Vom wahrhaft Unendlichen: Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg [1 ed.] 9783666560279, 9783525560273


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Vom wahrhaft Unendlichen: Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg [1 ed.]
 9783666560279, 9783525560273

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Pannenberg-Studien

Band 2

Herausgegeben von Gunther Wenz

Gunther Wenz (Hg.)

Vom wahrhaft Unendlichen Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-56027-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunther Wenz Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gunther Wenz Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Friederike Nüssel Wolfhart Pannenbergs Descartes-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georgios Zigriadis Die Relevanz der Metaphysik und der philosophischen Gotteslehre für die Theologie. Die Kant-Rezeption Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . . . . . 105 Walter Dietz Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg. 20 Thesen zum Begriff des wahrhaft Unendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Malte Dominik Krüger Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie. Thesen zu ihrem Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Josef Schmidt SJ Wahre Unendlichkeit und Geheimnis – Hegel, Rahner, Pannenberg

. . . 163

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Inhalt

Harald Schöndorf SJ Der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis. Bemerkungen zu Friedrich Schleiermacher und Karl Rahner im Ausgang von Wolfhart Pannenberg . 169 Georg Sans SJ Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen? Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Godehard Brüntrup SJ/Ludwig Jaskolla Vom Unendlichen zum Panentheismus. Eine Antwort auf William L. Craigs Kritik an Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Thomas Oehl Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Tobias Müller Endlichkeit und Unendlichkeit. Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke bei Wolfhart Pannenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Thorsten A. Leppek Gott – Wahrheit – Wirklichkeit. Zu Metaphysischem in Pannenbergs Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Reinhard Leuze Gottes Unendlichkeit und seine Selbstbegrenzung. Bemerkungen zu einem schwierigen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Ekkehard Mühlenberg Der Konvergenzpunkt zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie bei Gregor von Nyssa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Felix Körner SJ Wir glauben und bekennen denselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise. Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie und im Denken Wolfhart Pannenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Gunther Wenz Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchener Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom SS 1969 . . . . . . . . 355

Inhalt

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Gunther Wenz Ich und das Absolute. Wolfgang Cramers philosophische Theologie im Kontext seiner transzendentalontologischen Subjektivitätstheorie . . . . . 379 Christoph Levin Predigt über Johannes 15,16. am 12. September 2014 im Gottesdienst zum Abschied von Wolfhart Pannenberg, Professor für Systematische Theologie, in der Universitätskirche St. Markus in München . . . . . . . . 443 Verzeichnis der Autoren

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Vorwort

Im Jahr 1959 erschien in der „Zeitschrift für Kirchengeschichte“ ein umfangreicher Aufsatz Wolfhart Pannenbergs über „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“; in dem programmatischen Text, der in den ersten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ aufgenommen worden ist1, wird die Rezeption philosophischer Elemente in den christlichen Gottesgedanken, wie die Apologeten sie im frühen Christentum vorgenommen hatten, ungleich positiver beurteilt als dies in der evangelischen Dogmengeschichtsschreibung auch unter namhaften Vertretern des Fachs üblicherweise der Fall war. Wenngleich im Einzelnen Kritik an der Durchführung des Unternehmens anzumelden sei, so bleibe der apologetische Ansatz doch bemerkenswert und in seiner Gültigkeit unwiderlegt. Die pauschale These von einer hellenistischen Überfremdung ursprünglichen Christentums wird entschieden zurückgewiesen. Die Aufnahme des im Hellenismus gepflegten Kulturerbes der Antike und namentlich der antiken Philosophie sei nicht nur unvermeidbar, sondern für die Mission des Christentums notwendig und förderlich geblieben, solange Glaube und Theologie ihre Kraft zur Umgestaltung und Verwandlung behielten, was der Fall gewesen sei, wenngleich in begrenztem Maße. Pannenberg kommt zu dem Schluss, dass die Aufgabe einer theologischen Rezeption der philosophischen Überlieferung insbesondere in der Gotteslehre bestehen bleibe, auch wenn sie nach ihrer kritischen Seite hin radikaler zu stellen und grundsätzlicher zu Ende zu führen sei, als es zur Zeit der Alten Kirche geschehen konnte. Unter dieser Bedingung sei es möglich, „die Kontinuität mit der altkirchlichen Theologie auch angesichts der modernen Krise der Metaphysik zu wahren und vielleicht sogar zur Überwindung der Krise, soweit sie den Gottesgedanken angeht, beizutragen. Es könnte ja sein, daß die Theologie heute,

1 W. Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 21971, 296–346.

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Vorwort

in der Weise einer kritischen Sichtung ihrer eigenen überlieferten Gotteslehre, das Erbe der Metaphysik mitzuverwalten hätte.“2 Die frühchristliche Theologie war philosophisch vor allem am Platonismus orientiert, bis später dann Aristoteles, den man freilich lange den Platonikern zugerechnet hatte, zur Hauptautorität in allen Fragen von Metaphysik und Ontotheologie wurde. In der Neuzeit schließlich avancierte Subjektivität zum Epochenindex, wofür im philosophiegeschichtlichen Kontext in der Regel auf Descartes und das cartesianische Cogito verwiesen wird. Wie Pannenberg diese Zuordnung beurteilt, wird zu prüfen sein. Vorerst genügt die Feststellung, dass Theologie unter den Bedingungen der Moderne3 ihre Aufgabe nur erfüllen kann, wenn sie die subjektivitätstheoretischen Bemühungen um eine philosophische „Grundlegung aus dem Ich“ (Dieter Henrich) gebührend berücksichtigt, die im Zusammenhang stehen mit der neuzeitspezifischen Wende von der Kosmologie zur Anthropologie. Theologie hat sich und dem öffentlichen Bewusstsein über die Relevanz der religiösen Thematik für das menschliche Selbstverständnis Rechenschaft zu geben und zu zeigen, dass Religion unveräußerlich zum Menschsein des Menschen gehört. In seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983, welcher der Herausgeber im Verein mit Hegels Philosophie des subjektiven Geistes demnächst eine eigene Studie widmen wird, hat Pannenberg den Beweis der Religion als eines anthropologischen Universale unter eingehender Berücksichtigung humanwissenschaftlicher Forschungen und auf der Basis moderner Religionsphilosophie zu erbringen versucht.4 Religion gehört konstitutiv und unveräu2 A. a. O., 346. 3 Vgl. dazu die Habilitationsschrift von Traugott Koch: Theologie unter den Bedingungen der Moderne. Wilhelm Herrmann, die „Religionsgeschichtliche Schule“ und die Genese der Theologie Rudolf Bultmanns. Referent war Wolfhart Pannenberg, Korreferent Jörg Baur. Die Erteilung der Lehrbefugnis von Seiten der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München ist auf den 11. Mai 1970 datiert. Diese Angaben bilden einen Nachtrag zur Liste der Erst- bzw. Zweitgutachten W. Pannenbergs bei Promotions- und Habilitationsverfahren von 1961–2005, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ (Pannenberg-Studien Bd. 1), Göttingen 2015, 263 ff. Nachzutragen ist ferner ein Hinweis auf die von Siegfried Hartmut Sunnus vorgelegte Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Referent und Korreferent waren auch in diesem Fall W. Pannenberg und J. Baur. Die mündliche Prüfung fand am 26. Juni 1970 statt. Teile der Arbeit „Die Säkularisierung der anthropologischen Ansätze J.G. Herders durch A. Gehlen“ sind unter dem Titel „Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J.G. Herder“ 1971 in Nürnberg im Druck erschienen. 4 In seiner Begrüßungsansprache anlässlich der ersten Pannenberg-Lecture an der Münchener Hochschule für Philosophie, die Prof. Dr. Kurt Kardinal Koch am 16. April 2015 zum Thema „Wie das Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinschaft begehen? Impulse aus dem theologischen Denken Wolfhart Pannenbergs“ gehalten hat, machte der Leiter des Instituts für

Vorwort

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ßerlich zur conditio humana. Davon war Pannenberg begründetermaßen überzeugt. Nichtsdestoweniger gab er wiederholt zu bedenken, dass eine religionsphilosophisch fundierte Theorie der Subjektivität nicht das einzige und auch nicht das primäre Paradigma theologischer Wissenschaft sein könne. Denn Theologie ist nicht nur Lehre von dem sich gegebenen Subjekt und seinen religiösen Auslegungsformen, sondern zugleich Lehre von der Welt, ohne welche das Ich unbeschadet seiner transmundanen Bestimmung keinen Bestand hat. Sie erschöpft sich aber in Kosmologie ebenso wenig wie in Anthropologie, da sie Wissenschaft vom fundierenden Grund von Selbst und Welt ist. Ihr Thema ist mithin in erster Linie demjenigen zu vergleichen, welches die Philosophie traditionell als Metaphysik, näherhin als Ontotheologie behandelt hat. Der Diagnose, philosophisches Denken sei mit der Moderne in ein nachmetaphysisches Zeitalter eingetreten, hat Pannenberg nie zugestimmt, sondern stets widersprochen. Nach seinem Urteil gehört es zum Wesen konsequenten Denkens, auf Letztbegründung angelegt zu sein. Ohne Metaphysik kann es eine Philosophie, die ihren Namen verdient, nicht geben. Notfalls müsse die Theologie selbst das metaphysisch-ontotheologische Erbe verwalten, obwohl ihre ureigene Aufgabe als christliche Wissenschaft von Gott darin bestehe, dessen in der Kraft des Heiligen Geistes erschlossene Selbstoffenbarung in Jesus Christus zu bedenken. Doch setze dies, damit es vernünftig geschehe, einen Bezug zu philosophischer Theologie voraus. Wie Pannenberg das Verhältnis von Metaphysik und Theologie im Einzelnen bestimmt hat, wird unter Bezug auf einen Schlüsselbegriff philosophischer Absolutheitstheorie im Eingangsbeitrag des Herausgebers erörtert. Es handelt sich dabei um die schriftliche Fassung eines öffentlichen Vortrags, der anlässlich der Religionsphilosophie der Philosophischen Fakultät SJ darauf aufmerksam, dass es sich bei seinem Fach um eine „vergleichsweise junge Disziplin“ handle, die aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte „einem zweifachen Verdacht ausgesetzt“ sei: „Von Seiten der Theologie als Offenbarungswissenschaft wird der Religionsphilosophie gerne unterstellt, sie vermeide die Festlegung auf ein konkretes Bekenntnis, während von Seiten der philosophischen Theologie der Vorwurf zu hören ist, statt mit Gott befasse sich die Religionsphilosophie lediglich mit dem frommen Bewusstsein des Menschen.“ Pater Prof. Dr. Georg Sans warnte – durchaus im Sinne Pannenbergs – davor, dieser „eher pessimistische(n) Sicht der Dinge“ zu folgen und empfahl stattdessen mit Blick auf die jüngere Geschichte der Disziplin „eine optimistischere Deutung“: „Die Religionsphilosophie bewegt sich geradezu an der Schnittstelle von Metaphysik und Theologie. Indem sie den religiösen Vollzug des Menschen zum Thema macht, stellt die Religionsphilosophie einerseits die Frage nach der metaphysischen Denkbarkeit Gottes als des Unbedingten oder Absoluten. Indem sie andererseits daran festhält, dass der in der Religion geglaubte Gott nicht einfach von Philosophen erdacht ist, bleibt sie Ansprechpartnerin der Theologie als Offenbarungswissenschaft.“ (G. Sans SJ, Das Institut für Religionsphilosophie an der Schnittstelle von Metaphysik, Religionsphilosophie und Theologie, in: G. Wenz [Hg.], Pannenberg-Lectures Heft 1: Prof. Dr. Kurt Kardinal Koch, Wie das Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinschaft begehen? Impulse aus dem theologischen Denken Wolfhart Pannenbergs, München 2015, 5–7)

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Vorwort

Akademischen Gedenkfeier der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München für Prof. Dr. Dres. h.c. Wolfhart Pannenberg D.D. (mult.) F.B.A. (2. 10. 1928–4. 9. 2014) am Abend des 2. 10. 2015 im Senatssaal der LMU gehalten wurde. Die nachfolgenden Texte dokumentieren mit Ausnahme dreier Beigaben die Referate eines Kolloquiums zum Thema, das am selben Tag auf Initiative der Evangelisch-Theologischen Fakultät und der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle der Münchner Hochschule für Philosophie unter Leitung des Herausgebers stattfand. Sie werden in der Reihenfolge wiedergegeben, in der sie beim Kolloquium vorgetragen wurden. Nachträgliche Versuche ihrer Systematisierung durch inhaltliche Zuordnung unterblieben; auch die formale Gestaltung war unter bestimmten Rahmenbedingungen und unter der Voraussetzung interner Stimmigkeit jedem Autor selbst überlassen. Angemerkt sei, dass Godehard Brüntrup SJ und Ludwig Jaskolla zwar gesonderte Referate vorgetragen, sich dann aber zu einer Gemeinschaftspublikation entschlossen haben. Zu bemerken ist ferner, dass Tobias Müller, Malte Dominik Krüger und Harald Schöndorf SJ ihre Texte bei Kolloquium nicht präsentieren konnten, aber dankenswerterweise für die Veröffentlichung nachgeliefert haben. Am 16. August 1952 fand eine denkwürdige Begegnung Pannenbergs und seines Kreises mit Martin Heidegger in dessen Schwarzwaldhütte statt. Die näheren Umstände der Einkehr, auf die zu Beginn des Eröffnungsbeitrags Bezug genommen wird, und ihre Folgen entfaltet die Studie „Ausfahrt Todtnauberg“, die beim Kolloquium schriftlich vorgelegt, aber aus Zeitgründen nicht vorgetragen wurde. Die folgenden Beiträge von Friederike Nüssel, Georgios Zigriadis, Walter Dietz und Malte Dominik Krüger thematisieren in unterschiedlicher Perspektive Pannenbergs Rezeption der Philosophien von René Descartes, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Hingewiesen sei, dass auf das weithin noch unerforschte Verhältnis von Pannenbergs Geschichtstheologie und Schellings Spätphilosophie auch Thomas Oehl in einem Appendix seines Beitrags detailliert eingeht. Ihre Fortsetzung finden die rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen in den Aufsätzen von Josef Schmidt SJ, Harald Schöndorf SJ und Georg Sans SJ, die ausgehend von Hegel oder von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher Bezüge zwischen Pannenberg und dem mit ihm in vielerlei Hinsicht verbundenen großen Jesuitentheologen Karl Rahner herstellen. Eine gemeinsame Antwort auf William L. Craigs Pannenbergkritik formulieren Godehard Brüntrup SJ und Ludwig Jaskolla. Von Thomas Oehl wird Pannenbergs gesamte Systemkonzeption unter dem Aspekt der mit dem späten Schelling zu behauptenden theologischen Insuffizienz des Begriffs erörtert. Damit ist ein entscheidender Gesichtspunkt zum Verständnis der Pannberg’schen Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Theologie benannt, die im Zentrum des Interesses auch der beiden Folgebeiträge von Tobias Müller und Thorsten A. Leppek steht; Leppeks Dissertation über

Vorwort

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Pannenbergs Wahrheitsverständnis wird demnächst erscheinen. Perspektiven spezieller Art erschließen die drei Schlussbeiträge des Kolloquiums: Reinhard Leuze bietet Bemerkungen zum schwierigen Verhältnis von Unendlichkeit und Selbstbegrenzung Gottes, Ekkehard Mühlenberg fragt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf den eingangs zitierten Programmaufsatz „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem in der frühchristlichen Theologie“ nach dem Konvergenzpunkt zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie bei Gregor von Nyssa und Felix Körner SJ stellt Erwägungen an zur Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie und im Denken Pannenbergs. Pannenbergs Metaphysikkonzeption und -rezeption steht in engster Verbindung zu seinem früh entwickelten Projekt einer „Theologie der Vernunft“, über das er seit Wintersemester 1963/64 mehrmals gelesen hat. Das unveröffentlichte Manuskript einer Münchener Vorlesung zum Thema vom Sommersemester 1969 wird in einem beigegebenen Text vorgestellt, der erstmals im Journal for the History of Modern Theology/Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 19 (2012), 269–292 publiziert worden ist und mit Zustimmung eines der Herausgeber, F.W. Graf, für die ich herzlich danke, aus gegebenem Anlass erneut zur Kenntnisnahme dargeboten wird. Eine weitere Beigabe ist der Absolutheitstheorie eines Philosophen gewidmet, auf den bereits in dem Beitrag von Tobias Müller Bezug genommen ist und der zu den großen Metaphysikern eines angeblich nachmetaphysischen Zeitalters gerechnet werden darf, obwohl sein Werk zumindest in der Theologie bisher ohne nachhaltige Wirkung geblieben ist. Auch Pannenberg hat kaum je darauf Bezug genommen. Dennoch dürfte es nicht schwerfallen, sachliche Berührungspunkte zwischen beiden Denkern zu erkennen, die für das Verhältnis von Metaphysik und Theologie insgesamt erhellend sind. Beschlossen wird der Sammelband mit einer Predigt, die Christoph Levin, der damalige Dekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU, am 12. September 2014 in der Universitätskirche St. Markus/München zum Abschied von Wolfhart Pannenberg gehalten hat. Frau Hilke Pannenberg sei das vorliegende Buch gewidmet; ihr und der von ihr gegründeten Hilke und Wolfhart Pannenberg-Stiftung ist für sehr vieles zu danken, unter anderem für einen Zuschuss zu den Druckkosten dieses Buches. München, 16. März 2016

Gunther Wenz

Gunther Wenz

Vom wahrhaft Unendlichen Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg

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Einkehr bei Heidegger: Onto-theo-logik

Im August des Jahres 1952, genauer: am Freitag, den 15.8., starteten vier aufstrebende Jungtheologen relativ früh am Morgen auf einer RT 125 und einer Zündapp 200 von Heidelberg aus in Richtung Schwarzwald. Um genau zu sein, muss man auch hier präzisieren und sagen: sie wollten starten; doch es kam zu Verzögerungen. Wolfhart Pannenberg hatte sich pünktlich um 7 Uhr am vereinbarten Treffpunkt bei Dietrich Rößler eingefunden. Rolf Rendtorff war mit einem geliehenen Motorrad bereits zugegen, und auch der vierte im Bunde, Klaus Koch, ließ nicht mehr lange auf sich warten, sondern kam bald auf seiner eigenen Maschine angefahren. Es hätte, wie Pannenberg in einem Brief vom 18. August 1952 an seine spätere Frau Hilke berichtete1, „losgehen können, wenn Rolf nicht an der geliehenen Maschine entdeckt hätte, daß der Tank lief. Bis der Verleiher den Tank gelötet (statt geschweißt) hatte, vergingen zwei Stunden.“ Damit nicht genug: Als die Crew, so Pannenberg weiter, dann dabei war, „endlich auf die Autobahn zu fahren, geriet Klaus Koch (bei dem ich hinten drauf saß) mit mir auf einen Ölstreifen“: man kam ins Schlingern und stürzte, doch glückli1 Für die Überlassung einer Kopie des Schreibens danke ich Frau Pannenberg sehr. Wolfhart Pannenberg und sein später nach ihm benannter Kreis suchten neben Heidegger auch zu anderen Gelehrten, die ihnen wichtig waren, engeren Kontakt, wie u. a. eine Bemerkung in den „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen belegt, die seine Enkelin, Ruth Slenczka, herausgegeben hat: „Ende des Semesters (24. VII. [sc. 1952]) wurden Rad und ich von einem kleinen studentischen Kreis eingeladen, um über die Fragen Rede und Antwort zu stehen, die hier im Laufe der gemeinsamen Arbeit aufgetaucht waren. Es war der sogenannte PannenbergKreis, der uns damals wie das Ideal einer studentischen Mit- und Zusammenarbeit erschien. Aber das konnte niemals ‚Durchschnitt‘ sein, und die Mitglieder sind heute, soviel ich weiß, sämtlich Professoren geworden: Pannenberg als der Führer, Rendtorff, Koch, Rößler und Wilckens.“ (R. Slenczka [Hg.], Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“. Autobiographie, Norderstedt 2005, 336)

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cherweise mit glimpflichen Folgen: außer, so Pannenberg, „ein paar Abschürfungen und einigen fundamentalen Löchern in meinem (freilich sowieso ausgedienten) grünen Anzug“ waren keine Schäden zu beklagen. Die Fahrt konnte fortgesetzt werden, und wurde in ihrem weiteren Verlauf nur noch kurz unterbrochen, nämlich als das Rendtorff ’sche Gerät beim Verlassen der Autobahn nahe Bruchsal seinen zweiten Defekt erlitt. „Die Kette sprang. … Nachdem wir alle Ölfinger bekommen hatten, langten wir kurz nach zwölf am Kloster Maulbronn an.“ Nach Besichtigung der Zisterzienserabtei, die seit 1565 als protestantische Klosterschule zur Vorbereitung auf das Studium der evangelischen Theologie diente (Hermann Hesse floh aus ihr nach nur siebenmonatigem Aufenthalt), und nach erfolgtem Verzehr von mitgebrachten Stullen, wie Pannenberg norddeutsch-berlinerisch zu schreiben pflegt, ging die Fahrt weiter über Pforzheim nach Alpirsbach, diesmal, wenn man so sagen darf, auf und nicht unter dem Rad. Pannenberg gefiel die im oberen Kinzigtal gelegene ehemalige Benediktinerabtei sehr, und er fand sie des rein romanischen Stils wegen weitaus schöner als Maulbronn. Während Rendtorff und Rößler in Alpirsbach noch eine Coca-Cola-Pause einlegten, fuhren Koch und sein Sozius einstweilen schon nach Trossingen voraus, um am Ortseingang verabredungsgemäß auf die beiden anderen zu warten, die aber nicht eintrafen. Grund: zweiter Kettendefekt, diesmal ein Riss. Gegen neun Uhr abends kamen die Nachzügler schließlich an und man fuhr nach einem Abendessen bei Bekannten von Koch „in strömendem Regen über Donaueschingen weiter nach Hinterzarten“, wo Ulrich Wilckens schon seit dem späten Nachmittag wartete und nun den völlig Aufgeweichten einen nächtlichen Nudelauflauf servierte. Die Hoffnung, häuslich untergebracht zu werden, erfüllte sich nicht; man verbrachte die Nacht auf einem „Strohlager bei einem Bauern“. Pannenberg fror nach eigenem Bekunden, da er nur über eine Decke verfügte.

16. August 1952 Der nächste Tag, Sonnabend, der 16. August, scheint eher gemütlich begonnen zu haben. Nach „ausgedehntem Frühstück“ sorgte der zum Küchenchef ernannte Pannenberg für den Proviant, wohingegen die anderen ein Grammophon reparierten. Der vom Chefkoch zubereitete „Reis mit Tomaten und sehr viel Zwiebeln“ fand als Mittagsmenü gute Abnahme. „Anschließend“, so Pannenberg, „eilten wir davon, über den Feldberg nach Todtnauberg, da wir zu vier bei Heidegger angemeldet waren.“ Doch aus Gründen, die in Anbetracht des bisherigen Reiseverlaufs nicht mehr überraschen werden, kommt es zu einer erneuten Verzögerung, „so daß“, ich zitiere, „wir uns mit einer Stunde Verspätung Hei-

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deggers Hütte näherten“2, die ihr Geheimnis in Gestalt des Seinshüters umgehend entbarg: „Wir wurden dort von einem kleinen, etwas beleibten Bauern empfangen, der sich als Martin Heidegger entpuppte, und mit Tee und vorzüglichem Gebäck bewirtet.“ Anschließend machte der Meister mit seinen Besuchern zum Zwecke peripatetischen Philosophierens, wie er scherzhaft sagte, einen ausgedehnten Spaziergang. „Menschlich“, resümiert Pannenberg, „war er einfach bezaubernd und von einer Unmittelbarkeit und Offenheit, wie ich sie selten an einem berühmten Manne gefunden habe, und wie sie mir nie als letzter Eindruck zurückgeblieben ist.“ Worüber die Schwarzwaldperipatetiker auf ihrem Spaziergang im Einzelnen gesprochen haben, lässt sich dem zitierten Pannenbergbrief nicht entnehmen. Vermerkt wird nur die erstaunliche Offenheit Heideggers „für unsere These der Identität von Philosophie + Theologie für den Glaubenden, obwohl er zuerst versucht hatte, beiden besondere Gebiete zuzuweisen“. Fazit: „Ich nahm von diesem Besuch einen tiefen menschlichen Eindruck einerseits und eine Bestätigung der Richtung meines Denkens andererseits mit.“ Nachdem Heidegger wieder in sein Heim zurückgebracht worden war, verbrachte man die Nacht am Lagerfeuer und im Zelt, um am nächsten Tag − statt in die Kirche zu gehen − auf den Feldberg zu steigen, auf dessen Gipfel die Mannschaft allerdings von einem starken Gewitter überrascht wurde, so dass es geraten schien, das Gelände Hals über Kopf zu verlassen, sich in Sicherheit zu bringen und „eine Runde Skat zu spielen“. Der Rest ist − lässt man die sorgsam aufgelisteten Speisepläne und Schallplattenkonzertprogramme beiseite − schnell erzählt: Erneute Übernach2 Pilgerwilligen sei der sechs Kilometer lange Martin-Heidegger-Rundweg empfohlen, der an des Denkers Todtnauberger Hütte vorbeiführt. Sie wurde auf Initiative von Heideggers Ehefrau gebaut, am 9. August 1922 bezogen und befindet sich bis heute in Familienbesitz; öffentlich zugänglich ist sie nicht. Als Wallfahrtsmotto möge der Vorspruch aus den „Holzwege(n)“ dienen, die zwei Jahre vor der Einkehr der Heidelberger erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden (Frankfurt a.M. 1950): „Holz lautet ein alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. / Sie heißen Holzwege. / Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur so. / Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein.“ Auch Heideggers Bruder Fritz hatte ein Bewusstsein davon. Was damit gemeint ist, kann man sich u. a. an dem bemerkenswerten Artikel von Luzia Braun verdeutlichen, der am 22. September 1989 anlässlich des 100. Geburtstags des Philosophen im Wochenmagazin DIE ZEIT veröffentlicht wurde. Der Titel lautet: „Da-Da-Da-Sein.“ Man lese zum Holzwegepräskript ferner, wie mir Joachim Ringleben empfahl, Adalbert Stifters Erzählung „Der Waldgänger“ und achte besonders auf „die Jäger, die Holzhauer und die Wildschützen“, die sich in unwegsamem Gelände auskennen und „die dunklen und einsamen Waldpfade gar wohl (wissen), die in mannigfachen Verschlingungen längs der Hänge hingehen, bis sie zu den verschiedenen offenen Stellen und den Besitzungen der Menschen hinaus führen“ (A. Stifter, Der Waldgänger, in: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Bd. 3,1: Erzählungen, Stuttgart 2002, 93–201, hier: 105 f.; vgl. D. Gunderson, Denken wie der Wald – von Stifter zu Heidegger. Untersuchungen zu Heideggers Denken, Frankfurt a.M. 1995).

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Gunther Wenz

tung im Hindelanger Heu, langsame Tour durchs Höllental, Besuch des Freiburger Münsters, schließlich „ermüdende Fahrt nach Heidelberg, wo wir, da“, man höre, „ein paar Reparaturen erforderlich wurden, erst gegen neun ankamen“. Um 21.45 Uhr beginnt Pannenberg die ersten Briefzeilen an die Freundin zu schreiben, ist aber zu müde, den Bericht zu Ende zu führen, was erst am nächsten Tag geschieht, nachdem der Autor „gründlich ausgeschlafen“ hatte. Der Kurzbesuch der Kerntruppe des Pannenbergkreises in Heideggers Todtnauberger Hütte hatte noch ein längeres Nachspiel. Die Jungheidelberger suchten den begonnenen philosophisch-theologischen Dialog mit dem Altmeister in schriftlicher Form fortzusetzen. Zu diesem Zweck konzipierte Pannenberg einen Brief, dessen Erstentwurf er nach einer Reihe z. T. recht detaillierter Kommentare von Seiten der theologischen Freunde in Einzelabschnitten umschrieb und mehrmals in eine neue Form brachte. Die Typoskripte befinden sich im Pannenberg-Nachlass des Archivs der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; in Auszügen wurden sie beim heutigen Kolloquium im Expertenkreis vorgestellt.3 Ob Heidegger ein Resultat und schriftliches Endprodukt des langwierigen Konsultationsprozesses je zu Gesicht bekommen hat, ist, wie Anfragen im Marbacher Nachlass des Philosophen ergaben, zweifelhaft. Aber selbst wenn der Brief niemals an seinen Adressaten gelangt sein sollte, stellt er doch samt seiner Genese ein eindrucksvolles Zeugnis für das geistige Format des damals knapp 24–jährigen Pannenberg und seiner Theologenfreunde dar. Mindestens drei Aspekte des Briefkonzepts verdienen eigens hervorgehoben und näher in Betracht gezogen zu werden, weil sie jedenfalls für Pannenbergs Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind: 1. Den philosophischen Abschied wenn nicht von der Metaphysik überhaupt, so doch von ihrer ontotheologischen Verfassung, wie ihn Heidegger propagierte, lässt sich Pannenberg nicht gefallen; schon 1952 plädiert er dezidiert für eine Wahrung bzw. Renaissance des metaphysischen Erbes der Philosophie unter Einschluss der philosophischen Theologie. 2. Wahrt und erneuert die Philosophie den traditionellen metaphysischen Gottesbegriff auch unter den − nicht zuletzt in erkenntnistheoretischer Hinsicht − gewandelten Bedingungen der Moderne, dann ist und bleibt sie ein unverzichtbarer Gesprächspartner der Theologie, insbesondere ihrer systematischen Disziplin, der Dogmatik. Dogmatische Gotteslehre kann ohne philosophische Bezugnahmen wissenschaftlich nicht angemessen betrieben werden. 3. Theologie und Philosophie haben ein gemeinsames Thema und sind darin eins, dass beide auf Letztbegründung ausgerichtet sind.

3 Vgl. G. Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, s. u. 71 ff.

Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg

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Theologie und Philosophie Auf die dritte These war die Zentralannahme gerichtet, welche die Heidelberger Jungtheologen Pannenberg zufolge bei ihrem Besuch Heidegger gegenüber vertreten hatten. Sie wäre, wie die Briefkonzepte in wünschenswerter Deutlichkeit zeigen, gründlich missverstanden, wenn man sie im Sinne unmittelbarer Gleichschaltung philosophischer und theologischer Gotteslehre oder einer unkritischen Anpassung der Theologie an philosophische Vorgaben deuten würde. Theologisch konstruktiv könnten diese nur in kritischer Weise und so rezipiert werden, wie es von der biblischen Tradition her möglich bzw. gefordert sei. „Gerade um diese kritische Rezeption und eine entsprechende Transformation des philosophischen Gottesgedankens durch die Theologie ist es Pannenberg zu tun, wenn er auf der grundlegenden Verbindung von Theologie und Philosophie und dem mit dem Gottesgedanken verknüpften Wahrheitsanspruch insistiert. Es geht bei ihm keineswegs − wie in der theologischen Zunft vielfach vermeint − um eine gleichsam geradlinige Adaption des philosophischen Gottesgedankens. Vielmehr versucht Pannenberg unter Aufnahme des Anspruchs der Philosophie auf die Wahrheit ihres Gottesbegriffs im kritischen Gegenzug dazu den Wahrheitsanspruch des biblischen Gottesgedankens zur Geltung zu bringen. Dies geschieht freilich nicht durch den Rückgriff auf die als unhinterfragbar vorauszusetzende Offenbarung. Ein solches Vorgehen würde nach Pannenberg den der Theologie mit dem ihr eigentümlichen Gegenstand − Gott − verbundenen Wahrheitsanspruch unterlaufen, der nicht durch offenbarungspositivistischen Rückzug bloß behauptet, sondern im vernünftigen Diskurs mit dem Wahrheitsanspruch der philosophischen Gotteslehre argumentativ zu entfalten sei, und zwar so, dass dabei das Spezifische des biblischen Gottesgedankens zum Zuge gebracht werde.“4 Um an die aufgezählten Topoi in der Reihenfolge ihrer Benennung noch einige Bemerkungen anzuschließen: Heidegger war nicht der einzige Philosoph, der unter den Bedingungen der Moderne das Ende der Metaphysik in ihrer traditionellen ontotheologischen Verfassung proklamierte; aber er hat es äußerst wirkungsmächtig und mit großem Nachdruck getan. Ein hervorragendes Beispiel hierfür bietet ein von Pannenberg intensiv studierter Vortrag zum Thema, der im Wintersemester 1956/57 anlässlich einer Seminarübung zu Hegels Logik konzipiert und bald darauf zusammen mit der Studie „Der Satz der Identität“ in dem Sammelband „Identität und Differenz“ erschienen ist.5 Heidegger erklärt es dort

4 Chr. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesgedanken bei Wolfhart Pannenberg, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke, Tübingen 2009, 319–337, hier: 321. 5 M. Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: ders., Identität und

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zum Grundgebrechen abendländischer Metaphysik seit ihren griechischen Anfängen, die Frage nach dem Sein des Seienden ursprungslogisch durch Verweis auf einen alles begründenden Grund, also onto-theo-logisch gedacht zu haben. Die ontotheologische Metaphysik, welche die Differenz von Sein selbst und Seiendem stillschweigend voraussetze, aber die vorausgesetzte Differenz als Differenz unbedacht lasse, sei „für das Denken fragwürdig geworden“6 und mit ihr der als sich selbst begründender Grund alles Begründeten gedachte Gottesbegriff. Daher müsse es vorgezogen werden, „im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen“7. Dieser Annahme hat Pannenberg entschieden widersprochen, exemplarisch in dem Einleitungsbeitrag „Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke“ des Sammelbandes „Metaphysik und Gottesgedanke“8, wo er zugleich eine Antwort auf die Heidegger’sche Frage nach dem Wesen der Metaphysik zu geben versucht.

Differenz (1957), Pfullingen 71982, 31–67; die angeführte siebte Auflage befindet sich in der Pannenberg-Bibliothek unter Nr. 02952. 6 A. a. O., 45. 7 Ebd. Heideggers Vorbehalte gegenüber der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik richten sich u. a. gegen den Gedanken der Unveränderlichkeit des wahrhaft Seienden. Mit dieser Kritik steht er, wie Pannenberg in „Metaphysik und Gottesgedanke“ (Göttingen 1988 = MuG) zeigt (vgl. MuG, 52 ff.), nicht alleine. Auch die programmatische Verbindung von „Sein und Zeit“, wie sie im Titel des bekanntesten Werkes Heideggers erfolgte, sei „keineswegs so neu“ (MuG, 56), wie Heidegger gemeint habe. Ausführungen zu Plotin (vgl. MuG, 57 f.) und zu Augustin (vgl. MuG, 58 ff.) sollen diesen Sachverhalt exemplifizieren und zugleich deutlich machen, dass der von beiden betonte Primat der Zukunft für das Zeitverständnis von Heidegger unter dem Einfluss Kants nur mehr in rudimentärer Gestalt zur Geltung gebracht worden sei. Kant habe die durch Augustin christlich umgebildete plotinische Zeitlehre insbesondere dadurch säkularisiert, dass er die für die Auffassung begrenzter Zeiteinheiten vorausgesetzte Einheit der Zeit nicht mehr durch die Einheit der Ewigkeit, sondern durch die Icheinheit transzendentaler Subjektivität habe bedingt sein lassen (vgl. MuG, 60 f.). Was für Kant das Transzendental-Ich sei für Heidegger das Dasein, dessen integre Identität und gewissenhafte Ganzheit sich im Vorlauf zur Zukunft des eigenen Todes konstituieren solle (vgl. MuG, 61 ff.). Pannenbergs kritische Auseinandersetzung mit Heidegger richtet sich vor allem gegen die Auffassung, dass die Antizipation des eigenen Todes die Bestimmung des Daseins und seine Erfüllung zum Vorschein bringe. „Wird das Dasein denn wirklich durch den Tod in seine Ganzheit gebracht? Wird nicht eher das Dasein im Tode abgebrochen, fragmentiert? Geht die mögliche Ganzheit des Daseins nicht immer hinaus über das, was der Tod aus ihm macht?“ (MuG, 62) Pannenberg sieht in Heideggers Denken eine im Verhältnis zu Kant noch einmal radikalisierte „Verselbständigung der Endlichkeit vom Unendlichen“ (ebd.) am Werke, der er mit der These entgegentritt: „Die mögliche Ganzheit des Daseins kann … nur als Teilhabe an der Ewigkeit bestimmt werden.“ (MuG, 62 f.) Ewigkeitspartizipation sei zugleich die Voraussetzung dafür, dass „in unserem Selbstbewußtsein das Ganze unseres Seins in jedem Augenblick gegenwärtig ist“ (MuG, 51), wenngleich im bewussten Leben nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, sondern in Antizipation der Zukunft Gottes, in welcher das Dasein des Menschen die Erfüllung seiner Bestimmung finde und alles Sein in sein Leben gelange. Im proleptischen Anwesen seiner Zukunft findet alles, was ist, seine Wahrheit. 8 W. Pannenberg, Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke, in: MuG, 7–19.

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Wesen der Metaphysik Was ist Metaphysik? Jedenfalls nichts, antwortet Pannenberg, was ohne den Gottesgedanken Bestand haben könne, der unveräußerlich zu ihrem Begriff gehöre. Bei dem deutschen Ausdruck „Metaphysik“ und dem lateinischen „metaphysica“ handelt es sich, wie unschwer zu erkennen, um Lehnwörter aus dem Griechischen. Der griechische Ursprungsbegriff soll nach traditioneller Auffassung aus der Wendung meta ta physika entstanden sein, die darauf verweist, dass Andronikos von Rhodos (der um 70 v. Chr. als einer seiner Schulhäupter auf der Grundlage der eben erst wiederentdeckten Lehrschriften des Meisters den Peripatos erneuerte und mit einer festen Unterrichtsform versah) in seinem Verzeichnis der Schriften des Aristoteles dessen Abhandlungen zur sog. Ersten Philosophie hinter die Bücher über die Natur eingeordnet hat. Seit der Spätantike ist die zunächst rein bibliothekarische Bezeichnung dann inhaltlich und im Sinne derjenigen Philosophie gedeutet worden, die das über die Natur Hinausgehende, sie Transzendierende thematisiert sowie nach den ersten und letzten Gründen alles dessen fragt, was ist. Traditionelle Metaphysik thematisiert als Ontologie das Seiende im Allgemeinen und fragt nach seinem Sein als solchem. Im Besonderen war damit immer schon die theologische Frage nach einem „ens“ gestellt, dass als Sein selbst allem Seienden sein Sein gibt, um es zu erhalten und derjenigen Bestimmung zuzuführen, die ihm gemäß ist. Angelegt ist das ontologische Wesen der Metaphysik bei Platon, der ihr ein ursprüngliches „Gepräge“9 und mit der Idee des Guten eine fundierende Basis gab. Systematisch expliziert wurde es durch Aristoteles: Seine „Bestimmungen der ‚ersten‘ Philosophie als Wissenschaft vom ‚Seienden als Seienden‘ und als ‚Theologie‘ geben die leitenden Gesichtspunkte für die Definitionen und Einteilungen der Metaphysik auch in der Neuzeit vor. Auch die Verbindung beider Bestimmungen im Gedanken einer ‚ersten Philosophie‘ als Lehre von der ersten Substanz, die zugleich Grund aller ihr untergeordneten Substanzen und damit auch alles an Substanzen Seienden ist, gehört zu den durch die nacharistotelische Tradition mannigfach modifizierten Vorgaben der neuzeitlichen Metaphysik. Ausgangspunkt ist also die Aristotelische Konzeption einer Theologie, die zugleich eine allgemeine Ontologie und als solche erste Philosophie unter dem späteren Namen ‚Metaphysik‘ ist.“10

9 J. Jantzen, Art. Metaphysik. I. Die Platonische Grundfigur der Metaphysik, in: TRE 22, 638– 644, hier: 639. 10 M. Baum, Art. Metaphysik II. Hochzeit, Krise, Vollendung des Systems vernünftiger Gedanken: rationale, kritische, spekulative Metaphysik, in: TRE 22, 645–653, hier: 645. Vgl. R. Enskart, Art. Metaphysik, in: RGG4 5, Sp. 1171–1176, bes. 1172.

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Weitaus jüngeren Datums als der Begriff der Metaphysik ist derjenige der Ontologie, der „erst seit der frühen Neuzeit gebraucht“11 und anfänglich „noch fast gleichbedeutend mit Metaphysik verwendet wird. In der anschließenden, besonders in der Wolffschen Philosophie werden jedoch die großen übersinnlich-metaphysischen Themen (Gott, Freiheit und Unsterblichkeit der Seele, Jenseits) als theologia naturalis, der als spezielle Bereiche der Metaphysik noch die psychologia (philos. Psychologie) und die cosmologia (Naturphilosophie) zur Seite stehen, von der metaphysica generalis oder ontologia als allgemeiner Lehre vom Seienden als solchem unterschieden. Es geht darin um die Grundbestimmungen des Seienden, die ihm als Seienden zukommen.“12 Was schließlich den Begriff des Ontotheologischen betrifft, um nach derjenigen von Metaphysik und Ontologie auch noch seine Terminologiegeschichte anzusprechen, so stammt er von Kant, der mit ihm neben Kosmologie und Psychologie den dritten und abschließenden Problemkontext jener Vernunftideen bezeichnete, von denen nach seinem Urteil nur ein regulativer und kein objektiver Gebrauch gemacht werden kann. Die Verwendung des Begriffs der Ontotheologie im Sinne von Onto-Theo-Logik, wie sie heute philosophisch gängig ist, hat Heidegger geprägt, der damit „die abendländische Metaphysik im ganzen“13 charakterisieren und kritisieren wollte. Noch einmal deshalb die Frage: „Was ist Metaphysik?“ In der rein buchtechnischen Bedeutung des Ausdrucks meta ta physika der, mit Heidegger zu reden, „Sammelname für diejenige Abhandlungen des Aristoteles, die den zur ‚Physik‘ gehörigen nachgeordnet sind“14, ansonsten aber „Titel für die Verlegenheit der Philosophie schlechthin“15. Beheben lasse sich die Elementarverlegenheit der Philosophie nur, wenn die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Metaphysik beantwortet werde. Dies sieht Pannenberg nicht anders, obwohl 11 J. Heinrichs, Art. Ontologie, in: TRE 25, 244–252, hier: 244. 12 A. a. O., 244 f. 13 H.-H. Gander, Art. Ontotheologie, in: RGG4 6, Sp. 568 f., hier: 568. Die Frage „Was ist Metaphysik?“ lässt sich, wie in der gleichnamigen Freiburger Antrittsvorlesung von 1929 ausgeführt, nach Heideggers Urteil nur aus der metaphysischen Grund- und Wesensfrage heraus beantworten, „die das Nichts selbst erzwingt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: ders., Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 9: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1976, 103–122, hier: 122) In einem Nachwort (1943) zur zitierten Schrift verbindet Heidegger die denkende Erfahrung des Nichts mit derjenigen des Seins selbst. Gefordert sei die Bereitschaft, in der ängstigenden Wahrnehmung des Nichts „die Weiträumigkeit dessen zu erfahren, was jedem Seienden die Gewähr gibt, zu sein. Das ist das Sein selbst.“ (Ders., Nachwort zu: „Was ist Metaphysik?“, in: a. a. O., 303–312, hier: 306. Zum Wesen der Metaphysik und zum Rückgang in ihren Grund vgl. ferner die Einleitung zu: „Was ist Metaphysik?“, in: a. a. O., 365–383.) 14 M. Heidegger, Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a.M. 1991, 6. 15 A. a. O., 8.

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sich seine Antwort von derjenigen Heideggers wesentlich unterscheidet. Sie lautet: Ihre metaphysische Verlegenheit, die sie nicht nur äußerlich, sondern die den Grund ihrer selbst betrifft, kann Philosophie nur beheben, wenn sie das religiöse Erbe ihrer Herkunft nicht negiert oder vergisst, sondern pflegt. Die von Heidegger attestierte Seinsvergessenheit könne ontologisch nicht anders überwunden werden als durch eine auch unter neuzeitlichen Bedingungen zu vollziehende Konzentration auf die traditionell metaphysikspezifischen Themen, von denen der Gottesgedanke der entscheidendste sei. Zwar gehörten Religionsund Theologiekritik durchaus zu den genuinen Aufgaben von Philosophie nachgerade in ihrer Gestalt als Metaphysik. Doch könne sie diese Kritik auf konstruktive und ihrem eigenen Begriff gemäße Weise nur erfüllen, wenn sie der Ausrichtung auf eine Bewusstseinsform eingedenk bleibe, die sie mit Religion und Theologie teile, nämlich die beschränkte Wahrnehmung endlicher Welterfahrung und die Schranken der Selbstwahrnehmung endlicher Subjekte auf das Unendliche hin zu transzendieren.

Metaphysische und theologische Gotteslehre Metaphysik darf nach Pannenberg von Gott nicht schweigen, sondern hat von ihm in der Weise philosophischer Theologie mit Bedacht zu reden. Ihre Grundthematik teile sie daher mit der Dogmatik als Systematischer Theologie. Beide Wissenschaftsdisziplinen ließen sich zwar voneinander unterscheiden, nicht aber trennen und sondern, wie Heidegger dies beizeiten und offenbar auch seinen Heidelberger Besuchern des Jahres 1952 vorgeschlagen hatte. Vielleicht am deutlichsten geäußert hat er sich zu dem von ihm explizit eher selten erörterten Problem einer Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie bereits in dem Text „Phänomenologie und Theologie“16 von 1927/28, wo er beide sorgsam voneinander zu separieren suchte. Theologie sei eine positive, an eine ihr vorgegebene Externprämisse gebundene Wissenschaft, nämlich die Reflexionsgestalt christlichen Offenbarungsglaubens, durch welchen sie primär begründet sei. Als nicht vernunftautonom, sondern durch Offenbarungsautorität begründete Glaubenswissenschaft habe sie mit Philosophie nicht nur relativ, sondern absolut nichts zu tun. Entsprechendes gelte für das Verhältnis der Philosophie zur Theologie, was durch Heideggers späteres Bestreben, wenn nicht der Metaphysik überhaupt, so doch ihrer onto-theo-

16 Ders., Phänomenologie und Theologie (1927/28), in: ders., Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970. Bd. 9: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1976, 45–78. Vgl. hierzu und zu dem Text über „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“ im Einzelnen meine Ausführungen in: Ausfahrt Todtnauberg, s. u. 71 ff.

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logischen Verfassung den definitiven philosophischen Abschied zu geben, in spezifischer Weise unterstrichen wird. Pannenberg widersetzte sich der Heidegger’schen Absicht, Philosophie und Theologie „nicht relativ, sondern absolut“17 zu scheiden, und zwar unter der vehement geltend gemachten Voraussetzung, dass Theologie ihrem Begriff und ihrer Bestimmung nach nicht Glaubenswissenschaft oder auf Autorität gegründete Offenbarungslehre, sondern Wissenschaft von Gott und daher thematisch untrennbar mit einer metaphysischen Philosophie verbunden sei, die Letztbegründungsfragen nicht systematisch ausblende. Theologie und Philosophie sind wechselseitig aneinander verwiesen, heißt es im Herbst 1952 zu Beginn von Pannenbergs Entwurf eines Briefes an Heidegger. Unbeschadet dessen wird in einem zweiten Gedankenschritt sogleich deutlich gemacht, dass christliche Theologie philosophische Gedanken über Gott, Menschheit und Welt nicht kritiklos übernehmen könne. „Sie kann nicht einer auch dem Nichtglaubenden zugänglichen Auslegung des Seins des Menschen und der Welt nur den Überbau von aus ihrer besonderen Offenbarungsquelle gewonnenen Aussagen über Gott hinzufügen.“ Die Gründe für diese Auffassung werden in den Folgeabschnitten des Schreibens ausführlich dargelegt mit dem Ergebnis, dass Theologie zwar einerseits philosophischer Sinnvergewisserung bedürfe, jeder präsumptiven Seinsgewissheit aber zugleich mit jener konstruktiven Kritik zu begegnen habe, wie sie sich aus dem Glauben an die in der Kraft des Heiligen Geistes erschlossene Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus ergebe. Das bringe sie zwar in eine Spannung, aber keineswegs notwendigerweise in einen Gegensatz zur Philosophie, die sich auch in der Lehre von Gott allein der Vernunft verpflichtet wisse und wissen solle. Als metaphysische Theologie werde sie zwar den Anspruch erheben, die Elementarbedingungen allgemeinverständlicher Rede von Gott und die Voraussetzungen zu formulieren, die erfüllt sein müssten, damit theologische Gottesrede ihren Sinngehalt nicht von vorneherein verfehle und ihm widerspreche. Philosophie müsse aber von ihrem Selbstverständnis her der Theologie keineswegs diktierend vorschreiben, was diese zu sagen habe, wenn sie von der göttlichen Offenbarung und der Erschließung des Sinngrundes alles Vernünftigen spreche. Bedarf nicht, fragt Pannenberg sinngemäß, zusammen mit Selbst und Welt auch die Vernunft eines offenbaren Grundes, um für sich erschlossen zu sein − und zwar als Vernunft?!

17 M. Heidegger, a. a. O., 48.

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Descartes’ Unendlichkeitsintuition: unthematisches Wissen von Gott

In Bayern hat vieles Merk- und Denkwürdige seinen Anfang genommen, u. a. die „völlig freie … Philosophie“18. So jedenfalls behauptet es Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in einer Anmerkung seiner „Münchener Vorlesungen zur Geschichte der Neueren Philosophie“, in der er schildert, „(w)ie Cartesius in Bayern zu philosophiren angefangen“19. Gedacht ist an den 10. November 1619. Auf diesen Tag datiert René Descartes in einem autobiographischen Rückblick den ersten − einem pietistischen Erweckungserlebnis vergleichbaren − Moment seines philosophischen Beginnens: „X. Novembris 1619, cum plenus forem Enthousiasmo, et mirabilis scientiae fundamenta reperirem …“20 Durch Auffindung der Fundamente welcher wunderbaren Wissenschaft Cartesius mit Enthusiasmus erfüllt wurde, geht aus der kurzen Notiz nicht hervor. „Vermutlich handelt es sich um eine erste Idee der Universalmathematik.“21 Offenbar fasste Descartes den Gedanken, „eine Algebraisierung der Wissenschaft und damit zugleich eine Abwendung von den an Merkmalen, Eigenschaften und Qualitäten orientierten Forschungen und TheorieEntwürfen gebe den Schlüssel zu einer einheitlichen und gewissen, von den Unsicherheiten der Erfahrung unabhängigen und allein aus dem Denken zu gründenden Systematik des Wissens = Systematik der Wirklichkeit“22. Die „Begründung aller Erkenntnisgewissheit in der Subjektivität“23 des in allem Zweifel unzweifelhaft um sich wissenden und seiner selbst gewissen Ich gehört in den unmittelbaren Zusammenhang dieser Entdeckung.

10. November 1619 Zugetragen haben soll sich das − von drei wundersamen Träumen in der Nacht vom 10. auf den 11. 11. 1619 begleitete24 − Erschließungsgeschehen in Neuburg an der Donau, worauf Schelling in seiner Münchener Philosophiegeschichtsvorle-

18 F.W.J. Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, Darmstadt 1975 (= Abt. I/10,1–200), 12 f. Anm. 1. 19 Ebd. 20 Oeuvres de Descartes, ed. Ch. Adam/P. Tannery, XI Bde., Paris 1897–1910; Neuaufl. 1964– 1967, hier: X, 179; vgl. A. Baillet, La vie de M. Des-Cartes, II Bde., Paris 1691; Neudruck Hildesheim/New York 1972, hier: I, 51 ff. 21 W. Röd, Descartes. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus, München 31982, 19. 22 H.H. Holz, Descartes, Frankfurt/New York 1994, 136. 23 A. a. O., 18. 24 Vgl. im Einzelnen W. Röd, a. a. O., 19 ff. Phantasievoll ausgemalt werden die Neuburger Ereignisse in dem schwülstigen, von B. Thill aus dem Französischen ins Deutsche übersetzten

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sung anspielt. Kurz nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges war Descartes als Offizier in den Dienst Herzogs Maximilian von Bayern und seines ligistischen Heeres getreten, nach Süddeutschland gezogen und mit Beginn der schlechten Jahreszeit ins Winterquartier eingerückt. Er nahm „Urlaub von der Truppe und mietete sich privat in oder in der Nähe von Neuburg an der Donau ein“25, wo ihm in gut geheizter Stube26 die zündende Idee kam, welche ihn über die Maßen enthusiasmierte und ins Träumen versetzte.27 Ob es sich bei seiner Begeisterung wirklich um ein punktuelles Geschehnis handelte, darf ebenso bezweifelt werden wie die Annahme, Martin Luther sei seine reformatorische Einsicht in einem Augenblick, nämlich im sog. Turmerlebnis aufgegangen. In Wahrheit wird man in beiden Fällen mit einem sich länger hinziehenden Erkenntnis- und Entwicklungsprozess zu rechnen haben, was indes nicht ausschließt, dass sich die lösende Einsicht wie ein plötzlicher Einfall ergab. Es ist zu einem Gemeinplatz der Ideengeschichte geworden, Descartes den „Vater der modernen Philosophie“28 zu nennen. Einen Beleg hierfür liefert kein Geringerer als Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie das Denken der Neuzeit mit Descartes beginnen lässt: „Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See ‚Land‘ rufen; Cartesius ist einer von den Menschen, die wieder mit allem von vorn angefangen haben; und mit ihm hebt die Bildung, das Denken der neueren Zeit an.“29 Epochemachend ist Descartes nach Hegel deshalb, weil nach Maßgabe seines Prinzips das Denken unter Zurücksetzung nicht nur dieser oder jener, sondern aller äußerlichen Autorität in sich geht, um allein von sich her zu beginnen: „was für etwas

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Roman von D. Davidenko, Ich denke, also bin ich. Descartes‘ ausschweifendes Leben, Frankfurt a. Main 1990, 124 ff. W. Röd, a. a. O., 18. Vgl. R. Descartes, Discours de la Méthode. Im Anhang: Brief an Picot. Adrien Baillet: Olympica. Französisch-Deutsch, Hamburg 2011, 20 ff.: Seconde Partie. Zweiter Abschnitt. Vgl. K. Flasch, Der Traum der Vernunft. Zum vierhundertsten Geburtstag von René Descartes, der Europa eine wunderbare neue Wissenschaft lehrte, in: FAZ 30. März 1996 (Nr. 77); Pannenberg hatte den Text in eine seiner Ausgaben der „Meditationes“ eingelegt. Vgl. H.-P. Schütt, Die Adoption des „Vaters der modernen Philosophie“. Studien zu einem Gemeinplatz der Ideengeschichte, Frankfurt a. Main 1998, bes. 49 ff.: Die Entdeckung des „eigentlichen Anfangs“. Descartes und die klassische deutsche Philosophie. Als Resümee ergibt sich: „Es bedurfte der im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzogenen Fixierung des disziplinären Selbstverständnisses der professionellen Philosophen auf das sogenannte Erkenntnisproblem als orientierendes Problem einer ‚eigentlichen‘ Philosophie, die sich sowohl ihrem Anspruch wie auch ihrer Methode nach als eine von den Einzelwissenschaften strikt unterschiedene Wissenschaft sui generis begreift, und darüber hinaus bedurfte es der retrospektiven Projektion dieses Erkenntnisproblems auf die Cartesische Philosophie, um der Erhebung Descartes’ zum ‚Vater der modernen Philosophie‘ jene überwältigende Plausibilität zu verschaffen, die sie offenbar hatte − und für Viele immer noch hat.“ (184) G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. 3 (TWA 20), Frankfurt a. Main 1971, 120.

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Festes gelten soll, muß sich bewähren durch das Denken.“30 Wie dies zu geschehen und welche Bedeutung die Zentralforderung des cartesianischen Rationalismus für die Themenbestände der Metaphysik hat, ist in den „Meditationes de prima philosophia in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur“ von 1641 programmatisch entfaltet. Die sechs Meditationen sind nicht nur für Descartes’ eigenes Denken, sondern auch für Wolfhart Pannenbergs Verständnis von Metaphysik und Ontotheologie von entscheidender Bedeutung, was inbesondere für die dritte Meditation zutrifft.31 „De omnibus dubitandum est“, lautet der Grundsatz der ersten Meditation. Alle äußeren Voraussetzungen des Denkens müssen aufgegeben und der Radikalität des Zweifels preisgegeben werden, damit das Denken – von allem, was es nicht selbst ist, abstrahierend – sich ganz in sich selbst versenke. Um zu sicherer und klarer Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, ist an allen Dingen, insbesondere an den materiellen, zu zweifeln, damit das Denken von den Sinnen abgelenkt und auf sich selbst bezogen werde. Wenn der Philosoph im Verein mit dem menschlichen Alltagsbewusstsein anfänglich der irrigen Meinung war, all jenes dürfe unmittelbar für wahr gehalten werden, was den Sinnen und ihrer Vermittlung zu verdanken sei, so hat er sich bald überzeugt, dass die Sinnlichkeit uns bisweilen täusche. Es sei insofern ein Gebot der Klugheit, den Sinnen niemals ganz zu trauen, sondern sie prinzipiellem Zweifel auszusetzen. Dieser Zweifel ist von grundsätzlicher Art insofern, als er die gesamte Sinnenwelt betrifft. Descartes versucht dies unter vielfältigen Aspekten zu erläutern, etwa im Hinblick auf die Tatsache, dass Wachsein und Träumen niemals durch absolut sichere Kennzeichen unterschieden werden könnten. Auch sei, um nur noch dieses zu nennen, nicht auszuschließen, dass ein ebenso böser wie allmächtiger Dämon bewirkt haben könnte, dass es überhaupt keine Erde, keinen Himmel, kein ausgedehntes Ding, keine Gestalt, keine Größe, keinen Gott gebe und dass dies alles genau so, wie es jetzt vorkomme, bloß da zu sein scheine. Aus diesen und anderen Gründen

30 Ebd. 31 In der in der Münchener Hochschule für Philosophie verwahrten Pannenberg-Bibliothek finden sich folgende Textausgaben: 1. Meditationes de prima philosophia. Curavit A. Buchenau, Leipzig 1913 (Nr. 01727). 2. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Übersetzt von A. Buchenau, Leipzig 1915 (Nr. 01726). Beigelegt sind drei doppelseitig beschriebene DIN A5–Blätter mit Aufzeichnungen aus einer Lehrveranstaltung Karl Löwiths zu Descartes, die Pannenberg im Jahr 1952 in Heidelberg besucht hat. 3. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwendungen und Erwiderungen. Übersetzt und hg. v. A. Buchenau, Hamburg 1965 (Nr. 01729). Neben den „Meditationes“ finden sich folgende Schriften: Die Prinzipien der Philosophie. Mit Anhang: Bemerkungen René Descartes‘ über ein gewisses in den Niederlanden gegen 1647 gedrucktes Programm. Übersetzt und erl. v. A. Buchenau, Hamburg 1965 (Nr. 01728). − Regulae ad directionem ingenii, Hamburg 1973 (Nr. 01725). − Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Übers. u. hg. v. L. Gäbe, Hamburg 1972 (Nr. 01724).

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sieht sich der Denker zu dem Zugeständnis genötigt, dass an allem, was er früher für wahr gehalten hat, zu zweifeln möglich und notwendig sei. Nachdem eingesehen ist, dass all dies nicht gewiss sei und nicht zweifelsfrei existiere, an dessen Dasein auch nur im Geringsten gezweifelt werden könne, gelangt die zweite Meditation zu der mit der ersten untrennbar verbundenen Einsicht, es sei unmöglich, dass das zweifelnde Denken im Vollzug seiner selbst nicht existiere. Die Existenzgewissheit zweifelnden Denkens ist ein unbezweifelbares, weil unmittelbares Implikat zweifelnden Denkens selbst. Alles kann und muss denkend bezweifelt werden; das Zweifeln selbst aber ist, indem es zweifelt, seiner selbst zweifellos und unbezweifelbar gewiss. Die Gewissheit rein selbstreferentiellen Denkens ist der zweite, den ersten fundierende Grundsatz cartesianischer Philosophie. Wie immer es um die Täuschungen der Sinnenwelt bestellt sein mag, jede noch so weitreichende Täuschung wird es nicht zustandebringen zu erweisen, dass ich nicht bin, so lange ich denke, dass ich etwas sei: „cogito, ergo sum“. Damit ist der Grundsatz ausgesprochen, aufgrund dessen Descartes wirkungsgeschichtlich zum „Vater der modernen Philosophie“ erklärt wurde. Im Denken und allein im Denken bin ich meiner Existenz gewiss. Denn das Denken ist es, das von mir ebenso wenig getrennt werden kann wie die Ichgewissheit meiner selbst von ihm. Ich bin, ich existiere, das ist gewiss. Wie lange aber? Nur, so lange ich denke. „Sed quid igitur sum? res cogitans; quid est hoc? nempe dubitans, intelligens, affirmans, negans, volens, nolens, imaginans quoque, et sentiens.“ Ich bin ein Denkwesen, ein Wesen, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das sich auch etwas bildlich vorstellt und empfindet. Zu ergänzen ist, dass der menschliche Geist als reine Substanz (pura substantia) zu gelten hat. Denn wenn auch alle seine zufälligen Bestimmungen wechseln, z. B. wenn er andere Dinge erkennt, anderes will, anderes fühlt usw., so wird darum doch nicht der Geist selbst ein anderer. Der menschliche Körper dagegen wird allein schon dadurch ein anderer, dass sich die Gestalt zumindest einiger seiner Teile ändert. Daraus zieht Descartes die Konsequenz, dass zwar der Körper sich verändert und leicht dahinschwindet, der Geist aber seiner Natur nach unsterblich ist.

Dritte Meditation Das erste der beiden selbst gesteckten Ziele der Descartes’schen Meditationen ist damit erreicht, nämlich einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zu geben, genauer und mit dem modifizierten Titel der unter des Autors eigener Aufsicht gedruckten Zweitausgabe gesagt: die substantielle Verschiedenheit des menschlichen Geistes vom Körper („animae humanae a corpore distinctio“) zu demonstrieren, aus der sich dann die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele ergibt. Den noch ausstehenden Beweis für das Dasein Gottes verspricht die dritte Meditation

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zu geben: „De deo, quod existat.“ Sie setzt mit einer erneuten Vergewisserung des bisher erreichten Ergebnisses ein. Ich bin gewiss, dass ich ein denkendes Wesen bin: „Sum certus me esse rem cogitandem.“ Täusche mich, wer es vermag, niemals wird er doch bewirken, dass ich nichts bin, solange ich mir bewusst bin, etwas zu sein. Diese Einsicht ist eine Erleuchtung, die durch das „lumen naturale“ unmittelbar gegeben wird. Alles, was das natürliche Licht mir zeigt, wie z. B. dass daraus, dass ich zweifle, folgt, dass ich bin, und dergleichen – das kann, sagt Descartes, keineswegs zweifelhaft sein. Nun ist es aber durch das „lumen naturale“ im Verein mit der Selbstgewissheit des Ich evident, dass eine Wirkursache mindestens ebenso sachhaltig sein muss, wie die Wirkung derselben, welche Einsicht für den Gottesbeweis von entscheidender Relevanz ist. Denn wenn der Bedeutungsgehalt irgendeiner meiner Vorstellungen als so groß veranschlagt werden muss, dass ich dessen gewiss bin, dass der entsprechende Sachgehalt weder in der gleichen noch in einer vollkommeneren Form in mir enthalten, dass folglich ich selbst nicht Ursache dieser Vorstellung sein kann, so ergibt sich daraus notwendig, dass ich nicht allein bin, sondern dass noch irgendetwas existiert, was die Ursache dieser Vorstellung ist. Was aber die Vorstellungen körperlicher Dinge betrifft, so kommt in ihnen erkenntlich nichts so Großes vor, was nicht aus mir selbst hätte hervorgebracht werden können. Anders stellt es sich im Hinblick auf die Gottesidee dar. Ausschließlich die „idea Dei“ ist eine Vorstellung von der Art, bei der ernsthaft zu erwägen ist, sie sei etwas, was nicht aus mir selbst hervorgegangen sein könnte. Um eine Wiederholung der Missverständnisse zu vermeiden, die sich an dieser Stelle in Bezug auf seinen „Discours de la Méthode“ von 1637 eingestellt hatten, räumt Descartes bereits in der Vorrede der Meditationen ein, dass das Wort „Vorstellung“ zweideutig sei, weil es entweder eine Tätigkeit meines Denkens und damit erkenntlich nichts Vollkommeneres als mich in meiner Ureigenschaft als Denker oder aber einen Bedeutungsgehalt bezeichne, der, obgleich im Denken wahrzunehmen, doch dieses und damit den Denker transzendiere, um ihm als Grund seines Denkens vorstellig zu werden und einzuleuchten. Allein in diesem Vorstellungssinne sei die Gottesidee aufzufassen, wie sie dem Denken gegeben sei. Mit der Gottesidee, sagt Descartes, ist dem Denken die Vorstellung eines vollkommenen Wesens gegeben, das vollkommener ist als das Ich der Menschenseele, welche im Denken ihrer Existenz gewiss ist. In der Gottesidee wird ein allervollkommenstes Wesen, ein „ens perfectissimum“ vorstellig. Warum ist das so, und wieso soll die Existenz dieses Wesens bewiesen werden können? Zur ersten Frage ist zu sagen, dass sich die Idee eines absolut vollkommenen Wesens mit der Erkenntnis der Unvollkommenheit des Ich verbindet, das im Denken seiner selbst gewiss ist. Das denkende Ich weiß sich, wenn es seiner gewiss ist, als nicht unmittelbar in sich, sondern in einem Anderen gründend. Dieses Andere kann nichts Sinnliches sein, weder ein Teil der kör-

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perlichen Welt noch deren Summe, weil Weltliches sowohl im Einzelnen als auch insgesamt Gegenstand des Zweifels zu werden und keinen beständigen Gewissheitsgrund zu geben vermag, wie ihn das Denken voraussetzt und voraussetzen muss. Einen die endliche Selbstgewissheit des denkenden Ich vollendenden Gewissheitsgrund kann nur die Idee eines vollkommensten Wesens geben, das Gott genannt wird. Die Idee der unendlichen Substanz ist dem im Denken seiner selbst gewissen Ich zu denken notwendig, weil dieses sich im Denken als endliche Substanz wahrnimmt. Die Notwendigkeit, die Gottesidee zu denken, geht nach Descartes aus der geklärten Selbstwahrnehmung und Einsicht des Ich in sich selbst hervor. Wie sollte ich begreifen, dass ich zweifle, dass ich etwas wünsche, d. h. dass mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Vorstellung von einem vollkommeneren Wesen in mir wäre, womit ich mich vergleiche und so meine Mängel erkenne? Mit dem Bewusstsein meiner selbst ist das Bewusstsein meiner Endlichkeit stets und alternativlos mitgesetzt, und ich erkenne ganz klar, dass ich von irgendeinem von mir verschiedenen Wesen abhänge, das Selbst und Welt transzendiert und, wenn es denn ist, ein „ens perfectissimum“ sein muss. Existiert ein solches allervollkommenstes Wesen, und lässt sich seine Existenz beweisen? Descartes bejaht diese Fragen, weil die denknotwendige Idee Gottes als bloß gedachte, also als Vorstellung, die kein Dasein in sich enthält, nicht die Idee des vollkommensten Wesens wäre. Denn ein vollkommenstes Wesen ohne Existenz ist kein „ens perfectissimum“. Die Idee Gottes ist also, wenn sie denn überhaupt gedacht wird, was zu vermeiden nach Descartes unmöglich ist, als die Idee des „ens perfectissimum“ zu denken, das existiert, weil es ohne zu existieren, nicht wäre, was es ist und als was es vom Denken gedacht werden muss. In Gott sind Wesen und Dasein eins, und Denken und Sein lassen sich theologisch nicht scheiden. Mit der Idee Gottes ist sonach zugleich der Beweis seiner Existenz gegeben und das Titelversprechen der „Meditationes“ vollständig eingelöst.32

32 Von den verbleibenden Meditationen ist ontotheologisch vor allem die fünfte bedeutsam, wo Cartesius nochmals über das Dasein Gottes handelt. Zu dem im Anschluss daran entwickelten, von Kant ontologisch genannten Gottesbeweis, den Einwänden des Caterus und der Replik Descartes’ vgl. etwa K. Cramer, Descartes antwortet Caterus. Gedanken zu Descartes’ Neubegründung des ontologischen Gottesbeweises, in: A. Kemmerling/H.-P. Schütt (Hg.), Descartes nachgedacht, Frankfurt a. Main 1996, 123–169. Ferner: J. Rohls, Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker, Gütersloh 1987, 195 ff. Einen systematischen Kommentar zu Descartes’ Meditationen hat jüngst G. Betz (Stuttgart 2011) geliefert; aus phänomenologischer Perspektive kommen sie bei F.-W. v. Herrmann in den Blick (Descartes’ Meditationen, Frankfurt a. Main 2011).

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Perceptio infiniti In der üblichen Philosophiegeschichtsschreibung wird René Descartes die Rolle des „Vaters der modernen Philosophie“ zugewiesen, weil er angeblich die Seinsgewissheit des Ich sowie das Ganze der Welterfahrung auf die Einheit des cogito zu gründen suchte und nicht auf den Gottesgedanken wie in der vorcartesianischen Metaphysik. Pannenberg erklärt diese konventionelle Sicht für irrtümlich und falsch. Erst Kant habe alles Selbst- und Welterfahrungswissen auf der Basis des Ich denke zu fundieren gesucht. Cartesius hingegen sei bleibend von der konstitutiven Bedeutung der Gottesidee für das Selbst- und Weltbewusstsein überzeugt gewesen und habe sie zur Grundlage der Einheit aller Gegenstandserfahrung erklärt. Als Beleg wird vor allem die dritte cartesianische Meditation angeführt, insbesondere die Stelle III,28, die Pannenberg wiederholt zitiert und der er, wie seine Handexemplare zeigen, immer wieder konzentrierte Aufmerksamkeit zugewandt hat: „Nec putare debeo me non percipere infinitum per veram ideam, sed tantum per negationem finiti …; nam contra manifeste intelligo plus realitatis esse in substantia infinita, quam in finita, ac proinde priorem quodammodo in me esse perceptionem infiniti quam finiti, hoc est Dei, quam mei ipsius …“ Descartes spricht an dieser Stelle Pannenberg zufolge klar und eindeutig „die Abhängigkeit der Erfassung irgendeines Endlichen von der Intuition des Unendlichen“ (MuG, 22; ferner etwa MuG, 74) aus, um zu zeigen, „daß dem menschlichen Geist von Natur aus die Gottesidee eingeprägt ist“ (MuG, 22). Dafür berufe er sich auf die Idee des Unendlichen. „Diese sei nicht etwa eine sekundäre Bildung unseres Denkens, die durch Negation aus der Idee des Endlichen abgeleitet wäre.“ (Ebd.) Richtig sei vielmehr das Gegenteil, nämlich dass jede Endlichkeitswahrnehmung die Idee des Unendlichen zur impliziten Voraussetzung habe.33 Wie in der Studie über „Das Problem des Absoluten“ in „Metaphysik und Gottesgedanke“ kommt der cartesianischen These, wonach die Idee des Unendlichen die „Bedingung der Erfassung irgendwelcher endlicher Gegenstände einschließlich des eigenen Ich“ (STh I, 127) sei, auch in den Ausführungen über eine notitia Dei insita des Menschen im ersten Band der „Systematischen 33 Vgl. Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 335: „Pannenbergs Interesse an Descartes liegt darin, dass dieser auf dem Boden der Icherfahrung den Gottesgedanken entwickelt, und zwar nicht als ein sich aus der Selbstwahrnehmung ergebendes Postulat des cogito. Vielmehr kommt Pannenberg alles darauf an, dass Descartes die Idee des Unendlichen als eine dem cogito immer schon vorausgesetzte Idee versteht, die den Horizont bildet, auf dem das Ich nicht nur sich selbst, sondern alles, was ist, ‚distincte‘ zu verstehen vermag. Das Ich nimmt mithin die Idee des Unendlichen immer schon in Anspruch, um Bestimmtes und so auch sich selbst erfassen zu können. Und diese Idee ist von der Art, dass sie nicht als aus dem Ich abgeleitet gedacht werden kann, sondern als sich von sich her im endlichen Bewusstsein manifestierend zu begreifen ist.“

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Theologie“ eine argumentative Schlüsselstellung zu. Weil „nur durch ein Einschränkung des Unendlichen irgendetwas Endliches gedacht werden kann“ (ebd.), ist der Idee des Unendlichen Priorität vor allen übrigen Inhalten des menschlichen Bewusstseins zuzuerkennen, ja auch das mit unzweifelhafter Gewissheit um sich und seine Existenz wissende Ich steht unter dem Vorrang der Unendlichkeitsidee. „Obwohl die Meditationen bei der Gewißheit des cogito einsetzen, hat diese Gewißheit ihren Grund doch nicht in sich selber, da die Vorstellung des eigenen Ich schon die des Unendlichen voraussetzt. Descartes hat also weniger subjektivistisch gedacht, als eine gängige Auffassung der Philosophiegeschichte will. Nur wenn wir den Gedanken des Ich als gegeben schon voraussetzen, gewährt das cogito die Gewißheit, die Descartes zum Ausgangspunkt seiner Meditationen gemacht hat. Er konnte das tun, weil in unserer faktischen Bewußtseinsverfassung, wenn wir zu philosophieren beginnen, das Selbstbewußtsein in der Tat vorausgesetzt ist. Der Gedanke des Ich ist jedoch keineswegs durch sich selbst gegeben, sondern er setzt seinerseits die Idee des Unendlichen voraus, ist selber eine Einschränkung des Unendlichen, wie das für alle anderen Vorstellungen von Endlichem ebenfalls gilt.“ (MuG, 22 f.) Trotz der hohen Bedeutung, die er ihr auch für seine eigene Metaphysikkonzeption zuerkannt hat, bleibt die in der dritten Meditation entwickelte Argumentation nach Pannenbergs Urteil in zweierlei Hinsicht problematisch, nämlich weil Descartes zum einen nicht hinreichend klargestellt habe, dass die allen endlichen Vorstellungen vorausgehende Idee des Unendlichen dem Menschen ursprünglich nicht als expliziter Gedanke, sondern als eine in allen Vorstellung vom Endlichen unthematisch mitgesetzte Intuition gegeben sei, wohingegen „seine Thematisierung nicht mehr allen endlichen Inhalten vorausgeht, sondern sogar den allgemeinen Begriff des Endlichen schon voraussetzt, indem der thematische Gedanke des Unendlichen nun tatsächlich die Form der Negation des Endlichen hat“ (MuG, 23). Als zweites Problem wird die allzu rasche „Identifizierung jenes quodammodo allen anderen Bewußtseinsinhalten vorausgehenden Bewußtseins vom Unendlichen mit dem Gottesgedanken“ (ebd.) benannt, womit allerdings nicht bestritten werden solle, dass „das in seinem vollen Sinne gedachte Unendliche“ (MuG, 24) faktisch mit Gott identisch sei, nur mit ihm identisch sein und nur von ihm in Wahrheit prädiziert werden könne. „Aber die allgemeine, verworrene und noch nicht einmal thematisch gewordene Idee des Unendlichen enthält das noch nicht ausdrücklich, und auch die Reflexion auf die Vollkommenheit, die in der als solche thematisierten Unendlichkeit enthalten ist, reicht dafür noch nicht aus, wenn nicht der Gottesgedanke schon anderweitig, nämlich aus der religiösen Überlieferung gegeben ist. Wenn das allerdings der Fall ist, dann läßt sich mit Recht behaupten, daß Unendlichkeit und höchste Vollkommenheit nur dem einen Gott zukommen können. Von daher kann dann auch gesagt werden, daß schon die verworrene Intuition des

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Unendlichen, die unthematisch allem menschlichen Bewußtsein zugrunde liegt, in Wahrheit ein Gewärtigsein Gottes ist, obwohl darin noch nicht ausdrücklich Gott als Gott gewußt wird.“ (MuG, 24 f.) Zu einem entsprechenden Ergebnis gelangt Pannenberg in den Ausführungen über „Die ‚natürliche‘ Kenntnis des Menschen von Gott“ im ersten Band seiner Systematischen Theologie: „Die Intuition des Unendlichen ist nicht als solche schon ein Gottesbewußtsein, mag ein solches auch für uns, die wir vom Standpunkt eines voll ausdifferenzierten Erfahrungswissens aus darauf reflektieren, darin enthalten scheinen.“ (STh I, 127) Ein entwickeltes Bewusstsein des Unendlichen und ein expliziter Gedanke Gottes als des mit dem wahrhaft Unendlichen Identischen wird „erst durch Negation der Schranke des Endlichen gewonnen und geht nicht schon aller Erfassung von Endlichem voraus“ (STh I, 128). Vorgängig vor aller Erfassung von Endlichem ist nur die „Intuition eines unbestimmt Unendlichen“ (STh I, 131), welche Pannenberg gelegentlich mit der Wendung „primordiale(s) Bewußtsein“ (ebd.; vgl. STh I, 129) 34 umschreibt.

Primordiales Bewusstsein Was Descartes in Bezug auf die „Grundsituation des erkennenden Bewußtseins“ (STh I, 127) als Intuition des Unendlichen und als unthematisches Wissen von Gott beschreibt, ist nach Pannenbergs Urteil Indiz eines Sachverhalts, der mitsamt dem Erkennen des Menschen für die conditio humana insgesamt elementar ist und die, wenn man so will, fundamentalanthropologische Basis von Metaphysik und Ontotheologie sowie dessen darstellt, was in der Dogmatik traditionell cognitio Dei innata bzw. insita genannt wird. Die Dogmatiker der altprotestantischen Orthodoxie lutherischer und reformierter Provenienz haben dem Menschen eine ihm ein- und angeborene, in seinem Wesen angelegte Kenntnis von Gott zugeschrieben und diese auf unterschiedliche Weise mit der cognitio Dei acquisita, also mit jener Gotteserkenntnis verbunden, die der Mensch im Laufe seiner Welt- und Selbsterfahrung auf mehr oder minder reflexive Weise erwirbt. Die Annahme einer gewissermaßen natürlichen Kenntnis des Menschen von Gott ist allerdings keineswegs reformationsspezifisch, sondern „der Theologie des christlichen Westens seit Tertullian geläufig und in der augustinischen Tradition der mittelalterlichen Theologie niemals verschwunden“ (STh I, 121). Als neutestamentlicher Zentralbeleg für ihre Richtigkeit fungiert in aller Regel Röm 1,19 f., wo es in Bezug auf den künftigen Zorn Gottes über die Ungerechten und Gottlosen heißt: „Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit 34 Zur Abgrenzung eines primordialen Bewusstseins von einem sog. religiösen Apriori, von einer bloßen menschlichen Disposition oder Anlage etc. vgl. STh I, 129 ff.

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Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar.“ Pannenberg greift die traditionelle Behauptung einer natürlichen Kenntnis des Menschen von Gott im Sinne einer cognitio innata rsp. insita konstruktiv auf und deutet sie als eine präreflexive Ursprungsintuition, der ein unthematischer Bezug auf das Sinnganze von Selbst und Welt innewohnt, in welchem Subjekt und Objekt wie im rudimentären Gefühl „noch ungeschieden ineinander liegen“ (STh I, 125). Man kann besagtes gefühlsmäßige Einssein mit dem noch nicht reflexiv differenzierten und sonach indifferenten Ganzen mit der frühkindlichen Einbettung in einen „symbiotischen Lebenszusammenhang“ (STh I, 127) assoziieren, der, wenn man so will, das originäre Indiz der Angewiesenheit des Menschen auf einen verlässlichen Grund von Selbst und Welt darstellt, dem er sich anvertrauen und an den er, mit Luther zu reden, sein Herz hängen kann. Dieser Grund ist dem menschlichen Dasein von Anbeginn präsent und gewärtig, wenngleich auf verborgene, hintergründige, unbestimmte Weise: „Erst mit dem Prozeß der kognitiven Entwicklung und Differenzierung werden mögliche Gegenstände des Vertrauens unterscheidbar, wird also auch eine Wahl zwischen ihnen möglich.“ (Ebd.) Analog verhält es sich in Bezug auf die Erkenntnis des Menschen vom unendlichen Grund alles endlichen Erkennens. Ein ausgebildetes Bewusstsein vom Unendlichen wird erst im Laufe der menschlichen Erfahrungsgeschichte durch Reflexion, bestimmte Negation und Transzendieren nicht nur des einzelnen Endlichen, sondern der Endlichkeit von Selbst und Welt überhaupt gewonnen. Indes kommt dieser Prozess nach Pannenberg zu keinem lebensgeschichtlichen Ende dergestalt, dass sich sagen ließe, das Unendliche sei definitiv zu Bewusstsein und abschließend auf den Begriff gebracht worden. Der Begriff des Unendlichen bleibt unter Endlichkeitsbedingungen proleptischer Vorgriff, das Bewusstsein selbst von antizipatorischer Vorläufigkeit mit der Folge, dass jede Behauptung, die sich mit der Idee der Unendlichkeit verbindet, gerade als Assertion hypothetischen Charakter trägt und behält. Damit scheint zugleich gesagt zu sein, dass im entwickelten Bewusstsein des Unendlichen dessen primordiale Gestalt nicht nur nicht überholt, sondern auch niemals völlig eingeholt ist, so dass in ihm das Anfangsmoment gefühlsmäßiger Intuition stets mitgesetzt ist, um es beständig zu begleiten.

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Ungeteiltes Daseinsgefühl Die Ganzheit des Daseins manifestiert sich im Leben des Menschen nach Pannenberg, soviel steht fest, „nicht primär in der Form eines Wissens“35, sondern im „Horizont des Gefühls“ (Anth. 236). Im Gefühl ist der Bezug zum Lebensganzen präsent, jedoch auf unthematische, präreflexive Weise. In dem Werk „Anthropologie in theologischer Perspektive“ ist dies im 6. Kapitel unter der Überschrift „Identität und Nichtidentität als Thema des affektiven Lebens“ im Einzelnen zur Darstellung gebracht. Spezifische Gestalt nimmt die gefühlte „Gegenwart eines den jeweiligen Moment übersteigenden Lebensganzen“ (Anth. 253) sodann vor allem im Schuldgefühl an. „Das Gefühl der Schuld, das das Bewußtsein der konkreten Verfehlung begleitet, ist ein unthematisches Wissen der eigenen Nichtidentität. Ist im Gefühl das Ganze des Daseins gegenwärtig, so ist es im Gefühl der Schuld, derer ich mir bewußt bin, gegenwärtig als das, wovon die Schuld mich trennt.“ (Anth., 286) Im letzten Abschnitt des zitierten Kapitels sucht Pannenberg zu rekonstruieren, wie das Schuldbewusstsein in Form des Gewissens zur Geburtsstätte des Selbstbewusstseins werden konnte. Syneidesis und conscientia bedeuten Mitwisserschaft. Auch wenn im Gewissensbegriff zunächst die Mitwisserschaft des Menschen bezüglich seines Unrechts und seiner Schuld im Vordergrund steht, so liegt die Ausweitung auf den allgemeinen Begriff des Wissens um sich selbst und damit des Selbstbewusstseins nahe, wobei noch einmal zu betonen ist, dass die primäre − primordiale − Form des Selbstbewusstseins nicht diejenige der Reflexion, sondern des Gefühls als eines unmittelbaren Vertrautseins mit sich selbst samt aller Welt darstellt, wobei zwischen Selbst und Welt gefühlsmäßig recht eigentlich noch gar nicht unterschieden werden kann. Das paradigmatische Beispiel für diesen Zustand stellt bei Pannenberg die symbiotische Verbundenheit des Kleinkindes mit der Mutter dar, woran sich Überlegungen zum menschlichen Urvertrauen, zum Zusammenhang von Vertrauen und Selbstidentifikation und zur Personalität anschließen, in der nach Pannenberg die „die Beschränktheit des jeweiligen Lebensmomentes unendlich übersteigende Ganzheit des Selbst … zur gegenwärtigen Erscheinung (kommt)“ (Anth., 228). Wer sich über diese Andeutungen hinaus im Detail kundig machen möchte, sei neben dem erwähnten sechsten Anthropologiekapitel auf den fünften Abschnitt des zweiten Kapitels von Band I der Systematischen Theologie verwiesen.

35 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anth.), 236.

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3.

Kants transzendentales cogito: Gottesbeweise und ihre Kritik

Die erste unter Anleitung von Wolfhart Pannenberg angefertigte Dissertation war dem Begriff der Unendlichkeit Gottes gewidmet.36 Ihr Verfasser, Ekkehard Mühlenberg, hat unlängst geäußert, der Unendlichkeitsgedanke sei für seinen Doktorvater nie von nur historischem, sondern stets auch von eminent systematischem Interesse gewesen. Er sei versucht zu sagen, dass dieser Gedanke den gesamten ersten Band der Pannenberg’schen Systematischen Theologie und namentlich die dort entwickelte Lehre von den Eigenschaften Gottes strukturiere: „zu einer sinnvollen und damit überhaupt sachgemäßen Aussage über Ewigkeit, Allgegenwart und Allmacht kommt Pannenberg dadurch, dass er diese Eigenschaften nach der Struktur des ‚wahren Unendlichen‘ expliziert.“37 Um Gehalt und Reichweite dieser These, die auf ähnliche Weise zuvor schon Chr. AxtPiscalar vertreten hatte38, zu erproben, sei die von Pannenberg namentlich mit Descartes und seiner dritten Meditation in Verbindung gebrachte Annahme, dass die Idee der Unendlichkeit Gottes jedem denkbaren Begriff von Selbst und Welt und allem zuvorkomme, was ein jedes Ich in Erfahrung zu bringen vermöge, mit der Auffassung Kants konfrontiert, der Pannenberg zufolge − anders als Cartesius − die einheitsstiftende Funktion für das ganze Erfahrungswissen dem transzendentalen cogito zugedacht hat.

Intuition und Reflexion Anhand von Kants transzendentaler Kritik der philosophischen Theologie traditioneller Metaphysik und insbesondere ihrer Beweise vom Dasein Gottes soll zum einen erhoben werden, welche physikotheologischen, kosmologischen bzw. ontologischen Argumente die überkommene theologia naturalis bzw. rationalis anführt, um die Idee des unendlichen Gottes nicht lediglich intuitiv, sondern reflexiv zu erfassen. Zum zweiten sind die Einwände samt ihren impliziten Prämissen zur Kenntnis zu geben, die Kant gegen die Schlüssigkeit besagter Existenzbeweise vorlegt. Endlich ist drittens die Frage zu erörtern, ob unter Kant’schen Bedingungen Metaphysik und philosophische Gotteslehre über36 E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, Göttingen 1966. 37 Ders., Zur Herkunft des Gedankens der Unendlichkeit Gottes, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, 141–175, hier: 143. 38 Sie weist dem Gedanken des „wahrhaft Unendlichen“ den Status einer Letztbestimmung für die Pannenberg’sche Gotteslehre zu und „damit für das Ganze der Systematischen Theologie, insofern diese alle Lehrstücke unter der Perspektive der göttlichen Wirklichkeit entfaltet“ (Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 327).

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haupt noch möglich sind. Eine Antwort wird am Beispiel von Hegels spekulativer Theorie des Absoluten und seinem Begriff des „wahrhaft Unendlichen“ erwogen. An Hegels Exempel wird ferner noch einmal und abschließend zu studieren sein, wie und warum Pannenberg bei aller Betonung ihrer sachlichen Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und Theologie präzise unterscheidet. Es gilt die hermeneutische Grundregel, dass sich philosophische Erhebung zum Unendlichen im Ausgang von und im Medium der Selbst- und Welterfahrung vollzieht, wohingegen das religiöse Bewusstsein und auf ihre Weise auch die Theologie in der Regel der göttlichen Wirklichkeit unmittelbare Priorität zuerkennen, um alle Realität von ihr her zu verstehen.39 Bei dem Unterschied dieser Vorgehensweise soll es und muss es nach Pannenberg im Interesse von Philosophie und Theologie bleiben. Doch ändere dies nichts an beider Hinordnung auf den fundierenden Grund von Selbst und Welt, den in unterschiedlicher Weise zu bedenken ihre gemeinsame Aufgabe sei. Philosophie ohne Metaphysik verfehle ihre Bestimmung und die Aufgabe, die ihr nicht nur von ihrer Tradition, sondern von ihrem Begriff her aufgegeben werde. Wie in der Philosophie kann nach Urteil Pannenbergs auch in der Theologie „die Absage an die Metapyhsik auf die Dauer nicht unwidersprochen bleiben“ (MuG, 8), da diese für ihren Anspruch auf Wirklichkeitsgeltung des Bezuges auf metaphysisches Denken bedürfe, insbesondere „weil das Reden von Gott auf einen Weltbegriff angewiesen ist, der nur durch metaphysische Reflexion zu sichern ist. Die christliche Theologie muss es daher wünschen und begrüßen, daß die Philosophie ihre große metaphysische Überlieferung wieder ernst nimmt als Aufgabe gegenwärtigen Denkens.“ (MuG, 9) Kants Metaphysikkritik und seine Kritik rationaler Theologie dürften dafür kein Hinderungsgrund sein. Im Zusammenhang der „Transzendentalen Dialektik“ seiner „Kritik der reinen Vernunft“, näherhin in der Lehre vom Ideal der reinen Vernunft40, unter39 Zu einer Annäherung an die Aufgabe, das Verhältnis von philosophischem und theologischem Gottesbegriff zu bestimmen, kann die Beobachtung verhelfen, dass im theologischen Sprachgebrauch das Wort „Gott“ vorzugsweise wie ein Eigenname verwendet wird, wohingegen die „philosophische Analyse von ‚Gott‘ als beschreibender Kennzeichnung spricht, sogar dann noch, wenn für ‚Gott‘ eine eigene ontologische Kategorie mit nur einem einzigen Anwendungsfall postuliert wird“ (W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. I, Göttingen 1988 [= STh I], 78). So bemerkenswert diese Beobachtung Pannenberg zufolge ist, so unstatthaft wäre es nach seinem Urteil, daraus die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit eines theologischen Verzichts auf die allgemeine Kennzeichnung zu folgern, die zur Eigenart des philosophischen Gebrauchs des Wortes „Gott“ gehört. Denn gerade in seiner Allgemeinheit fungiere der metaphysische Gottesbegriff als formale Möglichkeitsbedingung für die generelle Verständlichkeit der Rede von Gott. Damit überhaupt und im Prinzip von jedermann ungefähr gewusst werden könne, wovon die Rede sei, wenn von Gott gesprochen werde, bedürfe es unbeschadet des Grundsatzes „Deus non est in genere“ der Kategorie der Gottheit. 40 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe (mit Gegenüberstellung der erheblich von einander abweichenden Abschnitte), Hamburg 1956

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scheidet Immanuel Kant drei Arten, das Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft, wie er sagt, zu beweisen: „Der erste Beweis ist der physikotheologische, der zweite der kosmologische, der dritte der ontologische Beweis. Mehr gibt es ihrer nicht, und mehr kann es auch nicht geben.“ (B 619/A 591) Als Begründung wird vorausgeschickt, dass alle Wege, die Existenz Gottes vernünftig zu erschließen, auf drei mögliche reduziert werden könnten, deren Beginnen für die jeweilige Beweisart kennzeichnend sei.41 Sie „fangen entweder von der bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit unserer Sinnenwelt an, und steigen von ihr nach Gesetzen der Kausalität bis zur höchsten Ursache außer der Welt hinauf“ (B 618/A 590): dies ist die physikotheologische bzw. physikoteleologische Verfahrensart; „oder sie legen“, wie bei der kosmologischen der Fall, „nur unbestimmte Erfahrung, d. i. irgend ein Dasein, empirisch zu Grunde; oder sie abstrahieren endlich von aller Erfahrung, und schließen gänzlich a priori von bloßen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache.“ (Ebd.) Letzteres Schlussverfahren, auf das nach Kant auch dasjenige der beiden vorgenannten Beweisformen hinausläuft, verfolgt der sog. ontologische Gottesbeweis, dessen Prototyp auf Anselm von Canterbury zurückgeführt und deshalb auch ratio Anselmi genannt wird.

Ratio Anselmi Anselms theologische Methode ist mit der Wendung „fides quaerens intellectum“ programmatisch umschrieben. Danach ist es Ziel der Wissenschaft von Gott, die fundierende Basis des Glaubens vernünftig zu erweisen. Der Glaube scheut nicht das Licht der Vernunft, von deren Grund und Inbegriff er sich im Gegenteil im Innersten seiner selbst erleuchtet weiß. Zwar sind fides und ratio weder unmittelbar eins noch dazu bestimmt, ihren Unterschied zu negieren, um sich gegenseitig zu ersetzen. Vernunft ist das Andere des Glaubens, der Glaube das Andere der Vernunft. Das eine ist mit dem anderen nicht identisch. Und doch ist das eine nie ohne das andere. Dass Glaube und Vernunft ihrem innersten (PhB 37a).Vgl. im Einzelnen den Textkommentar von J. Ferrari, Das Ideal der reinen Vernunft (A 567/B 595–A642/B 670) in: G. Mohr/M. Willaschek (Hg.), Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1998, 491–523, bes. 502 ff. A = 1. Aufl. v. 1781, B = 2. Aufl. v. 1787. 41 In seiner Schrift „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ von 1763 (21770; 31783) zählt Kant zwei mögliche Gottesbeweise, den ontologischen und den kosmologischen, wobei er den zweiten auf den ersten zurückführt in der Absicht, das ontologische Argument kritisch-konstruktiv zu verbessern, um so den einzig möglichen Beweisgrund zu erheben, von dem der Titel spricht (Vgl. Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königl. Preußischen Akad. d. Wiss. Erste Abt. Zweiter Band: Vorkritische Schriften II. 1757–1777, Berlin 1912, 63–163). In der „Kritik der reinen Vernunft“ hat er den Versuch einer Erneuerung des ontologischen Arguments als aussichtslos aufgegeben.

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Wesen nach konvergieren und in einem kohärenten Zusammenhang stehen, wird Anselm zufolge am deutlichsten aus ihrer gemeinsamen Einsicht in dasjenige, worüber Höheres hinaus nicht gedacht werden kann. Der Glaube bekennt, dass Gott etwas ist, im Vergleich zu dem etwas Größeres zu denken unmöglich ist. Zugleich liegt es in der inneren Konsequenz des Denkens begründet, etwas zu denken, „quo nihil maius cogitari possit“42. Der Gedanke dessen, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist denknotwendig, sofern Denken Letztbegründung erstrebt. In diesem Streben trifft das Denken auf jenen fundierenden Grund, den der Glaube als seine Voraussetzung wahrnimmt: auf dasjenige, über das hinaus Größeres nicht gedacht werden kann und das mit Denknotwendigkeit gedacht werden muss. Die Pointe der sog. ratio Anselmi besteht in dem Schluss, dass das denknotwendig zu denkende „id quo maius cogitari nequit“ nicht nur nicht nicht, sondern auch nicht als nichtexistent gedacht werden kann. Als nichtexistent gedacht wäre nämlich das, worüber hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, nicht als dasjenige gedacht, als das es mit Denknotwendigkeit zu denken ist. Denn das lediglich in intellectu und nicht in re, also das bloß in Gedanken gedachte, aber nicht in Wirklichkeit existierende „id quo maius cogitari non potest“ würde seinem Begriff nach Anselm nicht nur nicht entsprechen, sondern widersprechen, sofern sich in Wahrheit Höheres denken ließe, nämlich das nicht nur in intellectu, sondern zugleich in re gegebene „id quo nihil maius cogitari potest“. Wird „id quo maius cogitari non potest“ gedacht, was um der inneren Konsequenz des Denkens willen notwendig geschehen muss, dann kann es nicht als nichtexistent, sondern muss mit Denknotwendigkeit als existierend gedacht werden. Der Glaube findet in dieser rationalen Argumentation die Bestätigung dessen, was ihm gewiss ist: „Sic ergo vere es, Domine, Deus meus, ut nec cogitari possis non esse.“ (Prosl. III) So wahrhaft wirklich existiert Gott, der seinem Begriff nach als dasjenige zu denken ist, worüber hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, dass seine Nichtexistenz prinzipiell nicht gedacht werden kann. Die Existenz Gottes ist ein notwendiges Implikat seines höchst vollkommenen Wesens, das gemäß seinem Begriff, den zu denken dem Denken notwendig ist, alle positiven Bestimmungen des Möglichen und des Wirklichen in sich vereint. Da Existenz als eine der Vollkommenheiten zu gelten hat, die im Begriff des vollkommensten Wesens enthalten sind, ist Gott zweifelsfrei existent. In den Kapiteln 2–4 von Anselms „Proslogion“ wird dies im Einzelnen dargelegt, wobei das

42 Anselm von Canterbury, Proslogion. Lat.-deutsche Ausgabe v. F.S. Schmitt O.S.B., StuttgartBad Cannstatt 1962, Cap. II. Prosl. II enthält auch die im Folgenden benutzten Varianten der Wendung.

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theologische Gespräch stets mitzuberücksichtigen ist, das die Seele im „Monologion“ mit sich selbst über Gott und die Welt führt.43

Quinque viae Andere Wege als Anselm von Canterbury, dessen ontologisches Argument er ausdrücklich ablehnt, schlägt Thomas von Aquin ein. Während Anselm in platonisch-augustinischer Tradition den tiefsten Beweisgrund für das Dasein Gottes in dem denknotwendigen Begriff des Absoluten sucht, argumentiert Thomas im Anschluss an Aristoteles grundsätzlich erfahrungsbezogen und wählt ein kosmologisches bzw. physikotheologisches Verfahren. Der erste und gangbarste bzw. beweiskräftigste der fünf Wege, auf denen sich nach Maßgabe der „Summa Theologiae“ (I q. 2, a.3) das Dasein Gottes beweisen lässt, ist derjenige, der von der Bewegung seinen Ausgang nimmt (ex parte motus). Da nämlich alles, was innerweltlich bewegt ist, nach Maßgabe sinnlicher Gewissheit eines Bewegenden bedarf, welches Bewegende das Bewegte nicht unmittelbar selbst sein kann, und da es fernerhin unmöglich ist, in der Bewegungsreihe ins Unendliche fortzuschreiten, weil es dann wie kein anfängliches Bewegen, so überhaupt keine Bewegung gäbe, ist es notwendig, zu einem Erstbewegenden zu gelangen, das von keinem bewegt wird (necesse est devenire ad aliquod primum movens, quod a nullo movetur). Unter diesem – von keinem bewegten – Erstbewegenden wird nach Thomas allgemein Gott verstanden: „hoc omnes intelligunt Deum.“ Der dem kinesiologischen analoge zweite Beweisgang, der Kausalitätsbeweis, verläuft ex parte causae efficientis, d. h. er verfolgt den Weg von Ursache und Wirkung, deren sinnlich evidente Reihung zum einen die Möglichkeit der Selbstverursachung nicht zulässt, zum anderen sich nicht in infinitum erstrecken kann, weil sonst von einer Verlaufsfolge von Ursache und Wirkung überhaupt 43 Anselm von Canterbury, Monologion. Lat.-deutsche Ausgabe v. F.S. Schmitt O.S.B., StuttgartBad Cannstatt 1964. Das Selbstgespräch des „Monologion“, das gemäß seinem ursprünglichen Titel ein Beispiel gibt, wie man über den Grund des Glaubens nachsinnt (exemplum meditandi de ratione fidei) wurde im Jahr 1076 vollendet, das in Form einer Anrede konzipierte „Proslogion“ wenig später, etwa um 1077/78. Es dient wie die vorhergehende Schrift dem Glauben, der die Einsicht sucht („fides quaerens intellectum“). Die Untersuchungen, die nicht nur vom Dasein Gottes, sondern auch von Gottes Wesen und Eigenschaften sowie von der göttlichen Trinität handeln, sind signifikanterweise in Gebetsform gefasst. Diese Form ist dem Inhalt nicht äußerlich. Gebet und gedankliche Spekulation sind wie in den „Confessiones“ Augustins, nach dessen Vorbild das „Proslogion“ gestaltet ist, untrennbar verbunden und ineinander verwoben. Dennoch beansprucht Anselm, den Beweis des Daseins Gottes ohne vorausgesetzte Glaubensprämissen geben zu können. Er setzt das Dasein Gottes, von dem er ausgeht, nicht als offenbarungsgegebenes Faktum voraus, sondern orientiert sich an dem als denknotwendig beurteilten Gedanken dessen, über das hinaus man nichts Größeres denken kann.

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nicht die Rede sein könnte; daraus ergibt sich nach Thomas notwendig die Annahme einer ersten Wirkursache (est necesse ponere aliquam causam efficientem primam). Sie wird von allen Gott genannt: „quam omnes Deum nominant.“ Vom Möglichen und Notwendigen (ex possibli et necessario) nimmt sodann der dritte Weg, der Kontingenzbeweis, seinen Ausgang: Wäre alles, was ist, kontingent, will heißen: in dem Possibilitätsstatus, zu sein oder nicht zu sein, wäre nicht mehr verständlich, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, da alles bloß Mögliche keinen ursprünglichen Bestand hat. Da aber sinnenfällig ist, dass etwas ist und nicht nichts, können die possibilia, welche die Notwendigkeit ihres Seins nicht unmittelbar in sich tragen, sondern von anderswoher empfangen, nicht den Inbegriff des Seienden ausmachen; es ist vielmehr mit Notwendigkeit auf etwas zu schließen, das durch sich notwendig ist, ohne die Ursache der Notwendigkeit anderswoher zu haben, und das für anderes die Ursache der Notwendigkeit darstellt (necesse est ponere aliquid quod sit per se necessarium, non habens causam necessitatis aliunde, sed quod est causa necessitatis aliis). Dies allein durch sich selbst Notwendige nennen alle Gott: „quod omnes dicunt Deum.“ Der vierte Beweis folgt den Stufungen (ex gradibus), welche man in den Dingen entdeckt. In der approximativen Konsequenz eines Mehr oder Weniger an Güte, Wahrheit und Adel in den vorhandenen Entitäten, welches nach den Grundsätzen der klassischen Metaphysik zugleich als magis et minus an Sein zu gelten hat, gelangt der Stufenbeweis zu einem nicht mehr zu steigernden und sonach höchst vollkommenen Sein, das allem Seienden sein Sein gibt (est aliquid quod omnibus entibus est causa esse, et bonitatis, et cuiuslibet perfectionis). Dieses höchst vollkommene Sein pflegt man Gott zu nennen: „hoc dicimus Deum.“ Der fünfte und letzte Gottesbeweis des Thomas − nach Kant derjenige der physikotheologischen Art − ergibt sich ex gubernatione rerum, nämlich aus der Tatsache, dass natürliche Körper, die an sich selbst ohne Erkenntnis und daher zu keiner intentionalen Handlung fähig sind, um eines Zweckes willen, also zielgerichtet-final operieren, was nicht zufällig sein kann, sondern auf eine planvoll-teleologische Absicht schließen lässt; es gibt also ein Vernünftiges, von dem aus alle Naturdinge zu einem Ziel hingeordnet werden (est aliquid intelligens, a quo omnes res naturales ordinantur ad finem). Diese lenkende Vernunft nennen wir Gott: „et hoc dicimus Deum.“ Bleibt hinzuzufügen, dass „Gott“ als actus purus, ens a se bzw. ens necessarium, perfectissimum et sapientissimum mit Notwendigkeit einer ist und zwar im Sinne unzusammengesetzter Einfachheit sowie singulärer, jeder Zahl und Zählung überlegener Einzigkeit, so dass es kategorisch verboten ist, das göttliche Sein und Wesen einem Allgemeinbegriff zu subsumieren wie Arten ihrer Gattung: „Deus non est in genere sicut species.“ (I q. 3, a.5) Ein und demselben nach ist Gott Gott und dieser Gott (I q. 11, a.3: „Secundum igitur idem est Deus, et hic Deus.“). Gott ist seine Gottheit, denn sein Sein ist sein Wesen in einfacher und

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einziger Einheit. Die Unmöglichkeit einer polytheistischen Theologie ergibt sich daraus unmittelbar. Zugleich widerspricht die Annahme mehrerer Götter nach Thomas der Tatsache geordneter Vielheit in der Welt, die auf eine vorgegebene einfache und einzige Einheit verweist, was jedweden Polytheismus als un-, ja widervernünftig ausschließt. Was nämlich verschieden ist, käme nicht zu einer Ordnung zusammen, wenn es nicht von Einem geordnet würde, welches in sich eins und einzig ist. Darum haben nach Thomas – sozusagen von der Wahrheit selbst gezwungen – auch die heidnischen Philosophen eine einfache und einzige Ureinheit vorausgesetzt, wenn sie einen gründenden Grund des Kosmos und alles Seienden in der Welt in Anschlag brachten.

Philosophische Kritik rationaler Theologie Sind die Vernunftargumente des Anselm schlüssig und die Beweisgründe, die Thomas für das Dasein Gottes anführt, rational überzeugend? Spätestens seit Kant ist dies prinzipiell bestritten worden. Kants Kritik richtet sich nicht nur gegen die zielführende Gangbarkeit der fünf Wege des Thomas und gegen die vernünftige Plausibliltät der ratio Anselmi, sondern gegen alle Formen von Gottesbeweisen. Was die Physikotheologie und ihr Beweisverfahren anbelangt, welches von einer in der natürlichen Welt zu beobachtenden Zweckordnung auf das Dasein einer Ursache schließt, die der als zweckmäßig zu beurteilenden Einrichtung der Natur proportioniert ist, so erkennt ihnen Kant zwar ein relatives Recht zu, insofern sie den Forderungen der praktischen Vernunft bezüglich einer Konvergenz und letzten Koinzidenz von Sein und Sollen entgegenkämen. Doch lasse sich die tendenzielle Übereinkunft von natürlichem Sein und sittlichem Sollen nur moralisch postulieren und nicht im Sinne rationaler Naturwissenschaft belegen. Ein physikoteleologischer Gottesbeweis ist demgemäß nach Kant theoretisch nicht durchführbar. Der Schluss auf einen obersten Lenker der Natur, dessen absolute Zwecktätigkeit den Sinn des natürlichen Ganzen gewährleiste, liege außerhalb des Vermögens vernünftigen Urteilens, weil nur endliche Bezugsgrößen Erkenntnis überhaupt erlaubten, wohingegen die Wirklichkeit eines absoluten Zwecksetzers für empiriegebundene Theorie unerschwinglich sei. Nimmt der physikoteleologische bzw. -theologische Gottesbeweis von einer bestimmten Welterfahrung seinen Ausgang, um von einer natürlichen Ordnung, die als zweckmäßig erscheint, auf einen überweltlichen Verursacher, Lenker und Sinngeber zu schließen, abstrahieren die kosmologischen Beweisarten des Daseins Gottes von aller konkreten Weltwahrnehmung, um aufgrund der empirischen Tatsache, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, zur Annahme eines transzendenten Weltgrundes zu gelangen. Ist überhaupt etwas, das existiert, so muss ein unbedingt Notwendiges existieren, weil Zufälliges nur unter der Be-

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dingung einer Ursache existieren kann, die nicht selbst lediglich zufällig ist, sondern ohne Bedingung notwendigerweise gegeben sein muss. Von dem Gedanken einer Existenz unbedingter Notwendigkeit schreitet das kosmotheologische Argument nach Kant sodann zu dem Begriff eines schlechthin notwendigen Wesens fort, welches den Bedingungsgrund zu allem Möglichen unbedingt in sich enthält und als ens necessarium zugleich ens realissimum ist, dessen Dasein Implikat seines Begriffs ist. Scheint der kosmologische Schluss von der Notwendigkeit eines weltbegründenden Absoluten auf das Dasein eines allerrealsten Wesens in sich stimmig zu sein, so beruht er doch nach Kants Urteil auf einer bloßen Erschleichung. Zwar sei der Begriff des ens realissimum der einzige, vermittels dessen ein ens necessarium gedacht werden könne: doch werde im vermeintlichen Beweisverfahren verkannt, dass synthetische Urteile vor aller Erfahrung nur in Beziehung auf deren Möglichkeit und Tatsächlichkeit, nicht aber unter Absehung davon statthaft seien. Statt eines regulativen Gebrauchs, welcher der einzig mögliche sei, mache Kosmotheologie vom transzendentalen Ideal einen konstitutiven Gebrauch. Dabei aber handle es sich um einen irregulären Vernunftgebrauch, der nur Schein erzeuge. Von diesem kritischen Einwand ist auch das sog. ontologische Argument zum Beweis des Daseins Gottes betroffen, auf das sich nach Kant im Grunde alle spekulativen Gottesbeweise zurückführen lassen. Abstrahierte der kosmologische Beweis im Unterschied zum physikotheologischen von allen bestimmten Erfahrungen, um von der schieren Tatsache, dass es überhaupt etwas zu erfahren gibt, seinen Ausgang zu nehmen, so sieht der ontologische Gottesbeweis auch hiervon und damit von Erfahrung überhaupt ab, um rein begrifflich und gänzlich a priori die Existenz des Absoluten zu verifizieren. Das ontologische kehrt das Verfahren des kosmologischen Arguments um. Statt den aus der Erfahrung der Kontingenz von Erfahrbarem überhaupt resultierenden Gedanken eines ens realissimum schlussfolgernd mit dessen Existenzannahme zu verbinden, ergibt sich für den ontologischen Beweis das absolut-notwendige Dasein eines in höchstem Maße realen Wesens aus der Idee der höchsten Realität, über die hinaus eine höhere nicht gedacht werden kann. Der alle Realität in sich enthaltende und von aller Bedingung unabhängige unbedingt zureichende Grund alles Bedingten enthält, so das Argument, seinem Begriff nach die schlechterdings notwendige Existenz seiner selbst. Da aber der Begriff dessen, über das hinaus Höheres nicht gedacht werden kann, nicht nur denkbar, sondern denknotwendig ist, sei mit dem Gedanken Gottes dessen Dasein bewiesen. Kant begegnet dieser Argumentationsfolge mit dem schlichten Hinweis, dass die Behauptung der Nichtexistenz dessen, worüber Höheres hinaus nicht gedacht werden kann, keinerlei Widerspruch enthalte. Zwar sei es widersprüchlich, den Begriff des Absoluten zu setzen und dessen Existenz zu bestreiten. Doch mit der Aufhebung des Begriffs des Absoluten werde auch die Behauptung von dessen

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Dasein erledigt. Daraus wird nach Kant einsichtig, dass der Satz „Gott ist nicht“ logisch nicht widersprüchlich ist. Existenz nämlich ist kein reales Prädikat und kein Begriff von irgendetwas, was zu dem Begriff von irgendetwas hinzukommt. Es bezeichnet lediglich dessen gesetzte Position und sonst nichts. Mit der Begriffsposition ist mithin auch die Existenz des gesetzten Begriffs aufgehoben. In einem Existierenden ist nicht mehr gesetzt als in einem bloß Möglichen. Der Satz, dass ein allerrealstes Wesen sei, besagt nach Kant insofern nicht das mindeste mehr als der Begriff des allerrealsten Wesens selbst. Von der Idee Gottes kann die Vernunft demgemäß vernünftigerweise nur einen regulativen, nicht aber einen konstitutiven Gebrauch machen. Die vom Verstand zur durchgängigen Bestimmung seiner Begriffe vorausgesetzte Prämisse mit einem wirklichen Wesen zu assoziieren, entbehrt nach Kant jeder Vernunftgrundlage. Die Idee eines höchsten Wesens bleibt demnach seinem Urteil zufolge für den theoretischen Vernunftgebrauch ein bloßes, wenngleich fehlerfreies Ideal, dessen Realität zwar nicht widerlegt, aber ebenso wenig bewiesen werden könne wie die auf vollkommene Realisierung der Freiheit hin angelegte Zweckmäßigkeit der natürlichen Welt oder die Unsterblichkeit und Ewigkeitsbedeutung der Menschenseele.44 44 An diesem Ergebnis ändert sich nichts, wenn man mit Dieter Henrich zwei Formen des ontologischen Beweises vorsieht und Kants Kritik vor allem auf die zweite Beweisform fokussiert: „Der eine Beweis will das Dasein des höchst vollkommenen Wesens demonstrieren, ist also der Beweis des Anselm von Canterbury. Der andere geht vom Begriff Gottes als dem notwendigen Wesen aus.“ (D. Henrich, Der ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit, Tübingen 1960, 3; zur Erläuterung der beiden ontologischen Argumente vgl. 3 ff.) Was Descartes betreffe, so habe er in seiner Antwort auf die Einwände des Caterus gegen die Ontotheologie der fünften Meditation „den Begriff des ens necessarium zum nervus probandi des Beweises gemacht. Dieser Begriff unterscheidet das cartesianische Argument von dem des heiligen Anselm.“ (14) Die Kant’sche Kritik der cartesianischen Form des ontologischen Arguments beruht nach Henrich im Wesentlichen auf dem Einwand, seine Metaphysik vermöge den Begriff des ens necessarium nicht eindeutig zu bestimmen und könne daher „auch nicht sagen, welchem Wesen aus welchem Grund ein notwendiges Dasein eignet“ (135). Schon in Kants vorkritischen Schriften zur Theologie stehe der Begriff des ens necessarium „im Mittelpunkt des Interesses“ (139). Könne er bestimmt gedacht werden, sei Existenz in ihm auch nach Auffassung Kants notwendig mitgesetzt. Doch eben dies ist Henrich zufolge nach Maßgabe der Kant’schen Vernunftkritik nicht der Fall; der Begriff des absolut notwendigen Wesens sei vernünftiger Einsicht nicht zugänglich; „in Wahrheit“, so Henrich, „ist die sachliche Mitte von Kants ganzer Kritik der spekulativen Theologie die Kritik an dem Begriff, von dem das zweite ontologische Argument ausgeht. Ihre einzige These, die über ihr Recht oder ihr Unrecht entscheidet, lautet: Der Begriff des ens necessarium ist nicht bestimmbar.“ (170) Wäre er bestimmbar, könnte aus ihm unmittelbar auf die Existenz dieses notwendigen Wesens geschlossen werden; doch sei eben jener bestimmte Begriff vom notwendigen Wesen vernunftgemäß nicht auszubilden. Der Begriff des ens necessarium habe lediglich „als Grenzbegriff der Erkenntnis, nicht aber als einer ihrer Inhalte … einen bestimmten Sinn“ (187). Henrich spricht in diesem Zusammenhang von einer „Subjektivierung des Begriffs der absoluten Notwendigkeit“ (ebd.). Dieser Hinweis kommt dem Kantverständnis Pannenbergs entgegen. Zur Argumentationslage in den vorkritischen Schriften und insbesondere im „Beweisgrund“ vgl. a. a. O., 178 ff.

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Vom Gebrauch der Vernunftideen Kants Kritik metaphysischer Psychologie, Kosmologie und Ontotheologie führte zu dem Ergebnis, dass von den Ideen Gottes, der Welt und der Seele theoretisch nur ein regulativer, aber kein objektiver Gebrauch gemacht werden könne, da sie keinen Gegenstand möglicher Erfahrung darstellten. Konstruktiver Gehalt komme ihnen nur in Form von Postulaten praktischer Vernunft zu, welche die Annahme der Unsterblichkeit der Menschenseele, der menschlichen Freiheitswelt und Gottes als des Garanten einer definitiven Übereinstimmung von Sittlichkeit und Sinnlichkeit um der Realisierung der Moral willen forderten.45 Der Umstellung von Theorie auf selbsttätige Praxis in Kants Philosophie korrespondiert nach Pannenberg die transformierende Hinordnung aller Gehalte auf Subjektivität und auf jenes cogito, von dem es heißt, es müsse alle meine Vorstellungen begleiten können. Jede Erkenntnis stehe unter der Bedingung, gewusst werden zu können, was ohne sich wissendes Ich im Sinne selbstbewusster Subjektivität nicht denkbar sei. Zwar dürfe das transzendentale Ich mit Individualsubjekten und ihren kognitiven, voluntativen und emotiven Selbstvollzügen nicht unmittelbar gleichgesetzt werden, weil Individuen, die sich empirisch identifizieren lassen und sich selbst in ihrer Individualität auf empirisch vermittelte Weise identifizieren, in ihrer Selbstwahrnehmung die einheitsstiftende Synthesisfunktion transzendentaler Apperzeption immer schon zur Bedingung ihrer Möglichkeit haben. Aber dennoch stehe das transzendentale cogito für den dezidiert subjektivitätsphilosophischen Ansatz des Kant’schen Denkens und dafür, nicht Gott und die Welt, sondern eine Größe, welche Ich heißt, zur Möglichkeitsbedingung der Philosophie und allen Denkens zu erheben. Pannenberg erklärt, was durch Kant geschah, zum epochemachenden Vorgang der Anthropologisierung von Philosophie und Metaphysik einschließlich ihrer klassischen Themen Kosmologie und Theologie. Ausgangspunkt für Kants Kritik metaphysischer Theologie und ihrer rationalen Versuche, das Dasein Gottes zu beweisen, ist gemäß Pannenberg die für die Philosophie der Neuzeit insgesamt kennzeichnende Erkenntnis, „daß von der Natur kein sicherer Weg mehr zu Gott führt und darum die ganze Beweislast für die Wahrheit des Gottesglaubens auf das Verständnis des Menschen, auf die Anthropologie gefallen ist“46. Zwar räume Kant physikotheologischen Überlegungen ein gewisses Recht ein, doch nur unter moralphilosophischen Prämissen und unter der kritischen Voraussetzung, dass ihnen keinerlei theoretische Be45 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht. Eine unparteische Erinnerung an Immanuel Kants Philosophie, in: W. Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 11–66. 46 W. Pannenberg, Anthropologie und Gottesfrage, in: ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972 (= GuF), 9–28, hier: 11.

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weiskraft für das Dasein Gottes als des allmächtigen Schöpfers, Erhalters und Lenkers der Natur zukomme. Was hinwiederum das kosmologische Argument und seine theologische Relevanz betreffe, so halte er die Annahme eines ersten Gliedes in der Kette der Ursachen für „nicht mehr zwingend; die Kette der Ursachen könnte sehr wohl ins Unabsehbare zurückreichen; dazu kommt Kants spezifisches Argument, daß die Kategorie der Ursache nur auf Verhältnisse von Erscheinungen in Raum und Zeit Anwendung finden kann (B 637 f.).“ (GuF, 10) Einen wichtigen Faktor der Kant’schen Kritik des von ihm so genannten kosmologischen Typs des Gottesbeweises stellt Pannenberg zufolge die wachsende Überzeugung von dem die Natur beherrschenden Prinzip der Trägheit dar, deren geistesgeschichtliche Folgen insgesamt sehr hoch zu veranschlagen seien. Das physikalische Trägheitsprinzip erkläre mit der Annahme einer Notwendigkeit beständig wirkender Erhaltungsursachen das Erfordernis einer Erstursache natürlicher Realität für tendenziell überflüssig (vgl. GuF, 11 ff.). Fielen in der Konsequenz des Trägheitsprinzips die ersten beiden thomasischen Gottesbeweise, so vermöge der logische Schritt von der Kontingenz alles Endlichen auf ein ens necessarium „allenfalls Ausdruck eines unabweisbaren Bedürfnisses unseres Geistes, unseres Denkens zu sein, ohne für sich allein schon den Schluß zu erlauben, daß die dem menschlichen Dasein vorgegebene Wirklichkeit der Natur eines solchen Urhebers bedürfe. Damit aber haben wir nichts anderes als die anthropologische Deutung des kosmologischen Gottesbeweises vor uns, wie sie im Grunde schon bei Kant vorliegt.“ (GuF, 13) Bei ihm sei das notwendige Wesen, welches der kosmologische Beweis erschließen solle, kein Erfordernis der Natur selbst mehr, „sondern nur noch ein Erfordernis menschlichen Naturverstehens unter Ideen der Vernunft, also wie Kant sagte: ein transzendentales Ideal“ (ebd.), von dem zwar aus Vernunftgründen ein regulativer Gebrauch gemacht werden müsse, aber kein objektiver Gebrauch gemacht werden könne.

