine neue Gottesbeziehung her, die weit über die alte hinausgeht, und zwar temporal, formal, lokal und modal. Jesus spricht von seinem Blut. Das ist zunächst nicht verwunderlich, er spricht ja auch von seinem Leib. Die Symbolik der Elemente bekommt eine Richtung auf Jesus hin auch und gerade für die Zeit nach seinem Abschied. Das doppelte Pos­ sessivpronomen hat zunächst nur ästhetischen Charakter aus rhetorischen bzw. liturgischen Gründen. Darüber hinaus aber ist es eben nicht Tierblut, sondern in paralleler Gegensätzlichkeit61 dazu Menschenblut, und nicht nur irgendeines Menschen, sondern des Gottessohnes. Das weiß die frühe Gemeinde von Anfang an. Insofern darf man dem „… mein Blut“ durchaus Gewicht beimessen62.

7.5.1.1 Eschatologische Ausrichtung statt temporärer Begrenzung In diesem Zusammenhang gewinnt das eschatologische Logion an Bedeutung. Was mit diesem Blut geschieht, gilt nicht nur für den Augenblick, nicht begrenzt, sondern für alle Zeit bis zum endzeitlichen Freudenmahl im Reich Gottes63. Es wird von den Jüngern aufgenommen stellvertretend für „viele“, und es wird von Jesus aufgenommen, dem Repräsentanten Gottes; eines Altars zur Darstellung der Präsenz Gottes bedarf es nicht mehr. Die Gemeinde deutet Jesu Opferleben bis in den Tod in dieser Weise, in der Weise eines erneuerten Bundes, der Formen und Strukturen des Sinaibundes aufnimmt und sie zugleich transzendiert. Jesu „Blut“, sein gewaltsamer Tod am Kreuz als Zielpunkt seines Opferlebens, besiegelt diesen ewigen Bund64. Dem Sinaibund eignete dieser eschatologische Charakter nicht. Er war vom Herrn errichtet (Ex 24,8), musste aber durch Zustimmung und Selbst­ verpflichtung des Volkes ratifiziert werden (Ex 24,3b.7b).

61 J. Gnilka spricht von „typologischem Gegensatz“ des Blutes Jesu zum Blut des alten Bun­ des (Das Evangelium nach Markus, a. a. O., S. 245). 62 Darauf macht U. Sommer, a. a. O., S. 82 aufmerksam. Vgl. im Übrigen die Betonung des „mein“ im vorpaulinischen Text: ἐν τῷ ἐμῷ αἵματι / en tō emō haimati „in dem meinigen Blut“ statt ἐν τῷ αἵματί μου / en tō haimati mou = „in meinem Blut“. 63 ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ / en tē basileiā tou theou = „im Reich Gottes“ ist „nicht eine lokale, sondern eine temporale Angabe: ‚wenn Gott seine Herrschaft aufgerichtet haben wird‘“ (J. Jere­ mias, Die Abendmahlsworte Jesu, a. a. O., S. 176). 64 Dazu, dass das „Blut“ den erneuerten Bund auch inhaltlich neu qualifiziert, s. unter NT 7.5.1.4.

568

Die Kreuzigung und das Kreuz

7.5.1.2 Bedingungslosigkeit statt Gegenseitigkeit Deuteronomistische Theologie und prophetische Kritik haben indes immer wie­ der auf den Bundesbruch seitens des Volkes und die Folgen hingewiesen. Die Erneuerung des Bundes kraft des Jesusblutes bedarf keiner Zustimmung und Selbstverpflichtung. Sie gilt bedingungslos. Warum das so ist, darüber gibt uns Mk 14,24 noch keine Auskunft. Erst im heidenchristlich-antiochenischen Bereich wird eine Antwort gefunden. Die vormarkinische Gemeinde war mit den „Schriften“ vertraut, also auch mit Ps 103,17 f. Dort hat die „Gnade des Herrn“ Ewigkeitscharakter. Sie wird mit dem „Bund“ in Verbin­ dung gebracht, aber so, dass sie bei denen bleibt, „die seinen Bund halten“. Theoretisch könnte der Sinaibund also Ewigkeitscharakter haben; er ist aber abhängig von denen, die den Herrn „fürchten“. Und hier spricht die deuteronomistisch-theologisch gedeutete Geschichte ihre eigene Sprache.

7.5.1.3 Universalität statt lokaler Begrenzung Der durch Jesu „Blut“ erneuerte Bund gilt den „Vielen“. Damit dürfte der alte Bund entgrenzt sein. Galt dieser Israel, so gilt der erneuerte Bund allen Menschen65. Das hat in Jes 53,11 f („den Vielen“ = allen) sein Vorbild66.

7.5.1.4 Neuer Inhalt des Bundes Der alte Bund hatte das Einhalten der Gebote und Satzungen Gottes zum Inhalt, entsprechend das Dasein Gottes für sein Volk. Ex 19,5 bringt das auf den Punkt: „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern …“. Inhalt des erneuerten Bundes ist das vergossene Blut Jesu. Die Bedeutung dieses Blutes bestimmt den Inhalt des Nä­ heren. Da vom „Vergießen“ des Blutes die Rede ist, ist an ein Opfer zu denken67; im Blut ein bloßes Versiegelungszeichen zu sehen (was es freilich auch ist), wäre zu wenig. Im Blick auf seinen Tod bedient sich Jesus der Opfersprache68; d. h. die diese Worte formulierende Gemeinde lässt ihn sagen: Seht meinen Tod als Opfertod an! Den Tod Jesu mit diesen Augen zu sehen kann erhellend und trös­ tend sein – nirgends wird gesagt, dass ein göttlicher Vater ihn in den Tod geschickt

65 Dass πολλοί / polloi „viele“ mit oder ohne Artikel die Bedeutung „alle“ annehmen kann, hat J. Jeremias überzeugend nachgewiesen (Die Abendmahlsworte, a. a. O., S. 127 f). 66 Vgl. T. A.  Mohr, a. a. O., S. 194 f. 67 J. Jeremias, Die Abendmahlsworte, a. a. O., S. 213. 68 Ders. ebd.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

569

habe, weil er ein Opfer verlange. – Welchen Sinn ein Tod als Opfertod haben kann, soll im Folgenden dargestellt werden. Die biblische Vorstellungswelt bezüglich der einzelnen Opferarten ist sehr komplex: Es gibt Brandopfer und Dankopfer, Sühnopfer und Schuldopfer, um nur die Wichtig­ sten zu nennen, und so genau sie auch beschrieben sein mögen, bleiben sie doch in den Einzelheiten der Symbolik oftmals verborgen. Man kann sie nicht ganz erfassen, schon gar nicht eindimensional deuten, weil der, auf den sie sich beziehen, unfassbar ist (1.Kön 8,27). Dennoch geben sie sich als „Gnadenmittel“ zu erkennen, als Mittel, die Gott seinem Volk in die Hand gibt, um mitten unter ihm erfahrbar zu werden als „der, obwohl transzendent und andersartig, zugleich der Nahe und Menschenähnliche ist, der zu seinem Volk herabkommt, sogar mitten unter ihm wohnt und seine Gastfreund­ schaft annimmt, der aber dennoch der Heilige ist. Und dieser Gott erweist sich ihm als der segnende Gott.“69 In einer ausführlichen Untersuchung hat B. Janowski den alttestamentlichen Sühn­ opfergedanken und die damit verbundenen Rituale dargestellt.70 Am Beispiel der Sünd­ opfertora Lev 4,1–35 zeigt er die rituelle Struktur auf: Darbringen des Opfertieres, Handaufstemmen, Schlachten, Blutstreichen bzw. -sprengen, (Wegschütten des restlichen Blutes,) Fettabheben, Fettverbrennen. Zum Ritus des Handaufstemmens: Hier ist zu unterscheiden zwischen Subjekt- und Objektübertragung. Die weitaus über­ wiegende Anzahl der Belege weist auf eine Subjektübertragung hin, also auf eine Lebens­ hingabe des Opfernden an das Opfertier. „Weil der Opfernde durch das Aufstemmen seiner Hand auf das Opfertier an dessen Tod realiter partizipiert, indem er sich durch den symbolischen Gestus mit dem sterbenden Tier identifiziert, geht es im Tod des Op­ fertieres … um den eigenen … Tod des Sünders. Darum ist das Wesentliche bei der kul­ tischen Stellvertretung nicht die Übertragung, die ‚Abwälzung‘ der materia peccans …, sondern die … symbolisch sich vollziehende Lebenshingabe des homo peccator.“71 Anders in Lev 16. Hier – in einem offenbar durch mehrere Traditionsstufen hindurch gestalteten Text – geht es um die materia peccans. Sehr deutlich ist das im Asasel-Ritus (Lev 16,21 f) erkennbar. Durch Aufstemmen der Hände Aarons auf den Kopf des Bocks wird die Schuld des Volkes dem Bock „gegeben“ und dieser in die Wüste geschickt. Da­ bei handelt es sich um eine Objektübertragung. Diese Verse gelten als überlieferungs­ geschichtlich sehr alt. Eine jüngere Überlieferung ist demgegenüber das Schlachten des Sühnopferstieres und des Bockes durch Aaron (Lev 16,11.14.15.17). Hier schafft Aaron als Priester Entsühnung für sich und sein Haus (Stier) und für das Volk (Bock), indem ֶ ַ‫ל־הּכ‬ ַ ‫ ַ ע‬/  er das Blut der Tiere in die unmittelbare Nähe der Heiligkeit Jahwes sprengt (‫ּׂפרת‬ ’al-hakkapporet = an den Gnadenthron). Die Redaktion bindet beide Traditionen zu­ 69 A. Marx, „Opferlogik im alten Israel“ in: B. Janowski, M. Welker (Hg.), Opfer, Frankfurt 2000, S. 147. „Jede Opfertheorie, die nicht in diesem Segnen das zentrale Anliegen des Opfers sieht, muss als unbiblisch eingeschätzt werden“ (a. a. O., S. 138). 70 B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, Neukirchen-Vluyn 22000 (WMANT 55), S. 206. 71 B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, a. a. O., S. 220. Janowski verweist in diesem Zu­ sammenhang auch auf die Subjektübertragung des Amtscharismas von bzw. durch Mose auf Josua (von …: Num 27,18.23; durch …: Dtn 34,9).

570

Die Kreuzigung und das Kreuz

sammen durch die Vorschrift, zwei Böcke am großen Versöhnungstag auszuwählen, einen für Asasel und einen für das Sühnopfer (Lev 16,7–10). Der Sühnopferbock kann für den Gedanken der Objektübertragung nicht herangezogen werden. Hier weist der Blutritus in eine andere Richtung72 (s.d.). Kann der Sündenbock, der in die Wüste geschickt wird, als Opfer gelten? Wohl kaum. Denn sein Endziel ist Asasel, und dem kann nicht im Ernst ein israelitisches Opfer gelten. So ist Janowski voll zuzustimmen, der hier einen Eliminationsritus vor­ aussetzt, „dessen Grundstruktur in der magischen Übertragung (kontagiöse Magie) und anschließenden Entfernung (Elimination) der materia peccans durch ein dafür vorge­ sehenes Substitut besteht.“73 Janowski kann parallel dazu auf ein ähnliches hethitisches Pestritual verweisen.74 Zum Blutritus Der Blutritus ist in Lev 4 beschrieben. Im großen Blutritus (für Priester und Volk) vollzieht der Priester Sühne durch siebenmaliges Besprengen des Tempelvorhangs mit dem Blut des Opfertieres und durch Besprengen der Hörner des Räucheraltars vor dem Vorhang. Im kleinen Blutritus (für Stammesfürst und Einzelnen) werden die Hörner des Altars besprengt, ebenso im Ritus der Altarentsündigung Hes 43,20 (vgl. 2.Chr 30,16). Dabei ist zu beachten, dass das Blut eine doppelte Bedeutung in sich vereint. Es ist als Sühnemittel zunächst einmal Gabe Gottes und liegt somit jeder menschlichen Sühneleistung voraus. Zum anderen ist es das Leben des Opfernden, der sich ja mit dem Opfertier durch Handaufstemmen identifiziert hat, und somit Lebenshingabe an das Heilige.75 Beides geht aus Lev 17,11 hervor: 1. Es ist Sühnegabe Gottes: Lev 17,11b erklärt: „Ich habe es euch für den Altar gegeben, dass ihr damit entsühnt werdet.“ 2. Es ist Lebenshingabe des Opfernden an das Heilige: Lev 17,11c: „Denn das Blut wirkt Entsühnung, weil das Leben in ihm ist.“ Bezeichnenderweise wird in der Begründung nicht auf Lev 17,11b zurückgegriffen (dann hätte es heißen müssen: „… weil ich es euch als Sühnemittel gegeben habe“), sondern auf das in ihm pulsierende Leben, und zwar sowohl des Opfertieres (vgl. 17,11a), als auch des Opfernden (17,11c), der sein Leben ja auf das Leben (Blut) des Opfertieres überträgt76. 72 Sicherlich ist in der Endredaktion von Lev 16 das kultische Sühnegeschehen (Blutritus) stärker gewichtet als die Asasel-Tradition. Aber immerhin ist diese vom Vorgang her gerade auch durch die Lev 16,7–10 gleichberechtigt neben den Blutritus gestellt. Eine Absicht zur Verdrän­ gung des Asasel-Ritus kann ich nicht erkennen (anders B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, a. a. O., S. 268 f). 73 B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, a. a. O., S. 210. 74 Ders. ebd. 75 Ders., Sühne als Heilsgeschehen, a. a. O., S. 247; G. Kittel, Der Name über alle Namen II, Göttingen 1990, S. 74 f unter Berufung auf H. Gese, „Die Sühne“ in: Ders., Zur biblischen Theo­ logie. Alttestamentliche Vorträge, München 1977, S. 85–106. 76 An Lev 17,11 kann man sehr schön die Überformung alter Aussagen durch die Sühne­ theologie erkennen. Lev 17,10–14 handelt eigentlich vom Verbot des Blutgenusses, weil das Le­ ben in ihm ist. So beginnt auch Lev 17,11a, was eigentlich das natürliche Ende von 17,10 wäre. Fortsetzung: 17,12. Dazwischen eingeschoben Blut als Sühnemittel und Zeichen der Lebens­ hingabe des Sünders. Der Interpolator nutzt sehr geschickt das Thema Blut(genuss) für seine Zwecke.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

571

Somit kommen im Blutritus Gott und Mensch zueinander. Dabei ist die do-ut-des-Be­ ziehung üblicher Opferlogik auf den Kopf gestellt77. Nicht der Mensch ist der Gebende, der Gott gnädig stimmen müsste, sondern Gott ist der Gebende, damit der Mensch sich ihm ganz hingeben und in seiner heiligen Nähe gereinigt werden kann.78 Im Blutritus am großen Versöhnungstag wird das besonders deutlich. Hier kommt das schuldig ge­ ֶ ַ‫ ּכ‬/ kapporet79) herabkommenden und wordene Israel mit dem auf die Grenzebene (‫ּׂפרת‬ sich hier offenbarenden Gott zusammen in fast materieller Berührung, aber doch die äußerste Sublimität der Berührung in der Sprengung eines Tropfens wahrend.80 Damit weisen die Linien der alttestamentlichen Opfervorstellung deutlich ins Neue Testament hinein: Röm 3,25; 2. Kor 5,19. So ist im Blick auf das alttestamentliche Opferverständnis festzuhalten: 1. Es geht nicht in erste Linie um ein Sündenbockritual. Wo der Sündenbock auftaucht (Lev 16), ist er nicht Opfer, sondern Substitut der Elimination des Bösen. 2. Die biblische Vorstellungswelt ist in Bezug auf die Opferarten komplex. Nie aber sind sie Institute des Menschen, um Gott gnädig zu stimmen, sondern sie sind Gnaden­ mittel, die Gott dem Menschen in die Hand gibt, um als der Vergebende erfahrbar zu werden. 3. Im Sühnopfer kommen zwei Bedeutungsinhalte des Blutes zusammen: Lebenshin­ gabe des sich durch Handaufstemmen mit dem Opfertier identifizierenden Men­ schen (Subjektübertragung) und der das Blut zum Gnadenmittel machende Gott. Dieser Gott ist der in der Gabe des Gnadenmittels zuvorkommende Gott.

Die Abendmahlsworte zielen auf das vergossene Blut Jesu. Dass das Kultmeta­ phorik ist, wurde schon gesagt: „Blickt auf das Opferleben und den Opfertod Jesu wie auf das vergossene Blut.“ Vergossen wurde Blut beim gewöhnlichen Sühn­ 77 H. Cancik-Lindemaier kommt im Blick auf das römische Opferwesen zu dem Ergebnis, dass im Opfer „die Zubereitung einer Mahlzeit und ihre Darbietung als Gabe an die Gottheit“ (geschieht) „in der Erwartung, dass diese die Gabe annehmen und honorieren wird (dies., „Tun und Geben. Zum Ort des sogenannten Opfers in der römischen Kultur“, in: B. Janowski, M. Welker [Hg.], Opfer, a. a. O., S. 81). Ein dem Rechtswesen analoger Realkontrakt wird ge­ schlossen: „aut enim do tibi ut des, aut do ut facias, aut facio ut des, aut facio ut facias“ (dies., a. a. O., S. 72). Dabei steht es den Göttern frei, die Gabe anzunehmen oder abzulehnen, was Raum schafft für die Verantwortung des Menschen. 78 Zu dieser Vorstellung vgl. außerhalb von P auch Jes 6,7; außerdem im Rechtfertigungs­ motiv weiterer Berufungsgeschichten indirekt enthalten: Hes 1,28–2,2; vgl. auch Apg 9,4–6.11. – Zur Motivtafel der Berufungsgeschichten vgl. G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wunder­ geschichten, a. a. O., S. 58. 79 Janowski erklärt kapporet als Grenzmarkierung zum Transzendenzbereich, kein Deckel der Lade, sondern jenseits aller Dinglichkeit die „reine Ebene“, auf die Gott kondeszendiert (B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, a. a. O., S. 347). 80 Ders., a. a. O., S. 349. Am großen Versöhnungstag erscheint Jahwe in einer (Räucher)wolke über der Lade verhüllt, „damit er (scil. Aaron) nicht sterbe“ (Lev 16,2.13). Vgl. auch ders., „‚Hin­ gabe‘ oder ‚Opfer‘“ in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 19: Es geht im Kult „um die Begegnung mit dem Heiligen … in den Gegebenheiten von Raum und Zeit“.

572

Die Kreuzigung und das Kreuz

opfer und bei der Entsühnung am großen Versöhnungstag an den Fuß des Altars (Lev 4,7.18.25.30.34), und zwar der Rest des Tierblutes, das nicht an den Vorhang bzw. an die Hörner des Altars oder an den Gnadenthron gesprengt wurde. Das Vergießen ist zwar nicht der zentrale Akt der Entsündigung, aber es gehört zur Sühnopferhandlung insgesamt konstitutiv hinzu. Wenn also die Abendmahls­ worte das Blut als das vergossene hervorheben, nehmen sie auf die sühnende Kraft des Blutes Bezug, die in Lev 4 und Lev 16 grundgelegt ist. Als vergossen gilt im Fall Jesu nun nicht irgendein Rest, sondern das Opferblut insgesamt. In diesem Sinn weiß auch der Hebräerbrief: „… und ohne Blutvergießen gibt es keine Sün­ denvergebung“ (Hebr 9,22b). Das Neue am Blut des Bundes ist also, dass es als vergossenes sühnende Wirkung hat. Das Blut, nach herkömmlichem Verständnis Versiegelungszeichen – es wird an Altar und Volk gesprengt (Ex 24,6–8) –, wird nun als Gottes Gnadenmittel und als Zeichen der Selbsthingabe des Sünders zum Inhalt des Kultgeschehens. Vorbild ist Lev 4, was jetzt auf Jesu Opfertod über­ tragen wird. Jesu „Blut“ wird als von Gott gegebenes Gnadenmittel gesehen. Das Partizipieren des Sünders am „Opfertier“ und das Sich-Identifizieren mit diesem geschieht aktuell in der Teilnahme am Mahl, hier im Aufnehmen des geopferten Christus in die eigene somatische Existenz81, grundsätzlich im reziproken In-Sein Christi (Gal 2,20; 2.Kor 5,17; Jh 15,1–8). Im Trinken des „Blutes“ Christi geschieht Entsündigung des homo peccator, so dass er – dieser nunmehr eschatologischen Gabe teilhaftig – zugleich als homo iustificatus lebt (vgl. Mt: „zur Vergebung der Sünden“). Speziell das Kelchwort spricht von der Sühnung der Schuld. Logisch, weil Süh­ nung an das Blut gebunden ist. Damit ist das Kelchwort das einzig starke Wort im Mkev, das den soteriologischen Charakter des Todes Jesu reflektiert. Seine Strahlkraft rückt aber auch das Brotwort in dieses Licht, und schließlich ist eine vollständige Passionsgeschichte ohne die Fortschreibung rund ums Abendmahl kaum denkbar. Die um die Abendmahlszenen bereicherte Passionsgeschichte gibt dem gesamten Markusevangelium einen unüberhörbaren soteriologischen Akzent, der sich mit der Kreuzesnachfolge verbindet. Gibt es für die sakrifizielle Bedeutung des Blutes Jesu alternative Herleitungen? Gele­ gentlich sah man in Ex 24,8 die Sühnefunktion des Blutes bereits vorgeprägt82. Das ist aber nicht der Fall. Allerdings wird im Targum Onkelos zu Ex 24,8 der Zusammenhang mit der Sühne hergestellt: „Whereupon Moses took the blood and sprinkled it on the altar to atone for the people.“83 Da dieser Targum aber erst im 2. Jh. n. Chr. entstand, ist nicht von vornherein davon auszugehen, dass die Sühne-Interpretation von Ex 24,8 schon zur Zeit der Entstehung der Evangelien geläufig war. Im Übrigen: Wenn die vor­ 81 „Nehmt“ (Mk); „Nehmt, esset“ – „Trinket alle daraus“ (Mt). 82 Belege bei H. J. Sellner, Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen Doppel­ werkes, Berlin 2007 (BZNW 152), S. 457 Anm. 284. 83 Ders. ebd.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

573

markinische Tradition an einen Neuanfang Gottes mit seinem – nunmehr universalen – Volk denkt, und sei es auch in Anknüpfung an den Sinai-Bund, muss das inhaltlich den Sinaibund Transzendierende deutlich profiliert sein. Es kann nicht in einer Fortsetzung des Inhalts von Ex 24 (oder dessen interpretierender aramäischer Übersetzung) beste­ hen. So weist gerade das vergossene Blut auf den Sühnopferzusammenhang von Lev 4.  Allerdings nimmt W. Bösen gerade das „vergossene“ Blut zum Anlass, auf einen anderen als den üblichen Vorstellungshintergrund zu verweisen. Wo im AT Blut fließt, gehe es meist um die gewaltsame Tötung eines Menschen84. Das steigere sich in den Makkabäerbüchern bis hin zum Märtyrertod. Das dabei vergossene Blut sei von den Frommen mit einer läuternden bzw. sühnenden Erwartung für das Volk verbunden worden.85 Jesus habe seinen bevorstehenden Tod in diesem Sinn verstanden: „Mein Blut … vergossen“ bedeute: „mein Märtyrertod“, mein „freiwilliges und stellvertretendes Martyrium“86. Es fordere Gottes Erbarmen heraus, was die Gewähr dafür sei, dass er seinen Bund ‚neu‘ schließe.87 Dazu ist kritisch anzumerken, dass eine solche martyriologische Deutung die reine Christologie, wie sie in der alten Passionsgeschichte zutage trat, bedient. Denn Gottes Erbarmen ist sein Mitleiden mit dem Ausgelieferten und somit Parteinahme für den­ selben, die alles wendet. Dass die Parteinahme für den einen Leidenden die Gewähr für den erneuerten Bund sei, ist nicht ohne Weiteres ersichtlich. Die soteriologische Komponente bei der Martyriologie wird indes beim Stellver­ tretungsgedanken gesehen. Das hat im Blick auf die Makkabäerbücher seine Berech­ tigung. In 2.Makk 7 erleiden sieben Brüder und ihre Mutter durch Antiochus IV. den Märtyrertod. Zunächst winkt allen „das ewige Leben“ (2.Makk 7,36), dann aber möge „der Zorn des Allmächtigen, der mit Recht über unser ganzes Volk ergangen ist, … an mir und meinen Brüdern zum Stehen kommen“ (7,38). Und Eleazar betet vor seinem Martyrium: „Sei gnädig meinem Volk. Lass dir die Strafe, die wir darum erdulden, jetzt genügen! Zur Läuterung lass ihnen doch mein Blut gereichen, und als Ersatz für ihre Seele nimm jetzt meine Seele hin!“ (4.Makk 6,28 f). Martyriale Stellvertretung kommt dem Volk zugute und möge sich in Läuterung auswirken. Es gibt eine einzige Stelle, die noch darüber hinaus geht: 4.Makk 17,22. Hier wird in der Tat auf die Sühnkraft des Märtyrerblutes rekurriert: Die Märtyrer „waren gleichsam ein Ersatz für die Sünden des Volkes. Durch das Blut der Frommen und ihren Sühnetod rettete die göttliche Vorsehung das vorher schlimm bedrängte Israel.“ Kann aber eine Schriftensammlung, die ca. 100 Jahre n. Chr. entstanden ist, Auskunft geben darüber, wie ca. 40–50 Jahre vorher eine vormarkinische Gemeinde gedacht hat? Kann eine einzige Stelle die martyriologische Sühnetodinterpretation tragen? Erliegt man hier nicht dem Versuch (oder der Versuchung?), herauszufinden und zu umschrei­ ben, wie der historische Jesus, eingebettet in eine Märtyrertheologie, lebte, dachte und starb? Wäre die martyriologische Denktradition für die Interpretation des Todes Jesu tra­ gend geworden, hätte sich davon etwas in den Schriften des NT spiegeln müssen. Ich kann indes eine Aufnahme dieser Tradition weder bei Paulus noch im Hebräerbrief

84 W. Bösen, Jesusmahl, a. a. O., S. 50. 85 Ders., Für uns gekreuzigt? a. a. O., S. 162 f; 174. 86 Ders., Jesusmahl, a. a. O., S. 50; ders., Der letzte Tag, a. a. O., S. 113. 87 Ders., Jesusmahl, a. a. O., S. 50.

574

Die Kreuzigung und das Kreuz

entdecken. Im Gegenteil: der Hebr knüpft deutlich an Lev 4; 16 an (Hebr 7,27; 10,1)! Der einzige christliche Märtyrer, von dem ausdrücklich erzählt wird, ist Stephanus (Apg 7). Der Hinrichtung des Jakobus ist nur ein Vers gewidmet (Apg 12,2), der Märtyrertod des Paulus in Jerusalem wird nur als Möglichkeit angedeutet (Apg 21,13). Die Verhaftung und Steinigung des Stephanus wird der Jesu gleichgestaltet, nicht zuletzt, weil der neue Mensch der Mensch in Christus ist. Aus diesem Grund liegen auch hier Martyriologie und Soteriologie ineinander (erst die Bitte um die himmlische Aufnahme des eigenen Geistes [Apg 7,59; vgl. Lk 23,34], dann die Bitte um die Nichtanrechnung „dieser Sünde“ [Apg 7,60; vgl. Lk 23,46]). Letztere Bitte zielt zwar auf die Vergebung des Mordes, aber eben nur dieser bösen Tat, während Jesu Bitte, ausgehend von der Gewalttat, einen allge­ meineren Charakter hat. Außerdem ist nicht ausdrücklich auf das Blut dieses Märtyrers verwiesen, was freilich in der Einmaligkeit und Letztgültigkeit des „Blutes“ Jesu seinen Grund haben mag. Von daher lässt sich auch bei der Stephanusbitte an stellvertretendes Leiden für die Peiniger denken.

7.5.1.5 Die soteriologische Bedeutung der ὑπέρ-Formel / hyper-Formel ὑπέρ / hyper bezeichnet den Akt der Stellvertretung („anstatt“) und / oder das Ge­ schehen der Zueignung („zugute“). Liegt in Mk 14,24 die erste Bedeutung vor, kann man in Verbindung mit dem vergossenen Blut von einem stellvertretenden Sühnetod reden. Liegt die zweite Bedeutung vor, würde die Sühnebedeutung des Todes Jesu, die ja schon im Blut gegeben war, noch verstärkt. Die Wendung „für viele“ in Mk 14,24 wird gern mit Jes 53 in Verbindung gebracht. Das ist inhaltlich möglich, hat jedoch am Wortlaut von Jes 53 keinen Anhalt. Jes 53,5a: Er ist „wegen unserer Missetat verwundet und wegen unserer Sünde zerschla­ gen“ (hebr.: ‫ מן‬ ִ / min; gr.: διά / dia). „Wegen“ gibt den Grund an, „für“ das Ziel (Stellver­ tretung oder Heilszueignung). „Für“ steht hier nicht. Jes 53,5b: Der Sache nach ist hier in Verbindung mit v 4 von stellvertretendem Tragen der „Strafe“ die Rede, auch von Heilszueignung („Frieden“), allerdings ohne Präposition. Jes 53,11 spricht ebenfalls von Heilszueignung („Gerechtigkeit“), ohne Präposition, al­ lerdings im Dativ (πολλοῖς pollois = den Vielen). Jes 53,12: Wenn das Tragen ein Wegtragen ist, wie die LXX interpretiert (ἀνήνεγκε / ​ anēnenke), dann kommt das Heilswerk des Gottesknechts dem Jesu sehr nahe88.

Von Jes 53 herkommend kann Mk 14,24 als ein Akt der Stellvertretung gemeint sein.

88 Man könnte an den Sündenbock von Lev 16 denken; das ist aber keine Option, weil der ja dem Asasel geopfert wird. Oder ist es ein „unblutiges“ Sühnegeschehen? Kaum, denn dann hätte „Blut“ zumindest als Metapher auftauchen müssen. So auch A. Schenker, Knecht und Lamm Gottes (Jesaja 53), Stuttgart 2001 (SBS 190), S. 89: Jes 53,10 „entspricht nicht der liturgischen Opferterminologie. Aber dennoch ist ein liturgischer Horizont aufgerissen …“.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

575

Die Abendmahlsüberlieferung ist zwar eine jüngere Fortschreibung der Pas­ sionsgeschichte, aber doch der Nacht, in der der Herr verraten wurde (1.Kor 11,23), sehr nahe. Als solche steht sie auch in Korrespondenz mit den ersten urchristli­ chen Bekenntnissen, wie sie Paulus u. a. in 1.Kor 15,3–5 überliefert. Hier spielt das „Gestorben für …“ eine Rolle. Nachvollziehbar, dass es in einer durch Jes 53 beeinflussten Form auch in die Abendmahlsworte Eingang fand: nicht „für unsere Sünden“, sondern „für viele“. Im Folgenden soll versucht werden, den Bedeutungsschwerpunkt von „für viele“ in Mk 14,24 zu bestimmen. Infrage kommen dabei primär die echten Pauli­ nen. Darüber hinaus ist ein Blick auf die Evangelien interessant. Die späteren neu­ testamentlichen Schriften werden nur der Vollständigkeit halber herangezogen. Stellvertretung kommt da zum Ausdruck, wo einer – in der Regel Christus89 – für den anderen etwas trägt. Das ist in Gal 3,13 der Fall. Christus hat am Kreuz – so Paulus – den „Fluch des Gesetzes“ ὑπὲρ ἡμῶν / hyper hēmōn = für uns, also an unserer statt übernommen. Paulus verbindet das mit dem Gedanken des Loskaufs, der ja auch ein stellvertretender Akt ist (Ex 21,30). Zueignung ist am leichtesten dort erkennbar, wo mit dem „gestorben für uns“ ein Zweck verbunden ist, meist eingeleitet durch ἵνα / hina = damit. Es gibt eindeu­ tige Zueignungsaussagen, aber auch solche, bei denen der Stellvertretungsgedanke mit einer Zueignungsaussage verbunden ist, also Stellvertretung in Zueignung mündet. Das ist in 2.Kor 5,14 und 2.Kor 5,21 der Fall. Nach 2.Kor 5,14 ist „einer für alle gestorben“. Damit sind alle der Sünde abgestorben. Das ist Stellvertretung. Diese hat einen Heilszweck: ἵνα / hina = damit die Existenz aller eine Christus­ existenz werden kann. Eine neue Existenz kommt allen zugute. Gleiches gilt für 2.Kor 5,21, was Luther, Stellvertretung und Heilszueignung zusammenziehend, einen „seligen Tausch“ bzw. „fröhlichen Wechsel“ nennt90. ὑπέρ / hyper = „für“ im Sinne reiner Zueignung des Heils findet sich in den Paulusbriefen dort, wo die bloße Bekenntnisformel „für uns gestorben“ bzw. „für uns (sich selbst) dahingegeben“ eine profiliertere soteriologische Ausrichtung bekommt. Indifferent bleibt die Formel in 1.Kor 15,3 und Röm 14,15b. Heilszu­ eignung ist mit Jesu Tod „für uns“ indes verbunden in 1.Thess 5,9 f; Gal 1,4, beide Male mit einem Finalsatz verbunden. Aber auch ohne Finalsatz ist der Heilszweck in Röm 8,32 klar: Gott hat seinen Sohn zugunsten von uns allen dahingegeben, um uns mit ihm alles zu schenken. Schwieriger zu entscheiden ist Gal 2,20b. Steht hier auch der „fröhliche Wechsel“ dahinter, oder kommt mir nicht vielmehr die Liebe des Gottessohnes und seine Dahingabe zugute, zumal Paulus hier im Ich 89 Ich beziehe mich nur auf Aussagen, in denen Christus das logische Subjekt ist. Natürlich opfert sich auch Paulus auf (2.Kor 12,15) und betet für die Seinen (z. B. Phil 1,4 u. ö.), und Ge­ meindeglieder lassen sich für Tote taufen (1.Kor 15,29). Das bleibt aber außer Betracht. 90 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, Zum Zwölften (zit. bei M. H. Jung, Luther lesen, Göttingen 22017, S. 59 f).

576

Die Kreuzigung und das Kreuz

Stil sehr persönlich formuliert? Ähnlich schwierig ist Röm 5,6.891. V 8 enthält die Bekenntnisformel, „dass Christus für uns gestorben ist“. Sie ist der Wendepunkt zwischen unserem Sündersein und dem Liebeserweis Gottes. Seliger Tausch? Eher Zueignung der Liebe Gottes! Röm 5,9 und 10 klären in diesem Sinn: Wir sind gerecht geworden „durch sein Blut“, und wir haben von Gott die „Versöhnung“ empfangen. Die Heilswirkung von Christi Blut und Gottes Versöhnung sind uns zugeeignet. Die Verbindung der ὑπέρ-/hyper-Formulierung mit dem „Blut“ meint eindeutig das Zugute-Kommen der Sühnkraft desselben. Die drei synoptischen Evangelien kennen die ὑπέρ-/hyper-Formel nicht!92 Ein­ zige Stelle sind die Abendmahlsworte. Gern wird indes Bezug genommen auf Mk 10,45 par.: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“ In der Formulierung „sein Leben gebe“ wirkt die alte Dahingabeformel nach, in 1.Tim 2,6 noch ursprünglicher erhalten. Sie wird eindeutig im Sinne der Stell­ vertretung interpretiert. Das „Lösegeld“ spricht dafür, aber auch die hier verwen­ dete Präposition ἀντί / anti = anstelle. Ἀντί / Anti ist in der Bedeutung eindeutig. Allerdings steht hier nicht ὑπέρ-/hyper! Im Johannesevangelium ist das Bedeutungsspektrum von ὑπέρ-/hyper = „für“ dreigeteilt. Zum einen haben wir die johanneische Bearbeitung des Brot­ wortes: „Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, für das Leben der Welt“ (Jh 6,51c). Es versteht sich, dass Johannes den Zueignungscharakter der ihm überlieferten Abendmahlsworte übernimmt und in seiner Weise universal ausweitet. – Der weitaus überwiegende Teil der ὑπέρ-/hyper-Wendungen aber bezeichnet Stellvertretung. Das ist beim Hirtenwort so (Jh 10,11.15), ebenso bei dessen Verallgemeinerung (Jh 15,13) und bei den Stellen, die auf das sich selbst erfüllende Kaiphas-Wort Bezug nehmen (Jh 11,50; 11,51.52; 18,14). In Jh 11,51 f zeigt sich wieder der Übergang vom Stellvertretungs- zum Zueignungsgedanken (ἵνα / hina = damit, um … zu) und damit auch die Doppelbedeutung von ὑπέρ / ​ hyper im Sinne von „anstatt“ und „zugunsten“. – Schließlich haben wir in Jh 13,37 einen Fall von Parteinahme: Petrus will sein Leben für Jesus lassen. Der Epheserbrief ist zeitlich nach den Evangelien entstanden und orientiert sich an der Briefliteratur. Er scheint sich in Eph 5,1 f eine Formulierung aus Gal 2,20b zum Vorbild genommen zu haben, in der die Liebe Christi zu mir / uns Grund seiner Selbsthingabe für mich / uns ist (ähnlich Röm 5,8). Neigte sich dort das Verständnis der Stellvertretung zur Zueignung hin, so ist es hier trotz Präzisierungsversuch ähnlich: Christus hat sich für uns dahingegeben „als Gabe und Opfer“, zu Gottes Wohlgefallen. Als προσφορά und θυσία (prosphora und thysia = Gabe und Opfer). Προσφορά / Prosphora meint im Unterschied zu θυσία / thysia das unblutige Opfer. Das blutige Opfer (θυσία / thysia) ist nach Lev 4 ein stellvertretendes, wobei im kultisch versprengten Blut zugleich Heilszueignung geschieht. 91 V 7 bleibt außer Betracht, weil es hier um Parteinahme geht. 92 Auch die Apg kann mangels Belegstellen außer Betracht bleiben.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

577

Die „Darbringung“ bzw. „Gabe“ (προσφορά / prosphora) könnte als unblutiges Opfer das gesamte Opferleben Jesu umfassen. Christus hat demnach in dieser Gabe uns sein gesamtes Heilswirken zugeeignet. – Liebe zur Gemeinde als Grund der Selbsthingabe für sie spielt auch in Eph 5,25 eine Rolle, hier deutlich mit finalem Sinn (ἵνα / hina). – „Gaben und Opfer“ (δῶρά τε καὶ θυσίας / dōra te kai thysias) bringt auch der „für die Menschen“ (ὑπὲρ ἀνθρώπων / hyper anthrōpōn) eingesetzte Hohepriester dar, stellvertretend; dann „für die Sünden“ (ὑπὲρ ἁμαρτιῶν / hyper hamartiōn), Heil zueignend (Hebr 5,1). – Im Übrigen lässt sich im Hebr Stellvertretung und Heilszueignung in der ὑπέρ-/hyperWendung nicht trennen (Hebr 2,9; 6,20; 7,27; 10,12). Nur in Hebr 9,7 geht es eindeutig um ein Sühnegeschehen, also Lebenshingabe und Erneuerung: „nicht ohne Blut“ ging der Hohepriester in den hinteren Teil der Stiftshütte. – Die gleiche Bedeutungsver­ schränkung ist im 1.Petr zu beobachten (1.Petr 2,21; 3,18), wobei in 1.Petr 3,18 die Akzentuierung der Stellvertretung als Heilszueignung deutlich zu vermerken ist: „Denn auch Christus hat einmal wegen (!) (περί / peri) der Sünden gelitten, der Gerechte für (ὑπέρ / hyper) die Ungerechten (Stellvertretung), damit (ἵνα / hina) (Zueignung) er euch zu Gott führte.“ – 1.Tim 2,6 nimmt Mk 10,45 par auf: „… der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle“ (ὑπὲρ πάντων / hyper pantōn). Dort stand das ἀντί / anti = „anstelle“ bei der Vielzahl, hier ist es durch ὑπέρ / hyper ersetzt. Christus „vertritt“ die alte Menschheit („Lösegeld“), ist aber viel mehr als nur „Auslöse“ (Ex 21,30 f), kann daher auch „alle“ auslösen (Heilszueignung). Auch hier ist eine Entscheidung zwischen „anstelle“ und „zu­ gute“ nicht eindeutig zu treffen. – In Tit 2,14 kommt uns die Selbsthingabe Jesu Christi „zugute“ (Finalsatz). Der 1.Jh scheint auf Eindeutigkeit der ὑπέρ-/hyper-Wendung im Sinne der Stellvertretung wert zu legen: 1.Jh 3,16. Wo er Heilszueignung meint, benutzt er inzwischen περί / peri: 1.Jh 2,2; 4,10.

Ergebnis: Die ὑπέρ-/hyper-Wendung kann sowohl für den Gedanken des stellver­ tretenden Leidens wie auch für den Sühnetod verwendet werden („anstelle“ und „zugute“). Es gibt für die eine wie für die andere Bedeutung unmissverständliche Hinweise, z. B. den „Loskauf “ für die Stellvertretung (Gal 3,13 u. ö.), den Final­ nebensatz für die Zueignung ([1.Thess 5,9 f;] Gal 1,4 u. ö.). Es gibt auch Übergänge von der einen zur anderen Bedeutung, so dass Stellvertretung zur Heilszueignung führt bzw. als Heilszueignung gedeutet wird. (2.Kor 5,14 f; 5,21; Jh 11,51 f u. ö.). Auf jeden Fall ist Heilszueignung und damit das Sühnegeschehen dort gemeint, wo Christi Blut eine Rolle spielt (Röm 5,6.8 f; Hebr 9,7 u. ö.). Wem kommen Stellvertretung und Heilszueignung zugute? Das Bekennt­ nis 1.Kor 15,3 spricht von „uns“, ebenso Paulus in (1.Thess 5,9 f;) Gal 1,4; 3,13; Röm 5,6–8. Angesprochen sind die, die mit dem Heilsgeschehen vertraut sind, also seine weltweite Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen (vgl. auch Eph 5,1 f; 5,25; Tit 2,14; 1.Jh 3,16; 4,10). Das Gleiche gilt für die Anrede „für euch“ (1.Petr 2,21; 3,18). Dass Stellvertretung und Heilszueignung als kollektives Ge­ schehen auch eine individuelle Gnadengabe ist, zeigt Gal 2,20b, wobei das Ich auch exemplarisch für alle steht. – In Röm 8,32 öffnet Paulus das „für uns“ auf ein „für uns alle“ hin (ὑπὲρ ἡμῶν πάντων / hyper hēmōn pantōn). Sollte das nicht nur euphorische Redeweise sein, läge ein Bezug zur Erlösung der gesamten Schöpfung (Röm 8,21) vor. Das „Alle“ hätte dann eine eschatologische Ausrichtung. Die glei­

578

Die Kreuzigung und das Kreuz

che Ausrichtung hat es in 2.Kor 5,14 f, nur dass sie präsentisch fruchtbar wird als Möglichkeit, sich Christi Sterben für alle konkret als Gemeinde oder Individuum anzueignen. Paulus grenzt den Heilstod Christi als Gnadengabe nicht auf die vor­ findliche Gemeinde ein, sondern hat die endzeitliche Gemeinde (einschließlich Israel) im Sinn93. – Der universale Aspekt ist auch bei 1.Tim 2,6 gegeben und dort, wo Hebr eigene theologische Formulierungen benutzt (ohne vom Kultus des Ho­ henpriesters damals zu berichten) (Hebr 2,9; 5,1). Auf eine unmissverständliche Spitze treiben es Johannes und seine Schule: Christus stirbt für die Sammlung der Kinder Gottes auf der ganzen Welt (Jh 11,51 f), „für das Leben der Welt“ (Jh 6,51c); er stirbt nicht allein für unsere Sünden, „sondern auch für die der ganzen Welt“ (περὶ ὅλου τοῦ κόσμου / peri holou tou kosmou) (1.Jh 2,2). Nach allem ist Jesu Tod durch die Abendmahlsworte als stellvertretender Sühnetod zu deuten; stellvertretend, weil er nicht – wie etwa der Hohepries­ ter (Hebr 7,27; 9,7) – für die eigenen Sünden gesühnt hat, sondern für die der Vielen, die ihre „ausweglose(…) Gottesferne und Todverfallenheit nicht selbst überwinden konnten“94; Sühnetod, weil das „Blut“, wenn auch nur kultmetapho­ risch, ein wesentlicher Faktor als Sühnemittel ist. Es dient der grundsätzlichen Erneuerung des „Bundes“, d. h. es dient der Versöhnung (2.Kor 5,19; vgl. 1.Jh 2,2; 4,10) – der Bund als Form und die Versöhnung als Inhalt, geht von Gott aus. Er legt im Versöhnungsbund die Grundlage für den Frieden der Menschen mit sich und der Welt. Dass das Sühne- und Versöhnungsblut für die Welt ein für allemal ausgegossen ist, geht aus ὑπὲρ πολλῶν / hyper pollōn = „für viele“ hervor. So sind „die Vielen“ in Jes 53,11 gemeint (s. o. unter AT 3.4.16), so ist Mk 10,45 zu verste­ hen. Dass hier nicht ὑπὲρ πάντων / hyper pantōn = „für alle“ – wie etwa 2.Kor 5,14 f oder 1.Tim 2,6 – steht, hängt wohl damit zusammen, dass der Ton nicht auf der grundsätzlichen universalen Heilsgabe liegt, sondern auf all denen, die die Heils­ gabe für sich zu empfangen bereit sind. Auf jeden Fall ist deutlich, dass das „Blut des Bundes“, von Jesus „vergossen“, den Rahmen des Sinaibundes bei weitem sprengt95.

7.5.2 Die paulinisch-lukanische Tradition Hatte das Brotwort in der markinisch-matthäischen Tradition als Übereignung der Person Jesu an die Jünger seinen Eigenwert, der freilich auch in das Licht des stellvertretenden Sühnetodes geriet, so wird diese letztere Dimension im 93 Vgl. dazu im Ergebnis ähnlich M. Wolter, „ ‚Dumm und skandalös‘. Die paulinische Kreu­ zestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens“ in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 61 f. 94 B. Janowski, „‚Hingabe‘ oder ‚Opfer‘“, a. a. O., S. 31. Hierin liegt auch eine Auflösung des rätselhaften Muss des Leidens und Sterbens Jesu. 95 T. A. Mohr, a. a. O., S. 195; U. Sommer, a. a. O., S. 82.

Die Abendmahlsworte als soteriologische Ergänzung 

579

paulinischen und lukanischen Brotwort deutlich angesprochen. Hier findet sich die Wendung τὸ σῶμα τὸ ὑπὲρ ὑμῶν / to sōma to hyper hymōn = „der Leib, der für euch“. Die Wendung ist indifferent zwischen Stellvertretung und Zueignung, Lukas präzisiert: τὸ σῶμά μου τὸ ὑπὲρ ὑμῶν διδόμενον / to sōma mou to hyper hymōn didomenon = „mein Leib, der für euch (hin)gegebene“. Betrachtet man die vor- und nebenlukanischen Hingabeformeln, so ist zwar auch beides möglich, aber die Zueignung des im Tod Christi beschlossenen Heils überwiegt (Gal 1,4; 2,20b; Röm 8,32; Tit 2,14). Die Leuchtkraft des sühnetheologischen Kelchwortes bei Lukas auf das Brotwort ist umso stärker, als dort das „Blut, das für euch ver­ gossene“ das Vorbild für die entsprechende Formulierung beim Brotwort ist. Der gravierende Unterschied zwischen der paulinisch-lukanischen Überliefe­ rung und der markinisch-matthäischen Tradition besteht jedoch in der Betonung des neuen Bundes, der in Christi Blut gründet, in ihm geschlossen ist und immer wieder neu vergegenwärtigt wird (vgl. den Gedächtnishinweis bei Paulus beim Kelchwort, bei Lukas beim Brotwort). Was ist ein alter Bund, der durch Jesu Blut auf „eine andere Grundlage“ gestellt wird96? Ein erneuerter oder ein neuer Bund? Der Übergang ist fließend. Und doch wird durch das Adjektiv καινή / kainē = „neu“ eine Zäsur gesetzt. Neu ist nach 1.Kor 11,25 / Lk 22,20 in der Tat die Grundlage bzw. der Bezugspunkt. Der „neue Bund“ weist nicht auf Ex 24,8, sondern auf Jer 31,31. Ziel ist dort der neue Mensch, der die Neuheit seines Seins ganz in Gott leben wird. Darum wird dort auch betont, dass jener „neue Bund“ „nicht wie der Bund“ sein wird, „den ich mit ihren Vätern schloss …“ (Jer 31,32). Diese exklusive Abgrenzung klingt auch in 1.Kor 11,25 / Lk 22,20 nach, weswegen sich dieser neue Bund, der kraft des Blutes Jesu geschlossen wird97, ganz dem neuen Menschen öffnet, der Tod und Auferste­ hung Christi als Gottes Heilswerk für sich empfängt. Der neue Bund wird nun als Ermöglichungsgrund des Lebens des neuen Menschen gesehen wie auch als Verwirklichungsrahmen dieses Lebens. Sicher galt auch schon für den durch Jesu Blut erneuerten Bund, dass Gottes Vergebungshandeln bedingungslos geschieht, für den neuen Bund gilt darüber hinaus, dass er „nicht mehr durch menschlichen Treuebruch zerstört werden kann“98. Das geht aus Jer 31,32 f hervor: „… nicht wie der Bund …, den sie gebrochen haben, obgleich ich ihr Herr war, … sondern …“. Der Sinn des stellvertretenden Sühnetodes Jesu hat sich von der Bedeutsamkeit des Todes hin zur Gnadengabe geschenkten Lebens verlagert. Von daher versteht es sich, dass die veränderte Schwerpunktsetzung der Ge­ winnung der Heiden für den neuen Glaubensweg entgegenkam. Denn ein Be­ 96 G. Kittel, „Die Folgen der Sünde und das Geschenk des neuen Lebens“, in: V. Hampel, R. Weth (Hg.), Für uns gestorben, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 129. 97 Zu ἐν / en = in (meinem Blut): „… hier in der instrumentalursächlichen Bedeutung von ‚durch‘ bzw. ‚kraft‘ zu übersetzen“ (W. Bösen, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, a. a. O., S. 113; ders., Jesusmahl, Eucharistisches Mahl, Endzeitmahl, a. a. O., S. 49). 98 G. Kittel, „Die Folgen der Sünde und das Geschenk des neuen Lebens“, a. a. O., S. 129.

580

Die Kreuzigung und das Kreuz

kenntnis zu diesem neuen Bund war möglich ohne den Umweg über Kenntnis und Riten des alten Bundes. Nötig war nur, sich von den „Götzen“ ab- und dem „wahren Gott“ zuzuwenden, d. h. „zu warten auf seinen Sohn vom Himmel, den er auferweckt hat von den Toten, Jesus, der uns vor dem zukünftigen Zorn errettet“ (1.Thess 1,9 f). Nötig war nur der Glaube an „die Wahrheit des Evangeliums“ und darin die Bewahrung der „Freiheit …, die wir in Christus Jesus haben“ (Gal 2,4 f). Der Satz „Wenn ihr euch nicht beschneiden lasst nach der Ordnung des Mose, könnt ihr nicht selig werden“ (Apg 15,1.5), gilt – zumindest für die Heidenchris­ ten – in dieser Ausschließlichkeit nicht mehr (Apg 15,9–11). Die reinigende Kraft des Blutes war auch dem nichtchristlich-hellenistisch sozialisierten Menschen vertraut, darum kann 1.Jh 1,7 darauf zurückgreifen99. Aber missionarisch daran direkt anzuknüpfen, schien offenbar nicht angezeigt. Nicht von ungefähr reinigte Gott nach Petri Worten das Herz der Heiden durch den Glauben (Apg 15,9). Die Neuheit des Bundes steht im Vordergrund, geschlossen freilich durch Christi Blut als einzigartiges und im Abendmahl zu vergegenwärtigendes Bundeszeichen. Die Neuheit schließt universale Weite und christliche Freiheit ein. Dass diese „Frei­ heit …, die wir in Christus Jesus haben“, für Paulus, aber auch für Lukas mit dem Friedensgebot verknüpft ist, werden die ethischen Implikationen zeigen.

7.6 Ethische Implikationen der Abendmahlstradition Lukas bietet bekanntlich einen Langbericht über die Einsetzung des Abendmahls. Darin erhält das Kelchwort eine – nur lukanische – Ergänzung. Vor dem escha­ tologischen Vorbehalt, der aus Mk 14,25 stammt, heißt es: „Nehmt diesen (scil. Kelch) und teilt ihn (διαμερίσατε) unter euch (Lk 22,17). Das Mahl Jesu hat nicht nur eine Heilsbedeutung für jeden Einzelnen („Nehmt“ [Mk und Mt beim Brot­ wort, allerdings auch schon Plural!]), sondern es hat eine soziale und ekklesiologi­ sche Funktion. („Nehmt … und teilt“ [Lk beim vorgezogenen Kelchwort]). Teilen verbindet und schafft eine auf den Spender ausgerichtete, geistliche Gemeinschaft. Das ist für Lukas Faktum und Forderung zugleich. Auch in Apg 2,42–47 spiegelt sich das gemeinschaftstiftende Faktum des Mahles: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Ge­ bet … Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nach­ dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot Haus für Haus, hielten Mahlzeit mit Freude und Schlichtheit des Herzens, lobten Gott und fanden Gefallen beim ganzen Volk.“ Bekanntlich ist das ein Idealbild der Urgemeinde, aber das ideale Sein bestimmt das Sollen. So lässt sich folgende Ethik daraus ablesen: Brotbrechen (Lk 22,17: Kelch teilen) 99 Vgl. dazu G. Strecker, Die Johannesbriefe, Göttingen 1989, S. 82, hier auch Anm. 30.

Ethische Implikationen der Abendmahlstradition

581

und Gemeinschaft haben gehören unauflöslich zusammen. Wer Brot miteinander bricht und den Kelch teilt, kennt keine Sonderwege zum eigenen Vorteil (s. das Gegenbeispiel von Hananias und Saphira Apg 5), sondern lebt aus dem Frieden Gottes im Frieden untereinander mit Lobgesang und Gebet. Dieses „Auf-demSelben-Sein“ (ἐπὶ τὸ αὐτό / epi to auto = hier: beieinander) kennt keinen Streit, keinen gemeinschaftsprengenden Privatbesitz (wahrscheinlich wegen der Gefahr von Neid, Streit, Gewalt), sondern nur gemeinschaftlich verwaltetes Eigentum. Das alles resultiert aus der „Gemeinschaft“ im „Brotbrechen“ als ideales Sein und Sollen. V 45 liefert wieder ein auf die Einsetzung des Abendmahls bezogenes Stichwort: „Sie teilten aus“ (διεμέριζον / diemerizon), hier Imperfekt zum Zeichen des iterativen Sinns: „sie pflegten auszuteilen“. Hier ist die soziale, gemeinschafts­ stiftende und friedensfördernde Komponente mit Händen zu greifen, die sich in Jesu Abendmahlswort verbirgt. Einigkeit und Teilen wiederholt sich in v 46 („ein­ mütig“, „von Haus zu Haus“). Ein solches Lebensmodell strahlt auf „das ganze Volk“ aus. Es schaut darauf voller Bewunderung und wird Nachahmer unter sich finden. So könnten Einigkeit, Solidarität und Frieden unter dem sich selbst mit­ teilenden Herrn die Gesellschaft zum Besseren verändern. Dass dieses christliche Gesellschaftsmodell schon zur Zeit des Paulus ein Ideal, nichtsdestoweniger bedroht, war, ist dort nachzulesen. Auch für ihn gründet das christliche Gesellschaftsmodell im soteriologi­ schen Handeln Christi damals und heute (1.Kor 11,23–26). Dieses führt näm­ lich in die „Gemeinschaft“ (κοινωνία  /  koinōnia) des Leibes und des Blutes Christi (1.Kor 10,16 f). Es ist die gleiche Gemeinschaft wie in Apg 2,42 (auch hier κοινωνία / koinōnia), die Gemeinschaft im Brotbrechen und im Gebet. Ist 1.Kor 11,23–26 der soteriologische, so ist 1.Kor 10,16 f der ekklesiologische Brennpunkt der Text-Ellipse der Kapp. 10 und 11. Die konstatierte Einheit der Gemeinde („Wir haben alle an einem Brot teil“) ist zugleich implizite Forderung, Einigkeit, Solidarität und inneren Frieden zu wahren. Die Ethik lässt sich be­ schreiben unter dem Stichwort „würdige“ bzw. „unwürdige“ Teilhabe am Leib Christi, wobei „Leib Christi“ im engeren Sinn das Herrenmahl meint, in dem sich Gemeinde konzentriert (1.Kor 11,23 ff), im weiteren Sinn die Gemeinde als ekkle­ siologisch-soziologische Größe: „So sind wir viele ein Leib …“ (1.Kor 10,16 ff). Der Textzusammenhang Kapp 10 und 11 beginnt mit dem Sollen der Ge­ meinde als „Leib Christi“: – Einigkeit im Geist Christi lässt keine Indifferenz im geistlichen Dienst zu (1.Kor 10,21). Offenbar glaubten einige Korinther aus einem Sicherheitsbe­ dürfnis heraus, es sei opportun, sowohl Gott wie auch den herkömmlichen Göttern zu dienen. Dem schiebt Paulus einen zweifachen Riegel vor. Erstens spricht er den Göttern das Sein ab (1.Kor 10,19 f), und zweitens sieht er diese Korinther sich den Dämonen aussetzen, die die Existenz einer – nichtigen – Gottheit vorgaukeln (ebd.). Wenn es aber Ungeister sind, denen manche Leute zugleich dienen, dann treiben sie die Gemeinde auseinander und bringen

582

Die Kreuzigung und das Kreuz

Streit und Spaltung statt Frieden und Einheit. Darum: klare Entscheidung für Leib und Geist Christi! Sicher unbewusst folgt Paulus damit dem Herrenwort Mt 6,24 / Lk 16,13 (Q). – Im Brief an die Galater hat Paulus ein paar Jahre zuvor seinen unaufgebbaren Freiheitsgedanken formuliert: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen“ (Gal 5,1). Es ist die Freiheit in Christus (Gal 2,4), die in der Liebe tätig ist (Gal 5,6). Dieser Freiheit bleibt er auch im 1.Kor 10,23 f verpflichtet: „Alles ist erlaubt …“. Nur wenn die Liebe dabei über Bord geht, Eigennutz und Egoismus die Oberhand gewinnen, dann wird der Leib Christi zerstört100. Darum suche jeder, was dem anderen dient. Nur darin verwirklicht sich κοινωνία / koinōnia = Gemeinschaft. – Einen Weg zu finden zwischen dem Gebrauch eigener Freiheit und der Liebe bzw. Achtung vor dem Nächsten, soll das Verhalten derer prägen, die in der Ge­ meinschaft des Leibes und des Blutes Christi leben. Das wird in 1.Kor 10,27–30 auf die Rolle eines Christen als Gast bei einem heidnischen Mahl bzw. einem Opfermahl bezogen. Ist der Christ Gast, soll er essen, was ihm vorgesetzt wird. Seine Freiheit in Christus lässt das zu, er muss nicht nach jüdischen oder heidnischen Speisegeboten oder -verboten fragen. Mit der Danksagung über der Speise gibt er dem Herrn die Ehre (1.Kor 10,30 f). So ist auch der status confessionis gewahrt, der Christ dient nicht irgendwelchen bösen Geistern oder vorsichtshalber Gott und den Dämonen zugleich. So kann der Christ im Übrigen auch friedlich mit den Andersgläubigen zusammenleben, ohne seine Freiheit in Christus aufzugeben. Friedliches Zusammenleben ist für Paulus ein Wert an sich (vgl. 1.Kor 10,33; 9,19–23), zudem Voraussetzung für missio­ narisches Wirken (Menschen „gewinnen“ und „retten“). Nicht zuletzt bleiben lebensdienliche Berührungen zwischen Christen und Heiden nicht aus (z. B. wirtschaftlicher Art), und hier wäre Separierung kein guter Weg. – Freiheit werde aber in Rücksichtslosigkeit umschlagen, wenn sie dem schwachen, d. h. noch in Speisopfer-Traditionen verhafteten Bruder zur Anfechtung würde101. In diesem Fall haben Liebe und Achtung vor den Grundsätzen des Bruders Vorrang vor dem Gebrauch der Freiheit (1.Kor 10,28.29a)102. So bleibt auch der Friede nach innen gewahrt nach dem Grundsatz: Erregt keinen Anstoß, weder bei den Juden noch bei den Griechen noch bei der Gemeinde Got­ tes (1.Kor 10,32), durchaus um des lieben Friedens willen (Röm 12,18!), weil 100 Ph. Vielhauer sieht hier libertinistische Pneumatiker ihre Weltanschauung ausleben („­Alles ist erlaubt“) (Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin, New York 1975, S. 133). Paulus könnte sie durch sein „Ja, aber …“ (1.Kor 6,12; 10,23) einbinden wollen. Ähnlich G. Kittel, Der Name über alle Namen II, a. a. O., S. 104 f. 101 Das kann sowohl das Gemeindemitglied judenchristlicher als auch der Bruder bzw. die Schwester heidenchristlicher Provenienz sein (vgl. 1.Kor 8,7 f). 102 Vv 29b.30 lasse ich wegen Unverständlichkeit außer Betracht.

Ethische Implikationen der Abendmahlstradition

583

Friede ein Wert an sich ist, aber auch um „gewinnend“ zu wirken und Gott dabei die Ehre zu geben. – Trotz der theologisch und ekklesiologisch begründeten Friedensethik passiert, was nicht sein darf: Das Mahl wird Anlass zu „Spaltungen“ (σχίσματα / schis­ mata) (1.Kor 11,18). Das „Mahl“ besteht inzwischen in den paulinischen Gemeinden aus dem Liebesmahl (Agape) und dem rituellen Teil, in dem 1.Kor 11,23–26 nachvollzogen wird. Das Liebesmahl ist pervertiert zu einem Ess- und Trinkgelage der wahrscheinlich Wohlhabenderen, die sich betrunken hatten, bevor die Ärmeren, die spät von der Arbeit kamen, dazustießen – und kaum noch etwas vorfanden. Dass das Ärger, Unmut und unangemessene Reaktionen hervorruft, lässt sich denken. Hier nehmen einige in unwürdiger Weise das Ihre und dienen weder dem Nächsten, noch ehren sie Gott. Dass Paulus dieses lieblose Verhalten anspricht, zeichnet ihn aus. Was Sünde am Leib und Blut Christi ist (1.Kor 11,27), kann und darf nicht beschönigt werden. Dennoch lässt er sich nicht zu Sanktionen verleiten; denn wer so lieblos han­ delt, der – so sagt er – „isst und trinkt sich selbst zum Gericht“ (1.Kor 11,29). Geradezu hilflos wirkt sein Appell, doch aufeinander zu warten (1.Kor 11,33). Aber wer den Frieden sucht und dabei auf Sanktionen gegen Störenfriede ver­ zichtet, weil die Rache Gottes ist (Röm 12,19), der ist hilflos und muss es wohl auch sein; „denn es müssen103 ja Spaltungen unter euch sein, damit die Recht­ schaffenen unter euch (vor Gott) offenbar werden“ (1.Kor 11,19).

103 Ist hier ein göttliches Muss (δεῖ / dei) am Werk?

8. Der Römerbrief

Der Römerbrief bietet als Vorstellungsschreiben des Paulus an die Gemeinde zu Rom und zugleich letzter Brief ein Kompendium seiner Theologie, Anthropologie und Ethik. Hier darf man die Linien früherer Briefe verstärkt und profiliert, ggf. aber auch korrigiert sehen. Das Besondere paulinischer Theologie besteht im Formalen darin, dass es schwer fällt, sie sauber getrennt nach dem Gottesbild, der Anthropologie und der Ethik zu trennen. Denn alles liegt ineinander und ist stets aufeinander bezogen. In diese Relationalität ordnen sich auch noch Christologie und Soteriologie ein, die wiederum mit dem Wirken Gottes und dem Werden des neuen Menschen verbun­ den sind1. Am reinsten lässt sich schließlich noch eine Ethik herausdestillieren. An einer Stelle lässt sich unschwer nachvollziehen, wie Paulus überkommene Christologie soteriologisch und ethisch ausbaut. In Röm 6,9 f zitiert er überkom­ menes Wissen: „… wir wissen, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt, der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist (= Denn durch sein Sterben), ist er für die Sünde gestorben ein für allemal. Was er aber lebt (= Durch sein Leben aber), lebt er für Gott.“ Diese vorpaulinische Christologie geht von der von Gott herbeigeführten Wende an Jesus aus und zeigt, dass dadurch Tod und Sünde in diesem Fall, aber gerade durch diesen Fall „ein für allemal“ ent­ machtet wurden und das Leben in Gott den Sieg davongetragen hat2. Das „ein für allemal“ (ἐφάπαξ / ephapax) meint im Sinne der „ausschließlich christologischen Aussage“ „unwiederholbar“, „bleibend“ – auf Christus bezogen3, es hat aber auch einen soteriologischen Keim in sich, insofern durch Jesus Christus die Macht der Sünde und des Todes endgültig, für alle Zeiten gebrochen ist4. Dieser Keim ist seit der Frühzeit der Bekenntnisentwicklung inhärent, er muss es sein, wenn es denn einen Sinn haben soll, die Botschaft von Kreuz und Auferweckung Jesu weiter­ zutragen. – Paulus bringt in Röm 6,11 diesen Keim zur Entfaltung: „So auch ihr: 1 Als Beispiel für das unauflösliche Ineinander von Theologie, Soteriologie und Anthro­ pologie gelte Röm 7,24.25a: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn.“ Gott rettet / befreit den zwischen Gut und Böse zerrissenen Menschen aus der Macht der Sünde. Gott ist der positiv Handelnde, Jesus Christus das Mittel, Rettung des von der Sünde besetzten Menschen ist das Ziel. 2 Im Hintergrund steht die rabbinische Lehre: „Wenn ein Mensch gestorben ist, ist er frei geworden von den Gebotserfüllungen“, damit auch frei von Gebotsübertretungen, also von Sün­ den (Zit. bei E. Käsemann, An die Römer, Tübingen 41980 [HNT 8a], S. 162). 3 Ders. ebd. 4 Der Sühnegedanke spielt dabei keine Rolle, weil es nicht um Schuld geht. Vielmehr geht es um das Ende der Sündenmacht am Kreuz (E. Käsemann, ebd.).

Gottesbild und Menschenbild 

585

Seht euch so an, dass ihr tot seid für die Sünde, lebend aber für Gott in Christus Jesus.“ Über die Brücke des „ein für allemal“ und des „So auch ihr“ ist bei Paulus der Weg von der Christologie zur Soteriologie beschritten. Nach der zuvor ent­ wickelten Tauftheologie fällt ihm der Schritt umso leichter (vgl. Röm 6,3 f.6 f). Dem Ineinander der Heils- und Handlungsaspekte trägt am ehesten eine Glie­ derung Rechnung, die ihre Verbindung berücksichtigt: Gottesbild und Menschen­ bild, Christologie und Soteriologie, Anthropologie und Ethik bzw. (speziell für die Kapp. 12–15) Theologie und Ethik. Weil hier keine umfassende Darstellung angestrebt ist, geht alles selbstverständlich durch den Filter Gewalt und Gewalt­ überwindung, Versöhnung und Frieden. Der Länge des Römerbriefs ist eine Aufteilung geschuldet. Ich entscheide mich für die Kapp. 1–3; 4–7; 8; 12–155. Sie mag willkürlich erscheinen, ist aber m. E. durch Linien bedingt, die auf zentrale Aussagen zulaufen (z. B. 3,22b-28; 7,24–25a; 8,31–396; 15,7). Schwerpunktmäßig lassen sich damit auch die Gliederungsüberschriften verbinden.

8.1 Gottesbild und Menschenbild (Röm 1–3) Wollte man Röm 1–3 mit einem Motto überschreiben, müsste man Ex 34,6 wäh­ len: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Über­ tretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied!“ Kap. 1 handelt von Gottes Zorn (ὀργή / orgē) (Röm 1,18) und entfaltet quasi den zweiten Teil von Ex 34,6; Kap. 2 wirft ein Licht auf das gnädige Antlitz Got­ tes voller Güte (χρηστότης / chrēstotēs), Geduld (ἀνοχή / anochē), und Langmut (μακροθυμία / makrothymia)  (Röm  2,4)7, das sich in Röm 3,24 in überfließen­ der Gnade (χάρις / charis) zeigt. Der doppelgesichtige Gott begegnet uns in den ersten drei Kapiteln, wobei die helle Gesichtshälfte deutlich größer ist als die dunkle. So kennen wir ihn. Überall wo sonst noch von Gottes Gnade die Rede ist – sie durchzieht den gesamten Römerbrief –, bezieht sie sich auf diesen grund­ sätzlichen Gnadenakt Gottes, die unverdiente Erlösung aller Menschen durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi (Röm 3,24–26). Gottes Zorn bleibt indes wirksam. Denn es gibt ja noch diese Welt und damit auch diesen Menschen, der ohne Gott zurechtzukommen meint, Unrechtes tut und duldet und damit die Wahrheit unterdrückt (1,18), sein Herz an Nichtiges hängt (1,21–23) und das Geschöpf statt den Schöpfer verehrt (1,25). Aus der 5 Die Israel-Theologie Kapp. 9–11 spare ich aus. 6 E. Käsemann schreibt zu 8,31–39: „Man hat stets empfunden, daß sich hier paulinisches Pathos aufs stärkste bekundet“ (An die Römer, a. a. O., S. 237). 7 μακρόθυμος / makrothymos = geduldig, langmütig: Ex 34,6 (LXX).

586

Der Römerbrief

Sicht des neuen Menschen, den der Römerbrief dankbar als das große Versöh­ nungswerk Gottes feiert (5,8–11.12–19; 6,4), handelt es sich hier um den weiter­ hin existenten Menschen. Die Existenzmöglichkeit und Existenzweise des alten Menschen ist durch Gottes Versöhnungswerk nicht abgeschafft; es ist freilich eine neue Existenzmöglichkeit und Existenzweise eröffnet – aufgrund der unendlichen Güte, Geduld und Langmut Gottes: Menschlicherseits führt der Weg dahin über die Buße (2,4). Es ist deutlich: Wo von Gottes Zorn (und Gnade) die Rede ist, da kommt un­ weigerlich die Anthropologie ins Spiel; denn Zorn (und Gnade) richten sich auf den Menschen in seinem Sosein. In der Auswirkung des Zorns fließen Theologie und Anthropologie ineinander. Es gibt zwei Arten des Gerichtsverständnisses; ich nenne es das „weiche“ und das „harte“ Gericht. Im ersten Fall besteht das Gericht Gottes nicht in einer besonderen Strafaktion, sondern es realisiert sich in der Auslieferung des Menschen an seinen selbst gewählten Weg (1,24.26.28: [διὸ / διὰ τοῦτο] παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεὸς … / [dio / dia touto] paredōken autous ho theos …)8: Zügellosigkeit führt zur Entwertung des Leibes und damit des gesamten Menschen (σῶμα / sōma = „Leib“ als komplexer Begriff) (1,24); wider­ geschöpflicher Sex empfängt den „gebührenden Lohn“ (1,27); ein Denken, das nicht an die Verehrung Gottes und an Dank gebunden ist (1,21), führt zu einem verworrenen Denken (1,22.27.28), das die Maßstäbe des Rechten und Guten ver­ liert. Ein Lasterkatalog bringt Beispiele. Immer wieder ist dabei auch Gewalt im Spiel: Mord (1,29), erfinderisch im Bösen (1,30), ohne Liebe und Erbarmen (1,31). Wer Gott ablehnt („verachtet“ [1,30]), der ist so. Der alte Mensch, der Mensch ohne Gott, ist so. Gott lässt den Menschen seinen in Freiheit selbst gewählten Weg so gehen, er liefert ihn seinen laszivischen Vorstellungen aus, auch wenn das sein „Tod“ ist (1,32a)9. Gott-loses Tun hat zerstörerische Folgen, und Gott drängt sich nicht auf, weder als Richter noch als Retter. In seiner grenzenlosen Güte, Geduld und Langmut wartet er allerdings auf den sich zu ihm kehrenden Menschen (2,4). Andererseits ist in 2,2 f.5–10 vom „harten“ Gericht die Rede. Es gilt am Ende (am „Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts“) den Unbuß­ fertigen. Es bringt ihnen Not und Bedrängnis (θλῖψις καὶ στενοχωρία / thlīpsis kai stenochōria [2,9]) bis zum Tod (1,32b). Da Paulus vorher aber das überaus gütige Gesicht Gottes vorgestellt hat, wird dieses auch im Endgericht erstrahlen über den Guten, denen Herrlichkeit, Ehre und Frieden bis zum ewigen Leben zuteil wird (2,10). Das Vergeltungsgericht nach den Taten bleibt eschatologisch in Kraft, wenn

8 G. Kittel, Der Name über alle Namen II, a. a. O., S. 208; dies., „Die Folgen der Sünde und das Geschenk neuen Lebens“, a. a. O., S. 123. 9 Das gilt nicht nur für eine individuelle Lebensweise, sondern auch für eine laszivisch aus­ gerichtete Gesellschaft (1,32b).

Gottesbild und Menschenbild 

587

auch das Gericht in der Gegenwart eher eine sich selbst erfüllende Konsequenz einer gott-losen Haltung bzw. der daraus resultierenden Taten ist. Das Gericht gilt dem Menschen, wie er ist und wie er handelt. Es bleibt, egal was sich heilsgeschichtlich noch ereignet, in Kraft. Nichtsdestoweniger ist „Jetzt aber“ (Νυνὶ δὲ / Nyni de) eine neue Zeit angebrochen (3,21) „durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (3,24). Diese „Erlösung“ (ἀπολύτρωσις / apolytrōsis) wird dem alten Menschen verkündigt10, und er kann sie im Glauben – so paulinischer Einschub (3,25; vgl. auch 3,28) – annehmen. So darf er sich als neuer Mensch verstehen. Der Inhalt der „Erlösung“ ist näher zu be­ schreiben. Zuvor aber malt Paulus als Hintergrundfolie noch einmal in kräftigen Farben den alten Menschen, von dem sich der neue abheben wird11. In 3,9–18 benutzt Paulus die Feindklage der Psalmen, um aus ihr allgemein anthropologisches Kapital zu schlagen, z. B.: „Alle sind abgewichen und allesamt verdorben. Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer“ (Ps 14,1–3). Und aus Jes 59,7–8 zitiert er die Handlungsweisen des alten, für die Sünde offenen Men­ schen: „Ihre Füße eilen, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist lauter Zerstörung und Elend, und den Weg des Friedens kennen sie nicht.“ Gewalt und Friedlosig­ keit kennzeichnen den alten, gottlosen Menschen. Der „Gott des Friedens“ aber will das ändern, nicht durch Kurieren am Symptom, sondern grundsätzlich. Er wird „den Satan unter eure Füße treten in Kürze“ (16,20) und dem Menschen eine neue Existenzweise schenken (δωρεάν / dōrean = gratis) schon jetzt (Νυνὶ δὲ / Nyni de). Die letztgültige Wende vom Alten zum Neuen12, von der alten Welt zum neuen Äon, vom alten zum neuen Menschen ist nicht ohne das Kreuz Christi vorstell­ bar, es ist mit der Erlösungstat Christi gegeben. Die Erlösungstat ermöglicht es jedem Menschen, vor Gott gerecht dazustehen, wenn er denn der Erlösungstat vertraut (3,22). Damit ist die Tür zur nichtjüdischen Welt geöffnet. Der eine Gott ist ein Gott nicht nur der Juden, sondern auch der Heiden (3,29). Nun könnte man denken, die Erlösungstat sei nur wegen der Heiden geschehen: um sie auf dem Gnadenweg in Gottes Heil mit einzubeziehen, während den Juden ja aufgrund ihrer „Werke“ ihr „Pflicht“-Teil (4,4) sicher ist. Einem solchen Missverständnis beugt Paulus allerdings vor, indem er Gottes Gnadenwirken nicht etwa grup­ penspezifisch einschränkt, sondern auf die grundsätzliche Sündenverfallenheit aller Menschen, Juden wie Heiden, bezieht (3,22b.23). Nur so gelingt es ihm, die

10 Es ist die „Verkündigung Jesu Christi“ (τὸ κήρυγμα Ἰησοῦ Χριστοῦ / to kērygma Jēsou Christou [16,25]). Den kerygmatischen Charakter der Neuwerdung und damit den Charakter des Zuspruchs des neuen Selbstverständnisses beschreibt 2.Kor 5,18–20. 11 Allerdings zunächst eher in Form von „Richtlinien“ beschrieben in Gestalt konkreter Tugenden. 12 Es ist das gleiche eschatologische „Jetzt“, das auch in 2.Kor 6,2 ausgerufen wird: „Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“

588

Der Römerbrief

eschatologische Geburt des neuen Menschen zu beschreiben13 und von daher den Sündenfall als den Existenzbeginn des alten Menschen zu erkennen. Das Alte Testament konnte nur vom „Menschen“ sprechen (z. B. Ps 8,5; Hi 9,1–4; 14,1–6), nicht aber vom „alten Menschen“, weil es die Perspektive des Neuen noch nicht hatte. Paulus freilich steht die Perspektive des Neuen Testaments zur Verfügung und damit auch eine neue Kategorie. Er kann den Bogen vom Ausschluss aus dem Paradies (Gen 3,23 f) zum „Zugang im Glauben zu dieser Gnade, in der wir stehen“ (5,2), schlagen. Die Gnade Gottes besteht im Erlösungswerk Christi (3,24). Es wird hier noch nicht als eigendynamische, in sich selbst wirksame Tat Christi verstanden, son­ dern als Tat Gottes: „Den hat Gott … hingestellt …“ (3,25) (vgl. auch den Unter­ schied in der Nomenklatur zwischen Auferweckung und Auferstehung). Das Erlösungswerk Christi arbeitet Gott zu (und kann daher hier noch unter der Überschrift „Gottesbild und Menschenbild“ behandelt werden). Doch zuvor der zentrale Text14, auf den die theologischen und anthropologischen Linien der Kapp. 1–3 zulaufen: Den hat Gott hingestellt

ὃν προέθετο ὁ θεὸς

als Sühne für den Glauben in seinem Blut

ἱλαστήριον διὰ πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι

zum Erweis seiner Gerechtigkeit

εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ

wegen der Vergebung der vorher begangenen Sünden

διὰ τὴν πάρησιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων

in der Zeit der Geduld Gottes,

ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ,

zum Erweis seiner Gerechtigkeit

πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ

in der Jetztzeit,

ἐν τῷ νῦν καιρῷ,

dass er gerecht ist

εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον

und gerecht macht den,

καὶ δικαιοῦντα

der aus dem Glauben an Jesus (lebt).

τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ.

Dieser Text hat eine Geschichte. Er geht offenbar auf ein urchristliches Bekenntnis zurück (ὅν / hon = „den“ als relativischer Anschluss bei Reihenformulierungen in Be­ kenntnissen), das im hellenistisch-judenchristlichen Bereich beheimatet ist (griechisch geschrieben, Rückgriff auf Sühnopfertheorie)15. Dieses umfasste im Kern 3,25a: „Den 13 Im Glauben! Ein feiner Unterschied zwischen Juden und Heiden besteht dennoch: für Juden gilt: „aus Glauben“, für Heiden „durch Glauben“. Ich verstehe das so: für Juden aus dem (abrahamitischen) Glaubensschatz heraus (Kap. 4), für Heiden durch ein geschenktes Vertrauen (3,30). 14 Eigene Übersetzung. 15 G. Strecker, „Befreiung und Rechtfertigung“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 252.

Gottesbild und Menschenbild 

589

hat Gott … hingestellt als hilastērion (Sühnemittel? Sühneort?) in seinem Blut.“ „Für den Glauben“ ist paulinische Verdeutlichung, dass das Heil nur im Glauben ergriffen werden kann. Das hatte er schon in 3,22 betont16. Der Rest (3,25b.26) kann als paulinische Er­ läuterung des Bekenntnisses angesehen werden. Dafür spricht die gleichartige Struktur der beiden Teile, die durch „zum Erweis seiner Gerechtigkeit“ (εἰς / πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ // eis / pros tēn endeixin tēs dikaiosynēs autou) eingeleitet sind17: 1. 2. 3.

Erweis seiner Gerechtigkeit Vergangenheit Vergebung

Erweis seiner Gerechtigkeit Jetztzeit distributive und imputative Gerechtigkeit = Rechtfertigung

Die alte Bekenntnisformel sagt: Gott hat diesen Jesus „hingestellt“, also „angese­ hen“ als „Sühnopfer“ „kraft“ (ἐν / en) seines Blutes. Deutlicher kann sie nicht auf Jes 53,10b („Wenn du sein Leben doch als Schuldopfer ansehen könntest!“), Lev 4 (Blutritus) und Lev 16,2.13 (ἱλαστήριον / hilastērion = ‫ּפוֹרת‬ ֶ ַ‫ ּכ‬/ kappōret  = „Deck­ platte der Lade“ als vom Rauch verhüllter Begegnungsort mit Jahwe anlässlich des Sühnopfers) verweisen. Damit steht für ἱλαστήριον / hilastērion ein weites Bedeutungsfeld offen. In ihm kreuzen sich die Bedeutungslinien von ἱλαστήριον / ​ hilastērion als Materie („Sühnopfer“) und ἱλαστήριον / hilastērion als Begegnungs­ ort („Sühnort“). Daher kann man sagen: Dieses kurze Bekenntnis 3,25a* deutet den historisch so verlaufenen Weg Jesu ans Kreuz und dessen gewaltsamen Tod wie folgt: Gott hat kein Menschenopfer als Satisfaktion gewollt, sondern hat diesen grausamen Tod als einmaliges und letztgültiges Opfer dem Menschen hingestellt, zugunsten des Menschen so angesehen, dem Menschen als Ort alles wieder zu­ rechtbringender Begegnung geschenkt. Im Opfer Jesu (hilastērion als Materie), d. h. am Kreuz (hilastērion als Begegnungsort) geschieht Begegnung Gottes mit dem Menschen, Begegnung des Menschen mit Gott, neuer Bund, für immer18. In dieser Bekenntnisformel ist Christologie in Soteriologie übergegangen. Darum 16 G. Strecker will auch „in seinem Blut“ als sekundäre Ergänzung ansehen, weil das „sei­ nem“ sich auf das weit zurückliegende, paulinische „in Christus Jesus“ (3,24fin) beziehe (ebd.). Das ist aber nicht schlüssig, weil es sich leicht auf das ὅν / hon = „den“ beziehen lässt. 17 G. Strecker möchte den Erweis der Gerechtigkeit in der Vergangenheit als Vergebung der Sünden dem hilastērion zuordnen und damit für ursprünglich halten, den Erweis der Ge­ rechtigkeit in der Jetztzeit dagegen als paulinische Fortführung (ebd.). Dieser Versuch scheint inhaltlich problematisch, weil dem Selbstopfer Jesu keine andere Bedeutung zukäme als dem Opfertier, sich also die Frage nach dem Mehr bzw. dem Sinn nicht beantworten ließe. Im Übri­ gen ist ἔνδειξις / endeixis = „Erweis“ dem paulinischen Sprachschatz nicht fremd (vgl. 2.Kor 8,24; Phil 1,28). Paulus benutzt seinen eigenwilligen Rekurs auf die Inferiorität des Sühnopfers in der Vergangenheit, um davon die einmalige und endgültige Superiorität des Sühnopfers Christi in der Gegenwart abzuheben. 18 Ob „neuer Bund“ oder „erneuerter Bund“, lässt sich schwer festlegen. Da die Formel im hellenistisch-judenchristlichen Bereich entstanden ist, mag sich der Gedanke an einen „erneu­ erten Bund“ nahelegen.

590

Der Römerbrief

kommt sie Paulus sehr entgegen (vgl. auch Röm 4,25: Dahingabe und Auferwe­ ckung Jesu bekommen eine Heilsbedeutung: Vergebung der Übertretungen und Gerechtmachung der Sünder). Paulus kann also problemlos an die alte Formel anknüpfen. Galt schon für diese: das Erlösungswerk Christi arbeitet Gott zu, so gilt es jetzt erst recht: im Er­ lösungswerk erweist sich Gottes Gerechtigkeit (εἰς ἔνδειξιν / eis endeixin = zum Erweis), und zwar hinsichtlich dessen, was sie ist und was sie will. Quer zur Unter­ scheidung einer statischen und einer dynamischen Gerechtigkeit Gottes verläuft eine andere Trennlinie: die Zeit der Geduld und die Jetztzeit. In jeder der beiden Zeiten geht es – das ist Paulus’ zentrales Anliegen – um den Erweis der Gerechtig­ keit Gottes. Wie sich diese jeweils gestaltet, weiß Paulus: in der alten Zeit wird sie wirksam in der Vergebung der Sünden (Lev 4,20.26.31.35 u. ö.), in der eschato­ logischen Jetztzeit (vgl. 3,21; 2.Kor 6,2) in der distributiven („dass er gerecht ist“) und in der imputativen Gerechtigkeit („dass er gerecht macht“, natürlich den, der glaubt). Gott bleibt der distributiv Vergeltende, weil es ja den alten Menschen noch gibt (vgl. 2,6), aber dieser ist zugleich der neue Mensch, der durch die Gerecht­ sprechung neu geboren wird (2.Kor 5,17) bzw. (in der Taufe) Christus angezogen hat und so im Glauben ein „Sohn Gottes“ wird (Gal 3,26 f). Somit ist Gott zugleich der imputativ Spendende. Wer und wie Gott ist, wer und wie der Mensch vor ihm ist, wurde in Röm 1 und 2 dargestellt, lief auf 3,21–26 zu und findet hier in unauflöslicher Bezogenheit seinen Höhepunkt und Abschluss: Die Gnade Gottes ist es, die das so gekommene Kreuz Jesu Christi als einmaliges und endgültiges Erlösungswerk hinstellt und so den Menschen von der Gefangenschaft durch die Sünde befreit. Der neue Mensch ist eschatologisch in statu nascendi, mit allen Privilegien als Kind Gottes begnadet. Das ist die Friedens- und Freudenbotschaft schlechthin (5,1 f). Dem Missver­ ständnis der Gnade als „billiger Gnade“ beugt Paulus mit steter Regelmäßigkeit „durch den Glauben“ vor. Dem ist das 4. Kapitel gewidmet, wobei der „Glaube“ wiederum die Haltung ist, die das Geschehen an Abraham für uns soteriologisch fruchtbar macht (4,23 f: „Nicht nur um seinetwillen …, sondern auch um unseretwillen, … die wir glauben …“).

8.2 Christologie und Soteriologie (Röm 4–7) Das 4. Kapitel leitet über von der Theo-logie zur Christologie, die bei Paulus nicht ohne Soteriologie denkbar ist, auch wenn rein christologische vorpaulinische For­ mulierungen noch aufweisbar sind. War in Kapp. 1–3 von der Erlösertat Christi als Werk Gottes die Rede – Gott hat Jesus „hingestellt“ als Sühnopfer / Sühnort (3,25) –, so spricht die paulinisch aufgefüllte Bekenntnisformel Röm 4,25 zwar verdeckt von Gott (pass. div.), aber Christi Dahingabe und seine Auferweckung

Christologie und Soteriologie 

591

erhalten ein soteriologisches Eigengewicht. Das verstärkt sich in 5,1: Friede mit Gott ist hergestellt „durch unseren Herrn Jesus Christus“, ebenso (καί / kai) der Zugang zur Gnade Gottes (5,2); Christus ist für uns gestorben (5,6), er bewahrt uns „durch sein Blut“ vor Gottes Zorn (5,9) und versöhnt uns durch seinen Tod mit Gott (5,10 f). In 5,15 ist von der Gnade Jesu Christi die Rede, die den Vielen zur Gerechtigkeit verhilft, wenn auch diese Gnade letztlich auf Gottes Willen zurückgeführt wird. Und „durch die Gerechtigkeit des Einen“ ist die „Rechtfer­ tigung für alle Menschen gekommen, die zum Leben führt“ (5,18), wenn auch diese Gerechtigkeit im absoluten Gehorsam des Einen (Johannes: im Einssein des Sohnes mit dem Vater) gründet. Christologie und Soteriologie sind nicht losgelöst von Gottes Willen und Wirken, erhalten aber sowohl theologisch wie auch in ihren Auswirkungen auf die Anthropologie in den Kapp. 5–7, bes. auch im Taufkapitel 6, ein Eigengewicht (vgl. zum Sowohl–Als auch von Bindung und Eigengewicht 6,23b; 7,25a). Das Entscheidende an Christi Tat ist seine Mittlerfunktion. Vermittelt durch sein Werk „haben wir Frieden mit Gott“ (5,1). Das ist das Ende eines „Kriegszu­ standes“19, der seit dem Sündenfall herrschte. Es ist kein brüchiger Frieden, ist keine Abwesenheit von Feindschaft, sondern es ist von nun an immerwährende, eschatologische Versöhnung „durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, δι’ οὗ νῦν τὴν καταλλαγὴν ἐλάβομεν / dia tou kyriou hēmōn Jēsou Christou, di’ hou nyn tēn katallagēn elabomen [5,11]). 5,1 und 5,11 sind Klammerverse, die alles, was dazwischen steht, als Mittlerwerk Christi einstufen und die den geschenkten Frieden mit Versöhnung mit Gott gleichsetzen. Die eschatologische Ausrichtung der Versöhnung geht aus den entsprechenden Zukunftsaussagen hervor: Wir dür­ fen uns der Hoffnung auf die „zukünftige Herrlichkeit“ rühmen, die Gott geben wird (5,2), und wir werden ganz gewiss „selig werden“ durch das Leben seines Sohnes, „nachdem wir nun versöhnt sind“ (5,10). Versöhnung, Frieden mit Gott ist das Ende eines Prozesses, der von Gott aus­ geht „durch unsern Herrn Jesus Christus“ (5,1). Er umfasst Vergebung der Sünden vergangener Generationen (3,25 f) und früherer Existenzweisen (5,6.8), Gerecht­ machung des alten Menschen, so dass er zu einer neuen Schöpfung werden kann (5,1; 2.Kor 5,17), und schließlich das Ende der ὀργή / orgē, des Zornes Gottes (5,9). Das dauerhafte Ende des Zornes Gottes ist die Rückseite der Versöhnung. Somit ist Versöhnung sowohl Prozess wie auch Endpunkt des Prozesses20, – und das, weil Gottes Gnade viel mächtiger ist als sein Zorn (5,20). Ex 34,6 lässt grüßen. 19 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen-Vluyn 1962, S. 210 f. 20 Man könnte auch sagen: Sündenvergebung, Rechtfertigung, Neuschöpfung sind die Spu­ ren auf dem Heilsweg Gottes in der Zeit, während Versöhnung alles in einem ist schon jetzt und erst recht dann bei Gott. Bei Gott koinzidieren die Zeit-Spuren in der Versöhnung. Insofern wird das theologische Profil verwischt, wenn man – wie G. Bornkamm – sagt: „Beide Heilsbegriffe

592

Der Römerbrief

Versöhnung ist Gabe Gottes, sein Angebot an die Welt. Gleichwie der Bund von Gott ausging, so dass der Mensch in ihn eintreten konnte, so geht auch die Versöhnung von ihm aus (2.Kor 5,19), und der Mensch kann in die ausgestreckte und nie wieder zurückgenommene Hand Gottes einschlagen. Versöhnung ist der Inhalt des neuen Bundes! Freilich ist das Heil noch nicht endgültig da (2.Kor 5,7), aber „näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden“ (Röm 13,11). Darum sieht sich Paulus auch um Christi willen in der Pflicht, zum Ergreifen der Hand Gottes aufzurufen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2.Kor 5,20). Solange diese Welt be­ steht, gibt es Bedrängnis und Bewährung, die man besteht oder der man erliegt (5,3.4), und das Endgericht kennt Gute und Böse (2.Kor 5,10). Aber die Chance, neuer, mit Gott versöhnter Mensch zu werden, ist für jeden gegeben (6,12–14). Er möge sie in aktiver Rezeptivität ergreifen!21 Der neue Bund impliziert Versöhnung, Versöhnung impliziert Zugang im Glauben zum Gnadengeschenk des Friedens (5,2). Man kann auch sagen: Zugang zu Gott durch das Kreuz Jesu Christi. Das Kreuz ist der Sühn- und Gnadenort (5,9: „durch sein Blut“ [Rekurs auf 3,25]), Ort des Zugangs zu Gott und Ort der Be­ gegnung mit ihm. Der Zugang war bisher nur in Ausnahmefällen möglich (Ex 24; 34; Jer 30,21). Jetzt wird er immer möglich sein dank des Friedens mit Gott. – Die Form der Versöhnung beschreibt Paulus in Bildern des großen Versöhnungstages: Gott hat „den, der von keiner Sünde wusste“ (Hier klingt beides mit: 1. wie das Opfertier; 2. den absolut Gehorsamen), „für uns zur Sünde gemacht“ (d. h.: die Sünde auf ihn geladen als Subjektübertragung an unserer Stelle), damit wir in ihm die Gerechtigkeit Gottes bekommen (eig. Übers.) (2.Kor 5,21). Wie die Feindschaft mit Gott alles mögliche Unrecht hervorbringt, Habgier, Neid, Mord, Frevel usw. (1,29 f), so ist der Frieden mit Gott Grundlage und con­ ditio sine qua non aller Liebe, allen Erbarmens und allen Rechtes unter den Men­ schen, vornehmlich und vorbildhaft in der Gemeinde. Wohlgemerkt: Es ist ein Frieden, der von Gott ausgeht, eben vom Gott des Friedens. Vorerst ist im Röm wie auch im 2.Kor die darauf gründende Ethik noch auf Richtlinien beschränkt, im Röm wird sie in den Kapp. 12–15 entfaltet. Hier jedoch folgt aus der „Liebe Gottes“, die „ausgegossen ist in unsere Herzen“: Geduld in Bedrängnis, Bewäh­ rung in Nöten, Hoffnung in Ängsten (5,3–5; vgl. 2.Kor 6,3–10). Es reicht, auf die paulinischen Kernstellen der Versöhnungstheologie in Röm und 2.Kor zu verweisen. Die Deuteropaulinen Kol und Eph geben wenig Neues her. – Im Kol ist die Versöhnung in einen Christuspsalm integriert (Kol 1,20). Sie geht von Gott aus und ist „Frieden“ durch Christi Blut am Kreuz. Sie wird dadurch, dass in Christus „alle Fülle“ (scil. Rechtfertigung und Versöhnung) können geradezu synonym gebraucht werden“ (G. Born­ kamm, Art.: Paulus, in: RGG3V, Sp. 186). 21 Vgl. O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, a. a. O., S. 211; s. auch oben unter NT 7.3.8 (Jesus, der neue Mensch), dort Anm. 41; NT 7.4 (Das Gottesbild); Teil 1, AT 3.4.17 (Die Gottes­ knechtslieder, Das Knechtsbild nach Jes 52,13–15; 53,11b-12).

Christologie und Soteriologie 

593

wohnt, zur Allversöhnung, „sei es auf Erden oder im Himmel“. Es folgt Zuspitzung auf „euch“, die ihr nun auch „versöhnt“ seid, und Paränese, die erworbene Heiligkeit und Makellosigkeit zu bewahren (Kol 1,21–23). – In Eph 2,11–18 geht es um die Einheit der Gemeinde aus Juden und Heiden. Sie ist möglich geworden durch das Opfer Christi (Eph 2,14). Dieser Gedanke ist unpaulinisch; denn das Opfer Christi bezieht sich nach Paulus auf das Sündersein des Menschen schlechthin, und erst durch die Rechtfertigung des Sünders ist es Juden und Heiden möglich, sich gemeinsam unter dem Kreuz wieder­ zufinden. In Eph 2,14 hingegen scheint der Opfertod Mittel zum Zweck eines Friedens zwischen bundestreuen Juden und gottlosen Heiden zu sein (Eph 2,11 f). Überhaupt wird paulinische Begrifflichkeit hier inhaltlich völlig anders gefüllt. „Feindschaft“ ist Feindschaft zwischen Juden und Heiden und nicht Feindschaft des Menschen gegenüber Gott (Eph 2,14); der „neue Mensch“ ist der eine aus Juden und Heiden, den Christus „in sich selber“ repräsentiert; Versöhnung geht nicht von Gott aus, sondern von jenem Repräsentanten, Versöhnung für Juden und Heiden. Soll man sich das so vorstellen, dass er am Kreuz „die Feindschaft tötete“ (wenn ja, welche?) (Eph 2,16), oder so, dass er das Evangelium vom Frieden predigte beiden Gruppen, denen die schon nahe an Gott sind und denen die jetzt hinzugekommen sind, so dass beide „in einem Geist den Zugang zum Vater haben“ (Eph 2,17 f)? Im ersten Fall wäre es „das Opfer seines Leibes“ (Eph 2,14), im zweiten das Opfer seines Lebens22. Positiv wird man vermerken dürfen, dass „inmitten einer Welt von Grenzen und Mauern, trennenden Gesetzen und gegen­ seitigen Feindschaften … tatsächlich ein Raum des Friedens entstanden“ war, der eine religiös begründete Antwort auf die damalige allgemeine Friedenssehnsucht war23.

Konnte Paulus bei der Beschreibung der Erlösungs- und Versöhnungstat Christi bisher auf die Kultmetaphorik des Sühnopfers und des großen Versöhnungstages zurückgreifen, wird er nun im Rahmen seiner Tauftheologie ein eigenes soteriolo­ gisches Modell entwickeln. Als sein eigenes sehe ich es an, weil es sich an dem von ihm favorisierten Bekenntnis orientiert, das er prinzipiell (ἐν πρώτοις / en prōtois = als Erstes, als Wichtigstes) in den Mittelpunkt seiner gesamten Verkündigung stellt: „dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt ist am dritten Tage nach der Schrift, und dass er erschienen ist dem Kephas, danach den Zwölfen“ (1.Kor 15,3–5). Dieses Bekenntnis spiegelt sich in seinen ersten drei Teilen in dem von Paulus vorausgesetzten Taufwissen wider, wobei das stark christologisch ausgerichtete Bekenntnis in 6,3 deutlich soteriologisch aufgeladen wird. Der Tod Christi be­ kommt eine klare Heilsbedeutung; denn wir sind in seinen Tod getauft, wir sind mit ihm begraben. Der Tod Christi und sein Grab ermöglichen den Tod und das Grab unseres alten Adam, das Ende unserer ausschließlichen Bestimmtheit durch die Sünde (6,6). Da jedem Ende ein neuer Anfang innewohnt (ἵνα / hina = damit [6,4b]), haben wir auch teil an der Auferweckung Jesu von den Toten, indem wir 22 Man fühlt sich bei einer solchen Art der Friedensstiftung an Rabbi Jochanan ben Zakkai erinnert (s. o. unter NT 4.1 zur Seligpreisung der Friedensstifter). 23 G. Kittel, Der Name über alle Namen II, a. a. O., S. 200.

594

Der Römerbrief

nun „in einem neuen Leben wandeln“. Der neue Wandel ist das Leben gemäß der ursprünglichen Bestimmung als Kinder Gottes (8,14–17) bzw. das Leben abseits der Sünde für Gott in Christus Jesus (6,11). So hat auch die Auferweckung eine Heilsbedeutung als Geburt des neuen Menschen24. Die Taufe ist das Bindeglied zwischen Christus und uns (6,3; vgl. 2.Kor 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“). Gott hat in der Auferweckung (sic!) Jesu den Ermöglichungsgrund für den neuen Menschen gelegt. Mit Christus verbunden bzw. gleichgestaltet, hat dieser alle Chancen, mit ihm zu leben (6,8). Indes lebt er noch in dieser Welt, in diesem „sterblichen Leib“ (6,12) und noch nicht „in der Auferstehung“ (6,5; vgl. 2.Kor 5,7). Somit ist der neue Lebenswandel mit einem Sollen verbunden25. Dieses wird ab 6,12 ff richtlinienartig als Imperativ ausgezogen: der Sünde keine Tür öffnen, Be­ gierden nicht zulassen, sich nicht dem Unrecht, sondern Gott verschreiben. Trotz Waffenmetaphorik („Waffen der [Un]gerechtigkeit“) kein Kriegs-, sondern ein Friedensprogramm26. Dem Sollen muss aber auch ein Können voraufgehen, und das ist Gottes Gnadengeschenk in Jesus Christus: das von der Macht der Sünde be­ freite und seiner Bestimmung wieder übergebene Ich (7,20.23). Der Imperativ ist eingefasst zwischen Tauflehre (6,3 ff) und Erlösungsbewusstsein (7,24 f). So kann Paulus am Schluss seine zwischen Gut und Böse zerrissene Existenz durchbrechen mit dem danksagenden Befreiungsruf: „Ich elender Mensch! Wer wird mich er­ lösen von diesem Leib des Todes? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Auf engstem Raum ist hier Theo-logie, Soteriologie und Anthropologie miteinander in Beziehung gesetzt: Gott ist der positiv Handelnde, Jesus Christus der Heilsmittler, Ziel ist die Rettung des von der Sünde besetzten Menschen. Das Ganze ist Versöhnung als Prozess und als eschatologischer Endpunkt.

24 Ich belasse es beim präsentisch-eschatologischen Ausblick. Der futurisch-eschatologische fasst parallel dazu unsere Auferstehung ins Auge, was aber für soteriologisch bestimmte Anth­ ropologie und Friedensethik nichts austrägt. 25 In 6,4 liegen Sein und Sollen ineinander. Der Konjunktiv Aorist περιπατήσωμεν / peri­ patēsōmen ist von ἵνα / hina = „damit“ abhängig, kann also indikativisch übersetzt werden. Er kann aber auch mit „Sollen“ wiedergegeben werden. 26 Gleiches gilt auch für Eph 6,10–17. Die Waffenmetaphorik „Waffenrüstung Gottes“, „Pan­ zer der Gerechtigkeit“, „Schild des Glaubens“, „Helm des Heils“, „Schwert des Geistes“ sym­ bolisiert den geistig-geistlichen Kampf gegen den Bösen, den „Teufel“ (6,11) und zielt auf die Verkündigung des „Evangeliums des Friedens“ (6,15). Keineswegs richtet sich der Kampf gegen „Fleisch und Blut“ (6,12), sondern gegen die „bösen Geister unter dem Himmel“ (ebd.).

Soteriologie und Anthropologie 

595

8.3 Soteriologie und Anthropologie (Röm 8) Röm 8 lässt sich als Zusammenfassung bisheriger theologischer Linien des Paulus lesen. Was in Röm 6 bezüglich der Taufe gesagt war, gilt hier für das Leben im Geist27. Auch dieses mündet selbstredend in ein Verhalten, das mit der Begriff­ lichkeit christlicher Richtlinien beschreibbar ist. Das „in Christus“ geschenkte Leben im Geist enthebt nicht des In-der-Welt-Seins, d. h. des Kampfes gegen das „Fleisch“. Diesen Kampf hat Gott im Kreuz bereits gewonnen, und damit ist dem Mensch die Möglichkeit gegeben, den Geist Gottes auch in sich selbst wohnen zu lassen. Am ehesten lässt sich die Korrelation von Taufe und Geistempfang im Vergleich von Röm 6,10 f und 8,3 f zeigen (eig. Übers.): Röm  6,10 f

Röm  8,3 f

Christologie bzw. Soteriologie (negative Umschreibung)

Denn was er abgestorben ist, ist er der Sünde abge­ storben für immer,

Gott sandte seinen Sohn in der Gleichgestalt des Sündenfleisches (und um der Sünde willen)

Christologie bzw. Soteriologie (positive Umschreibung)

was er aber lebt, lebt er Gott.

und verurteilte die Sünde im Fleisch, damit die Ge­ rechtigkeit …  erfüllt werde in uns,

Ethik

So auch ihr: die wir nimmer nach dem Haltet euch für Tote zwar Fleisch wandeln, sondern bezüglich der Sünde, für nach dem Geist. Lebende aber im Blick auf Gott in Christus Jesus.

Das pattern ist das gleiche: Bedeutung des Kreuzestodes, Bedeutung der Auferweckung, Wandel des neuen Menschen (vgl. auch 6,3 f, wo – wie 8,4 – ausdrücklich vom „Wandeln“ [περιπατεῖν / peripatein] die Rede ist). Während in 6,10 f Christologie und Soteriologie noch für sich getrennt erkennbar sind (Soteriologie hier mit Ethik verschränkt), sind beide in 8,3 f ineinander verwoben: Durch die „Gleichgestaltung des Sündenfleisches“ ist der „Sohn“ einer von uns, „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (8,29); durch das Gericht über die Sünde in seinem Fleisch werden wir gerecht. Die Formulierung von 8,3 f ist im Wesentlichen paulinisch, wenn Paulus auch aus Phil 2,7 („in Gleichgestalt 27 Auch in Apg sind Taufempfang wie auch Geistempfang Möglichkeiten der Teilhabe am Christusereignis. Taufempfang allein: Apg 8,37 f; Geistempfang allein z. B. Apg 5,32; Geist­ empfang und Taufe zugleich: Apg 2,38; 9,17 f; 18,8; Taufe vor Geistempfang: Apg 8,14–17; Geist­ empfang vor Taufe: Apg 10,44–48.

596

Der Römerbrief

von Menschen …“) zitiert. Der Inhalt mag aus liturgischem Gut stammen28, aber Paulus benutzt ihn, um noch einmal zu vertiefen, was sich in 6,3 ff als seine ureigene Kreuzesund Auferstehungstheologie herausgestellt hat. Denn die Frage, wie und warum die Sünde des Menschen am Kreuz Christi begraben worden sei, ist noch nicht endgültig beantwortet. Paulus argumentiert nun: Gott sandte seinen Sohn als Mensch wie wir, der Macht der Sünde preisgegeben, mit Sünde belastet29; so bot der Sohn exemplarisch und für alle Menschen (8,29) das Feld, auf dem Gott die im Fleisch steckende Sünde richten konnte. Nachdem die Sündenmacht auf diese Weise gebrochen war, konnte die „Gerech­ tigkeit“ auch „in uns“ wirksam werden. Am Kreuz stirbt der mit allen Zügen des alten Menschen Belastete, und es wird auferweckt der neue „geistliche“ Mensch. An dieser Neuwerdung haben wir teil, wenn und weil der Geist Gottes auch in uns wohnt (8,11). War in 6,3 die Taufe das Bindeglied zwischen Christus und uns, so ist es hier der Geist.

Der neue Mensch lebt freilich auf dem Kampffeld dieser Welt und hat seine geistliche Existenz stets zu bewähren. Das war 5,3–5 programmatisch vorweg­ genommen, im Zusammenhang mit der Taufe ausgeführt (6,12–14) und hier wiederholt (8,5–13). Der neue Mensch zeichnet sich durch einen neuen „Sinn“ (φρόνημα / phronēma) aus. Alter und neuer „Sinn“ (ethisch wirksamer Wesens­ kern) werden in 8,5–13 gegenübergestellt: fleischlich gesinnt

geistlich gesinnt

=>Tod

=>Leben und Friede

Feindschaft gegen Gott

Gott einwohnen lassen

Daran ist zweierlei bedeutsam. Erstens: Geistlich gesinnt sein ist gleichbedeutend mit Frieden haben. Es ist der Friede mit Gott (5,1), der durch Gottes Versöhnungs­ werk geschenkt ist (5,10; 2.Kor 5,19 f), und Friede ist wahres Leben, welches sich auf alle Menschen auswirkt (12,18: „Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“). Zweitens: Der geistliche Mensch lässt Gott in sich wohnen, gibt Gott Raum, lässt Gott an sich walten. Es ist eine Haltung der Passivi­ tät, des Aufnehmens und nicht der Aktivität, des Ergreifens, ähnlich wie es auch beim geschenkten Frieden der Fall ist. Diese Haltung korreliert mit dem Recht­ fertigungsgeschehen, das aus Gnade und nicht aus Verdienst geschieht (3,24). Das Gegenteil davon ist die Feindschaft gegen Gott. Feindschaft setzt Aktivität und Machtusurpation voraus: Der Mensch greift nach dem, was Gottes ist. Noch ein Wort zur Struktur von 8,3, in Sonderheit zum Element καὶ περὶ ἁμαρτίας / kai peri hamartias = und um der Sünde willen. Der Text lautet: ὁ θεὸς τὸν ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί, ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῶν 28 E. Käsemann, An die Römer, a. a. O., S. 208: die Sendung des Sohnes. 29 Durch welchen Umstand auch immer, wahrscheinlich durch stellvertretende Übernahme.

Soteriologie und Anthropologie 

597

τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα. Gott sandte seinen Sohn in der Gleichgestalt des Sündenfleisches und um der Sünde willen und verurteilte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit des Gesetzes in uns erfüllt werde, die wir nimmer nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.

Paulus hält sich an die überkommene bekenntnisartige Struktur Sündentötung – Gerechtmachung – Heiligung. Dabei zitiert er: „gesandt in der Gleichgestalt …“, benutzt aber auch eigene Kontrastbegriffe (Fleisch – Geist); und weil es hier auch um den Stellenwert des Gesetzes geht (eigentlich „heilig, gerecht und gut“ [7,12], sogar „geistlich“ [7,14]), wird „die Gerechtigkeit des Gesetzes“ in uns erfüllt, wobei „des Gesetzes“ auch fehlen könnte, hier aber von Paulus aktuell spezifi­ ziert ist. Dass die Heiligung mit dem Verb „wandeln“ umschrieben wird, ist be­ kannt (6,4). – Was aber geschieht mit der Wendung „und um der Sünde willen“? Sie schießt über und wirkt pleophorisch; denn dass es um die Sünde geht, wird davor und danach zur Genüge deutlich. Nur wenige Minuskeln allerdings lassen sie weg, sie ist in den Handschriften bezeugt. Allein das will nichts besagen. Hätten wir nicht den Hinweis auf die wenig wertvollen Minuskeln und dadurch das überwäl­ tigende Gegenüber der Handschriften, würde man nicht auf die Idee kommen, den Handschriften Recht zu geben. Man würde im Gegenteil die Wendung für eine Glosse halten30. – Lässt man sie aber als ursprünglich gelten, muss man sich für eine Übersetzungsmöglichkeit entscheiden. Eine Option wäre „und um der Sünde willen“. Um einer sinnlosen Pleophorie zu entgehen, schlägt O. Michel vor: „um die Sünde auf ihrem Gebiet (nämlich im Fleisch, wo sie wohnt) zu überwin­ den“31. Die kausale Wendung „um … willen“ hätte zugleich eine lokale Färbung: „auf dem Feld der Sünde“. Aber die Pleophorie wäre dadurch nicht wirklich über­ wunden. E. Käsemann meint, der Pleophorie entgehen zu können durch kult­ technischen Gebrauch der Wendung: „um des Sühnopfers willen“ = „als Sühnop­ fer“. Tatsächlich hat er die Septuaginta-Übersetzung von Lev 16,3.5.9.15.25 (περὶ ἁμαρτίας / peri hamartias = als Sündopfer; v 25 im Plural) sowie Lev 16,6.11.27 mit Artikel für sich, was sich in Hebr 10,6.8; 13,11 wiederholt. Allerdings ist an anderen ntl. Stellen auch der einfache Sinn „für (unsere) Sünden“ gegeben (Hebr 10,12.18; 1.Petr 3,18). So ist die Übersetzung „als Sündopfer“ zwar mög­ lich, aber nicht notwendig. Halten wir das Mögliche für echt, wäre hier neben 3,25 f die zweite Stelle im Röm, wo uns die Sühnopfertheologie begegnet. Im Zusam­menhang des ganzen Verses müssten wir vom stellvertretenden Sühnetod Christi sprechen. Nun ist Paulus die Sühnopfertheologie zwar geläufig (3,25 f; 30 So schon A. Jülicher in seiner Exegese von Röm 8,3 (vgl. dazu O. Michel, Der Brief an die Römer, Göttingen 41966, S. 190 Anm. 2). 31 O. Michel, a. a. O., S. 190.

598

Der Römerbrief

1.Kor 11,23–25; 10,16), er kann mit ihr argumentieren, aber es ist nicht sein urei­ gener Zugang zur Heilsbedeutung des Todes Jesu. Der besteht im Mit-Sterben, Mit-Begraben-Werden, Mit-Auferweckt-Werden mit Christus bzw. den entspre­ chenden Ableitungen: Verurteilung der Sünde stellvertretend in Jesu Fleisch, Er­ strahlen der Gerechtigkeit auch in uns. Von daher ist „und um der Sünde willen“ nicht nur aus stilistischen, sondern auch aus paulinisch-theologischen Gründen zu streichen. Hinzu kommt noch ein formales Argument: Wenn der christologische Weg der Er­ niedrigung und Erhöhung (Phil 2,6–11) bei Paulus im Hintergrund steht, dann hätte er ihn hier soteriologisch aufgeladen. Der Weg ist 2 × 2stufig: Entäußerung, Erniedri­ gung // Erhöhung, Proskynese (Phil). So auch Gal 4,4 mit soteriologischem Ziel: Sen­ dung, unter das Gesetz getan // Erlösung, Kindschaft. So auch Röm 8,3: Sendung, Ver­ dammung der Sünde // Erfüllung (mit) der Gerechtigkeit, Wandel im Geist. In dieser Struktur wirkt ein zusätzlich mit „und“ eingefügtes Glied ausgesprochen störend.

Das gesamte „Leben im Geist“ ist eingespannt zwischen zwei formelartigen Be­ kenntnissen, die beide von Paulus so formuliert zu sein scheinen. Das eine ist 8,3b4, das andere 8,3232. Es läuft auf das Gleiche hinaus, was das Selbstverständnis des geistlichen Lebens besagt: „Wie sollte uns Gott mit Christus nicht alles schenken?“ Nichts am geistlichen Leben entspringt – anders als in der Stoa33 – geistigen Fä­ higkeiten: Erlösung hat nichts mit Loslassen-Können zu tun, sondern mit Sehn­ sucht, Hoffnung und – nur daraus entspringend – mit Geduld (8,23–25). Alles am neuen Leben ist Geschenk: Sündentilgung, Rechtfertigung, Frieden mit Gott, Versöhnung (3,25 f; 4,25; 5,1 ff). Darum kann Paulus ausrufen: „Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (7,25). Noch einmal beschreibt Paulus den Verlauf der Erlösungstat: „Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat …“: Gottes Eigenes setzt sich der Welt, wie sie ist, aus; Gott selbst in Christus kommt nicht in einen Schonraum, sondern gibt sich total in die Welt hinein. Röm 8,32 sagt: „… sondern hat ihn für uns alle dahingegeben: Paulus greift den Ausliefe­ rungsgedanken der Passionserzählung auf34 (παραδιδόναι / paradidonai = aus­ liefern, verraten), münzt ihn aber im Sinne der Dahingabe um (vgl. schon 4,25). Dahingabe ist für ihn auch Preisgabe (vgl. 1,24.26.28). So hat Gott seinen Sohn „für uns alle“, für Juden und Heiden, in die Welt und in den Machtbereich der Sünde hineingegeben, er hat ihn „gesandt“ (8,3). Dann ist passiert, was passieren musste: der Tod am Kreuz. Gott hat das Opfer nicht gefordert. Wenn es aber nun 32 E. Käsemann, An die Römer, a. a. O., S. 239. 33 Das „Ertrage-und-Entsage“ Epiktets ist „durch methodisierte Pädagogik“ zu erreichen und so zu einer sittlichen Kompetenz geworden (R. Weber, „Die Distanz zur Welt bei Epiktet, Jesus und Paulus“ in: B. Kollmann, W. Reinbold, A. Steudel [Hg.], Antikes Judentum und frühes Christentum [FS H. Stegemann zum 65. Geburtstag], Berlin 1999, S. 335). 34 die mündlich umlief, bevor sie schriftlich fixiert wurde und von daher Paulus in Grund­ zügen bekannt gewesen sein dürfte.

Gottesbild und Ethik 

599

so passiert ist, hat es einen Sinn: Im „Dahingegeben“ schwingt auch die Verurtei­ lung der im Tod übernommenen Sünde mit und damit letztendlich die Rettung für uns. Denn was die Sünde an Bösem zu tun imstande war und ist, das hat Gott ein für allemal gewendet zu unseren Gunsten35. Diese durch nichts zu ersetzende Liebe Gottes (primär als genitivus subiectivus, dann aber auch als genitivus obiec­ tivus) lässt Bedrängnis, Angst, Verfolgung, Gefahr und sogar „Schwert“ aushalten (8,35), ja, lässt Christen zu Märtyrern werden (8,36). Der Sieg über die Bedroher des Lebens liegt nicht im Kampf und „Schwert“, sondern in dem durch nichts zu zerstörenden Vertrauen, in der Liebe Gottes in jeder Lage, auch im Tod, geborgen zu sein. Ein Friedensprogramm, das fast der Bergpredigt gleichkommt, das aller­ dings das Martyrium einschließt. Aber nicht, um Christus ähnlicher zu werden (s. Stephanus Apg 7,54–60), sondern um gerade darin die Liebe Gottes zu bezeugen.

8.4 Gottesbild und Ethik (Röm 12–15) Ethische Implikationen sind in den vorangegangenen Kapiteln bereits aufgetaucht, eher als Richtlinien für das Leben in Christus bzw. im Geist oder als Haltung des neuen Menschen. In den Kapp. 12–15 stellt sich die am Gottesbild orientierte Ethik36 explizit dar. Sie kreist um – das „Erbarmen Gottes“ (12,1–8) – den „Zorn“ (Gottes) (12,9–21) – die Ordnung Gottes (13,1–7) – die Gebote Gottes (13,8–10) – das Kommen Gottes (13,11–14) – die Annahme durch Gott (14,1–13) – die Herrschaft Gottes (14,14–23) – die Annahme durch Christus (15,1–13) (der Juden und der Heiden, besonders aber der Heiden) 12,1–8: Alles, was Paulus bisher zu Gottes Wesen und Wirken geschrieben hat, lässt sich zusammenfassen als das „Erbarmen Gottes“ (12,1; vgl. die übergroße Gnade 5,20). Dieses Erbarmen ist die Grundlage für christliches Leben und Ver­ halten (12,1: „ich ermahne euch nun … angesichts [διά / dia mit gen. = wegen, angesichts] des Erbarmens Gottes …“). Es steht als Orientierungspunkt über aller in den Kapp. 12–15 entwickelten Ethik und kann somit letztlich auch nur mensch­liches „Erbarmen“ = „Füreinander-Dasein“, d. h. solidarisches, konstruk­ 35 Vgl. dazu G. Scholz, „Der Tod Jesu Christi. Gedanken im Anschluss an den EKD-Grund­ lagentext ‚Für uns gestorben‘“ in: KuD 62/2016, S. 31. 36 Nach allem über Gott Gesagten ist die Ethik damit indirekt auch an Soteriologie und Anthropologie orientiert.

600

Der Römerbrief

tives, friedliches Gestalten des christlichen Gemeinwesens hervorbringen. – In 12,1–8 geht es, abgeleitet aus der Barmherzigkeit Gottes, darum, sich mit dem ganzen Leben in den Dienst Gottes und damit in den Dienst der Gemeinde zu stellen37. Das setzt eine Wende im Denken voraus (12,2) und führt zu einem soli­ darischen (Gemeinschaftsaspekt) und an Fähigkeiten orientierten (individueller Aspekt) Miteinander im Geist Christi (12,3–8). 12,9–21: In diesem Abschnitt scheint sich die Paränese von 12,1–8 und damit die Spiegelung des Erbarmens Gottes fortzusetzen. Das ist makrostrukturell auch richtig, insofern 12,1 Überschrift über alles Folgende ist. Die Mikrostruktur von 12,9–21 hat jedoch einen anderen Bezugspunkt: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn (Gottes); denn es steht geschrieben: ‚Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr‘“ (12,19). Da also Zorn und Vergeltung getrost abgegeben werden können, bleibt für das Leben im Geist Jesu Christi genügend Raum. Die Umschreibung des geistlichen Lebens erinnert an die Bergpredigt: Segnung der Verfolger statt Verfluchung (12,14; vgl. Lk 6,27 f), Vergeltungsverbot (12,17a; vgl. Lk 6,29)38; Gutes tun und Friedensgebot, „soweit es euch möglich ist“ (12,17b.18; vgl. Lk 6,35). Die Einschränkung „soweit es euch möglich ist“ ist dem paulinischen Realismus geschuldet. Zugleich ist aber auch eine Entschränkung zu beobachten: Während in 12,1–8 solidarisches und friedliches Miteinander auf den engeren Kreis der Gemeinde bezogen war, ist in 12,9–21 die Welt im Blick. Die Verfolger (12,14) kommen von außen; „allen Menschen“ soll Gutes zuteil werden, niemandem soll Böses mit Bösem vergolten werden, Friede soll, wenn möglich, mit allen Menschen gehalten werden. Dieser Panhumanismus bezieht natürlich auch den Feind mit ein, er ist zur Not mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen (12,20; vgl. Lk 6,35). Ein derartiges radi­ kales Friedenshandeln ist begründet im Erbarmen Gottes über alle Menschen (Juden und Heiden) und ist ermöglicht durch das Ablegen aller Rache in Gottes Hand. Es bleibt bedroht durch das Böse, das nach wie vor einbrechen kann, wenn man sich der Welt angleicht (12,2). Das Böse ist indes überwindbar durch das Tun des Guten (12,21), wozu ein gewandeltes und erneuertes Denken (12,2) befähigt. 13,1–7: Die Ordnung Gottes, sein ordnendes Handeln39 zielt auf Recht und friedliches Zusammenleben im weltlichen Gemeinwesen. Strukturelle Gewalt (ἐξουσία / exousia „Obrigkeit“ [Luther], „staatliche Gewalt“ [EÜ]) gilt daher als „von Gott eingesetzt“ (13,1 f). Solange staatliche Gewalt auf den Gott der Ordnung und des Friedens (vgl. 1.Kor 14,33) bezogen bleibt, ist ein Missbrauch staatlicher Gewalt unter angeblich göttlicher Autorität nicht zu befürchten, im Gegenteil: 37 Sich „als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer“ einzubringen, ist „Kultme­ taphorik“. – Die in der Präambel des Grundgesetzes beschworene Verantwortung vor Gott und den Menschen hat hier einen Ursprung. 38 Vgl. auch 1.Petr 3,8 f. 39 διαταγή / diatagē bezeichnet die Handlung des Verfügens und Anordnens.

Gottesbild und Ethik 

601

die Staatsgewalt wird rechtsprechend und friedensfördernd wirken. Paulus kennt offenbar die Erfahrung der Unordnung und möchte Anarchie in keiner Weise fördern: „Alles lasset geschehen zum Aufbau“ (1.Kor 14,26); das gilt für Gemeinde und Gesellschaft (vgl. 1.Kor 10,23; 6,12)40. 13,8–10: Unter dem Licht des Erbarmens Gottes sind auch die Gebote zu sehen. Ihr Zentrum, ihr „hermeneutischer Schlüssel“, ist die Nächstenliebe. Hier bezieht sich Paulus, ähnlich wie schon bei der Beschreibung des geistlichen Lebens 1­ 2,9–21, auf christliches Allgemeinwissen (Mk  12,28–31 / Mt  22,34–40 / Lk  10,25–28). Dass Gottes Erbarmen sein Pendent in der Nächstenliebe hat, steht außer Frage. Dass Nächstenliebe friedensfördernd ist, ebenso; denn sie „tut dem Nächsten nichts Bö­ ses“ (13,10). Dass Liebe und Frieden geradezu ein Zwillingspaar sind, hat Paulus zuvor im Hohenlied der Liebe 1.Kor 13,4–8a entfaltet. 13,11–14: Laster sind abzulegen, u. a. Streit und Eifersucht; „anzuziehen“ ist der Herr Jesus Christus, die Wende im Denken ist – neben der Taufmetaphorik – wieder angesprochen. Und das, weil der Tag der Wiederkunft des Herrn nahe ist. Ethik des Friedens ist hier betont eschatologisch begründet. 14,1–13: „… Denn Gott hat ihn angenommen“ (14,3c). Folge von Gottes Erbar­ men. Der Satz ist in der Gemeinde gesprochen vor dem Hintergrund von Christen jüdischer und heidnischer Herkunft. Beide hat Gott angenommen. Beiden gilt sein Erbarmen; denn: „Alle haben gesündigt und ermangeln der Herrlichkeit Gottes …“ (3,23 f). Gott steht zum gläubigen und dankbaren Judenchristen wie Heidenchristen. Sein Erbarmen über beide ist das Pendent zur für beide gelten­ den Daseinsweise als Sünder. Gottesbild und Menschenbild bzw. Soteriologie und Anthropologie sind eng aufeinander bezogen. – Dieses Wissen möge zur gegen­ seitigen Annahme führen und nicht zu Trennungen aufgrund unterschiedlicher handlungsleitender Gedanken (μὴ εἰς διακρίσεις διαλογισμῶν / mē eis diakriseis dialogismōn [14,1]). Streit und Spaltungen mögen vermieden, individuelle Über­ zeugungen toleriert werden zum Wohl der einen Gemeinschaft, die Christus, den Gestorbenen und lebendig Gewordenen, als ihren Herrn bekennt. Mit dem bes­ serwisserischen Richten möge es sich ähnlich verhalten wie mit der Vergeltung: Man möge es getrost Gott überlassen. Ein tragfähiges Friedenskonzept für die Gemeinde. 14,14–23: Christi Herrschaft ist Gottes Herrschaft (14,17 f), und in Gottes Herrschaft zählen Speisegesetze oder Speisefreiheiten, zumal wenn sie Anlass zum Anstoß und damit zum Unfrieden geben, zu den Adiaphora. Vielmehr ist Gottes Herrschaft „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“, nur das zählt in Gottes Reich (14,17). – Darum (ἐν τούτῳ / en toutō) kann und soll man Christus 40 Erfahrungen staatlicher Verfolgung, wie sie Petrus und andere Apostel nach Apg 5,29 gemacht haben, oder das Erleben des Staates als antigöttliches Ungeheuer (Offb 13) sind Paulus offenbar unbekannt. Seine Verhöre vor Felix, Festus und Agrippa laufen lt. Apg quasi „rechts­ staatlich“ ab.

602

Der Römerbrief

dienen (14,18a). D. h.: Was Gottes Sphäre auszeichnet, das kann und soll auch im Hier und Jetzt umgesetzt werden: Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Wieder klingen urchristliche Werte durch. Die Freude ist die Freude, zum Reich dazuzugehören, jetzt und immer. Es ist präsentische und eschatologische Freude (vgl. Lk 6,23 / Mt 5,12; aber auch Phil 4,4 f). Der Friede Gottes als Wesens­ merkmal und Segenswunsch ist allgegenwärtig unter Christen, und für Gerech­ tigkeit gilt das Gleiche. Ein Leben nach diesen ethischen Grundsätzen ist Gott wohlgefällig (εὐάρετος / euaretos) und angesehen bei den Menschen (δόκιμος / do­ kimos), d. h. übernehmbar auch von der übrigen Welt (14,18). Nochmals die Auf­ forderung, dem nachzustreben, was dem Frieden dient und dem Aufbau unterei­ nander (14,19). Der Frieden wird noch einmal hervorgehoben, als erstrebenswert freilich, weil er immer wieder neu gewonnen und gefestigt werden muss. 15,1–13: Wenn man das 14. Kapitel unter dem Vorzeichen der Annahme liest, kann man es im 15. Kapitel fortgesetzt finden. Der Kernsatz dieses Kapitels enthält Soteriologie und Ethik, in enger Bezogenheit aufeinander, in einem einzigen Satz: „Darum nehmt einander an, wie auch Christus uns41 angenommen hat, zur Ehre Gottes“ (15,7). Die Annahme durch Christus ist die Grundlage der gegenseitigen Annahme, und durch diese wird Gott geehrt. Angenommen sind wir als Sünder, und wenn wir im Nächsten ebenfalls den vor Gott Unvollkommenen erkennen, werden wir davor gefeit sein, ihn ethisch und moralisch zu überfordern, und be­ reit, ihm in „Gnade“ und Verständnis, eben von Mensch zu Mensch, zu begegnen. Die Ethik-Kapitel 12–15 schließen mit dem Segenswunsch einer Freude und eines Friedens, die vom Glauben an den zurechtbringenden Gott getragen werden. Der Römerbrief als jüngster und systematisch durchdachter Paulusbrief kann exemplarisch und stellvertretend für die übrigen (echten) Paulusbriefe stehen. Die zweite große Belegstelle für Gottesbild, Soteriologie, Anthropologie in Ver­ bindung mit einer Ethik, die der Versöhnung entspringt und in die Versöhnung miteinander führt, ist in der Apologie des 2. Korintherbriefs nachzulesen. Ich habe sie bereits mit einbezogen. Abschließend muss die Frage erlaubt sein, ob Paulus selbst aus dem allen Menschen geschenkten Frieden Gottes heraus leben, handeln, urteilen und mit Gegnern umgehen kann. Natürlich müssen die Auseinandersetzungen mit sei­ nen Gegnern hart in der Sache sein. Der Tränenbrief 2.Kor 10–13 legt davon Zeugnis ab. Seine Gegner jedoch als Diener des Satans zu beschimpfen, ist grenz­ wertig (2.Kor 11,14). – Des Weiteren übergibt er einen Unzüchtigen in der Ge­ meinde dem Satan (παραδοῦναι τὸν τοιοῦτον τῷ σατανᾷ / paradounai ton toi­ outon tō satanā [1.Kor 5,1–5]). Nicht aus einer momentanen Emotion heraus, sondern nachdem er sich darüber Gedanken gemacht und es so „beschlossen“ hat (κέκρικα / kekrika [Perfekt!] = beschlossen, so dass es feststeht). Die Empfeh­ 41 So Lutherübers. 1984 nach guter Bezeugung; Lutherübers. 2017: „euch“ nach schlechterer Bezeugung.