Anthropologisierung von Kosmologie und Theologie Als das stärkste Indiz prinzipientheoretischer Umstellung von Kosmologie und Theologie auf Anthropologie wertet Pannenberg den Status, welchen Kant in seiner Philosophie dem seiner Identität bewussten Ich zudenke. Dieses fungiere als die Möglichkeitsbedingung wenn nicht für Gegenstandsbewusstsein überhaupt, so doch dafür, die Mannigfaltigkeit empirischer Anschauungen einheitlich und zusammenhängend in Erfahrung zu bringen, was zum Bestand von Gegenstandsbewusstsein unveräußerlich hinzugehöre. Ohne Ich, das um sich und seine Identität wisse, könne es keine Einheit des Erfahrungsbewusstseins und seiner Gegenstände geben. Das selbstbewusste Ich habe so nach Kant „als Grundlage der Einheit unserer Erfahrung“ (MuG, 34) und als Möglichkeitsbe-

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dingung jedweden Gegenstandsbewusstseins zu gelten. Vor ihm ist dies nach Pannenberg von keinem Philosophen so behauptet worden: „Erst Kant hat das Bewußtsein der Identität des Ich zur Möglichkeitsbedingung der Gegenstandserfahrung erklärt. Erst ihm kommt daher die epochale Stellung zu, die häufig Descartes zugeschrieben worden ist, die Begründung alles Erfahrungswissens auf den Boden des Ichbewußtseins.“ (MuG, 35) Der epochale Anspruch der Kant’schen These vom Ich als dem transzendentalen Subjekt aller Gegenstandserfahrung tritt Pannenberg zufolge vor allem in der konsequenten Anthropologisierung der traditionellen Themenbestände der Metaphysik einschließlich des Gottesgedankens zutage. Sei selbstbewusste Subjektivität die Bedingung der Möglichkeit jeglichen Gegenstandsbewusstseins, dann könne offenbar „auch die metaphysische Frage nach dem Absoluten nur auf dem Boden dieser Subjektivität gestellt werden. Sie stellt sich dann als Frage der Subjektivität nach dem sie konstituierenden Ursprung. Dabei müßte aber“, wie Pannenberg hinzufügt, „die ihren vorauszusetzenden Ursprung erfragende Subjektivität zugleich als den Gedanken ihres Ursprungs setzend gedacht werden. Die Vorgängigkeit des Absoluten vor dem Subjekt würde dadurch aufgehoben in die Tätigkeit des Subjekts selber, das sich seinen absoluten Grund voraussetzt.“ (Ebd.) Damit ist nicht nur der zentrale Vorbehalt Pannenbergs gegenüber der Transzendentalphilosophie Kants, sondern gegenüber allen subjektivitäts- und selbstbewusstseinstheoretisch fundierten Konzeptionen einer Philosophie des Absoluten formuliert.47 Auch wenn sich das Ich egologisch fundierter Absolutheitstheorien nicht unmittelbar selbst zu seinem Grunde erklärt, sondern sich als im Absoluten gründend versteht, so gilt ihm der absolute Grund seiner selbst doch recht eigentlich nicht als eine sich selbst voraussetzende sowie sich von selbst verstehende und zu verstehen gebende Voraussetzung, sondern als eine Prämisse, die ihrerseits vom sich wissenden Ich abhängig ist, insofern sie ohne dieses weder gedacht werden könnte noch Bestand hätte. Das Ich denke bleibt sonach, wenn 47 Entsprechendes gilt in religionsphilosophisch-theologischer Hinsicht. Dem religiösen Bewusstsein „kann es gar nicht einfallen, seine Subjektivität als Garanten für die Realität seines Gegenstandes auszugeben“ (STh I, 169). Vgl. dazu Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 334 ff. unter ausdrücklichem Verweis auf Pannenbergs Auseinandersetzung mit Descartes’ dritter Meditation. Pannenberg will, wie zu Recht gesagt wird, „nicht nur darauf hinaus, dass die Idee des Unendlichen vom Ich im Vollzug des Ichs als für diesen vorausgesetzt erfasst wird. Dann wäre zwar die Idee des Unendlichen als Voraussetzung und nicht als bloßes Postulat gedacht. Sie wäre indes immer noch nur eine Idee des Ichs, das sie als eine Voraussetzung für und in seinem Vollzug anerkennen muss. Damit würde der Idee des Unendlichen zwar eine andere Funktion zugemessen, als dies bei Kant der Fall ist. Die Funktion, Voraussetzung bzw. Grund zu sein, wäre aber gleichwohl noch eine, die auf dem Boden des Ichs getätigt wird, will heißen: im Ausgang vom Ich würde auch Descartes nicht darüber hinauskommen, die im Ich vorausgesetzte Idee als bloßen Gedanken beanspruchen zu können.“ (A. a. O., 336)

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man so will, der Grund auch noch des Gedankens, aus dem heraus sich das Ich zu begründen gedenkt. Es setzt einen unbedingten Grund seiner selbst voraus, wenn es sich in seinem Sich-Gegebensein und dem seiner Freiheit zu begreifen sucht. Aber der vorausgesetzte Grund wird in seiner Unbedingtheit der Bedingung unterstellt, vom Ich gedacht zu werden, das zumindest insofern seine Voraussetzung bildet. Das Ich muss, um sich zu verstehen und zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, einen Grund seiner selbst voraussetzen und zwar als nicht unmittelbar durch es selbst gesetzt und insofern als nichtgesetzt. Dennoch kommt besagter Voraussetzung nicht der Status einer absoluten, sondern nur einer relativen Voraussetzung zu, insofern ihr Voraussetzungscharakter an der Voraussetzung hängt, vom denkenden Ich gedacht und gedanklich genetisiert werden zu können.

Kritik transzendentaler Egologie Das Ich setzt den Grund seiner selbst voraus, und es setzt ihn als nichtgesetzt voraus, ohne dabei aufzuhören, Setzungsinstanz und damit die Voraussetzung des als nichtgesetzt Gesetzten zu sein. In den Aporien der vielfältigen Versuche der Fichte’schen Wissenschaftslehre, alle Wissensformen aus dem Ich selbstbewusster Subjektivität herzuleiten, erkennt Pannenberg die exemplarische Manifestation der benannten Problematik, die er indes schon in dem Programm der Kant’schen Transzendentalphilosophie angelegt sieht, das Ich zur Grundlage der Einheit des Erfahrungsbewusstseins zu machen, was sich nie spannungsfrei habe durchführen lassen. Als in beiderlei Hinsicht sekundierende Belege werden Werke von Dieter Henrich angeführt, mit dem zusammen Pannenberg an der Münchener Ludwig-Maximilians-Universität eine Reihe legendärer Oberseminare zum Thema „Theologie und Metaphysik“ durchgeführt hat: in erster Linie die berühmte, wenngleich in ihrem Ergebnis nicht unumstrittene Studie „Fichtes ursprüngliche Einsicht“48, in zweiter die Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion „Identität und Objektivität“49. Pannenberg hat Henrichs Untersuchung zur transzendentalen Deduktion Kants intensiv studiert, wie sein Handexemplar (Nr. 01844 der PannenbergBibliothek) belegt. Wichtig war ihm insbesondere Henrichs kritischer Einwand, wonach die These, alle Synthesis sei vom Subjekt auszuüben und auf Subjekthandlungen zurückzuführen, in ihrer Allgemeinheit nicht überzeugen könne. Würde doch die Identität des apriorisch zu denkenden Selbstbewusstseins 48 D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a.M. 1967. 49 Ders., Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion, Heidelberg 1976. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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„unmöglich gedacht werden können, wenn sie nicht den Gedanken von notwendigen Regeln einschlösse, der alle Erscheinungen unterworfen sind, sofern sie überhaupt zu denken sind“ (92). Beinahe exzessiv unterstrichen ist in Pannenbergs Handexemplar folgender Satz: „Um in Kants Text einen schlüssigen Gedanken sozusagen am Werk zu finden, muss man also von den Assoziationen abstrahieren, welche auf Kants Meinung zurückgehen, das Subjekt sei auch in Beziehung auf die Regeln, kraft deren es möglich ist, generativ.“ (105) Pannenbergs Auseinandersetzung mit Kant kommt zu dem Schluss, dass das transzendentale cogito, von dem aus die Anthropologisierung von Kosmologie und Theologie vollzogen sowie die Kritik an der traditionellen Metaphysik und Ontotheologie durchgeführt werde, keine in sich gründende Größe und daher nicht geeignet sei, die Basis der Philosophie abzugeben. Denn es sei zum einen mit einem unveräußerlichen Weltbezug versehen, ohne den es keinen Bestand habe, und zum anderen und im Verein damit auf einen Grund verwiesen, der Selbst und Welt fundiere sowie diese und ihr Verhältnis zueinander, das stets endlich bestimmt sei, unendlich transzendiere. Descartes These vom Vorrang des Unendlichen vor jeder Endlichkeitswahrnehmung bleibe sonach keineswegs hinter der Erkenntniskritik Kants zurück, sondern weise im Gegenteil über sie und die, wie Pannenberg es nennt, „Position des transzendentalen Positivismus“ (MuG, 27) hinaus50, was sich an der auf Kant folgenden Bewegung des Deutschen Idealismus und namentlich an der Philosophie Hegels verifizieren lasse. Bevor auf Hegels Verhältnisbestimmung von Endlichkeit und Unendlichkeit und auf sein philosophisches Verständnis des wahrhaft Unendlichen Bezug genommen wird, sei nachgetragen, welche Motive Pannenberg für die Anthropologisierung der Metaphysik und der metaphysischen Funktionen Gottes verantwortlich macht, wie sie seinem Urteil zufolge in Kants Vernunftkritik und insbesondere in der Kritik der reinen Vernunft erfolgt ist. Es sind dies − man höre − primär theologische Motive. Die Rekonstruktion der Entwicklung seines 50 Pannenberg hat wiederholt versucht, die cartesianische These vom Vorrang des Unendlichen vor jeder Erfahrung von Endlichem im Zusammenhang mit dem Begriff des Raumes zu plausibilisieren, in Verbindung mit dem die Unendlichkeitspriorität im 18. Jahrhundert vorzugsweise diskutiert worden sei. Als paradigmatisch hierfür wird Samuel Clarks Korrespondenz mit Leibniz über Newtons Begriff des absoluten Raumes angeführt, den Clark „als Ausdruck der Unermeßlichkeit (immensitas) Gottes bezeichnet“ (MuG, 25). Diese, so Pannenberg, sei in jeder konkreten Raumwahrnehmung immer schon implizit vorausgesetzt. Vergleichbares gelte im Hinblick auf die Ewigkeitsdimension aller Zeiterfahrungen sowie für die Bedeutung, die einem unthematischen Unendlichkeitswissen für Selbst- und Weltbewusstsein überhaupt zukomme. Pannenberg resümiert: „Wenn die Priorität des unendlichen Ganzen von Raum und Zeit vor aller Erfassung endlicher Größen und Verhältnisse sowie andererseits das sog. transzendentale Ideal der omnitudo realitatis als Bedingung jeder begrifflichen Bestimmung nur verschiedene Aspekte eines und desselben Themas sind, dann muß der philosophischen Theologie ein sehr viel größeres Gewicht für die Kritik der Vernunft zukommen, als Kant es ihr zugestanden hat.“ (MuG, 27)

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Denkens zwischen 1746 und 1770 zeige, „daß gerade wegen Kants radikaler Auffassung von der Majestät Gottes als Schöpfer die Vernunft auf sich selbst, namentlich auf ihre Endlichkeit zurückgeworfen wurde“51. Entscheidend beeinflusst ist diese Sicht nach Pannenbergs eigener Auskunft von Horst-Günter Redmanns Dissertation (1958) zum Thema „Gott und Welt. Die Schöpfungstheologie der vorkritischen Periode Kants“. Pannenberg hat der 1962 erschienenen Monographie zusammen mit Friedrich Delekats historisch-kritischer Interpretation der Hauptschriften Kants eine ausführliche Besprechung in der „Theologischen Literaturzeitung“ des Jahres 1964 gewidmet.

Theologische Motive im Denken Kants Als ein erstes wichtiges Verdienst der Arbeit von Redmann wird gewürdigt, einen über die Religionsphilosophie hinaus bestehenden Zusammenhang des Denkens Kants mit der calvinistischen Dogmatik des Schweizer Theologen J. F. Stapfer entsprechend der reformiert-pietistischen Herkunft des Vernunftkritikers nachgewiesen zu haben. Der entscheidende theologische Impuls in der Entwicklung von Kants Philosophie gehe, so Redmann, von „seinem Verständnis von Gott als dem schlechthin Erhabenen und allgenugsamen Schöpfergott“52 aus, in dessen Konsequenz „er mit Hilfe der Naturwissenschaft die Weltordnung an die Materie und das Denken an die Erfahrung gebunden sein ließ, um damit Welt und Vernunft … als endlich zu bestimmen“53. Pannenberg hält diese Interpretation für zutreffend. Zum zweiten würdigt er Redmanns neuartige Auslegung der Schrift „Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes“ von 1763, wonach es Kant in ihr „gerade nicht um eine Begründung der Gewißheit vom Dasein Gottes auf die Selbstgewißheit der Vernunft, sondern im Gegenteil um den Nachweis (gehe), daß die Vernunft ‚ein nicht den Ursprung der Dinge einsehendes und begründendes, sondern selbst durch Dasein bestimmtes Vermögen‘ ist“54. Gemäß Redmann lehnt Kant in seinem „Beweisgrund“ „jegliche Übereinstimmung von Denknotwendigkeit und Dasein ab und erklärt das, was dem Menschen möglich ist zu denken, nicht als ein den Ursprung der Dinge einse51 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996 (= ThuPh), 184. 52 H.-G. Redmann, Gott und Welt. Die Schöpfungstheologie der vorkritischen Periode Kants, Göttingen 1962, 109. 53 Ebd. 54 W. Pannenberg, Theologische Motive im Denken Immanuel Kants, in: ThLZ 89 (1964), Sp. 897–906, hier: 900 unter Verweis auf H.-G. Redmann, a. a. O., 147.

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hendes und begründendes, sondern durch Dasein bestimmtes Vermögen“55. Von dieser Auffassung seiner vorkritischen Periode hat sich die kritische Philosophie Kants Pannenberg zufolge verabschiedet, um die theistische Metaphysik der früheren Zeit in Anthropologie zu transformieren. In ihrem „ganzen Umfang sichtbar gemacht“56 habe diese Umformung erstmals Friedrich Delekat in seinem Kantbuch. Auf besonders eindrucksvolle Weise vermöge er „an der transzendentalen Logik Kants die Umsetzung der theistischen Metaphysik in eine anthropozentrische Erkenntnislehre aufzuzeigen“57. Signifikant sei Delekat zufolge vor allem die Verwandlung der Transzendentalienlehre „in die Theorie von der Einheit des Bewußtseins, die für die Erfahrungswirklichkeit die einheitsstiftende Funktion des göttlichen Ich ersetzt“58. Verwiesen wird auf die einschlägigen Ausführungen zum „Ich der transzendentalen Apperzeption“59: Nach Delekat ist es „das richtigste“60, dieses Ego „als das transzendentallogische Analogon zum schöpferischen Ich Gottes anzusetzen“61. Besonders deutlich trete hier, so Pannenberg, die für die Vernunftkritik Kants in allen ihren Teilen kennzeichnende „Auflösung und Umsetzung der theistisch begründeten Metaphysik der Aufklärung in eine anthropozentrische Beschreibung des Erfahrungsbewußtseins“ (ThuPh, 194) zutage. Was die konventionelle Philosophiegeschichtsschreibung irrtümlich Descartes zugeschrieben habe, sei bei Kant und erst bei ihm wirklich eingetreten: „Erst Kant hat tatsächlich das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des cogito zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes.“ (ThuPh, 202) Gelungen ist ihm diese Begründung nach Pannenbergs Urteil nicht.62 55 56 57 58 59

H.-G. Redmann, a. a. O., 146. W. Pannenberg, a. a. O., 901. Ebd. Ebd. Vgl. F. Delekat, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, Heidelberg 1963, 99–103. 60 A. a. O., 103. 61 Ebd. 62 Kann transzendentale Subjektivität nicht die Basis des Bewusstseins einer umfassenden Einheit der Erfahrungswelt bilden, stellt sich erneut die alte Frage, worin diese und damit der fundierende Konstitutions- und Zielgrund von Selbst und Welt zu suchen und zu finden sei. Das metaphysische Problem bleibt virulent und die Rede vom Ende der Metaphysik erweist sich als unbegründet. Dies gilt Pannenberg zufolge umso mehr, als der Nachweis, dass die Ichgenese durch einen Welterfahrungsprozess mediatisiert sei, zwar zutreffe, vom Subjekt aber nicht als hinreichende Aufklärung seines Selbstbewusstseins wahrgenommen werde und zwar prinzipiell nicht. Es ergibt sich, dass das Ich als es selbst zwar nicht ohne Weltbezug zu denken ist, dass es aber gleichwohl nicht auf Weltbezüge reduziert werden kann und insofern eine transmundane, welttranszendierende Größe darstellt. Unter neuzeitlichen Bedingungen muss sich nach Pannenberg mithin jede Metaphysik des Absoluten daran bewähren, dass das absolute und unendliche Eine „nicht nur als Ursprung und Vollendung der Welt, sondern auch als Konstitutionsgrund und höchstes Gut der Subjektivität zu denken ist. Nur so kann eine heutige Metaphysik des Absoluten der vom Denken der Neuzeit heraufgeführten Problemsituation gerecht werden.“ (MuG, 46)

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Hegels spekulative Dialektik: Theorie des Absoluten

Kritik reflexionsphilosophischer Kritik In seiner im Sommersemester 1989 von der Philosophischen Fakultät SJ der Münchener Hochschule für Philosophie als Dissertation angenommenen Studie „Hegels Kritik an Kants theoretischer Philosophie dargestellt und beurteilt an den Themen der metaphysica specialis“ kommt Bernd Burkhardt, der lange Zeit bei Pannenberg studiert hat, zu dem Schluss, Kants Transzendentalphilosophie sei der Primat in Fragen menschlicher Selbst- und Weltauslegung zu bestreiten, weil sie − der für sie konstitutiven Funktion des Unendlichen uneingedenk − Denken und Sein auf Endliches fixiere und damit vom Absoluten entfremde. Hegels Kritik des Anspruchs der Kant’schen Vernunftkritik, „die Vergeblichkeit aller metaphysischen Erkenntnisbemühungen definitiv bewiesen zu haben“63, wird im Grundsatz affirmiert: „Was Kant gegen die Möglichkeit einer spekulativen Vernunfterkenntnis vorbringt, läuft … im Letzten auf die ungereimte Forderung hinaus, das Unbedingte müsse sich als empirische Synthesis begreiflich machen lassen, soll über seine Erkennbarkeit sinnvoll diskutiert werden können. Daß aber das Denken des Empirischen sich nicht bis zum Gedanken des Unbedingten zu erheben vermag, ist nun allerdings trivial, denn das Absolute ist kein unter der Menge empirisch gegebener Gegenstände anzutreffendes Ding, nichts, das unter den Daten des sinnlichen Bewusstseins vorkommt. Aus dieser Tatsache jedoch ableiten zu wollen, dem Denken sei der Zugang zum Unbedingten überhaupt verschlossen, scheint uns zumindest voreilig zu sein.“64 Burkhardt hält den Weg über die Transzendentalphilosophie hinaus zu den Vernunftkonzeptionen Fichtes, Schellings und namentlich Hegels für gedanklich unumgänglich, wohingegen ihm der Ruf „Zurück zu Kant“ als in der Sache rückschrittlich erscheint. Diese Einschätzung ist durchaus im Sinne Pannenbergs und seiner gegen Kant geltend gemachten Grundannahme, wonach dem Unendlichen Priorität vor dem Endlichen und jeder endlichen Realitätserfahrung zukomme, welche das Ich in der Welt mache. Bei Descartes sei diese Einsicht angelegt, bei Hegel zu durchsichtiger Klarheit, wenngleich nicht so auf den Begriff gebracht, dass dadurch das Geheimnis Gottes spekulativ behoben werde. Wo die Lehre vom absoluten Begriff und Wissen anderes behaupte, sei theologisch zu widersprechen, so bedeutsam Hegels philosophische Theologie für Philosophie und Theologie im Übrigen auch sein möge und tatsächlich sei.

63 B. Burkhardt, Hegels Kritik an Kants theoretischer Philosophie dargestellt und beurteilt an den Themen der metaphysica specialis, München 1989, 255. 64 Ebd.

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In den Kontext dieses Hegelvorbehalts gehört Pannenbergs wiederholt geäußerte Auffassung, wonach die Intuition des Unendlichen, von der Descartes’ dritte Meditation spreche, durch philosophische Reflexion uneinholbar sei. Zwar will er die „Uneinholbarkeit dieser unthematischen Intuition durch die Reflexion“ (MuG, 74) nicht als Antizipation, Prolepse oder „Vorgriff“ gekennzeichnet wissen, da es „sich dabei ja nicht um eine bestimmte Erkenntnis oder Vorstellung von einer Sache (handle), die der Erfahrung von derselben vorgreifen würde“ (MuG, 74 f.). Gleichwohl sei in allem rechten Begreifen ein intuitives Gefühl für die Uneinholbarkeit des Sinnganzen und damit ein unmittelbares Bewusstsein von der Vorläufigkeit aller menschlichen Erkenntnis mitgesetzt, was für jeden Begriff sowie alles Begreifen von erheblicher Bedeutung sei und zwar nachgerade dann, wenn es um das Unendliche, um seinen Begriff und um sein Begreifen gehe.

Das Endliche und das Unendliche Ist das Unendliche endlich? Es legt sich nicht nur terminologisch nahe, diese Frage zu verneinen. So wie das Endliche nicht das Unendliche ist, so kann das Unendliche nicht mit dem Endlichen gleichgesetzt werden, zu dem es sich vielmehr different verhält. Der Begriff des Unendlichen enthält in sich selbst einen signifikanten Hinweis auf eine Negation des Endlichen. Unendlichkeit negiert Endlichkeit und bestimmt sich durch den Gegensatz zu dieser. Indes ergibt sich aus dem vermeintlich Selbstverständlichen eine eigentümliche Schwierigkeit des Gedankens. Wenn nämlich das Unendliche nicht das Endliche, sondern dasjenige ist, was das Endliche negiert und sich durch den Gegensatz zu ihm bestimmt, findet es dann nicht gleichsam per definitionem am Endlichen eine Grenze, die es beschränkt? Omnis determinatio est negatio, heißt es. Man kann auch umgekehrt sagen: Omnis negatio est determinatio. Folgt daraus nicht, dass ein durch Negation des Endlichen bestimmtes Unendliches durch dieses determiniert und definiert, also begrenzt ist? Diese Folgerung lässt sich schwerlich vermeiden. Dann aber haben wir es mit dem gravierenden Problem zu tun, dass ein durch Endliches begrenztes und determiniertes Unendliches am Endlichen sein Ende findet und sonach nicht dasjenige ist, was es seinem Begriff nach zu sein beansprucht, nämlich das Unendliche. Unendlichkeit, die sich durch bloße Negation von Endlichkeit bestimmt, widerspricht ihrem Begriff und findet an dem seine Grenze, von welchem es sich abstößt. Sie endet am Endlichen, und die Negation, die sie diesem zuteil werden lässt, schlägt auf sie selbst zurück dergestalt, dass sich ihr vermeintliches Wesen als bloßer Schein zu erkennen gibt. Allenfalls eine nicht endende und lediglich in ihrer Endlosigkeit unendliche Aneinanderreihung von Endlichem würde sich aus einer solchen „scheinbaren“ Unendlichkeit ergeben. Der Begriff des „wahrhaft“ Un-

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endlichen hingegen ist erst erfüllt und realisiert, wenn Unendlichkeit keinen abstrakten Gegensatz zur Endlichkeit darstellt, sondern mit dem Unterschied zum Endlichen dieses selbst in sich begreift. Für Pannenbergs Verständnis kommt der skizzierten, im Anschluss an Hegels logische Analyse des Unendlichen entwickelten Argumentation weichenstellende Bedeutung zu.65 Um für die Theorie des Absoluten von Belang zu sein, sei der Begriff des wahrhaft Unendlichen „klar vom mathematisch Unendlichen“ (MuG, 28) und mithin von dem zu unterscheiden, was Hegel das „schlecht Unendliche“ (ebd.) genannt habe. Im Verein damit müsse erkannt werden, dass sich das im absoluten Sinne Unendliche nicht im abstrakten und unvermittelten Gegensatz zum Endlichen denken lasse. „Solange nämlich das Unendliche nur als Gegensatz zum Endlichen gedacht wird, bleibt sein Wesen durch den Gegensatz zum Endlichen als zu seinem andern begrenzt − und das ist das Kennzeichen des Endlichen. Das nur in abstrakter Transzendenz, im Gegensatz zum Endlichen, vorgestellte Unendliche ist selber endlich. Um wahrhaft als unendlich 65 Kurz und bündig belegt wird diese Annahme durch: W. Pannenberg, Der eine Gott als der wahrhaft Unendliche und die Trinitätslehre, in: F. Menegoni/L. Illetterati (Hg.), Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, Stuttgart 2004, 175–185. Die offenkundige Bedeutung von Hegels Philosophie für die Theologie Pannenbergs berechtigt nicht, ihn als Hegelianer zu qualifizieren. Pannenberg selbst verwahrt sich selbst ausdrücklich gegen diese Bezeichnung: „I never became a Hegelian, but I decided that theology has to be developed on at least the same level of sophistication as Hegel’s philosophy and for that purpose I studied his writings carefully and repeatedly.“ (C.R. Braaten/Ph. Clayton [Hg.], The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 16). Dass es „völlig verfehlt ist, ihn als Hegelianer zu bezeichnen“ ( J. Rohls, Falk Wagner im Kontext der protestantischen Theologiegeschichte der Nachkriegszeit, in: Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl [Hg.], Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 13–43, hier: 23), lässt sich u. a. an Pannenbergs kritischem Verhältnis zur spekulativen Absolutheitstheorie seines „Schülers“ Falk Wagner aufzeigen. Nicht nur „gab es in der Hegeldeutung gravierende Differenzen zwischen Doktorvater und Doktorand“ (a. a. O., 29), auch in der damit zusammenhängenden Sache selbst war man uneins. Die Annahme, die Religion vollende sich „als absolute Reflexion im Begriff“ (a. a. O., 23), beurteilte Pannenberg als „abwegig“ (ebd.). Wagner lehnte nicht minder entschieden Pannenbergs Lösungsversuch ab, „weil die mit dessen Konzept der geschichtlich offenen Vernunft verbundene These von der Offenheit der Wirklichkeit ihrerseits durch die Vernunft bedingt sei“ (a. a. O., 33). Vgl. ferner: Chr. AxtPiscalar, Theo-logische Religionskritik und Theorie des Absoluten. Falk Wagners spekulatives theologisches Programm und sein Scheitern, in: a. a. O., 111–132. Nach Axt-Piscalar plädiert Pannenberg im Gegensatz zur Forderung einer Aufhebung der religiösen Vorstellung in den Begriff für eine „kritische Aufhebung des philosophischen Gottesgedankens“ (a. a. O., 113 Anm. 2) durch denjenigen der christlichen, auf Offenbarung gründenden Religion und Theologie. Dies habe wesentlich zu tun mit der bei Wagner vermissten, von Pannenberg für notwendig erklärten Unterscheidung „zwischen Gott und Gottesgedanken, wie er im menschlichen Bewusstsein konzipiert“ (a. a. O., 119) werde. Zu der das, wie Axt-Piscalar sagt, „Scheitern seiner Theorie des Absoluten“ (a. a. O., 129) begründenden These, Wagner sei „von der Einsicht in den Unterschied zwischen dem Gedanken Gottes und der Wirklichkeit Gottes eingeholt worden“ (ebd.) und zu ihrem Kontext vgl. a. a. O., 127 ff.

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gedacht zu sein, darf das Unendliche dem Endlichen nicht nur entgegengesetzt sein, sondern muß zugleich diesen Gegensatz auch übergreifen. Es muß sowohl als im Verhältnis zum Endlichen transzendent als auch als ihm immanent gedacht werden.“ (MuG, 29) Die Gottesattribute der traditionellen Ontotheologie fallen unterschiedlich aus. Dennoch wollen sie als Variationen eines einheitlichen metaphysischen Grundgedankens verstanden sein. Für seine Identifikation erkennt Pannenberg der Idee des wahrhaft Unendlichen entscheidende Bedeutung zu. Unbewegter Beweger, prima causa und causa sui, ens necessarium und realissimum, Sein selbst oder auch höchstes Gut und Zweckursache alles Seienden etc. nennt metaphysische Theologie jenes Eine, das Selbst und Welt begründet und im Innersten zusammenhält.66 Es ordnet das Viele zu einer kohärenten Einheit, als deren Ursprung und Zielgrund es fungiert. Weder die Welt als Inbegriff differenzierter Pluralität noch dasjenige, was Ich heißt, können die Einheit des Vielen garantieren. Ziel des metaphysisch-ontotheologischen „Überstiegs über die Vielheit des im Bewusstsein der Weltdinge und des eigenen Ich Gegebenen“ (MuG, 17) muss daher ein Eines sein, das Selbst und Welt jenseitig ist, ohne von ihnen getrennt zu sein.

Identität von Identität und Differenz Wie ist das Selbst und Welt jenseitige Eine zu denken, das in seiner Transzendenz dem Diesseits zugleich immanent ist? Auf diese Frage gibt der Gedanke des wahrhaft Unendlichen eine Antwort, indem er das Eine als dasjenige denkt, das sich als Eines im Anderen als einem Anderen zu präsentieren und so als Einheit von Einheit und Verschiedenheit zu fungieren vermag. Als wahrhaft Unendliches ist das Eine nicht durch den abstrakten Gegensatz zu seinem Anderen bzw. zu demjenigen bestimmt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Es erschließt vielmehr, ohne aufzuhören, das unendliche Eine zu sein, dem endlichen Anderen eigenes 66 In der Regel hat sich mit der Annahme eines von Selbst und Welt zwar unterschiedenen, aber nicht getrennten Einen die Vorstellung eines alles begründenden Grundes bis hin zur Idee der causa sui oder analoger Gedankenfiguren verbunden. Auch mit der Wendung des ipsum esse per se subsistens, des Seins selbst, das allem Seienden sein Sein gibt und erhält, konnte das ontotheologisch Eine assoziiert werden, selbst wenn es zweifelhaft ist, ob das metaphysische Denken durchweg so fundamental durch den Seinsbegriff und insbesondere durch die Unterscheidung von Seiendem und Sein bestimmt war, wie dies namentlich von Heidegger in metaphysikkritischer Absicht behauptet wurde. Wie auch immer: Die Gottesattribute philosophischer Theologie sind vielfältig, aber in ihrer Vielfalt doch immer auf das Eine bezogen, das in seiner Einzigkeit das Viele vereint und einheitlich begründet, ob es nun eigens prima causa oder alles bestimmende Wirklichkeit, omnitudo realitatis oder ens necessarium etc. genannt wird.

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Sein und Selbständigkeit im Unterschied zu ihm. Die Möglichkeit hierzu und damit für das, was traditionell göttliche Schöpfung und Erhaltung von Menschheit und Welt genannt wird, ist nach Maßgabe seines Begriffs im wahrhaft Unendlichen enthalten, dessen Absolutheit die Potentialität zur Setzung von Relativem in sich begreift. Der Für-Bezug zu demjenigen, was es nicht unmittelbar selbst ist, ist dem Absoluten nicht äußerlich, sondern ein internes Bestimmungsmoment seiner Absolutheit. Damit ist gemäß Pannenbergs Urteil die Struktur des trinitarischen Gottesgedankens erfasst und zwar durchaus in der differenzierten Einheit von immanenten und ökonomischen Perspektiven − allerdings nur in formaler Abstraktheit und nicht in jener Konkretion, wie sie für die christliche Dreieinigkeitslehre kennzeichnend sei. Obwohl er ihn mit der christlichen Trinitätslehre keineswegs gleichsetzt, erkennt Pannenberg dem Gedanken des wahrhaft Unendlichen eine kriteriologische Funktion für alle Rede von Gott zu, die als angemessen und sinnvoll gelten soll. Die Gottheit Gottes wird verkannt, wenn seine Unendlichkeit durch den abstrakten Gegensatz zu Endlichkeit und seine Einheit durch Ausschluss von Unterschiedenheit und Vielheit bestimmt wird.67 Beide, Identität und Differenz, 67 Sofern religiöse Überlieferungen das selbständige Dasein des Endlichen und namentlich des endlichen Menschen-Ich „als bloßen Schein“ (MuG, 48) oder „nur als ephemer“ (ebd.) beurteilen, werden sie nach Pannenberg den metaphysischen Kriterien nicht gerecht, an denen sie unter neuzeitlichen Bedingungen zu prüfen sind. Gerecht zu werden vermögen sie ihnen nur unter der Voraussetzung, dass das schöpferische und erhaltende Handeln Gottes religiös so vorstellig wird, „daß es gerade die Selbständigkeit des Geschöpfes, die in der nicht nur theoretischen, sondern auch praktischen Selbstbeziehung auf die Bedingungen des eigenen Daseins und seiner Fortsetzung zum Ausdruck kommt, bezweckt“ (ebd.), wie das in der christlichen Religion der Fall sei, in deren Wirkungsbereich sich der Gedanke der Subjektivität des Menschen nicht zufällig ausgebildet habe. „Es gibt nicht viele Religionen“, konstatiert Pannenberg, „die dem individuellen Dasein jedenfalls des Menschen ewige Bedeutung vor Gott zuschreiben. Zu ihnen gehört jedenfalls das Christentum mit seiner eschatologischen Hoffnung der Totenauferstehung, die das einmalige, individuelle Dasein des mit Gott verbundenen Menschen der Vergänglichkeit entreißt und ihm Gemeinschaft mit dem ewigen Gott ohne Auflösung der kreatürlichen Identität in das göttlichen Wesen zuspricht.“ (MuG, 48 f.) Kritisch beurteile das Christentum nicht das Selbständigkeitsstreben moderner Subjektivität und ihr Bemühen um Emanzipation von heteronomer Bevormundung und Fremdbestimmung, auch nicht das Bemühen um natürlichen und sozialen Selbsterhalt etc., sondern allein die unmittelbare Selbstbestimmung, Selbstinsistenz und Selbstdurchsetzung des Ich, die als in sich verkehrt und wider die kreatürliche Bestimmung des Menschengeschöpfs gerichtet zu beurteilen sei. − Im Verständnis des Menschen unterscheiden und scheiden sich gelegentlich auch die Religionen. Zugleich fällt in der Anthropologie „eine erste und fundamentale Entscheidung zwischen Theologie und Atheismus“ (GuF, 37). Deshalb müssen sich Theologie und Religionswissenschaft Pannenberg zufolge „auf die philosophische Diskussion der Letztbegründung der Subjektivität selbst einlassen“ (GuF, 22) und dabei die „Frage nach der Möglichkeit der Freiheit, die Subjektivität erst als solche konstituiert“ (ebd.), in den Mittelpunkt stellen. Ist Freiheit „als Selbstkonstitution des Subjekts möglich“ (ebd.) oder kann sie „nur als geschenkte Freiheit oder gar nur als jeweiliges Widerfahrnis einer Befreiung gedacht werden“ (ebd.)? An der Antwort auf diese Frage entscheidet sich das

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gehören zusammen und sind in der Einzigkeit des unendlichen Gottes eins. „Das Unendliche ist einzig, weil es kein anderes außer sich hat, und weil es auch nicht als geteilt vorgestellt werden kann, ist das Unendliche identisch mit dem Einen.“ (MuG, 28) Jeder religiöse Monotheismus wird sich an diesem Kriterium förmlich bemessen und auf seine Stimmigkeit hin überprüfen lassen müssen: „Nur ein solches Gottesverständnis kann fortan als streng monotheistisch gelten, das den einen Gott nicht nur als der Welt transzendent, sondern diesen jenseitigen Gott auch als zugleich der Welt immanent zu denken vermag.“ (MuG, 29) Im Gedanken des wahrhaft Unendlichen ist das Unendliche als differenzierte Einheit seiner selbst und seines Anderen gedacht. Was das Anderssein des Anderen betrifft, welches das unendliche Eine nicht unmittelbar an sich selbst ist, so ist es nach Pannenberg unbeschadet der Relativität seiner Selbständigkeit als ein Endliches zu denken, das sich realiter vom Unendlichen unterscheidet. Zugleich sei mit dem wahrhaft Unendlichen der Begriff des Absoluten „als des gegen anderes Abgeschlossenen, Selbständigen“ (MuG, 30 f.) zu verbinden, weil es nicht nur von allem, was es nicht ist, unabhängig, sondern zugleich dasjenige ist, das alles andere durch es selbst und nach seinem eigenen Gesetz aus sich hervorgehen zu lassen vermag und tatsächlich hervorgehen lässt. Darauf verweist der Begriff des absoluten Geistes, „zu welchem wesentlich das Offenbaren, das Äußern seiner selbst, gehört. Auch der Inhalt des Unendlichen ist erst im Begriff des Geistes voll expliziert, sofern in ihm der Gegensatz zwischen Unendlichem und Endlichem vermittelt ist, wie es schon durch den Begriff des wahrhaft Unendlichen gefordert ist.“ (MuG, 31) Sagt Entsprechendes nicht auf seine Weise auch Hegel?! Pannenberg stellt die trinitarische Anlage des Hegel’schen Denkens nicht in Abrede, sondern rühmt im Gegenteil den spekulativen Theoretiker des Absoluten als denjenigen, der „die Trinitätslehre in Zeiten ihres gänzlichen Bedeutungsschwundes als Spezifikum der christlichen Gotteslehre rehabilitiert habe“68. Dennoch sei bei ihm der trinitarische Gedanke nur abstrakt und nicht in jener konkreten Bestimmtheit erfasst, die für seine christliche Gestalt kennzeichnend und für den Gesamtzusammenhang christlicher Theologie von der Protologie über die Soteriologie hin zur Eschatologie grundlegend und prägend sei. Das trinitarische Absolute Hegels könne daher nicht Verhältnis der Theologie zur Philosophie, die ihr unter neuzeitlichen Bedingungen vorzugsweise als Subjektivitätstheorie begegnet, von der her und auf die hin die Themen der klassischen Metaphysik entwickelt werden, soweit dies überhaupt der Fall ist. Dabei warnt Pannenberg beide Seiten davor, sich abstrakt „mit der Struktur der Subjektivität“ (27) zu beschäftigen und vom Zusammenhang der Welterfahrung abzusehen, in welchen sich jedes Subjekt konkret gestellt wisse. Von Weltbezügen und kosmologischen Aspekten dürfe weder philosophisch noch theologisch abgesehen werden. Doch fallen die Grundentscheidungen, welche Theologie und Philosophie in ihrem Verhältnis zueinander betreffen, primär ins Feld nicht der Kosmologie, sondern der Anthropologie. 68 Chr. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche, 323.

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mit dem dreieinigen Gott, dem als Schöpfer, Versöhner und Vollender offenbaren göttlichen Vater, Sohn und Heiligen Geist gleichgesetzt werden. Warum nicht? Pannenbergs Antworten auf diese Fragen fallen äußerst facettenreich aus, geben sich aber als Variationen eines Grundeinwands zu erkennen. Weil Hegels Theorie des absoluten Geistes einseitig am Phänomen des Selbstbewusstseins orientiert sei und den Gottesgeist nach Maßgabe sich wissender Subjektivität denke, bleibe seine Trinitätslehre in abstrakter Weise dem Einheitsgedanken verhaftet, ohne zu wirklicher trinitarischer Konkretion zu gelangen. Nach Urteil Pannenbergs wird von Hegel die Andersheit des internen Anderen der Gottheit nach Weise der Selbstexplikation göttlicher Einheit gedacht, die im Anderen kein starkes Anderes, sondern lediglich das Andere ihrer selbst erkenne. Eine aporetische Folge davon sei, dass unter der Voraussetzung einer durch den Einheitsgedanken dominierten und daher abstrakten Idee immanenter Trinität auch das kreatürliche Andere Gottes entgegen Hegels Intention nicht als selbständiges Anderes erfasst werden könne mit entsprechenden Folgen für die Verfassung der ökonomischen Trinitätslehre. Mit der Differenz, welche Schöpfung und Geschöpf vom Schöpfer unterscheidet, blieben der Unterschied von Unendlichem und Endlichem, die Endlichkeit des Endlichen und zugleich die interne Differenziertheit der gottunterschiedenen Welt unterbestimmt mit der Folge, dass die unverwechselbare Einmaligkeit und Individualität der Kreaturen und namentlich der Menschengeschöpfe nicht hinreichend zur Geltung gebracht würden. In den Kontext dieser Kritik gehört Pannenbergs Vorbehalt „gegenüber der ‚logischen Notwendigkeit‘, mit der Hegel die Selbstentfaltung des absoluten Geistes in der Welt zu bestimmen sucht, insofern damit die kontingente Freiheit Gottes und ineins damit die Selbständigkeit des Endlichen entgegen Hegels eigener Intention nicht wirklich erreicht werde“69. Weitere Vorbehalte gegenüber der Hegel’schen Fassung des trinitarischen Gedankens samt seiner Prämissen und Folgen ließen sich unschwer auflisten, was sich aber insofern erübrigt, als der Zentraleinwand klar und deutlich zutage tritt. Alle Aporien der Hegel’schen Lehre vom wahrhaft Unendlichen und Absoluten sind

69 Ebd.; Chr. Axt-Piscalar betont zu Recht, dass Pannenberg „auf dem Boden des vernünftigen Gottesgedankens den Wahrheitsanspruch für den theologisch begründeten trinitarischen Gottesgedanken (erhebt), insofern mit ihm das ‚wahrhaft Unendliche‘ gedacht werden kann, ohne den Aporien aufzusitzen, mit denen die philosophische Gotteslehre behaftet bleibt. Dies hält Pannenberg gegenüber der Philosophie als die vernünftig einsehbare Wahrheit des Gottesgedankens der christlichen Theologie fest, wenn nämlich im Blick auf die Entwicklung des philosophischen Gottesgedankens dessen Aporien bewusst sind.“ (327) Der Wahrheitsanspruch des aus dem Zusammenhang der biblischen Tradition heraus entwickelten trinitarischen Gottesgedankens christlicher Theologie soll auf diese Weise nicht im unvermittelten Gegenzug, sondern in konstruktiver Kritik philosophischer Lehre vom wahrhaft Unendlichen und Absoluten zur Geltung gebracht werden.

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nach Pannenberg Folge einer einseitig subjektivitätstheoretischen Fassung des Begriffs des absoluten Geistes.

Theorie absoluter Subjektivität und trinitarische Gotteslehre Im Detail expliziert hat Pannenberg seinen Zentraleinwand gegen Hegels philosophische Theologie z. B. in dem Aufsatz über „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre“, der u. a. darauf angelegt ist, eine Beziehung zwischen der Theologie Karl Barths und ihrer Annahme einer absoluten Subjektivität Gottes in seiner Offenbarung und der Hegel’schen Philosophie aufzuzeigen. Zusammengefasst sind die kritischen Reserven gegenüber Hegel in der These, dass dieser „mit dem Gedanken eines Prozesses der Selbstentfaltung des absoluten Subjekts die Endlichkeit menschlicher Gedankenbestimmungen in die absolute Wirklichkeit Gottes eingetragen“70 habe. Zum Beleg wird die Hegel’sche „Wissenschaft der Logik“ angeführt, deren methodische Grundannahme eines − nicht erst mittels Reflexion auf die von ihm implizit vorausgesetzte Sache, sondern aus seiner Eigenbewegung heraus sich ergebenden − kontinuierlichen Fortschreitens des Begriffs zu immer gehaltvolleren Bestimmungen eine Gleichung von Begriff und Subjekt zur stillschweigenden Voraussetzung habe. Aus der Gleichsetzung von Begriff und Subjekt ergebe sich absolutheitstheoretisch, „daß die Tätigkeit des absoluten Subjekts beschrieben werden muß als Selbstentfaltung des Begriffs des Absoluten“71. Ohne die Annahme einer strukturellen Gleichheit von Begriff und Subjekt falle die Behauptung sowohl der logischen Selbstentfaltung des Begriffs als auch diejenige einer dem Notwendigkeitsgesetz spekulativer Logizität folgenden Realität dahin. Nach Pannenbergs Urteil hat die einseitige Orientierung der Hegel’schen Geistphilosophie am Begriff des Subjekts und die daraus resultierende „These von der Subjektivität des Absoluten“72 zur zwangsläufigen Konsequenz, endliche Gedankenbestimmungen in die Theorie des Absoluten einzutragen und das Unendliche nicht geistgemäß als wahrhaft unendlich zu denken (was nur antizipatorisch und in proleptischem Vorgriff möglich sei), sondern in Wahrheit zu verendlichen und damit die Theologie zu anthropologisieren. Diese Tendenz trete gegenläufig zu Hegels Intentionen nicht nur in logischer Hinsicht bzw. in Anbetracht des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie, sondern auch im Zusammenhang des Hegel’schen Bemühens um eine Erneuerung der Gottes70 W. Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 96–111, hier: 105. 71 A. a. O., 106. 72 Ders., Person und Subjekt, in: ders., a. a. O., 80–95, hier: 85.

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beweise zutage. Statt über sie hinauszuführen und sie zu überwinden, vollende sich darin die von Kant weichenstellend vorgenommene Anthropologisierung der Gottesthematik.

Vollendete Anthropologisierung der Gottesthematik Hegels Erneuerung der Gottesbeweise ist nach Pannenberg als Vollendung ihrer von Kant weichenstellend vorgenommenen Anthropologisierung zu verstehen.73 „Das kosmologische und das physikotheologische Argument beziehen sich in Hegels Interpretation nicht mehr direkt auf das Naturgeschehen, sondern in 73 Vgl. hierzu im Einzelnen den Beitrag „Bewusstsein und Subjektivität“ aus dem Sammelband „Metaphysik und Gottesgedanke“. Nach Pannenberg zieht jede subjektivitäts- und selbstbewusstseinstheoretisch fundierte Theorie des Absoluten von Kant über Fichte bis hin zu Hegel und darüber hinaus den Feuerbach’schen Projektionsverdacht auf sich, wonach das Absolute lediglich die „Hypostasierung eines als entgrenzt gedachten Selbstbewußtseins“ (MuG, 36) darstelle. Um diesem Verdacht zu begegnen, sei eine groß angelegte Strategie zu entwickeln, deren erster Schritt auf den Aufweis gerichtet sein müsse, „daß die Inhalte des Gegenstandsbewußtseins nicht reduzierbar sind auf ein in ihnen sich selber darstellendes Selbstbewußtsein“ (ebd.). Zwar bleibe, so Pannenberg, auch unter dieser Prämisse „der Gedanke des Absoluten noch ein Gedanke des Menschen als eines seiner selbst bewußten Wesens. Doch nur dann, wenn das Gegenstandsbewußtsein sich der Auflösung in die Tätigkeit des Selbstbewußtseins widersetzt und seinerseits den Boden für die Genesis des Selbstbewußtseins bildet, läßt sich der Gedanke des Absoluten als Grund alles Endlichen inhaltlich bestimmen, ohne schon allein dadurch in Widersprüche verwickelt zu werden.“ (Ebd.) Um den beabsichtigten Erweis zu erbringen, dass das Gegenstandsbewusstsein „nicht schon ursprünglich durch das Bewußtsein des Ich und seiner Identität begründet“ (MuG, 39) sei, sondern umgekehrt die unverrückbare Grundlage für die Ausbildung selbstbewusster Ichidentität darstelle, wird ausführlich auf die der transzendentalphilosophischen Grundannahme entgegenstehende „These einer Genesis des Ich im Prozeß der Erfahrung selbst“ (MuG, 36) Bezug genommen, die ihre Wurzeln schon bei John Locke und David Hume habe und dann in der Tradition des englischen Empirismus mehr oder minder konsequent verfolgt worden sei, bis William James „mit seiner Unterscheidung von Ich und Selbst und mit seiner Auffassung des Selbstbewußtseins als einer Sequenz von Akten integrierender Selbstidentifikation ein Modell geschaffen (habe), das einen Interpretationsrahmen für die modernen Fragen und Forschungen zum Prozeß der Identitätsbildung bietet“ (MuG, 37). Es ist hier nicht der Ort, etwa auf die Sozialpsychologie von G. H. Mead und ihre Bedeutung für Pannenbergs Verständnis von Bewusstsein und Subjektivität näher einzugehen. Registriert sei nur, dass er „eine prinzipielle Unabhängigkeit des Gegenstandsbewußtseins vom Selbstbewußtsein“ (MuG, 39 f.) für ausgemacht hält. Die Einheit des um sich wissenden Ich stelle nicht die Bedingung jeder möglichen Welterfahrung dar, sei vielmehr ihrerseits durch Welterfahrung vermittelt, „insofern sie es erlaubt, des eigenen Leibes im Zusammenhang der Welt gewahr zu werden und in Verbindung damit das soziale und spirituelle Selbst auszubilden, auf das sich bezieht, wer ‚ich‘ sagt“ (MuG, 40). Durch diese Einsicht sei das Theorem transzendentaler Subjektivität zwar nicht pauschal negiert, weil es im Rahmen wissenschaftlich organisierten Wissens seine methodische Gültigkeit behalte, wohl aber in Grenzen gewiesen und um seinen Anspruch gebracht, Grundlage von Wissenkönnen überhaupt zu sein (vgl. im Einzelnen MuG, 42 f.).

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ihnen drückt sich das Verhältnis des Menschen zur Natur aus, die Erhebung des Menschen über die Endlichkeit der Naturerscheinungen zum Gedanken des Unendlichen, das als wahrhaft Unendliches das Absolute ist.“ (GuF, 13 f.) Gottesbeweise bildeten nach Hegel „nur den formalen Ausdruck der religiösen Erhebung des Menschen über alles Endliche zum Unendlichen“ (GuF, 14). Dies gelte offenkundig für die bei der Erfahrung des Endlichen ihren Ausgang nehmende physikotheologische und für die kosmologische Beweisform. Anders scheint es sich beim ontologischen als dem nach Urteil Hegels höchstrangigen Beweis darzustellen, sofern dieser beim Absoluten selbst ansetze, in welchem Begriff und Dasein koinzidierten, so dass der ontologische Gottesbeweis als realer Selbsterweis Gottes zu denken sei. „Aber die Schwierigkeit des ontologischen Beweises besteht für Hegel darin, wie wir zu dem dabei vorauszusetzenden Begriff von Gott gelangen. Solange er als eine beliebige Voraussetzung erscheint, die man machen, aber auch unterlassen kann, hat der Gedanke Gottes und daher auch das aus ihm gefolgerte Dasein keine Notwendigkeit. Der Begriff Gottes, als Voraussetzung des ontologischen Beweises, muß selbst als ein notwendiger und nicht bloß beliebiger Gedanke dargetan werden, damit das ontologische Argument schlüssig wird. Das bedeutet, daß die Erhebung des menschlichen Geistes über alle endliche Wirklichkeit zum Gedanken Gottes für das ontologische Argument schon vorausgesetzt ist und seine Grundlage bildet. Und zwar muss die Erhebung zum Gedanken Gottes als dem menschlichen Geist unumgänglich und notwendig dargetan werden: sonst bleibt der Ausgangspunkt des ontologischen Beweises ein beliebiger, rein subjektiver Gedanke ohne wahrhaft überführende Kraft.“ (GuF, 15) Am ontologischen Argument tritt der konstruktive Skopus Pannenberg’scher Hegelkritik offen zutage: Sie affirmiert einerseits nachdrücklich, dass die erste und grundlegende Entscheidung über den theoretischen Wirklichkeitsgehalt der Rede von Gott auf „dem Boden anthropologischer Argumentation“ (GuF, 16) zu fallen hat, bestreitet aber andererseits mit nicht geringerem Nachdruck, dass Theologie (und Kosmologie) auf Anthropologie reduziert werden könne.74 74 Ohne Abstraktion von den kosmologischen Bezügen, die ihr unveräußerlich zugehören, hat sich Pannenberg zufolge unter neuzeitlichen Bedingungen vorzugsweise im Kontext der Anthropologie zu erweisen, dass der Mensch in seinem Selbst- und Weltverhältnis von Anfang an und immer schon, wenngleich unthematisch auf einen Unendlichkeitshorizont seines Daseins bezogen ist, wie Descartes dies in seiner dritten Meditation paradigmatisch voraussetzt. Dieses unthematische Wissen von Gott sei in der Ontotheologie der klassischen Metaphysik thematisiert und reflektiert worden. Der unter modernen Voraussetzungen angeblich notwendige Abschied von ihr ist nach Urteil Pannenbergs weder von Kant, noch von Heidegger noch von anderen plausibilisiert worden. Hegels Versuch einer absolutheitstheoretischen Rehabilitierung philosophisch-metaphysischer Theologie wird von daher begrüßt, aber zugleich in seinem Geltungsanspruch eingeschränkt, sofern der von ihm entwickelte Begriff des Absoluten die Wirklichkeit Gottes nicht hinreichend zu erfassen und zu

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Pannenbergs dezidierte Abwehr des von Hegel erhobenen Anspruches einer Aufhebung der religiösen Vorstellungen in den absoluten Begriff gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie seine bereits erwähnte These, wonach ein rechter Begriff des wahrhaft Unendlichen, Absoluten und Sinnganzen nur in der Weise proleptischen Vorgriffs zu erlangen sei.75

Religiöse Vorstellung Gegen die Forderung, die religiöse Vorstellungsform begrifflich aufzuheben, um sie in absolutes Wissen zu überführen, hat sich Pannenberg wiederholt und mit klaren Worten ausgesprochen, die für seine Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Theologie insgesamt in hohem Maße signifikant sind. „Für den philosophischen Begriff des Absoluten in seinem Verhältnis zum Gott der Religion ergibt sich, daß die philosophische Reflexion zur Formulierung von Kriterien für die Auslegung des Gottesverständnisses der religiösen Tradition führen, dieses aber nicht eigentlich ersetzen kann. Die Metaphysik des Absoluten wird gut daran tun, diesen Sachverhalt in Verbindung mit einer vergleichenden Erörterung des Gottesverständnisses in den verschiedenen religiösen Überlieferungen zu erwägen. Wenn sie zur Explikation des Gottesverständnisses einer bestimmten religiösen Überlieferung übergeht, wie es in Hegels Religionsphilosophie und in der Spätphilosophie Schellings geschehen ist, wird sie faktisch zur Theologie. Sie kann aber auch, ohne diesen Schritt zu vollziehen, die Tragweite der allgemeinen Kriterien der Metaphysik des Absoluten für das Verständnis des endlichen Seienden erörtern. Die Aufgabe einer solchen zusammenfassenden Interpretation der Welt des Endlichen ist es ja, um deretwillen die begründen vermöge. Die Grundlage der Pannenberg’schen Hegelkritik bildet die Überzeugung, „dass der philosophische Gottesgedanke eben nur zum Gedanken Gottes vordringt, während über die Wirklichkeit Gottes nur auf dem Boden der Offenbarung und mithin im Zusammenhang der Religion entschieden werden kann“ (Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 332 unter Verweis auf MuG, 18: „Damit nimmt er das Resultat der philosophischen Debatte um das ontologische Argument auf und wendet es zugleich gegen den Anspruch der Philosophie. Der im Denken nicht zu bewältigende Übergang vom Gedanken Gottes zur Wirklichkeit Gottes zeigt, dass und inwiefern die Philosophie auf Religion angewiesen sei; zeigt, dass und worin der Eigensinn der Religion gegenüber dem vernünftigen Denken liegt.“ [Ebd.]). 75 In der Annahme, dass ein Lehrsystem nicht von einem axiomatischen Grundsatz her, sondern mittels Bestimmung seiner Vollzugsmomente auf das resultierende Ganze hin zu entwickeln sei, stimmt Pannenberg mit Hegel überein. Doch insistiert er ihm gegenüber „auf der Geschichtlichkeit und Zukunftsoffenheit der Vernunft“, wie J. Rohls an den einschlägigen Pannenberg-Schriften detailliert aufgewiesen hat ( J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: G. Wenz [Hg.], „Eine neue Menschheit darstellen“, 177–202, hier: 178): „Der Begriff ist daher für ihn (sc. Pannenberg) nicht die höchste Gestalt des Geistes und Gedankens, sondern der Begriff wird zum Vorgriff depotenziert.“ (A. a. O., 182)

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Metaphysik den Überstieg über die Mannigfaltigkeit des Endlichen zur Idee des Einen vollzieht, das die Einheit der Welt begründet, in welcher das Viele seinen Zusammenhalt hat.“ (MuG, 33) Pannenberg wertet den im System Hegels paradigmatisch erhobenen Anspruch einer Aufhebung der religiösen Vorstellung in den Begriff als Merkmal nicht nur eines das Verhältnis der Philosophie zur Religion und Theologie betreffenden Mangels, sondern als „Symptom einer Verkennung der Endlichkeit des philosophischen Denkens oder zumindest der Tragweite dieses Sachverhalts für die Gestalt des philosophischen Gedankens“ (MuG, 67). Nicht als ob sich Philosophie und Metaphysik auf die Grenzen des Endlichen zu fixieren hätten, um sich durch sie äußerlich beschränken zu lassen. Aber sie transzendieren gemäß Pannenberg diese Grenzen nicht durch absolute Selbstentschränkung, sondern durch bedachte Integration eigener Endlichkeit und dadurch, dass „der mit der Geschichtlichkeit jedes Standortes metaphysischer Reflexion gegebenen Endlichkeit in grundsätzlicher Weise Rechnung“ (ebd.) getragen wird. „Das bedeutet, daß ernstzunehmende Metaphysik nicht mehr den Charakter einer aus Begriffen konstruierten Letztbegründung des Seins und Erkennens haben wird. Metaphysisches Denken wird im Verhältnis zu seinem Gegenstand eher die Form konjekturaler Rekonstruktion annehmen, die sich von der intendierten Wahrheit unterscheidet, sich zugleich aber als eine vorläufige Gestalt dieser Wahrheit weiß. Seine charakteristische Denkform wird dann eher die Antizipation als der Begriff im Sinne der klassischen Metaphysik sein. Genauer gesagt: Der philosophische Begriff selbst wird sich als Antizipation darstellen.“ (MuG, 68) 76

Begriff als Vorgriff Auf den Erweis, dass der philosophische Begriff und namentlich derjenige des Absoluten sich als antizipatorischer Vorgriff darzustellen hat, statt sich mit dem Anspruch absoluten Wissens zu verbinden, war bereits der vielbeachtete Vortrag über „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“ angelegt gewesen, den Pannenberg beim Hegelkongress in Stuttgart am 14. Juli 1970 ge76 Was Pannenberg über wissenschaftliche Hypothesenbildung und die Denkform der Antizipation ausführt, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Annahme einer sog. Retroaktivität, einer „rückwirkende(n) Konstitution des Wesens der Sache, die im Werden begriffen ist, von dessen Ende her“ (MuG, 77), wobei die entsprechenden Überlegungen nicht äußerlich an Hegel herangetragen zu sein beanspruchen: „Eine kritische Rekonstruktion der Hegelschen Darstellung könnte den antizipatorischen Charakter des Selbstbewußtseins in der Phänomenologie und des Begriffs in der Logik Hegels gegenläufig zu Hegels eigener Darstellung herausarbeiten, und von da aus würde eine Relativierung des Abschlusses beider Werke sich ergeben.“ (MuG, 74)

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halten hat.77 Signifikant ist die Feststellung, dass die „Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff“ (GuF, 111 Anm. 96) keine „äußerlich gegen das Denken Hegels vorzubringende Antithese“ (ebd.) darstellt: „Vielmehr erweisen sich die Hegelschen Gedankenbestimmungen in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch.“ (Ebd.) Auch wenn Hegel dies selbst so nicht gesagt habe, ergebe sich diese Annahme doch im Vollzug „einer Reflexion, die die Implikationen der gesetzten Bestimmungen und des Verfahrens ihrer Entwicklung auch gegen das Selbstverständnis Hegels kritisch geltend macht“ (GuF, 112 Anm. 96).78 Pannenbergs Hegelkritik verfolgt ein konstruktives Ziel, welches Verfahren für sein Verhältnis zur Philosophie insgesamt kennzeichnend ist. Indem er die Theologie kritisch von der Philosophie unterscheidet, stellt er sie zugleich in ihren Dienst. Wahrgenommen wird der theologische Dienst an der Philosophie durch das gewisse Zeugnis, dass der unvordenkliche Grund der Vernunft offenbar geworden ist.

77 Vgl. W. Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, in: GuF, 78– 113, hier: bes. 108. Was hinwiederum die kreatürlichen Entitäten betrifft, so sind sie in der Weise der Antizipation „immer schon das, was sie im Prozeß ihrer Genese erst noch werden“ (MuG, 88). Vgl. ders., Präsentische Eschatologie in Hegels Geschichtsphilosophie, in: R. Bubner/W. Mesch (Hg.), Die Weltgeschichte − das Weltgericht? (Stuttgarter Hegel-Kongreß 1999), Stuttgart 2001, 312–322. 78 Konkretisiert wird die hermeneutische Kritik in Bezug auf den unveräußerlichen Kontingenzcharakter der Freiheit, deren Selbstvollzug als zufällig „im Sinne des aus der Zukunft Zufallenden“ (GuF, 110) und im Sinne der „Unableitbarkeit aus allem schon Vorhandenen“ (ebd.) zu verstehen sei. Das kritische Geltendmachen der Zukünftigkeit der Freiheit hat eine Betonung der Selbständigkeit von Individualität und des nicht ohne weiteres auf den Begriff zu bringenden Historisch-Faktischen zur Folge, wie sie bei Hegel so nicht gegeben ist, sowie insbesondere die bezeichneten Vorbehalte gegen die von Hegel proklamierte „Aufhebung der religiösen Vorstellungen in den Begriff“ (GuF, 112): „Das historisch Zufällige, das den Inhalt der religiösen Vorstellungen jedenfalls des Christentums bildet, läßt sich nicht unverkürzt auf die Identität des Begriffs bringen. Das gilt gerade auch vom Gehalt der Geschichte, der dem Blick wechselnder Zeiten je Verschiedenes zu erkennen gibt und einer noch nicht erschienenen Zukunft noch anderes bedeuten wird als der Gegenwart. Hegels Polemik gegen die Bemühungen um das Historische des Christentums zielte daher zu kurz. Andererseits behält die andeutende Sprache der religiösen Vorstellung gerade wegen ihrer Vorläufigkeit ein vorerst bleibendes Recht, wenn die Wirklichkeit im ganzen noch unabgeschlossen ist und in ihrem logischen Wesen durchaus nicht unbetroffen bleibt von den Zufällen geschichtlicher Zukunft.“ (Ebd.) Allein in der Zukunft, die Gott selbst ist, koinzidieren Zufall und Notwendigkeit, und beider Differenz ist nur in der Gegenwart von Gottes absoluter Freiheit endgültig vergangen. Dies bestätigt Pannenberg, wenn er sagt, dass die absolute Zukunft zum Wesen der Freiheit gehört, „weil absolute Freiheit keine Zukunft außer ihr selbst hat und so ihre eigene Zukunft ist“ (GuF, 100 Anm. 93).

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5.

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Das Absolute und der offenbare Gott. Epilegomena zu Pannenberg und Schelling

Keine Prolegomena Wer in Pannenbergs Systematische Theologie einführen will, muss als erstes zur Kenntnis nehmen, dass das Werk „gezielt nicht mit Prolegomena“79 beginnt: „Auch das erste Kapitel über ‚Die Wahrheit der christlichen Lehre als Thema der systematischen Theologie‘ ist kein Prolegomenon, sondern integraler Bestandteil der dogmatischen Darstellung selbst.“80 Kann doch nach Urteil des Autors die Wahrheit christlicher Lehre nicht vorweg festgestellt, sondern erst im Durchgang durch ihre Gehalte zur Geltung gebracht werden, dessen stete „Vorläufigkeit“ bewirkt, dass alle getroffenen Sachaussagen „assertorisch und hypothetisch zugleich“81 zu sein haben. Nicht minder wichtig als diese hermeneutische Anweisung ist diejenige gegen Ende des Eingangskapitels der „Systematischen Theologie“, wonach die einleitenden Erörterungen über Gottesgedanken und Gottesbeweise, natürliche Theologie und ihre Kritik im zweiten mittels derjenigen über Religion, Religionen und Religionsgeschichte im dritten Kapitel82 „im 79 F. Nüssel, „Dogmatik als systematische Theologie“! Zur Aktualität des Dogmatik-Verständnisses bei Wolfhart Pannenberg, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, 57–74, hier: 61. 80 A. a. O., 61 f. 81 A. a. O., 74. 82 Für diese − im gegebenen Zusammenhang nicht eigens analysierte − Thematik einschließlich des Problems der Verhältnisbestimmung von Metaphysik, Religionsphilosophie und Offenbarungstheologie sei auf einschlägige Ausführungen von Chr. Axt-Piscalar verwiesen, in denen das Nötige gesagt ist: Das religiöse Bewusstsein und sein Grund. Zum Verhältnis von Religion und Offenbarung in STh I, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“, 113–129. Als „die dem Gottesgedanken angemessene Form des Gottesverhältnisses“ (122) wird weder die religio naturalis vel rationalis noch die metaphysische Ontotheologie, sondern die positive Religion bzw. das durch ihre Positivität bestimmte religiöse Bewusstsein identifiziert, das sich in Offenbarung gegründet weiß und „erst in der trinitarisch bestimmten christlichen Religion zu seiner wahren Bestimmung gelangt“ (ebd.). Zwar lehnt es Pannenberg entschieden ab, den offenbaren Grund der positiven Religion des Christentums in vermittlungsloser Unmittelbarkeit, suprarational oder unter Berufung auf eine nicht argumentationspflichtige Autorität sei es der Heiligen Schrift, sei es des kirchlichen Lehramts etc. zur Geltung zu bringen (vgl. etwa W. Pannenberg, Christliche Theologie und philosophische Kritik, in: GuF, 48–77). Die Positivität der christlichen Religion und des Offenbarungsgeschehens, in dem sie gründet, wird rückvermittelt mit dem, was traditionell natürliche Religion heißt, und bezogen auf die unveräußerlich zum Menschsein des Menschen gehörige Selbst- und Welttranszendenz, auf die für sein Selbst- und Weltverhältnis notwendige Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen sowie auf seine Jenseitsverwiesenheit, von der er gefühlsmäßig nicht loskommt, weil sie ihm wesentlich ist. Diese Rückbeziehung schließt den Bezug auf „vernunftrationale Erkenntnis des Absoluten“ (Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 118) und damit auf die Religionsphilosophie sowie die philosophisch-metaphysische Theologie ein.

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Fortgang der Dogmatik in die Gotteslehre aufgehoben und alle weiteren Ausführungen als Entfaltung der Wirklichkeit Gottes in seiner Offenbarung vorgetragen“ (STh I, 72) würden, womit sich der Begründungszusammenhang umkehre, auch wenn der Bezug auf das Vorhergehende erhalten bleibe. Die Kapitel vier und fünf „Die Offenbarung Gottes“ und „Der trinitarische Gott“ markieren den Vollzug dieser Umkehrung und begründen ihn dergestalt, dass die Erwägungen über „Die Einheit des göttlichen Wesens und seine Eigenschaften“ die erfolgte Umkehrung schon voraussetzen. Nichtsdestoweniger bleibt der Rückbezug auf die der Thematik der Selbstoffenbarung des trinitarischen Gottes vorausgehenden Reflexionen erhalten, was in Bezug auf die philosophische Theologie besonders deutlich im sechsten Unterabschnitt „Die Unendlichkeit Gottes: seine Heiligkeit, Ewigkeit, Allmacht und Allgegenwart“ (vgl. STh I, 429– 456) zutage tritt. In welchem Kontext die entsprechenden Ausführungen stehen, habe ich anderwärts in gebotener Kürze dargestellt83, worauf verwiesen sei, weil die Komplexität der Thematik keine zusätzlichen Kürzungen verträgt. Entscheidend ist im gegebenen Zusammenhang zum einen, wie Pannenberg das Verhältnis zwischen philosophischer Theologie und christlicher Offenbarungstheologie generell bestimmt, und welche spezifische Bedeutung er zum anderen den jeweiligen philosophischen Bestimmungen der Gottheit Gottes zuteil werden lässt. Was die letzte Frage betrifft, so wird vermerkt, dass in Bezug auf die christliche Schöpfungslehre traditionell die allgemeine Vorstellung der Erstursächlichkeit als philosophische Prämisse fungiert habe. Hingegen sei bereits von Gregor von Nyssa die zentrale Stellung dieses Gedankens metaphysischer Gotteslehre bestritten und die Annahme der Erstursächlichkeit im Sinne des ursprungslosen Indem sie den für die Theologie unverzichtbaren Deutehorizont begrifflich namhaft machen, formulieren philosophische Theologie und Religionsphilosophie nach Pannenbergs Urteil die Rahmenbedingungen verständig-vernünftiger Rede von Gott und seiner Offenbarung, in der sich Religion positiv gegründet weiß. Doch lasse sich religiöse Positivität nicht rational und vernunftspekulativ aufheben und nachgerade deshalb nicht, weil Gottes Sein „nicht in seinem Gedachtsein aufgeht“ (116). Für die Gesamtkonzeption der Systematischen Theologie folgt daraus: „Die vernunftrationale Erkenntnis des Absoluten unter neuzeitlichen Bedingungen wird daran gemessen, ob sie die Vorgängigkeit und Nicht-Produziertheit des Grundes aller Selbst- und Welterkenntnis an der Stelle des religiösen Bewusstseins und seines Gottesverhältnisses wahrt.“ (118) „Dem entspricht im Zusammenhang der Gotteslehre, dass die ‚Vorausgesetztheit‘ der göttlichen Wirklichkeit nicht als abstrakt vorausgesetzt gedacht werden darf, sondern so, dass sie zugleich als Grund ihres Seins beim Anderen ihrer selbst und so auch im religiösen Bewusstsein des Menschen gedacht werden kann. Eingeholt wird dieser Gottesgedanke − und darin liegt die für die Gotteslehre mitgeführte Pointe der Pannenbergschen Argumentation − erst durch die Trinitätslehre.“ (Ebd. Anm. 20) Zu den materialen Gehalten des dritten Kapitels von STh I über die Wirklichkeit Gottes und der Götter in der Erfahrung der Religionen vgl. G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2013, 54 ff. 83 Vgl. G. Wenz, a. a. O., 81–92.

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Ursprungs durch den Gedanken der Unendlichkeit ersetzt worden (vgl. STh I, 378). Noch entschiedener habe sodann Descartes „den Primat der Idee des Unendlichen für den Gottesgedanken geltend gemacht“ (STh I, 379) 84, der schließlich durch Schleiermacher auch maßgebliche Bedeutung für den neuzeitlichen Religionsbegriff gewonnen habe (vgl. STh I, 428). Durch diese Entwicklung sei die Vorstellung der Erstursächlichkeit nicht aus dem Gottesgedanken eliminiert worden, wohl aber habe sie ihre fundamentale Funktion für ihn verloren, um zu einem untergeordneten Moment zu werden (vgl. STh I, 427). Bleibt zu prüfen, „ob der durch den Gedanken des Unendlichen modifizierte Vorbegriff vom göttlichen Wesen überhaupt dem biblischen Gottesverständnis wirklich entspricht“ (STh I, 428). Entsprechende Fragen ziehen auch Vorbegriffe göttlichen Wesens wie das Absolute oder der absolute Geist etc. auf sich. Pannenberg beantwortet sie mit dem Hinweis, dass die genannten Vorbegriffe des Wesens Gottes aufzuheben seien in den Realbegriff der dreieinigen Liebe Gottes, dessen trinitarisches Geheimnis durch Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes in seiner Unbegreiflichkeit offenbar geworden sei.

Konkrete Manifestationen der Unendlichkeit Gottes Um im gegebenen Zusammenhang nur mehr den Unendlichkeitsbegriff „zusammen mit einer Reihe ihm eng verbundener Eigenschaftsaussagen“ (STh I, 429) wie Heiligkeit, Ewigkeit, Allmacht und Allgegenwart in den Blick zu nehmen, so versteht Pannenberg die drei letztgenannten Attribute „als konkrete Manifestationen der Unendlichkeit Gottes unter den Gesichtspunkten der Zeit, der Kraft und des Raumes“ (STh I, 430), wohingegen die Aussage der Heiligkeit den Gedanken der Unendlichkeit so erläutere, dass er überhaupt erst im Sinne der Unendlichkeit des offenbaren Gottes verstanden werden könne, wie die Bibel ihn bezeuge. Pannenberg geht zwar von einer „strukturelle(n) Übereinstimmung biblischen Redens von der Heiligkeit Gottes mit dem Begriff des wahrhaft Unendlichen“ (STh, 432) aus, sagt aber zugleich, dass der Begriff der Heiligkeit Gottes die differenzierte Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit bzw. die vom Unendlichen umgriffene Differenz von Unendlichem und Endlichem differenzierter und bestimmter bestimme als der Gedanke des wahrhaft Unendlichen als solcher, der vergleichsweise abstrakt und unbestimmt bleibe. Was für den Gedanken des wahrhaft Unendlichen gilt, trifft nach Pannenberg im Grunde für alle Gottesprädikationen philosophischer Theologie zu: sie blei84 Unter Bezug auf A. Koyré, Descartes und die Scholastik, (Bonn 1893) Darmstadt 1971, und die von ihm a. a. O., 18 ff. erörterte Idee des Unendlichen, die „das ganze Denken Descartes eingenommen“ (20) habe.

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ben unbeschadet ihrer kriteriologischen Funktion für kommunikable Rede von Gott vergleichsweise abstrakt und unbestimmt sowie in ihrer unbestimmten Abstraktheit uneindeutig, welche Uneindeutigkeit eindeutig bestimmt werden muss, um nicht zweideutig, ambivalent und tendenziell verkehrt zu werden. Dies gilt für den metaphysischen Gedanken des erstursächlichen Bewegers, des alles gründenden Grundes, des ens necessarium bzw. realissimum etc. und auch für die Idee des wahrhaft Unendlichen sowie eine trinitarisch strukturierte Idee des Absoluten, die den Begriff des absoluten Geistes aus der Logizität reiner Vernunft heraus zu genetisieren beansprucht. Dezidiert widerspricht Pannenberg der Annahme, eine als spekulative Idee des wahrhaft Unendlichen und Absoluten konzipierte Trinitätslehre könne die offenbarungsbegründete Positivität der christlichen Religion in vernünftige Theorie und absolutes Wissen überführen und aufheben. Trinitätstheologie entspreche ihrer christlichen Bestimmung nur, wenn sie die Dreieinigkeit Gottes als ihrer lehrhaften Form so vorausgesetzt bedenke, dass deren Unvordenklichkeit erkennbar werde bzw. sich zu erkennen gebe. Die Positivität der Offenbarung, in der sich christliche Religion begründet wisse, werde durch die Trinitätslehre nicht behoben, sondern absolut gesetzt dergestalt, dass der offenbare Gott als sich selbst voraussetzende Voraussetzung wahrgenommen werde, die durch keinen Gegensatz bedingt sei, weil sie alles in sich zu befassen bzw. sich im Anderen als einem Anderen selbst zu explizieren vermöge und zwar nicht nur abstrakt, sondern konkret bis in extremis. Ohne das im Namen Jesu Christi beschlossene prinzipielle Offenbarungsfaktum lässt sich diese Einsicht nach Pannenberg nicht erlangen, wobei hinzuzufügen ist, dass die Faktizität der Offenbarung ihre Bedeutung in sich trägt. Deutungstheoretische Ansätze, die Religion aus dem Vollzug der Selbstauslegung menschlicher Subjektivität heraus zu begreifen versuchen, werden unter diesem Gesichtspunkt als theologisch und dem religiösen Bewusstsein der positiven Religionen ebenso unangemessen kritisiert wie vernunftspekulative Konzepte Hegel’scher Provenienz.85 85 Vgl. Chr. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche, 329, wo zurecht hervorgehoben wird, Pannenbergs Betonung des Vernunftanspruchs der Trinitätslehre auf wahrhafte Vermittlung von Endlichem und Unendlichem bedeute nicht, dass er „die christliche Trinitätslehre als spekulative Gotteslehre aus der Vernunft konstruiert, wie dies Hegel mit besagten Schwächen versucht hat. Pannenberg zeigt im kritischen Durchgang durch die Denkgeschichte des Einen, was die Metaphysik in der Verhältnisbestimmung des Einen zum Vielen zu leisten hat und welchen Problemen die Philosophie verhaftet blieb − um seinerseits auf diesem Boden den auch vernünftig begründbaren Anspruch der Trinitätslehre als Ausformulierung des Gedankens des wahrhaft Unendlichen zu behaupten.“ Axt-Piscalar fährt fort: „Die christliche Trinitätslehre selbst … entwickelt Pannenberg auf dem Boden von Person und Geschichte Jesu Christi, genauer aus dem Sohnesverhältnis Jesu zum Vater. Pannenberg setzt also dort, wo er die christliche Trinitätslehre entfaltet, durchaus ganz offenbarungstheologisch mit der von Jesus vollzogenen Selbstunterscheidung vom Vater ein. Eine angemessene Zuordnung

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Metaphysische Gotteslehre und Offenbarungstheologie Mit den Darlegungen zur offenbarungstheologischen Transformation philosophischer Gottesattribute ist im Grunde bereits die Antwort auf die Ausgangsfrage nach der generellen Beziehung zwischen philosophischer Gotteslehre und christlicher Offenbarungstheologie gegeben. Christliche Offenbarungstheologie bedarf nach Pannenbergs Urteil einer philosophischen Gotteslehre, um den „Minimalbedingungen für ein innerlich konsistentes Reden von Gott“ (STh I, 426) genügen zu können. Jedoch dürfe der philosophische Gottesgedanke als Inbegriff jener Minimalbedingungen für vernünftige Gottesrede „nicht verwechselt werden mit der konkreten Wirklichkeit Gottes. Er ist nicht identisch mit dem Wesen Gottes, das sich in seinem geschichtlichen Handeln offenbart.“ (Ebd.) Für das Verhältnis der Theologie zur Philosophie besagt dies, dass sie, die Theologie, gegenüber jener, der Philosophie, ihre Gotteslehre und zwar nachgerade in ihrem Anspruch auf Vernünftigkeit nicht unmittelbar aus Vernunft heraus zu konstruieren vorgeben wird. Wüsste man nicht von Pannenbergs Bedenken in dieser Hinsicht, wäre man als lutherischer Theologe geneigt, seine Verhältnisbestimmung von philosophischer und theologischer Gotteslehre mit derjenigen von Gesetz und Evangelium in Verbindung zu bringen. Als näherliegend mag demgegenüber ein Vergleich mit „Schellings Zuordnung von negativer und positiver Philosophie“86 erscheinen. Zwar ist Schelling im Unterschied zu Hegel, Kant oder Descartes „kein wirklich prominenter Referenzpunkt für Pannenberg“87 und zwar auch nicht in Gestalt seiner auf die Freiheitsschrift von 180988 folgenden sog. Spätphilosophie, auf die im Gegenteil noch seltener Bezug genommen wird als beispielsweise auf von vernünftigem und theologischem Gottesgedanken bei Pannenberg hängt an der Kunst des rechten Unterscheidens in besagtem Sinn. Es darf diesbezüglich keine gradlinige Adaption des philosophischen Gottesgedankens angenommen werden. Die Auseinandersetzung mit der Philosophie ist eine kritische und zugleich konstruktive, indem die gedankliche Konsistenz philosophischer Rede von Gott beansprucht wird, um auf diesem Boden die trinitarische Rede von Gott in ihrem Wahrheitsanspruch zur Geltung zu bringen. Dass die trinitarische Rede von Gott in dieser Weise auf die philosophische Debattenlage hin plausibilisiert wird − und nicht nur dies, sondern ihr gegenüber auch der höhere Wahrheitsanspruch im Blick auf das Verhältnis des Einen zum Vielen für die theologische Gotteslehre behauptet wird − darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die spezifisch christliche Trinitätslehre offenbarungstheologisch begründet und aus dem Selbstverhältnis Jesu zum Vater in der Gemeinschaft des Heiligen Geistes entfaltet wird.“ (330 f.) 86 Chr. Axt-Piscalar, a. a. O., 331 Anm. 33. 87 Ebd. 88 F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Hg. v. Th. Buchheim, Hamburg 1997. Zur philosophischen und theologischen Wirkung der Schrift vgl. G. Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift, München 2010.

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Schellings Anfänge89. Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass Pannenberg von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung90 in mancherlei Hinsicht ähnlich lehrte wie der späte Schelling. Es wäre eine lohnende Aufgabe, den Nachweis für diese These zu erbringen, etwa unter Bezug auf die Vorlesungen, die Schelling vor 184 Jahren, im Wintersemester 1831/32 an der Münchener Universität gehalten und die ihr Herausgeber zur „Urfassung der Philosophie der Offenbarung“ erklärt hat.91 Doch tut ein Redner gut daran, nicht alles selbst sagen zu wollen, damit bei Gelegenheit auch noch andere zu Wort kommen können, im Falle dieses Epilogs derjenige, dem bzw. dessen Besuchern der Prolog gewidmet war. Heidegger hat Schellings „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ „eines der tiefsten Werke der deutschen und damit der abendländischen Philosophie“92 genannt, welches „den deutschen Idealismus von innen her über seine eigene Grundstellung hinaus(getrieben)“93 habe. Analoges lässt sich auch über Wolfhart Pannenberg sagen, der heute vor 87 Jahren, am 2. Oktober 1928, geboren wurde und am 4. September vergangenen Jahres gestorben ist: Er hat der modernen evangelischen Theologie, deren Problemgeschichte ihm wie wenig anderen präsent war94, eine neue Richtung gegeben und der christlichen Ökumene ein dogmatisches Werk von herausragender Bedeutung geschenkt. Die EvangelischTheologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München gedenkt ihres ehemaligen Mitglieds und Gründungsprofessors mit Hochachtung und Stolz.

89 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1969, 226 ff. 90 Vgl. G. Wenz, Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung. Zum Streit Jacobis mit Schelling 1811/12, München 2011. 91 F.W.J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung. 2 Bde. Hg. v. W.E. Ehrhardt, Hamburg 1992. Vgl. G. Wenz, Sünde. Hamartiologische Fallstudien (Studium Systematische Theologie Bd. 8), Göttingen 2013, 7 ff. Von Schelling her mag vielleicht auch ein neues Licht auf Pannenbergs Verhältnis zum Kirchenvater des 19. Jahrhunderts fallen. Religion ist ein anthropologisches Universale, das unveräußerlich zum Menschsein des Menschen gehört und weder durch Theorie noch durch Praxis, weder durch Metaphysik noch durch Moral zu substituieren ist. Diese Überzeugung teilt Pannenberg trotz aller sonstigen Vorbehalte mit F.D.E. Schleiermacher ebenso wie die Annahme ausnahmsloser Positivität, will heißen: geschichtlicher Verfasstheit der Religion, die nie lediglich im allgemeinen, als religio naturalis vel rationalis, sondern stets konkret als christliche, jüdische, muslimische etc. geübt wird. 92 M. Heidegger, Schelling. Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Frankfurt a.M. 1988 (Gesamtausgabe II. Abteilung. Vorlesungen 1919–1944. Bd. 42), 3. 93 A. a. O., 6. Vgl. dazu die klassische Monographie von W. Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1975. 94 Vgl. W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997.

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Ausfahrt Todtnauberg Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger

1.

Gestundete Zeit

Am 15. August 1952 erschien in dem Journal „Die Neue Zeitung. Die amerikanische Zeitung in Deutschland“ (Frankfurt a.M., Jg. 8, Nr. 191, S. 4) ein Gedicht von Ingeborg Bachmann. Es handelte sich um eine Erstveröffentlichung unter dem Titel „Die gestundete Zeit“, der wenig später die Überschrift über eine 1953 publizierte Gedichtsammlung bilden sollte.1 Titel und Text („Die auf Widerruf gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont“2) rufen bewusst und gewollt, wie ich meine, Heideggerassoziationen hervor. Dies trifft sich, um ganz schnell von Poesie auf Alltagsprosa umzuschalten, insofern gut, als just am Tag der Erstpublikation des Bachmann-Gedichts ein anderes, auf seine Weise nicht minder denkwürdiges Ereignis stattfand, nämlich der Start einer kleinen Schar Heidelberger Jungtheologen unter Führung Wolfhart Pannenbergs zu einem Besuch der Todtnauberger Heideggerhütte. Mit von der Partie waren Klaus Koch, Rolf Rendtorff, Dietrich Rößler sowie Ulrich Wilckens, der die Freunde vor Ort in Hinterzarten erwartete. Wer sich aufs Zeichenlesen und zudem auf die Kunst des Kalauerns versteht, wird von der Schwarzwaldfahrt der Heidelberger Kommilitonen aus unschwer den einen oder anderen Bezug herstellen können zur Eingangsstrophe des „Ausfahrt“ betitelten ersten Gedichts der Sammlung „Gestundete Zeit“, wo es heißt: „Vom Lande steigt Rauch auf. / Die kleine Fischerhütte behalt im Aug, / denn die Sonne wird sinken, / ehe du zehn Meilen zurückgelegt hast.“3 Fakt ist, dass die Motorradcrew um Pannenberg mit den Gestellen, auf denen sie an1 I. Bachmann, Die gestundete Zeit, in: dies., Werke. Hg. v. Chr. Koschel, I. v. Weidenbaum, C. Münster. Erster Band: Gedichte. Hörspiele. Libretti. Übersetzungen, München/Zürich 1978, 27–79. 2 A. a. O., 37. 3 A. a. O., 28.

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reisten, bis zu Stürzen hin manche Probleme hatten, so dass sie zu dem mit Heidegger für den 16. 8. 1952, 15.00 h vereinbarten Treffen eine geschlagene Stunde zu spät kamen. Der Meister, dessen äußere Erscheinung Pannenberg in einem Brief an seine spätere Frau als die eines „kleinen, etwas beleibten Bauern“ beschrieb, nahm es gelassen, bewirtete seine Gäste, um noch einmal Pannenberg zu zitieren, „mit Tee und vorzüglichem Gebäck“, um mit ihnen sodann zum Zwecke peripatetischen Philosophierens einen ausgedehnten Schwarzwaldspaziergang zu machen. Thema des Gesprächs der Schwarzwaldperipatetiker war, was niemand verwundern wird, das Verhältnis von Philosophie und Theologie, wobei Pannenberg zufolge Heidegger anfangs nachdrücklich die Differenz beider betont haben soll, um sich dann allmählich aus nicht näher ausgeführten Gründen der dezidierten Einheitsthese der Heidelberger zu öffnen. Näheres zu der angesprochenen Sachthematik und zu den Begleitumständen des Heideggerbesuchs des Pannenbergkreises im August 1952 werde ich im öffentlichen Abendvortrag der heutigen Akademischen Gedenkfeier mitteilen (s. o. 15 ff.). Hier sei lediglich auf einige Theorieanstrengungen in seiner Folge aufmerksam gemacht, beginnend mit dem von Pannenberg konzipierten Entwurf eines Briefes an Heidegger aus gegebenem Anlass bis zu einigen Grundsatzerklärungen beider zur ontotheologischen Verfassung der Metaphysik aus späterer Zeit. Erschlossen werden soll primär die Sicht Pannenbergs, wohingegen die Heideggeranalyse auf diesen Zweck hingeordnet und insofern von sekundärer Bedeutung sein wird.

2.

Versuchte Replik

In einer privat erstellten und unveröffentlichten „Chronik des (später so genannten) Pannenberg-Kreises“, die durch Martin Elze an mich gelangt ist, findet sich eine Kurzfassung dessen, was Pannenberg in seinem auf den 18.8. datierten Brief ausführlich geschildert hat: „16.8.52, 16 h magno cum tempore zum Tee bei Martin Heidegger.“ Es folgt der Hinweis auf den anschließenden Ausflug, auf kleine Lästereien über Heidelberger Lehrer und auf ein Gespräch mit dem Meister über, wie vermerkt, Grundsatzfragen von Philosophie und Theologie sowie ihr Verhältnis zueinander. Am Abend, heißt es weiter, „Zeltlager im Bachtal“; schließlich Feldberg, Freiburg. Bald wird die gemeinsame Heidelberger Zeit zu Ende gehen, nicht hingegen die eingeschworene Geistgemeinschaft: „Setzung des Begriffs ‚Der Kreis‘“ lautet das Heidelberger Schlußresumé im Buch der Chronik. Einen indirekten Eindruck von den Inhalten der Unterredungen der junger Todtnaubergbesucher mit dem weltberühmten Schwarzwaldphilosophen, der

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fast ihr Großvater hätte sein können, vermittelt ein Briefkonzept4, in welchem der „Kreis“ dem „sehr verehrten Herrn Professor“ Gedanken über das Verhältnis der Theologie zur Philosophie im Anschluss an das Augustgespräch vorzutragen gewillt war. Der Entwurf des Schreibens stammt von Pannenberg. Seine dritte, vermutlich vorletzte und weitgehend ins Reine geschriebene Variante ist in sechs Abschnitte gegliedert und beginnt mit der Feststellung, dass die Theologie auf das Gespräch mit der Philosophie gewiesen sei, „weil sie als denkende Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens die Frage nach ihren eigenen Denkvoraussetzungen stellen muss. Solche Voraussetzungen sind dadurch gegeben, dass die Verkündigung in dem jeweiligen geschichtlichen Selbst- und Weltverständnis des Menschen hörbar werden soll, und dadurch, dass die Aussagen des Glaubens an Christus unvermeidlich irgendein Selbst- und Weltverständnis mitaussprechen.“ Trotz ihrer Ver- und Angewiesenheit auf Philosophie könne, wie in einem zweiten Gedankenschritt deutlich gemacht wird, die Theologie „philosophische Gedanken über Mensch und Welt nie ohne Kritik übernehmen. Sie kann nicht einer auch dem Nichtglaubenden zugänglichen Auslegung des Seins des Menschen und der Welt nur den Überbau von aus ihrer besonderen Offenbarungsquelle gewonnenen Aussagen über Gott hinzufügen.“ Die Gründe hierfür werden in den Folgeabsätzen dargelegt, die als bemerkenswertes Zeugnis für das geistige Format Pannenbergs und seiner Theologenfreunde ungekürzt wiedergegeben werden sollen. „Die das philosophische Denken bewegende Frage nach dem Sein ist nicht theologisch gleichgültig. Im Glauben an Gott als den Herrn des Menschen glaubt der Christ an Gott, der als Schöpfer den Menschen in sein Dasein gesetzt hat und der ihm als Erlöser den Zugang zu seinem eigentlichen Sein wieder öffnet; denn der Mensch hat immer schon vergessen, dass das Sein seines Daseins in seinem Von-Gott-her liegt und ist in dieser seiner Seinsvergessenheit (zunächst: Selbstvergessenheit, dann verbessert; G. W.) dem Tode verfallen, aus welcher Verfallenheit ihn nur die Öffnung des Zugangs zu seinem Sein bei Gott retten kann. Diesen Zugang kann der Mensch sich nicht selbst öffnen, weil er eben nicht in sich selbst sein Sein hat, sondern nur 4 Der maschinenschriftliche Text (Überschrift der Erstfassung: „Entwurf zu einem Brief an Heidegger“) befindet sich samt Varianten und Kommentaren von Ulrich Wilckens, Dietrich Rößler, Klaus Koch und Rolf Rendtorff in dem im Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verwahrten Pannenberg-Nachlass. Beigegeben sind ein Kommentar Pannenbergs zu den Kommentaren seiner vier Kollegen sowie eine zusätzliche Stellungnahme Rendtorffs. Ob der Konzeptionsprozess zum Ergebnis eines Briefes führte, der an Heidegger abgeschickt wurde und seinen Adressaten tatsächlich erreichte, ist unklar und mindestens zweifelhaft. Im Heidegger-Bestand des Deutschen Literaturarchivs Marbach gibt es nach brieflicher Auskunft vom 21. April 2015 weder einen Brief von Wolfhart Pannenberg, noch ein Schreiben der anderen vier Theologen, die Heidegger zusammen mit Pannenberg am 16. 8. 1952 besucht hatten. Allerdings ist zu vermerken, dass die Korrespondenz Heideggers im Marbacher Archiv „nicht besonders umfangreich und sicherlich nicht vollständig“ ist.

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Gott kann ihn öffnen, der im Ursprung das Seins des Menschen ist: Als denkende Selbstvergewisserung des Glaubens muss also auch die Theologie die Frage nach dem Sein stellen, und zwar in dem Bewusstsein, dass nur von Gott her verstanden werden kann, was Sein ist, und dass der Zugang zum Verständnis von Sein nur in der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Christus geöffnet ist. In seinem allgemeinen Anwesen ist das Sein dem Verstehen nicht zugänglich. Das geschichtlich besondere Seiende der Geschehnisse, in denen das Heilsgeschehen sich vollzieht, ist das bei Stellung der Seinsfrage primär auf sein Sein zu Befragende. Erst von daher kann das Sein des Menschen überhaupt und der Welt für den an Christus Glaubenden durchsichtig werden.“ Pannenberg führt fort: „Der Mensch, der sein Sein als durch Christus neu gesetzt erfährt, bewegt sich immer schon in einem Selbstverständnis, in welchem er sein Sein aus sich selbst und aus seiner Welt versteht und welches in seiner Besonderheit durch die Herkunft dieses Menschen geprägt ist. Dieses Seinsverständnis entspringt aber gerade aus der Seinsvergessenheit, insofern der Mensch seines Seins in seiner Welt abgelöst von seinem Ursprung in Gott gewiss sein will und höchstens von seinem Selbst- und Weltverständnis aus ein Verhältnis zu Gott in den Blick bekommt. Zu solcher präsumptiven Seinsgewissheit tritt der Glaube in Widerspruch. Die denkende Selbstvergewisserung des Glauben entwickelt den Widerspruch, indem sie das Sein von Welt und Mensch aus seinem Ursprung neu versteht.“ Indem die denkende Selbstvergewisserung des Glaubens den Widerspruch entwickelt, in welchem dieser zur präsumptiven Seinsgewissheit des Menschen in der Welt tritt, wird sie an sich selbst einer Widersprüchlichkeit gewahr. Denn die „Formen des Denkens, in denen sich die Selbstvergewisserung des Glaubens vollzieht, entstammen“, wie es unter Punkt 4 heißt, „selbst dem vorgängigen Seinsverständnis einer präsumptiven Seinsgewissheit, zu welcher der Glaube an Gott in Christus in Gegensatz steht. Auch jene Formen sind deshalb von dem Ursprung der Selbstvergewisserung des Glaubens her immer neu in Frage zu stellen und umzuformen.“ Das Schreiben schließt mit folgendem Resumee: „Philosophische Seinsvergewisserung, die sich nicht vom Glauben an Christus her vollzieht und durch diesen Ursprung strukturiert ist, muss der Theologie als wurzelnd in präsumptiver Seinsgewissheit – in der Seinserfahrung der Seinsvergessenheit – erscheinen. Andererseits geht die Theologie selbst (sofern man mit diesem Namen ein Bemühen um besondere Gegenstandsbereiche versteht) in der Bewegung denkender Vergewisserung des Glaubens an Gott in Christus auf, in welcher die Überlieferung der Kirche ihren Wahrheitsanspruch je neu erweisen muss. Solche Vergewisserung könnte ein Philosophieren in der Seinserfahrung des Glaubens genannt werden.“

Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger

3.

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Verschwiegener Gott

Pannenbergs Konzept eines Briefes an Heidegger in Reaktion auf das Todtnauberger Gespräch am 16. August 1952 ist ein klassisches work in progress, von dem man nicht weiß, ob es je zu einem definitiven Abschluss gekommen ist. Mit Sicherheit hat sich die Arbeit bis in den Herbst des Jahres 1952 hingezogen, wie ein Brief vom 9. Oktober belegt, den mir Frau Pannenberg in Auszügen zur Kenntnis gab. Auch in der Folgezeit bleibt Heidegger ein virtueller Gesprächspartner Pannenbergs und seines „Kreises“, obwohl der tatsächliche Einfluss des Philosophen auf das Programm von „Offenbarung als Geschichte“ nur schwer präzise zu bestimmen ist. Ausdrücklich thematisiert wurde er m. W. kaum je und, wenn überhaupt, dann in recht vager Weise.5 Statt die Wirkungsgeschichte der einstmaligen Einkehr bei Heidegger weiterzuverfolgen, wozu nach Lage der Dinge gesicherte Kenntnisse fehlen, sei in Bezug auf einen ein knappes Jahrzehnt später, genauer: am 24. Februar 1957 in Todtnauberg gehaltenen Vortrags ein konkretes Beispiel Pannenberg’scher Heideggerrezeption gegeben. Konzipiert wurde besagter Vortrag als Abschluss einer Seminarübung Heideggers vom Wintersemester 1956/57 über Hegels „Wissenschaft der Logik“. In 5 Der im selben Jahr wie Wolfhart Pannenberg geborene und gestorbene O. Pöggeler, langjähriger Leiter des Hegel-Archivs an der Ruhr-Universität Bochum und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologische Forschung, hat mehrfach behauptet, die Repräsentanten des Kreises „Offenbarung als Geschichte“ hätten als „Schüler von Rads“ (O. Pöggeler, Heidegger in seiner Zeit, München 1999, 15) „zuerst neben Hegel auch Heideggers Seinsgeschichte für eine Heilsgeschichte (beansprucht), die im Alten Testament den Begriff von Geschichte als Grundfrage fand“ (ebd.): „Das Alte Testament wurde nicht mehr historisch verstanden, sondern (mit von Rad und gegen Noth) als Zeugnis einer Heilsgeschichte; so konnte seine Geschichtserfahrung zur Fundamentaldisziplin der christlichen Theologie und vor allem der Auslegung des Neuen Testamentes werden. Es war unmöglich geworden, mit Bultmann in der Theologie des Apostels Paulus zuerst anthropologische Grundlagen herauszuarbeiten und darauf dann seine Theologie aufzubauen. Vielmehr ging man davon aus, daß Paulus von der Erfahrung der Geschichte ausgehe und auf das neue Angebot einer Versöhnung mit Gott verweise.“ (A. a. O., 274 f.) Ähnlich hatte Pöggeler schon in seiner Monographie „Der Denkweg Martin Heideggers“ von 1963 sowie in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes „Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes“ argumentiert: Die neue Zuwendung zum Geschichtsproblem im Pannenbergkreis, die zu intensivsten Diskussionen innerhalb der evangelischen Theologie geführt hätten, polemisiere zwar gegen Bultmanns Ausdeutung von „Sein und Zeit“; knüpfe aber „wieder an Heidegger an, nämlich an das sog. ‚Spätwerk‘“ (O. Pöggeler [Hg.], Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Köln/ Berlin 1969, 29) und an dasjenige, was in ihm Lichtungsgeschichte genannt werde. „Doch ist in solcher Gleichsetzung von Heilsgeschichte und Lichtungsgeschichte nicht Heterogenes zusammengedacht, ist Heidegger nicht auf eine Herkunft bezogen, von der er sich immer nur abzusetzen versucht hat? Sosehr Ereignis und Sage, Geschichte und Überlieferungsgeschichte im Alten Testament wie in der Hermeneutik Heideggers (und Gadamers) im engsten Zusammenhang stehen – denkt Heidegger das Ereignis von der alttestamentlichen Tradition aus oder in Entgegensetzung zu dieser Tradition?“ (Ebd.)

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stellenweise überarbeiteter Form ist er zusammen mit der am 27. Juni 1957 zum Tag der Fakultäten anlässlich des Fünfhundertjährigen Jubiläums der Universität Freiburg i.Br. vorgetragenen Studie „Der Satz der Identität“ in dem Sammelband „Identität und Differenz“ erschienen. Seine siebte Auflage befindet sich in der an der Münchener Hochschule für Philosophie verwahrten Bibliothek Pannenbergs (Buch Nr. 02952) 6 – übrigens als das einzige Heideggerwerk neben „Sein und Zeit“ und einer Kopie der Abhandlung „Vom Wesen des Grundes“7. Pannenberg hat den Heideggervortrag zur onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik intensiv studiert, wie nicht nur zahlreiche Unterstreichungen im Handexemplar, sondern auch die Überlegungen zum Thema „Das Ende der Metaphysik und der

6 M. Heidegger, Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: ders., Identität und Differenz (1957), Pfullingen 71982, 31–67. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum überlieferten Begriff der Metaphysik als der „Wissenschaft, die die ersten Gründe dessen enthält, was menschliches Erkennen erfaßt“, und zum Ansatz ihrer Grundlegung vgl. ferner etwa M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. Gesamtausgabe I/ 3, Frankfurt a.Main 1991, hier: 5. Nehme man den Begriff „Metaphysik“ nicht in der „rein buchtechnische(n) Bedeutung des Ausdrucks meta ta physika (als Sammelname für diejenigen Abhandlungen des Aristoteles, die den zur ‚Physik‘ gehörigen nachgeordnet sind)“ (6), dann stehe er „für eine grundsätzliche philosophische Verlegenheit“ (7). Als „Titel für die Verlegenheit der Philosophie schlechthin“ (8) fordere der Begriff der Metaphysik die Kant’sche Frage nach der Bedingung ihrer Möglichkeit förmlich heraus, was Heidegger durch die Bemerkung unterstreicht: „Die nacharistotelische abendländische Metaphysik verdankt ihre Ausbildung nicht der Übernahme und Fortführung eines angeblich existierenden Aristotelischen Systems, sondern dem Nichtverstehen der Fragwürdigkeit und Offenheit, in der Plato und Aristoteles die zentralen Probleme stehen ließen.“ (Ebd.) Eine Grundlegung der Metaphysik müsse darauf angelegt sein, ihre innere Möglichkeit zu enthüllen. Vgl. des Weiteren: M. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen5 1987, wo eine scharfe Grenze zwischen philosophischer Metaphysik und Theologie gezogen wird: „Eine ‚christliche Philosophie‘ ist ein hölzernes Eisen und ein Missverständnis. Zwar gibt es eine denkend fragende Durcharbeitung der christlich erfahrenen Welt, d. h. des Glaubens. Das ist dann Theologie. Nur Zeiten, die selbst nicht mehr recht an die wahrhafte Größe der Aufgabe der Theologie glauben, kommen auf die verderbliche Meinung, durch vermeintliche Aufrüstung mit Hilfe der Philosophie könne eine Theologie gewinnen oder gar ersetzt und dem Zeitbedürfnis schmackhafter gemacht werden.“ (6) Zum Thema insgesamt vgl. zusammenfassend M. Jung/H. Zaborowski, Theologie. Konstellation zwischen Vereinnahmung und Distanz, in: D. Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 22013, 491–497. Zu Heideggers Vortrag „Phänomenologie und Theologie“ („der einzige Text, der sich explizit mit dem titelgebenden Thema auseinandersetzt“ [a. a. O., 492]), der 1927 gehalten, aber erst 1968/ 70 veröffentlicht wurde, vgl. a. a. O., 492 f. Hierauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. 7 M. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte. Unveränderte 5. Auflage, Halle 1941 (Pannenbergbibliothek Nr. 02950) sowie: Ders., Vom Wesen des Grundes. Sonderdruck aus der Festschrift für Edmund Husserl. Zweite Auflage, Halle a. d.S. 1931 (Nr. 02949). Aus der Sekundärliteratur ist folgende Monographie vertreten: A. Gethmann – Siefert, Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Martin Heideggers, München 1974 (02951).

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Gottesgedanke“ belegen, mit denen er seinen Band „Metaphysik und Gottesgedanke“ in der Kleinen Vandenhoeck-Reihe eröffnet hat.8 Dem Anlass seiner Entstehung entsprechend beginnt Heidegger seinen Vortrag mit einer Charakteristik Hegel’schen Denkens und „einer Verdeutlichung der Verschiedenheit“ (36), die zwischen diesem und dem seinen „obwaltet“ (ebd.): „Wir fragen: 1. Welches ist dort und hier die Sache des Denkens? 2. Welches ist dort und hier die Maßgabe für das Gespräch mit der Geschichte des Denkens? 3. Welches ist dort und hier der Charakter dieses Gespräches?“ (Ebd.) Heideggers Antwort auf die erste Frage lautet: „Für Hegel ist die Sache des Denkens das Sein hinsichtlich der Gedachtheit des Seienden im absoluten Denken und als dieses. Für uns ist die Sache des Denkens das Selbe, somit das Sein, aber das Sein hinsichtlich seiner Differenz zum Seienden. Noch schärfer gefasst: Für Hegel ist die Sache des Denkens der Gedanke als der absolute Begriff. Für uns ist die Sache des Denkens, vorläufig benannt, die Differenz als Differenz.“ (36 f.) Die Antworten auf die zweite und dritte Frage unterstreichen die zwischen Hegels und Heideggers Denken obwaltende Verschiedenheit. Wie Hegel suche auch er, Heidegger, „in die Kraft und den Umkreis des von den früheren Denkern Gedachten“ (37) einzugehen: „Allein wir suchen die Kraft nicht im schon Gedachten, sondern in einem Ungedachten, von dem her das Gedachte seinen Wesensraum empfängt.“ (38) Es sei um „die Freilassung des überlieferten Denkens in sein noch aufgespartes Gewesenes“ (ebd.) zu tun. „Dieses durchwaltet“, wie es heißt, „anfänglich die Überlieferung, west ihr stets vorraus, ohne doch eigens und als das Anfangende gedacht zu sein.“ (38 f.) Dessen eingedenk könne, so Heideggers Antwort auf die dritte Frage, das Gespräch mit der Geschichte des Denkens nicht mehr wie bei Hegel den „Charakter der Aufhebung, d. h. des vermittelnden Begreifens im Sinne der absoluten Begründung“ (39) haben. Gefordert sei vielmehr „der Schritt zurück“ (ebd.), der „das Denken aus dem in der Philosophie bisher Gedachten in gewisser Weise heraus(führe). Das Denken tritt vor seiner Sache, dem Sein, zurück und bringt so das Gedachte in ein Gegenüber, darin wir das Ganze dieser Geschichte erblicken und zwar hinsichtlich dessen, was die Quelle dieses ganzen Denkens ausmacht, indem sie ihm überhaupt den Bezirk seines Aufenthaltes bereitstellt. Dies ist im Unterschied zu Hegel nicht ein überkommenes, schon gestelltes Problem, sondern das durch diese Geschichte des Denkens hindurch überall Ungefragte. Wir benennen es vorläufig und unvermeidlich in der Sprache der Überlieferung. Wir sprechen von der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden.“ (40) Sie ist nach Heidegger „der Bezirk innerhalb dessen die Metaphysik, das abendländische Denken im Ganzen seines

8 W. Pannenberg, Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke, in: Ders, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 7–19. Vgl. dazu unten Abschnitt 4.

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Wesens das sein kann, was sie ist. Der Schritt zurück bewegt sich daher aus der Metaphysik in das Wesen der Metaphysik.“ (41) Um den Schritt zurück aus der Metaphysik in ihr Wesen zur vollziehen, muss philosophisches Denken Heidegger zufolge des Ungedachten und der Vergessenheit eingedenk sein, die zur Differenz von Sein und Seiendem dergestalt hinzugehört, dass die in ihr beschlossene Wahrheit ohne ursprüngliche Entbergung ihrer Verborgenheit nicht aufgeht. Gedanklich erzwingbar ist besagtes Erschließungsgeschehen nicht; Philosophie hat sich dabei zu bescheiden, sich auf den Augenblick seines Ereignisses zu konzentrieren und entsprechende Empfangesvorbereitungen zu treffen. Unter den aktuellen Zeitbedingungen der durch Technologie bestimmten Moderne sind Vorbereitungen dieser Art beispielsweise dadurch zu erbringen, dass die Technik auf ihr Wesen als „Gestell“ hin durchschaut wird. Doch kann es sich dabei nur um einen ersten Schritt zurück handeln, dem weitere folgen müssen, die schließlich über historische Zeiten hinausführen ins Prähistorisch-Archaische und in den Uranfang hinein, der jenseits der Differenz von Sein und Seiendem liegt und in welchem Protologie und Eschatologie koinzidieren. Für die Philosophie bedeutet dies, dass sie sich und ihre Geschichte in bestimmter Weise hintergehen muss, um ihres ursprünglichen Wesens gewahr zu werden. Der unvordenkliche Ursprung, aus dem heraus Philosophie sich zu begreifen hat, weist nach Heidegger ins Sagenhafte, und er lässt sich – sage und schreibe – nur von Philosophen zur Sprache bringen, die in Personalunion zugleich Denker und Dichter sind. Nur sie vermögen wahrsagend vom Unergründlichen zu künden, das jeder äußeren Beschreibung und namentlich allem vermeintlichen Denken spottet, das von der Vernunft nur mehr einen verstandesmäßigen-instrumentellen, also recht eigentlich keinen Gebrauch mehr zu machen vermag. Als Ursprungsdenker par excellence will Heidegger der Philosophie indes nicht nur hinter ihre modernistischen Depraviationsgestalten, sondern bis dorthin zurückführen, wo sie ihren Ausgang nahm, zu den Griechen, näherhin zu jenen, die noch nicht wie die auf sie folgenden an Seinsvergessenheit litten. Statt nur nach dem Sein des Seienden hätten die sog. Vorsokratiker noch nach dem Sein selbst, also nach dem Sein als Sein gefragt, welche Frage allein die wahrhaft philosophische sei. Der Anfang der Philosophie gilt Heidegger als ihr eigentlicher Ursprung und Grund, freilich nicht im historischen, sondern eher im Sinne jener Archaik, wie sie für sein eigenes Denken kennzeichnend ist, das, wenn man so will, Logos und Mythos zu urtümlicher Gemeinschaft wiederzuvereinigen strebt. Die griechischen Ursprünge der Philosophie müssen daher, so die Grundforderung, noch griechischer und noch ursprünglicher gedacht werden als im historischen Fall.9 9 Vgl. dazu auch M. Heidegger, Hegel und die Griechen (1958), in: ders., Gesamtausgabe I/9: Wegmarken, Frankfurt a.M. 1976, 426–444, hier: 440: „Je denkender, d. h. von seiner Sprache

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Ob sie uns damit näher rücken, mag man bezweifeln10; doch tangieren solche Zweifel den Dichterdenker nicht, da er nie beabsichtigte, Vergangenes zu vergegenwärtigen, sondern stets genuine Einsicht ins schlechterdings Ursprüngliche herbeizuführen suchte, das der Differenz von Sein und Seiendem, Grund und Begründetem vorweggeht und schlechterdings vorausgesetzt ist. Es ist nach Heidegger das Ursprungsgebrechen und der Grundschaden abendländischer Metaphysik seit ihrem Beginn bei den Griechen, daß sie als Onto-Theo-Logie die ontologische Frage nach dem Seienden als solchem und dem Ganzen mit dem theologischen Verweis auf das Sein selbst als dem das All der Entitäten hervorbringenden Einheitsgrund beantwortet hat. Diese Antwort und mit ihr der onto-theo-logische Charakter der Metaphysik ist nach Heideggers Urteil „für das Denken fragwürdig geworden, nicht auf Grund irgendeines Atheismus, sondern aus der Erfahrung eines Denkens, dem sich in der OntoTheo-Logie die noch ungedachte Einheit des Wesens der Metaphysik gezeigt hat“ (45). Um des Wesens der Metaphysik willen, das „immer noch das Denkwürdigste für das Denken (bleibe), solange es das Gespräch mit seiner geschickhaften Überlieferung nicht willkürlich und darum unschicklich abbricht“ (46), sei es daher vorzuziehen, „im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen“ (45). Bleibt zu fragen: Wie kam bzw. wie „kommt der Gott und ihm entsprechend die Theologie und mit ihr der onto-theologische Grundzug in die Metaphysik?“ (47) Heideggers Antwort: Dadurch, dass das Sein des Seienden als solches in logisch begründender Weise gedacht wurde und zwar als der sich selbst begründende Grund alles Begründeten, das sich zu ihm wie das Bedingte zum Unbedingten verhält. „Die Metaphysik denkt das Sein des Seienden sowohl in der ergründenden Einheit des Allgemeinsten, d. h. des überall Gleich-Gültigen, als auch in der begründenden Einheit der Allheit, d. h. des Höchsten über allem. So wird das Sein des Seienden als der gründende Grund vorausgedacht. Daher ist alle Metaphysik im Grunde vom Grund aus das Gründen, das vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht und ihn schließlich zur Rede stellt.“ (49) Ontotheo-logische Metaphysik denkt das Seiende als Begründetes, welches weder den Konstitutions- noch den Erhaltungsgrund in sich trägt, sondern ganz von Sein selbst dependiert, das jedem Seienden sein Sein gibt, an sich selbst aber als durch sich selbst begründet zu denken ist: Causa sui lautet entsprechend „der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie“ (64). Gott kam nach Heidegger in die Metaphysik im Zuge der Logizität des Begründens, für welche die Differenz von Grund und Begründetem basal sei, ohne beanspruchter ein Denken ist, je maßgebener wird für es das Ungedachte und gar das ihm Undenkbare.“ 10 Vgl. bspw. die Heideggerkritik von W. Beierwaltes, Heideggers Rückgang zu den Griechen, München 1995, bes. 27 ff.

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als Basisdifferenz erkannt zu sein. Die „Differenz als Differenz“ (63) bleibe unbedacht. Werde diese Unbedachtsamkeit recht bedacht, dann müsse der ontotheo-logischen Verfassung der Metaphysik der Abschied gegeben und vom metaphysischen Gott der Causa sui bis auf weiteres geschwiegen werden. Dieser Schluss lege sich aus philosophischen, aber auch aus religiösen Gründen nahe, insofern gelte: „Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.“ (64)

4.