Gottesbild und Ethik 

603

lung des Paulus an die Gemeinde, einen solchen dem Satan zu übergeben, kommt einem Todesurteil gleich, egal ob es sich dabei um sozialen oder physischen Tod handelt. Sie ist wohlüberlegt und zielgerichtet; denn im Tod – so Paulus – könne vielleicht noch die Seele gerettet werden. – Ein drittes Beispiel für wortwirksame Gewalt ist das berühmte „Anathema“ in Gal 1,8 f. Paulus verflucht jeden, der den Galatern ein anderes Evangelium gepredigt hat oder predigt, als er es verkündigt hat. Nun ist Segnen ein üblicher Vorgang, formalisiert gar insbesondere am Brief­ eingang und -schluss. Und die Kehrseite von Segnen ist Verfluchen. Ist das eine möglich, muss auch das andere möglich sein. Wenn auch, so ist das Verfluchen einem Christen nicht erlaubt; Abgrenzungen gegen Häresien müssen anders vor­ genommen werden (z. B. durch Verwerfen der falschen Lehre, vgl. Barmen). Der Fluch fällt unter das Vergeltungsverbot (1.Petr 3,8–12). Dem bösen Wort – und das ist der Fluch – wird vielmehr das Segnen entgegengestellt. Denn dieses – und nicht der Fluch – führt zum Frieden. Den Fluch kann man getrost dem Herrn überlassen. „Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber ist gegen die, die Böses tun“ (1.Petr 3,12 mit Bezug auf Ps 34,16.17). – Fazit: Es ist schwer, selbst nach den ge­ setzten Maßstäben zu leben. Dennoch: Es gilt Röm 15,7! Den Menschen Paulus ethisch und moralisch zu überfordern, wäre zumindest unbarmherzig, im Ex­ tremfall blasphemisch. Die Apostelgeschichte gibt einen Fingerzeig: Paulus wird in Lystra für ein Gott gehalten, wehrt sich gegen diese Zuschreibung („Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr …“ [Apg 14,15]), jedoch ohne Erfolg (vgl. auch Apg 28,6), allerdings bei denen, die noch nicht zum Glauben gekommen sind.

9. Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes

Die Offenbarung des Johannes ist, was das Thema göttlicher und menschlicher Gewalt betrifft, ein in jeder Hinsicht schillerndes Buch. Am Ende steht die Frei­ heit von Schmerz und Leid, die Gott für den neuen Menschen schon jetzt bereit hält. Aber der Weg zu diesem Ziel ist von unausdenklich harten Gerichtsvoll­ zügen und Gewaltakten gesäumt, Gewaltakten auch an den „Heiligen“, die zwar von ihren Verfolgern durchgeführt werden, hinter denen sich aber auch Gott verbirgt – wahrscheinlich weil die apokalyptisch interpretierte Zeit das erfordert. Die Grenze zwischen apokalyptischem Strafgericht, göttlicher Willkür und sa­ distischen Elementen ist fließend. Wenn am Ende alles gut wird, fragt sich, ob es noch dieser Schöpfung gilt, oder ob Gott – entgegen seinem Versprechen – der noachitischen Welt keine Chance mehr gibt. Hier wiederholt sich das Problem: „intrahistorische Erneuerung bei suprahistorischer Gottesherrschaft“ oder „post­ historische Erneuerung“? Schillernd ist auch die Ethik. Im Allgemeinen gilt: Geduld in der Bedrängnis bringt Bewährung des Glaubens und Sieg über die Verfolger, weil Gott für die „Heiligen“ eintritt. Sieg ist auch im Tod errungen, weil er „die Krone des Lebens“ bringt. Nichtsdestoweniger werden die „Heiligen“ auch gelegentlich von Gott und Christus zum Kampf ausgerüstet und aufgefordert. Beides hat in chiliastischen Phantasien der Kirchengeschichte seine Wirkung gezeigt. Die Offenbarung will als Sendschreiben an die Gemeinden Kleinasiens die Widerstandskraft des Glaubens stärken, zum Durchhalten ermutigen und Trost spenden. Ihre Mittel sind, was Gottesbild und Ethik betrifft, grenzwertig.

Literarische Integrität

605

9.1 Literarische Integrität Die Offenbarung des Johannes speist sich aus diversen alttestamentlich-propheti­ sc­hen1 und jüdisch-apokalyptischen2 Traditionen. Diese Überlieferungen lassen sich allerdings nicht als literarische Quellen fassen3. Versuche in diese Richtung gab und gibt es immer wieder, sie zielen zumeist auf eine Trennung der sieben Sendschreiben vom apokalyptischen Corpus, sie haben sich aber nicht durchge­ setzt4. Zwar könnte die Form – hie Briefstil, dort hymnisch-gottesdienstliches Ge­ präge mit Kultszenen – eine Quellenscheidung nahe legen5. Allerdings binden die intratextuellen Bezüge Sendschreiben und Apokalypse so eng zusammen, dass die 1 R. Weber, „Die Distanz zur Welt bei Epiktet, Jesus und Paulus“, a. a. O., S. 33. Die Bezüge sind im Kommentar von E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 111982 (NTD 11) jeweils unter der Übersetzung der Perikopen aufgeführt. 2 äth. Henoch, 4.Esra, Baruch-Apokalypse. Im Blick auf Offb 20,1–10 geht man von iranisch geprägter Tradition aus, wonach der noch gefesselte Endfeind, der Drache Aži Dahāka, sich im letzten Millennium befreien kann, dann aber endgültig besiegt werden wird (vgl. dazu C. Colpe, Iranier – Aramäer – Hebräer – Hellenen, Tübingen 2003 [WUNT 154], S. 607 und 620). „Es ist … wahrscheinlich, daß die Berechnung der Weltdauer nach Zyklen von 1000 Jahren aus der eranischen Eschatologie in die jüdische eingedrungen ist“ (W. Bousset, Die Offenbarung Johan­ nis, Göttingen 61906 [KEK 16], S. 437). 3 So schon W. Bousset, a. a. O., S. 129. 4 So spricht z. B. D. E. Aune, Revelation 1, Dallas 1997, S. CXX–CXXXIV, von einer „First Edition“ (1,7–12a; 4,1–22,5) und einer „Second Edition“ (1,1–3.4–6; 1,12b – 3,22; 22,6–21) und F. Tóth, „Von der Vision zur Redaktion. Untersuchungen zur Komposition, Redaktion und Inten­ tion der Johannesapokalypse“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, Tübingen 2012 (WUNT 287), S. 328 von einem apokalyptischen Corpus, das in einer ersten Redaktionsstufe acht Visionsabschnitte durch ebensoviele himm­ lische Kultszenen miteinander verbunden habe und in einer zweiten Redaktionsstufe von den Sendschreiben Kap. 2 und 3 und der Einleitung 1,4–9 aufgefüllt worden sei. – A. Satake geht von jüdisch(-apokalyptischen) Texten des Verfassers aus, die dieser teils vor 70 n. Chr. formuliert habe (Kap. 10 [Berufungsvision]; 11,1–2 [Tempelvermessung]; 7,1–8 [Bewahrung der 144.000]; die drei Visionsreihen), weiteren jüdisch akzentuierten Texten ohne christliche Färbung (20,11–15 [Weltgericht]; 21,1–4 [Herabkunft der heiligen Stadt]; 15,2–4 [Lied des Mose]; 21,9–22,5 [das neue Jerusalem]) und Texte mit christlichen Anklängen (17,1–19,10 [Untergang „Babylons“]; Kap. 13 [die zwei Tiere]) (Die Offenbarung des Johannes, Göttingen 2008 [KEK 16], S. 71 f). Derselbe Verfasser habe sich bemüht (!), diese Stücke später nach seiner Annäherung an das Christentum durch Verwendung verschiedener Techniken (a. a. O., S. 64 f) zu einer Einheit zusammenzufügen. 5 Man könnte Offb 1,1–3; 4–22 „als ein Hörspiel klassifizieren, das in einer Versammlung von Christusanhängerinnen und -anhängern vorgetragen werden soll“ (S. Alkier, Th. Paulsen, „Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtun­ gen zur Komposition der Johannesapokalypse“ in: ThLZ 141/2017, Sp. 456). Vgl. auch M. Kar­ rer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15), Göttingen 2017 (EKK XXIV / 1), S. 211. „Allerdings will es nicht gelingen, daraus in irgendeiner Form eine Gottesdienstordnung zu rekonstruieren“ (U. Schnelle, a. a. O., S. 560), was auch nicht nötig ist, weil allein schon die Hymnen „die litur­ gische Gemeinschaft der Christen … mit den Himmlischen“ markieren (K. Berger, Die Apoka­ lypse des Johannes, Freiburg 2017, S. 106).

606

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Offenbarung des Johannes als Werk eines einzigen Autors, getragen „von einem einheitlichen Gestaltungswillen“, betrachtet werden muss6. Allein die strukturierende Funktion der 7-Zahl macht die Sendschreiben zu einem kon­ stitutiven Teil der Offenbarung (7 Gemeinden, Siegel, Posaunen, Schalen). In ihnen wer­ den Gegner benannt, die christliche Lehre und christliches Leben gefährden. Dabei geht es u. a. um solche, die die Christusanhänger zu heidnischen Mahlfeiern und kultischer Prostitution verführen (Offb 2,14.20), und um Gemeindemitglieder, die aus opportu­ nistischen Gründen heidnische Bräuche – sei es auch nur äußerlich – mitvollziehen (3,4.18). Diese Gefährder erscheinen noch einmal in aller Deutlichkeit im Schlussteil Offb 21,8 und 22,15. Sie werden mit allen anderen Frevlern zusammen als die große Be­ drängnis (θλῖψις / thlīpsis) empfunden, die nur mit Geduld und im Vertrauen auf Gottes gewalt-tätiges Eingreifen überwunden werden kann. So spannt sich auch der Bogen der Bedrängnis / Trübsal über die gesamte apokalyptische Schrift von den Sendschreiben (1,9; 2,9 f) über die Vorausschau von deren Aufhebung (7,14) bis zur „Darstellung des Lebensraumes der überwundenen θλῖψις / thlīpsis (21,1–22,5)“7. Mit der Bedrängnis / ​ Trübsal verbindet sich als christliche Haltung die Geduld (ὑπομονή / hypomonē) (in den Sendschreiben: 1,9; 2,19; 3,10; in der Apokalypse: 13,10; 14,12), die als Glaubensund Leidenshaltung allein ermöglicht zu überwinden (νικᾶν / nikān) und am Ende die Krone des Lebens zu erlangen (2,10). Als großer Bogen spannt sich über die gesamte Offenbarung denn auch die Verheißung an die Überwinder (in den Sendschreiben: 2,7.11.17.26; 3,5.12.21; in der Apokalypse: 21,7). Der Inhalt der Verheißung hat am Schluss oft eine Entsprechung: 2,7/22,2.14.19: Baum des Lebens 2,11/20,6.14; 21,8: zweiter Tod 2,26 f / 20,4: auferstandene Zeugen übernehmen mit Christus Macht über die Heiden 3,5/22,14: Seligpreisung derer mit weißen Kleidern (auch sonst „weiße Kleider“ als Symbol) 3,5/20,12.15 (vgl. auch 17,8): Eintrag im Buch des Lebens 3,12/21,3–5a.22–27: das neue Jerusalem 3,21/22,3b-5: ewige Regentschaft der Heiligen mit Christus Die Bezüge zu den Sendschreiben gerade im Schlussteil fallen auf. Sie weisen – bei der intendierten zweiten und dritten Lektüre der Offenbarung8 – darauf hin, dass die Phä­ 6 S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 454; U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007 (UTB 1830), S. 559; J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürich 21987, S. 21; U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, Gütersloh, Würzburg 1984 (ÖTK 19), S. 38. Die intratextuellen Bezüge sind gründlich bei F. Tóth, a. a. O., S. 330 ff aufgelistet. Vgl. auch bei B. Kowalski, „Gottesbilder in Offb 21,1–8“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offen­ barung des Johannes, Tübingen 2015 (WUNT 397), S. 19 f. 7 S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 470. Im Schlussteil ist zwar nicht wörtlich, aber der Sache nach von der überwundenen Bedrängnis / Trübsal die Rede. Vorbereitet ist diese Gesamt­ schau in S. Alkier, „Die Johannesapokalypse als ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes“ in: M. Labahn, M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012 (ABG 38), S. 147–171. 8 Zum Neuverständnis bei intendierter Zweitlektüre vgl. auch Mk 16,7. F. Tóth setzt das auch für die Christologie der Offenbarung voraus: Erst von Offb 22,16 her werde es möglich, „die ansonsten theozentrische Offenbarungsstruktur von Apk 1,1–3 … christologisch neu zu lesen“ (F. Tóth, a. a. O., S. 354 f, Anm. 128).

Literarische Integrität

607

nomene Bedrängnis / Trübsal, Geduld, Überwindung auch da die Schrift durchziehen, wo sie nicht wörtlich benannt sind. Weitere Anfang und Ende verbindenden Signalworte sind: „der Erste und der Letzte“ (in den Sendschreiben: 2,8; im Schlussteil: 22,13; vgl. 21,6); der treue und wahrhaftige Zeuge (1,5/19,11); er ist „Herr über die Könige auf Erden“ (1,5) auch dort, wo sie noch ihr Unwesen treiben (19,16). Weiter: das Gericht „nach den Werken“ (in den Sendschreiben: 2,23; 3,2; im Schlussteil: 20,12; 22,2). Im Zusammenhang damit steht der Bußruf (2,5.16.21; 3,3.19), der nicht wörtlich, aber der Sache nach auch in 9,20 f und 16,9.11 enthalten ist, ebenso das Gericht mit dem „schar­ fen, zweischneidigen Schwert“ (1,16; 2,12.16), das in 19,15.21 als „Schwert des Mundes“ wieder auftaucht, sowie das Gewalt-Gericht über die Heiden (in den Sendschreiben: 2,26–28; später: 19,15). Schließlich: Der treue und wahrhaftige Zeuge heißt „Amen“ (3,14; vgl. auch 19,11–13), und er wird im letzten Satz, hinein in die Offenheit von Zeit und Raum, noch einmal namentlich angerufen und um sein Kommen bald, hier, jetzt, gebeten (22,20). Seine Zusage freilich gilt durch alle Martyrien, Anfechtungen und Ka­ tastrophen hindurch: 3,11 → 22,20.

Der Verfasser der Offenbarung benutzt zur Leserführung die Leitmotivtechnik9. So erklären sich Wiederholungen und Abwandlungen des Gottesmotivs „der da ist und der da war und der da kommt“ und ähnliche Gottes- bzw. Christusbe­ zeichnungen, ebenso auch Rückbezüge auf die Thronsaalvision (6,9–12; 11,15–18; 14,1–5; 19,1–8). Er benutzt auch die Klammer- bzw. Rahmentechnik, um zu zei­ gen, was der Leser als Einheit begreifen soll. So soll vor allem das Buch der Of­ fenbarung des Johannes als Einheit gesehen werden. Es wird gerahmt durch die Einleitung 1,1–3 und den Schluss 22,6–20. Der, der ist (jetzt, vgl. aktuelle Gemein­ desituation[en]), der schon immer war (Rückbezüge auf das AT) und der kommt (apokalyptischer Teil), ist der Inhalt, wobei die Briefe unter apokalyptischem Vor­ zeichen gelesen werden können (vgl. 3,21) wie auch die Apokalypse als „Brief “ (vgl. den „Briefschluss“ 22,21)10. – Weitere Beispiele: Gottesmotiv (1,4)

Bekenntnismäßige Christusprädika­ tion (1,5–7)

Gottesmotiv (1,8)

Heilig, heilig, heilig ist … (4,8) (3 × Prädikation in adjektivischer Form)

… Gott der Herr, der Allmächtige, … (4,8) (3 × Gottes­ identifizierung)

… der da war, der da ist und der da kommt (4,8) (3 × Prädikation in partizipialer Form)

9 S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 460. 10 Die Offenbarung des Johannes versteht sich auch als prophetisches Buch. Das zeigen die beiden Berufungsvisionen 1,1–19 und 4,1–5,5 sowie die beiden Beauftragungen 19,9 f und 22,6–10.

608

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Kultgesang im Himmel (4)

Siegel- und Posau­ nenvisionen (5,1–11,15)

Kultgesang im Himmel (11,16–18)

7 Posaunenengel (8,2)

Engel mit Räucher­ 7 Posaunenengel (8,6 ff) fass (8,3–5)

Reiter auf weißem Pferd (19,11–16)

Siegesmahl (19,17–18)

Reiter auf weißem Pferd (19,19–21a)

Siegesmahl (19,21b)

Der literarischen Einheit stehen vom Verfasser übernommene Traditionen nicht entgegen. Auffällig sind jedoch einige Trost-Einsprengsel (13,10; 14,8.13; 16,15; 18,20), eine offenbar verschobene Stelle (12,18) und eine wohl nachträglich ein­ gezogene Wehe-Struktur. – Die Trost-Einsprengsel haben den Charakter von Scholien in poimenischer Absicht. Der Ruf zur Aufmerksamkeit in 13,9 zielt auf das jetzt Erforderliche (Geduld und Glaube [13,10c]), dazwischen wird im Stil zweier Konditionalsätze das Martyrium als Gottes Ratschluss hinnehmbar gemacht (13,10a.b)11. In 14,8 wechselt das Tempus vom Futur der Ankündi­ gung (14,6–7.9–12) in das Perfekt des Geschehen-Seins. Allerdings kann das als perfectum propheticum angesehen werden, zumal es Zitat aus Jes 21,9 (und Jer 51,7 f) ist. 14,8 kann auch konstitutiver Bestandteil des Textes sein, weil er die Dreizahl der Engel hervorbringt. 14,13 allerdings wirkt eingesprengt; denn der Hinweis auf Geduld und Glauben der Heiligen (vgl. auch 13,10c) schließt die Au­ dition ab. 14,13 ist ein allzu kurzer Neueinsatz vor der Vision 14,14 ff. Außerdem weist die Aufforderung „Schreibe“ auf die Arbeit eines Kommentators. Schließlich ist das poimenische Element in der Seligpreisung zu greifen. Selbiges steckt auch in 16,15. Darüber hinaus unterbricht die paränetisch-parakletische Stimme Got­ tes völlig unerwartet die Visionsschilderung des Johannes (zum Bild des Diebes vgl. auch 3,3). Gleiches gilt auch für 18,20. – 12,18 passt überhaupt nicht an diese Stelle, eher ans Ende des 10. Kapitels. – Ab 8,13 ist eine dreifache Wehe-Struktur eingezogen. Sie wirkt etwas künstlich, denn sie umfasst den 5., 6. und 7. Posau­ nenengel. Während das erste vom zweiten (9,12) und das zweite vom dritten Wehe (11,14) gut abgegrenzt sind, ist unklar, worin das dritte Wehe besteht und wo es endet (vielleicht 12,12?). – Diese Beobachtungen legen eine glossierende Hand nach Abschluss des Werkes nahe.

11 13,10a.b ist hier offenbar deshalb eingefügt, weil 13,8 in deterministischem Sinn missver­ standen wurde. In 13,8 liegt aber kein wirklicher Determinismus vor (s. u. unter NT 9.4).

Gliederung 

609

9.2 Gliederung Die Erkenntnis literarischer Einheitlichkeit führt zur Frage einer angemessenen Gliederung. Die Geschichte der Gliederungsversuche zeigt, dass es die Gliederung nicht gibt, und auch die Frage, was angemessen ist, ist ein Problem des Betrachters und dessen hermeneutischem Interesse12. Ich halte die Offenbarung des Johannes für ein literarisches Bauwerk, das bewusst multidimensional gegliedert ist und vielen Perspektiven Raum lässt. Wenn es zum Wesen dieser Offenbarung gehört, dass sie verschlüsselt ist, dann gehört die Multidimensionalität dazu. Sie trägt dazu bei, dass sich die Offenbarung dem einen Leser so, dem anderen anders er­ schließt13. Die Frage hier lautet: Lässt die Gliederung der Johannesoffenbarung etwas von dem ambivalenten Gottesbild mit Tendenz zum Gott des Heils und des Friedens erkennen? Plausibel erscheint mir die am inhaltlichen Duktus entlanggehende Gliede­ rung von H. Ritt (Offenbarung des Johannes, Würzburg 21988, S. 13). Außer der Grobeinteilung in die sieben Sendschreiben und den apokalyptischen Hauptteil wird bei ihm die Klammertechnik anschaulich: Buchanfang 1,1–3, Buchschluss ­22,6–21; das gilt speziell auch für den apokalyptischen Teil: der „Thronende“ ist der Kommende 4,1–11, Gott ist gekommen und wohnt unter den Menschen ­21,1–8. Zwischen dem „Kommenden“ und dem „Gekommenen“ ergeht das Ge­ richt in Form der Öffnung der 7 Siegel, dem Erschallen der 7 Posaunen und dem Ausgießen der 7 Schalen, darin auch die Errettung der Heilsgemeinde. Das Ge­ richt über die Welt ist quälend und grauenvoll, die Errettung der Heiligen un­ ermesslich glanzvoll und herrlich. Sie steht am Ende, sie ist das Ziel, auf das die Welt sich durch Gottes Kommen zubewegt. Mehr noch: Es sind nicht nur die 144.000 und die große Schar aus allen Völkern (7,4 ff.9 ff; vgl. auch 5,9 f), es sind am Ende die durch Gottes Erbarmen und Güte neu gewordenen „Menschen“ (21,3)14, es sind die „Völker“ insgesamt, die in die neue Gottesstadt wallen und die „geheilt“ werden von den „Bäumen des Lebens“ (21,24.26; 22,2; angekündigt schon 15,4). So spiegelt der weit gespannte Erzählbogen der Offenbarung den unheilen ebenso wie den heilenden Gott wider, und der heilende steht – ungeachtet 12 Stark systematisierend z. B. F. Tóth, a. a. O., S. 408, der den gesamten Text in das Schema „Präludium – Visionen – Interludium – Postludium / Präludium …“ presst, ausgehend davon, dass die Prä-, Inter- und Postludien von einem Composer als „Scharniere“ zwischen den Visions­ reihen und -bildern eingefügt worden seien, um das Werk „als eine einheitliche und strukturierte Komposition erscheinen“ zu lassen (350). 13 Zu beachtende Leitlinien der Entschlüsselung sind der historische Kontext und die Sym­ bolik und Metaphorik der Sprache. Ersterer bewahrt vor individualistischer Interpretation, letztere vor biblizistischem Missbrauch. 14 In 21,3 sind es nicht die „neuen Menschen“ im Sinne einer Abschaffung der alten, sondern im Sinne von 2.Kor 5,17! Anders aber ist 21,1.5 zu lesen. Vgl. dazu NT 9.3.7( „Gottes Ambigui­ tät“), dort bes. Anm. 75.

610

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

zweier Ausschlussnotizen (21,8; 22,15) – nach Selbstüberwindung (7,1–3) und Hinauswurf des Satans aus dem Himmel (12,7 ff) siegreich und alles neu erschaf­ fend am Ende. Das Ende scheint kein Aus, sondern ein neuer Anfang zu sein15. Der große Erzählbogen stellt den Gott vor Augen, den wir kennen, insbesondere auch aus dem Werden der Prophetenbücher. Dass die 3x7 Zeichenhandlungen der Engel ein Gliederungsprinzip des Haupt­ teils darstellen, ist unbestritten. Unterstrichen wird das noch dadurch, dass sie jeweils durch eine Art Ouvertüre, Liturgie und Jubelgesang im Himmel, geschaut und gehört von Johannes, eingeleitet werden. Vor der Öffnung der Siegel 1–6 wird Preis und Ehre dargebracht Gott, dem Herrn, dem Pantokrator (4,8) und dem Lamm (5,12 f)16, vor dem 7. Siegel, das ja zugleich die 7 Posaunen entbirgt, der Lobgesang einer großen Völkerschar vor dem Thron und dem Lamm (7,9 ff) und vor den 7 Zornschalen das Lied des Mose und des Lammes, das alle Heiligen mit Gottes Harfen singen (15,1–4). Für S. Alkier und Th. Paulsen sind die 3x7 Plagen der Hauptteil des in der Of­ fenbarung entfalteten Themenstichwortes θλῖψις / thlīpsis = Bedrängnis, Trübsal17: in Kap. 6–20 „Beseitigung der θλῖψις durch Ankündigung und Durchführung des Gerichts“ (Ich nehme die Ouvertüre Kapp. 4 und 5 noch hinzu; Alkier und Paul­ sen widmen ihnen eine Extra-Überschrift: „Vorbereitung des Kampfes gegen die θλῖψις durch die Darstellung der Befähigung der Protagonisten“). In 1,9 finden sie das Themenstichwort, und sie finden es als Beschreibung der Situation der Gemeinden wieder in 2,9.10. Somit dienen die 7 Sendschreiben (Kapp. 2 und 3) der Darstellung der gegenwärtigen θλῖψις / thlīpsis als „Mangel an umfassendem Heil“18. Pendent dazu ist der Schluss 21,1–22,5: „Darstellung des Lebensraumes der überwundenen θλῖψις“19. Die Makrostruktur überzeugt, nicht nur weil sie die Gliederung als Entfaltung des Themenstichworts versteht, sondern weil der ver­ hängten Trübsal (θλῖψις / thlīpsis) auf Schritt und Tritt eine favorisierte Haltung entspricht: Geduld (ὑπομονή / hypomonē). Die Bedrängnis der gottlosen Welt wird nicht überwunden durch Gewalt, sondern durch den Glauben an Gottes Recht schaffende Gerechtigkeit (ius talionis) (14,6–12; vgl. 13,10) und somit durch 15 Vgl. aber 9.3.7. → „Vogelperspektive“. 16 Subordinatianische Christologie kann ich nicht erkennen, auch in 1,13 nicht (gegen U. Schnelle, a. a. O., S. 563 Anm. 94). Spätestens ab Kap. 5 erscheint Christus als „mit Gott gleich­ berechtigter Protagonist“ (S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 463). Anders M. Stowasser, „Gottes­ epitheta und Christusepitheta“ in: Ders. (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, Tübingen 2015 (WUNT 397), S. 156. 17 S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 470. 18 Dies., a. a. O., Sp. 469. 19 Dies., a. a. O., Sp. 470. In diesem Schlussteil fällt zwar nirgends das Wort θλῖψις / thlīpsis = Trübsal, Bedrängnis, aber es wird auf sie als eine überwundene (21,7) zurückgeblickt in den Synonymen „Tränen“, „Tod“, „Leid“, „Geschrei“, „Schmerz“ (21,4), „Gräuel und Lüge“ (21,27), „Nacht“ (21,25; 22,5).

Gliederung 

611

gewaltloses, geduldiges Ausharren bis ans Ende, in dem ein gänzlich neuer Anfang liegt (2,10; 21,1–2.5; vgl. 13,10). Die Beseitigung der θλῖψις / thlīpsis = „Trübsal“ geschieht durch Gottes Kom­ men. Daher wird jeder Schritt des Kommens Gottes mit dem Gottesmotiv ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος (1,4) und dessen Transformation gekennzeichnet (ho ōn kai ho ēn kai ho erchomenos = der ist und der war und der kommt)20. Wie die θλῖψις / thlīpsis das Thema ist, so ist „der ist und der war und der kommt“ mit all seinen Transformationen das Leitmotiv und als solches zugleich Ordnungsprin­ zip. Es steht zunächst einmal – als Grußüberschrift – voran (1,4), um dann die gesamte Offenbarungsschrift zu rahmen (1,8; 21,6 [transformiert]). In 4,8 leitet es – als Teil der Ouvertüre – die Siegel- und die daraus hervorgehenden Posau­ nenvisionen ein, in 11,17 beendet es den 7. Posaunenruf, bezeichnenderweise nur zweiteilig: „der du bist und der du warst“; denn nun ist er da21: „Nun gehört die Herrschaft über die Welt unserm Herrn und seinem Christus, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit (11,15; vgl. 12,10 f). „Das Geheimnis Gottes ist vollendet“ (10,7), das Gericht kann beginnen. Es beginnt nach einer Peripetie, die den Kampf zwischen Weltmacht und Gottesvolk beschreibt22, mit den Schalen­ visionen; denn hier verkündet der dritte Engel Gott als den gegenwärtig gerecht Richtenden, in diesem Zusammenhang wieder zweiteilig ohne den „Kommen­ den“, weil er ja da ist (16,5). Das jeweils transformierte Gottesmotiv lehnt sich also an die Schalenvisionen an und interpretiert sie im Verhältnis von Ankündigung (Siegel- und Posaunenvisionen) und Vollzug (Schalenvisionen). Unterstrichen wird diese Interpretation durch das Wort des siebten Engels: „Es ist geschehen!“ (γέγονεν / gegonen) (16,17). Freilich sind die Visionen und Auditionen der Siegel, Posaunen und Schalen allesamt Zukunftsbilder. Und doch ist der Unterschied zwischen Siegel und Posaunen einerseits und Schalen andererseits unübersehbar: Der Pantokrator ist da und „es ist geschehen“. In der ersten und zweiten Visions­ reihe sieht Johannes die Zukunft, in der dritten die vollendete Zukunft. „Der da war, der da ist und der da kommt“ hat sich im Plagenteil als der Schrecken der Welt erwiesen (angeblich nur, um zur Buße zu rufen, wie an zwei Stellen reflektierend bemerkt wird: 9,20 f; 16,9.11). Nicht aber der „feurige Pfuhl“ und der „zweite Tod“ ist Gottes letztes Wort, sondern die neue Schöpfung, die heilige Stadt, die Hütte Gottes bei den Menschen (allerdings nicht bei den Ungläubigen [21,8]). Das alles ist nun geworden (γέγοναν / gegonan) (21,6). Nachdem die alte Welt untergegan­ gen sein wird (γέγονεν / gegonen) (16,17), wird nun die neue Welt geworden sein. Dieses letzte Wort muss rezeptionsästhetisch noch einmal mit dem transformier­ ten Gottesmotiv 21,6 unterstrichen werden, in Anlehnung an 1,8: Gott als die Zeit und Welt umspannende Macht, und – noch einmal zum Ausklang – 22,13. 20 Zum Ganzen vgl. S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 456 ff. Hier auch Deutungen der „grammatischen Schockeffekte“. 21 So schon U. B. Müller, a. a. O., S. 224. 22 Vgl. das gleiche Prinzip der Peripetie in Kap. 20.

612

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Demnach stellt sich eine Gliederung so dar: Gliederung der Offenbarung des Johannes Buchanfang 1,1-20 Vorwort 1,1-3 Briefeinleitung, als „Glaubensbekenntnis“ formuliert 1,4-8 -1,4 Gottesmotiv (3teilig) -1,8 transform. Gottesmotiv Berufungsvision 1,9-20 Die 7 Sendschreiben 2 – 3

Darstellung der Trübsal (θλῖψις)

Die Apokalypse 4,1 – 22,5 Ouvertüre vor den 7 Siegeln 4 – 5 Vorbereitung des Kampfes gegen die Trübsal (θλῖψις) -4,8 Gottesmotiv (3teilig) *Die 7 Siegel 6,1 – 8,1 Die ersten 6 Siegel 6,1-17 Ouvertüre vor dem 7. Siegel bzw. vor den 7 Posaunen 7,1-17 Das 7. Siegel mit Kulthandlung im Himmel: Räucherwerk und Feuer über die Erde als Auftakt zu den 7 Posaunen 8,1-5 *Die 7 Posaunen 8,6 – 11,19 Die ersten 4 Posaunen 8,7-13 3x Wehe! 8,13 Die 5. Posaune 9,1-12 1.Wehe (Ende), noch 2x Wehe! 9,12 x Die 6. Posaune 9,13-21 (Ziel Buße verfehlt) Der „andere Engel“ mit dem zu verzehrenden Buch 10 Die Vermessung des Tempels 11,1-2 Die zwei prophetischen Zeugen als getötete und auferstehende Märtyrer (2 Ölbäume u. 2 Leuchter), Sterben von 7000 Menschen, die anderen geben Gott die Ehre 11,3-14 2. Wehe (Ende), noch 1x Wehe! 11,14 Die 7. Posaune: Lobpreis der Königsherrschaft Christi 11,15-19 -11,17 Gottesmotiv (2teilig) ●Der Kampf zwischen Weltmacht und Gottesvolk 12 – 14 Der Drache, die Frau und das Kind 12,1-6 Der Kampf im Himmel: Michael gegen den Drachen Beseitigung der mit Sturz des Drachens und Sieg Gottes im Himmel 12,7-12 Trübsal (θλῖψις) Fortsetzung des Kampfes des Drachens durch Ankündigung und gegen die Frau in der Wüste 12,13-17 Durchführung des (12,18 fehl am Platz) Gerichts Das erste Tier (und der Drache): die staatl. (Streit-)Macht gegen Gott und Menschen 13,1-9 Trost-Einsprengsel 13,10 Das zweite Tier (und das Malzeichen): die ideologische Macht über die Köpfe 13,11-18 Das Lamm auf dem Zion mit den 144.000 14,1-5 Engel verkünden Evangelium und Gericht für die Heiden 14,6-8 Engel verkündet quälendes Strafgericht für die Tieranbeter 14,9-12 Trost-Einsprengsel 14,13 Ernte und Gericht: „Blutbad“ unter den Ungläubigen 14,14-20 Ouvertüre vor den 7 Schalen 15 x *Die 7 Schalen 16 (Ziel Buße verfehlt) -16,5Gottesmotiv(2teilig) Trost-Einsprengsel 16,15 ●Der Babylon-Komplex 17,1 – 19,10 Trost-Einsprengsel 18,20 Jubel der Märtyrer im Himmel über den Untergang „Babylons“ 19,1-8 Schlussworte des „Er“ und Proskynese 19,9-10 ●Endkämpfe und allgemeines Weltgericht 19,11 – 20,15 Vision vom weißen Pferd 19,11-16 Gericht über Könige, Tier und falschen Prophet 19,17-21 Das Gericht über den Satan und das tausendjährige Reich 20,1-10 Das Gericht über alle Toten 20,11-15 ■Die neue Welt Gottes 21,1-22,5 Der neue Himmel und die neue Erde 21,1-8 -21,6 Gottesmotiv (transform.) Lebensraum der überwundenen Trübsal (θλῖψις) Das himmlische Jerusalem 21,9-27 Das neue Paradies 22,1-5 Buchschluss 22,6-21 *Siegel-, Posaunen-, Schalenvisionen Ouvertüren x Ziel Buße verfehlt

●Kampf zwischen Gott und Welt -Gottesmotiv

Das Gottesbild

613

9.3 Das Gottesbild Eine Annäherung an das in groben Zügen zwar klare, bei näherem Hinsehen aller­ dings sehr disparate Gottesbild ist am ehesten über den Begriff der Macht möglich. Gottes Macht wird in drei Begriffen beschrieben: κράτος / kratos, δύναμις / dynamis, ἐξουσία / exousia.

9.3.1 κράτος / kratos Κράτος / kratos ist im Sprachgebrauch der Offenbarung die alles bestimmende Macht Gottes bzw. Christi. Als ihm zukommende Macht ist sie wertneutral, weder positiv noch negativ besetzt. Κράτος / kratos = „Macht“ wird von Gott bzw. Chris­ tus ausgeübt durch „Herrschen“, „König sein“ (βασιλεύειν / basileuein). Weil diese Herrschaft allumfassend und alles bestimmend ist, trägt dieser Herrscher einzig und allein den Titel παντοκράτωρ / pantokratōr = Allmächtiger. 1,4–6: Der Eingangsgruß zum Briefteil endet mit einer Doxologie: „Ihm sei der Ruhm (ἡ δόξα) und die Macht (τὸ κράτος) von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen“ (1,6). Ruhm und Macht werden zusammen prädiziert. D. h. Macht ist die dem erhöhten Christus („Fürst der Könige auf Erden“) zukommende Würde. Diese Macht wird ihm über alle Zeiten hinweg unaufhebbar zugesprochen. In dem bekenntnisartig gestalteten Eingangsgruß23 erscheint Christus als gleichberechtigte dritte Person neben Gott („der da ist und der da war und der da kommt“24) und den sieben Geistern vor Gottes Thron als Inbegriff des Geistes Gottes „in seiner Fülle und Ab­

23 H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, Regensburg 1997 (RNT), S. 73; K. Huber, „Je­ sus Christus – der Erste und der Letzte. Zur Christologie der Johannesapokalypse“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse, a. a. O., S. 445. 24 Die Gottesformel wird zu Recht auf Ex 3,14 zurückgeführt. Da das Hebräische kein Prä­ sens kennt, nimmt die Übersetzung den dynamischen Charakter der Gottesvorstellung auf: „Ich werde sein, der ich sein werde“. Die Septuaginta bringt statisches griechisches Denken hinein: „Ich bin, der ich bin“ (ἐγώ ειμι ὁ ὤν / egō eimi ho ōn = ich bin der Seiende). Dieses beinflusst auch die jüdische Exegese von Ex 3,14. In einer Paraphrase zu dieser Stelle (Exodus Rabba 3 [69c]) ist zu lesen: „Ich bin der ich war, und ich bin jetzt und in der Zukunft“ [vgl. U. B. Müller, a. a. O., S. 72]). Dennoch durchdringt Dynamik diese Exegese. Denn im Kontext heißt es: „Nach meinen Taten werde ich genannt“ (K. Wengst, „Protest als Zeugnis und Widerspruch“ in: M. Stowasser [Hg.], Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, Tübingen 2015 [WUNT 397], S. 116). Diese Kombination von dynamischem und statischem Gottesverständnis (Wirken und Wesen) liegt auch in der Gottesformel vor. – Ὁ ἐρχόμενος / ho erchomenos = „der Kommende“ ist nicht im barthianischen Sinn als der in seiner Liebe stets Zuvorkommende oder der immer wieder Kommende zu verstehen (gegen H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 154 und 265), sondern als der eine neue Zukunft Bringende (vgl. neben der jüd. Exegese von Ex 3,14 auch „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ in 1,6).

614

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

gerundetheit“25. Es versteht sich, dass Gott nicht weniger zugesprochen wird. Von seiner bzw. Christi Macht kann etwas Heilbringendes ausgehen für den, der sich dieser Macht unterstellt bzw. dieser Macht durch Segen unterstellt wird: Gnade und Friede (1,4)26. So entwickelt Gottes bzw. Christi Macht, auch wenn sie zunächst wertneutral erscheint, eine positive Dynamik in Richtung auf die Gesegneten. 5,13: Gleiches gilt für die Doxologie 5,13. Zu Ruhm und Macht kommen noch Lob und Ehre hinzu. Es ist ja immerhin auch der vielstimmige Chor aller Welt und aller Zeiten. Der Lobpreis gilt auch hier „dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm“ in gleicher Weise. – Voraus geht die Ausstattung des Lammes mit Kraft (δύναμις / dynamis), Reichtum, Weisheit, Stärke (ἰσχύς / ischys), Ehre (τιμή / timē), Ruhm (δόξα / doxa)  und Lob (εὐλογία / eulogia)27. Die Übernahme der Dynamis qualifiziert die Macht als ein einzig bei Gott und Christus angesiedeltes Element, nichtsdestoweniger die Welt erfüllend (vgl. gleichlautend auf Gott bezogen auch 4,11; 7,12) und die vergängliche Macht des Tieres einst für immer überwindend (17,8.12–14)28. 12,10: In 12,10 „ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes ge­ worden und die Macht seines Christus“. Gott wird die Herrschaft (βασιλεία / ba­ sileia) zugeschrieben und Christus die Vollmacht (ἐξουσία / exousia), in Gottes Sinn zu handeln29. Diese Herrschaft ist durch den Sturz des Drachens im Him­ mel bereits durchgesetzt, kommt dort den verstorbenen Märtyrern voll zugute 25 U. B. Müller, a. a. O., S. 73; ebenso E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 15; T. Holtz sieht die Anbahnung „trinitarischen Denkens“ (Die Offenbarung des Johannes, Göt­ tingen 2008 [NTD 11], S. 22); anders J. Roloff, a. a. O., S. 32; A. Satake, a. a. O., S. 128; M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15), a. a. O., S. 216. 26 M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15), a. a. O., S. 213 u. S. 215. 27 Von „Inthronisation“ kann ich schon wegen des voraufgehenden Lobpreises 1,5 nicht reden (gegen J. Roloff, a. a. O., S. 72 f und gegen S. Alkier, Th. Paulsen, a. a. O., Sp. 463). Kritik an der Inthronisationsthese auch bei U. B. Müller, a. a. O., S. 151 f. 28 Das Tier wird in seiner Macht literarisch depotenziert dadurch, dass es in bewusstem Gegensatz zur Gottesformel beschrieben wird als „gewesen und jetzt nicht da und wieder auf­ steigend und in die Vernichtung gehend“. Letzteres ist bewusster Schlusspunkt (ἦν καὶ οὔκ εστιν, καὶ μέλλει ἀναβαίνειν … καὶ εἰς ἀπώλειαν ὑπάγει / ēn kai ouk estin, kai mellei anabainein … kai eis apōleian hypagei [17,8; vgl. 17,11]). 29 Man mag hier von Aktions- oder Funktionseinheit reden (U. B. Müller, a. a. O., S. 55 f; H. Ritt, a. a. O., S. 6; K. Huber, „Jesus Christus – der Erste und der Letzte“, a. a. O., S. 436; F. Tóth, a. a. O., S. 354 f); dann ist es aber dieselbe wie bei Markus (Mk 2,10), wo der Menschensohn identisch mit dem Gottessohn ist (Mk 14,62). – Im Übrigen gehört in Offb 11,15 „die Herrschaft über die Welt unsrem Herrn und seinem Christus“. Von der Aktions- und Funktionseinheit hin zur Seinseinheit und Wesensgleichheit Christi mit Gott in der Offenbarung des Johannes führt überzeugend K. Huber, a.a.O, S. 448 (das göttliche „ich bin“ [1,8/1,17]; S. 452 (der göttliche Glanz [1,16]); S. 461 (Teilhabe an Gottes Hoheit und Verehrung [4,11/5,12]); S. 463 (Gottesname bzw. –titulatur des messianischen Reiters [vgl. Jes 11,1–5] auf dem weißen Pferd [19,12c; 19,13b ist sekundär; 19,16b]); S. 468 (Zueignung der Getauften an Gott und das Lamm als binäre Einheit [14,1.4]); S. 470 (Throngemeinschaft von Gott und Lamm [22,1.3]).

Das Gottesbild

615

(12,17) und wird – das ist visionäres Wissen und Glaubensgewissheit – aufgrund ihrer „Kraft“ (Dynamik) auch diese Welt erreichen (vgl. Offb 20). Es ist nach allem Unheil, das hier dem „Verkläger unserer Brüder / Schwestern“ (κατήγωρ τῶν ἀδελφῶν ἡμῶν / katēgōr tōn adelphōn hēmōn) angelastet wird, eine heilsame Macht (σωτηρία / sōtēria). Sie wird am Ende stehen, weil sie jetzt schon (ἄρτι / arti) Gott bzw. Christus gehört. Das „Jetzt-Schon“ ist allerdings noch verborgen hin­ ter der gegenläufigen Faktizität des Weltgeschehens bis zu jenem denkwürdigen γέγονεν / gegonen = es ist geschehen (16,17). 11,17: Dieses „Es ist geschehen“ ist hier schon vorweggenommen. Schon jetzt ist der Herr der παντοκράτωρ / pantokratōr, der Allmächtige in Raum und Zeit; das dritte Glied des Gottesmotivs fehlt, weil der Allmächtige in Wahrheit schon da ist, von seiner kraftvollen Dynamik in Richtung auf die Welt Gebrauch macht („du hast an dich genommen …“ [Perfekt] = „du bist im Besitz von …“) und eben so gerade zur Herrschaft gekommen ist (ἐβασίλευσας / ebasileusas [ingressiver Aorist]).30 1,8: Gott der Herr ist Anfang und Ende, Zeit und Welt umspannend, alles be­ stimmende Macht, eben Panto-krator (παντο-κράτωρ), der All-mächtige. Pan­ tokrator ist Gottesprädikation und Summe aus seinem absoluten Herrsein und seiner mitlaufenden Allgegenwart. In dieser Macht ist alles inbegriffen, was sich aufbauend oder vernichtend äußern kann. Der Pantokrator hält diese Macht in den Händen, ohne sie stets konkret auszuüben. Die Septuaginta gibt „Herr Gott Zebaoth“ (‫ יְ הוָ ה ֱאל ֵֺהי ַהּצְ ָבאֺות‬/ jahwe ’ᵆlohē hazzᵊvā’ōt) mit παντοκράτωρ / pantokratōr wieder (Am 3,13; 4,13). Die alttestamentliche Bezeichnung erinnert noch entfernt an den Kriegsgott, den Herrn der Heerscharen, obwohl sie inzwischen onomasti­ schen Charakter angenommen hat. Dem Pantokrator ist solch eine Konnotation nicht zueigen, eher, dass alle nur denkbare Fülle der Macht sich in ihm vereinigt. 4,8: Gleiches gilt für 4,8. Der Lobgesang ist Zitat von Jes 6,3, nur dass der Schlussteil durch die Gottesformel ersetzt ist. Die Septuaginta gibt den Herrn Ze­ baoth hier allerdings nicht mit „Pantokrator“ wieder, sondern lässt ihn bestehen (κύριος σαβαώθ / kyrios sabaōth). 19,6 befindet sich innerhalb der Durchführung des Gerichts zur Beseitigung der Trübsal und gehört zum Jubel über den Untergang „Babylons“. Hier ist der Pantokrator, der Allmächtige, aus sich herausgetreten und hat sich durch die Zer­ störung Babylons (16,18–23) in die Lage versetzt, seine Herrschaft über die Welt auch offensichtlich anzutreten (wieder ingressiver Aorist, vgl. 11,17). 21,22: In der vom Himmel kommenden Gottesstadt, d. h. in jener Zukunft, die wir uns nicht selbst aufbauen und gestalten können, sondern die nur Gott bringen kann, wird es keinen vom weltlichen Treiben geschiedenen Tempelbezirk geben, sondern alles ist Tempel. Denn es wird keinen Bereich mehr geben, wo Gottes Macht und Herrschaft nicht unmittelbar spürbar wäre. Die Allmacht wird dann 30 Zum ingressiven Aorist vgl. auch 16,5: … ἔκρινας …/… ekrinas … = … das Gericht be­ gonnen hast … (passend zur Durchführung des Gerichts anlässlich der 7 Zornschalen).

616

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

in der ihr innewohnenden Dynamik zur Welt gekommen sein, zu einer Welt, in der jeder Dienst Tempeldienst und jedes Wort Lobgesang ist (vgl. 11,17 oder 15,3). 16,7: Die Gerechtigkeit des Allmächtigen ist aber keineswegs versöhnende Ge­ rechtigkeit. Wenn sie sich denn über die Feinde der Märtyrer ergießt, bringt der Allmächtige das ius talionis zur Geltung: Wer das Blut der Heiligen vergießt, muss Blut trinken! Man mag es unter Parteinahme für die Heiligen verbuchen, der alte Kriegs- und Gewaltgott schlägt allerdings voll durch.

9.3.2 δύναμις / dynamis Δύναμις / dynamis wurde schon als die Erde erreichende Auswirkung der gött­ lichen Macht erklärt. Luther übersetzt es gern mit „Kraft“. Bestätigt wird diese Interpretation durch ein Beispiel, das mit Herrschaft nichts zu tun hat: Das Ange­ sicht des Menschensohns leuchtet, „wie die Sonne scheint in ihrer Macht“ (1,16). Hier wäre die Übersetzung „Kraft“ angemessener. Denn die „Macht“ der Sonne wird ja nur erfahrbar durch die „Kraft“, also durch die Auswirkungen der Macht, die die Erde erreichen. Daran wird deutlich: δύναμις / dynamis enthält immer ein dynamisches Element, welches das Erscheinen und Spürbar-Werden der Macht auf Erden impliziert. Das kann Segen bringend (4,11; 7,16 f) oder versengend (16,8) sein. 4,11; 11,17; 12,10: Diese hymnischen Stücke preisen u. a. die Dynamis Gottes. Die Beseitigung der θλῖψις / thlīpsis = „Trübsal“ durch Gott und seine Boten ist ein längerer endzeitlicher Prozess, bei dem sich die göttliche Macht, sei sie ureigen (κράτος / kratos) oder verliehen (ἐξουσία / exousia), in Planung, Ankündigung und Durchführung in Richtung auf die Welt hin durchsetzen muss. Daher werden Vorbereitung, Ankündigung und Durchführung des Kampfes gegen die Trübsal von der δύναμις (μεγάλη)/dynamis (megalē) = „(großen) Kraft“ getragen. Die δύναμις / dynamis wird in der Vorbereitungsphase Gott zuerkannt (4,11), sie lässt den Pantokrator in Wahrheit schon jetzt zur endgültigen Herrschaft kommen (11,17), und das 11. Kapitel spiegelt die ganze Bewegtheit des Kampfes wider, wie Gott zur Herrschaft gekommen ist und seinem Christus zugleich alle (Voll)macht (ἐξουσία / exousia) übertragen hat (12,10)31. 31 Dass auch die weltliche Macht über – freilich satanische – Dynamis verfügt, bestätigt die exegetische Deutung der δύναμις / dynamis. Inhaltlich ist die weltliche Macht Gegenkraft zur Gotteskraft (vgl. Röm 1,16) mit gleicher Zielsetzung: Einflussnahme auf Leib und Seele der Menschen (13,1–4; bes. 13,2). Den „Teufelskreis“ weltlicher Macht beschreibt sehr deutlich 17,12 f: Die Könige empfangen Vollmacht „zusammen mit“ dem Tier (entweder vom Tier oder zusammen mit dem Tier vom [hier nicht erwähnten] Drachen). Diese geben ihre Durchset­ zungskraft und Vollmacht dem Tier zurück und erhalten von diesem wieder ausführende Macht (ἐξουσίαν / exousian). – Dass Gott die in diesem Teufelskreis gefangenen Könige benutzt, um die „Hure Babylon“ zu vernichten, steht auf einem anderen Blatt (17,15–17).

Das Gottesbild

617

7,16 f; 12,5: Auch ohne dass die Dynamis ausdrücklich erwähnt wird, geht sie als Leben ermöglichende Kraft von Gott bzw. Christus aus. Sie erreicht die er­ wählten 144.000 ebenso wie die aus allen Völkern, die sich zum Durchhalten ihres Glaubens an das „Lamm“ entschieden haben. „Der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen“ (7,15b); d. h.: Die Macht Gottes wirkt sich als eine Kraft bei ihnen heilbringend aus, was in 7,16 f expliziert wird. Frieden breitet sich über ihnen aus, über „denen in der Ferne und über denen in der Nähe“32. So wird Jes 57,19 wahr werden (allerdings wie auch dort schon abgesehen von den „Gottlosen“ [Jes 57,20 f]). – Die Sage vom Drachen und der gebärenden Frau weist in 12,5 auf die Frieden schaffende Funktion des „Sohnes“ hin. Sein Regiment wird zwar streng sein (Frieden geben mit eisernen Stäben), aber er wird als eschatologischer Messias („entrückt“) die Völker „weiden“, nicht „schlagen“ (vgl. 19,15) oder etwa blutig treten (14,20). Als Hirt war er ja bereits – im Bild des Lammes – in 7,17 auf­ getreten. Diese Funktion geht auf Ps 2,9 in der Septuaginta-Version zurück. Dort heißt es: „Du wirst sie (scil. die Völker) weiden mit eisernem Stab, wie Keramik­ gefäß wirst du sie zerschmettern.“ Die Septuaginta hat das hebräische ‫ תרעם‬/ tr’m von ‫ רעה‬/ r’h = „weiden“, „leiten“, „hüten“ hergeleitet (‫ ּת ְרעֵ ם‬ ִ / tir’ēm = du wirst sie weiden), die Masoreten haben sich indes für eine auf ‫ רעע‬/ r‘‘ = „zerschlagen“ ge­ stützte Vokalisation entschieden (‫ ְ תרֺעֵ ם‬/ tᵊro’ēm = du wirst sie zerschlagen). Beides ist möglich33. Im masoretischen Text ergibt sich so ein synonymer parallelismus membrorum: „Du sollst sie zerschlagen mit eisernem Stab, wie Keramikgefäß sollst du sie zerschmettern.“ Im Septuaginta-Text liegt ein klimaktischer paralle­ lismus membrorum mit antithetischem Grundton vor: Du sollst / wirst die Völker weiden (und nicht zerschmettern), wo das aber nicht geht, sollst / wirst du sie dar­ über hinaus zerschmettern. Dieser Tenor findet in die Offenbarung des Johannes Eingang und gibt in 12,5 und 7,17 dem behütenden Leiten der Völker Vorrang vor dem blutigen Gericht34. 1,16; 2,12.16; 19,15.21: Die göttliche Dynamis kann sich aber auch entspre­ chend der ambivalenten Richterfunktion Gottes unheilbringend auf die Men­ schen auswirken. Das wird durch das Stichwort „scharfes (zweischneidiges35) 32 So gewinnt der Friedensgruß an die 7 Gemeinden in Asien über die bloße Formel hinaus einen tiefen Sinn. 33 Liegt der Septuaginta-Version eine protomasoretische Handschrift vor? (K. Finsterbusch und A. Lange schließen beim Vergleich von Jer (LXX) und Jer (MT) auf eine protomasoretische Schrift, auf die LXX zurückgegriffen habe [K. Finsterbusch, A. Lange, „Zur Textgeschichte des Jeremiabuches in der Antike“ in: ThLZ 142/2017, Sp. 1137–1151]. Kann das auch für die Psalmen gelten?). 34 Gegen U. B. Müller, a. a. O., S. 235. Für ihn zeigt 12,5, „daß Christus die gottlosen Völker vernichten wird“. Zu einer solchen Einschätzung kann man aber nur kommen, wenn man die LXX-Variante von Ps 2,9 unberücksichtigt lässt und alle Aussagen vom eisernen Stab, vom zwei­ schneidigen Schwert und vom Winzermesser über einen Kamm schert. 35 Fehlt in 2,16 und in 19,15.21. In 19,15 wird „zweischneidig“ von der Koine und einigen Vulgata-Handschriften bezeugt.

618

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Schwert“, meist erklärt als „Schwert des Mundes“, signalisiert36. Dieses Schwert (ῥόμφαια / rhomphaia) ist anders konnotiert als der eiserne Stab (ῥάβδος σιδερά / ​ rhabdos sidera). Dieser ist das Frieden haltende Regierungsszepter, jenes das tod­ bringende Richtschwert. In 1,16 ist es indirekt auch mit der Dynamis zusammen­ gebracht. Der Sonnenschein in seiner Dynamis ist hier die Bildhälfte der Beschrei­ bung der Menschensohngestalt: Das Angesicht der Gestalt ist wie jene Dynamis, genauer: das zweischneidige Schwert, das aus seinem Munde geht, ist Ausdruck jener Dynamik. Die göttliche Gestalt des Menschensohns hat keine metallenen Waffen nötig, seine Waffe ist die des Wortes. Darin gleicht er Gott. Auch das Wort kann scheiden und töten. In 1,18 wird die Menschensohngestalt mit Christus identifiziert, und er ist es, der nun über die Schwertgewalt verfügt (2,12). Er führt das Schwert der Ent­ scheidung im Mund. An Pergamon gerichtet: „Tue nun Buße; wenn aber nicht, so werde ich bald über dich kommen und gegen sie streiten mit dem Schwert meines Mundes“ (2,16). Das Richtschwert stellt vor die Entscheidung: Buße oder weiter so, Gnade oder Gericht, Segen oder Fluch. Dass das Richtschwert Bild für die sich als Kraft entfaltende Macht ist, wird nahegelegt durch die Redeweise: „… so werde ich dir kommen …“ bzw. nach Luther: „… so werde ich über dich kom­ men …“. Interessant ist die Zielrichtung der unheilbringenden Dynamis. Nicht die gesamte Gemeinde Pergamon wird es mit dem scharfen Schwert des Richters zu tun bekommen, sondern Gemeindemitglieder, die sich nicht genügend von heidnischen Sitten abgrenzen, und solche, die abweichenden Lehren folgen. So wird das „Schwert des Mundes“ ein weiteres Mal zum Schwert der Scheidung, nun zwischen dem wahren und dem falschen Glauben. Bei einem solchen Gottes- bzw. Christusbild ist es nicht verwunderlich, wenn Christen eines Tages zu Verfolgern von Häretikern werden. Vorerst aber geht es darum, die heidnische, Christen unterdrückende und ver­ folgende Welt vernichtend zu schlagen. Christen vertrauen sich da ganz Gottes Plan und seinem Rachekonzept an37: Es müssen noch mehr Schwestern und Brü­ der als Märtyrer leiden und sterben bis zur „Vollzahl“ (6,9–11); dann aber werden die Völker geschlagen worden sein vom „scharfen Schwert“ aus dem Mund der Messiasgestalt (19,15). Alle Mächtigen, aber nicht nur sie, auch alle Heiden ins­ gesamt werden schmachvoll vernichtet durch das Schwert aus dem Mund (19,21). Der alte Vernichtungsbann (das scharfe Schwert aus dem Mund) feiert fröhliche Urständ. Das nicht absehbare Ende des Leidens der Märtyrer und der bis jetzt 36 Ursprung des Bildes: der Vergleich Mund / Schwert in Jes 49,2; Metaphorisierung in 2,12.16; Visualisierung in 1,16; 19,15.21. Zu den drei Stufen der wahrnehmenden Reflexion (Benennen, Metaphorisieren, Materialisieren) vgl. G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wun­ dergeschichten, a. a. O., S. 17 ff. 37 Wunsch nach Rache ist für apokalyptisches Denken nichts anderes als Hunger nach Ge­ rechtigkeit (vgl. auch W. Dietrich, M. Mayordomo, a. a. O., S. 178). Darum kann man Ersteren nicht hinausinterpretieren zugunsten einer reineren Gerechtigkeit (So aber H. Ritt, a. a. O., S. 46).

Das Gottesbild

619

noch unerfüllte Wunsch nach einer alles entscheidenden Wende („Wie lange noch …“ [6,10]) werden in Gottes dynamisches Wirken verlegt.

9.3.3 ἐξουσία / exousia Ἐξουσία / exousia bezeichnet in der Offenbarung des Johannes zunächst im klas­ sischen Sinn die von einem Mächtigen auf einen anderen übertragene Vollmacht (vgl. u. a. Mk 2,10). Sodann beschreibt es die Machttat in ihrer Ausführung (Ex-ousia). Ist Macht ganz beim Mächtigen lokalisiert und Kraft die sich auf die Welt zubewegende Dynamik der Macht, so ist Exousia die Machttat im Einzel­ nen, Konkreten. Ausgesprochen oder unausgesprochen beherrscht Exousia als Vollmacht(sübertragung) und als konkrete Machttat weitgehend die Macht-Ter­ minologie der Offenbarung. Nur in wenigen Fällen ist die Exousia positiv konnotiert: nur dort, wo sie als Vollmacht von Gott auf Christus übertragen ist bzw. dort, wo Christus sie auf die Seinen überträgt. Das ist beim Jubelruf im Himmel nach dem Rauswurf des Dra­ chens der Fall: Das Heil, die Kraft und die Herrschaft gehören im Himmel ganz Gott, Christus wird (Voll)macht zugesprochen (12,10). Christus selbst bestätigt das in 2,28a (εἴληφα / eilēpha = ich habe [sie] empfangen)38. Hier gibt Christus diese Herrschervollmacht weiter an die Überwinder. Er sagt es sowohl wörtlich (2,26) als auch im Bild (2,28b: der „Morgenstern“ als Bild für sich selbst, vgl. 22,1639). Er wiederholt es in 3,21a. Diese von Christus auf die Märtyrer übertra­ gene Herrschervollmacht impliziert sowohl Hirten- wie auch Richterfunktion. In allen anderen Fällen konkretisiert sich Exousia als Unheilsmacht, die fast durchweg von Gott ausgeht. Nur in Kap. 13 geht sie von der Gegenmacht aus, und manchmal ist dort nicht klar, ob nicht Gott selbst hinter der Gegenmacht steckt, um das Leid – wie es die Apokalyptik lehrt – zum Überfluss zu bringen, bevor es kein Leid und keine Tränen mehr gibt (6,9–11; 7,14–17). Es beginnt mit den vier apokalyptischen Reitern (6,1–8). Mindestens drei von ihnen, der zweite, dritte und vierte, bringen tödliches Unheil: Der zweite stiehlt der Erde den wie auch immer vorher gesicherten Frieden und bringt bewusst Krieg mit bewusst in Kauf genommenen Toten auf allen Seiten; der dritte bringt 38 Dass die Vollmachtsübertragung von Gott auf Christus keine subordinatianische Chris­ tologie impliziert, wird in 3,21b festgehalten: „… wie auch ich … mich gesetzt habe mit mei­ nem Vater auf seinen Thron.“ Throngemeinschaft ist Ausdruck von gottgleicher Würde (mit K. Huber, „ ‚Gott bete an!‘ [Offb 19,10; 22,9]. Christusbild und Gottesbild der Johannesoffenba­ rung im Spannungsfeld von wesensmäßiger und funktionaler Einheit und Differenz“ in: M. Sto­ wasser [Hg.], Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, Tübingen 2015 [WUNT 397], S. 134 ff gegen K. Wengst, a. a. O., S. 113 f). 39 Der Morgenstern, die Venus, galt in der Antike als Symbol der Herrschaft (U. B. Müller, a. a. O., S. 121).

620

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

eine Hungersnot (Symbol „Waage“ als Zeichen für minimale Zuteilung), die durch eine Teuerung befördert wird. Die Folge des Verhungerns wird hingenommen (Symbol „schwarzes Pferd“). Der vierte bringt schließlich den Tod selbst, ja er ist der Tod. Er kann wüten nach Belieben zusammen mit seinem „Hofstaat“, der Hölle. Er ist es, der über ein Viertel der Erde tödliche Wunden, zum Tode führen­ den Hunger und tödliche Krankheit bringt. Der vierte Reiter unterstreicht noch einmal in aller Deutlichkeit, was unter der Vollmacht des zweiten und dritten Reiters geschah: das Werk des Todes. Das unterstreicht der, der sagt: Ich bin der Tod. – Wenn nun der vierte Reiter gleichsam das Fazit zieht, liegt es nahe, dem ersten Reiter eine ähnliche Rolle zuzuschreiben. Ich schlage vor: die des Doppel­ punkts. Er tut nichts, er hat nur einen Bogen in der Hand. Dieses Symbol wird gedeutet: „Er zog aus sieghaft und um zu siegen.“ D. h.: „Ich gehöre den Reitern an, die siegen werden, das sei vorangestellt. Niemand wird uns aufhalten“40. So ge­ hören 1. und 4. Reiter wie Doppelpunkt und Fazit zusammen für das, was mit dem 2. und 3. Reiter entfaltet wird41. Die Klammertechnik des Verfassers lässt grüßen. 40 Die Deutung des ersten Reiters hat schon immer Schwierigkeiten bereitet. Die Interpreta­ tionsbreite reicht von unheil- bis heilbringend. Für die so genannte dunkle Deutung spricht die Einordnung des ersten Reiters in die Reihe der übrigen, so schon M. Luther: Der erste bringe „die leiblichen Trübsale, als da sind Verfolgung von der weltlichen Obrigkeit, welche ist der ge­ krönte Reiter mit dem Bogen auf dem weißen Roß“ (WA.DB 7,410, zit. nach H. H. Borcherdt, G. Merz [Hg.], Martin Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 6, München 31968, S. 114 [Vorrede auf die Offenbarung Sankt Johannis,1530]). – Demgegenüber plädiert u. a. M. Bachmann für die helle Deutung: Der erste Reiter sei deutlich abgehoben von den übrigen durch Stil, Form und Inhalt (Stil: „ein anderes, feuerrotes Pferd [6,4]; Form: chiastisches Zusammentreffen des ersten und zweiten Visionsblocks: Der 1. Reiter „zog heraus“ sieghaft [ἐξῆλθεν / exēlthen]; Es „kam heraus“ ein 2. Pferd [ἐξῆλθεν / exēlthen]; Inhalt: weißes Pferd, Krone, Sieg, auftragslos und dennoch den Bogen gespannt zum eschato­ logischen Sieg). So möchte er den ersten Reiter mit R. Hanhart als „die Macht der Sühne und Versöhnung“ durch das göttliche Gericht hindurch interpretieren (M. Bachmann, „Wo bleibt das Positive? Zu Offb 6,1 f und 17,5 in Rezeptionsgeschichte und Exegese“ in: M. Labahn, M. Karrer [Hg.], Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012 [ABG 38], S. 206– 213, bes. S. 213; vgl. auch M. Karrer, „Apoll und die apokalyptischen Reiter“, in: M. Labahn, M. Karrer [Hg.], Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012 [ABG 38], S. 242 f). Fällt das Licht auf den Ausgangspunkt der „Macht“, ist an Christus gedacht (z. B. J. Herzer, „Der erste apokalyptische Reiter und der König der Könige“ in: NTS 45/1999, S. 239); fällt es aber auf den Endpunkt, sind es die letztendlich sieghaften Christen (A. Satake, a. a. O., S. 218). – K. Berger fokussiert die weiße Farbe des Pferdes, die Gerechtigkeit bedeute, und hält diese für das sieghafte Kontinuum trotz scheinbaren Obwaltens von Unrecht und Gewalt (a. a. O., S. 544). – Einen hell-dunklen Mittelweg beschreitet U. B. Müller. Er betrachtet den 1. Reiter als Aktualisierung der alten Plagentradition (Schwert, Hunger, Pest, wilde Tiere), wie sie beim 2.–4. Reiter vorliegt. Dieser symbolisiere das sieghafte Vorrücken der Parther gegen das Römische Reich (ca. 62 n. Chr.). Das mache ihn zur Lichtgestalt, zugleich aber auch zum Vorboten eines eschatologischen Endkampfes, der Morden, Hungersnöte und Tod mit sich bringt (vgl. auch E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 47; H. Lichtenberger, Die Apokalypse, Stutt­ gart 2014 [ThKNT 23], S. 139). 41 Ähnlich T. Holtz, a. a. O., S. 64 f.

621

Das Gottesbild

Die Übergabe der Vollmacht an den Tod und sein Gefolge wird in der vierten Siegelvision klar ausgesprochen: ἐδόθη αὐτοῖς ἐξουσία / edothē autois exousia = es wurde ihnen Macht gegeben. Das passivum divinum markiert den Geber: Gott. Er, vertreten durch die vierte Gestalt seines Thronsaals, ruft auch Tod und Hölle hervor (ἔρχου / erchou = komm!). Er veranlasst Verwüstung und Tötung eines Viertels der Erde. Das „Komm“ zieht sich durch die ersten vier Siegelvisionen durch. So wird Gott durch seinen festen Entschluss Verursacher all des Elends. In der zweiten Vision kann das ἐδόθη / edothē ebenfalls als Machtübergabe an den Schlächter gelesen werden, auch wenn es wörtlich nur heißt: „Ihm wurde gegeben“. Diese Formulierung erfordert immer Gott als logisches Subjekt und die Ergänzung „Macht“. – Gott wendet diese Vernichtungsmacht nicht nur gegen Gotteslästerer und Ignoranten an, sondern auch gegen seine Zeugen (fünftes Sie­ gel). Diese werden einstweilen getröstet mit dem weißen Gewand der Gerechten (vgl. 7,13–17) und der Aussicht auf die nahende Vollendung. Tabellarische Zusammenfassung: Reiter

Reiter

Reiter

Reiter

weiß

feuerrot

schwarz

fahl

Ruf (von Gott) 1.Gestalt: „Komm“

2.Gestalt: „Komm“

3.Gestalt: „Komm“

4.Gestalt: „Komm“

Macht (von Gott) (pass. div.)

Ihm wurde gegeben …

Inhalt der Machttat

Frieden nehmen

Teuerung, Hungersnot

Tod durch Krieg und Hungersnot

Entfaltung

Entfaltung

Fazit

Pferd

Sinn

Doppelpunkt

Ihnen wurde Exousia gegeben

Die sechste Siegelvision leitet quasi einen Weltuntergang ein. Der Kosmos gerät durcheinander mit fatalen Folgen für die Erde: Auflösung des Himmelsgewölbes, Delokalisierung von Bergen und Inseln, Flucht der Menschen in den Tod; auf Gottes Veranlassung hin! Denn er hat vier Engeln (Macht) gegeben, der Erde und dem Meer zu schaden (7,2)42. Wie die Selbstüberwindung seines Zerstörungswil­ lens (6,16 f: „Zorn“) wirkt der „andere“, also der fünfte Engel, mit ganz eigenem Siegel, dem „Siegel Gottes“, der den Untergang hinauszögert, bis die 144.000 und jene „große Schar“ aus den Völkern „versiegelt“, gerettet, sind. 42 Diese Vision geht weit über die apokalyptischen Erscheinungen Mk 13,24–27 hinaus. Dort wurden die Kräfte des Himmels lediglich „erschüttert“, hier fallen sie in sich zusammen.

622

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Das Szenario wirkt wie eine Wiederholung der Sintflut mit ihrer Vernichtungs­ gewalt und der Rettung Noahs und seiner Familie samt den Tierarten paarweise. Mehr noch: Diese „Flut“ hat kein Ende. Sie wird abgelöst von einer weiteren (die sechs Posaunen), die die noch verbliebenen Menschen trifft – außer den Versiegel­ ten (9,4). Und noch eine dritte „Flutwelle“ rafft weitere Menschen hin (die sieben Schalen), wenn auch allesamt Lästerer und Ignoranten, und produziert terrestri­ sche Katastrophen bisher nicht gekannten Ausmaßes (16,18.20). Die Sintflut in Gen 7 kennt ein Sinken der Wasser, neue Lebensmöglichkeiten auf der Erde und vor allem Gottes Selbstverpflichtung: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verflu­ chen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich es getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ (Gen 8,21 f). Was der Seher Johannes in seinen Visionen sieht und in seinen Auditionen hört, ist das glatte Gegenteil. Nicht wegen der Gewalt-Tätigkeit ist das Gottesbild der Offenbarung inakzeptabel, sondern wegen der „Untreue“ Gottes zu seiner prinzi­ piellen Selbstverpflichtung am Anfang der Schöpfung. Diese „Untreue“ hat nichts mit der immer wieder festgestellten Ambiguität Gottes zu tun. Diese zerstört nicht den Glauben an seine Treue. Sie hält entweder Aufbauendes und Zerstörendes in Gott in der Waage mit gelegentlichem erkennbarem Übergewicht zum Aufbauen­ den, oder sie lässt uns vor der Unbegreiflichkeit des dunklen Gottes verstummen. Selbst im Gefühl tiefster Verlassenheit lässt sie die Möglichkeit zur Anrede Gottes offen (Ps 22,2 u. ö.). Legt Gott aber Zeugnis von seiner Untreue ab – und das tut er in der Offenbarung: „denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergan­ gen, und das Meer ist nicht mehr“ (21,1)43 –, dann läuft eine solche Schrift dem

43 Ob der neue Himmel und die neue Erde innergeschichtlich oder posthistorisch gedacht sind, bleibt in der Schwebe. Ab 6,11 scheint die Regentschaft der Märtyrer eine posthistorische zu sein. Eine Auferstehung zur Regentschaft ist vorausgesetzt. In 20,4 ist die Auferstehung allerdings sehr realistisch ausgemalt, so dass der Eindruck entsteht, als geschehe sie in die historische Zeit hinein. Ferner: Woher kommt der Reiter auf dem weißen Pferd mit dem „Heer des Himmels auf weißen Pferden, angetan mit weißem, reinem Leinen“? Sicher aus der Überzeitlichkeit in die Zeitlichkeit; denn er wird die Völker „regieren mit eisernem Stabe“ (19,15), aber wiederum von oben her („König aller Könige und Herr aller Herren“ [19,16]). Schließlich gibt es vor dem neuen Himmel und der neuen Erde eine allgemeine Totenauferstehung (20,13). Diese endet für die einen mit dem „zweiten Tod“, für die anderen mit dem ewigen Leben, was nicht wörtlich ge­ sagt wird, aber dem Duktus der Offenbarung seit 2,10 entspricht. Ist ihr „Lebensraum“ nun das neue Jerusalem? Die Stadt kommt aber aus dem Himmel „herab“. Wohin? Zu den „Menschen“! Auf die Erde? Auf die neue Erde! Auferstehung also wohin? Ist die neue Erde der urzeit-/endzeit­ liche neue paradiesische Lebensraum für die neuen (?) Menschen? Oder ist „der neue Himmel und die neue Erde“ Metapher für einen „Lebensraum“, der nicht anders sagbar ist? Vgl. S. Alkier, a. a. O., S. 149: Die Bildwelt der Offenbarung inszeniert die „Überzeugung, dass menschliche Sprache nicht in der Lage ist, adäquat über die unendliche Macht Gottes und seines Sohnes, die komplexe kosmologische Wirklichkeit und ihre Zukunft zu sprechen.“

Das Gottesbild

623

durchgängigen biblischen Bekenntnis zum „treuen Gott“ (Ps 31,6 u. ö.) zuwider44. Damit ist die Frage der Kanonizität der Offenbarung berührt. Es reicht nicht, sie wegen der Gewalt-Tätigkeit Gottes allein zu problematisieren. Das wäre mit den Worten M. Bachmanns eine unangemessene „Perhorreszierung“45. Einzig und allein das Zeugnis von der „Untreue“ Gottes macht sie als heilige Schrift äußerst fragwürdig. Dennoch mag sie im Kanon verbleiben. Denn sie zeigt durchaus auch bisher bekannte Seiten Gottes, ja, fasst sie als letztes Buch der Bibel geradezu zu­ sammen. Zudem zeigt sie aber auch, wie grenzwertig es sein kann, „vom Geist ergriffen“ zu werden (1,10; 4,2) und seinen Gesichten zu folgen. Auch das gehört zur Lernschule des Glaubens. Die 5. Posaunenvision kennt Plagegeister, die Heuschrecken (9,3). Auch ih­ nen wird Macht (ἐξουσία / exousia) gegeben (pass. div.). Ihre Vollmacht ist genau umschrieben: Die Flora sollen sie in Ruhe lassen, einzig auf die Menschen sol­ len sie sich konzentrieren, „die nicht das Siegel Gottes haben an ihren Stirnen“ (9,4), sondern das Malzeichen des Tieres (14,9–11). Wenn die Offenbarung eine Trostschrift für die Märtyrer ist, dann ist sie zugleich eine Kampf- und Fluch­ schrift gegen die Ungläubigen. Die Vollmacht der Quälgeister (9,5) wird in ge­ radezu sadistischer Weise weiter spezifiziert: fünf Monate Qual, aber die Men­ schen nicht töten, selbst wenn sie den Tod vor Verzweiflung suchen sollten; sie sollen ja schließlich gequält werden (βασανισθήσονται / ​basanisthēsontai [9,5; 14,10]). Solch ein Sadismus Gottes begegnet in der Bibel selten. Man muss weit zurückgehen: Der Richter Ehud, vom Herrn erweckt, hat unter den Augen Gottes und mit dessen Billigung Freude am Abschlachten des fetten Eglon (Ri 3,12–30). In der 4. Schalenvision wird Gott deutlich als Urheber aller Plagen benannt. Er hat „die Macht“ (τὴν ἐξουσίαν / tēn exousian) „über diese Plagen“ (16,9). Da man bei Gott selbst nicht von „Vollmacht“ reden kann, muss man hier an die aus-füh­ rende Macht denken (ex-ousia). Hier hat er die Exekutive, während sie in 9,1–3 an den Engel bzw. die Heuschrecken delegiert ist. Das ist auch in 16,8 so. Hier ist die 44 Das gilt ungeachtet des Bekenntnisses zur Auferstehung der (versiegelten) Toten zum ewi­ gen Leben, was im Übrigen nicht Hauptthema der Offenbarung ist. – Es ist abwegig, 2.Kor 5,17 als Vergleichsaussage auf gleicher Ebene heranzuziehen (so aber J. Roloff, a. a. O., S. 200). Denn dort ist „alt“ und „neu“ im Sinne eines durch die Taufe vollzogenen Existenzwechsels gemeint, der freilich in eine unverbrüchliche Christusgemeinschaft führt, aber hier und jetzt in den ge­ gebenen Schöpfungsstrukturen beginnt. In Offb 21,1.5 jedoch werden die bisherigen Schöp­ fungsstrukturen aufgehoben (vgl. auch 6,12–17). „Der innerweltliche Geschichtsverlauf hat seine Heilsbedeutung verloren“, Rettung ist nur „in einem ‚transhistorischen‘ Akt“ Gottes möglich (H. Ritt, a. a. O., S. 6). – H. Giesen verweist auf jüdisch-apokalyptisches Denken, wonach Gottes Heilshandeln an Adam, Noah und Abraham durch die Schuld der Menschen als unwirksam gilt (äth. Hen 90,41) und Heil nur posthistorisch zu erwarten sei (äth. Hen 90,33) (H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 17). Wie anders aber soll man ein solches Zerreißen der Treue zwischen Vergangenheit und Zukunft bezeichnen als mit „Treuebruch“? (Anders H. Gie­ sen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 15 und T. Holtz, a. a. O., S. 2; K. Berger, a. a. O., S. 1428: „Rückabwicklung von Gen 1–12“). 45 M. Bachmann, a. a. O., S. 214.

624

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Macht46, die Menschen mit Feuer zu versengen, an den vierten Schalenengel über­ tragen47. Vollmacht (ἐξουσίαν / exousian) über das verzehrende Feuer zu haben, ist den Engeln vertraut (14,18). Dem ist der theophane „Glanz“ (δόξα / doxa) ähnlich, Zeichen der dem Engel gegebenen Verkündigungsmacht. In Vollmacht kann er verkündigen: „Sie ist gefallen, sie ist gefallen, Babylon …“ (18,2). Diese „große Macht“ „hat“ er, sein Wort setzt Fakten, so dass am Fall „Babylons“ nichts mehr zu ändern ist. Dass Gott dem Tod (Voll)macht auf Erden übertragen hat, hat insbesondere der vierte apokalyptische Reiter bewiesen. Nichtsdestoweniger bleibt Gott zusammen mit Christus Herr über den Tod. Er kann ihm die Exousia auch wieder nehmen. Das ist bei der „ersten Auferstehung“ der Fall (20,5): Die enthaupteten Märtyrer sind für immer der Macht des Todes entrissen und regieren sogar mit Christus 1000 Jahre. Wenn danach das Weltgericht kommt und der Tod ein zweites Mal zu­ schlägt, wird dieser, der „zweite Tod“, keine Macht haben (οὐκ ἔχει ἐξουσίαν / ouk echei exousian) über die auferstandenen Zeugen (20,6). Macht und Ohnmacht des Todes liegen bei Gott und Christus. Die himmlischen Zeugen haben von Gott Macht übertragen bekommen zum tausendjährigen priesterlichen und königlichen Dienst (20,4.6), die irdischen48 zum zeitlich begrenzten prophetischen Amt (11,3). Das ihnen zugeordnete Sym­ bol des Ölbaums und des Leuchters verleiht ihnen göttliche Autorität. Der Öl­ baum steht für den von Gott legitimierten Priester-König, der Leuchter für das Licht von Gott, also die Geistbegabung49, ein für Johannes sehr wichtiges Krite­ rium der Prophetie (vgl. 1,10; 4,2). Der Zeugendienst ist zwar vom Grundsatz her etwas Positives, insofern er Christusdienst ist. Offenbar haben die Zeugen im Na­ men Christi zur Buße aufzurufen; denn sie sollen „Trauerkleider“ anziehen (11,3). Wenn sie es aber so tun, wie es der „Mitknecht“ Johannes tut – und das steht nach 11,6 zu erwarten50, dann geht Unheil mit ihrer Weissagung einher, ohne freilich einen wirklichen Bußerfolg zu erzielen. Hinzu kommt noch, dass Gott bzw. Chris­ 46 ἐξουσία / exousia nicht genannt. 47 Es ist grammatisch nicht eindeutig, ob die Macht zur Verbrennung ihm (dem Engel) oder ihr (der Sonne) gegeben wurde. Ἥλιος / Hēlios = „Sonne“ ist Masculinum, daher im Griechischen auf jeden Fall αὐτῷ / autō = ihm. – Ich beziehe die Macht auf den Engel. Auch 7,2 ist den Engeln Macht gegeben (vgl. auch 14,18; 18,1), nirgends aber einem Gestirn. Zwar wird der Sonne in 1,16 δύναμις / dynamis zugeschrieben, aber nicht als göttlichem Exekutivorgan, sondern als Gestirn, außerdem in einem Vergleichsnebensatz. 48 „Zwei Zeugen“ steht entweder für „der Zeuge“ als Kollektivbegriff oder stellvertretend für alle Zeugen. Die Zweizahl ergibt sich aus der Verifikation des Bezeugten: Jede Wahrheit muss nach dem Zeugenrecht von mindestens zwei Zeugen bestätigt werden (J. Roloff, a. a. O., S. 115; H. Ritt, a. a. O., S. 60; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 249). 49 So J. Roloff, a. a. O., S. 116; H. Lichtenberger, Die Apokalypse, a. a. O., S. 170. Anders U. B. Müller, a. a. O., S. 210: Leuchter als „Sinnbild der christlichen Gemeinden“. 50 Sie haben von Gott bzw. Christus die Vollmacht (τὴν ἐξουσίαν / tēn exousian), den Regen zu verhindern, Flüsse zu vergiften und Plagen über die Erde zu senden.

Das Gottesbild

625

tus ihnen so viel Macht und Freiheit gibt zuzuschlagen, dass dies zur Willkür wird (ὁσάκις ἐὰν θελήσωσιν / hosakis ean thelēsōsin = sooft sie wollen [11,6]). Sie selbst werden vom Himmel so ausgerüstet, dass sie ihre Feinde mit Feuer, das aus ihrem Mund kommt, töten können (11,5)51. Diese Art, feindliche Angriffe auf Zeugen zu kontern, erstaunt bei all den Aufrufen zur Geduld. Sie ist nicht gedeckt durch die ihnen zugesprochene endzeitliche Hirten- und Richterfunktion (2,26–28). Sie geht letztlich auf den un-heilen Gott zurück, der die Tötung seiner Feinde nicht scheut und in die Nähe der Willkür rückt. Wie den Zeugen einerseits, so gibt Gott auch zehn heidnischen Königen ande­ rerseits „für eine Stunde“ Macht (ἐξουσίαν / exousian) (17,13), freilich „zusammen mit dem Tier“. Das Tier als militärische Stärke und ideologischer Rückhalt gibt ih­ nen Kraft (δύναμιν / dynamin) und Macht (ἐξουσίαν / exousian), die sie sich natür­ lich durch Huldigung immer neu erwerben müssen (17,13). Hierzu ist Anm. 31 zu vergleichen (Stichwort „Teufelskreis der Macht“). Hier geht es darum, dass sich die widergöttliche Staatsmacht selbst zerstört, aber nicht wie durch ein Naturgesetz, sondern indem Gott im Hintergrund die Fäden zieht: Die zehn Könige, die sich gegen die Hure Babylon, also gegen Rom (17,9), verbündet haben, tun es, unmerk­ lich von Gott gelenkt, unbewusst nach seinem Willen. „Denn Gott hat’s ihnen in ihr Herz gegeben, nach seinem Sinn zu handeln und eines Sinnes zu werden und ihr Reich dem Tier zu geben, bis vollendet werden die Worte Gottes“ (17,17). E. Lohse urteilt: „So bedient sich Gott selbst der satanischen Mächte, um das gottlose Ba­ bylon zu strafen.“52 – Was auf den ersten Blick anstößig erscheint, ist indes mit dem bisher gewonnenen Gottesbild vereinbar. Zum einen ist der alte Kriegsgott dahinter zu erkennen, der durch seinen „Schrecken“ die feindlichen Heere derart aufeinander und auseinander treibt, dass Israel gerettet wird (z. B. 1.Sam 14,15; vgl. auch den „bösen Geist“, den Gott zwischen Abimelech und die Bewohner von Sichem sendet [Ri 9,22–24]), zum anderen leuchtet der Gott des Kreuzes Christi hervor, der das Böse, das sich gegen ihn, das Lamm (17,14) und seine Zeugen richtet, sich austoben lässt, um es gerade darin zum Besten zu wenden53. 51 Im Hintergrund steht die Eliasage (2.Kön 1,1–16). Metaphorisierung des Feuers (so K. Ber­ger, a. a. O., S. 782) nützt nichts, weil auch eine „mit Worten des Fluchs herbeigeführte Bestrafung“ Tod bedeutet. Vgl. auch unten NT 9.3.5, dort Anm. 68. 52 E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 96; ebenso U. B. Müller, a. a. O., S. 296; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 386; A. Satake, a. a. O., S. 354. 53 17,9b-17 spiegelt eine historische Situation. Zielpunkt des Krieges ist Rom auf den „sieben Bergen“, ab 17,14 alle Christengemeinden. Das Rätsel, wer die sieben realen „Könige“, also Kaiser, sind, lässt sich nicht befriedigend auflösen (vgl. dazu J. Roloff, a. a. O., S. 170 und U. B. Müller, a. a. O., S. 291 ff). Sicher ist nur, dass der achte der sagenhafte Nero redivivus ist, der – nach rö­ mischer Sicht – wiederkehren werde, um sich mithilfe der Parther an Rom zu rächen, der – nach frühjüdischer Befürchtung – als endzeitlich dämonischer Widersacher Gottes emporkommen und von einem Messias besiegt werden wird. Johannes fasst zusammen: Nero redivivus wird für seinen Kampf um Rom und gegen das Lamm zehn verbündete Könige, wohl aus dem Reich der Parther, sammeln (Zur Nero-Sage U. B. Müller, a. a. O., S. 297 ff).

626

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Die göttliche Macht, übertragen auch auf Christus, Engel und Zeugen, hat ab Offb 12 ihre Gegenspieler. Antagonist Gottes ist der Drache, der zunächst noch im Himmel sein Unwesen treibt und ein Drittel der Sterne hinwegfegt (12,4). Vor der Geburt des Kindes wird er mit seinen „Engeln“ nach einem Kampf mit Michael aus dem Himmel auf die Erde geworfen (12,7–9). Hier kann er sein böses Spiel weiter treiben: verführen, verleumden, das Martyrium fördern. Darin entfaltet er seine Machtdynamik, die von ihm ausgehende, Menschen prägende Kraft. Von dieser Dynamis ist in 13,2 die Rede: Der Drache, der schon immer war54 und ist55 und nicht mehr lange sein wird56, gibt seine Kraft (δύναμιν / dynamin) und sei­ nen Thron (θρόνον / thronon) und große Vollmacht (ἐξουσίαν μεγάλην / exousian megalēn) an das „Tier“, d. h. an die Staatsmacht, das imperium Romanum. Der Teufel gibt dem Staatsapparat Anteil an sich selbst, und der Staat nimmt die Gabe, sich mit dem Satan identifizierend, gern entgegen. Seinen Ausdruck findet das in der nahezu identischen Beschreibung des Drachens und des „Tieres“: Drachen am Himmel sieben Häupter zehn Hörner sieben Kronen auf den Häuptern

Wirkfeld ←  der teuflischen  → Dynamis

„Tier“ aus dem Meer sieben Häupter zehn Hörner zehn Kronen auf den Hörnern

Die Identifizierung wird in 13,4 vorangetrieben. Das ganze römische Reich, hier mit der „ganzen Erde“ gleichgesetzt, betet das Tier und darin den Drachen an und hält die Macht des Imperiums, verkörpert im Kaiser (und dessen Bild), für un­ vergleichbar absolut, für göttlich. Womit „die ganze Erde“ fatal richtig liegt; denn die verliehene Macht kommt ja aus der ehemals göttlichen Sphäre, nur dass sie eben – und das ist das Fatale – nun antigöttlich ist. Die Macht des Staates ist nach Auffassung der Offenbarung satanisch; denn der Teufel hat ihm die Macht gege­ ben. Gott hingegen hat seinen Heiligen Macht gegeben, Zeugendienst zu leisten, zur Buße zu rufen (11,3), die Völker zu führen und ggf. auch über sie zu Gericht zu sitzen (2,26–28). Die „Gemeinschaft der Heiligen“ ist das Gegenbild zum Staat. Das „Tier“ ist der Antagonist der Heiligen, der Zeugen. Dass es seine Macht vom Drachen hat und diese Macht in Konkurrenz zu Gott (12,10) weltweit ausübt, wird mit oder ohne Exousia-Begriff in 13,4–7 wiederholt. Ab 13,5 allerdings ist nicht eindeutig, von wem das „Tier“ all seine Macht hat: vom Satan oder von Gott? Die Logik des Kontextes spricht für den Sa­ tan. Isoliert betrachtet enthalten diese Verse jedoch stets das Passiv von „geben“ 54 „die alte Schlange“ (12,9; 20,2). 55 „Teufel und Satan“ (12,9; 20,2). 56 Er „weiß, dass er (nur) wenig Zeit hat“ (12,12; 20,10).

Das Gottesbild

627

(ἐδόθη αὐτῷ / edothē autō = es wurde ihm gegeben), teils ohne (13,5a.7a), teils mit (13,5b.7b) ἐξουσία / exousia = (Voll)macht. Es könnte sich um das passivum divinum handeln. Darf man 13,5–7(f) „aus dem Kontext reißen“? Man darf! Denn die Kraft und Macht, die der Drache gibt, wird im Aktiv übereignet. Offenbar steht dem Drachen das Passiv nicht zu, weil es für Gott reserviert ist. Andernfalls müsste man neben einem passivum divinum ein passivum diabolicum vorausset­ zen, was sonst nicht zu finden ist. Folglich haben wir es in 13,5.7 mit einem passi­ vum divinum zu tun: Gott gibt dem Staat Großmäuligkeit und eine antichristliche Haltung, Gott gibt dem Staat Vollmacht zum Kampf gegen die Heiligen und gibt ihm den Sieg, Gott gibt dem Staat Vollmacht über die ganze (römische) Welt. Dass Gott dahinter steht, belegt nicht nur das passivum divinum, sondern auch die Vollmachtsfrist „zweiundvierzig Monate“ (= 1260 Tage = 3½ Jahre), die dem Satan gewährte Frist, die vom Heilshandeln Gottes „umgriffen“ wird57. Welch dunkler Gott tritt uns hier in der Offenbarung des Johannes entgegen! Es ist derselbe Gott, der die Seelen der verstorbenen Märtyrer noch nicht erlösen will, weil erst noch mehr dazukommen müssen (6,9–11), und der den Satan, den er eigentlich schon fast unschädlich gemacht hat (20,1–6), noch mal loslässt zum großen Raubzug über die Erde (20,7–10). Der dunkle Gott ist kein Unbekannter. Wo immer er auf­ trat, sei es Gen 22,1–19, Ex 4,24–26 oder in Protojesaja, war sein Wirken höher als unsere Vernunft oder diese Seite ein Teil seiner Ambiguität. In 13,5.7 allerdings fällt es schwer, sein Handeln als Entfaltung seiner destruktiven Seite zu sehen, zumal ja in Kap. 12 gerade diese Seite seines Wesens ausgestoßen worden ist. Die Unterstützung des Kampfes gegen seine Heiligen allein ist schon ein Treuebruch, erst recht skandalös post lapsum diaboli. Die Offenbarung des Johannes stellt sich hier als ein Sammelsurium von inkompatiblen und inakzeptablen Gottesbildern dar, die mühsam durch den großen heilsgeschichtlichen Bogen der Gliederung zusammengehalten werden58. Bleibt noch das zweite Tier in all seiner Machtvollkommenheit (τὴν ἐξουσίαν … πᾶσαν / tēn exousian … pāsan [13,12]) zu betrachten. Woher hat es diese, wozu hat es diese und wen oder was symbolisiert es? 13,11 gibt erste Auskünfte. Wie das erste Tier aus dem Meer aufsteigt, so das zweite aus der Erde. Während das erste Tier zehn Hörner hat, hat das zweite nur zwei. Es redet wie ein Drache. Die Her­ kunft vom Drachen ist also eindeutig. Das zweite Tier ist ein Werkzeug des ersten. Es ist jedoch weniger mächtig ausgestattet als das erste Tier: Es hat vier Hörner weniger, Kronen schon gar nicht auf. Der Aufstieg aus der Erde könnte mit der Präsenz des Satans im Meer (13,1) und auf der Erde (13,11) gleichermaßen zu tun 57 Vgl. dazu den Exkurs von J. Roloff: „3½ Jahre – 42 Monate – 1260 Tage“ in: Ders., a. a. O., S. 113 f. Die Fristgewährung ist in 13,5 allerdings eher ein Skandalon als ein Machterweis Gottes (gegen J. Roloff, a. a. O., S. 137 und gegen H. Ritt, a. a. O., S. 71). 58 K. Wengst rechnet die „logische Widersprüchlichkeit“ dem systematisch-theologischen Entwurf des „Johannes“ zu, was mich indes nicht überzeugt (a. a. O., S. 122).

628

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

haben, wie sie 12,12 schon angedeutet ist59; es könnte aber auch ein Hinweis auf die Inferiorität des zweiten Tieres sein. Denn das Wasser war als „Ursuppe“ schon vor aller Schöpfung da, schon immer Lebens- und Wirkbereich des Leviathan60, über dem freilich der Geist Gottes schwebte (Gen 1,2). Die Scheidung von „Wasser unter dem Himmel“ von der „Erde“ geschah erst am „dritten Tag“ (Gen 1,9 ff). So gesehen entsteigt das erste Tier seinem ureigenen (inzwischen freilich zum Meer gebändigten) Bereich, das zweite Tier einem Sekundärbereich. Nach 13,12 arbei­ tet es dem ersten Tier zu: „Es macht, dass die Erde und die darauf wohnen, das erste Tier anbeten …“. Dass es dem ersten Tier dienend zugeordnet ist, sagt auch 13,14. Eine Antwort, wer oder was das zweite Tier sei, kann versucht werden. Es ist nicht die primäre, sich auf Befehl und Unterordnung, auf Militär und Wirtschaft stützende imperiale Macht des Staates (das ist das erste Tier), es ist eine geistige Macht: Es sorgt für „Anbetung“ des Imperiums in Gestalt des Kaisers oder seines Bildes (13,12), es verführt die Bewohner des Erdkreises zur Teilnahme am Kaiser­ kult (13,14), es haucht dem Bild des Imperiums Leben und magische Kraft ein, so dass es als Ebenbild des Gott-Kaisers fähig wird, Leben zu schenken oder zu töten (13,15). Das zweite Tier symbolisiert die vom satanischen Staat ausgeübte Macht über die Köpfe61. Das zweite Tier braucht das erste, das erste kommt kurzfristig ohne das zweite aus, langfristig aber nicht. So hat das zweite Tier die Aufgabe, die Macht des ersten zu stabilisieren. – Woher aber hat es diese Vollmacht? 13,12 sagt, es übe alle Macht des ersten Tieres … aus. Ist ihm diese Macht parallel zum ers­ ten Tier direkt übertragen, oder hat es seine Vollmacht vom ersten Tier, also nur indirekt vom Drachen62? Letzteres würde wiederum seine Inferiorität beweisen. Die Frage muss indes nicht letztgültig beantwortet werden, denn 13,14 und 13,15 (beide Male ἐδόθη / edothē = es wurde gegeben, ohne ἐξουσία / exousia = Macht) redet wieder im passivum divinum: Hinter der verführerischen, den Kaiser dei­ fizierenden, Märtyrer produzierenden Propagandamaschine steht fördernd Gott. Ich sage: Mὴ γένοιτο / Mē genoito = das sei ferne! Ein solches Gottesbild lässt sich weder damit rechtfertigen, dass auf diese Weise ein Dualismus zwischen Gut und Böse ausgeschlossen wäre63, noch damit, dass Gott sich so letztlich als der Herr über alles Böse erweise64. Letzteres stimmt wohl, aber dem Dualismus wird nicht gewehrt, indem Gott zum Initiator des Bösen gemacht wird, sondern indem jeder Mensch auf seine Verantwortlichkeit hin angesprochen bzw. nach seinen Werken gerichtet wird (vgl. dazu die 7 Sendschreiben und 14,13; 20,12 f; 22,12). Diese Linie kennt die Offenbarung zwar auch, aber sie steht unreflektiert

59 So J. Roloff, a. a. O., S. 140. 60 In Kanaan als siebenköpfiges (!) Ungeheuer bekannt (vgl. auch Ps 74,14). 61 H. Lichtenberger, Die Apokalypse, a. a. O., S. 190: „Propagandist“. 62 So J. Roloff, a. a. O., S. 140. 63 Das glaubt J. Roloff, a. a. O., S. 137. 64 So H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 309 f und A. Satake, a. a. O., S. 304.

Das Gottesbild

629

neben der anderen. Wie kurz und treffend wird das Problem von Gottes schein­ bar dunklem Weg und menschlicher Verantwortung hingegen in Mk 14,21 parr reflektiert! Alle Aspekte von Gottes power, violence und arbitrariness lassen sich in den Begriffen von κράτος / kratos = Macht, δύναμις / dynamis = Kraft und ἐξουσία / ​ exousia = (ausführender) Vollmacht darstellen. Darüber hinaus sind die Linien zu verstärken und zu ergänzen durch Zeichnungen des apokalyptischen Gottesbildes, die nicht durch diese Begriffe wörtlich markiert sind.

9.3.4 Gottes präfinale Gewalt 15,4 scheint der zerstörerischen Gewalt Gottes einen Sinn verleihen zu wollen. Sie wird als „Rechttaten“ interpretiert, die letztlich zur endzeitlichen Völkerwallfahrt nach Jerusalem bzw. zur „Hütte Gottes bei den Menschen“ führen wird. Die Alter­ native „Gericht oder Evangelium“, die ein erster von drei Engeln „allen Nationen, Stämmen, Sprachen und Völkern“ stellt (14,6–7), ruft in die Entscheidung65. Die Gerichte Gottes sind „wahrhaftig und gerecht“ (15,3) nicht nur in dem Sinn, dass sie scheiden zwischen Auferstehung zur Regentschaft bzw. ewiger Verdammnis, sondern auch in dem Sinn, dass sie zur Wahrheit, d. h. zur Anbetung dessen füh­ ren, der Himmel und Erde gemacht hat (15,4; 14,7). Von daher fällt auch Licht auf Kap. 10. Die Botschaft, die Johannes allen Völkern, Nationen, Sprachen und Königen zu verkündigen hat, ist „süß“ in seinem Mund (Ruf an die Völker, das Evangelium Gottes und somit die Einladung zur Völkerwallfahrt anzunehmen), aber bitter in seinem Magen (Dass es offenbar nicht ohne präfinales Gericht geht, bereitet ihm „Bauchschmerzen“)66. Diese Gedanken sind keine theologischen Unbekannten und könnten sich gut einfügen in den Duktus, den die Gliederung vorgegeben hat, wenn nicht das 16. Kapitel alles wieder zunichte machen würde. Gottes Zornschalen zerstören den Lebensraum der Menschen mindestens auf lange Zeit; wo Menschen nicht von der Hitze der Sonne verbrannt werden, werden sie von Geschwüren gequält.

65 Mit E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a.a.O, S. 85; gegen U. B. Müller, a. a. O., S. 267 und H. Lichtenberger, Die Apokalypse, a. a. O., S. 200, die im „ewigen Evangelium“ das Gericht mit gemeint sehen. Umgekehrt könnte man dann aber auch im „Gericht“ das Evangelium mit hören, was zu einer Begriffsdiffusion führen würde. – H. Giesen setzt sich für einen ausschließ­ lich heilbringenden Klang des Wortes „Evangelium“ ein (Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 328). – K. Berger verweist auf die hermeneutische Rolle von Jes 61,1 f im frühen Christen­ tum, die das Evangelium Jesu Christi (Mk 1,1) in das Licht von Verheißung und Erfüllung stelle (Mk 1,14 f; Mt 4,14–17; Lk 4,18 f), allerdings nur auf Israel bezogen, während das „Evangelium“ der Offenbarung „die universale Völkermission“ meine (a. a. O., S. 1085). 66 Das Bild vom Verschlingen des Buches geht auf Hes 3,1–3 zurück.

630

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Gottes präfinale Gewalt als Mittel zur Bekehrung greift nicht mehr, im Gegenteil: Die Menschen sind hineingeworfen in einen Teufelskreis von immer stärkerer Gotteslästerung und immer stärkerer Gewalt. Sollte Gott daran Genugtuung emp­ finden? Er „gedenkt“ Babylons, „der großen Stadt“ und zerschmettert sie, dass sie „nicht mehr gefunden werden wird“ (16,19; 18,21). Wenn Gott „gedenkt“, dann überwiegend im Sinn einer positiven Beziehung67. Hier ist der Sarkasmus des „Ge­ denkens“ nicht zu überhören. Ein solches Gottesbild ist untypisch für die Bibel, zumal es hier in keiner Weise durch ein Gegenbild relativiert wird. Zum Entwurf eines innergöttlichen Gegenbildes hat die Offenbarung keine Kraft. In ihr muss alles auf die Ausplünderung, Entblößung und Verbrennung der „Hure“ hinaus­ laufen (17,17). – Jesus hatte einst seinen Jüngern verboten, einen Feuer­sturm auf ein abweisendes Samaritanerdorf herabzuwünschen68. Denn der Menschensohn sei nicht gekommen, Leben zu verderben, sondern zu erretten, kommentiert u. a. Marcion (Lk 9,51–56). – Ninive hatte einst eine Chance zur Umkehr erhalten, „Babylon“ erhält sie nicht. Hier werden selbst die Zeugen zur Vergeltung aufgerufen (18,4–8)69. Freude über die Erlösung von der „Hure Babylon“, angelehnt an Jer 51,48, mutiert zur Schadenfreude über ihren Untergang (18,20). Wer 16,18–19,8 am Jonabüchlein misst, muss die enorme Spannweite biblischer Verkündigung zur Kenntnis neh­ men und sich fragen, ob der Bogen mit gerade diesen Kapiteln der Offenbarung nicht überspannt ist70.

9.3.5 Gott als Krieger Die Offenbarung des Johannes ist ein Buch vom Krieg der bösen Mächte gegen die Heiligen und vom letztendlichen Sieg der Zeugen. Dementsprechend oft sind die Verben πολεμεῖν / polemein = kämpfen (πόλεμος / polemos = Krieg, Kampf)

67 Er gedenkt (‫ זָ כַ ר‬/ sāchar) des Bundes (Gen 9,15; Lev 26,42.45; Hes 16,60) und seines Vol­ kes im Rahmen des Kultes (Ex 30,16; Num 10,10); er wird der Sünden nicht mehr gedenken (Jes 43,25; Jer 31,34); und er wird einzelner Personen gedenken (1.Sam 1,11; 25,31; Ps 112,6; Jona 1,6 [‫ ָ ע ַשׁת‬/ ’āsat]). In negativer Beziehung nur Hos 8,13; 9,9 („ihrer Schuld gedenken und ihre Sünden heim­ suchen“). Positives Gedenken an Ephraim trotz seiner Sünden (Jer 31,18–20) bildet die Folie, von der sich das „Gedenken“ in Offb 16,19 abhebt. 68 Auch hier der Bezug zur Eliasage, aber mit Ablehnung solcher Verwünschungen! Vgl. oben Anm. 51. 69 Von Strafengeln, wie E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 98, H. Ritt, a. a. O., S. 90 und U. B. Müller, a. a. O., S. 305 meinen, ist hier nicht die Rede. Vorsichtiger inzwi­ schen H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 394. 70 Zur Gewalt-Tätigkeit Gottes in Verbindung mit Willkür und Schadenfreude vgl. auch W. Dietrich, M. Mayordomo, a. a. O., S. 175 f.

Das Gottesbild

631

und νικᾶν / nikān = siegen, überwinden (νίκη / nikē = Sieg) zu finden, besonders im 2. Teil: Kampf im Himmel: 12,7 Kampf des Tieres gegen die Heiligen: 11,7; 13,7 Sieg der Heiligen über das Tier: 12,11; 15,2; 17,14 (Sieg des Lammes) Kampf der zehn Könige gegen das Lamm: 17,14 Endkampf der Könige der Welt, angestiftet vom Satan, gegen den Pantokrator: 16,14; 20,7 f Nicht verwunderlich daher, dass Gott in diesem endzeitlichen Kampf als Kriegsgott auftritt. Wer glaubt, Gott habe diese Rolle im NT abgelegt, wird im letzten Buch eines anderen belehrt. Diese Rolle hat er bereits als einer, der heidnische Heere sich selbst zerfleischen lässt, in Kap. 17 eingenommen. In kriegerisch-messianischer Gestalt71 kommt er zur Vernichtung „Babylons“ daher, gefolgt von himmlischen Heerscharen ­(19,11–16). Seine Waffen sind zwar anderer Art als metallenes Kriegswerkzeug: Gerechtigkeit und die richtende und schlagende Schärfe seines Wortes, aber was er bewirkt, kommt einem vernichtenden Blutbad gleich (19,15). Sein blutgetränktes Gewand lässt ihn als kampferprobten Kriegsherrn erscheinen (vgl. den Rückgriff auf Jes 63,1–6)72. Ist sein Eingreifen durch-schlagende Parteinahme für seine Ge­ treuen (z. B. auch 17,14) – oder späte Rache für die Dahingabe des eigenen Blutes? Der Rachegedanke erhält in der Schilderung der entwürdigenden Ausrottung der Feinde (19,17–21) Nahrung. Bleibt nur festzustellen, dass nicht Israel oder die Getreuen selbst sich rächen, sondern statt ihrer die göttliche Gestalt. Wobei man allerdings andererseits konstatieren muss, dass die Überwinder auch zur Vergel­ tung aufgerufen und so zu Helfern des göttlichen Kriegsheeres werden (18,6–7). Mehr noch: Sie haben Macht bekommen, zu töten und die Umwelt zu verderben, sie werden zu aktiven Gewalttätern im Dienst des Kriegsgottes (11,5–6)73. Deutet 71 K. Huber spricht hier von einer „Christusvision“ („Jesus Christus – der Erste und der Letzte“, a. a. O., S. 461), muss aber dennoch feststellen, dass die vernichtende Gewalt-Tätigkeit „letztlich von Gott her geschieht“ (a. a. O., S. 465) (passivum divinum) (kursiv von mir). Für ihn ein weiterer entscheidender Beweis für die Aktionseinheit Jesu Christi mit Gott (ebd.). 72 U. B. Müller, a. a. O., S. 327. – Zu den unterschiedlichen Deutungen des blutgetränkten Gewandes in Geschichte und Gegenwart vgl. H. Lichtenberger, „Gewalt in der Offenbarung des Johannes“ in ThLZ 144/2019, Sp. 856–859. 73 Das gleiche Problembewusstsein zeigt H. Lichtenberger, Die Apokalypse, a. a. O., S. 246. – Das Herunterspielen exzessiver Gewaltszenen zur bloßen „Außenseite des heilvollen Handelns“ durch J. Roloff (in seinem Kommentar immer wieder, bes. S. 187 f) findet hier allerdings seine Grenze. Von einer theologischen Bändigung der violence ist an dieser Stelle nichts zu spüren. – Rechtfertigung der Gewaltphantasien auch durch H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 421 ff (Ohnmachtserfahrung der Christen gegenüber gottlosen Mächten [425]). Ohn­ macht indes erklärt, aber rechtfertigt nicht Gewaltphantasien! – Gleiches gilt für die „buch­ stäbliche ‚Perspektive von unten‘“, mit der K. Huber die Gewaltszenerie erklärt („Schrei nach Vergeltung, göttliche Gewalt und Sieg des Lammes“ in: Bibel und Kirche 66/2011, S. 165).

632

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

sich hier der Vernichtungskrieg der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Fins­ ternis an, der zwar mit Gottes bzw. Belials Hilfe, aber in direkter Konfrontation geführt wird (1 QM 1,10–12)?

9.3.6 Die Parteinahme Gottes Das Motiv der Parteinahme Gottes geht in allen biblischen Schriften mit Gottes Gewalt-Tätigkeit einher. Denn diese steht ja meist im Dienst seines Volkes, seiner Getreuen, seiner Zeugen, seiner Heiligen. So ist es auch in der Offenbarung des Johannes. Hinzu kommt, dass die Parteinahme für seine Zeugen aus Israel und den Völkern im Christusgeschehen wurzelt. Christus ist der Durchbohrte (1,7), das geschlachtete Lamm (5,6.12; 13,8), dessen Schicksal von dem, der A und O ist, vom Pantokrator, umgriffen ist (1,7 f). Dieser hat dem von seinen Feinden Gewürgten Herrschermacht verliehen (2,28), ihn der Kraft, des Reichtums, der Weisheit, Stärke und Ehre gewürdigt (5,12). Das geht im Falle Christi über Par­ teinahme hinaus und zielt auf Wendung seines Schicksals. Nichtsdestoweniger erstreckt sich dieses Verhalten Gottes auch auf die, die dem Bild Christi gleichen (vgl. die weißen [6,11] bzw. in Blut gewaschenen [7,14] Gewänder), auf die Mär­ tyrer. Auch ihr Schicksal wird gewendet, ihre Peiniger versinken im Erdboden, sie selbst steigen in einer Wolke zum Himmel empor (11,11–14). In 17,9–14 wird die Vernichtung „Babylons“ präludiert. Hier ist es das Lamm, das im Kampf gegen die zehn Könige für seine Berufenen, Auserwählten und Gläubigen eintritt. Wie auch schon bei den Propheten die Gerichtsworte über die Völker als Heilsworte für Israel gelesen werden können, so auch hier. Das Gericht über die vom Blut der Zeugen trunkene „Hure Babylon“, das mit ihrem Untergang endet, ist die für alle Welt sichtbare Parteinahme Gottes für seine Heiligen (vgl. die globale Dimension des Kap. 18). Der Dank der Heiligen besteht in ihrem drei­ fachen Halleluja (19,1.3.6 f). Diese sind zwar nicht mehr auf Erden, sondern im Himmel (vgl. auch schon 18,20). Das aber ist ihr „Lebensraum“, in dem sie den endgültigen Sieg der Gerechtigkeit schauen, in dem sie Genugtuung erfahren, den Allmächtigen loben und die Hochzeit mit dem Lamm und der „Braut“ feiern werden. Nichtsdestoweniger wirkt sich die Herrschaft Gottes auch auf Erden aus (19,6b). Das 20. Kapitel als Parteinahme Gottes für die Seinen zu lesen fällt schwer. Sicher wird der Satan von einem Engel vorerst gebunden. Diese zeitweilige Ent­ machtung des Satans zielt aber nicht nur auf eine Entlastung der Heiligen, sondern auf die Befreiung der Völker von dessen Verführungen (20,3). Der globale (alle Menschen [21,3]) und kosmische (Aus für den Tod [20,14; 21,4]) Aspekt drängt mit Macht herein. Welchen Sinn es macht, den gebundenen Teufel noch mal los­ zulassen und die noch auf Erden lebenden Heiligen in Bedrängnis zu bringen,

Das Gottesbild

633

erschließt sich nicht74. Immerhin kann der, der das veranlasst (passivum divinum in 20,7!), nun Feuer werfend vom Himmel aus zugunsten der Seinen eingreifen und die heidnischen Heere samt Teufel verzehren.

9.3.7 Gottes Ambiguität Die Ambiguität Gottes wird in der Offenbarung zu einem Hör- und Schauerlebnis. Sie kommt sehr eindrucksvoll in seinem Titel „Pantokrator“ zum Ausdruck: AllBeherrscher, der All-mächtige. Er ist zu allem ermächtigt (Selbstermächtigung), und er ist in allem mächtig (auch im Bösen, um durch es zum Guten zu führen). So ist der Allmächtige der Auftraggeber der Zerstörungen, Vernichtungen, Ka­ tastrophen wie auch der Vernichter des Bösen und des Todes und damit der NeuSchöpfer. Dass es am Ende nach Auflösung der alten Welt einen neu geschaffenen Lebensraum der überwundenen Trübsal geben wird, lässt in dem Allmächtigen der Offenbarung den erkennen, der sich selbst zur „großen Gnade“ hin (Ex 34,6) überwindet. Aus der Vogelperspektive (s. Gliederung) ist das alles in Ordnung; bei genauerem Hinsehen allerdings hat Gott seine Bestandsgarantie für seine Schöpfung aufgehoben (21,1.5)75. Er wird sich daran machen, eine neue Welt zu schaffen, weil die geschaf­ 74 H. Lichtenberger sieht nach dem Gemetzel von 19,21 keine realen Feinde mehr (Die Apo­ kalypse, a. a. O., S. 252). – Der Erwartung des 1000jährigen Zwischenreichs ein nur „begrenztes Gewicht“ beizumessen (J. Frey), zeigt die Ratlosigkeit gegenüber diesem Kapitel. Rehabilitierung der Märtyrer ist auch nur ein Aspekt des Bildes, und auch nur dann, wenn man die Gerichts­ übergabe an sie (20,2) als rehabilitierenden Rechtsspruch interpretiert statt sie als regiments­ richterlichen Akt zu verstehen (vgl. dazu J. Frey, „Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur Eschatologie des letzten Buches der Bibel“ in J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth [Hg.], Die Johannes­ apokalypse, a. a. O., S. 534 ff, bes. S. 539). – Die traditionsgeschichtliche Erklärung, wonach in Kapp. 20 und 21 zwei unterschiedliche eschatologische Konzeptionen, eine irdisch-messianische und eine posthistorische, miteinander verbunden worden seien, erscheint wenig begründet (zu dieser Erklärung vgl. U. B. Müller, a. a. O., S. 334 ff und K. Berger, a. a. O., S. 126 ff); denn jüdische Apokalypsen sprechen von „irdischer Eschatologie“ und ggf. von Auferstehung / Gericht, was qualitativ etwas anderes ist als eine neue Welt (vgl. auch die völlig unapokalyptische Transzen­ denzvorstellung in Lk 16,19–31). Genaueres zur Entwicklungsgeschichte der Vorstellung vom messianischen Zwischenreich bei H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 439 ff. Zur Kritik vgl. auch unten Anm. 77. 75 Offb 21,1.5 ist gegenüber den alttestamentlichen Vor-Bildern etwas qualitativ Neues. In Jes 43,19a ist das Neue, das Gott „tun“ (‫ ָ ע ָשׁה‬/ ’āsāh), nicht „schaffen“ (!), wird, die Ermöglichung eines neuen Exodus für die Exilierten. In Jes 65,17 dagegen klingt das neue Schöpfungshandeln Gottes deutlich an. Gott wird „einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ (‫ ָ ב ָרא‬/ bārā’). Allerdings ist hier nicht von einer Abschaffung des alten Äon die Rede. Dazu versteht sich erst Offb 21,1.5, freilich nicht ohne Vorbilder in 4.Esra 7,30 f.51.113 und äth. Hen 91,16 (vgl. E. E. Popkes, „Vollendete Gottesgegenwart. Anmerkungen zu den traditionsgeschichtlichen Be­ zugsgrößen von Apk 21,1–5“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth [Hg.], Die Johannesapokalypse,

634

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

fene – so sieht es der Seher Johannes – wohl nicht die beste aller möglichen Welten ist. Die Schilderung dieser neuen Welt scheint interpretationsoffen. Ist es die Hoffnung auf eine erneuerte, von Frevel, Mord, Unterdrückung, Verfolgung befreite Welt, auf eine Welt, in der Gottes Königtum gegen alle Widerstände wieder zur Geltung gebracht wird? So scheint es im Vorlauf auf Kap. 21 (19,11–20,15). Oder ist es eine posthistorische Welt, die mit der alten historischen nichts mehr zu tun hat? So scheint es im 21. Kapitel (21,1–22,5). Die Erde als Kampfplatz (20,9) gibt es nicht mehr (21,1). Die eingekesselte „geliebte Stadt“ (20,9) ist der aus dem Himmel herabkommenden heiligen Stadt para­ diesischen Glanzes gewichen. Das Meer und das Todesreich (20,13) sind nicht mehr (21,1.4). Auch die Zeit scheint aufgehoben: Wo der Tod nicht mehr ist (21,4), kann man weder in Zeiträumen von 1000 noch von 3½ Jahren rechnen (20,2.6.7). Urzeit und Endzeit scheinen sich im Bild des himmlischen Jerusalem (21,9 ff) und des fruchtbaren Gartens (22,1 ff) zu begegnen. Auch das spricht für ein trans- bzw. posthistorisches Verständnis. – Dem läuft allerdings 21,3 f zuwider. Hier ist von der „Hütte Gottes bei den Menschen“ die Rede76. Und der Folgesatz verstärkt: Gott wird bei den Menschen wohnen. Dann folgt die alte Gott-Volk-Formel, wo Gott sich seinem Volk Israel ver­ pflichtet und Gleiches auch umgekehrt erwartet (vgl. Jer 7,23; 11,4; 24,7; 30,22; 31,1.33; Lev 26,12; Hes 11,20; 34,30; 37,27). Nach ältesten Textzeugen ist sie auf „die Völker“ erweitert: „… und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott, wird mit ihnen sein …“. Seien es nun „das Volk“ oder „die Völker“, sie sind zweifellos eine historische Größe, die „Menschen“ sind es auch. Vom „neuen Menschen“ ist nicht die Rede. Auch nicht von den auferstandenen Heiligen oder den später auferstandenen anderen zum Gericht. Von der Einwohnung Gottes im Lebensbereich der alten Menschen ist die Rede. Von einem Verhältnis in schutzbefohlener Abhängigkeit (Gott – Sohn [21,7]), aber ohne Distanz. Ein solches Hoffnungsbild kann man sich als intrahistorisch vorstel­ len, als Lebensraum der überwundenen Trübsal, als Gabe des kommenden Gottes77. –

a. a. O., S. 240 und 244). Daran ändern auch gutwillige theologische Formulierungen nichts – wie: „Die neue Schöpfung ist nicht Verneinung und Preisgabe der alten, sondern deren Über­ bietung“ (J. Roloff, a. a. O., S. 192). Oder: „… eine von Gott gewirkte Neuschöpfung …, in der die Identität der Schöpfung erhalten und zugleich total erneuert ist …“ (T. Holtz, a. a. O., S. 133). Ich halte es da eher mit H. Lichtenberger: Die Apokalypse will „ein Trostbuch für die bedräng­ ten Gemeinden“ sein. „Und doch müssen wir uns fragen: 1. Kann die Vernichtung der Feinde Trostgrund sein? 2. Ist dieses weltgeschichtliche und weltweite Gemetzel wirklich Voraussetzung für die Gottesherrschaft? 3. Was machen wir damit, dass Christus dieses Blutbad selbst anrich­ tet? …“ (Die Apokalypse, a. a. O., S. 627). 76 Darauf macht F. Tóth mehrfach aufmerksam (a. a. O., S. 332 und 388), um dann wenig erhellend von der „Erwartung eines eschatologischen kultischen Heilsraumes auf Erden“ zu sprechen (kursiv von mir). 77 J. Frey möchte in Kap. 20 eine von Kap. 21 verschiedene Parusietradition sehen: in Kap. 20 eine temporäre Herrschaft Christi mit den auferstandenen Heiligen, in Kap. 21 eine Gemein­ schaft mit Gott einschließlich ewiger Mitherrschaft der Heiligen (22,5). Nur wird diese Begriff­ lichkeit („temporär“ und „ewig“) der eschatologischen Dimension der beiden Kapitel nicht gerecht. Für Kap. 20 mag eine (begrenzte) überzeitliche Herrschaft gelten, für Kap. 21 eine posthistorische. So sind z. B. die „Throne“ in 20,4 „merkwürdig ‚ortlos‘“ (J. Frey, a. a. O., S. 538) – das weist auf die suprahistorische Dimension; und das neue Jerusalem gehört zu einer „alles Irdische transzendierende(n), neue(n) Schöpfung … jenseits aller zeitlichen und räumlichen

Das Gottesbild

635

Bei näherem Hinsehen vermischt sich manches zu einem diffusen Bild, was den großen Spannungsbogen stört78.

Die Ambiguität Gottes offenbart sich zudem in den Theophanien. Eine der bedeu­ tendsten ereignet sich im Zusammenhang mit der Thronsaalvision. Von Gottes Thron gehen Blitze, Stimmen und Donner aus, umrahmt ist er mit Feuerfackeln. Blitz und Donner stehen für eine gewaltige Macht, die das Dunkel für einen Mo­ ment zerreißen und erhellen kann, unüberhörbare Präsenz Gottes signalisiert (z.B.14,2), zugleich aber auch Angst und Schrecken verbreitet (z. B. 11,19). Die Symbolik des Feuers weist in die gleiche Richtung79. Ebenso sind die vier Ge­ stalten um den Thron einzigartig in ihrem Aussehen, bewunderungswürdig und furchterregend in einem. Sie sind übersät mit Augen und sehen alles, was auf die Menschen bezogen diesen sowohl zum Schutz wie auch zum Gericht gereicht. Gottes Ambiguität wird auch dargestellt durch gegenläufige Beauftragungen seiner Funktionsträger (Engel). In 7,1 sind vier Funktionsträger aus je einer Him­ melsrichtung bevollmächtigt, vernichtende Stürme über die Erde zu bringen. Die Stille ist die Ruhe vor dem Sturm80. Doch da tritt ihnen ein fünfter Engel mit dem „Siegel des lebendigen Gottes“ entgegen (7,2) und erwirkt das Leben wenigstens für die 144.000 und die große Schar Getreuer aus den Völkern. Der Fortbestand des Lebens scheint gesichert gegen Gottes ursprüngliche Absicht. Gott ist eben kein unabänderliches Prinzip (τὸ ἕν / to hen = das Eine), sondern der Lebendige (ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος / ho ōn kai ho ēn kai ho erchomenos = der ist, der war und der kommt)81, der einer zweiten Stimme in sich Raum geben kann, letzt­ lich der Stimme des Lebens. Nun verwundert es bei der Disparatheit des apokalyptischen Bildmaterials in der Offenbarung des Johannes nicht, dass das innergöttliche Ringen auch ganz anders dargestellt werden kann. In 12,7–12 liegt der Himmel mit sich selbst im

Begrenzungen …“ (ders., a. a. O., S. 544) – das weist auf die posthistorische Dimension.– Zu den beiden – letztlich nicht nachgewiesenen – Traditionen vgl. J. Frey, a. a. O., S. 515 ff und 532 ff (vgl. auch oben Anm. 74). 78 „Die eschatologischen Anschauungen des Buches … sind nach wie vor strittig und in manchem wohl bleibend uneindeutig“ (J. Frey, a. a. O., S. 493). – Harmonisierend H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 31 und 65, der das Oszillieren zwischen intrahistorischer und posthistorischer Neuwerdung auf das Konzept der Präsenz des kommenden Äon zurück­ führt. Ähnlich harmonisierend sieht B. Kowalski die unterschiedlichen „Gottesbilder“ (!) „zu einem neuen, zuvor nie dagewesenen Gottesbild verschmelzen“ (a. a. O., S. 17 und 19). 79 Glanz, Feuer und Donnerstimme auch bei der Erscheinung des Gottesboten mit dem bitter-süßen Buch (Kap. 10) und bei der 7. Schale (16,18). 80 E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 51. 81 M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15), a. a. O., S. 214; ders., „Das Gottesbild der Offenbarung vor hellenistisch-frühkaiserlichem Hintergrund“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes, Tübingen 2015 (WUNT 397), S. 75 f.

636

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Krieg: Michael und seine Engel gegen den Drachen und seine Engel82. Hier sind Wesens- und Wirkweisen Gottes hypostasiert. Die den Seinen zugewandte Seite „Michael“ (vgl. Dan 10) ringt mit dem „Verkläger unserer Brüder / Schwestern …, der sie verklagte Tag und Nacht vor unserem Gott“ (12,10) mit dem Ergebnis des Hinauswurfs des Satans aus dem Himmel, d. h. mit der Abtrennung dieser dunk­ len Seite aus dem Wesen und Wirken Gottes. Von da ab ist Gott frei, den Satan und mit ihm alles Übel der ewigen Vernichtung preiszugeben und die neue Welt des reinen Glanzes zu schaffen. Die Aussonderung der dunklen Seite aus Gottes Wesen und Wirken hat indes auch ihre Vorteile: Dem Himmel als satansfreiem Raum steht die Welt als (bedingter) Herrschaftsbereich des Satans gegenüber, so dass das moralische Übel aus der Welt selbst heraus erklärt werden kann (vgl. die verführende Kraft des Satans 19,20; 20,3.8.10). Zudem kann das, was auf Erden noch nicht ist, als im Himmel schon vorweggenommen gelten und als kommend geglaubt werden: Gottes endgültige heilvolle Herrschaft (12,10).

9.3.8 Gottes Macht, die Böses in Gutes wandelt Das letzte Buch der Bibel zieht in seiner Sammlung von Bildern noch einmal fast alle Züge des Gottesbildes nach, die das Alte und Neue Testament schon vor­ gezeichnet haben, so auch die Böses in Gutes verwandelnde Macht. Diese wird primär an Christus offenbar, sekundär auch an den Zeugen83. Allerdings sind derartige Beschreibungen des Kreuzesgeschehens eher theologisch-formelhaft als reflektierend, weil sie in ihrer Symbolik bereits Teil des Bekenntnisses geworden sind. Entsprechendes gilt für die allgemeine Totenauferstehung der Getreuen. In­ des ist dieser Zug nicht zu übersehen. Christus ist das geschlachtete Lamm (ἀρνίον ἐσφαγμένον / arnion esphagme­ non [5,6; 13,8]). Hier schwingt alles mit. Σφαγίζειν / sphagizein bedeutet zunächst „schächten“, aber auch durch kultische Schlachtung „opfern“, schließlich „ermor­ den“84. Der duale Klang von „ermorden“ und „opfern“, von victim und sacrifice ist bewusst mit intendiert. In σφαγισμένον / sphagismenon = „geschlachtet“ wird die Gewalttat als Frevel angeprangert, zugleich – in Verbindung mit Lamm – das alle Zeit gültige Opfer Christi zugunsten der Menschen betont. Dabei ist Chris­

82 K. Huber, „Jesus Christus – der Erste und der Letzte“, a. a. O., S. 467 sieht den Drachen­ kampf im Himmel als Folge der Entrückung des Kindes (12,7–9 folgt auf 12,3–6). Die Stoffan­ ordnung mag das nahelegen; aber der Kampf Michaels gegen den Drachen nimmt nirgends auf die Entrückung des Kindes Bezug. 83 Zum Zusammenhang von Christologie und Soteriologie in der Offenbarung vgl. S. Alkier, a. a. O., S. 155 f. 84 H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 169; M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15), a. a. O., S. 453 f.

Ethische Implikationen

637

tus in den meisten Fällen der Initiator der Opferwirkung (analog dem Terminus „Auferstehung“ in den Evangelien und Briefen), nur einmal wird Gott als der Bö­ ses in Gutes Wandelnde benannt (analog dem Terminus „Auferweckung“ in den Evangelien und Briefen). Das ist in 5,12 der Fall: Das geschlachtete Lamm nimmt (scil. aus Gottes Hand) Kraft, Reichtum, Weisheit, Stärke, Ehre, Preis und Lob ent­ gegen. An den übrigen Stellen scheint Christus selbst zu handeln, wozu er ja auch Vollmacht erhalten hat (2,28). In 5,9 hat sein Blut die Wirkung eines Sühne- bzw. Schutzmittels bekommen85, das universal Völker und Könige gereinigt und aus der Macht der Sünde befreit haben wird, nachdem sie Reue empfunden haben86 wegen ihrer Ignoranz und Gewalttat (1,7). Nun sind sie erworben für Gott und gesammelt unter dem Zeichen des geschlachteten Lammes87, Gott auf Erden zu vertreten als seine Könige und Priester. Gleiches gilt partikular für 1,5 f mit deut­ licher „Demokratisierung“ des Königs- und Priesteramtes.

9.4 Ethische Implikationen Es geht in der Offenbarung nicht um Maximen für allgemein menschliches Ver­ halten, sondern in einer durch Verfolgung polarisierten Gesellschaft um das Ver­ halten der Christen zu einem – aus christlicher Sicht – von satanischen Mächten besessenen Staat. Außerdem geht es um das rechte Verhalten (die „Werke“) des Christen in einer Umgebung, die durch abweichende Lehre und Anpassungs­ druck an heidnische Sitten geprägt ist. In beiden Bereichen gibt es eigentlich nur eine einzige Grundhaltung, die der Geduld (ὑπομονή / hypomonē), die sich aus dem Glauben an den Sieg Gottes und Christi speist. In dieser Geduld wird der getreue Christ die Bedrängnisse dieses Lebens überwinden. Nicht wird er im Kampf den Gegner überwinden, sondern in Geduld dieses allzeit vom Satan bedrohte Leben. Die daraus entwickelte Ethik ist ein Programm des friedlichen, nichtsdestoweniger entschiedenen Widerstands gegen Verlockungen durch eine

85 H. Giesen tritt in seinem Kommentar, a. a. O., S. 78, 161 und 169 für die Bedeutung des Blutes als Sühnemittel ein (so auch J. Roloff, a. a. O., S. 75 f). In seinem Aufsatz „Der Christus­ titel ‚Lamm Gottes‘ und sein religionsgeschichtlicher Hintergrund“ (in: M. Labahn, M. Karrer [Hg.], a. a. O., S. 184 ff) rückt er davon ab und möchte dem Blut des Lammes in der Offenbarung ausschließlich apotropäische Bedeutung zuschreiben. – Die Sicht des Johannes ist wohl am ehes­ ten mit einem Sowohl – Als auch zu beschreiben, nicht mit einem Nicht – Sondern. Denn mit Sicherheit steht ihm die apotropäische Funktion (Ex 12,7.12 f) wie auch die sühnende Kraft vor Augen (Mt 26,28; Hebr 2,17; 9,13 f.22), ohne dass er beides in einem differenzierenden Denkakt auseinanderreißt (ähnlich auch U. B. Müller, a. a. O., S. 158 und 160 ff, der sühnende und Ge­ meinde konstituierende Kraft des Blutes voraussetzt). 86 So mit J. Roloff, a. a. O., S. 36 gegen U. B. Müller, a. a. O., S. 77. 87 So auch die 144.000. Auch sie sind „erworben“ (14,3 f) und tragen den Namen Gottes und Christi auf der Stirn (14,1).