Kein Ende der Metaphysik

Nach Maßgabe des brieflichen Berichts Wolfhart Pannenbergs an seine spätere Frau Hilke hat Martin Heidegger sich während des Spaziergangs, den er am 16. August 1952 mit seinen Heidelberger Besuchern in der Nähe seiner Todtnauberger Schwarzwaldhütte machte, auch zur Frage des Verhältnisses von Philosophie und Theologie geäußert, was aus gegebenem Anlass nahe lag. Dabei soll er zunächst beiden gesonderte Gebiete zugewiesen und sich erst allmählich für die vorgetragene These einer Einheit von Philosophie und Theologie für den Glaubenden erwärmt haben, wie Pannenberg schreibt. Wie immer man die im Gesprächsverlauf eingetretene Entwicklung zu beurteilen hat: Gemäß ursprünglicher Auffassung Heideggers ist die Theologie von der Philosophie geschieden und zwar „nicht relativ, sondern absolut“11. So kann man es in dem Text „Phänomenologie und Theologie“ von 1927/28 nachlesen. Ihrer ideal konstruierten Idee gemäß, so Heidegger, habe die Theologie als eine positive Wissenschaft zu gelten, will heißen, als eine Wissenschaft, die eine Externprämisse zur Voraussetzung hat, im gegebenen Fall den Glauben als eine individuelle und soziale Bestimmungsgröße. Seinen fundierenden Grund hinwiederum finde der Glaube in der Offenbarung, der christliche in der Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus, die nach Heideggers Urteil auch für die Theologie des Christentums grundlegend ist und zwar nach deren eigenem Selbstverständnis. Als Reflexionsgestalt „gläubig verstehende(n) Existieren(s) in der mit dem Gekreuzigten offenbaren, d. h. geschehenden Geschichte“ (54; bei H. kursiv) verstehe sich christliche Theologie „selbst primär begründet durch den Glauben“ (61; bei H. kursiv) und sei eben dadurch, um es zu wiederholen, „nicht relativ, sondern absolut“ (48) von der Philosophie geschieden. Eine Scheidung von Philosophie und Theologie, wie der Gastgeber sie offenbar während des gemeinsamen Spaziergangs anfangs ihnen gegenüber vertreten 11 M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie (1927/28), in: ders., Gesamtausgabe I/9, 45– 78, hier: 48. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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hatte, wollten sich die Heidelberger Jungtheologen nicht gefallen lassen. Sie plädierten, allen voran Pannenberg, für die „Identität von Philosophie + Theologie für den Glaubenden“, welcher These sich Heidegger im Verlauf der Unterredung anscheinend nicht völlig verschloss. Er habe sich für sie vielmehr, wie es heißt, als „erstaunlich offen“ erwiesen, was Pannenberg umgehend als „Bestätigung der Richtigkeit“ seines eigenen Denkens wertete. Wie sich Heideggers Offenheit äußerte und was er zur These einer Einheit von Philosophie und Theologie für den Glaubenden zu seinen Heidelberger Besuchern sagte, ist nicht bekannt und kann nur vermutet werden. Zwei Grundsätze aus der zitierten Schrift über „Phänomenologie und Theologie“ bieten einen denkbaren Anknüpfungspunkt: „Die Philosophie ist das mögliche, formal anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe. Philosophie kann aber sein, was sie ist, ohne daß sie als dieses Korrektiv faktisch fungiert.“ (66; bei H. kursiv) Näheres über Heideggers Reaktionen auf die Gedanken der Heidelberger lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Wie diese reagierten, kann hingegen erhoben werden und zwar unabhängig von der Frage, ob der Antwortbrief an Heidegger, der unter Pannenbergs Regie konzipiert wurde, seinen Adressaten je erreichte oder gar nicht erst abgeschickt wurde. In jedem Fall ist seine Genese aufschlussreich für die geistigen Konstellationen in den frühen Jahren des sog. Pannenbergkreises. Man hat klare und durchaus gemeinsame Intentionen, ist aber in einem fortschreitenden Prozess der Selbstverständigung und der gedanklichen Formierung begriffen, der noch keineswegs abgeschlossen ist, ja der bei aller Gemeinsamkeit bereits auf die Möglichkeit künftiger Differenzen unter den Beteiligten vorausweist. Die Theologie, davon wird ausgegangen, ist auf das Gespräch mit der Philosophie gewiesen. Als denkende Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens muss sie die Frage nach ihren eigenen Denkvoraussetzungen stellen und zwar in systematischem Vollzug, wie es in einer Ursprungsversion des Briefentwurfes hieß. Später entfiel diese Wendung. Zudem werden andere Umschreibungen des Theologiebegriffs versucht: In ihr, der Theologie, bringe der Glaube seinen Ursprung durch einen methodischen Denkakt ins Wissen. Das Fazit bleibt gleich: In dem Vollzug, der ihrem Begriff und ihrer Bestimmung entspreche, komme die Theologie nicht umhin, die Frage nach ihren eigenen Denkprämissen und dem vorausgesetzten Selbst- und Weltverständnis der Glaubenszeugen und der Adressaten ihres Zeugnisses zu stellen. Daher sei Theologie auf das Gespräch mit der Philosophie als der methodisch geregelten Form der Selbstaufklärung des Menschen über das Sein des Seienden im Allgemeinen und über sein eigenes Dasein im Besonderen verwiesen. Es muss einer ins Einzelne gehenden synoptischen Analyse der in Reaktion auf den Besuch von August 1952 konzipierten Briefentwürfe und einer Aus-

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wertung der Stellungnahmen der Beteiligten überlassen bleiben, die damaligen Debatten des sog. Pannenberg-Kreises zum Begriff der Theologie, der Philosophie und zum Verhältnis beider zueinander detailliert zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist im gegebenen Zusammenhang nicht zu leisten. Erhoben werden soll an einem konkreten Beispiel nur noch, wie Pannenberg Heideggers Verständnis von Philosophie rezipiert, beurteilt und in sein eigenes philosophisch-theologisches Selbstverständnis integriert hat. Ausschließlich Bezug genommen wird dabei, wie angekündigt, auf die Auseinandersetzung mit dem Heidegger-Text „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“ in der ersten Abhandlung des Bandes „Metaphysik und Gottesgedanke“. Von Jörg Salaquarda stammt der Satz, das „Ende der Metaphysik“ könne „immer nur eine bestimmte, nie die Metaphysik ereilen“12. Diese Auffassung vertritt auf seine Weise auch Pannenberg, wie aus seinem erwähnten Vortrag „Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke“ hervorgeht; um die Tradition metaphysischen Denkens begründet fortzuführen bzw. die neue Zuwendung zu ihr plausibel zu machen, bedürfe es indes der expliziten Auseinandersetzung mit den Argumenten, auf die sich die These vom Ende der Metaphysik und die Rede vom nachmetaphysischen Zeitalter stützten. An dieser Auseinandersetzung habe sich nachgerade die christliche Theologie zu beteiligen, da ihr Reden von Gott „für seinen Anspruch auf Wahrheitsgeltung der Beziehung auf metaphysisches Denken“13 nicht entbehren könne. Christliche Theologie müsse es „wünschen und begrüßen, daß die Philosophie ihre große metaphysische Überlieferung wieder ernst nimmt als Aufgabe gegenwärtigen Denkens. Solche Angewiesenheit auf Metaphysik wird von den Theologen zwar heute nur selten zugestanden. Sie geht jedoch schon daraus hervor, daß die theologische Gotteslehre ohne das Gegenüber einer Metaphysik entweder einem kerygmatischen Subjektivismus oder der Entmythologisierung verfällt und häufig beiden zugleich.“ (9) Pannenbergs argumentative Auseinandersetzung mit der These vom Ende der Metaphysik beginnt mit der Feststellung, dass deren Sinn „nicht derselbe bei allen ihren Verfechtern“ (ebd.) sei. So unterscheide sich die Metaphysikkritik etwa des Positivismus grundlegend von derjenigen des Historismus beispielsweise eines Wilhelm Diltheys, was schon daran zu erkennen sei, dass nach dessen Urteil nicht bereits das naturwissenschaftliche, sondern endgültig erst das geschichtliche Denken die Epoche der Metaphysik beendet habe. „Der Irrtum der Metaphysik besteht nämlich nach Dilthey gerade in ihrer Verkennung der Relativität der Bildungen des menschlichen Geistes.“ (10) Die Fülle des Lebens lasse sich nun einmal nicht auf einen absoluten Begriff bringen, wie Hegel dies 12 J. Salaquarda, Art. Metaphysik III. Ende der Metaphysik?, in: TRE 22, 653–660, hier: 659. 13 W. Pannenberg, Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke, in: ders., Metaphysik und Gottesgedanke, 7–19, hier: 9. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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fälschlicherweise meinte, oder in die Logik der Wissenschaften überführen. Insofern war Diltheys Begriff der Metaphysik und ihres Endes Pannenberg zufolge „ein sehr anderer als der positivistische, da für den Positivismus gerade die allgemeingültige Wissenschaft das Ende der Metaphysik bezeichnete“ (11). Was Heidegger betrifft, so stand seine Auffassung nach Pannenberg „der Sicht Diltheys bemerkenswert nahe, noch näher als derjenigen Nietzsches, für den das Ende der Metaphysik den Sinn hatte, daß die platonische Zweiweltentheorie, die Annahme einer Hinterwelt hinter der Erfahrungswelt, unmöglich geworden sei. Mit Dilthey ist Heidegger verbunden in der Sicht des Verhältnisses von Metaphysik und Logik.“ (Ebd.) Zum Beleg wird explizit auf den Text „Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik“ verwiesen, dem zufolge für metaphysisches Denken sein logischer Charakter kennzeichnend sei und zwar dergestalt, dass Seiendes onto-logisch auf Gründe zurückgeführt und in der Konsequenz dessen onto-theo-logisch auf einen letzten Grund Bezug genommen werde, in dem das Seiende im Ganzen gründe. „Gerade gegen dieses theologische Wesen der Metaphysik wendete sich nun aber“, so Pannenberg, „Heideggers Kritik: In der metaphysischen Unterscheidung des Seins des Seienden als Grund vom Sein als dem Allgemeinsten bleibe die Einheit des Wesens der Metaphysik ungedacht … Anders gesagt: die Differenz des Seins vom Seienden wird nicht angemessen beachtet …, wenn das Sein des Seienden als Grund gedacht wird; denn die Unterscheidung von Grund und Gegründetem verdankt sich selbst nach Heidegger jener Differenz von Seiendem und Sein.“ (Ebd.) Gegen das traditionelle Verständnis eines − sowohl onto-logischen, als auch onto-theo-logischen − metaphysischen Denkens ist nach Pannenberg Heideggers These vom Ende der Metaphysik im Wesentlichen gerichtet. „Die Philosophie sollte nach Heidegger von Gott schweigen, weil das metaphysische Reden von Gott durch die Differenz von Grund und Begründetem bedingt ist, diese seine Bedingung selbst aber ungedacht läßt.“ (12) Hinzugefügt wird, dass das Schweigen von Gott im Bereich des philosophischen Denkens nach Heideggers Urteil christlichem Glauben und seiner Theologie nicht nur nicht widerspreche, sondern entspreche. Zum Beleg verweist Pannenberg auf die Schrift „Phänomenologie und Theologie“, in der Heidegger sein Verständnis des Glaubens als einer spezifischen Existenzweise menschlichen Daseins und der Theologie als der Reflexionsgestalt dieser Daseinsweise entfaltet habe. Gegen dieses Theologieverständnis opponiert Pannenberg, um sein eigenes in Stellung zu bringen: Primärthema der Theologie sei danach nicht der Glaube, sondern der dem Glaubensakt vorgegebene Gegenstand, wozu „vor allem und an erster Stelle die Wirklichkeit Gottes“ (13) gehöre. Theologie sei mithin gemäß dem Begriff, der ihr Wesen bezeichne, nicht Glaubenswissenschaft, sondern Wissenschaft von Gott. „Christliche Theologie ist, im Gegensatz zu ihrer Darstellung bei Heidegger, wesentlich Wissenschaft von Gott und seiner Offenbarung. Alles was sonst noch

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in der Theologie vorkommt, kann ihr nur ‚in Beziehung zu Gott‘ zum Thema werden, wie Thomas von Aquin gesagt hat: sub ratione Dei. Die christliche Theologie würde ihren spezifischen Inhalt und vor allem das damit verbundene Wahrheitsbewußtsein verlieren, wenn sie dem Rat Heideggers folgen würde, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen.“ (Ebd.) Theologie ist Wissenschaft von Gott. Was aber die Philosophie betrifft, so wendet sich Pannenberg entschieden gegen Heideggers Auffassung, die Gottesthematik gehöre nicht ursprünglich zu ihr. Das Gegenteil sei der Fall: Die Herkunft der Philosophie ist Pannenberg zufolge religiös, und „der Gott und die Götter der Religion gehen den Anfängen der Philosophie schon voraus“ (14), was keineswegs nur historisch, sondern in hohem Maße auch systematisch bedeutsam sei, da die philosophische Frage nach dem Seienden als solchem durch die Gottesfrage ursprünglich vermittelt sei und letztlich vermittelt bleibe. Dies habe Heidegger nicht genügend bedacht. Zwar gehöre Religionskritik durchaus zu den Aufgaben der Philosophie, welche die religiösen Überlieferungen vorzugsweise an ihrer Behauptung zu bemessen habe, von der alles bestimmenden Wirklichkeit zu handeln. Doch konvergiere Philosophie bei aller Kritik mit Religion und Theologie in der Ausrichtung auf eine Bewusstseinsform, welche die beschränkte Wahrnehmung endlicher Gegenstände der Welterfahrung und die Schranken der Selbstwahrnehmung endlicher Subjekte auf das wahrhaft Unendliche hin transzendiere. Habe philosophische Kritik von Religion und Theologie schon aus diesem Grund nicht destruktiv, sondern konstruktiv auszufallen, so gelte dies umso mehr, als Philosophie selbst auf die religiös-theologischen Überlieferungsgehalte, die sie kritisch überprüfe, angewiesen bleibe, um, wenn man so sagen darf, ihre Form zu wahren. Religion, Theologie und Philosophie vereint nach Pannenberg die gemeinsame Ausrichtung auf Selbst- und Welttranszendenz. „Die Konvergenz von Philosophie und Religion im Gegenzug zum alltäglichen Erfahrungsbewußtsein mit seiner Orientierung an den endlichen Dingen ermöglicht es, daß das theologische Denken sich der Philosophie bedient, um das Gottesbewußtsein der Religion gedanklich zu explizieren, wie es vor allem im Christenum geschehen ist. Dabei fallen jedoch Religion, Philosophie und Theologie nicht zusammen, weil im religiösen Bewußtsein in der Regel die göttliche Wirklichkeit im Zentrum steht und ihre Priorität gegenüber allem andern geltend macht. Ebenso ist es in der Theologie, während für die Philosophie die Rechtfertigung des Gegenzugs zum natürlichen Bewußtsein aus der bewußten Erfahrung des Lebens selber heraus im Vordergrund steht, sodann die Umqualifizierung der Gegenstände des Weltbewußtseins aus der Perspektive, die sich beim Hinausgehen über ihr endliches Gegebensein ergibt.“ (16) Der Philosophie stellt sich nach Pannenberg das Thema des Absoluten in der Regel „im Überstieg über die Vielheit der Gegebenheiten der Welterfahrung“

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(ebd.), also auf indirekte und nicht auf direkte Weise wie in Religion und Theologie. „Allerdings kann auch die Philosophie in der Weise auf das Thema des Absoluten konzentriert werden, daß sie dieses als Bedingung des Endlichen und darum auch als aller endlichen Wirklichkeit vorgängig zu denken sucht, das Endliche nur als Produkt der Selbstdifferenzierung des Absoluten. Auch im Falle einer solchen Behandlung der Philosophie, wie sie bei Spinoza oder Hegel gegeben ist, bedarf es aber einer Hinführung auf den Standpunkt des absoluten Wissens“ (16), also des besagten welt- und selbsttranszendierenden Überstiegs, der für philosophisches Vorgehen kennzeichnend sei. Im Vollzug dieses Überstiegs und seiner philosophischen Reflexion müsse sich erweisen, wie weit er führt, und „ob der Gottesgedanke hinreichend verständlich wird auf der Basis der endlichen Subjektivität des Menschen und als ihr Produkt, oder ob auch diese Subjektivität in der philosophischen Reflexion überstiegen werden muß und erst das Ziel dieses Überstiegs im absoluten Einen die Basis einer zureichenden Interpretation der Gotteserfahrungen der Religionen bietet.“ (17) Auf den Erweis, dass letzteres zutrifft und auf die Widerlegung der „Argumente des postulatorischen Atheismus“ (ebd.) ist Pannenbergs Beitrag „Das Ende der Metaphysik und der Gottesgedanke“ ausgerichtet. Gegen Heidegger und den fundamentalen Rang, den er der Seinsfrage und insbesondere der Differenz von Sein und Seiendem für die Grundlegung der traditionellen Metaphysik zuerkannt habe, um sie infolgedessen zu kritisieren, wird geltend gemacht, dass das „Thema des Einen als Ziel des Überstiegs über die Vielheit des im Bewußtseins der Weltdinge und des eigenen Ich Gegebenen“ (ebd.) philosophisch ungleich basaler sei. Metaphysik sei uranfänglich und dauerhaft durch die Frage nach dem Einen motiviert, die für konsequentes Denken unumgänglich sei. Diese Unumgänglichkeit habe nach wie vor Bestand, worüber die Rede vom angeblichen Ende metaphysischen Denkens und einem vermeintlich nachmetaphysischen Zeitalter nicht hinwegtäuschen könne. Sie betreffe nur eine bestimmte Form der Metaphysik, nicht deren Verfassung überhaupt. Entscheidend für alles Weitere bleibt sonach die Frage: „Kann der metaphysische Überstieg zum Gedanken des Einen die Realität des Absoluten aus der Selbständigkeit des philosophischen Gedankens heraus vollständig erfassen und hinreichend begründen, oder kann die Philosophie nur Kriterien formulieren, denen jeder Gedanke des absoluten Einen genügen muß, ohne den Anspruch, die Realität des Absoluten damit vollständig zu erfassen und ihre Annahme hinreichend begründet zu haben.“ (18) Werde ersteres behauptet, verbinde sich dies, wie die Geschichte belege, unvermeidlich mit dem philosophischen Anspruch, „an die Stelle des Offenbarungswissens der Religion zu treten“ (ebd.). Der Anspruch einer Substitution von Religion durch Philosophie ist nach Pannenbergs Urteil überzogen und unhaltbar. Zwar könne, wie die Geschichte

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der Gottesbeweise belege, „die Notwendigkeit der Erhebung der Vernunft zum Gedanken Gottes dargetan werden, nicht aber das Dasein Gottes vor allem menschlichen Bewußtsein und vor dem Dasein der Welt. Damit hängt zusammen, daß die Metaphysik immer Schwierigkeiten gehabt hat, das absolute Eine als personal und mithin überhaupt als ‚Gott‘ zu denken.“ (Ebd.) Pannenberg wertet diese Schwierigkeit als Indiz einer bleibenden Angewiesenheit der Philosophie auf die „geschichtlich vorgängige Erfahrung der Religion“ (ebd.). Dem gelte es für die Zukunft durch die Einsicht Rechnung zu tragen, „daß eine Erneuerung metaphysischen Denkens in der Philosophie nicht einfach Wiederherstellung der Problemlage und der Positionen sein kann, die der Abwendung vom metaphysischen Denken vorausgegangen sind. Das gilt auch für die Themen der philosophischen Gotteslehre. Die Bindung metaphysischer Reflexion und Rekonstruktion an die Endlichkeit und Geschichtlichkeit der Erfahrungssituation, von der sie ihren Ausgang nimmt, läßt sich nicht überholen, sondern nur aufklären.“ (19) Entsprechendes gelte für die bleibende Angewiesenheit von Metaphysik und philosophischer Gotteslehre auf die Überlieferungsbestände religiöser Tradition. Es liegt in der Konsequenz dieser Annahme, dass nach Pannenberg das ausdrückliche Reden von Gott in der Philosophie „vielleicht eher in die Religionsphilosophie (gehört) als in die Metaphysik, es sei denn, daß die Metaphysik des Absoluten ihrerseits schon mit der Religionsphilosophie verbunden würde“ (ebd.).

5.

Althergebrachte Doppelbeziehung

Ingeborg Bachmann ist zu ihrer Zeit eine außergewöhnliche und vielgelesene Schriftstellerin gewesen (Die gestundete Zeit, 1953; Anrufung des Großen Bären, 1959; Malina, 1971); eine bedeutende Heideggerforscherin war sie nie. Ihre philosophische Dissertation über „Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers“14 bietet nicht viel mehr als eine paraphrasierende Auflistung damals gängiger Heideggerkritiken. In einem Nachwort zur Edition 14 I. Bachmann, Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dissertation 1949). Aufgrund eines Textvergleichs mit dem literarischen Nachlass hg. v. R. Pichl, München/Zürich 1985. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Wer die Dissertation der Dichterin kennt, wird nicht übermäßig überrascht sein, wenn er im Zusammenhang der Rigorosumsschilderung im dritten Kapitel (Von letzten Dingen) des Malinaromans das Eingeständnis ließt: „Ich wusste nicht sehr viel.“ (I. Bachmann, Werke. Hg. v. Chr. Koschel u. a. Dritter Band: Todesarten: Malina und unvollendete Romane, München/ Zürich 1978, 306) Die Fähigkeiten der Bachmann lagen auf anderen Gebieten. Vgl. auch S. Weigel, Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, 89 ff. sowie M. Albrecht/D. Göttsche (Hg.), Bachmann-Handbuch. Leben − Werk − Wirkung, Stuttgart 2002, 184 f.

Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger

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ihrer Doktorarbeit wird es als ziemlich sicher angenommen, dass sie „weder ‚Sein und Zeit‘ noch ein anderes Werk Heideggers zur Gänze im Original gelesen hat“ (178); u. a. die zahlreichen Zitate aus zweiter Hand werden als Beleg hierfür angeführt. Man wird der Autorin allerdings zugute halten müssen, dass vonseiten ihres Doktorvaters Victor Kraft, der im weiteren Sinne dem Wiener Kreis um M. Schlick zuzurechnen ist und sich als Philosoph um strenge Metaphysikfreiheit mühte, kaum Anstöße zu einer intensiven Heideggerlektüre ausgegangen sein werden. Die Beschäftigung mit Wittgenstein lag allemal näher; er ist für Bachmann denn auch zum wichtigsten philosophischen Gewährsmann geworden. Bachmanns schriftstellerische Werke verdienen es, wiederentdeckt zu werden. Ihre Heideggerdissertation hingegen kann man getrost vergessen. Dennoch soll sie zum Schluss aus Diskussionsbeförderungsgründen zumindest mit einem Zitat erwähnt werden. Es gehört in den Kontext theologischer, insbesondere aus den Reihen der Dialektischen Theologie (Barth, Bultmann, Brunner etc.) stammender Heideggerkritik, die Bachmann als exemplarische Neuauflage der althergebrachten Doppelbeziehung der Theologie zur Philosophie wertet: „Die wissenschaftliche Seite drängt sie … immer zur Philosophie. Ihre dogmatische Seite aber zwingt sie, den Anspruch einer autonomen Glaubenslehre zu erheben, die von keiner Wissenschaft abhängt, ja sogar über alles natürliche Wissen erhaben ist.“ (91 [105]) Kann man das so sagen, möglicherweise auch in Bezug auf das Verhältnis des Theologen Wolfhart Pannenberg zum Philosophen Martin Heidegger? Oder verfehlt die Dichterin gedanklich den wahren Sachverhalt? Wie auch immer: Seine differenzierte Wahrnehmung und Beschreibung ist eine der Aufgaben, die uns vom Kolloquiumsthema her gestellt sind.

Friederike Nüssel

Wolfhart Pannenbergs Descartes-Rezeption

Für die Ausbildung des systematisch-theologischen Entwurfs von Wolfhart Pannenberg1 ist seine Auseinandersetzung mit der Philosophie von René Descartes von entscheidender Bedeutung. Im Folgenden soll dieser Auseinandersetzung in einer werkgeschichtlichen Durchsicht nachgegangen werden. Dabei wird sich zeigen, dass den Ausgangspunkt die Wahrnehmung der breiten geistesgeschichtlichen Bedeutung des cartesischen Dualismus bildet, dass aber Pannenberg in der Analyse und kritischen Reflexion auf den Grund der Erkenntnisgewissheit bei Descartes in dessen Meditationen über die erste Philosophie2 einen Gedanken aufspürt, der sich im Rahmen einer systematischtheologischen Auslegung gerade für die Überwindung dieses Dualismus fruchtbar machen lässt.

1.

Der Dualismus Descartes’ als Herausforderung für die Konzeption der Theologie als Wissenschaft und für die Anthropologie

Wichtig für Pannenbergs Auseinandersetzung mit Descartes ist zunächst seine wissenschaftstheoretische Monographie ‚Wissenschaftstheorie und Theologie‘3 (1973), in der Descartes im ersten Teil in der allgemeinen Erörterung der wis1 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, Bd. 2, Göttingen 1990, Bd. 3, Göttingen 1993, jetzt zugänglich in der Neuausgabe von 2015, die Gunther Wenz besorgt hat. 2 Vgl. zu den Ausgaben der Meditationen über die erste Philosophie von René Descartes, die Pannenberg besaß, die Zusammenstellung von Gunther Wenz in seinem Beitrag zu dem vorliegenden Band: Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg. Hier findet sich eine Zusammenfassung der Argumentation Descartes’ und der Pannenbergschen Auslegung. 3 Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973.

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senschaftstheoretischen Debattenlage4 erwähnt wird. Pannenberg stellt hier heraus, dass die moderne Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften ihre Voraussetzung in der im Rahmen der Geist- und Naturphilosophie G.W.F. Hegels entwickelten Unterscheidung von Natur und Geist habe, die wiederum ihre für die neuere Philosophie klassische Formulierung durch Descartes erhalten habe in seiner Gegenüberstellung von der durch die cogitatio bestimmten mens sive substantia cogitans und der durch extensio bestimmten substantia corporea. Wie Pannenberg im Rekurs auf Karl Popper herausstellt, ergibt sich dieser Dualismus bei Descartes aus seiner noch rein mechanistisch konzipierten Naturwissenschaft, die im Rahmen der mechanistischen Naturauffassung „das Dasein eines lebendigen und denkenden Wesens […] nicht zu erklären vermochte“5 und darum zwei getrennte Substanzen annehmen musste. Zwar sei dieser Dualismus im Idealismus modifiziert worden, indem dieser nunmehr beide Substanzen als verschiedene Erscheinungsweisen der einen letzten Wirklichkeit des Geistes verstand. „Aus dem substantiellen Dualismus Descartes’ wurde im Gefolge des Idealismus ein bloßer Methodendualismus“6. Einerseits habe der cartesische Dualismus entgegen der eigentlichen Intention von Descartes einer materialistischen Fragestellung und Betrachtungsweise Vorschub geleistet. Andererseits werde er aber auch in der Argumentation für die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften bei Wilhelm Diltheys fortgeschrieben, der zufolge der Grund ihrer Selbständigkeit in der „selbständige(n) Gegebenheit des Selbstbewußtseins als Quelle der ‚inneren Erfahrung‘“7 liege. Durch die im Selbstbewusstsein gründende Freiheit sondere sich der Mensch von der Natur ab. Dilthey ersetze dabei Hegels Begriff des absoluten Geistes „durch die Einheit des (geistigen) Lebens, das alle Individuen verbindet“8, wobei Leben seinem Verständnis nach nur real sei in den menschlichen Individuen. Damit aber werde faktisch der cartesische Substanzdualismus in einen Methodendualismus und damit auf wissenschaftstheoretischer Ebene in neuer Weise befestigt9. Für die Theologie ist es nun nach Pannenberg von fundamentaler Bedeutung, sich in ihrem Wissenschaftsverständnis nicht dem Gegensatz zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu verschreiben, sondern diesen viel4 Vgl. dazu im Einzelnen Gunther Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 19–33. 5 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 129 f., Zitat 130. Dies entnimmt Pannenberg der Analyse von Karl Popper, vgl. Wolfhart Pannenberg, Bewußtsein und Geist, in: ZThK 80 (1983), 332– 351, hier: 332. 6 Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, 76. 7 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 76 f. 8 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 77. 9 Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 129.

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mehr zu überwinden. Denn ist Gott als das Thema der Theologie10 seinem allgemeinen Begriff nach die alles bestimmende Wirklichkeit11, dann kann sich die Theologie nicht auf das Verstehen der Selbstdeutung des frommen Subjekts im Lichte religiöser Traditionen beschränken, sondern hat den Gottesgedanken „an der erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch zu bewähren12. Für die Theologie ist darum nicht nur die Beschäftigung mit allen für das Verständnis von Welt und Mensch relevanten wissenschaftlichen Erkenntnissen wesentlich, sie geht zugleich von der Einheit der Wirklichkeit und der Einheit der Wahrheit aus. Gegenüber Unterscheidungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, die etwa im Medium der Diltheyschen Unterscheidung von Erklären und Verstehen den Gegensatz bzw. eine kategoriale Differenz betonen, bringt Pannenberg die übergreifende Rolle der „Hermeneutik als Methodik des Sinnverstehens“13 zur Geltung und rekonstruiert die hermeneutische Aufgabe als eine solche, die nur im Horizont einer hypothetischen „Antizipation der impliziten und nur teilweise bestimmten Sinntotalität aller Erfahrung“ möglich ist, „auf die sie sich bezieht und in der sie ihre Wahrheit hat.“14 An eine solchermaßen verstandene allgemeine Bestimmung der Aufgabe von Wissenschaft generell kann die Theologie, wie Pannenberg in seiner ‚Wissenschaftstheorie‘ argumentiert, anknüpfen. Aufgabe der Systematischen Theologie ist es, diese wissenschaftstheoretisch fundierte Bestimmung der Theologie material zur Durchführung zu bringen, und zwar durch die „Untersuchung und Darstellung der Kohärenz der christlichen Lehre hinsichtlich des Verhältnisses ihrer Teile zueinander, aber auch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu sonstigem Wissen“15. Entsprechend stellt die substanzontologische Unterscheidung von res extensa und res cogitans bei Descartes auch für die theologische Beschreibung der LeibSeele-Relation und des Verhältnisses von Bewusstsein und Geist in der An10 Vgl. zum Verständnis der Theologie als Wissenschaft von Gott Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 299–303, bes. 302. Dass die Theologie als Wissenschaft von Gott zu begreifen sei, ergibt sich für Pannenberg aus der Rekonstruktion der Entwicklung des Theologiebegriffs in der Theologiegeschichte, vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 299. 11 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 304: „Wenn unter der Bezeichnung ‚Gott‘ die alles bestimmende Wirklichkeit zu verstehen ist, dann muß alles sich als von dieser Wirklichkeit bestimmt erweisen und ohne sie im letzten Grunde unverständlich bleiben.“ 12 Vielmehr ist „die Erfahrung der Welt und die Frage nach der sie letztlich bestimmenden Macht auch heute noch unentbehrlich für jede Vergewisserung über die Wirklichkeit Gottes“, vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 311. 13 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 157, Überschrift des 3. Kapitels. 14 Pannenberg, Wissenschaftstheorie, 223. 15 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 31. Vgl. dazu im Einzelnen Friederike Nüssel, „Dogmatik als Systematische Theologie“! Zur Aktualität des Dogmatik-Verständnisses bei W. Pannenberg, in: Gunther Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“. Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, Pannenberg-Studien Bd. 1, Göttingen 2015, 57–74.

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thropologie eine Herausforderung dar. Allerdings bezieht sich Pannenberg darauf nicht in seiner ‚Anthropologie in theologischer Perspektive‘16 (1983), sondern in dem im gleichen Jahr erschienenen Aufsatz ‚Bewusstsein und Geist‘, in dem Pannenberg sich mit der von Karl Popper und John Eccles in ihrem Buch ‚The Self and its Brain‘ (1977) vertretenen Verhältnisbestimmung von Bewusstsein und Geist auseinandersetzt. In Übereinstimmung mit Karl Popper beschreibt Pannenberg die Annahme der Existenz und Unterscheidung von res cogitans und res extensa als zweier Substanzen bei Descartes’ als den neuzeitlichen Ausgangspunkt „jeder Diskussion über das Leib-Seele-Problem“17. Während aber nach Pannenbergs Auffassung die von Popper und Eccles vorgeschlagene interaktionistische Sicht des Verhältnisses von Leib und Seele bzw. Hirnprozessen und (Selbst-)Bewusstsein dem Dualismus verhaftet bleibt18, ist ihm selbst in diesem Aufsatz daran gelegen, eine dualistische Beschreibung im Rekurs auf das biblische Verständnis des Geistes zu überwinden. Entscheidend sei dabei, dass der Geist biblisch nicht als immaterielle Größe verstanden werde, sondern als dynamische Kraft, die Ursprung allen Lebens sei und der auch der Mensch nicht nur sein Leben, sondern imgleichen seine Geistigkeit verdanke19. Pannenberg stimmt Popper darin zu, dass „die menschliche Seele keine eigene Substanz, kein von Geburt an schon vorhandenes Subjekt unserer Erfahrungen ist, sondern erst im Prozeß der Entdeckung der uns umgebenden Welt und besonders der gesellschaftlichen und kulturellen Welt“20 entstehe und die Sprache hier ein wesentlicher Faktor sei. Doch im Unterschied zu Popper und vielen anderen bringt er – unter Aufnahme von Gedanken von Ernst Cassirer und Jean Piaget – den religiösen Ursprung und die exzentrische Struktur der Sprache zur Geltung21. Die Pointe dieser Überlegungen besteht darin herauszustellen, dass sich in der Ausbildung des Bewusstseins und Selbstbewusstseins und im Vollzug menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis eine exzentrische und synthetisierende Dynamik realisiere, die sich auf die in der Bibel beschriebene, Leben gewährende Kraft des Geistes Gottes zurückführen lasse. Wie Pannenberg später in der Systematischen Theologie in der Analyse des trinitarischen Schöpfungshandelns detailliert herausarbeitet, bestimmt die exzentrische und 16 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983. An den zwei Stellen, an denen auf Descartes Bezug genommen wird, geht es zum einen um die menschliche Erfahrung als Ausgangspunkt der Frage nach Gott (11), zum anderen um die auf Descartes zurückgehende „Vorstellung eines stehenden und bleibenden Ich als Bedingung der Einheit des Bewußtseins“ (208). 17 Pannenberg, Bewußtsein und Geist, 332. Der Aufsatz geht zurück auf eine Gastvorlesung in Tübingen, zu der Eberhard Jüngel seinen Münchener Kollegen eingeladen hatte. 18 Pannenberg, Bewußtsein und Geist, 333. 19 Pannenberg, Bewußtsein und Geist, 346, vgl. 338–342. 20 Pannenberg, Bewußtsein und Geist, 345. 21 Vgl. Pannenberg, Bewußtsein und Geist, 344.

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synthetisierende Wirksamkeit des Geistes alle Natur-, Lebens- und Bewusstseinsprozesse22. Indem Pannenberg alle diese Prozesse von der Wirksamkeit des Geistes abhängig versteht und diese Abhängigkeit im Dialog mit außertheologischen Wissenschaften zu demonstrieren sucht, überwindet er den Dualismus von Natur und Geist, den Descartes mit seiner Unterscheidung von res extensa und res cogitans fundiert hatte.

2.

Descartes’ Schlüsselrolle in der Geschichte neuzeitlicher Philosophie

In der Monographie ‚Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte‘ von 1996, die auf eine oft wiederholte und zuletzt im Wintersemester 1993/94 gehaltene Vorlesung zurückgeht, behandelt Pannenberg die Philosophie Descartes in Kapitel 7 über „Die für die frühe Neuzeit bestimmenden Neuansätze der Philosophie und ihre theologische Relevanz“23. Im Einklang mit dem, was bereits im letzten Abschnitt gesagt wurde, hält Pannenberg hier fest, Descartes’ habe mit der dualistischen Unterscheidung von res cogitans und res extensa der Nachwelt die „Frage nach dem Zusammenwirken von Geistseele und Körper“24 hinterlassen. Allerdings wird hier nun die Schwierigkeit dieser Frage ausdrücklich auf den „Begriff der Substanz als des (unabhängig) Existierenden“25 zurückgeführt. Denn der in dieser Weise gefasste Substanzbegriff erlaube es nicht, die Abhängigkeit von anderen Substanzen auszusagen. Das werde erst möglich durch eine Klärung des Verhältnisses von Substanz und Relation, in der die Relationen nicht mehr als akzidentielle Bestimmungen an der Substanz aufgefasst würden, sondern umgekehrt der Substanzbegriff selbst als ein Relationsausdruck verstanden werde, insofern er abhängig sei vom Gegenbegriff des Akzidenz. Diese Einsicht habe jedoch erst Immanuel Kant formuliert und erkenntnistheoretisch integriert. Doch obwohl Descartes philosophisch noch dem substanzontologischen Denken verhaftet bleibe und dieses im Rahmen der mechanistischen Naturauffassung dualistisch zuspitze, ist Descartes nach dem Urteil von Pannenberg „die wichtigste Gründergestalt zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie“26. Denn er habe „nicht nur eine Neubegründung der Metaphysik vollzogen […], wie das vor ihm schon andere versucht haben, unter denen Nikolaus von Kues hervorzu22 Vgl. dazu Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 34–49, bes. 47–49. 23 Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, UTB 1925, Göttingen 1996, hier: 142–156. 24 Pannenberg, Theologie und Philosophie, 152. 25 Pannenberg, Theologie und Philosophie, 156. 26 Pannenberg, Theologie und Philosophie, 143.

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heben wäre“27. Seine Grundlegung der Philosophie sei vielmehr zum Ausgangspunkt einer kontinuierlichen philosophischen Entwicklung geworden. Im Unterschied zu verschiedenen modernen Descartes-Deutungen sieht Pannenberg den entscheidenden Impuls für diese kontinuierliche Entwicklung nicht in der Begründung der Ichgewissheit in Gestalt des im Wege des methodischen zu erreichenden Schlusses cogito ergo sum. Dieser Gedanke bedeute zwar eine Neuorientierung – und Descartes sei hier auch gegenüber Antoine Arnaud zu verteidigen, der Descartes vorwarf, mit großer Geste seine Philosophie auf einen Gedanken von Augustin gegründet zu haben. Doch das Neue des philosophischen Ansatzes von Descartes, das auch für die gegenwärtige Theologie und Philosophie Bedeutung habe, liegt für Pannenberg „in seiner These, daß die Intuition des infinitum Bedingung aller Erkenntnis von Endlichem ist, einschließlich des eigenen Ich, und in Verbindung damit in der neuen, vom augustinischen Gedanken der Ichgewißheit ausgehenden Argumentation für das Dasein Gottes.“28 Diese grundlegende Bedeutung des Unendlichkeitsgedankens in Descartes’ Philosophie hätten schon die Zeitgenossen von Descartes erkannt. Und ebenso habe dies Wolfgang Hübener festgehalten, der im Einklang mit der französischen Descartes-Forschung die Mediationen zu Recht einen theozentrischen Traktat nenne, „der schon dem Titel nach vorrangig von der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele handeln will“29. Nicht die Begründung aller Erkenntnisgewissheit aus der Ichgewissheit sei mithin der entscheidende und weiterführende Punkt in Descartes’ Meditationen über die erste Philosophie, sondern der Gedanke der Intuition des Unendlichen, den Pannenberg der dritten Meditation über das Dasein Gottes entnimmt30. Dabei ist für Pannenberg entscheidend, wie Christine Axt-Piscalar in der Untersuchung zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesgedanken bei Wolfhart Pannenberg festhält, dass „Descartes die Idee des Unendlichen als eine dem cogito immer schon vorausgesetzte Idee versteht“31. Für Pannenberg sei – wie er 27 28 29 30

Ebd. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 146. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 144, dort Zitat. Siehe René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. von Artur Buchenau, PhB 27, Hamburg 1972, 37: „Ich darf auch nicht vermeinen, ich erfaßte das Unendliche nicht durch eine wahrhafte Idee, sondern nur durch die Verneinung des Endlichen, so wie ich die Ruhe und die Dunkelheit durch die Verneinung der Bewegung und des Lichtes erfasse. Denn ganz im Gegenteil sehe ich offenbar ein, daß mehr Realität in der unendlichen Substanz, als in der endlichen enthalten ist, und daß demnach der Begriff des Unendlichen dem des Endlichen, d.i. der Gottes dem meiner selbst in gewisser Weise vorhergeht. Wie sollte ich es sonst auch verstehen, daß ich zweifle, daß ich etwas wünsche, d.i. daß mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Idee eines vollkommeneren Wesens in mir wäre, durch dessen Vergleichung ich meine Mangelhaftigkeit erkenne?“ 31 Christine Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendlich. Zum Verhältnis von vernünftigem und

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in der Monographie ‚Metaphysik und Gottesgedanke‘ von 1988 herausgestellt habe – die Idee des Unendlichen bei Descartes nicht „eine sekundäre Bildung unseres Denkens, die durch Negation aus der Idee des Unendlichen abgeleitet wäre“32. Vielmehr bringe Descartes „eine Priorität der Idee des Unendlichen vor allen übrigen Vorstellungen unseres Bewußtseins“33 in Anschlag. Denn alle übrigen Vorstellungen und Erkenntnisse kämen nur durch Einschränkung des Unendlichen zustande. Die Intuition des Unendlichen bildet mithin nach Pannenbergs DescartesInterpretation die Bedingung, unter der der Mensch alles Endliche überhaupt erst in seiner Unterschiedenheit und Bestimmtheit erfassen könne, und sei so auch die Bedingung der Selbstwahrnehmung und des Ich-Bewusstseins. Dabei erscheine die Idee des Unendlichen selbst „von der Art, dass sie nicht als aus dem Ich abgeleitet gedacht werden kann“34. Vielmehr sei sie „als sich von sich her im endlichen Bewusstsein manifestierend zu begreifen“35. Im Einklang mit dem breiten Strom der Descartes-Forschung sieht Pannenberg Descartes’ Philosophie als einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte. Allerdings besteht die entscheidende Wende nach seinem Urteil nicht in der Entdeckung der Abhängigkeit der Erkenntnisgewissheit von der Ichgewissheit, weil für Descartes die Ichgewissheit ihrerseits im Gottesgedanken gründe. Die Wende bestehe aber in einer Umkehrung der Argumentationsrichtung. Denn bei Descartes ziele die philosophische Argumentation nicht mehr zuerst darauf, die Möglichkeit der Welt und alles Seienden zu erklären, sondern auf die Möglichkeit menschlicher Subjektivität und Erkenntnis. Darin markiere Descartes’ Philosophie den Beginn der neuzeitlichen Philosophie, die „soweit sie sich nicht dem Atheismus zuwandte oder in agnostischer Distanz verharrte – […] mit zunehmender Entschiedenheit Gott als Voraussetzung menschlicher Subjektivität und insofern vom Menschen her gedacht [habe], nicht mehr von der Welt her.“36 Nicht mehr die natürliche Welt als solche, sondern die menschliche Erfahrung der Welt und des eigenen Daseins werde im Zuge dieser neuzeitlichen Denkrichtung der Ausgangspunkt für die Frage nach der Wirklichkeit Gottes. Zwar lasse sich diese gedankliche Figur – wie Pannenberg in der Einleitung seiner ‚Anthropologie in theologischer Perspektive‘ festhält – auch schon bei Nikolaus von Kues feststellen. Doch zur Grundrichtung des philosophisch-theologischen Denkens werde diese erst bei Descartes. Gemeinsam sei „dieser ganzen Ge-

32 33 34 35 36

theologischem Gottesgedanken bei Wolfhart Pannenberg, in: Jörg Lauster/Bernd Oberdorfer (Hgg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke, Religion in philosophy and theology 41, Tübingen 2009, 319–338, hier: 335. Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 22. Ebd. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche, 335. Ebd. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 11.

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schichte philosophischer Theologie in der Neuzeit, daß man nicht mehr vom Kosmos ausging, um Gott als erste Ursache des Naturgeschehens physikalisch zu beweisen. Die neuzeitliche Philosophie argumentierte statt dessen vom Dasein und der Erfahrung des Menschen her, um zu zeigen, daß Gott unumgänglich in jedem Akt menschlichen Daseins vorausgesetzt werde.“37 An diese Argumentationsaufgabe schließt Pannenberg in der Anthropologie an mit dem Ziel, den Fragehorizont zu erschließen und argumentativ zu fundieren, auf den sich die systematisch-theologische Explikation des in der Offenbarung Gottes gründenden christlichen Glaubens bezieht.

3.

Die Intuition des Unendlichen in der Systematischen Theologie

Welche Bedeutung und welchen Stellenwert gewinnt nun dieser von Descartes eingeleitete und im Gedanken des Unendlichen fundierte Richtungswandel der philosophischen Denkrichtung in Pannenbergs systematisch-theologischer Argumentation? Im ersten Band der Systematischen Theologie thematisiert Pannenberg die Argumentation Descartes’ zum einen im zweiten Kapitel über den Gottesgedanken und die Frage nach seiner Wahrheit und zum anderen im sechsten Kapitel über die Einheit des göttlichen Wesens und seine Eigenschaften. Im ersten Argumentationsgang zur Bedeutung des Gottesgedankens erörtert Pannenberg die traditionellen Gottesbeweise in Gestalt des ontologischen Arguments und der kosmologischen und physikotheologischen Beweisformen als elementare Form natürlicher Theologie sowohl im Lichte der philosophischen Kritik wie insbesondere auch der theologischen Kritik an der natürlichen Theologie. Insbesondere in Auseinandersetzung mit Karl Barths Fundamentalkritik natürlicher Theologie macht er geltend, dass man die Gottesbeweise nicht als Dokumente „eines Aufstands menschlicher Selbstbehauptung gegen Gott auffassen“38 könne. Aufgabe der natürlichen Theologie sei es vielmehr zu jeder Zeit gewesen, „dem christlichen Reden von Gott den Anspruch auf Allgemeingültigkeit“39 zu sichern. Zwar zeigt Pannenberg in seiner Erörterung der Gottesbeweise, dass und warum natürliche Theologie in Gestalt der klassischen Gottesbeweise schon in der rationalen Theologie der Aufklärung ihre Überzeugungskraft verlor, bevor die Gottesbeweise dann von Kant erkenntnistheoretisch dekonstruiert wurden. Angesichts dieser Kritik und ihrer nachfolgenden philosophischen und theologischen Rezeption ist aus seiner Sicht eine „selbständige 37 Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, 11 f. 38 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 119. 39 Ebd.

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Erkenntnis des Daseins und Wesens Gottes (unabhängig von der religionsphilosophischen Reflexion auf die Wahrheitsansprüche der positiven Religionen) […] von der philosophischen Theologie heute nicht mehr zu erwarten“40. So sei es auch nicht mehr sachgemäß, philosophische Theologie als ‚natürliche Theologie‘ zu bezeichnen, wie das in der Theologie vor der Aufklärung üblich war. An einer Erneuerung der Gottesbeweise als Beweis ist Pannenberg theologisch auch in keiner Weise gelegen. Wohl aber hält Pannenberg fest, dass mit „der Unmöglichkeit einer rein rational begründeten Theologie […] die Frage nach Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis im Sinne einer dem Menschen als solchen immer schon eigenen, faktischen Kenntnis von dem Gott, den die christliche Botschaft verkündet, noch nicht beantwortet“41 sei. Gerade unter dieser Frage nach einer „immer schon faktischen Kenntnis“ von Gott gewinnt nun die Neubegründung philosophischer Theologie bei Descartes für Pannenberg Bedeutung. Dass der ontologische Beweis von Descartes als Beweis der Existenz eines ens necessarium und ens perfectissimum nicht überzeugt(e), ist dabei für Pannenberg nicht ausschlaggebend, sondern belegt in gewisser Hinsicht eher die Art und Weise, in der Pannenberg selbst Descartes’ Gedanken der Intuition des Unendlichen in seine Argumentation für ein natürliches Gottesbewusstsein aufnimmt. Den Ausgangspunkt für diesen Argumentationsgang, in den das zweite Kapitel mündet, bilden dabei die biblischen Aussagen über die Gotteserkenntnis in Röm 1,19 f. und Röm 2,15, die für die Ausbildung natürlicher Theologie maßgeblich waren. Nach Pannenberg handelt es sich allerdings in Röm 1,19 f. gar nicht um „eine Aussage ‚natürlicher Theologie‘, sondern [um] eine im Lichte der Offenbarung Gottes in Jesus Christus aufgestellte Behauptung über den Menschen“42. Den Inhalt könne der Mensch dabei gar nicht „so ohne weiteres bei sich selber und in seiner Welterfahrung bestätigt finden“43. Vielmehr beanspruche die Behauptung des Paulus gerade auch da Geltung, „wo Menschen von sich aus gar nichts von Gott wissen wollen, jedenfalls nicht von dem einen, wahren Gott, den die christliche Botschaft verkündet.“44 Allerdings – und das ist für Pannenberg entscheidend – wird dem Menschen die Aussage in Röm 1,19 f. „nun doch nicht so äußerlich ‚zugerechnet‘, daß die christliche Botschaft sich dabei nicht auf den Menschen selber, der sich von dem wahren Gott abgewendet hat, berufen könnte. Sie vermag durchaus ihn selber als Zeugen gegen sich aufzurufen.“45 Damit ist ein wesentliches theologisches Interesse benannt, das die Lutheraner in der Aus40 41 42 43 44 45

Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 120. Ebd. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 121. Ebd. Ebd. Ebd.

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bildung der lutherischen Dogmatik seit dem späten 16. Jahrhundert mit dem Lehrstück von der natürlichen Gotteserkenntnis verbanden46. Pannenberg allerdings geht es in seiner Frage nach der natürlichen Gotteserkenntnis nicht darum, den Menschen bei seinem natürlichen Gottesbewusstsein zu behaften, um seine Schuld für die Sünde und Erlösungsbedürftigkeit zu demonstrieren, sondern darum, die Bedeutung der Frage nach Gott für das Menschsein des Menschen aufzuweisen. Dafür rekurriert er auf das Verhältnis von Vertrauen und Glauben bei Luther. An der berühmten Aussage im Großen Katechismus, „daß alleine das Trauen und Gläuben des Herzens machet beide Gott und Abegott“47, zeigt Pannenberg, dass „der Mensch in jedem Falle sein Vertrauen so in etwas festmachen muß, daß er sein Herz daran hängt und sich darauf verläßt.“48 Darin sei „enthalten, was wir heute die ‚exzentrische Lebensform‘ des Menschen nennen“49. Auch wenn sich dieses Vertrauen auf falsche Götter richten könne, komme doch darin die „Angewiesenheit des Menschen auf einen sich ihm bietenden verläßlichen Grund seines Lebensvollzug überhaupt, auf den er sein Vertrauen setzen kann,“50 zum Ausdruck. Der Ausbildung des Vertrauens gehe dabei die „Einbettung des Individuums in einen symbiotischen Lebenszusammenhang“ voraus, in dem „das Individuum zu sich selbst kommt und bewußt bei sich selber ist“51. Entsprechend werde auch die Wahl zwischen möglichen Gegenständen des Vertrauens erst mit dem Prozess der kognitiven Entwicklung und Differenzierung möglich. Gleichwohl bilde den Ausgangspunkt aber die menschliche Konditionierung, sein Vertrauen auf etwas außerhalb seiner selbst zu richten und sich darin zu gründen. Die im Vertrauen sich realisierende exzentrische Struktur hat nun nach Pannenberg wiederum ein „Gegenstück in der Grundsituation des erkennenden Bewußtseins“52, die Descartes in der Intuition des Unendlichen bedingt sah. Nach Pannenberg entspricht dabei die noch nicht thematische oder explizite Intuition des Unendlichen bei Descartes als „Bedingung der Erfassung irgendwelcher endlichen Gegenstände einschließlich des eigenen Ich“53 der Unbestimmtheit des symbiotischen Lebenszusammenhangs, in der das Vertrauen noch keine Wahl hat. In der Intuition des Unendlichen sei „dem Menschen sowohl sein eigenes Dasein als auch das Ganze der Weltwirklichkeit und der 46 Vgl. dazu Friederike Nüssel, Bund und Versöhnung. Zur Begründung der Dogmatik bei Johann Franz Buddeus, FSÖTh 77, Göttingen 1996, 286 ff. 47 Zitiert nach: Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 126. 48 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 127. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd.

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göttliche Grund alles Endlichen unbestimmt gegenwärtig“54. Auf diese Weise sei er hineingestellt in den offenen Horizont des Unendlichen. Dies hält Pannenberg im Anschluss an Descartes als anthropologischen Sachverhalt fest. Von grundlegender Bedeutung für Pannenbergs Aufnahme dieses Gedankens von Descartes ist dabei, dass die Intuition des Unendlichen nicht schon als ein Gottesbewusstsein zu gelten hat55, sondern erst rückwirkend vom Standpunkt eines voll ausdifferenzierten Erfahrungswissens so beschrieben werden kann. Die ausdrückliche Idee des Unendlichen werde erst im Medium der Erfahrungserkenntnis und in der Negation der Endlichkeit des Wahrgenommenen gebildet. Die ursprüngliche, verworrene Intuition des Unendlichen sei demgegenüber noch keine Gottesidee. Entsprechend gelte der Primat des Unendlichen vor aller Erfahrung von Endlichem auch nur für die verworrene Anschauung des Unendlichen, in der „Welt, Gott und Ich noch ungeschieden“56 seien und noch nicht explizit zwischen Endlichem unterschieden werde. Im Unterschied zu Descartes, der die Intuition des Unendlichen mit der angeborenen Idee Gottes gleichsetzte, macht Pannenberg darum geltend, dass es sich bei der Intuition des Unendlichen noch nicht um eine Gottesidee handele. Zugleich vermerkt er, dass auch nach Descartes ein ausdrückliches Bewusstsein des Unendlichen als solchem erst für den möglich werde, der schon von endlichen Dingen wisse und auf ihre Endlichkeit reflektiere, womit einer der Einwände der theologischen Kritiker im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert obsolet wird57. Für die genauere Klärung des Begriffs der Intuition im Unterschied zur Idee knüpft Pannenberg an die Rede vom unthematischen Wissen bei Karl Rahner an, wonach der Mensch „von allem Anfang an in ein ihn übersteigendes ‚Geheimnis‘ hineingestellt ist, und zwar in der Weise, daß sich ihm ‚die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt“58. Auch wenn erst im Prozess der Erfahrung von endlichen Dingen ein explizites Gottesbewusstsein entwickelt werde59, sei darum von einem unthematischen Wissen zu sprechen, das Pannenberg auch als primordiales Bewusstsein beschreibt. Weil dieses aber gerade kein explizites Gottesbewusstsein sei, könne dies nicht mit dem ‚religiösen Apriori‘ bei Ernst Troeltsch identifiziert werden. Auch die Weiterentwicklung dieses Gedankens bei Rudolf Otto im Sinne eines Bewusstseins „des ‚ganz Anderen‘ und ‚Heiligen‘“60 oder eines Gefühls des Unendlichen hält Pannenberg nicht für geeignet, weil „(o)bjektbezogene Gefühle 54 55 56 57 58 59 60

Ebd. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 127, vgl. auch 382 f. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 128. Vgl. dazu Nüssel, Bund und Versöhnung, 288–297. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 128. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 129. Ebd.

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[…] immer schon durch Gegenstandswahrnehmung vermittelt“61 seien und das Gefühl des Heiligen die Erfahrung eines heiligen Gegenstandes oder Gegenübers schon voraussetze. Aus dem gleichen Grund sei auch „Anders Nygrens Auffassung des ‚Ewigen‘ als ‚transzendentale Grundkategorie der Religion‘ abzulehnen.“62 Und schließlich unterscheidet Pannenberg sein Verständnis des unthematischen Wissens in kritischer Auseinandersetzung mit evangelischen Ansätzen nach dem ersten Weltkrieg auch von dem Gedanken, „daß der Mensch als solcher ‚Frage‘ nach Gott sei“63. Zwar lasse die Intuition des Unendlichen „ein Fragen entstehen, von dem sich sagen läßt, daß es zumindest implizit ein Fragen nach Gott ist, nämlich ein Ungenügen an den endlichen Dingen der Welterfahrung.“64 Solches Fragen entstehe, wo „Inhalte der Erfahrung voneinander und vom eigenen Ich deutlich unterschieden und in ihrer Endlichkeit bewußt werden“65, und zwar auch „dann, wenn eine entsprechende Ausbildung und Orientierung des religiösen Bewußtseins ausbleibt.“66 Aber der Mensch existiere „keineswegs in der ständigen Offenheit der Frage“67. Schließlich sei aber das unthematische Wissen auch „keine bloße Disposition oder Anlage im Menschen.“68 Denn bei einer solchen Sicht werde „die Form der Aktualität“69 des unthematischen Wissens nicht berücksichtigt. Denn das unthematische Wissen bestimmt nach Pannenberg in seiner transzendentalen Funktion alle Bewusstseinsvollzüge aktuell, wenn auch unausdrücklich. Vom „Standpunkt eines reflexen Begriffs der Unendlichkeit und seiner Verknüpfung mit dem Gottesgedanken“ könne die „‚transzendentale‘ Funktion der Anschauung des Unendlichen im menschlichen Bewußtsein“ als „eine ursprüngliche Gegenwart Gottes im menschlichen Geist“70 verstanden werden. Aber um diese Gegenwart bzw. das Dasein Gottes werde im primordialen Bewusstsein des Menschen „nicht schon von vorneherein als Dasein Gottes gewußt“71. Diese Auslegung der Intuition des Unendlichen als unthematisches Wissen im Ausgang von Descartes dient nun im sechsten Kapitel der Systematischen Theologie 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 130. Vgl. dazu auch den Aufsatz ‚Die Frage nach Gott‘, in: Wolfhart Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, Göttingen 1967, 361–386. 64 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 130. 65 Ebd. 66 Ebd. Dies festzuhalten ist Pannenberg nicht zuletzt im Gegenzug zur Forderung einer fides explicita in Gestalt eines auskunftsfähigen Glaubens als Bedingung für den angemessenen Gottesbezug in anthropologischen und religionstheologischen Kontexten wichtig. 67 Ebd. 68 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 129 f. 69 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 129. 70 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 383. 71 Ebd.

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in der Lehre von Gottes Wesen und Eigenschaften dazu, den Ausgangspunkt für die Erörterung der Frage nach dem Wesen Gottes zu bestimmen. Nach Pannenberg impliziert bereits die Frage nach dem Wesen Gottes die Voraussetzung eines wenn auch unbestimmten Daseins, auf das Wesensattribute bezogen werden. Dies gelte, weil generell jede Frage nach dem Wesen einer Sache immer schon die Gegebenheit dessen voraussetze, nach dessen Wesen gefragt werde. Gerade weil diese Voraussetzung Implikat der Wesensfrage sei, könne „die Frage nach dem Wesen nicht als überflüssige Frage abgetan werden72. Zwar setze die Frage nach dem ‚Wassein‘“73 im Regelfall ein bestimmtes Dasein und nur im Ausnahmefall ein nur unbestimmtes Da voraus74. Aber gerade dieser Ausnahmefall in unserer Erfahrung bewähre den Sachverhalt, „daß alle Wahrnehmung eines in seinem Wassein bestimmten Gegenstandes als Bestimmung eines abgesehen davon unbestimmten Daseienden zu verstehen“75 sei. „Gerade dieses unbestimmte Da, das sogar als Dasein noch unvollständig bestimmt ist, bildet den Bezugspunkt der Wesensbestimmung. Der Begriff des Wesens ist also relativ auf Da(sein), das durch die Erfassung seines Wasseins […] als dieses bestimmte, von anderen unterschiedene Etwas erfaßt wird“76. Auf der Basis dieser allgemeinen Reflexion auf die Implikation der Wesensfrage hält Pannenberg fest, dass auch im Falle der Frage nach dem Wesen Gottes mit einem unbestimmten Da gerechnet werde, „das erst durch den Gottesgedanken als Gottes Dasein bestimmt wird.“77 Einerseits rekurriert Pannenberg hier also auf die Intuition des Unendlichen als unbestimmtes Da, welches in der Frage nach Gottes Wesen und Wirklichkeit in Anspruch genommen wird, und das als unbestimmtes Dasein diese Frage überhaupt erst ermöglicht. Andererseits impliziert aber die Unbestimmtheit des unthematischen Wissens von Gott, dass der Mensch auf die Offenbarung Gottes angewiesen ist, weil Gott erst „im Prozeß konkreter Offenbarung, religiöser Erfahrung und Weltinterpretation“78 als ‚Gott‘ benennbar wird. Die Unendlichkeit Gottes, die in der Intuition des Unendlichen unthematisch bewusst ist, legt Pannenberg über Descartes hinausgehend im Sinne des Begriffs der wahren Unendlichkeit bei Hegel aus. Gott sei demnach in seiner wahrhaften Unendlichkeit nicht nur vom Endlichen verschieden zu denken, sondern übergreife die Differenz von Endlichem und Nicht-Endlichem. Entsprechend sei auch das Dasein Gottes „nicht primär als ein überweltlicher Sachverhalt aufzufassen, als ein Dasein jenseits der Welt, sondern zunächst einmal als wirksame Gegenwart in der Weltwirklichkeit selber. Erst daraufhin kann und muß Gottes Dasein 72 73 74 75 76 77 78

Vgl. ebd. Ebd. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 384. Ebd. Ebd. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 385. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 386.

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auch als das Dasein der Welt und der Weltdinge übersteigend gedacht werden, wenn anders das Wesen Gottes als ewig und so als erhaben über die Vergänglichkeit der geschaffenen Dinge anzuerkennen ist.“79 Die in der Weltwirklichkeit wirksame, wahre Unendlichkeit Gottes realisiert sich dabei nach Pannenberg im schöpferischen, im versöhnenden und im vollendenden Wirken von Vater, Sohn und Geist, die er im zweiten und dritten Band der Systematischen Theologie behandelt. Voraussetzung dafür ist die Überwindung eines am griechischen Nous-Begriff orientierten theistischen Gottesgedankens durch die Auslegung der Geistigkeit Gottes im Rekurs auf den biblischen Geistbegriff und in Analogie zum Gedanken des physikalischen Kraftfeldes. Dies wiederum erlaubt es Pannenberg, Gott in der dynamischen Unterschiedenheit und Bezogenheit von Vater, Sohn und Geist als „Subjekt“ seines Handelns zu verstehen, in welchem der Vater als Ursprungsprinzip, der Sohn als das generative Prinzip der Bestimmtheit und Andersheit und der Heilige Geist als Prinzip der Lebenssynthese und Gemeinschaft zu verstehen sei80. Indem alles Dasein von der leblosen Natur über die unbewussten bis hin zu den bewussten Lebensprozessen sich dieser schöpferischen Dynamik verdankt und aus ihr existiert, wird die substantielle Differenz zwischen res cogitans und res extensa bzw. Geist und Materie bei Descartes überwunden. Indem die geschöpfliche Wirklichkeit der dynamischen Schöpfermacht Gottes entspringt, so trägt das Geschaffene in seinem Dasein, in seiner Vielfalt und in den es bestimmenden Lebensprozessen die Signatur des Ursprungs in Gott. Entsprechend ist auch das unthematische Wissen von Gott Ausdruck der schöpferischen Präsenz Gottes im Menschsein des Menschen, durch die er Bewusstsein auszubilden vermag in der Unterschiedenheit von Gott, das von der exzentrischen, transzendierenden Kapazität des Geistes bestimmt ist und so für die explizite Erkenntnis Gottes aufgeschlossen ist.

4.

Abschließende Überlegungen

Vor allem in der deutschsprachigen Theologie wurde die Zuordnung von Anthropologie und Theologie bzw. Metaphysik und Theologie in Pannenbergs Denken kritisch diskutiert unter der Frage, ob hier die Bedeutung der Offenbarung Gottes unabhängig vom Glauben anthropologisch begründet und die Offenbarung als einziger Grund der Gotteserkenntnis damit in Frage gestellt werde. 79 Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 387. 80 Vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, 15–77, bes. 34–49. Vgl. dazu Friederike Nüssel, Challenges of a Consistent Language on the Spirit in Creation and New Creation, in: Michael Welker (Hg.), The Spirit in Creation and New Creation. Science and Theology in Western and Orthodox Realms, Eerdmans Publishing Company Grand Rapids Michigan/ Cambridge U.K. 2012, 120–133.

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Christine Axt-Piscalar hat demgegenüber in dem bereits genannten Aufsatz gezeigt, dass der Gedanke des wahrhaft Unendlichen bei Pannenberg „allererst durch die Bestimmung Gottes als Liebe“ erreicht werde, deren Erkenntnis wiederum „allein in der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus“81 gründe. Zwar dient Pannenbergs Argumentation in der ‚Anthropologie in theologischer Perspektive‘ und im zweiten Kapitel der Systematischen Theologie in Verbindung mit dem dritten Kapitel über die Wirklichkeit Gottes und der Götter in der Erfahrung der Religionen dem Aufweis, dass Religion zum Menschsein des Menschen gehört. Im Rahmen dieses Argumentationsgangs spielt der Aufweis des unthematischen Wissens von Gott im Rekurs auf Descartes eine zentrale Rolle. Doch die Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes und seines Wesens wird nach Pannenberg erst durch die geschichtliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus begründet, die wiederum die eschatologische Heraufführung des Reiches Gottes antizipiert, in der Gott selbst die Wahrheit der Offenbarung in Jesus Christus wahr macht. Zwar kommt der philosophischen Theologie – wie Pannenberg in der Systematischen Theologie und noch in einem späten Aufsatz von 2006 ‚Metaphysik und Offenbarung. Eine Betrachtung aus reformatorischer Sicht‘82 klarmacht – die Aufgabe zu, die Plausibilität des biblischen Gottesgedankens zu erweisen anhand der „Kriterien, die philosophische Theologie für den Gedanken des Einen Gottes formulieren kann“83. Doch dabei sei der philosophischen Theologie das religiöse Reden von Gott und Göttern immer schon vorgegeben84. Entsprechend folge der Gedanke des Unendlichen als Ursprung alles Endlichen auch nicht aus der Idee des Unendlichen für sich allein. Und schließlich könne die Idee des Unendlichen ihrerseits „noch nicht als identisch mit dem biblischen Gedanken Gottes als des Schöpfers aller Dinge gelten“85. Gleichwohl trage aber die philosophische Theologie dazu bei, die in der Bibel bezeugte Offenbarung Gottes in Jesus Christus als Offenbarung Gottes zu verstehen. Für die Möglichkeit einer solchen philosophischen Theologie ist wiederum die Neubegründung der Metaphysik durch Descartes’ Gedanken der Intuition des Unendlichen als Bedingung der Erfahrung von grundlegender Bedeutung, und zwar dezidiert in der Form der Intuition, in der das Unendliche der Bewusstseins- und Erkenntnistätigkeit unthematisch vorausgeht und diese zugleich bedingt. Die Intuition des Unendlichen ist dabei nichts Statisches, sondern bestimmt die Bewusstseinsvollzüge in ihrer exzentrischen Struktur, ohne diese jedoch schon mit einem ausdrücklichen Wissen von Gott zu begleiten. Gerade in dem intuitiven Cha81 Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche, 329. 82 Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Offenbarung. Eine Betrachtung aus reformatorischer Sicht, in: PATH 5 (2006), 425–433. 83 Pannenberg, Metaphysik und Offenbarung, 432. 84 Vgl. Pannenberg, Metaphysik und Offenbarung, 431. 85 Ebd.

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rakter, in welchem das Unendliche dem menschlichen Geist präsent ist, realisiert sich das dynamische Geistwirken so, dass das Individuum nicht zur Gotteserkenntnis determiniert wird, sondern durch die Verkündigung des Evangeliums die Wirklichkeit und das Wesen Gottes im Rahmen seiner Welt- und Selbsterfahrung frei entdecken und erleben kann.

Georgios Zigriadis

Die Relevanz der Metaphysik und der philosophischen Gotteslehre für die Theologie Die Kant-Rezeption Wolfhart Pannenbergs

I. Wolfhart Pannenberg begegnet dem Werk Kants auf zweifache Weise. Zum einen historisch-chronologisch in seiner Aneignung der griechisch-abendländischen Philosophie, zum anderen in seiner Systematik. Dort allerdings gleich zu Beginn im Zusammenhang der Behandlung der Gottesfrage. Wegen der Gottesfrage ist das Interesse Pannenbergs an Kant und seine fortwährende Auseinandersetzung mit dem Werk des Königsberger Philosophen nicht philosophiehistorische Pflichtübung, sondern in der Spezifik theologischen Wissens begründetes Erfordernis. Kant steht an der Gelenkstelle des Übergangs zur Philosophie der Moderne und hat das philosophische Denken nach ihm – wie vor ihm nur Platon (Dieter Henrich) – grundlegend beeinflusst. Allerdings tritt mit dem philosophischen Werk Kants in der Metaphysik, der metaphysischen Lehre vom Absoluten und daraus abgeleitet in der philosophischen Gotteslehre ein Wende ein, die faktisch deutliche Auswirkungen auch auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie zeitigte. Pannenbergs besondere Interesse an Kant leitet sich folglich aus seinem Befund ab, dass die maßgeblichen philosophischen Hauptströmungen im 19. und 20. Jh. als Projekte zur Beendigung der Metaphysik gelten können, und an deren Beginn – neben den vorausgegangenen englischen Empiristen – der Name Kant steht. Kant gilt – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei zunächst dahingestellt – von Anfang an auf dem Gebiet der Philosophie als der Vollender der europäischen Aufklärung, als Destrukteur der traditionellen Metaphysik und der Gottesbeweise, als der A l l e s z e r m a l m e r 1, wie schon sehr früh Moses Mendelssohn die allgemeine Meinung über Kants erste Kritik wiedergibt. Sollte dies zutreffen, dann können die Auswirkungen auf die Theologie nicht gravierend genug ein1 Zum aufschlussreichen Hintergrund dieser Charakterisierung für Kants Werk siehe: Karsten M. Thiel, Kant und die „Eigentliche Methode der Metaphysik“, Hildesheim u. a. 2008, 28 ff.

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geschätzt werden – allerdings nur dann, wenn die Theologie als eine Disziplin aufgefasst wird, die der philosophischen Grundlagenreflexion notwendig bedarf. Wolfhart Pannenberg hat sich in seinem Plädoyer für die Erneuerung des metaphysischen Denkens in der Philosophie des ausgehenden 20. Jahrhunderts ausdrücklich zu diesem besonderen Verhältnis von Theologie und Philosophie bekannt und die Notwendigkeit dieser Erneuerung als ganz im Interesse der Theologie stehend verstanden.2 Dabei betrifft dieses Interesse nicht irgendeinen Gegenstand der Theologie, sondern denjenigen, der ihr e i g e n t l i c h e r u n d u m f a s s e n d e r ist: die Rede von Gott.3 Diese Rede von Gott könnte sich ausschließlich als Verkündigung der erfahrenen Offenbarung artikulieren. In diesem Fall würde eine solche Rede aber dem im Evangelium Jesu Christi enthaltenen Verkündigungs- und Missionsauftrag nur unzureichend nachkommen oder ihn sogar verfehlen, denn dieser ist von vornherein auf alle Menschen, gerade auf diejenigen, die nicht von diesem Gott wissen, ausgerichtet. Diese universale Ausrichtung wiederum ist der christlichen Botschaft immanent, wenn sie von dem Gott Jesu Christi als „vom schöpferischen Ursprung alles Wirklichen“ (TuP 15) redet. In diesem Gedanken, die Herkunft alles Wirklichen, darin Vielheit ist, in dem einen Gott zu denken, liegt der Kern der philosophischen Kritik im ionischen Griechenland des 6. Jahrhunderts am überkommenen Polytheismus der griechischen Götterwelt. Somit liegt am Anfang des Christentums im griechischen Raum bereits eine lange Reflexionstradition vor über die wahre Gestalt der göttlichen Wirklichkeit (TuP 12), der sich die ersten christlichen ‚Theologen‘ stellen mussten, indem sie ihren Auftrag wahrnahmen, die Botschaft von dem Gott Jesu Christi in ihre Umwelt zu tragen. Dass die christliche Theologie von ihren ersten Schritten an in Dialog und Auseinandersetzung mit der außerchristlichen metaphysischen Reflexion gestanden hat, die wiederum in ihrem für uns fassbaren Ursprung mit Religion in Verbindung stand, ist nach Pannenberg der historische Sachgrund dafür, dass die Theologie auf Philosophie verwiesen ist. Die historische Gegebenheit ist aber Ausdruck einer – systematisch begründeten – inhaltlichen Verwiesenheit der christlichen Rede von Gott auf philosophische Reflexion und dabei näherhin auf Metaphysik. Die argumentative Auseinandersetzung sowohl der Religionskritik bei den frühen Griechen als auch der ersten christlichen Theologen mit den verschiedenen philosophischen Schulen der damaligen Zeit bezog notwendig das metaphysische System mit ein, innerhalb dessen über das wahre Wesen Gottes reflektiert wurde. Diese Metaphysik war wesentlich eine Lehre von der Einheit der Welt – das Thema des Einen –, deren Vielheit durch einen Grund geordnet 2 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 7 ff. (TuP). 3 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie I, Göttingen 2015, 11 ff. (STh).

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und zusammengehalten wird.4 Die Vorstellung der Einheit der Welt korrespondiert dem Gedanken des einen Gottes, der Ursprung alles Wirklichen ist. Die kosmologische Grundfrage innerhalb der metaphysischen Reflexion ist die umfassendste Frage, der sich das menschliche Denken stellen kann. Die Verabschiedung von der Metaphysik, wie sie für die Philosophie der Moderne kennzeichnend ist, bedeutet nach Pannenberg einen Verzicht auf die Beantwortung der umfassenden Frage nach dem Sein der Welt und folgerichtig einen Verzicht auf die Frage nach dem Grund ihres Seins. Nicht nur die Frage nach Gott gerät so an den Rand oder verschwindet ganz, auch die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt und nach seinem Selbstverständnis bleibt von dieser D i s t a n z i e r u n g d e r m o d e r n e n P h i l o s o p h i e vo n d e r A u f g a b e a l l e s u m f a s s e n d e r O r i e n t i e r u n g ü b e r d i e Wi r k l i c h k e i t (TuP 16) nicht unberührt. Von daher liegt in der Auseinandersetzung mit demjenigen Philosophen, der – sei es auch nur wirkungsgeschichtlich – als der große Exponent einer Grundlagenkrise zwischen Theologie und Philosophie gilt, eine besondere Brisanz. Denn einem Werk mit einer derart großen Wirkungsgeschichte kann nicht von vornherein, mögen auch dessen tatsächlichen oder nur vermeintlichen Ergebnisse für die Theologie nach wie vor herausfordernd sein, die Triftigkeit der darin enthaltenen Begründungsgänge abgesprochen werden. Dem daraus folgenden Erfordernis gründlicher Analyse möglichst ohne Auslassungen und der Eruierung der Motive im Werk Kants stellt sich der systematische Theologe daher im eigenen Interesse.

II. Wolfhart Pannenberg bemüht sich in seiner Aneignung der Philosophie Kants von vornherein, das eine zentrale Anliegen des Königsberger Philosophen, welches von Anfang an dessen Denken bestimmt hat, in den Vordergrund zu stellen und nachzuvollziehen. Er greift daher in das frühe, sogenannte vorkritische Werk Kants zurück und findet dort die Frage vor, um die es Kant von Anfang an und bis zum Schluss gegangen ist: die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zur Welt und zum Menschen – die Grundfrage der klassischen Metaphysik. Pannenbergs Rezeption der Philosophie Kants ist daher zum einen auf das große Thema des Gottesgedankens bei Kant und zum anderen, als Folge des ersten Themenzusammenhangs, auf das Thema der Subjektivierung und Anthropologisierung der Vernunft und ihrer Funktion in Kants Vernunftkritik konzentriert. 4 Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 20 (MuG).

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Mit Blick auf die zentrale Frage nach Gott lautet die Grundthese Pannenbergs: U n t e r d e r Vo r a u s s e t z u n g d e r t h e o r e t i s c h e n U n e r we i s b a r k e i t d e s D a s e i n s G o t t e s h a t K a n t d i e Ve r n u n f t u n d i h r e F u n k t i o n e n i h r e r t h e o l o g i s c h e n B e z ü g e e n t l e d i g t . (TuP 184) Die Anthropologisierung und Subjektivierung der Vernunft und ihrer Funktionen zeigt sich nach Pannenberg in den Lehren von den subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit, der Subjektivität der Verstandesfunktionen, der transzendentalen Einheit der Apperzeption des „ich denke“ und in der Umdeutung der Inhalte der metaphysica specialis zu Ideen der Vernunft, wozu Kants grundsätzliche Kritik der Gottesbeweise der Tradition gehört. In diesen Lehren löst Kant die traditionelle, auf Gott gegründete Metaphysik auf und ersetzt sie durch eine anthropozentrische Beschreibung des Erfahrungsbewußtseins. Gott ist in der Erfahrungswelt des Menschen und für die Erfahrung nicht mehr konstitutiv, sondern Grenzbegriff der theoretischen Vernunft (vgl. TuP 194 f.). Gegen seine von Anfang an gültigen leitenden Intentionen und obwohl Kant in der praktischen Vernunft, also für die Moral, an der Realität Gottes festhält, im Sinne des moralischen Glaubens an Gott, hat er, so Pannenberg weiter, „das Ich der Vernunft und das Erfahrungsbewußtsein von jeder Bindung an Gott abgelöst“ und damit faktisch „das endliche Ich als absolute Basis der Erfahrung“ und so „an die Stelle Gottes gesetzt.“ (TuP 201) Pannenberg resümiert: Nicht schon Descartes, „[e]rst Kant hat tatsächlich das Ganze der Erfahrung auf die Einheit des c o g i t o zu begründen versucht statt auf den Gedanken Gottes“ (TuP 202). Zumindest dieser letzten Einschätzung über die Tragweite seines Werkes hätte Kant bereitwillig zugestimmt: Denn er hat selbst seine Vernunftkritik und die damit verbundene Ve r ä n d e r u n g , U m ä n d e r u n g u n d R e vo l u t i o n d e r D e n k a r t (KrV B XI ff.) 5 mit der kopernikanischen Wende in Zusammenhang gebracht. Die Behandlung der Gottesfrage im frühen Werk Kants ist nach Pannenberg theologisch-spirituell von der reformierten Theologie – insbesondere durch den calvinistischen Theologen Johann Friedrich Stapfer – geprägt gewesen. Das darin zum Ausdruck kommende Gottesverständnis betont insbesondere die freie Allmacht und unendliche Erhabenheit Gottes (TuP 175) 6. So gelangt Kant zu einem radikalen Verständnis der Welt als Schöpfung. Die Naturbeschreibung Kants – etwa die Entstehung des Planetensystems – gründet allein auf mechanischen Gesetzen. In der Vollkommenheit der Welt nach mechanischen Gesetzen drückt sich die Vollkommenheit ihres Schöpfers aus. Gerade weil die Welt frei von 5 Kants Werke werden unter den Siglen nach der Akademie-Textausgabe zitiert: Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1901 ff. (unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes, Berlin 1968). 6 Und zum Folgenden TuP 174–184.

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Eingriffen Gottes funktioniert, kann sie als Schöpfung eines höchsten Verstandes eingesehen werden. Ist die Welt nach diesem Verständnis mechanischer Naturerklärung in ihrer Eigengesetzlichkeit von Gott unabhängig, weil der Gottesgedanke mit zunehmender Einsicht in die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Natur immer entbehrlicher wird (STh 100), tritt, wenn die Frage nach ihrer Entstehung gestellt wird, ihre Abhängigkeit von Gott umso deutlicher hervor. Dann ist die Welt als ganzes und damit auch ihre innere Ordnung zufällig, die Frage nach dem Grund ihres Daseins bleibt offen. Da der Ursprung der Welt nicht mehr ‚natürlich‘ beantwortet werden kann, besteht hier im Sinne freier Ursächlichkeit keine Analogie – die Welt ist in ihrem Verhältnis zu Gott kontingent. Ist aufgrund des zufälligen Verhältnisses von Gott und Natur ein kausaler Rückschluss von der Welt auf Gott nicht möglich, stellt sich die Frage nach der Denkmöglichkeit Gottes für die Vernunft. Die N o va D i l u c i d a t i o aus dem Jahr 1755 und die Gottesschrift von 1763 weisen in eine Richtung: Die Vernunft kann nichts denken, ohne die Annahme der Existenz Gottes vorauszusetzen, denn alle Vernunfttätigkeit ist an faktisch Gegebenes gebunden. Da das Existierende aber zufällig ist, denn es hat den Grund seiner Existenz – die innere Möglichkeit seines Daseins – nicht in sich selbst, bedarf es für seine Möglichkeit eines Grundes, den Kant „Realgrund“ nennt. In dieser Sicht erscheint die Welt als Schöpfung aus nichts und kann logisch nicht begriffen werden. Für Pannenberg ist entscheidend, dass es sich hierbei nicht „um einen Beweis des Daseins Gottes aus der Vernunft, sondern aus der Gebundenheit der Vernunft an Faktizität“ (TuP 181) handelt, mithin aus den bereits 1747 gegen Leibniz und Wolff geltend gemachten „Schranken der Vernunft“. Kant selbst hat in seiner Spätzeit betont, dass auch der Beweis in der Gottesschrift von 1763, nicht die objektive Notwendigkeit eines solchen Wesens dartut, sondern die subjektive Notwendigkeit, es anzunehmen. Demnach hat nach Pannenberg Kant seine Position von 1763 in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 korrigiert: Unter der Voraussetzung des faktisch Gegebenen als Gegenstand der Vernunfttätigkeit ist die Annahme eines absolut Notwendigen unerlässlich, aber nur subjektiv unerlässlich für die Vernunft. Konkretisiert wird diese unerlässliche Annahme im t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l als Inbegriff aller realen Vollkommenheiten, das Grund aller möglichen Bestimmung von Gegenständen ist. Kant hält nach Pannenberg an der Gültigkeit des Gottesgedankens auch für die theoretische Vernunft fest, „aber nur subjektiv für das Bedürfnis der Vernunft“ (TuP 181). Ist die Realität Gottes als höchstes Wesen theoretisch weder beweisbar noch widerlegbar, bleibt es für die Vernunft unentbehrlich ein fehlerfreies Ideal, dessen objektive Realität auf einem anderen Gebiet des philosophischen Denkens, nämlich der Moralphilosophie, zu suchen sein wird – hier aber ‚nur‘ als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft.

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Doch drängt sich nach Pannenberg die Frage auf, weshalb der Erweis der Notwendigkeit der Annahme Gottes für die praktische Vernunft nicht auch den Erweis seiner Realität bedeutet. Der Grund hierfür ist in der Auseinandersetzung Kants mit der rationalen Theologie und speziell mit den Gottesbeweisen zu suchen. Pannenberg fasst Kants Behandlung dieses Themenbestands der Tradition in zwei zentrale Aussagen: Kant teilt die überlieferten Gottesbeweise in drei Klassen ein – den kosmologischen, den physikotheologischen und den ontologischen Beweis – und behauptet, dass die beiden ersten Beweisarten den ontologischen Beweis voraussetzen. Dieser ontologische Beweis besteht wesentlich aus dem Argument, dass von der Denkmöglichkeit des Begriffs des vollkommensten Wesens auf seine Existenz geschlossen wird. Genau dies ist nach Kant nicht möglich, weil das Dasein nicht in den realen Vollkommenheiten der o m n i t u d o r e a l i t a t i s enthalten ist – das Dasein ist nach Kant kein ontologisches Prädikat. Nach Pannenberg besteht die Pointe dieser Argumentation Kants nicht darin, dass vom Begriff Gottes nicht auf sein Dasein geschlossen werden kann. Vielmehr weist Kant den Begriff des transzendentalen Ideals der o m n i t u d o r e a l i t a t i s als nicht hinreichend für den Begriff des notwendigen Wesens zurück. Folge davon ist, dass die Vernunft nicht zeigen kann, „… daß und wie ein solches Wesen tatsächlich durch sich selbst existiert.“ (TuP 183) Das oben beschriebene Gottesverständnis Kants und die Kritik der Gottesbeweise in der ersten Kritik führen nach Pannenberg Kant zu einer weiteren Richtungsänderung. Die „radikale Auffassung von der Majestät Gottes als Schöpfer“ (TuP 184) wirft die menschliche Vernunft auf sich selbst zurück. Die Betonung des Abstandes zwischen Schöpfer und Geschöpf musste Kant dazu bringen, die Sinnlichkeit zu betonen und die klassischen Inhalte der Metaphysik als theoretisch unerweisbare Aussagen zu qualifizieren, die dann entstehen, wenn die Vernunft die Grenzen der Sinnlichkeit überschreitet. Die apriorischen Erkenntnisformen von Raum und Zeit und die Verstandeskategorien haben nur Bedeutung in der Anwendung auf sinnlich Gegebenes. Das gilt natürlich auch für die Kategorie der Kausalität. So hat Kant nach Pannenberg „den Bezugsrahmen der Welterfahrung, der sonst mit dem Gottesgedanken verknüpft und durch ihn konstituiert war, nun als Ausdruck der menschlichen Subjektivität und also anthropologisch umgedeutet“ (TuP 185). Kant lässt die Konzepte von Raum (und Zeit), wie sie in der philosophischen Diskussion seit Spinoza und Leibniz entworfen wurden, hinter sich, und führt Raum und Zeit nicht mehr auf Gott zurück, sondern begründet sie in der menschlichen Subjektivität – Raum und Zeit werden zu subjektiven Anschauungsformen des Menschen. Wie schon bei dem Vernunftbegriff der o m n i t u d o r e a l i t a t i s lässt auch die Abtrennung der Unendlichkeit des Raumes von Gott in Kants Darstellung nicht mehr erkennen, dass es sich bei beiden Themen um den „Vorrang

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des Unendlichen vor der Erfassung irgendeines Endlichen“ (MuG 26) handelt. Nach Pannenberg hat diese Abtrennung die schwerwiegende Folge, dass die Vorstellung vom Unendlichen, die in der theologischen Tradition stets als grundlegend für die Gotteslehre angesehen wurde, entfällt und mit ihr auch ein „Kriterium für die angemessene Formulierung theologischer Aussagen über Gott“ (MuG 28). Die Anthropologisierung der Anschauungsformen wird nach Pannenberg besonders deutlich bei der Erörterung der Zeit, dabei insbesondere in Kants Lehre von der S e l b s t a f f e k t i o n d e s G e m ü t s , in der das Subjekt sich seiner Tätigkeit bewusst wird. Ist die Zeit „die Form des … Anschauens und unseres inneren Zustandes“, wird sie gleichzeitig zur Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung, die aus äußeren (räumlichen) Anschauungen besteht, die wiederum in einer Sukzession von Wahrnehmungen im Subjekt geschieht. Die Frage, auf welche Weise die Zeit als Kontinuum und als unendliches Ganzes gegeben ist, beantwortet Kant in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit der Lehre der S y n t h e s i s d e r A p p r e h e n s i o n , als das Durchlaufen und das Zusammennehmen der gegebenen Erscheinungsmannigfaltigkeit. Weil in dieser Vorstellung aber die Zeit schon vorausgesetzt ist, modifiziert nach Pannenberg Kant diese Lehre in der zweiten Auflage der ersten Kritik: hier ist „die ‚produktive Einbildungskraft‘ für Generierung und Zusammenfassung einer Sukzession von Momenten der eigenen Tätigkeit verantwortlich“ (TuP 187). Das Problem einer solchen Auffassung liegt, so Pannenberg, darin, dass an die Stelle der „schöpferischen Anschauung Gottes“ das Ich tritt. Damit wird das endliche Ich als zeitlos gedacht und wird so zum Ursprung des unendlichen Ganzen der Zeit (wie auch des Raumes). Erledigt ist demnach für Kant „die Möglichkeit, die Einheit der Zeit in der Ständigkeit der Ewigkeit Gottes begründet zu sehen“ (TuP 188; K.H. Manzke). Auf diese Weise hat nach Pannenberg Kant die widersprüchliche Idee geschaffen, dass sich das in der Zeit wissende endliche Ich Garant ihrer Einheit ist. Die „Verselbständigung des menschlichen Subjekts als Grund seines Erfahrungsbewußtseins“ (TuP 188) führt dazu, dass faktisch dieses Ich an die Stelle Gottes tritt. Die anthropozentristische Deutung von Raum und Zeit hat nach Pannenberg noch eine weitere Folge: der Realitätsbezug unserer Wahrnehmungen und Verstandesurteile, ihr Bezug auf die vorgegebene Wirklichkeit außer uns ist nicht gewährleistet. Es bleibt eine Frage, ob diese Formen der Anschauung auch Formen des Angeschauten selbst sind. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit, die hier für die Anschauungsformen von Raum und Zeit gestellt ist, wiederholt sich im Zusammenhang mit der Thematik des Verstandesgebrauchs und der Verstandeskategorien, für die ebenso gilt, dass sie Begriffe des Verstandes und nicht Begriffe von Gegenständen sind. Denn auch hier wird die traditionelle u n i t a s t r a n s c e n d e n t a l i s D e i , wie sie noch in der Metaphysik Baumgartens zugrunde gelegt wird, für die wech-

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selnden Bewusstseinsinhalte auf die transzendentale Einheit der Apperzeption des „Ich denke“ übertragen. Die notwendige Verknüpfung der Anschauungsformen wie der Verstandeskategorien mit sinnlicher Anschauung, damit diese überhaupt sachhaltige Aussagen enthalten, die sich objektiv auf Wirklichkeit ‚außer mir‘ beziehen, ist nach Pannenberg eine Setzung Kants, die für sich allein noch nicht die objektive Gültigkeit der subjektiven Erkenntnisakte gewährleistet. Die ausschließliche Bindung der Verstandeskategorien an die sinnliche Anschauung beinhaltet die Grundlage für die Kritik Kants an der traditionellen Metaphysik und dem Übersinnlichen, also auch an Gott (vgl. TuP 191). Die bisherige theologische Beantwortung der Frage nach der Gültigkeit der menschlichen Erkenntnis – als eine abbildliche Form der göttlichen Produktivität und Verstandestätigkeit – wird in der Erkenntniskritik Kants ‚subjektphilosophisch‘ umgewendet. Aus der Restriktion der Möglichkeit von Erfahrung auf den Bereich des sinnlich Gegebenen – mit anderen Worten: der Gültigkeit der Verstandestätigkeit und seiner Kategorien auf sinnlich Gegebenes – folgt, dass alle Erkenntnis, die die Grenze der Sinnlichkeit überschreitet, also der gesamte Bereich des Übersinnlichen, „nur eine Idee“ ist. Hier thematisiert Kant die Vernunfttätigkeit und ihre Funktion, die einzelnen empirischen Erkenntnisse des Verstandes in die Einheit einer Erfahrung zu fassen. Die Vernunft als Vermögen des (syllogistischen) Schließens findet in ihrer Tätigkeit zu dem Bedingten die Totalität der Bedingungen, deren Totalität wiederum auf dem Unbedingten beruht. Auf diesen ersten bzw. letzten, unbedingten Prinzipien oder Vernunftbegriffen beruhen die Schlussketten der Vernunft, die die wichtige methodische Funktion haben, die Einheit der Erfahrung zu gewährleisten. Diese obersten Vernunftbegriffe sind demnach regulative Prinzipien für die Zusammenfassung, Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrungserkenntnis. Die Vernunftbegriffe, die Kant auch Ideen nannte, sind aber gemäß der Restriktion der Erfahrung in der Vernunftkritik nicht Begriffe von wirklichen Gegenständen, sondern n u r I d e e n . Drei Vernunftprinzipien oder Vernunftideen sind es, unter denen die Erfahrung zusammengefasst ist und die den drei Themen der speziellen Metaphysik der Tradition entsprechen: Seele, Welt und Gott. Indem Kant diese drei Vernunftbegriffe nicht als theoretisch erweisbare Erkenntnis fasst, sondern nur funktional für die Gewährleistung der Einheit von Erkenntnis gelten lässt, sucht er nach Pannenberg den Konflikt zwischen dem Themenbestand der traditionellen Metaphysik und dem Erkenntnisstand der Naturwissenschaften seiner Zeit zu lösen. Für Gott als höchstes Wesen bleibt in dieser Behandlung der Frage nach dem Ursprung der Welt unter Beibehaltung des Gedankens der höchsten Vollkommenheit als Innbegriff aller Realität der Begriff des f e h l e r f r e i e n I d e a l s (KrV B 669).

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Nach Pannenberg ergibt sich für die Frage nach Gott das Problem, dass das Vernunftideal des höchsten Wesens in der ersten Kritik Kants eine anthropologische Interpretation des Gottesgedankens ausführt, die bei Descartes angelegt, aber erst bei Kant vollendet ist (vgl. STh 101 ff.). Zu dieser anthropologischen Interpretation gehört im Grunde auch der moralische Beweis in der „Kritik der praktischen Vernunft“ als notwendiges Postulat der praktischen Vernunft (STh 105).

III. Indem Pannenberg gleich zu Beginn seiner Darstellung der Philosophie Kants die theologisch-spirituellen Voraussetzungen in dessen Gottesverständnis namhaft macht, gibt er seiner eigenen Interpretation des kantischen Werkes eine Richtung vor, die methodisch nicht unproblematisch ist. Denn das hier charakterisierte Gottesverständnis Kants hat den Charakter einer weltanschaulichen, vortheoretischen Grundentscheidung, die sich auswirkt auf die sich anschließende Entfaltung der Fragestellungen und die Wahl der Optionen für deren Beantwortung. Erscheint also die Behandlung der Frage nach Gott in Kants Philosophie von vornherein als Folge eines bestimmten, weltanschaulich wirksamen Gottesverständnisses, dann ist schwer zu erklären, dass es die Gründe der Vernunft sind, die die Gottesfrage zwingend, weil vernünftig, auf eine bestimmte Weise behandeln und beantworten. Die Antwort Kants auf die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zur Welt und zum Menschen erscheint dann als Folge einer Vorentscheidung, die auch eine andere hätte sein können. Zu fragen wäre, welches Verständnis von Vernunft Kant dann eigentlich zugrunde gelegt haben muss, war er doch der Meinung, dass seine Kritik der reinen Vernunft der wa h r e G e r i c h t s h o f (KrV B 779) ist, vor dem die metaphysischen Streitthemen entschieden werden. Pannenberg nimmt das Werk Kants durch die einzelnen Lehren, die Kant entwickelt, in den Blick und hebt so besonders dessen Ergebnisse hervor. In der direkten Kontrastierung mit den Lehren der traditionellen theistischen Metaphysik erscheint das Werk Kants als Bruch, Kant als Destrukteur der Metaphysik und der Gottesbeweise. Seinem Selbstverständnis nach ist Kant aber ein Erneuerer der Metaphysik gewesen, der die Metaphysik auf eine neue sichere Grundlage gestellt hat, um auf dem K a m p f p l a t z e n d l o s e r S t r e i t i g k e i t e n (KrV A VIII) Ruhe und Frieden zu schaffen. Sein primäres Ziel war es nicht, ein neues Lehrsystem zu errichten, sondern einen „Tractat von der Methode“ zu entwerfen, innerhalb dessen die „Verschiedenheit der Art“ beschrieben ist, wie sich die Vernunft „Objecte zum Denken wählt“ (KrV B XXII f.). Der methodologische Charakter des Projekts der Kritik der reinen Vernunft zeigt sich an den frühen Arbeitstiteln: E i g e n t l i c h e M e t h o d e d e r M e t a p h y s i k (1766), D i e

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G r e n z e n d e r S i n n l i c h k e i t u n d d e r Ve r n u n f t (1771).7 Ausdrücklich nennt Kant seine Kritik der reinen Vernunft „Propädeutik“ (KrV B 25) auf dem Weg zur Formulierung eines Lehrsystems. Kant ist folglich angesichts der sich wiederholenden und fruchtlosen Streitigkeiten der metaphysischen Schulen auf der Suche nach einem Konzept von Erkenntnis und nach einer Beschreibung der menschlichen Vernunft, die es erlauben, die Erkenntnisinhalte ihrer prinzipiellen Verschiedenheit nach zu unterscheiden. Er findet die Lösung darin, dass die Vernunft selbst einer „Kritik ihres eigenen Vermögens“ (KrV B XXXV) bedarf, die sie zur „Disciplin zur Grenzbestimmung“ (KrV B 823) macht. So entsteht die Unterscheidung in spekulative und praktische Vernunft und Natur und Freiheit als zugeordnete Erkenntnisbereiche. Im Rahmen dieser Selbstbegrenzung der Vernunft vollzieht Kant die entscheidende Grenzziehung, indem er den Bereich möglicher Erfahrung auf dasjenige einschränkt, das sinnlich gegeben ist. Innerhalb der subjektiven Anschauungsformen von Raum und Zeit und mittels der Verstandeskategorien, deren objektive Beziehung auf die Wirklichkeit in der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kategorien dargelegt ist, hat das Erkenntnissubjekt objektive Erkenntnis der ihm sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Kant hat nicht die primäre Absicht, eine Erkenntnislehre zu formulieren, sondern mit der Restriktion der Möglichkeit von Erfahrung einen Raum zu gewinnen, um die Frage nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori, in deren Mittelpunkt das Kausalgesetz steht und aus denen Metaphysik besteht, zu entscheiden (KrV B 19 ff.). Diese Frage wiederum steht nicht in erster Linie im Dienst einer wissenschaftlichen Erkenntnislehre auf der Grundlage von Ursache und Wirkung. Kant entwickelt seine gesamte Erkenntnislehre im ersten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft, um eine theoretische Grundlage zu gewinnen, auf der die entscheidende Frage seiner metaphysischen Bemühungen behandelt werden kann. Sie ist in dem Satz zusammengefasst: „Denn sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“ (KrV B 564) Mit Freiheit ist das Thema der Moralität und der praktischen Vernunft angesprochen und die Frage, ob das moralische Gesetz, das intelligibel ist, durch den Willen des Menschen in der sinnlichen Wirklichkeit, in der die „Naturnotwendigkeit“ (KrV B 566) Gesetz ist, als gute Handlung wirksam sein kann. Man sieht am Beispiel dieses Themas, dass die viel kritisierte Lehre Kants von der Unterscheidung der „Gegenstände“ in Erscheinungen und Dinge an sich (phaenomena und noumena) (KrV B 294 ff.) den Sinn hat, die Wirklichkeit nicht als eindimensionale „absolute Realität“ (KrV B 564), sondern als so unterschieden zu fassen, dass sich die Wirksamkeit wesentlich unterschiedlicher 7 Zu dieser Entwicklung im Vorfeld des Erscheinens der „Kritik der reinen Vernunft“ siehe Karsten M. Thiel, Kant und die „Eigentliche Methode der Metaphysik“, 123 ff.

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Kausalitäten – Natur und Freiheit – als in dieser einen Wirklichkeit realisierbar denken lässt. In der Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft“ formuliert Kant dieses Erfordernis des „Übergangs“ zwischen den zuvor durch die Vernunftkritik geschiedenen Gebieten der Natur und Freiheit für die Vernunft folgendermaßen: „… so soll doch diese [Welt] auf jene einen Einfluß haben, nämlich der Freiheitsbegriff soll den durch seinen Gesetze aufgegeben Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen; und die Natur muß folglich so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“ (KdU 176) Im Zuge dieser erkenntniskritischen Grenzziehung Kants gerät Gott natürlich ‚auf die andere Seite‘. Gott ist nicht sinnlich gegeben und kann folglich aufgrund der Grenzziehung der reinen Vernunft nicht Gegenstand möglicher Erfahrung sein, im Sinne des von Kant so genannten immanenten Gebrauchs (KrV B 664). Doch nur eine Kant-Rezeption, die einseitig die Erkenntnislehre, die Methodologisierung Kants betont und ihn als frühen Wissenschaftstheoretiker auffasst, sieht nicht, dass die Motivlage in Kants Gesamtwerk eine andere ist. Für Kant standen stets die traditionellen Themen der Metaphysik, also die Themen seiner transzendentalen Dialektik im Mittelpunkt und damit Gott im Zentrum.8 Vom Themenbestand der Dialektik ist die Grundintention des gesamten Vorhabens Kritik der reinen Vernunft erst angemessen verständlich zu machen. Auch die Behandlung des Themenbestandes der traditionellen theistischen Metaphysik in der transzendentalen Dialektik erfolgt auf der Grundlage der erkenntniskritischen Grenzziehung in Kants Lehre vom transzendentalen Schein.9 Das sinnkritische Potenzial der sich selbst begrenzenden Vernunft besteht darin, nicht alles sinnlich oder geistig Gegebene unterschiedslos und auf gleiche Weise als Erkenntnis zu behandeln. Kant sagt, modern ausgedrückt, dass nicht sinnvoll von Erkenntnis gesprochen werden kann, wenn nicht angegeben ist, unter welchen Bedingungen Erkenntnis möglich ist. Die Angabe von Bedingungen setzt notwendig Abgrenzung und Grenzziehung voraus. Historisch richtet sich Kant in diesem Zusammenhang gegen eine, wie er sie nennt, dogmatische Metaphysik, deren Vertreter er als „Luftbaumeister“ und als T r ä u m e r

8 Siehe dazu z. B. Heinz Heimsoeth, Atom, Seele, Monade. Historische Ursprünge und Hintergründe von Kants Antinomie der Teilung, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abh. der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 1960, Nr. 3, 263: „Daß aber die Thematik der Antinomien auch für die Genesis von Kants Philosophie eine bestimmende, ja entscheidende Bedeutung gehabt hat, darf heute als gesicherte Einsicht angesehen werden.“ Die Tendenz der Verwissenschaftlichung und Methodologisierung der Kantischen Philosophie unter Ausblendung ihrer aus der Tradition abgeleiteten metaphysischen Fundierung und Zielrichtung hat Heinz Heimsoeth an anderer Stelle als „grundverkehrt“ bezeichnet: Metaphysik der Neuzeit, München u. a. 1934 (Neudruck München 1967) 85. 9 Siehe dazu Karsten M. Thiel, Kant und die „Eigentliche Methode der Metaphysik“, 170 ff.

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(TG 342) 10 bezeichnet, die „Wahn und das eitle Wissen“ (TG 368) verbreiten. Sein brisanter Vorwurf lautet konkret, dass eine Metaphysik, die derart verfährt und auf diese Weise Unhaltbares aufstellt, zur „Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens“ (KrV B XXX) wird. Für Kant steht die Gültigkeit des übersinnlichen moralischen Gesetzes auf dem Spiel. Weil dessen Formulierung von einem metaphysischen System abhängig ist, das, um glaubwürdig und annehmbar zu sein, auf einem für das Denken sicheren Fundament stehen muss, ist zuvor eine Grundlagenklärung notwendig. Das ist Vernunftkritik. Kant hat die Gottesfrage in seinen späteren Schriften immer wieder erörtert und in den Mittelpunkt seiner Reflexionen gestellt. In der „Kritik der Urteilskraft“ wird der Begriff der Zweckmäßigkeit in der Erfahrung des Schönen und der natürlichen Organismen zum zentralen Begriff einer Teleologie der Natur und über die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen einer Vereinbarkeit und Zusammenstimmung von Natur und Moral in der Idee eines Endzwecks ein weiterer, nun moralischer Gottesbeweis entwickelt (KdU 418 ff.). Kant betont gegen Ende seiner dritten Kritik ausdrücklich: „Gott, Freiheit und Seelenunsterblichkeit sind diejenigen Aufgaben, zu deren Auflösung alle Zurüstungen der Metaphysik, als ihrem letzten und alleinigen Zwecke, abzielen.“ (KdU 465) Er setzt die Erörterung dieser metaphysischen Themen in den im Jahr 1791 entstandenen Entwürfen über die Fortschritte der Metaphysik fort und entwickelt dort – nach erfolgter kritischer Läuterung und mit den drei Kardinalsätzen der Metaphysik – erste Ansätze eines Systems der Metaphysik.11 Nach der kritischen Scheidung folgt die doktrinäre Synthese. Wie ist nun die eingangs referierte Grundthese Pannenbergs zum Werk Kants, insbesondere zur Gottesfrage einzuschätzen? Die Unerweisbarkeit des Daseins Gottes für die spekulative Vernunft bedeutet nicht, dass Kant das Dasein Gottes bestreitet. Er ist weder Agnostiker12 noch Atheist. Es kommt bei der Position Kants in der Frage nach dem Dasein Gottes auf die Gesamtschau seines Werkes an. Allerdings hat die theoretische Unerweisbarkeit Gottes im Sinne der Selbstbegrenzung der Vernunft die Folge, dass Kant in der Tat im gesamten ersten Teil seiner „Kritik der reinen Vernunft“ den Gottesgedanken für die Erkenntnisfunktionen in keiner Weise voraussetzen kann. Richtig ist, dass er damit das Subjekt und sein transzendentales Bewußtsein, das „ich denke“, derart in den 10 „Träume eines Geistersehers“ (AA Bd. II). 11 Siehe dazu Karsten M. Thiel, Kant und die „Eigentliche Methode der Metaphysik“, 154–163 sowie Georgios Zigriadis, Zweckmäßigkeit und Metaphysik. Die Neufassung des argumentum a contingentia mundi für die Existenz Gottes in Kants Kritik der Urteilskraft, St. Otilien 2008, 249–267. 12 Als solcher gilt er etwa in der katholischen Theologie, dabei nicht nur in der neuscholastisch ausgerichteten, seit jeher. Siehe z. B. Walter Brugger, Theologia Naturalis, Barcelona 1964, 225 ff.: „De defensione demonstrationis existentiae Dei contra agnosticismum Kantii.“

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Mittelpunkt stellt, dass es als Grundlage und als Voraussetzung der Möglichkeit von Erkenntnis erscheint. Kants operative Entkopplung der Erkenntnisvorgänge vom Gottesgedanken kann dazu führen, Kant so zu lesen, dass das Subjekt auch der Ursprung der Regeln ist, kraft derer es die Synthesisleistung der Erkenntnis vollzieht.13 Das wäre in der Sicht Pannenberg das p e c c a t u m o r i g i n a l e des Königsberger Philosophen. Zu solchen Vorstellungen von der Philosophie Kants haben die Begriffe S p o n t a n e i t ä t des Verstandes und p r o d u k t i ve E i n b i l d u n g s k r a f t , sowie die Lehre Kants von der t r a n s z e n d e n t a l e n E i n h e i t d e r A p p e r z e p t i o n als den h ö c h s t e n P u n k t (KrV B 133 f. Anm.) freilich beigetragen. Das transzendentale „ich denke“ gewinnt in der Tat viel von einer letztbegründenden Stellung. Hat aber Kant an irgendeiner Stelle die These von einem solchen letztbegründenden Ursprung im Ich ausdrücklich aufgestellt? Eine solche These ist allein daraus, dass Kant die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung in Einbildungskraft und Verstand gelegt sieht, nicht abzuleiten. Diese Möglichkeitsbedingungen und a fortiori auch das „ich denke“ des Erkenntnissubjekts können doch wieder in Gott, als obersten und letzten Einheitsgedanken von allem, begründet sein. Nur um den Preis einer Ausblendung der in der Erneuerung der Metaphysik liegenden methodischen Grundintentionen des Projekts Vernunfkritik und der späteren Werke Kants kann von einer Umformung der theistischen Metaphysik in eine Anthropologie gesprochen werden, wie Pannenberg es etwa im Anschluss an Friedrich Delekats Kant-Interpretation tut.14 Doch liegt die Speerspitze des Einwands, der mit dem Werk Kants in die Philosophie getreten ist und der in seinem gesamten Werk wirksam wird und bleibt, in seinem Argument gegen den ontologischen Gottesbeweis: das Dasein ist kein ontologisches Prädikat (KrV B 626). Daraus folgt wiederum, dass aus der reinen, widerspruchsfreien Vorstellung von etwas nicht notwendig seine Existenz folgt. Dies gilt nicht allein für den Gedanken von Gott, sondern für alle anderen Ideen der Vernunft, die nicht schon deswegen wirklich sind, weil sie gedacht werden können. Bereits für die Frage nach der Existenz Gottes hat Kant in der „Nova Dilucidatio“ von 1755 den unbedingten Vorrang des Existenziellen vor dem Essentiellen statuiert.15 Pannenberg hat diesen Einwand Kants folgendermaßen selbst reformuliert: „Kann der metaphysische Überstieg zum Gedanken des Einen die Realität des Absoluten aus der Selbständigkeit des philosophischen 13 Dazu s.o. Gunther Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, s. o. 15 ff., bes. 49. 14 Vgl. a. a. O., 50 f. 15 Siehe dazu Josef Schmucker, Die Originalität des ontotheologischen Arguments Kants, in: Kritik und Metaphysik. Studien. Heinz Heimsoeth zu achtzigsten Geburtstag (hrsgg. von Friedrich Fulda und Joachim Ritter), Berlin, 1966, 128 und Georgios Zigriadis, Zweckmäßigkeit und Metaphysik, 27 ff.

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Gedankens heraus vollständig erfassen und hinreichend begründen …?“ (MuG 18) Darin, dass dies nach Kant nicht möglich ist, liegt der tiefere Grund für die erkenntniskritische Restriktion von möglicher Erfahrung auf das sinnlich Gegebene. Dabei hat Kant diese Einsicht nicht weitergeführt, um die Existenz Gottes zu bestreiten oder die Ideen der Vernunft zu rein subjektiven Vorstellungen zu depotenzieren. Die sinnkritische Ausrichtung seiner Vernunftkritik sucht nach einem – ganz allgemein gesprochen – Denkraum, der derart ausgestaltet und strukturiert ist, dass er die gesamte ‚Wirklichkeit‘, der der Mensch mit seinen Sinnen und in seinem Denken begegnet, in ihrer Verschiedenheit und Eigenart angemessen fassen und beschreiben kann. Dieser Plan Kants findet im Hinblick auf den Gottesgedanken einen Niederschlag auch bei Pannenberg, wenn dieser fortfährt: „… oder kann die Philosophie nur Kriterien formulieren, denen jeder Gedanke des absolut Einen genügen muß, ohne den Anspruch, die Realität des Absoluten damit vollständig zu erfassen und ihre Annahme hinreichend begründet zu haben.“ (MuG 18) Es ist die Frage, ob eine detaillierte, die immanente Logik der Gottesbeweise betreffende Auseinandersetzung mit deren Kritik durch Kant, wie sie Pannenberg vornimmt, in der Sache weiterführt. Denn gerade diese immanente Logik der Gottesbeweise und deren Verhältnis untereinander, etwa die Frage, ob der kosmologische Beweis den ontologischen voraussetzt, spielen für Kant mit Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ faktisch keine Rolle mehr: „Mit neuen Beweisen oder ausgebesserter Arbeit alter Beweise würde ich bitten mich zu verschonen.“ (KrV B 666) In seiner „Kritik aller Theologie aus speculativen Principien der Vernunft“ (KrV B 659) führt er als zentrales Argument gegen die theoretischen, spekulativen Versuche, das Dasein Gottes zu erweisen, an, dass ein solcher theoretischer Erweis nur unter Angabe der Bedingungen, unter denen sinnvoll vom Dasein Gottes gesprochen werden kann, möglich ist. Das Sinnkriterium für einen Erweis des Daseins Gottes in theoretischer Hinsicht ist die schlechthinnige Notwendigkeit des moralischen Gesetzes (KrV B 661 f.): „… folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zum Grunde legt oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne.“ (KrV B 664) Von diesem Zusammenhang aus gewinnen bereits in der „Kritik der reinen Vernunft“ und dann vor allem im Spätwerk Kants metaphysische Systemgedanken immer mehr an Bedeutung, die integrativ die spekulative und praktische Vernunft sowie ihre Gegenstandsbereiche fassen wollen: „Die Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie) hat nun zwei Gegenstände, Natur und Freiheit, und enthält also sowohl das Naturgesetz, als auch das Sittengesetz, anfangs in zwei besonderen, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System.“ (KrV B 868) Die „Kritik der Urteilskraft“ thematisiert das Vermögen der Urteilskraft ausdrücklich als „Verbindungsmittel der zwei Theile der Philosophie zu einem Ganzen“ (KdU 176). In der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik

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wird Kant noch viel deutlicher. Hier ist bereits von der Metaphysik als einem absolutem Ganzen (vgl. FdM 321) die Rede, zu dem die Metaphysik gelangt, indem sie „von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft“ (FdM 342) fortschreitet mit dem Ziel, „ein Ganzes von Erkenntniß des Übersinnlichen“ (FdM 300) zu erreichen. In diesen metaphysischen Systemüberlegungen Kants verliert die theoretische Unerweislichkeit des Daseins Gottes immer mehr an Gewicht, obwohl Kant stets formal daran festhält, weil die praktische Realität eines höchsten Wesens als Endzweck von allem in der Welt und die Realität des moralischen Gesetzes immer mehr an Bedeutung gewinnen. Auch wenn der Zusammenhang zwischen dem moralischen Gesetz und dem Postulat des Daseins Gottes in der praktischen Vernunft zu Schwierigkeiten geführt hat, die Kant nicht hat beheben können und die schließlich bewirkt haben, dass seine moralische Begründung des Glaubens an Gott obsolet wurde (TuP 198 ff.), bleibt sein Einwand gegen die Gottesbeweise, wonach die Frage nach Gott kein rein spekulatives Thema ist, das um seiner selbst willen behandelt wird, bestehen. Nun ist aber das Werk Kants nicht ohne seine Wirkungsgeschichte zu betrachten, in der gerade seine Behandlung der Gottesfrage und ihre anthropologische Interpretation zur Basis von Auffassungen werden konnten, die die Frage nach Gott generell als subjektives Bedürfnis des Menschen und als Projektion ansahen und zur Grundlage eines ‚begründeten‘ Atheismus wurden (vgl. STh 104). Die Frage ist, ob eine solche Ausrichtung der Gottesfrage nicht schon in der natürlichen Theologie angelegt ist, die sich die Gotteserkenntnis durch „Reflexion und Argumente der Vernunft“ (STh 93) zu erwerben sucht. Dass Kant historisch zum Wegbegleiter der modernen Philosophie wurde, für die in der Tat der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht Gott, lag außerhalb seines und des Gesichtskreises seiner unmittelbaren Nachfolger. Pannenberg anerkennt ausdrücklich, dass Kant nicht darauf abzielte, Gott aus der Welt und dem Selbstverständnis des Menschen zu verdrängen (vgl. TuP 195). Daher stellt sich die Frage, ob Pannenberg mit seiner These von der Anthropologisierung der Philosophie durch Kant zwar Kant meint, aber in der Sache dessen fernere Wirkungsgeschichte trifft. Für die Theologie steht fest, dass wahre Gotteserkenntnis nur durch die Offenbarung der göttlichen Wirklichkeit möglich ist. Doch wo und wie kommt ‚reine‘ Offenbarung vor? Die Rede von Gott, als Rede von der Wirklichkeit einer solchen Offenbarung, ist auch im kleinsten und elementarsten auf die Kommunikabilität dieser Erfahrung verwiesen und damit auf allgemeine Bedingungen der Vernunft. Mit anderen Worten: Auf die Philosophie als Ort der begrifflichen Klärung und sinnkritischen Abgrenzung aller Rede von Gott kann die Theologie prinzipiell niemals verzichten.16 Im Grunde ist dies das Anliegen Kants 16 Auf die Gefahren eines solchen Verzichts verweist Pannenberg ausdrücklich in TuP 11 f.

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für die Gemengelage der Metaphysik seiner Zeit gewesen. Andererseits kann, wie Pannenberg ausdrücklich betont, keine philosophische Lehre vom Absoluten und von Gott, mag diese noch so elaboriert sein, an die Stelle des Gottesverständnisses der religiösen Tradition treten (MuG 33). Die korrigierende und reinigende Funktion der philosophischen Theologie als „beständige Censur der Vernunft“ (KrV B 668 f.), wie sie Kant für alle Rede von Gott in Anspruch nimmt, ergänzt Pannenberg durch die wichtige Funktion der kosmologischen Beweisarten, die etwas aussagen „über die Sinnbedürftigkeit der menschlichen Vernunft angesichts der Unselbständigkeit der Weltdinge“ (STh 106 f.). So bleibt das Reden von Gott i n t e l l i g i b e l und kommunikabel. Die Bedingungen und Voraussetzungen dieser Intelligibilität und Kommunikabilität muss die Theologie im Zusammenhang mit philosophischer Reflexion zu unterschiedlichen Zeiten auch auf unterschiedliche Weise sicherstellen. Kant hat dazu für seine Zeit und gleichzeitig weit über seine Zeit hinaus Gültiges formuliert. Die Meinung, Kant sei der Destrukteur der theistischen Metaphysik gewesen, ist schon sehr früh nicht von allen seinen Interpreten geteilt worden. Der ehemalige Wiener Jesuit und zum Potestantismus konverierte Philosophie-Professor in Kiel Karl Leonhard Reinhold hat den geistesgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die „Kritik der reinen Vernunft“ erschienen ist, im Jahr 1796 mit folgenden, für den Charakter der Intervention Kants in die Geschichte der Metaphysik sehr aufschlussreichen Worten beschrieben: „… War die Metaphysik vor dieser Periode [der Leibniz-Wolffschen Schule] Wissenschaft: so hat sie wenigstens während derselben aufgehört diesen Namen zu verdienen. Sie wurde kaum mehr von ihren eigenen Pflegern und Bearbeitern dafür gehalten, die keine Bedenken trugen, ihre Grund- und Lehrsätze für nichts als blosse Meynungen zu geben; ungeachtet sie noch fortfuhren, dieselben als die Grundlehren derjenigen Wissenschaften anzusehen und zu gebrauchen, von denen die Veredlung und Beglückung der Menschheit zunächst abhängen soll. … Allein die wesentlichen Verschiedenheiten jener Denkarten [in der Metaphysik] waren keineswegs durch die tieferen Einsichten aufgehoben, sondern durch seichtere unsichtbar geworden; und es war Friede auf dem Gebiete der Metaphysik, nicht weil die alten Streitpunkte hinweggeräumt; sondern weil sie auf den Augen verlohren wurden. Das Verdienst, diese Streitpunkte wieder zur Sprache gebracht zu haben, wird dem Philosophen von Königsberg auch von seinen Gegnern, wenigstens von denjenigen, eingestanden, die nicht zugleich Gegner aller ernsthaften und gründlichen Philosophie sind. … Man warf die für entbehrlich gehaltene Form des Systems um so schneller und allgemeiner ab, je mehr dieselbe durch die übertriebenen Forderungen, und die abschreckende Trockenheit der Systematologie wirklich unerträglich gemacht wurde. Die Metaphysik wurde nun immer mehr und mehr ihrem Inhalt nach synkretistisch und ihrer Form nach rhapsodisch, je mehr man dieselbe den Fähigkeiten und Vorkenntnissen der studierenden Jünglinge, und der Unterhaltung und dem Zeitvertreib des

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lesenden Publikums aus allen Ständen anzupassen suchte, und je weniger sich der immer weiter um sich greifende und immer tiefer einwurzelnde Hang zur Vielwisserey und Villeserey mit dem Geschmack an ernsten wissenschaftlichen Untersuchungen vertrug. Das Uebel der Seichtigkeit war schon viel zu weit gekommen, als dass es auf eine andere Weise, als durch das entgegengesetzte Uebel der Spitzfindigkeit in seinem Fortgange beschränkt werden konnte. …“17.

17 Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Preisschriften über die Frage: Welche Fortschritte hat die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeit in Deutschland gemacht, von Johann Christoph Schwab, Karl Leonhard Reinhold und Johann Heinrich Abicht, Berlin 1796 (Neudruck Darmstadt 1971), 175 ff.

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Das vere ens infinitum bei Descartes, Hegel und Pannenberg 20 Thesen zum Begriff des wahrhaft Unendlichen

(1) Der Begriff des Endlichen und Begrenzten ist dem Begriff des Unendlichen (Unbestimmten und Unbegrenzten) in der klassisch-griechischen Philosophie nicht unter-, sondern übergeordnet; d. h. für das apeiron (Unendliche) gilt ein Nichthaben von Begrenzung und Struktur (peras) als Mangel und nicht als Vorzug. (2) Der mathematische Begriff des Unendlichen markiert einen Grenzbegriff, der aber innerhalb der unendlich erweitert gedachten Endlichkeit gesetzt ist. Er fällt in den Begriff des schlecht („schlicht“) – nicht des wahrhaft – Unendlichen (vgl. Hegel Enz 1830, §94). (3) Im Blick auf den physikalischen Begriff des Unendlichen (z. B. des unendlichen Raumes) ist festzuhalten, dass die Unbegrenztheit des Raumes keine Unendlichkeit der Masse impliziert; d. h. Endlichkeit und Unbegrenztheit schließen sich nicht aus. (4) Für Descartes ist wesentlich, dass der Mensch als denkendes Wesen sich als zweifelnd und irrend erfahren kann. Dem cogitare ist das dubitare inhärent; im Gegensatz zum Tier kann sich der Mensch als endlich erfassen. (5) In der III. Meditation (III,23 bzw. 27; De Deo) spricht Descartes von einem wahrhaft unendlich Seienden (revera esse infinita). Von diesem Unendlichen gilt, dass es aktual unendlich ist (III,27), zwar nicht vollständig erfasst werden (non comprehendere, III,25), aber immerhin wahrgenommen werden kann (percipi potest vgl. III,24). (6) Die Wahrnehmung des Unendlichen ‚entsteht‘ nicht durch ‚Verlängerung‘ des Endlichen ins Unendliche, auch nicht durch dessen Negation, sondern durch die Selbsterfassung des Endlichen in seiner Endlichkeit. Diese Erfassung setzt voraus, dass ihr das Bewusstsein des Unendlichen vorausgeht und zugrundeliegt. Das Unendliche hat noetische, aber auch ontologische Priorität. Ganz zu Recht formuliert Pannenberg: „Descartes behauptet also eine Priorität der Idee des Unendlichen vor allen übrigen Vorstellungen unseres Bewußtseins, weil sie alle nur durch Einschränkung des Unendlichen zustande kommen.“ (MuG, 1988, 22)

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(7) Pannenbergs Aufnahme des Begriffs des wahrhaft Unendlichen (vere ens infinitum) versteht sich in Anknüpfung an Descartes, Schleiermacher und Hegel. Für Letzteren ist ein Konzept des Absoluten maßgeblich, in dem das Endliche vom Unendlichen nicht als ausgeschlossen, sondern in es eingeschlossen erscheint. Das wahrhaft Unendliche ist „vom Endlichen verschieden“, wobei es zugleich „diese Differenz übergreift“ (STh I,387). – „Wahrhaft unendlich ist das Unendliche erst, wenn es seinen Gegensatz zum Endlichen zugleich übergreift.“ (STh I,432; vgl. Hegel Enz 1830, § 95) (8) Zur Descartes-Kritik Pannenbergs: Er kritisiert einerseits die Basis des cartesischen Beweises: Verfügen wir wirklich über einen Begriff Gottes, der präzise und beweisfest ist? Grundsätzlich fragt Pannenberg, ob mit der Idee des Unendlichen und höchst Vollkommenen schon der Gottesgedanke erreicht ist (vgl. MuG, 1988, p. 24), denn ein Unendliches ließe sich z. B. auch abstrakt und rein transzendentalphilosophisch begreifen (ein an Kant und Fichte, freilich nicht an Anselm und Descartes orientierter Einwand). Anderseits moniert Pannenberg in einem zweiten Vorbehalt den Zielpunkt Descartes’. Er führt letztlich zu der Frage, ob Gottes Wesen überhaupt unabhängig von seiner Selbstoffenbarung zu erschließen sei. Pannenberg hat dies verneint (hier durchaus auf einer Ebene mit M. Luther und K. Barth). Er stellt dabei nicht die Idee des wahrhaft Unendlichen in Frage (die er Hegel, nicht Descartes zuschreibt), sondern er kritisiert deren apriorische Gleichsetzung mit dem Gedanken (eines personalen, mit Willen und Geschichtsmächtigkeit verbundenen) Gottes. Salopp gesagt: Gott schaut anders aus als ein unendlich vollkommenes, im Grunde unbegreifliches Wesen. (9) Pannenberg teilt somit auch die Bedenken, ob wir vom Unendlichen überhaupt eine „‚klare und distinkte‘ Idee“ haben können (MuG, 1988, 23). Mit Caterus (vgl. PhB 27,86.7 ff., beantwortet 102.8 ff.) behauptet er, dass wir Gott (im Horizont unserer natürlichen Gotteserkenntnis) nicht „clare & distincte“ begreifen könnten, sondern von ihm nur eine rudimentäre und verworrene Kenntnis hätten. Descartes hat auf diesen naheliegenden Einwand mit dem Beispiel der Wahrnehmung des Meeres geantwortet: Wir nehmen es geistig als Ganzes wahr, d. h. haben durchaus einen Begriff von ihm (als eines Ganzen), auch wenn wir es nicht wirklich ganz überschauen und erfassen können. Wir sehen es nicht vollständig und haben dennoch einen vorläufigen, nicht unangemessenen Begriff von seiner Totalität. D. h. um das Unendliche begrifflich zu erfassen, müssen wir es nicht in seiner Totalität einholen, sondern können es andenken, indem wir es (nicht sukzessiv, sondern mit einem Schlag) als Ganzes erschließen, allerdings ohne es in seiner Totalität wirklich zu erfassen. Auf diese Weise eröffnet Descartes einen Zugang zum Unendlichen, der sich dem begrifflichen Denken offenhält, ohne dieses mit einer vollständigen Erfas-

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sung gleichzusetzen. So macht er deutlich: Es gibt keinen Grund zur Flucht aus dem Begriff; der Begriff muss nicht über Bord gehen, sich nicht ins Gefühl oder in eine vage Intuition verflüchtigen. (10) Demgegenüber, im Gegensatz zur cartesisch-hegelschen Liebe zur Klarheit und Stringenz der Idee, spricht Pannenberg bevorzugt von einer „Intuition des Unendlichen“ (MuG, 1988, 23), so dass für ihn das Unendliche „nicht als expliziter Gedanke“ gegeben ist, sondern nur unscharf, nicht-distinkt und unthematisch als Ingredienz in der Wahrnehmung des Endlichen mitgesetzt. Aus der Sicht von Descartes ist es zwar nicht falsch von einer „Intuition“ des Unendlichen zu sprechen, aber doch zu wenig. (11) Für Descartes handelt es sich bei der Erfassung des Unendlichen nicht um eine bloß gefühlsmäßige, sondern eine begriffliche und begrifflich-adäquate, wenngleich unvollständige, weil perspektivisch begrenzte Form der Erkenntnis (vgl. Meditationen … mit sämtl. Einwänden und Erwiderungen, hg. A. Buchenau = PhB 27, 1915, p. 337 f.). Da wir mit unserem Intellekt „von Gott geschaffen worden“ sind (340 = AT VII,525 „… nisi a Deo facti essemus“), haben wir auch das Potential in uns, das Unendliche wirklich (konkret und diskret, nicht nur intuitiv-gefühlsmäßig) zu erfassen, obwohl wir dabei endliche Wesen sind und bleiben. (12) Pannenbergs Thematisierung des Unendlichen ist bezogen auf Hegels Konzeption des Absoluten, in der das „wahrhaft Unendliche“ seine Gestalt gewinnt. Vorweg bemerkenswert ist, dass Kp. 2 in Metaphysik und Gottesgedanke jedoch nicht „Das Problem des Unendlichen“ sondern „Das Problem des Absoluten“ überschrieben ist (MuG 1988, p. 3.20; Herv.WD). Hegel entwickelt den Begriff des wahrhaft Unendlichen nicht nach mathematischem Paradigma, sondern im Sinne einer Unendlichkeit, die als das Absolute ein Endliches weder außer, noch neben oder gegen sich haben kann (vgl. Th.2 und 7). Insofern ist auch für ihn der Begriff des Unendlichen (wahrhaft verstanden) dem des Absoluten nicht entgegengesetzt. (13) Hegels Begriff des wahrhaft Unendlichen bringt es mit sich, dass dieses nicht als in sich undifferenziert oder spannungsfrei zu denken ist: Der Gegensatz liegt sowohl im Unendlichen, das ein Endliches in sich birgt, als auch im Endlichen, das sich nur als solches fassen kann, indem es das Unendliche als den unbegreiflichen Boden seiner eigenen Endlichkeit in den Blick nimmt. (14) Der von Climacus (Kierkegaard 1844/46) pointiert fixierte unendliche qualitative Unterschied zwischen Endlichem und Unendlichem (aufgegriffen u. a. von K. Barth in seinem Römerbrief 1922²) markiert hamartiologisch die (immanente) Unmöglichkeit einer Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, sofern das Endliche die beschränkte Wirklichkeit des Sünders kennzeichnet. (15) Das calvinistisch-barthianische „finitum non capax infiniti“ wird durch Hegels Theorie des wahrhaft Unendlichen in Frage gestellt: Sofern das Endliche

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sich im Horizont des Unendlichen begreift, hat es von ihm her auch die Möglichkeit, sich zum Unendlichen zu erheben. (16) Zur begrifflichen Konfiguration des Gottesgedankens (STh I, cp. 6): Nach Pannenberg sind die göttlichen Eigenschaften der „Heiligkeit, Ewigkeit, Allgegenwart und Allmacht“ seiner Unendlichkeit nicht nach- und unter-, sondern vor- und übergeordnet (STh I,476). Damit wird der Unendlichkeitsbegriff zu einem der beiden Leitbegriffe (Unendlichkeit; Liebe) innerhalb der Lehre von den Eigenschaften Gottes. (17) Somit sind auch Ewigkeit und Heiligkeit als „Konkretisierungen des wahrhaft Unendlichen“ zu verstehen (STh I,476). Pannenberg ist sich dessen bewusst, dass bspws. Heiligkeit und Ewigkeit biblisch die weitaus stärker vertretenen Begriffe sind als der vergleichsweise abstrakt anmutende Begriff der Unendlichkeit Gottes (vgl. STh I,433: „… der abstrakte Begriff des wahrhaft Unendlichen“). Pannenberg kurz und bündig: „Unendlichkeit ist keine biblische Bezeichnung für Gott.“ (STh I,429). Aber da sie der Sache nach angemessen und zudem in „vielen biblischen Begriffen impliziert“ ist (Pannenberg denkt hier insbes. an Allgegenwart und Ewigkeit), kann sie für ihn zum Leitbegriff innerhalb der Lehre von den Eigenschaften Gottes werden. (18) Gegen eine Vor- und Überordnung des Unendlichkeitsbegriffs spricht allerdings ihre geringe Repräsentanz und Bedeutung innerhalb der Hl. Schrift, aber auch ihre Missverständlichkeit als eines abstrakt-philosophischen Begriffs. Drittens ist sie auch deshalb problematisch, weil Unendlichkeit (das apeiron) in ihrem klassisch platonisch-aristotelischen Sinn keine Vollkommenheit, sondern eine Unvollkommenheit zum Ausdruck bringt (das Unendliche als das Unbegrenzte und Ungeordnete). Auch im Sinne Gregors von Nyssa kann Unendlichkeit nicht zum positiven Leitbegriff einer begrifflichen Erfassung Gottes (seines Wesens, seiner Eigenschaften) werden (vgl. Th.1). (19) Descartes (1641) und Schleiermacher (1799): Pannenbergs interpretatorische Verbindung der III. Meditation (Descartes’) mit der II. Rede (Schleiermachers Über die Religion) hat einen genialen Anstrich, ist jedoch der Sache nach problematisch. Denn Descartes geht in seiner Idee des vere ens infinitum (vgl. Med III,23) nicht davon aus, dass wir von Gott nur ein Gefühl oder eine blasse und verschwommene Vorstellung hätten; sondern wie für Augustin gilt ihm, dass uns der Gottesgedanke näher und klarer (präsenter) ist als der unseres eigenen (in seine Zeitlichkeit und Endlichkeit verstrickten) Ichs. Daher ist Gott für das Denken (Descartes, Hegel) und nicht nur für das Gefühl (Schleiermacher, Pannenberg). (20) Die konkrete und präzise cartesische idea depotenziert sich bei Pannenberg zu einer bloßen Intuition. Doch die beachtliche Leistung seiner eigentümlichen Verbindung von Descartes (III. Med.) und Schleiermacher (II. Rede)

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liegt in einem Offenhalten der Gotteserfahrung auch weit jenseits aller begrifflichen Auseinandersetzungen über Wesen und Begriff Gottes. Die „Intuition“ des Unendlichen eröffnet ein weites Spektrum, das den anthropologischen Boden der Religionsthematik offen hält und deutlich macht, dass das Phänomen der Religion (R. Otto 1917: des Numinosen) keineswegs auf die Frage der begrifflichen Fassung des Absoluten bzw. Unendlichen zu beschränken ist. So gesehen ist die thematische Konzentration auf den Intuitionsbegriff Resultat einer kreativen und konstruktiven Fehlinterpretation, die sich in Pannenbergs Verknüpfung der III. Meditation (1641) mit der II. Rede (1799) findet. Wenngleich sie der Sache nach zweifellos falsch ist, so ist sie doch für sich genommen sinnvoll und geschickt, auch was ihre große Anschlussfähigkeit in anthropologischer Hinsicht angeht. Hinweis: Diese Thesen wurden am 2. 10. 2015 vorgetragen und sind hier stilistisch geringfügig überarbeitet abgedruckt; die nachfolgenden Annotationen wurden aus Zeitgründen nicht mit vorgetragen.