638

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

anders eingestellte Gesellschaft. Es ist ein lebenslanger Widerstand, der sich aus der Gewissheit speist, dass nach dieser Zeit alle Verheißungen wahr werden („Sei getreu bis an den Tod …“ [2,10]). Ich betrachte zunächst den apokalyptischen Teil der Offenbarung, weil er im Blick auf die ethischen Implikationen der grundsätzlichere ist88. Die durch Staatsund Kaiserkult verursachte Bedrängnis soll und kann ausgehalten werden durch den Glauben an Gott und das Lamm. Geduld und Glaube gehören zusammen: „Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen“ (13,10c). Das Bekenntnis der gesam­ ten Schöpfung (nicht nur der Heiligen!) lautet: „Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Ruhm und Macht von Ewigkeit zu Ewig­ keit!“ (5,13). Es ist gegen die religiös-kultische Verehrung des Kaisers gerichtet. Es ist nicht nur ein Ruhm der Allmacht (κράτος / kratos) des Schöpfers, sondern ein Gegenbekenntnis gegen die Macht des Kaisers. Es steht nicht als Alternativ­ entwurf auf gleicher Ebene, sondern ist einem Kaiserbekenntnis weit überlegen: Zum Kaiser bekennen sich nur Menschen, zu Gott und dem Lamm die gesamte Schöpfung; Kaiser kommen und gehen (17,9–11), Gott ist da und kommt – von Ewigkeit zu Ewigkeit (11,15b)89. Ein solches Bekenntnis, auch wenn es von Kaiser und Reich als „Kriegserklärung“ aufgefasst werden muss (vgl. 13,7), ist gebote­ ner friedlicher Widerstand aus Überzeugung und Treue zu Gott bis an den Tod. Das Gebotene zu tun und durchzuhalten, erfordert die Kraft des Glaubens und Geduld (14,12). Der Christ hat das zu leben (τηρεῖν / tērein = halten, bewahren), nicht mehr und nicht weniger90. Er hat nicht zur Revolution aufzurufen. Das kann er getrost dem Boten Gottes überlassen, der „allen Nationen und Stämmen und Sprachen und Völkern“, die unter dem Dach des Imperiums zusammengefasst sind, besten­ falls „ein ewiges Evangelium“ zu verkündigen hat (14,6), andernfalls Höllenqual (14,9–12). – 13,8 legt den Prädestinationsgedanken nahe91. Da es hier um die Ethik für die „Heiligen“ geht, darf der Satz, der sinngemäß auch in 20,11–14 ent­ halten ist, für diese einmal positiv umformuliert werden: „Diejenigen, deren Na­ men von Anfang der Welt an geschrieben stehen im Lebensbuch des geschlachte­ ten Lammes, beten das Tier nicht an“92. Die Tradition vom Lebensbuch geht neben

88 So auch F. Tóth, a. a. O., S. 350 ff, der darüber hinaus die Sendschreiben mit P. Pringent (Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001, S. 151) „als jüngsten Teil der Jo­ hannesapokalypse“ wertet. 89 Das Heil kommt allein von Gott, nicht vom Kaiser (7,10). Gott allein ist zu fürchten, nicht der Kaiser (14,6–7; 15,4). 90 Das kann schlimmstenfalls zur Hinrichtung führen, auf jeden Fall aber zur wirtschaft­ lichen Existenzvernichtung (13,15–17). 91 So U. B. Müller, a. a. O., S. 252; H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 308; T. Holtz, a. a. O., S. 98; anders K. Berger, a. a. O., S. 124. 92 Entsprechend auch J. Roloff, a. a. O., S. 138.

639

Ethische Implikationen

Jes 4,3 hauptsächlich auf Ps 69,29 zurück. Nirgends ist ein prädestinatianischer Sinn enthalten. Im Gegenteil: In Ps 69,29 bittet der Beter, dass die Verfolger aus dem Buch des Lebens gestrichen werden. Offenbar sind „Eintragungen“ (z. B. der „Werke“) und „Streichungen“ möglich. Wenn die treuen Bekenner darauf hinge­ wiesen werden, dass sie von Anbeginn der Welt im Buch des Lebens stehen, dann ist das für sie als Mahnung und Ermunterung gemeint, Gott die Treue zu wahren bis an den Tod. Nicht offener Determinismus ist hier zu konstatieren, sondern ein versteckter Imperativ aufgrund eines Indikativs. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass die Heiligen durch einen Tugend- und die Un-heiligen durch einen Lasterkatalog definiert werden. Tugendkatalog: 14,4 f

Lasterkatalog I: 21,8

Lasterkatalog II: 22,15

jungfräulich

unzüchtig

unzüchtig

dem Lamm folgend

ungläubig, feige

Erstlinge für Gott und das Lamm

Frevler, Mörder, Zauberer, Götzendiener

Mörder, Götzendiener, Zauberer

kein Falsch

Lügner

Lügner

untadelig Diese Eigenschaften implizieren Gewaltlosigkeit

Diese Eigenschaften im­ plizieren Gewalt

Nichtsdestoweniger sind die Prototypen der Zeugen, die zwei Zeugen aus Kap. 11, mit Vollmacht ausgestattet, Feuer gegen ihre Feinde zu speien und sie zu töten, die ignoranten und Gott lästernden Erdbewohner mit Naturkatastrophen zu quälen und sie am Ende zu bekämpfen (11,5–7). Alles andere als Ausharren in Geduld! Das ist Anstiftung zur Gewalt, die zwar in die Niederlage und den Tod führt (11,7–10), aber die Verheißung der Auferstehung und der Himmelfahrt in sich birgt (11,11–12). Hier fällt die Offenbarung eindeutig hinter die Jesustradition zurück; denn beide berufen sich auf die Eliasage 2.Kön 1,1–16: Jesus mit der Ab­ lehnung der vernichtenden Verwünschung (Lk 9,51–56), die Offenbarung mit ihrer Kopie. – In 18,6–7 ergeht der Aufruf des Himmels, sich in die Straf- und Vernichtungsaktion Gottes gegen „Babylon“ einzureihen und sich an der „Hure“ zu rächen nach dem Vergeltungsrecht, ja mehr noch: Die Vergeltung darf und soll nicht nur symmetrisch, sondern doppelt sein (vgl. Jes 40,2; Jer 16,18). Gott wird es tun, denn er ist „stark …, der sie richtet“ (18,8); aber die treuen Zeugen zeigen ihre Treue auch darin, dass sie nicht abseits stehen. Hier wird das symmetrische Vergeltungsrecht im Auftrag Gottes unterlaufen93. – Es gibt nur diese zwei Belege 93 Das Recht der doppelten Vergeltung steht nur Gott zu (s. o. unter NT 5.8.1, dort auch Anm. 15).

640

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

für aktiven, aggressiven Widerstand gegen die satanische Macht des Staates, aber sie sind immerhin vorhanden und sind typisch für das bunte Mosaik an Konzep­ tionen auch in der Ethik94. Die im Briefteil vermittelte Ethik ergibt sich aus den von der MenschensohnGestalt gelobten bzw. getadelten „Werken“. Es ist die Ethik der Geduld. Sie wird flankiert von Aufrufen zum Durchhalten und zur Treue, vom Ruf zur Buße und von der Verheißung für die, die „überwinden“. Die 7 Sendschreiben sind in gleicher Weise strukturiert, wie die Tabelle zeigt:

94 Der Kompromissvorschlag von Th. Witulski vermag nicht zu überzeugen. Er hebt die zwei Zeugen von den übrigen, die sich in Geduld in ihr Schicksal ergeben haben, ab und hält sie für „die beiden führenden Repräsentanten des Volkes Israel …, die im Rahmen eines mili­ tärischen Konfliktes mit dem imperium Romanum als Zeugen für das Ende der bestehenden politischen, gesellschaftlichen und sozialen … Verhältnisse der Gegenwart und die Errichtung seiner neuen göttlichen Königsherrschaft agieren“ (ders., „Die argumentative Struktur von Offb 11,3–13“ in: M. Labahn, M. Karrer [Hg.], a. a. O., S. 301). – Selbst wenn es so wäre, wenn also eine historische Situation rekapituliert würde, müsste gefragt werden, welchen kerygmati­ schen Sinn das haben sollte. Diese Frage indes beantwortet Witulski nicht, weil er sie gar nicht im Blick hat.

Bedrängnis ausgehalten (Geduld) (2,9–10a.b)

Geduld, Prüfung der Geister, Treue (2,2–3), antinikolaïtisch (2,6)

Abfall (2,4)

„deine Werke“ (pos.)

„deine Werke“ (neg.) („Aber …“)

2,17

2,11

Verheißung für den, der überwindet

2,7

2,16

Lehre Bile­ ams (Götzen­ opferfleisch, Prostitution), Nikolaïten (2,14–15)

(Bedrängnis) Treue (2,13)

2,12b

2,12a

Pergamon (2,12–17)

Tu Buße! Wenn aber 2,5 nicht …

2,10c

2,8b

2,1b

Selbstvorstellung der MenschensohnGestalt

Aufruf zum Durch­ halten, zur Treue bis zum Ende

2,8a

Smyrna (2,8–11)

Schreib­aufforderung 2,1a

Ephesus (2,1–7)

2,26–29

(2,21–23)

2,24–25

Isebel (Götzenopfer­ fleisch, Prosti­ tution) (2,20)

Liebe, Glau­ ben, Dienst, Geduld (2,19)

2,18b

2,18a

Thyatira (2,18–29)

3,5–6

3,3

(3,4)

tot, Werke nicht vollkommen (3,1c-2)

3,1b

3,1a

Sardes (3,1–6)

3,12–13

3,11

Wort be­ wahrt, Namen Christi nicht verleugnet, Wort von der Geduld bewahrt (3,8–10)

3,7b

3,7a

Philadelphia (3,7–13)

3,21–22

3,18–20

lau, elend, jämmer­ lich, arm, blind, nackt (3,15–17)

3,14b

3,14a

Laodizea (3,14–21)

Ethische Implikationen

641

642

Gottes Macht und christliche Ethik in der Offenbarung des Johannes 

Der vertikale Blick auf die Tabelle zeigt: Der Aufruf zur Buße erscheint – sinnvoller­ weise – nur dort95, wo auch negative Werke benannt sind. Wo nur positive Werke gelobt werden, erscheint – sinnvollerweise – der Aufruf, weiter durchzuhalten96. Die in den Sendschreiben vermittelte Ethik ergibt sich aus der horizontalen Vergleichsbetrachtung97.

Auch hier ist Geduld (ὑπομονή / hypomonē) die fundamentale Haltung der Christen. Diese wird strapaziert durch die „Bösen“ in der Gemeinde, die nicht tolerabel sind (2,2). Es sind die berühmten, auch schon aus den paulinischen Gemeinden bekannten Pseudoapostel. Gemäß der von Christen verlangten Geistesprüfung (1.Jh 4,1) sind sie auch als solche verbal dingfest gemacht worden. Mehr aber wird hier nicht verlangt. Das eigentlich nicht Tolerierbare wird nicht aggressiv bekämpft, wird auch nicht ausdrücklich verbal attackiert, sondern wird erduldet als auferlegte „Last“ in dem Wissen, dass Gott hilft (Ps 68,20). Die auferlegte „Last“ kann zur „Bedrängnis“ (θλῖψις / thlīpsis) und zum Leiden (πάσχειν / paschein) führen. Geduld nimmt Formen an in der Bewährung des Glaubens, in der Bedrängnis und im Leiden (2,9 f; 2,13). Geduld wird im Verein mit Liebe, Glaube und Dienst genannt (2,19). Sie speist sich aus dem Glauben und empfängt ihn, sie trägt die Liebe und den Dienst durch Herausforderungen und Krisen hindurch. – Geduld ist Standhaftigkeit im Glauben (τηρεῖν / tērein = halten, bewahren [1,3]), die Kraft erfordert. Diese Art der Geduld ist notwendig in einer von heidnischen Riten und Kulten durchaus noch geprägten Umwelt. Ge­ duld schweißt die Gemeinde zusammen, wirkt aber auch per se positiv nach außen auf die Heiden, die, von dieser Haltung überwältigt, zur christlichen Gemeinde kommen (3,8–10). Man kann die Geduld auch als eine christliche Kardinaltugend bezeichnen; denn sie nicht zu haben bringt vom rechten Weg ab (2,4.14 f.20), lässt „sterben“ und „nackt“ dastehen (3,1c-2.15–17). Flankiert wird die Ethik der Geduld durch den immer wieder notwendigen Rückruf auf diesen Weg, nicht weil die Neigung zur Gewalt so groß wäre, sondern weil durch die Parusieverzögerung die Gefahr des Synkretismus in Form „fau­ ler Kompromisse“ immer größer wird. Daher auch flankierend der Aufruf zum Durchhalten und zur Treue bis ans Ende mit dem Versprechen Christi: „Siehe, ich komme bald …“ (3,11). Die immer wieder eingeforderte Buße wird ein Teil der Lebenshaltung, ganz im Sinne der These Martin Luthers: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße …‘ (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“

95 In 2,21–23 indirekt. 96 In 2,24–25 und 3,4 sind diejenigen in der Gemeinde angesprochen, die positiv aufgefallen sind. In Thyatira und Sardes liegt also eine differenzierte Betrachtung vor. 97 Die horizontale Betrachtung der Selbstvorstellung der Menschensohn-Gestalt ergibt eine interessante Christologie. Diese wird hier nicht weiter verfolgt.

Ethische Implikationen

643

Der Geduld ist eine Verheißung beigelegt. Wer bis ans Lebensende die Geduld lebt, d. h. Bedrängnisse und Lasten trägt und erträgt, zwar die Geister prüfend, aber ohne sich aufzubäumen, und d. h. den Glauben durchhält in der Erwartung des Kommens Christi, der wird siegen (νικᾶν / nikān = überwinden). Der Sieg ist ein von θλῖψις / thlīpsis = „Bedrängnis“ befreites Leben im Jenseits (Leben im Paradies [2,7], auf ewig [2,11; 3,5 f], Neuwerdung [2,17; 3,12 f], Vollmacht, mit Christus zu regieren [2,16–29; 3,21 f]). Die Offenbarung des Johannes entwickelt auf der Grundlage der Bewährung des Glaubens in Geduld eine Ethik des passiven Widerstands, die bei einem doch sehr aggressiven Gottesbild erstaunen lässt. Das ist nur dadurch zu erklären, dass der Glaube an den bereits kommenden Gott so stark ist, dass man ihm alles an­ vertrauen kann, auch die Überwindung des Bösen und den Sieg98.

98 Sicher bieten die neutestamentlichen Schriften auch offensivere Verhaltensweisen an, christliches Leben im heidnischen Umfeld eindrucksvoll zu gestalten (z. B. das Böse mit Gutem [Röm 12,21] oder mit Segensspende [1.Petr 3,9] zu überwinden und sich argumentativ Anders­ denkenden zu stellen [1.Petr 3,15 f]). Das Verhaltensmodell der Offenbarung bedeutet aber keineswegs Rückzug aus der Gesellschaft, sondern ein Sich-Aussetzen und Ertragen derselben in Standhaftigkeit (gegen H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes, a. a. O., S. 319).

Zusammenfassung: Gottesbild, Menschenbild und Handlungsorientierung im Blick auf die Gewaltfrage im AT und NT

Die Zusammenfassung bündelt die Ergebnisse des ersten und zweiten Teiles dieser Monographie. Das hat zwei Gründe. Erstens ist die Entwicklung in der Gewaltfrage auf theologischem, anthropologischem und ethischem Gebiet nicht zu verstehen ohne eine gesamtbiblische Sicht. Zweitens hat die neutestamentliche Ausformung des Themas an der universalen Perspektive (Gott und die Völker­ welt) teil, die schon bei den Propheten, insbesondere bei Deuterojesaja, beginnt. Nichtsdestoweniger ist diese Perspektive neu. Neu ist, dass die Kategorien von Individualität, Partikularität und Universalität an Relevanz eingebüßt haben. Individualität ist die Rückseite der Universalität, und eine christliche Univer­ sal-Individualität kann nur in gemeindlicher Partikularität gelebt werden. Das Phänomen der Gemeinde(gründungen) in aller Welt zeigt dies an. Neu ist auch die in Jesus Christus menschgewordene Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die – soteriologisch gesehen – den neuen Menschen hervorbringt. Dies und wie sich die Neuheit des Seins lebensweltlich zur „alten Welt“ verhält, ist das Thema des Neuen Testaments. Diese Neuheit des Neuen kommt in den einzelnen Schriften, bezogen auf die Gewaltfrage, zur Sprache, ordnet sich aber insgesamt in den universalen Radius der Verkündigung ein.

1. Gott und Mensch im Alten Testament Das Thema „Gott und Mensch“ wird in den literarischen Genera Erzählungen, Gesetzestexte, Dichtung verhandelt. Gesetzestexte versuchen, das Faktische zu normieren und zu sanktionieren. Autorität holen sie sich extra se, von Gott her. Erzählende wie auch poetische Texte geben gleichermaßen Gotteserfahrungen und ein Menschenbild wieder. Erzählende Texte transportieren ein Gottes- und Menschenbild auf der fiktiv objektiven Ebene, während Dichtung das Gottes- und Menschenbild in all seiner Frag-würdigkeit als ein sehr subjektives darstellen und dazu einladen kann, sein eigenes Gottes- und Menschenbild zu erforschen.

Gott und Mensch im Alten Testament 

645

a) Erzählungen Die Geschichte von Kain und Abel ist sowohl im Hinblick auf Gott als auch in Bezug auf Kain eine Entscheidungsgeschichte. Entscheidung impliziert Freiheit. Insofern ist sie auch eine Freiheitsgeschichte. Gottes Freiheit, sich für Abels Op­ fer zu entscheiden, und Kains Freiheit, der Sünde die Tür zu öffnen oder nicht, laufen parallel. Kains Freiheit ist von Gott gegebene, relative Freiheit, insofern sie zu seiner Bestimmung gehört und Gott sich in Anspruch und Zuspruch („Du aber herrsche über die Sünde“) auf sie beziehen kann. Gottes Freiheit ist freilich absolute, nicht mehr hinterfragbare Freiheit; wen oder was er gnädig ansieht, ist menschlichen Maßstäben und Bewertungskriterien entzogen. Diese Tatsache lässt die Theodizeefrage von vornherein sinnlos erscheinen. In absoluter Freiheit lässt Gott Gnade und Ungnade walten. Beides koinzidiert in ihm und wirkt sich immanent aus. Im weiteren folgenschweren Fortgang der Geschichte wird Gott noch einmal frei entscheiden. Überlässt er den verfluch­ ten Kain dem gerechten Tod, oder wird die Gnade in ihm zu ihrem Recht kom­ men? Letzteres geschieht im Kainszeichen: Gott unterbricht die sich verstärkende Spur der Gewalt zugunsten des Lebens. Die coincidentia oppositorum scheint als Wesensbeschreibung Gottes einen Gleichgewichtszustand zu beschreiben, hat aber im Wirken Gottes stets ein Übergewicht zugunsten der Gnade (Ex 34,6; Röm 5,20b-21). Die Gestalt Kains zeigt den Menschen anthropologisch als einen von der Sünde Bestimmten. Dieses Bestimmtsein hebt die Verantwortung für Entscheidungen und Taten vor dem Nächsten und vor Gott nicht auf; denn der Mensch kann sehr wohl über die Sünde herrschen (Gen 4,7) und sich ihrem Verlangen nach ihm widersetzen. Er lebt zwischen Bestimmtsein und seiner eigentlichen Bestimmung. Dieser soll und kann er nachkommen, wenn er gut handelt. Hier greift die Ethik. Sie entwickelt sich im Zwiegespräch Gottes mit Kain. Mit dem Nicht-Gut-Handeln ist die Sünde da, und aus ihr entsteht neues Schlecht-Handeln. Insofern mag Gewalt sowohl Ursache als auch Folge der Sünde sein. Ein Weg, die Gewalt hinter sich zu lassen, wäre Hinnahme dessen, was nicht zu ändern ist, sich fügen, Demut. Gerade das aber fehlt Kain (Gen 4,5b), weswegen er in der Sünde und ihren Folgen gefangen bleibt. Der Sintflutgeschichte nach N sind zwei themenleitende Stichworte zuzuordnen: „Bosheit“ in anthropologischer, „Reue“ in theologischer Hinsicht. Illusionslos be­ trachtet N den vor- und nachsintflutlichen Menschen als ein durch und durch von der Bosheit bestimmtes Wesen. Die Faktizität des Bösen im Menschen hat aber mitnichten normierende Kraft, sondern der Mensch bleibt für die Folgen seiner Perversionen verantwortlich. Die Folge ist Jahwes Vernichtungswille. So ist Gottes Macht (potestas, power) mitnichten Willkür (arbitrium, arbitrariness), sondern in voller Absicht Gewalt-Tat (violentia, violence). An den äußersten Grenzen sei­

646

Zusammenfassung

nes Willens, sei es seines Schöpfungs- und Erhaltungswillens, sei es seiner Zer­ störungsabsicht, steht ein Leiden: die Reue über den so geschaffenen Menschen einerseits und die Abkehr von einem totalen Zerstörungswerk andererseits, beides sich abspielend „in seinem Herzen“ (Gen 6,6; 8,21). Hier wie auch anderswo ist von destruktiver bzw. konstruktiver Reue zu sprechen. Schon sehr früh auf der Erzählebene lässt Gott ein zur violentia gegenläufiges Gefühl zu, den „Kummer“ um den Menschen, daraus folgend die Gnade an dem Menschen, wie er ihn ge­ wollt hat. Noah verbürgt das von Gott gewollte Gesicht des Menschen; und dieses wiederum ermöglicht es Gott, sein Gesicht zu zeigen, nämlich das Gesicht von Gericht und Gnade mit einem deutlichen Überfließen der Gnade. Gott reagiert im Bösen wie im Guten auf den Menschen. Damit ist kein Abhängigkeits-, wohl aber ein Korrespondenzverhältnis beschrieben. Dabei bleibt Gott der Herr; denn was er aus Gnade gibt – auch die Bestandsgarantie der Schöpfung –, darauf hat der Mensch keinen Anspruch. Der P-Sintflutbericht lässt uns nicht so sehr ins Innere Gottes blicken. Gott ist hier der in Zerstörungs- und Erhaltungsabsicht souverän Handelnde. Er handelt in absoluter Freiheit, sowohl „alles Fleisch“ zerstörend wie auch Noah und seine Familie erhaltend. Im Noah-Segen und Noah-Bund schafft er einen Referenzrah­ men, innerhalb dessen der nachsintflutliche Mensch seine kultische und soziale Ordnung findet, die der zerstörerischen Gewalt entgegenwirkt, sie minimiert und letztlich ausschließt. Auch der Souverän (P) ist wie der Zugewandte (N) wandlungsfähig. Sein Er­ haltungswirken setzt sich gegenüber dem Zerstörungswillen durch. Das Treiben in Sodom ist nach der Geschichte von Kain und Abel die zweite Erzählung, die boshafte menschliche Gewalt als Sünde brandmarkt. Darüber hinaus deckt sie die Motive der Gewalttätigkeit auf. Sie lässt Gier als die Wurzel allen Übels, auch der Gewalt, erscheinen. Eine Wurzelanalyse der Gewalt begegnet narrativ in expliziter Form erst wieder in der Josephsnovelle. Auch wenn der Mensch von der Gier getrieben ist, ist er verantwortlich für sein Treiben, verantwortlich für sein Unvermögen, über die Gier zu herrschen. Der Mensch ist für sein Gesicht verantwortlich. Die Frage, vor wem der Mensch verantwortlich ist, ist aus biblischer Sicht eindeutig zu beantworten: vor Gott (inklusive dem Nächsten). Vor Gott wird deutlich, was der Mensch nach seinem Bild sein soll und was er demgegenüber ist. Die ethische Forderung ist von daher immer Gottes Anspruch, die Missachtung dieser Forderung richtet sich immer gegen Gott, hier von Gier getriebene blindwütige Gewalt. Narrativ stellt die Sodom-Episode vor Augen, dass es Schritte gegen die Gewalt gibt. Ethik der Gewaltbegrenzung hat sich praktisch zu bewähren. Dazu gehört Methodik: der Gewalt entgegentreten, Bedrohte schützen, deeskalierend wirken. Das empfiehlt die Geschichte in narrativer Form, indem sie Lot als Mediator darstellt. Zu ihrem Realismus gehört es, dass sie das Scheitern dieser Methode einschließt. Dann aber steht Gott dahinter. Er wird zum Schutz der Bedrohten

Gott und Mensch im Alten Testament 

647

eingreifen. Diese Perspektive, die die Geschichte eröffnet, lässt die Schritte gegen die Gewalt als von Gott sanktioniert, als Gottesrecht, erscheinen. Hinsichtlich des Gottesbildes spreche ich vom richtenden Gott. Der Vorteil einer solchen Beschreibung ist, dass sie auch auf eine spätere Fortsetzung in Gen 19,12–26 anwendbar ist. In der Zusammenschau mit dieser Fortsetzung er­ gibt sich dann wieder die Koinzidenz der Gegensätze in Gott, die rettend-aufrich­ tende Gewalt Gottes (mit einer begrenzten Verletzung der Übeltäter) in der So­ dom-Episode und seine strafend-hinrichtende Gewalt im Untergang von Sodom und Gomorra, hier freilich in ihrer jeweiligen geschichtlichen Entfaltung erzählt. Die begrenzte Verletzung der Übeltäter in Gen 19,11 ist ein Beispiel für die immer wiederkehrende Parteinahme Gottes für die Seinen. Sie ist Verwirklichung seiner Treue und schließt Gewalt nicht aus. Zur Weiterentwicklung des Gottesbildes gehört der vor die Sodom-Episode und den Untergang geschaltete Handel Abrahams mit Gott. Der milde eingrei­ fende Gott von Gen 19,1–11 ist inzwischen zum hinrichtenden Gewalt-Täter mutiert (Gen 19,12–26). Er könnte durch den Handel mit Abraham wieder ein­ gefangen werden: Die strafende Gerechtigkeit über Sodom und Gomorra würde überholt von der gnädigen Anerkennung der Stellvertretung der zehn Gerechten. Das Gottesbild ist und bleibt im Diskurs. Sodom ist kein Einzelfall. Gott hat viele Möglichkeiten, auch die Orientierung an den zu Rettenden und nicht an den zu Strafenden. Wie wird das Ringen in Gott zwischen Treue zu Abraham und ab­ soluter Freiheit ausgehen? Vielleicht ist Abrahams Handelsgeist ein Vorbild für andere Fürbitter. Der Gedanke der stellvertretend wirksamen Gerechtigkeit Weniger im Unter­ schied zu einer Kollektivhaftung aller kann nur ein Appell an Gott sein im Ver­ trauen auf seine übermächtige Gnade. Die Theodizeefrage wird dadurch als Frage gestellt, auf die eine Antwort im positiven Sinn durch den Gang der Geschichte erhofft wird. Beantwortet ist sie damit längst nicht. Der Jakob-Esau-Sagenkranz bearbeitet das Gewaltthema im Wesentlichen von der anthropologisch-ethischen Seite her, natürlich nicht ohne Gottesbezug. Wur­ den in der Sodom-Geschichte die Wurzeln der Gewalt analysiert, so wird hier deutlich stärker der Umgang mit der aus Gewalttaten resultierenden Schuld re­ flektiert. Wenn es aber um Minimierung oder gar um Überwindung lebensbe­ drohender Gewalt geht, so kommt man am rechten Umgang mit Schuld nicht vorbei. Der große und der kleine Spannungsbogen in der Jakob-Esau-Sage sind vom Umgang mit der Schuld geprägt, getragen von der Überzeugung, dass nur ein Sich-Stellen inklusive aller Nebenwirkungen und Risiken zur Gewaltbeseitigung und – im besten Fall – zur Versöhnung führen kann. Hineingezogen-Werden in Schuld schützt nicht vor der Eigenverantwortung für schuldhaft begangene Taten; Flucht vor der Auseinandersetzung mit Esau, d. h. mit der Schuld, hilft nicht weiter, ebenso wenig die Hoffnung auf das Vergessen (großer Spannungsbogen).

648

Zusammenfassung

Jakob wird auf der Flucht mit seinem Spiegelbild konfrontiert (Laban: „Für­ wahr, du bist von meinem Gebein und Fleisch“ [Gen 29,14]), und wird auf der Flucht (nun vor Laban) gestellt (kleiner Spannungsbogen). Flucht vor nicht be­ arbeiteter Schuld kann zum Existenzverlust führen (Gen 31,29). Da Jakob aber vom gleichwertigen Sieger gestellt wird und dieser die Gleichwertigkeit seines Gegners anerkennt, wird auf weitere Gewalt verzichtet und ein Bund geschlossen. Jeder geht nun seiner Wege. Gewaltverzicht ist – mit Gottes Hilfe (Gen 31,24.29) – erreicht, aber damit längst noch nicht Schuldverarbeitung. Das Gestellt-Werden im kleinen Spannungsbogen ist erst das didaktische Vorspiel zum Sich-Stellen im großen Spannungsbogen. Und hier gibt es für Jakob auch noch eine Menge zu lernen. Gewaltverzicht kann der Schuldige nicht erkaufen, erdienen, beanspruchen (großer Spannungs­ bogen). Erfüllung von Rechtspositionen in einem Deal wäre wiederum Flucht vor dem uneingeschränkten Schuldeingeständnis. Zwar ist Jakobs Entfeindungspro­ gramm der Königsweg aus der Gewalt, aber sein Erfolg ist abhängig von der aus­ gestreckten Versöhnungshand des vermeintlichen Feindes. Es ist das Hoffen und Denken vom anderen her, wie es u. a. auch in der lukanischen Beispielgeschichte vom barmherzigen Samaritaner zum Ausdruck kommt (Lk 10,36). Überschaut man den Sagenkranz, so reicht der Bogen von Verführung und Schuld bis zur Ver­ gebung und Versöhnung. Das innere Zentrum des Bogens ist die Überwindung der Gewalt durch Vertrag (Bund) und durch Versöhnung. Unreflektiert, aber der Sache nach ist hier die Toleranz angesprochen: Jeder geht in Frieden seiner Wege, in versöhnter Verschiedenheit. Großer Spannungsbogen: A: Erschleichung des Erstgeburtssegens (auf Anraten Rebekkas) (27,1–29) B: Isaaks Entsetzen (27,33) C: Aufschrei Esaus (27,34) D: Esaus Beschluss, seinen Bruder umzubringen (27,41) E: Aufeinandertreffen Jakob – Esau (33,1–2) F: Proskynese (33,3.6–7) G: Versöhnungsgeste Jakobs (33,8–11) H: Entspannung (33,[4]12) I: Versöhnung in akzeptierter Verschiedenheit (Überwindung von Gewalt) (33,16) Kleiner Spannungsbogen: a: Jakobs Flucht zu Laban (auf Anraten Rebekkas) (27,42–45; 29,1–14a) b: Gemeinheiten, Übervorteilungen, Missverständnisse (29,14b-20; 30,25–43) c: Jakobs Flucht mit Habe und Töchtern (31,1–21) d: Scheitern der Flucht und Bundesschluss zwischen Jakob und Laban („Mäßi­ gung“) (31,22–54) e: beide gehen ihrer Wege (32,1–3)

Gott und Mensch im Alten Testament 

649

Der Mensch zeigt in diesem Sagenkranz ein durchaus sympathisches Gesicht: ein Verführter und Schuldiger zwar, ein Gauner und Betrüger (mit Augenzwinkern), aber letztendlich auch ein Sich-Stellender; ein auf Rache Sinnender, auf Gewalt und Rache Verzichtender, als Versöhnender und Versöhnter. Wo das Sein dem Sollen sich nähert, kann der Segen des Herrn gedeihen (Gen 27,28; 28,3 f.15; 30,27.30; 32,13; 35,19). Gott und Welt, Heilswille und Geschichtsverlauf sind nicht zu trennen. Binde­ glied ist der Segen. Er ist verlässlich, aber unverfügbar. Ebenso ist die Erwählung, hier die Jakobs, endgültig und unhinterfragbar. Die Theodizeefrage wird durch die Treue Gottes zu sich selbst beantwortet. Gott selbst steht hinter dem Konzept der Entfeindung. Es gelingt auch nur mit seiner Hilfe (Gen 31,25; Gen 32,10–13; 33,10b). So erweist er letztendlich seine Gnade, wiewohl er als der richtende Gott auch immer im Verborgenen präsent ist: in der unverdienten Gnade, im flüchtigen Leben Jakobs, in seiner Furcht vor Esau. Unter dem Gewand der Josephsgeschichte verbirgt sich eine Analyse von Gewalt in narrativer Form. Zugleich ist sie ein Psychodrama, in dem es um den Umgang mit dem Bösen geht, um Verdrängung von Schuld, um Erkenntnis derselben und Reue, um ein Wachsen in Redlichkeit und Verantwortungsbereitschaft. Schließ­ lich geht es auch hier um Versöhnung als Ziel heilvollen Zusammenlebens, die – wie schon vom Jakob-Esau-Sagenkranz her bekannt – nur vom „Geschädigten“ ausgehen kann. Themen, wie Gewalt entsteht (Sodom), wie mit Schuld umzu­ gehen ist (Jakob) und welche Voraussetzung Versöhnung hat (Esau), sind hier gebündelt, weshalb man die Josephsnovelle wegen fortgeschrittener Reflexion zeitlich den beiden vorgenannten Traditionen nachordnen kann. Hinzu kommt hier eine weitaus stärkere Verknüpfung mit der Theologie, insofern Josephs Ver­ söhnungshandeln von ihm selbst in Korrelation zur göttlichen Umwandlung von Bösem in Gutes gesehen wird (Gen 50,20). Josephs versöhnende Deutung des bösen, gewalttätigen, verletzenden Gesche­ hens lässt einerseits das Gesicht Gottes erkennen und ist andererseits eine sehr eigenwillige und tiefgründige Antwort auf die Theodizeefrage: Das Böse musste so kommen, damit sich Gottes Macht als Kraft des Lebens stärker erwies als die Macht des Todes; damit Gottes heilsame Macht sich lebenserhaltend auswirkte sowohl für die Täter als auch für das Opfer, und zwar in Umkehrung der Folgen, die sich aus der Absicht der Täter hätten ergeben können. Indem Joseph sich in Gottes Versöhnungswerk hineinstellt, nimmt er auch seine Brüder mit hinein, so dass – über Jakob-Esau hinaus – hier das Bild versöhnter Einheit entsteht. Der Tatsache, dass Gott das aus Gewalt hat erwachsen lassen, ist die Josephsnovelle gewidmet. Damit sollte eigentlich das Ende der Gewalt eingeläutet sein. Aber es bedurfte noch eines Gottesknechts und zuletzt des Gottessohnes selbst. Die Umwandlung von Bösem in Gutes ist Offenbarwerden von Gottes Heils­ wirken in der Welt. Sein derartiges Wirken ändert aber nichts an seinem Wesen, das Gegensätzliches in ihm koinzidieren lässt. Davon erzählt die Opferung Isaaks.

650

Zusammenfassung

So vereinigt Gott in sich die Gegensätze von unerbittlicher Härte und wunderba­ rer Wendung. In der Welt entfalten sie sich im zeitlichen Nacheinander, dergestalt, dass das Wunder dem scheinbar Unausweichlichen folgt, auf die menschliche Si­ tuation projiziert: dass die Erlösung dem Leiden folgt. Damit erweist sich Gottes Erlösungswirken als stärker denn seine Leidgenerierung, das momentum fasci­ nosum als überwältigender denn sein momentum tremendum. Dadurch dass der Hörer / Leser emotional den Weg mit Abraham mitgeht, gewinnt die Geschichte eine seelsorgerliche Dimension: Wenn du wie Abraham in das schreckliche Ant­ litz Gottes blickst, füge dich und wisse: Gott ist mit seinen Möglichkeiten noch nicht am Ende. An dieser Stelle verbindet sich die Theodizeefrage mit der Poimenik und der Anthropologie. Dem erlösungsbedürftigen Menschen wird gesagt: Die Ursache des Leidens wie auch der Erlösung liegen bei Gott. Das Leiden entsteht aus seiner unerforschlichen Gewalt-Tat, Erlösung geschieht durch sein begleitendes Auge und sein Erscheinen in Not. Da Letzteres in Gott obsiegt und sich entsprechend entfaltet, darf sich der Mensch schon jetzt und trotz gegenteiliger Erfahrungen als erlöst betrachten und aus der Hoffnung leben. Sekundär hat die Theodizeefrage durch den Aspekt der Prüfung eine andere Antwort erhalten: Leid ist Prüfung, die in die Freiheit stellt, den Gotteswillen zu respektieren oder auch nicht. Besteht man die Prüfung, geht man daraus gestärkt und mit Zukunftsperspektive (Rückgabe des Sohnes) hervor. Hier macht sich dogmatische Theologie daran, den poimenischen Charakter der Geschichte zu verformen. Die Geschichte ist auch ein hervorragendes Zeugnis für die intellektuelle Leistung des Monotheismus. Weil Jahwe der Eine ist (Dtn 6,4, kommentiert in Mk 12,32), ist alles letztendlich in ihm begründet1. Abraham lernt es, und Hiob lebt aus dieser Weisheit (Hi 2,10). Das logisch Un-denkbare kann im Glauben erfahren und theologisch erzählt werden: die Koinzidenz verschiedener Götter­ gestalten mit unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Eigenschaften und Wirk­ weisen (z. B. Enlil, Ea und Ischtar) in dem Einen. Und doch bleibt die intellek­ tuelle Versuchung, das tremendum in eine satanische Hypostase zu verlegen (vgl. b San 89b, wo der Satan Gott überredet, Abraham zu versuchen). Dieser Eine hat auch uralte dämonische Flussgeister an einer Furt des Jabbok in sich aufgesogen. So tritt er hier dem Jakob als der Unheimliche, verletzend Ge­ walt-Tätige gegenüber. Zugleich lässt er sich einen Segen abringen. Das zeigt: Wer Gott begegnet, der bekommt es existentiell spürbar mit beidem zu tun, mit dem Befremdlichen ebenso wie mit dem Freundlichen. Am Ende setzt sich das Auf­ bauende durch. – Die erweiterte Form (Gen 32,28–30) ist ein Reflex auf Jakobs

1 Vgl. auch U. Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes. Zu den Ambiguitäten Jahwes aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive, Paderborn 2013, S. 38.

Gott und Mensch im Alten Testament 

651

Gebet Gen 32,10–13: Gott lässt sich im Ringen mit ihm überwinden und bleibt dennoch unverfügbar. Anthropologisch wird der Mensch als ein mit Gott Ringender dargestellt. So ist der Mensch nicht zwangsläufig. Abraham ist ein Dulder. Seine Haltung war es, dem Walten Gottes Raum zu geben, sein Verhalten Fügsamkeit. Jakobs Haltung ist einfordernd (vgl. auch schon das Gebet Gen 32,13), sein Verhalten das Ringen mit Gott. Gott lässt beides zu. Die Menschen sind verschieden und haben je nach Persönlichkeit einen je eigenen Zugang zu ihm. Archaische Züge trägt die Notiz, Jahwe habe Mose töten wollen. Darin spricht sich nur das momentum tremendum aus. Diesem urzeitlichen Gottesbild fehlt das Faszinierende, die potestas, die Böses in Gutes wandeln könnte. Selbst ein Vorsatz, Mose zu verletzen (violentia), ist nicht zu erkennen. Reine Willkür (arbitrium). Es ist der dunkle Gott, der in Sturm und Gewitter von Seïr her heraufzieht (Ri 5,4 f; Dtn 33,2) und die Berge zerfließen lässt (nach einer althebräischen Inschrift aus dem 9. Jh. v. Chr.), ohne dass hier etwas von einer regelmäßigen Fürsorge für das Kulturland zu erkennen ist2. Alle drei Episoden (Abraham und Isaak, Jakob am Jabbok, Tötungsabsicht des Mose) zeigen den Gottesschrecken, nur dass Gott sich in den ersten beiden selbst überwindet, in der letzten gebannt wird durch Magie. Gerade auch darin liegt ein archaischer Zug. Allen drei Episoden ist ein seelsorgerlicher Zug eigen. Wo der Mensch sich am Ende glaubt, sind Gottes Möglichkeiten längst noch nicht zu Ende. Du darfst mit Gott ringen, er duldet das. Wo Sinnkategorien zur Erklärung von Gottes Handeln versagen, können und sollen sie auch nicht angeboten werden.

b) Gesetzestexte Auch wenn man zwischen sanktionierendem Recht und appellativer Ethik unter­ scheiden kann, ist das Recht ethisch fundiert. Daher geht es bei den Rechtssätzen in Ex 21,12–27 auch um ethische Fragen und Grundentscheidungen hinsichtlich der Gewalt, und zwar sowohl der Täter- als auch der Strafgewalt. Dabei reicht die Bandbreite von Gewaltprävention durch Gegengewalt über das Äquivalenzstraf­ recht bis zur Gewaltvermeidung durch Schadensersatz. Entsprechend lassen sich drei Rechtsformen ausmachen: apodiktisches Recht, kasuistisches Recht, dazwi­ schen ius talionis. Die folgende Tabelle gibt Alter, Wurzeln, Ort, Haftungsgrund und Intention der jeweiligen Rechtsform wieder.



2 Ders., a. a. O., S. 20.

652

Zusammenfassung

apodiktisches Recht

ius talionis

kasuistisches Recht

Alter / Ursprung

vorstaatliche Zeit

vorstaatliche Zeit

staatliche Zeit

Wurzel

Widerspiegelung des göttlichen Rechtswillens

Tat-Folge-Denken

Widerspiege­ lung juristischer Differenzierung

Ort

Gewaltausübung in vorstaatlichen Gemeinschafts­ strukturen

Gewaltmono­ pol bei einer Rechtsinstitution

Haftungsgrund

Erfolgshaftung nach Erfolgsethik

Verschuldens­ haftung nach Gesinnungsethik

Intention

Strafgewalt gegen Strafgewalt gegen Tätergewalt Tätergewalt (Gewaltprävention) (Äquivalenz­ strafrecht)

Gewaltmini­ mierung → Gewaltreduktion, Mäßigung → Deeskalation, Gewaltvermeidung → Versöhnung

Die Rechtssätze, insbesondere die kasuistischer Provenienz, entstammen altorien­ talischer Rechtstradition, wo sie als bürgerliches Gewohnheitsrecht bereits kodi­ fiziert waren. Typisch für israelitisches und damit für biblisches Rechtsdenken ist jedoch die strikte Einordnung dieses Rechts als Gottesrecht. Allgemein gilt: Gott ist der Herr des Rechts, dessen Übermittler (Gen 9,5 f)3 und Wiederhersteller. Bei ihm liegen Legislative (Gen 9,6), Judikative und Exekutive (beides Gen 9,5) in einer Hand. Er kann die Rechtsausübung an den Menschen delegieren, ohne sie ganz aus der Hand zu geben (vgl. die Rahmung Ex 21,1; 23,13a und den Ein­ schub Ex 21,14). In der Rechtsentwicklung ist die Tendenz von der Präventionsgewalt in vor­ staatlicher Zeit über die Äquivalenzgewalt zur strukturell differenzierten Gewalt in staatlicher Zeit festzustellen. Alle drei Rechtsformen bleiben jedoch ggf. kon­ kurrierend in Geltung. Ethisch ist die Tendenz zur Gewaltminderung aufseiten sowohl des Geschädigten wie auch des Täters nicht zu verkennen.

3 Ggf. durch Mose (Ex 19,16 ff.20 ff; Dtn 5,5) oder Engel (Apg 7,38.53; Gal 3,19; Hebr 2,2). Zur Engeltradition vgl. auch Dtn 33,2 (LXX) oder talmudische Überlieferungen z. B. Bawa mezia 86b.

653

Gott und Mensch im Alten Testament 

c) Dichtung Das Buch Hiob gilt zu Recht als Dichtung, 96 % sind Poesie, nur 4 % sind Prosa. Dennoch hat der narrative Rahmen Eigengewicht; denn hier geht es angesichts eines sich ungewöhnlich gewalt-tätig verhaltenden Gottes um eine Haltung Hiobs, während im poetischen Hauptteil das Ringen mit und um Gott und damit die Gottesfrage im Vordergrund steht. Dass Gott einem Menschen scheinbar ohne Grund Gewalt antut, ist seit Abra­ ham (Gen 22) und Jakob (Gen 32) bekannt. Nun kommt Hiob hinzu. Ihm wird durch im Himmel beschlossene und zugelassene Schicksalsschläge alles genom­ men: Besitz, Existenzgrundlage, Familie, Gesundheit, nur nicht das Leben. Seine Haltung wird von Gott mit fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und das Böse meidend beschrieben (Hi 1,8), sein Verhalten ist Duldsamkeit, hinnehmend, was nicht zu ändern ist (Hi 2,10). Zum Vergleich: Abraham

Jakob

Hiob

Haltung

Raum geben dem Walten Gottes

sein Recht ein­ fordernd gegenüber Gott

fromm, rechtschaf­ fen, gottesfürchtig, das Böse meidend

Verhalten

Fügsamkeit

Ringen

Duldsamkeit

Die Theodizeefrage scheint im Hiob-Rahmen gelöst: Alles kommt aus Gottes Hand – Gott ist zu loben. Seinem geheimen Ratschluss wird per se Sinn beigelegt. Der Rahmen zeigt eine doppelte Gegensätzlichkeit in Gott: einleitend ist er der gewalt-tätig, verletzend und willkürlich Handelnde, abschließend der Segnende und Heilende: Dass sich in Gott beides findet und sich an ein und derselben Per­ son auswirkt, ist nicht neu. Neu ist allerdings eine zweite Polarität, die von Gott und Satan. Das destruktive Element wird aus Gott extrapoliert und gewinnt eine eigene Mächtigkeit. Es bleibt der gute, achtsame und bewahrende Gott übrig, und der Satan kommt als Hypostase des Bösen hinzu. Der gute Gott lässt sich vom Sa­ tan zu einem existenzvernichtenden Experiment an Hiob überreden. Eine Theo­ dizee fällt unter diesen Umständen leicht; denn der gute Gott bleibt derselbe, Satan ist kein Gott. Solange der Teufel eine metaphorische Personifikation des Bösen ist (z. B. Mt 4,1–11 oder 1.Petr 5,8), ist die Rede von ihm theologisch unbedenklich. Wird er allerdings hypostasiert wie hier in Hi 1–2 (oder in b San 89b, s. o.), wird es grenzwertig. Es fällt schwer, ihn dann noch als eine konträre Seite Gottes zu sehen (vgl. auch sein Treiben in Offb 12 und Offb 20). Der Weg in eine marcionitische Theologie mit „gutem Gott“ und „Demiurg“ scheint geebnet. Mit einer Theologie im Sinne des 1. Gebotes hat das alles nichts mehr zu tun4. Allerdings gelingt es

4 Vgl. dazu H.-J. Hermisson, „Gott und das Leid“ in ThLZ 128/2003, Sp. 3–18.

654

Zusammenfassung

dem Erzähler bzw. Verfasser des Rahmens, die zentrifugalen Kräfte im Gottesbild wieder zu binden und Gutes und Böses ursächlich in Gott zu verankern, was die Beantwortung der Theodizeefrage freilich wieder erschwert. Der poetische Teil des Hiobbuches bleibt dem ambiguen Gottesbild treu. Gegenüber dem erzählenden Rahmen hat er den Vorteil, dass er aufgrund seiner Form einer Verobjektivierung des Gottesbildes widersteht und stattdessen die All­ kausalität sämtlicher Ereignisse, insbesondere der existentiell erfahrbaren, in Gott als subjektiv empfunden und subjektiv wahr darstellen kann5. So wird Hiob eines Gottes inne, der angreift und den Menschen in Verzweiflung stürzt, darin aber zugleich auch nach diesem Menschen greift und sich als der in Allem Mäch­ tige erweist. Die Subjektivität der Wahrheit betont die Dichtung auch dadurch, dass die Dogma-Theologie als „reine Lehre“ Hiob nicht erreicht; einzig und allein Gott selbst erreicht ihn: als Willkürgott und Gewalt-Täter, als Ansprechbarer und doch nicht Antwortender. Auf sich zurückgeworfen, denkt sich Hiob den kleinlich vergeltenden Gott als Feind des Menschen (Hi 14,13–17), verwirft den Gedanken aber wieder und wird trotz allem der Größe Gottes inne: Das Gute wird das Böse einholen in Gott, das Recht wird gegen die Willkür siegen in Gott, der Erlöser wird stärker sein als der Bedränger in Gott, und Hiob wird es „zuguterletzt“ heil­ voll erfahren (Hi 19,25). – Klage, Rechtfertigungsversuche, Anklage Gottes: Hiob lässt nicht von ihm (vgl. Jakob Gen 32: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“). Und Gott erreicht ihn. Hi 38,1 ein weiterer Höhe- und Wendepunkt nach Hi 19,25. Der deus absconditus wird zum deus relevatus: Seine Gerechtigkeit gilt letztinstanzlich und ist keinem menschlichen Maßstab unterworfen. Seine von Hiob eingeforderte, kleinliche Vergeltung hinter sich lassende Größe wird offen­ bar zur potentia absoluta, die weder verletzend noch willkürlich ist, sondern eine Welt schafft, bändigt und erhält, in der auch Hiob seinen Ort hat. Die Dichtung kann vermitteln, dass die Theodizeefrage nur erlitten werden kann („Warum lässt du mich nicht in Frieden?“ [Hi 7,19 f]). Sie öffnet damit andere Räume als die Dogma-Theologie. In dieser gilt das Tat-Folge-Schema, in dem die Theodizee ihren Platz bekommt. Die Hiob-Dichtung aber schreitet den gesamten Raum zwischen Unlösbarkeit und Hoffnungsperspektive ab, unlösbar im gefühlten Willkürverhalten Gottes, hier allenfalls lösbar in einem – utopi­ schen – Rechtsstreit mit ihm, beantwortbar nur in persönlicher, unableitbarer Gotteserfahrung als Sieg des Rechts über Willkür in Gott, abgewiesen aber von Gott als menschliches, nicht göttliches Problem. Anthropologie und Theologie sind in der Hiob-Dichtung aufs engste mitein­ ander verknüpft. Die Fraglichkeit menschlicher Existenz und die Frag-würdig­ keit Gottes sind zwei Seiten derselben Medaille. Leben ist Erleiden Gottes. Gottes 5 H.-J. Hermisson weist in diesem Zusammenhang auch auf die Dichtung Jes 45,6 f hin (ders., „Gott und das Leid“, a. a. O.). Jes 45,6 f in Korrespondenz mit Hiob zeigt im Übrigen, dass die subjektive Rede von der coincidentia oppositorum in Gott intersubjektiv vermittelbar ist.

Gott und das Volk im Alten Testament 

655

Größe macht das erlösungsbedürftige Leben offenbar. Von daher bleibt nichts anderes als sich der unermesslichen Größe Gottes auszuliefern. Hier setzt Hiobs neue Erkenntnis über sich ein. Dem Sich-Ausliefernden spricht Gott aus seiner Größe heraus Sein zu. Hiobs in die Welt geworfene Existenz ist gehaltene und getragene Existenz. Das ist Anthropologie von oben nach unten, während seine Freunde den gegenteiligen Weg empfahlen, eine Anthropologie des Verdienstes von unten nach oben (auf Taten folgt „Vergeltung“). Für die Ethik gilt Gleiches wie für den Rahmen. Einzig Gottes Walten Raum zu geben ist der empfohlene Weg der Frömmigkeit. Er führt zur iustificatio peccatoris.

2. Gott und das Volk im Alten Testament Gott bleibt der Gott des Zorns und der Gnade. Dabei sorgt am Ende ein Über­ schuss an Gnade für den Fortgang der Geschichte als Heilsgeschichte, zum einen, weil Gott sich seiner generellen Zusage treu bleibt, zum anderen, weil er sich durch Israels Hilferuf immer wieder überwinden lässt. Stärker als in der Individualgeschichte wirkt sich Jahwes Bipolarität in der Welt­ geschichte aus, und zwar dergestalt, dass sie nicht nur auf Israel trifft, das – beson­ ders im deuteronomistischen Geschichtswerk – Zorn und Gnade erfährt, sondern auch auf die Israel umgebenden Völker. So wird der Zorn meist die Völker treffen, Israel die Gnade in Gestalt von Parteinahme (vgl. z. B. das Miriamlied Ex 15,20 f und das Deboralied Ri 5). Entspricht der Theologie in der Individualgeschichte die Anthropologie, so ist es in der Kollektivgeschichte die „Ethnologie“6. So ist Israel: so eigenmächtig, so selbstherrlich, so habgierig, so bußfertig, so jahwetreu. Aus dieser Selbstreflexion Israels erwächst schließlich das deuteronomistische Geschichtswerk. Beim Auszug aus Ägypten und Rettung am Schilfmeer (Gottesbild nach NP) zeigt sich Jahwes Parteinahme für Israel par excellence. Der Herr tritt unmittelbar für Israel ein. Er führt, macht durch Dazwischentreten die Ägypter kampfunfähig, bereitet Israel den Weg, lässt die Ägypter in ihren selbst verschuldeten Untergang stürzen. So lässt sich Geschichte – zumindest seitens Israels – als gewaltfreie Er­ eignisfolge beschreiben, weil ja alle Gewalt (hier nicht einmal violence, sondern power), bei Gott liege. Nicht geboren aus Gründen der lupenreinen Selbstdarstel­ lung, sondern gewissermaßen als „Danklied“, welches sich dann ja auch in der kanonischen Reihenfolge anschließt (Ex 15,1–21). Was bei der P-Version der Sintflutgeschichte mit Souveränität Gottes umschrie­ ben werden konnte, ist in der Schilfmeergeschichte nach P seine Herrlichkeit. Aus 6 Ich gebrauche diesen Begriff eigenwillig. Er scheint mir eine angemessene Parallele zur Anthropologie zu sein, wenn nun nicht der Einzelne, sondern das Volk ins Auge gefasst ist (auch wenn es durch Einzelne vertreten wird).

656

Zusammenfassung

dieser Herrlichkeit heraus kann er souverän handeln, Israel durch Mose retten, den Pharao durch Mose und ein angeordnetes Strafwunder untergehen lassen. Hier agiert der gewalt-tätige Gott. Power wird zu violence, von langer Hand durch Herzensverstockung des Pharao vorbereitet, nicht aus Willkür, sondern um sich als der Herr der Geschichte zu erweisen. P unterstreicht die Aktivität Gottes und lässt ihn allein Kriegsherr sein. Das Schilfmeerlied zeigt eine Entstehungsgeschichte von der vorstaatlichen Zeit (Miriamlied) über die Königszeit hinweg bis zur Exilszeit (Jahwe-KönigsPsalm). Durchgehend (mit Ausnahme der Exilszeit) gilt Jahwe als ein für Israel Partei ergreifender Gott. Seine unumschränkte Macht ist für Israel Wunder und Rettung, für Ägypten, aber auch für die „Fremdvölker“ im Jordanland Schrecken und Untergang. Seine Doppelgesichtigkeit wird wahrgenommen, aber nicht als bedrohlich, sondern als positiv parteilich. Letztendlich führt seine Parteinahme dazu, dass er bei seinem Volk einwohnen wird – wie es einst war und wieder wer­ den wird (Ex 15,17) – als König, nah und heilig, wunderbar und schrecklich, auf seinem heiligen Berge. Die Amalek-Tradition spannt sich über die Bücher Exodus, Deuteronomium und 1.Samuel. Sie blickt auf die Landnahme zurück und ist in der Königszeit ge­ wachsen. In ihren Ergänzungen reicht sie bis in die Exilszeit. Amalek ist nicht nur ein Feind unter anderen, sondern das ein Volk in seiner Existenz schlechthin Bedrohende, das von außen auf das Volk Israel kommende personifizierte Böse. Wie ist damit umzugehen? Die Existenzfrage Israels in Geschichte und Gegen­ wart. Die Amalek-Tradition gibt in verschiedenen Zeiten verschiedene Antwor­ ten. Eine Antwort zieht sich durch: Im Kampf gegen Amalek steht Gott auf Israels Seite. Er ist Kriegsgott, er ist selbstverständlich Kriegspartei, auch wenn er sich im Hintergrund hält und den irdischen Heerführern und Heeren Kraft verleiht. Die Vernichtung Amaleks ist Gottes Verheißung (Ex 17) und an Israel gerichtete Verpflichtung (Dtn 25). Der zum König Gesalbte, hier Saul, steht wie alle Könige nach ihm in der Verpflichtungssukzession ohne Wenn und Aber (1.Sam 15). Unbedingter Gehorsam wird verlangt: Vernichtung als Verpflichtung. Die rigo­ rose ethische Forderung löst einen Diskurs aus, der den unbedingten Gehorsam fraglich erscheinen lässt: ökonomische Gründe gegen die Totalvernichtung aller Beutetiere, Ersatzgaben für Jahwe statt sinnloser Vernichtung aller Tiere, politi­ sche Gründe gegen die Enthauptung des feindlichen Königs. Der Diskurs endet mit der Ablehnung aller Ersatz-Opferhandlungen und der Legitimierung des Vernichtungsbanns durch Jahwes Verheißung und Verpflichtung. Der Diskurs lässt Jahwe bereuen (destruktive Reue), Saul zum König erwählt zu haben; der Erwähler verwirft ihn (coincidentia oppositorum in geschichtlicher Entfaltung), David erscheint am Horizont. Nun ist alles wieder in konservativen Bahnen (1.Sam 30). David zeigt: Dem „Amalekismus“ muss man standhalten. Man darf ihm nicht nachgeben. Dabei vertraut er auf Gottes nicht immer offensichtliche, aber dennoch wirksame Partei­

Gott und das Volk im Alten Testament 

657

nahme. Gottvertrauen statt Gehorsam macht ihn zum souveränen Entscheidungs­ träger, der sich nicht scheuen muss, Gott im Zweifel um Kriegsrat zu fragen. Zwei Dinge sind trotz Konservativismus neu. Die Beutefrage wird sozial-theologisch gelöst: Vom Vernichtungsbann keine Rede mehr, stattdessen paritätische Ver­ teilung der Gabe des Herrn. Sodann wird der Verbündete des Amalekiters nicht mit diesem über einen Kamm geschoren, und der Herr scheint nichts dagegen zu haben. Gott und Volk verbindet eine Heilsgeschichte, die auch Kriegsgeschichte ist. Das wird als normal empfunden und ist geistesgeschichtlich aus der Zeit heraus zu erklären: – Kriege gehören zur akzeptierten Realität und Normalität des Lebens und sind so auch in den Erfahrungshorizont des Glaubens einzuordnen (z. B. 1.Sam 14,1–23). – In Israel werden sie, insbesondere im Fall der Landnahme, als „Heilige Kriege“ gesehen, d. h. als Kriege, in denen Jahwe seine Abrahamsverheißung wahr macht und seinem Volk bei Existenzbedrohung die Treue hält. Da kann und darf Israel nicht abseits stehen (so schon im uralten Deboralied). – Der Kriegsgott kann auch das Attribut „Der Herr ist Friede“ bekommen (Ri 6,24). Das ist kein Gegensatz, weil „Friede“ = „heilvolle Lebensmöglichkeit“ bedeutet. Diese wird durch Beendigung des Chaos, also durch Rettungskriege, neu eröffnet (vgl. auch 1.Kor 14,33: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens“). Die angemessene Haltung ist der Lobpreis Jahwes in seiner faszinierenden Macht-demonstration. – Der Gott Israels ist mächtiger als alle Völker (und deren Götter). Insofern ist Krieg auch immer ein Kräftemessen der Götter, was sich biblisch zwar gele­ gentlich, aber nicht relevant niederschlägt, weil die fremden Götter nur so ge­ nannte Götter sind (vgl. 1.Sam 17,46; 1.Kön 18,23 f.25–29.36–40; Ri 6,25–32; Nah 1,14b). Die Präsenz Jahwes in den von ihm sanktionierten Kriegen wird in unter­ schiedlicher Intensität erfahren und beschrieben: – Gott greift mittelbar ein, Israel kämpft nicht (z. B. Schilfmeergeschichte [Ex 14]). – Gott greift unmittelbar ein, Israel kämpft nicht (z. B. Vertreibung der Philister durch „Gottesschrecken“ [momentum tremendum] [1.Sam 14]). – Gott greift scheinbar nicht ein, Israel kämpft autonom (z. B. 1. Amalekiterkrieg [Ex 17]). – Gott greift mittelbar durch einen Propheten oder durch seinen „Schrecken“ ein, Israel kämpft autonom und hat freie Hand (z. B. 2. Amalekiterkrieg [1.Sam 15]). – Gott greift ein, Israel kooperiert (z. B. Vernichtung der Anakiter [Dtn 9]). Der in Allem mächtige Gott (power) mutiert zum gewalt-tätigen Gott (vio­ lence), indem er selbst den Vernichtungsbann vollstreckt, aber auch Israel zu gewalttätigem Handeln gegen die Feinde ermutigt. Im Referenzrahmen des oben beschriebenen Geschichtsbildes dient diese Vorstellung auch dazu, Selbstruhm

658

Zusammenfassung

zu vermeiden und Geschichte, auch Kriegsgeschichte, als Gottes Führung und Fügung zu sehen. Diese Haltung wird nicht nur in „guten Tagen“ des Sieges ge­ lebt, sondern auch in den „bösen Tagen“ des staatlichen Existenzverlustes, der Verschleppungen und des Exils. Damit im Krieg nicht Willkür herrsche, sondern Gewalt in geregelten Bah­ nen verlaufe (Gewaltminimierung), sind Kriegsgesetze gemacht. Gleichsam als Präambel ist vorausgeschickt, dass Gott im Krieg aufseiten Israels mitgeht und darum Furchtlosigkeit angesagt ist. Daraus folgt in älteren Kriegsgesetzen, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen vor dem Kriegstod zu verschonen sind. In jün­ geren, „neokonservativen“ Passagen ist Feigheit das Gegenbild zur Furchtlosigkeit mit der Folge der Ausgrenzung des Feigen, damit er die Herzen der Furchtlosen nicht kontaminiert. Gleiches ist bei der Behandlung der zu erobernden Städte zu beobachten: früher Kapitulationsangebot mit weitgehender Verschonung, später Vernichtung der Bevölkerung, um nicht durch die Kanaaniter verunreinigt zu werden. Hier wie bei anderen Themen ist deutlich: Es gibt keine sich aufwärts bewe­ gende Gerade von theologisch und ethisch legitimierter Urgewalt hin zu einer Theologie und Ethik des Friedens und der Gewaltlosigkeit. Wenn auch die Rich­ tung stimmt, ist der Weg dahin durch ein Auf und Ab, durch ein Vor und Zurück, durch ein Hin und Her gekennzeichnet. Gleiches lässt sich für den Vernichtungs­ bann sagen, dessen Diskurs in 1.Sam 15 und 1.Sam 30 zu verfolgen ist, Gleiches wird sich später beim Thema Weltoffenheit und Renationalisierung (z. B. Jona und Joel) zeigen. Und nicht zuletzt bleibt die Theodizee eine ungelöste Frage mit im­ mer wiederkehrenden Argumentationsfiguren, wenn man sie nicht in der Person Jesu Christi gelöst sein lassen will. Wirkt sich Jahwes Bipolarität geschichtlich als Segen für Israel und als Fluch für „Amalek“ und „Kanaan“ aus, so kann sie auch für Israel selbst erfahrbar werden in Segen und Fluch, und zwar in Abhängigkeit vom frei gewählten Ver­ halten Israels. Wohlstand im Land und Glanz über die Grenzen hinaus steht gegen totale Vernichtungsdrohung. Kausalsätze („weil … darum“) betonen den Ernst des Endgültigen, werden aber eingefangen von Konditionalkonstruktionen („wenn … dann“), die letzter Weckruf vor dem Verderben sind und so die Mög­ lichkeit der Rettung doch noch aufscheinen lassen. Das Deuteronomium, im Exil als Programmschrift für ein erneuertes Israel verfasst, nimmt so die aufrüttelnde Predigt eines Jeremia auf. Im Dtr mag die Achan-Perikope als Beispielgeschichte dafür dienen. Dabei geht es dem Dtr weniger darum, geschehene Geschichte ab­ zubilden, als vielmehr im Gewand der geschichtlichen Erzählung ein Nachdenken darüber anzuregen, Jahwe als treuen Kriegsgott zu reaktivieren, und einen Lern­ prozess anzustoßen, toragemäßes Verhalten (Gehorsam) für die Zukunft wieder ethisch zu implementieren. Wie eng Gottes power und violence beieinanderliegen, zeigt die Eroberung Jerichos. Machtvoll ist Gottes Verheißungswort, dass Jericho fallen werde. Die

Gott und das Volk im Alten Testament 

659

Macht seines Wortes findet sich im Kriegsgeschrei des Volkes wieder, wodurch die Mauern einstürzen. Violence als bewusst angewandte, Menschen verletzende Gewalt bleibt außen vor. Sie folgt aber konsequent nach dem Einfallen in die Stadt: Vollzug der – als nicht ganz unproblematisch empfundenen – Vernichtungsweihe als Zeichen der Übergabe der Stadt an den eigentlichen Herrn der Schlacht, Jahwe. Im Wunder des machtvollen und in seiner Wirkkraft übertragbaren Wortes des Herrn liegt das fascinosum und tremendum zugleich, das auch die numinose Gestalt bei der Beauftragung Josuas symbolisiert. Entsprechendes gilt für die Eroberung Ais. Die Vorstellung von Jahwe als im Hintergrund agierendem Kriegsgott bewahrt vor Selbstruhm und führt zur Dankbarkeit. Der Lobpreis realisiert sich unter anderem in der strikten Durchführung des Vernichtungsbanns, weil dieser Israels Antwort auf Erwählung und Bund sein soll (Achan-Erzählung). Miss­ achtung des Vernichtungsgebotes erfordert nach Gottes Willen (!) ein mensch­ liches Ersatzopfer (anstelle Israels) zwecks Reinigung und Wiederherstellung der Bundestreue (Opferung Achans). Daran wird das hohe Alter dieser Überliefe­ rung deutlich. Die Auslösung des Menschenopfers durch Tieropfer ist noch nicht vollzogen. Das Buch der Richter steht vor dem Problem, zwei profane Volkssagen mit zweifelhafter Heldenverehrung in die Abfolge seiner Regentengeschichten aufneh­ men zu müssen: die Ehud- und die Jael-Sisera-Sage. Die darin enthaltene Verherr­ lichung z. T. hinterhältiger und sadistischer Gewalt erhält vom Deuteronomisten eine theologische Weihe durch den Titel Ehuds als „Retter“ und durch die gött­ liche Sanktionierung der grenzwertigen Tat Jaels (Bruch der Gastfreundschaft!). Der Zweck scheint die Mittel zu heiligen. Nach den religiös sanktionierten Gewaltexzessen folgen im Gideon-Komplex die Gegengeschichten. Zwar fordert Jahwe Gideon zur Gewalt gegen seinen dem Baalskult anhängenden Vater auf, aber der Vater antwortet auf den zerstörten Baalsaltar nicht mit Gewalt, sondern intelligent: Baal selbst soll sich wehren! Eifer für Gott kann und darf die Familien entzweien, darf aber nicht zur Tötung von Familienmitgliedern führen. Streitaustragung bis zum Äußersten, aber das Leben darf nicht angetastet werden! Welch ein ethischer Fortschritt! Auch der Gideon-Komplex hat eine alte Volkssage, die Abimelech-Sage, aufge­ nommen. In ihr ist Abimelech positiv als Law-and-Order-Mann konnotiert, der sich heldenhaft gegen Machtanmaßung des Gegners Gaal und gegen Anarchie der Sichemiten durchsetzt. Später erscheint er jedoch als Usurpator der Macht, der über Leichen geht und seine Macht verewigen will. Er wird zum Urbild des Tyran­ nen, der sich seine Macht nimmt, wie er will und sie sich nicht von Gott auf Zeit geben lässt (Gegenbild zu Gideon). Unter den Augen Gottes endet er unehrenhaft, was seinen Taten nach Meinung des Endredaktors entspricht. Hier wird zwar nicht eine zweifelhafte Sagengestalt „geheiligt“, sondern umgekehrt: Ein Held rückt ins Zwielicht historischer Perspektiven und kann am Ende vor der „Geschichte“, bib­ lisch: vor Gott und den Menschen, nicht mehr bestehen.

660

Zusammenfassung

Sagenhafter Hintergrund kann auch für Jefta und Simson angenommen wer­ den. Die Botschaft der Jefta-Geschichte ist u. a.: Konfliktvermeidung durch Ge­ spräch mit dem Gegner, wenn es noch möglich ist. Dabei ist freilich die israeli­ tische Perspektive maßgeblich. Wird sie vom Gegner nicht übernommen, bleibt nur Gewalt: Der Herr ist Richter. Wurden schon Möglichkeiten des Widerstands gegen den Tyrannen Abimelech durchgespielt, so kann der Simson-Sagenkranz ethisch als Etablierung des Wider­ standsrechts gegen die (philistäischen) Besatzer gelesen werden. Legitimierung von Gewalt in einer Art von Völkerrecht. Sind die Richtergeschichten in ihrem Ursprung heldenhafte Volkssagen, so sind sie durch Aufnahme in das deuteronomistische Geschichtswerk zu Beispiel­ geschichten ethisch wertvollen Regentenverhaltens geworden. Der deuterono­ mistische Rahmen bietet darüber hinaus ein Selbstbild des Volkes und ein Bild Gottes. – Israel sieht sich als Volk immer wiederkehrender Gottvergessenheit, immer wieder aber auch auf Gottes Gnade angewiesen, diese erbittend in Abkehr von fremden Göttern und Buße, und diese empfangend durch das Gericht hin­ durch. – Der theologischen Ethnologie entspricht das Bild eines zornigen und sich dann wieder erbarmenden Gottes, geschichtlich sich zeigend in der Auslieferung Israels an seine Feinde wie auch in der Errettung vor ihnen. Im sich vollziehen­ den Zorngericht bleibt Jahwe ansprechbar: seine bundestheologisch begründete Parteilichkeit bleibt bestehen. Parteilichkeit, Ansprechbarkeit und Jahwes Wesen (Ex 34,6) führen dazu, dass Gnade und Errettung das letzte Wort haben, aber in aller Freiheit. Zorn und Gnade in Jahwe koinzidieren zu lassen mit einem Über­ schuss an Gnade, der in aller Freiheit gewährt wird, jedoch nicht emotionslos, ist die theologische Leistung des Deuteronomisten. Seine literarische Leistung ist es, alte Geschichtstraditionen und Sagenstoffe in Niederlage und Sieg, in Abfall und Buße, in Verzweiflung und Hoffnung für seine spätexilische Gegenwart frucht­ bar zu machen.

3. Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament Waren in der deuteronomistischen Bearbeitung von historischen oder sagenhaf­ ten Stoffen neben geschichtstheologischen Reflexionen (DtrH) auch prophetische Elemente (DtrP) enthalten, so werden Letztere in den prophetischen Büchern zu einem eigenen Genre. Kam Gottes Handeln in den Tora- und so genannten Ge­ schichtsbüchern in verobjektivierter Form zum Ausdruck, so lässt sich die Subjek­ tivität des Propheten nicht vom ergehenden Gotteswort trennen. So erlangt auch das Gottesbild eine überzeugende Unmittelbarkeit. Die prophetischen Bücher haben die Tendenz, über Israel hinauszuweisen. Das schließt nicht aus, dass die Gerichtsprophetie sehr klar und eindeutig den Zorn Jahwes sich über Israel ergießen lässt. Dem steht die letztendliche Rettung und

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

661

die Verkündigung derselben gegenüber. Die Erneuerung Israels und die Rückkehr zum Zion wird Gabe und Aufgabe zugleich sein: ein Licht zur Erleuchtung der Völkerwelt. Insofern bildet die Prophetie die Brücke zu den Völkern, um auch dort Jahwe als den Herrn der Welt zu erweisen und Frieden ohne Ende zu verkündigen. Der authentische Jesaja ist ausschließlich Gerichtsprophet. Er erfährt die un­ überwindbare Abständigkeit Gottes, die nur für ihn persönlich gemildert wird durch die Entsündigung seiner Lippen, für das Volk aber nicht: Hier markiert die von Gott herbeigeführte Verstockung das Zu-Spät. Für Gottes Gnadenhandeln gibt es keinen Raum. Gut Gemeintes wird der Herr in Böses verwandeln. Das ist die göttliche Revolution, Preisgabe an das Chaos, Folge des Unglaubens: „Weil ihr nicht glaubt, bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9). Die Einseitigkeit im Gottesbild wird von den Ergänzern schon in Protojesaja korrigiert, erst recht durch die Ankoppelung von Deutero- und Tritojesaja. Gegentexte finden sich aber schon innerhalb von Protojesaja, allerdings von zweiter und dritter Hand. Hier wird die negative Eindimensionalität des Gottesbil­ des aufgegeben: Rettung Israels und Weltoffenheit des Zionsgottes kommen in den Blick (z. B. Jes 12; 19,16–25). Die Theologie der Verstockung wird aufgebrochen durch eine Theologie der Hoffnung, die dann nicht mehr Israel allein, sondern der ganzen Welt gilt (vgl. die endredaktionell eingeflochtenen Heilsweissagungen Jes 2,1–5; 4,2–6; 9,1–6; 11,1–9). Gott tritt einzig und allein als Bringer und Garant des Heils auf. In Israel entsteht – das ist das ethnologische Selbstbild – nach dem Exil eine „heilige“ Gemeinde, in der Sollen und Sein zu einer Einheit verschmel­ zen – Werk des Gottesgeistes. Diese neue Zionsgemeinde hat auch eine Gabe und Aufgabe nach außen: Licht der Völker zu sein, so dass sie auf diese anziehend wirkt und eine neue Weltordnung ermöglicht, in der überall dauerhafter Friede und unverbrüchliche Gerechtigkeit herrschen. Allgemeine Akzeptanz von Jahwes Richtspruch unter den Völkern ist dabei vorausgesetzt. Jes 19,23–25 setzt das in eine politische Vision der offenen Grenzen und des kulturellen und wirtschaft­ lichen Austausches zwischen Israel, Ägypten und Assur um, eine Vision des Frie­ dens unter dem Segen des Herrn für alle drei7. So wird in den endredaktionellen Gegentexten zu Jesaja (auth.) ein Weltfriedensethos entwickelt, in dem Frieden nicht nur Abwesenheit von Krieg ist, sondern in dem Gewalt und Krieg grund­ sätzlich überwunden sind, weil der Mensch unter Gottes Pädagogik (Weisung, verlernen Krieg zu führen) in friedlichem und gerechtem Zusammenleben die irdische Verwirklichung seiner Bestimmung gefunden hat. Gewissheit letztend­ 7 Die weitere Textüberlieferung spricht Bände über einen Konservativismus, der einen beginnenden Heilsuniversalismus nicht zulassen wollte. Die Septuaginta entzieht Ägypten und Assur den Segen wieder und nennt diese Länder nur als Aufenthaltsorte der gesegneten Exulan­ ten. Das Targum Jonathan verstärkt diese Tendenz: Ägypten und Assur werden Handlungsfelder Jahwes im Rahmen seiner Heils- und Unheilsgeschichte („… ich habe sie herausgebracht aus Ägypten; weil sie gesündigt haben, brachte ich sie ins Exil nach Assur …“). Vgl. dazu J. Kreuch, Jesaja / Protojesaja, für WiBiLex erstellt 2015, abgerufen 5.4.2020, S. 8 f.

662

Zusammenfassung

lichen Geschichtsverlaufs; für den Glauben: sich realisierende Eschatologie, in die prinzipiell, d. h. am Ende wie am Anfang, der Schöpfungsfrieden mit hinein­ genommen ist. In eine Theologie sich realisierender Eschatologie gehört auch der „Gottesknecht“ hinein. Er ist eine auserwählte Gestalt des auserwählten Volkes, Gott repräsentierend durch sein Wesen und Wirken, den Vielen zugewandt und aus­ geliefert bis hin zum selbstbestimmten stellvertretenden Leiden für die Verächter im Gottesvolk und unter den Vielen. Für Israel lag es nahe, sich mit dieser Gestalt zu identifizieren, wenngleich sie ursprünglich nicht kollektiver, sondern indivi­ dueller Natur war. Die Integration der Völker in den Heilswillen Jahwes und in das Friedens­ handeln Israels ist das herausragende Thema Tritojesajas, und zwar dort, wo das asymmetrische Heilshandeln Jahwes nach dem Prinzip der Gnadenformel im Mittelpunkt steht. Gottes Heil für Israel und die Völker ist im Kommen begriffen. Seine Macht (potestas) erscheint als Völker anziehende Herrlichkeit (gloria) und konkretisiert sich in Frieden und Gerechtigkeit. Diese sind für Israel Gabe und Aufgabe zugleich, so dass einerseits die ethische Verpflichtung angesprochen ist, andererseits aber auch einer Selbstüberschätzung im Blick auf eine Weltverbes­ serung gewehrt wird. Partizipations- und Integrationskriterium ist Toraanerken­ nung, insbesondere Sabbatheiligung und Vermeidung des Bösen, somit auch der Gewalt. Integration ohne Assimilation war schon im Exil die Devise, sie wird nun umgekehrt in Jerusalem mit den Fremden gelebt. Gottes Gabe und Israels Auftrag treffen auf eine dritte Komponente, die freie Entscheidung der Völker, sich in den Gottes- und Weltfrieden hineinnehmen zu lassen. Die Freiheit zu Lobpreis und Bekenntnis bleibt gewahrt (Jes 60,12; 66,18). – Schließlich ergreift der Gottes­ friede den gesamten Kosmos durch Wiederherstellung prälapsarischer Zustände (neuer Himmel und neue Erde als Gottes Werk: Gerechtigkeit und Friede, Freiheit und Selbstbestimmung als zu bewahrende Werte und Güter). Jeremias Urrolle (in den Kapp. 1–20; 25,1–14 zu finden), enthält überwiegend Unheilsweissagungen und Gerichtsankündigungen. Im Unterschied zu Jesaja (auth.) haben sie allerdings keinen Endgültigkeitscharakter, sondern sie stehen im Dienst einer göttlichen Pädagogik: Androhen des Unheils in aller Schärfe, um es nicht eintreten zu lassen. Der vergeben wollende Gott muss Gewalt androhen (ambigues Gottesbild), um eine Entscheidung Israels herbeizuführen. Für beide Seiten sind alle Wege offen, was Gott im Falle der Gewaltoption schmerzt, ein Schmerz, der sich auf Jeremia überträgt. Aber Gott muss um des Gerichtswortes willen zur Gewaltoption (violentia) stehen, wozu er andere Völker (Nebukad­ nezar) benutzt. Formal kann er hinter dem Gericht „aus dem Norden“ zurück­ treten, weil Israel es sich selbst zuzuschreiben hat aufgrund seiner Treulosigkeit (Jer 2,17) und seines lasterhaften Wandels, wozu auch unrechtmäßige Gewalt gehört (Jer 7,9). Inhaltlich aber distanziert er sich nicht davon. Nur so kann er Israel erkennen lassen: Den Herrn zu verlassen bringt nur Jammer und Herzeleid

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

663

(Jer 2,19). Erziehungsziel ist Anerkennung der Singularität Jahwes und Akzeptanz des Erwähltseins unter allen Völkern (Jer 7,23). Hier liegt der Anknüpfungspunkt zu den Völkern, zu deren Prophet Jeremia ebenfalls berufen ist: „Völker, schaut auf dieses Volk!“ Achtet den Herrn und schwört bei seinem Namen (und nicht beim Baal), so werdet ihr nicht verderben, sondern leben, auch in Koexistenz im Gelobten Land. Gegenüber Jesaja (auth.) vertritt Jeremia in seiner Urform eine hoffnungsvol­ lere Theologie. Nicht das vollendete, sondern das drohende Zuspät der Umkehr wird verkündet mit dem Ziel, es abzuwenden. Die so genannte Trostschrift (Jer 30 f) ist während des Exils dem werdenden Jeremia-Buch als Pendent zur pädagogisch motivierten Drohkulisse hinzugefügt. So ist insgesamt das ambigue Gottesbild, bestehend aus vergeltender Gerechtigkeit und letztendlich obsiegender Barmherzigkeit, ähnlich wie bei der Gesamtschau von Jesaja und Micha gewahrt. Gottes Erbarmen mit seinem Volk ist so groß, seine Treue zu ihm so unverbrüchlich, dass er eine grundlegende Schicksalswende herbeiführen wird (Rückkehr ins Gelobte Land, Wiedererrichtung von Stadt und Burg, Erweckung eines Herrschers vom Glanz Davids [Jer 30,9] und von der Gottesnähe eines Mose [Jer 30,21]). Die Schicksalswende („in dieser Zeit“) ist zugleich der Anfang einer Zeitenwende („nach dieser Zeit“). Es ist ein völliger Neustart des Liebesverhältnisses zwischen Gott und Volk (restitutio ad integrum). Schicksal- und Zeitenwende setzt eine Wende in Gott selbst voraus. Er wendet sich ab von dem ihn selbst schmerzenden ius talionis hin zu voraussetzungsloser Güte. Strafende Gerechtigkeit und heilende Güte koinzidieren in Gott, wobei überfließende Güte ein heilsames Ungleichgewicht schafft. So unverbrüchlich Gottes Treue ist, so unverbrüchlich wird auch der neue Bund von Gott gestaltet sein: ins Herz geschrieben. Mit dem neuen Gottesvolk ist zugleich der neue Mensch verheißen, ohne dass etwa die alte Welt untergegangen wäre; denn die Lebensgrundlage des neuen Menschen ist Gottes generelle Ver­ gebung, und diese knüpft ja an die alte Welt an. Das neue Gottesvolk bezieht seine Identität aus der Einwohnung Gottes in ihm. Das gilt entgrenzt auch für den neuen Menschen: Er hat das Gesetz Gottes in sich und kann nicht anders als die Gebote halten, Liebe üben und demütig sein vor sei­ nem Gott. Damit wird die Sünde tot, die Gewalt erledigt und Friede allenthalben eingekehrt sein (vgl. Jes 2,4; 9,6; 11,9). In diesem paradiesischen Zustand wird die ethische Forderung obsolet. Aus dieser Aporie führt erst das Neue Testament, hier besonders die paulinische Dialektik von Indikativ und Imperativ, die die neue, mit Gott versöhnte Welt in Christus schon gekommen sieht und dazu aufruft, sich in diese Versöhnung hineinnehmen zu lassen. Jeremias Zeitgenosse Nahum, ein glühender Nationalist, fällt in seinem martia­ lischen Gottesbild und in seiner exzessiven Feindpropaganda hinter Jeremia, aber auch hinter Deuterojesaja und die friedensethisch bedeutsamen Abschnitte der Endredaktion des Jesajabuches weit zurück. Vokabular des Vernichtungsbanns

664

Zusammenfassung

und Jahweepiphanien in blitzendem Kriegsgerät befeuern die Gewaltbereitschaft im Namen Gottes. Protosacharja nimmt die Rückkehr der Exulanten nach Jerusalem und Juda in den Blick. Ca. 20 Jahre nach dem Exil ist die selbstkritische Schuldfrage einer Verschiebung der Schuld an der Gola auf die „stolzen Völker“ gewichen. Gottes Friedens- und Segenshandeln ist daher zunächst und primär auf sein Volk ausge­ richtet, indem er den Völkern ihre Macht über die Gefangenen und daheim Unter­ drückten wieder entziehen wird. Die Gola wird offenbar nicht mehr als Gottes Liebe sub contrario abscondita gesehen, sondern als eigengesetzliches und z. T. auch widergesetzliches Treiben der Völker. Diese aus einer „Opferrolle“ abgelei­ tete Geschichtsschau versucht der im deuteronomistischen Stil gehaltene Rahmen zu korrigieren: Israel ist „Täter“ im Ungehorsam der Altvorderen und hat so den Zorn des Herrn provoziert. Weil Gott in Beziehungen lebt (1.Jh 4,16), wird ihn die innere Umkehr des Volkes nicht unbeeindruckt lassen und ihn selbst zur Umkehr bewegen. Die auf Buße gegründete Hoffnung des Rahmens wird – synchronisch gelesen – in den Nachtgesichten antizipierte Wirklichkeit. Der Gott, der der Stadt und dem Land Frieden und Segen bringt, ist Bewahrer einer Stadt „ohne Mauern“. Die Idee der offenen Stadt, primär auf die Heimkeh­ rer bezogen, spricht des Weiteren auch die herbeiströmenden Völker an, die sich letztendlich auch am Bau des neuen Tempels beteiligen werden (Sachj 6,15; vgl. Jes 60,10). Von Jerusalem wird die Verkündigung Jahwes als Herrn der Welt aus­ gehen. Frieden und Segen urbi et orbi als Gabe Gottes und als Aufgabe der neuen Zionsgemeinde. Faszinierend zu sehen, wie die protojesajanischen Friedensvisionen politische Konturen bekommen in der Idee des kulturellen und wirtschaftlichen Austau­ sches mit Ägypten und Assur (Jes 19,23–25) und in der Idee von der offenen Stadt. Das ist möglich, weil man es will und weil man sich in Übereinstimmung mit dem Willen und Segen des Herrn weiß. Protosacharja zeigt, dass unterschiedliche Geschichtsdeutungen sowie Heils­ partikularismus und Heilsuniversalismus nebeneinander existieren können. Aufs Ganze gesehen wird sich der Heilsuniversalismus durchsetzen, aber selbst in Jesus kämpfen an dieser Stelle zwei Seelen (Mk 7,24–30; verdeutlicht durch Mt 15,24). Deuterosacharja hat wieder starke Tendenzen einer national-religiösen Kampf­ schrift gegen verschiedene Unterdrücker (Griechen, Ptolemäer), in der Jahwe als der unumschränkte Kriegsherr dargestellt wird. Religiös bedeutsam wird diese Schrift durch den theologisch relevanten Gegentext Sachj 9,9 f. Der hier verhei­ ßene Friedenskönig, ein Gesandter Jahwes, bringt – wahrscheinlich nach Nieder­ schlagung aller Feinde Jahwes – Frieden zunächst dem Zion, dann aber auch aller Welt. Seine Macht beruht – paradoxerweise – auf Gewaltverzicht (vgl. Phil 2,7), und dennoch oder gerade darum wird er Frieden gebieten. Die Macht, die im Gewaltverzicht liegt, ist eine Macht, geschenkt vom Gott des Friedens, der Ge­ rechtigkeit, der Hilfe und der Seligkeit. Sie verändert den Herrscher in seinem Sein

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

665

und befähigt ihn, diese Gaben dem Volk zu bringen. So zeigt Gott im Gesamttext von Deuterosacharja wieder seine beiden Gesichter, und in nicht zu übersehender Deutlichkeit stehen dementsprechend auch Rechtfertigung des Kriegshandelns und Ächtung der Waffen nebeneinander. Dabei bleibt Weltfrieden durch Aus­ gehen des Heils von Jerusalem (nicht mehr durch Herbeiströmen der Völker!) eschatologisches Desiderat. In Tritosacharja erscheint Jahwe als ein Gott, der sich vom Kriegsgott für Israel und gegen die Völker wandelt zu einem einzigen und einzigartigen König der Welt mit Thronsitz in Jerusalem. Wer ihm huldigt – also auch Heiden –, gehört nun aus Gnade zu seinem Volk. Wieder ist Gott ein Gott der Beziehung. In Beziehungen zu seinem Volk, zu den Menschen, zur Welt erweist er sich als der Wandelbare und damit als der Lebendige. Das ist auch der Grundton der spätnachexilischen Jonanovelle. Auch die got­ tesfürchtigen Heiden sollen der Gnade und Barmherzigkeit Gottes teilhaftig wer­ den, wenn sie sich „bekehren“, d. h. in Gebet8 und Buße in eine kommunikative Beziehung zu ihm treten. Sie deuten in Unkenntnis des Tat-Folge-Zusammen­ hangs Gottes Strafhandeln als Willkür, erfahren aber auch Gottes Wandlung auf­ grund seiner konstruktiven Reue, seines Mitleids und seiner daraus resultierenden Selbstbeherrschung. Ähnlich ergeht es den Nineviten. Die Jonanovelle entwickelt eine Theologie der Gnade für Israel und die Völker, wobei die Wirksamkeit der Gnade durch eine kommunikative Beziehung zwischen den Menschen und Gott ausgelöst wird, freilich nicht automatisch, sondern in aller Freiheit Gottes („Viel­ leicht“). Israel kommt darin die Aufgabe zu, Bote des gnädigen Gottes in der Völkerwelt zu sein. Auch im Joelbuch erscheint Gott zur unerbittlichen Gerichtsandrohung und zur gnädigen Wendung. Beides ist auf sein Volk gerichtet (Kapp. 1 und 2). Die Wendung ist in Gottes konstruktiver Reue angelegt, die wiederum durch pries­ terliches Gebet (Kommunikation aufgrund einer bestehenden Erwählungs- bzw. Vertrauensbeziehung) ausgelöst werden kann („Wer weiß?“). Was aber bleibt, ist der totale Jahwekrieg gegen die „Völker“ = gegen das „Böse“, bei dem Israel nicht abseits stehen kann und der die Grundlage für eine neue materielle, soziale und geistliche Lebensqualität im Land bringen wird. – Es ist eine Abwendung vom Gedanken des Friedens für alle Völker unter Anerkennung des Gottes Israels, es ist ein Rückfall in religiösen Partikularismus und Nationalismus sowie in eine Identitätsfindung durch gewaltsame Abgrenzung. Die Theologie der freien Gnade hat ihren Ursprung in einer Vorform von Ex 34,6. Die Gnadenformel hat sich über verschiedene Stadien, wozu auch die Wendung in ihr Gegenteil gehört, bis Jona hin entwickelt und reicht in ihren theo­ logischen Auswirkungen bis ins Neue Testament hinein.



8 Das kann auch ein stellvertretend für die Seeleute gesprochenes Gebet sein (Jona 1,6).

666

Zusammenfassung

Obadja ist eine national-religiöse Propagandaschrift um 538 v. Chr. für ein neues Groß-Israel gegen den Erzfeind Edom, der zunächst auch real gemeint ist, in Fortschreibungen aber zum Symbol für alle Heidenvölker wird. Prophetische Weihen erhält sie durch die – zumindest verbale – Verifikation von Jer 49,7–22, durch das Pseudonym „Obadja“ und durch den schleichenden Übergang des Menschenworts (Ob 1) ins Herrenwort (Ob 8). Sie bietet keinen theologischen, ethischen, anthropologischen oder ethnologischen Mehrwert über das Gesagte hinaus und ist von ähnlicher Intention wie die Nahum-Propagandaschrift. Das Danielbuch zeichnet sich durch Grundschicht (Dan 3,31–33; 4–6) und zwei Ergänzungsschichten (Dan 1–3,30; 7–8) (Dan 9–12) aus. Hinzu kommt die unter­ schiedliche Vorstellung von Gottesherrschaft: suprahistorisch und / oder post­ historisch. Dabei ist die Grundschicht von einer suprahistorischen Vorstellung der Königsherrschaft Jahwes geprägt, in den Ergänzungsschichten überwiegt die posthistorische Vorstellung. Die suprahistorische ist verbunden mit der Uni­ versalität des Herrschaftsanspruchs und der Herrschaftswirklichkeit Jahwes, die posthistorische führt vom Gottesreich jenseits der Zeit (Dan 2,44) über Israels Stellvertreterrolle auf Erden (Dan 7,27) zu einer Renationalisierung (Dan 7,18) – ein schwer entwirrbares Vorstellungsgemenge. Das Danielbuch vertritt einen „ökumenischen“ Jahweglauben, insofern Ne­ bukadnezar und Darius nach dieser Darstellung bereit sind, Jahwe lobpreisend zu ehren, und diesen Glauben auch international für verbindlich zu erklären (Dan 3,31; 6,26). Ethisch geht es um Herkunft, Sinn und Grenzen struktureller Gewalt, also um eine Herrscherethik. Wer Macht von Gott gegeben annimmt, wird bescheiden, großmütig und gerecht herrschen, wer dies nicht tut (Belsazar), wird scheitern und untergehen. In der ersten Ergänzungsstufe (Nebukadnezars Traum von den vier Weltrei­ chen, Dan 2) mehren sich die Zeichen für das Verständnis der Gottesherrschaft als einer posthistorischen, insofern die vier letzten Phasen der Großreiche auf Erden abgelöst werden durch ein eigen-mächtiges Reich Gottes, welches alles Vorherige zerstört und für immer und ewig bleibt. Ist suprahistorische Gottesherrschaft noch durchaus im Rahmen konservativer erzählerischer oder prophetischer Ver­ kündigung zu verstehen, wird das Welt- und Endzeitbild durch den Gedanken der posthistorischen Gottesherrschaft zunehmend deutlich apokalyptisch. Egal, ob Gott dann alles in allem direkt (der Uralte, der Menschensohn [Dan 7,14]) oder indirekt (die Heiligen des Höchsten [Dan 7,18]) beherrscht, Friede ist kein Thema mehr, weil auch Krieg kein Thema mehr ist. Es gilt nur noch: „dienen und gehorchen“ (Dan 7,14.27). Die zweite Ergänzungsschicht setzt mit Kap. 9 ein. Gottes Barmherzigkeit wird sich ausbreiten und all unsere Selbstgerechtig­ keit überwinden (Einheit von Theologie, Anthropologie und Ethik). Apokalyptik nimmt aber auch das Leiden der Jahwetreuen an der Unheil verbreitenden Welt ernst, übergeht es nicht und ordnet es als vorletzte Station in Jahwes Geschichts­ plan ein. Im Himmel (Krieg der Erzengel gegen die fremden Engelfürsten) ist der

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

667

Sieg für Israel schon errungen (Dan 10,15–20), der sich in der realen Geschichte abbilden wird (Kap. 11). Dem liegt das theologische Konzept der geschichtlichen „Entfaltung“ zugrunde: Im Himmel spielt sich ab und ist entschieden, was auf Erden in Zeit und Raum offenbar werden wird. Im Himmel kann Jahwe freilich nicht selbst mit sich ringen, ob er Israel, Babylon, Persien oder wem auch immer die Erwählung zukommen lässt; denn es ist der Gott Israels. Er kann auch im Himmel nicht gegen Marduk, Zeus oder wen auch immer kämpfen; denn es gibt ja nur ihn als Gott. Also müssen die Stellvertreter gegeneinander antreten (Erzengel gegen Engelfürsten). Das ist das prinzipielle Urgeschehen, welches sich temporal ereignen wird. Daher ist ein letzter Gewaltakt nötig, damit es zur Beendigung der Gewalt in der Welt kommt – eine am Gewaltdenken orientierte Vorstellung von der ewigen Gottesherrschaft, in extremer Steigerung nur noch in der Offenbarung des Johannes fassbar. Ansonsten ist das Neue Testament der ausgebreitete Teppich, gewebt aus den universalistischen Fäden des Alten Testaments und der Gottesherrschaft nichts anderes als Schalom / Eirene zuschreibend. Voraussetzung des Universalismus bleibt freilich die Erwählung Israels (Mk 7,24–30; Röm 11,17 f), und der beibe­ haltene Gerichtsernst macht Gnade zu einem wertvollen Geschenk und Versöh­ nung – wie etwa auch das Versöhnungsopfer im AT – zu einer Gnadengabe Gottes. Gottesherrschaft wird durch die Personalisierung in Jesus zu einer intrahisto­ rischen Größe. Die Akzeptanz Jesu als eschatologischer Heilsbringer bleibt auch über seinen Tod hinaus eine fundamentale Glaubenserfahrung. In seiner Gegen­ wart und in seinem Licht bleiben Barmherzigkeit und Gnade, Geduld und Ver­ söhnung als Gottes ureigene Wesensmerkmale und Wirkweisen erkennbar und als gelebte Menschlichkeit praktizierbar. Durch ihn sind wir, und d. h. alle Welt (Mt 28,18b) zu aller Zeit (Mt 28,20b), hineingenommen in ein neues Menschsein, wie es Jer 31,31–34 avisiert und in Jes 53,5 antizipiert wird. Die alte Daseinsver­ fassung wird nicht wirksam, wo ein Mensch sich in die neue „Gestalt“ Jesu Christi hineinnehmen lässt (Phil 2,5; Röm 6,4; 2.Kor 5,17). Die Bergpredigt, als Kerygma Jesu dargeboten, macht Gottes Wirken und Willen transparent. Die Seligpreisungen haben ursprünglich nur Notsituationen im Blick, die auch mit Gewalt verbunden sein können (Armut, Leid, Hunger). Der Leidende soll und darf sich auf Gottes Parteinahme, d. h. auf sein endzeitliches Wirken, ver­ lassen. Matthäus fügt Seligpreisungen hinzu, die sich auf Gewalt überwindende Gaben beziehen (Sanftmut, Barmherzigkeit, Lauterkeit, Friedfertigkeit, Gerech­ tigkeit). So wird aus Jesu Theologie der Zukunftsgewissheit (Q) bei Matthäus eine Ethik der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, die Friedensstiftung impliziert. Der friedensstiftende Impuls der Makarismen geht allein schon von der Haltung aus, die mit „selig“ umschrieben ist: Dulden und Ausharren in der Gewissheit der unwandelbaren und umwertenden Kraft Gottes, d. h. Verzicht auf revolutionäre Gewalt. Lukas betont, dass der Umsturz von Gott ausgehen wird (Wehe den Rei­ chen, Satten und Schwätzern): Erinnerung an das Gericht. So gehört der nicht-

668

Zusammenfassung

apokalyptische „Umsturz“ zur Realisierung des Reiches Gottes, welches Frieden bringt für das Land (Lk 9,52–56) und für die Welt (Lk 2,1–20) (vgl. auch das Magnifikat Lk 1,46–55). Mit seinem Friedenskonzept stellt sich der Bergprediger, gleich welcher Provenienz (Mt oder Lk), gegen die Anwendung der Kriegsgesetze Dtn 20 und gegen die Tradition des Vernichtungsbanns und macht das Friedens­ tiften zur ureigenen Aufgabe des neuen Menschen (Ehrentitel: „Sohn Gottes“). Der Aufruf zu entwaffnender Kreativität ist praktischer Kern von Jesu Friedens­ konzept und damit auch Leitlinie der Handlungsorientierung. Stets bleibt die Leit­ linie an Gottes Willen, an sein So-Sein gebunden und der Handelnde mit dem Va­ ter im Himmel verbunden. Die Verschränkung von Theologie und Ethik ist auch hier mit Händen zu greifen. So ist sie bei der Kombination von Feindesliebe und Widerstandsverzicht (Lk 6,27–30) schon zu Jesu Zeit (Q1) zu beobachten (Fürbitte und Segnung für die Feinde), erst recht aber bei der Q-Endredaktion (Q4) vor der Übernahme durch Lukas (Lk 6,36), noch einmal auf die Spitze getrieben Mt 5,48. Jesu radikale Friedensethik sucht Gewalt nicht durch Gegengewalt zu überwin­ den, sondern durch entwaffnende Kreativität. Dazu gehört Fürbitte für die Verfol­ ger, Segen den Fluchenden, Liebe gegen den Hasser. Entwaffnung in diesem Sinn lässt die Jünger wehrlos erscheinen, nur der erbetenen Kraft Gottes vertrauend, ebenso den Feind, dessen Strategie nicht aufgeht. Die weitere Fortschreibung von Q liefert zur Unterstützung des anspruchsvollen Jüngerverhaltens eine theolo­ gisch-ethische Analogie: Gottes Sonne scheint über Gute und Böse … (Q3). Der Gedanke gleichwertiger Menschenwürde ist geboren! – Matthäus verstärkt die von Lukas aufgenommene pazifistische Linie durch Aufteilung des Feindesliebe­ gebots in ein spezifisch solches und in ein Gebot des Widerstandsverzichts, beides in seiner Art antithetisch aufgebaut, so dass sich eine Antithese in Gott selbst zu ergeben scheint: der Gott des Alten Testaments, dem Gewalt nicht fremd ist, ein Mittel der Befriedung und Ausrottung, und der Gott Jesu Christi, der barmherzig ist und Frieden stiftet und dies auch von den Seinen verlangen kann, weil er selbst ihnen als Kraft zur Verfügung steht. Nur das Wissen um Gottes Ambiguität be­ wahrt vor Marcionismus, aber auch das Wissen darum, dass Gott sich in seinem letztendlichen Rettungswillen und Friedenshandeln treu bleiben wird. Dafür steht Jesus in seinem Leben und Sterben. Markus nimmt den friedensethischen Impuls Jesu auf und entwickelt ihn hin zu einer Ethik des Dienens im Unterschied zu einer Ethik des Herrschens (Mk 10,41–45). Das kann freilich aufgrund notweniger struktureller Herrscher­ gewalt (Mk 12,17) nur eine machtkritisch fundierte christliche Binnenethik sein. Aber auch eine solche hat gesellschaftsverändernde Kraft (Mk 9,50, bes. durch Mt 5,13 herausgearbeitet). Markus begründet die Ethik des Dienens christolo­ gisch: Jesu letzter Dienst geschieht am Kreuz als Selbsthingabe zur Auslösung für Viele (Mk 10,45). – Der Ethik des Dienens entspricht es, die Liebe zum le­ bensdienlichen Prinzip schlechthin zu erklären. Jesus tut es, natürlich in Ver­ schränkung mit der Gottesliebe (Mk 12,28–31). Denn diese fundiert jene, und

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

669

in dieser Verschränkung wird jeglicher Perversion der Macht gewehrt. Der mar­ kinische Jesus bezieht das Lebensprinzip der Nächstenliebe längst nicht mehr auf den Binnenraum der Gemeinde, sondern möchte es universal zur Geltung bringen. – Liebe und Barmherzigkeit Jesu haben beide Verweischarakter auf das Wesen und Wirken Gottes hin. Zugleich inkorporiert sich Gott in ihnen. Dabei ist die Aufforderung Jesu zur Liebe eher Verweis auf Gott (s. Doppelgebot), das Tun der Barmherzigkeit eher Gestaltwerdung des Wesens und Wirkens Gottes. Das kommt vor allem in den Dämonenaustreibungen, Heilungen und Speisungs­ wundern zum Ausdruck. Dabei hat Barmherzigkeit aber auch eine Rückseite, die nicht sofort, aber bei genauerem Nachforschen sichtbar wird: unbarmherziges Gericht über das Dämonische, aufhelfendes und auf den Weg bringendes Gericht über Unglauben und Tatenlosigkeit. – Umgekehrt ist es bei den markinischen Endzeitreden Jesu: Gräuel der Verwüstung werden kommen, Bedrängnisse, wie sie nie dagewesen sind. In allem aber waltet Gottes barmherziges Mitsein mit den Seinen. Fragt man nach dem Grund, warum dies alles kommen muss, wird man letztendlich auf das „Muss“ zurückgeworfen, alles andere überzeugt nicht: z. B. Gericht über die Welt, weil sie die „Auserwählten“ verfolgt (Mk 13,9b) oder weil sie Gottes Friedenskonzept missachtet (Mk 13,8a.b) oder weil alle Wertmaßstäbe zerbrechen (Mk 13,12 [Einschub!]). Das „Muss“ aber verweist auf das apokalypti­ sche Dogma, dass eine Durchbrechung der Drangsal erst möglich ist, wenn sie sich bis zur Unerträglichkeit gesteigert hat. Dann allerdings tritt das Heil hervor bzw. kommt der Menschensohn (wieder) (Mk 13,24–27). Dem geht ein Machtkampf Gottes mit dem „Scheusal“ voraus (Mk 13,14 ff), den Gott gewinnt. Hier ist wieder nach außen ins Bild gesetzt, was sich innergöttlich abspielt: Bei aller Koinzidenz der Gegensätze bleibt Gott der Schöpfung treu und auf seine Menschenfreund­ lichkeit hin ansprechbar. Daraus leitet sich eine entsprechende Jüngerethik ab: Bewährung des Glaubens durch alle Bedrängnisse hindurch, Gewaltlosigkeit im Vertrauen auf die alles wendende Kraft des (wieder)kommenden Menschensohns, Leidenstoleranz als Gleichgestaltetwerden mit Christus und Bekenntnis zu ihm, Vorsicht vor Verführungen. Ist in der Darstellung der Worte und Taten Jesu der vom Evangelisten verkün­ dete Christus weitgehend in das Gewand des Historischen gekleidet, so fällt diese Hülle in der Passionsgeschichte. Hier begegnet uns der Verkündigte pur. Selbst da, wo historische Fakten als Hintergrund genannt werden, ist es fraglich, ob sie als Information zu verstehen sind oder performativ auf den Gottesknecht von Jes 53 oder auf den leidenden Gerechten aus Weish 2,12–20 verweisen. So wird, abge­ sehen von der textlich belegten Verurteilung des – als historisch vorausgesetz­ ten – gewaltsamen Todes, nach der Bedeutsamkeit des Kreuzes zu fragen sein. Es offenbart Grundlegendes über den Menschen, über Christus, über Gott und über die Erlösung. Dass es letztlich auf diese hinausläuft, zeigt Gottes grundsätzliche Ambiguität, aber mit einem Überhang an Gnade. Anthropologisch offenbart das Kreuz den durch die Untreue (= Sünde) bestimmten Menschen, der Gott – not­

670

Zusammenfassung

falls mit Gewalt – aus der Welt verdrängen will. Gott lässt das mit sich machen (so die theologia crucis), um das frevelhafte Wesen des Menschen ad absurdum zu führen und es in seiner grenzenlosen Güte im Mysterium des Kreuzes von Grund auf zu wandeln. Anfangs (ältere Passionsgeschichte) wird das nur am Prototyp des neuen Menschen, Christus, exemplifiziert (Christologie), später (jüngere Passionstradition) wird die Teilhabe „vieler“ am Christusgeschehen, die sich in der älteren Tradition schon im Nachfolgegedanken andeutete, deutlich aus­ gesprochen durch die Interpretation der Leidensexistenz Christi als Proexistenz und vertieft durch das wiederholbare und Christus präsent setzende Abendmahls­ geschehen (Soteriologie). Die Aufnahme seines Wesens („Brot“) soll Schalom unter den Seinen verbreiten. Die kultmetaphorische Deutung des Weines auf das Blut Christi9 lässt alle Traditionen des Sühnopfers und des Versöhnungstages auf­ leuchten und die eschatologische Versöhnung Gottes mit dem in Christus neuen Menschen anklingen (was allerdings erst bei Paulus ausgearbeitet wird). Teilhabe an der Sühnkraft des Blutes Christi ist gegeben für alle (Universalität)10 zu aller Zeit bis zum eschatologischen Freudenmahl durch gläubige Teilnahme. Außer­ dem ist in der Entwicklung vom markinisch-matthäischen „Blut des Bundes“ hin zum paulinisch-lukanischen „neuen Bund in meinem Blut“ Kontinuität und Dis­ kontinuität zwischen Altem und Neuem Testament, also ein Stück notwendiger Ambiguität religiöser Texte11, abgebildet. – Das Mahl hat über die theologische Bedeutsamkeit hinaus auch eine soziale und ethische Funktion. Es stiftet Gemein­ schaft und bildet neben der „Lehre“ Gemeinde (Apg 2,42–47). Im Bewusstsein, sich nicht selbst zu gehören, sondern Glieder am Leib Christi zu sein, bildet sich eine Ethik des Gemeineigentums und des Teilens heraus, „je nachdem es einer nötig hatte“. Diese Idealform des christlichen Sozialismus gilt als friedensför­ dernd, weil im Frieden Gottes lebend, und ihr wird Strahlkraft auf die nichtchrist­ liche Umwelt zugesprochen. Diese Einigkeit und Solidarität ist immer bedroht, das weiß die Apostel­geschichte ebenso wie Paulus: Heimliche Anhäufung von so genanntem Privatbesitz zerstört das Ideal ebenso wie Selbstsucht (Mahl-Ex­ zesse: 1.Kor 10 f) und Lieblosigkeit (rücksichtsloses Speiseverhalten der „Starken“ gegenüber den „Schwachen“: 1.Kor 10). Gegenseitige Achtung und Liebe um des Friedens willen ist für Paulus das Feld, vor dem jede ἐλευθερία / eleutheria = „Frei­ heit“ ihre Grenze findet (1.Kor.10,23 f; Röm 12,18). 9 Statt „kultmetaphorisch“ würde ich lieber von „symbolisch“ sprechen. Das setzt mich frei­ lich einem kontroverstheologischen Missverständnis aus. Wenn ich allerdings den Tillichschen Symbolbegriff zugrunde lege, wonach das Symbol in, mit und unter seiner Materialität zugleich auch Anteil an der unsichtbaren Wirklichkeit hat (sym-ballein!) und diese erschließt, ist das Missverständnis des „Nur“-Symbolischen ausgeschaltet (vgl. P. Tillich, Symbol und Wirklich­ keit, Göttingen 1962 [Kleine Vandenhoeck-Reihe 151], S. 3–6). 10 Wenn sich das auch erst langsam durchsetzen muss von der weltweiten Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen bis zu den Kindern Gottes auf der ganzen Welt (Jh 11,51 f). 11 Zur Notwendigkeit der Ambiguität religiöser Texte vgl. Th. Bauer, a. a. O., S. 34 f.

Gott und die Völkerwelt im Alten und im Neuen Testament 

671

Die paulinische Theologie und Anthropologie, Christologie und Soteriologie samt Ethik findet sich letztgültig durchdacht und formuliert im Römerbrief 12. Diese Themenfelder sind derart miteinander verschränkt, dass eines nicht ohne das andere sein kann und durch dieses erst zu seiner vollen Entfaltung kommt. Mit dieser Feststellung im Hinterkopf muss trotzdem eine methodisch nach theolo­ gisch-christologischen, anthropologisch-soteriologischen und ethischen Gesichts­ punkten geordnete Darstellung versucht werden. So zeichnet sich in Kapp. 1–3 das traditionelle Gottesbild ab: Der Zorn Gottes gibt den sich an sich selbst ver­ lierenden Menschen seinem Weg preis; das Ende ist der „Tod“ (Röm 1,32). Die mit dem Zorn einhergehende Langmut wartet freilich auf den sich bekehrenden Menschen (Röm 2,4). Den Unbußfertigen aber erwartet am Ende das Gericht (Röm 2,9). Die bleibende Wirksamkeit des Zorns schützt die schon jetzt und am Ende erst recht überfließende Gnade Gottes im stellvertretenden Sühnetod Christi (Röm 3,24–26) vor dem Missverständnis einer Billigkeit, die ethisch gesehen letzt­ lich in den Libertinismus führen würde (1.Kor 4,6–13; 6,12–20; 10,23–31). – Das alles ist bezogen auf den noch existierenden alten Menschen, der sich aber „jetzt schon“ durch die in Christus geschehene Erlösung in einem neuen Bund, in einem neuen Wandel vorfindet (Röm 3,24), in dem er als „Sohn Gottes“ (Gal 3,26 f) neu geboren ist (2.Kor 5,17). Im gläubigen Geltenlassen des heiligen Zeichens für sich hat er Anteil an der von Gott geschenkten Wirklichkeit (Symbolcharakter der Taufe). Inhalt des neuen Bundes ist dauerhafte Versöhnung mit Gott durch das Werk Jesu Christi, d. h. auf Gottes Seite Ende des Zorns (Röm 5,20), auf unserer Seite des „Kriegszustandes“ mit Gott, Frieden (Röm 5,1), so man denn das Ver­ söhnungsangebot Gottes in aktiver Rezeptivität ergreift. Der neue Wandel ist zu leben. Paulus gibt dazu in den Kapp. 4–7 Richtlinien, die darauf hinauslaufen, sich nicht von der Macht der Sünde, sondern vom Geist Gottes, welcher ist Ge­ rechtigkeit, Barmherzigkeit und Friede, bestimmen zu lassen. Diese Richtlinien werden in den Kapp. 12–15 in konkrete Handlungsanweisungen umgesetzt: für­ einander einstehen, Segen und Frieden stiften, „soweit es möglich ist“, hier sogar übergemeindliche Entschränkung, sich dem Gott verpflichteten Machtmonopol des Staates einordnen, Streit und Eifersucht ablegen, gegenseitige Akzeptanz und Toleranz, moralisches Richten Gott überlassen. So mündet das Leben eines Christen in den Segen einer Freude und eines Frie­ dens, die vom Glauben an den in Christus zurechtbringenden Gott getragen ist. Von dieser Intentionalität, d. h. von diesem Ziel her und auf dieses Ziel hin, sind christlicher Glaube und christliches Leben geprägt. Glaubt und lebt ein Mensch anders, kann er sich auf seine ihm innewohnende Freiheit, nicht aber auf das ihn freundlich, friedlich, gerecht und barmherzig anblickende Antlitz Gottes berufen.

12 Er ist ein unpolemisches Zeugnis des Glaubens (Röm 1,11 f) und ein Kompendium der Lehre (Röm 1,18).

Literatur F. Ahuis, Der klagende Gerichtsprophet (Calwer theologische Monographien 12), Stuttgart 1982 R. Albertz, Exodus, Band I: Ex 1–18, Zürich 2012 R. Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr. (Biblische Enzyklopädie VII), Stuttgart 2001 R. Albertz, Der Gott Daniels (SBS 131), Stuttgart 1988 R.  Albertz, Rezension zu C. den Hertog, The Other Face of God, Sheffield 2012 in: ThLZ 138/2013, Sp. 945–947 S. Alkier, „Die Johannesapokalypse als ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes“ in: M. Labahn, M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung (ABG 38), Leipzig 2012, S. 147–171 S.  Alkier, Th. Paulsen, „Der kommende Gott. Philologische, literaturwissenschaftliche und theologische Beobachtungen zur Komposition der Johannesapokalypse“ in: ThLZ 141/2017, Sp. 455–472 P. Antes, Grundriss der Religionsgeschichte von der Prähistorie bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006 M. Arnold, „‚Einfach nur zuschauen‘? Was würde Jesus tun? Gütekraft als Kernelement zukunfts­ fähiger Friedensethik“ in: DPfBl 115/2015, S. 252–257 J. Assmann, Totale Religion, Wien 22017 D. E. Aune, Revelation 1, Dallas 1997 M. Bachmann, „Wo bleibt das Positive? Zu Offb 6,1 f und 17,5 in Rezeptionsgeschichte und Exe­ gese“ in: M. Labahn, M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung (ABG 38), Leipzig 2012, S. 197–221 I. Baldermann, Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996 E. Ballhorn, „Zorn, Gewalt, Klage. Theologische Anmerkungen zur Achan-Perikope (Jos 7)“ in: Theologie der Gegenwart 54/2011, S. 176–190 S. Bar-Efrat, Das Erste Buch Samuel, Stuttgart 2007 G. Barth, Der Brief an die Philipper, Zürich 1979 J. B. Bauer, „Jakobs Kampf mit dem Dämon“ in: M. Görg (Hg.), Die Väter Israels, Stuttgart 1989, S. 17–22 Th. Bauer, Die Vereindeutigung der Welt (Reclam 19492), Stuttgart 2018 W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der übrigen urchristlichen Literatur, Berlin 61988, Art. ἵνα, Sp. 764–767 M. Bauks, „‚Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst?‘ (Hiob 7,17)“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). FS Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 1–13 G. Baumann, „Das Buch Nahum“ in: L. Schottroff, M.-Th. Wacker (Hg.), Kompendium Femi­ nistischer Bibelauslegung, Gütersloh 1998, S. 347–353 G. Baumann, „Gott als vergewaltigender Soldat im Alten Testament“ in: B. Heininger, S. Böhm, U. Sals (Hg.), Machtbeziehungen, Geschlechterdifferenz und Religion, Münster 2004, S. 55–67 G. Baumann, Gottes Gewalt im Wandel. Traditionsgeschichtliche und intertextuelle Studien zu Nahum 1,2–8 (WMANT 108), Neukirchen-Vluyn 2005 G. Baumann, Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006 N. C. Baumgart, Die Umkehr des Schöpfergottes, Freiburg 1999 W.  Baur, „Von einem, der auszog gesegnet zu werden  – Die Trennung Jakobs von Laban (Gen 31,1–54)“ in: B. Wellmann (Hg.), Die Jakobserzählung, Stuttgart 2009, S. 92–103 M. Beck, Der „Tag YHWHs“ im Dodekapropheton. Studien im Spannungsfeld von Traditionsund Redaktionsgeschichte (BZAW 356), Berlin, New York 2005

Literatur

673

U. Becker, Jesaja. Von der Botschaft zum Buch (FRLANT 178), Göttingen 1997 K. Berger, Die Apokalypse des Johannes, Freiburg 2017 U. Berges, Die Verwerfung Sauls, Würzburg 1989 U. Berges, Das Buch Jesaja. Komposition und Endgestalt (HBS 16), Freiburg 1998 U. Berges, „Die Zionstheologie des Buches Jesaja“ in: Estudios Biblicos 58/2000, S. 167–198 U. Berges, Jesaja 40–48 (HThK), Freiburg 2008 U. Berges, Jesaja 49–54 (HThK), Freiburg 2015 U. Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes. Zu den Ambiguitäten Jahwes aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive, Paderborn 2013 W. A.M. Beuken, Jesaja 1–12 (HThKAT), Freiburg 2003 E. Blum, Die Komposition der Vätergeschichte (WMANT 57), Neukirchen-Vluyn 1984 E. Blum, „Esra, die Mosetora und die persische Politik“ in: R. Kratz (Hg.), Religion und Reli­ gionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh 2002, S. 231–256 E. Blum, „Überlegungen zur Kompositionsgeschichte des Josuabuches“ in: E. Noort (Hg.), The Book of Joshua, Leuven, Paris, Walpole (MA) 2012, S. 137–157 W. Bösen, Jesusmahl – Eucharistisches Mahl – Endzeitmahl (SBS 97), Stuttgart 1980 W. Bösen, Der letzte Tag des Jesus von Nazaret, Freiburg 1994 W. Bösen, Für uns gekreuzigt? Der Tod Jesu im Neuen Testament, Freiburg 2018 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Berlin ²1961 B. Boothe, „Die narrative Organisation der Hiob-Erzählung des Alten Testaments und die ver­ deckte Loyalitätsprobe“ in: Th. Krüger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger (Hg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Zürich 2007, S. 499–515 H. H. Borcherdt, G. Merz [Hg.], Martin Luther, Ausgewählte Werke, Bd. 6, München 31968 G. Bornkamm, Art.: Paulus, in: RGG3V, Sp. 166–190 W. Bousset, Die Offenbarung Johannis (KEK 16), Göttingen 61906 E. Brandenburger, „Perspektiven des Friedens im Neuen Testament“ in: Bibel und Kirche 37/​ 1982, S. 50–60 G. Braulik, Deuteronomium II, 16,18–34,12, Würzburg 1992 G. Braulik, „Die Entstehung der Rechtfertigungslehre in den Bearbeitungsschichten des Buches Deuteronomium“ in: ThPh 64/1989, S. 321–333 J. Bremmer, „From the Wife of Lot to Orpheus and Euridice“ in: E. Noort, E. Tigchelaar (Hg.), Sodom’s Sin. Genesis 18–19 and its Interpretations, Leiden 2004, S. 131–146 J. Bright, „The Date of the Prose Sermones of Jeremiah“ in: JBL 70/1951, S. 15–35 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 61968 K. Butting, „Abel steh auf!“ in: Bibel und Kirche 58/2003, S. 16–19 H. Cancik-Lindemaier, „Tun und Geben. Zum Ort des sogenannten Opfers in der römischen Kultur“, in: B. Janowski, M. Welker (Hg.), Opfer, Frankfurt 2000, S. 58–85 D. M. Carr, „The Rise of Torah“ in: G. N. Knoppers, B. M. Levison (Hg.), The Pentateuch as To­ rah: New Models for Understanding Its Promulgation and Acceptance, Winona Lake 2007, S. 39–56 L. Cerfaux, Christus in der paulinischen Theologie, Düsseldorf 1964 R. J. Clifford, „The Function of Idol Passages in Second Isaiah“ in: CBQ 42/1980. S. 450–464 J. J. Collins, Daniel. A commentary on the Book of Daniel, Mineapolis 1993 C. Colpe, Iranier – Aramäer – Hebräer – Hellenen (WUNT 154), Tübingen 2003 F. Crüsemann, „ ‚Auge um Auge …‘ (Ex 21,24 f)“ in: EvTh 47/1987, S. 411–426 F. Crüsemann, „Gewaltimagination als Teil der Ursprungsgeschichte. Banngebot und Rechts­ ordnung im Deuteronomium“ in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Güters­ loh 2006, S. 343–360 O.  Dangl, „Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament“ in: Bibel und Kirche 45/1990, S. 100–106 A. Deissler, Zwölfpropheten I. Hosea, Joel, Amos, Würzburg 1981

674

Literatur

A. Deissler, Zwölfpropheten II. Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Würzburg 1984 A. Deissler, Zwölfpropheten III. Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi, Würzburg 1988 B. J. Diebner, „Jesaja 56,1–8 entsprechend Jesaja 66,18–24 und die prophetische Überbietung der Torah“ in: A.v.Dobbeler (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS K. Berger zum 60. Geburtstag), Tübingen 2000, S. 31–42 J. Dietrich, Kollektive Schuld und Haftung. Religions- und rechtsgeschichtliche Studien zum Sühnekuhritus des Deuteronomiums und verwandten Texten, Tübingen 2010 W. Dietrich, Die Josephserzählung, Neukirchen-Vluyn 1989 W. Dietrich, Samuel (BK VIII / 2, 1.Teilband + 2.Teilband), Neukirchen-Vluyn 2011 W. Dietrich, Samuel (BK VIII / 2, 3.Teilband – 5.Teilband), Neukirchen-Vluyn 2012 W. Dietrich, Die Samuelbücher im deuteronomistischen Geschichtswerk. Studien zu den Ge­ schichtsüberlieferungen des Alten Testaments II (BWANT 201), Stuttgart 2012 W. Dietrich, M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005 B. Duhm, Das Buch Jesaja, Göttingen 51968 B. Duhm, Anmerkungen zu den Zwölf Propheten, Gießen 1911 J. Ebach, Das Erbe der Gewalt, Gütersloh 1980 G. Eberhardt, „Hiobs Wunsch. Gedanken zur Anthropologie von Hiob 14“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). FS Bernd Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 55–62 W. Eichrodt, Der Heilige in Israel. Jesaja 1–12, Stuttgart 1960 W. Eisenbeis, Die Wurzel Šlm im Alten Testament, Berlin 1969 K. Elliger, Deuterojesaja 40,1–45,7 (BK XI / 1), Neukirchen-Vluyn 32011 K. Elliger, Das Buch der Zwölf Kleinen Propheten II. Die Propheten Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi (ATD 25/2), Göttingen 81982 H.-J. Fabry, Nahum, Freiburg 2006 R. Feldmeier, „Leiden und Barmherzigkeit der Gotteskinder. Die lukanische Theologie des Er­ barmens“ in: I. Fischer u. a. (Hgg.), Mitleid und Mitleiden, Göttingen 2018 (JBTh 30/2015), S. 111–128 P. Fiedler, Das Matthäusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart 2006 K. Finsterbusch, Deuteronomium, Göttingen 2012 K.  Finsterbusch, A.  Lange, „Zur Textgeschichte des Jeremiabuches in der Antike“ in: ThLZ 142/2017, Sp. 1137–1151 G. Fischer, Jeremia 1–25, Freiburg 2005 G. Fischer, Jeremia 26–52, Freiburg 2005 G. Fischer, D. Markl, Das Buch Exodus, Stuttgart 2009 I. Fischer, „Thematische Hinführung“ in: Dies. (Hg.), Macht – Gewalt – Krieg im Alten Testa­ ment, Freiburg 2013, S. 7–28 I. Fischer, „Wieso lässt Gott beim Exodus Pharaos Elitetruppen ersaufen?“ in: Bibel und Kirche 66/2011, S. 138–143 R. Freiherr von Ungern-Sternberg, Der Rechtsstreit Gottes mit seiner Gemeinde. Der Prophet Micha, Stuttgart 1958 Chr.  Frevel, „Schöpfungsglaube und Menschenwürde im Hiobbuch“ in: Ders., Gottesbilder und Menschenbilder. Studien zur Anthropologie und Theologie im Alten Testament, Neu­ kirchen-Vluyn 2016, S. 259–294 (= Ders., desgl. in: S. Th. Krüger, M. Oeming, K. Schmid, Chr. Uehlinger [Hg.], Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Zürich 2007, S. 467–497) Chr. Frevel, „Der Gott Abrahams ist der Vater Jesu Christi. Zur Kontinuität und Diskontinuität biblischer Gottesbilder“ in: Ders., Gottesbilder und Menschenbilder. Studien zur Anthropo­ logie und Theologie im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 2016, S. 75–96 (= Ders., desgl. in: R. Göllner [Hg.], Das Ringen um Gott. Gottesbilder im Spannungsfeld von subjektivem Glauben und religiöser Tradition, Münster 2008, S. 27–48). J. Frey, „Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur Eschatologie des letzten Buches der Bibel“

Literatur

675

in J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Re­ zeption (WUNT 287), Tübingen 2012, S. 423–551 G. Friedrich, Der Brief an die Philipper in: J. Becker, H. Conzelmann, G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thesalonischer und Philemon (NTD 8), Göt­ tingen 1985 V. Fritz, Das Buch Josua, Tübingen 1994 V. Fritz, „Das Debora-Lied Ri 5 als Geschichtsquelle“ in: Ders. (Hg.), Studien zur Literatur und Geschichte des alten Israel (SBAB 22), Stuttgart 1997, S. 165–185 Leo Gabriel (Hg.), Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, übers. von D. und W. Dupré, Studien- und Jubiläumsausgabe Lateinisch-Deutsch, Band 1, Wien 1964 J. Chr. Gertz, Tradition und Redaktion in der Exoduserzählung, Göttingen 2000 H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997 H. Giesen, „Der Christustitel ‚Lamm Gottes‘ und sein religionsgeschichtlicher Hintergrund“ in: M. Labahn, M. Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012 (ABG 38), S. 173–196 J. Gill, Exposition of the Whole Bible. 1.Sam 17, studylight.org, 1999 (abgrufen: 13.1.2021) R. Girard, Das Ende der Gewalt, Freiburg 1983 R. Glöckner, Neutestamentliche Wundergeschichten, Mainz 1983 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27–16,20) (EKK II / 2), Neukirchen-Vluyn 1979 J. Gnilka, Der Philipperbrief (HThKNT), Freiburg 41987 M. Görg, Josua, Würzburg 1991 M. Görg, Richter, Würzburg 1993 M. Görg, Der un-heile Gott, Düsseldorf 1995 K. Goldammer, „Die Religion der schriftlosen Völker der Neuzeit“ in: F. Heiler, Die Religionen der Menschheit, Stuttgart 1959, S. 69–95 F. W. Golka, Jona, Stuttgart 1991 F. W. Graf, „Einleitung“ in: F. W. Graf, H. Meier (Hg.), Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart, München 2013, S. 7–45 W. Groß, Richter, Freiburg 2009 K. Grünwaldt, „Wenn Gott nur einer ist …“ in: KuD 60/2014, S. 95–110 W. Grundmann, Das Evangelium nach Matthäus (ThHKNT 1), Berlin 31972 W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus (ThHKNT 2), Berlin 31965 A. H.J. Gunneweg, „Konfession oder Interpretation im Jeremiabuch“ in: ZThK 67/1970, S. 395–416 E. Haag, „Die Botschaft vom Gottesknecht. Ein Weg zur Überwindung der Gewalt“ in: N. Loh­ fink, E. Haag u. a. (Hg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. FS Vinzenz Hamp zum 75. Geburtstag, Freiburg 1983, S. 159–213 E. Haag, Daniel, Würzburg 1993 W. Härle, Dogmatik, Berlin, New York, 22000 R. Hanhart, Sacharja 1–8 (BK XIV / 7,1), Neukirchen-Vluyn 1998 E.  Harasta, „Satanische Verse? Zur Rolle des Satans in Hiob 1–2 aus systematisch-theologi­ scher Sicht“ in: L. Ratschow, H.v.Sass (Hg.), Die Anfechtung Gottes. Exegetische und sys­ tematisch-theologische Beiträge zur Theologie des Hiobbuches (ABG 54), Leipzig 2016, S. 91–104 F. Hartenstein, „JHWHs Wesen im Wandel“ in: ThLZ 137/2012, Sp. 3–20 E. W. Heaton, Die Propheten des Alten Testaments, München 1959 M. Heilemann, „Opferorientierter Strafvollzug“ in: J. Weidner, R. Kilb, D. Kreft (Hg.), Gewalt im Griff. Band 1: Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings, Weinheim, Basel 32001, S. 48–61 G. Hentschel, 1.Samuel, Würzburg 1994 H.-J. Hermisson, „Bund und Erwählung“ in: H. J. Boecker u. a., Altes Testament, NeukirchenVluyn 1983, S. 222–243

676

Literatur

H.-J. Hermisson, „Der Lohn des Knechts“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, S. 177–196 H.-J. Hermisson, „Einheit und Komplexität Deuterojesajas“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, S. 132–157 H.-J.  Hermisson, „Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kontext“ in: Ders., Studien zu Prophetie und Weisheit (FAT 23), Tübingen 1998, S. 220–240 H.-J. Hermisson, „Gott und das Leid“ in: ThLZ 128/2003, Sp. 3–18 H.-J. Hermisson, „‚Ich weiß, daß mein Erlöser lebt‘ (Hiob 19,23–27)“ in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog II. FS Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Berlin, New York 2004, S. 667–688 H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 45,8–49,13) (BK XI / 2), Neukirchen-Vluyn 2003 H.-J. Hermisson, Deuterojesaja (Jesaja 49,14–55,13) (BK XI / 3), Göttingen 2017 S. Herrmann, Die prophetischen Heilserwartungen im Alten Testament, Stuttgart 1965 C. den Hertog, The Other Face of God, Sheffield 2012 H. W. Hertzberg, Die Bücher Josua, Richter, Ruth (ATD 9), Göttingen 61985 H. W. Hertzberg, Art. „Debora und Deboralied“ in: RGG3II, Sp. 52 f H. W. Hertzberg, Die Samuelbücher (ATD 10), Göttingen 31965 J. Herzer, „Der erste apokalyptische Reiter und der König der Könige“ in: NTS 45/1999, S. 230–249 P. Hoffmann, „Eschatologie und Friedenshandeln in der Jesusüberlieferung“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, S. 115–152 T. Holtz, Die Offenbarung des Johannes (NTD 11), Göttingen 2008 F. Horst, Hiob 1–19, Neukirchen-Vluyn 51992 K. Huber, „Jesus Christus – der Erste und der Letzte. Zur Christologie der Johannesapokalypse“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Re­ zeption (WUNT 287), Tübingen 2012, S. 435–472 K. Huber, „‚Gott bete an!‘ (Offb 19,10; 22,9). Christusbild und Gottesbild der Johannesoffen­ barung im Spannungsfeld von wesensmäßiger und funktionaler Einheit und Differenz“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes (WUNT 397), Tübin­ gen 2015 H. Irsigler, Ein Weg aus der Gewalt? Gottesknecht kontra Kyros im Deuterojesajabuch (Beiträge zur Friedensethik 28), Stuttgart, Berlin, Köln 1998 B. Jacob, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997 R.  Jamieson, A. R.  Fausset, D.  Brown, Commentary Critical and Explanatory on the Whole Bible, Grand Rapids, MI, 1871, z.St.) (https://www.biblestudytools.com / comm) (abgerufen: 21.11.2019) B. Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 22000 B. Janowski, „‚Hingabe‘ oder ‚Opfer‘“ in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 13–43 B.  Janowski, Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Thema biblischer Theologie (BThSt 84), Neukirchen-Vluyn 2007 B. Janowski, „Das Leben für andere hingeben“ in: V. Hampel, R. Weth (Hg.), Für uns gestorben. Sühne – Opfer – Stellvertretung, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 55–72 B. Janowski, „Die Empathie des Schöpfergottes“ in: I. Fischer u. a. (Hg.), Mitleid und Mitleiden, Göttingen 2015 (JBTh 30/2015), S. 49–74 B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet? Göttingen 32018 J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 41967 J. Jeremias, Der Opfertod Jesu Christi, Stuttgart 1963 Jörg Jeremias, Die Reue Gottes, Neukirchen-Vluyn 21997 Jörg Jeremias, Die Propheten Joel, Obadja, Jona, Micha (ATD 24,3), Göttingen 2007 A. Jirku, Die Abwehr der Dämonen im Alten Testament, Leipzig 1912