Literaturhinweise MuG, 1988 = W. Pannenberg: Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988 [Vortragsreihe in Neapel, April 1986]. STh I, 1988 = W. Pannenberg: Systematische Theologie Bd. 1, Göttingen 1988. Descartes, René: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 1972 = 54 = 14 (PhB 27) [dt. Übersetzung]. –, Oeuvres ed. Ch. Adam & P. Tannery, Vol. VII, Paris 1996 (= 1904) [lat. Orig.-text]. Hegel Enz 1830 = G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler; Hamburg 1959 (= PhB Meiner Bd. 33) [§§ 92–95 gehört zum ersten Teil der Logik innerhalb der Enz.]

Hinweise auf eigene Ausführungen zum Thema Dietz, Walter: Wahrheit – Gewißheit – Zweifel. Theologie und Skepsis, Frankfurt/Main 2013, S. 221–343 (behandelt Descartes, Hegel und Schleiermacher; Vergewisserung des Endlichen im Horizont des Unendlichen), insbes. S. 276–297 Dietz, Walter: Theorie der Subjektivität und Reflexion des Unendlichen als Leitmotive systematischer Theologie, Mainz 7.5.98 (Antrittsvorlesung Univ. Mainz) Text frei verfügbar unter http://www.ev.theologie.uni-mainz.de/650.php – download nr.5 (dort finden sich weitergehende Ausführungen zum Unendlichkeitskonzept bei Cusanus, Hegel, Kierkegaard u. a.), bes. S. 3–6

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Annotationen Ad (1): Hegel verweist an dieser Stelle explizit auf Plato (Philebos). Dieser teilte nicht die neuzeitliche Vorstellung, das Unendliche sei per se das wahrhaft Vollkommene, während das Endliche das Unvollkommene und Unvollständige darstelle. Die antike Konzeption besagt hingegen, dass das apeiron als das in sich Unbegrenzte und Unstrukturierte (das seine Ordnung und Strukturierung noch außer und vor sich hat) nichts Vollkommenes darstellt, auch kein Absolutes in positivem Sinn. Ferner analog, dass das Endliche (peras) in seiner Endlichkeit keinen Mangel darstellt, sofern es eine Struktur und Ordnung hat, die es ihm ermöglicht, innerhalb der Endlichkeit seine Bestimmung positiv zu verwirklichen. Die Offenheit und Unbestimmtheit kann somit einmal als Defizit (Antike), ein ander Mal als Reichtum und Vollkommenheit gedeutet werden. Zu Hegels Plato-Interpretation vgl. besonders prägnant Vorlesungen über die Philos. d. Religion Bd. 1, hg. W. Jaeschke, PhB 459, p. 213: „Plato hat indessen schon das Unendliche als das Schlechte erkannt und das Bestimmte als das Höhere …. Das Wahre ist die Einheit des Unendlichen, in der das Endliche enthalten.“ Ad (2): Pannenberg betont, dass Hegel den Begriff des Unendlichen logisch und nicht mathematisch auffasst; daher werde das Unendliche bei Hegel als Absolutes gedacht, was der Sache nach schon bei Descartes (III. Med.) vorbereitet worden sei. Die Überwindung eines äußerlich-mathematischen Unendlichkeitsverständnisses sei „der wichtigste Gewinn der Hegelschen Behandlung des Begriffs des Unendlichen als des Absoluten“ (MuG 1988, 28). Während sich Descartes im Horizont seiner mathesis universalis durchaus noch am Ideal der Mathematik und mathematischer Wahrheit orientiert (auch im Blick auf das cartesische Gewissheits- und Beweisideal; vgl. R. Carnap), verwirft Hegel (vgl. Hegel Enz 1830, hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler 19918 (19596) § 94) diese Orientierungsmarke als Unterbietung des philosophischen Wahrheitsanspruches. Seine logisch-dialektische Erfassung des Unendlichen sprengt den mathematischen Leitbegriff, der von Descartes bis Kant bestimmend geblieben ist. Das mathematisch Unendliche ist für Hegel defizitär. Weil es nur Ausdruck einer unendlichen Erweiterung und Verlängerung des Endlichen ist, fällt es für ihn unter den Begriff des „schlecht Unendlichen“, der vom wahrhaft Unendlichen wesentlich, d. h. qualitativ, unterschieden ist.

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Ad (3): Die Begriffe der Endlichkeit und Begrenztheit werden klassisch der Unendlichkeit und Unbegrenztheit gegenübergestellt. Das von Einstein her geprägte physikalische Weltbild macht die Endlichkeit von Masse und Energie denkbar im Horizont eines unbegrenzten Raum-Zeit-Gefüges. Dieses Gefüge ist unanschaulich, nur in mathematischer Analogie fassbar. Das Unendlichsein des Raumes steht nicht in Widerspruch zur Endlichkeit (und Bestimmbarkeit) seiner Masse. Das Newtonsche Weltbild begreift den Raum unmittelbar als sensorium Dei; Spinoza verstand Raum und Zeit als korrelative Attribute des Absoluten selbst. Im Horizont dieser Denkfigur wird das Unendliche analog vom Universum ausgesagt, d. h. nicht in exklusiver Weise auf Gott bezogen. Die Frage, wie sich die Unendlichkeit Gottes zur Unendlchkeit des Kosmos verhält, wird damit zur entscheidenden philosophischen Problematik, die bis zu Schleiermacher (1799) diskussionsbestimmend bleibt. Wo das Endliche als über sich hinausweisend angesehen wird (Schleiermacher, Schelling und Hegel), wird es nicht mehr im ausschließenden Gegensatz zum Unendlichen gesehen. Dabei ist eine immanent physikalische Sicht von Raum und Zeit transzendiert.

Ad (4) : Das cartesische Bild der cogitatio setzt in ihr Momente voraus (zweifeln, wollen usw.), die eindeutig auf die markante Endlichkeit der menschlichen cogitatio verweisen. Was in unserer cogitatio vor sich geht (in der mens), ist somit komplex und vielgestaltig, aber nie absonderbar vom Bewusstsein der ihr eigenen Endlichkeit. Diese Endlichkeit ist jedoch nicht einfach auf sich zurückgeworfen, in der Unmittelbarkeit ihres Für-sich-Seins. Vielmehr ist für die cogitatio die (bereits von Augustin in den Blick genommene) Möglichkeit der Reflexion auf sich selbst entscheidend. Die reine Endlichkeit ist somit von der Endlichkeit zu unterscheiden, die in sich das Potential trägt, auf sich (und diese Endlichkeit) zu reflektieren. Indem der Mensch im Horizont seiner cogitatio seiner Endlichkeit gewahr wird, setzt er darin einen Unendlichkeitshorizont voraus, den er selbst nicht hervorgebracht hat. Pannenberg rekurriert eindeutig positiv auf diesen Gedankengang, aber nicht kritiklos. Seine Kritik bezieht sich dabei nur auf die Frage, ob das mitgesetzte Unendlichkeitsbewusstsein tatsächlich schon zu einer klaren und adäquaten Konzeption des Unendlichen führt (oder eben nur zu einer noch klärungsbedürftigen Intuition des Unendlichen). Vgl. STh I,128: „Die in der dritten Meditation behauptete Priorität der Idee des Unendlichen vor aller Erfassung von Endlichem kann nur die Form eines unthematischen Gewahrseins haben, in welchem Welt, Gott und Ich noch unge-

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schieden sind.“ Für Descartes steht hingegen fest, dass das Bewusstsein des Unendlichen in sich klar und distinkt ist und zugleich ein Differenzbewusstsein im Blick auf die Endlichkeit von Ich und Welt impliziert, d. h. auf die vorgängige Differenz und nicht Einheit von Endlichem und Unendlichem bezogen ist. Ad (5): Pannenberg bezieht den Gedanken des wahrhaft Unendlichen nicht auf die cartesische III. Meditation (1641), sondern auf Hegels Konzeption des Absoluten (zu Descartes revera esse infinita vgl. III,23; Reclam-Ausg. hg. G. Schmidt, Stgt. 1986, p. 120 f; in der Meiner-Ausgabe hg. A. Buchenau entspricht dies dem Abschnitt III,27 = PhB 27,37; die Abschnittzahlen – 23 bzw. 27 – stimmen in beiden Ausgaben nicht überein; Pannenberg orientiert sich an der Zählung der Meiner-Ausgabe). Pannenbergs Rekurs auf Hegel (besonders in MuG 1988) schließt für ihn allerdings nicht aus, dass es gedankliche Verbindungslinien zwischen beiden Konzeptionen gibt, die aus der Priorität der Idee des Unendlichen resultieren. Pannenberg stellt im Blick auf Descartes fest: „Descartes behauptet also eine Priorität der Idee des Unendlichen vor allen übrigen Vorstellungen unseres Bewußtseins, weil sie alle nur durch Einschränkung des Unendlichen zustande kommen.“ (MuG, 1988, 22) Während nun Descartes im Gang der Meditationen bei der Selbstreflexion des Ich einsetzt und dieses als seiner selbst gewiß erweist, fix selbst im Strudel eines universalen Zweifels, geht Pannenberg davon aus, dass diesem Ich der Gedanke des Unendlichen gleichsam vorgeschaltet und zugrundegelegt werden muss (wodurch auch die I. und II. von der III. Meditation her gelesen werden): „Der Gedanke des Ich ist jedoch keineswegs durch sich selbst gegeben, sondern er setzt seinerseits die Idee des Unendlichen voraus …“ (MuG, 1988, 23). Im Blick auf die Erkennbarkeit des Unendlichen gilt, dass es nach Pannenberg (zunächst) nur unklar, nach Descartes durchaus klar (wenngleich freilich nicht vollständig) erfasst werden kann. Die Übereinstimmung beider liegt darin, dass ein vollständiges und adäquates Begreifen (comprehensio) des Unendlichen für den endlichen menschlichen Geist (mens) nicht möglich sein kann. Im Blick auf das biblische Zeugnis könnte man hier an 1 Kor 13,12 denken, den eschatologischen Vorbehalt im Blick auf die Klarheit und Distinktheit irdischer Erkenntnis, die stets dem gebrochenen Kontext endlicher Selbst- und Welterkenntnis verhaftet bleibt und somit ein vorgezogenes „Schauen von Angesicht zu Angesicht“ im Hier und Jetzt definitiv ausschließt.

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Ad (6): Die noetische Priorität des Unendlichen beinhaltet die transzendentalphilosophische Einsicht, dass alles Endliche im Horizont eines (schon vorausgesetzten) Unendlichen erfasst wird. Die ontologische Priorität beinhaltet, dass im Blick auf das Sein selbst das Ich nachrangig ist gegenüber dem Unendlichen, das früher ist als jedes Ich. Daher geht Pannenberg mit Levinas von einer Inversion („Umkehrung“) des cartesischen Ansatzes aus (MuG, 1988, 22): Das Ich, das zunächst absolut bei sich selbst einsetzt, wird zurückgenommen in den Bewusstseinshorizont des Unendlichen, von dem her es sich erst in seiner Endlichkeit und Besonderheit erfassen kann. Der klassische Vorwurf gegen Descartes, er betreibe eine subjektivitätsphilosophische Verengung und Vereinseitigung, entfällt somit bei Pannenbergs Descartes-Interpretation vollständig. Das philosophiegeschichtlich Neue, was mit Descartes auf den Plan tritt, ist somit (wie es auch Hegel beschrieben hat) nicht die reine Subjektivität der Wahrheitsvergewisserung, sondern dass das Denken absolut bei sich selbst einsetzt (in Abkehr und Abwehr traditionell, gewohnheitsbedingt oder autoritativ vorgegebener Einsichten). Nicht das für sich seiende, sondern das im Denken bei sich seiende Subjekt ist somit Ansatzpunkt neuzeitlicher Philosophie, wie sie Descartes begründet hat. Ad (7): Im Blick auf Wesen und Dasein Gottes gilt für Pannenberg (STh I,386 f.), dass Gott als das wahrhaft Unendliche zugleich und durchaus als ens (Seiendes) gedacht werden könne und dürfe (gegen Tillichs These, Gott sei das Sein selbst jenseits von Essenz und Existenz). Der Begriff der Unendlichkeit Gottes ermöglicht es im Sinne Pannenbergs, Gott als wirklich seiend zu denken, ohne ihn mit dem Sein selbst zu identifizieren, sondern ihn als ein Seiendes zu denken, das jedoch nicht als ein Seiendes unter oder neben anderen verstanden werden darf; STh I,387) Im Blick auf die Eigenschaftsbestimmungen Gottes setzt Pannenberg die Unendlichkeit in Verbindung mit der Heiligkeit Gottes (STh I,429 ff). Pannenberg geht von einer „strukturellen Übereinstimmung biblischen Redens von der Heiligkeit Gottes [Dtjes u. a.] mit dem Begriff des wahrhaft Unendlichen“ aus (STh 432). Der Figur, dass das Unendliche den Gegensatz zum Endlichen zugleich übergreift, entspreche der Begriff des Heiligen, das dem Profanen entgegengesetzt ist, aber „zugleich in die profane Welt eingeht“ (STh 432). Darin liegt für Pannenberg die theologische Relevanz der Hegelschen Denkfigur einer Identität, die zugleich als Identität und als Andersheit, bzw. einer Einheit, die zugleich als Einheit und Unterschiedenheit gedacht werden muss.

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In Enz 1830 §95 rekapituliert Hegel den philosophischen Gedanken des wahrhaft Unendlichen: Statt den Gegensatz des Endlichen und des Unendlichen zu verewigen, müsse er überwunden werden. Denn ein Unendliches, dem ein Endliches entgegengesetzt werde, sei durch dieses begrenzt und verendlicht. zugleich werde ausgeblendet, dass dem Endlichen kein absolutes, sondern nur ein vorübergehendes Sein zukomme. Zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen werde so eine unüberwindliche „Kluft“ aufgebaut, wobei es im diastatischen Zonendenken nur ein „hüben“ oder ein „drüben“ gebe, aber eben kein Bewusstsein einer Vermittlung oder einer übergreifenden Einheit. Dieses Bewusstsein werde erst in der Idee des „wahrhaft Unendlichen“ erreicht. Dabei dürfe „die wahrhafte Unendlichkeit“ nicht als schlechthinnige Identität des Unendlichen mit dem Endlichen ausgelegt werden, vielmehr sei zugleich die Unterschiedenheit (Differenz) beider mitzudenken. Das wahrhaft Unendliche impliziert keine „Neutralisation“, sondern eine Aufhebung des Endlichen. Im Kontext der Eschatologie Pannenbergs (STh III) wird im Unterschied zu Hegel deutlich, dass dort die Negation der Endlichkeit nicht als Bedingung der Möglichkeit ihrer Bewahrung gedacht werden muss. Beide sind sich aber darin einig, dass der Begriff des wahrhaft Unendlichen „der Grundbegriff der Philosophie“ ist (Enz 1830, 1991, p. 114), dem eine zentrale Funktion für das Weltverhältnis Gottes zukommt. Für Pannenberg ist er der Schlüsselbegriff, um die Heiligkeit Gottes so auszulegen, das sie nicht in ein – rein jenseitsbezogenes – unaussprechliches Geheimnis mündet, über das keinerlei positive Aussagen mehr möglich sind.

Ad (8): Dies entspricht der Ansicht Pannenbergs, dass die Idee des Unendlichen nicht notwendig mit dem Gottesgedanken in Verbindung gebracht werden muss. Ohne den aus der positiven Religion vorgegebenen Gottesgedanken lässt sich nicht mit Sicherheit behaupten „daß Unendlichkeit und höchste Vollkommenheit nur dem einen Gott zukommen können“ (III, 25). Aufgrund des Einwands von Caterus vertritt Pannenberg die Auffassung, dass die in Med. III dargelegte „Priorität der Idee des Unendlichen vor aller Erfassung von Endlichem … nur die Form eines unthematischen Gewahrseins haben“ könne (STh I,128). Dass dieses Unendlichkeitsbewusstsein konkret und distinkt auf Gott verweise, wie Descartes selbstverständlich annimmt, bestreitet Pannenberg somit. Für ihn ist jenes intuitive Unendlichkeitsbewusstsein noch ganz verworren, während es für Descartes (wie schon für Augustin) den Charakter einer (höchstmöglichen) Klarheit und Evidenz hat, die frei ist von aller Verworrenheit und Vermischung mit Endlichem. Es ist als klare perceptio mehr und

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etwas anderes als bloße Intuition oder nur ein noch sekundär bestimmungsbedürftiges Gefühl. An der scharfen Differenzsetzung Pannenbergs zwischen Descartes’ Unendlichkeitskonzept und konkreter Gottesvorstellung ist zweifelsohne nachvollziehbar, dass das wahrhaft Unendliche noch nicht den Gedanken eines personalen, mit Wille verbundenen Wesens implizieren muss. Die Einsicht, dass das Unendlichkeitsbewusstsein zunächst nur eine verworrene Intuition beinhalte, wird von Pannenberg allerdings nicht einfach Descartes entgegengesetzt, sondern auch als dessen eigene Grundform dieses Gedankens verstanden (vgl. STh I,380: Descartes selber ging „von der Intuition des Unendlichen … zum Gottesgedanken“ über). Zur Kritik der cartesischen Argumentation bei Pannenberg vgl. STh I,382 f. und MuG, 1988, 23–25. Ad (9): Nach Pannenberg kommt das natürliche Unendlichkeitsbewusstsein über eine verworrene Form der Erkenntnis nicht hinaus. Nach Descartes verhält es sich anders: Auch wenn wir – als bleibend endliche Wesen – nicht das Ganze (der Unendlichkeit) erfassen, so gewinnen wir doch, gleichsam mit einem Schlag, ein evidentes Bewusstsein von diesem Ganzen, so wie wir auch einen angemessenen und klaren Begriff des Meeres fassen können, selbst wenn wir es nur teilweise sehen und somit seine wirkliche Ausdehnung nur konjektural, gleichsam ahnungsweise, erfassen. Zur cartesischen Argumentation vgl. Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, hg. v. A. Buchenau, Hamburg: Meiner PhB 27, 1972=1954=1914 (Caterus: 86; Descartes’ Antwort: 102 f.). Dabei ist festzuhalten, dass Descartes sich nicht auf ein bloßes Gefühl des Unendlichen zurückzieht, von dem man in der Tat zugeben müsste, dass es per se verworren und nicht klar und distinkt ist. Er betont in III,25 dass das Unendlichkeitsbewusstsein mit höchster Klarheit und Evidenz verbunden ist; für die idea Dei gilt, dass wir sie von Anfang als äußerst (maxime) „clara & distincta“ erfassen, was für Descartes darauf hindeutet, dass eine immanent anthropologische Interpretation (im Sinne Feuerbachs) letztlich scheitern muss. Die in ihr liegende Evidenz, Klarheit und Stringenz schließt ihr „a nihilo esse“ aus (III,25), und der endliche Geist könnte als solcher eine derartige Idee niemals aus sich hervorbringen. Das plus realitatis in dieser Idee kann nicht ohne Exkurs über den immanenten Horizont des endlichen Geistes erklärt werden. Damit ist für Descartes die Religionskritik erledigt.

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Ad (10): Pannenberg setzt die Verworrenheit der primordialen Idee der Unendlichkeit als immanent unüberwindlich. Für Descartes steht fest, dass eine vorläufige Erkenntnis verworren und unbestimmt sein kann, dies jedoch nur im Blick auf Endliches, nicht für die Idee des Unendlichen gilt. Verworrenheit ist für Descartes ein label, ein Markenzeichen, aller ins Endliche verstrickten Erkenntnis. Hingegen geht Pannenberg davon aus, dass gerade für die Idee des Unendlichen im natürlichen Horizont gilt, dass sie per se unscharf und verworren (und mit Endlichem verbunden) ist. Die Evidenzzuschreibungen sind somit stark unterschiedlich. Für Descartes mag das Unendlichkeitsbewusstsein durchaus auch die Gestalt einer Intuition oder eines Gefühls haben; aber seine spezifische Qualität und Stärke hat es darin, dass es mit einer spezifischen Form von Klarheit verbunden ist (diese Klarheitsqualität wird übrigens im Sinne von Descartes durch den Gottesgedanken der positiven Religion weder überboten noch substantiell ergänzt – im Unterschied zur Konzeption des Gottesgedankens, wie ihn Pannenberg in STh I dargelegt hat). Ad (11): Die Exaktheit dieser Erkenntnis ist natürlich nicht in naturwissenschaftlichempirischer Weise misszuverstehen; doch als idea innata ist die Idee des Unendlichen zugleich mit ursprünglicher Klarheit verbunden. In den Erwiderungen heißt es: „… um eine wahre Idee des Unendlichen zu haben, braucht es ganz und gar nicht begriffen (comprehendi) zu werden“. Auch wenn wir das Unendliche nicht voll adäquat erfassen, so doch nicht nur teilweise, sondern ganz. Descartes betont, dass diese Weise, das Unendliche zu erfassen, freilich überbietungsfähig ist, nicht zuletzt durch die Weise, wie Gott sich selbst erkennt. Jedoch hält er daran fest, dass auch eine unvollständige Erkenntnis eine wahre Erfassung Gottes liefern kann (wobei sie eben auch als unvollständige in sich klar, distinkt und widerspruchsfrei ist). Vgl. Meditationen … mit sämtl. Einwänden und Erwiderungen, hg. A. Buchenau = PhB 27, 1915, p. 337 f. (7.). Ad (12): Hegels Begriff des Absoluten steht nicht im Gegensatz zu dem des Unendlichen. Pannenberg thematisiert in MuG Kp. 2 überschriftsweise jedoch nicht „Das Problem des Unendlichen“, sondern „Das Problem des Absoluten“. Dort wird das Absolute in Bezug gesetzt zum Gedanken der Einheit der Weltwirklichkeit (20) und auf den Gedanken des wahrhaft Unendlichen bezogen (21). Wichtig ist nun, dass Pannenberg durchaus eine Differenz der beiden Begriffe annimmt:

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Absolutheit besagt mehr als Unendlichkeit (deren Begriff er im Anschluss an Descartes und Schleiermacher expliziert), insofern das Unendliche im Begriff des Absoluten als das autarke Eine (als ens a se) gefasst wird, das die Welt und den Gegensatz von Gott und Welt im Prozess seiner Verwirklichung übergreift. Gott müsse also im Sinne (Spinozas und) Hegels „nicht nur als der Welt transzendent, sondern … als zugleich der Welt immanent“ gedacht werden (29). Hegel betont in seiner Religionsphilosophie (Abschnitt Der Begriff Gottes, ed. Lasson 1966=1925, PhB 59, p. 146), dass im Begriff Gottes als des wahrhaft Unendlichen „das Endliche als ein wesentliches Moment des Unendlichen“ gedacht werden müsse. Und nur in diesem Prozess der Konkretion im Endlichen gewinnt das wahrhaft Unendliche seine „Bestimmtheit“ (146). D. h. Gott kann als absolut nur gedacht werden im Zusammenhang seiner Vermittlung mit sich, die die Welt einschließt. Radikale Jenseitigkeit ist somit für Hegel und Pannenberg gerade nicht der Weg, Gott angemessen zu denken. Dass in diesem Sinn Gott nicht einfach als der ganz Andere gedacht werden kann, impliziert für Pannenberg jedoch keinen Pantheismus, da Gott nicht als im immanenten Weltprozess aufgehend zu denken ist, sondern ihn (als ens a se) immer schon und immer noch übergreift. Die Differenz von Unendlichem und Endlichem liegt dabei nur noch darin, dass das wahrhaft Unendliche weniger klar bestimmt ist als der Begriff des Absoluten, der die Wirklichkeit Gottes als ens a se impliziert (Aseität und Autarkie). Dabei kann das Unendliche als Absolutes gedacht werden, wenn es als wahrhaft Unendliches bestimmt wird. Umgekehrt muss das Absolute stets als Unendliches, und zwar wahrhaft Unendliches (vere ens infinitum), gedacht werden. In diesem Sinn ist jene (wahrhafte) Unendlichkeit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bestimmung von Absolutheit. Ad (13): Im Hintergrund steht Hegels Abgrenzung zur schlechthinnigen, unterschiedslosen Einheit, als die das Absolute nach Hegel nicht gedacht werden kann. Wahrhafte Unendlichkeit ist in sich differenzierte, der Vermittlung fähige und bedürftige Einheit. Vorausgesetzt ist dabei die Überwindung einer bloß verstandesmäßigen Entgegensetzung beider Begriffe, die sowohl dem Endlichen als auch dem Unendlichen nicht gerecht wird. Dieser Grundgedanke, dass das Unendliche das Endliche in sich schließt, wird in Pannenbergs Theologie aufgenommen. Auch die Theologie muss sich demnach davor hüten, eine schroffe, unausgleichbare Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem im Sinne rein verstandesmäßiger Erkenntnis programmatisch für sich zu reklamieren.

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Ad (14): Kierkegaards kritische Entgegensetzung von Endlichem und Unendlichem (im Kontext seiner Climacus-Schriften, besonders AUN 1846) ist nicht durch einen Rückfall in eine rein verstandesmäßige Denkweise motiviert, sondern eher durch eine pronouncierte Betonung der Heiligkeit Gottes im Gegensatz zur konkreten Endlichkeit, die ihren spezifischen Horizont nicht überspringen kann. Karl Barths Affinität zur Betonung der unendlichen qualitativen Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf bedeutet nicht, dass das Endliche auf sich fixiert zu denken ist. Jedoch wird der Gedanke der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen bei ihm kritisch gesehen, sofern der Mensch so mithilfe des verselbständigten Begriffs im philosophischen Denkhorizont seine Endlichkeit zu negieren in Gefahr steht. An diese Gedanken knüpft die Dialektische Theologie an, worin sie sich kritisch sowohl von Schleiermacher als auch von Hegel absetzt. Für Pannenberg legt sich anders als für den frühen Karl Barth keine Anknüpfung an das Kierkegaard-Pseudonym Climacus nahe, das die redliche Besinnung auf den Gegensatz des Endlichen und Unendlichen einfordert. Vielmehr liegt seine Affinität eher zur anthropologischen Bestimmung des Menschen als Geist (AntiClimacus, KzT A,a), der als Selbst eine Synthese des Endlichen und Unendlichen ist, die sich zu sich selbst verhält. Insofern Pannenberg die Verworrenheit (und nicht Distinktheit) der Idee des Unendlichen (vg. Descartes, Schleiermacher) betont, legt er den Akzent auf die notwendige Selbstoffenbarung des Absoluten im Horizont der positiven Religion, um von einer verworrenen zu einer klaren Idee Gottes fortzuschreiten. Die Bedeutung einer Anknüpfung beim natürlichen Gottesgedanken (Descartes’ idea innata) relativiert sich dadurch erheblich.

Ad (15): Das sogenannte Extra-Calvinisticum warnt davor, die Einheit beider Naturen in Christus auf Kosten der Unendlichkeit der göttlichen Natur als inklusiv in endlicher Gestalt zu denken; überhaupt könne das Göttliche niemals als in den endlichen Strukturen von welthaft Seiendem enthalten gedacht werden (bekanntlich zeigen sich die calvinistischen Vorbehalte gegenüber einer unitioorientierten Christologie nicht zuletzt auch in der Abendmahlslehre: Die endliche Gestalt des Brotes wird als unfähig erachtet, die göttliche Substanz in sich zu enthalten). Wenn Hegel (mit Luther) den Grundsatz finitum non capax infiniti in Frage stellt, dann im Kontext einer Relativierung der Verstandeslogik, die in strikten Ausschließlichkeiten denkt: Das Endliche ist das Endliche und nicht das Unendliche; das Unendliche bleibt das Unendliche, auch wo es (vorübergehend, ausnahmsweise) in endlicher Gestalt erscheint. Demgegenüber bejaht Pannen-

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berg die Konzeption Hegels, die von einer Möglichkeit der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen ausgeht (die sich im Horizont der Vorstellung als Gebet, im begrifflichen Kontext als Gottesbeweis manifestiert). Die Erhebung darf dabei nicht im Horizont des Endlichen, sondern muss ganz im Horizont des Unendlichen verstanden werden. Ad (16): Im Blick auf den Aufbau der Lehre von den Eigenschaften Gottes zeigt sich, dass Pannenberg einerseits die biblischen Grundlagen der Eigenschaftslehre als maßgeblich und bestimmend erachtet (der sich in seinem Handeln selbst offenbarende Gott manifestiert sich in seinen Eigenschaften; vgl. H. Cremer 1897 – STh I,427 f. und 398 ff.), andererseits dem philosophischen Konzept des wahrhaft Unendlichen auch dort eine Leitfunktion zukommt. Wie verhalten sich beide Konzeptionen zueinander? Pannenberg betont, dass – trotz der virulenten Aufnahme des Unendlichkeitsbegriffs in die Theologie durch Gregor von Nyssa, Duns Scotus, A. Calov, F.D.E. Schleiermacher u. a. – die Kompatibiltät mit dem biblisch-konkreten Gottesbegriff klärungsbedürftig sei. Denn es stelle sich die Frage, „ob der durch den Gedanken des Unendlichen modifizierte Vorbegriff vom göttlichen Wesen überhaupt dem biblischen Gottesverständnis wirklich entspricht“ (STh I,428). Zur Klärung dieser Frage diene nicht die Konkordanz (Belege für die Rede von der Unendlichkeit Gottes im AT/NT), sondern die Überlegung, ob die Vorstellung der Unendlichkeit „implizit in den biblischen Aussagen von Gott enthalten ist“ (STh I,428). Denn explizit ist der Begriff nicht belegbar: „Unendlichkeit ist keine biblische Bezeichnung für Gott.“ (429) Ad (17): Ob sich der Unendlichkeitsbegriff als Leitbegriff für eine biblisch fundierte Eigenschaftslehre verbietet, entscheidet sich nach Pannenbergs Auffassung nicht am Sprachgebrauch, sondern an der Frage, ob diese Bezeichnung der Sache nach angemessen und gerechtfertigt ist. So ist seine These, dass die Unendlichkeitszuschreibung implizit in einer Reihe von biblisch repräsentativen Eigenschaften enthalten ist. So ist sie indirekt vielfach bezeugt und z. B. in der Rede von Gottes Ewigkeit, Heiligkeit, Allmacht und Allgegenwart enthalten. Pannenberg verweist hier auf J. Gerhard, der die immensitas Dei seiner Unendlichkeit zu- und unterordnen konnte (STh I,429 Anm. 128). In der Tat kann die zum Beispiel in den Psalmen (insbes. Ps 139) angesprochene Allgegenwart Gottes kaum angenommen werden, wenn nicht von einer wirklichen Unendlichkeit Gottes ausgegangen wird. Ferner verweist Pannenberg auf die Aussage

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„Gott ist Geist“ ( Joh 4,24), die Gott nicht als endlich und beschränkt denkbar sein lässt, zumal der Geist wirken kann, wo er will. Die Rede von der Heiligkeit Gottes ist für Pannenberg auch ein stringenter Hinweis auf dessen Unendlichkeit, wobei eine „strukturelle Übereinstimmung biblischen Redens von der Heiligkeit Gottes mit dem Begriff des wahrhaft Unendlichen festzustellen“ sei (STh I,32): Dies heißt freilich nicht, dass der Begriff der Heiligkeit dem der Unendlichkeit voll entspreche oder gar mit ihm identisch sei, jedoch durchaus, dass der Gedanke der Heiligkeit von sich aus auf die Konzeption der Unendlichkeit verweise. Die These Pannenbergs, der Unendlichkeitsgedanke sei in vielen biblischen Gottesbezeichnungen impliziert, ist somit durchaus nachvollziehbar, wenngleich damit freilich noch nicht alle Probleme gelöst sind, die sich auf die Einheit des göttlichen Wesens und das Verhältnis der beiden Leitbegriffe (Liebe; Unendlichkeit) beziehen. Ad (18): Der Grundverdacht gegenüber dem Unendlichkeitsbegriff, wie er sich schon in der antiken Philosophie manifestiert, lautet: Unendlichkeit ist nicht mit in sich geordneten Strukturen und Proportionen zusammen zu denken. Das Unendliche ist das Ungeordnete, Unstrukturierte. Gregor von Nyssa dient Pannenberg als ein Kronzeuge für den Vorzug des Unendlichkeitsbegriffs vor dem der causa sui (vgl. dazu die bei Pannenberg angefertigte, 1963 an der Univ. Mainz eingereichte Dissertation von Ekkehard Mühlenberg: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, Göttingen 1966). Fraglich ist allerdings, ob er hier analog zum neuzeitlichen Unendlichkeitsverständnis gebraucht wird, wie es bei Descartes vorliegt. Bei Gregor von Nyssa ist die Unendlichkeit Gottes Ausdruck seines unaussprechlichen und rational unfassbaren Geheimnisses. Hier zeigt sich, wie verschiedenartig der Unendlichkeitsbegriff gelagert ist (bei Gregor im Unterschied zu Descartes, ferner zu Hegel und Schleiermacher). Der Vorbehalt gegenüber einer rationalen Fassbarkeit des göttlichen Wesens (als Grenzbegriff gegen die Vernunft) gestaltet sich bei Hegel um zu einem Leitbegriff im Horizont der dialektischen Vernunft. Auch Pannenberg weist ihm – wie gezeigt – die Stelle eines Leitbegriffs zu. Anders als K. Barth (vgl. KD II/1,526) hat er keine Vorbehalte gegenüber einer Theologie, die sich dem philosophischen Begriff des (wahrhaft) Unendlichen öffnet. Ad (19): Zur Verbindung beider Konzeptionen (Descartes’ III. Meditation und Schleiermacher, II. Rede) vgl. bei Pannenberg MuG 1988 sowie STh I,427 f. Diese Verbindung scheint zunächst nicht naheliegend, da Schleiermacher in den Reden

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Über die Religion (1799, bes. II. Rede) keinen Bezug auf das Konzept von Descartes (Meditationen) nimmt. Dass alles Endliche gleichsam als Ausschnitt und Facette des Unendlichen zu verstehen sei, ist auch eher von Leibniz und Spinoza als von Descartes her verständlich. Ferner setzt Schleiermacher die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes voraus, die in anderer Weise als Descartes eine Subjektivitätsphilosophie begründet (worauf Pannenberg hinweist). Von daher ist der „Brückenschlag“ von Descartes zu Schleiermacher nicht naheliegend, weder philosophiegeschichtlich, noch der Sache nach. Pannenberg setzt Descartes und Schleiermacher in eine Beziehung zu einander, da für sie beide die „Erfassung irgend eines Endlichen von der Intuition des Unendlichen“ abhängig sei (MuG 1988, 22). Die Unselbständigkeit des Endlichen, sein Verweischarakter hin auf das Unendliche ist demnach der beide, Descartes und Schleiermacher, verbindende Gedanke. Allerdings wird man festhalten müssen, dass philosophische Funktion und Zielverortung dieses Gedankens bei beiden sehr unterschiedlich gelagert sind – bei allen Beziehungen, die es im Horizont des Unendlichkeitsgedankens durchaus geben mag. Ad (20): Der intuitive Charakter der Unendlichkeitsidee ist bei Descartes keineswegs ausgeschlossen, doch hat sie ihre Pointe gerade im Begriff, der für sich klar und präzise gefasst werden kann und muss. Sie ist nicht nur Gefühl, nicht Unbestimmtheit, sondern Bestimmtheit. Das Unendliche verbindet sich mit einer ganz bestimmten Gewissheit, die es gerade in der Unterschiedenheit zu allem Endlichen und zur Welt insgesamt hat. In dieser Weise, als mir immer schon zuvorkommende und meinem Denken im Voraus zugrundeliegende Idee, verbindet sich das eindeutig fassbare Unendliche auch ganz klar mit Gott und nicht mit der Welt der Geschöpflichkeit. In Schleiermachers Reden ist ‚Universum‘ bekanntlich keine Metapher für den unbegrenzten Kosmos, sondern für das Unendliche. Allerdings wird es nur gefühlsweise erfasst, immerhin aber im Bewußtsein der Differenz zu aller welthaften Wirklichkeit. Demgegenüber scheint der Intuitionsbegriff Pannenbergs weitaus verworrener: Er stellt nicht nur kein Wissen, sondern ein Gefühl dar, in dem jene cartesische Grunddifferenz verschwimmt. Von sich aus ist es noch nicht als klarer Verweis auf Gott lesbar; erst unter der Voraussetzung der Wirklichkeit Gottes (die nach Pannenberg nur von den wirklichen Religionen her zu beziehen ist) wird es eindeutig zum Verweis auf den wirklichen Gott. Die Stärke dieses Pannenbergschen Gedankens liegt klar auf anthropologischer und religionsphänomenologischer Ebene: Indem die Intuition des Unendlichen offen gehalten wird (in ihrer inhaltlichen Füllung, aber auch hinsichtlich ihres Evidenzcharakters) wird von ihr her (anders als bei Descartes) ein weites Spektrum von religionsphänomenologischer, religionspsychologischer und religionsphilosophi-

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scher Deutung eröffnet. Es dient somit als Türöffner für eine breit angelegte Beschreibung des Religionsphänomens, eine breite Palette von Bestimmungsformen, die nach Pannenberg immer schon (wenn auch nicht mit gleich voller Bewusstheit) mit der Unendlichkeit Gottes zu tun haben. An die Stelle einer engen und präzisen Fassung des Gedankens (vgl. Descartes und Hegel) tritt somit eine große systematische und religionsphänomenologische Weite. Daraus ergibt sich die hohe Anschlussfähigkeit dieser Gedankenfigur, deren ursprünglicher Kern wohl am klarsten in der III. Meditation von Descartes vorliegt.

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Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie Thesen zu ihrem Verhältnis

Was immer man von dem Mann und seinem Werk im Einzelnen halten mag: Dass Wolfhart Pannenberg mit seiner Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Großen seiner Zunft gehört, wird man über – auch über theologische Schulgrenzen – kaum bestreiten wollen.1 Das belegt nicht zuletzt eine Vielzahl von Diskussionen und Anregungen, die Pannenberg angestoßen und gegeben hat. Von Wiederentdeckung der Anthropologie in der zeitgenössischen Theologie und der hellsichtig diagnostizierten Krise des Schriftprinzips über die wesentlich mitgetragene Renaissance der Trinitätslehre und den Einbezug einer philosophischen Theologie bis hin zur Frage des Verhältnisses von Schöpfungslehre, Eschatologie und moderner Physik lässt sich hier einiges nennen.2 Dabei stellt sich im Zusammenhang der Pannenberg-Forschung offenbar zunehmend (auch) die Frage, wie dessen Konzeption historisch zu verorten ist. Mit dieser Historisierung ist keine distanzierende Archivierung gemeint. Vielmehr verbinden sich mit dieser Historisierung systematische Perspektiven, wenn man die nicht nur von Pannenberg aus dem Deutschen Idealismus übernommene Einsicht teilt: Geltung und Genese sind letztlich in ihrem Zusammenspiel zu 1 Vgl. exemplarisch zur Sache: E. Jüngel, Nihil divinitatis, ubi non est fides. Ist christliche Dogmatik in rein theoretischer Perspektive möglich? Bemerkungen zu einem theologischen Entwurf von Rang, in: ZThK 86 (1989), 204–235; G. Essen, Ein ganz Großer unserer Zunft! Nachruf auf Wolfhart Pannenberg, www.theologie-und-kirche.de/nachruf-pannenberg.pdf (aufgerufen am 22. 01. 2016). Besonders Pannenbergs „Systematische Theologie“ ist im Rahmen seines Werks hervorzuheben (vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie [STh] I–III, Göttingen 1988/1991/1993). 2 Vgl. exemplarisch zur Sache: K. Koch, Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive, Mainz 1988; S. Greiner, Die Theologie Wolfhart Pannenbergs, Würzburg 1988; A. Gläßer, Verweigerte Partnerschaft? Anthropologische, konfessionelle und ökumenische Aspekte der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Regensburg 1991; A. Kendel, Geschichte, Antizipation und Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs Verständnis von Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1999; C. Glimpel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007.

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begreifen.3 Mit dem Schlagwort des Deutschen Idealismus, als dessen prominentester Vertreter traditionell Hegel genannt wird, ist zudem eine Zuordnung verbunden, die inzwischen auch in populärere Darstellungen eingegangen ist: Pannenberg, so heißt es, ist Hegelianer. Zwar würde man Vorbehalte Pannenbergs gegenüber Hegel in Rechnung stellen müssen, aber die entscheidenden Argumentationsmuster seien im Kern hegelianisch.4 Dagegen hat sich Pannenberg in dieser Form selbst verwahrt, und prominente Stimmen der neuesten Pannenberg-Forschung geben ihm darin Recht.5 Stattdessen wird erwogen, ob sich Pannenbergs Theologie in sachlicher Nähe zur Spätphilosophie Schellings bewegt, auch wenn letztere für Pannenberg selbst kein direkter, entscheidender Bezugspunkt war.6 Ist Pannenberg unabsichtlich ein Schelling redivivus? Oder ist der späte Schelling gar als ein antizipierter Pannenberg zu lesen? Dem soll im Folgenden nachgegangen werden, indem jeweils vier Thesen im Blick auf (1) die Gemeinsamkeiten und (2) die Unterschiede von Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie formuliert werden. Dem schließen sich dann (3) wiederum vier Thesen zu Perspektiven an, die dieser Vergleich von Gemeinsamkeiten und Unterschieden nahelegt.7 Hiermit ist angedeutet, was die Einsicht dieses Beitrags sein wird: Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs 3 Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag: G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg [Vom wahrhaft Unendlichen]. 4 Vgl. exemplarisch zur Sache: C. Kock, Natürliche Theologie. Ein evangelischer Streitbegriff, Neukirchen-Vluyn 2001, 111–169. 5 Vgl. nur: W. Pannenberg, Glaube und Vernunft, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze [GSTh 1], Göttingen 1967, 237–251; ders., STh I, 249 ff.; J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: Gunther Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, Göttingen 2015, 177–202; J. Rohls, Falk Wagner im Kontext der protestantischen Theologiegeschichte der Nachkriegszeit, in: Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 13–43 [Falk Wagner], bes. 23; G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. 6 Vgl. C. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesbegriff bei Wolfhart Pannenberg, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftige Gotteserkenntnis, Tübingen 2009, 319–337, bes. 331 m. Anm. 33; G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. 7 Es geht im Folgenden nicht um eine theologiegeschichtliche Nachzeichnung der jeweiligen Systeme oder gar ihrer Einzeltexten mit ihren Details. Was dies angeht, beruht der folgende Vergleich auf folgenden Darstellungen, die zahlreiche philologische Belege und vielfältige Hinweise bieten: M.D. Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schellings Spätphilosophie, Tübingen 2008 [Freiheit]; G. Wenz, Wolfharts Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003; J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II. Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 670–676. 824–841. Allerdings werden zur grundsätzlichen Orientierung im Folgenden in der Regel die Referenztexte eines jeweiligen Absatzes (zu Schelling oder Pannenberg) in einer abschließenden Anmerkung benannt. Dies gilt jedenfalls für die Thesen, die sich auf die Gemeinsamkeiten beziehen. Da die Thesen zu (2) den Unterschieden und (3) Perspektiven sich dann ebenfalls auf die zuvor geschilderten Vergleichspunkte beziehen, können hier die Hinweise auf die Referenztexte entfallen.

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Geschichtstheologie kommen sich sachlich sehr nahe, ohne dass man von einer nahtlosen Übereinstimmung sprechen könnte. Doch diese relative Differenzerfahrung scheint für die Wahrnehmung der theologischen Aufgabe in der Gegenwart produktiv und perspektivenreich.

1.

Gemeinsamkeiten von Schelling und Pannenberg

Erste These: Sowohl nach Schelling als auch nach Pannenberg eignet dem Menschen ein religiöser Zug zum Unbedingten, der im Gottesgedanken symbolisiert wird. Für den späten Schelling ist der Mensch rational und geschichtlich darauf angelegt, religiös zu sein und dies im Gottesgedanken zu symbolisieren. So führt rational die Selbstbesinnung der Vernunft in der sogenannten „negativen Philosophie“ zu einer Einsicht, die zwar methodisch unvollkommen, aber sachlich zutreffend auch Kants Lehre vom transzendentalen Ideal artikuliert. Danach kann der Mensch nur gewaltsam sein Bedürfnis abbrechen, immer weiter fragen und verstehen zu wollen. Für diesen unerreichbaren, gleichwohl aber zu unterstellenden Horizont menschlichen Denkens steht „Gott“, der mit dem Recht relativer Einseitigkeit – nämlich unter Ausblendung der (vorhandenen) Welt – an und für sich symbolisiert werden kann. Freilich muss schon dann Gott so verstanden werden, dass er sich auf die Welt zu beziehen vermag, mithin kreativ ist. Letzteres kommt nach Schelling in Kants Lehre vom transzendentalen Ideal aufgrund der Selbstbeschränkungen der Transzendentalphilosophie zu kurz. Geschichtlich zeigt sich die religiöse Anlage des Menschen für den späten Schelling in der sogenannten „positiven Philosophie“. Hierbei hat Schelling besonders die Religionsgeschichte der außerchristlichen Religionen im Blick, wenn deren Gottheiten die in ihrem projizierten Charakter verkannten Selbstsetzungen unserer Bewusstseinsstrukturen sind. Diese Gottheiten erscheinen daher für das außerchristliche Bewusstsein selbst unumgänglich und sind insofern für es notwendig und nötigend. Dieser notwendige und nötigende Hang der Religion wird erst im Christentum relativ aufgehoben, wenn der Bezug auf die Faktizität der Jesus-Gestalt zu einer heilsamen Selbstrelativierung der zu religiösen Projektionen nötigenden Bewusstseinsstrukturen führt. Denn mit dem Eingeständnis und Anspruch der auch religiös unumgänglichen Faktizität ist das Bewusstsein als etwas erkannt, was die Wirklichkeit nicht erschöpfend aus sich selbst hervorbringen kann, auch nicht deren religiöse Symbolisierung.8 Relativ ist 8 Hier liegt ein elementarer Unterschied gegenüber Hegel vor (vgl. mit weiterführenden Hinweisen: Jörg Dierken, Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), in: A. Christophersen/F. Voigt (Hg.), Religionsstifter der Moderne. Von Karl Marx bis Johannes Paul II., München 2009, 49–59).

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die damit einhergehende Aufhebung der außerchristlichen Religionen in der christlichen Religion gegeben, weil letztere als Befreiung von außerchristlichen Religionen und ihrer Notwendigkeit sowie Nötigung immer auch dieselben voraussetzt. Erst vor dem Hintergrund dieser Entwicklung, also des Christentums, wird im Sinn des späten Schellings deutlich, wie es in der Neuzeit zu einem Atheismus kommen kann, der freilich gerade als solcher (-„theismus“) dem Gottesgedanken und seiner religiösen Praxis verpflichtet ist.9 Pannenberg unterstreicht ebenfalls, dass der Mensch als Mensch auf Religion angelegt ist. Und auch bei ihm kann dies zum einen durch eine rational orientierte Reflexion auf die philosophische Tradition und zum anderen durch eine religionstheoretisch und -praktisch ausgerichtete Anschlussplausibilität artikuliert werden. Die Reflexion auf die philosophische Tradition erfolgt bei Pannenberg zwar weniger auf Kant als vielmehr auf Descartes und in abgeschwächter Form auf Gregor von Nyssa, führt aber zu einer sachaffinen Einschätzung. Danach hat der Mensch ein implizites Wissen von Gott, das als solches allerdings noch nicht klar ist. In Wahrheit ist es die in seiner Unendlichkeit begründete Unbegreiflichkeit Gottes, die hier indirekt durchscheint und darin dem Menschen zuvorkommt. Diese Unendlichkeit Gottes wird deutlich, wenn nach Descartes, so deutet ihn Pannenberg jedenfalls gegen seines Erachtens eine subjektivistisch verengende Auslegungstradition, diese Gottesidee dem menschlichen Ich und seiner Selbstwahrnehmung vorgegeben ist. So wird auf dem Boden des menschlichen Ich – und damit ganz im Sinn des besten Erbes aufgeklärter Philosophie – deutlich: Das Bewusstsein muss sich selbst die Idee Gottes voraussetzen, der als solcher dieses Bewusstsein ermöglicht und bedingt. Dieser rational orientierten Reflexion aus der philosophischen Tradition entspricht bei Pannenberg dessen Konzeption einer anthropologischen Weltoffenheit, die auf die Religion und deren Symbolisierungen abzielt. So kann die Theologie im Anschluss an die im 20. Jahrhundert zur Blüte gelangende Anthropologie davon ausgehen: Der Mensch ist in seinem Lebensvollzug auf einen sich in seinem Urvertrauen spiegelnden Grund angewiesen, auf den er sich verlassen kann. Dieser tragende Grund muss von der Welt nochmals unterschieden sein und trägt in Wahrheit die Wirklichkeit, deren Fraglichkeit den Menschen nach einem Grund suchen lässt. Hierbei wird dem Menschen diese Einsicht erst im immer differenzierteren Umgang mit den endlichen Dingen dieser Welt deutlich. Damit verknüpft ist die Einsicht: Die ausdrückliche Arti9 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophie der Mythologie (Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie/Historisch-Kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie), in: ders., Sämmtliche Werke, hg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–61. Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. v. M. Schröter, München 1927–54, ND 1962–71 [SW], XI 3–590. Vgl. dazu: M.D. Krüger, Freiheit, 101–190. 231–259.

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kulation menschlicher Gotteserfahrung ist in den Religionen fassbar, die indirekt auf den Gott führen. Dass er im Christentum verlässlich erkannt werden kann, hat bei Pannenberg – ähnlich wie bei Schelling – mit der religionsgeschichtlichen Pointe des christlichen Gottes zu tun. Bei Pannenberg besteht sie im Eingeständnis und Anspruch des christlichen Glaubens, mit dem Bezug auf die Auferstehung Jesu die alles bestimmende Wirklichkeit Gottes vorweggenommen zu wissen. Steht diese Vorwegnahme zwar unter dem Vorbehalt der eschatologischen Bewahrheitung, so bewährt sie sich doch aktuell darin, dass sie den Sinnzusammenhang der gesamten Wirklichkeit überzeugender und differenzierter als mögliche Alternativen erschließt. So wird nach Pannenberg mit dem christlichen Glauben – trotz seiner geschichtlichen Streitigkeit – eine fehlerhafte Fixierung des Unendlichen auf endliche Manifestationen aufgehoben, welcher der Mensch religiös immer wieder aufsitzt. In dieser Fluchtlinie geht – wie bei Schelling – auch bei Pannenberg die Gottheit in ihrer religionsgeschichtlichen Erscheinung nicht erschöpfend in einem rein funktionalen Religionsbegriff auf. Denn erst auf dem Boden der Religionsgeschichte, welche die philosophische Anthropologie mit ihren religionstheoretischen Implikationen übersteigt, erscheint indirekt die Wirklichkeit Gottes.10

Zweite These: Sowohl für Schelling als auch für Pannenberg ist eine allgemein zumutbare Gottesrede ohne philosophische Reflexion nicht annehmbar. Schellings philosophische Entwicklung ist insgesamt von dem von Kant hinterlassenen und überkommenen Problembewusstsein geprägt, Bewusstsein, Vernunft und Freiheit praktisch und theoretisch aufeinander zu beziehen. Erst in diesem Horizont wird der Gottesgedanke, der Schelling aus seiner theologischen Sozialisation vertraut und darin – zumindest: auch – fremd geworden war, für Schelling unter zeitgenössischen Bedingungen wieder annehmbar.11 Die entscheidende Pointe besteht darin, dass für Schelling im Anschluss an Kant und Fichte die Freiheit zu dem Lebensthema wird. Während der junge Schelling die Freiheit zunächst in der menschlichen Subjektivität, dann in der natürlichen Objektivität und schließlich in deren ingeniöser Verbindung in der Kunst erblickt, hält Schelling danach die menschliche Freiheit für einen notwendigen Reflex göttlicher Liebe, bis er in seiner Spätphilosophie letztlich die Einsicht 10 Vgl. W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982 [Offenbarung]; ders., Die Frage nach Gott, GSTh 1, 361–386; ders., Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 71985 [Anthr.], 5–103; ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973 [WuTh], 299–348; ders., STh I, 73–281. 365–389. 11 Vgl. zur Entwicklung von Schellings Denken im Kontext seiner biographischen Umstände: H. M. Baumgartner/H. Korten, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, München 1996; X. Tilliette, Schelling. Biographie, Stuttgart 2004.

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gewinnt: Die Freiheit selbst ist göttlich. Sie ist Prinzip. Wenn es etwas gibt, was Gott genannt zu werden verdient, dann ist es die Freiheit. Und damit ist in kantischer Tradition dasjenige gemeint, was etwas von sich aus anfangen kann und was man auch als Kreativität bezeichnen kann. Freilich denkt Schelling dies im Sinn einer spekulativen Auslegung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, der als Dialektik einer dreigliedrigen Beziehung (von These, Antithese und Synthese, um es abgekürzt und damit in einer gleichermaßen plakativen und darin problematisierbaren Weise zu formulieren) seinerseits auf eine nie einholbare Wirklichkeit verweist: Ist etwas wirklich und verständlich, kann dies die Dialektik der Vernunft nachvollziehen, aber dass es zu dieser Wirklichkeit kommt, bleibt auch der Dialektik der Vernunft entzogen. Da aber die Vernunft selbst in ihren Selbstvollzug faktisch eingesetzt ist, handelt es sich hierbei um keine vernunftfremde Einsicht. Zwar denkt die Vernunft immer schon, wenn sie sich selbst betrachtet und damit vollzieht; doch gerade diese Aktivität verrät eine grundlegende Passivität. Denkt die Vernunft, hat sie immer schon gedacht und ist so sich selbst in der Aktivität ihres Vollzugs vorgegeben. Sich selbst in ihrem Vollzug kann die Vernunft nicht einholen, mithin kann die Vernunft ihre faktische Einsetzung in den Selbstvollzug nur hinnehmen. Dieses Da-sein der Vernunft, dieses „Dass“ der Vernunft verweist auf einen sie ermächtigenden Grund. Dieser ist aber nichts anderes als die als göttlich anzusehende Freiheit beziehungsweise Kreativität, welche die Wirklichkeit der Vernunft und damit die sich wiederum von dieser Vernunft aus erschließende Wirklichkeit des Menschen verständlich macht.12 Damit dies keine bloße Selbstversicherung der Vernunft bleibt, erkundet sich die Vernunft selbst rein rational in der negativen Philosophie, an deren Ende die Einsicht steht: Gott ist als Horizont der Vernunft zu denken, der letztlich diese Vernunft überhaupt erst ermöglicht hat. Vor dem Hintergrund dieser Einsichten wird für Schelling die Kontingenz der Weltgeschichte, und zwar unter Einschluss ihrer kosmischen Entstehungsbedingungen, und sodann auch die Religionsgeschichte in ihrer Kontingenz zu einer positiven Größe, die faktisch und normativ zu würdigen ist. Von daher wird auch verständlich, dass Schelling das protestantische Schriftprinzip im Sinn eines Inspirationsdogmas nicht zur Quelle der Gotteserkenntnis erklären kann. Vielmehr ist es die von der Vernunft als ihre eigene Voraussetzung erkannte Faktizität, welche der Vernunft die Angewiesenheit auf die Geschichte – unter Einschluss der Religionsgeschichte – plausibel macht. In dieser Religionsgeschichte vermag wiederum das Christentum, wie schon dargestellt, mit dem Eingeständnis und Anspruch religiöser Faktizität eine besondere Rolle zu spielen. In 12 Vgl. dazu auch: M.D. Krüger, Kontingenzbewusstsein als Freiheitserfahrung. Zum Verständnis von Gott und Geschichte in Schellings Spätphilosophie, in: C. Danz (Hg.), Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, 209–231, bes. 213 ff.

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seiner anschließenden Entwicklung ist auch das reformatorische Schriftprinzip als Verinnerlichung von Freiheit emanzipativ. Allerdings zersetzt sich nach Schelling dieses reformatorische Schriftprinzip selbst, wenn es in der protestantischen Orthodoxie zur heteronomen Autorität wird, so dass in dem Fall die befreiende Losung nicht mehr heißt „Freiheit aus der Schrift“, sondern „Freiheit von der Schrift“.13 Auch Pannenberg teilt nicht das reformatorische Schriftprinzip im Sinn der Verbalinspiration. Vielmehr hält er dessen Krise für das entscheidende Problem der modernen evangelischen Theologie. Die Autorität der Schrift kann nicht im Sinn einer Theologie des Wortes Gottes vorausgesetzt werden: Das historische Bewusstsein verbietet es, die biblischen Texte unmittelbar mit dem Hergang des von ihnen Berichteten zu identifizieren. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn theologiegeschichtlich in die funktional frei gewordene Stelle des destruierten Schriftprinzips – besonders mit Friedrich Schleiermacher – das subjektive Glaubensbewusstsein einrückt. Dies gilt nach Pannenberg selbst noch von Karl Barths vermeintlich dem entgegengesetzten Entwurf. Denn wenn Barth den Glauben als Wagnis bestimmt, das unvermittelt bei Gott und seinem offenbarenden Wort ansetzt, dann wird mit dieser Preisgabe eines allgemeingültigen Zugangs der Gottesgedanke der Sache nach schon von vornherein aufgegeben. Denn Gott in der Fluchtlinie einer subjektiven Entscheidung des Menschen verstehen zu wollen, ist für Pannenberg selbstwidersprüchlich. Theologiegeschichtliche Folgen dieser Entwicklung sind für Pannenberg ein Verlust an Allgemeingültigkeit, Gegenständlichkeit und Vernunft, interdisziplinärer Anschlussfähigkeit und ökumenischer Gesprächsfähigkeit. In konstruktiv-kritischer Anknüpfung an die philosophische Ausrichtung der frühchristlichen Theologie und unter Distanzierung von der neuprotestantischen Metaphysikkritik spricht sich Pannenberg für eine natürliche Gotteserkenntnis aus, ohne deren Begrenztheit zu übersehen. Zwar sind für Pannenberg eine natürliche Theologie und ihre Gottesbeweise nicht in der Lage, vor der Selbstoffenbarung Gottes denselben zu sichern. Doch diese Überlegungen können die Minimalbedingungen aufdecken, unter denen eine Gottesrede allgemein zumutbar ist. Der entscheidende Springpunkt ist dabei: Der Mensch ist auf einen verlässlichen Grund seines Lebens angewiesen, der von dessen Vollzügen nochmals zu unterscheiden ist, so sehr letztere nicht ohne diesen Gott verständlich sind. Daher kann Gott als alles bestimmende Wirklichkeit erscheinen, die in allen Gegenständen der Erfahrung indirekt mitgegeben ist. Und weil diese Wirklichkeit, wie der Gang des Lebens zeigt, offenbar unabgeschlossen ist, muss der Versuch der Metaphysik abgelehnt werden, die futurische Dimension zugunsten einer ge13 Vgl. F.W.J. Schelling, Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen Philosophie, SW XI 255–572 [DRP], bes. 255–294.

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genwärtigen Schlüssigkeit auszublenden. Entsprechend kritisiert Pannenberg an der frühchristlichen Theologie nicht, dass sie sich überhaupt auf den metaphysischen und insbesondere platonischen Gottesbegriff bezieht, sondern dass sie bei dessen kritischer Aneignung zu wenig die Freiheit beziehungsweise Kreativität Gottes und die Kontingenz der Welt herausstreicht. Anders gesagt: Auch wenn nach Pannenberg die Theologie die Offenbarung Gottes bedenkt, hat sie doch mit der philosophischen Metaphysik und deren Verpflichtung auf die Vernunft denselben Gegenstandsbereich, nämlich die Wirklichkeit im Ganzen. Daher kann die Theologie um ihres eigenen Problembewusstseins willen nicht auf die Philosophie verzichten, wie letztere die Wirklichkeit im Ganzen nicht ohne Religion und Theologie zu haben vermag.14

Dritte These: Sowohl für Schelling als auch für Pannenberg ist Gott eine Kreativität, deren Kraft man nicht erschöpfend im begrifflichen Denken und dessen Gegenwart fixieren kann. Eine – oder vielleicht: die – Pointe der Spätphilosophie Schellings besteht darin, zwischen negativer und positiver Philosophie zu unterscheiden und diese beiden Gestalten von Philosophie dadurch kritisch und konstruktiv aufeinander bezogen zu wissen. Die negative Philosophie ist, wie schon dargelegt, eine Theorie der Vernunft, die sich in ihrem dialektischen Zugriff schon immer vorfindet und dieses Dasein im Grenzbegriff Gottes als kreativer Freiheit bedenkt. In der positiven Philosophie untersucht diese Vernunft in einer Umkehrung der Denkbewegung die tatsächlich dem Menschen begegnende Faktizität, wie sie ihm in Natur und Geschichte gegenübertritt und vernunftfremd erscheinen mag, ob sie als Ausdruck des entworfenen Gottesverständnisses von kreativer Freiheit verständlich ist. Der Übergang von der negativen zur positiven Philosophie ist dabei die Einsicht der theoretischen Vernunft, sich selbst im praktischen Freiheitsvollzug immer schon voraussetzen zu müssen, so dass sich dem menschlichen Bewusstsein die sinnvolle Möglichkeit eines zweifachen „Verlassens“ eröffnet. Danach kann und sollte das Bewusstsein erstens aus sich selbst herausgehen. Damit wird funktional das erfasst, was Schelling selbst früher als „intellektuelle Anschauung“ und dann als „Ekstase“ beschrieben hatte, nämlich die Selbstdurchstreichung der endlichen Subjektivität. Und zweitens kann bei dieser Selbstdurchstreichung sich das Bewusstsein darauf verlassen und somit darauf vertrauen, dass sich Gott als sein tragender Grund im Sinn kreativer Freiheit 14 Vgl. W. Pannenberg, Die Krise des Schriftprinzips, GSTh 1, 11–21; ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997 [Probl.]; ders., Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996 [ThuPh], 11–19. 359–367.

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erweist. Denn wenn das Bewusstsein in seinen Vollzug faktisch eingesetzt ist und dabei ihm Gott als Grund und Grenze aufgeht, kann die Annahme der eigenen faktischen Verflochtenheit entsprechend vertrauensvoll angegangen werden. Hierbei gibt es allerdings – im Sinn des Ausschlusses intellektueller Werkgerechtigkeit – keine definitive theoretische Gewissheit. Vielmehr findet hier eine fortwährende Bewährung statt, die nach Schelling unabgeschlossen bleiben wird.15 Daher kann Schelling dem philosophischen Begreifen und der Gegenwärtigkeit seines Zugriffs nicht zugestehen, die Wirklichkeit im Ganzen begrifflich schon endgültig erfasst zu haben. Daraus resultiert dann auch die deutliche Distanzierung von Hegel. Hatte ihm einst Schelling in Jena über die akademische Hürden geholfen und hat Hegel auch differenziert die ursprünglich von Schelling übernommene Einsicht zu einem System ausgearbeitet, so teilt der späte Schelling in kritischer Selbstüberbietung seine eigenen, überholten Systementwürfe nicht mehr und rückt daher entschieden von Hegel ab.16 Die Zeitgenossen haben dies so wahrgenommen, dass Schelling gegen Hegels gleichsam präsentische Eschatologie des spekulativen Begriffs die Kontingenz der Welt und Offenheit der Geschichte im Horizont religionstheoretischer Rechenschaft forciert hat. Während dies die einen für einen politisch und religiös reaktionären Rückfall gegenüber der zwischenzeitlich dominanten Hegel-Schule hielten, erblickten andere in Schellings Spätphilosophie die religiös codierte Fanfare der kommende Jahrhundertwende und der Einsicht: Das Dasein, das Leben und die Existenz sind nicht auf ihr philosophische Begreifen zu reduzieren, so sehr ohne das philosophische Begreifen auch dessen Begrenztheit rechenschaftfähig nicht zu erkennen ist.17 Pannenberg kritisiert aufgrund der biblischen Botschaft von Jahwe, dessen Gottheit mit der Vollendung seines Geschichtshandelns eschatologisch verknüpft ist, ebenfalls Hegel in einer Weise, die stark an Schellings Spätphilosophie erinnert. So berücksichtigt Hegel nach Pannenberg zu wenig die Kontingenz der Welt und die Offenheit der Geschichte in seinem Gottesverständnis. Dies macht Pannenberg auch in der Auseinandersetzung mit seinem eigenen Schüler Falk Wagner deutlich, der zumindest in seiner frühen Theologe einen – nach schulmäßiger Lesart – strengen Hegelianismus vertritt und daher seinerseits Pan15 Vgl. F.W.J. Schelling, DRP, XI 553–590; ders., Andere Deduktion der Principien der positiven Philosophie, XIV 335–356; vgl. zum zweifachen „Verlassen“: ders., Zur Geschichte der neueren Philosophie [Geschichte], X 3–200, hier: 182 f. 16 Vgl. zur Hegelkritik: F.W.J. Schelling, Geschichte, a. a. O., 126–164. 17 Vgl. dazu klassisch: P. Tillich, Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protestes, in: ders., Main Works/Hauptwerke 1, Philosophical Writings/Philosophische Schriften, hg. v. C.H. Ratschow, Berlin/New York 1989, 391–402; M. Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München 21992, 9–359, bes. 9–102. 319–359.

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nenbergs Konzeption einer futurischen Eschatologie angreift. Während nach Wagner auf dem Boden des spekulativen Begreifens keine ausständige und darin pointiert religionstheoretisch gewendete Wirklichkeit verständlich wird, drängt nach Pannenberg das System Hegels selbst zu einer Korrektur im Sinn einer futurischen Eschatologie. Zwar ist Hegel Vernunftkonzept grundsätzlich für die Offenheit der Geschichte sensibel, verfehlt sie aber nach Pannenberg aufgrund einer apriorischen Vernunftkonzeption. Zudem kritisiert Pannenberg: Wenn Gott nach Hegel die Welt benötigt, um Gott zu werden, dann überträgt Hegel – mit dem von ihm vorausgesetzten Subjektbegriff und der Abfolge von Grund und Folge – endliche Bestimmungen menschlichen Denkens auf Gott. Um Gottes Freiheit nicht zu verspielen, leuchtet es nach Pannenberg vielmehr ein, Gott gleichermaßen ursprünglich als differenzierte Einheit, geschichtlich als indirektes Handeln und futurisch als Macht der Zukunft zu charakterisieren.18 Vierte These: Sowohl für Schelling als auch für Pannenberg wird Gott als schöpferische Macht indirekt in der (Religions-) Geschichte und darin letztlich im Christentum offenbar. Wenn nach Schelling in der positiven Philosophie die Vernunft die ihr in Natur und Geschichte gegenübertretende Faktizität untersucht, ob sie sich als Ausdruck der vorher rein rational nur abstrakt erreichten Einsicht von Gott als kreativer Freiheit verstehen lässt, dann begegnet Gott dem Menschen nur indirekt. Dies geschieht in der Natur und der Geschichte, deren Zusammenhang man nach Schelling nicht auseinanderreißen kann. Denn im Menschen schlägt die Natur buchstäblich die Augen auf und wird ihrer selbst bewusst. Damit beginnt die (Menschheits-) Geschichte, die strukturell die Möglichkeiten der Natur (-geschichte) im Bewusstsein des Menschen wiederholt, variiert und übertrifft. Die Geschichte wiederum ist nicht statisch, sondern symbolisiert zunehmend sublim die sie antreibenden Möglichkeiten. Dies wird in der Religion manifest. Religion ist gewissermaßen das (Wahrheits-) Bewusstsein der Weltgeschichte, wenn die natürlichen Vermögen des Bewusstseins demselben geschichtlich unumgänglich in religiösen Narrativen und gegenständlich als Götter erscheinen. Erst im Christentum wird in der (Religions-) Geschichte dieser Bann beziehungsweise „Sündenfall“ des Bewusstseins durchbrochen, von den eigenen Strukturen in der Geschichte religiös unmittelbar und vorbewusst beherrscht zu 18 Vgl. W. Pannenberg, Offenbarung, a. a. O.; ders., Glaube und Vernunft, GSTh 1, 237–251; ders., Der Gott der Hoffnung, GSTh 1, 387–398; ders., Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie II, Göttingen 1980, 96–111; ders., STh I, 249 ff.; ders., Den Glauben an ihm selbs fassen und verstehen. Eine Antwort, in: ZThK 86, 1989, 355– 370 [Glauben], bes. 363; J. Rohls, Falk Wagner.

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sein. Im Christentum wird nämlich die religiöse Botschaft mit einer geschichtlichen Person identifiziert, so dass das Christentum in diesem Eingeständnis genetischer Bedingtheit die unbedingte Geltung der Faktizität realisiert. Gerade dadurch ist das Christentum nicht der Religionsgeschichte entnommen, sondern als Überwindung der vorlaufenden Religionen an dieselben gebunden. Letztere bezeichnet Schelling als mythologisch, weil sie unbewusst allgemeine Bewusstseinsstrukturen veranschaulichen, ohne die Angewiesenheit auf die Kontingenz einzusehen. Erst mit dem Christentum wird in der Geschichte gleichsam das Bewusstsein der Geschichte wach, wenn sich christlich der Sinn für die (unwiederholbare) Einmaligkeit ausprägt, welche die Geschichte auszeichnet. In dem Sinn wird im Christentum die Wirklichkeit (Gottes) geschichtlich offenbar, und nur insofern – und nicht aufgrund supranaturalistischer Annahmen – ist das Christentum eine Offenbarungsreligion. Dies weiß Schelling mit einer Fortschrittsgeschichte der Religion verbunden, die in der positiven Philosophie zur Darstellung kommt. Dabei ist der nachchristliche Islam für Schelling ein stockendes Entwicklungsmoment, das seine Macht aus einem elementaren Appell des Religiösen zieht, dem es an Differenzierungsvermögen mangelt. Bezugstexte sind für Schelling die Urkunden religiöser Erfahrung, nämlich für die Mythologie die Zeugnisse der nicht-christlichen Religionen und für die Offenbarung die biblischen – insbesondere die neutestamentlichen – Zeugnisse und ihrer fortwirkende Geschichte. Für die Darstellung der christlichen Religion bedeutet dies nach Schelling: Die Möglichkeiten der Weltgeschichte werden christlich im trinitarischen Gottesgedanken erfasst. Ist Gott als kreative Freiheit zu denken, in der als dialektische Potenz die Möglichkeiten der Welt eingeschrieben sind, deren Geschichte sich im Christentum selbst gewahr wird, dann legt sich eine mit innerer Dynamik rechnende Trinitätslehre nahe. Sie konzipiert Schelling bewusst patrozentrisch. Als Herr des Seins ist die Gestalt des Vaters der Inbegriff kreativer Freiheit, der die Welt nicht schaffen muss, um er selbst zu sein. Ihm genügt die Welt im Zustand der Möglichkeit, über die er seit jeher verfügt. Realisiert der himmlische Vater diese Welt, geschieht dies dadurch, dass er seine drei ihm dialektisch eingeschriebenen Momente aus sich heraus freisetzt. Abgekürzt gesprochen kann man sagen: Das erste Moment der Dialektik (These) ist das Schöpfungssubstrat beziehungsweise die (unfertige, insofern auf den menschlichen Geist angelegte) Natur, das zweite Moment (Antithese) ist der kosmische Sohn und das dritte Moment (Synthese) stellt der Geist dar, der in Natur im Menschen die Augen aufschlägt und als Ebenbild beziehungsweise Gegenbild des Vaters frei ist. Durch die mythologische Selbstverfehlung menschlicher Freiheit wiederholt sich der dialektische Prozess in der dadurch begonnenen (Menschheits-) Geschichte, so dass der Sohn nunmehr geschichtlich erscheint und der Geist sich in der Kirche manifestiert. Entscheidend ist die Auferstehung Jesu, die als „Essentifikation“ zur Einbildung der trinitarischen

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Struktur in der petrinischen (katholischen), paulinischen (protestantischen) und schließlich der noch ausstehenden johanneischen Kirche der Zukunft führt. Die trinitätstheologische Pointe Schellings besteht darin: Diese drei dialektischen Momente werden in der Welt selbst wirklich, während sie vorher im unaufhebbar verwahrten Wesen des Vaters nur möglich waren, und das Wesen des Vaters ist im Sinn der Freiheit auch nach der Weltwerdung davon relativ unabhängig. Weil der Vater die Welt nicht braucht und insofern frei ist, kann die Welt relativ für sich und frei sein. Mit dieser an den Ursprungsrelationen orientierten Trinitätslehre beansprucht Schelling deren strenge, orthodoxe Lesart, wie sie ursprünglich dem Dogma vertraut ist. Dagegen steht Schelling der hegelianischen Lesart skeptisch gegenüber, in der Logik des spekulativen Begriffs die Trinität als sich selbst hervorbringendes Muster wechselseitiger Gleichartigkeit und Durchsichtigkeit zu verstehen. In Schellings Spätphilosophie gibt es ein kreatives Gefälle in Gott, das letztlich in dem nie aufgehenden Rest und in dem auch innergöttlich entzogenen und nur indirekt zugänglichen Wesen des Vaters besteht.19 Pannenbergs Theologie wird in der Regel als Geschichtstheologie charakterisiert. Denn sie geht anders als Karl Barths Wort-Gottes-Theologie nicht davon aus, dass sich Gott direkt in seinem Wort, sondern indirekt in der Geschichte offenbart (hat). Damit distanziert sich Pannenberg auch von der hermeneutischen Theologie Gerhard Ebelings, insofern letztere den geschichtlichen Gesamtzusammenhang zwischen einem vergangenen Text und seiner aktuellen Auslegung überspielt. Vielmehr erfordert es das historische Bewusstsein mit der differenzierten Wahrnehmung eines Textes aus der Vergangenheit und seiner aktuellen Auslegung den geschichtlichen Zusammenhang im Blick zu haben. Umfassendster Horizont der Theologie ist die Geschichte. Insoweit die Geschichte in ihrer Überlieferung gedeutet wird, ist sie freilich auch für Pannenberg mit dem Wort verbunden. Unter Geschichte versteht Pannenberg dabei keine nur dem Glauben zugängliche Heilsgeschichte, sondern die allgemein erschlossene Geschichte, und zwar grundsätzlich in ihrem Gesamtzusammenhang. Hierbei nimmt die Auferstehung Jesu eine Sonderrolle ein. Denn in ihr ereignet sich nach dem Deutungsmuster einer apokalyptischen Universalgeschichte das Ende der Geschichte vorweg, dessen endgültige Verifikation am Ende aller Dinge gleichwohl noch aussteht. Wissenschaftstheoretisch handelt es sich bei Gott als alles bestimmender Wirklichkeit, die aufgrund von deren Unabgeschlossenheit nur subjektiv antizipiert werden kann, um eine Hypothese. Als solche muss sie sich in der erfahrenen Wirklichkeit bewähren. Thematisch wird dies in den Religionen, so dass die Religionsgeschichte zur Erscheinung der strittigen Wirklichkeit Gottes wird. Da es der Theologie um letztere geht, überprüft die Theologie die 19 Vgl. F.W.J. Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Hamburg 1992; vgl. zu deren Bedeutung und Interpretation: M.D. Krüger, Freiheit, 16–29. 157–272.

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religiösen Überlieferungen als wissenschaftstheoretische Hypothesen. Entscheidend ist dabei, ob religiöse Traditionen den Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit sinnvoller und differenzierter als mögliche Alternativen erschließen. Erweist sich hier der Gott einer Religion entsprechend als sinnvoll und differenziert, hat man es nach Pannenberg nicht bloß mit einer menschlichen Deutungsleistung, sondern einem Selbsterweis des jeweiligen Gottes zu tun. Problematisch wird die Religion dann, wenn der Mensch die göttliche Unendlichkeit auf ihre endlichen Erscheinungsformen begrenzt. Der entsprechende Streit um den angemessenen Begriff Gottes zeigt sich im Streit der Religionen.20 Darin ragt nach Pannenberg das Christentum hervor, weil es sich selbst relativiert, insofern es im Bund mit der Vernunft religiöse und philosophische Einsichten integrieren kann. Diese Integrationsfähigkeit wird in dem Drang der christlichen Mission deutlich, die – auch über die Säkularisation der europäischen Geschichte – überhaupt erst ein menschliches Einheitsbewusstsein im globalen Horizont schafft. Zu der Selbstrelativierung des Christentums gehört jedoch vor allem, dass es sich religionsgeschichtlich als relative Religion sieht. Gerade dies unterscheidet das Christentum von anderen Religionen, die ihre eigene Geschichtlichkeit und Vorläufigkeit verkennen. Im Christentum wird diese Selbstrelativierung in Jesus Christus gewissermaßen selbst zum Gegenstand des Glaubens: Das religiöse Bewusstsein weiß sich in Jesus Christus auf eine Unendlichkeit bezogen, die selbst wesentlich endlich ist. Indem sich Jesus Christus von seinem himmlischen Vater unterscheidet, kann gerade darin der Vater offenbar werden – und zwar so, dass Vater und Sohn im Geist wechselseitig aufeinander verweisen. Gottes Wesenseinheit ist in der Wechselseitigkeit dieser Bezüge realisiert. Die trinitarischen Verhältnisse sind unter Einschluss der Geschichtlichkeit Jesu die wechselseitigen Vollzüge dreier Aktzentren. Entsprechend geht es im historischen Tod Jesu konstitutiv um die Gottheit Gottes. Und in der Auferstehung Jesu als der Vorwegnahme des Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit wird diese Bestimmung des göttlichen Wesens deutlich. Auf diese Weise verbindet sich im Christentum die Vorläufigkeit menschlichen Erkennens mit der definitiven Bestimmtheit von Gottes Offenbarung. So erweist sich die christliche Theologie für eine Theologie der Religionen offen, die mit philosophischer Vernunft in der Gebrochenheit der Gottesrede anderer Religionen eine Beziehung auf den wahrhaft unendlichen Gott erkennt. Dies schließt für Pannenberg den religionstheologischen Exklusivismus aus, wonach die außerchristlichen Religionen letztlich lediglich Götzendienst sind. Ebenso schließt dies 20 Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen bis zum Ende dieses Pannenbergs-Abschnitts der vierten These in diesem Beitrag im Wortlaut auch: M.D. Krüger, Aufgeklärte Religionstheologie. Thesen im Anschluss an Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner, in: ders./H.-P. Großhans (Hg.), Integration religiöser Pluralität. Philosophische und theologische Beiträge zum Religionsverständnis in der Moderne, Leipzig 2010, 125–138, hier: 130 f.

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für Pannenberg aber auch den religionstheologischen Pluralismus aus, der den christlichen Wahrheitsanspruch aufgibt. Ähnlich wie bei Schelling ist also die Sonderstellung des Christentums gerade nur im Verbund mit der Religionsgeschichte plausibel.21

2.

Unterschiede zwischen Schelling und Pannenberg

Fünfte These: Während Schellings Spätphilosophie an der Selbstbescheidung der Vernunft hängt, ist für Pannenbergs Geschichtstheologie die anthropologisch plausibilisierbare Vorwegnahme der Geschichte in der Auferstehung Jesu Christi entscheidend. Der Dreh- und Angelpunkt der Spätphilosophie Schellings ist die Annahme einer kreativen Freiheit. Sie ergibt sich aus der dialektischen Selbstbescheidung der Vernunft, wird dann als göttlich gedacht und schließlich sinnerschließend in der Diagnose der tatsächlichen Natur- und Weltgeschichte bewährt. Die Rationalität von Schellings Spätphilosophie hängt mithin an einer spekulativen Deutung der Dialektik, und zwar im Sinn einer Theorie geschichtlicher Vernunft, wonach dieselbe ihre eigene, faktische Einsetzung in den Selbstvollzug realisiert. Sicherlich wird dies der Vernunft praktisch erst religionsgeschichtlich bewusst. Doch theoretisch ist die Vernunft nicht auf diese Konkretisierung angewiesen, sondern kann auch ohne die religiöse Praxis – freilich nur in negativer, nicht in positiver Form – ihrer Faktizität als ihres Grundes und ihrer Grenze gewahr werden. Schelling argumentiert, um es schlicht zu sagen, also auch in seiner Spätphilosophie entschieden von einem philosophischen, nicht theologischen Standpunkt aus. Anders verhält es sich bei Pannenberg, der – für einen Theologen wiederum kaum überraschend – den Dreh- und Angelpunkt seines Ansatzes entschieden theologisch fasst. So ist der Mensch aufgrund seiner Weltoffenheit ein sich selbst übersteigendes Geschichtswesen, das seine zwar vernunftmäßig noch nicht unstreitige, aber glaubensmäßig schon gewisse Erfüllung in der Antizipation des Endes der Gesamtgeschichte in der Auferstehung Jesu Christi findet. Hierbei stützt die – mehr oder weniger – schöpfungstheologisch gedeutete Anthropologie das versöhnungstheologische Zeugnis von der Antizipation des Geschichtsendes in der Auferstehung Jesu, wie umgekehrt letztere als Erfüllung der (neuen) Schöpfung vorstellig wird.

21 Vgl. W. Pannenberg, Offenbarung; ders., STh I, 133–364; ders., STh II, 15–201; ders., STh III, 473–567; ders., Glauben, bes. 367 f.

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Doch dieser Unterschied zwischen Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie ist keineswegs kontradiktorischer, sondern konträrer Natur. Denn schließlich muss nach Pannenberg eine künftige Theorie der Vernunft, die der christologischen Antizipation strukturell entspricht, die Vernunft als geschichtliches Vermögen auf eine ihm immer vorausliegende und uneinholbare Ermöglichung fassen. Umgekehrt ist für den späten Schelling die in der Religionsgeschichte gipfelnde Geschichte der Natur und der Kultur die Erfahrungsweise, in der die ihre Faktizität, Kontingenz und Geschichtlichkeit einsehende Vernunft ihr Gottesverständnis allein bewähren kann. Andernfalls bleibt die Vorstellung von Gott als kreativer Freiheit ein rein rationales Konstrukt, das in der Selbstbescheidung der Vernunft zwar im Negativ einleuchtet, dem aber die Konkretion des Positiven abgeht. Sowohl Schelling als auch Pannenberg beginnen nicht mit der Zumutung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, sondern führen zu ihr hin, so dass diese Zumutung ihrerseits zumutbar ist. Sechste These: Während Gott für Schellings Spätphilosophie insbesondere im Horizont kreativer Freiheit verständlich wird, ist Gott für Pannenbergs Geschichtstheologie insbesondere im Horizont geschichtsmächtiger Liebe nachvollziehbar. Für Schellings Spätphilosophie ist Gott eindeutig kreative Freiheit, deren Kreativität sich selbst so gewiss ist, dass sie sich nicht manifestieren muss. Geschieht das Letztere dennoch, kommt es zur Welt in Natur- und Kulturgeschichte, und zwar durch die Freisetzung der Gott eingeschriebenen Vermögen. Das sind die Potenzen, die Möglichkeiten, die sich auch im dialektischen Selbstvollzug der Vernunft zeigen (nämlich These, Antithese und Synthese). Sie sind aufeinander angewiesen und werden nur im Wechselspiel real, das dann im Geist gipfelt. Ihn kann Schelling auch als Liebe beschrieben, zieht in der Regel aber den Begriff der Freiheit vor, weil mit dem Geist in der Natur beziehungsweise Kultur die menschliche Freiheit (wieder-) erwacht und letztere das Ebenbild beziehungsweise Gegenbild der kreativen und nicht ausschöpfbaren Freiheit Gottes in der Gestalt des Vaters ist. Insofern ist für Schelling die Liebe (in Gestalt des menschlichen Geistes in der Naturgeschichte oder des kirchlichen Geistes der Kulturgeschichte) ein Kind der Freiheit Gottes. Anders gesagt: Gottes freie Wirklichkeit als Vater wird in der Welt als Liebe offenbar, wenn der Vater seine ihm eingeschriebenen Möglichkeiten (nämlich von Natur, Sohn und Geist) restlos zur Erschaffung der Welt frei gibt. Auch Pannenberg kann Gott als schöpferische Quelle von Neuem und Kontingenz und damit Gottes Freiheit zur Welt betonen. Doch hat sich Gott zur Erschaffung der Welt bestimmt, dann legt er sich selbst in gewisser Weise auf dieselbe fest, wenn Gottes Sein und geschichtliches Handeln eins sind. Gott

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vollzieht dies allerdings nicht als absolutes Subjekt, das zu seiner Selbstentfaltung gezwungen ist. Vielmehr besteht die göttliche Einheit in der Liebe, die Vater und Sohn im Geist sind. Diese Liebe leuchtet in der Selbstunterscheidung Jesu von seinem himmlischen Vater auf. Und diese Liebe ist die ewige Gottheit, welche im Wechselbezug der drei Personen Gottes lebendig ist und so dafür steht, dass Gott in sich und für die Welt mit sich eins ist. Diese Liebe Gottes zeigt sich in dessen geschichtlichem Handeln als wahrhaft unendlich, wenn sie das Andere ihrer selbst aufzuheben vermag. Dieser Unterschied zwischen Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie muss ebenfalls nicht als kontradiktorischer, sondern kann als konträrer Natur begriffen werden. Schließlich impliziert Gott als Liebe bei Pannenberg auch die Freiheit, wie umgekehrt Gott als Freiheit bei Schelling auch die Liebe einschließt. Damit sind allerdings auch – nach der Bestimmung von Möglichkeit und Wirklichkeit – modale Verschiebungen von Freiheit und Liebe verbunden. Vermutlich würde jeweils die eine gegenüber der anderen Seite – im wechselseitigen Abgleich – einen Differenzierungsgewinn für die je eigene Sicht geltend machen. Siebte These: Während Gott nach Schellings Spätphilosophie der (Welt-) Geschichte – auch nach deren Eintritt – relativ frei gegenübersteht, legt sich Gott nach Pannenbergs Geschichtstheologie selbst definitiv auf die (Welt-) Geschichte fest. Das Ceterum censeo von Schellings Spätphilosophie lautet: Gerade weil Gott die Welt nicht braucht, kann die Welt relativ frei sein. Und dadurch wird indirekt auch klar, dass Gott selbst nichts anderes als unaufhebbare, kreativ nie erschöpfte Freiheit ist, die theologisch im nachhinein aufgrund der Dialektik der Vernunft so rekonstruiert werden kann: Gottes Wesen als unaufhebbare Freiheit ist die Gestalt des Vaters, die aus sich die Möglichkeiten der Schöpfung (Schöpfungssubstrat), der Erlösung (Sohn) und der Versöhnung (Geist) freisetzt, die dann in der Natur- und Kulturgeschichte zu relativ eigenständigen Gestalten werden. Die Natur, der Sohn und der Geist sind als Reflex der göttlichen Freiheit des Vaters zwar auf denselben bezogen und können insofern nicht völlig scheitern, so sehr der Mensch in der Geschichte es auf Zerstörung von Natur, Sohn und Geist anlegen mag. Doch diese drei Momente werden von innergöttlichen Potenzen, die im Vater liegen, mit der Weltgeschichte in Natur und Kultur zu realen Gestalten. Von deren Werden hängt die nie erscheinende Gottheit des Vaters als ursprungsloser Ursprung aufgrund ihrer unaufhebbaren Freiheit nicht ab. Es ist mithin in Gott eine gewisse Asymmetrie, die dessen Dynamik und Kreativität erklärt. Dagegen hält Schelling einen sich selbst in der Wechselseitigkeit trinitarischer Personen völlig transparenten Gott nicht nur doxographisch für letztlich unvereinbar mit dem orthodoxen Trinitätsdogma und seinen Ur-

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sprungsrelationen. Vielmehr spricht gegen Gott als sich völlig durchsichtigen Vollzug von symmetrischer Wechselseitigkeit, dass aus dessen Wesen nichts mehr generiert werden kann. Die Schlüssigkeit des in sich kreisenden Gottes lässt keinen Raum mehr für Andersheit, die kreativ gewendet werden mag. So verliert aber Gott mit seiner eigenen Zukunft seine Lebendigkeit, zu deren Symbolisierung er eingeführt wurde und ist. Demgegenüber betont Pannenberg stärker als Schelling, dass Gott mit der Schöpfung sich auf dieselbe eingelassen hat. Zwar muss Gott die Schöpfung nicht vollbringen, um er selbst zu werden. Gott ist dazu frei. Doch ist die Erschaffung der Welt als freie Handlung Gottes erfolgt und somit als Schöpfung kontingent, so muss man davon ausgehen, dass sich Gott selbst von Ewigkeit her in Freiheit dazu bestimmt hat. Diese Schöpfung gipfelt auch für Pannenberg im gottebenbildlichen Menschen, der im Erscheinen Jesu seinerseits seine Vollendung findet. Darin gibt der Geist den Menschen so teil, dass der Mensch in der Kirche als Zeichen und Werkzeug der bereits gegenwärtigen Heilszukunft die Gemeinschaft der Glaubenden erfahren kann. Entscheidend ist dabei für Pannenberg: Gott und sein geschichtliches Handeln sind nicht zu scheiden, sondern bilden eine Einheit. Mit der Gesamtgeschichte steht die Gottheit Gottes auf dem Spiel, weil Gott erst mit dem endgültigen Eintritt seines Reiches als Gott erwiesen ist. Mit der Kreuzigung Jesu gerät die Gottheit des Vaters in Gefahr, denn der Vater hat die Herrschaft auf den Sohn übertragen, so dass der Vater vom Sohn abhängig ist. Erst die Auferstehung Jesu schafft hier eine positive Eindeutigkeit, wenn der Geist den Gekreuzigten auferweckt. Damit ist nicht nur eine Rückübertragung der Herrschaft vom Sohn auf den Vater im Blick. Damit wird auch deutlich: Es ist der Geist, der das Integral des dreieinigen Lebens darstellt. Nichtsdestoweniger kann Pannenberg, und zwar insbesondere heilsgeschichtlich, die Monarchie des Vaters betonen. Wie das Letztere zeigt, ist ebenfalls an diesem Punkt der Unterschied zwischen Schelling und Pannenberg nicht so, dass es keine Perspektiven der Verständigung geben würde. Zwar ist Schelling deutlich stärker am ostkirchlichen Modell der Trinitätslehre orientiert, freilich aus einer spekulativen Sicht des Deutschen Idealismus, die der ostkirchlichen Tradition durchaus nicht ganz eingängig ist, aber auch Schelling weiß um die Wechselseitigkeit der trinitarischen Bezüge. Er hält jedoch aufgrund seiner Theorie einer dialektischen Selbstbescheidung der Vernunft, die im Trinitätssymbol im Horizont des christlichen Gottesverständnisses ihre religiöse Deutung findet, um der Kontingenz, Faktizität und Geschichte willen an einer größeren Asymmetrie in Gott fest, als es Pannenberg tut. Letzterer hingegen bestreitet keineswegs die Freiheit Gottes zur Schöpfung, möchte aber deren Kontingenz so mit Gottes Sein verbinden, dass Gott selbst darin manifest wird.

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Achte These: Während Schellings Spätphilosophie bewusst gegen das Programm einer Metaphysik des Abschlusses verstößt, scheint Pannenbergs Geschichtstheologie stärker an einem solchen Programm einer Metaphysik des Abschlusses orientiert zu sein. Schelling verstößt gegen das Programm einer Metaphysik des Abschlusses22, wenn es letzterer darum geht, das Ganze der Wirklichkeit in begründungstheoretischer Hinsicht restlos zu entwickeln. Denn Schellings Bestimmung des ursprungslosen Ursprungs als derjenigen freien Wirklichkeit, in der die Differenz der Möglichkeit nach gesetzt ist, bleibt solange im Sinne einer Metaphysik des Abschlusses unverständlich, wie die Realisierung der möglichen Differenz nicht aus der Wirklichkeit des Ursprungs entwickelt wird. Diese Entwicklung wird von Schelling nicht vollzogen, insofern er die Differenzen als Möglichkeiten im Ursprung voraussetzt und den Übergang des Ursprungs zur Verwirklichung der Differenzen als Akt der Freiheit deklariert. Anstelle einer letztbegründenden Metaphysik des Abschlusses tritt eine Theorie, die als Ursprung eine Freiheit namhaft macht, deren Eintritt in die Wirklichkeit der Welt im begründungstheoretischen Sinn unableitbar und allein aufgrund ihres faktischen Eintritts diagnostizierbar ist. Folglich wird bei Schelling die grundlegende Aporie einer Metaphysik des Abschlusses zur systematischen Pointe: Die berechtigte Frage einer Metaphysik des Abschlusses nach dem absoluten Ursprung wird einer Antwort zugeführt, welche die Revision der in dieser Frage implizierten Einsichten nach sich zieht. Das Dilemma einer Metaphysik des Abschlusses löst Schelling, indem er das Absolute nicht in ihrem Sinne konzipiert, auch wenn das Problembewusstsein einer solchen Metaphysik sich in seiner Konzeption niederschlägt. An die Stelle der sich auf die theoretische Vernunft stützenden Letztbegründung tritt die an die faktische Praxis verwiesene Diagnose, und zwar prinzipiell. Im Gottessymbol steht dafür die Einsicht, dass die Gestalt des Vaters nicht nur definitiv entzogen ist, sondern es auch bleiben wird.23 Sicherlich forciert auch Pannenberg den diagnostischen Charakter des Gottesgedankens, wenn er wissenschaftstheoretisch unter den Bedingungen der Gegenwart seinen hypothetischen und antizipatorischen Charakter betont. Doch stärker als Schelling scheint Pannenberg darauf zu beharren, dass am Ende der Geschichte der Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit – einschließlich der Theodizeefrage – in Gott transparent, zurechtgebracht und gerechtfertigt ist. Entsprechend ist es bei

22 Vgl. zum Begriff und Problem einer Metaphysik des Abschlusses: Konrad Cramer, Metaphysik im 20. Jahrhundert als Metaphysik nach Hegel, in: Metaphysik nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987, hg. v. D. Henrich u. R.-P. Horstmann, Stuttgart 1988, 297–322; ders., Zur formalen Struktur einer Philosophie nach Hegel, die als Kritik soll auftreten können, in: R. Bubner u. a. (Hg.), Hermeneutik und Dialektik Bd. II, Tübingen 1970, 147–179. 23 Vgl. zu diesem gesamten Schelling-Abschnitt der achten These in diesem Beitrag auch im Wortlaut: M.D. Krüger, Freiheit, 310 f.

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Pannenberg weniger – wie bei Schelling – eine diagnostische Vernunft, sondern eine angesichts des ausstehenden Endes aller Dinge bloß antizipative Vernunft, die denkerisch auf dem Weg ist. Die berechtigte Frage einer Metaphysik des Abschlusses nach dem absoluten Ursprung wird nach Pannenberg eschatologisch einer Antwort zugeführt, die nichts mehr schuldig bleiben wird. Diese Differenz zwischen Schelling und Pannenberg spiegelt nur die grundsätzliche Differenz zwischen der Theorie einer dialektisch selbstkritischen Vernunft und einer bisher bloß partikular in der Auferstehung Jesu antizipierten, aber prinzipiell durchschaubaren Gesamtwirklichkeit wider. Pannenbergs universalgeschichtliches Theologieprogramm scheint eine deutlichere Verpflichtung auf die Kategorien von Einheit und Ganzheit zu kennen als Schellings Spätphilosophie mit ihrer Pointe der freiheitstheoretisch im Gottesbild symbolisch bearbeiteten Kontingenz, die nie ganz aufgegangen sein wird. Doch gilt es ebenso festzuhalten, dass unter den Bedingungen der Endlichkeit auch nach Pannenberg die christliche Theologie in rationalen Rekonstruktionen die nie erschöpfende Wirklichkeit Gottes allein in einer Weise hat, die noch überholt werden wird.

3.

Perspektiven aufgrund des Schelling-Pannenberg-Verhältnisses

Neunte These: Im grundsätzlichen Anschluss an Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie erscheint eine kulturtheoretische Anthropologie als (spät-) moderne Leitdisziplin verständlich, wenn sie Grund und Grenze der menschlichen Vernunft beachtet. Sowohl Schelling als auch Pannenberg machen auf ihre je eigene Weise deutlich, dass der Gottesgedanke und die Religionspraxis ohne den Nachweis einer anthropologischen Relevanz nicht mehr allgemein zumutbar sind. Dabei verschiebt sich von Schelling zu Pannenberg die Plausibilität von einem selbstkritischen Vernunftvermögen („Kritik der reinen Vernunft“) zu einem sich transzendierenden Geschichtsvermögen, das gleichwohl auf die philosophische Reflexion des Gesamtzusammenhangs der Wirklichkeit verwiesen ist. In der Gegenwart dürfte sich das noch zuspitzen: Nach dem Zusammenbruch der Überzeugungskraft der herkömmlichen Philosophie ontologischen und transzendentalphilosophischen Zuschnitts tritt in der Spätmoderne zunehmend eine Kulturwissenschaft an deren Stelle, die sich in der Regel nur indirekt – nämlich im Idealfall in der Weise geschickter Negation – auf das Konzept eines Ganzen und Einen bezieht. Allerdings dürfte dies nur solange Bestand haben, als dieser indirekte Bezug zumindest im Sinn einer intelligenten Mangelverwaltung noch im Blick ist. Würde hingegen die Vernunft mit ihrem Ausgriff auf das Ganze und

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Malte Dominik Krüger

Eine noch so relativiert werden, dass nur noch disparate Sprachspiele festgestellt werden könnten, wäre es – vorsichtig gesagt – um die Wirklichkeit als einen allgemein kommunizierbaren, rechenschaftsfähigen und wissenschaftlichen Gegenstandsbereich geschehen. Insofern müssen Grund und Grenze der Vernunft, so sehr letztere relativiert wird, kulturtheoretisch motiviert sein. Dies würde es erfordern, die neuesten Entwicklungen der Anthropologie aufnehmen, die so weder Schelling noch Pannenberg kennen konnten.

Zehnte These: Im grundsätzlichen Anschluss an Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie erscheint die Theologie gut beraten, eine indirekte Offenbarung Gottes und damit dessen Selbstverbergung anzunehmen. So wenig Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie sich davor scheuen, eine religiöse Gegenständlichkeit zu formulieren, und zwar durchaus auch so, dass dieselbe in rückblickender Deutung als (Selbst-) Voraussetzung von Religion erscheint, so sehr legen es beide Konzepte nahe: Gott erscheint nicht direkt und nicht unvermittelt. Gott ist vielmehr gewissermaßen nur medial zugänglich, nämlich in der Weise der Vernunft und Geschichte, in deren Aktivität er sich als unerreichbarer Horizont zeigt. Dieses Offenbarungsverständnis hat den Charme reflektierter Naivität. Denn es rechnet Gott weder unter die Gegenstände möglicher Erfahrung noch konkurriert es auf der Ebene persönlicher Betroffenheit mit alternativen Deutungsangeboten auf dem Markt der Religionen. Vielmehr wird so ein intellektuell redlicher Zugang zur Gottesthematik – gut lutherisch auch gegen den Augenschein und mithin unter dem Gegenteil verborgen – offen gehalten, dessen indirekte Eigenart auch Raum für verschiedene Zugänge und Symbolisierungen lässt.

Elfte These: Im grundsätzlichen Anschluss an Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie erscheint es wenig plausibel, das Christentum aus dem Zusammenhang menschlicher Kultur zu lösen. Sowohl Schelling als auch Pannenberg machen plausibel, dass die christliche Religion nur in der Geschichte und im Bezug auf andere Religionen, von denen sie sich unterscheidet, in der Stärke ihres Profils erfasst und gewürdigt werden kann. Hingegen bleibt der Versuch, das Christentum aufzuwerten und in seiner Besonderheit zu realisieren, indem man es als Größe eigener Art einführt und behandelt, hinter dem eigenen Anliegen zurück. Denn mit seiner Isolierung gegenüber anderen Religionen oder sogar gegenüber anderen Gestalten und Erscheinungen von Kultur verliert das Christentum seine humane Plausibilität, auf deren Nachweis nur um den Preis eines Selbstausschlusses verzichtet werden kann.

Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie

161

Zwölfte These: Im grundsätzlichen Anschluss an Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie kann es theologisch als Aufgabe erscheinen, mit gegenwärtigen Denkmitteln im christlichen Gott sowohl Freiheit als auch Faktizität zusammenzudenken. Dass sich Pannenbergs Geschichtstheologie sachlich in großer Nähe zur Spätphilosophie Schelling positioniert, ohne von letzterer abhängig zu sein, kann man vor dem Hintergrund ihres hier Dargelegten festhalten. Auch die Unterschiede sind nicht so beschaffen, dass beide Entwürfe – trotz auch deutlicher Divergenzen im Profil – einander sachlich ausschließen müssten. So ist weder Schelling ein antizipierter Pannenberg noch Pannenberg ein Schelling redivivus. Vielmehr befinden sie sich beide in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne dass der eine (Schelling) es wissen konnte und der andere (Pannenberg) es realisiert hat. Zwischen beiden ist vermutlich Hegels System – und besonders die Abgrenzung davon – der indirekte, vermittelnde Bezugspunkt. Damit ist sachlich eine grundlegende Einsicht verbunden: Schellings Spätphilosophie scheint die Fluchtlinien einer philosophischen Theorie geschichtlicher Vernunft zu bieten, auf die Pannenberg aus gewesen ist. Insofern könnte man Schellings und Pannenbergs Entwürfe als zwei Wege zu einem Ziel beschreiben, das den religiös im Christentum erschlossenen Gott als tragfähigen Ursprung der Wirklichkeit mit deren geschichtlicher Kontingenz und menschlicher Freiheit zusammenzudenken sucht. Noch elementarer gesagt: Schelling und Pannenberg geht es gemeinsam darum, geschichtliche Faktizität und menschliche Freiheit im Horizont des christlichen Gottesgedankens zu verstehen. Und man könnte es für theologisch für eine oder sogar die vornehmste Aufgabe halten, unter gegenwärtigen Bedingungen einen theologischen Ansatz zu artikulieren, der genau dies tut.

Josef Schmidt SJ

Wahre Unendlichkeit und Geheimnis – Hegel, Rahner, Pannenberg

1.

Hegel

W. Pannenberg fasst in seinem Buch „Theologie und Philosophie” den zentralen Gedanken der Religionsphilosophie Hegels so zusammen: „erst im Christentum ist der Weg zur Erfassung des Göttlichen in seiner Absolutheit vollendet, weil hier nun die endliche Erscheinung in Gestalt des Menschen Jesus und also als dieses einzelne Endliche als zum Unendlichen oder Absoluten selbst gehörig erkannt ist, der Gegensatz des Absoluten zum Endlichen also aufgehoben und so Gott in seiner wahrhaften Unendlichkeit offenbar ist. Dass die endliche Gestalt der Offenbarung des Absoluten als des nicht nur Jenseitigen, sondern das Diesseitige mit sich vereinend, gerade die Gestalt eines Menschen ist, hängt damit zusammen, dass die Menschen als ihrer selbst bewusste Wesen durch die Erfassung ihrer eigenen Endlichkeit zugleich über diese und über alles Endliche hinausgehen in einer Erhebung zum Absoluten, ebenso wie dieses das wahrhaft Unendliche dadurch ist, dass es seine Jenseitigkeit aufgibt, um mit dem sich über die eigene Endlichkeit sich erhebenden Endlichen eins zu werden. Hegel erblickte die Zentralidee des Christentums also in der Menschwerdung Gottes und in ihrem Resultat, der Einheit von Gott und Mensch, zuerst in dem einen Menschen Jesus, dann aber und daraufhin in der ganzen von ihm angenommenen Menschheit. Das ist bei Hegel auch der Inhalt des Versöhnungsgedankens, sodass Menschwerdung und Versöhnung denselben Grundgedanken ausdrücken” (TuP, 266).1 D. h.: Der Mensch erfasst das Endliche. Er erfasst es im Kontext des Endlichen, der prinzipiell unabschließbar ist, der aber die Struktur des Endlichen behält. Dieses Endliche als solches zu erfassen und zwar in seiner strukturellen Begrenztheit, heißt es zugleich auf das hin zu überschreiten, was nicht mehr kon1 Zitierte Werke Wolfgang Pannenbergs: Theologie und Philosophie (TuP), Göttingen 1996; Grundfragen systematischer Theologie (GsTh), Göttingen 1971; Artikel „Person”, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), Tübingen 1957 ff.; Systematische Theologie I (SyTh I), Göttingen 1988.

164

Josef Schmidt SJ

textuell außenbestimmt, sondern rein durch sich ist, das „wahrhaft Unendliche”. Doch dieses ist erst dann als wahrhaft Unendliches gedacht, wenn es den Gegensatz zum Endlichen mit umfasst. Dieser in Hegels „Wissenschaft der Logik” schon im ersten Abschnitt der „Logik des Seins” entwickelte Gedanke bleibt bestimmend für den weiteren logischen Gang bis hin zur „Absoluten Idee”. Diese geht in Freiheit über sich hinaus und stellt sich dar im Äußeren ihrer selbst, zunächst in der Natur, die, indem sie zu sich selbst gelangt, ihre Endlichkeit erfasst und sich zu ihrem Woher, dem wahrhaft Unendlichen, erhebt. Diese Erhebung ist zugleich ein Sich-erkennen-Lassen des Unendlichen, das so sein geistiges Leben dem endlichen Geist offenbart, der sich im Erfassen der eigenen Endlichkeit zu ihm erhebt, ihn aber dabei nicht „von außen” erkennt und begreift, sondern von ihm zum Erkennen seiner ermächtigt ist, durch seine Präsenz und sein Wirken in ihm. „Die Philosophie will den Inhalt, die Wirklichkeit der göttlichen Idee erkennen […] Denn die Vernunft ist das Vernehmen des göttlichen Werkes” (TW 12, 53). In seinen von ihm nicht veröffentlichten Frühschriften nennt Hegel2 diese „wahre Unendlichkeit” ein „heiliges Geheimnis” (TW 1, 378), das der trennenden „Reflexion” verschlossen bleibt und nur der „Religion” zugänglich ist, vor der somit die Philosophie „aufhören” muß (TW 1, 423). Was sie zum Aufhören veranlasst sieht Hegel in dem Liedvers ausgesprochen: „Den aller Himmel Himmel nicht umschloss, / der liegt nun in Marien Schoß” (ebd. 424). Doch Hegels Einsicht ist immer deutlicher die, dass die religiös ausgesprochene Einheit von Endlichkeit und Unendlichkeit die Vernunft nicht begrenzt, sondern erweitert und vertieft, indem sie diese über sich hinausführt. Diese Selbsttranszendenz entspricht ihrer Selbstreflexion. Denn die Trennungen, in die sie eingeschlossen scheint, werden von ihr selbst erkannt und damit überschritten. In der Folge unterscheidet Hegel deshalb diese „Vernunft” von ihrer untergeordneten Stufe, dem „Verstand”. Die „wahre Unendlichkeit” ist der dieser Vernunft entsprechende spekulative „Begriff”, und alles Begreifen ist defizitär, das sich vor ihm verschließt. Das „Geheimnis” bleibt „aufgehoben” erhalten. Es liegt nun innerhalb des Begreifens und kann vernünftig kommuniziert und gegen die Reduktion auf bloße Privatheit verteidigt werden. „Die, welche der Philosophie verargen, daß sie die Religion denkt, wissen nicht was sie verlangen […] die wahre Demut besteht darin, den Geist in die Wahrheit zu versenken […] So verschwindet alles Subjektive […] Wir haben die Idee rein spekulativ zu betrachten und sie gegen den Verstand zu rechtfertigen, gegen ihn, der sich gegen allen Inhalt der Religion überhaupt empört. Dieser Inhalt heißt Mysterium, weil er dem Verstande ein Verborgenes 2 Hegels Werke werden zitiert nach der Theorie-Werkausgabe (TW), 20 Bände, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1971 ff.

Hegel, Rahner, Pannenberg

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ist, denn er kommt nicht zu dem Prozeß, der diese Einheit ist: daher ist alles Spekulative dem Verstand ein Mysterium“ (Vorlesungen über die Gottesbeweise, Schluß, TW 17, 534 f.). D. h. Nur wenn diese Vernunft sich dem in ihrer Tiefe sich zeigenden Mysterium öffnet, ist dieses auch kommunikabel. Karl Rahner schreibt einmal, dass er, frustriert von einem fideistischen Text, „zu seinem Trost” (SW 4, 320) in Hegels „Phänomenologie des Geistes” gelesen habe, und zwar die Stelle, wo Hegel sich gegen den wendet, der bezüglich der höchsten Wahrheiten sich nur auf die Autorität der eigenen Subjektivität beruft, denn indem dieser „sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muss erklären, dass er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen. Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit andern zu dringen, und ihre Existenz [ist] nur in der zustande gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtsein[e]“ (TW 3, 64 f.).

2.

Rahner

Karl Rahner3 nimmt seinen systematischen Ausgang vom Geistvollzug des Menschen. Das Woraufhin dieses Vollzuges ist das wahrhaft Unendliche, oder wie er sagt, „das Unendliche als solches”. Dieses „Woraufhin” ermöglicht, leitet und erhellt unseren Geist, bleibt aber Geheimnis. „Die Vernunft muß […] als das Vermögen des Unbegreiflichen verstanden werden“ (SzTh XIII 120). Man könnte „das Geheimnis zunächst einfach definieren als das, woraufhin der Mensch in der Einheit seiner erkennenden und frei liebenden Transzendenz immer schon sich selbst übersteigt“ (LThK: Geheimnis, 594). Denn: „Geheimnis ist ein wesentlicher und bleibender Uraspekt der totalen Wirklichkeit, insofern sie als ganze (und so unendliche) für den kreatürlichen (und so endlichen) Geist in dessen Transzendenz anwest“ (ebd.). „Weder darf das Geheimnis als das nur vorläufig noch nicht Geklärte, das noch Aufzuhellende, der noch unaufgearbeitete Restbestand des Klaren und Durchschauten oder einfach als das Nochnicht-Gewußte neben dem anderen Gewußten, noch darf die geistige Erkenntnis in ihrem ursprünglichsten und letzten Wesen als die Fähigkeit des durchschauenden Erfassens des ‚Begreiflichen‘ aufgefaßt werden. Wenn Geist wesentlich und ursprünglich Transzendenz, diese aber die Eröffnetheit auf das Unendliche als solches und so wesentlich auf das Unbegreifliche ist, dann ist Geist wesentlich das

3 Schriften zur Theologie (SzTh, 16 Bände), Einsiedeln 1964 ff.; Sämtliche Werke (SW), 32 Bände, Freiburg 1995 ff.; Lexikon für Theologie und Kirche (LThK), Freiburg 1957 ff.; Sacramentum Mundi (SM), Theologisches Lexikon, hrsg. von Karl Rahner u. a., Freiburg 1967 ff.

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Josef Schmidt SJ

Vermögen der Annahme des Unbegreiflichen als solchen, des bleibenden Geheimnisses als solchen“ (ebd.). Die Eröffnung unseres Geistes geschieht nach Rahner durch ein Angesprochenwerden und d. h. durch eine personale Erfahrung, oder anders gesagt: die „transzendentale Erfahrung“ zeigt hier ihren personalen Charakter, und nur von diesem Charakter her ist das eigentümlich Simultane von Begreiflichkeit und Unbegreiflichkeit, von Offenbarkeit und Geheimnis in dieser Erfahrung gegeben. Personales Sich-Geben – und ein Sich-Geben ist personal – kommt aus der Unverfügbarkeit der Freiheit. Die (Selbst-)Gabe teilt diese Unverfügbarkeit mit, eine Entzogenheit, die kein Vorbehalt ist. Denn gerade in der vorbehaltlosen Gabe zeigt sich das immer entzogene Gegenüber: die Freiheit, aus der die Gabe kommt, deren Woher, die nur aus sich selbst strömende Quelle dieser Gabe, ist Geben und Entzug. D.h die Offenbarkeit und Verborgenheit sind ein Geschehen. Sie können in ihrer Gegenläufigkeit nicht mehr nach Rücksichten aufgeteilt werden, sondern sind in ein und demselben Sinne beides. Das ist der Kern des Personalen, und eben dieser ist das Wesen der transzendentalen Erfahrung. „Das Geheimnis gründet dabei alles und entzieht sich zumal; es trägt, ohne selbst nochmals von uns beherrscht zu werden; es gewährt sich als das alles umfassende Geheimnis, das bleibt; es erlaubt uns, auf es hin, nicht aber eigentlich ‚über‘ es zu sprechen“ (SM: Geheimnis). „Von da aus kann nun besser verstanden werden, was mit den Geheimnissen der christlichen Offenbarung eigentlich gemeint ist. Es gibt im Grunde nur ein ‚Geheimnis‘: daß […] Gott […] als er selber die innerste Wirklichkeit unseres Daseins wird“ (SM: Geheimnis). Rahner nennt dies die „Selbstmittelung Gottes“. Sie ist schon in der ersten Eröffnung unseres Geistes gegeben. Denn der Eröffnende gibt sich in dieser Eröffnung zu erkennen, teilt sich in ihr mit. Doch der Begriff der „Selbstmitteilung“ enthält ein Maximum, man könnte sagen: ein „id quo maius cogitari nequit“, nämlich die vollkommene Selbstgabe Gottes an das Geschöpf, wobei eigentlich das Wort „vollkommen“ pleonastisch ist, denn SelbstGabe heißt, sich geben, also nicht teilweise, sondern ganz, nämlich „sich selbst“. Auf eine solche „Selbstmitteilung“ hin hat Gott die Welt geschaffen. „Gott schafft, weil er sich selbst, sich äußernd und ent-äußernd, mitteilen will“ (SzTh VII, 69). Hier von Geschuldetheit zu sprechen ist unsinnig. Denn die Schöpfung soll Adressat der freien Gabe werden, und für diese freie Gabe hat der Schöpfer sie von vornherein bestimmt. So ist denn der Mensch in bezug auf Gott und von ihm her auch zwischenmenschlich in seinem Wesen, also notwendig, auf das ausgerichtet, was ihm nur in Freiheit gegeben werden kann.

Hegel, Rahner, Pannenberg

3.