Literatur

677

K.-P. Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, München 1997 K.-P. Jörns, „Religiöse Unverzichtbarkeit des Opfergedankens?“ in: B. Janowski, M. Welker (Hg.), Opfer, Frankfurt 2000, S. 304–338 F.  Johannsen, C.  Reents, Alttestamentliches Arbeitsbuch für Religionspädagogen, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1987 B. Johnson, „Die Josephserzählung und die Theodizeefrage“ in: Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums 37/1994, S. 27–36 J. M. Jost, Geschichte des Judenthums und seiner Secten, Leipzig 1857 M. H. Jung, Luther lesen, Göttingen 22017 E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 41980 E. Käsemann, „Kritische Analyse von Phil 2,5–11“ in: Ders., Exegetische Versuche und Besin­ nungen I, Göttingen 1964, S. 51–95 M. Käßmann, Gewalt überwinden, Hannover 32001 G. Kaiser, H.-P. Mathys, Das Buch Hiob. Dichtung als Theologie, Berlin 2010 O. Kaiser, Der Prophet Jesaja. Kapitel 1–12 (ATD 17), Göttingen 51981 O. Kaiser, Einleitung in das Alte Testament, Gütersloh 51984 M. Karrer, Johannesoffenbarung (Offb. 1,1–5,15) (EKK XXIV / 1), Göttingen 2017 M. Karrer, „Apoll und die apokalyptischen Reiter“ in: M. Labahn, M. Karrer (Hg.), Die Johan­ nesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung (ABG 38), Leipzig 2012, S. 223–251 M. Karrer, „Das Gottesbild der Offenbarung vor hellenistisch-frühkaiserlichem Hintergrund“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes (WUNT 397), Tübin­ gen 2015 S. 53–81 J. Kegler, „Prophetisches Reden vom Zukünftigen“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, S. 15–58 R. Kessler, Micha (HThK), Freiburg 22000 R. Kessler, „Kyros und der eved bei Deuterojesaja. Gottes Handeln in Macht und Schwäche“ in: M.  Crüsemann, C. J.  Bortfeld (Hg.), Christus und seine Geschwister, Gütersloh 2009, S. 141–158 R. Kilian, Isaaks Opferung, Stuttgart 1970 R. Kilian, „Isaaks Opferung“ in: Bibel und Kirche 41/1986, S. 98–104 R. Kilian, Jesaja 1–12, Würzburg 1986 R. Kilian, Jesaja 13–39, Würzburg 1994 G. Kittel, Der Name über alle Namen I, Göttingen 1989 G. Kittel, Der Name über alle Namen II, Göttingen 1990 G. Kittel, „Die Folgen der Sünde und das Geschenk des neuen Lebens“ in: V. Hampel, R. Weth (Hg.), Für uns gestorben, Neukirchen-Vluyn 2010, S. 117–133 R. A. Klein, Leseprozess als Bedeutungswandel. Eine rezeptionsästhetische Erzähltextanalyse der Jakobserzählungen im Buch Genesis, Berlin 2002 E. A. Knauf, Josua, Zürich 2008 D. A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeli­ ums, Berlin (BZNW 42), New York 1975 K.  Koch, „P  – kein Redaktor! Erinnerung an zwei Eckdaten der Quellenscheidung“ in: VT 37/1987, S. 446–467 K. Koch, Daniel 1–4 (BK XXII / 1), Neukirchen-Vluyn 2005 M. Köhlmoos, Das Auge Gottes, Tübingen 1999 K. Koenen, Ethik und Eschatologie im Tritojesajabuch, Neukirchen-Vluyn 1990 M. Konradt, „ ‚… damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet‘. Erwägungen zur ‚Logik‘ von Gewaltverzicht in Mt  5,38–48“ in: W.  Dietrich, W.  Lienemann (Hg.), Gewalt wahr­ nehmen  – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, S. 70–92 M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015

678

Literatur

B. Kowalski, „Gottesbilder in Offb 21,1–8“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offen­ barung des Johannes (WUNT 397), Tübingen 2015 S. 11–52 R. Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000 H.-J. Kraus, Psalmen I (BK XV / 1), Neukirchen-Vluyn 31966 J. Kreuch, Jesaja / Protojesaja, für WiBiLex erstellt 2015, abgerufen: 5.4.2020 L. Krinetzki, „Der anthologische Stil des 46. Psalms und seine Bedeutung für die Datierungs­ frage“, 2014 (www.semanticscholar.org, abgerufen 8.8.2020) A. Kunz, Ablehnung des Krieges. Untersuchungen zu Sacharja 9 und 10 (HBS 17), Freiburg 1998 A. Kunz, „Der Mensch auf der Waage“ in: BZ 45/2001, S. 235–250 A. Kunz-Lübcke, „Eschatologisierung von Krieg und Frieden in der späten Überlieferung der Hebräischen Bibel“ in: F.  Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 267–289 E. Kutsch, Neues Testament – neuer Bund?, Neukirchen 1978 M.  Laas, … zum Kampf mit Kampf umgürtet. Untersuchungen zu 2 Sam  22 unter gewalt­ hermeneutischen Perspektiven (BBB 185), Göttingen 2018 H. Lamparter, „Der Prophet Nahum“ in: R. Frhr. v. Ungern-Sternberg, H. Lamparter, Der Tag des Gerichtes Gottes (Habakuk, Zephanja, Jona, Nahum), Stuttgart 1960, S. 203–238 P. Lampe, „Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoffmann (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101), Stuttgart 1981, S. 59–114 G. Langer, „Esau in der hebräischen Bibel“ in: Ders. (Hg.), Esau – Bruder und Feind, Göttingen 2009, S. 17–30 P. Lapide, Er predigte in ihren Synagogen, Gütersloh 1982 P. Lapide, Die Bergpredigt – Utopie oder Programm, Mainz 1982 W. Lau, Schriftgelehrte Prophetie in Jes 56–66, Berlin (BZAW 225), New York 1994 F. Lenormant, Die Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer, Jena 1878, Nachdruck Bremen 2012 Th. Lescow, „Ex 4,24–26: Ein archaischer Bundesschlußritus“ in: ZAW 105/1993, S. 19–26 M.  Leuenberger, „Großkönig und Völkerkampf in Ps  48“ in: A.  Grund, A.  Krüger, F.  Lippke (Hg.), Ich will dir danken unter den Völkern. Zur historischen, religions- und theologiege­ schichtlichen Verortung zweier zionstheologischer Motive (FS B. Janowski zum 70. Geb.), Gütersloh 2013, S. 142–156 C. Levin, „Altes Testament und Rechtfertigung“ in: Ders., Fortschreibungen. Gesammelte Stu­ dien zum Alten Testament, Berlin 2003, S. 9–22 C. Levin, „Abschied vom Jahwisten?“ in: ThR N. F. 69/2004, S. 329–344 C. Levin, Das Jahwistische Geschichtswerk (Analyse …, Stand August 2012), www.at1.evtheol. uni-muenchen.de / personen / levin / texte / jahwist.pdf (abgerufen: 4.7.2020) H. Lichtenberger, Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2014 H. Lichtenberger, „Gewalt in der Offenbarung des Johannes“ in ThLZ 144/2019, Sp. 854–865 M. Lichtenstein, Von der Mitte der Gottesstadt bis ans Ende der Welt. Psalm 46 und die Kosmo­ logie der Zionstradition (WMANT 139), Neukirchen-Vluyn 2014 K. Liess, J. Schnocks (Hg.), Gegner im Gebet. Studien zu Feindschaft und Entfeindung in den Psalmen, Freiburg 2018 A. Lindemann, „Gewaltfrei? Zum Jesusbild in den Evangelien“ in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Gütersloh 2006, S. 440–469 N.  Lohfink, „Das Alte Testament: Aufdeckung und Krise der Gewalt“ in: Bibel und Kirche 37/1982, S. 38–44 N. Lohfink, „Der gewalttätige Gott des Alten Testaments und die Suche nach einer gewaltfreien Gesellschaft“ in: JBTh 2/1987, S. 106–136 N. Lohfink, „Deuteronomium 9,1–10,11 und Exodus 32–34: Zu Endstruktur, Intertextualität, Schichtung und Abhängigkeiten“ in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deutero­ nomistischen Literatur V, Stuttgart 2005, S. 131–180

Literatur

679

N. Lohfink, „Der Zorn Gottes und das Exil“ in: Ders., Studien zum Deuteronomium und zur deuteronomistischen Literatur V, Stuttgart 2005, S. 37–55 N. Lohfink, „Der neue Bund im Buch Deuteronomium?“ in: Ders., Studien zum Deuterono­ mium und zur deuteronomistischen Literatur V, S. 9–36 N. Lohfink, R. Pesch, Weltgestaltung und Gewaltlosigkeit, Düsseldorf 1978 E. Lohse, Art. „ῥαββί“ in ThWNT VI, S. 962–966 E. Lohse, Die Offenbarung des Johannes (NTD 11), Göttingen 111982 E. Lohse, Die Wundertaten Jesu, Stuttgart 2015 D. Lührmann, Das Markusevangelium (HNT 3), Tübingen 1987 M. Luther, „Eine Disputation für die Erklärung der Kraft der Ablässe“ in: J. Boehmer, Martin Luthers Werke, Stuttgart, Leipzig 1907, S. 10–14 (95 Thesen) R. Lux, Hiob, Leipzig 2012 R. Lux, Ein Baum des Lebens: Studien zur Weisheit und Theologie im Alten Testament (ORA 23), Tübingen 2017 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7) (EKK I / 1), Zürich, Einsiedeln, Köln, Neu­ kirchen-Vluyn 52002 U. Luz, „Eschatologie und Friedenshandeln bei Paulus“ in: U. Luz, J. Kegler, P. Lampe, P. Hoff­ mann (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 101),, Stuttgart 1981 S. 153–193 M. P. Maier, Völkerwallfahrt im Jesajabuch, Berlin 2015 Th. Mann, Joseph und seine Brüder, Band 3: Joseph der Ernährer, Frankfurt / Main 1975 (Berlin 1933) D. Markl, Gottes Volk im Deuteronomium (BZAR 18), Wiesbaden 2012 A. Marx, „Opferlogik im alten Israel“ in: B. Janowski, M. Welker (Hg.), Opfer, Frankfurt 2000, S. 129–149 G. Mensching, Die Religion, München. o. J. H. A. Mertens, Kleines Handbuch der Bibelkunde, Düsseldorf 1969 M. Metzger, Grundriss der Geschichte Israels, Neukirchen-Vluyn 1963 O. Michel, Der Brief an die Römer, Göttingen 41966 M. Millard, Die Genesis als Eröffnung der Tora, Neukirchen-Vluyn 2001 T. A. Mohr, Markus- und Johannespassion (AThANT 17), Zürich 1982 M.  Mühling, Liebesgeschichte Gott: Systematische Theologie im Konzept (FsöTh 141), Göt­ tingen 2013 U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, Gütersloh (ÖTK 19), Würzburg 1984 Th. Naumann, „Opfererfahrung für Täter: Das Drama der Versöhnung in der biblischen Josefs­ geschichte“ in: Ökumenische Rundschau 52/2003, S. 491–505 J. Nentel, Trägerschaft und Intentionen des deuteronomistischen Geschichtswerks, Berlin, New York 2000 E. Nielsen, Deuteronomium, Tübingen 1995 C. Nihan, „Das Sabbatgesetz Exodus 31,12–17, die Priesterschrift und das Heiligkeitsgesetz“ in: R. Achenbach u. a. (Hg.), Wege der Freiheit. Zur Entstehung und Theologie des Exodusbu­ ches (AThANT 104), Zürich 2014, S. 131–149 U. Nōmmik, Die Freundesreden des ursprünglichen Hiobdialogs, Berlin New York 2012 E. Noort, „Das Kapitulationsangebot im Kriegsgesetz Dtn 20,10 ff und in den Kriegserzählun­ gen“ in: F. García Martínez (Hg.), Studies in Deuteronomy (FS C. J. Labuschagne zum 65. Ge­ burtstag), Leiden 1994, S. 197–222 E. Noort, „For the Sake of Righteousness. Abraham’s Negotiations with YHWH as Prologue to the Sodom Narrative: Genesis 18:16–33“ in: E. Noort, E. Tigchelaar (Hg.), Sodom’s Sin. Ge­ nesis 18–19 and its Interpretations, Leiden, Boston 2004, S. 3–15 M. Noth, Das zweite Buch Mose – Exodus (ATD 5), Göttingen 61978 R. Oberforcher, „Gott als Vorkämpfer der Humanität. Biblische Befreiungserfahrung und pro­ phetische Sozialkritik“ in: ThG 41/1998, S. 92–104

680

Literatur

G.  Oberhänsli-Widmer, „Mose / Moselied / Mosesegen / Moseschriften  III. Apokalyptische und jüdisch-hellenistische Literatur“ in: TRE 23, Berlin 1994, S. 347–357 B. Obermayer, Art. Krieg (AT), in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex. de), 2011 (abgerufen: 10.3.2020) B. Obermayer, Göttliche Gewalt im Buch Jesaja, Göttingen 2014 M. Oemig, „Ethik in der Spätzeit des Alten Testaments am Beispiel von Hiob 31 und Tobit 4“ in: P.  Mommer, W.  Thiel (Hg.), Altes Testament  – Forschung und Wirkung. FS Henning Graf Reventlow zum 65. Geburtstag, Frankfurt, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1994, S. 159–173 J.van Oorschot, „Menschenbild, Gottesbild und Menschenwürde – ein Beitrag des Hiobbuches“ in: E. Herms [Hg.], Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, S. 320–343 J.van Oorschot, „Die Stadt  – Lebensraum und Symbol. Israels Stadtkultur als Spiegel seiner Geschichte und Theologie“ in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (FS Otto Kaiser zum 80. Geburtstag) I, Berlin, New York 2004, S. 155–179 J. N. Oswalt, The Book of Isaiah, Ch. 1–39, Grand Rapids (MI), Cambridge (UK) 1986 Y. Osumi, „Brandmal für Brandmal“ in: AJBI 18/1992, S. 3–30 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart, Berlin, Köln 1994 E. Otto, Das Deuteronomium. Politische Theologie und Rechtsreform in Juda und Assyrien, Berlin, NewYork 1999 E. Otto, Deuteronomium 4,44–11,32 (Deuteronomium 1–11, 2.Teilband), Freiburg, Basel, Wien 2012 E.  Otto, Deuteronomium 12,1–23,15 (Deuteronomium 12–34, 1.Teilband), Freiburg, Basel, Wien 2016 E.  Otto, Deuteronomium 23,16–34,12 (Deuteronomium 12–34, 2.Teilband), Freiburg, Basel, Wien 2017 E. Otto, Art. „Deuteronomium“ in: RGG4II, Tübingen 1999, Sp. 693–696 E. Otto, „Zwischen Imperialismus und Friedensoption. Religiöse Legitimation politischen Han­ delns in der orientalischen und okzidentalen Antike“ in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Poli­ tik und Gewalt (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29), Gütersloh 2006, S. 250–266 E. Otto, Rez. zu A.  Versluis, The Command to Exterminate the Canaanites: Deuteronomy 7, Leiden 2017, in: ThLZ 143/2018, Sp. 210–212 L. Perlitt, „Jesaja und die Deuteronomisten“ in: V. Fritz u. a. (Hg.), Prophet und Prophetenbuch (FS Otto Kaiser zum 65. Geburtstag) (BZAW 185), Berlin 1989, S. 133–149 R. Pfaller, Erwachsenensprache, Frankfurt 52018 M. Pietsch, Die Kultreform Josias, Tübingen 2013 M. Pietsch, Art. Väterverheißungen, in: Das WissenschaftlicheBibellexikon im Internet (www. wibilex.de), 2012 (abgerufen: 29.7.2020) T. Pilger, „Gott der Gnade und der Befreiung. Ein Gottesbild in den Elihureden in Hiob 32–37“ in: M. Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, Leipzig 2012, S. 29–38 E. E. Popkes, „Vollendete Gottesgegenwart. Anmerkungen zu den traditionsgeschichtlichen Be­ zugsgrößen von Apk 21,1–5“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption (WUNT 287), Tübingen 2012, S. 235–257 N. W. Porteous, Das Buch Daniel (ATD 23), Göttingen 31978 G. v. Rad, Theologie des Alten Testaments I, München 61969 G. v. Rad, Das erste Buch Mose – Genesis (ATD 2–4), Göttingen 121987 G. v. Rad, Der Heilige Krieg im alten Israel, Göttingen 51969 C.  Recker, Die Erzählungen vom Patriarchen Jakob  – ein Beitrag zur mehrperspektivischen Bibelauslegung, Münster, Hamburg, London 2000 P. L. Redditt, Sacharja 9–14, Stuttgart 2014 H. Ritt, Offenbarung des Johannes, Würzburg 21988

Literatur

681

R. B. Robinson, „The Coherence of the Jericho Narrative“ in: R. Bartelmus, Th. Krüger, H. Utz­ schneider (Hg.), Konsequente Traditionsgeschichte (FS Klaus Baltzer zum 65. Geburtstag), Göttingen 1993, S. 311–335 M. Rohde, Der Knecht Hiob im Gespräch mit Mose. Eine traditions- und redaktionsgeschicht­ liche Studie zum Hiobbuch, Leipzig 2007 Th. Römer, „Homosexualität in der Hebräischen Bibel?“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen An­ thropologie. FS B. Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 435–454 J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürich 21987 W. Rudolph, Jeremia (HAT 12), Tübingen 21958 U. Rüterswörden, dominium terrae, Berlin 1993 U.  Rüterswörden, Art. Deuteronomium, in: Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2008 (abgerufen:10.3.2020) R. Ruston, The Violent God of the Old Testament, Nottingham 1989 A. Satake, Die Offenbarung des Johannes (KEK 16), Göttingen 2008 Chr. Schäfer-Lichtenberger, „ ‚Josua‘ und ‚Elischa‘ – eine biblische Argumentation zur Begrün­ dung der Autorität und Legitimität des Nachfolgers“ in: ZAW 101/1989, S. 198–222 Chr. Schäfer-Lichtenberger, Josua und Salomo. Eine Studie zur Autorität und Legitimität des Nachfolgers im Alten Testament, Leiden, New York, Köln 1995 R. Schärf, „Die Gestalt des Satans im Alten Testament“ in: C.  G.Jung, Symbolik des Geistes, Zürich 1948, S. 151–319 J. Scharbert, Exodus, Würzburg 1989 A. Schenker, Versöhnung und Sühne. Wege gewaltfreier Konfliktlösung im Alten Testament. Mit einem Ausblick auf das Neue Testament, Freiburg / Schweiz 1981 A. Schenker, Knecht und Lamm Gottes (Jesaja 53) (SBS 190), Stuttgart 2001 K. Schmid, „Literaturgeschichte des Alten Testaments“ in: ThLZ 136/2011, S. 243–262 W. H. Schmidt, Exodus 1–6, Neukirchen-Vluyn 22011 W. H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube und seine Umwelt, Neukirchen-Vluyn 1968/81996 H.-Chr. Schmitt, Die nichtpriesterliche Josephsgeschichte, Berlin, New York 1980 H.-Chr. Schmitt, „Die Geschichte vom Sieg über die Amalekiter Ex 17,8–16 als theologische Lehrerzählung“ in: ZAW 102/1990, S. 335–344 J. Schnocks, Das Alte Testament und die Gewalt. Studien zu göttlicher und menschlicher Ge­ walt in alttestamentlichen Texten und ihren Rezeptionen (WMANT 136), Neukirchen-Vluyn 2014 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 62007 J. Schniewind, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2), Göttingen 51950 G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten, Göttingen 1994 G. Scholz, „Zur Freiheit berufen. Eine biblische Grundlegung des modernen Freiheitsgedan­ kens“ in: J. Grešo, M. Klátik (Hg.), Radost’z teológie, Bratislava 2004, S. 196–209 G. Scholz, „Die Papst-Kritik an der Vaterunser-Übersetzung“ in DPfBl 118/2018, S. 106 G. Scholz, „Der Tod Jesu Christi. Gedanken im Anschluss an den EKD-Grundlagentext ‚Für uns gestorben‘“ in: KuD 62/2016, S. 27–40 J. Schreiner, Jeremia II (25,15–52,34), Würzburg 1984 A. Schüle, Der Prolog der hebräischen Bibel, Zürich 2006 A.  Schüle, „Das Angefochtensein Gottes. Überlegungen zum Motiv der ‚Umkehr Gottes‘ bei Hiob, Jeremia, Jona und der nicht-priesterlichen Fluterzählung“ in: L. Ratschow, H.v.Sass (Hg.), Die Anfechtung Gottes. Exegetische und systematisch-theologische Beiträge zur Theo­ logie des Hiobbuches (ABG 54), Leipzig 2016, S. 137–161 M. Schwantes, „Lege deine Hand nicht an das Kind“ in: H. W. Wolff, F. Crüsemann, C. Hard­ meier, R. Kessler (Hg.), Was ist der Mensch …? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testa­ ments. FS H. W. Wolff zum 80.Geburtstag, München 1992, S. 164–178

682

Literatur

E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus (NTD 1), Göttingen 1982 E. Schweizer, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 2), Göttingen 1982 L. Schwienhorst, Die Eroberung Jerichos, Stuttgart 1986 L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33), Berlin, New York 1990 L. Schwienhorst-Schönberger, „Josua 6 und die Gewalt“ in: E. Noort (Hg.), The Book of Joshua, Leuwen, Paris, Walpole (MA) 2012, S. 433–471 R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6 f und ihre intertextuellen Beziehungen im Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg 2002 H. Seebass, Genesis I, Neukirchen-Vluyn 1996 H. Seebass, Genesis II / 1 Neukirchen-Vluyn 1997 H. Seebass, Genesis II / 2 Neukirchen-Vluyn 1999 E. Sellin, G. Fohrer, Einleitung in das Alte Testament, Heidelberg 121979 H. J. Sellner, Das Heil Gottes. Studien zur Soteriologie des lukanischen Doppelwerkes (BZNW 152), Berlin 2007 C. L. Seow, Job 1–21. Interpretation and Commentary, Michigan 2013 J.v.Seters, „Some Obserations on the Lex Talionis in Exod 21:23–25“ in: St. Beyerle, G. Mayer, H. Strauß (Hg.), Recht und Ethos im Alten Testament – Gestalt und Wirkung. FS H. Seebass zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 27–37 P. Sloterdijk, Im Schatten des Sinai, Berlin 2013 R. Smend, Lehrbuch der alttestamentlichen Religionsgeschichte, Freiburg, Leipzig, Tübingen 21899 J. A. Soggin, „Abraham hadert mit Gott. Beobachtungen zu Genesis 18,16–32“ in: I. Kottsieper, J.van Oorschot, D. Römheld, H. M. Wahl (Hg.), „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“ FS Otto Kaiser zum 70. Geburtstag, Göttingen 1994, S. 214–218 J. A. Soggin, Das Buch Genesis, Darmstadt 1997 U. Sommer, Die Passionsgeschichte des Markusevangeliums (WUNT 2.Reihe, 58), Tübingen 1993 H. Spieckermann, Juda und Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982 H.  Spieckermann, „Die Satanisierung Gottes“ in: I.  Kottsieper, J.van Oorschot, D.  Römheld, H. M. Wahl (Hg.), „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern?“ FS Otto Kaiser zum 70. Ge­ burtstag, Göttingen 1994, S. 431–444 H. Spieckermann, „‚Barmherzig und gnädig ist der Herr …‘“, in: Ders., Gottes Liebe zu Israel, Tübingen 2004 (FAT 33), S. 3–19 H.  Spieckermann, „Wunden  – Wunder  – Weisheit. Aspekte des Hiobproblems“ in: M.  Witte (Hg.), Hiobs Gestalten, Leipzig 2012, S. 11–28 B. Stade, Biblische Theologie des Alten Testament I, Tübingen 1905 R. Stahl, „Krieg und Gewalt. Aphorismen zu einer aktuellen und uralten Kette von Herausforde­ rungen“ in: J. Grešo, M. Klátik (Hg.), Radost’ z teológie (Freude an Theologie). FS Igor Kišš zum 70. Geburtstag, Bratislava 2004, S. 237–251 O. H. Steck, „Die Gottesknechts-Texte und ihre redaktionelle Rezeption im Zweiten Jesaja“ in: Ders., Gottesknecht und Zion (FAT 4), Tübingen 1992, S. 149–172 O. H. Steck, „Aspekte des Gottesknechts in Deuterojesajas ‚Ebed-Jahwe-Liedern‘“ in: Ders., Got­ tesknecht und Zion (FAT 4), Tübingen 1992, S. 3–21 O. H. Steck, „Aspekte des Gottesknechts in Jesaja 52,13–53,12“ in: Ders., Gottesknecht und Zion (FAT 4), Tübingen 1992, S. 22–43 G. Steins, „Chronistisches Geschichtsbild und ‚levitische Predigt‘. Überlegungen zur Eigenart der Chronik im Anschluss an Gerhard von Rad“ in: E. Blum, W. Johnstone, C. Markschies (Hg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?, Münster 2005, S. 147–173 H. U. Steymans, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons, Göt­ tingen 1995 Ph.  Stoellger, „Anfechtung Gottes. Zur Gotteslehre vom Pathos Gottes aus“ in: L.  Ratschow, H. v. Sass (Hg.), Die Anfeschtung Gottes. Exegetische und systematisch-theologische Beiträge zur Theologie des Hiobbuches (ABG 54), Leipzig 2016, S. 163–192

Literatur

683

M. Stowasser, „Gottesepitheta und Christusepitheta“ in: Ders. (Hg.), Das Gottesbild in der Of­ fenbarung des Johannes (WUNT 397), Tübingen 2015, S. 149–175 H. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I (Das Evangelium nach Matthäus), München 101994 H.  Strauß, „Theologische, form- und traditionsgeschichtliche Bemerkungen zur Literaturge­ schichte des (vorderen) Hiobrahmens – Hiob 1–2“ in: ZAW 113/2001, S. 553–565 H. Strauß, Hiob 19,1–42,17, Neukirchen-Vluyn 2000 H.  Strauß, „Zu Gen  22 und dem erzählenden Rahmen des Hiobbuches (Hiob 1,1–2,20 und ­42,7–17)“ in: A. Graupner, H. Delkurt, A. B. Ernst (Hg.), Verbindungslinien. FS W. H. Schmidt zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 377–383 G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit (FRLANT 82), Göttingen 1962 G. Strecker, „Die Leidens- und Auferstehungsvoraussagungen im Markusevangelium“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 52–75 G. Strecker, „Redaktion und Tradition im Christushymnus Phil 2,6–11“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 142–157 G. Strecker, „Die historische und theologische Problematik der Jesusfrage“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 159–182 G. Strecker, „Befreiung und Rechtfertigung“ in: Ders., Eschaton und Historie, Göttingen 1979, S. 229–259 G. Strecker, Die Bergpredigt, Göttingen 1984 G. Strecker, Die Johannesbriefe (KEK 14), Göttingen 1989 H. A. Tanner, Amalek. Der Feind Israels und Jahwes. Eine Studie zu den Amalektexten im Alten Testament, Zürich 2005 J. Taschner, Verheißung und Erfüllung in der Jakoberzählung (Gen 25,19–33,17), Freiburg, Basel, Wien, Barcelona, Rom, New York 2000 G. Theißen, „Jünger als Gewalttäter (Mt 11,12 f; Lk 16,16). Der Stürmerspruch als Selbststig­ matisierung einer Minorität“ in: Annette Merz, Gerd Theißen (Hg.), Jesus als historische Gestalt (FS Gerd Theißen zum 60. Geburtstag) (FRLANT 202), Göttingen 2003, S. 153–168 G. Theobald, Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodi­ zee, Gütersloh 1993 P. Tillich, Symbol und Wirklichkeit (Kleine Vandenhoeck-Reihe 151), Göttingen 1962 F. Tóth, „Von der Vision zur Redaktion. Untersuchungen zur Komposition, Redaktion und In­ tention der Johannesapokalypse“ in: J. Frey, J. A. Kelhoffer, F. Tóth (Hg.), Die Johannesapo­ kalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, Tübingen 2012, S. 319–411 W. Trilling, Das wahre Israel (Erfurter Theologische Studien 7), Leipzig 1975 H. Utzschneider, W. Oswald, Exodus 1–15, Stuttgart 2013 T. Veijola, „Abraham und Hiob“ in: C. Bultmann, W. Dietrich, C. Levin (Hg.), Vergegenwärti­gung des Alten Testaments. FS Rudolf Smend zum 70. Geburtstag, Göttingen 2002, S. 127–144 T. Veijola, Das Fünfte Buch Mose. Deuteronomium. Kapitel 1,1–16,17, Göttingen 2004 Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin, New York 1975 (1978) L. Vischer, „Gewalt und Gewaltlosigkeit“ in: R. Lux (Hg.), „…und Friede auf Erden“. FS C. Hinz zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 98–108 M. Vogel, „Theologien des Kreuzes“ in: ThLZ 136/2011, Sp. 724–738 L. Wächter, „Die Mauern von Jericho“ in: Theologische Versuche 11/1979, S. 33–43 H. M. Wahl, Die Jakobserzählungen, Berlin, New York 1997 R. M. Wanke, Praesentia Dei. Die Vorstellungen von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch, Berlin, Boston 2013 M. W. Waters, „Te’Umman in the Neo-Assyrian Correspondence“ in: Journal of the American Oriental Society 119.3/1999, S. 473–477 B. Weber, „Zur Datierung der Asaph-Psalmen 74 und 79“ in: Biblica 81/2000, S. 521–532 O. Weber, Grundlagen der Dogmatik I, Neukirchen-Vluyn 31964

684

Literatur

O. Weber, Grundlagen der Dogmatik II, Neukirchen-Vluyn 1962 R. Weber, „Die Distanz zur Welt bei Epiktet, Jesus und Paulus“ in: B. Kollmann, W. Reinbold, A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und frühes Christentum (FS H. Stegemann zum 65. Ge­ burtstag), Berlin 1999, S. 327–349 P. Weimar, „Eine bewegende Rede. Komposition und Theologie der Rede Judas in Gen 44,18–34“ in: Studien zur Josephsgeschichte, Stuttgart 2008, S. 125–155 P. Weimar, „Joseph – Eine Geschichte vom schwierigen Prozeß der Versöhnung“ in: Ders., Stu­ dien zur Josephsgeschichte, Stuttgart 2008, S. 9–26 P. Weimar (HThKAT), Jona Freiburg 2017 M. Weippert, Jahwe und die anderen Götter. Studien zur Religionsgeschichte des antiken Israel in ihrem syrisch-palästinischen Kontext (FAT 18), Tübingen 1997 A. Weiser, Das Buch Jeremia (ATD 20/21), Göttingen 41966 A. Weiser, Das Buch der Zwölf Kleinen Propheten I (ATD 24), Göttingen 41963 A. Weiser, Das Buch Hiob (ATD 13), Göttingen 81988 P. Welten, „Leiden und Leidenserfahrung im Buch Jeremia“ in: ZThK 74/1977, S. 123–150 K. Wengst, „Protest als Zeugnis und Widerspruch“ in: M. Stowasser (Hg.), Das Gottesbild in der Offenbarung des Johannes (WUNT 397), Tübingen 2015, S. 113–128 C. Westermann, Genesis Kapitel 12–36, Neukirchen-Vluyn 1981 C. Westermann, Genesis Kapitel 37–50, Neukirchen-Vluyn 1982 C. Westermann, Das Buch Jesaja, Kapitel 40–66, (ATD 19) Göttingen 41981 V. Weymann, „‚Und führe uns nicht in Versuchung‘?“ in: DPfBl 1119/2019, S. 626.636–639 H. Wildberger, Jesaja 1–12 (BKAT X / 1), Neukirchen-Vluyn 1972 H. Wildberger, Art.: „Jeremiabuch“ in RGG3III, Sp. 584–590 I. Willi-Plein, „Ein untadeliger Mensch. Zum Menschenbild der Hiobdichtung“ in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hg.), Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie. FS B. Janowski zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 553–564 M. Witte, Vom Leiden zur Lehre, Berlin 1994 M. Witte, „Hiobs ‚Zeichen‘ (Hiob 31,35–37)“ in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog II. FS Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Berlin, New York 2004, S. 723–742 M. Witte, Rez. zu M. Köhlmoos, Das Auge Gottes. Textstrategie im Hiobbuch, in: ThLZ 121/2000, Sp. 885 f M. Witte, Rez. zu C. L. Seow, Job 1–21. Interpretation and Commentary, in: ThLZ 139/2014, Sp. 1439–1442 Th. Witulski, „Die argumentative Struktur von Offb 11,3–13“ in: M. Labahn, M, Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung (ABG 38), Leipzig 2012, S. 275–309 H. W. Wolff, Frieden ohne Ende. Eine Auslegung von Jes 7,1–7 und Jes 9,1–6 (Biblische Studien 35), Neukirchen-Vluyn 1962 H. W. Wolff, Dodekapropheton 2, Joel und Amos (BK XIV / 2), Neukirchen-Vluyn 31985 H. W. Wolff, Dodekapropheton 3. Obadja und Jona (BK XIV / 3), Neukirchen-Vluyn 1977/21991 M. Wolter, „ ‚Dumm und skandalös‘. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeits­ verständnis des christlichen Glaubens“ in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt, Opfer, Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, S. 44–63 Th. Zahn, Das Evangelium nach Matthäus (KNT 1), Leipzig 1903 B. M. Zapff, Jesaja 40–55, Würzburg 2001 B. M. Zapff, Jesaja 56–66, Würzburg 2006 E. Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1994 E. Zenger, „Gewalt als Preis der Wahrheit? Alttestamentliche Beobachtungen zur sogenannten Mosaischen Unterscheidung“ in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Güters­ loh 2006, S. 35–57

Stellenregister Genesis 1,1–2,4 39 1,1 396 1,2 628 1,9 ff 628 1,26 f 43, 513 1,28 25, 37 2,4–25 31 2,7 24, 26, 85, 96 2,9 26 2,10–14 428 2,15 24, 33 2,16 f 24 2,18 24, 41 2,19 f 24,25 2,21 f 24 3,6 26 3,15 26, 321, 322 3,16–21 27 3,16(ff) 26,137 3,17 33 3,19 41, 550 3,21 24 3,22 24 3,23 f 588 3,24 212 4,1–16 24 ff, 31 4,4(ff) 28 4,4–5 24, 468 4,5 25, 28, 645 4,7 25, 27, 28, 470, 471, 645 4,8 28, 29 4,9–12 537 4,9 26 4,10 26, 28, 85, 133 4,12 26, 33 4.13 26 4,14 26 4,15 27 4,23(f) 47, 516 4,24 29 5 38 6–9 29 ff, 38 6,1–4 31, 118 6,3 118

6,5–9,17 29 6,5–13 30 6,5–8 30, 31 6,5 31, 35, 38 6,6(f) 31, 32, 34, 172, 469, 646 6,7(f) 31, 32, 312 6,8 32, 33, 37, 35 6,9–22 30 6,9–13 31 6,9(f) 37, 39 6,11–13 36 6,11 36, 38 6,12(f) 36, 51 6,13 36, 37 6,14 ff 37 6,18 37 7,1–5 30 7,1 35 7,4 31 7,5 30, 35 7,6 30 7,7–10 30 7,11 30 7,12 30 7,13–16 30 7,16–17 30 7,16 35 7,17–19 30 7,21 37 7,22–23 30 7,23 31 8,1–5 30 8,1 65 8,2–3 30 8,6 30 8,7 30 8,8–14 30 8,8–12 35 8,13 30 8,15–19 30 8,17 37 8,20–22 30 8,20 35 8,21–9,17 30, 31, 32

686 8,21(f)

Stellenregister

27, 32, 41, 33, 34, 290, 433, 534, 548, 549, 622, 646 8,22 32 9,1–17 31 9,1–3 39 9,1 37 9,3 30 9,4–6 30 9,4 30, 39, 565 9,5(f) 30, 39, 42, 43 f, 48, 50, 96, 652 9,6 30, 39, 43, 366, 652 9,11 37 9,15 37, 630 11,1–9 118 12,1–3(4) 74, 110, 484 12,2 f 361, 363 12,3 220, 301, 422 13,1–12 71 13,5–9 254 13,8 f 110 13,10–13 55 14,13–24 110 14,16 55 15,6 108, 110, 17 108, 119 17,11 284 18,1–15 53 18,1–5 110 18,1 54 18,2 f 54 18,3–8 54 18,13 f 54 18,16 53, 54 18,17–19,29 53 ff 18,17–19 53, 54, 64 f 18,18 f 53 18,19 64 18,20–19,26 53, 63 18,20–33 53, 54, 61 ff, 63, 64, 108 18,20 62, 69 18,22–30 110 18,22 62 18,25 61 18,26 54 18,33 62, 65 19,1–28 63 19,1–26 54 19,1–11 53, 54 ff, 58, 59, 61 63, 312, 647 19,1 54, 55

19,2 54 19,4(f) 54, 56 19,5 56 19,6 56 19,7 54, 56 19,8(f) 55, 56 19,9 54, 55, 56 19,10 54 19,11 54, 55, 647 19,12–26 58 ff, 647 19,12–17 53, 54 19,12 53 19,13(f) 59 19,14 55, 59 19,15(f) 54, 59 19,16 59 19,17 54, 59, 60 19,18–22 53 19,20 60 19,21(f) 59, 61 19,23–26 53, 54 19,23 53 19,25 59 19,26 54, 60 19,27–28 53, 54, 63, 64 f 19,29 65, 76 19,30–38 60 20(f) 101, 110 21,9–14 110 22 101, 109, 112, 121, 312, 366, 653 22,1–19 101 ff, 109–111, 116, 627 22,1–14 102, 116, 119 22,1–2 102 22,1(f) 101, 102, 103, 105, 106, 122 22,2 103, 105, 110 22,3–5 102 22,3 105, 110 22,6–8 102 22,7–8 102 22,6 103, 104, 124 22,7 105 22,8(f) 103, 104, 109, 110 22,9–12 102, 105 22,9 124 22,10 103, 104 22,11–12 102, 537 22,11 105 22,12 101, 102, 103, 104, 105, 106, 110 22,13–14 102

Stellenregister 22,14 101, 105, 113 22,15–18 101, 108 22,16 102, 108 22,17 108 22,18 108 22,19 101, 102 25,19–28 66 25,19 f 76 25,21.23 74 25,26 76 25,28 66, 68 25,29–34 66 26,1–6 108 26,24 332 27–33 65 ff 27,1–41 65, 66 27,1–29 648 27,1–4 68 27,8–10 68 27,9 f 68 27,13 69 27,14–17 68 27,19 74 27,20 74 27,28 649 27,29 68 27,30–35 69 27,33(f) 74, 648 27,35 70 27,36 66, 113 27,37–40 69 27,41 648 27,42–32,3 65 27,42–45 648 27,44 f 72 27,45 69 27,46–28,9 76 28,3 f 649 28,10–22 66, 67, 75, 289 28,15 75, 649 29,1–14 66, 648 29,14 648 29,14–20 648 29,15–30 66 29,25 69 29,27 280 29,31–30,24 66 30,25–43 648 30,25–34 70 30,27(f) 70, 649 30,30 70, 649

687

30,32 67 30,33 70, 91 30,34 67 30,35–43 67 30,35 67 30,37–39 67 31,1–21 648 31,1–5 67 31,3 74 31,5 67 31,6–9 67 31,8 67 31,10–12 67 31,13 67 31,14 70 31,16–21 70 31,17 f 112 31,20 70 31,22–54 648 31,24.29.42 67, 71, 75, 648 31,25 70, 71, 649 31,26(f) 70 31,30 70 31,31 71 31,32 91 31,36 71 31,42 91, 119, 129 31,43 67, 71 31,44 71 31,44–54 67, 71 31,46 71 31,48 67 31,49–51 67 31,51 67 31,53(f) 76, 119, 129 31,54 71, 119 32,1–3 67,75, 648 32,3 75 32,4–33,20 65 32,4–22 71 32,4 71 32,6 72 32,8(f) 72, 76 32,10–13 67, 72, 75, 113, 115, 649, 651 32,13 113, 649, 651 32,19 72 32,21 71, 72, 73 32,23–33 67, 75 112 ff, 116, 119, 289, 312 32,23 112, 113

688 32,24 f 112, 113 32,25 212 32,26 112, 113 32,27 114, 654 32,28–30 112, 113, 115, 650 32,29 83, 114, 115 32,30 115, 212, 268 32,31 113–115, 265, 289 32,32 112 32,33 113 33,1(f) 72, 648 33,3 648 33,4 73 33,6–7 648 33,8–11 648 33,9 73 33,10 68, 73, 76, 115, 649 33,11 73 33,12 648 33,16(f) 74, 99, 648 35,19 649 37–50 76 ff 37 82 37,1–36; 39,1 77 ff, 97 37,1–3 77 37,2 76 37,3–17 84 37,3 83 37,4–45,28 77 37,4 84 37,5–8 84 37,9–11 84 37,12–17 84 37,18–36 78, 83, 84 37,18 78, 85 37,19 78, 85 37,20 78, 85, 86 37,21 78, 81, 85 37,22 78, 81, 85, 86, 89, 256 37,24 78 37,25–27 77 37,25 78, 82, 89 37,26 85 37,27 85 37,28 77, 78 37,29(f) 78, 86 37,31–35 86 37,31 f 90 37,33 86 37,34 83 37,36 77, 36

Stellenregister 38 76 39(ff) 96, 97 39,1 77, 83, 84 39,2 96 39,21(f) 96 40,8 96 41,16 96 42–44 81, 83, 84, 87 42 81, 82, 83, 87, 92, 95 42,1–38 87 ff 42,1 ff 81 42,6–22 90 42,6–13 87 42,7–9 87 42,9(ff) 81 42,10 ff 82 42,11 81, 87 42,12 87 42,13 81, 86, 87, 91 42,14–20 87 42,15–17 82 42,16–17 88 42,16 82 42,18–20 82, 88 42,18 87 42,19 88 42,20 82, 87 42,21(f) 86, 89, 97 42,22 81, 86. 89, 97 42,24 92 42,25(ff) 82, 90 42,28 81, 90, 96, 97 42,30–32 81 42,32 86 42,35 81, 90 42,37 81, 82 42,38 82, 86 43–44 81, 82 43,1–44,34 90 f 43 82, 83, 86 43,1–11.13 f 83 43,1–3 81 43,1 82 43,2 82 43,3 82, 90 43,5 82 43,7 82 43,11 82, 83 43,12 83 43,14 83, 86 43,15 83

Stellenregister 43,17 83 43,18–23 83 43,18 f 91 43,19 83 43,20–22 91 43,23 82, 83 43,24 83 43,25 f 83 43,27 82 43,30(f) 92 43,33 91 44 82, 86, 95 44,1 ff 82, 90 44,2 90 44,4(f) 91 44,7 91 44,8 83, 91 44,9 91 44,13 90 44,14 ff 90 44,15 91 44,16 90, 91 44.19 82 44,20 86, 91 44,23 82 44,28 86 44,32–34 82 44,33 90 45,1–9.14 f 91 ff 45,1–5 92 45,2 92 45,3 92, 93 45,4(f) 86, 92, 93 45,5–8 77, 96, 97 45,5–7 97 45,5 93, 97 45,7(f) 93, 98 45,8 98. 99 45,14 f 93 45,21 83 45,27 86 45,28 86 46–50 77 46,5–27 76 47,5–11 76 47,27–28 76 48,3–7 76 49 76 49,1 76 49,28–33 76 50,12–13 76

689

50,14–26 92, 93 50,15–21 77, 86, 91 ff, 92 50,15–17 92 50,17 92 50,19 94, 97 50,20(f) 77, 93, 94, 96, 97, 98, 293, 465, 551, 649 50,21 94. 98 50,22–23 76 50,22 99 50,24 95 Exodus 1,17 110 3,1–5 210 3,2 187 3,5 210, 289 3,10 287 3,14 25, 120 4,18 485 4,20 117 4,22 f 342 4,24–26 112, 116 ff, 212, 289, 627 4,24 117, 130, 212 4,25 117 4,26 117 4,27 117 6,7 388, 399 7–12 155 7,8–13 167 7,15 166 7,17 166 7,19–22 167 7,20 166 8,1–3 167 8,12–15 167 9,19 130 9,22–25 167 10,12–13 167 10,21–22 167 12,7 637 12,11 362 12,12 f 637 12,13 130 12,29 104 13,2 105 13,14 ff 184 13,15 103, 104 13,17–14,31 154 ff, 164 13,17–19 154, 155 13,17 155, 167

690

Stellenregister

13,18 159 13,20–22 155 13,21(f) 155, 187, 298 14,1–4 155 14,4 156 14,5–7 155 14,8–10 155 14,8 159 14,9(f) 227 14,10 155 14,11–12 155 14,13–14 155 14,13 156, 157 14,14 155, 156, 227 14,15–18 155 14,15 222 14,16–26 156 14,16 157, 167, 226 14,17 f 156, 157 14,18 160 14,19–21 155 14,19 155, 157 14,20 f 298 14,21–23 155 14,21 155 14,22 156 14,23 156 14,24–25 155 14,24(f) 155, 157, 298 14,25 155, 156, 157 14,26–29(-31) 155, 438 14,26 157, 167 14,27 155, 156 14,28 160 14,30–31 155 14,30 156 14,31 154, 156 15,1–21 158 ff, 655 15,1–18 158 15,1–5 159 f 161, 163, 188 15,1 158, 403 15,3 21, 154, 156, 158, 187, 266, 282, 283 15,4–6 282 15,4(f) 160 15,5–6 159 f 15,6–17 158 15,6–10 158, 161, 163, 188 15,6(f) 160, 162 15,8 160, 162 15,9 227

15,10 160 15,11–17 158, 160, 162 f, 227 15,11 158, 160 15,13 160, 163 15,14–17 163 15,15 227 15,17 160, 656 15,18 158, 163 f 15,19 158 15,20(f) 158, 655 15,21 158, 159, 161, 163 15,25 f 107 16,4 107 17,1–7 166 17,1 166 17,2 107 17,4 222 17,5 166 17,7 107 17,8–16 165 ff, 174, 227 17,8–13 166, 167, 168, 169 17,8 165, 166 17,9 166, 226 17,10 166 17,11(f) 166, 169 17,12 166, 167 17,14–16 167, 166, 168 17,14 165, 167, 168, 169 17,15 171 19,3–9 398 19,5(f) 399, 568 19,7 398, 400 19,8 398 19,12 289 19,16 ff.20 ff 652 19,21 f 265, 269, 395 19,24 395 20,1–21 45 20,2–17 398 20,2 164 20,5 415 20,7 190 20,8 372 20,12 26, 383 20,13 116 20,20 107 20,22–23,33 44, 45, 184 20,22–26 45 21,1–23,19 45 21,1–11 50 21,1 400, 652

Stellenregister 21,12–27 44 ff, 48 ff 21,12–17 39, 45 50, 651 21,12 45, 48, 50, 366 21,13(f) 45, 48 21,14 45, 652 21,15–17 45, 50, 537 21,18–22 45, 49 21,18 f 49 21,20 f 50 21,21 50 21,22(f) 46, 47 50 21,23–25(-27) 29, 45–47, 50, 51 21,23(f) 47, 48, 516 21,24(f) 47, 257, 515 21,26 f 51, 52 21,28–30 51, 52 21,29 f 47, 525 21,30(f) 575, 576 21,35 44 22,20–26 482 23,4 f 181 23,13 652 23,20–33 45, 201 23,22 415 23,29 f 208 24,2 290 24,3–8 398 24,3(f) 398, 400, 565, 567 24,5 565 24,6–8 572 24,7 45, 398, 400, 567 24,8 398, 554, 565, 567, 572, 579 24,9–11 265, 269 24,9 290 24,11 290, 395 24,14 166 24,17 187 25,21 f 400 26,33 f 400 30,16 630 31,2 166 31,12–17 347 31,18 398, 400 32–34 63 32,7–14 222, 431, 433 32,9 434 32,32 357 32,34 469 33,11 290 33,15 f 289 33,19 25, 149

691

33,20 33,21 ff 34,6(f)

114, 265, 288, 289 289 63, 120, 163, 415, 433, 435, 440, 468, 505, 514, 516, 543, 585, 591, 633, 645, 660, 665 34,27 f 398 34,28 400 35,30 166 38,22 166 Levitikus 4,1–35

355, 554, 569, 570, 572–574, 576, 589 4,2 365 4,3 365 4,6.17 355 4,7 572 4,13 365 4,18 572 4,20 365, 590 4,22 365 4,25 572 4,26 365, 590 4,27 365 4,30 572 4,31 365, 590 4,34 572 4,35 590 5,6 365 5,9 365 5,10 365 5,11 365 5,12 365 5,13 365 5,14–16 365 5,16 365, 366 5,17–19 365 5,18 365. 366 5,20–26 365 5,23 f 365 5,25 365 5,26 366 7,2 366 7,7 366 12,2 133 15,19 133 16 355, 554, 569–572, 574 16,2 571, 589 16,3 597 16,5 597 16,6 597

692 16,7–10 570 16,9 597 16,10 357 16,11 569, 597 16,13 571, 589 16,14 355, 569 16,15 355, 569, 597 16,17 569 16,19 355 16,20–22 357 16,21 f 569 16.27 597 17–26 52, 204 17,10–14 570 17,10 570 17,11 570 17,12 570 17,14 565 18,21 103 19,2 517, 520 19,16–18 52, 97 19,17 518 19,18 518, 519, 527 19,33 f 54, 55, 164 19,35 f 164 20 52 24,12 48 24,17–22 239 24,17–20 45–47 24,17 47 24,18 47 24,19 f 29 24,20 47 24,21 29 26 204 26,6 196 26,7 196 26,12 383, 399, 634 26,42 630 26,45 630 Numeri 6,24–26 485, 520 10,10 630 11,29 435 12,6 f 332 14,5 222 16,4 222 20,6 222 20,16–18 192 21,1–3 192

Stellenregister 21,21–35 206, 207 22,21 f 212 22,23 212 22,31 212 22,33 118 24,2 254, 255 27,15–25 205 27,18 569 27,23 569 30,3 566 31,7 192 31,14–18 192 32,20–29 219 35,15 48 35,16–21 29 35,32 49 Deuteronomium 1,8 186 3,12–20 219 3,20 260 4,1 191 4,9–14 187 4,19 388 4,24 187, 191 4,25–31 182 4,25 f 182 4,31 186 5,1 197 5,5 652 5,11 190, 238 5,16 383 6,1–9 231 6,4(f) 97, 184, 206, 526, 527, 650 6,6 f 397 6,10–19 258 6,10 186 6,15 187 6,17 f 191 6,20–25 184, 397 7,1–6 195, 231 7,1(f) 173, 194 7,2 216 7,7 231 7,8 186 7,9 167 7,13–16 485 7,21 f 208 8,1 191 8,2 107 8,11–20 185

Stellenregister 8,17(f) 185, 189, 190 8,18 186 8,19 190 9,1–10,11 191 9,1–6 185 ff, 190 f, 207 ff 9,1–3 185, 186, 188, 189 9,1 185, 191, 207 9,2 185, 187, 208 9,3 185, 186, 187–191, 207, 208 9,4–6 185, 187, 192, 208 9,4(f) 185, 186, 190 9,5 185, 186, 190, 191, 208 9,6 185, 186, 187, 190 9,7 ff 185 9,9–10,5 185, 191 9,22–24 185, 186 9,27 332 10,10 f 185 10,11 186 10,12 187, 238 10,19 55 11,13–32 197 11,13–17 258 11,21 186 11,26–28 258 11,26 400 12,9(f) 169, 170, 260 12,10 26 12,23 565 12,29–31 195, 231 13,1–19(20) 197, 200 13,2–10 183 13,2–5 107 13,3 f 411 13,16 195 13,18 197 15,12–18 50 16,11–14 429 18,9–12 195, 231 18,9 f 103 18,13 517 18,20 378, 411 18,22 378, 411 19,8 186 19,18–21 47 19,16–21 45–47 19,21 46 20,1–20 174, 191 ff, 197, 207, 500, 668 20,1 192 20,2 f 192

693

20,4 192 20,5–7 192, 193 20,8 192, 193 20,10–14 194. 196 20,10–11 500 20,11 194 20,12–18 194, 500 20,12 f 194 20,13 f 192 20,14 181, 217 20,15–18 173, 192, 195, 206, 216, 217, 242, 518 20,15 f 194 20, 17(f) 195, 208, 231, 275 20,18 193, 195 20,19 f 194 21,1–9 62 21,10–14 193 21,22 f 225 21,23 546 23,2 370 23,4–9 371 23,4–7 238 23,4 435 23,5 168 23,7 371 23,8–9 371 23,10–15 193 23,16 181 24,7 43 24,9 168 24,17 164 25,1–3 516 25,11 f 50 25,16 169 25,17–19 165, 168 ff, 173, 174, 193, 518 25,17(f) 169, 170, 227 25,18 168 25,19 169, 170, 260 26,3 168, 186 26,5–9 431 26,5 77 26,13 ff 138 26,16 ff 170 26,17–19 165, 203, 388 27,11–26 197 27,24 29 28 197 ff, 207, 261, 312, 399, 471 28,1–14 197, 201, 202

694 28,1–6 201 28,1 197, 201, 202, 207 28,2 201, 202 28,3–6 198, 485 28,7–14 201 28,7 198 28,8–11 198 28,8 207 28,9 201–203, 207 28,11 186, 203 28,12 198 28,13.14 197, 198, 201, 202 28,15–68 197 28,15–46 201 28,15–19 201 28,15 198, 201 28,16–19 198 28,19 201 28,20–44 183, 200 28,20–23(24) 198, 200, 203 28,20 200, 202 28,23 f 200 28,21–35 200 28,24(f) 198, 201 28,25–44 198 28,25–30 200 28,25 198, 201 28,26–37 198 28,26–29 200 28,30(ff) 193, 376 28,31 f 200 28,35–42 200 28,36(f) 198, 202 28,37 198 28,38–40.42 198 28,43–47 201 28,43 198, 202 28,44 198 28,45–47 198, 202, 203 28,45(f) 201, 202 28,47–68 201 28,47 198 28,48–57 198 28,48 198, 203 28,49–52 198, 202, 203 28,52 202 28,58–68 198 28,58–61 201, 203 28,58(f) 198, 201, 202 28,62–63 201 28,62 198, 201, 202, 203

Stellenregister 28,63–67 182, 198, 201, 202 28,63 203 28,64 198, 202 28,65 260 28,68 198, 201 28,69 197 29,1 197 29,3 235 29,9 232 29,11 f 231–233 29,12 186, 231, 390 29,18 f 235 29,19 f 231 29,23–27 182 29,24 182 29,25–27 182 29,27 182 30 201 30,15 400 30,20 186 31,1–8 204 ff, 208 31,1–6 204, 205, 207 31,1 205 31,2 207 31,3 204–208 31,4 205–208 31,5 205–208 31,6 205 31,7–8(9) 204, 205, 206 31,7 205, 207, 208 31,8 205 31,23 204 32,20 548 32,35 388, 539 32,39 118, 128 32,48 ff 204 33,2 275, 651, 652 34,4 186 34,9 569 34,10–12 332 Josua 1,1–6 186, 218 1,1(f) 209, 332 1,2 209 1,3 209 1,5 209 1,6 210 1,8 209 1,9 209, 210, 218 1,10–16 210, 219

Stellenregister 1,11 209 1,13 26, 260 1,15 260 1,16–18 218 1,17 f 210 2 217, 408 2,9(f) 210, 217 2,11 221 2,24 210 3(f) 209, 219 3,7 209, 215 3,14 211 4,12 219 4,14 209 5,1 210, 221, 527 5,6 186 5,13–6,27 210 ff 5,13–15 210, 212 f, 218 f, 226 5,13 212 5,14 210 5,15 210 6 174, 215 ff, 408 6,1–27 218 f 6,1–3 211, 214 ff 6,1 218 6,2 216, 218, 238 6,3 214, 224 6,4 211 6,5 211, 214 ff 6,6–10 211 6,6 215 6,6.7 211 6,8 f 211 6,9 215 6,11–12 211, 214 ff 6,11 211 6,13 211, 218 6,14–15 211, 214 ff 6,14 218, 219 6,15 219 6,16–19 211 6,16 216 6,17 217 6,18 217, 230, 232, 233 6,19 216 6,20 211, 214 ff 6,21–27 6,21 210, 216, 527 6,22 217 6,23 220 6,24 216 6,25 211, 217

695

6,26 216 7,1–8,29 221 ff 7 217, 228, 229 7,1–3 235 7,1 221, 229–234 7,2–8 221 ff, 225, 228 ff, 234 7,2–5 223 7,2 f 222, 234 7,3 221, 223 7,5–9 221 7,5 221, 222 7,6–8 221–223 7,6 222, 223, 229, 235 7,7(f) 222, 223 7,9–10 221, 229 7,9 229, 235 7,10 224, 229, 235 7,11–26 221, 229 7,11–15 230, 231 7,11 230–233, 236 7,12(f) 230, 232 233 7,13 231, 232, 235 7,15 231–233 7,16 ff 230 7,19 230 7,20–26 231 7,20 230, 233 7,21 230, 236 7,22 f 230 7,23 233 7,24–26 230, 236 7,24–25 233 7,25 233 7,26 230, 231, 233 8 174, 221, 228, 229 8,1–29 224 ff 8,1(ff) 221–225, 228 ff, 235, 238 8,1–2 225 8,2 224, 225 8,3–11 225, 226 f, 228 ff 8,3–5 221, 224 8,3 223, 225 8,5(f) 221, 225 8,8 224–226, 228 8,9–10 224 8,10 226 8,11 225 8,12–13 224, 225 8,13 224 8,14–21 225,226 f, 228 ff 8,14 224

696 8,15 225 8,18–19 224, 225 8,19 227 8,20 225 8,21 225 8,22–29 225 8,22–25 225 8,24 225, 226 8,25 224 8,26–29 225 8,26 210 8,28.29 225 9 217 9,11 229 9,14 217 10 174 10,8 224, 238 10,12–14 428 10,28–43 171 1038 f 210 11 174, 242 11,6 224, 238 11,10–22 171, 173 11,10 242 11,19 f 217 11,20 235 11,21 f 210 11,23 260 14,15 260 21,43 f 186 21,44 26, 260 22,4 260 23,1 260 24,15(f) 218, 219 24,25 400 24,29 209, 218, 332 Richter 1,18–25 263 1,22–26 211, 217 2,1–3,6 263 2,1–5 231, 263 f 2,1 186, 264 2,2 264 2,3 263 2,6 236 2,8 209 2,11 258 2,12 206, 258, 259, 262 2,13 259 2,14 259, 261

Stellenregister 2,15 261 2,18 259, 260, 262, 295 2,19 258, 260 2,20–23 263 f 2,20 264 2,22 107, 263, 264 3,4 107, 264 3,6 263 3,7–11 236 3,7 259 3,8 259, 260 3,10 238, 254, 255, 259 3,11 26, 260 3,12–15 239, 623 3,12 259 3,14 259 3,15–30 237 ff, 623 3,15–26 237, 238 3,15 237, 239 3,17 237 3,18 237 3.19 237 3,20 237 3,21 f 237 3,22 237, 238 3,24–26 237 3,26 237 3,27–30 237, 238 3,28 238 3,30 238–240, 259, 260 4,1–3 239 4,1 240, 242 4,2 259 4,3 240, 260 4,4–22(f) 239 ff 4,4–16 240, 241 4,6 f 241, 242 4,7 240 4,9 240, 241 4,10 240, 241 4,11 240–242 4,14 f 241 4,15 241 4,16 240 4,17–21 240 4,17 240, 266 4,18 271 4,21 240 4,22 240, 242 4,23(f) 238–240, 242 4,24 239, 242

Stellenregister 4,31 271 5 270 ff, 655 5,1 270 5,2(f) 271, 273–276 5,3 277 5,4 f 270, 273–275, 289, 415, 651 5,6–8 273 5,6 271 5,7 270–272, 276 5,9–12 273–275 5,13–18 273–275 5,9 271, 275, 277 5,11 271, 275, 276 5,12 270, 272, 275, 276 5,13 270, 272, 277 5,15 271, 272 5,16 f 275, 277 5,19–22 273–276 5,20 271 5,21 276 5,23–30 273, 276 5,23 270, 272, 275, 277 5,24–26 271, 274 5,24 271 5,28–30 271, 274, 275 5,31 26, 260, 270, 273, 275, 277, 527 6–8 243 6,1–6 261 6,1 258, 259 6,7–10 264 6,6.7 260 6,8–10 262 6,8(f) 258, 262 6,10 264 6,11–24 265 f 6,11–16 265 6,13(f) 265 6,16 265 6,17–21 265 6,18 265 6,21 268 6,22–24 265, 290 6,22 f 265 6,23 265, 290 6,24 265, 470, 520, 657 6,25–32 243, 266, 657 6,25 f 263 6,31 278 6,33–7,22 243 6,34 255

6,36–40 243 7,2 f 192, 196 7,10 243 7,14 f.21 316 8,10–13 243 8,18–21 243 8,22 f 243, 250 8,28 243, 259, 260 8,33–35 243 8,33 f 258 9 239, 244 ff, 258, 395 9,1–21 244 9,1–6 246 9,2 243, 247, 248 9,4 248 9,5 246–248 9,6 243, 247 9,7–21 249 9,7 249 9,8–15 248 9,9 249 9,13 249 9,15 249 9,16–20 248 9,16 250 9,18 246, 250 9,19 f 250 9,21 249 9,22–24 244, 246, 625 9,22 247, 248 9,23 246 9,24 247 9,25–54 244 9,25–45 244 9,25 244 9,26 244 9,27 244 9,28 244, 245, 251 9,29 244, 251, 252 9,30(f) 244, 245 9,31 252 9,32 244 9,33 245 9,34 245 9,35 245 9,36–38 245 9,39–41 252 9,41 245 9,42–45 244, 248 9,43 244 9,44 244

697

698 9,45 244, 250 9,46–54 244 9,49 250 9,53 f 250 9,54 250 9,55–57 244, 246 9,55 251 9,56 246–248 9,57 246, 247, 249 10,1–5 236 10,7–9 261 10,7 261 10,10–16 264 10,10–12 262 10,10 260 10,11–15 260, 262, 263, 266 f 10,13 267 10,14 263, 266 10,15 260–262 10,16 259–262, 264, 267 11 112, 252 ff 11,1 408 11,5 f 109 11,9 f 109, 252 11,11 253 11,12–28 253 11,12 253 11,13 109, 253 11,14–26 109 11,14 f 253 11,16–18 253 11,19–23 253 11,24 254 11,25–27 253 11,27 109, 254 11,27–29 254 11,28 f 253 11,29 252, 253, 259 11,30–40 109 11,32–33 f 253, 254 11,35 109 11,36 109 12,7 253, 260 12,8–15 236, 260 13–16 254 ff 13,1 254, 259, 261 13,2–24 254, 267 ff 13,3 268 13,6 268 13,19 269 13,20 290

Stellenregister 13,21–25 395 13,22(f) 265, 269 13,23 268, 290 13,25 254 14,4 256, 257 14,5–6 255 14,6 254–256 14, 7.8 255 14,8–9 255 14,11–15,2 257 14,15 ff 255 14,19 254–256 14,20–15,2 256 14,20 255 15,3 256, 257 15,4–6 255 15,4 256, 257 15,5 256 15,6 256, 257 15,7 256 15,8 256, 257 15,9–13 256, 257, 258 15,9 255 15,10 256 15,11–12 f 256 15,14 254–256 15,15–18 255 15,20 254, 258 16,1–3 255 16,4–14 255 16,13–14 267 16,16–22 267 16,20 255 16,23.24 255 16,25 255 16,26–31 257 16,26 257 16,28 257 16,30 257 17,6 206 18,1 206 19–21 206 19,1 206 19,22–25 (26–30) 56 21,3 206 21,6 206 21,25 206 1.Samuel 1,11 630

Stellenregister 1,17 485 2,6 118 3,10 332 7,2–13 166 8–10 171 8,7 171 8,9 171 8,10–12 171 8,20 171, 189 9,16 176 10,1.9 176 10,6.10 254, 255 11,7 120 14,1–23 657 14,13 283 14,15 247, 625 14,52 278 15,1–35 165, 166, 168, 170 ff, 176, 194, 217, 219, 656 15,1–3 171, 172, 173 ff 15,1 174 15,2(f) 165, 173, 174 15,3(ff) 165, 174, 227 15,4–8 171, 172 f 15,4(f) 171 15,8 171 15,9 171, 172, 173 ff 15,10–11 172, 176 f 15,11.35 32, 170 15,12(f) 171, 172 f 15,13–23 171, 172, 173 ff 15,13 171, 175 15,15 175, 216 15,17(f) 174 15,18 f 227 15,19 171, 172, 174, 175 15,21 216 15,22 f 174 15,23–26 172, 176 f 15,24 170 15,27–31 172, 176 15,28 172, 227 15,29 170, 172 15,30 f 170 15,32–34 171, 172 f 15,35 32, 172, 173 ff, 176 f 16,1–13 280 16,7 131, 241, 321 16,10(f) 280 16,13 255 16,14–23 280

16,21–23 280 17 278 ff 17,1–11 279 17,1–3 279, 281 17,2 279 17,4 279 17,5 283 17,8 283 17,9 284 17,10 279, 283, 284 17,11 282, 284 17,12 280 17,13–30 280 17,13 f 281 17,14 281 17,15 280, 281 17,17 f 281 17,19 279 17,20 281 17,21 281 17,22 281 17,23 279, 280 17,24 281, 284 17,25–30 280 17,25 281 17,26 281 17,28 281 17,31 280 17,32–54 332 17,32–40 279, 280 17,32 283 17,32–34 332 17,36(f) 279, 281, 283 17,37 282, 283 17,39 279 17,41 280, 281 17,42–49 279 17,43 282–284 17,45–47 279, 282, 283 17,45 282 17,46 282, 657 17,47 282–284 17,48 280, 281 17,49 282 17,50 280, 281 17,51–54 279, 281 17,51 282 17,54 279, 284 17,55–58 280 17,57 281 18,6–7 282

699

700 18,17 280 18,20 ff 281 18,25 280 21,10 279 22,10 279 25,31 630 27,2 177 27,6 177 27,8–12 177 28,1–3 332 29,1–5 177 29,1 178 29,6–10 177 29,11 178, 179 30 165, 177 ff, 656 30,1–9 179 ff 30,1 178, 179, 227 30,2(f) 178, 179, 180 30,3 f 179 30,4 f 180 30,5 178 30,6 179 30,8 179, 180, 227 30,9(f) 178, 179, 180 30,11–16 176, 178, 179 30,13 178 30,14 181 30,15 181 30,16 178, 179 30,17–19 179 ff 30,17 176 30,18 f 178 30,19 178, 179 30,20 178, 181 30,21–25 176, 178, 179 30,22 178, 180 30,23 180, 181 30,24 180 30,25 181 30,26–31 178, 179 2.Samuel 7,1 26 7,5 332 7,9 317 7,12 f 316 7,14 317 7,20 332 9 332 12 88 14,11 137

Stellenregister 15,13–15 332 21,15–22 279 21,19 279 22 289 24,1 124 24,16 ff 469 1.Könige 1,22–27 332 2,5–6 500 3,6 332 3,7 332 4,20 422 5,18 26 8,24–26 332 8,27 569 8,43 196 8,48 284 8,65 391 8,66 332 11,36.38 332 14,8 332 18,23–29 657 18,27 ff 278 18,36–40 657 19,12 351 2.Könige 1,1–16 625, 639 5,19 485 16,1–20 291 16,5 291 16,7–9 292 17,17 f 182 17,19 182 18,1–6 291 18,13–19,37 285 19,6 332 19,21 ff 407 19,25 332 19,28 407 19,35 304 21,16 38 22 183 23,1–3 183 23,10 104 1.Chronik 2,13–15 280 17,7.18 332 21,1 124

Stellenregister 21,15 ff 469 22,7–10.22 260 22,9 260 2.Chronik 6,15–17 332 14,13 120 17,10 f 120 28 291 29 ff 291 30,16 570 30,18 391 32,1–23 285 32,16 332 Esra 7,12–26 184 7,14 ff 184 10,1–4 372 Nehemia 1,6.10 f 367 2,19 f 372 2,20 441 3,33–38 441 4,1–17 441 6,6 f.15 f 441 9,2 372 9,7 f 372 9,23–25 372 9,36 367 10,29 372 10,31 418 13,1–3 418 13,3 441 13,4–9 372 13,23–27(-30 f) 372 435, 441 13,26 372 13,30 372 Hiob 1,1–2,10 120 122 ff, 419 1,6–12 122 1,6 ff 464 1,8 123, 124, 332, 653 1,9–11 122 1,9 124 1,11 123 1,12 124 1,21 110 1,22 124

701

2,1–10 122 2,3 123, 124 2,5 122, 123 2,6 124 2,7 122 2,9 123, 147, 149 2,10 123, 124, 134, 149, 492, 650, 653 2,11–13 120, 128 2,11 123 3,1–42,6 120 3,1–26 131 3,4 149 4,2 128 4,4–9 129 4,6–9 127 4,6 127 4,7 f 130 4,17–21 127 4,17 127 5,6 f 127 5,8–21 127 5,8–16 128 5,17–19 128 5,27 128 6–7 126 ff 6,3 126, 128 6,4 126, 128, 129, 131, 133, 151 6,9 131, 132, 129, 149 6,13–21 126 6,21 129 6,24(f) 128, 130 6,29 f 130 7,3 145 7,9 137 7,12–21 126, 129, 151 7,12 129 7,13 129 7,14(f) 128, 130, 131 7,15 129 7,16 129 7,17–21 129, 145 7,17 129, 146 7,19(f) 129, 132, 149, 151, 654 7,20(f) 129, 133, 146 7,21 129, 133, 144, 151 8(f) 128, 149 8,3–7 130 8,3 127, 151 8,5 f 127 9–10 130 ff

702 9,1–10 148 9,1–4 588 9,2(f) 127, 130 9,4–10 130 9,4 ff 140 9,10 131, 148 9,11–24 130 9,11 130 9,12 130 9,13 130 9,14 ff 140 9,15–20 130 9,15 130 9,16 130 9,17 130, 131 9,19 130 9,21–23 130 9,21 130, 131, 132 9,22–24 62 9,22 61, 131 9,23 131 9,24 131, 148 9,27 130 9,30–31 131 9,30 131 9,32 152 9,35 130, 132 10 131, 149, 150 10,1 130 10,2 131 10,3 131, 149, 151 10,4 131, 151 10,5–7 131, 151 10,7 131 10,8–17 131 10,8 131 10,12 131, 151 10,13–16 131 10,13 f 129 10,14 133 10,15 f 131 10,16 130, 131 10,17 128 10,18–22 131 10,18 131 10,20 129 11 132 11,8–10 132, 151 12–14 132 ff 12,2 149 12,4–6 149

Stellenregister 12,4 336 12,9(ff) 139, 140 12,12–25 132 12,13 130 13,3 152 13,7(f) 149 13,10–12 120 13,15–23 149, 152 13,15–17 149 13,15(f) 132, 140, 150 13,18–23 150 13,18(f) 132 13,20–22 132 13,20(f) 120, 149 13,22 150 13,24–26 132 14,1–14 132 14,1–6 588 14,1 133, 145 14,2 145 14,3 132, 146 14,4 41, 132, 133, 138, 142, 146 14,5 145 14,6 132, 149 14,7–12 145 14,13 ff 135 14,13–17 133, 145, 146, 654 14,13 145, 146 14,15–22 134, 151 14,15–17 132 14,15 131, 146 14,16(f) 146 14,17 132, 133, 138 14,19(f) 133, 145 14,21 145 14,22 145 15,7 133 15,8 133, 142 15,14 133 16 133 ff 16,7–17 133 16,9 133 16,12–14 133 16,12(f) 133 16,13 133 16,14 133 16,17 133 16,18(ff) 133, 135 16,19–21 150 16,19 134 16,20(f) 134, 135, 136

Stellenregister 16,21 134, 151 17,1 355 17,3(ff) 134, 135, 137, 150, 152 17,13–16 134 18–19 135 ff 18,2 135 18,13 f 131 18,14 129 18,20 129 19,6–21 149 19,6 135 19,7–11 135 19,7 134, 150 19,8 135 19,9 f 135 19,10 135 19,23(ff) 135, 141 19,25–27 136, 137, 145, 150, 151 19,25 134–136, 141, 654 19,26 136, 142 19,27 134, 136 20–27 137 f 21,7 ff 149 22,4–11 137 22,4 152 22,22–26 137 23,1–5 152 23,3–5 138 23,8–9 138 23,13 138 23,15 f 120 24,1–17 138 24,18–25 126 25 138 25,1–6 138 25,4 142 26,5–14 126, 138 27,2 138 27,5(f) 138, 142 27,7–23 126 27,11 138 28 126 29,12–17 137 30,19 359 30,20–33 131 30,23 129, 359 31 138 f, 147–149 31,1–4 139 31,4 151 31,5–34 138 31,35–40 139

31,35–37 139, 142 31,6.14 f 138 31,11 f.28 138 31,8.10.22 f.40 138 31,18.20.30.32 138 32–37 126, 144 32,2 144 32,3 144 32,8 144 32,9 144 32,12 144 33,8–12 144 33,12 144 33,23–28 137, 144 33,26–28 144 33,28 144 33,33 144 34,11 144 34,12 144 36–37 144 36,1–4 144 36,26–37,24 144 37,22 144 37,23(f) 144 38,1–42,6 136, 139, 152 38,1–40,5 128, 138, 139 ff, 148 38,1 139, 654 38,2 148 38,5.8–11 140 40,1–2 126, 140 40,4 f 140 40,5 148 40,6–41,26 140 ff 40,6 141 40,8 140, 148 40,9–14 140 40,16 141 40,19 141 40,32 141 41,2–3 141 41,6 141 41,11–13 141 41,14 141 42,1–6 141 ff 42,2 142, 152 42,3 141, 142, 148 42,5(f) 133, 136, 142, 147 42,6 142, 143, 148, 261 42,7–9(10) 120, 142, 143 42,7(f) 143, 144 42,10–17 120, 122 ff, 124

703

704 42,10 143, 148, 152 42,10.12 125 Psalmen 1,6 415 2 431 2,4 407 2,6(f ) 319, 407 2,7 317 2,9 407, 617 2,12 483 3,2 333 3,6 333 7,2 333 7,4–6 333 7,9 431 7,18 333 8,5–10 146 8,5 588 11,5 107 13,1–3(-5) 333 13,3 333 14,1–3 587 14,7 532 17,1–5 333 17,3 107 17,9 333 18 289 18,2 330 20,2 282 20,7–8 284 22 121, 333 22,1–22 333 22,2 110, 559, 622 22,7–9 559 22,17–19 333 22,20 532 22,22–32 333 22,22 f 109, 136 22,25 336 22,32 333 24,4 499 24,5 499 24,8 161 26,2 107 27,1–3 316 27,1 265 27,3 316 28,6 136 28,7 330 29,11 485

Stellenregister 31,6 109, 110, 136, 623 31,20 136 33,5 48 33,9 410 34,9 483 34,15 500 34,16.17 603 35,1 ff 333 35,17 333 35,22 f 333 37,7.8 494 37,11 495, 497, 498 37,14(f) 494, 495, 498 37,18 495 37,21 493 37,22 497 37,25 f 496 37,29 497 37,30 f 499 37,35 494, 496 37,37 495 38,5 26 38,14–17 559 38,16 26 39,10 559 40,13 f 26, 532 42/43 484 43,2 330 46,2 330, 415 46,3–11 303 47,10 418 48,1–9 303 48,2 58 48,3 367 55,23 333 56,12 110 65,8 431 66,10(-12) 107, 460 68,20(f) 105, 642 68,30–32 307 69,10 333, 334 69,17–19 333 69,29 333, 639 70,2.6 532 71,12 532 72,2–12 ff 482 73,1 499 73,23.24 499 74,1–23 304 74,14 628 75,,11 128

Stellenregister 77,17(ff) 415, 431 77,41 107 78,70 332 81,2 330 81,7 316 84,13 483 89,21 332 90,5–10 146 90,12 41 96,13 532 97,5 415 98,9 48 103,6 48 103,17 f 568 104 130 104,4.9 431 105,42 332 107,23–32 430, 431 112,6 630 115,3 432 118,6 110 118,17 359 119,23 110 119,162 157 121,1 f 532 125,5 485 126 160 126,2 f 435 128,1–6 485 132,15 482 139,23 107 139,24 108 144,10 332 145,9 415 Sprüche 20,9 127 20,22 510 22,8 127 Prediger 1,14 145 2,16 145 4,10 41 9,2–3 61 Weisheit 2,12–20 550, 669 7,15 124 7,25 124 8,3 124

705

9,4 124 11,16 516 Jesaja 1,15 469 1,21 ff 301 2,1–5 287, 295, 296, 300 ff, 311, 661 2,1 301, 314 2,2–4 301–303, 312, 314, 316, 322, 420, 422, 451 2,2(f) 296, 301, 303, 307, 308, 328, 336, 340, 362, 427 2,3(f) 301, 303, 309, 312, 314 2,4 303, 307, 309, 312, 313, 435, 439–441, 510, 663 2,5 301, 314, 316 2,10 120 2,12.17 286, 296 3,1–7 286, 294 f, 296 3,1(ff) 288, 293 3,2 f 294 3,4–7 295 3,4 294 3,5 294 3,6–10 288 3,6(f) 294 3,8 ff 299 3,14–17 286, 295 3,16–23 298 3,16(ff) 298, 299 3,24–26 295 3,24 286 4,1 295, 298 4,2–6 287, 295, 296, 297 ff 301, 311, 661 4,2(f) 297, 298, 343 4,3 291, 298–300, 639 4,4 298, 299 4,5(f) 298–300 4,6 298 5,1–7 286, 291, 293 5,3 294 5,5 293 5,6 293 5,7 293, 334 5,8–24 291 5,8 286 5,11 286 5,16 367 5,18 286

706

Stellenregister

5,20–23 286 5,25–29 291 5,25 294, 384 5,26–30 294 5,30 291 6,1–8,13 291 6,1–13 286, 287 ff 6,1–10(f) 286, 287 6,1–3 288 6,1 285 6,3 615 6,5–7 419 6,5(f) 269, 288, 290 6,6–7 288 6,7 571 6,9 f 234, 235, 275, 287, 288, 293, 294, 327, 381 6,10 380 6,11 287, 289 6,12.13 287, 288 6,13 291, 298 7,1–22 286 7,1–17 291 ff 7,1 291 7,3 286, 287 7,4 291 7,5–9 292 7,7 291 7,9 292, 661 7,10 292 7,13 292 7,14–16 292 7,14 f 292 7,15 292 7,16 292 7,17 291, 292 8,1–7 286 8,1–4 287 8,8.10 292 8,12–15 286 8,16–18 295 8,16 295 8,17 295 8,18 295 8.19–22 315 8,22 291 8,23 291, 315 9,1–6 287, 295, 296, 311, 315 ff, 395, 422, 510, 661 9,1–5 315 9,1 316–318, 375

9,2–4 315, 318 9,2 318 9,3(f) 309, 315–318 9,4 315, 316 9,5(f) 307, 309, 315, 317, 318, 320, 386 9,6 309, 315, 318, 520, 663 9,7–20 286, 291, 294, 296 9,8 294 9,10 294 9,11 294 9,13 294 9,14–16 294 9,18 294 9,11.16.20 289, 294, 384 10,1–4 291, 294 10,4 384 10,12 ff 187 10,16 ff 157, 187 10,20–34 319 10,20 f 291 11,1–9(10) 287, 292, 295, 296, 301, 319 ff, 422, 661 11,1–5 296, 311, 318, 319, 320 f, 395 11,1 320, 341, 343 11,2 307, 317, 320, 416 11,3–5 307, 320, 322 11,3 320 11,5 321 11,6–8(9) 319, 320, 321 f 11,6 f 322 11,8 321, 322 11,9 319–322, 663 11,10 319, 322 f, 341, 421, 422, 510 11,11–16 319 11,11.16 291 11,14 372 12,3–5 296 12,6 296 14,28–32 286 14,30 286 17,12–14 303, 305 17,12 f 303 17,14 305 18,7 307 19,16–25 661 19,23–25 433, 661, 664 21,9 608 21,11 442 ff 22,1–4 286 22,12–18 286

Stellenregister 22,21 317 22,24–25 446 25.4 f 298 25,6–8 298, 401, 446 25,8 376 26,19 137 27,1–6 286 28,5 291 28,7–11 286 29,1–4 286, 305, 306 29,5–7 303, 305 f 29,9–16 286 29,5 305 29,6 305 29,7 305 29,9–10 305 29,13–16 305 29,13(f) 305, 493, 499 20,14–17 306 30,14 286 30,15 286, 306 30,17 286, 292 30,18 483 30,27–33 306 31,1–3 286, 306 31,4–9 303, 306 32,18 26 34,2 449 34,5–15 442 ff 34,5–10 444 34,5 446, 449 34,9 446 35,8–10 401 35,10 296 36,1–37,38 285, 332 36,10 332 37,6.24 332 37,35 332 37,36 304 40,1–11 327 40,1 532 40,2 510, 516, 639 40,6 287 40,10 370, 532 40,12–21 342 40,27–31 327, 343 40,27 330 40,28 299 40,29–31 348 41,1–42,12 342 41,2–5.25 f 326, 386

707

41,8–10 338, 342 41,8 331, 343 41,25–29 328, 329 42,1–7(-9) 323 ff, 327–330, 332, 334, 337, 339, 341, 344 ff, 403 42,1–4 329, 345–347 42,1 323, 324, 327–330, 337, 340, 341, 344, 345, 354, 358, 360, 386 42,2(f) 345, 346, 351 42,3(f) 324, 344, 345, 347, 354, 386 42,4 324, 327, 329, 330, 345, 346, 354, 358, 386, 510 42,5–7 329, 345–347 42,5 299, 345, 347 42,6(f) 324, 329, 330, 334, 337, 339, 340, 344, 345, 347, 386, 422 42,7 327, 340, 345, 346, 348 42,8–10 343 42,8 328, 345 42,9 323 42,14–44,23 342 43,1–16 323 43,1–2 460 43,1 109, 284, 343 43,3–4 513 43,4 297, 330 43,10 343 43,14–17 386 43,18–20.23 327 43,19 327, 633 43,22–28 326 43,25 630 44,1(f) 327, 331, 343 44,2 330, 339 44,3 435 44,5 27, 331 44,8 284 44,18 327 44,21 331, 343 44,24–48,21 342 44,24 330, 339 44,28–45,7 386 44,28 326 45,6 f 468, 510, 654 45,7(f) 299, 326 45,8 297 45,13 386 45,14 386 45,22–24 386, 510 46,3 339

708

Stellenregister

46,12 327 48,1–12 326 48,1 327, 343 48,6(f) 299, 327 48,8 339 48,12(f) 327, 343 48,14–15 326, 386 48,14 327 48,18 367 48,20 343 49,1–6 323 ff, 327–331, 334, 337, 339, 351 ff, 354, 404 49,1(ff) 324, 328, 341, 344, 354, 358, 386 49,2 339, 353, 618 49,3(f) 323, 324, 330, 331, 339, 342, 353, 361 49,4 324, 328–330, 334, 351–353 49,5(f) 328, 330, 331, 339–341, 353 49,6(f) 307, 323, 324, 329, 330, 337, 354, 358, 386, 435, 510 49,7–26 327 49,7 328, 353 49,26 516 49,8 422 49,14.15 327 49,26 516 50,1–3 328 50,4–9(-11) 323 ff, 327–331, 334, 337, 339, 341, 348 ff, 354, 356 50,4(f) 327, 328, 334, 344, 348, 349, 351 50,5 334, 349 50,6 329, 334, 349, 511, 516, 558 50,7 324, 339, 348, 350, 351, 354 50,8 324, 329, 330, 334, 350, 356 50,9 334, 348, 350, 351 50,10 324, 327, 328, 337, 348, 351 50,11 351 51.1–52,12 362 51,4–6 386 51,4(f) 309, 346 51,9–11 363 51,12 f 363 51,16 330 51,17(ff) 327, 362, 375, 449 51,21 ff 327 52,1 ff 327 52,1–3 336, 362 52,3 364 52,4 363

52,5 363 52,7–12 328 52,7–10 363 52,7 336, 362, 415 52,9 f 363 52,10 336 52,11 364 52,12 362 52,13–53,12 323 ff, 327–329, 334, 337, 344, 350, 360, 362, 366 52,13–15 336, 358 ff 52,13(f) 324, 327, 328, 336–338, 340, 344, 353, 359, 360, 362 f 52,14(f) 329, 337, 340, 358–362 52,15 324, 337, 358, 362, 263, 386 53 93, 99, 344, 355, 357, 364, 550, 558, 559, 561, 562, 574, 575, 669 53,1–9(10.11) 335, 337 53,1 335, 336, 354, 358, 361, 363 53,2–11 336, 337, 341, 354 ff 53,2(f) 329, 336, 341, 343 53,3 328, 336, 341, 558 53,4–6 357 53,4(f) 336, 354, 358, 559 53,5 334, 336, 338, 341, 354–356, 358, 363, 559, 574, 667 53,6 354, 356, 358, 361, 559 53,7 329, 336, 356, 558 53,8(f) 324, 334–336, 356, 358, 361, 362 53,9 329, 336, 341, 355, 361 53,10 324, 327, 334–336. 338, 354–357, 363 f, 365, 559, 574, 589 53,11(f) 324, 328, 334, 336, 336–338, 341, 354–356, 358 ff, 363, 364, 559, 561, 568, 574, 578 53,12 324, 337, 338, 340, 342, 358–360, 362, 364, 559, 574 54,1 362 54,2 f 363 54,3 363 54,5 363 54,7 468 54,9 f 363 54,10 520 54,11–17 363 54,14–17 343 54,16 363 54,17 336, 340, 343, 346, 363

Stellenregister 55,1–5 386 55,5 364 55,8–11 364 55,10 f 327 55,11 364 55,12 f 364 56,1–8 368, 369 ff, 373, 418, 498 56,1–2 370 56,1 367, 369, 370, 372, 374 56,2 368, 370, 372 56,3–6.7 347, 370 56,3(ff) 368, 371, 372 56,4 347, 369, 370, 372, 429 56,5 370 56,6–8 367 56,6 343, 347, 370, 429 56,7–8 370 56,7 319, 367–370, 372 56,8 371 56,9–57,13 368 57,1 483 57,11–13 548 57,13 319 57,14–19(20) 368 57,15 368 57,16–18 368 57,19 368, 371, 485, 617 57,20(f) 368, 617 58,1–14 368 58,13 f 372 59,1–8 367 59,1 469 59,3–8 299 59,7–8 587 59,7 548 59,9–15 367 59,15–20 367, 368 59,16 277 59,18–19 368 59,21 370 60,1–22 368, 369, 373 ff 60,1–3 196, 307, 373 60,1(f) 297, 370, 373, 375, 532 60,2 373 60,3–7 369 60,3(ff) 368, 420 60,4–18 373 60,4 375 60,7 297, 367, 368, 374 60,9 368, 375 60,10 367, 368, 373–375, 664

709

60,12 367, 373–375, 662 60,13 297 60,15 297, 375 60,16 374 60,17–18 368 60,17 373, 374 60,18 375 60,19–22 373 60,20 375 60,21 373, 375 60,22 373 61,1–3 480 61,1(f) 481, 629 61,4–9 369 61,4 367 61,6 297, 367, 369 61,7 368, 510, 516 61,8(f) 347 61,9 368 61,10 f 367 61,11 297 62,1–12 369 62,2 297, 368 62,3 297 62,7 368 62,8 368 62,9 367 62,10–12 367 62,10 368 62,11 370, 374, 490, 532 63,1–6 368, 372, 631 63,3.5 277 63,7–64,11 367 63,17 346, 367 64,10 367 65,1–15(16) 369, 376 65,2–7 367 65,3–5 369 65,6–10 368 65,9(f) 346, 367 65,11–15 367 65,11 319 65,13–15 346 65,15 369 65,16–24(f) 319, 369, 376 ff 65,16(f) 368, 376 65,17(f) 320, 369, 376, 377, 510, 633 65,18(f) 320, 376, 377 65,19–23(24) 377 65,19 377 65,22 320

710 65,23 378 65,24 377 65,25 319, 371, 376–378 66,1 f 368, 369 66,3 f 367 66,5–14 369 66,6 367 66,12 303, 520 66,14 346, 368 66,15–19 367 66,15–17 369 66,18 f 369, 372, 420, 662 66,19 347, 363 66,20 319, 369 66,21 367, 369 66,22 f 369 66,23 301 66,24 369 Jeremia 1,5 330, 339, 379, 386 1,7 287 1,10–12 391 1,10 381, 387 1,11 f 381 1,12 381 1,13–16 381, 388 1,18(f) 339, 381 2.1–3,5 382 2,5 382 2,13 382 2,17 382, 662 2,18 382 2,19 382, 663 2,20 382 2,22 382 2,23 382 2,26 381 2,28 262, 266 2,29 382 2,30 382 2,31 382 2,35 382 2,36 382 3,5 382 3,6–18 384 f 3,6–10 384, 548 3,11–13 384, 385 3,12 385 3,13 385 3,14–18 385

Stellenregister 3,14–15 384 3,14 384, 385 3,16–18 384, 385 3,16 384 3,17 385 4,3–4 382 4,5–18 381 4,7 381, 388 4,8 381 4,9 381 4,10 379, 381 4,13(f) 381 4,14–18 58 4,14 382 4,19–28 389 4,19–22 382 4,26 389 4,27 382, 384, 389 4,28 389 5,2–6 548 5,6 381 5,9 388 5,20 381 5,29 388, 539 6,6–8 382 6,18 f 386 7,1–15 382 7,1 ff 329 7,2 383 7,3 382, 383, 440 7,4 379 7,5–7 382 7.7 383 7,8–15 383 7,8 379 7,9 381, 662 7,22 383 7,23 290, 383, 388, 520, 634, 663 7,25 332 7,27 379 7,31 103, 104 9,1–5 381, 548 9,8 388 9,15 381 9,18 381 9,23 21 10,10 387 11,4 383, 388, 634 11,5 186 11,11 469

Stellenregister 11,14 469 11,18–20 379 11,19 329 11,21–23 379 11,21 379 12,1–6 379 12,14–17 386 f 12,14–15 387 12,15 387, 403 12,16 387 12,17 387 13,1–11 381 13,12–14 381, 449 13,15–17 382 14,13 379 14,14 f 411 15,6 381 15,10 352, 379 15,15–18 379 16,18 510, 516, 639 17,10 241 17,14–18 379 17,15 379 17,17 f 118 17,18 510, 516 18,7–10 381, 387, 388, 403 18,8 435, 440 18,11 382 18,20 379 18,18–23 379 20,2 379 20,7–13 379 20,8 379 20,10 379 20,14 352 20,17–18 379 21,1–10 380 21,2 380, 432 21,8 f 380 23,1–8 385 f 23,5–6 386 23,10 58 23,11 58 23,16 378, 411 23,18 133 23,19 f 390 23,21 378 23,22 133 23,25 411 23,28 411 23,30 411, 449

23,31 411 23,32 411 23,33–40 411 24,7 383, 388, 402, 634 25,1–14 379, 382, 387, 662 25,1 383 25,2–7 383 25,3 ff 383 25,4 332 25,5(f) 384 25,6 384 25,7 383, 384 25,(8)9–11 332, 379, 383, 388 25,8 ff 383 25,9 384 25,12–14 383, 384 25,13 378, 379, 384 25,15–38 387 25,15 449 25,38 381 26,1 ff 329 26,3 389, 435, 440 26,7–19 379 26,13 389, 435, 440 26,19 389 27,5–7 451 27,6 388 27,11 388 28,1 412 28,2–4 412 28,3 412 28,9 411 28,10 f 379 28,11 412 28,12–17 412 29,7 371 29,11 372 29,32 391 30 f 389 ff, 468, 663 30,1–3 389 30,2 390 30,3 393 30,4 390 30,8(f) 393 30,9 290, 395, 663 30,10 390, 393 30,11 390, 392 30,12–17 394 30,14 390 30,16(f) 394 30,17 390

711

712

Stellenregister

30,18–21 391, 395 30,18 390–393, 395 30,19 395 30,20 392, 395 30,21(f) 133, 290, 317, 390, 395, 419, 562, 663 30,22 383, 388. 390, 391, 634 30,23 f 390, 395 30,31 139 31,1 383, 388, 390, 393, 634 31,2 26, 390, 394, 395 31,3–6 394 31,3 390, 394 31,4–5 394 31,4 396 31,6 391, 393, 394 31,8 391 31,9 389, 393, 394 31,10–14 390 31,11 393 31,13 393 31,15 393 31,16 393 31,17 393 31,18–20 390, 630 31,18(f) 392, 393, 396 31,20 392, 393, 394 31,21(f) 390, 391, 393, 396 31,22 395, 398 31,23 391, 393 31,26 390, 396 31,27–34 391 31,27(f) 390, 391, 393, 396 31,29 f 391, 393 31,31–34 385, 390, 391, 393, 395, 396 ff, 427, 471, 562, 667 31,31 393, 396–398, 579 31,32(f) 579 31,33 156, 383, 388, 397, 399, 549, 634 31,34 393, 395, 397, 399, 630 31,35–40 390, 398 31,38 393 31,40 393 32,22 186 32,38 383, 388 32,40 398, 401 33,5 58 33,21 332 36,1–7 378 ff 36,2 386

36,3 379, 380 36,4 379 36,7 379, 380 36,8 379 36,32 379 38,4–6 379 39,7 257 42,10 389 42,12 389 42,17 389 42,19 389 46,28 390 49,7–22 441, 442 ff, 666 49,7 445, 447 49,9 441, 445, 447 49,12 441, 446 49,14–16 445 49,14 447, 448 49,16 447 49,19 381 50,20 390 50,31 407 50,44 381 51,7 f 608 51,25 407 51,34 407 51,36 390 51,48 630 52,11 257 Klagelieder 1,7–22 341 1,7 341 1,8 341 1,12 341 1,17 341 1,18 341 2,17 284 2,18 341 3,1 341 3,27 341 3,31–33 354 5,8 284 Hesekiel 1,1.3 284 1,28–2,2 269, 571 1,28 290 2,3 287 2,59 284 3,1–3 562, 629

Stellenregister 3,4–7 287 5,8 407 8,1 284 11,5 254, 255 11,19–21 402 11,19(f) 156, 391, 402 11,20 383, 402, 634 12,2 548 13,4–9 411 13,6 f 411 13,10 411 14,1 284 14,12–20 58, 62 16,60 630 18 401 18,1–20 62 18,5–18 216 20,1 284 21,8 407 23 342 25,12–14 442 ff 25,13 446 25,14 449 29,3.10 407 33,24 ff 340, 344 34,23 f 332 34,30 634 35,3 407 35,10 449 36,5 449 36,25 402 36,26–28 402 36,26 f 391, 402 36,27 402 36,28 402 37,24 f 332 37,27 634 38,3 407 39,29 435 43,20 570 Daniel 1–3 451, 457 ff, 666 1–2,4 450 ff 2 458 f, 465, 666 2,1.3 461 2,4–7 450 ff 2,11 458, 461 2,16–41 458 2,15–19 459 2,19–23 458

2,27–36 458 2,28 458, 461, 465 2,34 f 451 2,35 451 2,36–38 461 2,37 458 2,40 451 2,42 f 458 2,44(f) 451, 453, 454, 458, 465, 666 2,47 458, 465 3,1–30 451, 460 ff 3,16 460 3,17 460 3,18 460 3,22 460 3,25 460 3,29 460 3,31–33 454 ff, 666 3,31 455, 666 4–6 666 4,1–34 454 ff 4,1 454 4,5(f) 454, 455 4,13–14 455 4,14 455, 456 4,15 454, 455 4,20 455, 466 4,22(f) 455–457, 466 4,24 456 4,25–29 455, 456 4,25 454 4,27 454 4,29 452, 454, 455, 457, 466 4,30 455 4,31 ff 454 4,32 455 4,33 456 4,34 454–456 5,19 457 5,23 457 6 456 f, 462 6,9 457 6,15–25 456 6,15–19 457 6,17–19 456 6,21 456, 457 6,22–24 456 6,26 456, 666 6,27 453 6,28 456

713

714 7–8 450 ff, 457 ff, 666 7 459 f, 465 7,1 459 7,2–8 459 7,7 451 7,9–10 451, 453, 459 711 f 451, 459 7,13–15 451, 453, 459 7,13 542 7,14 453, 459, 666 7,16–18 459 7,18 453, 459, 666 7,19 ff 459 7,21 f 459 7,25 459, 466 7,27 451, 453, 454, 666 7,28 459 8–12 450 ff 8,1 459 8,12 f 451 8,14 466 8,20–26 451, 452 8,27 452, 459 9–12 452, 465, 666 9,1–19 462 9,1 452 9,2 466 9,8 461 9,17 451 9,18 142 9,19 452 9,20–27 462, 463 9,22 f 452 9,24–27 462, 466 9,26 452 9,27 462, 463 10,1 452 10,12 452 10,13 453 10,14 465 10,15–20 667 10,20 453 11–12,1–3 462, 463 f, 465, 667 11,1 452 11,2 462 11,5 458 11,17 458 11,24–40 463 11,33 452 11,36(f) 451, 452 11,38 f 464

Stellenregister 11,41 464 11,45 452, 462–464 12,1–3(4) 452, 453, 464 12,1 453, 456, 464 12,2(f) 137, 451, 464 12,7.8 466 12,13 464 Hosea 2,7–10 548 2,21 203 4,1 f 97 6,1 f 128 6,6 97, 174, 493 8,12 f 174 8,13 630 9,1 342 9,9 630 11 288 11,1 342 13,8 203 14,1 203 Joel 1,1–4 436 1,6 437 1,13 440 1,15 437 2,1(ff) 275, 435 2,2–5 441 2,2(ff) 437, 441 2,10(f) 435, 438, 441 2,11 437 2,12(f) 435, 438, 439, 441 2,13–17 438 2,13(f) 435, 437, 438, 440, 441 2,14 437, 438 2,15–17 437 2,16 439 2,17 440 2,18–3,2 435 2,18(ff) 438–440 2,19 439 2,20 422, 437, 438, 439 2,21–27 437 2,21(ff) 435 437–439 2,23–26 438 2,23 439 2,24–26 439 2,25 436 2,27 437–440

Stellenregister 3,1 435–438 3,4 275 3,5 436, 439 4,1 437 4,2 438, 449 4,4–8 421, 436, 446 4,6 436 4,9–16 437 4,9 439, 440 4,10 435, 440 4,11 436 4,12 449 4,13 440 4,14 f 435 4,16(ff) 435, 440 4,17 436, 437, 440, 441 4,18–20 436 4,19 419 4,21 436 Amos 1,11–12 442 ff 1,12 446 3,13 615 4,13 615 9,12 449 Obadja 1–21 441 ff, 447 ff 1–16 441 Ob 1–12 448 1–4 445 1(f) 445–449, 666 3 448 4 447, 448 5 441, 445 6 445 7 445, 448 8–15 447, 448 8 445, 447, 448, 666 9(f) 445, 447 10 445, 446, 448 11–14 445, 446 12 447 15(f) 446, 448, 449 16 441, 446, 449 17 436, 446, 448 18 446, 449 19 446, 449 20 446, 449 21 446, 448

715

Jona 1,1–2,1.11 430 ff 1,1 431, 434 1,2 57 1,4 431, 432 1,5–16 430 1,6 431, 432, 438, 630, 665 1,9 431, 434 1,14 432 1,15 432 2 121 2,1 432 2,3–10 430 2,11 431, 432 3–4 430 ff 3 88, 432 3,1 431, 434 3,5–10 434 3,5 433 3,8 57 3,9(f) 57, 431–434, 438, 440 3,10 433 4,2 120, 431, 433–435, 440 4,3 433, 434 4,4 433, 435 4,5 430 4,7(f) 432 4,8 430 4,9 435 4,10(f ) 434, 441 4,11 440 Micha 1,3 f 310 1,6 310 1,9.12 310 2,3–5 310 2,10 310 2,12 f 310 3,5–8 310 3,12 310 4,1–8 310 4,1–5 300 ff 4,1–3 301–303, 312, 314, 420, 422, 451 4,1(f) 301, 303, 307, 427 4,2(f) 301, 303, 309, 312, 314, 315, 435 4,3 301, 303. 307, 309, 312, 313, 435 439–441, 510 4,4(f) 301, 314

716

Stellenregister

4,9 f 310 4,11–13 310 4,14–5,3 310 5,1–3 423 5,1 58, 310 5,4 310 5,9–13 310 5,14 310 6,1–7,7 311 6,1–8 311 6,6–8 174 6,1 311 6,8 111, 187, 471, 492 7,1–6 311 7,2 38 7,8–20 311 Nahum 1,1 403–405, 412 1,2–8 403, 405, 414 ff 1,2(f) 405, 415 1,3 415 1,4 f 415 1,5 415 1,6 415 1,7 415 1,8 403, 405 1,9–3,19 404, 405, 415 1,9(f) 403, 406 1,10 403, 405 1,11 403, 404, 409, 417 1,12(f) 403–406, 409 f, 411, 415 1,13 412 1,14 404, 406, 413, 657 2,1 404–406, 409–411, 415, 417 2,2–9 410 2,2 404, 407 2,3–5 404, 413 2,3 403, 406, 413 2,4(f) 403, 406 2,6–14 404 2,6 415 2,8 413 2,9 405 2,10 413 2,11 407, 413 2,12–14 405, 406 2,12 414 2,14 403, 405, 406 f, 410, 414 3,1–7 404 3,1–3 407, 410

3,1 406, 410, 413 3,2 403 3,3 404–406, 414 3,4–7 408, 409 3,4 405, 408, 414 3,5–7 403, 404 3,5 403, 405, 407, 408 f, 410 3,6 414 3,7 402, 405, 408 3,8–19 404 3,8–11 404 3,8 402 3,10 f 410 3,11 408, 409 3,12–13 404 3,12 414 3,13 414 3,14–15 404 3,15–17 405 3,15 405 3,16 f 404, 405, 414 3,18–19 404 3,18 405, 414 3,19 414 Habakuk 2,14 319 3 121 3,3 275 Zephanja 3,9 f

307

Haggai 2,6–9 307, 375 2,23 332 Sacharja 1,1–6 418 1,1 429 1,2 418 1,4 418 1,6 418 1,7 417, 429 1,8–15 417 1,12 417 1,15 417 1,16 f 417 1,17 426 2,1–4 417 2,2 417

Stellenregister 2,5–9 418 2,8 418, 429 2,9 419 2,10–13 418 2,14–15 418, 420 2,15 418, 425, 428 2,16 417 2,17 418 3,1–10 416, 419, 427 3,9 416, 419 3,10 419, 425 4,1–5 416, 419 4,2 416 4,5 416 4,6–10 416, 419 4,6 283 4,8 429 4,10 416 4,11 416, 419 4,12.13 416 4,14 416, 419 5,3(f) 419 5,5–11 419, 420 5,7 419 5,8 419 5,9 420 5,11 419, 420 6,1–8 420 6,5 420 6,6.7 420 6,8 420 6,9–15 416, 417, 419 6,13 417 6,15 419, 429, 664 7,1–8,19 418 7,7–14 420 7,9–14 418 7,9–10 417 8,1–19 420 8,9–19 418 8,12 417 8,13 417 8.16–17 417 8,20–22 307, 420 f 8,20 421 8,21(f) 421 8,22 428 8,23 420, 425 9–11 421 ff 9,1–4 421 9,4 429

717

9,5–6 421 9,6–8 421 9,8 422, 424, 429 9,9(f) 301, 422, 423 f, 490, 498, 664 9,10 422–424, 428, 498 9,13(ff) 423, 429 9.16 425 10,3–12 422 10,3 423 10,8–12 429 11,4–17 423 11,10 f 422 11,14 417 12–14 425 ff 12,1–6 425 12,1 417, 427 12,1–13,6 425, 427 12,2–13,1 425 12,2 426, 428 12,3 427 12,4 426 12,5 426 12,6 425, 427, 428 12,7 426 12,8 426 12,9 427 12,10–14 427, 429 13,1 425, 427 13,1–6 429, 430 13,2 427 13,7–9 421 ff 14,1–21 425, 428 ff 14,1–2 425, 429 14,1 428 14,3 428 14,4–21 425 14,4–8 425 14,5 275 14,6 f 428 14,9 425–427 14,10 425, 427 14,11 426, 428 14,12 ff 425 14,12–15 426, 428 14,13 426 14,14 426 14,16(f) 425–429 14,19–21 426 Maleachi 3,1.24 275

718

Stellenregister

Jesus Sirach 39,1–12 452 44,20 107 49,12 434 1.Makkabäer 2,31–38 426 2,52 107 3,1–9 426 3,42–54 427 2.Makkabäer 7,36 573 7,38 573 4.Makkabäer 6,28 f 573 17,22 573 Jubiläen 48,2 f

118

Matthäus 2,1.5 f 58 3,7–10 491 3,15 491, 518 3,17 323 4,1–11 653 4,14–17 629 4,17 477, 519 4,22 243 4,23 489 5,1 489 5,2 488 5,3–12 478 ff, 488 ff 5,3–10 489 5,3 488, 489 5,5 488, 497, 517 5,6 488, 492, 495, 496 5,7 488, 492 5,8 488 5,9 488, 500, 517 5,10 479, 488, 489, 492, 493, 495, 496 5,11(f) 488, 489, 492, 496, 504, 519 5,12 479, 480, 501, 602 5,13 523, 668 5,15 f 478 5,16 488, 516 5,17–20 478, 509 5,17 492, 516

5,20

488, 492, 501, 506, 509, 516, 517 5,21–48 478 ff, 495 5,23–26 52 5,23 f 493, 501 5,26 493 5,27 ff 495 5,31(f) 501 5,33 ff 495 5,38–48 502 ff 5,38–42 52, 494–496, 506, 515 5,38 f 503 5,39(f) 350, 503, 504, 506, 518 5,40 503 5,41 f 307 5,42 495, 496, 503 5,43–48 493, 495, 496, 515 5,43 f 501, 503 5,44 495, 503, 504 5,45–48 517 5,45 482, 503, 505–507, 515, 517, 519, 534 5,46–47 503–507, 512–515 5,46 501, 505, 508, 509, 515, 519 5,47 509, 515, 522 5,48 96, 499, 507, 517, 668 6,1(ff) 492, 495, 496 6,2 f 501 6,3 501 6,13 108 6,16 501 6,18 501 6,24 582 6,33 492, 495 7,1–6 495 7,12 503, 507 7,24–27 488 7,28(f) 488, 516 8,1 ff 488 8,10 476, 528 8,21 f 243 8,26 531 9,6 516 9,8 516 9,13 493, 534 9,27–31 493 9,35 488, 489 10,1 516 10,6 476 10,7.8 489 10,14 479

Stellenregister 10,16 517 10,24 524 10,34–36 243, 523 11,4–6 546 11,4 487 11,5 481 11,6 481 11,12(f) 483, 484 11,16 531 11,20–24 58 11,21–23 531 11,28 489 11,29 490, 497 12,7 493 12,18–21 323 12,28 476, 481, 482, 528–530, 546 12,30 557 12,39 558 15,1–20 493, 495, 498, 499 15,8.9 499 15,11 498 15,12 493 15,18 499 15,20 493 15,21–28 400 15,22 529 15,24 373, 476, 528, 664 17,20 531 18,1–5 498 18,7 550 18,21–35 498 18,21 f 204 18,22 29 18,23–25 97, 534 18,34 481 19,16–22 519 20,1–16 433 20,24–28 498, 524 20,28 498 20,30 493, 529 21,2 490 21,5 301, 490, 497 21,7 490 21,32 491 22,36–40 506, 601 22,39 527 23,3(f) 489, 493 23,4 489 23,5–15 493 23,6–11 524 23,12 494

23,13 484, 492 23,23 489, 493 23,24 489 23,25 f 493 23,28 492 23,35 493 23,37–39 58 24,3 537, 541 24,15 540 24,27 541 25,31–46 493, 496, 497 25,37 493 25,46 493 26,22 491 26,24 550 26,26 562 26,27 247, 562 26,28 400, 562, 637 26,39 460 26,52 494, 498, 518 26,54 494 27,3–10 399 27,12(f) 491, 498 27,19 492, 518 27,24 f 247, 399 27,25 518 27,40 491 27,42 f 491 27,43 491 27,54 400 28,17 546 28,18 491, 667 28,20 667 Markus 1,1 98, 487, 547, 629 1,11 323, 547 1,14 f 528, 629 1,15 95, 477, 519 1,20 243 2,1–11 481 2,5 97 2,10 97, 614. 619 2,17 96, 554 2,27 566 3,6 525 3,22 530 3,35 566 4,11–13 531 5,1–20 529 f, 531 5,1.2 529

719

720

Stellenregister

5,6 529 5,7 530 5,8 529 5,9(ff) 530, 540 5,11–13 529 5,14 530 5,15 530 5,17 530 5,18 529, 530 5,19 529, 530 5,20 529, 530 6,7–13 531 6,11 479 6,30–44 532 f 6,30–33 532 6,34 434, 529, 532, 554 6,37 532, 533 6,39–41 554 6,41 532 6,52 532 7,1–23 493 7,6–13 566 7,23 493 7,24–30 373, 400, 476, 528, 530, 664, 667 7,31–37 532 7,37 98 8,1–10 532 f 8,1 532, 554 8,2 529, 532 8,5 532 8,6 f 554 8,22–26 532 8,31 540, 548, 554, 558 8,34–9,1 555 8,34(f) 560, 566 8,35 560 8,38 548, 557 9,2 553 9,6 553 9,7 547 9,14–29 531 9,14–16 531 9,17–18 531 9,19 531, 532, 548 9,20–27 531 9,22 f 533 9,23 531, 533 9,24 531 9,26 f 531 9,28 f 531, 532

9,31 548, 554, 560 9, 32 522 9,33–37 522, 523 9,33 f 523 9,34 524 9,35 524 9,36 f 524 9,37 524 9,38–40 522, 523 9,41 523 9,42 523 9,43 522, 523 9,45 522, 523 9,47 f 522, 523 9,49 522, 523 9,50 500, 522 ff, 524, 668 10,1–22 566 10,2–9 566 10,17–22 433 10,28 ff 243 10,32 548 10,33 f 554 10,35–45 524 10,35–40 524, 525 10,38 f 525 10,41–45 498, 522, 524 ff, 668 10,45 498, 524, 576–578, 668 10,46–52 533 f 10,46 533 10,47(f) 493, 533 10,48 533 10,49 533 10,51 533 10,52 533 11,1–10 536 11,18 547 12,1–12 332 12,12 547 12,17 668 12,28–34 522, 528, 566 12,28–31 526 ff, 601, 669 12,28 528 12,29 526 12,30 566 12,32(f) 528, 650 12,33 526, 566 12,34 528 13 522, 529, 535–545 13,4 535, 537 13,5–23 542 13,5–13 542

Stellenregister 13,5–8 537 ff, 544 13,5.6 534, 536, 540–542, 544 13,7 535, 536, 539, 540, 543, 545 13,8 536, 537, 543, 545, 669 13,9–13 537 ff, 544 13,9 536, 541, 542, 669 13,10 536, 537, 539, 540 13,12 669 13,13 534–536, 542, 543 13,14–20 542, 669 13,14 539 13,17 543 13,18 539, 540 13,19(f) 534, 539, 540, 543 13,20 542 13,21–23 534, 542, 544 13,21 f 540 13,22 541, 522 13,23 534 13,24–27 534, 539, 540, 542, 621, 669 13,24(f) 542, 543 13,26 540 13,27 542 13,28–32 534 13,28.29 534, 543 13,30–32 534, 543 13,33–37 535, 543 14,1–42 552 14,1(f) 547, 552 14,5 558 14,10–11 547, 553 14,12–16 554, 561 14,17–21 547, 553, 561 14,20 553 14,21 306, 550, 557, 561 14,24 400, 553, 559, 561, 568, 574, 575, 629 14,25 561, 580 14,27–31 553 14,27 547, 548, 553, 561 14,28 552, 560, 561 14,29–31 561 14,29 553 14,30 556 14,31 553 14,32–15,41 555 14,32 553 14,33 553 14,34 553 14,36 110, 460, 553, 558 14,37 553

721

14,40 553 14,41 548, 553, 560 14,42 553 14,43–16,8 551, 552 14,43–52 552 14,43–46 547 14,43 547, 552 14,49 548 14,50 133 14,54 553 14,61(f) 554, 558, 559 14,62 542, 547, 548, 560, 614 14,65 558 14,66–72 553 14,67 556 14,69 556 14,71 556 14,72 556 15,1 556 15,2 498, 556 15,3–5 498 15,5 557–559 15,9 556 15,10 547 15,11 547 15,12 556 15,14(f) 556, 557 15,19 558 15,21–16,8 552 15,27 559 15,29–32 557, 559 15,33 557, 558 15,34 110, 552, 558, 559 15,35–37 557 15,38 542, 555, 557 15,39 400, 547 16,1–8 433 16,7 465, 544, 552, 556, 560, 606 16,8 530 16,16 439 Lukas 1,32.35 505 1,46–55 668 1,48 487 1,52–54 487 1,52 f 534 1,69 377 1,76 505 1,78 f 487 2,1–20 668

722

Stellenregister

2,7 487 2,8–14 487 2,10 f 487 2,14 487 2,25 487 2,29 487 2,30 142 4,16–21 486 4,18(f) 486, 487, 629 4,43 486 5,8–10 291 6,15 484 6,20–23 478 ff, 486 f 6,20 424, 486, 496 6,22 508 6,23 479, 480, 505, 602 6,24–26 478, 486, 506 6,27–36 478 ff, 502 ff 6,27–30 504, 668 6,27–29 504 6,27(f) 495, 503, 506, 507, 511, 513, 518, 559, 600 6,29(f) 350, 503, 506, 507, 511, 600 6,30 504, 507, 512, 513 6,31 503, 506, 507, 513 6,32–34 503–507 6,33 f 515 6,34 507 6,35 481, 482, 503–507, 509, 511–516, 600 6,36 504, 506, 507, 512–515, 517, 529, 668 6,40 524 6,47–49 488 7,9 476, 528 7,22 481, 487, 546 7,23 481 7,31 f 531 7,36–50 96 9,5 479, 487 9,6 487 9,46 524 9,51–56 630, 639, 668 9,59 f 243 9,62 60 10,12–15 58, 531 10,16 479 10,25–28 601 10,29–37 529 10,36 648

11,2 505 11,20 476, 481, 482, 528–530, 546 11,23 557 11,42 493 11,52 484 12,16–21 486 12,51–53 243, 523 12,51 481 13,34–35 58 14,34 f 523 15,11–32 433 16,13 582 16,16 483, 484, 486, 487 16,19–31 486, 633 16,19–26 534 16,27–31 534 17,1 550 17,5.6 531 17,20 487 18,9–14 96 18,14 494 18,18 527 18,58 493 19,9 554 19,10 96 21,9 536 21,12 536 21,16 537 21,20 540 21,22 539 21,25 f 542 22,16 561 22,17 580 22,18 561 22,19 563 22,20 579 22,22 550 22,24–26 498 22,24 524 22,42 460 22,53 548 23,33 f 559 23,34 96, 561, 574 23,43 96, 561, 23,46 110, 574 23,47 400 24,13–24 246 24,31 268, 546 24,36 485 24,50–53 108, 560

Stellenregister Johannes 3,17 562 6,1–13 532 6,51 576, 578 9,3 152 10,11.15 576 11,27 265 11,47–53 552 11,50 233, 576 11,51 f 576–578, 670 12,1–8 552 12,32 560 12,47 562 13,21–30 550, 552 13,36–38 552 13,37 576 14,31 552 15,1–8 572 15,13 525, 576 16,8–11 562 16,32 552 17,21 399 18,1–20,18 551, 552 18,1–11 552 18,14 576 18,36 f 491 19,26 f 233, 566 19,30 560 20,17 560 20,19 485 20,26 485 20,28 533 Apostelgeschichte 1,1–14 560 1,8 423, 476, 486, 528 1,13 484 2,23 f 550 2,36 550 2,38 551, 595 2,42–47 580, 670 2,42 581 2,45 581 2,46 480, 581 3,15 550, 551 3,17 551 4,10 550 4,13–22 110 5,29 110, 601 5,30 550 5,31 551

5,32 595 6,60 520 7,38 652 7,53 652 7,54–60 599 7,59 574 7,60 574 8,14–17 595 8,37 f 595 9,3 f 291 9,4–6.11 571 9,4 290 9,13 291 9,17(f) 291, 595 10,10 551 10,39–40 550 10,44–48 595 12,2 574 13,28–30 550 13,31 551 14,15 603 15,1.5 580 15,9–11 580 15,9 580 16,9 212 17,30 f 551 17,32 546 18,8 595 20,17–35 383 21,13 574 28,6 603 Römer 1–3 585 ff, 671 1,16 400, 423, 616 1,18 585, 671 1,21–32 198 1,21–23 585 1,21(ff) 548, 586 1,22 586 1,24–28(ff) 295 1,24 586, 598 1,25 585 1,26 586, 598 1,27 586 1,28 586, 598 1,29(f) 586, 592 1,30 586 1,31 586 1,32 586, 671 2,2 f 586

723

724

Stellenregister

2,4 585, 586, 671 2,5–10 586 2,6 590 2,9 586, 671 2,10 586 2,11 513 3,9–18 548, 587 3,21–26 590 3,21 587, 590 3,22–24(-28) 513, 585 3,22–23 587 3,22 587, 589 3,23 f 601 3,24–26 585, 671 3,24 585, 587–589, 596, 671 3,25(f) 563, 571, 587–592, 597, 598 3,26 366, 424 3,27 471 3,28 587 3,29 f 400, 587 3,30 588 4–7 590 ff, 671 4,4 587 4,9–13 108 4,23 f 590 4,25 359, 590, 598 5,1(f) 359, 590, 591, 596, 598, 671 5,2 588, 591, 592 5,3–5 592, 596 5,3 592 5,4 592 5,6 576, 577, 591 5,8–19 586 5,8(f) 576, 577, 591 5,9 576, 591, 592 5,10(f) 576, 591, 596 5,11 591 5,15 591 5,18 591 5,19 360 5,20(f) 599, 645, 671 6,3–6 402 6,3(f) 585, 593–596 6,4 586, 593, 594, 597, 667 6,5 594 6,6(f) 585, 593 6,8 594 6,9 f 584 6,10 f 595 6,11 584, 594

6,12–14 592, 596 6,12 594 6,15 594 6,23 591 7,12 597 7,14 597 7,20 594 7,23 594 7,24–25 584, 585, 594 7,24 35 7,25 591, 598 8 595 ff 8,14–17 594 8,18–25 345 8,3(f) 595–598 8,4 595 8,5–13 596 8,11 596 8,18 560 8,21 577 8,23–25 598 8,28 98 8,29 595, 596 8,31–39 585 8,32 575, 577, 579, 598 8,35 599 8,36 599 9–11 149, 287 9,2 f 149 9,4 295, 361 9,12 149 11,17 f 667 12–15 585, 599 ff, 671 12,1–8 599 f 12,1 599, 600 12,2 600 12,3–8 600 12,9–21 600 12,14 600 12,17 52, 600 12,18 21, 496, 500, 582, 596, 600, 670 12,19 583, 600 12,20 600 12,21 52, 471, 600, 643 13,1–7 600 f 13,1 f 600 13,8–10 601 13,10 601 13,11–14 601 13,11 592

Stellenregister 14,1–13 601 14,1 601 14,3 601 14,10–12 76 14,14–23 601 f 14,15 575 14,17(f) 477, 601 14,18 602 14,19 21, 500, 602 15,1–13 602 15,7 585, 602, 603 15,13 485 15,33 21 16,20 587 16,25 587 1.Korinther 1,23 546 1,24 400 1,25–29 283, 359 1,26 495 4,6–13 671 4,12 f 508 5,1–5 602 6,12–20 671 6,12 582, 601 8,7 f 582 9,19–23 582 10–11 670 10,16(f) 581, 598 10,19(f) 581 10,21 581 10,23–31 671 10,23(f) 582, 601, 670 10,27–30 582 10,28 f 582 10,30 f 582 10,32 582 10,33 582 11,18 583 11,19 583 11,23–26 562, 581, 583, 598 11,23 575 11,25 579 11,27 583 11,29 583 11,33 583 13,4–8 601 14,26 601 14,33 266, 470, 501, 600, 657 15,3–5 550, 575, 593

725

15,3 575, 577 15,26 464 15,29 575 2.Korinther 1,3 f 423 4,6 402 4,17 f 560 5,7 592, 394 5,10 76, 592 5,14(f) 575, 577, 578 5,17 400, 563, 572, 590, 591, 594, 609, 623, 667, 671 5,18–20 587 5,19(f) 369, 402, 571, 578, 592, 596 5,20 591, 592 5,21 356, 575, 577, 592 6,1 f 219 6,2 587, 590 6,3–10 592 8,24 589 11,14 602 12,6–10 508 12,9 548 12,15 575 13,11 21 Galater 1,4 575, 577, 579 1,8 f 603 1,15 339 2,4 f 580, 582 2,20 572, 575–577, 579 3,13 546, 575, 577 3,19 652 3,26–28 513 3,26 f 590, 671 3,28 437, 528 4,4 598 5,1 582 5,6 582 Epheser 1,13 134 2,11–18 593 2,11 f 593 2,14 593 2,16 593 2,17 f 593 5,1 f 576, 577

726

Stellenregister

5,25 577 6,10–17 594 6,11 594 6,12 594 6,15 594 Philipper 1,4 575 1,28 589 2,1–4 549 2,5–11 548 f 2,5(ff) 471, 549, 667 2,6–11 424, 548 f, 550, 598 2,7 595, 664 2,8 550 3,12–14 500 4,4 f 602 4,7 485 4,9 21 Kolosser 1,20 592 1,21–23 593 3,13 97 3,15 485 1.Thessalonicher 1,9 f 580 4,3 21 4,14 550 5,9 f 575, 577 5,13 500 5,15 500, 510 5,23 21 2.Thessalonicher 3,16 485 1.Timotheus 2,3 f 21 2,6 554, 576–578 5,23 485 Titus 2,14

577, 579

1.Petrus 1,5–7 529 1,6–8 480 2,21 577 3,8–11 603

3,8 f 600 3,9 52, 510, 643 3,12 603 3,15 f 643 3,18 577, 597 4,12–14 545 4,13(f) 480, 482 5,8 653 1.Johannes 1,7 580 2,2 577, 578 2,9–11 97 3,15 96 3,16 577 4,1 642 4,8.12.16 97 4,10 577, 578 4,16 664 Hebräer 2,2 652 2,9 577, 578 2,17 637 4,12 f 76 5,1 577, 578 6,20 577 7,23–28 366 7,27 574, 577, 578 9,7 577, 578 9,11 366 9,13 f 637 9,22 572, 637 10,1 574 10,6.8 597 10,12 577, 597 10,18 597 13,2 55 13,11 597 13,14 58 Jakobus 2,5 f 495 2,21–23 110 3,18 500 5,11 529 Offenbarung 1,1–19 607 1,1–3 606, 607, 609 1,3 642

Stellenregister 1,4–6 613 f 1,4 607, 611, 614 1,5–7 607 1,5(f) 607, 614, 637 1,6 613 1,7 632, 637 1,8 607, 611, 615 1,9 606, 610 1,10 623, 624 1,13 610 1,16 607, 616, 617 ff, 624 1,17 614 1,18 618 2,1–7 641 2,2 642 2,4 642 2,5 607 2,7 606, 643 2,8–11 641 2,8 607 2,9 f 606, 610, 642 2,10 606, 611, 622, 638 2,11 606, 643 2,12–17 641 2,12 607, 617 ff 2,13 642 2,14(f) 606, 642 2,16–29 643 2,16 607, 617 ff 2,17 606, 643 2,18–29 641 2,19 642 2,20 606, 642 2,21–23 642 2,21 607 2,23 607 2,24–25 642 2,26–28 607, 625, 626 2,26(f) 606, 619 2,28 619, 632, 637 3,1–6 641 3,1–2 642 3,2 607 3,3 607, 608 3,4 606, 642 3,5(f) 606, 643 3,7–13 641 3,8–10 642 3,10 606 3,11 607, 642 3,12(f) 606, 643

3,14–21 641 3,14 607, 613 3,15–17 642 3,18 606 3,19 607 3,21(f) 606, 607, 619, 643 4 607, 608 4,1–11 609 4,2 623, 624 4,8 607, 610, 611, 615 4,11 614, 616 5,1–11,15 608 5,6 632, 636 5,9(f) 609, 637 5,12(f) 610, 632, 637 5,13 614, 638 6,1–8 619 6,3 f 545 6,9–11 607, 618, 619, 627 6,10 520, 539, 619 6,11 622, 632 6,12–17 545, 623 6,16 f 621 7,1–3 610 7,1 635 7,2 621, 624, 635 7,4 ff 609 7,9 ff 609, 610 7,10 638 7,12 614 7,14–17 619, 621 7,14 606 7,15 617 7,16 f 616, 617 7,17 617 8,2 608 8,3–5 608 8,6 ff 608 8,13 608 9,1–3 623 9,3 623 9,4–6 520 9,4 539, 622, 623 9,5 623 9,12 608 9,20(f) 539, 607, 611 10,7 611 11,3 624, 626 11,5–7 639 11,5(f) 625, 631 11,6 624, 625

727

728

Stellenregister

11,7–10 639 11,7 631 11,11–14 632 11,11–12 639 11,14 608 11,15–18 607, 608 11,15 611, 614, 638 11,17 611, 615, 616 11,19 635 12,3–6 636 12,4 626 12,5 617 12,7–12 635 12,7(ff) 631 12,7–9 610, 626, 636 12,9 626 12,10–12 477 12,10(f) 611, 614–616, 619, 626, 636 12,11 631 12,12 608, 626, 628 12,17 615 12,18 608 13 601, 619 13,1–4 616 13,1 627 13,2 616, 626 13,4–7 626 13,4 626 13,5–7(f) 627 13,5 627 13,7 627, 631, 638 13,8 608, 632, 636, 638 13,9 608 13,10 606, 608, 610, 611, 638 13,11 627 13,12 627, 628 13,14 628 13,15–17 638 13,15 628 14,1–5 607 14,1 637 14,2 635 14,3 f 637 14,4(f) 639 14,6–12 610 14,6–7 608, 629, 638 14,6 638 14,8 608 14,9–12 539, 608, 623, 638 14,10 623

14,12 606, 638 14,13 464, 608, 628 14,14 ff 608 14,18 624 14,20 617 15,1–4 610 15,2 631 15,3 616, 629 15,4 609, 629, 638 16,2–21 539 16,5 611, 615 16,7 616 16,8 616, 623 16,9 607, 611, 623 16,11 607, 611 16,14 631 16,15 608 16,17 611, 615 16,18–18,8 630 16,18–23 615 16,18 539, 622, 635 16,19 630 16,20 622 17–19 58, 539 17,8 606, 614 17,9–19 625 17,9–14 632 17,9–11 638 17,9 625 17,11 614 17,12–14 614 17,12(f) 616 17,13 625 17,14 625, 631 17,15–17 616 17,17 625, 630 18,1–19 58 18,1 624 18,2 624 18,4–8 630 18,6(f) 516, 631, 639 18,8 639 18,20 608, 630, 632 18,21 630 19,1–8 607 19,1–6 536 19,1 632 19,3 632 19,6(f) 615, 632 19,9 f 607 19,10 619

Stellenregister 19,11–20,15 634 19,11–16 545, 608, 631 19,11–13 607 19,11 607 19,12 614 19,13 614 19,15 607, 617 ff, 622, 631 19,16 607, 622 19,17–21 631 19,17–18 608 19,19–21 608 19,20 636 19,21 607, 608, 617 ff, 633 20,1–10 605 20,1–6 627 20,2 626, 633, 634 20,3 632, 636 20,4 606, 622, 634 20,5 624 20,6 606, 624, 634 20,7–10 627 20,7(f) 631, 633, 634 20,8 636 20,9 634 20,10 626, 636 20,11–14 638 20,12(f) 607, 628 20,13 622, 634 20,14 464, 606, 632 21,1–22,5 606, 610, 634 21,1–8 609

21,1

729

542, 545, 609, 622, 623, 633, 634 21,2(f) 58, 611 21,3–5 401, 606 21,3 609, 632, 634 21,4 464, 610, 632, 634 21,5 609, 611, 623, 633 21,6 607, 611 21,7 606, 610, 634 21,8 606, 610, 611, 639 21,9 ff 634 21,22–27 606 21,22 615 f 21,24 609 21,25 610 21,26 609 21,27 610 22,1(ff) 634 22,2 606, 607, 609 22,3–5 606 22,5 610, 634 22,6–20 607, 609 22,9 606 22,12 606, 628 22,13 607, 611 22,14 606 22,15 606, 610, 639 22,16 606, 619 22,19 606 22,20 607 22,21 607