167

Pannenberg

Nach Wolfhart Pannenberg gehört der Begriff der „wahren Unendlichkeit” zu den „Minimalbedingungen” (SyTh I, 428), denen der Gottesgedanke genügen muss. Er bezeichnet die Transzendenzbewegung der sich erfassenden Endlichkeit über sich hinaus auf ein Unendliches hin, das nicht nur Konstruktion bzw. Projektion sein kann: „Die Annahme einer von den religiösen Vorstellungen der Menschen unterscheidbaren göttlichen Wirklichkeit kann sich nicht dogmatisch auf eine bestimmte religiöse Vorstellung stützen […] Dieser Schritt kann nur religionsphilosophisch unter Rückgriff auf den metaphysischen Begriff des Absoluten als Bedingung aller Erfahrung von Endlichem erfolgen”. Er ist unverzichtbar für die „Interpretation der Religionen”, denn er „bezeichnet […] die in den religiösen Vorstellungen intendierte, aber von ihnen auch kritisch zu unterscheidende göttliche Wirklichkeit” (SyTh I, 192 f.). Er bleibt als Begriff im Hinblick auf den „Gott der Religionen defizitär, insofern er nicht den Charakter des Personalen, der personal begegnenden Macht hat” (ebd.). Die Erfahrung umfassender Macht durchzieht die Religionsgeschichte. Sie wird so zum „Widerfahrnis”, das den Menschen mit der „Ganzheit seines eignen Daseins” und seiner „Welt” konfrontiert, zugleich mit der geheimnisvollen Tiefe dieser Ganzheit und ihrer ihn beanspruchenden Macht (GsTh, 284). Insofern diese Macht sich als personal beanspruchend zu erfahren gibt (SyTh I, 412), wird sich auch der Mensch als Adressat dieses Anspruchs seiner eigenen Ansprechbarkeit und Personalität bewusst werden (vgl. RGG, Person). Das religiöse Widerfahrnis hat also seine Geschichte. Allerdings wird der faktische geschichtliche Wandel den Religionen selbst kaum bewusst. Eher wird er in ihnen verdrängt, da sie zumeist auf eine urzeitlich gestiftete gleichbleibende Gestalt ihrer Tradition festgelegt sind. Den geschichtlichen Wandlungsprozess in das religiöse Bewusstsein aufgenommen zu haben, zeichnet Israel aus. Gott wird hier erkannt als einer, der sich immer wieder neu zeigt, auch auf dem Weg schmerzhafter Auflösungen von zunächst für endgültig gehaltenen Manifestationen seiner Macht, wie der Zerstörung des ihm doch verdankten politischen Königtums. Das Vertrauen auf seine weiterhin verlässliche Macht kann nur das Vertrauen auf seine durch ihn selbst verbürgte Zukunft sein. „Glaube” hat genau die Bedeutung dieses Vertrauens. Der Begriff der „wahren Unendlichkeit” besagt in seiner Konsequenz aber auch, dass die über die Endlichkeit hinausgehende Unendlichkeit, ihrerseits das Endliche zu umgreifen in der Lage ist. D.h im Widerfahrnis der göttlichen Macht wird diese Unendlichkeit als präsent erfahren. In dieser Hinsicht ist die „Religionsgeschichte als Erscheinungsgeschichte des göttlichen Geheimnisses” zu verstehen (GsTh, 290). Diese göttliche Unendlichkeit besagt aber auch, dass es keinen Standpunkt außerhalb ihrer geben kann. D. h. auch die Hinwendung zu Gott ist von ihm umfasst und getragen. Seine Unendlichkeit kommt sogar in dieser Hinwendung zu ihm erst wahrhaft zur Erscheinung, und dies geschieht

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Josef Schmidt SJ

geschichtlich konkret. In der Hinwendung Jesu zu diesem Gott wahrer Unendlichkeit und verlässlicher Zukunft kommt dieser Gott selbst vollkommen zur Erscheindung, geschichtlich kontingent und zugleich antizipativ unüberholbar in bezug auf die noch offene Zukunft. Er kommt zur Erscheinung als diese noch offene Zukunft, deren Offenheit und Geheimnistiefe aber nichts anderes ist als die Freiheit absoluter Zusage. Durch diese vorbehaltlos eindeutige Zusage, d.h: „Durch die in seinem Offenbarungshandeln sich offenbarende Liebe Gottes wird seine Einheit als Einheit des wahrhaft Unendlichen, die den Gegensatz zu seinem anderen übergreift, konstituiert” (SyTh I, 480). Der Begriff der „wahren Unendlichkeit”, zunächst Minimalbedingung der Gotteserkenntnis, hat damit geschichtlich und konkret einen Inhalt bekommen, der ihn in einer unüberbietbaren Weise erfüllt. Er ist hier in seiner denkmöglichsten Konkretisierung vorhanden, in seinem – um mit Anselm zu sprechen – „quo maius cogitari nequit”.

Harald Schöndorf SJ

Der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis Bemerkungen zu Friedrich Schleiermacher und Karl Rahner im Ausgang von Wolfhart Pannenberg1

1.

Wolfhart Pannenberg über die Gottesbeweise

In seinem Werk „Systematische Theologie“, das Gunther Wenz dankenswerterweise in einer Neuauflage herausgebracht hat, schreibt Wolfhart Pannenberg Schleiermacher eine bahnbrechende Wirkung zu, „indem er die Orientierung am Religionsbegriff mit dem Kriterium der subjektiven Erfahrung verband.“2 Es stellt sich freilich die Frage, ob man Schleiermachers „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ zutreffend als ein „Kriterium der subjektiven Erfahrung“ bezeichnen sollte. Denn hierunter wird üblicherweise die je individuelle subjektive Erfahrung verstanden, während Schleiermacher eine Grundstruktur des 1 Es werden für die Literaturangaben folgende Abkürzungen verwendet: Barth = Ulrich Barth, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen der ‚Glaubenslehre‘. Eine Replik auf K. Cramers Schleiermacher-Studie, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 329–351. CG = Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/31), hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York 1999. Cramer = Konrad Cramer, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewußtseins, in: Friedrich Schleiermacher 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, hg. v. Dietz Lange, Göttingen 1985, 129–162. GK = Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg u. a. 1976. HW =Karl Rahner, Hörer des Wortes, Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1 1941. KGA = Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 13,1: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003. ST = Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Gesamtausgabe, neu hg. v. Gunther Wenz, Bd. 1, Göttingen 2015. SW = Karl Rahner, Sämtliche Werke, hg. v. d. Karl-Rahner-Stiftung, Freiburg u. a. 2 ST, 50.

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Harald Schöndorf SJ

menschlichen Bewusstseins überhaupt meint. Dabei geht Pannenberg in diesem Zusammenhang noch nicht darauf ein, dass diese „Orientierung am Religionsbegriff“ an Hand „der subjektiven Erfahrung“ zunächst einmal den Zweck hat, den Begriff Gottes einzuführen, bevor sie zur Basis der weiteren Dogmatik wird. Dies erwähnt Pannenberg erst beiläufig im Zusammenhang mit seiner Schilderung der Theorie Ramseys, bei dem es sich „wie übrigens auch schon bei Schleiermacher“ so verhalte: „Der Gottesgedanke fungiert als Interpretament solcher [d. h. religiöser] Erfahrung.“3 Die weiteren Ausführungen Pannenbergs zu den hieraus folgenden Konsequenzen sollen uns an dieser Stelle nicht im Einzelnen interessieren. Von Wichtigkeit scheint vor allem Pannenbergs Charakterisierung des schleiermacherschen Vorgehens als einer „Begründung der Theologie und besonders der Dogmatik auf eine vorgängige Glaubensgewißheit oder Glaubenserfahrung“4, denn diese Vorgehensweise wurde dann auch von anderen Theologen übernommen. Was bezweckt aber Schleiermacher mit seinem Verweis auf eine „vorgängige Glaubensgewißheit oder Glaubenserfahrung“, wie dies Pannenberg nennt? Im weiteren Verlauf seiner „Systematischen Theologie“ kommt Pannenberg auf die Frage zu sprechen, was mit dem Wort „Gott“ gemeint ist und ob es so etwas wie eine „[n]atürliche Gotteserkenntnis und ‚natürliche Theologie‘“5, also eine Rede von Gott gibt, die sich (noch) nicht auf die Offenbarung stützt. Damit schneidet Pannenberg das berühmte Thema der Gottesbeweise6 an. Hierzu einige einführende sachliche Bemerkungen. Für Aristoteles ist es notwendig, dass eine Wissenschaft ein Objekt besitzt, das nicht nur ein Phantasieprodukt oder eine Möglichkeit darstellt, sondern tatsächlich existiert. Aus diesem Grund bringt Thomas von Aquin schon sehr früh in seiner Summa Theologiae einen Artikel, in dem er das Dasein Gottes nachweist. Denn im Gegensatz zu einer anderen Tradition, die in die frühe Christenheit zurückreicht (Thomas führt Johannes von Damaskus als ihren Vertreter an) und zur Zeit von Thomas in Bonaventura ihren wohl bedeutendsten Vertreter besitzt und die These vertritt, dass das Wissen um die Existenz Gottes uns allen eingegeben ist, so dass wir diese Existenz nicht eigens zu beweisen brauchen, vertritt Thomas die Position, dass ein solcher Beweis nötig ist. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass die „Gegner“ von Thomas zur damaligen Zeit nicht die Auffassung vertreten haben, es gebe keinen Gott, sondern dass die Überzeugung von der Existenz Gottes allenthalben geteilt wurde. Von daher erklärt sich, dass Thomas – zumindest in seiner Summa

3 4 5 6

ST, 76. ST, 53. ST, 83. Ausdrücklich mit der Überschrift ST, 93.

Der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis

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Theologiae – sich mit einem einzigen Artikel begnügen kann, in dem er ziemlich kursorisch seine berühmten „quinque viae“ (fünf Wege) der Reihe nach darlegt7. Dass er dabei jeweils von einem Faktum ausgeht, das die Welt betrifft, dürfte zwei Gründe haben: Zum einen folgt er damit der aristotelischen Devise, nach der alle Erkenntnis mit den Sinnen beginnt; zum anderen kann er auf diese Weise zeigen, dass der so aufgewiesene Gott nicht nur das höchste Wesen darstellt, wovon auch die antiken Philosophen überzeugt waren, sondern dass er entsprechend der speziell jüdisch-christlichen Überzeugung der freie Schöpfer der Welt ist, auch wenn dies erst an einer späteren Stelle ausdrücklich zum Thema wird. Schon zur Zeit der Kirchenväter geht es darum zu zeigen, dass Gott nicht zur Welt dazu gerechnet werden darf, sondern dass er als Schöpfer der Welt diese Welt transzendiert und ihr gegenüber jenseitig ist. Zum Beweis dessen eignet sich wohl am besten die Darlegung, dass nicht nur die verschiedenen Objekte in der Welt, sondern auch die Welt in ihrer Gesamtheit ihre Existenz sowohl deren Herkunft nach als auch in Bezug auf ihr Weiterexistieren nicht sich selbst verdankt. Die Welt ist nicht notwendig, sondern sie ist kontingent. Und man kann bei den fünf „Wegen“ des Thomas den Beweis aus der Bewegung ebenso wie den von der Verursachung als eine Variante des Kontingenzbeweises auffassen. So wird der Beweis Gottes aus der Kontingenz der Welt geradezu zum klassischen Beweis der Existenz Gottes in der christlichen Tradition, ohne dass damit andere Beweisgänge wie derjenige aus der Wahrheit (Augustinus), der aus der Unüberbietbarkeit des Gottesgedankens (Anselm, Proslogion), der aus der universalen Zweckmäßigkeit oder dann auch der aus dem Zusammenfall von Wesen und Sein Gottes (Descartes, 5. Meditation) sowie andere Beweisformen wie etwa die der 3. Meditation Descartes’ einfachhin ausgeschlossen wären. Es scheint mir aus den genannten Gründen darum weniger verwunderlich als Pannenberg, dass der Kontingenzbeweis „in allerdings veränderter Gestalt für die Neuzeit zum kosmologischen Beweis schlechthin geworden“ ist8. Der Kontingenzbeweis führt nämlich zu Gott als dem notwendigen Seienden, das in einem klaren ontologischen Gegensatz zu allen kontingenten Seienden steht, die den Grund ihrer Existenz nicht in sich haben können, sondern in einem anderen, nämlich dem notwendigen Seienden haben müssen. Damit erreicht die Argumentation das Beweisziel, nämlich die Existenz des Schöpfergottes. Die Argumentation mit der Ursache und der Bewegung führt hingegen jeweils zu einem ersten Verursachenden bzw. Bewegenden, bei dem nicht so eindeutig auf den ersten Blick ersichtlich ist, dass es sich hierbei um den Schöpfergott handelt. Man könnte nämlich die These vertreten, dass diese Argumente streng genommen eigentlich nur einen „Demiurgen“, also einen ursprünglichen Gestalter der Welt 7 Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 2, a. 3: „Utrum Deus sit“. 8 ST, 99.

172

Harald Schöndorf SJ

beweisen, der sich einer bereits existierenden Materie bedient. Man kann alle diese Beweisarten, die zu Gott als Schöpfer der Welt führen, als metaphysische Gottesbeweise (im engeren Sinn) bezeichnen, da sie sich alle auf metaphysische Überlegungen stützen und zu einem Gottesbegriff führen, der selbst nicht nur metaphysisch formuliert wird, sondern auch zu metaphysischen Aussagen über das Gott-Welt-Verhältnis führt. Kehren wir zurück zu Pannenbergs Darlegungen. Pannenberg bezeichnet Schleiermachers berühmte These von der Frömmigkeit als dem Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ausdrücklich als einen Gottesbeweis: „Zur Gruppe der […] Gottesbeweise […] gehören ferner […] Schleiermachers Aufweis eines schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls als Basis des menschlichen Selbstbewußtseins“9. Hierauf soll eigens aufmerksam gemacht werden, denn es scheint keineswegs der Fall zu sein, dass andere Autoren auch immer dieser Auffassung sind. Zumindest findet sich, wenn ich recht sehe, in den zwei neueren Artikeln zu Schleiermachers These, auf die ich noch näher eingehen möchte10, keine derartige Behauptung, so dass vermutet werden darf, dass deren Autoren hierin nicht unbedingt einen Gottesbeweis sehen. Pannenberg erwähnt Schleiermachers These im Rahmen anderer Gottesbeweise, die er als „anthropologische“ bezeichnet. Für Pannenberg vollzieht nämlich Descartes mit der Argumentation seiner dritten Meditation „die Wendung von der kosmologischen zur anthropologischen Begründung der Gottesbeweise“. Es werde aber „mit dieser anthropologischen Wende die Objektivität des Gottesgedankens gefährdet“, denn die Tragfähigkeit des Arguments, „daß die Gottesidee nicht als Produkt des menschlichen Geistes aufgefaßt werden könne, weil sie diesen unendlich übersteigt“, sei zweifelhaft. Der Grund hierfür liegt nach Pannenberg darin, dass man in Zweifel ziehen kann, dass die Gottesidee den menschlichen Geist „unendlich übersteigt“11. Mit diesem Einwand bleibt Pannenberg allerdings auf der vordergründigen Ebene des Gottesbeweises der 3. Meditation stehen und wendet sich nicht dem eigentlichen Argument Descartes’ zu, das freilich erst bei genauerem Hinsehen zu entdecken ist, dass wir nämlich unsere Endlichkeit sowohl im Erkennen (wie der Zweifel zeigt) als auch im Wollen (wie unsere Bedürftigkeit zeigt) nicht als bloßes Faktum, sondern als Mangel, als Defizit erfahren, was notwendigerweise die Differenz zu dem einschließt, was (bzw. der) kein Mangel und kein Defizit ist, nämlich der unendliche und vollkommene Gott. Man könnte interpretierend hinzufügen, dass Descartes mit dieser Überlegung aufgezeigt hat, dass die von Heidegger so genannte Faktizität und Geworfenheit des Menschen eben gerade nicht als bloßes Faktum, 9 ST, 105. 10 Barth; Cramer. 11 ST, 101.

Der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis

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sondern ihrem Wesen nach als Defizienz und somit notwendigerweise als Bezogenheit auf das nicht (bloß) Faktische und Geworfene erfahren wird. Gerade wer wirklich „Phänomenologie“ treibt, müsste darum anerkennen, dass sich die Frage nach dem Woher der Geworfenheit nicht von der Erfahrung der Geworfenheit selbst trennen lässt. In diesem Punkt ist Descartes zweifellos der bessere Phänomenologe als Heidegger. Pannenberg ist freilich der Auffassung, dass die „anthropologische Interpretation der Gottesbeweise […] zur Basis einer atheistischen Argumentation werden“ konnte, die den Gottesgedanken als menschliche Projektion auffasst12. Zu dieser Bemerkung sei allerdings darauf hingewiesen, dass gerade die 3. Meditation von Descartes ein durchschlagendes Gegenargument gegen den Projektionsverdacht enthält, das aber vermutlich oft nicht in seiner wahren Bedeutung erfasst wird. Es handelt sich nämlich um den Hinweis darauf, dass auch eine noch so weitgehend gedachte Ausweitung der Reichweite unserer Fähigkeiten eben so wenig den Unterschied zwischen einer solchen potentiellen (Hegel hätte gesagt „schlechten“) Unendlichkeit und der wahren aktuellen Unendlichkeit tilgen kann wie eine Asymptote jemals wirklich mit der Geraden in eins fallen kann, der sie sich immer weiter annähert. Für Pannenberg besteht die „Funktion der anthropologischen ‚Gottesbeweise‘ […] in dem Nachweis, daß der Gottesgedanke wesentlicher Bestandteil eines angemessenen Selbstverständnisses des Menschen ist“13. Eine weitergehende Reichweite will er ihnen nicht zuerkennen. Vielmehr behauptet er von den „anthropologischen“ Gottesbeweisen apodiktisch: „Keines dieser anthropologischen Argumente vermag im strengen Sinne das Dasein Gottes zu beweisen.“ Zur Bekräftigung dieser These fügt er unmittelbar an: „In den meisten Fällen wird ein derartiger Anspruch auch nicht erhoben, sondern nur ein Bezogensein des Menschen auf eine Mensch und Welt transzendierende, im übrigen unerforschliche Wirklichkeit behauptet, […]“14 Ich fürchte freilich, dass sich diese Behauptung Pannenbergs leicht widerlegen lässt, wenn man nur die von ihm genannten Autoren, wozu neben den von mir angeführten Denkern u. a. Augustinus (Wahrheit), Kant (moralischer Beweis), Fichte, Schleiermacher und Kierkegaard zählen15, der Reihe nach untersucht. Selbst bei Kant lässt sich zumindest an manchen Stellen die Frage stellen, ob er den moralischen Beweis nicht als ein stringentes Argument ansieht. Das eigentliche Argument für seine These führt Pannenberg anschließend an: „Um einen eigentlichen Beweis des Daseins Gottes kann es sich außerdem schon deswegen nicht handeln, weil das Dasein Gottes in Beziehung nicht nur auf den 12 13 14 15

ST, 104. ST, 105. ST, 106. ST, 105 f.

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Harald Schöndorf SJ

Menschen, sondern auch und vor allem auf die Weltwirklichkeit erwiesen werden müßte. Darin ist die bleibende Bedeutung der kosmologischen Beweisarten und das Interesse an ihnen auch noch im gegenwärtigen Denken begründet. Von Gott, zumal als Singularetantum, läßt sich nur unter der Bedingung sinnvoll sprechen, daß er als Ursprung der Welt denkbar ist und daß die Weltwirklichkeit als angewiesen auf eine Begründung ihres Seins zu verstehen ist, die nicht in ihr selbst gefunden werden kann und deren Bedingungen in den kosmologischen Argumenten formuliert worden sind.“ Im Folgenden werden dann freilich auch diese Ausführungen nochmals relativiert, insofern Pannenberg nun behauptet, die kosmologischen Argumente seien „insofern anthropologisch fundiert, als ihnen das Bedürfnis der menschlichen Vernunft nach einer letzten Erklärung für das Dasein der Welt zugrunde liegt.“16 Trifft Pannenbergs Beurteilung der Gottesbeweise, die er als „anthropologisch“ bezeichnet, aber wirklich zu? Die Bezeichnung „anthropologisch“ dient für Pannenberg offensichtlich nicht nur als Charakterisierung einer bestimmten philosophischen Herangehensweise, also eines bestimmten Ausgangspunktes, sondern soll die gesamte Argumentation kennzeichnen. Dies entspricht auch dem üblichen Wortgebrauch von philosophischer „Anthropologie“, womit man eine bestimmte philosophische Disziplin im Gegensatz zu anderen und nicht zuletzt im Gegensatz zu einer umfassenden Metaphysik oder Ontologie meint. Denn nur unter dieser Voraussetzung sind Pannenbergs kritische Bemerkungen zu „anthropologischen“ Gottesbeweisen sinnvoll und nachvollziehbar. Handelt es sich nun aber bei den von Pannenberg genannten Argumentationen tatsächlich um „anthropologische“ Argumente im angegebenen Sinn? Für das Wahrheitsargument von Augustinus trifft diese Charakterisierung sicher nicht zu, denn die Wahrheit ist für Augustinus nicht nur etwas Menschliches. Augustinus hat einen normativen Wahrheitsbegriff, den man durchaus zugleich als metaphysisch bezeichnen kann. Augustinus denkt in der platonischen Tradition, in der die Wahrheit selbstverständlich über dem Menschen steht. Dies zeigt sich schon in ihrer Qualifikation als etwas Höchstes und Unüberbietbares. Dies ist selbstverständlich ontologisch und nicht nur in Beziehung auf den Menschen gemeint. Denn der Geist umfasst und umgreift die gesamte Wirklichkeit, wie dies für platonisches und neuplatonisches Denken selbstverständlich ist. Bei Descartes handelt es sich um einen ganz anderen Fall. Am Ende seiner 2. Meditation gibt es nur die Gewissheit der Existenz meiner selbst als geistiges Wesen. Von diesem Ausgangspunkt aus sucht Descartes nach einem Weg, um die mögliche Existenz anderer Wesen nachweisen zu können. Zu diesem Zweck unternimmt er seinen Gottesbeweis. Dass dies nicht der einzige Zweck dieses 16 ST, 106.

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Gottesbeweises ist, sei hier nur angemerkt, kann in diesem Zusammenhang aber nicht im Einzelnen erörtert werden. Entscheidend ist, dass der von Descartes selbst genannte Grund darin besteht, über die bloße Existenz meiner selbst hinauszukommen. Dies bedeutet aber zugleich, dass die einzige existierende Grundlage, die für diesen Beweis zur Verfügung steht, in der Existenz meiner selbst besteht. Ein Gottesbeweis, der von dieser Grundlage ausgeht, ist darum nicht „anthropologisch“, sondern metaphysisch: Die Meditationen „über die erste Philosophie“ sind ja nichts anderes als „metaphysische Meditationen“, wie der lateinische Titel gerne ins Französische übersetzt wird. Am Ende der zweiten Meditation kennt die cartesische Metaphysik eben noch nichts weiteres Existierendes als das Ich. Darum muss sie dieses Ich zur Basis aller weiteren Überlegungen nehmen. Wer dies als „anthropologisch“ bezeichnet und darin einen Gegensatz zu einer anderen metaphysischen Vorgehensweise sieht, unterliegt dem Irrtum, es gäbe an dieser Stelle auch die Möglichkeit, eine weiter gespannte Metaphysik, die auch die Welt einbezieht, als Ausgangspunkt zu wählen. Diese Möglichkeit besteht für Descartes aber an dieser Stelle nicht. Dasselbe gilt für alle transzendentalphilosophischen und idealistischen Argumente für die Existenz Gottes, also für die Argumente Kants und der deutschen Idealisten. Es liegt in der notwendigen Konsequenz ihres philosophischen Ansatzes, dass sie vom Bewusstsein des Ich ausgehen müssen. Darum ist es auch in diesen Fällen verfehlt, von anthropologischen Gottesbeweisen zu sprechen. Denn diese Rede setzt voraus oder suggeriert zumindest, es handle sich um Anthropologie im Sinne eines ganz bestimmten ontologischen Bereichs – im Gegensatz etwa zu Kosmologie oder zu philosophischer Theologie, wie das Wort Anthropologe üblicherweise verwendet wird. Genau darum handelt es sich aber bei den genannten Autoren nicht. Vielmehr gibt ihnen ihr philosophischer Denkansatz gar keine Möglichkeit, einen Gottesbeweis im Ausgang von der Welt zu führen. Wer dies anthropologisch nennt, der müsste auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ oder Fichtes „Wissenschaftslehre“ als Anthropologie bezeichnen, was doch offensichtlich verfehlt ist. Man kann in diesen Fällen von Subjektphilosophie oder Bewusstseinsphilosophie sprechen, aber das ist etwas ganz anderes als Anthropologie. Pannenberg hätte also die genannten Gottesbeweise als subjektphilosophisch oder bewusstseinsphilosophisch charakterisieren müssen. Denn es geht hierbei nicht um Anthropologie, sondern es geht um die Grundfrage des Verhältnisses von Denken und Sein überhaupt.

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Friedrich Schleiermacher: Die schlechthinnige Abhängigkeit

Ein spezielles Problem für die Gottesbeweise stellte sich offensichtlich in der Folge von Kants Philosophie. Nach der, wie es scheint, so ziemlich allgemeinen Auffassung wurde die Kritik, die Kant an den Beweisen für das Dasein Gottes führt, als eine Widerlegung all dieser metaphysischen Gottesbeweise aufgefasst. Dies trifft zwar so pauschal nicht zu, wie Kant selbst gegen Ende seiner „Transzendentalen Dialektik“ ausdrücklich zeigen will, wo er betont, dass er nicht die Existenz Gottes in Frage stellt, sondern nur bestreitet, dass wir über ihn inhaltliche Aussagen machen können, aber dies kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden.17 Dass Kant in der öffentlichen Meinung der Gelehrten die klassischen Gottesbeweise diskreditiert hatte, wird wohl niemand bestreiten können. In einer handschriftlichen Anmerkung erklärt Schleiermacher folglich die Gottesbeweise für gescheitert und schreibt, dass „alle Versuche, das spekulative Gottesbewußtsein zu popularisieren (Beweise vom Dasein Gottes), mißlungen sind.“18 Damit wurde aber die Existenz Gottes für die Intellektuellen der Aufklärung zu einer problematischen Angelegenheit. Somit galt es, gegen die verbreitete Auffassung der Gelehrten die Existenz Gottes und die christliche Religion zu verteidigen, wie der Titel des ersten Werkes Schleiermachers es in aller Deutlichkeit ausdrückt: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.“ Schleiermacher sieht sich mit zwei verschiedenen Tendenzen konfrontiert: Die eine bestand darin, die Religion im Stil der Aufklärung und wohl auch mehr oder weniger im Sinne Kants auf Moral zu reduzieren; die andere war die Methode der Denker des Deutschen Idealismus, die (mit Ausnahme des späten Schelling) die Religion in spekulative Philosophie „aufgehoben“ haben. Bekanntlich wehrt sich Schleiermacher in seinen berühmten Reden über die Religion gegen beide Tendenzen und arbeitet heraus, dass – jedenfalls nach seiner Auffassung – die Religion weder Moral noch Wissen ist, sondern etwas eigenständiges Drittes, eine Art Verbindung von Anschauung und Gefühl. Dabei 17 „Frägt man denn also […] erstlich: ob es etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte, so ist die Antwort: ohne Zweifel. […] Ist zweitens die Frage: ob dieses Wesen Substanz, von der größten Realität, notwendig etc. sei, so antworte ich: daß diese Frage gar keine Bedeutung habe. Denn alle Kategorien […] haben gar keinen Sinn, wenn sie nicht auf Objekte möglicher Erfahrung, d.i. auf die Sinnenwelt angewandt werden.“ (Kritik der reinen Vernunft B 723) „Auf solche Weise aber können wir doch […] einen einigen [= einzigen] weisen und allgewaltigen Welturheber annehmen? Ohne allen Zweifel; und nicht allein dies, sondern wir müssen einen solchen voraussetzen. Aber alsdann erweitern wir doch unsere Erkenntnis über das Feld möglicher Erfahrung? Keineswegs. Denn wir haben nur ein Etwas vorausgesetzt, wovon wir gar keinen Begriff haben, was es an sich selbst sei […]“ (B 725 f.) – Vgl. hierzu: Ruben Schneider, Kant und die Existenz Gottes. Eine Analyse zu den ontologischen Implikationen in Kants Lehre vom transzendentalen Ideal, Berlin 2011. 18 CG, 29 (Fußnote); KGA, 38 (Fußnote).

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ist der Ausdruck „Gefühl“ zur damaligen Zeit noch ein relativ neues Wort und darum in seiner Bedeutung noch nicht völlig eindeutig festgelegt. Geschichte gemacht haben allerdings weniger die Reden „Über die Religion“ als vielmehr Schleiermachers Definition der Religion bzw., wie er sich ausdrückt, der Frömmigkeit, in seiner späteren Dogmatik „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt“, deren 2. Auflage 1830/31 erschienen ist. Hier findet sich die berühmt gewordene Formulierung: „§ 3. Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins.“19 Obwohl diese Formulierung allbekannt und vielfältig untersucht ist, soll sie an dieser Stelle noch einmal Thema werden. Denn die These, die ich hier vertreten möchte, lautet nicht nur, dass Schleiermacher mit seiner „Definition“ der Frömmigkeit einen Gottesbeweis vorlegt – was auch Pannenberg so sieht, wie oben gezeigt wurde –, sondern dass es sich bei diesem Gottesbeweis um die bewusstseinstheoretische Umwandlung des klassischen Kontingenzbeweises handelt. Dass Schleiermacher einen Beweis und nicht nur eine interessante Theorie vorlegen will, geht nicht zuletzt daraus hervor, dass er nach der Darlegung des Verhältnisses von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit schreibt: „Zu diesen Sätzen kann die Zustimmung unbedingt gefordert werden, und keiner wird sie versagen, der einiger Selbstbeobachtung fähig ist, und Interesse an dem eigentlichen Gegenstand unserer Untersuchungen finden kann.“20 Schleiermacher ist also von der Stringenz seiner Phänomenanalyse und seiner Argumentation überzeugt. Sehen wir uns näher an, wie Schleiermacher seine Position erläutert: Er hält allem Anschein nach an der These fest, dass die „Frömmigkeit“, wie er jetzt die Religion nennt, weder mit Philosophie (Wissen) noch mit Moral (Tun) gleichgesetzt werden darf, sondern ihren Ort im „Gefühl“ hat, wie er dies bereits in seinen Reden „Über die Religion“ verteidigt hatte. Aber es stellt sich nun die Frage, was Schleiermacher denn genau unter dem Begriff „Gefühl“ versteht und verstanden wissen will, auch wenn dieser Begriff inzwischen in der Alltagssprache eine gängige Bedeutung erlangt hat, wie Schleiermacher anmerkt. Als erstes zeigt sich hierbei, dass Schleiermacher das „oder“, mit dem er an der zitierten Stelle Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein verbindet, als ein „oder“ versteht, das zwei Synonyma miteinander verbindet. Gefühl und Selbstbewusstsein sind zumindest hier „als gleichgeltend“ anzusehen. Ferner darf der „Ausdruck Gefühl“ nicht „in einem so weiten Sinne“ gebraucht werden, „daß er auch bewußtlose Zustände darunter begreift“, und es „ist dem Ausdruck 19 CG, 14; KGA, 19 f. 20 CG, 25; KGA, 34.

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Selbstbewußtsein die Bestimmung unmittelbar hinzugefügt“, um es von einem „Bewußtsein von sich selbst“ zu unterscheiden, „welches mehr einem gegenständlichen Bewußtsein gleicht, und eine Vorstellung von sich selbst und als solches durch die Betrachtung seiner selbst vermittelt ist.“ Von diesem gegenständlichen und folglich nicht unmittelbaren Selbstbewusstsein sagt Schleiermacher im Folgenden: „Rückt eine solche Vorstellung von uns selbst, wie wir uns in einem gewissen Zeitteil finden, denkend z. B. oder wollend, ganz nahe, oder durchschießt schon gar die einzelnen Momente des Zustandes: so erscheint dies Selbstbewußtsein als den Zustand selbst begleitend.“21 Die anschließenden Ausführungen lassen darauf schließen, dass für Schleiermacher das gegenständliche Selbstbewusstsein immer diesen Begleitcharakter besitzt. Denn er sagt nun: „Jenes eigentliche unvermittelte Selbstbewußtsein aber, welches nicht Vorstellung ist, sondern im eigentlichen Sinne Gefühl, ist keinesweges immer nur begleitend; vielmehr wird jedem in dieser Hinsicht eine doppelte Erfahrung zugemutet. Einmal daß es Augenblicke gibt, in denen hinter einem irgendwie bestimmten Selbstbewußtsein alles Denken und Wollen zurücktritt; dann aber auch, daß bisweilen dieselbe Bestimmtheit des Selbstbewußtseins während einer Reihe verschiedenartiger Akte des Denkens und Wollens unverändert fortdauert, mithin auf diese sich nicht bezieht und sie also auch nicht im eigentlichen Sinne begleitet.“22 Auch wenn Schleiermacher anschließend als Beispiele für „eigentliche Gefühlszustände“ die affektiv-emotionalen Empfindungen „Freude und Leid“23 anführt, so enthält doch seine bisher erfolgte Darlegung dessen, was er unter Gefühl versteht, kein emotionales oder affektives Moment, sondern beschränkt sich darauf, eine bestimmte Art von Selbstbewusstsein zu charakterisieren, nämlich das „unvermittelte“ Selbstbewusstsein. Mir scheint, dass man nicht genug darauf insistieren kann, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass der Begriff des „unvermittelten“ Selbstbewusstseins, wie immer er auch genauer zu deuten ist, den Bereich des Affektiven und Emotionalen im Gegensatz zu anderen Bereichen des Selbstbewusstseins meinen würde. Immer wieder lassen sich die Interpreten von der heutigen Bedeutung des Wortes „Gefühl“ verführen, etwas in Schleiermachers Terminologie hineinzuinterpretieren, was Schleiermachers Definitionen und Erklärungen nicht hergeben. Schleiermacher schneidet damit ein Thema an, das die Philosophie bis heute nicht zur Ruhe kommen lässt: Wie lässt sich das Selbstbewusstsein angemessen verstehen? Diese Diskussion kann freilich hier nicht geführt werden. Für die nähere Analyse der Duplizität unseres Selbstbewusstseins, das für Schleiermacher

21 CG, 16; KGA, 22 f. 22 CG, 16 f.; KGA, 23. 23 CG, 17; KGA, 23.

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Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit beinhaltet24, sei auf die oben genannten Artikel von Cramer und Barth25 verwiesen, die jedoch nicht in jedem Punkt derselben Meinung sind. Schleiermacher lehnt es an der oben zitierten Stelle ab, das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit als ein „begleitendes“ Bewusstsein zu verstehen. Damit ist offensichtlich gemeint, dass dieses Bewusstsein der Abhängigkeit nicht von einem ganz bestimmten anderen Bewusstsein abhängt und nur als dessen Begleiterscheinung vorkommt. Dies legt die Frage nahe, ob das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit nur bei bestimmten Gelegenheiten da ist oder ob es sich bei ihm um ein ständiges Bewusstsein handelt. Eine Antwort auf diese Frage gibt Schleiermacher gegen Ende seiner Analyse, wenn er gegen Ende von § 4,3 schreibt: „Allein eben das unsere gesamte Selbsttätigkeit, also auch, weil diese niemals Null ist, unser ganzes Dasein begleitende schlechthinnige Freiheit verneinende Selbstbewußtsein ist schon an und für sich ein Bewußtsein schlechthinniger Abhängigkeit; […]“26 Es handelt sich hierbei also um ein ständig vorhandenes Bewusstsein. An das soeben angeführte Zitat fügt Schleiermacher dann den Satz an: „Ohne alles Freiheitsgefühl aber wäre ein schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl nicht möglich.“27 Was meint Schleiermacher mit dieser nicht weiter von ihm erläuterten Bemerkung? Zunächst einmal könnte man sagen, dass Schleiermacher darauf hinweisen will, dass die von ihm vorgelegte Analyse der „Wechselwirkung“ von Freiheit und Abhängigkeit notwendig ist, weil erst nach ihr verständlich werden kann, dass wir das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit besitzen. Damit ist aber noch keine inhaltliche Antwort auf die Frage gegeben, inwiefern das Freiheitsgefühl eine Bedingung für das Abhängigkeitsgefühl darstellt. Diese Antwort kann wohl nur darin bestehen, dass es die hier gemeinte Abhängigkeit überhaupt nur als Negation – vielleicht könnte man auch sagen: als die Kehrseite von Freiheit geben kann. Mit anderen Worten heißt dies, dass es nicht einfach um eine rein naturhafte kausale Abhängigkeit geht, sondern um die Abhängigkeit, und das heißt zugleich Begrenztheit unserer Freiheit. Wie lässt sich nun aber meine These begründen, dass uns Schleiermacher eine bewusstseinstheoretische Version des Kontingenzbeweises vorlegt? Dass Schleiermacher den Kontingenzbeweis kannte, kann vorausgesetzt werden, war dieser Beweis doch, wie Pannenberg schreibt, „für die Neuzeit“ – und das heißt, zumindest für die Zeit bis hin zu Kants kritischer Philosophie – „zum kosmologischen Beweis schlechthin geworden“28. Es liegt also schon von der Sache her nahe zu vermuten, dass Schleiermacher nach dem Siegeszug der kantischen Philoso24 25 26 27 28

Vgl. CG, 24; KGA, 34. S. oben Anm. 10. CG, 28; KGA, 38. Ebd. Vgl. Anm. 8.

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phie einen Gottesbeweis sucht, der zum selben Resultat führt wie das Kontingenzargument. Es gibt nun eine Stelle in Schleiermachers Argumentation, wo er der Sache nach genau auf unsere Kontingenz verweist, auch wenn er nicht diesen Terminus verwendet. Er sagt hier nämlich: „auch die Gesamtheit unserer inneren freien Bewegungen als Einheit betrachtet kann nicht durch ein schlechthinniges Freiheitsgefühl repräsentiert werden, weil unser ganzes Dasein uns nicht aus unserer Selbsttätigkeit hervorgegangen zum Bewusstsein kommt.“ Wenn „unser ganzes Dasein“ uns nicht als Produkt unserer eigenen Freiheit bewusst ist – eine Formulierung, die wohl mit Bedacht gegen verschiedene idealistische Philosophien gewählt ist –, so heißt dies nichts anderes, als dass wir den Grund unserer Existenz nicht in uns selbst tragen. Statt dessen haben wir „das Bewußtsein, daß unsere ganze Selbsttätigkeit […] von anderwärts her ist“29. In dieser Darlegung besteht das entscheidende Argument für Schleiermachers These. Das „Gefühl“ der schlechthinnigen Abhängigkeit ist nichts anderes als das Bewusstsein dessen, dass wir nicht selbst der Ursprung unserer Freiheit sind. Wir sind uns also dessen bewusst, dass unsere Freiheit nicht absolut ist, sondern einen anderen Ursprung hat, woraus sich klarerweise ergibt, dass wir kontingent sind, auch wenn Schleiermacher diesen Ausdruck nicht gebraucht – vermutlich, weil er nur in einer metaphysischen, nicht aber in einer bewusstseinstheoretischen Philosophie seinen Ort hat. Vielleicht liegt der Grund für das Fehlen des Ausdrucks „kontingent“ darin, dass es Schleiermacher nicht nur um eine allgemeine seinsmäßige Kontingenz geht, sondern dass die Pointe seiner Darlegungen gerade darin besteht aufzuzeigen, dass unsere gesamte Freiheit kontingent und gerade nicht absolut ist, wie dies manche idealistische Denkentwürfe suggerieren. Angesichts dessen, dass Schleiermacher das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit mit dem Gottesbegriff verknüpft, sagt also Hans-Peter Großhans zu Recht: „Mit dem Ausdruck ‚Gott‘ findet das Selbstgefühl des Menschen die Sprache dafür, dass das eigene Dasein mitsamt der es umgebenden Welt in einem grundsätzlichen Sinn kontingent gegeben ist.“30 Nun muss freilich auf einen Einwand eingegangen werden, der sich aus dem Artikel von Ulrich Barth ergeben könnte. Da Konrad Cramer das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit zum „Bewusstsein einer wissenden“ und somit, wie es scheint, nicht mehr unvermittelten „Selbstbeziehung“ macht31, sucht Ulrich Barth nach einer anderen Deutung dieses Gefühls. Zu diesem Zweck muss er den Ausdruck „unser ganzes Dasein“ so interpretieren, dass sich hieraus keine weitere Bewusstseinsebene herleiten lässt. Wenn Schleiermacher vom ganzen 29 CG, 28; KGA 38. 30 Hans-Peter Großhans, Gottesverhältnis und Freiheitsgefühl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne, in: Schleiermacher – Denker für die Zukunft des Christentums?, hg. v. Andreas Arndt u. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 2011, 11–30; 21. 31 Cramer, 153.

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Dasein, von unserer ganzen Selbsttätigkeit und dgl. spreche, so heißt dies nur, dass das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit „im Bewußtsein der generellen Angewiesenheit der Spontaneität auf von ihr selbst nicht Erzeugtes“ besteht. Das Bewusstsein, „in einem unverfügbaren Grundverhältnis zu stehen, entspringt der dem welthaften Freiheitsgebrauch selbst und als solchem innewohnenden Erfahrung der Begrenztheit der eigenen Spontaneität.“32 Es fragt sich freilich, ob diese These Barths nicht das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit auf die Erfahrung der Duplizität von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit reduziert, während Schleiermacher in der radikalen Abhängigkeit doch etwas Grundlegenderes zu sehen scheint. In dem Bemühen, keine neue Bewusstseinsebene zu eröffnen, die dann der Reflexion angehören müsste und nicht mehr unvermittelt wäre, scheint Barth ins gegenteilige Extrem zu tendieren und dem Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit gar keine echte Eigenständigkeit mehr zugestehen zu wollen. Aber warum soll es nicht ein Bewusstsein unseres ganzen Daseins geben, bei dem dieses „Dasein“ im klassischen Sinn der realen Existenz zu verstehen ist und nicht als Summe aller Freiheitsakte o. ä.33 rekonstruiert werden muss? Wenn man eine der entscheidenden Stellen genau betrachtet, so lautet sie wie folgt: „Soll aber das Freiheitsgefühl nur eine innere selbsttätige Bewegung aussagen, so hängt nicht nur jede einzelne solche mit dem jedesmaligen Zustand unserer erregten Empfänglichkeit zusammen, sondern auch die Gesamtheit unserer inneren freien Bewegungen als Einheit betrachtet kann nicht durch ein schlechthinniges Freiheitsgefühl repräsentiert werden, weil unser ganzes Dasein uns nicht aus unserer Selbsttätigkeit hervorgegangen zum Bewusstsein kommt.“34 Es ist nicht ersichtlich, wieso „unser ganzes Dasein“ an dieser Stelle ein anderer Ausdruck für „die Gesamtheit unserer inneren freien Bewegungen“ sein soll, worauf Barths Interpretation hinauszulaufen scheint. Wenn Schleiermacher dies gemeint hätte, so hätte er einfacher und unmissverständlicher statt „unser Dasein“ „diese Gesamtheit“ sagen können. Es ist interessant, dass beide Autoren damit Probleme bekommen, dass Schleiermacher nicht mehr genau darauf eingeht, in welcher konkreten Weise uns denn die verschiedenen von ihm genannten Bewusstseinsarten und -zustände tatsächlich zu Bewusstsein kommen und gegenwärtig sind. Es handelt sich nicht um ein begriffliches, also gegenständliches Bewusstsein, sondern um ein unvermitteltes Bewusstsein, aber reicht diese Qualifikation schon aus, um wirklich Klarheit darüber zu erlangen, von welcher Art zum einen das Bewusstsein der Duplizität und zum anderen das Bewusstsein der schlechthinnigen 32 Barth, 340. 33 So will Barth den Begriff „unser ganzes Dasein […] relational-additiv und die durch ihn bezeichnete Ganzheit des Subjekts nicht als strukturelle, sondern als kollektive Einheit […] verstehen.“ Barth, 345. 34 CG, 28; KGA, 38.

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Abhängigkeit ist? Es kann sich ja in keinem Fall um das handeln, was die klassische Tradition als die „intentio directa“, das direkt fokussierte gegenständliche Erfassen beschrieben hat, sondern es muss sich um eine Art Mit- oder Hintergrundbewusstsein handeln, das man sich aber reflex gegenständlich machen kann, denn sonst könnte man nicht darüber philosophieren. Um den beiden genannten Autoren wirklich gerecht zu werden, müsste detaillierter auf ihre Analysen der Ausführungen Schleiermachers eingegangen werden und es müsste das Problem erörtert werden, wie sich die Duplizität des Selbstbewusstseins genau zum Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit verhält, ohne dass man dabei in Widersprüche zu Schleiermachers Erläuterungen gerät. Aber es geht hier lediglich darum, einen möglichen Einwand abzuwehren, der darin bestünde zu sagen, dass Schleiermacher unter unserem „ganzen Dasein“ etwas anderes verstehe als das, was jeder normale Mensch hierunter versteht, und dass es deshalb nicht angebracht sei, hier von Kontingenz zu sprechen. Denn dieser Einwand basiert, wie mir scheint, auf der Ansicht, dass der bewusstseinsphilosophische Ansatz, von dem Schleiermacher ausgeht, in strenger Konsequenz durchgehalten und von jeder metaphysischen Vermischung rein gehalten werden müsse. Dies ist aber alles andere als evident. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, nämlich zu Schleiermachers Äußerung, dass dieses Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit auf Gott verweist. Schleiermacher formuliert dies so: „§ 4. Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.“35 Dies wird dann etwas später genauer erläutert: „4. Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, daß eben das in diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist. Hiebei ist nur zuerst noch aus dem vorigen zu erinnern, daß dieses Woher nicht die Welt ist in dem Sinne der Gesamtheit des zeitlichen Seins, und noch weniger irgendein einzelner Teil derselben. Denn das wenngleich begrenzte Freiheitsgefühl, welches wir in bezug auf sie haben, teils als ergänzende Bestandteile derselben, teils indem wir immerfort in der Einwirkung auf einzelne Teile derselben begriffen sind, und die uns gegebene Möglichkeit einer Einwirkung auf alle ihre Teile, lassen nur ein begrenztes Abhängigkeitsgefühl zu, schließen aber das schlechthinnige aus. Nächstdem ist zu bemerken, daß unser Satz der Meinung entgegentreten will, als ob dieses Abhängigkeitsgefühl selbst 35 CG, 23; KGA, 32.

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durch irgendein vorheriges Wissen um Gott bedingt sei. […] Wenn aber das Wort überall ursprünglich mit der Vorstellung eins ist, und also der Ausdruck Gott eine Vorstellung voraussetzt: so soll nur gesagt werden, daß diese, welche nichts anders ist als nur das Aussprechen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls, die unmittelbare Reflexion über dasselbe, die ursprünglichste Vorstellung sei, mit welcher wir es hier zu tun haben, ganz unabhängig von jenem ursprünglichen eigentlichen Wissen, und nur bedingt durch unser schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl, so daß Gott uns zunächst nur das bedeutet, was in diesem Gefühl das Mitbestimmende ist, und worauf wir dieses unser Sosein zurückschieben, jeder anderweitige Inhalt dieser Vorstellung aber erst aus dem angegebenen Grundgehalt entwickelt werden muß. Eben dies ist nun vorzüglich gemeint mit der Formel, daß Sich-schlechthin-abhängig-Fühlen und Sich-seiner-selbst-als-inBeziehung-mit-Gott-bewußt-Sein einerlei ist, weil nämlich die schlechthinnige Abhängigkeit die Grundbeziehung ist, welche alle anderen in sich schließen muß. Der letzte Ausdruck schließt zugleich das Gottesbewußtsein so in das Selbstbewußtsein ein, daß beides, ganz der obigen Auseinandersetzung gemäß, nicht voneinander getrennt werden kann. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl wird nur ein klares Selbstbewußtsein, indem zugleich diese Vorstellung wird. Insofern kann man wohl auch sagen, Gott sei uns gegeben im Gefühl auf eine ursprüngliche Weise; und wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer eben dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden schlechthinnigen Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist.“36 Dieser reichhaltige Text kann hier nicht in allen seinen Einzelheiten durchleuchtet werden. Es soll nur auf einige zentrale Punkte aufmerksam gemacht werden. Zunächst einmal stellt Schleiermacher klar, dass uns in diesem Gefühl Gott als der Ursprung unseres Daseins gegeben ist. Wie Konrad Cramer zu der 36 CG, 28–30; KGA 38–40. Konrad Cramer behauptet, das schlechthinnige Abhängigkeitsbewusstsein schließe es aus, „etwas Bestimmtes zu identifizieren, von dem man sich da abhängig fühlt.“ Das „Wovon“ dieser Abhängigkeit sei „gerade keiner Bestimmung und daher auch keiner objektivierenden Deutung fähig“ (Cramer, 136). Er spricht später geradezu von „der absoluten Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des intentionalen Gegenstandes des Bewußtseins der schlechthinnigen Abhängigkeit“ (Cramer, 156). Diese Überlegung wird später weitergeführt mit der Behauptung: „Das ‚Woher‘ unseres ganzen empfänglichen und selbsttätigen Daseins ist kein mögliches Objekt unseres Wissens. Denn Objekte unseres Wissens sind die Dinge in der Welt und das Ensemble dieser Dinge, die Welt selber.“ (Cramer, 160) Die zuletzt genannte These scheint der Grund dafür zu sein, dass Cramer dem Grund unserer Abhängigkeit keine Bestimmbarkeit zuschreiben will, denn bei Schleiermacher scheint mir eine derartige These nicht anzutreffen zu sein. Sie entspringt allem Anschein nach eher der philosophischen Grundüberzeugung Cramers als dem Denken Schleiermachers.

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Interpretation gelangt, das „‚Woher‘ unseres ganzen empfänglichen und selbsttätigen Daseins“, also Gott, sei „kein mögliches Objekt unseres Wissens“37, da der Grund unseres Daseins „nicht ‚in dieser Welt‘“38 liege, wird nicht klar. Denn Schleiermacher räumt die Möglichkeit eines „ursprünglichen vorherigen Wissens“ von Gott durchaus ein: „Unser Satz nun will ein solches ursprüngliches Wissen auf der anderen Seite keinesweges bestreiten, sondern es nur beiseite stellen […]“39 Er hält dieses Wissen nur in Bezug auf die christliche Glaubenslehre für irrelevant, da für ihn die „Frömmigkeit“ ihren Grund im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit besitzt. Nur darin gründet für Schleiermacher alles, was wir über Gott sagen können. Darf man dies nun aber, wie Pannenberg es Schleiermachers Denken generell zuschreibt, als „Kriterium der subjektiven Erfahrung“ interpretieren? 40 Inwieweit Schleiermacher anderswo auf die private religiöse Erfahrung der individuellen Personen Bezug nimmt, sei dahingestellt. An unserer Stelle ist dies aber nicht der Fall. Denn hier geht es nicht um individuell verschiedene Subjektivität, sondern um unsere menschliche Subjektivität als solche, wie dies generell für jede Bewusstseins- und Subjektphilosophie zutrifft. Der Sache nach, wenn dieser Ausdruck hier erlaubt ist, ist uns Gott im radikalen Abhängigkeitsbewusstsein gegeben, aber dies wird erst in der Reflexion ausdrücklich bewusst. Ferner grenzt Schleiermacher dieses Abhängigkeitsgefühl klar von dem begrenzten Freiheitsgefühl ab, das wir gegenüber der Welt haben. Damit wird aber zumindest implizit auch klar, dass die Analyse der schlechthinnigen Abhängigkeit nicht nur uns als Subjekte, sondern auch die in der Wechselwirkung mit uns gleichsam verflochtene Welt zugleich schlechthin abhängig sein lässt, auch wenn Schleiermacher diese Schlussfolgerung an dieser Stelle nicht zieht. Man wird also sagen dürfen, dass Pannenbergs Forderung, dass in einem gültigen Gottesbeweis auch die Abhängigkeit der Welt von Gott aufgewiesen werden muss, durchaus erfüllt ist, wenn auch nicht auf explizite Weise. Es hat immer in der Geschichte des Christentums Denker gegeben, die die These vertreten haben, dass wir um die Existenz Gottes wissen, ohne dass uns dieses Wissen durch ausdrückliche Schlussfolgerungen aufgewiesen werden müsste. Zur Zeit Schleiermachers kann man beispielsweise Jacobi zu den Vertretern dieser Richtung zählen. Nach Jacobis Auffassung gibt es in uns ein untrügliches Gefühl, das uns Kenntnis von Gott vermittelt. Man kann, wenn man will, Schleiermacher in dieselbe Kategorie einordnen. Denn auch für ihn gilt ja, dass wir über ein Gefühl, oder besser, über ein Bewusstsein verfügen, aufgrund dessen wir eine Kenntnis von Gott besitzen. Andererseits aber kleidet Schleier37 38 39 40

Cramer, 160. Cramer, 161. CG, 29; KGA 39. ST, 50.

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macher den Nachweis dieses Bewusstseins in eine philosophische Analyse der Struktur unseres Bewusstseins überhaupt, die die Form einer Argumentation, eines Beweises annimmt. Hinzu kommt, wie sich gezeigt hat, dass Schleiermacher einen, wenn nicht den klassischen Gottesbeweis, nämlich den aus der Kontingenz, übernimmt und bewusstseinstheoretisch umwandelt. Auf diese Weise ermöglicht er eine Weiterführung des herkömmlichen Gottesbeweises auf einer neuen Grundlage und schafft so eine denkerische Verbindung von Kontinuität und Wandel. Vielleicht wurde diese Leistung Schleiermachers nicht immer genügend gewürdigt, da er oft zu sehr mit Stichworten wie subjektivem Gefühl und liberaler Theologie in Verbindung gebracht wird.

3.

Karl Rahner: Die transzendentale Erfahrung

Es gibt auch auf der katholischen Seite einen Denker, dessen vielleicht größte Leistung darin besteht, dass er nicht nur neue Denkansätze vorgelegt hat, sondern Brücken von der Tradition zur Moderne geschlagen hat, die es der „Schultheologie“, wie er sie oft genannt hat, und dem Lehramt überhaupt erst ermöglicht haben, dieses neue theologische Denken positiv aufzunehmen. Es handelt sich um Karl Rahner. Interessanterweise hat Karl Rahner einen Gottesbeweis vorgelegt, der zwar nicht auf Schleiermacher, sondern auf andere Quellen zurückgeht, der aber bei genauerer Betrachtung Schleiermachers Theorie sehr nahe steht. An die Stelle von Schleiermachers Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit tritt bei Karl Rahner die „transzendentale Erfahrung“. Während die schlechthinnige Abhängigkeit nichts anderes als die Kontingenz ist, ist mit der transzendentalen Erfahrung gemeint, dass all unser Denken immer schon über den Horizont des Begrenzten und Endlichen hinausgreift. Rahner beruft sich hierbei zum einen, von Joseph Maréchal inspiriert, auf den bei Thomas anzutreffenden geistigen „excessus“, den er mit „Vorgriff“ übersetzt, und zum anderen auf den von Husserl und Heidegger stammenden „Horizont“, innerhalb dessen unser gesamtes Denken und Erkennen sich abspielt. Zu Recht hat darum Pannenberg Rahners Gottesbeweis mehr oder weniger in einem Atemzug mit dem von Schleiermacher erwähnt. In den beiden grundlegenden philosophischen Schriften Rahners, „Geist in Welt“ (1. Aufl. Innsbruck/Leipzig 1939; 2. Aufl. München 1957) und „Hörer des Wortes“ (1. Aufl. München 1941, 2. Aufl. München 1963) kommt der Ausdruck „transzendentale Erfahrung“ noch nicht vor. Rahner scheint diesen Ausdruck erst etwa ab Mitte der 50er Jahre zu verwenden. Erst in der zweiten Auflage von „Hörer des Wortes“ hat der Bearbeiter Johann Baptist Metz an zwei Stellen den Terminus „transzendentale Erfahrung“ eingefügt. Wir finden in den ersten Auflagen dieser Schriften die ursprüngliche Fassung dessen, was später tran-

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szendentale Erfahrung genannt wird, unter dem Stichwort „Vorgriff“. Schleiermacher hatte bei der Analyse des Selbstbewusstseins angesetzt, das in gut idealistischer Weise als Freiheitsbewusstsein aufgefasst wird. Rahner kommt hingegen von der Erkenntnis des einzelnen sinnlich erfassbaren Objekts her, mit der er sich ausgiebig in „Geist in Welt“ auseinandersetzt. Diese konkrete Erkenntnis ist als geistige nur im Zusammenhang mit einem Vorgriff auf alles Erkennbare möglich. Denn nur auf diese Weise kommt die Abstraktion zustande, dank derer unser Geist erkennt, dass die Beschaffenheit oder Bestimmtheit („Washeit“), die im Standardurteil (Dies ist ein solches) einem konkreten Gegenstand zugesprochen wird, von sich her allgemein und somit unbegrenzt ist: „In jedem Urteil wird ein Seiendes als solches in einer bestimmten Eigentümlichkeit bejaht: Dieses ist ein solches. Das ist gewissermaßen die allgemeinste Form eines Urteils, die auch im Handeln sich durchhält, da auch hier der Mensch immer mit etwas als gerade einem solchen von dieser bestimmtem Art zu tun hat. Das Erfassen eines einzelnen Diesen als eines solchen von der oder jener bestimmten Art ist nun aber nichts anderes als das Begreifen eines einzelnen, auf das sich das Denken und Handeln bezieht, unter einem allgemeinen Begriff.“41 Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen erklärt Rahner diesen Vorgang im Einzelnen: „Abstraktion ist somit die Erkenntnis der Ungegrenztheit der im Einzelnen gegebenen Washeit in dem Sinn, daß sie erfaßt wird als mögliche Bestimmung auch anderer Einzelner. […] So entsteht die Frage, welches die transzendentale Bedingung der Möglichkeit dafür sei, daß der Erkennende diese Ungegrenztheit der Washeit erkennt, obwohl sie doch nur als gerade die eines bestimmten Einzelnen erfahren wurde.“42 Die Erfassung der „Washeit“, also der Beschaffenheit, die dem Gegenstand zugeschrieben wird, muss über diesen einzelnen Gegenstand auf ein „Mehr“ hinausgreifen. „Dieses ‚Mehr‘ kann nun selbstverständlich nicht ein einzelner Gegenstand von derselben Art sein wie der, dessen abstrahierende Erkenntnis es ermöglichen soll. Denn sonst begänne die gleiche Frage aufs neue. Dieses ‚Mehr‘ kann also nur die absolute Weite der erkennbaren Gegenstände überhaupt sein. Dadurch also, daß das Bewußtsein seinen einzelnen Gegenstand in einem ‚Vorgriff‘ (wie wir diesen auf Mehr ausgreifenden Vorgang nennen wollen) auf die absolute Weite seiner möglichen Gegenstände erfaßt, greift es in jeder Einzelerkenntnis immer schon über den Einzelgegenstand hinaus und erfaßt ihn damit […] in seiner Gegrenztheit und Bezogenheit auf die Ganzheit aller möglichen Gegenstände, weil es, indem es beim Einzelnen ist und um beim Einzelnen wissend sein zu können, immer auch schon über das Einzelne als solches hinaus ist. Der Vorgriff ist die Bedingung der Möglichkeit des allgemeinen Begriffs, der Abstraktion, die hinwiederum die 41 HW, 73 f.; SW Bd. 4, 1997, 88. 42 HW, 75; SW Bd. 4, 1997, 90.

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Ermöglichung der Objektivierung des sinnlich Gegebenen und so der wissenden Insichselberständigkeit ist.“43 Was dieser Vorgriff ist, wird dann noch weiter erklärt: „Was wir mit dem Vorgriff meinen, ist noch deutlicher ans Licht zu stellen. Er ist ein apriori mit dem menschlichen Wesen gegebenes Vermögen der dynamischen Hinbewegung des Geistes auf die absolute Weite aller möglichen Gegenstände, eine Hinbewegung, in der die Einzelgegenstände gleichsam als Einzeletappen dieser Zielbewegung ergriffen und so im Vorblick auf diese absolute Weite des Erkennbaren wissend erfaßt werden. Durch den Vorgriff wird der einzelne Gegenstand gleichsam schon immer unter dem Horizont des absoluten Erkenntnisideals erkannt, er ist deshalb auch schon immer hineingestellt in den bewußten Raum alles Erkennbaren. Und deshalb wird er auch immer schon als diesen Raum nicht restlos ausfüllend als gegrenzt erkannt. […] Der Vorgriff ist die bewußtmachende Eröffnung des Horizontes, innerhalb dessen das einzelne Objekt der menschlichen Erkenntnis gewußt wird.“44 Nun stellt sich die Frage nach dem, was durch diesen Vorgriff erkannt wird und wie diese Erkenntnis genauer zu fassen ist. Rahner tastet sich gleichsam an dieses Thema vorsichtig heran: „Wenn wir uns aber den Vorgriff selbst als eine Erkenntnis vorstellen müssen, so kann diese Beschreibung auch nur wieder so geschehen, daß der ‚Gegenstand‘ einer solchen ‚,Erkenntnis‘ angegeben wird. In diesem Sinn fragen wir somit, welches der ‚Gegenstand‘ des Vorgriffs sei. […] Welches ist die absolute Totalität aller möglichen Gegenstände der Erkenntnis, in deren Horizont der einzelne Gegenstand erfaßt wird? Oder, wenn wir noch einmal vorsichtiger von der Rede von der ‚Ganzheit‘ aller Gegenstände der Erkenntnis absehen wollen, worauf transzendiert das menschliche vorgreifende Erkennen in der Erfassung seines Einzelobjektes?“45 Nachdem andere Interpretationen des Vorgriffs als unzureichend und unzutreffend abgewiesen wurden, kann nun die endgültige Antwort darauf gegeben werden, was das Ziel dieses Vorgriffs ist. Zugleich wird nun der Vorgriff aus seiner Verknüpfung mit einzelnen Erkenntnissen gelöst und zu einem Grundbestandteil des menschlichen Daseins überhaupt erklärt: „Der Vorgriff, der die transzendentale Bedingung der Möglichkeit eines gegenständlich gehabten Gegenstandes und so der Insichselberständigkeit des Menschen ist, ist ein Vorgriff auf das an sich ungegrenzte Sein. Insofern unsere erste und allgemeinste Seinsfrage nur der formalisierte Ausdruck für jedes Urteil ist, das alles Denken und alles Handeln trägt, kann auch von ihr gesagt werden, daß in ihr der Vorgriff auf das Sein schlechthin in seiner Ungegrenztheit stattfindet. Insofern diese 43 HW, 76 f.; SW Bd. 4, 1997, 92. 44 HW, 77; SW Bd. 4, 1997, 92 45 HW, 78 f.; SW Bd. 4, 1997, 94.

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Frage (wie Urteilen und freies Handeln überhaupt) zum Dasein des Menschen notwendig gehört, gehört der Vorgriff auf Sein schlechthin im seiner ihm an ihm selber zukommenden Unendlichkeit zur Grundverfassung des menschlichen Daseins.“46 Der nächste Absatz vollzieht den Schritt vom „Sein schlechthin“ zu Gott: „Mit der Notwendigkeit, mit der dieser Vorgriff gesetzt wird, ist auch das unendliche Sein Gottes mitbejaht. Zwar stellt der Vorgriff nicht unmittelbar Gott als Gegenstand dem Geist vor, weil der Vorgriff als Bedingung der Möglichkeit der gegenständlichen Erkenntnis von sich her überhaupt keinen Gegenstand in seinem Selbst vorstellt. Aber in diesem Vorgriff als notwendiger und immer schon vollzogener Bedingung jeder menschlichen Erkenntnis und jedes menschlichen Handelns ist doch auch schon die Existenz eines absoluten Seins, also Gottes mitbejaht, wenn auch nicht vorgestellt.“47 Diesem Ansatz bleibt Rahner auch in späterer Zeit treu, auch wenn er ihn nun weiter entfaltet. So schreibt er in seinem „Grundkurs des Glaubens“ unter der Überschrift „Die transzendentale Erfahrung“: „Das subjekthafte, unthematische und in jedwedem geistigen Erkenntnisakt mitgegebene, notwendige und unaufgebbare Mitbewußtsein des erkennenden Subjekts und seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite aller möglichen Wirklichkeit nennen wir die transzendentale Erfahrung. Sie ist eine Erfahrung, weil dieses Wissen unthematischer, aber unausweichlicher Art Moment und Bedingung der Möglichkeit jedweder konkreten Erfahrung irgendeines beliebigen Gegenstandes ist. Diese Erfahrung wird transzendentale Erfahrung genannt, weil sie zu den notwendigen und unaufhebbaren Strukturen des erkennenden Subjekts selbst gehört und weil sie gerade in dem Überstieg über eine bestimmte Gruppe von möglichen Gegenständen, von Kategorien besteht. Die transzendentale Erfahrung ist die Erfahrung der Transzendenz, in welcher Erfahrung die Struktur des Subjekts und damit auch die letzte Struktur aller denkbaren Gegenstände der Erkenntnis in einem und in Identität gegeben ist. Natürlich ist diese transzendentale Erfahrung nicht bloß eine solche der reinen Erkenntnis, sondern auch des Willens und der Freiheit, denen derselbe Charakter der Transzendentalität zukommt, so daß grundsätzlich immer nach dem Woraufhin und Wovonher des Subjekts als eines Wissenden und als eines Freien in einem gefragt werden kann. Wenn man sich die Eigenart dieser transzendentalen Erfahrung klarmacht, die als solche nie in ihrem Eigenen selbst, sondern nur durch einen abstrakten Begriff von ihr gegenständlich vorgestellt werden kann; […] wenn man sich klarmacht, daß man von ihr reden muß, weil sie immer schon da ist, aber darum auch dauernd übersehen werden kann; […] dann versteht man die Schwierigkeit des Unter-

46 HW, 81; SW Bd. 4, 1997, 98. 47 HW, 81 f.; SW Bd. 4, 1997, 98.

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nehmens, dem wir uns widmen: Wir können von dem Woraufhin dieser transzendentalen Erfahrung auch nur wieder indirekt reden.“48 Nun allerdings wird diese Aussage weiter entfaltet und diese Erfahrung als ein „unthematisches Wissen von Gott“ bezeichnet, das Rahner im Anschluss an das obige Zitat folgendermaßen charakterisiert: „Es geht später darum, zu zeigen, daß mit dieser transzendentalen Erfahrung ein gleichsam anonymes und unthematisches Wissen von Gott gegeben ist, daß also die ursprüngliche Gotteserkenntnis nicht von der Art des Erfassens eines sich von außen direkt oder indirekt zufällig meldenden Gegenstandes ist, sondern daß sie den Charakter einer transzendentalen Erfahrung hat. Insofern diese subjekthafte, ungegenständliche Erhelltheit des Subjekts immer in der Transzendenz auf das heilige Geheimnis geht, ist Gotteserkenntnis schon immer unthematisch und namenlos gegeben – und nicht erst dann, wenn wir anfangen, davon zu reden. Alles Reden darüber, das notwendig geschieht, ist immer nur ein Verweis auf diese transzendentale Erfahrung als solche, in der sich immer der, den wir ‚Gott‘ nennen, schweigend dem Menschen zusagt – eben als das Absolute, Unübergreifbare, als das nicht eigentlich in das Koordinatensystem einrückbare Woraufhin dieser Transzendenz, die als Transzendenz der Liebe auch eben dieses Woraufhin als das heilige Geheimnis erfährt. […] Das Geheimnis in seiner Unumgreifbarkeit ist das Selbstverständliche. […] Denn alles andere Begreifen, so klar es sich zunächst einmal vorkommen mag, gründet ja auf dieser Transzendenz, alles helle Begreifen gründet im Dunkel Gottes. […] Natürlich kann ein Mensch, wenn er will, in seiner konkreten Lebensentscheidung […] sich weigern, mit der absoluten Frage als solcher etwas zu tun zu haben außer dadurch, daß diese Frage ihn immer weiter zu einzelnen Fragen und einzelnen Antworten treibt. Und nur dort, wo man sich der Frage nach dem Fragen, dem Denken des Denkens, dem Raum der Erkenntnis und nicht nur den Gegenständen der Erkenntnis, der Transzendenz und nicht nur dem in dieser Transzendenz kategorial raumzeitlich Erfaßten zuwendet, ist man eben am Beginn, ein homo religiosus zu werden. Man kann von da aus leichter verstehen, daß das viele nicht sind, daß sie es vielleicht nicht vermögen, daß sie sich gleichsam überfordert fühlen. Derjenige aber, dem die Frage nach seiner Transzendenz, nach deren Woraufhin einmal gestellt ist, der kann sie eben nicht mehr unbeantwortet stehenlassen. Denn selbst wenn er sagen würde, sie sei eine Frage, die man nicht beantworten kann, die man nicht beantworten soll, die man – weil sie den Menschen überfordert – stehenlassen soll, hätte er ja auf diese Frage schon eine Antwort gegeben (ob die richtige oder falsche, ist hier noch gleichgültig).“49 48 GK 31 f.; SW Bd. 26, 1999, 26 f. 49 GK 32–34; SW Bd. 26, 1999, 27 f. – Auf diese Stelle bei Rahner sowie auf GK 46 verweist auch Pannenberg (ST, 128): „Dennoch läßt sich mit Recht sagen, daß der Mensch von allem Anfang

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Rahner verknüpft hier also die transzendentale Erfahrung mit dem von ihm gerne für Gott verwandten Ausdruck „heiliges Geheimnis“. Ebenso wie Schleiermacher in Bezug auf das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit vertritt Rahner die Position, dass alle Rede von Gott nur als ein Verweis auf diese transzendentale Erfahrung sinnvoll ist und in dieser Erfahrung gründet. Eine weitere Parallele zu Schleiermacher besteht darin, dass auch für Rahner die transzendentale Erfahrung keine gegenständliche Erkenntnis darstellt, dass aber die Reflexion über sie zur Rede über Gott führt. Wir haben es auch in beiden Fällen mit einer Ausrichtung zu tun, die bei Schleiermacher zum Grund unseres Daseins führt und bei Rahner zu der Transzendenz, die alles begründet. Dabei gilt für Rahner: „Die Transzendenzbewegung ist aber nun nicht das machtvolle Konstituieren des unendlichen Raumes des Subjekts vom Subjekt als dem absolut Seinsmächtigen her, sondern das Aufgehen des unendlichen Seinshorizontes von diesem selbst her. Wo immer der Mensch sich in seiner Transzendenz als der Fragende erfährt, der durch diesen Aufgang des Seins Beunruhigte, der ins Unsagbare Hinausgesetzte, kann er sich nicht in dem Sinne des absoluten Subjekts als Subjekt begreifen, sondern nur in dem Sinn der Seinsempfängnis, letztlich der Gnade. Dabei meint hier ‚Gnade‘ sowohl die durch Endlichkeit und Kontingenz erfahrene Freiheit des den Menschen setzenden Seinsgrundes als auch das, was wir in einem engeren theologischen Sinne ‚Gnade‘ zu nennen pflegen.“50 Rahner hat, wie wir gesehen haben, seine Lehre von der transzendentalen Erfahrung zunächst von der geistigen Erkenntnis her entwickelt. Aber dabei handelt es sich für ihn zugleich auch immer um die Erkenntnis eines freien Subjektes. Darum äußert sich Rahner im Kapitel 6 „Der Mensch als der Verfügte“ unter der Überschrift „Getragensein durch das Geheimnis“ in einer Weise, die große Ähnlichkeit mit der These Schleiermachers besitzt: „Trotz seiner freien Subjekthaftigkeit erfährt sich der Mensch als Verfügter, und zwar in einer Verfügung, über die er selbst nicht mehr verfügen kann. Zunächst ist schon seine Konstitution als transzendentales Subjekt durch die dauernd sich eröffnende und gleichzeitig sich versagende Zuschickung des Seins als des Geheimnisses getragen. Wir haben schon früher erwähnt, daß seine Transzendentalität nicht als die eines absoluten Subjekts aufgefaßt werden kann, das gewissermaßen das Eröffnete als das seiner eigenen Macht Untertane erfährt und hat. Vielmehr handelt es sich um eine Verwiesenheit, die nicht selbstherrlich sich

an in ein ihn übersteigendes ‚Geheimnis‘ hineingestellt ist, und zwar in der Weise, daß sich ihm ‚die unverfügbare und schweigende Unendlichkeit der Wirklichkeit als Geheimnis dauernd zuschickt‘.“ [Zitat aus GK 46] In der hierzu gehörigen Anm. 177 meint Pannenberg: „Ob man diesen Sachverhalt mit Rahner als ‚transzendental‘ oder gar als ‚transzendentale Erfahrung‘ bezeichnet […] – ein Ausdruck, der ein an Kant geschultes Sprachgefühl wie ein hölzernes Eisen anmuten muß, – dürfte demgegenüber zweitrangig sein.“ 50 GK 45; SW Bd. 26, 1999, 38.

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setzt, sondern die sich als die gesetzte und verfügte erfährt, als die im Abgrund des unsagbaren Geheimnisses gegründete.“51 Aus diesem Grund kann Rahner dann in seinen weiteren Ausführungen auch die Kreatürlichkeit aus der transzendentalen Erfahrung herleiten: „Der ursprüngliche Ort der Kreatürlichkeitserfahrung ist ja nicht die in leerer Zeitlichkeit verlaufende, reihende Kette der Phänomene, sondern die transzendentale Erfahrung, in der das Subjekt und seine Zeit selber als vom unbegreiflichen Grund getragen erfahren werden. Die christliche Glaubenslehre sagt darum diese Kreatürlichkeit immer aus unter der Gott anbetenden Erfahrung der eigenständigen, verantwortlichen, eigenen Wirklichkeit, die restlos in die unverfügbare Verfügung des Geheimnisses schlechthin überantwortet und so uns gerade selber aufgebürdet ist. Kreatürlichkeit bedeutet darum immer auch die Gnade und den Befehl, jene Schwebe der Analogie, die das endliche Subjekt ist, aufrechtzuerhalten und anzunehmen, sich selbst zu denken, zu verstehen, anzunehmen als das wahrhaft Wirkliche und sich selbst Aufgetragene und so gerade schlechthin Herkünftige und in das absolute Geheimnis als seine Zukunft Verwiesene.“52 Die transzendentale Erfahrung ist „nicht die Erfahrung eines bestimmten einzelnen Gegenständlichen ist, das neben anderen Gegenständen erfahren wird, sondern eine Grundbefindlichkeit, die jeder gegenständlichen Erfahrung vorausliegt und sie durchwaltet.“53 Dennoch scheut Rahner davor zurück, sie eine apriorische Erfahrung zu nennen. Er bezeichnet sie vielmehr als „aposteriorische Erkenntnis“, als sie sich „immer nur in der Begegnung mit der Welt und vor allem der Mitwelt ereignet.“ Nun ist dies aber keine wirkliche Begründung dafür, dass es sich um eine aposteriorische Erkenntnis im Sinn Kants handelt, denn für Kant beginnt jede Erkenntnis mit der Erfahrung, was aber nicht heißt, dass auch jede Erkenntnis aus der Erfahrung stammt, d. h. durch die (konkrete) Erfahrung begründet wird.54 Nun sagt Rahner aber über die in der transzendentalen Erfahrung gründende Gotteserkenntnis, sie sei „eine transzendentale, weil die ursprüngliche Verwiesenheit des Menschen auf das absolute Geheimnis, die die Grunderfahrung Gottes ausmacht, ein dauerndes Existential des Menschen als eines geistigen Subjektes ist.“ Das heißt aber, dass diese Erkenntnis eben nicht in irgendwelchen konkreten Erfahrungen gründet, sondern zur Konstitution des Menschen gehört und folglich a priori ist. Dies wagt Rahner aber offensichtlich deshalb nicht zuzugeben, da er fürchtet, sonst des kirchenamtlich verurteilten „Ontologismus“ bezichtigt zu werden, denn „die scholastische Tradition“ habe „recht, wenn sie gegen einen Ontologismus betont, daß der Mensch nur eine 51 52 53 54

GK 52; SW Bd. 26, 1999, 46. GK 87; SW Bd. 26, 1999, 81. GK 45; SW Bd. 26, 1999, 39. Kritik der reinen Vernunft B 1.

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aposteriorische Erkenntnis Gottes aus der Welt habe“55, was doch offensichtlich mit den Aussagen über die transzendentale Erfahrung nicht zu vereinbaren ist.

4.

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Die Argumentationen von Schleiermacher und von Rahner haben so viel miteinander gemeinsam, dass man, wie mir scheint, durchaus von zwei Variationen desselben Gottesbeweises sprechen kann. Ich möchte ihn den bewusstseinstheoretischen Gottesbeweis nennen. Man könnte ihn vielleicht auch bewusstseinsphilosophisch oder subjektphilosophisch nennen. Dieser Beweis ist eine Folge, um nicht zu sagen ein Produkt der kantischen und idealistischen Philosophie. Er geht nicht mehr von einer objektiven Metaphysik aus, sondern steht auf dem Boden der Bewusstseinsphilosophie, wie man die auf Kant folgende Philosophie nennen könnte. Aber dies ist nicht seine einzige Besonderheit. Es handelt sich zudem um einen Beweis, der eine Verbindung von Argumentation und phänomenologischem Aufweis darstellt. Grundlage dieses Beweises ist die These, dass wir eine Weise des Bewusstseins haben, die unser gesamtes sozusagen konkretes Bewusstsein umfasst und begleitet und uns auf Gott verweist. Man könnte natürlich bereits die Argumentation von Descartes in seiner dritten Meditation als einen bewusstseinstheoretischen Gottesbeweis bezeichnen. Allerdings geht diese Argumentation noch nicht von einem ganz bestimmten Bewusstsein aus, das alle anderen Bewusstseinszustände begleitet, wie dies bei Schleiermacher und Rahner der Fall ist. Dafür handelt es sich interessanterweise um eine Verquickung der Argumentation mit dem Wissen um Unendlichkeit und Vollkommenheit (was mit Rahners transzendentaler Erfahrung vergleichbar ist) mit der eigentlich entscheidenden Argumentation, dass wir unsere Endlichkeit als Defizienz erfahren, was nur möglich ist, wenn diese Endlichkeit als Gegenstück das Unendliche und Vollkommene voraussetzt: Man kann hierin, wenn man will, eine Variante des Kontingenzarguments sehen. Es handelt sich beim bewusstseinstheoretischen Gottesbeweis in der Form, wie er bei Schleiermacher und Rahner auftritt, um eine Argumentation, die alle Bedingungen erfüllt, die für einen Gottesbeweis erforderlich sind. Es wird etwas aufgezeigt, was die Gesamtheit unseres Erkennens und unserer Freiheit durchzieht und fundiert. Rahner qualifiziert die transzendentale Erfahrung ferner zugleich als Bedingung der Möglichkeit aller geistigen Akte und verleiht ihr damit den Status der Notwendigkeit, der bei Schleiermacher nicht so deutlich ausgesprochen wird, aber doch wohl auch gemeint ist. Und schließlich wird in diese Argumentation auch die Welt mit einbezogen. Bei Schleiermacher ge55 GK 61; SW Bd. 26, 1999, 55.

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schieht dies in seiner Analyse der Duplizität von Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit, die eine Wechselwirkung des Subjekts mit der Welt bedeutet;56 bei Rahner geschieht dies, wenn er davon spricht, dass die transzendentale Erfahrung die Grundlage aller welthaften Erkenntnis darstellt57 und im Zusammenhang mit der ständig sich ereignenden Erkenntnis der konkreten, also weltlichen Gegenstände geschieht. Ferner handelt es sich um ein apriorisches Argument, was auch Rahner an bestimmten Stellen zugesteht, denn der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis gründet sich nicht auf konkrete Erfahrungen, sondern argumentiert mit der Struktur unseres Bewusstseins überhaupt. Aber wie ist dieses spezielle Bewusstsein, das bei Schleiermacher Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit und bei Rahner transzendentale Erfahrung genannt wird, genauer zu verorten und zu klassifizieren? Zunächst einmal können wir wohl sagen, dass es eine solche differenzierte Bewusstseinsanalyse erst mit dem Aufkommen des idealistischen Denkens gibt. Zwar unterscheidet schon Descartes zwischen dem Alltagsbewusstsein und dem philosophischen Bewusstsein, aber es handelt sich hier nicht um zwei Bewusstseinsebenen, die immer miteinander koexistieren. Sowohl bei Schleiermacher als auch bei Rahner haben wir es aber mit einer Art von Bewusstsein zu tun, die die Gesamtheit allen direkten Bewusstseins um- oder übergreift. Wir müssten wohl bei Schleiermacher sogar von drei Bewusstseinsebenen sprechen: Neben der normalen objektgerichteten Intentionalität gibt es die Ebene des Selbstbewusstseins, dem Schleiermacher die Duplizität von Freiheit und Abhängigkeit zuschreibt, und dann gibt es auf einer noch allgemeineren und grundlegenderen Ebene das allumfassende Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit. Nun können nicht diese drei Ebenen auf dieselbe Weise gleichzeitig gegenwärtig sein. Andererseits versteht Schleiermacher offenbar sowohl die Duplizität als auch die Abhängigkeit als etwas durchgängig Bewusstes. Wie lässt sich dies auf der Ebene der Phänomene aufweisen? Hier findet sich nur die Erläuterung, dass es sich um ein unvermitteltes und somit nicht gegenständliches Bewusstsein handle. In diesem Punkt wird man die Position Rahners als etwas deutlicher bezeichnen können. Er spricht von einem anonymen, unthematischen, unreflexen Mitbe56 Vgl. CG 26; KGA 35 f.: „Denken wir uns nun Abhängigkeitsgefühl und Freiheitsgefühl in dem Sinne als Eines, daß nicht nur das Subjekt, sondern auch das mitgesetzte Andere in beiden dasselbige ist: so ist dann das aus beiden zusammengesetzte Gesamtselbstbewußtsein das der Wechselwirkung des Subjektes mit dem mitgesetzten Anderen. […] Und zwar nicht nur sofern wir dieses andere vereinzeln, […] sondern auch sofern wir das gesamte Außeruns […] mit uns selbst zusammen als Eines, das heißt als Welt setzen.“ 57 Vgl. GK 61; SW Bd. 26, 1999, 55: „Unsere transzendentale Erkenntnis oder Erfahrung muß also insofern aposteriorisch genannt werden, als jede transzendentale Erfahrung zunächst durch eine kategoriale Begegnung mit konkreten Wirklichkeiten in unserer Welt, in unserer Umwelt und Mitwelt vermittelt ist. Das gilt auch von der Erkenntnis Gottes; und insofern haben wir das Recht und die Pflicht, zu sagen, es gibt nur eine aposteriorische Erkenntnis Gottes aus und durch die Begegnung mit der Welt, zu der wir natürlich auch selber gehören.“

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wusstsein58 „im Grunde unseres personalen Selbstvollzugs“59 nicht-gegenständlicher Art60. Die transzendentale Erfahrung ist „Grund, Bedingung der Möglichkeit und Horizont der Alltagserfahrung“61 und wird in der Erkenntnis konkreter Gegenstände „mindestens unthematisch mitvollzogen“62. Sie wird dann allerdings auch sehr weit als die Erfahrung all dessen gefasst, was unsere Subjektivität, Freiheit, Geistigkeit ausmacht: „transzendentale Erfahrung ist etwas, was einfach zur Geistigkeit des Menschen als solchen gehört. Wenn ein Mensch gleichsam in der Dynamik seines geistigen Fragens nie irgendwo halten muß, sondern jede Grenze immer wieder übersteigt, macht er eine transzendentale Erfahrung.“63 Man kann als Einwand gegen dieses bewusstseinstheoretische Argument vortragen, dass es sich hier um eine unzulässige Verschmelzung zwischen einer Argumentation und einer Berufung auf eine bestimmte Erfahrung handle. Dieser Einwand liegt auf der Ebene des kantischen Denkens, nach dem die transzendental, und das heißt argumentativ erschlossenen Bedingungen der Möglichkeit nicht selbst noch einmal in einer direkten Erkenntnis erfasst werden können.64 Aber dieser Einwand setzt voraus, dass es nur eine einzige klar und direkt erfassbare Bewusstseinsebene gibt, deren Inhalt von vornherein problemlos von allem unterschieden werden kann, was erschlossen ist. Diese Voraussetzung ist aber falsch. Zum ersten ist schon vieles von dem, was uns als unmittelbare Erfahrung erscheint, in Wahrheit (z. B. durch frühere Erfahrung oder gelerntes Wissen oder durch Hilfsmittel) vermittelt, worauf vor allem Hegel aufmerksam gemacht hat. Zum anderen haben vor allem der Idealismus und die Phänomenologie gezeigt, dass es nicht nur das direkte Objektbewusstsein gibt, sondern auch andere Bewusstseinsformen, auf die wir oft erst eigens aufmerksam werden müssen, um sie nicht einfach zu übersehen. Aus diesem Grund kann man wohl sagen, dass der Deutsche Idealismus und die Phänomenologie einen bewusstseinstheoretischen Gottesbeweis überhaupt erst ermöglicht haben, weil sie eine differenziertere Bewusstseinsanalyse entwickelt haben, als sie vorher in der Philosophie üblich war. Es handelt sich also nicht um einen Denkfehler, wenn der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis Argumentation und Verweis auf Erfahrung miteinander verquickt, sondern wir haben es mit einer verfeinerten Argumentation zu tun, die die tiefer liegende Schicht unseres Bewusstseins enthüllt, deren Gehalt einer oberflächlichen Denk- und Lebensweise leicht entgehen kann.

58 59 60 61 62 63 64

Vgl. GK 31 f., 62; SW Bd. 26, 1999, 26 f., 56. GK 63; SW Bd. 26, 1999, 56. Vgl. SW Bd. 12, 2005, 99. SW Bd. 15, 2001, 401. SW Bd. 15, 2001, 706. SW Bd. 30, 2009, 763. Vgl. Anm. 49.

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Eine wichtige Gemeinsamkeit der Thesen von Schleiermacher und Rahner besteht darin, dass beide ausdrücklich betonen, dass alle Rede von Gott letzten Endes an das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit bzw. an die transzendentale Erfahrung rückgebunden sein muss. Schleiermacher und Rahner sind sich darin einig, dass nur von daher verständlich und sinnvoll wird, was überhaupt mit „Gott“ gemeint ist. Dies bedeutet freilich für keinen von beiden, dass damit die ausdrückliche Wortoffenbarung überflüssig geworden wäre. Aber man kann sagen, dass beide die These vertreten, dass wir ein apriorisches Wissen um Gott haben, das allerdings nicht gegenständlicher Art ist und darum zum ausdrücklichen Bewusstsein gebracht werden muss. Insofern verbindet der bewusstseinstheoretische Gottesbeweis die seit alters immer wieder vertretene Auffassung, das Wissen um die Existenz Gottes sei uns von Anfang an mitgegeben, mit der in der Geschichte des Denkens als Gegenthese dazu aufgetretenen Ansicht, die Existenz Gottes müsse ausdrücklich bewiesen werden. Beide Denker stellen in ihrer Argumentation heraus, dass der Mensch sich als abhängig und somit kontingent (Schleiermacher) bzw. dass er sich als Geschöpf (Rahner: Kreatürlichkeit) Gottes weiß. Dem entspricht natürlich auf der anderen Seite, dass es beiden darum geht, auf den unendlichen und alles überragenden freien Schöpfergott zu verweisen, was vielleicht bei der transzendentalen Erfahrung Rahners deutlicher wird als beim Argument der schlechthinnigen Abhängigkeit. So wie Schleiermacher den Gedanken der Kontingenz aufgreift und gleichsam verwandelt, der bereits bei den Kirchenvätern dazu diente, Gott als Schöpfer aufzuweisen, so nimmt auch Rahner einen uralten Gedanken wieder auf, nämlich den, dass der Mensch als geistiges Wesen auf das bzw. den hin ausgerichtet ist, der über ihm ist. Die transzendentale Erfahrung könnte man durchaus beschreiben als die Erfahrung dessen, was im eigentlichsten Sinn menschlicher Geist ist: nicht etwa Bewusstsein (das haben auch die Tiere), sondern das wesentliche Über-sich-hinaus-Sein des Menschen, seine Selbsttranszendenz hin zum Ewigen, zum Bleibenden, zu Gott.

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Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen? Karl Rahner und Wolfhart Pannenberg

Im Mittelpunkt der Erkenntnismetaphysik des jungen Karl Rahner steht der Gedanke eines Vorgriffs auf das Sein. Für die Theologie Wolfhart Pannenbergs ist das Motiv der Antizipation des Endes der Geschichte von herausragender Bedeutung. Trotz der terminologischen Nähe hat Rahners Vorgriff vordergründig nicht viel mit Pannenbergs Antizipation zu tun. Erst beim genaueren Hinsehen auf ihre jeweilige Bestimmung des Verhältnisses der Philosophie zur Religion zeigen sich systematische Parallelen. Deshalb möchte ich im Folgenden der rahnerschen Rede von einem Vorgriff auf das Absolute das pannenbergsche Konzept der Antizipation gegenüberstellen. Daran anknüpfen werden sich einige Überlegungen zur Bedeutung der philosophischen Reflexion für den religiösen Glauben. Rahner und Pannenberg verbindet die Überzeugung, dass die religiöse Rede von Gott zu ihrer rationalen Rechtfertigung auf eine philosophische Vorklärung des Gottesgedankens angewiesen ist.

1.

Der Vorgriff auf das Sein bei Karl Rahner

Bevor Karl Rahner in Theologie promoviert und von seinem Orden nach Innsbruck geschickt wurde, um an der dortigen Universität zu lehren, war er als Philosoph für die Fakultät der Jesuiten in Pullach bei München vorgesehen. Zu diesem Zweck ging er 1934 nach Freiburg, wo er die Seminare Martin Heideggers besuchte und bei Martin Honecker an einer Dissertation über Thomas von Aquin arbeitete. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit seinem Doktorvater kam es nie zur Promotion.1 Stattdessen veröffentlichte Rahner seine Arbeit 1939 als Monographie unter dem Titel „Geist in Welt“. Obwohl ihm ein theologisches Interesse schon für dieses Werk nicht abgesprochen werden kann, handelt es sich bei dem Buch um eine rein philosophische Auseinandersetzung mit der Er1 Zu den biographischen Hintergründen vgl. K.H. Neufeld, Die Brüder Rahner. Eine Biographie, Freiburg i.Br. 1994, 110–123.

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kenntnistheorie Thomas von Aquins. Oberflächlich betrachtet interpretiert der Autor den 7. Artikel aus der 84. Quaestio der „Summe der Theologie“. Dort erörtert Thomas die Frage, ob der menschliche Intellekt allein durch Begriffe (species intelligibiles) etwas erkennen kann, das heißt ohne dass er sich auf bildliche Vorstellungen (phantasmata) stützt. Rahners vermeintlicher Kommentar zur Frage nach der sinnlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin entpuppt sich als eine weit ausholende Abhandlung über die Stellung des Menschen in der Welt. Wichtige Anregungen verdankt Rahner der Thomasinterpretation Pierre Rousselots und Joseph Maréchals. Vor allem der Letztere hatte sich darum bemüht, die thomistische Metaphysik mit der Philosophie Immanuel Kants ins Gespräch zu bringen. Gleichzeitig hatte Maréchal die kantische Eingrenzung der menschlichen Erkenntnis auf den Bereich des sinnlich Erfahrbaren zu widerlegen versucht.2 Neben Kant bzw. Maréchal ist der Einfluss Heideggers auf die Überlegungen Rahners deutlich spürbar. Formelhaft ausgedrückt könnte man sagen, der junge Jesuit legte eine thomistisch gefärbte Interpretation des In-der-Welt-Seins vor. Um Metaphysik geht es Rahner dabei nicht nur im Anschluss an die Frage Heideggers nach dem Sinn von Sein, sondern auch mit Blick auf das Problem der Erkennbarkeit Gottes. Im Hintergrund der Diskussion über die Angewiesenheit des Menschen auf sinnliche Vorstellungen bei Thomas von Aquin steht die Schwierigkeit, wie immaterielle Gegenstände und insbesondere Gott erkannt werden sollen, wenn alles menschliche Erkennen auf die Sinnlichkeit angewiesen bleibt. Da Thomas die Möglichkeit direkter nichtsinnlicher Erkenntnis verneint, kann der Zugang zu unkörperlichen Dingen allenfalls auf dem Umweg über körperliche Dinge erfolgen. Wir erkennen das Unkörperliche, indem wir es mit materiellen Körpern vergleichen und jenem bestimmte Merkmale absprechen, die wir an diesen wahrnehmen.3 So denken wir beispielsweise Engel ausgehend von uns selbst als geistige Wese, die im Unterschied zum Menschen keinen Leib besitzen. Ähnlich verfahren wir, wenn wir Gott Eigenschaften wie Intelligenz oder Willen zuschreiben und zugleich alle Fehlbarkeit von ihm fernhalten. In dem besagten Artikel nennt Thomas neben der Verneinung (remotio) noch einen weiteren Weg zu Gott. Unter Verweis auf Pseudo-Dionysios spricht er von

2 Aus Rahners Studienjahren hat sich eine ausführliche Zusammenfassung des entscheidenden fünften Bandes von Maréchals „Le point de départ de la métaphysique“ (Louvain/Paris 1926) erhalten (vgl. K. Rahner, Die Grundlagen einer Erkenntnistheorie bei Josef Maréchal, in: ders., Sämtliche Werke 2. Geist in Welt. Philosophische Schriften, Solothurn/Freiburg i. Br. 1996 [= SW 2], 373–406). 3 „…cognoscere non possumus nisi per remotionem, vel aliquam comparationem ad corporalia“ (Thomas v. Aquin, Summa theologica, I qu. 84, art. 7, ad 3).

Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen?

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dem Überschritt (excessus) des Endlichen hin auf Gott als Ursache.4 Diese Stelle greift Rahner auf und deutet den Überschritt als einen in allem Erkennen gelegenen ‚Vorgriff‘ auf das Sein.5 Während das lateinische Wort excessus den griechischen Ausdruck hyperochê wiedergibt,6 verwendet Rahner statt der wörtlichen Übersetzung den ihm von Heidegger her geläufigen Ausdruck ‚Vorgriff‘. Heidegger wiederum gebraucht ‚Vorgriff‘ im Rahmen seiner Hermeneutik des Daseins.7 Um etwas verstehen zu können, ist es nach Heidegger erforderlich, dass wir mit dem fraglichen Gegenstand bereits in gewisser Weise vertraut sind. Was uns völlig fremd ist, werden wir niemals begreifen. Deshalb spricht Heidegger von „Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff“, die allem Verstehen zugrunde liegen. Dabei geht es ihm weder um ein Vorwissen oder die Vorkenntnisse, die in jede neue Erfahrung einfließen, noch um die Vorurteile, die unsere Deutung mitbestimmen. Heidegger interessiert vielmehr der Umstand, dass etwas nur verständlich wird, wenn wir es auf einen Zusammenhang hin auslegen, in dem es mit allem anderen steht. Alles innerweltliche Seiende ist, wie Heidegger sagt, auf „ein Ganzes von Bedeutsamkeit“ hin entworfen. Rahner übernimmt diesen Gedanken Heideggers und gibt ihm zugleich eine metaphysische Wendung. Der excessus oder Vorgriff zielt auf das Sein überhaupt. Zur Begründung stützt sich Rahner auf ein bei den Neuthomisten verbreitetes Argument. Die geistige Tätigkeit des Menschen führt nur dann zu wahrem Wissen, wenn Sein und Erkennen nicht voneinander getrennt sind, sondern eine ursprüngliche Einheit bilden. Eine wichtige Sorge der Neuthomisten in der Auseinandersetzung mit der modernen Philosophie betraf die epistemische Rolle unserer Vorstellungen.8 Viele Thomisten verstanden die Ideenlehre eines Descartes, Locke oder Kant so, als sei der eigentliche Gegenstand sinnlicher Er4 „Deum autem, ut Dionysius dicit, cognoscimus ut causam, et per excessum et per remotionem“ (Thomas v. Aquin, Summa theologica, I qu. 84, art. 7, ad 3). 5 Wie Rahner einräumt, ist der Terminus „nicht unmittelbar bei Thomas zu finden“, doch sei er „sachlich in dem enthalten, was Thomas ‚excessus‘ (Überschritt) nennt“ (K. Rahner, Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin, Innsbruck/Leipzig 1939 [= GW1]; wieder abgedruckt in: SW 2, 1–300, hier: 116). 6 Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, De divinis nominibus, VII 3, sowie dazu F. O’Rourke, Pseudo-Dionysius and the Metaphysics of Aquinas (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters Bd. 32), Leiden/New York 1992, 31–41. 7 Vgl. zum Folgenden M. Heidegger, Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1979, 150 f. (§32)]. – K. Kreutzer (Transzendentales versus hermeneutisches Denken. Zur Genese des religionsphilosophischen Ansatzes bei Karl Rahner und seiner Rezeption durch Johann Baptist Metz [Ratio fidei Bd. 10], Regensburg 2002, 145 f.) verweist als weitere Quelle auf Heideggers Vorlesung über „Grundfragen der Metaphysik“ aus dem Wintersemester 1935/36, wo Kants Antizipationen der Wahrnehmung als „Vorgriff“ bezeichnet werden (vgl. M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Gesamtausgabe I/41, Frankfurt 1984, 223). 8 Siehe dazu exemplarisch G. Sans, Matteo Liberatore und die neuzeitliche Ideenlehre, in: Gregorianum 91 (2010), 790–807.

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kenntnis nicht die Welt der materiellen Dinge, sondern unsere Vorstellungen von ihnen. Wer urteilt, dass Schnee weiß ist, erfährt nichts über die Wirklichkeit, sondern nur darüber, wie sie ihm erscheint. Alle Versuche, die Geltung des Wissens zu rechtfertigen, fruchten nichts, solange dieses sich auf Vorstellungen bezieht, die vom Sein getrennt sind. Die thomistische Lehre von der conversio ad phantasma möchte derlei skeptischen Einwänden entgehen, indem sie Erkennen und Erkanntes von vornherein als ungetrennt auffasst. „Sein und Erkennen sind so in einer ursprünglichen Einheit.“9 Die Berechtigung dieser Argumentation soll uns hier nicht beschäftigen.10 Wenden wir uns stattdessen der Frage nach dem Woraufhin des Vorgriffs zu. Rahner steht vor der Schwierigkeit, den Vorgriff so zu erklären, dass die Erfahrungserkenntnis nicht ihres empirischen Charakters beraubt wird. Deshalb kann sich der Vorgriff nicht auf konkretes Seiendes richten, sondern muss sich auf das Sein im Allgemeinen beziehen. Rahner spricht von dem esse commune.11 Es bildet eine Art Horizont von Möglichkeiten, der alle begrenzten Seienden umfasst. Das empirische Erkennen geschieht also „in dem Vorgriff auf die unbegrenzte Weite der möglichen Gegenstände des Denkens überhaupt“.12 Sorgfältig unterscheidet Rahner zwischen der direkten Erkenntnis physischer Gegenstände einerseits und der metaphysischen Reflexion auf das sie bedingende Sein andererseits. Weniger deutlich sind freilich seine Ausführungen über die Verfassung des Seins. Neben dem allgemeinen Sein als einem bloßen Möglichkeitsraum geht es Rahner ausdrücklich um das „Sein schlechthin“, und zwar „als außerhalb von Welt mögliches und wirkliches“.13 Damit scheint ein über die Bedingungen der Möglichkeit endlichen Erkennens weit hinausgehender Anspruch erhoben zu sein. An der entscheidenden Stelle von „Geist in Welt“ nennt Rahner das Sein schlechthin esse absolutum.14 Seine Ausführungen diesbezüglich bleiben allerdings dunkel. Obwohl der Vorgriff „an sich“ auf das esse commune gehe, erklärt

9 GW1 41 = SW 2, 62. – In „Hörer des Wortes“ schreibt Rahner vom Wesen des Seins, es sei „Erkennen und Erkanntsein in einer ursprünglichen Einheit, die wir das Beisichsein oder die Gelichtetheit des Seins nennen wollen“ (K. Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie, München 1941 [= HW1], 50; wieder abgedruckt in: ders., Sämtliche Werke 4. Hörer des Wortes. Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie, Solothurn/Freiburg i. Br. 1997 [= SW 4], 2–281, hier: 60). 10 Dazu kritisch Th. Sheehan, Karl Rahner. The Philosophical Foundations, Athens 1987, 161– 165. 11 Vgl. GW1 128 = SW 2, 142 f. 12 GW1 147 = SW 2, 161. 13 GW1 289 = SW 2, 293. – Zur Vieldeutigkeit des von dem Vorgriff gemeinten Seins vgl. J. Herzgsell, Dynamik des Geistes. Ein Beitrag zum anthropologischen Transzendenzbegriff von Karl Rahner (Innsbrucker theologische Studien Bd. 54), Innsbruck 2000, 21–41, und P. Burke, Reinterpreting Rahner. A Critical Study of his Major Themes, New York 2002, 25 ff. 14 Vgl. GW1 127 ff. = SW 2, 142 f.

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Rahner, sei in ihm „die Existenz eines absoluten Seins mitbejaht“.15 Die Behauptung begründet er folgendermaßen: „Mitbejaht ist, was als möglicher Gegenstand in der Weite des Vorgriffs zu stehen kommen kann. Ein absolutes Sein würde diese Weite des Vorgriffs restlos ausfüllen. Es ist also als wirkliches (da es als bloß mögliches nicht gefasst werden kann) mitbejaht. In diesem, aber auch nur in diesem Sinn kann man sagen: der Vorgriff geht auf Gott.“16 Rahner setzt also das esse commune als den Horizont des Möglichen keineswegs mit dem esse absolutum gleich. Das absolute Sein ist vielmehr so zu denken, dass in ihm alle Möglichkeiten ausgeschöpft, sprich: verwirklicht sind. Darum ist der Gedanke des absoluten Seins nicht der von einem möglichen Ding. Rahner legt großen Nachdruck auf die Feststellung, dass es sich bei dem esse absolutum um keinen Gegenstand erster Ordnung handelt, von dem wir über eine Anschauung verfügen könnten. Ebenso wenig will er seine Überlegungen freilich als einen apriorischen Gottesbeweis verstanden wissen, denn „der Vorgriff und sein Worauf lassen sich als vorhanden und für alle Erkenntnis notwendig nur nachweisen und bejahen in der aposteriorischen Erfassung eines realen Seienden als deren notwendige Bedingung“.17 Nun mag man diese Beteuerung als einen Versuch deuten, den Einklang seiner Position mit der thomistischen Lehre von der Unmöglichkeit apriorischer Gotteserkenntnis herauszustellen. Jedenfalls rückt Rahners Metaphysik des endlichen Erkennens in die Nähe einer philosophischen Theologie.18 Im dritten Teil von „Geist in Welt“ erläutert Rahner die strategische Bewandtnis seiner Zurückhaltung. Hinter ihr steht das wissenschaftstheoretische Motiv, die jeweiligen Gegenstandsbereiche von Philosophie und Theologie säuberlich getrennt zu halten. Obwohl sich der Philosoph der Existenz Gottes als in allem endlichen Erkennen mitbejaht vergewissern kann, beinhaltet dieses Miterfassen oder Mitwissen keine Einsicht in das wahre Wesen des Absoluten. Zu wissen, wer Gott ist, bleibt dem Theologen vorbehalten, der seine Einsicht auf das „Offenbarungswort“ stützen kann.19 Genau wie Kant geht es Rahner um die Möglichkeiten und Grenzen der Metaphysik sowie um den Platz zum Glauben. Anders als der Aufklärer Kant will Rahner jedoch vermeiden, dass die Erkenntnisansprüche der philosophischen Vernunft in Konkurrenz zur biblischen Theologie treten. Der Philosoph verfügt 15 GW1 128 = SW 2, 143. – Kurz zuvor spricht Rahner vom absoluten Sein als „miterfasst“ und „mitgewusst“ (GW1 128 = SW 2, 142). 16 GW1 128 = SW 2, 143. – P. Eppe (Rahner zwischen Philosophie und Theologie. Aufbruch oder Abbruch? [Pontes: Philosophisch-theologische Brückenschläge Bd. 42], Münster 2008, 44–52) wirft Rahner vor, die Deutung des absoluten Seins als Gott setze den persönlichen Glauben bereits voraus. 17 GW1 129 = SW 2, 143. 18 In einem Zusatz zur zweiten Auflage unterstreicht Johannes B. Metz die Notwendigkeit, die „unthematische Bewusstheit“ des Absoluten durch einen „eigentlichen Gottesbeweis“ auszulegen (SW 2, 143). 19 GW1 282 = SW 2, 287.

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weder a priori noch a posteriori über ein Wissen von Gott, das seine Offenbarung in Jesus Christus vorwegnehmen könnte oder erübrigen würde. Zwischen Philosophie und Theologie herrscht strenge Arbeitsteilung. Damit lässt sich die Titelfrage zunächst einmal negativ beantworten. Der mit jeder Erkenntnis endlicher Dinge erfolgende Vorgriff auf das Sein bezieht sich formal nicht auf Gott als den Gegenstand der Theologie. Die Philosophie kann der Religion nicht vorgreifen. Doch der Schein trügt. Klarer als andere Theologen vor und nach ihm hat Rahner gesehen, dass die Offenbarungsreligion buchstäblich in der Luft hängt, solange keine vom geglaubten Wort Gottes unabhängigen Quellen bezeugen, dass es denjenigen, der sich da offenbart, überhaupt gibt. Genau diese Schwierigkeit kann die Theologie nicht selbst lösen, sondern ist auf die Mithilfe der Philosophie angewiesen. Die Philosophie muss der Religion zumindest insoweit vorgreifen, als sie zeigt, dass der Bezugsgegenstand der Rede von Gott existiert, und dass es sich bei ihm nicht um ein endliches Ding unter anderen handelt. Indem die Philosophie das, was die Religion ‚Gott‘ nennt, als das Woraufhin des rahnerschen Vorgriffs bzw. als das absolute Sein der Metaphysik identifiziert, legt sie einen festen Grund für die Theologie. Das Frühwerk Rahners ist geprägt durch den engen Zusammenhang zwischen Erkenntnismetaphysik, Religionsphilosophie und Fundamentaltheologie.20 Folglich findet das Gedankengut aus „Geist in Welt“ bruchlos Eingang in die unmittelbar danach entstandene Abhandlung „Hörer des Wortes“. Rahner hält daran fest, dass in dem alles menschliche Erkennen und Handeln bedingenden Vorgriff „die Existenz eines absoluten Seins, also Gottes mitbejaht, wenn auch nicht vorgestellt“ sei.21 Allerdings tritt der Ausdruck ‚Vorgriff‘ nun gegenüber der Rede von der Offenheit oder Transzendenz des Menschen zurück.22 Wie der Vorgriff, so bezieht sich auch die Offenheit nicht nur auf das Sein überhaupt, sondern insbesondere auf Gott als das absolute Sein. Der Mensch lebe „in einem dauernden Sichausstrecken nach dem Absoluten, in einer Offenheit zu Gott“.23 Mit dieser wesensmäßigen Transzendenz begründet der Theologe Rahner die Ansprechbarkeit des Menschen für eine mögliche Offenbarung Gottes. Um sich mitzuteilen, müsse Gott einerseits in die endliche Welt eingehen und an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit zum Menschen sprechen. Sich offenbaren könne Gott andererseits nur, wenn sein Wort von etwas redet, das der Angesprochene nicht bereits kraft eigener Einsicht weiß. 20 Was die reife Theologie Rahners angeht, steht der Ausdruck ‚Vorgriff‘ nach Ansicht K. Kilbys (Karl Rahner. Theology and Philosophy, London/New York 2002, 128 ff.) nicht mehr im Zusammenhang einer philosophischen Theorie, sondern bezeichnet die Überzeugung des christlichen Glaubens, dass jeder Mensch ein übernatürlich zu erklärendes Bewusstsein von Gott besitze. 21 HW1 82 = SW 4, 98. 22 Siehe dazu Herzgsell, a. a. O., 42–61. 23 HW1 85 = SW 4, 102.

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Nur wenn der Mensch als Wesen der Transzendenz verstanden wird, „kann er horchen, ob Gott nicht etwa spreche, weil er weiß, dass Gott ist; kann Gott reden, weil er der Unbekannte ist“.24

2.

Begriff und Antizipation bei Wolfhart Pannenberg

Wie bei Rahner erscheint der Ausdruck ‚Vorgriff‘ auch bei Pannenberg bereits in einer frühen Phase seines Werks. Doch anders als bei seinem katholischen Kollegen spielen die Probleme der Auslegung der biblischen Botschaft von Anfang an eine große Rolle. Pannenberg ringt um das richtige Verständnis der Verkündigung eines Reiches Gottes, dessen Verwirklichung wesentlich in der Zukunft liegt. Schon die Propheten Israels und die Apokalyptiker des Alten Testaments bedienten sich eines ‚Vorgriffs‘ auf die von Gott erst noch herbeizuführende Zukunft. Zumal das Lebensschicksal Jesus von Nazareths gewinnt seinen vollen Sinn erst, wenn man es im Horizont des Endes der Geschichte begreift. In der Auferstehung Jesu von den Toten erblickt der christliche Glaube die einmalige „Vorwegnahme“25 des Heils, das allen Geschöpfen zuteilwerden soll. Die hier nur angedeuteten Schwierigkeiten der biblischen Hermeneutik führen Pannenberg zu grundsätzlichen Erwägungen über die Bedeutung der Geschichte. Sie schlagen sich unter anderem in dem Vortrag „Über historische und theologische Hermeneutik“ von 1964 nieder. Im Unterschied zu Rahner führt Pannenberg den Gedanken des Vorgriffs nicht im Rahmen einer allgemeinen Theorie sinnlicher Erkenntnis ein, sondern als Baustein der Hermeneutik. Die Rolle des Stichwortgebers übernimmt wiederum Heidegger.26 In seiner existenzialen Analytik hatte er das menschliche Dasein als ein „Vorlaufen“ in den Tod gedeutet. Um authentisch zu existieren, muss der Mensch die Möglichkeit des eigenen Todes anerkennen. Mit dem Vorlaufen in den Tod verbindet Heidegger das „Ganzseinkönnen“ des Daseins. Nur am Ende des Lebens, wenn der Mensch stirbt, liegt sein Dasein als Ganzheit vor, also paradoxerweise dann, wenn der Mensch nicht mehr da ist. Für die Hermeneutik ist daran die Einsicht von Belang, dass ein sich in der Zeit erstreckendes Ganzes – was auch immer es sei – erst im Vorgriff auf sein zukünftiges

24 GW1 296 = SW 2, 300. 25 W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961 (= OaG), 98; 103. Ähnlich ders., Über historische und theologische Hermeneutik, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 1, Göttingen 1967 (= GSTh I), 123–158, hier: 138. Siehe auch ders., Systematische Theologie. Bd. I, Göttingen 1988 (= STh I), 66; 360. 26 Vgl. zum Folgenden Heidegger, Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1979, 260–267 (§53).

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Ende verstehbar ist. Pannenberg schließt sich der Auffassung an, „dass von der Ganzheit des Daseins nur antizipierend geredet werden kann“27. Allerdings widerspricht Pannenberg Heideggers Sicht des Todes als der äußersten Möglichkeit des Daseins. Durch die Deutung des Ganzseinkönnens als Vorlaufen in den Tod werde die Gemeinschaft ausgeblendet und die letzte Zukunft des Einzelnen ohne Mitmenschen und ohne Gesellschaft vorgestellt.28 Außer der individualistischen Perspektive bemängelt Pannenberg an Heideggers existenzialem Entwurf auch die Eingrenzung auf das gegenwärtige Leben. Gerade im Tod bleibe das Leben eines jeden Menschen Fragment. Die Frage nach der Ganzheit des Daseins lasse sich nur im Blick auf die Bestimmung der Menschheit als ganzer beantworten. „Der Vorgriff auf eine letzte Zukunft, von der her die wahre Bedeutung alles einzelnen Geschehens sich erst ergibt, muss sich also einerseits über den Tod des einzelnen hinaus richten und andererseits die gesamte Menschheit, ja alles Wirkliche überhaupt umfassen.“29 Für den Theologen Pannenberg richtet sich der Vorgriff auf das christliche Eschaton. Der philosophischen Geltung seiner Überlegungen geschieht dadurch kein Abbruch. Ganz gleich, worin die letzte Zukunft besteht, bleibt alles Geschehen bis zum Erreichen des Endes vorläufig und die Frage nach dem Sinn des Daseins offen. Dennoch ermöglicht der Vorgriff auf das zukünftige Ganze, „die Geschichte der Menschheit auf eine letzte Bestimmung hin zu denken, ohne die Unabgeschlossenheit des faktischen Geschehensverlaufes zu überspringen“.30 Der Grundsatz gilt für die theologische ebenso wie für die historische Hermeneutik. Schon dem frühen Pannenberg geht es um mehr als die Auslegung heiliger Schriften oder das Verständnis kirchlicher Dogmen. Indem er den Vorgriff als hermeneutisch notwendig erweist, zielt er auf eine philosophische Theorie der Wirklichkeit im Ganzen. Nicht nur das menschliche Dasein und die Geschichte, sondern sogar die Natur ist durch ihre zeitliche Verfasstheit bestimmt, und zwar so, dass sich ihre wahre Gestalt allmählich ausbildet und erst vom Ende her verstanden wird. Pannenberg zieht aus der Hermeneutik metaphysische Folgerungen, wenn er die Vermutung anstellt, „dass Wesensaussagen und damit doch wohl alle Sachbenennungen überhaupt auf Antizipationen einer noch nicht erschienenen Zukunft beruhen“.31 Von keinem Ding können wir sagen, was es wirklich ist, wenn wir seine Erscheinung nicht als Antizipation seiner Zukunft auffassen. „Erst aus einem solchen Vorgriff auf eine letzte Zukunft und also auf die noch unabgeschlossene Ganzheit der Wirklichkeit überhaupt ist es möglich,

27 28 29 30 31

GSTh I, 147. Vgl. GSTh I, 146. W. Pannenberg, Glaube und Vernunft, in: GSTh I, 237–251, hier: 249. GSTh I, 149. GSTh I, 147.

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einem einzelnen Ereignis oder Wesen, sei es gegenwärtig oder vergangen, definitiv seine Bedeutung zuzuerkennen.“32 Wie Rahner in Auseinandersetzung mit Thomas von Aquin, so entwickelt Pannenberg sein Verständnis des Vorgriffs in kritischer Bezugnahme auf Hegel. Die endliche Vernunft erfasse das Ganze der Wirklichkeit „nicht abschließend im Begriff, sondern nur im Vorgriff“. Im Unterschied zur hegelschen „Philosophie des Begriffs“ bleibe der Prozess der Antizipation „auf ein Vorgängiges bezogen“, das durch Denken und Erkennen „nie eingeholt und überholt werden kann“.33 Mit dem Hinweis auf die Vorgängigkeit der Wirklichkeit gegenüber dem Erkennen tritt Pannenberg dem Verdacht entgegen, das Denken stehe über dem Sein. Denn in dem Fall wäre das menschliche Dasein nichts anderes als die Verwirklichung eines bereits in seinem Begriff gelegenen Programms. Gäbe es einen abschließenden Begriff vom Ganzen, verlöre die Zukunft ihre Offenheit und sänke die Zeit zu einem bloßen Schein herab. Der Vorgriff kann und soll also das tatsächliche Ende der Geschichte nicht ersetzen. Deshalb meint Pannenberg, dem „Logismus“ zu entgehen, den Dilthey an der hegelschen Philosophie beklagt hatte.34 Das Wortspiel von Begriff und Vorgriff weiter ausschöpfend, bestimmt Pannenberg das begriffliche Erkennen seinerseits als einen Vorgriff, so dass „die in sich reflektierte Antizipation als der wahre Begriff des Begreifens“ zu gelten habe.35 Die menschliche Erkenntnis zielt auf das Ganze der Wirklichkeit, ohne es in seinem Wesen vollkommen erfassen zu können, weil seine Verwirklichung noch aussteht. In der berühmten Abhandlung über „Wissenschaftstheorie und Theologie“ vergleicht Pannenberg seine Option mit der Haltung Karl Poppers gegenüber dem Wahrheitsverständnis des logischen Positivismus. Für Popper können wissenschaftliche Aussagen keine endgültige Wahrheit beanspruchen, sondern müssen als Hypothesen angesehen werden, die sich an der Wirklichkeit zu bewähren haben. Gleichwohl bleibt die Ausrichtung auf die Wahrheit als Ziel und Ideal des Erkennens bestehen. In diesem Sinn stellt jede wissenschaftliche Theorie einen Vorgriff dar. „Die gegenwärtige Inanspruchnahme einer Wahrheit,

32 GSTh I, 249 f. – Dass Pannenberg dabei durchaus an Alltägliches denkt, zeigen Sätze wie ‚dies ist eine Rose‘ und ‚jenes ist ein Hund‘, die er als Beispiele nennt (ebd.). 33 GSTh I, 150. – An anderer Stelle räumt Pannenberg allerdings ein, dass sich „die Hegelschen Gedankenbestimmungen in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch“ erweisen, und zwar insofern sie ihre Wahrheit erst im Durchlaufen ihrer jeweiligen konkreten Entwicklung erreichen (W. Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, in: ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, Göttingen 1972, 78–113, hier: 111 Anm. 96). 34 Vgl. W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988 (= MuG), 66, und ders., Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996 (= ThuPh), 310. 35 GSTh I, 150.

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die dennoch strittig bleibt, so dass man sich ihr bestenfalls ‚nähern‘ kann, ließe sich als Antizipation beschreiben.“36 Sowohl in hermeneutischer als auch in wissenschaftstheoretischer Perspektive betont Pannenberg die Unabgeschlossenheit des Prozesses der Erfahrung und die daraus resultierende Vorläufigkeit aller Aussagen über das Ganze. Philosophie und Theologie bilden von dieser Feststellung keine Ausnahme. In der Deutung unserer Begriffe als Vorgriff sieht Pannenberg demzufolge keine Schwäche, sondern im Gegenteil einen Vorzug der von ihm selbst betriebenen Erneuerung der Metaphysik. Sie soll „der mit der Geschichtlichkeit jedes Standortes metaphysischer Reflexion gegebenen Endlichkeit“ Rechnung tragen.37 Wiederum gegen Hegel gewandt verspricht Pannenberg „ein Mehr an Rationalität gegenüber einer Beschreibung, der der wahre Begriff einer Sache mit der Sache selbst in eins fällt“.38 Wenn weder der Begriff und die Sache in eins fallen, noch das Denken die Wirklichkeit überholen kann, scheint es umgekehrt so zu sein, dass sich der antizipierende Begriff am Ganzen der Wirklichkeit messen lassen muss. Die Kennzeichnung unseres Erkennens als Antizipation bedeutet für Pannenberg „die Angewiesenheit des Begriffs auf Bewährung an der durch ihn erfassten Sache“.39 Der Begriff bezieht sich jedoch nicht auf irgendetwas aktuell Existierendes, sondern auf Wirklichkeit, die durch Geschichtlichkeit bestimmt und deren Zukunft noch offen ist. Antizipation in Pannenbergs Verständnis setzt voraus, dass „das Seiende selbst nicht ist, was es ist, d. h. dass es noch nicht in sein eigenes Wesen gekommen ist“.40 Die Offenheit der Zukunft wird damit zu einer grundlegenden metaphysischen Bestimmung. Hier liegt der eigentliche Unterschied zwischen Pannenberg und Rahner. Diente der Vorgriff auf das Sein bei Rahner vor allem dazu, dem endlichen Erkennen Halt zu verleihen, wird die Antizipation bei Pannenberg ihrerseits zu einem Inbegriff der Endlichkeit menschlichen Daseins. Entsprechend zurückhaltend beurteilt Pannenberg den Wortgebrauch seines katholischen Kollegen. In seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983 erwähnt er anmerkungsweise die Rede des transzendentalen Thomismus „von einem Ausgriff (excessus) oder ‚Vorgriff‘ auf das Sein im Ganzen als 36 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973 (= WuTh), 43. – Zur Frage der Vergleichbarkeit naturwissenschaftlicher Hypothesen mit theologischen Sätzen vgl. D. Alvarez, A Critique of Wolfhart Pannenberg’s Scientific Theology, in: Theology and Science 11 (2013), 224–250, hier: 231 ff. 37 MuG, 67. 38 MuG, 72. 39 MuG, 72. 40 GSTh I, 150. – Pannenberg verweist auf die Nähe zum aristotelischen Begriff der Entelechie (vgl. MuG, 76 f.). Zu einem möglichen Einfluss Ernst Blochs siehe C. Mostert, God and the Future. Wolfhart Pannenberg’s Eschatological Doctrine of God, London/New York 2002, 90 ff.; 132 f.

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Bedingung der einzelnen Gegenstandserkenntnis“. Als Quelle bezieht er sich ausdrücklich auf Rahners „Geist in Welt“. Die Anknüpfung Rahners an den excessus bei Thomas von Aquin erscheint Pannenberg „als recht freie Weiterbildung“.41 Etwas deutlicher benennt Pannenberg seine Vorbehalte in den wenige Jahre später entstandenen Vorträgen über „Metaphysik und Gottesgedanke“. Dort erklärt er sich zwar einverstanden „im Hinblick auf die implizite Mitbejahung eines absoluten Seins“ bei jedem Erfassen endlicher Wesen, äußert dann aber Zweifel, ob man „diesen Sachverhalt mit Rahner als ‚Vorgriff‘ kennzeichnen sollte“. Wie wir gesehen haben, hat für Pannenberg nicht das Miterfassen des absoluten Seins oder Gottes, sondern das vorläufige Begreifen des Endlichen den Charakter eines Vorgriffs. Doch „gerade der antizipatorischen Funktion der Kategorien und Begriffe“ in unseren Erfahrungsurteilen habe Rahner „keine Aufmerksamkeit gewidmet“.42 Pannenbergs metaphysische Erwägungen bleiben nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion. Die Unterschiede betreffen nicht die Unabgeschlossenheit der Weltgeschichte, derentwegen beide nur vorläufige Aussagen treffen können. Was die Theologie von der Philosophie trennt, ist die Überzeugung, dass in Tod und Auferstehung Jesu historisch bereits einmal Wirklichkeit geworden ist, was am Ende der Zeit an allen Menschen geschehen soll. Für den christlichen Glauben bedeutet die Auferstehung Jesu die „antizipatorische Realisierung der Vollendung“. Die Botschaft von Ostern ist kein antizipierendes Begreifen des Endes der Geschichte, sondern „hier ist Antizipation reale Vorausereignung.“43 Diese für den christlichen Glauben unaufhebbare Spannung zwischen ‚Schon‘ und ‚Noch nicht‘ ist es, an der sich Metaphysik und Offenbarung voneinander scheiden. Der Philosoph wird nachfragen müssen, wie sich die Behauptung einer realen Vorwegnahme des Endes aller Dinge mit der These von der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des Geschehens verträgt. Hebelt ein „Vorausereignis des Endes“44 die Offenheit der Zukunft nicht von vornherein aus? 45 41 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 65 Anm. 64. – Statt Thomas von Aquin hätte sich Rahner laut Pannenberg auch auf die Idee des Unendlichen in Descartes’ dritter Meditation berufen können (vgl. MuG, 74). 42 MuG, 74 f. – Im Übrigen belässt es Pannenberg bei dem Hinweis auf die ausführliche Auseinandersetzung mit Rahner in der Dissertation seines Schülers L. Kugelmann (Antizipation. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung [Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Bd. 50], Göttingen 1986, 207–235; vgl. MuG, 98 Anm. 6). 43 MuG, 70. 44 OaG, 106 f. 45 P. Clayton (Anticipation and Theological Method, in: C. Braaten/P. Clayton [Hg.], The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response, Minneapolis 1988, 122–150, hier: 137 f.) beklagt die Doppeldeutigkeit des Begriffs der Antizipation, der sich zum einen auf die Vorwegnahme des Endes durch das

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Genauso wenig wie Rahners Behauptung der Identität von Erkennen und Sein kann Pannenbergs Annahme einer eschatologischen Antizipation hier auf ihre Berechtigung überprüft werden. Festzuhalten bleibt das Bemühen des Theologen, seine Position in beide Richtungen abzusichern. So erklärt er von der antizipierten Zukunft, sie sei zwar „in ihrer Antizipation schon präsent“, aber „immer unter der Voraussetzung des Eintretens der eschatologischen Zukunft der Gottesherrschaft und der Auferstehung der Toten“.46 Demnach liegt es im Wesen der Religion, dass sie – trotz aller Vorläufigkeit – die letzte Zukunft in einer Weise vorwegnimmt, die von der Antizipation des philosophischen Begreifens verschieden und ihr qualitativ überlegen ist. Die Titelfrage scheint also eher dahingehend beantwortet werden zu müssen, dass nicht die Philosophie der Religion, sondern umgekehrt die Religion der Philosophie vorgreift. Für den Gläubigen ist der gute Ausgang des Ganzen ein Moment seiner Erfahrung einer Wirklichkeit, die mit anderen Augen als denen des Glaubens betrachtet vielleicht mehr Anlass zur Verzweiflung als Grund zur Hoffnung bietet.

3.

Philosophie und Religion

Mit der Schilderung des pannenbergschen Begriffs der Antizipation sollten die Unterschiede deutlich geworden sein, die ihn von der rahnerschen Annahme eines Vorgriffs auf das Sein trennen. Sie betreffen vor allem die metaphysischen Voraussetzungen der jeweiligen Theorie. Während Rahner von der thomistischen Seinsmetaphysik ausgeht, für die das allgemeine Sein sowohl den Horizont der Möglichkeit als auch die Bedingung der Erkenntnis des endlichen Seienden bildet, orientiert sich die Metaphysik Pannenbergs an der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins. Solange sich das Ganze der Wirklichkeit im Werden befindet, lässt sich nichts Endgültiges über das Wesen der Dinge ausmachen, sondern alles Erkennen geschieht im Vorgriff auf die letzte Zukunft. Wie ich lediglich angedeutet, aber nicht weiter ausgeführt habe, sind beide Konzeptionen Einwänden ausgesetzt. Gegen Rahners Vorgriff auf das Sein lässt sich hauptsächlich geltend machen, dass er die für den transzendentalen Thomismus grundlegende These der Identität des Erkennens mit dem Sein nicht ausreichend begründet. Pannenberg wiederum vermag die Spannung nicht aufzulösen, die zwischen einem bloß epistemischen Vorgriff auf das Ganze der Wirklichkeit und der realen Vorwegnahme des Endes der Geschichte herrscht. Ich möchte diese Schwierigkeiten hier auf sich beruhen lassen und die Einbrechen Gottes in die Geschichte beziehe und zum anderen auf den kontingenten Verlauf des Geschehens verweise. Außerdem sei unklar, ob der Mensch frei bleibe, den Ausgang der Geschichte zu beeinflussen, wenn Gott ihn bereits vorweggenommen hat (140 f.). 46 MuG, 70.

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Aufmerksamkeit stattdessen auf eine strukturelle Gemeinsamkeit richten, die Rahner mit Pannenberg verbindet. Beide Denker verfolgen, wie sich ebenfalls bereits gezeigt hat, mit ihrer Philosophie theologische Interessen. Rahner will den Menschen als möglichen Hörer des Wortes erweisen, durch das Gott sich in endlicher Gestalt mitteilt. Pannenberg dagegen geht es um die Bedeutung eines Offenbarungsgeschehens, das die Erfüllung der mit ihm gegebenen Verheißung bereits vorwegnimmt. Das Motiv des Vorgriffs kommt dabei in unterschiedlicher Funktion zum Einsatz. Bei Rahner soll der Vorgriff auf das absolute Sein sicherstellen, dass die religiöse Rede von Gott nicht ins Leere zielt. Pannenberg bezweckt mit der Antizipation des Ganzen der Wirklichkeit die Kluft zwischen dem Schon der Offenbarung und dem noch ausstehenden Ende der Geschichte zu überbrücken. Doch auch Pannenberg ist auf die Voraussetzung angewiesen, dass Gott, auf den sich der religiöse Glaube an eine zukünftige Vollendung im Grunde bezieht, kein Hirngespinst ist. Obwohl sich erst vom Ende her ganz begreifen lässt, wer Gott wirklich ist, verlangt die Redlichkeit, den Gottesgedanken so auszuweisen, dass auch der Nichtgläubige versteht, wer oder was mit dem Gottesbegriff der Religion gemeint ist. Um dieser Forderung zu entsprechen, findet auch bei Pannenberg ein – von ihm freilich nicht so genannter – Vorgriff auf Gott statt. Die Notwendigkeit, den Gedanken Gottes zu klären, bevor die Theologie ihren – seinerseits antizipatorischen – Begriff von Gott bildet, ergibt sich aus deren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Ziel muss es sein, in einer vom religiösen Diskurs unabhängigen Sprache ein Vorverständnis vom Gegenstand der Theologie zu entwickeln, um so dem Eindruck entgegenzuwirken, die Religion habe es lediglich mit den subjektiven Befindlichkeiten oder Vorstellungen der Gläubigen zu tun. Die Theologie selbst kann eine solche Klärung des Gottesgedankens naturgemäß nicht leisten, will sie nicht den Verdacht der Zirkularität auf sich ziehen. Da die Religion das Ganze des menschlichen Daseins im Blick hat, verweist Pannenberg auf die Metaphysik als diejenige wissenschaftliche Disziplin, der die Entwicklung eines entsprechenden Vorverständnisses obliegt. Ähnlich wie bei Rahner fällt damit der Philosophie die Aufgabe zu, den Gegenstandsbezug religiöser Aussagen zu sichern. Da Gott, wie er von der Religion in Anspruch genommen wird, kein endliches Ding neben anderen sein kann, unterscheidet sich der Gottesgedanke von den Begriffen für sinnlich erfahrbare Gegenstände. Der Unterschied besteht wohl gemerkt nicht darin, dass die letzteren antizipatorischen Charakter besitzen, während der Gedanke Gottes klar und deutlich wäre. Im Gegenteil bezieht sich der Gottesgedanke auf das unabgeschlossene Ganze der Wirklichkeit, in dessen Zusammenhang die einzelnen Dinge und Ereignisse erst ihre wahre Bedeutung erlangen. Für Pannenberg lässt sich die Erkenntnis des Einzelnen daher nicht vom Erfassen des Ganzen trennen. Lange bevor er sich mit Rahners These von der

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Mitbejahung des absoluten Seins im endlichen Erkennen einverstanden erklärte,47 entfaltete Pannenberg seine Auffassung bereits in vergleichbaren Worten. Er sprach von Entwürfen der „Sinntotalität“, die in allen einzelnen Erfahrungen „mitgesetzt“ würden. Bei ihnen handle es sich um „Antizipationen der Totalität der Wirklichkeit“, in denen die Wirklichkeit Gottes „mitgegeben“ werde.48 Das Spezifikum religiöser Erfahrung sieht Pannenberg darin, dass das im alltäglichen Erkennen lediglich implizit vorhandene Bewusstsein der Sinntotalität in der Religion zu einem expliziten Bewusstsein Gottes wird.49 Seine Gegenüberstellung der impliziten Antizipation der Sinntotalität und der expliziten Erfahrung Gottes gleicht in ihrer Struktur der Spannung zwischen dem allgemeinen Sein und Gott als absolutem Sein bei Rahner. Für Pannenberg wie für Rahner ist Gott der Grund alles Wirklichen. Für beide herrscht zwischen Gott und dem Ganzen der Welt eine Beziehung der Abhängigkeit und ist die Erkenntnis Gottes vermittelt durch den Umgang des Menschen mit der endlichen Wirklichkeit. Ein weiterer Punkt der Übereinstimmung betrifft das Verhältnis des philosophischen Gedankens Gottes zur religiösen Offenbarung. Als gläubige Christen sind sowohl Pannenberg als auch Rahner überzeugt, dass sich Gott in der Person und im Schicksal Jesu den Menschen auf unüberbietbare Weise zu erkennen gegeben hat. Als Theologen unterstreichen beide die Wichtigkeit metaphysischer Argumente zur Rechtfertigung des Redens von Gott. Pannenberg spricht von der kritischen Rolle der philosophischen Reflexion bei der religiösen Wahrheitssuche. Von der Metaphysik erwartet er die „Formulierung von Kriterien für die Auslegung des Gottesverständnisses der religiösen Tradition“.50 Solche Kriterien stellen vor allem die Begriffe des wahren Unendlichen und des Absoluten dar, deren Bedeutung Pannenberg in enger Anlehnung an Hegel bestimmt.51 Demnach ist Gott als ein Unendliches zu denken, welches das Endliche nicht von sich ausschließt, sondern als Ganzes umgreift. Ferner ist Gott ein Absolutes, als dessen Äußerung alles andere gedacht werden muss. Eine Religion, deren Vorstellungen von Gott diesen Kriterien nicht entsprechen, fällt zurecht der philosophischen Kritik anheim.

47 Vgl. MuG, 74. 48 WuTh, 312. – Die Nähe zu Rahners ‚miterfasst‘ und ‚mitgewusst‘ (vgl. GW1 128 = SW 2, 142) ist nicht zu übersehen. Pannenberg verteidigt seine Position ausdrücklich in STh I, 180 f. Anm. 129. 49 Vgl. WuTh, 336. – Im Jargon der Wissenschaftstheorie nennt Pannenberg die Entwürfe der Sinntotalität Hypothesen. Verglichen mit ihnen muss es sich beim Gottesbewusstsein um eine Hypothese zweiter Ordnung handeln. Folglich führt die theologische Reflexion auf die religiöse Erfahrung zu Hypothesen dritter Ordnung (vgl. ebd.). 50 MuG, 33. Ähnlich ThuPh, 363. 51 Vgl. zum Folgenden MuG, 28–33. Siehe dazu auch die Ausführungen von Gunther Wenz in diesem Band.

Wie weit kann die Philosophie der Religion vorgreifen?

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Allerdings reichen die metaphysischen Bestimmungen nicht aus, um Klarheit über das Wesen Gottes zu gewinnen. Genau wie Rahner, vor diesem schon Thomas von Aquin, und anders als Hegel, hält Pannenberg das philosophische Denken für ungeeignet, einen der biblischen Offenbarung angemessenen Begriff von Gott zu fassen. Wer weder etwas weiß vom Verhältnis Jesu zu seinem Vater, noch etwas gehört hat über Jesu Auferstehung von den Toten, dem fehlen die Voraussetzungen, um Gott als den zu erkennen, der er ist, nämlich einer in drei Personen, die liebend aufeinander bezogen sind. Wo von dem trinitarischen Gott die Rede ist, spricht freilich nicht mehr der Metaphysiker, sondern der Theologe. Nur auf dem Boden des Christentums lässt sich der Begriff eines trinitarischen Gottes bilden.52 Über dessen Wahrheit kann nur die Theologie und erst am Ende befinden. Die Philosophie muss sich mit einer bescheideneren Rolle begnügen. Statt das göttliche Wesen – wie vorläufig auch immer – zu erkennen, stellt sie nicht mehr als die „Minimalbedingungen für das Reden von Gott“ auf.53 Insofern die Metaphysik das tut, greift sie der Religion vor. Der philosophische Gottesgedanke verhilft zu einem „Vorbegriff von ‚Gott überhaupt‘“.54 Ob und als wer ein solcher göttlicher Ursprung sich in der Religion zeigt, muss die Philosophie indessen unausgemacht lassen. Ihr Urteil ist erst wieder gefragt, wenn es darum geht zu entscheiden, ob bestimmte in der Geschichte wirklich gewordene religiöse Vorstellungen unter den Vorbegriff von Gott fallen, oder ob sie sich gegebenenfalls auf etwas anderes als Gott beziehen.55 Doch in der Ausübung ihrer kritischen Funktion kann die Philosophie dem historischen Auftreten der Religion niemals vorgreifen.

52 Siehe dazu C. Axt-Piscalar, Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesgedanken bei Wolfhart Pannenberg, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke (Religion in Philosophy and Theology Bd. 41), Tübingen 2009, 319–337. 53 STh I, 426. 54 Ebd. 55 Zu einer vergleichbaren Einschätzung gelangt B.P. Göcke (An Analytic Theologian’s Stance on the Existence of God, in: European Journal for Philosophy of Religion 5 [2013], 129–146) vom analytischen Standpunkt.

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Vom Unendlichen zum Panentheismus Eine Antwort auf William L. Craigs Kritik an Wolfhart Pannenberg

1.

Einleitendes

1

In den vergangenen Jahren ist durch den amerikanischen Religionsphilosophen William Lane Craig mit starker Stimme dafür argumentiert worden, dass der philosophischen Gotteslehre Wolfhart Pannenbergs – sowie einiger Religionsphilosophen in seinem Gefolge, wie etwa Philip Clayton und LeRon Shults – aufgrund ihres hegelianischen Erbes ein begriffliches Dilemma zugrunde liege. Dieses Dilemma bestehe darin, dass der Vertreter des Pannenberg’schen Gottesbegriffs entweder seinen (idealistischen) Unendlichkeitsbegriff aufgeben oder aber akzeptieren müsse, dass dieser Unendlichkeitsbegriff zu einem Pantheismus führe. Schon 2006 hat William Rowe auf diesen Vorwurf Craigs reagiert und Philip Claytons prozesstheoretischen Panentheismus gegen Craig verteidigt. Craig hat daraufhin 2015 seine Argumentation erweitert. Im vorliegenden Beitrag soll Craigs Kritik vor dem Hintergrund des Pannenberg’schen Denkens untersucht werden. Wir werden argumentieren, dass Craigs Kritik verfehlt ist, weil die dieser Kritik zugrundeliegende Meta-Philosophie unterkomplex ist. Wir gehen in diesem Beitrag in vier Schritten vor: Zunächst werden wir Craigs Argumentation rekonstruieren und verschiedene Voraussetzungen seiner Kritik herausarbeiten. Im zweiten Abschnitt wollen wir die meta-philosophischen Strukturelemente der vorgelegten Rekonstruktion explizieren, um schlussendlich begründen zu können, dass Craigs Vermischung von Pantheismus und Panentheismus unter dem gemeinsamen Schlagwort „Monismus“ das Hauptproblem von Craigs Kritik darstellt. Im dritten Abschnitt wird unter Zuhilfenahme 1 Für sehr hilfreiche Hinweise zu diesem Beitrag sei den folgenden Personen gedankt: Gunther Wenz, Georg Sans, Tobias Müller und Josef Schmidt. Ferner danken wir der John Templeton Foundation, deren großzügige Förderung des Projekts „Analytic Theology and the Nature of God“ dieser Forschung zugrunde liegt.

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von Jonathan Schaffers Prioritätsmonismus gezeigt, dass es auch ohne Rekurs auf religionsphilosophische Kontexte möglich ist, die Voraussetzungen konsistent zu modellieren, die für einen begrifflich stabilen Panentheismus notwendig sind. Im letzten Abschnitt werden wir skizzenhaft umreißen, welche Auswirkungen diese Überlegungen für das Denken Pannenbergs haben könnten.

2.

William L. Craigs Kritik an Wolfhart Pannenberg: eine Rekonstruktion

Craigs Rekonstruktion und Kritik an Pannenberg nimmt ihren Ausgang von Georg Wilhelm Friedrich Hegels Begriff (WdL, 78–85) der Unendlichkeit. Da wir uns im Rahmen dieses Beitrags nicht auf eine Darstellung und Einordnung der hegelianischen Terminologie einlassen können, sei hier zusammenfassend auf eine Formulierung des hegelianischen Unendlichkeitsbegriffs nach Rolf-Peter Horstmann verwiesen: „Ein haltbarer … Begriff von … Unendlichkeit muss deshalb so gefasst werden, dass er zwar einerseits als Gegenbegriff zu dem der … Endlichkeit fungieren kann, andererseits aber den dieser Endlichkeit nicht ausschließt oder ‚negiert‘“. (2003, 192)

Horstmann identifiziert also zwei Aspekte des Unendlichkeitsbegriffs: Einerseits wird das Unendliche in Abgrenzung zum Begriff des Endlichen beschrieben – das Unendliche muss als der ‚Gegenbegriff‘ des Endlichen verstanden werden. Andererseits soll das Endliche nicht als komplementär zum Unendlichen verstanden werden. Das Unendliche bezeichnet also nicht das, was dem Endlichen vollkommen oder vollständig entgegengesetzt wäre. Ohne im Detail auf die Motivation dieser Definition eingehen zu können, scheint der vorliegende Gedanke von folgender philosophischer Intuition getragen zu sein: Wenn das Unendliche als das wahrhaft Unendliche – also mithin das Allumfassende – beschrieben sein soll, dann kann es nicht in einer einfachen Negation des Endlichen bestehen, sondern muss dieses Endliche mitumfassen. Wir denken, dass der Begriff des absoluten Komplements im mengentheoretischen Sinne den vorliegenden Zusammenhang der Negation adäquat beschreibt: Wenn das Unendliche das Komplement des Endlichen wäre, dann müsste das Unendliche dem Endlichen absolut entgegengesetzt sein. Betrachten wir ein mathematisches Beispiel des angedachten Zusammenhangs: Sei das „universe of discourse“ des betreffenden Zusammenhangs die Menge der natürlichen Zahlen, so wäre das Komplement der Menge der ungeraden Zahlen die Menge der geraden Zahlen. Endliches und Unendliches wären in diesem Sinne vollständige Gegenbegriffe. Aus dem genannten Zusammenhang lässt sich jedoch noch etwas weiteres folgern: Man könnte nämlich fragen, was im genannten Zusammenhang von Unendlichem und Endlichem dieses „universe of

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discourse“ sein sollte – was also als der gemeinsame Rahmen der beiden Begriffe sein sollte. Mengentheoretisch kann das „universe of discourse“ als Konjunktion einer beliebigen Teilmenge mit ihrem Komplement beschrieben werden. Unendliches und Endliches zusammen würden alles, was es gibt, beschreiben – sie wären einander entgegenstehende Relata. Dies scheint aber der Intuition des Deutschen Idealismus (Hartmann 1923/ 1929, 417) zu widersprechen, dass das Unendliche als das Absolute – das Allumfassende – bestimmt werden sollte und es ist gemäß dieser Intuition, dass das Unendliche nicht als das Komplement des Endlichen verstanden werden kann. Diese Bestimmung des Begriffs nach Horstmann soll für die folgenden Überlegungen als Hintergrundfolie fungieren. Craigs Kritik (2007; 2015) nimmt nun die doppelte Struktur dieses idealistischen Unendlichkeitsbegriffs ins Visier: Im Besonderen geht es ihm darum zu zeigen, dass die Tatsache, dass Pannenberg im Gefolge des deutschen Idealismus auf die These verpflichtet ist, dass Unendlichkeit das Endliche nicht ausschließt, in einen starken ontologischen Monismus mündet, der als Pantheismus verstanden werden kann. Im Folgenden wollen wir die einzelnen Argumentationsschritte Craigs nachvollziehen, um die Struktur seines Arguments explizit herauszuarbeiten: Er geht von Pannenbergs idealistischer Bestimmung des Unendlichkeitsbegriffs in der „Systematischen Theologie“2 aus: „Der Begriff des Unendlichen ist nicht primär als Schrankenlosigkeit zu bestimmen. ‚Denn eigentlich soll doch unendlich nicht dasjenige sein was ohne Ende ist, sondern das dem Endlichen, d. h. dem durch anderes Mitbestimmten entgegengesetzte.‘129 … Die Grundbestimmung im Begriff des Unendlichen aber ist der Gegensatz zum Endlichen überhaupt.“ (430; EN 397)

Craig rekonstruiert die Argumentation Pannenbergs ausgehend von dieser Bestimmung: 1. Das Endliche ist das, was durch seine Unterscheidung von etwas anderem definiert wird. 2. Das Unendliche ist definiert als das, was nicht endlich ist. 3. Also ist das Unendliche etwas, was durch seine Unterscheidung von etwas anderem definiert wird. [Anwendung der Definition in 1 auf 2] 4. Also ist das Unendliche endlich.

2 Craig zitiert in seinen Ausführungen die Übersetzung durch Geoffrey Bromiley (1991), die er selbst als „… rather free“ (Craig 2015, n.p.) bezeichnet. Wir verwenden die deutsche Ausgabe (2015) und weisen auf Unterschiede nur dort hin, wo diese inhaltlich bedeutsam sind. Wir geben hinter den Stellenangaben der deutschen Ausgabe die Stellenangaben der englischen Übersetzung an, die Craig zitiert.

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Nun haben sowohl Pannenberg (432; EN 400) wie auch Hegel, auf den er sich in Fußnote 129 von Kapitel 6 in Band 1 der „Systematischen Theologie“ bezieht, diesen Widerspruch selbst gesehen. Beide argumentieren aus diesem Grund dafür, dass eine Reformulierung der unter Satz 1 ins Spiel gebrachten Definition das Problem des Widerspruchs unter Satz 4 löse: 5. Das Unendliche ist definiert als das, was das Endliche umfasst3. [Reformulierung von 1] Pannenberg selbst bedient sich in seiner Formulierung einer hegelianischen Terminologie, wenn er davon spricht, dass das wahrhaft Unendliche „… seinen eigenen Gegensatz zum Endlichen gleichzeitig übergreift“ (432; EN 400). In diesem Zusammenhang lässt sich nun auch Horstmanns Beschreibung noch einmal klarer verstehen: Vor der drohenden Identifizierung des Unendlichen als einem Endlichen – entsprechend des ersten Gliedes der Definition, dass das Unendliche also als der Gegensatz zum Endlichen zu verstehen sei – ist es notwendig, das Endliche als etwas zu verstehen, das vom Unendlichen umgriffen ist. Genau an dieser doppelten Struktur setzt nun Craigs Kritik an: Er gibt Pannenberg zu, dass die vorliegende Formulierung in Satz 5 den unter Satz 4 abgeleiteten Widerspruch formal auflöst – aus der Reformulierung der Definition des Unendlichen lässt sich nicht mehr ableiten, dass das Unendliche als ein Endliches zu qualifizieren ist. Nach Craig verschiebt die vorliegende Reformulierung das Problem jedoch nur, da er zu zeigen können glaubt, dass Satz 5 zu einem starken ontologischen Monismus führt. In diesem Sinne lässt sich auf der Basis des Gesagten die eingangs formulierte Grundthese Craigs weiter präzisieren: 6. Die Tatsache, dass das Unendliche das Endliche positiv umfasst, führt zu einem starken ontologischen Monismus – mithin Pantheismus. [Im Folgenden als „Monismusvorwurf“ bezeichnet] Im Rahmen dieser Rekonstruktion erscheint es uns wichtig, auf eine erste terminologische Festlegung Craigs einzugehen, die wir in den kommenden Gedanken des zweiten Abschnitts dieses Beitrages näher untersuchen wollen: Klarerweise argumentiert die vorgestellte Position für einen starken ontologischen Monismus, denn das Endliche wird als vom Unendlichen umgriffen modelliert. Aber führt dies zu einem Pantheismus, wie Craig nahezulegen scheint? Die Frage ist an dieser Stelle nicht leicht zu beantworten und hängt von der ins Feld geführten Definition des Terminus „Pantheismus“ ab. Eindeutig ist die 3 Ein wichtiger Hinweis an dieser Stelle muss lauten: Craig selbst verwendet solche Metaphern des „Umfassens“ oder „Umgreifens“. Wir verstehen den Begriff hier als Umschreibung eines hegelianischen Aufhebens im Sinne eines tollere, conservare und elevare des betreffenden Zusammenhangs. Ob Craig diesen Zusammenhang in der vollen Tiefe richtig auffasst muss dahingestellt bleiben.

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vorgestellte Position als pantheistisch zu bezeichnen, wenn man Craig folgt und argumentiert „[i]f pantheism were not true, there would have to exist something distinct from God …“ (2006, n.p.). Dies gilt jedoch eigentlich nur, wenn es heißen soll „outside of God“, denn eine innere Bestimmung von Gott wäre distinkt von Gott, aber nicht außerhalb seiner. Auch William Mander nennt diese Definition als eine Bestimmung des Begriffs „Pantheismus“ in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“ (2013, n.p.). Legt man jedoch andere – inhaltliche – Kriterien an, wie etwa die Beschreibung des Pantheismus als eine Identifikation von Gott und Welt, dann scheint nicht klar zu sein, dass Craigs Qualifizierung adäquat ist. Im zweiten Abschnitt wollen wir uns explizit mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern Craig die Möglichkeit einer stabilen Mittelposition zwischen dem von ihm favorisierten klassischen Theismus und dem oben definierten Pantheismus ausschließen kann – eine solche Position ist in den vergangenen Jahren immer wieder als „Panentheismus“ in die Debatte eingebracht worden. Es wird sich zeigen, dass ihm dies nicht gelingt. Aber warum stellt der Monismus überhaupt ein Problem für Craig dar? Die Textgrundlage für die Ablehnung des Monismus ist eher assoziativ. Es wird jedoch deutlich, dass Craig der Meinung zu sein scheint, dass ein Monismus – oder Pantheismus – wie er im Gefolge der Reformulierung der hegelianischen Definition des Unendlichen grundgelegt zu sein scheint, die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe aufhebt: Der ontologische Unterschied von Schöpfer und Geschöpfen werde in der vorgestellten monistischen Ontologie abgeschafft, so Craig (Rowe 2007, 66). So ordnet beispielsweise John Culp in der „Stanford Encyclopedia of Philosophy“ die Kritik des klassischen Theismus an Pantheismus und Panentheismus im expliziten Rekurs auf Craig in diesem Sinne ein (Culp 2015, n.p.). Interessanterweise lassen sich auch in der Geschichte des deutschen Idealismus solche Argumentationen finden. Schelling, auf den sich Pannenberg explizit im genannten Zusammenhang bezieht, setzt sich in der „Freiheitsschrift“ mit einen analogen Begriff des Pantheismus auseinander: „Wie die Sonne am Firmament alle Himmelslichter auslöscht, so und noch viel mehr die unendliche Macht jede endliche.“ (SW VII, 359)

Auf diesen Zusammenhang sind wir durch die Forschungen von Thomas Frisch im Rahmen der historisch-kritischen Edition von Schellings „Freiheitsschrift“ aufmerksam gemacht worden. Er argumentiert insbesondere, dass sich der oben genannte Zusammenhang von der Frage der Freiheit des Geschöpfes auf die Gott-Welt-Beziehung verallgemeinern lasse (Frisch 2016*). In den folgenden Überlegungen untersucht Craig, was es bedeuten soll, dass Pannenberg das Endliche als vom Unendlichen umgriffen versteht.

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Formal lässt sich zunächst festhalten, dass Pannenberg mit dem oben genannten Zusammenhang eine bestimmte Art und Weise der begrifflichen Beziehung meint: Das Endliche ist im Unendlichen enthalten, indem das Unendliche selbst den Unterschied zwischen Unendlichem und Endlichem noch einmal aufhebt (432; EN 400). So formuliert ist dies ein glatter Widerspruch – und Pannenberg gibt dies auch zu. Vielleicht könnte eine Unterscheidung in einen negativen Begriff des Unendlichen, der im Gegensatz zum Endlichen besteht, und einen positiven Begriff das Problem lösen: Das Endliche ist im positiv Unendlichen enthalten, indem das positiv Unendliche selbst den Unterschied zwischen negativ Unendlichem und Endlichem noch einmal aufhebt. Denn einerseits soll das Unendliche ja gerade im Gegensatz zum Endlichen bestimmt werden, doch andererseits diesen Unterschied selbst noch einmal übersteigen. Als Lösung zu diesem Paradox bringt Pannenberg die konkrete heilsgeschichtliche Beziehung Gottes und seiner Welt in Stellung: „In diesem Sinne ist die Heiligkeit Gottes wahrhaft unendlich, weil sie dem Profanen entgegengesetzt ist, aber zugleich in die profane Welt eingeht, in sie eindringt, um sie zu heiligen.“ (432; EN 400)

Die Idee scheint also zu sein, dass in diesen konkreten heilsgeschichtlichen Kontexten Beispiele für die Relation gefunden werden, in der das Unendliche einerseits gemäß der idealistischen Überzeugung als Kontrast des Endlichen definiert werden kann, aber andererseits durch ein positives Umgriffensein des Endlichen durch das Unendliche der Monismusvorwurf (s. o.) verhindert werden kann. Pannenberg stellt diese Denkfigur in den Kontext dreier Untersuchungen zum Gottesbegriff: die Diskussion der Ewigkeit, der Allgegenwart und der Allmacht Gottes. Die konkreten Ausführungen zu diesen Problembereichen sind für die hier vorgelegten Überlegungen unerheblich – wichtig ist für uns an dieser Stelle nur, dass jeweils die gleiche Denkfigur bemüht wird: Auf Basis des skizzierten Unendlichkeitsbegriffs wird das entsprechende Problemfeld beschrieben – Ewigkeit, Allgegenwart und Allmacht sind, Craig folgend, die konkreten Ausformungen der Unendlichkeit Gottes. Zusammenfassend kann man also konstatieren, dass der Unendlichkeitsbegriff am Herzen der Pannenberg’schen Theorie des Absoluten liegt (Dietz 2016, Ad 18). Ferner sollte deutlich geworden sein, dass es einen erklärungsbedürftigen Überhang dieses Begriffs gibt: Kann wirklich klar gemacht werden, ob der Begriff des Unendlichen, das einerseits als der Gegensatz des Endlichen und andererseits dieses umfassend gedacht werden muss, konsistent ist? Craig gibt auf diese Frage eine negative Antwort. Dazu sucht er zunächst die Frage zu explizieren, wie das Endliche im Unendlichen aufgehoben sein kann:

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„Pannenberg is fond of the word aufgehoben to characterize the opposition between God and the universe. The connotation is that the distinction at issue is not annulled but taken up to a higher level where the opposition is overcome even as the distinction is preserved. To give our own illustration, in marriage the antithesis of two persons is aufgehoben, as husband and wife come together in a deep unity even as their distinctness as persons is preserved. In the same way the opposition between infinite and finite, God and the world, is aufgehoben in that God is intimately related to the world in various ways even as the ontological distinctness between God and the world is preserved.“ (2006, 142–143)

Folgt man Craig, so wird also wiederum ein hegelianischer Terminus bemüht, um das scheinbar paradoxe Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen zu charakterisieren. Wir haben in unseren einleitenden Überlegungen zu Hegels Begriff des Unendlichen im Sinne Horstmanns diesen Gedanken schon aufgegriffen: Hier wird umso deutlicher, dass die Frage nach der Konsistenz des betreffenden Lösungsansatzes im Grunde vollständig von der Frage abhängig ist, ob diese Form des Aufgehobenseins adäquat expliziert werden kann. Genau an dieser Stelle setzt Craig an: Er verweist zunächst auf Pannenbergs Lösung des entsprechenden Zusammenhangs, der sich in den abschließenden Überlegungen des ersten Bandes der „Systematischen Theologie“ findet. Dort referiert Pannenberg auf den Begriff der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung als Explanans für das paradoxe Verhältnis: „[Die Liebe] … schließt die Spannung des Unendlichen und des Endlichen in sich ohne Beseitigung ihrer Differenz. Sie ist diejenige Einheit Gottes mit seinem Geschöpf, die darin begründet ist, dass die göttliche Liebe das Geschöpf in seiner Besonderheit ewig bejaht und daher zwar seine Trennung von Gott, nicht aber seine Verschiedenheit von Gott beseitigt.“ (481; EN 446)

Es sollte aus diesem Zitat deutlich geworden sein, dass Pannenberg der göttlichen Liebe die Funktion zuschreibt, die nötig ist, um den paradoxalen Begriff des Unendlichen zu erläutern: In der allumfassenden göttlichen Liebe sind die einzelnen, endlichen Geschöpfe im unendlichen Absoluten mitaufgenommen – in diesem Sinne umfasst das Unendliche selbst die Unterscheidung von Endlichem und Unendlichem. Die göttliche Liebe hebt aber nicht die Eigenständigkeit der Geschöpfe auf – sie betont in diesem Sinne, dass Gott als das Unendliche verschieden von den endlichen Geschöpfen ist. Die Liebe ist darüber hinaus interessanterweise eine beidseitige Relation: Es kann also davon gesprochen werden, dass Gott seine Geschöpfe liebt, wie eben auch die Geschöpfe Gott lieben. Damit scheint vordergründig dem klassischen Theismus Recht gegeben zu werden, denn Gott und Geschöpfe werden hier ja scheinbar als strikt verschiedene Relata verstanden. Nur entsteht aber das Problem, dass der klassische Theismus – z. B. in Form der thomistischen Tradition –

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keine reale Relation von Gott zu seinen Geschöpfen kennt. Wir werden im zweiten und dritten Abschnitt dieses Textes auf diese Frage zurückkommen. Damit, so könnte man meinen, ist nicht nur die idealistische Kernintuition gerettet, dass das Unendliche als das vom Endlichen Verschiedene zu definieren sei, sondern auch – qua der Eigenständigkeit der Geschöpfe – der Monismusvorwurf zurückgewiesen. Craig kommentiert diesen Zusammenhang folgendermaßen: „That last phrase encapsulates Pannenberg’s solution to the problem of the infinite and finite: God’s love overcomes the world’s estrangement from Him while affirming its ontological distinctness.“ (2006, 145)

Auf Basis dieser Qualifizierung lässt sich nun Craigs Kritik am deutlichsten entfalten. Wenn wir nämlich die Reformulierung der ursprünglichen Definition des Unendlichkeitsbegriffes 5. Das Unendliche ist definiert als das, was das Endliche umfasst. auf der Basis des Gesagten präzisieren, so erhalten wir die folgende, zweite Reformulierung der Definition des Unendlichen: 5*. Das Unendliche ist das, was vom Endlichen verschieden ist, aber positiv (via der Relation der Liebe) auf es bezogen ist. Craig bietet nun zwei mögliche Lesarten dieser Reformulierung an: Man könnte einerseits die positive Relation des Unendlichen zum Endlichen als Relation zwischen zwei verschiedenen Relata interpretieren. Dieser Schachzug würde nach Craig sicherstellen, dass der Monismusvorwurf zurückgewiesen werden kann, da das Endliche als ein vom Unendlichen Verschiedenes aufgefasst wird. Diese Lesart hat aber nach Craig zur Folge, dass in ihr das Unendliche wiederum relational definiert wird. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass sich unter der genannten Lesart der Widerspruch des ursprünglichen Arguments unter Satz 4 reproduziert. Andererseits könnte man argumentieren, dass die positive Relation zwischen Unendlichem und Endlichem nicht die Form einer Relation zwischen zwei verschiedenen Relata hat. Wenn dies aber das Fall ist, dann legt sich laut Craig der Schluss nahe, dass das Endliche wiederum als umfasst vom Unendlichen verstanden werden muss. Unter dieser Perspektive reproduziert sich jedoch der oben angeführte Monismusvorwurf. Abschließend wollen wir das rekonstruierte Argument noch einmal wiederholen, um den Boden für eine Gegenkritik zu bereiten. Craig argumentiert, dass eine Verfechterin von Pannenbergs hegelianischem Konzept von Unendlichkeit

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vor einem Dilemma steht: Entweder sie betont den Unterschied von Schöpfer und Geschöpf vor dem Hintergrund der göttlichen Liebe für sein Geschöpf und lässt sich damit auf eine relationale Definition von Unendlichkeit ein, die schlussendlich das Unendliche zu einem Endlichen erklärt, oder sie versteht die Relation der göttlichen Liebe als Umgriffensein des Geschöpfes durch den Schöpfer und setzt sich damit dem Monismusvorwurf aus.

3.

„Des Pudels Kern“: Das „en“ des Panentheismus

Craigs Kritik kann also in Rekurs auf Horstmann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Tatsache, dass die Unendlichkeit die Endlichkeit nicht ausschließt oder umfasst, ist konzeptuell instabil. Es hängt mithin alles von der Frage ab, ob diese Interpretation des Umgriffenseins oder des Aufgehobenseins wirklich inkonsistent ist. Wir argumentieren, dass dies nicht der Fall ist. Dazu bedarf es zunächst einer meta-philosophischen Einordnung der Argumentation Craigs. In Craigs Beschreibung der Meta-Philosophie des Gott-WeltVerhältnisses finden sich zwei mögliche Positionen: Dies ist auf der einen Seite der von ihm selbst favorisierte klassische Theismus, der Gott als das Absolute, als eine von der Welt unterschiedene Realität fasst (Craig 1978, 502–503; Culp, 2013, n.p.). In einer meta-philosophischen Einordnung handelt es sich dabei um einen echten ontologischen Pluralismus, der mit verschiedenen Kategorien von Entitäten – in unserem Falle Schöpfer und Geschöpfe – arbeitet. Die Rede von verschiedenen Kategorien ist irreführend, aber hilfreich, denn sie macht die grundlegende Intuition deutlich, dass es verschiedene Arten von grundlegenden Dingen gibt. Pluralismus wird exakt als die These definiert (Schaffer 2015, n.p.), dass es mehrere Arten von basalen „tokens“ zu einem bestimmten Problembereich gibt: In unserem Falle gibt es dann zwei Arten von tokens – Gott und seine Geschöpfe. Dieser Pluralismus scheint von Craig als die Standardinterpretation des Theismus verstanden zu werden. Diesem Pluralismus setzt Craig einen ontologischen Monismus entgegen – wir können diese These analog zum Pluralismus als die Ansicht definieren, dass zum ausgewählten Problembereich nur eine Art von token existiert. Im vorliegenden Fall würde dies bedeuten, dass Gott als das grundlegende token beschrieben wird – und die Geschöpfe als von diesem grundlegenden token mitumfasst verstanden werden. Warum sollte uns diese meta-philosophische Beschreibung im Verständnis der Kritik Craigs an Pannenberg weiterhelfen? Weil sich anhand der vorliegenden meta-philosophischen Einordnung besser verstehen lässt, was die Grundintuition von Craigs Argumentation ist. Da es sich bei Pannenbergs von Hegel inspirierten Überlegungen mit Sicherheit um keinen echten ontologischen Pluralismus handeln kann – wir erinnern uns, dass das

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Unendliche das Endliche positiv umfasst – muss es sich um einen ontologischen Monismus handeln. Weiterhin ist Craig der Meinung, dass jede Form eines Monismus die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe negieren muss. Mit diesen beiden argumentativen Versatzstücken folgert Craig nun, dass Pannenberg auf einen Pantheismus – im oben definierten Sinne – festgelegt sei: er ist ein „pantheist in spite of [himself]“ (Craig 2006, 156). Craig überspringt aber in seinen Ausführungen einen wichtigen argumentativen Zwischenschritt. Er macht nicht deutlich, dass sein Argument davon abhängt, dass wirklich jede Form des Monismus die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe negieren muss. In Fortführung des im ersten Abschnitt dieses Beitrags in Stellung gebrachten Arguments lässt sich also präzisierend sagen: 7. Unter der Annahme, dass jede Form des Monismus die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe negiert, führt die Tatsache, dass das Unendliche das Endliche positiv umfasst, zu einem starken ontologischen Monismus – mithin Pantheismus. Genau diese Annahme von Satz 7 soll jedoch in den verbleibenden Überlegungen dieses Beitrags problematisiert werden. Wir werden dazu in zwei Schritten vorgehen: Wir wollen zunächst deutlich machen, dass im Rahmen des Panentheismus argumentiert worden ist, dass die oben genannte Annahme nicht zutrifft. Im folgenden Abschnitt soll ferner positiv ein Modell aus der aktuellen Metaphilosophie dargestellt werden, das deutlich macht, dass eine konsistente Interpretation des Zusammenhangs von Gott und Geschöpf, die deren ontologische Eigenständigkeit nicht in Abrede stellt, gefunden werden kann. Dass es also gute Gründe gibt anzunehmen, dass Craigs grundlegende Einschätzung falsch ist. Wir hatten schon im vorhergehenden Abschnitt darauf hingewiesen, dass Craigs Pantheismus-Definition nur eine mögliche Abgrenzung des Begriffs beschreibt. Craig hatte argumentiert, dass Pantheismus dann vorläge, wenn es nichts gäbe, das von Gott unterschieden existiere. Dieser Definition kann das folgende Definitionspaar entgegengesetzt werden: Unter Pantheismus wird die These verstanden, dass alles Gott ist. Die Welt ist also in einer pantheistischen Beschreibung ein (unechter) Teil von Gott, genauso wie Gott ein (unechter) Teil der Welt ist: Gott und Welt sind mithin in einem mathematischen Sinne identisch4 (Levine 1994, 2.1.2.). 4 Für eine echte Teilmenge A von B gilt, dass für jedes x aus A gilt, dass x auch aus B ist, und es zumindest ein y aus B gibt, das nicht auch aus A ist. Aus diesem Begriff kann man den Begriff von mengentheoretischer Identität gewinnen. Diese liegt nämlich genau dann vor, wenn auch für jedes y aus B gilt, das dieses auch aus A ist. Dies bedeutet dann, dass A als unechter Teil von B und B als unechter Teil von A dargestellt werden kann, wobei für einen unechten Teil gilt, dass für jedes x aus A gilt, dass x auch aus B ist.

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Dem entgegengesetzt ist die Ansicht, dass die Welt zwar von Gott umfasst ist, dies aber nicht umgekehrt gilt. Eine wortwörtliche Beschreibung des zugehörigen Begriffs „Panentheismus“ würde sich darauf beziehen, dass alles in Gott ist (Clayton 2004). Da sich beide Positionen als Versionen eines ontologischen Monismus verstehen, kann rein formal argumentiert werden, dass Craigs Zuschreibung, dass der Monismus einen Pantheismus nach sich ziehe, schon allein deswegen nicht korrekt sein kann, weil in der heutigen Debatte Pantheismus und Panentheismus aus unterschiedene Positionen verhandelt werden. Dieser Verweis auf die Literaturlage ist jedoch nicht ausreichend, um den Panentheismus als philosophische Position zu motivieren. Aus diesem Grund wollen wir in den folgenden Überlegungen eine kurze, vorläufige Arbeitsdefinition des Panentheismus vorlegen. Unser Vorschlag speist sich aus einer Überlegung, die vom klassischen Theismus ausgeht, wie ihn Craig und andere verstanden haben: Wenn wir nämlich das Verhältnis von Gott und Welt als eine Relation zwischen zwei strikt verschiedenen Relata verstehen, dann entsteht unmittelbar das Problem, dass Gott nicht mehr als das Absolute aufgefasst werden kann. Diese Problematik ist sowohl von Vertretern des Deutschen Idealismus als auch von vielen Vertreten des klassischen Theismus klar gesehen worden. Eine solche Auffassung unterminiert die Tatsache, dass sich die Welt in einem radikalen Abhängigkeitsverhältnis zu Gott befindet. So hat beispielsweise Thomas von Aquin diesem Umstand Rechnung getragen, wenn er in der „Summa Theologiae“ (S.th. 1a, q.28 a.1 ad 3) argumentiert, dass die Geschöpfe zwar in einer realen Relation zu Gott stünden, dies aber nicht umgekehrt gelte. Vielmehr sei die Relation von Gott zu seinen Geschöpfen keine solche reale Relation – sondern nur rational5 (Muller 1995, 677–678). Vielen Denkern erschien diese Lösung jedoch nicht attraktiv, da sie kontraintuitive Konsequenzen nach sich zieht. So hat Earl Muller (1995, 680–686) argumentiert, dass im beschrieben Modell Christus qua seiner göttlichen Natur keine reale Relation zu seiner Mutter Maria haben könne. Dies anzunehmen sei einfachhin inkonsistent. Muller bemerkt: „The relation to Mary can be understood as being merely rational, but Jesus is not unique in this. The relation of every human person to their parents can be understood in this fashion. But this is not the way we speak. Nor is it the way that God has chosen to act. Perhaps we should be consistent in the way we speak of all those born of woman. This would require such a development of the Thomistic understanding as not to run afoul of

5 Et ideo in Deo non est realis relatio ad creaturas. Sed in creaturis est realis relatio ad Deum, quia creaturae continentur sub ordine divino, et in earum natura est quod dependeant a Deo.

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the dogmatic concerns he had in originally constructing his understanding of real relations.“ (Muller 1995, 683)

Vor diesem Hintergrund kann nun eine vorläufige Arbeitsdefinition des Begriffs „Panentheismus“ getroffen werden: Der Panentheismus versteht die Relation zwischen Gott und Welt als eine reale Relation, die aber nicht als eine externe Relation zwischen verschiedenen Relata missverstanden werden dürfe, sondern als interne Relation gelesen werden sollte. In diesem Sinne ist auch ein Philosoph wie Alfred N. Whitehead ein Panentheist. Es wird uns also darum gehen, im Sinne der vorgebrachten Definition zu untersuchen, wie eine solche interne Relation beschrieben werden kann. Wir werden im dritten Abschnitt argumentieren, dass mit den Mitteln einer Abhängigkeitsrelation im Sinne von Jonathan Schaffer dies geleistet werden kann. Craig hatte angenommen, dass in einem starken Monismus die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe negiert werde. Ohne die Schlüssigkeit unserer Argumentation zu verringern, können wir zugeben, dass dies für einen Pantheismus der Fall6 wäre. Zumindest für den Panentheismus kann jedoch gezeigt werden, dass die Selbstbeschreibung fast aller wesentlichen Vertreter dieser Position die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe ernst nimmt (Göcke 2012, 154). Besonders der Begriff der göttlichen „kenosis“ – also der Tatsache, dass Gott sich selbst einschränkend der Schöpfung Eigenständigkeit gewährt, diese aber nicht negiert, dass die Welt von Gott umfasst ist – kann exemplarisch für diese Haltung gelesen werden (Clayton 2005). So schreibt etwa Culp, unter kenosis sei zu verstehen: „Divine self-emptying, or withdrawal, of infinite being while present in the world.“ (Culp 2013, n.p.)

Die Welt ist also formelhaft gesagt ein Teil von Gott, ohne dass dieses Enthaltensein in Gott ihre Eigenständigkeit aufheben würde. Unsere bisherige Terminologie des „Umfassens“ versuchte sich weitgehend dieser mereologischen Metaphern zu verweigern, weil diese zu falschen Assoziationen bezüglich der panentheistischen Gott-Welt-Relation führen. Es wird damit deutlich, dass es eine wesentliche Traditionslinie gibt, die sich selbst als Form des Monismus ausweisen würde, ohne die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe in Abrede zu stellen. Craig selbst verwendet an einigen Stellen – gerade im Bezug auf Clayton, jedoch nicht in der Diskussion von Pannenberg – den Begriff des „Panentheis6 Ob dies wirklich so gilt, wie Craig annimmt, ist mehr als fraglich. Betrachtet man beispielsweise Levines (1994) Ausführungen zum Pantheismus, dann erscheint unklar, ob Craig mit seiner Einschätzung recht behält.

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mus“. Er scheint ihn jedoch nur für eine Variante des Pantheismusbegriffs zu halten. Dies wird daran deutlich, dass er auch Clayton denselben Monismusvorwurf wie Pannenberg macht. Er geht mithin davon aus, dass auch in den verschiedenen Formen des Panentheismus die Eigenständigkeit der Geschöpfe verloren geht. Die Frage, die wir uns also stellen müssen, um zu prüfen, ob Craigs Argumentation belastbar ist, besteht damit in der Untersuchung der inneren Konsistenz des Panentheismus. Panentheisten argumentieren, dass die Welt in Gott sei, ohne dass dies die ontologische Eigenständigkeit der Welt gefährde. Kritiker wie Craig halten diese Darstellung für konzeptuell instabil. Dies wird allerdings wiederum von der Panentheistin Nancy Frankenberry (1933, 36 – 39) kritisch kommentiert. Sie sind der Meinung, dass das Aufgehobensein der Welt in Gott bei gleichzeitiger Eigenständigkeit – also das „en“ des Panentheismus – ein „hölzernes Eisen“ sei. Wenn es uns also darum zu tun ist zu zeigen, dass Craigs Argumentation gegen Pannenberg wirklich nicht schlüssig ist, dann besteht ein möglicher Weg, dies zu erreichen, darin aufzuweisen, dass das „en“ des Panentheismus eine konzeptuelle Alternative zum klassischen Theismus und Pantheismus darstellt. 8. Um die Konsistenz von Satz 7 zu prüfen, muss untersucht werden, ob der Panentheismus als konsistente Alternative zu klassischem Theismus und Pantheismus gelten kann.

4.

Hilfe durch Jonathan Schaffers Konzept des „Priority Monism“

Der vierte Abschnitt dieses Beitrags soll der Beantwortung der gerade gestellten Frage dienen: Ist es möglich, die Relation des Aufgehobenseins der Welt in Gott bei gleichzeitiger Eigenständigkeit philosophisch so zu explizieren, dass deutlich wird, dass diese Relation nicht inkonsistent ist? Wiederum wählen wir dazu einen Zugang, der sich nicht explizit auf eine der verschiedenen Spielarten des Panentheismus bezieht, sondern vielmehr versucht, die Konsistenz der Position aus einer meta-philosophischen Perspektive heraus zu begründen. In den folgenden Überlegungen werden wir zunächst die betreffende meta-philosophische Position umreißen, bevor wir zu zeigen versuchen, dass diese Position zu unserer Fragestellung analog ist. In der Geschichte der Philosophie ist die These des ontologischen Monismus interessanterweise analog zu Craigs Interpretation oft als sogenannter Existenzmonismus verstanden worden. Es handelt sich mithin um die These, dass es genau ein Objekt gebe. Alle anderen Objekte, wie wir sie etwa in unserer alltäglichen Umwelt erleben, seien ontologisch nicht eigenständig und vollkommen

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vom Grundlegenden abhängig. Zwei wesentliche Vertreter dieser These in der aktuellen Debatte sind Terry Horgan und Matjaz Potrc: „We have defended a version of existence monism we call blobjectivism, which asserts that the right ontology is not only free of kinds of the proper part-entities that Schaffer would count as objects, but also is free of regions or points that are proper parts of the whole.“ (Horgan und Potrc 2011, 52)

Interessant für unsere Frage im Streit zwischen Pannenberg und Craig ist zunächst die Tatsache, dass Horgan und Potrc Craigs Intuition über die Natur des ontologischen Monismus teilen: Wer ein ontologischer Monist sein will, so Horgan und Potrc, ist darauf festgelegt, dass es keine eigenständigen Entitäten als Teil des monistischen Ganzen geben kann. Vor diesem Hintergrund wird Craigs Monismusvorwurf noch einmal in seiner vollen Form verständlich, denn in einem solchen Weltbild gibt es keine eigenständigen Teile – mithin wird in unserer Frage der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf negiert. Besonders deutlich wird dies, wenn man erklärt, warum Horgan und Potrc dies als „blobjectivism“ bezeichnen. Sie spielen damit auf eine Formulierung an, die sich bei David Lewis findet und aus der die Konzeptualisierung von Massetermen stammt: Dean Zimmerman argumentiert, dass ein blobject etwas sei, das aus „hunks of atomless gunk“ bestehe. Es sei also ein uniformer Brocken einer atomlosen Schmiere. Mit dieser plastischen Beschreibung ist deutlich, worum es den Autoren geht: In einer Form des Existenzmonismus darf es keine eigenständigen Teile geben. So weit, so gut, könnte man nun aus Craigs Sicht argumentieren: Dies ist genau die Intuition, die dazu führt, dass man einen ontologischen Monismus als Pantheismus im definierten Sinne verstehen sollte. Nun ist aber dieser Form des Existenzmonismus durch den Philosophen Jonathan Schaffer ein Modell (2011a) entgegengesetzt worden, das die monistische Grundeinsicht mit der ontologischen Eigenständigkeit der Geschöpfe verbindet. Schaffer beschreibt diesen von ihm ins Feld geführten Prioritätsmonismus am klarsten in seine Replik zu Horgan und Potrc: „I argued that the classical monists were not defending the seemingly crazy view that only the one whole exists, but rather were defending the more sensible view that the one whole is ontologically prior to its many proper parts. … Taking it as obvious that many things exist …, I claimed that there remained an interesting question of what depends on what, with some plausible arguments for the monistic idea that the one whole is more fundamental, with its many proper parts existing as dependent fragments of an integrated substance.“ (Schaffer 2011b, 77)

Vergleichen wir diese Formulierung mit den vorliegenden Überlegungen zum Panentheismus, dann wird deutlich, dass Schaffers Modellierung große Ähn-

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lichkeiten mit den philosophischen Grundintuitionen des Panentheismus über das Gott-Welt-Verhältnis hat. Werfen wir zunächst noch einmal einen Blick auf zwei Überlegungen Schaffers, die den genannten Zusammenhang noch deutlicher heraustreten lassen. Schaffer reformuliert die These des Monismus im Rahmen verschiedener Relationen. Diese Relationen markieren ontologische Abhängigkeitsverhältnisse einerseits wie auch die Tatsache andererseits, dass das Grundgelegte im Grundlegenden aufgehoben ist. Schaffer nennt in seinem Beitrag „On what Grounds what“ (2009) drei Funktionen der genannten Relationen. Eigentlich verwendet Schaffer den Terminus ‚grounding relations‘, was im Deutschen jedoch nicht als reine Begründung des einen durch das andere verstanden werden sollte. Der in Stellung gebrachte Zusammenhang ist stärker (Schaffer 2009, 373–374): Diese Relationen betonen zunächst den Unterschied wie auch die ontologische Eigenständigkeit, ohne diese in einem pluralistischen Sinne zu trennen. Ferner wird ein Begründungszusammenhang beschrieben, indem das Grundgelegte vom Grundlegenden abhängig ist. Darüber hinaus kann das Grundlegende nicht als die Summe der Grundgelegten verstanden werden, sondern umfasst diese positiv, indem es die Grundgelegten in einen inhaltlichen Gesamtzusammenhang einordnet: „… this evinces a still deeper unity to the notion of grounding.“ (Schaffer 2009, 377)

Das Grundlegende – in unserem Falle also Gott – ist zunächst nicht in einem pantheistischen Sinne das Einzige, was existiert, sondern das, was alles andere begründet. Ferner gilt für dieses Grundlegende, dass alles andere als enthalten in ihm verstanden werden kann: „The notion of basicness may be understood with reference to the classical hierarchical view of reality. The basic forms the sparse structure of being, while the derivative forms the abundant superstructure. The basic is fundamental. It is the ground of all else.“ (Schaffer 2015, n.p.)

Schaffer selbst stellt 2009 (378) dar, dass die beschriebenen Relationen als Explikationen des Prioritätsmonismus verstanden werden können. Wenn wir im Rahmen der hegelianischen Terminologie das Aufgehobensein (Tillich 1995, 445) des Endlichen im Unendlichen zunächst als eine Negation des Endlichen (tollere) begreifen, dann lässt sich festhalten, dass Schaffer den genannten Zusammenhang ähnlich konstruiert, denn das Fundamentale wird als der Grund des Abgeleiteten beschrieben. Es wird jedoch die Eigenständigkeit des Abgeleiteten bewahrt (conservare). Über die vorliegende Relation wird jedoch über diese beiden Elemente ein positiver, inhaltlicher Zusammenhang beschrieben, der das Abgeleitete im Grundlegenden begründet (elevare).

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Wir argumentieren, dass diese Analogien ausgenutzt werden können, um zu zeigen, dass Pannenbergs Konzeption nicht von Craigs Kritik betroffen ist, weil die These des Prioritätsmonismus deutlich macht, dass nicht jede Form des Monismus ein Existenzmonismus sein muss. Vielmehr macht der Umstand, dass Schaffer den Prioritätsmonismus in einem zunächst explizit nicht-theistischen Kontext formuliert, deutlich, dass die vom Panentheismus in Stellung gebrachte Erklärungshypothese keine „ad hoc“-Modifikationen eines inkonsistenten philosophischen Systems darstellt. Vielmehr sollte die vorliegende meta-philosophische Interpretation des genannten Zusammenhangs als Grund dafür gelten, dass der Panentheismus nicht einfachhin als „hölzernes Eisen“ beschrieben werden kann. Wir hatten im vorhergehenden Abschnitt argumentiert, dass der Panentheismus die Relation zwischen Gott und Welt als eine reale Relation versteht, die aber nicht als eine externe Relation zwischen verschiedenen Relata missverstanden werden darf, sondern als interne Relation gelesen werden sollte. Wir können nun die These in Stellung bringen, dass die im vorliegenden Abschnitt eingeführten Relationen als solche internen, realen Relationen gelesen werden: denn sie beschreiben ja einerseits ein Abhängigkeitsverhältnis, das andererseits die Eigenständigkeit des Grundgelegten nicht ausschließt. Wenn der Prioritätsmonismus aber in einem meta-philosophischen Kontext eine valide Erklärung darstellt, dann gibt es zunächst keine Gründe anzunehmen, dass er nicht auch als valide Erklärung im Streit zwischen Pantheismus und Theismus im Sinne von Craig fungieren soll. Die argumentative Last liegt dann wieder bei Craig, der zeigen müsste, dass der Panentheismus der beschriebenen Provenienz auf die Leugnung der ontologischen Eigenständigkeit der Welt festgelegt ist. Wenn dies aber der Fall ist, dann kann man nicht einfachhin sagen, dass jede Form des Monismus eine Form des Existenzmonismus ist. Und wenn dies nicht gilt, dann bricht Craigs Argumentation in sich zusammen: 9.

Schaffers Beschreibung des Prioritätsmonismus gibt Gründe dafür, dass der Panentheismus als konsistente Alternative zu klassischem Theismus und Pantheimus gelten kann. 10. Aus Satz 9 folgt aber die Ablehnung von Satz 6. 11. Mit 10 folgt, dass Pannenberg der Monismusvorwurf nicht mehr gemacht werden kann. Wenn dies aber nun der Fall ist, dann sollte es aber auch möglich sein, der Pannenberg’schen Beschreibung des Gott-Welt-Verhältnisses ein denkerisches Angebot zu machen. Dies wollen wir in den abschließenden Überlegungen kurz umreißen.

Vom Unendlichen zum Panentheismus

5.

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Zurück zu Pannenberg: abschließende Bemerkungen

Kehren wir noch einmal kurz zu Craigs Kritik an Pannenberg zurück. Obwohl wir zu zeigen versucht haben, dass diese Kritik schlussendlich nicht verfangen kann, weist sie nichtsdestoweniger auf einen Problemkern der Pannenberg’schen Ansicht hin. Dieser Problemkern wird nicht nur deutlich darin, dass Pannenberg das beschriebene Verhältnis als paradoxal bezeichnet, sondern ist auch in Craigs Ausführungen gegenwärtig: Craig macht deutlich, dass es zwei gegenläufige Tendenzen in Pannenbergs Denken gibt. Auf der einen Seite steht dabei die panentheistische Aussage, dass die Welt in Gott aufgehoben sei. Auf der anderen Seite steht die Wendung zu dem, was Craig „Orthodoxie“ nennt: Pannenbergs Definition des Gott-Welt-Verhältnisses als einer Relation. Diese beiden Tendenzen stehen einander gewissermaßen unvermittelt gegenüber. Craig selbst gewinnt daraus einen Teil der Kraft seines Arguments, wenn er argumentiert: „… Pannenberg has greatly underestimated the force of the Hegelian argument. His affirmations of God’s being related to the world while remaining distinct from it display Pannenberg’s orthodoxy (despite his use of rather unorthodox language), but they do nothing to refute the argument for monism“ (Craig 2015, n.p.).

Diese Spannung kann im Rahmen des vorgetragenen Modells Schaffers vermindert werden. Im Rahmen des vorgestellten Modells nach Schaffer wäre es nun möglich, das Gott-Welt-Verhältnis als eine Relation zu interpretieren, aber eben nicht als externe Relation, sondern als eine interne Relation, die deutlich macht, dass (i) die Geschöpfe von Gott ontologisch abhängig sind, (ii) die Geschöpfe in einem konstitutiven Sinne Teil von Gott sind, und (iii) die ontologische Eigenständigkeit der Geschöpfe nicht aufgegeben wird. Man könnte mit dieser Argumentation zeigen, dass entgegen Craigs Ansicht die Rede vom Aufgehobensein in Gott auch über eine reine metaphorische Bedeutung hinaus sinnvoll ist. Wie eben auch der Erklärungswert der zunächst scheinbar paradoxalen Redeweise des Deutschen Idealismus, die zu Beginn des Beitrages in Horstmanns Definition des Unendlichkeitsbegriffs angeklungen war, validiert wäre.

Literatur de Aquino, Sancti Thomae. Summa Theologiae. Corpus Thomisticum.

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231

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Thomas Oehl

Die theologische Insuffizienz des Begriffs Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs

Einleitung: Adaequatio Jede Erkenntnis muss, um eine solche zu sein, ihrem Gegenstand angemessen sein. Dies ist der tiefe und alternativlose Sinn der vieldiskutierten ‚Definition‘ der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei: Angemessenheit in Bezug auf den zu erkennenden Gegenstand. Der Begriff „Angemessenheit“ hat verschiedene Bedeutungsaspekte. Ein zentraler davon ist: Die Form der Erkenntnis (die Art und Weise, wie die Erkenntnis artikuliert ist) muss ihrem Inhalt entsprechen, angemessen sein. Für die Theologie bedeutet das: die Form der Erkenntnis muss Gott, dem Gegenstand ihrer Erkenntnis, angemessen sein. In den Ohren vieler klingt schon dies nicht angemessen, sondern vermessen: Wie soll irgendeine menschliche Erkenntnis Gott, allein ihrer Form nach, angemessen sein? So Fragende haben nicht selten gefolgert, dass es aus prinzipiellen Gründen überhaupt keine Gotteserkenntnis und Theologie geben könne, da es eben nicht einmal eine Form der Erkenntnis geben kann, die ihrem Gegenstand, Gott, angemessen ist. Wolfhart Pannenberg argumentiert, dass dieser Schluss voreilig ist: Denn so richtig es ist, dass keine bloß menschliche Erkenntnis Gott angemessen sein kann, so falsch ist es, zu folgern, Gott könne somit überhaupt nicht erkannt werden. Dieser Schluss wäre nur gültig, wenn seine Prämisse, es gebe nur bloß menschliche Erkenntnis (und ihre Formen), wahr wäre. Doch dem ist, aus theologischer Sicht, nicht so. Wenn es Gott gibt, dann ist Gott niemals nur Gegenstand, sondern zugleich ‚Subjekt‘ der Erkenntnis, also derjenige, der seine Erkenntnis in-formiert. Dies liegt im Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes. Er findet sich nirgends deutlicher und klarer formuliert als in den Philosophien des Deutschen Idealismus, von woher Wolfhart Pannenberg ihn ausdrücklich für seine Theologie übernimmt. Zu Beginn des 4. Kapitels des ersten Bandes seiner

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Thomas Oehl

Systematischen Theologie1, das mit „Die Offenbarung Gottes“ überschrieben ist, ist zu lesen: Menschliche Gotteserkenntnis aber kann nur unter der Bedingung wahre, der göttlichen Wirklichkeit entsprechende Erkenntnis sein, daß sie in der Gottheit selbst ihren Ursprung hat. Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich selbst zu erkennen gibt. Die Erhabenheit der göttlichen Wirklichkeit läßt sie unerreichbar bleiben für den Menschen, wenn sie sich nicht von sich aus zu erkennen gibt. […] Würde die Gotteserkenntnis des Menschen so gedacht, daß der Mensch aus eigener Kraft der Gottheit das Geheimnis ihres Wesens entreißt, so wäre die Gottheit des Gottes von vornherein verfehlt. Eine so verstandene Erkenntnis wäre jedenfalls keine Gotteserkenntnis, weil schon ihr Begriff im Widerspruch zum Gottesgedanken stünde. Daher ist Gotteserkenntnis nie anders als durch Offenbarung möglich. (STh I, 207; Hervorh. T.O.)

Die folgenden Überlegungen sind, so könnte man sagen, der Versuch einer Entfaltung dieses gehaltvollen Zitats und seiner Implikationen. Hervorzuheben ist zunächst, dass Pannenberg mit Recht darauf hinweist, dass jede Theologie bereits der Form nach falsch sein muss, in deren Form sich nicht zeigt, dass die Quelle, das Subjekt oder der Ermöglichungsgrund ihrer Erkenntnis Gott selbst ist. Denn sie widerspräche, schon ihrer Form nach, dem Begriff Gottes und seiner Erkenntnis. Zeigen kann Theologie das besagte Formerfordernis aber nicht allein durch ein initiales Lippenbekenntnis, dass Gott der Ursprung ihrer Erkenntnis sei, sondern nur durch sie bestimmende und durchwaltende Formprinzipien, die dieses Formerfordernis tatsächlich umsetzen und abbilden. Insofern solche Formprinzipien ein theologisches System durchwalten oder eben nicht, ist die so gesetzte Form eines theologischen Systems ihrerseits bereits ein index veri aut falsi, also der theologischen Wahrheit keineswegs äußerlich. In diesem Aufsatz soll solchen Formprinzipien nachgegangen werden, die – und wie – sie das theologische System Wolfhart Pannenbergs bestimmen und durchwalten.

1.

Zwei theologische Adäquatheitsbedingungen

Wolfhart Pannenbergs theologisches System lässt sich als auf zwei elementaren Adäquatheitsbedingungen basierend rekonstruieren, in denen wesentliche Formprinzipien dieses theologischen Systems begründet liegen. Deshalb soll im Folgenden mit diesen Adäquatheitsbedingungen angehoben und das, was sie implizieren, argumentativ möglichst transparent und kleinschrittig entfaltet werden. 1 Die Bände der Systematischen Theologie Wolfhart Pannenbergs werden im Folgenden mit den Siglen „STh I“, „STh II“ und „STh III“ zitiert. (STh I:) W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 1, Göttingen 1998; (STh II:) W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 2, Göttingen 1991; (STh III:) W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 3, Göttingen 1993.

Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs

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Die beiden Adäquatheitsbedingungen sind folgende: (Erste Adäquatheitsbedingung) Gott ist niemals bloß Gegenstand, sondern immer auch Ursprung2 seiner Erkenntnis. (Gotteserkenntnis ist nur durch Offenbarung möglich.) 3 (Zweite Adäquatheitsbedingung) Gott offenbart sich wesentlich geschichtlich. Offenbarung ist nur als Geschichte angemessen zu verstehen und darzustellen.4 Wolfhart Pannenbergs Systemkonzeption, die sie bestimmenden und durchwaltenden Formprinzipien, lassen sich aus einer konsequenten Durchführung dieser beiden Adäquatheitsbedingungen rekonstruieren und verstehen. Gezeigt werden soll vor allem, dass Pannenbergs konsequente Durchführung dieser beiden Prinzipien weitreichende Folgerungen im Hinblick darauf zulässt, welche Grenzen dem (reinen) Begriff in der Theologie notwendig und prinzipiell gesetzt sind.

2.

Der Begriff des Begriffs und Pannenbergs Hegelkritik

Verstehen wir unter einem Begriff etwas, mit dem wir einen Gegenstand so erkennen, dass dieser bloß Objekt unserer Erkenntnis wäre, wäre der Begriff als solcher für die Theologie, verstanden als Wissenschaft von Gott, unbrauchbar. Denn er widerspräche unmittelbar der ersten Adäquatheitsbedingung. Nach Hegel haben wir jedoch keinen Grund, anzunehmen, dass die theologisch tragenden Begriffe solche Begriffe sind; dies nehmen wir vielmehr dann an, wenn wir epistemologisch einem von einer absolutgesetzten Endlichkeit durchseuchten Begriff des Begriffs anhängen.5 Tun wir dies nicht, können wir die theologisch tra2 Wir werden im weiteren Verlauf der Argumentation verstehen, was „Ursprung“ hier bedeutet: Gott ist in einem weit stärkeren und spezifischeren – wenn nicht sogar: radikal anderen – Sinne der Ursprung seiner Erkenntnis, als andere Erkenntnisgegenstände (z. B. sinnlich wahrnehmbare Gegenstände) dies sein können (indem sie z. B. das erfahrende Subjekt affizieren). 3 Dieses Prinzip ist bei und von Pannenberg an zwei prominenten Stellen ausgesprochen: Im Kontext seiner Besprechung des Offenbarungsbegriffs sowie des (menschlichen) Begreifens (vgl. STh I, 207 und 365 f.). 4 Vgl. dazu die programmatische Schrift Offenbarung als Geschichte (1961) sowie den Abschnitt „Offenbarung als Geschichte und als Wort Gottes“ in STh I, 251–282. Allgemein ist zu beobachten, dass in der Pannenberg-Forschung der zweiten Adäquatheitsbedingung und ihren Implikationen weit mehr gründliche Beachtung geschenkt wurde als der ersten, entsprechend und vor allem aber als den Implikationen, die aus beiden Prinzipien zusammengenommen folgen. Zum Programm einer Offenbarung als Geschichte vgl. v. a. G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 9–18; sowie C. Axt-Piscalar, „Offenbarung als Geschichte. Die Neubegründung der Geschichtstheologie in der Theologie Wolfhart Pannenbergs“, in: J. Frey/S. Krauter/H. Lichtenberger (Hgg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung, Tübingen 2009, 725–743. 5 Seine scharfe wie scharfsinnige Kritik einer „Aufblähung des endlichen Subjekts zur Absolutheit“ sieht Pannenberg denn auch als bleibenden Verdienst Hegels an (W. Pannenberg,

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genden Begriffe so denken, dass sie ihren Gegenstand, Gott, nicht nur als Gegenstand, sondern zugleich als Träger oder Beweger dieser Begriffe, also gemäß der ersten Adäquatheitsbedingung, auch als Ursprung – oder, wie Hegel es zum Unwillen Pannenbergs versteht, als Subjekt der Erkenntnis artikulieren.6 Dass der Begriff des Begriffs nicht nur so gedacht werden kann, sondern so gedacht werden muss, hat Hegel zu zeigen versucht: Begriffe sind keine Mittel, mit denen wir, als endliche Subjekte, etwas erkennen; sondern Begriffe organisieren sich selbst, indem sie sich auseinander entwickeln und so eine Selbstartikulation von Wahrheit sind. Dass und wie sich dies vollzieht, hat Hegel in seiner Logik in beeindruckender Weise vorgeführt: Die Logik, die an sich vollkommen unzeitlich und ungeschichtlich ist, ist, wie Hegel sagt, „die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen, vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“7. Eine empfindliche Frage, die man Hegel bereits hier stellen kann, lautet: Genügt dieser Begriff des Begriffs wirklich der ersten Adäquatheitsbedingung? 8 Denn: Ist es wirklich Gott, der hier die Begriffsbewegung organisiert, oder die Idee, der Begriff selbst, also eine Abstraktion von dem, was Gott als Geist wirklich ist? Es lassen sich hier altbekannte Zweifel an Hegels Programm anmelden, wie sie auf je eigene Weise z. B. von Schleiermacher, Schelling und – gewissermaßen mit ihm9 – eben Pannenberg geäußert wurden – wobei hier offen bleiben muss, ob sie Hegel dabei in allen Punkten recht getan

6

7 8 9

Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte [fortan zitiert mit der Sigle „TuP“], Göttingen 1996, 287). Pannenbergs Kritik von Hegels subjekt- oder selbstbewusstseinstheoretischer Fassung der Selbstoffenbarung Gottes ergibt sich daraus, dass eine solche – Pannenbergs Urteil zufolge – keine hinreichende Differenz zwischen Gott und dem, was nicht Gott ist, zu denken erlaubt. So sei Hegel konsequent in die theologisch unhaltbare Lehre von der Notwendigkeit der Schöpfung geraten und habe überdies keinen adäquaten Begriff menschlicher Freiheit denken können. Vgl. dazu v. a. TuP, 285 ff. [v. a. 289]. G.W.F. Hegel, GW 11:21. Eine kritische Auseinandersetzung Pannenbergs mit dem Anspruch von Hegels Logik findet sich in TuP, 274. Dies ist eine These, die eine ausführliche Begründung erforderlich macht, die zugleich erklärt, warum Pannenberg wenig bis gar nicht auf Schelling Bezug nimmt. Diese Begründung ist m. E. zu leisten, auch durch Rückgriff auf die in der Pannenberg-Forschungsstelle einzusehende Bibliothek Pannenbergs. Vorliegendem Aufsatz ist deshalb ein Appendix beigefügt, der der Frage nach dem Verhältnis von Schelling und Pannenberg gewidmet ist und diese sowohl in systematischer als auch in historisch-philologischer Hinsicht einer Antwort näher zu bringen versucht. Zur Auffassung, dass es eine Analogie zwischen Pannenbergs Systemkonzeption und derjenigen des späten Schelling gibt, kommen auch C. Axt-Piscalar, „Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesbegriff bei Wolfhart Pannenberg“, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hgg.), Gott der Vernunft. Festschrift für Jan Rohls, Tübingen 2009, 319–337 [hier: 331 Anm. 33], sowie G. Wenz in seinem im vorliegenden Band dokumentierten Vortrag im Rahmen der akademischen Gedenkfeier für Wolfhart Pannenberg der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LMU München am 2. Oktober 2015. Vgl. dazu Fn. 31 im Appendix des vorliegenden Aufsatzes.

Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs

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haben.10 Pannenbergs Einwand gegen Hegel ist, das sei betont, sicherlich nicht, dass es keine dialektische Begriffsbewegung gibt. Vielmehr weist er eine solche – mit Hegel – selbst an einigen zentralen Stellen seiner Systematischen Theologie auf: Allen voran bei seiner Erörterung der Unendlichkeit Gottes (vgl. STh I, 432). Und doch ist Pannenberg – entgegen weitverbreiteter anderslautender Meinung – klarerweise kein Hegelianer.11 Welchen Einwand macht Pannenberg gegen Hegels Begriff des Begriffs? Ich zitiere hierzu aus seiner Schrift Metaphysik und Gottesgedanke12, die Pannenberg 1988, also im selben Jahr wie den ersten Band seiner Systematischen Theologie, publiziert hat. Dort urteilt er im Kontext einer Diskussion von Kierkegaards und Diltheys Hegelkritik: Eine Erneuerung der Metaphysik, die solchen Einwänden [sc. seitens Kierkegaards und Diltheys] gewachsen sein will, müßte der mit der Geschichtlichkeit jedes Standortes metaphysischer Reflexion gegebenen Endlichkeit in grundsätzlicher Weise Rechnung tragen. (MuG, 67)

Dem Begriff ist also, laut Pannenberg, von zwei Seiten her seine Endlichkeit eingebrannt: Zum einen hat der Begriff als Begriff eine geschichtliche Verortung; zum anderen entkommt er nicht, wie Hegel meinte, der Reflexionsstruktur, sondern bleibt in einer in theologischer Absicht durchaus problematischen Weise selbstbezogen, eingekapselt diesseits eines Ausgriffs auf die externe Realität namens Gott, um die es der Theologie allein zu tun ist.13 So erfüllt der Begriff als (reiner) Begriff nicht die erste Adäquatheitsbedingung: Er ist ein Erkenntnismodus, der in einer endlichen Selbstbezüglichkeit verstrickt bleibt und somit den Ausgriff auf eine externe Realität, die Gott ist, nicht hinreichend realisiert und ermöglicht. 10 Eine diesbezügliche Verteidigung Hegels habe ich selbst zu unternehmen versucht: Vgl. T. Oehl, „Philosophie als Anerkennung der Religion und Kritik des formellen Denkens: Eine Auseinandersetzung mit Hegels Theorie des absoluten Geistes“, in: A. Kok/J. Van Houdt (Edd.), Reconsidering the Origins of Recognition: New Perspectives on German Idealism, Newcastle upon Tyne 2014, 79–109. Allgemein hängt das angedeutete Problem wesentlich mit der Frage zusammen, wie man das Verhältnis der Logik (und des ‚Gottes‘ der Logik) zur Real-, insbesondere der Geistphilosophie (und Gottes als Geist), bestimmt. Diese grundsatzproblematische Frage zum Verständnis von Hegels System kann hier nicht weiter erörtert werden. 11 Zu einem sehr differenzierten und ähnlichen Urteil in Bezug auf die ‚Hegelnähe‘ Pannenbergs kommt J. Rohls, „Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch“, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ. Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 177–202. 12 W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988 [fortan zitiert mit der Sigle „MuG“]. 13 Um die Frage nach der Reflexionsverhaftetheit des Begriffs – innerhalb von Hegels System und darüber hinaus – rankte sich auch der Streit zwischen Wolfhart Pannenberg und Falk Wagner, der seinen plastischen Niederschlag unter anderem in Fußnote 121 des 3. Kapitels von STh I (vgl. STh I, 174) findet.

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Wichtiger als dies ist für Pannenberg, jedenfalls in der hier verfolgten Rekonstruktion, dass der Begriff selbst geschichtlich verfasst ist. Pannenbergs Einwand gegen Hegel ist nun nicht, dass er einen geschichtlich verfassten Begriff gedacht hat, sondern vielmehr, dass er das geschichtliche Wesen des Begriffs nicht gedacht hat. Aber warum will Pannenberg, als Theologe, einen geschichtlichen Begriff denken? Abgesehen davon, dass es hierfür überzeugende Argumente aus der philosophischen Hermeneutik gibt, denen Pannenberg folgt, lässt sich folgender Grund namhaft machen: Eine Geschichtlichkeit des Begriffs (und aller Erkenntnismodi) zu denken liegt nahe, wenn man die beiden anfangs benannten Prinzipien von Pannenbergs Theologie zusammendenkt: Denn sofern Gott nicht nur Gegenstand, sondern auch Ursprung der Erkenntnis ist, ist sein geschichtliches Wesen nicht nur ‚objektseitig‘, sondern auch ‚subjektseitig‘ aufzuweisen. Am Begriff, als einem wesentlichen Moment der Erkenntnis, muss, sofern Gott in dieser Erkenntnis erkennbar sein soll, sein Wesen als sich-geschichtlich Offenbarender sichtbar, vernehmbar sein. Sonst wäre er ein Gott, der sich nur als Gegenstand der Erkenntnis, nicht auch als Ursprung der Erkenntnis geschichtlich offenbaren würde. Damit aber wäre Gott als Ursprung der Erkenntnis nicht mit Gott als Gegenstand der Erkenntnis identisch, was dem Begriff der Selbstoffenbarung Gottes widerspricht. Nochmals anders gesagt: Sofern Theologie selbst Offenbarung – und das heißt nach Pannenberg immer: Offenbarung als Geschichte – sein soll, muss auch die theologische Erkenntnis – und mit ihr der Begriff als einer ihrer wesentlichen Artikulationsweisen – geschichtlich artikuliert sein. Andernfalls wäre das Programm „Offenbarung als Geschichte“ entdramatisiert sowie inkonsequent und im Wortsinne ein-seitig durchgeführt. Pannenberg löst das dargestellte Denkerfordernis nun konsequent und in mehreren Schritten ein, deren erster damit getan ist, dass Begriffe als Begriffe geschichtlich gedacht werden.14 Wir fassen also zwei Zwischenergebnisse zusammen: (1) Der reine Begriff ist theologisch insuffizient, weil durch ihn nicht Gott, sondern allenfalls eine Abstraktion davon thematisch werden kann. (2) Der reine Begriff ist geschichtlich. Hegel – als Prototyp reinbegrifflicher Theologie – hat dies verkannt und überdies darin geirrt, dass gerade die Geschichtsentzogenheit des reinen Begriffs seine theologische Suffizienz garantieren soll.

14 Was nicht ausschließt, sondern vielmehr bedingen kann, dass es begriffliche ‚Inseln‘ gibt, in denen die Geschichtlichkeit getilgt ist: z. B. in (manchen) Übergängen der hegelschen Logik. Doch dies bedeutet eben nicht, dass der Begriff als solcher ungeschichtlich wäre.

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3.

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Pannenbergs Begriff des Begriffs und die geschichtliche Dimension des Begriffstranszendenten

Welchen Begriff des Begriffs aber hat Pannenberg dann? Und wie löst er die beschriebenen Denkerfordernisse in concreto ein? Nicht allein dadurch, dass er die theologisch leitenden Begriffe als einem schlichten geschichtlichen Wandel unterworfen denkt. Dies hätte zur Konsequenz, historistisch-deskriptive Hermeneutik anstelle von Systematischer Theologie zu betreiben. Diese Konsequenz hat Pannenberg, trotz seiner expliziten Bewunderung für Dilthey, nicht gezogen. Seine Systematische Theologie ist offenkundig nicht schlicht deskriptive Begriffsgeschichte; dies ist auch deshalb zwingend, bedenkt man Pannenbergs emphatisches Festhalten an Theologie als Wissenschaft mit einem universalen Wahrheitsanspruch. Die theologisch tragenden Begriffe sind nach Pannenberg daher nicht nur einem geschichtlichen Wandel unterworfen, sondern zudem als Begriffe angewiesen auf etwas Externes, das selbst nicht Begriff ist. Der theologische Begriff muss über sich hinaus weisen auf etwas, das selbst nichtbegrifflich ist (oder zumindest nicht im Begriff aufgeht). „Nichtbegrifflich“ bedeutet hier zweierlei nicht: (i) Nichtbegrifflich ist etwas nicht dann, wenn es kein Wort dafür gibt. Sonst könnten wir in der Theologie auch nicht davon sprechen. (ii) Nichtbegrifflich ist etwas nicht dann, wenn es den Begriff gänzlich überflüssig machen und damit alle Erkenntnis ins Leere laufen lassen würde. Sondern: Nichtbegrifflich oder begriffstranszendent ist etwas dann, wenn es einem im Modus des reinen Begreifens nicht vollends aufgeht und sich zugleich begreiflich machen lässt, dass (und warum) dies so ist. So vervollständigt und konkretisiert das Begriffstranszendente den an sich defizitären und abstrakten (reinen) Begriff. Diese Begriffstranszendenz entspricht dem Verhältnis von Begriff und Erhabenheit Gottes, wie Pannenberg es zu Beginn des sechsten Kapitels des ersten Bandes seiner Systematischen Theologie eindrücklich darstellt: Jeder verständige Versuch, von Gott zu reden – jedes solche Reden also, das sich kritisch seiner Bedingungen und Grenzen bewußt ist – muß mit dem Bekenntnis der unbegreiflichen, weil alle unsere Begriffe übersteigenden Erhabenheit Gottes beginnen und enden. Man muß damit beginnen, weil das erhabene Geheimnis, das wir Gott nennen, dem Redenden ebenso wie allen Geschöpfen immer schon nah ist und allem Begreifen zuvor unser Dasein umgibt und trägt, daher auch immer schon die oberste Bedingung aller Besinnung darauf und jedes begreifenden Nachvollzugs ist. Enden aber muß alle Gotteserkenntnis mit dem Bekenntnis zu seiner unbegreiflichen Erhabenheit, weil jede Aussage über Gott, sofern sich in ihr ein Bewußtsein davon ausdrückt, wovon sie redet, über sich selbst hinausweist. Zwischen jenem Anfang und diesem Ende bewegt sich der Versuch vernünftiger Rechenschaft über unser Reden von Gott. (STh I, 365)

Dasjenige, was all unsere Begriffe übersteigt, in seiner Differenz zum Begrifflichen wiederum begrifflich scharf herauszuarbeiten, ist ein Unternehmen, an

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dem viele Philosophen sich versucht haben. Es wäre vermessen, zu versprechen, dieses Unternehmen hier in wenigen Seiten darstellen oder gar gelingend vollenden zu können. Daher soll besagte Differenz direkt und paradigmatisch anhand Wolfhart Pannenbergs materialdogmatischer Umsetzung der Verhältnissetzung von Begrifflichem und Nichtbegrifflichem plausibilisiert werden.15 Selbige ist nämlich die Grundfigur, die das sehr tiefsinnige sechste Kapitel des ersten Bandes seiner Systematischen Theologie organisiert. Dort bespricht Pannenberg – unter anderem – die Unendlichkeit Gottes. Mit Hegels dialektischer Analyse des Begriffs der Unendlichkeit lässt sich nach Pannenberg zeigen, dass das Unendliche als dasjenige gedacht werden muss, das sich von der Endlichkeit unterscheidet, ohne selbiger dadurch äußerlich gegenüberzustehen, was sie selbst wieder verendlichen würde; die Unendlichkeit ist also – dynamisch – als eine Art integrativer Abstoß vom Endlichen zu verstehen. Dieser Gedanke lässt sich soweit (dialektisch) aus dem reinen Begriff der Unendlichkeit gewinnen. Was man sich tatsächlich darunter zu denken hat, bleibt unter reinbegrifflichen Bedingungen offen, fraglich und strittig. Nach Pannenberg läuft der Begriff der Unendlichkeit solange leer und seine Bedeutung bleibt solange problematisch unterbestimmt, bis auf ein begriffstranszendierendes Moment der Vorstellung verwiesen wird, mit dem zusammen schlagartig klar wird, was der besagte integrative Abstoß des Unendlichen vom Endlichen eigentlich bedeuten soll. Nach Pannenberg ist dieses begriffstranszendente Moment der Vorstellung die Heiligkeit Gottes. Pannenberg betont, dass „der Gedanke der Unendlichkeit als Unendlichkeit Gottes zu seiner Erläuterung der Aussage der Heiligkeit bedarf“16 (STh I, 429; Originalkursivierung!).17 Eine Unendlichkeit Gottes gedacht, also ein Gottesgedanke gedacht, wird erst, wenn der an sich abstrakt bleibende Begriff der Unendlichkeit auf die begriffsexterne Wirklichkeit der Heiligkeit Gottes bezogen wird: Unendlichkeit ist keine biblische Bezeichnung für Gott. Aber sie ist in vielen biblischen Gottesbezeichnungen impliziert, besonders offenkundig in den Gott zugeschriebenen Eigenschaften der Ewigkeit, Allmacht und Allgegenwart. Aber auch das Bekenntnis der 15 Dieses Verhältnis von Begriff und Begriffstranszendentem ist nicht äquivalent zu demjenigen zwischen Philosophie und Theologie/Religion, wie es in manchen Traktaten zumindest implizit nahegelegt wird, allenfalls besteht hier eine Analogie. 16 Dies hebt mit Recht auch C. Axt-Piscalar hervor: C. Axt-Piscalar, „Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesbegriff bei Wolfhart Pannenberg“, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hgg.), Gott der Vernunft. Festschrift für Jan Rohls, Tübingen 2009, 319–337. 17 Nach Maßgabe Pannenbergs kann also sowohl gesagt werden, dass der reinbegrifflich gefasste Gedanke der Unendlichkeit (auch unter reinphilosophischen Bedingungen) defizitär bleibt, wenn nicht ein begriffstranszendentes Moment als zu ihm gehörig gedacht wird, als auch, dass die theologische Aufgabe, die Unendlichkeit Gottes zu denken, nicht dadurch eingelöst wird, den Begriff der Unendlichkeit im Sinne von Hegels Logik zu denken.

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Heiligkeit Gottes hängt eng mit dem Gedanken seiner Unendlichkeit zusammen, und zwar so eng, daß der Gedanke der Unendlichkeit als Unendlichkeit Gottes zu seiner Erläuterung der Aussage der Heiligkeit bedarf […]. (STh I, 429 f.)

Das begrifflich so schwierig zu artikulierende Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit wird in der Heiligkeit Gottes ganz unproblematisch vorgestellt. Denn der Begriff der Heiligkeit hat seinen Ursprung in einem durchaus anschaulichen, nämlich dem heilsgeschichtlichen und narrativ vermittelten Zusammenhang. In ihm ist der prozessuale Zusammenhang, der zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in Form sowohl von Unterscheidung als auch Umfassung gedacht werden soll, entsprechend anschaulich und verständlich: In diesem Sinne ist die Heiligkeit Gottes wahrhaft unendlich, weil sie dem Profanen entgegengesetzt ist, aber zugleich in die profane Welt eingeht, in sie eindringt, um sie zu heiligen. (STh I, 432) 18

Begriffe, die sich reinbegrifflich-instantan nicht denkend versöhnen lassen, werden unter Hinzutreten eines begriffstranszendenten Moments in eine narrative (d. h. hier: eine personales Handeln darstellende) Ordnung gebracht und so im Modus des nicht mehr reinbegrifflichen Denkens – aber immer noch: des Denkens – versöhnt. Analoges wie für die Heiligkeit führt Pannenberg für die Liebe Gottes durch, welche, gedanklich gefasst, ihrerseits abstrakte Begriffsantagonismen ursprünglich versöhnt. Darauf wird zurückzukommen sein. Was aber hat das alles mit dem geschichtlichen Wesen des Begriffs zu tun? Hierauf sind zwei Antworten zu geben: (i) Die erste ist schon erwähnt worden: Der reine Begriff, d. h. abstrahiert von dem Begriffstranszendenten, auf das er verweist, ist als solcher, wie schon gesagt, einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen: Es ist kein Zufall, sondern zur Offenbarung als Geschichte gehörig, dass sich das dialektische Verhältnis von Unendlichkeit und Endlichkeit selbst erst geschichtlich herausgeschält hat: In einem, wie Hegel selbst scharfsinnig bemerkt hat, Stadium der Philosophie, das später ist als die Offenbarung der Wahrheit im Modus der Vorstellung, d. h. der geoffenbarten Religion.19 (ii) Die zweite führt nun zu Kernthesen meiner Überlegungen: Was durch diese vorstellungsgesättigten Begriffe, die etwas Nichtbegriffliches transportieren, eingesehen wird, ist etwas, das sich nur in geschichtlichen Zusammenhängen einsehen lässt: Die versöhnende Heiligkeit Gottes erfährt sein Volk in der Geschichte, durch die Gott es – in sie eingreifend und rettend – begleitet; die Liebe

18 Inkarnationstheologisch gefasst und mit prägnantem Rückbezug auf Hegels Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit kurz dargestellt findet sich dieser Gedanke auch in TuP, 287 f. 19 Dieser Zusammenhang findet sich bereits explizit in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes aus dem Jahre 1807 ausgesprochen (vgl. G.W.F. Hegel, GW 9:22).

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Gottes oder eines anderen Menschen erfahre ich nicht instantan, sondern in einer interpersonalen Beziehungsgeschichte. Und: Wer die Liebe nicht oder nicht so erlebt hat, wer nicht in ihr, an ihr und mit ihr gewachsen, auf-gewachsen ist, für den ist sie eben, wie wir sagen, ‚nur ein Wort‘. Deswegen sind Liebesgeschichten nicht zufällig Liebesgeschichten. Und es ist Teil der Festigung unserer Identität, uns ihrer zu erinnern und sie immer wieder zu erzählen, wobei wir uns der futurischen Offenheit einer solch narrativ gegründeten Identität eingedenk sind.20 Entsprechendes gilt offenkundig auch für die Rolle biblischer Narrative im gottesdienstlichen Vollzug oder der religiösen Erziehung. Denn nur als derjenige, der den Weg mit Gott geht, als jemand, der die Liebe eines anderen Menschen erlebt, also selbst in einer Geschichte im mehrfachen Sinne ist, und als Leser oder Erzähler einer Geschichte verstehe ich, worum es eigentlich geht. Dieser Verstehensprozess ist nicht in den Begriff aufzuheben. Vielmehr ist nach Pannenberg, wie Gunther Wenz und Jan Rohls unter Rückgriff auf einschlägige Vorträge und Vorlesungen Pannenbergs gezeigt haben, die Sprache der Vorstellung gerade deshalb theologisch im Recht, weil sich in ihr die noch-nicht-Abgeschlossenheit der geschichtlichen Offenbarung spiegelt, indem sie sich weigert, im Abgeschlossenheit beanspruchenden reinen Begriff aufgehoben zu werden.21 Das Verhältnis des reinen Begriffs zum Begriffstranszendenten gibt es nun seinerseits in zwei voneinander analytisch zu unterscheidenden Formen: Zum einen können Begriffe „rein“ sein in dem Sinne, dass sie an sich (zu) leer sind und der Erläuterung durch einen anderen Begriff bedürfen, sofern sie zur Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes gereichen sollen: Hierzu zählt, wie gezeigt, beispielsweise der 20 Mit der narrativen Bedingtheit und Verfasstheit personaler Identität befasst sich eine durch verschiedene Disziplinen verlaufende Narrativitätsforschung. Auf sie kann hier nicht näher eingegangen werden. Bemerkt seien aber die im Kontext der Klassischen Deutschen Philosophie verorteten und daher für unsere Zwecke besonders relevanten Überlegungen von Axel Hutter: Vgl. A. Hutter, „Der kritische Sinn des Gottesbegriffs“, in: T. Buchheim/F. Hermanni/ A. Hutter/C. Schwöbel (Hgg.): Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012, 149–177; sowie A. Hutter, „Wahre Endlichkeit. Hegels Lehre vom absoluten Geist“, in: K. Drilo/A. Hutter (Hgg.), Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 193–208. Ohne die vielen philosophischen Gespräche, die ich mit Axel Hutter unter anderem zur Narrativität im Kontext der Klassischen Deutschen Philosophie führen durfte und darf, wäre die hier vorgetragene Pannenberg-Interpretation so nicht zustandegekommen. Die vielen Referenzen auf sein Werk geben davon Zeugnis. Ich bin ihm deshalb zu größtem Dank verpflichtet. 21 Vgl. dazu G. Wenz, „Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchener Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom Sommersemester 1969“, in: ZNThG 19 (2012), 269–292; sowie J. Rohls, „Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch“, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ. Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 177–202.

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Begriff der Unendlichkeit, der nach Pannenberg erst durch Zusammendenken mit dem (konstitutiv vorstellungshaltigen) Begriff der Heiligkeit Gottes zu einem theologisch suffizienten Begriff werden kann. Zum anderen können Begriffe „rein“ sein in dem Sinne, dass sie an sich (zu) leer sind, aber nicht durch einen anderen Begriff, sondern durch Bezug auf Begriffstranszendentes angereichert werden müssen, um zur Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes zu gereichen. Hierzu zählt, wie ebenfalls gezeigt, beispielsweise der Begriff der Liebe (Gottes).

Thetische Zusammenfassung: Die mehrfache Bedeutung von „geschichtlich“ Die Bedeutung des Begriffstranszendenten und der Geschichtlichkeit theologischen Erkennens systematisch detaillierter herauszuarbeiten, wäre Thema für eine eigene Abhandlung. Es lohnt sich aber, an dieser Stelle zusammenfassend und thetisch einen Überblick über den mehrfachen Sinn, den der Begriff „geschichtlich“ in der hier vorgeschlagenen Pannenberg-Interpretation hat, zu geben: (i) In einem ersten Sinn bedeutet „geschichtlich“: Verortet im Zusammenhang von Offenbarung als Geschichte, d. h. nur verstehbar unter Rückgriff auf deren Entwicklungszusammenhang. So bedarf es – nach Pannenberg – einer entsprechenden welt-, kirchen-, dogmen-, kultur- und theoriegeschichtlichen Bildung, um die historische Verortung der Begriffsentwicklung und somit die Bedeutungsgenese dieser Begriffe verstehen zu können. (ii) In einem zweiten Sinn bedeutet „geschichtlich“: Nur verstehbar im Kontext lebens- und heilsgeschichtlicher Zusammenhänge. So etwa der Begriff der „Liebe“, der von Leerheit erst dann befreit ist, wenn die lebens- und/oder heilsgeschichtliche Erfahrung des Liebens und Geliebtseins gemacht ist: Hegels so wunderbare Formel von der Liebe als „Beisichsein im Anderen“ ist wunderbar auch nur für denjenigen, der sie mit (s)einer Erfahrung verbinden kann. (iii) In einem dritten Sinn bedeutet „geschichtlich“ sodann: Die Bedeutung mancher Begriffe wird erst in einem narrativen Zusammenhang ersichtlich, d. h. erst, wenn wir ihren Platz in einer erzählten Geschichte nachvollziehen. Diese erzählte Geschichte kann unsere eigene Lebensgeschichte sein, ist aber – insofern unsere Lebensgeschichten einander ähneln oder gar gleichen – in Narrativen des kollektiven religiösen Gedächtnisses aufgehoben. Mit Pannenberg lassen sich nun zwei Typen von Narrativen unterscheiden: Diejenigen, die enggeführt werden können mit dem ersten (und, in Teilen, auch mit dem zweiten) Sinn von „geschichtlich“, d. h. diejenigen Narrative, denen Historizität zukommt. (Bekanntlich rechnet Pannenberg hier auch die Auferstehungsgeschichte Jesu hinzu.) Und diejenigen, die – wie etwa die Geschichten von der jungfräulichen Empfängnis und Geburt – aus gattungsge-

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schichtlichen Gründen als „legendär“ zu gelten haben22: Sie sind keine Geschichten, die zur Geschichte gehören – und doch ist ihnen ein genuin religiöser Gehalt zu entnehmen, nämlich eben durch den Modus der Narrativität, dessen Logik eine andere als die des Reinbegrifflichen ist. Es ist kein Zufall, dass bei Pannenberg eine solche Bindung der Theologie mit einer Betonung des personalen Charakters Gottes einhergeht: Denn nur von Personen (von dramatis personae) kann man Geschichten erzählen; und so sind es auch nur Personen, von denen wir sagen, dass sie eine Geschichte haben.23 An den in dieser Übersicht namhaft gemachten und thetisch explizierten begriffstranszendenten Instanzen der Erfahrung, der Vorstellung, der Historizität und der Narrativität, welche in ihrem differenzierten Zusammenhang allesamt zur reinen Begrifflichkeit hinzutreten müssen, damit der Begriff theologisch suffizient wird, lässt sich zeigen, dass Pannenbergs Theologie eine Verschränkung individueller und kollektiver epistemischer Leistungen denken kann: Denn die Erfahrung, die ich mit der Liebe mache, ist – so könnte man sagen – immer die je meinige, individuelle (allenfalls geteilt mit dem einen Gegenüber). Hingegen ist das sinnhafte Erschließenkönnen von Begriffen in historischen und narrativen Kontexten ein kollektives Geschäft: Es wird möglich in der Gemeinschaft von Wissenschaftlern, der gottesdienstlichen Gemeinde und der Traditionsgeschichte im weiteren Sinne. Diese Verschränkung irreduzibler individueller und kollektiver Momente bewahrt Pannenberg – aus prinzipiell-epistemologisch-theologischen Gründen – vor einer Schlagseite in Richtung des unverbindlichen Individualismus oder des individualitätsfeindlichen Kollektivismus, die aus orthodox-religiöser Sicht beide als defizitäre Formen christlicher Existenz und, sofern Theologie mit ihr verträglich sein soll, auch der Theologie selbst zu gelten haben. Zum Verhältnis des Begriffs und des Begriffstranszendenten lässt sich in theologischer Absicht jedoch noch ein weiterer Gedankenschritt vollziehen: Wie genau sind geschichtlich situierte Begriffe, die als reine theologisch insuffizient, aber doch zur Erkenntnis konstitutiv sind und diese Erkenntnis auch darstellen können, sofern sie in der erläuterten Weise auf Begriffstranszendentes bezogen sind, zur Wirklichkeit Gottes in ein Verhältnis zu setzen? Offenbar, indem Begriffe selbst als von dem herrührend gedacht werden müssen, zu dessen Offenbarung sie wesentlich gehören und auf den sie richtungnehmend verweisen. So ist auch gesichert, dass die reinbegriffliche Erkenntnis, trotz ihrer Insuffizienz, nicht in eine falsche Denkrichtung führt. Der reine Begriff ist zwar noch nicht alles, 22 Vgl. dazu exemplarisch STh II, 358 ff. 23 Vgl. dazu auch die sehr scharfsinnigen Ausführungen von A. Hutter, „Wahre Endlichkeit. Hegels Lehre vom absoluten Geist“, in: K. Drilo/A. Hutter (Hgg.), Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 193–208.

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aber ein wesentliches Stück Strecke auf dem Erkenntnisweg hin zu Gott. Verfälschend wird er allenfalls durch einen menschlichen Missbrauch des Begriffs in Form einer Totalisierung reinbegrifflichen Erkennens, die kein begriffstranszendentes Moment als epistemisch relevant anerkennt und durch die sodann – bestenfalls – noch Schatten Gottes vernehmbar sind. Wir können daher den Zusammenhang zwischen Begriff und dem, was den Begriff als externe Realität transzendiert, wie folgt präzisieren: Das, worauf reine Begriffe verweisen, also dasjenige, dessen sie bedürfen, um nicht ins Leere zu laufen, ist ihr eigener Ursprung:24 Es ist eine Spielart von Gottes Offenbarung und Liebe, dem Menschen einen Begriff zu geben, mit dem er intellektuell nachvollziehen und artikulieren kann, wer Gott ist, ohne dass der Mensch dadurch dem geschichtlichen Zusammenhang, in dem er offenbar steht, entzogen werden müsste oder könnte. Das ist der nähere Sinn von Pannenbergs Aussage, dass Gott „sich selbst zu erkennen gibt“ (STh I, 207). Er gibt sich zu erkennen auch, indem er dem Menschen Begriffe, seinen logos, gibt; den vollen Sinn dieser Begriffe kann der Mensch aber nicht erschöpfen, ohne sie auf die begriffstranszendenten Aspekte Gottes und seines logos zu beziehen. Epistemologisch gewendet: Das Verstehen von Begriffen ist nicht möglich, wenn von den vorstellungshaften und durch die personale Gottesbeziehung vermittelten ‚empirischen‘ Bewusstseinsgehalten abstrahiert wird. ‚Empirisch‘ meint hier: Erfahrungsbezogen, also bezogen auf die Gotteserfahrung, die der Mensch in geschichtlichen Zusammenhängen im oben genannten, mehrfachen Sinne macht. In Metaphysik und Gottesgedanke ist deshalb zu lesen: Die philosophische Reflexion kann im Sinne von Dieter Henrich die Dunkelheiten des Erfahrungswissens zu klären versuchen, und dazu gehören auch die Dunkelheiten der religiösen Vorstellung. Aber der philosophische Begriff kann dabei seinen eigenen Ausgang vom Erfahrungswissen nicht überholen, und das gilt jedenfalls auch in Beziehung zum religiösen Bewußtsein. (MuG, 68)

Das Begriffstranszendente ist also kein Appendix des reinen Begriffs, sondern sein ursprünglichster Grund. Begriffstranszendenz ist somit ein Rückgang in den Grund. Und der reine Begriff, auf dem der Mensch im Versuch des Erkennens zu verharren geneigt ist, ist eine Abstraktion einer ursprünglich-organischen Einheit aus geschichtlicher Erfahrung und begrifflicher Artikulation. Hans Urs von Balthasar beurteilt solche Abstraktion letztlich als menschliches Überspringenund sich-Entledigenwollen der Bezogenheit des Begriffs auf etwas Begriffstranszendentes, also als den Versuch des Menschen, Gottes ohne sein geschichtliches 24 Daher kann man die Differenz zwischen dem theologisch insuffizienten (sozusagen „ungesättigten“) und dem theologisch suffizienten („gesättigten“) Begriff auch als diejenige zwischen einem reinen/abstrakten Begriff und einem mit Begriffstranszendentem angereicherten/ konkreten Begriff (= eigentlichen Begriff) ausdrücken.

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Wesen in voreiliger, zeitfeindlicher Ungeduld habhaft zu werden – und so letztlich als eine Spielart der Sünde.25 Die Summa des begriffstranszendenten Grundes, der Gott ist, ist die Liebe, wie Pannenberg ausdrücklich hervorhebt. Dies lässt sich auch dadurch begründen, dass die Liebe dasjenige ist, das seinerseits die Vermittlung von Geschichtlichkeit und Ewigkeit so leistet, dass Pannenbergs Programm einer Offenbarung als Geschichte nicht in einen historischen Relativismus abgleitet.26 Denn: Das Geheimnis der Liebe ist es, dass sie sich einerseits nur irreduzibel individuell und personal realisiert, sich andererseits jedoch gerade so als singularetantum identisch durchhält (es gibt nur die Liebe, vor allem nur die Liebe Gottes). Dieses Ewigkeitsmoment der Liebe bewahrt Pannenberg vor dem historischhermeneutischen Relativismus; und es ermöglicht beispielsweise, sagen zu können, dass auch dem Evangelisten Johannes eine Gotteserkenntnis zuzuschreiben ist27, auch wenn er – trivialiter – in einer anderen personalen Gottesbeziehung stand als Wolfhart Pannenberg und – offenkundig – nicht die hegelsche Dialektik als Erkenntnismodus zur Verfügung, geschweige denn verwendet, hatte. So haben der Evangelist Johannes und Pannenberg als verschiedene Entwicklungsmomente historisch gewachsener Gotteserkenntnis zu gelten, deren Identitätsmoment durch die in ihnen stattfindende und artikulierte personalliebende Gottesbeziehung, die als solche auch den geschichtlich verorteten Erkenntnisversuchen zugrundeliegt, gewährleistet ist. Pannenberg klagt entsprechend die geschichtlich ausgebreitete Personalität Gottes gegen Fichtes und Hegels selbstbewusstseinstheoretisch-monistischen (und damit intellektualisierten) Geist- und Gottesbegriff ein.28 In der Liebe Gottes wird also die Einheit von Unveränderlichkeit des Wesens Gottes und seiner geschichtlichen Selbstoffenbarung erfahrbar und, sofern der 25 Vgl. H.U. v. Balthasar, Theologie der Geschichte. Ein Grundriss, Einsiedeln 62004, 28 f. und 18 f. 26 So kommt dem Begriff der Liebe zudem eine metatheologische Funktion zu. 27 Sofern er Theologe ist, klarerweise. Ob auch das Erzählen (also die narrative Darstellung) ein Modus von Gotteserkenntnis ist, ist eine andere Frage (Hegel würde sie im Rahmen seiner Philosophie des absoluten Geistes bejahen). Aus dem bisher Gesagten folgt jedoch klar, dass ein Reflex auf eine solche narrative Darstellung Bedingung der Möglichkeit von Theologie ist. 28 Vgl. MuG, 32 f.: „Der Gott der Religion wird primär als Wille erfahren, der sich geschichtlich bekundet, als Wille einer heiligen Macht und insofern als personhaft. Dieses Phänomen impliziert aber nicht ohne weiteres die Voraussetzung eines göttlichen Intellekts und eines Zusammenwirkens von Wille und Intellekt. Bei solchen Vorstellungen handelt es sich immer schon um anthropomorphe Interpretation.“ Vgl. dazu auch C. Axt-Piscalar, „Das religiöse Bewusstsein und sein Grund. Zum Verhältnis von Religion und Offenbarung in STh I“, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ − Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ. Pannenberg-Studien Band 1, Göttingen 2015, 113–129 [hier: 123].

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Begriff sich auf die Wirklichkeit dieser Liebe bezieht, auch versteh-, denk- und erkennbar: Denn dieses wiederum notorisch nicht unzweideutig auf den reinen Begriff zu bringende Verhältnis lässt sich in einer anschaulichen und ihrerseits nur geschichtlich vermittelt erfahrbaren Eigenschaft der göttlichen Liebe völlig transparent und widerspruchsfrei vermittelt vorstellen: In der Treue Gottes. Am Gedanken der Treue Gottes müssen sich daher die angedeuteten begrifflichen Antagonismen ausrichten, um ihre theologische Insuffizienz kompensieren zu können. Ich zitiere noch einmal Pannenberg: Im Unterschied zur Vorstellung von der Unveränderlichkeit Gottes schließt der Gedanke seiner Treue weder die Geschichtlichkeit, noch die Kontingenz des Weltgeschehens aus, aber umgekehrt brauchen Geschichtlichkeit und Kontingenz nicht in Widerspruch zur Ewigkeit Gottes zu stehen […]. (STh I, 472)

Die dargestellte Kritik des reinen Begriffs darf nun nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Theologie auf den Begriff angewiesen bleibt. Denn ohne Begriff gibt es keine Erkenntnis. Und ohne Begriff würden der logische Zusammenhang und die innere Ordnung des geschichtlich Offenbarten verdunkelt und somit dem Verdacht der Irrationalität ausgesetzt bleiben, wie der schon zitierte philosophieaffine Passus aus Metaphysik und Gottesgedanke unmissverständlich einschärft: Die philosophische Reflexion kann im Sinne von Dieter Henrich die Dunkelheiten des Erfahrungswissens zu klären versuchen, und dazu gehören auch die Dunkelheiten der religiösen Vorstellung. Aber der philosophische Begriff kann dabei seinen eigenen Ausgang vom Erfahrungswissen nicht überholen, und das gilt jedenfalls auch in Beziehung zum religiösen Bewußtsein. (MuG, 68)

Die Argumentation hat gezeigt, dass sich die eigentümliche epistemologische und systematische Anlage von Pannenbergs Denken verstehen lässt, wenn man sie aus beiden eingangs genannten Adäquatheitsbedingungen zusammen versteht. Dies scheint mir bislang auch eine Lücke in der Pannenberg-Forschung gewesen zu sein: Dass entweder nur von Offenbarung als Geschichte oder von Pannenbergs kritischer Auseinandersetzung mit dem reinen oder philosophischen Begriff die Rede war; dass Pannenberg beides jedoch genial verbindet und erst so die komplexen Tiefendimensionen sowohl seines Begriffs des Begriffs als auch seines Geschichtsbegriffs sichtbar werden, sollte hier gezeigt und verfolgt werden.

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Schluss: Offenbare Eigentümlichkeiten von Pannenbergs Methodik und Systemkonzeption Die Konsequenzen, die dieser scharfsinnig gefasste Begriff des Begriffs für Pannenbergs Systemkonzeption hat, sind bereits deutlich geworden. Abschließend sollen diese mit zwei Erfahrungen erklärend in Verbindung gebracht werden, die man bei der Lektüre von Pannenbergs Systematischer Theologie machen kann: 1. Pannenberg verwebt in seiner Systematischen Theologie kunstvoll begriffliche Inferenzen, wie sie in der Philosophie ausgearbeitet wurden, phänomenale Gehalte, wie sie in biblischen Narrativen Ausdruck finden, und Ausgriffe auf die Tradition philosophischer, theologischer, religiöser und kirchlicher Art. Dass und warum er auf die narrativen und tradierten historischen Ressourcen nicht verzichten kann, wurde in diesem Aufsatz gezeigt und begründet. Pannenberg selbst hat bemerkt, dass der Rückgriff auf sie die streng begrifflich-argumentativen Linien zu verwischen droht, aber gleichzeitig explizit im Sinne des im vorliegenden Aufsatz Dargelegten begründet, warum er vorgehen muss, wie er vorgeht: Lange schwebte mir vor, daß eine solche Darstellung sich ganz auf die sachlichen Zusammenhänge der dogmatischen Themen konzentrieren sollte, abgelöst von der verwirrenden Vielfalt der historischen Fragen, um desto deutlicher die systematische Einheit der christlichen Lehre im ganzen hervortreten zu lassen. Ich habe mich nur widerstrebend davon überzeugt, daß eine solche Form der Darstellung hinter der für die wissenschaftliche Untersuchung der christlichen Lehre wünschenswerten und erreichbaren Genauigkeit, Differenziertheit und Objektivität Zurückbleiben [sic!] muß. Die christliche Lehre ist nun einmal ein durch und durch historisches Gebilde. Ihr Inhalt beruht auf der geschichtlichen Offenbarung Gottes in der historischen Gestalt Jesu Christi und auf den ebenfalls nur durch historische Interpretation genau zu würdigenden Zeugnissen der unchristlichen Missionsverkündigung von ihm. […] Ständig müssen sich daher bei der Untersuchung und Darstellung der christlichen Lehre im Hinblick auf die mit ihr erhobenen Wahrheitsansprüche historische und systematische Reflexion verbinden und durchdringen. […] Diese Bemerkungen schicke ich als Rechtfertigung für den Argumentationsstil der folgenden Kapitel und auch zur Vorbereitung des Lesers voraus. (STh I, 7 f.)

2. Pannenberg verweigert sich konsequent der Selbstkommentierung, -zusammenfassung und -thetisierung seiner differenziert entwickelten Gedanken. Aus guten Gründen: Denn sofern man das Programm einer Theologie als Teil der Offenbarung als Geschichte ernst nimmt, kann man als Theologe nicht metastufig aus dieser Geschichte heraustreten und das zu Entfaltende durch scheinbar zeitlose Thesen abkürzen. Theologie kann nicht aus der Zeit fallen, qua aeternalistischem Kommentar. Für den Leser bringt das den Eindruck mit sich, die Position Pannenbergs lasse sich schwer ‚auf den Punkt bringen‘: Und das ganz zu

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recht. Denn den Punkt, jedenfalls im Sinne eines der hermeneutischen Zusammenhänge entzogenen instantanen Etwas, das sich ebenso instantan in eine These kleiden und reinbegrifflich fassen ließe, gibt es nach Pannenberg nicht.29 Gott ist nicht thetisch protokollierbar oder feststellbar. Dies ergibt sich aus den beiden Adäquatheitsbedingungen. Ein Festhalten an ihnen und ihren Implikaten ist die einzige Weise, in der Theologie nicht schon der Form nach falsch sein muss, also die formale adaequatio verfehlt und, da die Form der Offenbarung zum Wesen Gottes unveräußerlich hinzugehört, auch eo ipso ihre materiale Wahrheit verfehlen muss.

Appendix: Pannenberg und der späte Schelling. Versuch der Beleuchtung eines mehrfach schwierigen Verhältnisses In Fn. 9 dieses Aufsatzes wurde in Übereinstimmung mit Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz die Vermutung geäußert, Pannenbergs Systemkonzeption sei in wesentlichen Zügen derjenigen der Spätphilosophie Schellings analog. In Form eines Appendix zur dargelegten Argumentation soll (1) diese Vermutung zumindest grob verständlich gemacht sowie begründet und (2) erklärt werden, weshalb Pannenberg trotz seiner exzellenten Kenntnis der Philosophiegeschichte und seiner Konsequenz im Verweisen auf einschlägige Vorläuferkonzeptionen seiner eigenen Systematik an keiner (mir bekannten) Stelle den späten Schelling prominent erwähnt, geschweige denn zum Kronzeugen seiner eigenen Systematik erklärt; wieso Schelling also – mit Christine Axt-Piscalar gesprochen – „kein wirklich prominenter Referenzpunkt für Pannenberg“30 ist. Gunther Wenz hebt in einem Beitrag dieses Bandes mit Recht hervor: „Es wäre eine lohnende Aufgabe, den Nachweis für die[…] These [sc. von der Analogie zwischen Pannenbergs und Schellings Systemanlage] zu erbringen“31. Folgende Überlegungen wollen zu einem solchen Nachweis beitragen. Ad (1). Was ist behauptet, wenn man Pannenbergs Systemkonzeption – genauer: den im Aufsatz dargelegten, wohlbegründeten Formprinzipien – eine Ähnlichkeit oder Analogie zu derjenigen des späten Schelling nachsagt? Diese Frage ist allein deshalb schon schwer zu beantworten, weil unklar ist, worin ‚die‘ Spätphilosophie 29 Einen analogen Eindruck kann man bei der Lektüre der philosophischen Versuche des späten Schelling gewinnen. Dies mag ein weiteres Symptom der Parallele(n) zu Pannenbergs Systemkonzeption sein. 30 C. Axt-Piscalar, „Das wahrhaft Unendliche. Zum Verhältnis von vernünftigem und theologischem Gottesbegriff bei Wolfhart Pannenberg“, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hgg.), Gott der Vernunft. Festschrift für Jan Rohls, Tübingen 2009, 319–337 [hier: 331 Fn. 33]. 31 G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, 15-70, hier: 70.

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Schellings besteht: Wir verfügen noch immer nicht über eine zuverlässige Ausgabe der Texte, in denen selbige entfaltet ist; noch immer stellt die Forschung zur Spätphilosophie Schellings ein schillerndes Bild dar, in der extrem voneinander abweichende Deutungsalternativen verhandelt werden32; und dies wiederum ergibt sich auch daraus, dass Schelling in seiner späten Phase (über deren genaue Datierung zuallererst zu befinden wäre) verschiedene Anläufe genommen hat, die seine ‚Spätphilosophie‘ zu etwas macht, dem weniger Einheitlichkeit zukommt, als der Titel ‚die Spätphilosophie Schellings‘ suggeriert.33 Aus alledem folgt, dass (noch) keine Bedingungen herrschen, unter denen ein in jeder Hinsicht exakter Vergleich der Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs mit der- oder denjenigen ‚des‘ späten Schelling unternommen werden könnte. Dennoch hat es – tentativ und thetisch – Sinn, eine Ähnlichkeit des Denkens Wolfhart Pannenbergs und zentraler Leitmotive des späten Schelling zu behaupten. Denn aus den seit jeher verfügbaren späten Texten Schellings und deren Diskussion in der Schelling-Forschung kann zumindest herausgestellt werden, woran Schellings Denken, gegen Hegel, interessiert und orientiert war: (a) Schelling ist bereits seit Abfassung der Freiheitsschrift (1809) daran interessiert, die Freiheit Gottes so zu denken, dass seine Schöpfung nicht aus Notwendigkeit erfolgt, Gott mithin ein Handeln aus freier Liebe zusprechen zu können, korrespondierend damit außerdem die Freiheit des Menschen so zu denken, dass sie eine lebendige Freiheit zum Guten und zum Bösen ist und nicht eine Freiheit, die in nicht mehr besteht als dem sich-Fügen in das von Gott Vorgedachte und -bestimmte.34 Theologisch gesprochen ringt er also um die Denkbarkeit der Schöpfung, von welcher Gott nicht notwendig abhängt, sondern in deren Abhängigkeit er sich − wenn überhaupt − nur durch einen freien Entschluss der Liebe begibt. Diesen Punkt hat Pannenberg – und das ist der einzige gewichtige explizite Bezug auf die Spätphilosophie Schellings – in Theologie und Philosophie explizit anerkannt35, wenngleich als in der Freiheitsschrift noch unzureichend vollzogen 32 Dies lässt sich auch daran ersehen, dass Schellings Spätphilosophie – wie andere große philosophische Entwürfe auch – unter verschiedenen (philosophischen) Disziplinen gelesen werden kann, etwa als Onto(theo)logie, Anthropologie, Philosophie des Selbstbewusstseins. Vgl. dazu M. Gabriel, „Sein, Mensch, Bewußtsein. Tendenzen der neueren Forschung zur Spätphilosophie Schellings“, in: Philosophische Rundschau 52:4 (2005), 271–301 [hier v. a. 300 f.]. 33 Für eine Sensibilisierung für dieses komplexe philosophisch-philologische Dickicht beim späten Schelling sowie für viele Anregungen, die indirekt sicherlich auch in diesen Aufsatz eingeflossen sind, bin ich Thomas Buchheim zu großem Dank verpflichtet. 34 Vgl. dazu T. Buchheim, „Einleitung“, in: F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, herausgegeben von T. Buchheim, Hamburg 22011, IX–LV [hier v. a. IX ff.]. 35 Wobei nicht auszuschließen ist, dass ihm dieser Schellingbezug in aller Klarheit erst im Zuge der Abfassung dieser Monographie vor Augen stand, d. h. möglicherweise noch nicht hin-

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und durch ein Zitat, in dem Schelling selbst (wohl im Sinne Pannenbergs) die theologische Selbstverständlichkeit dieses Punktes in Erinnerung ruft: Schelling stand in seiner Schrift über das Wesen der menschlichen Freiheit, die auch Ausdruck einer neuen Hinwendung zum Christentum (angeregt durch Franz Baader) ist, auf der Schwelle zum Gedanken des Schöpfungsursprungs der Welt durch Freiheit. Daß er den Schritt noch nicht entschlossen vollzog, lag an der Vorstellung von einer „Natur in Gott“ als Mitursprung der Schöpfung. In der durch Spinoza bestimmten Phase seiner Entwicklung, als Schelling alles in den Begriff des Absoluten (sei es als Ich oder Vernunft) einbezog, war die Frage unbeantwortbar, wie aus dem Absoluten ein anderes, Endliches, hervorgehen kann. […] 1809 war Schelling im Begriff, die Freiheit Gottes als den Grund dieses Übergangs zu denken, und entschieden ist dieser Schritt in dem nachgelassenen Fragment „Die Weltalter“ (1813) vollzogen worden. Hier heißt es nun, jedermann erkenne, „daß Gott Wesen außer ihm nicht vermöge einer blinden Nothwendigkeit seiner Natur, sondern mit höchster Freiwilligkeit erschaffen“ habe, und aus der bloßen Notwendigkeit der Natur Gottes „wäre keine Kreatur“. […] Mit dieser These, die für seine Spätphilosophie grundlegend blieb, hat Schelling sich endgültig vom Spinozismus seiner Anfänge getrennt. Er schlug damit auch einen andern Weg ein als sein Jugendfreund Hegel ihn seit den gemeinsamen Jahren in Jena 1801– 1803 genommen hatte. (TuP, 231 f.36; Hervorh. T.O.)

(b) Eng mit (a) einher geht die zunehmende Verwendung von Kategorien des Praktisch-Personalen in Schellings (philosophischer) Rede von Gott: Gott wird als Person gedacht, die in ihrer geschichtlichen Offenbarung wirksam und tätig ist – und nicht primär als ein Subjekt oder Selbstbewusstsein, dessen begriffliche Selbstartikulation vom endlichen epistemischen Subjekt theoretisch ergriffen werden kann.37 Theologisch gesprochen ringt Schelling also um eine adäquate Fassung des trinitarisch-personalen Gottes, der, sofern er als notwendiges Absolutum reinbegrifflichen Denkens begriffen wird, eklatant unterbestimmt ist. (c) Von der Freiheitsschrift an zeigt sich Schellings – durch (a) und (b) nahegelegte – Einsicht, dass eine (philosophische) Gotteserkenntnis keine reinbegrifflich-instantane sein kann, sondern der Geschichtlichkeit der Offenbarung Gottes dadurch Rechnung tragen muss, dass sie selbst eine andere Form anreichend während der Arbeit an den drei Bänden der Systematischen Theologie. Aufschluss könnte hier möglicherweise eine genauere Erforschung der Abfassungschronologie dieser Werke geben. 36 Eine sachliche Parallelstelle mit einem erneuten Schellingbezug findet sich im Hegel-Kapitel von TuP (vgl. TuP, 278 f.). 37 Deutlich etwa in folgendem Gedankengang Schellings: „[U]nd zwar erscheint es [sc. das Licht des Geistes], um dem persönlichen und geistigen Bösen entgegenzutreten, ebenfalls in persönlicher, menschlicher Gestalt und als Mittler, um den Rapport der Schöpfung mit Gott auf der höchsten Stufe wieder herzustellen. Denn nur Persönliches kann Persönliches heilen, und Gott muß Mensch werden, damit der Mensch wieder zu Gott komme.“ (F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, herausgegeben von T. Buchheim, Hamburg 22011, 52.)

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nimmt. Mit der ‚objektseitigen‘ Feststellung der Geschichtlichkeit der Offenbarung Gottes geht also bei Schelling die ‚subjektseitige‘ Transformation des (philosophischen) Erkenntnismodus einher. Die streng-deduktive und begrifflich-systematische Systemform, die seine früheren Werke (etwa: Vom Ich als Princip der Philosophie (1795) sowie das System des transscendentalen Idealismus (1800)) gekennzeichnet hatte, wird von der Freiheitsschrift an aus guten Gründen gebrochen.38 Theologisch gesprochen ringt Schelling also selbst mit dem Programm einer „Offenbarung als Geschichte“. Wie gesagt, sind (a)–(c) tentative und thetische Beobachtungen, die allenfalls eine Richtung, noch keine konkrete Ausarbeitung der Gedankenführung des späten Schelling anzeigen. Sofern sie – mit dieser Einschränkung – zutreffen, dürfte vor dem Hintergrund des im Aufsatz argumentativ Dargelegten offenbar sein, worin die Parallelen zwischen Schelling und Pannenberg liegen, denen eine von beiden Denkern geteilte Frontstellung gegenüber genuin hegelschen Motiven korrespondiert. Punkt (c) kreist offenkundig um diejenigen Probleme, denen vorliegender Aufsatz primär gewidmet war. Es lohnt sich daher, ihn noch um einen weiteren Schritt zu vertiefen: Unstrittig und bekannt ist, dass Schellings Bruch in der Form der Systemkonzeption in einer Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie sowie zwischen einer Philosophie der Mythologie und der Offenbarung mündet. Notorisch strittig und unklar ist jedoch, was diese Differenzierungen systemarchitektonisch bedeuten und welche genauen philosophischen Gehalte sie motivieren oder sich aus ihnen ergeben.39 38 Vgl. dazu T. Buchheim, „Einleitung“, in: F.W.J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, herausgegeben von T. Buchheim, Hamburg 22011, IX–LV [hier: XXVII ff.]; sowie A. Hutter, Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt am Main 1996; sowie A. Hutter, „Der kritische Sinn des Gottesbegriffs“, in: T. Buchheim/F. Hermanni/A. Hutter/C. Schwöbel (Hgg.): Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012, 149– 177. 39 Die lange alternativlose und heute immer noch prominente „Standardlesart“ besagt, die Differenz zwischen negativer und positiver Philosophie sei durch die Differenz zwischen Begriff/Wesen und Existenz, zwischen Was und Dass, zwischen quid sit und quod sit angemessen beschrieben. Demgegenüber macht Hutter eine Differenz geltend, die von Schelling selbst sogar als Antinomie bezeichnet wird und die die Unterscheidung einer negativen und positiven Philosophie begründet: „Schellings Spätphilosophie behauptet, es bestehe eine grundlegende „Antinomie zwischen dem, was aus der Vernunft mit Nothwendigkeit folgt, und dem, was wir eigentlich wollen“ (X 21). Da aber für Schelling dasjenige, „was wir eigentlich wollen“, trotz seiner Absetzung vom Vernunftnotwendigen seinerseits vernünftig ist, handelt es sich bei der behaupteten Vernunftantinomie um einen Protest der Vernunft gegen die Vernunft.“ (A. Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schelling, Frankfurt am Main 1996, 17) Hutter kann daher zeigen, dass die „klassischen“ zwei Pole der Deutung der Spätphilosophie Schellings, diejenige von Horst Fuhrmans und diejenige von Walter Schulz, dem gemeinsamen Grundfehler

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Schelling selbst hat einen – für die Theologie besonders interessanten – Wink gegeben, den Gunther Wenz jüngst hervorgehoben hat40: Dass die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Philosophie analog zur vieldiskutierten theologischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium sei. Im Wortlaut schreibt Schelling: Dieses also ist die Aufgabe der zweiten Philosophie; der Uebergang zu ihr ist gleich dem Uebergang vom alten zum neuen Bunde, vom Gesetz zum Evangelium, von der Natur zum Geist.41 Diese Auskunft ist zunächst ihrerseits problematisch: Denn neben den in Fn. 39 schon genannten Begriffspaaren der „Standardlesart“ sowie derjenigen Hutters, die jeweils den differenzierten Zusammenhang von negativer und positiver Philosophie adäquat ausdrücken sollen, führt Schelling hier ein weiteres, nämlich „Natur“ und „Geist“ an. Hier handelt es sich erneut um Begriffe, über deren (Schelling’schen) Sinn wir hier keine Klarheit voraussetzen können. Auch ist alles andere als evident, wie sie parallel zu führen sind mit den anderen vorgeschlagenen Begriffspaaren, „Begriff/Wesen“ und „Existenz“ oder „dem, was aus der Vernunft mit Notwendigkeit folgt“ und „dem, was wir eigentlich wollen“. Gunther Wenz hat einen in diesem Problemdickicht klärenden und fruchtbaren Deutungsvorschlag unterbreitet. Schellings (spätes) Programm sei es gewesen, dass er die – dem Gesetz zu vergleichende – negative Philosophie des Vernunftapriorismus, welche in Hegel ihren obersten Repräsentanten gefunden habe, aus der Abstraktheit ihres Absolutheitsanspruches löse, um sie auf die positive Philosophie als die aufsitzen, dass sie die Differenz von negativer und positiver Philosophie ausschließlich im Sinne der „Standardlesart“ und nicht im Sinne der Vernunftantinomie verstehen. Hutter versteht die Spätphilosophie Schellings hingegen als Weiterführung von Kants Vernunftkritik, was sich exemplarisch am Begriff der Antinomie und einer Differenz der Eigenlogik des Theoretischen und derjenigen des Praktischen zeigt, die beide Aspekte der einen Vernunft sind, wobei zweitere das Primat führt. 40 Vgl. G. Wenz, Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie. Studium Systematische Theologie Band 2, Göttingen 2005, 92. 41 F.W.J. v. Schellings Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Erster Band. Einleitung in die Philosophie der Mythologie von F.W.J. v. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856, 571. Pannenberg muss diese Analogisierung Schellings von Gesetz und Evangelium mit dessen negativer und positiver Philosophie gekannt haben: Denn in der in seiner Bibliothek enthaltenen Ausgabe der Philosophie der Offenbarung (Buch Nr. 2141; vgl. dazu näher Fn. 53) ist das Vorwort von K.F.A. Schelling zur 1858er-Ausgabe mit abgedruckt, das mit dem Hinweis schließt, es handle sich hier um „ein Verhältnis, das der Verfasser selbst andeutet, wenn er am Ende der rationalen Philosophie (a. a. O. S. 571) sagt, der Uebergang zur positiven Philosophie sey gleich dem vom Gesetz zum Evangelium.“ (F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung. Band I, Darmstadt 1955, XII = F.W.J. v. Schellings Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Dritter Band. Philosophie der Offenbarung von F.W.J. v. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1858, XII.) In Pannenbergs Exemplar (Buch Nr. 2141; vgl. dazu näher Fn. 53) findet sich aber keine Annotation, die uns Aufschluss über seine Einschätzung dieser Schelling’schen Verhältnissetzung geben würde.

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gedankliche Form des Evangeliums hin zu relativieren, in welchem das Gesetz der Vernunft zu aposteriorischer Erfüllung gelange. Wie das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist nach Schellings Urteil auch das Verhältnis negativer und positiver Philosophie als ein Zusammenhang begrifflich nicht synthetisierbarer Differenz strukturiert. Das Absolute in seiner Idealität ist dem Vernunftapriorismus negativer Philosophie durchaus erschwinglich, nicht aber der wirkliche, der existierende Gott, dessen unvordenkliches Sein sich allein in der Faktizität der Offenbarung erschließt. Beide Einsichten sind nicht unmittelbar synthetisierbar, bilden aber gleichwohl einen, freilich nur vonseiten der positiven Philosophie her wirklich durchsichtigen Zusammenhang.42

Die sachlichen Ähnlichkeiten dieser (theologischen) Deutung der Spätphilosophie Schellings und der in vorliegendem Aufsatz vorgeschlagenen Interpretation von Pannenbergs theologischer Systemanlage sind offenkundig. Und doch sind es nur sachliche Ähnlichkeiten, keine Kongruenzen. Denn: Pannenberg hat, anders als Schelling, keine Zweiteilung seines Systems vorgenommen. Es gibt keine zwei Systemteile von der Art, wie es beim späten Schelling eine negative und positive Philosophie gibt. Es ist allenfalls so, dass Pannenbergs Unterscheidung abstrakten, reinbegrifflichen Denkens Gottes (von dem fraglich ist, ob es überhaupt ein Denken Gottes sein kann) von einer konkreten, begrifflichen und auf Begriffstranszendentes bezogenen Gotteserkenntnis in Analogie zu Schellings Unterscheidung negativer Philosophie (als einer bestimmten Weise des Denkens) und positiver Philosophie (als einer anderen) steht. Die negative Philosophie ähnelt dem, was Pannenberg unter abstraktem, reinbegrifflichen Denken versteht, das, wie in diesem Aufsatz gezeigt, theologisch prinzipiell insuffizient ist; und die positive Philosophie dem, was Pannenberg unter konkreter, begrifflicher und auf Begriffstranszendentes bezogener Gotteserkenntnis versteht. Und wie Schellings positive Philosophie nicht ohne negative Philosophie auskommt, so hat nach Pannenberg ja auch die reine Begriffsarbeit zum Zwecke der Klärung von Dunkelheiten der Vorstellung ihre unverzichtbare Berechtigung. Welche systematische wie sachliche Differenz zu Schelling aber lässt sich daraus folgern, dass Pannenberg keine zwei Systemteile unterschieden hat? Sie besteht, so scheint es, in (mindestens) zwei Punkten: (d) Pannenberg zufolge gibt es zwar gelingende Fragmente einer Begriffsbewegung – wie etwa am Begriff des „wahrhaft Unendlichen“ –, doch ist der reine Begriff und seine Denknotwendigkeit(en) nicht derart autonom, dass mit ihm ein in sich kohärenter und, in seinen Grenzen, suffizienter Systemteil aufgestellt werden könnte. Pannenberg entfernt sich in diesem Punkt also weiter von Hegel, als Schelling dies getan hat: Nach Schelling ist die negative Philosophie zwar insuffizient, was die 42 G. Wenz, Offenbarung. Problemhorizonte moderner evangelischer Theologie. Studium Systematische Theologie Band 2, Göttingen 2005, 92.

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konkrete Erkenntnis Gottes und der Geschichte angeht; aber sie ist in diesen ihren Grenzen dennoch wohlartikuliert, systematisch und intern vollständig. Solches gilt aus Pannenbergs Sicht für den reinen Begriff nicht derart hinreichend, dass ein eigener, in sich kohärenter Systemteil dafür aufgestellt werden könnte. (e) Gibt man Schellings Wink, seine Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie analog zu derjenigen zwischen Gesetz und Evangelium zu verstehen, denjenigen interpretatorischen Kredit, den Wenz ihm zuerkennt, so ist zu folgern: Schelling will anzeigen, dass das Gesetz in einem anderen Kontext als das Evangelium situiert ist – wie eben die negative Philosophie in sich der Form der Geschichtlichkeit entbehrt. Das passt gut zur traditionellen These, das Gesetz lasse sich aus reiner Vernunft einsehen, wohingegen das Evangelium qua der geschichtlich vermittelten Offenbarung vernehmbar wird. Ein solcher Dualismus aber wird von Pannenberg offenkundig nicht akzeptiert: Denn die Strenge seines Programms Offenbarung als Geschichte verpflichtet ihn darauf, die Differenz zwischen Gesetz und Evangelium nicht als Differenz zwischen einem ungeschichtlichen und einem geschichtlichen Zusammenhang – oder noch stärker: zwischen dem Inbegriff des Ungeschichtlichen (der reinen Vernunftnotwendigkeit) und dem Inbegriff des Geschichtlichen (der vernunfttranszendenten Offenbarung) – zu bestimmen, sondern beides, „Gesetz“ und „Evangelium“, als zu dem einen geschichtlichen Zusammenhang, in dem Gott sich selbst offenbart, ja der Gottes Selbstoffenbarung ist, gehörig zu betrachten43; mithin als „Bezeichnungen von heilsgeschichtlich aufeinander folgenden Epochen“ (STh III, 87).44 43 Deutlich vernehmbar ist dies schon in Pannenbergs fünfter dogmatischen These zur Lehre von der Offenbarung Gottes in der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ (21963): „Das Christusgeschehen offenbart nicht als isoliertes Ereignis die Gottheit des Gottes Israels, sondern nur, sofern es Glied der Geschichte Gottes mit Israel ist.“ (W. Pannenberg/R. Rendtorff/T. Rendtorff/U. Wilckens, Offenbarung als Geschichte, Göttingen 21963, 107 [Hervorh. T.O.]). 44 Pannenberg erkennt der von Luther und der reformatorischen Theologie verfolgten strukturellen Kontrastierung von „Gesetz“ und „Evangelium“ sowie der mit ihnen verbundenen Logiken zwar den Verdienst zu, eine gewisse begriffliche Klarheit der Differenz gewonnen zu haben, hält es jedoch für problematisch, dadurch zugleich die ihrerseits geschichtlich, nämlich durch die paulinische Tradition vermittelte heilsgeschichtlich-epochale Abfolge von „Gesetz“ und „Evangelium“ auf problematische Weise in den Hintergrund gedrängt zu haben. Vgl. dazu STh III, 71–113; v. a. 94–99. Pannenberg unterstreicht die Notwendigkeit, das Verhältnis von Gesetz und Evangelium nicht nur als eine strukturlogische Differenz, sondern als einen heilsgeschichtlich-epochalen Zusammenhang zu denken, auch im Hinblick auf die Frage nach der Verhältnissetzung von jüdischer und christlicher Religion. Selbstkritisch in Bezug auf frühere Antwortversuche auf diese Frage merkt er an: „Ich habe 1964 noch allzu undifferenziert den Begriff jüdischer Religion als Religion des Gesetzes, das nach Paulus im Kreuze Jesu an sein Ende gekommen ist, aufgefaßt, statt das Wesen jüdischen Glaubens im Sinne der Verkündigung Jesu selbst vom Glauben an den Gott Israels her – und notfalls auch im Gegensatz gegen seine Gesetzestradition – zu verstehen.“ (STh II, 384 Fn. 54).

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Die Punkte (d) und (e) sollten thetisch dargestellt haben, welche Gründe – unbeschadet der in (a)–(c) angedeuteten Konvergenzen – Pannenberg abgehalten haben hätten können, von einem allzu engen und expliziten Bezug auf den späten Schelling zu verzichten. Ad (2). Warum aber hat Pannenberg, zumindest eingeschränkt auf die in (a)-(c) explizierten und in gemeinsamer Abgrenzung von Hegel formulierten Gedanken, so gut wie keinen expliziten Bezug auf Schelling genommen? Warum finden sich in den drei Bänden der Systematischen Theologie nur insgesamt sieben verschiedene Referenzen auf Schelling45, von denen drei sachlich bedeutungslos46 sind, sich zwei primär oder ausschließlich auf den frühen und mittleren Schelling beziehen, jedoch nicht auf Spezifika seines Denkens etwa im Unterschied zu Hegel47, sondern auf Schellings Naturphilosophie48, und nur zwei dem mittleren bis späten Schelling – unter dem Aspekt der hier diskutierten theologischen Sachprobleme – gewidmet sind49, wobei auch diese beiden eigentlich kein theologisches Gewicht tragen: Eine Referenz ist ein im Rahmen einer Tillich-Diskussion geführter Nachweis von dessen Schellingbezug, die andere eine Erwähnung von Schellings Theodizee in der Freiheitsschrift, die Pannenberg aber umgehend als derjenigen Hegels unterlegen beurteilt. Die Frage bleibt also: Warum ist Schelling kein prominenter Referenzpunkt für Pannenberg? Und wieso findet der späte Schelling nicht einmal in der (umfassenden) Darstellung Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte (1996) eine ausführlichere Erwähnung? 50 Dafür gibt es wohl dreierlei Gründe: (i) Die durchaus komplizierten und stark erläuterungsbedürftigen Ähnlichkeiten und Unterschiede, wie sie in (1) skizziert wurden, hätten einen gründlichen und unmissverständlichen Verweis auf Schelling entsprechend sehr lang und kompliziert werden lassen. Pannenbergs bewundernswerte Genauigkeit in seinen Referenzen hätte ihn hier entweder auf eine eigene Untersuchung verpflichtet, oder eben auf einen Verzicht eines nur andeutenden Modus, der – wie hier explizit auch für diesen Appendix kritisch angemerkt wurde – aus den genannten Gründen immer angreifbar bleibt.

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Vgl. STh I, 147 und 244 f.; STh II, 100 ff., 224 und 318; STh III, 648 und 682. Vgl. STh I, 147 Fn. 41; STh II, 224 und 318. Vgl. STh I, 244 f. Vgl. STh II, 100 f. Vgl. STh III, 648 und 682. Das 11. Kapitel dieser Darstellung, das auf das 10. Kapitel mit dem Titel „Hegels Systemgedanke“ chronologisch folgt, ist mit „Die Wendung zur Anthropologie“ überschrieben und diskutiert die existenzphilosophischen und hermeneutischen Entwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts. Der späte Schelling wird in dieser Darstellung nicht einmal als Scharnier hin zu diesen Entwürfen diskutiert. Erwähnt wird er nur kurz an zwei Stellen, die im vorliegenden Appendix unter (1a) erwähnt und besprochen wurden.

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(ii) Die in (1) angedeuteten Schwierigkeiten zur Interpretation der Spätphilosophie Schellings waren zur Zeit der Abfassung der Systematischen Theologie noch weitaus größer als heute. Bis zu Beginn der 1990er-Jahre war die Forschung zur Spätphilosophie Schellings maßgeblich durch eine Alternative geprägt, aus der auszubrechen erst die neueste Schellingforschung ab Beginn der 1990erJahre ermöglicht hat: Die Rede ist von der Alternative der sog. „Transzendenzlesart“ Horst Fuhrmans’ auf der einen sowie der „Immanenzlesart“ Werner Schulz’ auf der anderen Seite. Kurz gesagt51, besagt erstere, das Positive sei für die Philosophie eben als aus vernunfttranszendenter Quelle gegeben anzunehmen, zweitere hingegen, die Vernunft beweise ihre Absolutheit gerade darin, sich in der positiven Philosophie so denken zu können, dass ihr selbst noch einmal ein externer Grund vorausgesetzt ist. Sie setzt sich, in diesem Sinne, ihren externen Grund selbst voraus. Inwieweit Pannenberg beide Lesarten rezipiert hat, ist ungewiss. Jedenfalls befand sich ein Exemplar von Schulz’ Monographie in seiner Bibliothek.52 Doch selbst wenn Pannenberg beide Lesarten genau studiert und erwogen haben sollte, ist zu vermuten, dass ihm keine dieser beiden Interpretationen in systematischer Absicht attraktiv hätte erscheinen können: Fuhrmans’ Transzendenzlesart erscheint, aus Pannenbergs Prämissen, als eine offenbarungspositivistische Denkweise, der er durch sein Programm einer Offenbarung als Geschichte ja gerade entgegenzudenken gedachte. Schulz’ Interpretation hingegen bleibt dem Programm Hegels darin treu, die Vernunft selbst da noch als souverän und absolut zu betrachten, wo sie sich selbst als von einem externen Grund abhängig denkt; damit ist aber, aus Pannenbergs Sicht, in einem sehr wichtigen Sinne nicht Ernst gemacht mit der geschichtlich vermittelten und erfahrbaren – also wirklichen – Vorgeordnetheit der Wirklichkeit Gottes vor allen reintheoretischen und -begrifflichen Vollzügen. Die (undankbare) Alternative zwischen Fuhrmans’ und Schulz’ Interpretation wurde erst seit den 1990er-Jahren sukzessive gebrochen, indem die Spätphilosophie Schellings neue, originelle philosophische Aufmerksamkeit auf sich zog. Es ist hier nicht der Ort, die Schellingforschung der jüngsten Zeit auch nur ansatzweise nachzuzeichnen, geschweige denn zu systematisieren oder zu beurteilen. Genannt seien aber die Namen Thomas Buchheim, Markus Gabriel, Friedrich Hermanni und Axel Hutter, die ihre gewichtigen Impulse allesamt im Zeitraum zwischen 1990 und der Gegenwart entfaltet haben und deren Impulse – 51 Ich folge hier im Wesentlichen der sehr prägnanten Darstellung beider Positionen durch A. Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunftkritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt am Main 1996, 19–40. 52 Diese ist nun in der von Gunther Wenz geleiteten Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, einzusehen. Die Monographie Walter Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln 1955 ist Buch Nr. 2144 (vgl. dazu näher Fn. 54).

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der Sache nach – gerade darin bestehen, die Einseitigkeiten der dargestellten Lesarten aufzuweisen und durch differenziertere Interpretationen zu ersetzen. Es wäre Pannenberg trotz seiner enormen Geisteskraft wohl kaum möglich gewesen, allein und instantan diese Wege einzuschlagen, diesseits derer Schelling (und die ihn traktierende Forschung) keine Anlaufstelle war, an die man sich theologisch problemlos hätte halten können. Pannenberg würde wohl, eingedenk seines eigenen geschichtlichen Verständnisses der Erkenntnisentwicklung, anerkennen, dass die Erschließung Schellings in theologischer Hinsicht noch der Zukunft vorbehalten war oder ist. In Pannenbergs Bibliothek, die nun zu Forschungszwecken zugänglich ist, befanden sich zudem nicht allzu viele Texte Schellings53; und auch nicht allzu viel Sekundärliteratur zu Schelling.54 Dies allein freilich beweist wenig, hat Pannen53 Im Einzelnen sind es sechs Texte in folgenden Ausgaben, geordnet nach den Buchnummern in der zu Forschungszwecken katalogisierten Bibliothek Pannenbergs: (Buch Nr. 1966:) F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus, Hamburg 1962; (Buch Nr. 1968:) F.W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1977; (Buch Nr. 1969:) F.W.J. Schelling, Schriften 1804–1812. Hrsg. u. eingel. von Steffen Dietzsch, Berlin 1982; (Buch Nr. 1890:) F.W.J. Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Berlin 1863; (Buch Nr. 2141:) F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung. Band I, Darmstadt 1955; (Buch Nr. 2142:) F.W.J. Schelling, Philosophie der Offenbarung. Band II, Darmstadt 1955. Daraus lässt sich ersehen: (i) Zur Spätphilosophie Schellings gehören, wenn man die Freiheitsschrift als ihren Ausgangspunkt hinzurechnet, nur drei Titel: Eben die Freiheitsschrift (Buch Nr. 1968) sowie zwei Bände Philosophie der Offenbarung (Buch Nr. 2141 u. 2142). (ii) Die Zählung der Buchnummern erfolgt entlang der Ordnung der Bücher im Regal, wie Pannenberg sie in seiner Bibliothek selbst vorgenommen hatte. Somit lässt sich ersehen, dass Pannenberg das System des transzendentalen Idealismus, die Freiheitsschrift und die Schriften 1804–1812 in einen Zusammenhang gestellt hat. Der Freiheitsschrift hat Pannenberg also keinen separaten Platz zuerkannt, was vermuten lässt, dass er sie nicht als einen Text der allzu großen Nähe zur Spätphilosophie Schellings verstanden hat (dafür sprechen auch die unter (1a) im vorliegenden Appendix diskutierten Passagen aus TuP). Hingegen hat er die beiden Bände Philosophie der Offenbarung distinkt eingeordnet. (iii) Zur Ausgabe der Freiheitsschrift Pannenbergs (Buch Nr. 1968) lässt sich weiter Folgendes sagen: Es handelt sich um eine Ausgabe im Reclam-Verlag, die Horst Fuhrmans eingeleitet und mit Anmerkungen versehen hat. Pannenberg hat die Einleitung, den Haupttext und die Anmerkungen durchgearbeitet, wie den zahlreichen Anstreichungen zu entnehmen ist. (iv) Zur Ausgabe der Philosophie der Offenbarung (Buch Nr. 2141 u. 2142) lässt sich weiter Folgendes sagen: Es handelt sich um eine Sonderausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt, die nichts anderes als ein fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1858 ist (aus der Reihe der Sämmtlichen Werke: Buch Nr. 2142 entspricht: F.W.J. v. Schellings Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Dritter Band. Philosophie der Offenbarung von F.W.J. v. Schelling, Stuttgart und Augsburg, 1858. Buch Nr. 2142 entspricht: F.W.J. v. Schellings Sämmtliche Werke. Zweite Abtheilung. Vierter Band. Philosophie der Offenbarung von F.W.J. v. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1858.) 54 Im Einzelnen sind es folgende sieben Titel, die, wie sich wiederum den Buchnummern entnehmen lässt, tatsächlich auch in Pannenbergs Bibliothek der Spätphilosophie Schellings (also den beiden Bänden Philosophie der Offenbarung (Buch Nr. 2141 u. 2142)) zugeordnet

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berg doch nachweislich mehr als diese in seiner Bibliothek befindlichen Texte Schellings studiert, wie sich den Fußnoten der oben zitierten Passage aus TuP, 231 f. entnehmen lässt. (iii) Die gewichtigste Erklärung dafür, dass der späte Schelling keinen expliziten positiven Referenzpunkt für Pannenberg darstellen konnte, besteht jedoch darin, dass sich durch eine Sichtung seiner (wenigen) Annotationen in den in Fn. 53 genannten Textausgaben aus seiner Bibliothek zeigen lässt, dass er Schelling als theologisch unorthodoxen Denker – und damit ganz anders als es die Tendenzen aus (1a–c) erscheinen lassen – verstanden hat. Näherhin sind zwei Stellen aufschlussreich: (iiia) In Pannenbergs Ausgabe der Freiheitsschrift (Buch Nr. 1968), deren kritische Beurteilung durch Pannenberg bereits unter (1a) thematisiert wurde, findet sich auf S. 93 zudem eine wörtliche Annotation55 an folgender Textstelle: … Dieses Prinzip ist eben der in der Schöpfung durch Erregung des finstern Naturgrundes erweckte Geist des Bösen, d. h. der E n t z we i u n g von Licht und Finsternis, welchem der Geist der Liebe, wie vormals der regellosen Bewegung der anfänglichen Natur das Licht, so jetzt ein höheres Ideales entgegensetzt. …56

Pannenberg hat die Zeilen 3–5 dieser Passage am Rande vertikal mit einer geringelten Linie versehen. Rechts neben Zeile 4 hat er ein Kreuzchen gesetzt; dieses Kreuzchen findet sich auch noch einmal auf derselben Seite ganz unten, daneben folgende Anmerkung Pannenbergs, die somit als Anmerkung zu den geringelten Zeilen zu lesen ist: waren (die folgenden bibliographischen Angaben folgen der Katalogisierung seitens der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle): (Buch Nr. 2143:) X. Tilliette, La mythologie comprise. L’interprétation schellingienne du paganisme, Napoli 1984; (Buch Nr. 2144:) W. Schulz, Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart/Köln 1955; (Buch Nr. 2145:) W. Schöpsdau, Die Evidenz Gottes im Mythos. Schellings Spätphilosophie und die Theologie, unbekannter Ort 1972; (Buch Nr. 2146:) U. Stegelmann, Der Begriff des Mythos als Wesen und Wirklichkeit. Eine Auseinandersetzung mit der Spätphilosophie Schellings, Hamburg 1976; (Buch Nr. 2147:) F. Brunstäd, Reformation und Idealismus. Vortrag, gehalten bei der Tagung der Luther-Gesellschaft in München am 18. Juli 1925, München 1925; (Buch Nr. 2148:) M. Theunissen, Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Freiburg/München 1976; (Buch Nr. 2149:) H. Knittermeyer, Schelling und die romantische Schule. Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Abt. VII. Die Philosophie der neueren Zeit I, München 1929. 55 Es handelt sich um die einzige wörtliche Annotation in diesem Buch; ansonsten sind nur Anstreichungen und Markierung verschiedener Art (Striche, Kringel, Ausrufe- und Fragezeichen, Seitenzahlverweise und unbeschriebene Einleger) zu finden. 56 Der Zeilenumbruch und die Sperrung sind entsprechend der Ausgabe (Buch Nr. 1968) wiedergegeben.

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dann Schöpfungstat selber Ursprung des Bösen! 57

Diese handschriftliche Notiz zeigt eindeutig, dass Pannenberg Schellings Lehre vom Bösen – oder genauer: der menschlichen Freiheit zum Guten und Bösen – in der Freiheitsschrift so verstanden hat, dass diese den Ursprung des Bösen in Gott selbst verlegt. Dies impliziert noch nicht, dass diese Lehre philosophisch unhaltbar ist; wohl aber, dass sie es theologisch ist – selbst nach liberalen Maßstäben theologischer Orthodoxie. Die jüngsten und fortgeschrittensten Forschungen zu Schellings Freiheitsschrift beanspruchen mühevoll zu zeigen, dass eine solche Lesart, wie Pannenberg sie offenbar vertreten hat, ungerechtfertigt ist.58 Daraus lässt sich einerseits die Konsequenz ziehen, dass Pannenberg einer Fehlinterpretation Schellings aufsaß, die aber – der Sache nach – dafür sprach, theologisch nicht an den späte(re)n Schelling anschließen zu können; andererseits wiederholt sich das unter (ii) Gesagte: Pannenberg standen diese fortgeschrittenen, subtilen und diffizilen Erörterungen der neueren Schellingforschung nicht zur Verfügung. Bedenkt man, mit wie viel Aufwand an Differenzierung etwa Buchheim selbige anstellt, ist es selbst für einen Denker von Pannenbergs Format nicht überraschend, dass er Missverständnissen aufsaß, die andere scharfsinnige Denker, als Schellingforscher, nicht zuletzt wegen der dunklen Form und des dunklen Stils der Freiheitsschrift nur mühsam und schrittweise beseitigen konnten und können. (iiib) Die Freiheitsschrift gehört noch nicht zum Kern dessen, was man gemeinhin ‚die Spätphilosophie Schellings‘ nennt, da in ihr noch nicht die oben, in Bezug auf Pannenberg diskutierte Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie gemacht wird. Erfreulicherweise findet sich aber auch eine aufschlussreiche (wenngleich in ihrer Stoßrichtung weniger offensichtliche) handschriftliche Notiz59 Pannenbergs auf S. 39 in seinem Exemplar der Philosophie der Offenbarung.60 Sie ist neben folgender Passage angebracht: … Denn w i e könnte z. B. von einem Ve r d i e n s t Christi die Rede seyn, von einer f r e i w i l l i g e n Erniedrigung, von einer Ergebung in den Willen des

57 Es ist ( jedenfalls für mich) nicht klar zu entnehmen, ob hier „selber“ oder „selbst“ steht. Diese Unsicherheit hat jedoch offenbar keine sachlichen Konsequenzen. 58 Allen voran ist hier die Forschungsarbeit von Thomas Buchheim zu nennen, exemplarisch nachzuvollziehen in folgender sehr differenzierter Erörterung: T. Buchheim, „Risse im Gefüge des Seyns. Heideggers Rezeption der Schellingschen Freiheitsschrift und die „metaphysische Notwendigkeit des Bösen““, in: G. Wenz (Hg.), Das Böse und sein Grund. Zur Rezeptionsgeschichte von Schellings Freiheitsschrift 1809, München 2010, 149–156 [hier: v. a. 154 ff.]. 59 Es findet sich in Buch Nr. 2142 noch eine weitere handschriftliche Annotation: Auf S. 50 neben der 8. Zeile hat Pannenberg „= Satan“ vermerkt. Sie ist wenig aufschlussreich, vor allem nicht für die hier verfolgten Erkenntnisinteressen. 60 Buch Nr. 2142: Philosophie der Offenbarung. Band II.

Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs

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Vaters, von einer Verleugnung seiner selbst, einem Gehorsam u. s. w., wenn er nicht eine vom Vater unabhängige Existenz hatte, wenn er nicht eine Herrlichkeit hatte, in der er unabhängig vom Vater existiren, eine Göttlichkeit, die er für sich geltend machen konnte? Daß er dieß verschmähte, daß er statt dessen das Kreuz wählte, hierin also liegt die Grundidee des Christenthums. Diese Grundidee will ich nun zuerst in der Schrift selbst nachweisen.61

Pannenberg hat einen geraden handschriftlichen Strich rechts neben diesen Zeilen angebracht und Folgendes handschriftlich annotiert: keine Unterscheidung Gott/Mensch

Es ist nicht unmittelbar evident, worauf diese Behauptung genau abzielt. Sie muss, so meine These, vor dem Hintergrund von Pannenbergs Christologie und der Rolle, die die Herrlichkeit (Gottes) darin spielt, verstanden werden. Dies kann hier nur andeutend skizziert werden. Das organisierende Prinzip von Pannenbergs Christologie ist der Gedanke, dass Jesus sich als (einziger) Mensch konsequent selbst von Gott unterscheidet und somit seiner geschöpflichen Bestimmung als Mensch voll und ganz gerecht wird. Insofern er dies tut, erscheint in ihm geschichtlich der sich von seinem Vater unterscheidende ewige Sohn (vgl. zusammenfassend STh II, 420). Aus dieser Skizze geht zweierlei hervor: (i) Dem Sohn kommt, als Aktzentrum, durchaus eine Eigenständigkeit zu: Und zwar eine solche, die sich bei ihm im freien Akt der konsequenten Selbstunterscheidung vom Vater aktualisiert; (ii) dadurch gehört der Sohn zur Gottheit Gottes, wobei er vom Vater, als Aktzentrum, und in Selbstunterscheidung von ihm den Geist von Ewigkeit zu Ewigkeit empfängt und dem Vater zurückgibt sowie den Vater verherrlicht und uno eodem actu die Herrlichkeit vom Vater empfängt (vgl. dazu STh III, 23 und 672). Um den Akt einer Selbstunterscheidung und somit eines (freien) Gehorsams denken zu können, muss der Sohn also als ein freies Aktzentrum gedacht werden – nicht jedoch muss ihm eine ursprünglich-eigene Göttlichkeit und Herrlichkeit zuerkannt werden, wie Schelling meint. Vielmehr empfängt der Sohn seine Gottheit und Herrlichkeit durch den Vater, der sie ihm, als Aktzentrum, gibt, als die der Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater korrespondierende Tat. Dass man sich – wie Schelling meint – die freiwillige Tat der konsequenten Selbstunterscheidung vom Vater und des Gehorsams gegenüber dessen Willen nicht denken könne, „wenn er nicht eine vom Vater unabhängige Existenz hatte, wenn er nicht eine Herrlichkeit hatte, in der er unabhängig vom Vater existiren, eine Göttlichkeit, die er für sich geltend machen konnte“, ist vor dem Hinter61 Der Zeilenumbruch und die Sperrung sind entsprechend der Ausgabe (Buch Nr. 2142) wiedergegeben. Die Unterstreichungen sind von Pannenberg handschriftlich eingefügt.

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grund von Pannenbergs Christologie also schlicht falsch. Würde, so Pannenbergs folgerichtige Diagnose, die selbstständige und freie Tat der Selbstunterscheidung es im Sinne Schellings erfordern, eine ursprünglich-eigenständige Göttlichkeit und Herrlichkeit des Sohnes zu denken, so wäre damit letztlich – immanenttrinitarisch – keine Unterscheidung von Vater und Sohn und – ökonomischtrinitarisch – „keine Unterscheidung Gott/Mensch“ mehr gedacht, wie sie jedoch in der Selbstunterscheidung des (menschgewordenen) Sohnes von seinem Vater sehr wohl – immanent- wie ökonomisch-trinitarisch – zu denken ist. Und genau dieser thetische Ausdruck, „keine Unterscheidung Gott/Mensch“, ist Pannenbergs handschriftliche Annotation, durch die er anzeigt, welche fatale Implikation Schellings in der oben zitierten Passage erhobene trinitätstheologische wie christologische Behauptung hätte, wenn sie zuträfe. Nach Pannenberg ist Schellings Argumentation geradezu verkehrt herum: Es ist nicht so, dass der Gehorsam des Sohnes erst ein echter Gehorsam dadurch sei, dass er auf seine ursprüngliche Göttlichkeit und Herrlichkeit verzichtet; sondern so, dass der Sohn die Herrlichkeit des Vaters zuallererst empfängt und zur Gottheit Gottes hinzugehört, insofern er sich selbst konsequent vom Vater unterscheidet und gehorsam ihm gegenüber ist. Ob sich Pannenbergs Urteil „keine Unterscheidung Gott/Mensch“ in Bezug auf den ganzen Schelling halten lässt (und ob er sie überhaupt auf den gesamten späten Schelling ausgedehnt wissen wollte), ist hier nicht zu entscheiden. Man könnte durchaus argumentieren, die in meiner Argumentation explizierten Modi der Geschichtlichkeit und Narrativität, in denen ja Pannenbergs soeben skizzierter Gedanke der lebensgeschichtlichen Selbstunterscheidung Jesu von seinem Vater samt ihrer heilsgeschichtlichen Implikationen gefasst sind, seien von niemandem so stark konzeptionell eingesetzt worden wie vom späten Schelling.62 Doch darüber ist hier nicht näher zu befinden, allenfalls noch zu bemerken, dass Pannenberg nicht alle Passagen der beiden Bände Philosophie der Offenbarung gleichermaßen intensiv studiert hat, setzt man voraus, die Intensität des Studiums lasse sich zumindest in groben Zügen an der Dichte seiner Anstreichungen ablesen: Quantitativ wie qualitativ nicht unwesentliche Teile seiner Textausgabe sind jedenfalls ohne Anstreichungen.

62 Vgl. dazu A. Hutter, „Der kritische Sinn des Gottesbegriffs“, in: T. Buchheim/F. Hermanni/A. Hutter/C. Schwöbel (Hgg.): Gottesbeweise als Herausforderung für die moderne Vernunft, Tübingen 2012, 149–177. Das bedeutet aber auch: Pannenberg hätte dem unter (1c) dargestellten Punkt bei Schelling auch etwas abgewinnen können, wenn er sich auch – wie in (1d-e) begründet – nicht auf die Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie verpflichten konnte: Nämlich dadurch, dass er die geschichtlich-narrative Logik Schelling’schen und seines eigenen Denkens als ähnlich befinden hätte können.

Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs

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Für unsere Zwecke festzustellen ist jedoch: Die Behauptung Pannenbergs, beim späten Schelling liege „keine Unterscheidung Gott/Mensch“ vor, ist ein weiterer – sehr gewichtiger, das Zentrum von Pannenbergs Theologie und der Theologie überhaupt betreffender – Grund dafür, ihn für theologisch nicht hinreichend zu orthodox halten und – vor allem – nach Maßgabe von Pannenbergs eigener Theologie und insbesondere Christologie als keinen geeigneten Referenzpunkt zu betrachten.

Zusammenfassung der Ergebnisse des Appendix Zusammenfassend ergibt sich also folgendes Bild: Pannenberg hat Schelling – auch im Kontext der damals verfügbaren Forschung – so (miss-)verstanden, dass er ihm aus Sicht theologischer Orthodoxie sowie aufgrund von Spezifika seines eigenen theologischen Denkens in einigen, konkret benennbaren Punkten nicht folgen konnte. Damit war ihm zugleich der Blick auf die Ähnlichkeiten beider Denker, wie ich sie durch meine Lesart(en) herauszuarbeiten versuchte, verstellt, sodass Pannenberg Schelling letztlich in ähnlicher Weise theologisch scheitern sieht, wie er auch schon Hegel scheitern sah63 – abgesehen von Schellings Versuch, die Schöpfung Gottes – gegen Hegel – als freie Handlung zu denken, die Pannenberg explizit gewürdigt hat. Vor dem Hintergrund der Argumentation im Haupttext meines Aufsatzes ist der Aufweis einer Parallele der Systemkonzeptionen Pannenbergs und Schellings im Hinblick auf den theologischen Begriff und dessen Angewiesenheit auf Begriffstranszendentes und „Geschichtliches“ im mehrfachen Sinne von besonderer Bedeutung. Diese Parallele hat Pannenberg wohl entweder nicht benennen können oder wollen – vielleicht aufgrund seines Selbstkommentierungsverbots –, oder auch deshalb nicht namhaft gemacht, da sie bei Schelling mit einer Unterscheidung zweier Systemteile oder –typen verbunden ist, die Pannenberg aufgrund der Leitlinien seines Programms einer Offenbarung als Geschichte ablehnen muss. Somit sollte in wesentlichen Zügen sichtbar geworden sein, dass und in welchen Grenzen sich aus unserer Sicht durchaus eine Ähnlichkeit der Systemkonzeptionen Pannenbergs und des späten Schellings behaupten lässt, und durch welche Gründe und Umstände Pannenberg diese Ähnlichkeit weit weniger gesehen haben und daher auch nicht prominent namhaft machen konnte.

63 Vgl. PuT, 276–293.

Tobias Müller

Endlichkeit und Unendlichkeit Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke bei Wolfhart Pannenberg

1.

Die grundlegende Spannung im Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Pannenberg

Die protestantische Theologie steht seit ihren Anfängen in einem Spannungsverhältnis zur Philosophie, insbesondere zur Möglichkeit einer philosophischen Thematisierung Gottes durch die sogenannte „natürliche Theologie“. Den Grundstein für diese Spannung hatte bereits Martin Luther selbst gelegt, nach dessen Verständnis wahre Theologie primär vom Kreuzesgeschehen her begriffen werden muss. Theologie und die in ihr behandelte Gotteserkenntnis kann ihm zufolge immer nur mit Bezug auf die Heilsfrage betrieben werden, die im Kreuzestod Jesu ihre Antwort finde, da hier Sündenerkenntnis und Erlösungsgnade Gottes vermittelt seien.1 Eine solche „theologia crucis“ hat Luther von der scholastischen Theologie abgegrenzt, der er als „Theologie der Herrlichkeit“ vorgeworfen hat, lebensfern von Gott zu spekulieren. Damit hat Luther auch eine für protestantische Theologie prägende Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie vorgenommen, der zufolge alle philosophischen Formen der Gotteserkenntnis obsolet sind. Diese skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der Philosophie von Seiten protestantischer Theologie fand zunächst in der Schule des Göttinger Dogmatikers Albrecht Ritschl im 19. Jahrhundert ihren vorläufigen Höhepunkt. Ritschl sah in der Rezeption der griechischen Metaphysik durch die Patristik das Grundübel der christlichen Theologie, da durch jene die Unterscheidung von Gott und Welt verwischt worden sei. Letztlich sei auch das alles umfassende Sein als

1 Vgl. z. B. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 49–52.

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Grund der Welt nichts anderes als etwas, das zur Welt gehöre, so dass der Gedanke eines weltüberlegenen Gottes nicht von der Metaphysik erreicht werden könne.2 Bezog sich die Kritik Ritschls primär auf die Rezeption der griechischen Metaphysik in die Theologie, so wurde die Kritik an der Möglichkeit einer philosophischen Gotteserkenntnis von Karl Barth noch einmal verschärft, da Barth jede Erkenntnis Gottes ablehnte, die vom Menschen ausgeht.3 Somit war die Kritik an einer metaphysischen Gotteslehre unterschiedlich akzentuiert, insgesamt zielte sie aber auf eine Diskreditierung der sogenannten „natürlichen Theologie“, die bis heute innerhalb der protestantischen Theologie nachwirkt. Man muss sich diese Entwicklungen vor Augen halten, wenn man die Überlegungen Wolfhart Pannenbergs zum Verhältnis von Gottesgedanke und Metaphysik richtig einordnen will. Pannenberg nimmt bis heute in der protestantischen Theologie eine Sonderstellung ein, wenn es um das Verhältnis von Theologie und Philosophie geht. Nicht nur, dass Pannenberg philosophische Überlegungen mehr als viele seiner protestantischen Kollegen gewürdigt und in seine systematische Theologie integriert hat, er stand darüber hinaus auch der Möglichkeit einer Metaphysik offen gegenüber, die auch für die Theologie eine systematische Relevanz haben sollte. Für diese Einstellung, dass die Theologie offen für eine Metaphysik sein sollte, hat Pannenberg selbst verschiedentlich folgende historisch-systematische Motive ins Spiel gebracht: 1. Zum einen war das Christentum im Kontext der Heidenmission schon früh auf die griechische Metaphysik angewiesen, denn durch deren Überlegungen, dass nur der eine Gott Ursprung des Kosmos sein könne, bot sich für die christliche Verkündigung in nichtjüdischen Kreisen ein vielversprechender Anknüpfungspunkt. Damit konnte der jüdische Gott als konkrete Gestalt des philosophischen Monotheismus verstanden werden.4 Nur so war es Pannenberg zufolge möglich, dass „Nichtjuden, ohne Juden zu werden, an den Gott Israels als den einen Gott aller Menschen glauben konnten.“5 2. Zum anderen war Philosophie schon immer eine kritische Gesprächspartnerin der Theologie, die die theologischen Inhalte einer kritischen Analyse hinsichtlich ihres Wahrheitsanspruchs unterzog, so dass sie auch zur systematischen Weiterentwicklung der Theologie, die diese Kritik aufnahm, einen wichtigen Beitrag leistete.

2 Vgl. dazu z. B. A. Ritschl, Theologie und Metaphysik: Zur Verständigung und Abwehr, Bonn 1881. 3 Vgl. dazu W. Pannenberg, „Religion und Metaphysik“, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 1: Philosophie, Religion, Offenbarung, Göttingen 1999, 46. 4 Vgl. W. Pannenberg, „Religion und Metaphysik“, 48 f. 5 W. Pannenberg, „Metaphysik und Gottesgedanke“, Göttingen 1988, 13.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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Gerade der Wahrheitsanspruch des Gottesgedankens ist für Pannenberg das treibende systematische Motiv, die Relevanz einer metaphysischen Perspektive in Rahmen der Gottesthematik anzuerkennen: „Vor allem das theologische Reden von Gott bedarf für seinen Anspruch auf Wahrheitsgeltung der Beziehung auf metaphysisches Denken, weil das Reden von Gott auf einen Weltbegriff angewiesen ist, der nur durch metaphysische Reflexion zu sichern ist. Die christliche Theologie muss es daher wünschen und begrüßen, daß die Philosophie ihre große metaphysische Überlieferung wieder ernst nimmt als Aufgabe gegenwärtigen Denkens. Solche Angewiesenheit auf Metaphysik wird von den Theologen zwar heute nur selten zugestanden. Sie geht jedoch schon daraus hervor, daß die theologische Gotteslehre ohne das Gegenüber einer Metaphysik entweder einem kerygmatischen Subjektivismus oder der Entmythologisierung verfällt und häufig beiden zugleich.“6

Pannenberg betonte nicht nur die Notwendigkeit einer Metaphysik, er hat darüber hinaus selbst in kritischer Auseinandersetzung mit der Metaphysikkritik eine Programmskizze für eine Metaphysik des Absoluten entworfen, in denen die Herausforderungen, denen sich ein moderner Metaphysikentwurf heutzutage stellen muss, mit bedacht werden sollen. Betrachtet man diese Programmskizze genauer, so fällt auf, dass Pannenberg zwar einerseits die konstitutive Funktion der Metaphysik für die Theologie, andererseits aber gleichzeitig die Begrenztheit einer metaphysischen Perspektive betont, wohl mit der Hauptabsicht, eine Aufhebung der religiösen Inhalte in eine Metaphysik im Sinne einer Überlegenheitsthese von Beginn an Einhalt zu gebieten.7 Möchte man die Triftigkeit dieser Verhältnisbestimmung systematisch ausloten, stellen folgende Überlegungen wichtige Bezugspunkte dar: a) das Verhältnis des metaphysischen Gotteskonzepts zum religiösen Gottesgedanken, b) das Verhältnis von Denk- und Wirklichkeitsbestimmungen und 3) die Möglichkeit und Begrenztheit einer metaphysischen Konzeption des Absoluten. Meine These bezüglich Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Gottesgedanke lautet, dass Pannenberg aus verschiedenen Gründen zuzustimmen ist in der Behauptung, dass die metaphysische Perspektive die theologische nicht ersetzen kann. Meines Erachtens impliziert dies aber umgekehrt noch nicht, dass die metaphysische Perspektive aus sich heraus nicht zu Bestimmungen des Absoluten kommen kann, die über sehr abstrakte Charakterisierungen hinausgehen.

6 W. Pannenberg, „Metaphysik und Gottesgedanke“, 9. Vgl. z. B. auch Pannenberg, „Religion und Metaphysik“, 47; W. Pannenberg, „Ein theologischer Rückblick auf die Metaphysik“, in ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 1, Göttingen 1999, 28. 7 Vgl. W. Pannenberg, „Ein theologischer Rückblick auf Metaphysik“, 30 f. In diesem Sinne ist wohl auch Pannenbergs Hegelkritik zu lesen. Vgl. W. Pannenberg, „Metaphysik und Gottesgedanke“, 28–33.

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Zu diesem Zweck möchte ich im Folgenden zunächst Pannenbergs Kritik an der metaphysischen Gotteserkenntnis näher untersuchen und die dort implizit verwendeten Hintergrundannahmen kurz diskutieren. Daran schließen allgemeinere Überlegungen zum Verhältnis von Metaphysik und Gottesgedanke sowie zur methodischen Begrenztheit der metaphysischen Perspektive an, bevor paradigmatisch an der Transzendentalontologie Wolfgang Cramers gezeigt werden soll, wie eine begründete metaphysische Thematisierung des Absoluten, die auch der heutigen Metaphysikkritik gewachsen ist, aussehen kann und warum damit die theologische Perspektive nicht obsolet wird.

2.

Pannenbergs Kritik an der Möglichkeit der metaphysischen Gotteserkenntnis

Pannenbergs Argumente, die er für eine Begrenzung der Reichweite der Metaphysik vorbringt, scheinen eher theologischer als philosophischer Natur zu sein. Pannenberg geht davon aus, dass eine eigenständige Beschäftigung der Metaphysik mit dem Absoluten deshalb beschränkt sei, weil diese das Absolute niemals aus eigener Kraft und immer nur sehr abstrakt begreifen könne. So sei Metaphysik nicht fähig, Gott als Person zu begreifen, sondern nur abstrakt als das „Eine“ oder als die Einheit der Welt.8 Aufgrund dieser Abstraktheit könne die Metaphysik nicht zu eigenen Bestimmungen des Absoluten gelangen und sei deshalb auch nicht in der Lage, die Theologie zu ersetzen. Nun lässt sich in systematischer Hinsicht fragen, ob Pannenbergs These, dass die metaphysische Perspektive die theologische nicht ersetzen könne – so berechtigt diese auch sein mag –, zugleich auch seine Annahme legitimiert, dass Metaphysik nicht von sich aus über sehr abstrakte Bestimmungen des Absoluten hinauskommen könne. Schon ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass es eine Reihe von Ansätzen gibt, die über diese Bestimmung des Absoluten als der abstrakten Einheit begründet hinausgehen, und selbst wenn es diese nicht gegeben hätte, würde daraus logisch nicht folgen, dass es prinzipiell unmöglich wäre, auch aus philosophischer bzw. metaphysischer Perspektive, zu anderen Bestimmungen des Absoluten zu gelangen. Pannenbergs Darstellung suggeriert, dass jegliche metaphysische Perspektive in ihrer Abstraktheit defizitär sei, weil sie das Absolute nur als das abstrakte Eine thematisieren könne. Vielmehr bedürfe daher eine Metaphysik der Religion, denn nur in einer solchen kann man zu konkreteren Bestimmungen gelangen.9 8 Vgl. z. B. W. Pannenberg, „Metaphysik und Gottesgedanke“, 20. 9 Vgl. W. Pannenberg, „Ein theologischer Rückblick auf die Metaphysik“, 30 f.; W. Pannenberg, „Metaphysik und Gottesgedanke“, 33.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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Zentral für eine angemessene Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie ist die Interpretation davon, wie nach Pannenberg der Gott der Bibel als „Überbietung“ einer philosophischen Theologie zu verstehen ist.10 Hier ist eine zweifache Deutung möglich, nämlich einmal gewissermaßen deskriptiv, dann wird das Verhältnis von Philosophie und Theologie auf inhaltlicher Ebene nach dem Art-Gattungs-Verhältnis intensionallogisch gedacht. Demzufolge würde der christliche Glaube eine mögliche, aber – bezogen auf die metaphysische Beschreibung – nicht notwendige Konkretisierung darstellen. Eine solche Lesart lässt die Möglichkeit offen, dass die Metaphysik selbstständig das Absolute thematisieren kann und eventuell aus ihrer eigenen Perspektive zu Bestimmungen des Absoluten kommt, die über die Kategorie des abstrakten Einen hinausgehen. Die religiöse Perspektive könnte aber in dieser Deutung mit der Berufung auf Erfahrung genuine Bestimmungen des Absoluten beisteuern, die über die metaphysische Perspektive hinausgehen. Demgegenüber lässt sich die Überbietung aber auch normativ verstehen, wonach die metaphysische Beschreibung – sei es begründungstheoretisch oder inhaltlich – in sich defizitär wäre und so aus sich heraus einer religiös-theologischen Ergänzung bedarf, zumindest dann, wenn das Absolute sinnvoll thematisiert werden soll. Diese Lesart kann noch zugespitzt werden, indem zusätzlich behauptet wird, dass eine Metaphysik des Absoluten die religiöse Perspektive immer schon voraussetzen müsse, um überhaupt einen Gegenstand zu bekommen. Pannenbergs Verständnis der Metaphysik als einer Instanz, die Kriterien für eine Gottesrede entwickeln kann, dabei aber immer in der philosophischen Thematisierung des Absoluten die religiöse Perspektive voraussetzt, deutet darauf hin, dass er dieses Verhältnis normativ versteht. Metaphysik kann demnach nicht aus sich heraus zu Bestimmungen des Absoluten gelangen, die über sehr allgemeine und abstrakte Kategorien wie die des Unendlichen hinausgehen.11 Diese Deutung basiert aber auf einer ganz bestimmten Auffassung dessen, was man unter „Gottesgedanke“ versteht. Pannenberg verbindet – wie weiter unten noch ausführlicher zu zeigen sein wird – mit dem Gottesgedanken notwendig die Bestimmung der Person, die ihm zufolge immer in der geschichtlichen Wirklichkeit der religiösen Tradition eingebettet ist. Versteht man den Gottesgedanken in dieser Art, dann ist es nur folgerichtig, dass Metaphysik ohne den Bezug zu der jeweiligen geschichtlichen religiösen Tradition nicht zu den gleichen Bestimmungen kommen kann. Das liegt aber zutiefst in der Methode der Metaphysik, die nach allgemeinen vernünftigen und somit prinzipiell allen Diskursteilnehmern nachvollziehbaren Strukturen fragt, ohne bestimmte Glau10 W. Pannenberg, „Religion und Metaphysik“, 49. 11 Für diese Lesart: vgl. W. Pannenberg, „Ein theologischer Rückblick auf Metaphysik“, 31.

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bensinhalte oder Offenbarungen für diesen Diskurs voraussetzen zu dürfen. Dass Metaphysik aus methodischen Gründen nicht viel über konkrete Erkenntnisse sagen kann, die sich auf geschichtliche Ereignisse und spezifische Erfahrungen beziehen, liegt also schon in der Fragestellung der Metaphysik begründet. Insofern ist Pannenberg zuzustimmen, dass Metaphysik einen solchen Gottesgedanken, dem man Bestimmungen zuschreibt, die aus der geschichtlichen Begegnung gewonnen werden, niemals wird begründen können. Andererseits heißt dies nicht, dass – nur weil bestimmte Eigenschaften Gottes sich aus der geschichtlichen Erfahrung herleiten – die Metaphysik bei den vagen Konzepten des „Unendlichen“ oder des „Einen“ stehen bleiben müsste und prinzipiell nicht zu anderen Bestimmungen des Absoluten gelangen könnte. Analysiert man Pannenbergs Argumente jedoch genauer, so zeigt sich, dass seine beiden Grundintentionen weiter vermittelt werden können: eine Begrenzung der Metaphysik hinsichtlich der religiösen Inhalte aufgrund ihrer eigenen Zwecksetzung (und damit eine Berechtigung der theologischen Perspektive als Konkretisierungsperspektive) und eine Stärkung der Begründung ihrer Leistungsfähigkeit hinsichtlich der Entwicklung eines metaphysischen Konzepts des Absoluten, ohne dass damit die theologische Perspektive überflüssig werden würde. Es lässt sich nämlich zum einen zeigen, dass es vernünftigerweise nur der Anspruch der Metaphysik sein kann, allgemeine Wirklichkeitsstrukturen herauszuarbeiten, die allen spezifischen Fragen der Einzelwissenschaften vorausliegen. Damit ließe der Vorwurf, die Metaphysik benötige in ihrer Abstraktheit eine theologische Vollendung, außer Acht, dass eine so verstandene Metaphysik aufgrund ihrer Fragestellung und ihren methodischen Voraussetzungen gar nicht den Anspruch erhebt (und erheben kann), etwas über Strukturen auszusagen, die sich im Vergleich zu den allgemeinen Grundbestimmungen der Wirklichkeit als konkreter erweisen. Spezifischere Wirklichkeitsbestimmungen lassen sich dann nur über spezifischere, durch bestimmte Methoden geleitete Fragestellungen (und daraus resultierenden Wirklichkeitszugängen) erreichen, und dies gilt z. B. für eine naturwissenschaftliche Perspektive ebenso wie für eine theologische. Damit muss auch den spezifischeren, im vorliegenden Fall den theologischen Inhalten der jeweiligen Tradition eine gewisse Eigenständigkeit zugebilligt werden, die nicht in Metaphysik „aufgelöst“ werden kann. Dies schließt aber andererseits nicht aus – zumindest bei gelungener philosophischer Argumentation –, dass Metaphysik auch ohne vorausgesetzten Gottesgedanken der Religion Minimalbedingungen der Struktur und Grundbestimmungen des Absoluten eruieren und diese auch selbstständig, ohne Rekurs auf eine religiöse Tradition begründen könnte.12 12 Hier sei schon darauf hingewiesen, dass eine starke Begründung nicht mit einem deduktiven Beweis gleichgesetzt werden kann.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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Somit stünden Metaphysik und Religion bzw. Theologie nicht in einem direkten Konkurrenzverhältnis, sondern in einem komplementären Verhältnis, das zudem modal verfasst ist: Die philosophischen Bestimmungen können von einer Theologie aufgenommen werden (wenn z. B. die Vernünftigkeit bestimmter Inhalte erwiesen werden sollen), umgekehrt muss Philosophie nicht schon von sich aus auf die Theologie verweisen bzw. in diese münden. Beide Punkte sollen anhand allgemeiner Überlegungen dargelegt und am Beispiel der philosophischen Thematisierung des Absoluten von Wolfgang Cramer illustriert werden. Damit lassen sich die von Pannenberg in verschiedenen Schriften behandelten metaphysischen Überlegungen noch enger zu einem kohärenten Rahmen für eine metaphysische Theorie des Absoluten zusammenführen, wobei die Differenz von Religion und Metaphysik gewahrt und zugleich die Möglichkeit einer metaphysischen Entfaltung des Grundkonzepts des Absoluten offen bleibt.

3.

Das Verhältnis von Metaphysik und religiösem Gottesgedanken

Wichtige Hinweise, wie sich Gottesgedanke und Metaphysik zueinander verhalten, lassen sich schon ganz allgemein anhand der methodischen Eigenarten von Theologie und Philosophie gewinnen. Pannenberg zufolge geht Theologie bzw. Religion immer schon in einem bestimmten geschichtlichen Kontext von offenbarer göttlicher Wirklichkeit aus, von der aus dann Welt und Mensch in den Blick genommen werden. Im Gegensatz dazu muss die philosophische Thematisierung des Absoluten gewissermaßen den umgekehrten Weg nehmen. Philosophie kann Pannenberg zufolge weder die „Existenz“ des Absoluten noch seine Eigenschaften einfach voraussetzen.13 In einer philosophischen Thematisierung kann das Absolute nur dann begründet in den Blick kommen, wenn die Totalität der endlichen Wirklichkeit auf ein Unbedingtes hin überschritten werden muss. Dieses Überschreiten kann in einem philosophischen Kontext nur vernünftige Gründe in Anspruch nehmen. Damit ist die philosophische Thematisierung des Absoluten aus methodischen Gründen allgemeiner als ihr jeweiliges theologisches Korrelat in Form des Gottesgedankens. Dieses Verhältnis von philosophischer Thematisierung des Absoluten und Gottesgedanke illustriert Pannenberg wie folgt: „Der Gottesgedanke mit seinen Implikationen persönlich begegnender und betreffender Macht, die zugleich alles menschliche Vermögen übersteigt, ist erheblich reicher 13 Vgl. zu diesem Verhältnis bei Pannenberg auch G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, 47 f.

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an Bestimmungen als die Idee des Unendlichen [als philosophische Thematisierung des Absoluten; T.M.]. […] Der Gottesgedanke gehört doch wohl primär der religiösen Erfahrung und ihrer mythischen Deutung an. […] Von der Metaphysik wäre dann nicht eine natürliche Theologie zu erwarten, die zur Begründung eines Gottesgedankens ohne Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit der Religion führt.“14

Dies gilt es sich vor Augen zu halten, wenn man die Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Gottesgedanke bei Pannenberg und deren systematische Tragweite genauer untersucht, denn an manchen Stellen stehen weniger die Unterschiede bei den jeweiligen Voraussetzungen und die daraus resultierenden methodischen Differenzen im Mittelpunkt als eine Gegenüberstellung der inhaltlichen Bestimmungen, wodurch ein Konkurrenzverhältnis zwischen Religion und Metaphysik suggeriert wird. Es soll im Folgenden skizziert werden, warum sich diese Konkurrenzsituation aus methodischen Gründen nicht zwingend ergibt.

4.

Methodische Überlegungen zur Reichweite einer Metaphysik

Möchte man die Reichweite einer metaphysischen Perspektive nicht von außen willkürlich begrenzen, dann scheint es sinnvoll, einige ihrer methodischen Voraussetzungen zu thematisieren, um ihre Reichweite angemessen bestimmen zu können. Dazu ist es hilfreich, sich an Pannenbergs Definition von Metaphysik zu orientieren und dann die darin mitgedachten Bedingungen zu explizieren und für eine Verhältnisbestimmung von Metaphysik und Gottesgedanke heranzuziehen. Pannenberg definiert den Gegenstand von Metaphysik wie folgt: „Das Seiende im ganzen und das Erste als Grund dieses Ganzen bilden den Gegenstand der Metaphysik.“15

In einer Metaphysik geht es also um allgemeine Bestimmungen, die den „Weltdingen“ insgesamt zukommen bzw. die den spezifischeren, weil methodisch eingegrenzten Wirklichkeitszugängen, wie sie in den Naturwissenschaften gegeben sind, notwendig noch vorausliegen und von diesen aus methodischen Gründen ausgeklammert werden. Dieser Anspruch, Wirklichkeit in dieser allgemeinen Perspektive zu thematisieren, geht aber mit einigen methodischen Voraussetzungen einher, durch die diese Allgemeinheit garantiert wird und die auch für die Verhältnisbestimmung von Gottesgedanke und Metaphysik eine Rolle spielen. Zu diesem Zweck sollen nun einige Gedanken von Alfred North Whitehead herangezogen werden, der diese logischen Voraussetzungen einer jeden perspektivischen Thematisierung 14 W. Pannenberg, „Religion und Metaphysik“, 55. 15 W. Pannenberg, „Ein theologischer Rückblick auf Metaphysik“, 29.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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von Wirklichkeit, die methodisch gebunden ist, schon früh in seinen mathematischen Werken behandelt hat. Whitehead war von Hause aus Mathematiker und es scheint, als ob ihm einige grundlegende Einsichten aus der Mathematik dabei geholfen haben, die methodischen Fundamente seiner philosophischen Kosmologie zu entwickeln, die als Metaphysik den Anspruch erhebt, ein Kategorienschema bereitzustellen, mit dessen Hilfe man alle Erfahrung deuten können soll. In seinem Buch „A Treatise on Universal Algebra with Applications“ von 1898 versucht Whitehead zu zeigen, wie es möglich ist, verschiedene Algebren zu einer universellen Algebra zu verbinden. Wichtig für den vorliegenden Kontext ist die Untersuchung des Begriffes der Äquivalenz. Äquivalenz ist nach Whitehead nicht einfach eine Identität, sondern partielle Identität (Identität in bestimmter Perspektive), die auf Abstraktion beruht. Zunächst geht mit einer Äquivalenzaussage eine Limitierung einher, denn die Einschränkung der Perspektive auf bestimmte Eigenschaften von zwei Dingen ermöglicht erst die Feststellung von Identität, aber eben nur in dieser Perspektive. Die erste Bedingung für eine Äquivalenzaussage ist also eine Beschränkung auf bestimmte Eigenschaften von Dingen. Damit ist aber gleichzeitig klar, dass die Dinge in anderer Hinsicht oder in einem anderen Kontext nicht äquivalent oder identisch sein müssen. In diesen Kontexten können sie sehr unterschiedlich bestimmt sein. So können ein Stein und ein Mensch in der Perspektive der klassischen Physik als Massepunkte thematisiert werden, was nicht bedeutet, dass ihnen in einer anderen Perspektive nicht noch andere Bestimmungen zukommen, in denen sie dann wieder unterschieden wären. Gleichzeitig – und das ist das andere Charakteristikum einer Äquivalenzaussage – geht aber mit der Limitierung eine konzeptionelle Universalisierung einher, da die gewonnene Beschreibung intensional ärmer ist, und sie somit auf mehr Gegenstände anwendbar ist. Beide Unterscheidungen resultieren aus zwei für Whitehead charakteristischen Elementen einer Äquivalenzaussage, die er „Truismus“ und „Paradoxon“ nennt, wobei der Truismus die partielle Identität bezeichnet, also die Eigenschaft, die beiden Dingen zukommt, während Paradoxon die Unterscheidung der beiden Dinge meint.16 Klar scheint zu sein, dass eine metaphysische Perspektive Äquivalenzaussagen im oben erwähnten Sinn voraussetzt. Gerade wenn es um allgemeine Eigenschaften oder Strukturen gehen soll, deren Thematisierung allen Menschen prinzipiell ohne Sondererfahrungen zugänglich und für sie nachvollziehbar sein soll, müssen diese in bestimmten Perspektiven limitiert sein, wodurch aber die

16 Vgl. A.N. Whitehead, A Treatise on Universal Algebra with Applications, Cambridge 1898, 6.

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Unterschiede der Dinge (oder Klassen), die in den Äquivalenzaussagen vorkommen, keinesfalls an sich negiert werden dürfen. Diese polare Spannung von Truismus und Paradox ist auch für das Verhältnis von Metaphysik und Gottesgedanken wichtig: Schon bei der metaphysischen Kategorisierung wird von bestimmten Eigenarten der Dinge abgesehen, um in einer gewissen Perspektive diejenigen Bestimmungen zu thematisieren, die sie alle teilen. Wenn Metaphysik diese Bestimmungen unter einer gewissen Perspektive thematisiert, dann hat die metaphysische Beschreibung ein bestimmtes Level der Abstraktion, da sie von den unterscheidenden Aspekten der Dinge abstrahiert und nur auf die allgemeinen Eigenschaften fokussiert ist. Nur in dieser Perspektive sind die betrachteten Gegenstände dann gleich, in anderen Hinsichten sind diese in der Regel auch anders bestimmt und können dann auch in anderen Perspektiven zusätzlich thematisiert werden. Diese Einsicht hat auch Relevanz für den Gottesgedanken. Thematisiert Metaphysik das Absolute, so muss sie gerade von spezifischen Bestimmungen, wie dem geschichtlichen Bezug der religiösen Traditionen, absehen, weil diese nicht Gegenstand einer allgemeinen Rede vom Absoluten werden können, was aber natürlich nicht bedeutet, dass diese Einsichten nicht eine mögliche Konkretisierung der philosophischen Gottesrede sein können. Metaphysik diskutiert so z. B. nur die Notwendigkeit eines letzten Grundes, das prinzipielle Verhältnis von Absolutem und Kontigentem oder auch die Frage, ob das Absolute als ein Subjekt aufzufassen ist. Ob sich das Absolute auch geschichtlich in Jesus Christus geoffenbart hat und welche Bestimmungen man aus dieser Offenbarung ableiten kann (bzw. welche Bestimmungen für diesen Offenbarungsvorgang theologisch noch vorausgesetzt werden müssen), kann nicht Gegenstand einer so verstandenen Metaphysik sein. Metaphysik kann also schon aus methodischen Gründen nicht Religion oder Theologie ersetzen. Geht es Metaphysik aber um die allgemeinsten kategorialen Bedingungen von Wirklichkeit, so haben diese umgekehrt natürlich auch eine Relevanz für alle spezifischeren Wirklichkeitsbestimmungen in dem Sinne, dass diese mit jenen zumindest kompatibel sein müssen.

5.

Wolfgang Cramers Transzendentalontologie als Beispiel einer modernen Metaphysik

Pannenberg hat, wie bereits oben erwähnt, in seinem Werk „Metaphysik und Gottesgedanke“ eine programmatische Skizze vorgestellt, an der sich eine moderne Metaphysik orientieren sollte. Neben der Entfaltung des wahrhaften Unendlichkeitsbegriffs, der nicht einfach dem Endlichen gegenübergesetzt werden

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darf, weil dann das Unendliche verendlicht werden würde, sei für eine metaphysische Thematisierung des Absoluten auch zu zeigen, dass Denkbestimmungen auch Wirklichkeitsbestimmungen sind. Anderenfalls wären die metaphysischen Behauptungen immer dem Verdacht ausgesetzt, dass es sich um ausschließlich subjektive Formen der Erkenntnis handele, die nichts mit den Dingen an sich zu tun hätten. Interessanterweise erwähnt Pannenberg in der Einleitung seines oben genannten Werkes die Philosophie von Wolfgang Cramer als gegenwärtigen Entwurf einer neuen Metaphysik, ohne allerdings irgendwo auf diesen Entwurf einzugehen. Meines Erachtens stellt aber der Ansatz Cramers eine erhebliche Ressource für die von Pannenberg konstatierten Anforderungen an eine neue Metaphysik dar. Zudem erfüllt er zusätzlich die oben beschriebene deskriptive Auffassung des Verhältnisses von Philosophie und Theologie als eines Konkretisierungszusammenhangs. Daher möchte ich im Folgenden anhand einiger Grundüberlegungen der Transzendentalphilosophie Wolfgang Cramers exemplarisch skizzieren, wie die oben erwähnten Anforderungen, die Pannenberg im Kontext einer modernen Metaphysik nennt, durch Cramers Philosophie adressiert werden können. Cramers Ansatz zeichnet sich dabei dadurch aus, dass die dort gewonnen Einsichten in einer kritischen Auseinandersetzung mit Kant gewonnen werden, so dass in dieser Art von „Transzendentalontologie“ die notwendigen Bestimmungen für eine Metaphysik wie z. B. die Verschränkung von Denk- und Wirklichkeitsbestimmungen apagogisch begründet werden.

5.1

Das Verhältnis von Subjektivität und Wirklichkeit

Ein moderner metaphysischer Entwurf ist nur dann erfolgversprechend, wenn dieser die subjektivitätstheoretischen Leistungen des erkennenden Subjekts in der Erkenntnis würdigt und zeigen kann, wie ein Hinausgehen über das Kantische Konzept der Transzendentalität des Subjekts gerechtfertigt werden kann. Die grundlegende Herausforderung für apodiktische Erkenntnisansprüche besteht in der skeptischen Relativierung des Realitätsanspruchs des Denkens: Könnten die vermeintlichen Erkenntnisse nicht nur rein subjektive Bestimmungsversuche des denkenden Subjekts sein? Daher kommt in der Erörterung des Realitätsanspruchs des Denkens dem IchGedanken eine besondere Stellung zu, denn erst mit der Erkenntnis, dass alle Bestimmungen im Denken durch und für ein denkendes Bewusstseins hervorgebracht worden sind, tritt die Differenz von „Bestimmtes-an-sich“ und „Bestimmtes-für“ überhaupt erst deutlich zutage. Das Problem des Realitätsanspruchs wird für das Denken durch die Explikation dieser Differenz erst virulent, weil damit die Möglichkeit gegeben ist, dass

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sich alle vermeintliche Erkenntnis als prinzipiell nicht einlösbare Ansprüche des Erkenntnissubjekts erweisen könnten und somit nur der Subjektseite und daher dem Bereich „Bestimmtes-für“ zuzurechnen wären.17 Aus diesem Grund darf die im Realitätsanspruch des Denkens vorausgesetzte Verschränkung von Wirklichkeits- und Denkbestimmung Cramer zufolge angesichts des möglichen skeptischen Einwandes nicht einfach vorausgesetzt werden.18 Innerhalb einer philosophischen Thematisierung der Erkenntnisleistung des erkennenden Subjekts muss die vorausgesetzte Verschränkung zunächst zu einem „Ist-Anspruch“ herabgestuft werden, dessen Einlösung eigens philosophisch begründet werden muss. Allerdings erweist sich gerade der Ich-Gedanke als erster und ausgezeichneter Realitätsgedanke, der nicht außer Geltung gesetzt werden kann und dessen „IstAnspruch“ ursprünglich legitimiert ist.19 Im Ich-Gedanken ist der Realitätsanspruch deshalb ursprünglich erfüllt, weil das den Gedanken hervorbringende Denken selber nicht nur gedacht sein, also nicht in der Sphäre „Bestimmtes-für“ aufgehen kann.20 Ausgangspunkt dieser Erkenntnis ist die Unterscheidung von Denken und Gedanke. Gedanken kommen nicht einfach in der Welt vor, fallen also sozusagen nicht von außen in das Denken, sondern sind immer Gedanken eines denkenden Subjekts und werden von diesem produziert.21 Daher weiß das denkende Subjekt im Ich-Gedanken, dass es selbst nicht nur Gedanke, also nicht nur gedacht ist, sondern dass es selbst der Ursprung des Gedankens ist und kann so minimal im Rahmen eines negativen Seinsbegriffs („nicht nur gedacht“) bestimmt werden: Das denkende Subjekt ist nicht nur gedacht, weil es der hervorbringende Ursprung der Gedanken ist.22 17 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlass. Hrsg. von Konrad Cramer, Frankfurt am Main 2012, 111. 18 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 110. 19 Vgl. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, Frankfurt am Main 1957. (4. Auflage. 1999), 14; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 114 f., W. Cramer, „Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus“, in: Kant-Studien. Band 52, 1960/61, 6. 20 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Kantischen Konzeption der transzendentalen Apperzeption vgl. vor allem W. Cramer, Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung, Stuttgart 1954, 33–49; W. Cramer, Die absolute Reflexion, 48–71. 21 Dies ist natürlich auch dann der Fall, wenn scheinbare „objektive“ Bestimmungen der Welt in den Naturwissenschaften scheinbar ohne Subjektbezug erfasst werden. Diese Auffassung fokussiert sich dann ganz auf den Anspruch des Denkens, Bestimmtes an sich zu erfassen, wobei aber die subjektivitätstheoretische Voraussetzung dieses Wissens und die ihr zugrundeliegende Struktur als Prozesse des Denkens von Subjekten ganz vernachlässigt wird. Auch in diesem Fall wird natürlich Denken als Bestimmen vorausgesetzt. 22 Vgl. dazu z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 13. Cramer leitet im Folgenden anhand dieser Struktur apagogisch weitere Grundmerkmale der denkenden Subjektivität wie z. B. ihre transzendental reale zeitliche Verfasstheit ab. Da diese im Kontext

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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Anhand der Voraussetzungen des Gedanken-Hervorbringens verweist der konkrete Gedankenvollzug somit auf ein konkretes Denken in Form eines denkenden Subjekts. Den methodischen Überlegungen Cramers gemäß kann diese Erkenntnis nicht formal deduktiv hergeleitet werden. Die ursprüngliche Legitimation des Ist-Anspruch des Ich-Gedankens wird vielmehr dadurch geleistet, dass durch apagogische Argumentation ein performativer Widerspruch der Gegenposition aufgewiesen wird, so dass sich die Realität des denkenden Subjekts immer schon im Vollzug des Denkens als nicht-negierbar erweist.23 Damit ist für das denkende Subjekt in dem konkreten Fall seiner Selbsterkenntnis die Verschränkung von Sein und Denken nachgewiesen worden, denn dieser Gedanken produzierende Ursprung muss etwas an sich Bestimmtes sein, wenn er gleichzeitig – und das ist die Voraussetzung allen Erlebens, Denken und Zweifelns – auch die Voraussetzung des „Bestimmtes-für“ ist, denn die Herabstufung der Erkenntnisansprüche in diesem Modus setzt ein seiendes Subjekt mit gewissen Qualitäten voraus. Vorstellungen und Erscheinungen als solche sind als Konzept nur dann konsistent zu denken, wenn es etwas gibt, das nicht selbst Vorstellung oder Erscheinung ist, sondern als dasjenige existiert, was Vorstellungen oder Erscheinungen hat.24 Somit lässt sich am Ich-Gedanken die Verschränkung von Denk- und Wirklichkeitsbestimmungen zeigen: In ihm wird in einem Gedanken gewusst, dass es etwas gibt, das nicht nur Gedanke ist, und insofern wird auch etwas in sich Bestimmtes erkannt. Die Infragestellung des Ist-Anspruchs des Denkens, deren Aufgabe es war, als skeptische Vorsichtsmaßnahme alle Seins- und Wahrheitsansprüche zu relativieren, findet durch den Ich-Gedanken, in dem etwas gedacht wird, das nicht nur gedacht sein kann, seine Grenze. Damit fallen im Ich-Gedanken die Bestimmungen des „Bestimmtes-für“ und das „Bestimmtes-an-sich“ zusammen, da die Bestimmtheit des Denkens, Denken zu sein, nicht vom Denken selbst erzeugt sein kann. Denken ist also einerseits ein eigener Modus, sein eigener Zusammenhang und damit sein eigenes Prinzip – denn es lässt sich nicht auf anderes zurückführen –, andererseits bezieht es sich auf etwas, das nicht nur gedacht ist (Realität). Dieses Verhältnis lässt sich sinnvoll nur als Doppelstruktur denken, indem der Begründung des Absoluten nur eine untergeordnete Rolle spielen, wird hier nicht weiter auf sie eingegangen. 23 Vgl. für eine ähnliche Analyse der Selbsterkenntnis des denkenden Subjekts bei Descartes: A. Kemmerling, „Das Existo und die Natur des Geistes“, in: ders. (Hrsg.), René Descartes. Meditationen über die Erste Philosophie, Berlin 2009, 40. 24 Vgl. dazu z. B. W. Kersting, „Der ursprüngliche Realitätsgedanke ‚ich denke‘. Wolfgang Cramers cartesianische Meditationen“, in: H. Radermacher / P. Reisinger (Hrsg.), Rationale Metaphysik. Gedenkband für Wolfgang Cramer, Stuttgart 1987, 47.

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Denken zugleich Prinzip (bestimmender Zusammenhang) und Moment ist, dem ein anderes Moment (die Realität als das nicht nur Gedachte) gegenübersteht und in diese differenzierte Einheit miteinbezogen wird. Somit erweist sich das denkende Lebewesen im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels als ein konkretes Seiendes und in sich Bestimmtes, wodurch es sich als ein konkretes Einzelnes von einer Art, nämlich als denkendes Lebewesen erkennt, von der prinzipiell auch andere sein können. Die Erkenntnis des konkreten Subjekts im Gedankenexperiment des radikalen Zweifels, dass es ein konkret Seiendes ist, ist bei Cramer zugleich der Ausgangspunkt, das Eingebettetsein dieses Subjekts in Leiblichkeit, Natur und Welt als Ordnungszusammenhang herzuleiten.25 Wichtig für das Projekt der metaphysischen Beschreibung des Absoluten ist nicht nur die ausgewiesene Verschränkung von Denk- und Wirklichkeitsbestimmungen, sondern auch, dass durch den negativen Seinsbegriff das konkrete Subjekt und seine Einbettungszusammenhänge als nicht nur gedacht ausgewiesen werden, so dass auch die in dieser Analyse gefundenen Prinzipien nicht nur Denkprinzipien, sondern Prinzipien von Seiendem sind. Damit bietet die Erkenntnis der Verfasstheit des konkreten Subjekts den Anknüpfungspunkt für eine Prinzipientheorie, die ihrerseits Ausgangspunkt für eine Letztbegründung ist. Denn durch eine solche sollen die letzten Bedingungen thematisiert und expliziert werden, die alles Seiende schon latent beherrschen. Somit hat der Rekurs auf die Subjektphilosophie für eine Begründung des Absoluten eine entscheidende Bedeutung. Hier werden diejenigen Voraussetzungen legitimiert, die später für die Begründung des Absoluten unhintergehbar sind.

5.2

Das Absolute und das Kontingente: formale Bestimmungen

Cramer hat nicht nur in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes, Leibniz, Husserl und vor allem Kant eine Theorie der konkreten Subjektivität entwickelt, die bei ihren Kennern als noch nicht adäquat berücksichtigte Ressource für aktuelle Debatten geschätzt wird.26 Aufbauend auf die Einsichten dieser Theorie

25 Im Rahmen dieses Beitrags können die hierfür notwendigen Argumentationen nicht rekonstruiert werden. Vgl. dazu z. B. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 33–55. Es ist terminologisch noch anzumerken, dass Cramer das lebendige Lebewesen, in dem Erleben und Organismus verschränkt sind, „Monade“ nennt, weil Erleben – in Anlehnung an Leibniz – als eigener Modus ausgewiesen wird, der aber – in Abgrenzung zu Leibniz – durch den Organismus bedingt ist. 26 Vgl. z. B. J. Stolzenberg, „Wolfgang Cramer“, in: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. 3., neubearb. und aktualisierte Auflage, Stuttgart 2007, 97.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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konkreter Subjektivität hat Cramer auch eine Theorie des Absoluten entworfen, die er kontinuierlich weiterentwickelt hat. In diesem Kontext sind zunächst grundsätzliche Überlegungen hinsichtlich eines allgemeinen Rahmens für eine Theorie des Absoluten zu klären. Als Ausgangspunkt für diese Klärungen lässt sich zunächst vom Bedeutungsgehalt des Absoluten ausgehen, der eine Art des Abgelöstseins bezeichnet. Wenn das Absolute A von einem B ablösbar ist, dann besagt das, dass B nicht für A konstitutiv ist, was man beispielsweise daran erkennen kann, dass A noch ist, auch wenn B nicht mehr ist.27 Kann es unter kontingenten Dingen der Fall sein, dass sie nicht (z. B. dann, wenn ein Ding A auch ohne Ding B und umgekehrt existieren könnte) oder beide wechselseitig füreinander konstitutiv sind, so muss im Falle des Absoluten das Verhältnis einseitig gerichtet sein: Das Absolute kann nur dasjenige genannt werden, zu dem es nichts gibt, was für das Absolute selbst noch konstitutiv wäre. Wäre z. B. das Absolute durch etwas begründet, das nicht es selbst ist, dann wäre dieses zunächst gemeinte Absolute nicht mehr das Absolute, weil es von etwas anderem abhängig wäre. Somit ist das Verhältnis des Abgelöstseins im konstitutionstheoretischen Sinne asymmetrisch: Das Absolute A kann von einem B abgelöst werden (d. h. B ist nicht konstitutiv für A), umgekehrt gilt aber, dass B nicht von A abgelöst werden kann, weil anderenfalls dann B von A unabhängig wäre und damit ein zweites Absolutes darstellen würde. Eine solche Konstellation ist aber deshalb mit dem Konzept des Absoluten inkompatibel, weil für A und B zumindest theoretisch zwei Verhältnisbestimmungen denkbar sind, von denen letztlich beide wieder zum Konzept der Einzigartigkeit des Absoluten führen: 1. Stehen A und B in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis zueinander, sind weder A noch B absolut, sondern die beide in ein Verhältnis setzende Ordnung, die nun dasjenige ist, die sowohl für A als auch für B und ihr Verhältnis konstitutiv sind. Man hätte fälschlicherweise A und B für das Absolute gehalten und nicht gemerkt, dass es eine Instanz gibt, die beide noch umfasst, so dass das Konzept des Absoluten nur um eine Stufe nach hinten verschoben worden wäre. Damit wären A und B Momente des Absoluten. 2. Als Alternative käme nur die Annahme in Betracht, dass A und B in keinem Verhältnis stünden. Sie sind aber notwendig in ihrem Unterschiedensein aufeinander bezogen, wodurch sie wieder in einem Verhältnis zueinander stehen.28 Damit wäre wiederum eine Ordnung erforderlich, die beide umfasst und die als das eigentliche Absolute gelten müsste. 27 Vgl. W. Cramer, „Das Absolute“, in: H. Krings u. a. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, 1. 28 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 203–207.

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Damit wäre klar, dass es nicht zwei unabhängige Absolute geben kann. Um schon hier eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, muss darauf hingewiesen werden, dass mit der oben genannten Bedingung für ein Konzept des Absoluten nicht gemeint ist, dass nicht etwas von dem Absoluten Verschiedenes existiert oder existieren könnte. Es ist damit nur gesagt, dass aus logischen Gründen das vom Absoluten Verschiedene nicht konstitutiv für das Absolute sein kann. Daraus folgt, dass das von dem Absoluten Verschiedene nur das Endliche sein kann, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es kontingent ist, weil sein Nochnicht-sein bzw. Nicht-mehr-sein möglich ist. Das bisher Gesagte bewegte sich im Bereich des Definitorischen und machte die logischen Implikationen der dabei verwendeten Begriffsinhalte klar und ist somit als eine Art Propädeutik anzusehen, die in den späteren Überlegungen zum Absoluten eine wichtige Rolle spielen.

5.3

Das Absolute als Grund des Kontingenten

Als Ausgangspunkt einer philosophischen Thematisierung des Absoluten bietet sich sein Verhältnis mit dem Kontingenten an. Lassen sich philosophisch Gründe dafür finden, dass das Kontingente notwendig auf das Absolute verwiesen ist? Nach Cramer verweist die generelle Qualität des Bestimmtseins alles Seienden auf einen notwendigen Bestimmungszusammenhang, in dem alle kontingenten Bestimmungen von dem Absoluten als das Prinzip dieser Bestimmtheit abhängen. Dieser Gedanke ist dem theologischen Denken nicht fremd, was schon an der traditionellen Bestimmung Gottes abgelesen werden kann, die Gott als alles bestimmende Wirklichkeit bestimmt.29 Diese Bestimmung ist z. B. von Pannenberg so gedeutet worden, dass es die Aufgabe der Theologie als Lehre von Gott sei, dass sie alles Seiende auf Gott hindenkt, „daß es ohne Gott schlechterdings nicht verstanden werden kann.“30 Diese universale Abhängigkeit alles Seienden von Gott lässt sich dann nach Pannenberg in einem gewissen Sinn als Allmacht verstehen: „Man gebraucht das Wort ‚Gott‘ nur dann sinnvoll, wenn man dabei die alles, was ist, bestimmende Macht denkt.“31

29 Vgl. H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015, 35 Fußnote 7. 30 W. Pannenberg, „Die Krise des Schriftprinzips“, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. 1, Göttingen 1962, 11. 31 W. Pannenberg, „Die Krise des Schriftprinzips“, 11.

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

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Damit ist natürlich nicht gemeint, dass Gott den ganzen Weltverlauf determiniert, sondern zunächst nur, dass alle kontingenten Dinge von Gott als dem Absoluten abhängig sind. Lässt sich dieses theologische Programm auch philosophisch formulieren oder gar begründen? Gesucht wäre hier also ein Konzept des Absoluten, das als konstitutives Prinzip der Wirklichkeit fungiert, von dem alles Seiende notwendig abhängig ist, und das umgekehrt der formalen Bestimmung des Absoluten genügen könnte, selbst nicht von dem kontingent Seienden konstitutiv abhängig zu sein. Interessanterweise sind dies genau die Anforderungen, die für Wolfgang Cramer im Begründungskontext des Absoluten leitend sind. Und interessanterweise ist auch bei ihm die fundamentale Qualität des Bestimmtseins alles Seienden von entscheidender Bedeutung. Wenn alles notwendig bestimmt sein muss, dann erfordert das notwendig ein Prinzip der Bestimmtheit, das als notwendiges Sein aufgefasst werden muss. Dass dieses Prinzip notwendig ist, kann nicht einfach im formalen Sinn deduktiv gezeigt werden, weil es sich dann lediglich auf die vorausgesetzten Prämissen beziehen würde, deren Vorausgesetztsein nicht mehr eingeholt werden könnte. Möglich ist hier nur eine apagogische Argumentation, durch die auch die Prämissen als gültig ausgewiesen werden.32 Dies wird dadurch erreicht, dass indirekt gezeigt wird, dass die Annahme, dass alles kontingent sei, notwendig widerlegt wird. In seiner Suche nach einem letzten Grund stößt Cramer auf das Prinzip der Bestimmtheit als das absolut notwendige Prinzip, denn alles, was es gibt oder auch nur geben kann, muss von diesem Prinzip bestimmt sein. Selbst die fiktive Annahme als größte Herausforderung in der Suche nach einem letzten Grund, die Cramer mit dem Ausdruck „es gebe nichts“, im Sinne einer absolut unbestimmten Instanz, die sich dem Prinzip der Bestimmtheit entziehen würde, zu greifen versucht, zeigt sich letztlich selbst als von diesem Prinzip bestimmt, weil es selbst als das Nicht-Bestimmte bestimmt ist, um von dem Bereich des Bestimmten abgrenzbar zu sein.33 Cramer nennt dieses alles bestimmende Prinzip die Bestimmtheit-selbst. In ihr ist ein notwendiges und letztes Prinzip gefunden, das selbst nicht mehr bedingt sein kann, da auch die Bedingungen wiederum etwas Bestimmtes und somit selbst wiederum von dem Prinzip der Bestimmtheit-selbst beherrscht wären. 32 Cramer nennt diese Art der Begründung eine „philosophische Deduktion“, mit der im Gegensatz zur formalen Deduktion neue Inhalte erschlossen werden sollen. Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 64–68. 33 Vgl. W. Cramer, Die Monade, 228. Für eine ausführliche Analyse des Cramerschen Letztbegründungsprojekts vgl. T. Müller, „Das Absolute als nicht nur gedacht. Zu Wolfgang Cramers Projekt der Letztbegründung“, in F. Resch (Hrsg.): Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als genuines Thema der Philosophie (erscheint 2016).

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Die Grundbestimmung des Absoluten, das Prinzip der Bestimmtheit zu sein, erfüllt nun nach Cramer genau die oben skizzierten Bedingungen, die für ein konsistentes Konzept des Absoluten notwendig sind: Alle kontingenten Dinge sind einerseits vom dem Absoluten abhängig (sie sind notwendig durch das Prinzip der Bestimmtheit beherrscht), andererseits erfüllt diese Bestimmung auch die oben in den propädeutischen Überlegungen abgeleitete Forderung nach Selbstreferentialität, indem das Absolute sich selbst bestimmt und damit von keinem Grund abhängig ist, der nicht das Absolute selbst wäre. Wie ist nun die Selbstreferentialität im Rahmen des Prinzips der Bestimmtheit zu verstehen? Es kann Cramer zufolge nur so verstanden werden, dass das Absolute – in der Selbstanwendung des Prinzips der Bestimmtheit – sich selbst denkend als das bestimmt, was es schon immer ist: als der grundlose Grund alles Seienden.34 Das Prinzip der Bestimmtheit kann aufgrund der logischen Struktur des Absoluten nur in einer Selbstreferentialität gedacht werden, und da es sich als Absolutes nicht erst zum Absoluten machen kann, sondern diese Qualität immer schon vorausgesetzt werden muss, kann diese Selbstbestimmung nur ein denkerisches Sich-Bestimmen sein. Lässt sich aus dieser Grundbestimmung des Absoluten auch die Basis für sein Verhältnis zum Kontingenten gewinnen? Insofern das Kontingente tatsächlich nicht notwendig ist – anderenfalls erschienen die weltlichen Dinge nur als kontingent, wären aber in Wahrheit notwendige Modi des Absoluten, wie es bei Spinoza der Fall ist –, kann sein Entstehen in Bezug auf das Absolute nur als möglicher Akt des Erschaffens gedacht werden. Damit ist das Kontingente nicht als notwendiges Moment des Absoluten auszufassen, sondern als das mögliche Andere des Absoluten, auch wenn das Absolute mit der Schaffung des Kontingenten als beherrschendes Prinzip wesentlich auf das Kontingente bezogen bleibt. Ist das Kontingente als das Andere des Absoluten zunächst nur möglich, dann folgt daraus, dass das Absolute ein Können sein muss, wodurch die Möglichkeit des Kontingenten im Absoluten schon angelegt ist. Auch für dieses Konzept bietet die Grundbestimmung des Absoluten in Form des Sich-Bestimmens eine Basis, durch die dieses Verhältnis begrifflich nachvollziehbar gedacht werden kann, denn das Sich-Bestimmen des Absoluten kann nun in zwei Modi differenziert werden: Als notwendiges Sich-Bestimmen beschreibt es das denkerische Bestimmen des Absoluten. Zugleich muss aber das Absolute – wenn es das Kontingente gibt – auch Grund des Kontingenten sein. Insofern das Kontingente gerade als nicht notwendig bestimmt ist, und das 34 Vgl. H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, 41, Fußnote 14: „Denkend erkennt sich Gott selber. Dann denkt und weiß er auch, was er nicht ist, nämlich ein endliches Ich-Subjekt.“

Eine kritische Rekonstruktion des Verhältnisses von Metaphysik und Gottesgedanke

283

Absolute nicht durch einen Grund außer dem Absoluten zur Schaffung des Kontingenten konstitutiv bestimmt sein kann, muss das Sich-Bestimmen des Absoluten hinsichtlich des Kontingenten als ein mögliches Sich-Bestimmen-zu bestimmt werden.35 Das Absolute ist also frei, sich zur Schaffung des Kontigenten zu bestimmen, und es kommt als Grund nichts anderes als das Absolute selbst in Frage. Die Möglichkeit dazu muss aber im Absoluten schon angelegt sein: Das Absolute ist hinsichtlich seiner selbst notwendig ein Sich-Bestimmen und hinsichtlich des Kontingenten eine mögliches Sich-Bestimmen-zu. Cramers Ansatz bietet in diesem Kontext eine interessante philosophische Ressource, insofern das Absolute als eine in sich differenzierte Einheit mit der Möglichkeit zur Schaffung des Kontingenten begründet wird, mit der sowohl die Freiheit des Absoluten als auch seine konkrete prinzipielle Bezogenheit miteinander vermittelt und als Strukturmerkmal des Absoluten ausgewiesen werden. Dabei liefert dieses in seiner Explikation als Sichbestimmen zugleich auch die Basis dafür, weitere metaphysische Bestimmungen des Absoluten zu entfalten und miteinander zu verbinden: Denn neben der dem Absoluten schon immanenten Möglichkeit, Kontingentes zu schaffen, erfüllt das Absolute als Prinzip der Bestimmtheit gerade die für das Absolute eruierten formalen Bestimmungen: a) sein Unabhängigsein von fremden, dem Absoluten äußerlichen Momenten, b) sein denkerisches Selbstbestimmen und damit seine Subjekthaftigkeit und c) seine Einzigartigkeit.

6.

Ein kurzer Rückblick

Die vorangegangenen Ausführungen sollten in aller Kürze verdeutlicht haben, dass der Grundintention Pannenbergs, dass Metaphysik Theologie nicht ersetzen kann, schon aufgrund methodischer Überlegungen zugestimmt werden kann. Es spricht logisch gesehen nicht gegen einen religiösen Inhalt, wenn er sich nicht in den metaphysischen Kategorien explizieren lässt bzw. nicht „automatisch“ aus ihnen ergibt. Dies wäre ein überzogener Anspruch an Metaphysik, der keiner Seite von Nutzen wäre. Der religiöse Inhalt muss sich hinsichtlich der metaphysischen Prinzipien nur als kompatibel herausstellen, da in diesen die allgemeinsten kategorialen Bedingungen der Wirklichkeit erfasst werden sollen. Dass Theologie nicht durch Metaphysik ersetzt werden kann, bedeutet aber umgekehrt nicht schon automatisch, dass Metaphysik bei der Thematisierung des Absoluten nur zu abstraktesten Bestimmungen wie die des Einen kommen könnte, die ohne religiöse Vorgabe nicht weiter bestimmbar wäre. Durch eine 35 Vgl. W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 79 f.

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kurze Skizze einiger Überlegungen aus Cramers Theorie des Absoluten sollte zumindest plausibel geworden sein, dass es durchaus metaphysische Argumentationen geben könnte, die begründet über solch abstrakte Bestimmungen wie die des Einen hinauszugehen vermögen.36

36 Als Beispiel für eine fruchtbare Rezeption des Cramerschen Ansatzes in die protestantische Theologie lässt sich Falk Wagner nennen. Wagner hat beispielsweise das oben skizzierte Grundkonzept theologisch in einem trinitarischen Rahmen gedeutet und würdigt Cramers Konzept wie folgt: „Cramers Theorie des trinitarisch differenzierten Absoluten stellt der christlichen Theologie ein von dieser bisher ungenutztes Potential zur Verfügung. Denn hebt der Zentralgedanke des Christentums auf die Konstitution menschlicher Freiheit ab, so ist die Behauptung dieser Freiheit nur dann mehr als eine Versicherung, wenn die menschliche Freiheit theologisch, aus Gott begründet werden kann. Cramers Theorie des Absoluten zeigt, daß zu dieser Begründung allein die trinitarische Konzeption Gottes in der Lage ist, weil das Thema der Trinität nicht nur auf die Explikation des Gott-Welt-Verhältnisses zielt, sondern weil sie auch als einzige Konzeption des Gottesgedankens dazu taugt, das freie Anderssein in Gott selbst zu verankern.“ Vgl. F. Wagner, „Theo-logie. Die Theorie des Absoluten und der christliche Gottesgedanke“, in: H. Radermacher / P. Reisinger / J. Stolzenberg (Hrsg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer. Band II, Stuttgart 1990, 254 f.

Thorsten A. Leppek

Gott – Wahrheit – Wirklichkeit Zu Metaphysischem in Pannenbergs Theologie

1.

Aus der Zeit gefallen? Pannenberg als evangelischer Metaphysiker

Zu der Zeit, als Wolfhart Pannenberg an seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ schrieb, wurde er von einem seiner Schüler, Philip Clayton, gefragt, warum er denn so müde aussehe. „Herr Clayton,” sagte Pannenberg, „the literature on this topic is uferlos, unbounded. I have been reading 500 pages-a-day, now I have switched to reading 1000 pages-a-day in order to master all of it.”1 Uferlos dürften auch die Weiten der Metaphysik an sich sein – räumlich wie zeitlich, und nicht zu vergessen die zahllosen Seiten in der Literatur über sie, die es zu studieren gäbe. Wer Pannenbergs Werk kennt und sehr zu schätzen weiß, der weiß auch, dass die Metaphysik das Denken des Münchener Theologen stets begleitet hat. Für ihn dürfte gegolten haben, was Dieter Henrich einmal wie folgt kundtat: Es gibt „kein gelungenes Leben…ohne Metaphysik“2. So nimmt es nicht Wunder, dass Pannenbergs Bemühungen um eine Rehabilitierung und Revitalisierung der Metaphysik von größerem Umfange sind, weshalb dazu im Allgemeinen reichlich viel gesagt werden könnte, wenn der Platz nicht begrenzt wäre. In der gebotenen Kürze möchte ich eingangs in Erinnerung rufen, dass im 20. Jahrhundert – also in der Zeit der (Kern-)Schaffensperiode von Wolfhart Pannenberg – der Begriff „Metaphysik“ nicht nur zu einem „Grenzbegriff“, sondern auch zu einem „Kampfbegriff“ mutiert ist, für den man streiten musste, sofern man an ihm festhalten wollte3. Und Pannenberg gehörte zu jenen, die das 1 Aus dem Nachruf von Ph. Clayton, Wolfhart Pannenberg-In Memoriam: http://www.patheos. com/blogs/tonyjones/2014/09/07/wolfhart-pannenberg-1928-2014/ (Abruf: 29. Januar 2016). 2 D. Henrich zitierend ruft Pannenberg diese Überzeugung all denen entgegen, die sich in einem nachmetaphysischen Zeitalter wähnen. Siehe W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988 (= MuG), 8. 3 Zitate von Walter Schweidler, Die Wahrheit der Grenze. Zu den metaphysischen Implikationen

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Thorsten A. Leppek

entschieden wollten und in unbeirrter Ernsthaftigkeit von Seiten der Theologie aus Metaphysik betrieben. Es ging um etwas, genauer gesagt: nicht zuletzt um den Gottesgedanken, für dessen Intelligibilität das Werk Pannenbergs hohes Engagement erkennen lässt4. Es sollte die mit dem Gedanken Gottes assoziierte göttliche Wirklichkeit mit dem Anspruch auf Universalität verteidigt werden5. Pannenbergs Begegnung mit M. Heidegger im August 1952 ist allein schon eine Betrachtung wert, um des Verhältnisses von Theologie und Metaphysik im Denken Pannenbergs ansichtig zu werden6. Diese Begegnung ist eo ipso eine eindrückliche Demonstration dessen, dass Pannenberg schon in jungen Jahren Metaphysik und Ontotheologie im Besonderen zu betreiben gedachte. Und so offen das Gespräch Pannenbergs Aufzeichnungen zufolge auch verlaufen sein mag: Über gravierende Differenzen kann das nicht hinwegtäuschen. Heidegger zog es vor, wie man weiß, von Gott zu schweigen7, und interpretierte den Ausdruck ‚Metaphysik‘ – wie W. Schweidler es pointiert formuliert – „als Kennzeichnung für den Inbegriff jenes irreführenden Denkens, von dem ihr eigenes Philosophieren sich und uns zu befreien hat.“8 Grundverschieden war zudem beider Theologieverständnis. Während für Pannenberg das Verständnis der Theologie als Wissenschaft dazu dienen konnte, metaphysische Rede von Gott nicht nur zu bejahen, sondern ausdrücklich einzufordern, schlug Heidegger die Theologie der Sphäre der Glaubensreflexion zu. Heidegger auch in dieser Hinsicht nicht zu folgen, konnte Pannenberg mit dem Hinweis auf theologiege-

4

5

6 7 8

des modernen Wissenschaftsbegriffs, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, Berlin, New York 2001, 169. Man denke hier exemplarisch wie besonders an Pannenbergs wiederholtes Insistieren auf die Rationalität des Gottesgedankens und so auch auf eine wissenschaftstheoretisch legitimierbare Inanspruchnahme metaphysischer Sätze – z. B. in Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus und dem kritischen Rationalismus. Siehe dazu etwa W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1973 (= WuTh) passim, z. B. 31–35 u. MuG, 10 im Anschluss an A.J. Ayer. Während eine theologische Rezeption metaphysischer Konzepte in der Regel mit Universalitätsansprüchen einhergeht, die im Vollzug von Metaphysik begründet und plausibilisiert werden sollen (vgl. z. B. M. Knapp, Der trinitarische Gottesgedanke als Zentrum einer Theologie jenseits der Metaphysik? Eine theologische Auseinandersetzung mit Hegels Trinitätsverständnis, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 308), äußern metaphysikkritische Beiträge tendenziell Kritik an Universalitätsansprüchen. Vgl. M. Knapp/Th. Kobusch, Einführung, in: M. Knapp/ Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 2 f. Siehe dazu den Beitrag von G. Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger) in diesem Band. Siehe dazu M. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, in: M. Heidegger, Identität und Differenz (1957), Pfullingen 71982, 31–67. W. Schweidler, Die Wahrheit der Grenze. Zu den metaphysischen Implikationen des modernen Wissenschaftsbegriffs, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 169.

Zu Metaphysischem in Pannenbergs Theologie

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schichtliche Vorbilder, wie eines davon das mittelalterliche Theologieverständnis ist, begründen9. Pannenberg hält mit Entschlossenheit fest: „Christliche Theologie ist, im Gegensatz zu ihrer Darstellung bei Heidegger, wesentlich Wissenschaft von Gott und seiner Offenbarung. Alles was sonst noch in der Theologie vorkommt, kann ihr nur ‚in Beziehung zu Gott‘ Thema werden, wie Thomas von Aquin gesagt hat: sub ratione Dei.“10

Nicht nur der Gottesgedanke ist aus der Sicht Pannenbergs zentral für das christlich-theologische Geschäft. Auch die Wahrheitsfrage ist es11. Es erklärt sich von diesem theologischen Profil her, dass er zu den von Heidegger vorgebrachten Überlegungen wie folgt Stellung bezieht: Er entgegnet, es verlöre „christliche Theologie […] ihren spezifischen Inhalt und vor allem das damit verbundene Wahrheitsbewußtsein […], wenn sie dem Rat Heideggers folgen würde, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen.“12 In der Zeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Metaphysik nicht gerade en vogue – zumindest nicht innerhalb der evangelischen Theologie. Bereits in seiner Einführung in die Thematik der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ konstatiert Pannenberg die ausgeprägte Distanz evangelisch-theologischer Entwürfe zu griechischem Denken, der Philosophie und so auch zum Erbe der Metaphysik13. Seinerzeit vor Augen hatte er ganz besonders jene berühmte, wie er sagt, „reine Offenbarungstheologie“14 seines einstigen Lehrers Karl Barth und etliche andere Entwürfe, die sich durch Barth hatten beeinflussen lassen. Eine äußerst frühe Kritik damals geläufiger Metaphysikkritik repräsentiert der Aufsatz „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie“ (1959) 15. Schon darin kommt seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck, dass die alte Frage nach dem Absoluten, nach dem Einen, nach Gott also, keineswegs obsolet geworden ist. Gegen W. Dilthey etwa, der durch den Einfluss von Comte und Mill „alle Metaphysik als Ausdruck einer überholten Periode der menschlichen Geistesentwicklung“16 eingeschätzt habe, war Pannenberg von ihrer Relevanz und Notwendigkeit überzeugt. Er wandte sich dezidiert gegen die „Metaphysikfeindschaft“ A. Ritschls und deren Ver9 Vgl. MuG, 12. 10 MuG, 13. 11 „Kein evangelischer Theologe hat die Notwendigkeit der Wahrheitsfrage in der deutschen Diskussion der letzten Jahrzehnte so sehr betont wie Wolfhart Pannenberg.“ So lautet das m. E. zutreffende Urteil M. Leiners (Methodischer Leitfaden Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Göttingen 2008, 49). 12 MuG, 13. 13 Vgl. W. Pannenberg (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 1961 (= OaG), 7. 14 Ebd. 15 In: W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1967 (= GSTh 1), 296–346. 16 WuTh, 81.

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schärfung durch Karl Barth17. Die von Pannenberg später diagnostizierte „Krise der Metaphysik“18, die sowohl in der Rede „vom Ende der Metaphysik“19 zum Ausdruck kommen konnte wie auch in der Diskreditierung ihres seriösen Unternehmens als „Begriffsdichtung“20, war er nicht gewillt, auf sich beruhen zu lassen. Metaphysischer Einsatz war gefragt. Angesichts einer seinerzeit weit verbreiteten Interesselosigkeit an der Disziplin der Metaphysik hätte man Pannenberg bereits zum Ausklang des 20. Jahrhunderts treffend als einen der „letzten“, vom Aussterben bedrohten „Onto- oder Theosaurier“21 einstufen können. Aber – wie das Leben so spielt – hat auch das von einigen proklamierte Ende der Metaphysik ein gewisses Ende gefunden. In Erinnerung an Pannenberg als einen äußerst brillanten Theologen möchte ich im Folgenden einem speziellen Fragehorizont nachgehen. Damit meine Erwägungen zum Metaphysischen möglichst überschaubar und prägnant bleiben und nicht hoffnungslos (ins Uferlose) ausufern, habe ich mich begrenzt auf ein ganz bestimmtes Themenfeld – und zwar auf die für sein Denken insgesamt zentrale Trias „Gott-Wahrheit-Wirklichkeit“: Mich beschäftigt erstens die Frage, welche metaphysische Dimension von Pannenbergs Wahrheitskonzeption ausgeht, zweitens, inwiefern sein Verständnis von der Wirklichkeit, auf die die Wahrheit abzielt, als metaphysisch zu bezeichnen ist, und schließlich drittens, worin elementare metaphysische Konturen in seinem Gottesbegriff bestehen. Ich möchte den genannten Fragehorizont zunächst (möglichst) in systematisierender Weise beleuchten, das von Pannenberg Geleistete im Duktus der Darlegungen zu würdigen versuchen und mir dabei auch die eine oder andere Rückfrage erlauben. Ich will an dieser Stelle nicht verleugnen, dass mein Zugang zum benannten Thema sehr von der modernen philosophischen Wahrheitstheorie geprägt ist, deren Wurzeln in der analytischen Philosophie liegen und deren Verhältnis zur Metaphysik, um es vorsichtig zu sagen, bekanntlich (zumindest) nicht immer das Beste gewesen ist22. Diesen Zugang wähle ich dennoch, weil ich 17 Vgl. GSTh 1, 345 inkl. Anm. 156 u. W. Pannenbergs Bemerkungen in OaG, 7. 18 GSTh 1, 346. 19 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996 (= ThuPh), 16. 20 W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. I, Göttingen 1988 (= STh I), 259. 21 Nach Franz-Josef Wetz (Metaphysik nach dem Ende der Metaphysik?, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 160), der diese Zuschreibung allgemein auf die Beiträger eines metaphysischen Fragen gewidmeten Sammelbandes münzt, „die den letzten rezenten Exemplaren einer ansonsten weitgehend ausgestorbenen, nur noch in Buchfossilien erhaltenen Art zu gleichen scheinen.“ 22 H. Putnam stellte die These auf, „daß die analytische Philosophie sich von einer in ihren Anfängen anti-metaphysischen Bewegung zur am meisten metaphysisch orientierten philosophischen Strömung der Gegenwart entwickelt habe“ (G. Brüntrup, Mentale Verursachung und metaphysischer Realismus, 203, in: ThPh 70 [1995], 203–223).

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glaube, dass er weiterführt und nicht notwendig die Ausblendung metaphysischer Theoriebildung zur Folge haben muss (was Pannenberg im Übrigen schon meinte im Umfeld seiner Auseinandersetzung mit dem logischen Positivismus und dem Kritischen Rationalismus23). Worauf es mir ankommt, sind gute Argumente, wie ich von meinem Lehrer im Geiste – Wolfhart Pannenberg – gelernt habe: „In der Theologie zählen nur Argumente“24. Ich beginne meine Detailbetrachtungen mit einer offenen Frage, die eine Problemanzeige erahnen lässt: Was ist eigentlich eine metaphysische Wahrheit?

2.

Plurale metaphysische Wahrheiten?

Der schon in jungen Jahren für metaphysische Fragen aufgeschlossene Theologe Wolfhart Pannenberg ist bereits um die Zeit des Erscheinens der Programmschrift „Offenbarung und Geschichte“ verdächtigt worden, für ein metaphysisches Wahrheitsverständnis optiert zu haben. Der Altorientalist und Theologe Oswald Loretz (1928–2014) gewann den Eindruck, dass Pannenbergs „Sicht der Wahrheitsbestimmung […] im Horizont der abendländischen Metaphysik und nicht in dem der Bibel“25 liege, was Loretz freilich nicht als Kompliment verstanden wissen wollte. Loretz gedachte mit dieser Kritik an Pannenberg auf die Bibel hinzulenken, um von ihr her ein angemessenes Verständnis von Wahrheit zu entwickeln. Bedauerlicherweise übersah Loretz in dem 1964 erschienenen Büchlein „Die Wahrheit der Bibel“, dass Pannenberg sich sehr wohl der Frage nach dem biblischen Wahrheitsverständnis gewidmet hatte, dass beide also ein gemeinsames Interesse teilten. Was die Etablierung eines metaphysischen Wahrheitsbegriffes anbelangt, ist zu sagen, dass Pannenberg erst einige Jahre später für einen solchen Begriff von Wahrheit (sogar expressis verbis) geworben hat (s. u.), selbstverständlich ohne das vor allen Dingen schon in frühen Publikationen zutage getretene Interesse am biblischen Erbe in Wahrheitsfragen zu verdrängen oder gar aufzugeben. So unverkennbar entschlossen schon der junge Pannenberg seine Begeisterung für die Metaphysik erkennen lässt, so unübersehbar ist auch sein sich durchhaltendes Interesse, dem biblischen Erbe in der theologischen Reflexion gerecht zu werden. Sein Aufsatz „Was ist Wahrheit?“ aus dem Jahre 1962 zeigt, wie sehr ihm an der Beantwortung

23 Siehe dazu exemplarisch WuTh, 67, auch schon 39 ff. u. 45 ff. Metaphysische Aussageintentionen waren für den um die Wissenschaftlichkeit von Theologie bemühten Theologen von außerordentlich großem Interesse. 24 W. Pannenberg, Systematische Theologie Bd. II, Göttingen 1991 (= STh II), 326. 25 O. Loretz, Die Wahrheit der Bibel, Freiburg, Basel, Wien 1964, 41.

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der Frage gelegen war, worin das Spezifikum eines biblischen Wahrheitsverständnisses begründet liegt26. Gleichwohl ist und bleibt richtig, dass ‚Wahrheit‘ gemeinhin als ein klassischer Gegenstand metaphysischen Denkens aufgefasst wird. Und so stellt sich mir die Frage: Wodurch wird ein Begriff von Wahrheit zu einem spezifisch metaphysischen Wahrheitsbegriff ? Die Antwort darauf scheint keine eindeutige zu sein – leider, wie ich zu urteilen geneigt bin. Neben der verbreiteten Überzeugung, (1) dass eine metaphysische Wahrheit mit der ontologischen Wahrheit, bei welcher „Wahrheit als Attribut des Wirklichen oder Seienden“ verstanden wird27, (gänzlich oder weitestgehend) koinzidiert, gibt es auch die Sichtweise, (2) dass metaphysische Wahrheit relational gelagert sei, also z. B. als ein Übereinstimmungsverhältnis zwischen Denken und Wirklichkeit zu verstehen sei28. Demnach wäre metaphysische Wahrheit dem Typus der Aussagenwahrheit zuzurechnen, von welchem die klassische Korrespondenztheorie eine prominente Explikation ist. Eine Einordnung eines bestimmten Wahrheitsverständnisses unter die Rubrik eines metaphysischen Wahrheitsverständnisses leistet im Einzelfall also erkennbar weniger als erforderlich wäre, weshalb ich den Gebrauch des Ausdrucks ‚metaphysische Wahrheit‘ für wenig hilfreich halte29.

26 Siehe GSTh 1, 202–222. Darin entfaltet Pannenberg u. a. die auf H. v. Soden zurückgehende These einer (Grund-)Verschiedenheit zwischen griechischem und hebräischem/altisraelitischem/biblischem Wahrheitsverständnis, worauf im Zuge der hiesigen, gezielt metaphysischen Betrachtungen nicht näher einzugehen ist. Siehe auch W. Pannenberg, Wahrheit, Gewißheit und Glaube, in: W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie Bd. 2, Göttingen 1980 (= GSTh 2), 226–264, bes. 229 ff. 27 J. Szaif, Die Geschichte des Wahrheitsbegriffs in der klassischen Antike, in: M. Enders/J. Szaif (Hrsg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit, Berlin 2006, 2. 28 Vgl. den Art. „Wahrheit“ in: R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Teil 3 (Sci-Z), Berlin 31910, 1702: „Metaphysische Wahrheit ist die Übereinstimmung des Denkens mit der absoluten Wirklichkeit.“ 29 Wie schillernd die Rede von Wahrheit in diesem Erkenntnishorizont sein kann, kann exemplarisch an der Rede von einer „metaphysischen Dimension“ von Wahrheit in einem Aufsatz von O. Muck über die Enzyklika FIDES et RATIO illustriert werden. Siehe dazu O. Muck, „Lässt die Reflexion auf menschliches Denken die ‚metaphysische Dimension‘ der Wahrheit wiedergewinnen?“, in: P. Weingartner (Hrsg.), Glaube und Vernunft. Interdisziplinäres Streitgespräch zur Enzyklika Fides et Ratio, Frankfurt u. a. 2004, 39–62. Wie es scheint, verfolgte der Autor nicht die Absicht, semantisch signifikant festhalten zu wollen, worin die metaphysische Dimension von Wahrheit besteht. Jedenfalls ist innerhalb dieses Aufsatzes sowie auch in der sich daran anschließenden Fachdiskussion das Verhältnis von Wahrheit zum Sein irgendwie äquivok (bestimmt), und zwar so, dass beide o.g. Verständnisse metaphysischer Wahrheit parallel vorkommen.

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Das ernüchternde Zwischenergebnis lautet: So wie im Allgemeinen häufig unklar ist, was die Vokabel „Metaphysik“ genau bedeuten soll30, so schillernd kann die Rede von metaphysischer Wahrheit im Besonderen sein. Dessen ungeachtet kann nun im Hinblick auf Pannenbergs magnum opus notiert werden, dass beide genannten Auffassungen von metaphysischer Wahrheit faktisch für seine Wahrheitskonzeption bedeutsam geworden sind: Ad (1): Die Interpretation der metaphysischen Wahrheit als ontologische Wahrheit scheint es Pannenberg zu ermöglichen, auf der ontischen Ebene von Wahrheit einen Schwerpunkt zu setzen und eine Verbindung mit dem Gottesgedanken herzustellen, sodass Wahrheit letztlich einen ontotheologischen Charakter gewinnt. Das möchte ich später noch etwas vertiefen. Ad (2): Die relationale, aussagetheoretische (Korrespondenz-)Wahrheit hat aber auch eine metaphysische Dimension in sich. Sie enthält als Teil ihrer selbst eine Beziehung zur außersprachlichen Wirklichkeit, die es zu erkennen gilt, d. h. zur Wirklichkeit, die in der Regel eine Wirklichkeit im Sinne des metaphysischen Realismus ist.

Die (Grund-)Struktur des metaphysischen Realismus und seine Bedeutung für die aussagetheoretische Korrespondenzwahrheit in ihrer Applikation bei Pannenberg soll nun näher beleuchtet werden:

3.

Metaphysischer Realismus und aussagetheoretische (Korrespondenz-)Wahrheit

Die klassische Korrespondenzwahrheit ist so etwas wie eine spezifische Variante des aussagetheoretischen Wahrheitstyps. Charakteristisch ist somit eine semantisch-ontologische Grundstruktur (nach L.B. Puntel31). Sie liegt darin begründet, dass wir in Form von Sprache auf die außersprachliche Ebene ausgreifen, auf bzw. in welcher sich die Erkenntnisgegenstände befinden. Zumindest ist diese Anschauung geläufig unter Vertretern der Aussagenwahrheit, wie noch deutlich werden wird. Mit Aussagen, Sätzen, Hypothesen, Propositionen etc. können gemeinhin Wahrheitsansprüche verbunden sein. Pannenbergs theologisches Werk bezeugt 30 H. Hübner macht darauf aufmerksam, dass diese Frage eine zu klärende ist. Das jeweilige Verständnis von Metaphysik, das sämtlichen evangelischen Metaphysikkritiken zugrunde liegen kann, muss – wie aus Hübners Darlegungen erkennbar wird – womöglich im Einzelfall zunächst eruiert werden. Siehe dazu H. Hübner, Metaphysikkritik – gemeinsames Anliegen von Philosophie und Theologie?, in: ThLZ 117 (1992), 481–492. 31 Ich adaptiere lose diesen Sprachgebrauch Puntels, der sich u. a. findet in: L.B. Puntel, Der Wahrheitsbegriff. Ansatz zu einer semantisch-ontologischen Theorie, in: DZPhil 50 (2002), 871–891.

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diese Praxis mehr als nur deutlich, sodass dafür nicht einmal einzelne Belege anzuführen sind. Gemäß den Grundfesten des metaphysischen Realismus, der zu diesem Typus von Wahrheit unabdingbar dazugehört, wird vorausgesetzt, dass die zu erkennende Realität eine objektive, d. h. von den sie zu erkennenden Subjekten unabhängige, Größe ist32. Es geht genauer um jene „Auffassung, (a) daß es wirkliche Objekte gibt …, (b) daß sie unabhängig von unserer Erfahrung und unserem Wissen von ihnen existieren, und (c) daß sie unabhängig von den Begriffen, mit denen wir sie verstehen, und unabhängig von unserer Sprache, mit der wir sie beschreiben, Eigenschaften besitzen und in bestimmten Relationen zueinander treten.“33

Pannenbergs Verständnis von Wirklichkeit ist tatsächlich das des Realismus, dessen Grundform gemeinhin metaphysischer Realismus genannt wird. Dass dem so ist, lässt sich anhand mehrerer Belege, die eine veritative Referenz auf die außersprachliche Wirklichkeit erkennen lassen, in seinem Werk deutlich demonstrieren, wobei Pannenbergs eigene explizite Bemerkungen dazu eher spärlich oder im Einzelfall nicht immer hilfreich sind. (Den Nachweis des Realismus’ als das dem Denken Pannenbergs zugrundeliegende Realitätsverständnis erbrachte jedenfalls schon James S. Page34.) Es sind freilich weitere Ausdifferenzierungen im Hinblick auf die spezifische Eigenart seines Realismus’ möglich. Und diese sind auch vereinzelt vorgenommen worden. Solche Ausdifferenzierungen ändern jedoch nichts an dem metaphysischen Charakter des Wirklichkeitsbildes, worum es in diesen Betrachtungen im Kern geht, sondern beschreiben lediglich die Möglichkeiten des Erkennens von Wirklichkeit. Genau in diesem Punkt differieren etwa der kritische Realismus, den Page bei Pannenberg zu erkennen sich sicher ist, und der eschatologische Realismus, den P. Heltzel für die adäquate Einstufung des Pannenbergschen Wirklichkeitsverständnisses in die Diskussion gebracht hat.35 Während der eschatologische Realismus 32 Vgl. z. B. G. Brüntrup, Mentale Verursachung und metaphysischer Realismus, 205. 33 So E. Herrmann (Wir Menschen, Wahrheit und Wirklichkeit, in: I.U. Dalferth/Ph. Stoellger [Hrsg.], Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation, Tübingen 2004, 160), der damit den Kerngehalt des metaphysischen Realismus gemäß einer konzisen Darstellung durch P. Butchvarov im The Cambridge Dictionary of Philosophy wiedergibt. 34 Siehe dazu ausführlicher James S. Page, Critical Realism and the Theological Science of Wolfhart Pannenberg: Exploring the Commonalities, in: Bridges: An Interdisciplinary Journal of Philosophy, Theology, History and Science 10 (1/2, 2003), 71–84. Wie der Titel dieses Beitrages zu erkennen gibt, ist Pages These im Hinblick auf Pannenbergs Theologie präziser die eines kritischen Realismus. Das ist m. E. zumindest eine von mehreren zutreffenden Präzisierungen (s. u.). 35 Vgl. P. Heltzel/D. Michaud (Editor), Wolfhart Pannenberg (1928–2014), in: Boston Collaborative Encyclopedia of Western Theology: Wolfhart Pannenberg, ed. Wesley Wildman, http://people.bu.edu/wwildman/bce/pannenberg.htm (Abruf am 30. 01. 2016).

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besagt, dass vollendete Erkenntnis erst mit dem Eschaton zu erwarten sei, behauptet der kritische Realismus, dass jede Erkenntnis vorläufig oder begrenzt sei. Beide Einstufungen sind im Hinblick auf Pannenbergs Sicht vollkommen plausibel anzunehmen. Es ist m. E. jedoch grundsätzlich eher irritierend, dass die Diskussionen um den adäquaten Begriff von Wirklichkeit von Seiten der Philosophie häufig mit den Bedingungen ihres Erkennens vermengt werden. Dabei könnte es doch schon genügen, dass eine Einstufung eines Wirklichkeitsverständnisses als metaphysisch einen Gegensatz zu einer alternativen Wirklichkeitssicht wie beispielsweise dem Solipsismus erkennen lässt. Mit Pannenbergs Adaption des Realismus dürfte die Überzeugung einhergegangen sein, dass weder das Christentum noch die Theologie ein grundsätzlich anderes Wirklichkeitsverständnis als die übrigen Wissenschaften hat. Der Realismus dürfte für Pannenberg die mehr oder weniger selbstverständliche common senseOption gewesen sein, die als gemeinsame Grundlage eine Auseinandersetzung in Sachfragen mit anderen Disziplinen ermöglicht hat. Zwar halten Christen im Unterschied zu säkularen Zeitgenossen am Gottesgedanken fest. Doch dies tangiert nicht die Grundüberzeugung eines metaphysischen Realisten, dass die ontologische Außenwelt unabhängig von unseren Meinungen, Urteilen oder ähnlichem über sie besteht. Die Wirklichkeit in ihrer Einheit als eine vom (Schöpfer-)Gott bestimmte Realität zu denken, war eine von Pannenberg angenommene Herausforderung, die zu bearbeiten nur möglich gewesen ist unter der Voraussetzung eines Realismus’ im Verständnis von Wirklichkeit36. In der englischsprachigen Fachliteratur kreisen sämtliche Besprechungen des Realismus nicht selten um die realistische Kern-These einer mind-independent reality, die schon für die Grundform einer realistischen Wirklichkeitssicht – des sog. metaphysischen Realismus – kennzeichnend ist und damit indiziert, worin das Essentielle und Allgemeine jenseits aller Ausdifferenzierungsmöglichkeiten dieser Anschauung besteht37. Philosophiehistorisch scheinen die Zeiten vorbei zu sein, in denen der metaphysische Realismus an den Gottesgedanken gekoppelt ist. Der metaphysische Realismus ist längst „profan“ geworden und repräsentiert in der gegenwärtigen Wahrheitstheorie somit jenseits der vielleicht besonders für Theologinnen und Theologen interessanten Frage nach dem Zusammenhang alles Ontischen zum Numinosen lediglich die Idee einer realistischen ontologischen Ebene als Referenzfläche für strukturell aussagenlogische bzw. korrespondentistische Wahrheitsansprüche – eben etsi deus non daretur. Realismus und (solche) aussagetheoretische (Korrespondenz-)Wahrheit gehören zusammen38. 36 Vgl. dazu das Vorwort zu STh II, 9–13. 37 Vgl. zum Beispiel die Aufsatzsammlung „Truth and Realism“, edited by P. Greenough and M.P. Lynch, Oxford University Press, New York 2006. 38 Siehe dazu A. F. Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische

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Trifft ein Satz beispielsweise eine außersprachliche Tatsache, sprechen metaphysische Realisten von Wahrheit. Trifft ein Satz nicht zu, gilt er als falsch. Etwas Drittes neben ‚wahr‘ und ‚falsch‘ gibt es nach dieser zweiwertigen Logik nicht. Das Prinzip der Bivalenz ist bindend; Pannenberg hat sich, wie v. a. aus seinen wissenschaftstheoretischen Erwägungen hervorgeht, an die zweiwertige Aussagenlogik mit ihrem Dual ‚wahr‘/‚falsch‘ gehalten – weitestgehend, möchte man sagen. Es ist nicht zu verschweigen, dass Pannenberg u. a. durch das Konzept der von ihm sog. Wahrheitsantizipationen die eklatante Schwierigkeit heraufbefördert hat, dass jeder Vorgriff auf Wahrheit erklärtermaßen nicht identisch mit Wahrheit sei, was nach der Logik zumindest der Aussagenwahrheit zu irregulären, letztlich inakzeptablen ‚Halbwahrheiten‘ führen müsste. Der Umgang mit Antizipationen hat sich bei Pannenberg zu einer besonderen Verfahrensweise in der Anwendung von Metaphysik entwickelt. Es ist ein sich von Hegels Begriffslogik abhebendes Metaphysikverständnis, das der geschichtlichen Relativität eines solchen Unternehmens Rechnung zu tragen gewillt ist39 und dessen spezifische Denkbewegung im Ergebnis „eher die Form konjekturaler Rekonstruktion annehmen [werde], die sich von der intendierten Wahrheit unterscheidet, sich zugleich aber als eine vorläufige Gestalt dieser Wahrheit weiß.“40 Eben dadurch ist aber der der Korrespondenztheorie der Wahrheit inhärente Gedanke des Zutreffens zumindest in seiner Wirkmächtigkeit beschnitten, wenn nicht noch gröber verletzt. Die große Bedeutung, die Pannenberg den Antizipationen für den Prozess der Wahrheitserkenntnis zubilligt, geht letztlich auf Kosten der regulären zweiwertigen Aussagenlogik, mit der Korrespondenztheoretiker i. d. R. arbeiten. Diese Beobachtung lässt erahnen, dass die Folie dieser Theorie der Wahrheit nicht die fundamentalste in Pannenbergs veritativen Erörterungen gebildet hat. Ich komme nun zur metaphysischen Wahrheit im Sinne eines ontologischen Wahrheitsbegriffs. Hier liegt das Herzstück seines Wahrheitsverständnisses.

Theorie, Paderborn 2006, 18 f. A. Kreiner sieht die Korrespondenztheorie der Wahrheit mit einem metaphysischen Realismus „aufs Engste“ verbunden. Vgl. A. Kreiner, Wahrheit und Perspektivität religiöser Rede von Gott, in: I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (Hrsg.), Wahrheit in Perspektiven, 54. Chr. Schwöbel hat ebenfalls auf den elementaren Zusammenhang von Korrespondenz und realistischem Wirklichkeitsverständnis bzw. realistischer Metaphysik aufmerksam gemacht. Siehe Chr. Schwöbel, die Wahrheit des Glaubens im religiös-weltanschaulichen Pluralismus, in: Chr. Schwöbel, Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 25–60, bes. 49 u. 53. Für Koch u. Kreiner scheint allerdings nur der metaphysische Realismus als das der Korrespondenztheorie angemessene Wirklichkeitsverständnis in Betracht zu kommen. Vgl. zum benannten Konnex ferner „Truth and Realism“, edited by P. Greenough and M. P. Lynch. Darin werden die Zusammenhänge im Horizont auch des Anti-Realismus, des Relativismus und der wissenschaftlichen Diskussionen um eine angemessene Methodologie erörtert. 39 Vgl. MuG, 67. 40 MuG, 68.

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4.

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Ontologie als veritativer Schwerpunkt

Pannenbergs Verständnis von Metaphysik entsprach es, dass die Ontologie im Zentrum des Interesses stand41. Das blieb m. E. nicht ohne Auswirkung auf seine Wahrheitskonzeption. Pannenberg hielt die aussagetheoretische Wahrheit insgesamt für nicht zureichend und von sekundärer Bedeutung. Das belegt beispielsweise sein Urteil, dass sogar das alte biblische Verständnis von Wahrheit mehr sei als Aussagenwahrheit42. Auch seine These von der „Einengung des Wahrheitsbegriffs auf die Aussagenwahrheit“ genügt, um einen Eindruck von Pannenbergs diesbezüglicher Haltung zu gewinnen43. Als locus classicus für Pannenbergs formalen Wahrheitsbegriff auf Basis der Ontologie gilt gemeinhin eine prägnante Darlegung im ersten Band seiner „Systematische[n] Theologie“. Bei deren Betrachtung wird deutlich, dass Pannenberg nicht ohne Sympathien für Parmenides und Augustin die Wahrheit auf der ontologischen Ebene primär verortet. Das sog. Wahre ist das, was Augustin als das id quod est bezeichnet habe. Die Stoßrichtung seiner Darlegungen wird auch schnell klar. Sie richtet sich gegen die alternative Position, die – repräsentiert durch den Aquinaten – „vom Urteilsakt her bestimmt“ sei und ihren klassischen Ausdruck in der berühmten Formel, mit welcher Wahrheit als „correspondentia oder adaequatio rei et intellectus“ formal definiert wird, gefunden habe44. Solche aussagetheoretische Wahrheit erscheint dann als eine defizitäre Größe, als eine Wahrheit, die sich nur auf Aussagenebene bewegt. Pannenbergs Argumentation läuft im Endeffekt auf die Erklärung hinaus, dass die Einheit auf der Ebene der Wirklichkeit, also die Kohärenz auf der ontologischen Seite der Erkenntnisrelation, maßgeblich sei für unser Referieren auf die Erkenntnisgegenstände. Dadurch wird automatisch der Typus der Aussagenwahrheit zu einer Sekundärgröße im Begriff der Wahrheit. Was demgegenüber als wahrheitsbegrifflich fundamental herausgestellt wird, ist die ontologische Ebene, weshalb Pannenberg diesen so profilierten Wahrheitsbegriff – wie bereits oben erwähnt – explizit als metaphysischen Wahrheitsbegriff ausweisen kann45. „Die Kohärenz in den Dingen selbst, nicht erst in den Urteilen über sie, ist dann für die Wahrheit auch unserer Urteile konstitutiv. Das bedeutet aber, daß sich das Gewicht der 41 Man beachte die Bezugnahme auf alles Seiende, „auf Wirklichkeit überhaupt“, wie sie in unverstellter Sympathie für die „Fundamentalphilosophie ontologischer Metaphysik“ nach aristotelischem Vorbild bei Pannenberg zum Vorschein kommt. Siehe WuTh, 305(f). 42 Vgl. GSTh 2, 229. 43 GSTh 2, 235. 44 STh I, 62. 45 Vgl. W. Pannenberg, Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. I, Göttingen 1999 (= BSTh 1), 56.

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parmenidischen und auch der augustinischen Wahrheitsidee wieder neu geltend macht, die Zusammengehörigkeit der Wahrheitsidee mit dem Seinsbegriff und auch mit dem Gedanken Gottes als des Absoluten und Allumfassenden: Nur Gott kann der ontologische Ort der Einheit der Wahrheit im Sinne der Kohärenz als Einheit alles Wahren sein.“46

Dazu ist aus meiner Sicht anzumerken: Die Tatsache, dass die ontologische Ebene maßstabsgebend ist für die Wahrheit unserer Urteile, bestreiten Vertreter der klassischen Korrespondenztheorie nicht. Einige unter ihnen rekurrieren aber im Unterschied zu Pannenberg nicht auf den Gottesgedanken. Dieser scheint an diesem Punkt sogar entbehrlich zu sein. Ich möchte das kurz erläutern: Um die Abhängigkeit jedweder aussagetheoretischen Wahrheit von den außersprachlichen Erkenntnisgegenständen herauszustellen, wird in der modernen Wahrheitstheorie gerne von sog. Wahrmachern gesprochen47. Wahrmacher sind außersprachliche Entitäten. Sie machen Aussage, Sätze oder andere veritative Geltungsansprüche – sog. Wahrheitsträger48 – wahr, wenn sich ein Wahrheitsanspruch im Einzelfall zutreffend auf sie bezieht. Auf diese Wahrmacher hin, so könnte man sagen, werden Wahrheitsansprüche formuliert. Tatsachen beispielsweise können sinnvollerweise als Wahrmacher fungieren49. Das bedeutet konkret, dass von ihrem objektiven Bestehen oder Nicht-Bestehen und nicht von der subjektiven Überzeugtheit beispielsweise, mit der ein Satz vorgetragen wird, im Einzelfall abhängt, ob ein Satz wahr ist oder nicht. Proponenten der aussagetheoretischen Korrespondenztheorie könn(t)en in einer Replik auf Pannenbergs Darlegungen die Einschätzung vortragen, dass das Phänomen ‚Wahrheit‘ möglicherweise genau dann unterbestimmt wird, wenn es (zu) einseitig auf eine Seite der Erkenntnisrelation schwerpunktmäßig verlagert wird – sei es auf die ontische Seite im Sinne reiner ontologischer Wahrheit oder sei es auf die semantische bzw. sprachliche Ebene hin, wodurch das jeweilige Wahrheitsverständnis nur noch auf subjektimmanenter Ebene verharrte. Die semantisch-ontologische Aussagenwahrheit erweist sich insofern als komplexer, als sie unsere sprachlichen Bezugnahmen auf Außersprachliches mit in den Begriff von Wahrheit inkludiert. Spätestens seit dem linguistic turn dürfte

46 STh I, 62 f. 47 Zu dem Ausdruck ‚Wahrmacher‘ in der neueren Wahrheitstheorie siehe exemplarisch D. Hugh Mellor, Wahrmacher, in: I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (Hrsg.), Wahrheit in Perspektiven, 103–118. 48 z. B. nach J.L. Mackie, der diesen Terminus (im Original: „The Bearers of Truth“) in dem hiesigen Sinn für das Feld der Satz- und Aussagenwahrheit verwendet. Siehe dazu J.L. Mackie, Truth, Probability and Paradox. Studies in Philosophical Logic, Oxford 1973 (reprinted 2003), bes. 17 ff. 49 So fungieren innerhalb der Theologie A. Kreiners Tatsachen als solche Wahrmacher. Vgl. dazu A. Kreiner, Wahrheit und Perspektivität religiöser Rede von Gott, in: I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (Hrsg.), Wahrheit in Perspektiven, 53 f.

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ohnehin klar sein, dass jeder veritative Zugriff auf Erkenntnisgegenstände sprachlich vermittelt ist.

5.

Der Gottesgedanke, der Wahrheitsbegriff und die Ontotheologie

Für Pannenberg ist jedoch, wie ich deutlich zu machen versuchte, die Ontologie von entscheidender Wichtigkeit, weil über sie der klassische Weg zur Erhebung zum Gottesgedanken führt, oder besser: lange Zeit führte. Pannenbergs gezielte metaphysische Profilierung des Wahrheitsbegriffs durch eine Favorisierung ontologischer Wahrheit führt ihrerseits gleichsam ‚schnurstracks‘ zum Gedanken Gottes hin. Vice versa gilt auch: „Gott zu denken heißt, ihn als die Wahrheit zu denken […].“50 Dass der benannte Überstieg von der Ontologie zur Ontotheologie nicht weiter argumentativ untermauert wird, könnte dafür sprechen, dass Aristoteles als Autorität mit Vorbildcharakter hinter diesem Denkweg von der Ontologie zur „Ontotheologie“ bei der Formulierung von Wahrheits- und Gottesbegriff gestanden hat. Eine Selbstexplikation Pannenbergs an prominenter Stelle gibt zu erkennen, dass er nicht nur die auf Aristoteles zurückgehende Bezeichnung der Metaphysik als eine theologische Disziplin goutierte, sondern ihm auch die von jenem gegebene Begründung einleuchtete: Metaphysik galt beiden als eine theologische Disziplin, „weil sie das Göttliche als das alles andere umfassende und begründende Prinzip alles Seienden zum Gegenstand habe.“51 Diese Überlegung scheint für Pannenberg in der Explikation seines Wahrheitsbegriffes so essentiell wie selbstverständlich gewesen zu sein. Es gehört allerdings mit zum gegenwärtigen Stand der Dinge, dass auch der Typus der ontologischen oder ontischen Wahrheitstheorie ohne den Gottesgedanken formuliert werden kann (wie im Übrigen auch andere moderne Wahrheitstheorien, wie exempli causa die von Pannenberg beachtete Kohärenztheorie N. Reschers: Sie enthält keine metaphysischen Implikationen – und das in einem zweifachen Sinn: bewusst wird die Frage nach ontologischer Kohärenz beiseitegelassen; dem Gottesgedanken kommt für das Verständnis von Wahrheit erst recht keinerlei Bedeutung zu52). 50 Chr. Axt-Piscalar, Was ist Theologie? Klassische Entwürfe von Paulus bis zur Gegenwart, Tübingen 2013, 310. 51 STh I, 11. Man sieht sich auch an das IV. Buch der Metaphysik von Aristoteles erinnert, worin dieser die Frage nach dem Seienden in seiner Totalität thematisiert. 52 Vgl. N. Rescher, The Coherence Theory of Truth, Oxford 1973, 23: Rescher erklärt sein Vorgehen: „We propose to deal with the coherence theory solely in its logical and epistemological ramifications, leaving metaphysical issues [kursiv: T.L.] aside in so far as is possible.“

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Der von Pannenberg eingeforderte und andernorts in Schriftform reklamierte „Vorrang des Gottesgedankens für das Wahrheitsverständnis“53 ist ohne Kenntnis der dieser Überlegung zu Grunde liegenden Wahrheitstraditionen nicht so ohne Weiteres einsehbar. Ohnehin scheint es mir mehr der entschiedene Wille Pannenbergs gewesen zu sein, die Wahrheitsthematik mit der Gottesthematik zu verschränken. Ich meine nun weiter sagen zu können, dass der von Pannenberg in verblüffender Ähnlichkeit zu Aristoteles beschrittene Weg von der Einheitsfülle zum Gottesgedanken – mit Abstand betrachtet – als so etwas wie eine (abgeschwächte) Wiederholung des alten kosmologischen Gottesbeweises aufgefasst werden könnte oder zumindest als durch diesen beseelt angesehen werden dürfte. Hier hat zweifelsohne aristotelische Metaphysik – wohl auch in ihrer Brechung durch Thomas von Aquin54 – einen starken Eindruck auf das Denken Pannenbergs gemacht. Denn die Parallelen sind frappierend: Ontologie, wie sie Aristoteles in seiner Metaphysik als die erste Philosophie betreibt, führt schließlich zur Ontotheologie, weil dieser der Auffassung war, einen unbewegten Beweger als causa prima alles Seienden und Erklärung für dessen Existenz postulieren zu müssen. Pannenberg scheint ähnlich gedacht zu haben, auch wenn nach meinem Ermessen seine diesbezüglichen Überlegungen einen leicht zwiespältigen Eindruck hinterlassen: Es sei, so lesen wir Pannenberg in seiner „Systematische[n] Theologie“, so gewesen, dass das kosmologische Argument zwar offenkundig lange Zeit „dem Gedanken eines ens necessarium objektive Geltung zu verschaffen [vermochte]“55. Doch seit Kants Kritik der Gottesbeweise ist scheinbar auch für ihn die dem kosmologischen Gottesbeweis zugrunde liegende „Anwendung des Kausalgedankens über die Grenzen der Sinnenwelt hinaus“56 nicht mehr möglich. Pannenberg repetiert sicher nicht explizit den kosmologischen Gottesbeweis, dessen Vorstellung von einer ersten Wirkursache s.E. ohnehin für das neuzeitliche Denken auch deshalb hinfällig geworden sei, da (inzwischen) „auf dem Boden der mechanischen Naturerklärung die Schlüsse auf eine erste Ursache der Bewegung und auf ein erstes Glied in der Reihe der Wirkursachen ihre Überzeugungskraft verloren“ hätten57. Er selbst aber insinuiert in seiner Theologie eine Verschränkung zwischen allen vorfindlichen Entitäten einerseits und dem Gottesgedanken andererseits. Diese Beobachtung verweist nicht auf eine Ne53 GSTh 2, 236. 54 Zur Ontotheologie bei Aristoteles und Th. v. Aquin siehe ausführlicher M. Gabriel, Gottes transzendenter Seinsvollzug. Zur aristotelischen Ontotheologie im Λ der Metaphysik, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 5 (2006), 97–119. Siehe ferner M. Westphal, Aquinas and Onto-theology, in: American Catholic Philosophical Quarterly Vol. 80, No. 2 (2006), 173–191. 55 STh I, 95. 56 Ebd. 57 STh I, 100.

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bensächlichkeit, sondern führt geradewegs in das Zentrum seines Theologieverständnisses: Theologie als Wissenschaft zu betreiben heißt, die Totalität der Wirklichkeit zu thematisieren. Während die Philosophie dabei vom Gottesgedanken durchaus absehen könne, werde für die „Theologie […] die Gesamtheit des Wirklichen nur thematisch unter dem Gesichtspunkt der Wirklichkeit Gottes, sofern nämlich Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit [T.L.] zu denken ist.“58 Es ist exakt diese von R. Bultmann übernommene Nominaldefinition Gottes, die Pannenbergs Gottesbegriff einen brauchbaren metaphysischen Charakterzug verleiht: Die Formel verunmöglicht polytheistische Gottesverständnisse und führt zurück auf die Anfänge frühchristlicher Theologie. Sie erweist sich der Sache nach als anschlussfähig an die patristische Theologie, die ihrerseits die alte philosophische Vorstellung von der Einheit Gottes rezipiert hatte, um die es auch dem christlichen Monotheismus – damals wie heute – in seinem Fragen nach den einen und wahren Göttlichen gehen musste und muss. Kurzum: Pannenberg macht deutlich, dass die Rezeption des philosophischen Gottesbegriffs weit positiver zu beurteilen ist, als dies etwa von Ritschl an geschehen ist59. Pannenberg stellt die Sinnhaftigkeit dieses Schrittes deutlich heraus und macht klar, dass jene damals erfolgte Anknüpfung an den philosophischen Gottesgedanken missverstanden wäre, wenn man im Hinblick auf die damalige Situation sich lediglich daran erinnerte, „daß die Philosophie nun einmal eine geistige Macht im hellenistischen Zeitalter war, mit der man sich taktisch vorteilhaft verbündete.“60 Pannenberg stuft diese Einschätzung als „zu äußerlich“ ein und stellt heraus, dass jene Anknüpfung aus einem guten sachlichen Grund erfolgt ist, welcher ist der Gedanke Gottes in seiner universalen Einheit. In Pannenbergs Worten: „Die Auseinandersetzung mit dem philosophischen Fragen nach der wahren Gestalt des Göttlichen ist zwar veranlaßt durch die Begegnung mit der hellenistischen Geisteswelt, aber sie ist auch innerlich [kursiv. T. L.] begründet im biblischen Zeugnis von Gott als dem universalen, nicht nur für Israel, sondern für alle Völker zuständigen Gott.“61

Einen philosophischen Gottesbegriff aufzunehmen, hieß für Pannenberg jedoch nicht, ihn ungeprüft und unkommentiert zu übernehmen. Gerade weil die christliche Theologie den philosophischen Gottesgedanken „im kritischen Licht des biblischen Gottesglaubens“ wahrzunehmen habe, sieht er sie auch befähigt, diesen „um[zu]gestalten.“62 Sofern genau das geschehe, kann mit Pannenberg in 58 WuTh, 307. 59 Vgl. W. Pannenberg, Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem der frühchristlichen Theologie, in: GSTh 1, 298. 60 GSTh 1, 308. 61 GSTh 1, 308. 62 GSTh 1, 312.

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der Tat von einer „‚Hellenisierung‘ im Sinne einer Überfremdung z. B. durch den philosophischen Gottesgedanken“ keine Rede sein63.

6.

Gott und konfligierende Wahrheitsbegriffe

Ich komme an dieser Stelle nochmals auf Pannenbergs Wahrheitskonzeption zurück, und zwar genauer auf die u. a. in ihr enthaltenen zwei metaphysischen Wahrheitsbegriffe im o.g. Sinn. Dabei interessiert jetzt die Frage, wie ihr Verhältnis zueinander bestimmt sein kann und welche Chancen Pannenberg gesehen haben mag, auch auf veritativem Terrain für den Gottesgedanken einzutreten. Es ist zunächst keineswegs uninteressant zu bemerken, dass sowohl die Proponenten der ontologischen Wahrheit als auch diejenigen der semantischontologischen bzw. aussagetheoretischen (Korrespondenz-)Wahrheit sich nicht zu Unrecht auf die aristotelische Aletheologie berufen können. Denn einerseits war Aristoteles zweifelsohne in gewissem Sinne ein Vertreter der aussagetheoretischen Korrespondenzwahrheit. Schließlich lesen wir im IV. Buch seiner Metaphysik folgende Definition: „Zu sagen, daß das, was ist, nicht ist, oder das, was nicht ist, ist, ist falsch; hingegen daß das, was ist, ist, oder das, was nicht ist, nicht ist, ist wahr.“64

Jan Rohls sieht in dieser Definition die alte, schon bei Plato anzutreffende Korrespondenztheorie65. Dazu passt, dass Aristoteles mit einem für die Anwendung seiner Korrespondenztheorie der Wahrheit geeigneten metaphysischen Realismus operierte und auf seine Weise mit einem alethischen Monismus verbunden hat66. Andererseits war für Aristoteles (und natürlich auch für einige Philosophen vor ihm [z. B. für den von Pannenberg geschätzten Parmenides] und einige mehr nach ihm) auch das ontologische Wahrheitsverständnis grundlegend in der Vorstellung vom Seienden und Nichtseiendem als dem Wahren bzw. Falschen. Die doppelsinnige Verwendung des Ausdrucks ‚Wahrheit‘ bei Aristoteles sieht im Kern so aus, dass das Seiende als das Wahre im Sinne ontologischer Wahrheit die

63 Ebd. 64 Aristoteles, Metaphysik IV,7,1011b 26 f. 65 Vgl. J. Rohls, Korrespondenz, Konsens und Kohärenz. Pragmatische und analytische Wahrheitstheorien, in: I.U. Dalferth/Ph. Stoellger (Hrsg.), Wahrheit in Perspektiven, 29. 66 Vgl. dazu, zu E.J. Lowe und seiner Aristoteles-Rezeption B. Goebel, Aristoteles redivivus? E.J. Lowes The Four-Category Ontology: Ontologie im Zeichen des „metaphysischen Realismus“, in: Philosophisches Jahrbuch 116. Jahrgang/I 2009, 162–177.

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Grundlage dafür bildet, dass ein Satz dieses Seiende als das, was es eben (in Wahrheit) ist, aussagt67. In Pannenbergs Theologie wiederholt sich dieser Vorstellungshorizont, hinter welchem insbesondere die neuere Wahrheitstheorie m. E. völlig zu Recht zwei (grund-)verschiedene, d. h. miteinander konkurrierende, also nicht ohne Weiteres synthetisierbare Wahrheitsverständnisse erkennt: Denn ‚Wahrheit‘ bedeutet jeweils Unterschiedliches. Pannenbergs Theologie kennt solche „harten“ definitorischen Grenzziehungen bezüglich der Wahrheitsbegriffe nicht. Prima vista mag sich dennoch zunächst ein anderes Bild ergeben, was daran liegen könnte, dass er philosophische Wahrheitstheorien – im Besonderen die Kohärenz- und die Konsensustheorie – zur Kenntnis nahm und konstruktiv-kritisch rezipierte68. Seine Rezeption mehrerer Wahrheitsbegriffe sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Wahrheitstheorien schließlich in ein Gesamtverständnis von Wahrheit integriert worden sind, wie oben am Beispiel des Kohärenzgedankens deutlich geworden sein dürfte. Aufs Ganze gesehen werden die Theorien der Wahrheit nicht in ihrer (vollständigen) Eigenständigkeit aufgenommen, sondern so, dass sie letztlich einem ontotheologischen Wahrheitsverständnis dienen. Es drängt sich von daher der Eindruck auf, Pannenberg hat ganz bewusst an älteren Wahrheitskonzeptionen Anleihen gesucht, um den für ihn wichtigen Gottesgedanken für das Geschäft der Metaphysik innerhalb der Theologie weiterhin am Leben erhalten und selber auch forciert betreiben zu können. Ich meine, es ließe sich für die alternative Programmatik werben, dass Metaphysik in Form einer gezielten Ontotheologie ihrerseits die Totalitätsthematik unter Einschluss des Gottesgedankens thematisiert, während das Phänomen Wahrheit als ein von der reinen Ontologie zu unterscheidendes, separates Themenfeld bearbeitet werden kann. ‚Wahrheit‘ kann aus guten Gründen – wie gezeigt wurde – als ein Phänomen verstanden werden, das die ontologische wie eben auch die unhintergehbare sprachliche bzw. semantische Ebene als „Zugriffsfläche“ für außersprachliche Entitäten involviert. Aus dieser Perspektive ist ‚Wahrheit‘ immer mehr als eine Sache, die sich allein auf ontologischer Ebene bewegt. Es scheint mir schlicht nicht sinnvoll, für ein Wahrheitsverständnis zu votieren, das diese sprachliche Dimension von ‚Wahrheit‘, wie wir sie mustergültig in dem Artikulieren von Wahrheitsansprüchen zum Ausdruck kommen sehen, unberücksichtigt lässt. Bereits jeder, der von Wahrheit spricht oder schreibt, lässt erkennen, dass das Phänomen gemeinhin auch mit einer sprachlichen Seite unentrinnbar behaftet ist, ob er das nun wahrhaben möchte oder nicht. Pannenberg hat in seiner Theologie diese in sich eher banale Einsicht 67 Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX, 10, 1051b. 68 Siehe dazu ausführlicher meine Dissertation: T. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung [erscheint demnächst].

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natürlich nicht bestritten. Außerdem nötigte ihn die breite Rezeption der aussagetheoretischen Wahrheit ohnehin dazu, das Phänomen ‚Wahrheit‘ auch mit ‚Sprache‘ verbunden zu denken. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich, dass Pannenbergs Wahrheitsverständnis maßgeblich von antiken Vorbildern her konzipiert ist, die das Phänomen ‚Wahrheit‘ verstärkt an die ontologische Ebene banden. Die moderne Wahrheitstheorie stellt im Unterschied zu diversen älteren, synthetisierenden Wahrheitskonzeptionen m. E. völlig zu Recht heraus, dass es sich bei der ontologischen und der aussagetheoretischen Wahrheit um zwei verschiedene Wahrheitsverständnisse handelt. ‚Wahrheit‘ meint eben nicht nur jeweils etwas anderes, sondern ist bereits auf der Ebene des formalen Wahrheitsbegriffs schlicht anders definiert. Wer dagegen wie Pannenberg verschiedene Wahrheitsbegriffe synthetisiert, nimmt zwangsläufig Äquivokationen in Kauf, über deren Berechtigung oder Illegitimität sich freilich trefflich streiten ließe. M. E. sind sie für die Verständigung per verbaler Kommunikation eher hinderlich als förderlich.

7.

Metaphysik und Gottesgedanke – mit Abstand betrachtet

Metaphysik und Gottesgedanke – jene Aufsatzsammlung aus dem Jahre 1988 ist eine wichtige Referenzschrift für diejenigen, die sich über Pannenbergs Metaphysik kundig machen möchten. Der schlichte und unprätentiöse Titel gibt zu erkennen, was die Leserinnen und Leser als die diese Texte verbindende Programmatik erwarten dürfen: Wohl eine Metaphysik einschließlich einer Ontotheologie, wie sie grundcharakteristisch für seine Theologie ist. Dass Pannenberg ein wohlwollendes Verhältnis zur philosophischen Gottesbegriffsbildung unterhielt, ist bereits an der metaphysischen Prägung seines Wahrheits- und Gottesbegriffes deutlich geworden, lässt sich exemplarisch aber auch schon anhand seiner Kritik der metaphysikkritischen Position Ritschls dokumentieren, womit sich (erneut) die Frage verbindet, ob es aus christlicher Sicht überhaupt angemessen sein kann, den Gottesbegriff metaphysisch zu profilieren. Sollte womöglich Ritschls Kritik an der frühchristlichen Etablierung eines, wie er meint, „metaphysischen Götzen“ durch die Apologeten berechtigt sein? Ist mit Ritschl möglicherweise doch „eine ungehörige Einmischung von Metaphysik in die Offenbarungsreligion“69 zu tadeln, was – so es denn stimmen sollte – dann auch Pannenbergs Theologie empfindlich träfe? Ganz grundsätzlich steht zur Disposition, ob für die Frage nach einem adäquaten Gottesverständnis die Philosophie bemüht oder lieber links liegen 69 Zit. n. GSTh 1, 297:

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gelassen werden sollte. Ein schottischer Pannenberg-Kenner kleidete diese Grundsatzfrage in folgende Worte: „Why let the problem of the application of Greek philosophical concepts to the doctrine of God complicate the problem? Why not, with Tertullian, attempt to remain wholly within the orbit of biblical concepts?“70

Pannenberg hat, wie bereits bis hierher deutlich geworden sein dürfte, in seiner Theologie klare Antworten gefunden. Und auch diese Frage ist von Pannenberg nicht unbeantwortet geblieben. Um das zu demonstrieren, möchte ich zunächst den Blick ausweiten auf weitere metaphysische Dimensionen innerhalb seiner Theologie. Es verdient bereits hier ausdrücklich gewürdigt zu werden, dass Pannenberg weder einer weitverbreiteten Metaphysikkritik blind folgte, noch einen schroffen (d. h. letztlich billigen) Gegensatz der Theologie zur Philosophie proklamierte, was sich bedauerlicherweise seit M. Luther zu „eine[r] gewisse[n] Geisteshaltung innerhalb der evangelischen Theologie“ verfestigt zu haben scheint71. Metaphysik war und ist in den Augen vieler eben nicht angesagt. Manche protestantische Theologen wie K. Barth und später E. Jüngel vermeinten sogar, die Trinitätslehre sei unvereinbar mit der Metaphysik72. Der Frage, ob dieser Einschätzung Recht gegeben werden kann, kann hier nicht im Detail nachgegangen werden. Ich nehme im Übrigen auch nicht an, dass eine so gestellte Frage abschließend und eindeutig beantwortet werden kann. Letztlich dürfte auch hieran wieder deutlich werden, dass Metaphysik ein weites Feld ist. Allerdings demonstriert ja gerade die Theologie Pannenbergs einen (möglichen) Weg, das Denken der Metaphysik für die Theologie fruchtbar zu machen, ohne dass die Trinitätslehre (wie es klassisch bei F. D. E. Schleiermacher geschehen ist) marginalisiert wird. Man denke etwa auch schon an Hegels Metaphysik, die gerade zur Demonstration des christlichen Wahrheitsanspruches mit einem trinitarischen Gottesbegriff operierte73 und – 70 Allan D. Galloway, Wolfhart Pannenberg, London 1973, 87. 71 H. Hübner, Metaphysikkritik – gemeinsames Anliegen von Philosophie und Theologie?, 488. Zuweilen ist s.E. sogar von einer „Metaphysikphobie“ unter evangelischen Theologen auszugehen (vgl. a. a. O., 489). Auch an I.U. Dalferths Gegenüberstellung von ‚metaphysischer‘ und ‚evangelischer‘ Denkform in den theologischen Bemühungen, Gott zu denken, bricht sich eine spezifisch evangelische Skepsis an der Legitimität, metaphysische Wege in diesen Dingen zu beschreiten, bahn, wobei bei Dalferth freilich auch sämtliche gegenstandsorientierten Denkprojekte des Theismus im Gegenüber zum evangelischen Ansatz, der vom Wortgeschehen her ansetze, in Misskredit geraten: Siehe I.U. Dalferth, Bestimmte Unbestimmtheit. Zur Denkform des Unbestimmten in der christlichen Theologie, in: ThLZ 139 (2014), 3–36, bes. 24 ff. 72 Vgl. dazu die (aus postmetaphysischer Perspektive) festgehaltenen Darstellungen und notierten Überlegungen von H. von Sass, Nachmetaphysische Dreifaltigkeit. Barth, Jüngel und die Transformation der Trinitätslehre, in: ZThK 111 (2014), 307–331. 73 Siehe dazu die Darstellung bei Markus Knapp, Der trinitarische Gottesgedanke als Zentrum einer Theologie jenseits der Metaphysik? Eine theologische Auseinandersetzung mit Hegels

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wie sich aus einem Aufsatz Pannenbergs ergibt – keinen Vergleich mit der Trinitätslehre K. Barths scheuen muss – im Gegenteil eher74. Was philosophisch-/metaphysische Konzeptionen anbelangt, sind sie für Pannenberg dem Ansinnen vernünftiger Gottesrede geschuldet. Denn um gewissen „Minimalbedingungen für ein innerlich konsistentes Reden von Gott“75 gerecht werden zu können, ist die philosophische Gotteslehre unverzichtbar. Und sie dürfte es noch grundsätzlicher in einem ganz basalen Sinne sein: Gottesrede muss verstehbar sein. Pannenberg hat überzeugend dartun können, dass wir gut daran tun, die Vokabel ‚Gott‘ zunächst als „Gattungsbezeichnung“ zu verstehen, bevor wir von Eigennamen sprechen76. Denn: „Daß das Wort Gott ‚einen ausgeprägten vor- und außerchristlichen Gebrauch‘ hat, ist Bedingung der Verstehbarkeit der Bezeichnung Jahwes als Gott wie auch der christlichen Rede von der Gottheit Jesu Christi.“77 Dem kann ich nur beipflichten. Unverständlich bleibt mir allein deshalb schon, dass sich bis in die Gegenwart hinein eine vehemente Kritik am abstrakten, sog. metaphysischen Gottesbegriff durchhält. Ist ein abstrakter Begriff von Gott wirklich unbrauchbar für den Glauben? 78 Ein weiterer spezifisch metaphysischer Zug in der Gottesrede Pannenbergs liegt darin begründet, dass Gott als Gegenstand menschlicher Rede über ihn vorkommt79. Nehmen manche Theologen schon daran Anstoß, dass im Hinblick auf Gott von einem ‚Gegenstand‘ die Rede ist80, so liegt (bei aller berechtigten Kritik an der limitierten und irgendwie unzureichenden Intension dieses Wortes) doch ein Vorteil darin, dass Gott thematisch wird, was man von all denjenigen in der Theologie, die meinen, „dem ehrfürchtigen Schweigen oder unverständlichen Raunen den Vorzug zu geben“81, nicht so wird sagen können. Das für die hiesige Betrachtung Wesentliche ist die mit der Wendung ‚Gott als Gegenstand‘ recht-

74 75 76 77 78

79 80 81

Trinitätsverständnis, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 307–332. Siehe dazu W. Pannenberg, Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: GSTh 2, 96–111. STh I, 426. STh I, 78. Ebd., dabei aus I.U. Dalferth, Religiöse Rede von Gott, München 1981, 576 zitierend. Zu dieser Sicht tendiert J. Teuffel (Wort und Feuer statt Schall und Rauch. Warum ein abstrakter ‚Gott‘ nicht zu glauben ist, in: DtPfrBl 9/2015). U. Körtner zeigt am Beispiel seiner Pascal-Lektüre, dass ein differenzierter Blick auf mögliche Gottesbegriffe erforderlich ist und bleibt: U.H.J. Körtner, Nicht der Philosophen Gott? Denken Gottes zwischen Mythos und Metaphysik, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 213–229. Im 5. Kapitel seiner WuTh entfaltet Pannenberg dieses theologiewissenschaftliche Selbstverständnis in bemerkenswerter Differenziertheit. Siehe dazu A. Kreiner, Das wahre Antlitz Gottes – oder was wir meinen, wenn wir Gott sagen, Freiburg 2006, 11. Ebd. In der beschriebenen Haltung liegt auch für Kreiner kein Vorzug.

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mäßig zu assoziierende Vorstellung Gottes als mind-independent reality, also eine Vorstellung, wie sie gleichsinnig in der Wirklichkeitskonzeption des (metaphysischen) Realismus auf die (Außen-)Welt als geistunabhängige Größe gemünzt wird. Gott kann eben niemals nur der Gott der frommen Subjektivität sein, wie Pannenberg (fast mantraartig) zu Recht einschärfte. Pannenberg verstand es, die Wirklichkeit Gottes nicht von den vielfältigen Möglichkeiten ihres Zur-Geltung-Kommens abhängig zu denken. Jede Theologie, die demgegenüber etwa von der Selbstlokation im Glauben ausgeht und beispielsweise proklamiert, nur von der Sphäre des Glaubens her Theologie treiben zu wollen, überwindet m. E. die Subjektivitätsproblematik mitnichten. Die Aussagekraft der Rede von Gott in kleinen Zirkeln oder in den je eigenen privaten Enklaven und Zitadellen dürfte nach meinem Eindruck ohnehin im Allgemeinen eher über- als unterbewertet sein. Problematisch wird es freilich erst dort, wo die eigene und schiere Subjektivität zum Maßstab des Verständnisses Gottes (einschließlich des Gottesbegriffes) wird. Die Gefahr der Beliebigkeit ist gegeben. Im extremsten Fall offenbart eine geradezu subjektivistische Rede von Gott mehr über den Redenden als über Gott selbst82. Einem Metaphysiker würde das sicher nicht passieren können. In jedem Fall ist es eine Leistung Pannenbergs, in der metaphysisch verantworteten Gottesrede inner circles der Theologie durchbrochen zu haben. Ein weiteres Verdienst ist die Transparenz, die er mit seinem Reden von Gott erzeugte. Durch sein Hantieren mit der Nominaldefinition von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit wird keineswegs negiert, dass diese Definition nur ein operatives Hilfsmittel ist83. Andererseits wird dadurch für andere Partizipanten in dem Reden über Gott nachvollziehbar, was die Vokabel ‚Gott‘ bedeuten soll bzw. kann. Dies offenzulegen, gelingt bei Weitem nicht jedem, der Theologie treibt. Wer selbst nicht weiß, was er sagt, wenn er von Gott redet, leistet nicht gerade einen Beitrag zum Gelingen von Kommunikation. Das terminologische Instrumentarium metaphysischer Tradition, dessen sich Pannenberg (freilich auf eigene Weise) bediente, ist dagegen geeignet, eigene Gedanken klar zu formulieren und dem Gegenüber, das sich dafür interessiert, darzutun. Die Anleihen der Philosophie können dann dazu gereichen, Gott ins Verhältnis zu allen Wirklichkeiten zu setzen, die von der einen Wirklichkeit gemäß den Merkmalen des metaphysischen Realismus umfasst werden:

82 A. Kreiner ist sogar „davon überzeugt, dass der Sache mit Gott der größte Schaden nicht vonseiten atheistischer Kritiker zugefügt wurde, sondern vonseiten jener Glaubenseiferer, die Gott nach dem Ebenbild ihrer eigenen Borniertheit, Phantasielosigkeit, Intoleranz und Eitelkeit denken oder auch nur zum Zweck der Erhaltung ihrer Macht und Privilegien.“ (A. a. O., 13). 83 Diese Definition ist – sicher nicht nur für Pannenberg – „unvollständig“ (WuTh, 304).

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„Weiß man, was man sagt, wenn man von ‚Gott‘ redet, so kann man die Wirklichkeit von Welt und Mensch nicht mehr denken, ohne Gott als ihren Ursprung zu denken, und umgekehrt kann man dann Gott nur so denken, dass man zugleich die Gesamtheit alles Wirklichen als von ihm hervorgebracht denkt.“84

Die Totalität aller endlichen Wirklichkeit wird als Korrelat zum Gottesgedanken interpretiert85. Derlei Explikationen des Gottesgedankens von der Nominaldefinition Gottes als „alles bestimmende Wirklichkeit“ her dürften im Sinne Pannenbergs jedoch nicht so zu verstehen sein, als erzeugten sie ein Gegenüber zwischen Gott und allen endlichen als die von ihm geschaffenen Wirklichkeiten. An dem von Pannenberg mehrfach in Anknüpfung an Hegels Überlegungen vorgetragenen Verständnis Gottes als des wahrhaft Unendlichen lässt sich verdeutlichen, was damit gemeint ist. Es geht darum, Gott so zu denken, dass auch alles Endliche Teil der Unendlichkeit Gottes ist. Andernfalls wäre Gottes Unendlichkeit dadurch negiert, dass Gott ein Anderes als Gegenüber hätte86. Die prinzipielle Gefahr solcher klugen wie vernünftigen Gottesrede besteht freilich insgesamt darin, dass sie sich zu einem hybriden Projekt entwickeln könnte, das der Endlichkeit und Begrenztheit menschlicher Erkenntnis nicht mehr gerecht würde. Es ist jedoch ein vorzügliches Kennzeichen der Theologie Pannenbergs, dass sie zwar auf ein „highest level of sophistication“87 aus ist, aber zugleich von einer weisen Demut zeugt, was epistemische Chancen und Limitationen betrifft. Nicht zuletzt für den wissenschaftlichen Umgang mit Begriffen hat Pannenberg hervorgehoben, dass „alle unsere Begriffe“ von der Erhabenheit Gottes ihnen gegenüber transzendiert würden88.

8.

Ausklang oder Meta-Betrachtungen über Pannenberg und die Metaphysik

Ich komme zum Schluss: Die zügige Draufsicht auf das triadische Themengeflecht „Gott-Wahrheit-Wirklichkeit“ im Denken Pannenbergs hat ausgewählte metaphysische Anteile offenbar werden lassen. Pannenbergs Metaphysik interpretiere ich als Teil (s)einer das traditionsreiche Bündnis mit der Philosophie wertachtenden Theologie. Sie scheint mir im Kern von dem alten wie ehrenwerten Vorhaben geleitet zu sein, eine Orientierung über die Wirklichkeit in ihrer 84 85 86 87

ThuPh, 16. Vgl. alternativ schon WuTh, 304. Vgl. WuTh, 311 inklusive bes. Berücksichtigung von Anm. 615. Vgl. dazu exemplarisch STh I, 430. So Wolfhart Pannenberg in einem Interview: M. Bauman, W. Pannenberg, Wolfhart Pannenberg, Munich, West Germany, in: M. Bauman, Roundtable. Conversations with European Theologians, Grand Rapids 1990, 43–53, zit. 50. 88 STh I, 365.

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Totalität zu gewinnen89. Die Tatsache, dass diese Thematik an sich komplex ist und von einem Einzelnen, der erwägt, sich ihr zu widmen, sogar als überkomplex eingestuft werden könnte, ändert nichts an der Sinnhaftigkeit, sich derlei großen Fragen zu widmen. Sie haben orientierende und damit fundamentale Funktion für das Leben von Menschen, also für uns. Schließlich und endlich geht es um Sinnfindung: Wie ist das einzelne Leben im großen Ganzen der einen Wirklichkeit verortet? Welche Rolle kommt Gott dabei zu? Was ist Wahrheit und wie lasse ich mich von ihr leiten? Etc. Weil diese und viele andere Fragen wichtig sind, hat Pannenberg sich ihnen gewidmet. Es sollte immer wieder neu beunruhigen, wenn derlei (Grund-)Fragen des menschlichen Lebens nach dem Ganzen (nicht zuletzt durch Prozesse der Individualisierung und Globalisierung) in zunehmenden Maße aus dem Blick geraten90. Eher ermutigen sollte die Tatsache, dass eine eminent wichtige Frage wie die nach der Totalität des Weltwirklichen und der sie konstituierenden Größe (Gott) nicht dadurch obsolet werden kann, dass ich als Einzelner zu der wohl zutreffenden Einschätzung gelangen kann, sie (sei es alleine oder in Gesellschaft) nicht in Gänze beantworten zu können. Echte Demut kann durchaus die Grundlage bilden für immer wieder neue einsetzende Denkanstrengungen rund um Grundfragen des Lebens. Die wahre Leistung Pannenbergs dürfte jenseits der hier skizzierten metaphysischen Anteile innerhalb seiner Theologie liegen, und auch jenseits der Komplexitäten, mit denen Metaphysik betrieben wird und werden kann. Die wahre Leistung scheint mir darin zu liegen, dass Pannenberg über Jahrzehnte hinweg zahlreiche metaphysische Einzelfragen und Problemkonstellationen zu reflektieren wusste und damit der Theologie einen überaus bewundernswerten Dienst erwiesen hat. Vor vielen Jahren notierte Pannenberg folgenden Satz: „Es könnte ja sein, daß die Theologie heute, in der Weise einer kritischen Sichtung ihrer eigenen überlieferten Gotteslehre, das Erbe der Metaphysik mitzuverwalten hätte.“91

Wer diesen Satz nicht als Bürde oder Zumutung zu verstehen bereit ist, sondern vielmehr als Ansporn und ermutigende Aufforderung interpretiert, mag sich im Gedenken an Wolfhart Pannenberg womöglich selbst in die uferlosen Weiten der metaphysischen Gefilde stürzen und allerlei Geistreiches für sich selbst, aber auch für die daran Interessierten in der scientific community zu Tage befördern.

89 Eine Verabschiedung dieses Begehrens ist darum auch nicht seins. Vgl. ThuPh, 16. 90 Siehe dazu die luzide Darstellung des Wandels bei Franz-Xaver Kaufmann (Selbsterfahrung, Dauerreflexion und Religion, in: M. Knapp/Th. Kobusch (Hrsg.), Religion-Metaphysik(kritik)-Theologie im Kontext der Moderne/Postmoderne, 85–103, bes. 94 ff. 91 GSTh 1, 346.

Reinhard Leuze

Gottes Unendlichkeit und seine Selbstbegrenzung Bemerkungen zu einem schwierigen Verhältnis

Was ist das wahrhaft Unendliche? Lassen Sie mich mit der Bestimmung Hegels beginnen, ohne die wir einer Antwort auf diese Frage nicht näherkommen können. Die Vorstellung des Unendlichen, die dem Endlichen nur entgegengesetzt wird, ist noch nicht als wahrhaft unendlich gedacht, weil sie noch durch Abgrenzung gegen anderes bestimmt wird, durch Abgrenzung vom Endlichen nämlich. Das so gedachte Unendliche ist selber noch Etwas gegen Anderes, also endlich. Wahrhaft unendlich ist das Unendliche erst, wenn es seinen Gegensatz zum Endlichen zugleich übergreift. Es fällt nicht schwer, dieses wahrhaft Unendliche mit Gott zu verbinden1, wenn man einen Gott zu denken versucht, der sich offenbart. Denn indem Gott sich offenbart, muss er ja in etwas Endlichem zur Erscheinung kommen, weil seine Mitteilung für den Menschen sonst nicht fassbar wäre. Anders könnte Gott den Adressaten seiner Botschaft überhaupt nicht erreichen. So können wir bei allen monotheistischen Religionen, die ja zugleich Offenbarungsreligionen sind, bemerken, dass Gott den Menschen in etwas Endlichem nahekommt, so dass sie sich nicht damit entschuldigen können, mit etwas völlig Unverständlichem und Unbegreiflichem konfrontiert worden zu sein. Dieses Endliche nehmen wir in allen drei monotheistischen Religionen wahr, so unterschiedlich es auch sein mag, im Judentum in der Thora, im Christentum in dem Menschen Jesus Christus, im Islam in dem Wort Gottes, also 1 Pannenberg weist darauf hin, dass Unendlichkeit keine biblische Bezeichnung für Gott sei. Sie sei aber in vielen biblischen Gottesbezeichnungen impliziert, „besonders offenkundig in den Gott zugeschriebenen Eigenschaften der Ewigkeit, Allmacht und Allgegenwart.“ (Systematische Theologie, Bd 1 [STh 1], Göttingen 1988, 429). Dass Pannenberg die Aussage der Unendlichkeit mit der Behauptung der Heiligkeit Gottes verbindet, halte ich für einen verfehlten Ansatz. Während die Unendlichkeit Gottes das Umgreifende artikuliert, das alle Gegensätze in sich vereinigt, betont der Begriff seiner Heiligkeit Gott als den ganz Anderen, der gerade so seinen Unterschied zu allen Menschen deutlich macht. Natürlich setzt sich Gott in seiner Heiligkeit in eine Beziehung zu den Menschen, aber nicht als der Umgreifende, der alles in sich einbezieht, sondern als der Fordernde. Das von Pannenberg in seinen von der Konkordanz gespeisten Ausführungen zitierte Wort: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, Jahwe euer Gott“ (Lev 19, 2 STh 1, 431) lässt sich nur in diesem Sinn verstehen.

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dem Koran. Es stellt sich freilich die Frage, ob mit dieser Verbindung des göttlichen Wesens mit seiner Offenbarung schon der Begriff des wahrhaft Unendlichen erreicht wird. Das ist nicht ohne Weiteres der Fall. Wenn nämlich das Endliche, das den Inhalt der Offenbarung umschreibt, so von Gott distanziert wird, dass es ausschließlich als etwas von ihm Geschaffenes angesehen werden kann, also ganz und gar dem Bereich der Schöpfung angehört, wird das Endliche nicht vollständig in das Unendliche integriert, das demzufolge nicht im eigentlichen Sinn als das wahrhaft Unendliche bezeichnet werden kann. Es ist lohnend, unter diesem Gesichtspunkt die drei monotheistischen Religionen zu betrachten, was hier nur andeutungsweise geschehen kann. Im jüdischen Verständnis der Thora scheint mir eine vollständige Integration noch nicht erreicht worden zu sein. Das zeigt sich z. B. in der berühmten Stelle Sprüche 8, 22 ff., wo die Weisheit, die in der jüdischen Tradition mit der Thora gleichgesetzt wurde, sich selber vorstellt. Einerseits ist sie Teil der Schöpfung, der Anfang der Werke Gottes, andererseits geht sie aber der Schöpfung von Himmel und Erde voraus, ist von Ewigkeit her von Gott gebildet und findet so einen Zugang in das Innere des göttlichen Wesens.2 Im christlichen Verständnis scheint aufgrund der trinitarischen Bestimmung des einen Gottes die Integration des Endlichen in das Göttliche vollkommen gelungen zu sein. Man muss sich aber klarmachen, dass die Sichtweise der Arianer der christlichen Orthodoxie widersprach, indem sie Christus der Schöpfung zuordneten und so von Gott selbst distanzierten. Interessanterweise konfrontiert uns der Islam mit einer ähnlichen Problemstellung, wobei hier die Muʿtaziliten den Part der Arianer übernehmen, indem sie Wert darauf legen, dass das Wort Gottes von Gott geschaffen wurde, also der Schöpfung zugehört, während die vernünftige Orthodoxie, also die Ashʿariten, dieses Wort Gottes als ewig, das heißt immer zu Gott gehörig und deshalb nicht geschaffen betrachten. Wir sehen, dass auch in der islamischen Orthodoxie eine Verbindung von Endlichem und Unendlichem in dem Sinne, dass das Unendliche das Endliche umgreift, gedacht wird, und in diesem Sinn kann man auch hier vom wahrhaft Unendlichen reden. Allerdings hat das christliche Verständnis diese Verbindung um vieles radikaler gedacht, weil es das Wort Gottes nicht zum Buch werden ließ, sondern zu einem Menschen, der in seiner ganzen ihm als Menschen zukommenden Begrenztheit hier auf dieser Erde gelebt hat. Diese Radikalität wird besonders deutlich, wenn wir den Begriff der Unendlichkeit und den Begriff der Zeit miteinander verbinden. In der klassischen Form des monotheistischen Glaubens, also im Judentum und im Islam, stehen Gott als 2 Hier deutet sich bereits das Grundproblem aller monotheistischen Religionen an, das in der Frage besteht: Wie kann man den Glauben an den einen Gott in seiner Reinheit, also ohne jede Beigesellung (islamisch shirk) zur Geltung bringen?

Gottes Unendlichkeit und seine Selbstbegrenzung

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der Schöpfer der Zeit und der Mensch als ein endliches Wesen, das die Zeit an sich selber erfährt, einander gegenüber. Im Gottmenschen Jesus Christus aber vereinigt sich der Schöpfer mit seinem Geschöpf. Für Gott ist die Zeit nicht nur das erste seiner geschaffenen Werke, in seiner Inkarnation nimmt er die Endlichkeit des Menschen an, der von der Zeit als der Essenz seines Daseins geprägt wird, eines Daseins, das im Tod seine letztgültige Besiegelung findet. In dieser Vereinigung von geschaffener und erfahrener Zeit entfaltet sich eine neue Bestimmung des wahrhaft Unendlichen, die in den anderen monotheistischen Religionen keine Parallele findet. Um das zu erkennen, ist es notwendig. die Wahrheit des Inkarnationsglaubens ganz neu zur Geltung zu bringen. Diese Wahrheit wird verfehlt, wenn beispielsweise K. Barth vollmundig behauptet, Jesus als Mensch sei der Herr der Zeit. Das war er nun wirklich nicht! Bis zu seinem gewaltsamen Tod hat er die Zeit als das uns auferlegte Geschick empfunden, dem kein Mensch entrinnen kann. W. Pannenberg hat recht, wenn er nicht wie Barth den Ausdruck „Überzeitlichkeit“ für den Weg Jesu verwendet, sondern statt dessen den Terminus „Inzeitlichkeit“ vorschlägt.3 Nur fehlt auch bei ihm eine genaue inhaltliche Bestimmung dieses Begriffs. Es geht um die Zeit, die der Mensch an sich selbst erfährt, eine ihm vorgeordnete und übergeordnete Größe, die den Rahmen seiner Existenz vorgibt, also sein ganzes Leben von der Geburt bis zum Tod bestimmt. Wenn man das „vere homo“ des Konzils von Chalcedon ernst nimmt, muss man zugeben, dass die Zeiterfahrung des Menschen Jesus keine andere war als die aller anderen Menschen. Aus der Inkarnation folgt, dass wir uns Gott nicht als ein Wesen vorstellen dürfen, das in ewiger Selbigkeit die Geschichte von außen lenkt und betrachtet, sondern versuchen müssen, einen Gott im Werden zu denken.4 Dieses Werden bedeutet allerdings keine Veränderung, die durch Einflüsse von außen bestimmt würde; es ist ein selbstbestimmtes Werden, also ein Werden in Freiheit. Nun ist dieser Begriff gerade in der Theologie des 20. Jahrhunderts in pointierter Weise mit Gott verbunden worden. Er entfaltet da seine Wirksamkeit, wo wir die Zukunft als Modus der Zeit in unsere Überlegungen einbeziehen. Die Zukunft ist der unendliche Raum der Möglichkeiten Gottes, denen er in seiner Freiheit Gestalt geben kann, sofern sie nicht im Wesenlosen versinken. Pannenberg hat eine treffende Formulierung dafür gefunden, wenn er schreibt: „Keine Zukunft außer sich zu haben, sondern selber die Zukunft seiner selbst zu sein, das ist … eine Umschreibung vollkommener Freiheit.“5 Nur hat er in seiner eschatologischen Denkrichtung Gott eben diese Freiheit genommen, indem er in der Erscheinung 3 STh 1, 439. 4 Vgl. dazu meinen Beitrag: „Probleme des Monotheismus« (FS U. Köpf, Tübingen 2011, 261– 276). 5 STh 1, 443.

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Jesu Christi das Ende allen Geschehens vorprogrammiert, oder in seiner Terminologie gesprochen, antizipiert sah. Das ist die eschatologische Verfehlung, die ich in meinem Buch „Theologie der Religionsgeschichte“ näher erläutert habe.6 Aber die christlichen Theologen schaffen es nicht, Gott die Freiheit zu nehmen, die er sich selber vorbehalten hat, weil sie zu seinem Wesen gehört. Die Geschichte nach Christus bietet eindeutige Belege dafür, dass Gott sein Offenbarungshandeln mit der Kundgabe in Jesus Christus nicht abgeschlossen hat, sondern mit anderen Verlautbarungen seines Willens und, damit verbunden, auch seines Wesens, fortsetzt.7 Man muss sagen, dass der Unendlichkeit Gottes die prinzipiell unendliche Möglichkeit seiner Offenbarungen entspricht. In der in Jesus Christus erschienenen Verbindung von geschaffener Zeit und erfahrener Zeit ist Gott der wahrhaft Unendliche. Aber die Unendlichkeit als eine seiner vorzüglichen Eigenschaften schließt die unbegrenzte Potentialität seiner in der Zukunft möglichen Offenbarungen ein. Man darf das Ende der Geschichte nicht proklamieren oder antizipieren, bevor es nicht wirklich gekommen ist. Das käme einem unzulässigen Eingriff in das Handeln Gottes gleich, das er sich selbst vorbehalten hat. Man kann es auch anders sagen: Der eigene Glaube wird um so glaubwürdiger, je weniger er Gott zum ausführenden Organ der eigenen Vorstellungen erniedrigt. Er muss sich mit einer Bescheidenheit verbinden, welche die angemessene Antwort auf die Relation des endlichen Menschen zum wahrhaft Unendlichen ist. Allerdings darf man ein Problem nicht verschweigen, das sich in diesem Zusammenhang unweigerlich stellt: das Verhältnis, in dem die verschiedenen göttlichen Offenbarungen, also seine Kundgabe an Israel, seine Erscheinung in Jesus Christus und seine Verlautbarung an Muhammad zueinander stehen. Es ist ja nicht so, dass jeweils nur die eine monotheistische Wahrheit verkündet würde, wie der Koran simuliert; wir stellen trotz dieser tragenden Gemeinsamkeit gewichtige Unterschiede fest, die, etwa bei der Kritik des Korans an zentralen Aussagen der christlichen Lehre, den Eindruck erwecken, dass Gott sich selbst widerspricht. Natürlich lassen sich diese Widersprüche zum Teil auflösen, indem man sich klarmacht, dass jedes Wort Gottes zugleich ein Wort der Menschen ist, die es aufgeschrieben haben, also als uns überlieferte Sprache an der Endlichkeit des Menschen partizipiert.8 Trotzdem würde man an der Tiefe des Problems vorbei6 Berlin 2014, 19 ff. 7 Man kann keine sinnvolle Theologie der Religionsgeschte konzipieren, wenn man die Offenbarung Gottes an Muhammad verschweigt, sie als Kundgabe des Teufels deklariert oder in ihr lediglich ein religiöses Ereignis sieht, das für uns nichts bedeutet. Auch die Stellung der Baha¯‘ı¯s legt die Frage nahe, ob Gott nicht mit dieser Glaubensweise seine Kundgaben an die Menschen fortsetzt (vgl. Theologie der Religionsgeschichte 27 ff.). 8 So lässt sich eindeutig zeigen, dass der Koran die christliche Trinitätslehre missverstanden hat (vgl. „Christentum und Islam«, Tübingen 1994, 138 ff.) Die grundlegenden Differenzen bleiben aber bestehen. Sie lassen sich nicht aus dem Weg räumen, indem man eine falsche Interpretation der jeweils anderen Seite dafür verantwortlich macht.

Gottes Unendlichkeit und seine Selbstbegrenzung

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gehen, wenn man sich mit dieser Auskunft begnügen wollte. Das uns aufgegebene Dilemma besteht darin, dass wir die Einheit Gottes bekennen müssen, aber doch nicht in der Lage sind, von dieser Einheit zu reden, ohne Unterschiede namhaft zu machen, die wir nicht einfach unserem begrenzten Wahrnehmungsvermögen zuschreiben können, sondern notwendigerweise in Gott selbst verankern. Diese Unterschiede zeigen sich in dreifacher Hinsicht: Zunächst ergeben sie sich aus dem Versuch, einen Gott zu denken, der sich offenbart. Die Trinitätslehre hat diesen Versuch am konsequentesten unternommen und ist gerade so zu dem Resultat gelangt, die Einheit Gottes nur in der Dreiheit voneinander zu unterscheidender „Personen“ aussagen zu können. Ein Zweites kommt hinzu: Wir nehmen es wahr, wenn wir den offenbaren Gott mit dem Wesen Gottes konfrontieren, das für uns unergründlich und geheimnisvoll bleibt. Luther hat diese Dualität am eindrucksvollsten beschrieben, indem er den deus absconditus von dem deus revelatus zu unterscheiden wusste. Mit dem dritten Moment kommen wir zurück auf den deus revelatus selbst. Denn dieser deus revelatus zeigt sich ja nicht nur in der Erscheinung Jesu Christi, er zeigt sich auch in der Kundgabe des einen Gottes an das Volk Israel und in seiner Verlautbarung an den Propheten Muhammad. Natürlich soll nicht bestritten werden, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen Offenbarungen gibt, die über das Abstractum der göttlichen Einheit hinausgehen; genau so dürfen aber nicht die fundamentalen Differenzen verschwiegen werden, welche die Trennung der drei monotheistischen Religionen begründen. Sie alle auf den Willen des offenbaren Gottes zurückzuführen bedeutet, den Widerspruch in Gott selbst zu statuieren, statt den eigenen Glauben als den allein richtigen zu postulieren. So verwandelt sich bei näherem Zusehen der deus revelatus in den deus absconditus. Wir wissen nicht, warum der eine Gott sich in verschiedener Weise geoffenbart hat, wir müssen aber ihm die Ehre geben, indem wir bereit sind, eben das anzuerkennen. Damit sehen wir uns einem eigentümlichen Phänomen gegenüber: Das monotheistische Credo ist zwar die selbstverständliche Grundlage des eigenen Glaubens, der sich in dieser Hinsicht mit dem jüdischen und muslimischen Glauben verbindet. Diese Einheit steht zwar dem Bekenntnis offen, ist aber gedanklich nicht einholbar. Schon die Trinitätslehre der Alten Kirche lässt daran keinen Zweifel. Sie vermag die Selbständigkeit der einzelnen „Personen“ zu artikulieren, aber es fällt ihr schwer, die dahinter stehende göttliche Einheit verständlich zu machen. Und die Bemühungen der neueren Theologie sind hier keinen Schritt weitergekommen. In Luthers Gegenüberstellung von deus revelatus und deus absconditus verbirgt sich die lastende Schwere des Theodizee-Problems. Weder die Theologie noch die Philosophie haben eine einleuchtende Lösung dieses Problems zustande gebracht. Und auch die Verschiedenheit der göttlichen Offenbarungen lässt keinen zwingenden Schluss auf die göttliche Einheit zu. Damit verwandelt

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sich diese Einheit von einer selbstverständlichen Grundlage, von der jede Bestimmung auszugehen hat, zu einer Utopie, die niemand anders wahrmachen kann als Gott selbst. Ich habe von der eschatologischen Verfehlung gesprochen, welche die Zukunft der Regie des eigenen Glaubens übergibt, statt sie Gott zu überantworten, der die Zukunft selber ist. Das bedeutet aber nicht, dass die eschatologische Thematik gänzlich aus dem Kompendium der Dogmatik verschwinden sollte. Sie hat ihren Ort in der Entfaltung der christlichen Hoffnung. Es ist wichtig, diese Hoffnung von persönlichen Wunschbildern zu reinigen. Sie richtet sich primär, um nicht zu sagen ausschließlich, auf Gott selbst, und zwar, genauer gesagt, auf die Einheit dieses Gottes. Einer Einheit, die wir ahnen, die sich aber einer rationalen Erfassung verschließt. Erst dann werden wir aus der Widersprüchlichkeit der Welt, die auch die Widersprüchlichkeit des Glaubens umschließt, zu einer Klarheit gelangen, die nichts anderes ist als das Sein bei Gott. Ich komme auf den Beginn meiner Ausführungen zurück: Als der wahrhaft Unendliche integriert Gott das Endliche in sein eigenes Wesen. Als der wahrhaft Unendliche nimmt er verschiedene Möglichkeiten der Selbstbegrenzung wahr. In dieser Hinsicht irritiert er die Gläubigen, die meinen, das für sie Bestimmte sei das zu jeder Zeit und für jeden Ort allgemein Gültige. Unter jenem Aspekt erweist er sich aber als die Macht über alles, die das Endliche als das ihm gegenüber Andere nicht ausgrenzt, sondern als wesentliches Moment in ihr eigenes Leben einbezieht. Die Macht über alles erweist sich als Kraft der Vereinigung, die das scheinbar absolut Entgegengesetzte, Endliches und Unendliches, Mensch und Gott, zusammenfügt. Die Hoffnung der Christen richtet sich primär auf Gott selbst; genauer gesagt darauf, dass die im Gottmenschen Jesus Christus bereits erschienene Kraft der Vereinigung das Wesen Gottes im Ganzen bestimmt und durchwirkt, und zwar nicht nur in seinem Insichsein, das wir nicht begreifen können, sondern in einer Evidenz, die nach außen strahlt und an der wir im Jenseits teilhaben dürfen. Dann ist das Ende von allem gekommen: Die Trinität verschwindet in der Vielzahl ihrer wechselseitigen Relationen, sie hebt sich auf in die Einheit Gottes, der alles in allem sein wird. Der Gegensatz von verborgenem und offenbarem Gott löst sich auf, weil das eine von Gott ausströmende Licht das Dunkel des Unbegriffenen der Nichtigkeit anheimgibt. Und der Widerspruch der verschiedenen Offenbarungen enthüllt sich als Beschränkung unseres in Antinomien gefangenen Denkens, das keinen dauernden Bestand beanspruchen darf. Das Eschaton bedeutet nicht nur das Ende allen weltlichen Geschehens, es meint auch das Ende jeder Art von Theologie.

Ekkehard Mühlenberg

Der Konvergenzpunkt zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie bei Gregor von Nyssa*

Wolfhart Pannenberg hat für die christliche Theologie gefordert, sich dem philosophischen Gottesgedanken zu stellen, weil der christliche Gott universal gedacht werden muß. In seinem grundlegenden Aufsatz: „Die Aufnahme des philosophischen Gottesbegriffs als dogmatisches Problem in der frühchristlichen Theologie“1 hat er zu Recht den griechischen Gottesgedanken als die Frage nach dem Ursprung aller Wirklichkeit bestimmt. Das werde ich anders als Pannenberg entfalten, insbesondere halte ich mich an Platon und die platonische Tradition; denn Philosophie war für die frühen Christen der Platonismus mit seiner Lehre über Gott. Einen Konvergenzpunkt meine ich gefunden zu haben, der die enge Verbindung mit dem Platonismus und damit die Entstehung christlicher Theologie einsichtig machen kann. Für eine Untersuchung des Verhältnisses christlicher Theologie zur platonischen Philosophie bietet sich im griechischen Sprachbereich Gregor von Nyssa, der überlegene Denker im ausgehenden vierten Jahrhundert, an – sozusagen als Endpunkt einer längeren Geschichte. Für diese Zielrichtung habe ich bedeutende Vordenker. Vor das Hauptthema stelle ich zwei Abschnitte, die die Frage der Beziehung der christlichen Theologen zur griechischen (platonischen) Philosophie an Gregor von Nyssa exemplifizieren. Sie sollen das Verhalten des christlichen Theologen zur platonischen Philosophie einordnen helfen.

* Der Text ist der leicht veränderte Vortrag, den ich auf Einladung der Kollegen Jochen Althoff, Marietta Horster und Ulrich Volp am 18. 5. 2015 in Mainz gehalten habe. Ich habe den Vortrag auch einem Kreis Göttingen Kollegen vorgetragen, ebenfalls in Hamburg auf Einladung von Barbara Müller und zuletzt bei dem Pannenbergsymposion am 2. 10. 2015. Manche Fragen haben mich zu Neuformulierungen veranlaßt. 1 ZKG 70 (1959) 1–45 (= W. Pannenberg, Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1967, S. 296–345).

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1.

Ekkehard Mühlenberg

Platon im Werk Gregors von Nyssa

Fragt man, wie Gregor von Nyssa in seinem Werk Platon einordnet, so ist die Antwort: Ja, Gregor kennt Platon und nennt seinen Namen, aber es ist der Häretiker Eunomius, der sich Platons Ideen und Redeweisen bediente.2 Harold Cherniss legte 1930 in seiner PhD Thesis „The Platonism of Gregory of Nyssa“3 dar, daß Gregor Platon ausführlich gelesen und auch sehr gut verstanden hatte. Aber Cherniss vermerkte auch, daß Gregor die Quelle für sein eigenes Denken nicht nennt. Für diese Beobachtung gab er drei Erklärungen. Die erste Erklärung ist ein Urteil über das denkerische Bemühen Gregors. Cherniss nennt das denkerische Bemühen Gregors eine Übersetzung (S. 48) der platonischen Lehren über die göttliche Natur in die christliche Theologie. „Gregor sah in Platon das Instrument, mit dem eine christliche Theologie verfertigt werden konnte“ (S. 64). Nach Vorläufern wie Philon von Alexandrien und Origenes „war Gregor der erste Christ, dem es gelingen sollte, die christliche Lehre so mit dem Platonismus zu verweben, daß man durchaus sagen kann, er habe sich vom Christentum den Weg ebnen lassen, auf dem er zum Platoniker wurde.“ Unübertrefflich in englischer Formulierung: „Gregory was the first Christian who successfully imported into orthodox Christianity so much Platonism that one may say he invented the means of making Christianity an excuse for becoming a Platonist“ (S. 48).4 Die zweite Erklärung von Cherniss ist ein rationales Urteil über die kirchlichen Lehren bei Gregor. Kirchliche Lehren wie Sündenfall und Auferstehung der Toten, stellt Cherniss fest, seien in platonischer Sprache als Flicken an echt platonische Überlegungen in unlogischer Weise angeklebt. „Die Vernunft [d. h. die platonische Philosophie] ist tatsächlich fähig, sich selbst zu zerstören.“ (Reason is, indeed, mighty for her own destruction; S. 64). Die spezifisch 2 Siehe Contra Eunomium II 404–405; III 7, 33–34; Refutatio 48–49 ( Jaegerausgabe). 3 University of California Publications in Classical Philology, Berkeley CA, 1930, S. 1–92 (= New York 1971). Er schrieb gegen Carolus Gronau, De Basilio, Gregorio Nazianzeno Nyssenoque Platonis Imitatoribus, Diss. phil. Göttingen 1910, der Poseidonius für den Vermittler des Platonismus hielt. 4 Vgl. A. A. Mosshammer, Gregory of Nyssa and Christian Hellenism, in: Studia Patristica XXXII (1997) 170–195, hier S. 172: „…one of the factors in Gregory’s intellectual development is a tension between his thoroughly Greek understanding of the structure of reality and his conviction that Christianity somehow surmounts the barriers in that structure. At the heart of this tension is the anomalous status of mankind standing in the borderland between two opposite orders of reality, partaking of both, belonging to neither, liable like the men in Circe’s den to exchange one form for another. The process by which Gregory comes to terms with the anomaly does not represent the victory of his Christianity over his Hellenism, or of the Biblical worldview over the classical. What we witness rather is a process whereby Greek culture comes to express itself in Christian terms and enriches Christianity in the bargain.“ Vgl. ebenfalls John Rist, On the Platonism of Gregory of Nyssa, in: Hermathena 168 (2000) 129–151.

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christlichen Lehren seien also bei Gregor nicht nur unplatonisch, sondern irrationale Einbildungen. Drittens erklärt Cherniss, daß Gregors Übernahme spezifisch christlicher Lehren moralisch verwerflich sei. Denn Gregor habe sich der Autorität von Mutter und Schwester Macrina und großem Bruder Basilius gebeugt. In den Worten von Cherniss: Gregor „fürchtete alle Feinde und wandte sich gegen schon geschwächte Außenseiter. Dann konnte er sich als treuer Diener der Kirche zeigen und den Gegner vernichten, indem er mit der einen Hand die Abhängigkeit des Eunomius von Argumenten des Aristoteles und Platons geißelte, während er mit der anderen Hand die gleiche Quelle ausfischte“ (…in pointing with one hand of scorn at Eunomius for using arguments of Aristotle and Plato while with the other hand he filched from the same source; S. 63). Cherniss beurteilt den Platonismus Gregors in drei Perspektiven oder, richtiger, in drei Stufen. In Arbeiten, die Gregors Verhältnis zum Platonismus und darüber hinaus überhaupt das Verhältnis altchristlicher Theologen zum Platonismus untersuchen, erscheinen die drei Perspektiven von Cherniss in verschiedener Beurteilung. Verbreitet ist die Auffassung, daß der Platonismus das Modell für die Explikation christlicher Glaubensüberzeugungen lieferte. Das Modell kann nach außen gewandt sein, d. h. missionarisch an die Adressaten angepaßt,5 oder nach innen als Erklärfungshilfen für den christlichen Denker. Es kann den christlichen Denker selber betreffen, insofern er sich in der platonischen Philosophie Erklärungshilfen für seine eigenen Glaubensfragen sucht.6 Jean Daniélou deutete Gregor von Nyssa unter der programmatischen Überschrift: Platonisme et théologie mystique chez Grégorie de Nysse (Paris 1944). Ohne Cherniss zu kennen gab er eine ganz andere Antwort (S. 6–9). Er behauptete, daß der Platonismus, d.i. im wesentlichen der Neuplatonismus, Gregor erlaubte, seiner Glaubenserfahrung einen strukturierten Ausdruck zu verleihen. Das sei möglich geworden, weil Gregor in bewunderungswürdiger Weise platonische Gedanken und Begriffe umwandelte und mit neuen Inhalten füllte – in eine schöne Formel gefaßt: Gregor habe die Philosophie allegorisiert. Die Grundlage dafür sieht Daniélou in dem, was er „expérience personnelle“ nennt. Damit ist nicht nur (Gottes-)Erfahrung gemeint, sondern es ist ein persönliches Erleben eingeschlossen. Das ist eine gewagte Hypothese, weil Gregor 5 So vor allem Heinrich Dörrie; vgl. Die andere Theologie. Wie stellten die frühchristlichen Theologen des 2.–4. Jahrhunderts ihren Lesern die „Griechische Weisheit“ (= den Platonismus) dar?, in: Theologie und Philosophie 56 (1981) 1–46. Im Widerspruch dazu C.J. de Vogel, Platonism and Christianity? A mere Antagonism or a Profound Common Ground? in: Vigiliae Christianae 39 (1985) 1–62. 6 Vgl. J.H. Waszink, Bemerkungen zum Einfluß des Platonismus im frühen Christentum, in: Vigiliae Christianae 19 (1965) 129–162; Cajus Fabricius, Zu den Aussagen der griechischen Kirchenväter über Platon, in: Vigiliae Christianae 42 (1988) 179–187.

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nirgends auf ein persönliches Datum verweist, im Unterschied zu späteren Mystikern, allerdings auch im Unterschied zu Plotin.7 Heinrich Dörrie urteilt anders: Gregor denke mit Hilfe platonischer Gedanken, die er, wie Cherniss festgestellt habe, in überlegener Weise verwende, aber immer dort, wo der Platonismus seine konfessionelle Eigenart zeige, mache Gregor halt.8 Gemäß Daniélou und Dörrie sei überhaupt bei den frühen christlichen Denkern die Glaubenssubstanz vom Platonismus unberührt geblieben. Ähnlich urteilen auch die, welche einen „rechten Gebrauch“ zu beobachten meinen; das eigentümlich Christliche speise sich aus der Offenbarungsautorität der Bibel, der der Logos, die vernünftige Überlegung, zu Hilfe kommen solle.9 Ich frage, ob die Trennung von Glaubensaussage und Theoretisieren mit Hilfe eines platonischen Modells denkbar und ob der Befund überzeugend gedeutet ist. Die Antwort von Daniélou ist genial; er reduziert das eigentümlich Christliche auf ein persönliches (mystisches) Erleben ohne eigene Aussage. Der große Zusammenhang wird durch das Schlagwort „Hellenisierung“ angegeben. Adolf Harnack hatte 1886 seine Dogmengeschichte beschrieben als ein Aufdecken der Hellenisierung des Christentums; aller altchristlichen Theologie warf er Hellenisierung vor, zwar geschehen „auf dem Boden des Evangeliums“, aber das Evangelium überdeckend und im Dogma fast erstickend. Schließlich ist noch zu erinnern an die Rede von Papst Benedikt XVI. im Jahre 2006: ohne die von Harnack kritisierte Hellenisierung verliere die christliche Theologie ihre Substanz.

2.

Heidnische Philosophie bei Gregor von Nyssa

Was sagt Gregor selber über die heidnische Philosophie? Bei ihm ist es die ἔξω φιλοσοφία. Ich stelle zusammen, was sich in dem Traktat De vita Moysis findet und erörtere nicht die frühere10 Schrift De anima et resurrectione. 1. Es ist schon gesagt worden, daß die Häresie des Eunomius der Abhängigkeit von Aristoteles und Platon geziehen wurde. Seit Ende des 2. Jahrthunderts werden Häresien dadurch aufgedeckt, daß die abweichende Richtung auf Einfluß 7 Vgl. Enneades IV [6] 8,1 und Vita Plotini 23. 8 Vgl. seinen Artikel ‚Gregor von Nyssa‘ in: RAC 12 (1983) 893. 9 Vgl. Christian Gnilka, ΧΡΗΣΙΣ. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I : Der Begriff des „rechten Gebrauchs“. Basel/Stuttgart 1984. 10 Zu chronologischen Fragen vgl. A. A. Mosshammer, Time for All and a Moment for Each. The Sixth Homily of Gregory of Nyssa on Ecclesiastes, in: Stuart G. Hall (Hrsg.), Gregory of Nyssa, Homilies on Ecclesiastes. An English Version with Supporting Studies. Proceedings of the Seventh International Colloquium on Gregory of Nyssa (St Andrews, 5–10 September 1990), Berlin/New York 1993, S. 249–276. Zu ‚De anima et resurrectione‘ vgl. Henriette M. Meissner, Rhetorik und Theologie. Der Dialog Gregors von Nyssa De anima et resurrectione, Frankfurt am Main u. a. 1991 (Patrologia I), die das Modell des ‚rechten Gebrauchs‘ übernimmt.

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griechischer und damit heidnischer Philosophie zurückgehen soll; das fing in Abwehr der allenthalben grassierenden Gnostiker mit Irenäus an und wurde von Hippolyt perfektioniert. In Gregors Zeiten erschien das umfassende Häresienwerk des Epiphanius. Der Plotinschüler Porphyrius hielt fest, daß Origenes die griechische Philosophie ans Christentum verraten habe.11 Rückführung von Häresie auf griechische Philosophie ist jedesmal ernsthaft zu prüfen und nicht leichtsinnig als häresieologische Strategie abzutun. 2. Ich nenne vier explizite Äußerungen Gregors zur heidnischen Philosophie (ἡ ἔξω φιλοσοφία). In der Vita Moysis sind die Ägypter allegorisch die heidnische Bildung und Philosophie; Philon von Alexandrien hatte diese Allegorie eingeführt. Die Bildverbindungen sind köstlich. a) Die Pharaotochter, die das Kästchen mit dem Moseskind findet, ist kinderlos (Ex. 2,5–10), wie eben auch die heidnische Philosophie ohne Frucht bleibt und nur Wehen ohne Geburt hat. Aber Moses wird „heidnisch“ erzogen, jedoch von der leiblichen jüdischen Mutter gesäugt, wie eben die Erziehungsphase der Jugendlichen von den Regeln und Lebensformen der Kiche begleitet sein muß.12 b) Moses findet am Brunnen nicht nur die Töchter des midianitischen Priesters, sondern auch Hirten, die das Brunnenwasser für sich beanspruchen (Ex. 2,17). Moses vertreibt diese Hirten, weil sie unrechtmäßigen Gebrauch von den Quellen machen. Gregor liest daraus, daß die Häretiker, die unrechtmäßigen Gebrauch von der heidnischen Bildung machen, durch Widerlegung zu vertreiben sind.13 c) Moses heiratet die fremdstämmige Zippora, zeugt mit ihr einen Sohn, und Zippora beschneidet den Sohn (Ex. 4,20–26). Für Gregor bedeutet es, daß der heidnische Unterricht (ἡ ἔξω παιδεία) nicht ganz zu verwerfen ist. Die Teile Ethik und Physik können „Beischläferin“ für den Weg zu Gott werden, wenn das Kind dieser Verbindung „beschnitten“ wird, d. h. wenn die Eigenart des Fremden entfernt wird. Gemäß Gregor sind folgende Lehren verträglich: 1) Die Seele ist unsterblich, während entfernt werden muß die Metempsychosis; 2) es gibt Gott, während entfernt werden muß die Ansicht, daß Gott materiehaft (ὑλικός) sei; 3) Gott ist Schöpfer, während entfernt werden muß die Ansicht, er brauche zur Schöpfung die Materie; 4) Gott ist gut und mächtig, während entfernt werden muß die Ansicht, daß seine Macht durch die Heimarmene eingeschränkt werde.14

11 12 13 14

Siehe Eusebius, HE VI 19,1–11. GNO VII 1 p. 35,22–37,14. GNO VII 1 p. 38,1–39,5. GNO VII 1 p. 43,20–44,23; vgl. Origenes, In Genesin hom. VI 2 (p. 67,27–68,15 Baehrens), auch hom. XI 2 (p. 103,15–27) und hom. XIV 3 (p. 123,18–125,3).

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d) Die Israeliten fordern vor ihrem Auszug von den Ägyptern die goldenen Gefäße (Ex. 11,2). Gregor versteht unter den „goldenen Gefäßen“ den griechischen Unterricht in Ethik, Physik, Geometrie, Astronomie und Logik. Der „göttliche Tempel des Mysteriums“ soll, wie es zusammenfassend heißt, mit dem „Reichtum der Vernunft“ (ὁ λογικὸς πλοῦτος) geschmückt werden.15 In der früheren Schrift De anima et resurrectione schreibt Gregor, daß erst die vernünftige Einsicht aus dem sklavischen Befolgen eines biblischen Befehls eine freiwillige Zustimmung mache.16

3.

Der Anknüpfungspunkt

3.1

Die platonische Gotteserkenntnis

Gregor kennt Platons Bild von den Flügeln der Seele (Phaedrus 246sq.). In seiner frühen Schrift De beatitudinibus predigt er in der zweiten Homilie über Matthäus 5,5: „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden die Erde besitzen.“ Da in der ersten Seligpreisung (Mt. 5,3) schon das Himmelreich verheißen worden ist, räsonniert Gregor, daß die weitere Verheißung des Erdenbesitzes über den Himmel hinausführen müsse und also die überhimmlische Erde gemeint sein müsse. Nach oben wird deswegen verwiesen; dazu bedürfe es der Flügel, so daß die Seele von der Ankündigung des Himmelreiches beflügelt werde in der Begierde, nach oben zu gelangen.17 Aber in den späteren Schriften ersetzt Gregor das räumliche Bild von oben und unten, und das neue Bild ist das unendliche Laufen, wie es der Apostel sage: „Nicht, daß ich das Ziel schon erreicht habe. Sondern ich strecke mich aus zu dem, was vorne ist, und vergesse, was dahinten ist“ (Phil. 3,13).18 Dazu paßt der platonische Eros und das unaufhörliche Verlangen nach dem Schönen, das das Gute ist (thematisiert im Canticumkommentar). Dabei hat Gregor eine Einsicht Platons eingesehen, die in dem Schlagwort „Angleichung an Gott“ (ὁμοίωσις θεῷ) zusammengefaßt ist. In der Politeia formuliert Platon19 die Angleichtung an Gott so: Die Erkenntnis des wahrhaft Guten hat verwandelnde Kraft; die Erkenntnis des wahrhaft Guten macht den Menschen gut, sie bewirkt die Teilhabe am Guten, und sie macht glücklich wie selig. Die Idee des Guten ist die Ursache von Wahrheit und Er15 16 17 18

GNO VII 1 p. 67,9–69,3. GNO III 3 p. 5,12–6,6. GNO VII 2 p. 89,21–91,19. Vgl. den Aufsatz von Mosshammer oben Anm. 10. Die Berufung auf Philipper 3,13 unterscheidet die früheren Schriften von den späteren. 19 Ich habe vielfältige Literatur gelesen, folge aber niemandem direkt. Deswegen verzichte ich auf alle Literaturverweise.

Der Konvergenzpunkt zwischen platonischer Philosophie und christlicher Theologie

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kenntnis. Wörtlich bei Platon: „Das also, was dem Erkannten die Wahrheit schafft und dem Erkennenden die Kraft gibt, das sage nur, sei die Idee des Guten“ (Resp. 508e et sqq.). Die Ursache von Erkenntnis und Wahrheit ist transzendent, aber nicht als „Rückschluß aus der vorhandenen Wirklichkeit“, wie Pannenberg es sagte, sondern das Gute an sich schafft, ja erschafft die Erkenntnis und Wahrheit. Vorhanden ist die Scheinwirklichkeit und täuschendes Meinen (δόξα); es ist das Gute, das Erfassen gut macht und damit Erkenntnis verleiht, wie die Sonne Licht gibt und lichthaft macht. In der Erkenntnis, die das Gute, also Gott, schafft, wird der Erkennende gutgestaltig (ἀγαθοειδής); er hat das Gute in der Schau ergriffen und ist glücklich, ist zu den „Inseln der Seligen“ gelangt. Warum fragt Platon nach dem Wissen von der Idee des Guten, dem „größten Lehrgegenstand“ (τὸ μέγιστον μάθημα)? Er sagt, daß die sog. bürgerlichen Tugenden wie Gerechtigkeit u.s.w. erst „nutzbringend und heilsam“ werden, wenn man die Idee des Guten kennt. Denn diese „Tugenden“ können auch für Schandtaten nützlich werden, wie bei Tapferkeit und Selbstbeherrschung sofort einleuchtet. Bei Denken und Einsicht (φρόνησις) ist die Kategorie „nützlich“ nicht als Kriterium anwendbar. Denn die Einsicht und das Denken (φρόνησις), jedem Menschen von Natur aus eigen und unverlierbar, sind zweideutig; sie kann sich auf eine Untat richten, zu deren Gelingen zweifellos ein detailliert durchdachter Plan gemacht wird. Die Einsicht muß also umgewendet werden, statt auf das vermeintlich Gute auf das wahrhaft Gute; sie muß „gutgestaltig“ werden. Es fällt auf, daß Platon in der ganzen Erörterung nirgends von der verwandelnden Kraft des Guten spricht. Er kann auch von der verwandelnden Kraft des Guten nicht sprechen, da das wahrhaft Gute im Menschen erst zu wirken beginnt, wenn der Mensch die Idee des Guten geschaut hat. Deswegen wendet sich niemand von sich aus dem Licht oder dem Guten zu, sondern er wird dazu genötigt oder gezwungen (ἀναγκάζεται); selbst der durch die dialektische Gymnastik zum Philosophen Geübte muß noch gedrängt werden (ἀναγκαστέον), auf das zu blicken, „was allem Licht verleiht“ (Resp. 540a). Wer wollte wohl Besitz erwerben, wenn der Besitz nicht „gut“, ein Gut, ist? (Resp. 505a-d). Platon hält fest, daß alle Menschen nach dem Guten streben, es ergreifen und besitzen wollen und niemand sich mit einem nur dem Schein nach Guten begnügt, einem Blendwerk (fake auf Englisch). Sondern der Mensch will das haben, was auch wirklich gut, ein Gut, ist. Der Schein, dem nur das Meinen statt Erkennen entspricht, ist der Täuschung ausgesetzt und unterliegt ihr auch, zumindest wird der Bereich des Zweideutigen nicht verlassen. Wie kann es eintreten, daß ein Mensch das Wissen vom wahrhaft Guten erlangt? Platon hat darüber vielfältig reflektiert; Gregor von Nyssa und die christlichen Theologen vor ihm haben den Gedanken der Gotteserkenntnis, die Gott selber „darreichen“ muß, eingesehen.

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Platon deutet im Höhlengleichnis mit der Analogie des Sonnenlichtes, was durch das Wissen des Guten bewirkt wird. Der Eine, der ans Licht der Sonne gezogen wird, belehrt die Höhlenbewohner über die Wahrheit der Schatten, über deren Deutung die Höhlenbewohner miteinander wetteifern; er wird verlacht und schließlich getötet – Sokratesschicksal (Resp. 514a–517a). Eine simple Lehrvermittlung kann es nicht sein, sondern Bericht und Fragen erweckend (Resp. 518bc). Platon beschreibt in der Diotimarede den, der in dem Eros nach dem Schönen „plötzlich“ einen Blick auf das Schöne an sich erhascht, verwandelt wird und dann unablässig nach dem Schönen verlangt (Symposium 201d–212a). Platon hielt fest, daß die Wenigen, die „den Vater von allem“ erkennen können, über ihre Erkenntnis kaum vernünftige Mitteilung machen können, weil Jener „unsagbar“ ist, wie die späteren Platoniker sagten.20 Die Logik sagt, daß es keine Erkenntnis des Guten gibt, die durch Erkenntnisbemühungen erreicht wird. Die Logik sagt, daß die Ursache des Erkennens nicht im Erkennen erreicht wird. Platon gibt das selber zu, insofern die Ursache von Erkenntnis und Wahrheit erst erschlossen wird, nachdem diese Ursache selbst gesehen wurde (Resp. 517bc). Und die Analogie zur Sonne impliziert, daß doch kein Auge in die Sonne blicken kann, ohne geblendet zu werden,21 aber Platon meint, durch Übung (συνηθείᾳ) könne es gelingen (Resp. 516a). Vom späten Platon angeregt haben sich Platoniker wohl bemüht, das Bestimmen des wahrhaft Guten, der letzten Ursache und des ersten Prinzips dialektisch und logisch in seiner Transzendenz abzusichern – Schlagwort: negative Theologie. Es scheint, daß erst die sog. Mittelplatoniker seit Eudorus (1. Jh. v. Chr.) die Suche nach dem wahrhaft Guten mit der Frage verbunden haben, warum das Gute an sich unbedingt erkannt werden muß. Die negativen Gottesprädikate wie gestaltlos, unsichtbar, unbegreiflich stellen sicher erstens, daß Teilhaben am wahrhaft Guten keine Güter der sinnenhaften Welt meint, also nicht solches, wonach die menschliche Begierde lüstet, sondern in den geistigen Bereich der Tugenden gehört, und zweitens, daß Gott transzendent und Quelle des Denkens ist. Es bleibt aber eine Frage zu beantworten. Die frühen christlichen Theologen haben sie bearbeitet und haben in der Suche nach einer Antwort platonische Philosophie eigenständig weitergedacht. Die Frage rührt an den Urgrund der platonischen Philosophie, wie der Platonschüler Aristoteles festhält. Aristoteles formuliert: Platon „hat als einziger oder erster der Sterblichen in aller Klarheit aufgewiesen durch sein eigenes Leben wie durch methodische Darlegung,

20 Vgl. Timaeus 28c; Ep. VII 341c. Daraus entnahmen die Platoniker das Wort ἄρρητος, wie z. B. Alkinoos. 21 Vgl. Platon selber Phaedo 99c5–e1.

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daß der Mensch zugleich glücklich und gut wird. Jetzt aber ist das keinem jemals mehr zu fassen.“22

Das wahrhaft Gute bestimmt einen Menschen so, daß dessen Erkenntnis den Menschen gut macht und den Menschen mit Glück erfüllt. Das wahrhaft Gute ist also kein menschlicher Gedanke, sondern Ursprung und Ursache der Erkenntnis, was gut ist. Glücklich ist also der Mensch, der das Gute um des Guten willen tut; das ist Tugend, genauer: das ist vollkommene Tüchtigkeit der menschlichen Seele. Platon und Aristoteles wußten, daß das wahrhaft Gute nicht durch Belehren zur Erkenntnis wird, d. h. nicht durch Einfüllen eines Lehrstoffes.

3.2

Die christliche Aufnahme platonischer Gotteslehre

Die christlichen Gnostiker in Alexandrien, Basilides und Valentinus, haben es verstanden. Das sind diejenigen Theologen, über die Harnack urteilte, sie hätten das Christentum „akut“ hellenisiert. Von sich selber sagten diese christlichen Gnostiker, daß ihnen die Erkenntnis der Wahrheit, d.i. die Erkenntnis Gottes als des wahrhaft Guten, geschenkt worden sei. Sie sagten, daß Gutsein zu ihrer Natur geworden sei, so wie man bei Ballettschülerinnen sehen kann, wie einige wenige mit Anmut tanzen.23 Das darf so nicht sein, erwiderten die christlichen Theologen Clemens und Origenes in Alexandrien. Anstoß erregten die christlichen Gnostiker selber durch die Art, wie sie sich mit ihrer Gnosis von den Gläubigen der Kirche absonderten und wie die Schülergenerationen ihre Erkenntnis in mythologischen Erzählungen ausgestalteten. Nein, wandten die kirchlichen Theologen ein; das Gutsein und die Tugend sind das Produkt von eigener Entscheidung: Du mußt dich zum Guten entscheiden (gläubig werden) und dann daran arbeiten, daß du alles Nichtgute aus deinem Herzen entfernst. Der Jesusspruch dazu lautete: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Mt. 5,8). Das soll heißen: Wenn du mit eigener Mühe den Schmutz von deinem Herzen entfernt hast, wird dir das Glück der Gottesschau zur seligen Belohnung im Eschaton gegeben werden. Hier, so urteile ich, ist im Sinne 22 Jambi et elegi Graeci, ed. West, vol. II (Oxford 1972), S. 44/45 (= Carmina Frgm. 2 Ross). Vgl. Konrad Gaiser, Die Elegie des Aristoteles an Eudemos, in: Museum Helveticum 23 (1966) 84– 106. 23 Ich habe mich von Hermann Langerbeck, Die Anthropologie der alexandrinischen Gnosis, und: Paulus und das Griechentum, in: ders., Aufsätze zur Gnosis. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Hermann Dörries, Göttingen 1967 (AAWG.PH 69) anregen lassen; desgleichen von Barbara Aland, Was ist Gnosis? Studien zum frühen Christentum, zu Marcion und zur kaiserzeitlichen Philosophie, Tübingen 2009 (WUNT 239), darin besonders der Beitrag: Gnosis und Kirchenväter. Ihre Auseinandersetzung um die Interpretation des Evangeliums, S. 125–182 (ursprünglich 1978).

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christlichen Glaubensgutes von der Gnade zu viel abgestrichen und in platonischem Sinne übersehen, daß das Gute an sich, Gott, die Erkenntnis und Schau schafft, d. h. den Menschen verwandelt. Ein wenig an Präzision muß ich andeuten. Denn die geforderte Entscheidung ist natürlich im Hinblick auf den inkarnierten Gottessohn Jesus zu fällen, so daß Gott sein Abbild offenbart hat, um Gotteserkenntnis zu ermöglichen. Außerdem betonen sie, daß ohne Gottes Hilfe nichts zu erreichen ist. Clemens hält die Gotteserkenntnis mit dem Glauben für alle Christen gegeben, weil in der Taufe die Sünden vergeben werden und ein neues Leben beginnen kann; die Gnosis seiner Gnostiker in der Kirche ist ein Erwählungsgeschenk Gottes.24 Betreffs Origenes ist an dreierlei zu erinnern. Erstens stellt er fest, daß Gottes Wesen unerkennbar ist, wie ja auch die Sonne nicht direkt angeschaut werden kann.25 Zweitens hat sich Gott in dem inkarnierten Gott Logos geoffenbart, und mit Gottes Gnade kann in dem Fleisch Gewordenen dessen Herrlichkeit gesehen werden ( Joh. 1,14 u. Mt. 17,2).26 Drittens erkennt Origenes die drei philosophischen Wege zur Gotteserkenntnis an, bemerkt aber dazu, daß der Philosoph auf diese Weise nur „zu den Vorhallen des Guten“ gelange; um weiter zu gelangen bedürfe es der göttlichen Gnade (Mt. 11,27).27 Gott muß „das fleischerne Herz“ geben und „das steinerne Herz“ ausmerzen (Ez. 11,19– 20).28 Zu der Seligpreisung, daß ein reines Herz Gott schauen werde (Mt. 5,8), fügt Origenes hinzu, daß die menschliche Entscheidung nicht ausreiche, sondern, wer es will, müsse sich an Gott wenden und ihn bitten: „Schaffe, Gott, in mir ein reines Herz“ (Ps. 50,12 LXX).29 Plotin30 weiß und berücksichtigt Platons Einsicht von der verwandelnden Kraft des wahrhaft Guten. Er arbeitet Platons Einsicht in die Lehre von den Seinsstufen um (Ausfließen aus dem Einen) und sagt deswegen durchgehend: Das Wirken der Seele beruht auf der Kraft, die der Seele vom Geist, dem ihr Vorgeordneten und als Ursache Geltenden, innewohnt. Die Seele soll sich zurückwenden (ἐπιστροφή). Dazu hat sie die Kraft, deren Formel letztlich lautet: ἄφελε πάντα (Enn. V 3 [49] 17,38). Dann wäre die Seele beim Geist (νοῦς) und könnte die Geburtsbewegung des Geistes schauen, nämlich wie der Geist mit der 24 Immer noch lesenswert ist Robert P. Casey, Clement of Alexandria and the Beginnings of Christian Platonism, in: Harvard Theological Review 18 (1925) 39–101. 25 Vgl. De principiis I 1,5–6. Darauf hatte schon Xenophon hingewiesen: Memorabilia IV 3,13– 14, zitiert von Eduard Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formgeschichte religiöser Rede, Leipzig/Berlin 1929 (2. Aufl.), S. 24 f. 26 Vgl. Contra Celsum VI 67; VII 43. 27 Vgl. Contra Celsum VII 42–44. 28 Vgl. De principiis III 15. 29 Vgl. Contra Celsum VII 33. 30 Vgl. Pierre Hadot, L’union de l’âme avec l’Intellect divin dans l’expérience mystique plotinienne, in: G. Boss/G. Seel (Hrsg.), Proclus et son influence. Actes du Collque de Neuchâtel Juin 1985, Zürich 1987, S. 3–27.

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einen seiner beiden Kräfte auf das Eine schaut (VI 7 [38] 35). Diese Schau des Geistes hat keinen konkreten Inhalt; sie ist Eines als Einheit an sich. Sie ist „unbestimmte Schau“ (ἀόριστος θέα); sie ist gestaltlose Schau ohne Objekt. Die Seele als einzelne Seele kann diese Schau nur momentan erblicken, während der Geist immer auf das Eine schaut.

3.3

Gregor von Nyssa

Gregor von Nyssa denkt weiter darüber nach und kommt zu einer dem Platonismus seiner Zeit konkurrierenden Antwort. In dem Jesus der Evangelien ist das Gute in seiner vollkommenen Schönheit sichtbar. An diesem Ort wird sichtbar, daß die Trinitäts- und Inkarnationslehre auf der Gottgleichheit des Gottessohnes beharren mußte. In dem Entscheiden für den Glauben an Jesus wird das Gute aufgenommen. In der Glaubensverbundenheit mit Jesus hat der Christusgläubige Gott in sich. Durch die Glaubensverbundenheit mit Jesus wird nämlich die Schöpfungsgabe des Menschen wieder hergestellt; durch den Sündenfall hatte der Mensch die Ähnlichkeit mit Gott verloren. Die Seele wird also zum Abbild Gottes. Genauer heißt es, daß, wie die Sonne nicht erblickt werden kann, der Gottessohn als das Abbild Gottes wie in einem Spiegel in der Seele leuchtet und in seinem Seelenspiegel schaut der Mensch Gott. So wird die Seele Gott ähnlich, wird wieder gottgestaltig. Insofern sich im inneren Menschen die Schönheit Gottes spiegelt, ist es Gott, der das reinigende Tun wirkt. Gott wendet sich also dem Menschen zu, wenn der Mensch sich zum Glauben entschieden hat. Dazu nutzt Gregor ein fast frivoles Bild. Natürlich arbeitet der Mensch an seiner eigenen Verschönerung zur Vollkommenheit. Aber wie beim Eros, der einen Pfeil ins Herz schießt, so verwundet Gott wie durch einen Pfeil die Seele und senkt dem Glauben die Liebe zu sich ein. Gregor findet in Galater 5,6 die Bestätigung für seinen Gedanken; Paulus schreibt: „der Glaube, der durch die Liebe wirkt“. Einmal formuliert Gregor auch: Wer fest auf dem Felsen Christus steht, der ist wie beflügelt in seinem Laufen zu Gott.31 Vollkommenheit ist das beseligende Laufen ohne Ende, bewegt von dem Eros zur Schönheit des Guten, genährt von den Gütern, die der unendliche Gott unausschöpflich immer neu aus sich entläßt. So bleibt die platonische Teilhabe erhalten und bewahrt den Unterschied zwischen Gott, dem Unerschaffenen, und dem Menschen, dem Erschaffenen. Aber Gregor ist letztlich großzügig. Ins Himmelreich kommen auch die, welche ihre Tüchtigkeiten, sprich Tugenden, durch Furcht vor Strafe oder Erwartung von Lohn bewirken, die nur Gläubigen. Aber in untergordneten Rängen wie Nebenfrauen. Die Braut selber ist die von Liebe Erfüllte. Gott muß die Seele 31 De vita Moysis; GNO VII 1 p. 118,18–24.

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Ekkehard Mühlenberg

mit dem Pfeil der Liebe verwunden, aber er tut es auch, letztlich in der Apokatastasis, wenn Gott alles in allem sein wird.

Felix Körner SJ

Wir glauben und bekennen denselben Gott, wenn auch auf verschiedene Weise Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie und im Denken Wolfhart Pannenbergs

Der Beitrag zeigt, wo islamische Glaubensformulierungen in Schwierigkeiten geraten, weil sie Gott wie ein Subjekt vorstellen, das sich selbsttätig verwirklicht – Schwierigkeiten, die ein personales Gottesverständnis lösen kann, bei dem das Gegenüber nicht das Entgegenstehende bleibt.1

Lassen sich die Gottesbegriffe vergleichen, wie sie Islam und Christentum anbieten? Besonders kontrovers wird die Frage sein, worin Gottes Einheit besteht. Auf dem Weg zu einer Antwort werden wir die Theologie der Namen Gottes darstellen, dann zeigen, wie klassisch-islamische Autoren göttliche Einheit darstellen, und schließlich einen Gedankengang Wolfhart Pannenbergs einbringen. Vergleiche zwischen Christentum und Islam misslingen häufig. Ein Grund dafür ist die Vorstellung, dass der Jesusglauben, sowie er sich auf Griechisch äußert, etwas Rationaleres ist als alles, was aus einer arabischsprachigen Welt kommt. Wenn man griechisch-lateinisches Denken dem semitischen gegenüberzustellen beginnt, landet man eben leicht bei allzu platten Kontrastierungen. Das Abendland gilt dann als Denkraum abstrakter Begriffe im Gegensatz zu einer beduinisch-konkreten Lebenswelt. Derartige Gegenüberstellungen entsprechen aber nicht dem Befund, wenn man das Neues Testament mit dem Koran vergleicht oder deren Verarbeitung in den jeweiligen theologischen Traditionen.

1.

Die Begriffsfreudigkeit des Koran

Dem Neuen Testament geht es, wie der gesamten Bibel, zuerst um das Bekenntnis von Ereignissen. Der Herr hat Großes an uns getan (Psalm 126,2). Die biblische Schilderungsweise seiner Großtaten wandelt sich, je nach dem, wer wann für wen schildert. Das scheint auch der frühen Kirche unproblematisch zu sein. Denn sie 1 Frühere Fassungen wurden von Rotraud Wielandt, Richard Brosse, Thomas Oehl, Friederike Nüssel und Medard Kehl gegengelesen, für deren Verbesserungsvorschläge ich sehr dankbar bin.

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Felix Körner SJ

autorisiert einen mehrfach pluralen Kanon: die Schriften Israels, die für die Jesusanhänger nach Ostern eine neue Bedeutung haben, und die neu verfassten Jesuszeugnisse; diese sprechen sich als äußerst unterschiedliche Genres aus – und, besonders erstaunlich für Muslime, die Kirche erkennt gleich vier Evangelien an. Sie sah offenbar den Sinn des Zeugnisprinzips: Sollen Ereignisse bezeugt werden, machen die Vielzahl der Gesichtspunkte und sogar die Unterschiedlichkeit der Einzelheiten das Dargestellte glaubwürdiger und plastischer. Dem Koran geht es stärker um genaue, ja einheitliche Formulierung. Öfter weist er an, was man sagen und vor allem „nicht sagen“ soll. Einschlägig ist Sure 4:171. Der Vers enthält gleich zweimal den verneinten Imperativ la¯ taqu¯lu¯ – „sagt nicht!“: Ihr Leute der Schrift! Treibt es in eurer Religion nicht zu weit und sagt gegen Gott nichts aus, als die Wahrheit! Christus Jesus, der Sohn der Maria, ist nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das er der Maria entboten hat, und Geist von ihm. Darum glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht (von Gott, dass er in einem) drei (sei)! Hört auf (so etwas zu sagen)! Das ist besser für euch. Gott ist nur ein einziger Gott. Gepriesen sei er! (Er ist darüber erhaben) ein Kind zu haben. Ihm gehört (vielmehr alles), was im Himmel und auf der Erde ist. Und Gott genügt als Sachwalter.2

Warum legt der Koran so viel Wert aufs richtige Sprechen? Er ist Material für eine Debatte, er entstammt der Debatte, ja, er ist selbst Debatte. Zur Debatte steht vor allem die Gotteslehre. Koranischer Hauptakzent ist die Einheit Gottes. Mit Juden und Christen und gegen die nicht-monotheistischen Araber vertritt der Koran, Alla¯hu, la¯ ʾila¯ha ʾilla¯ huwa (20:8) – „Es gibt nichts Anbetungswürdiges außer Ihm: Gott“; aber nicht nur ‚Heiden‘, auch Juden und Christen können, wie soeben gehört (4:171), als nicht konsequent monotheistisch gemaßregelt werden. Um die Gotteslehre richtigzustellen, teilt Gott im Koran seine „Namen“ mit; das ist der Verkündungsanspruch Muhammads. Was aber sind die koranischen ˙ Namen Gottes genauerhin?

2.

Theologie in Namen

Hierfür ist zuerst Traditionsgeschichte zu treiben, dann Koranphilologie und schließlich systematische Theologie. Wie ließe sich also – erstens – die Geschichte der Namenstheologie an der Schwelle zwischen Bibel und Koran nachzeichnen? 2 Ya¯-ʾahla l-kita¯bi la¯ tag˙lu¯ fı¯ dı¯nikum wa-la¯ taqu¯lu¯ ʿala¯ lla¯hi ʾilla¯ l-haqqa ʾinnama¯ l–ması¯hu ʿI¯sa¯ ˙¯ minu¯ bnu Maryama rasu¯lu lla¯hi wa-kalimatuhu¯ ʾalqa¯ha¯ ʾila¯ Maryama˙ wa-ru¯hun minhu fa-ʾa ˙ ¯ lla¯hu ʾila¯hun wa¯bi-lla¯hi wa-rusulihı¯ wa-la¯ taqu¯lu¯ tala¯tatun-i ntahu¯ hayran lakum ʾinnama ¯ ¯ hidun subha¯nahu¯ ʾan yaku¯na lahu¯ waladun lahu¯ ma¯˘fı¯ s-sama¯wa¯ti wa-ma¯ fı¯ l-ʾardi wa-kafa¯ bi˙ ¯ hi wakı¯lan. ˙ – Hier und im Folgenden wird stets die wissenschaftliche Übersetzung ˙ von Rudi lla Paret zurate gezogen.

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

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Zur sprachlichen Identifizierung einer individuellen Wirklichkeit kann man einen Eigennamen verwenden. Dann steht vorerst nicht die Vokabel-Bedeutung im Blick, sondern das Deuten auf dieses Einzelne. Wie ist es im Bezug auf göttliche Wirklichkeiten? Wenn Israel seinen Gott meint, kann es das – eigentlich ja auch für andere Gottheiten verwendbare – Wort ʾel einsetzen; oder den nicht auszusprechenden geheimnisvollen Namen YHWH. Dieser Eine wird so als der einzige Gott bekannt; einzig zuerst im Sinne von ‚nur von ihm erhoffen wir uns Hilfe, und nur ihm dienen wir‘ – später dann auch im Sinne von ‚es gibt gar keine andere Gottheit‘. Schon die Hebräische Bibel kennt jedoch auch gewöhnliche Adjektive, die sich auf Verschiedenes anwenden lassen, die aber dann substantiviert zur Nennung YHWHs dienen; etwa Jesaja 40,25: „Mit wem wollt ihr mich vergleichen? Wem sollte ich ähnlich sein?, spricht der Heilige.“3 Die Gottesnamen der Hebräischen Bibel stehen, soweit ich sehe, gewöhnlich ohne Artikel.4 Das Neue Testament kennt – wie die Septuaginta – substantivierte Adjektive mit Artikel als Gottesname, prominent im Magnifikat: „der Mächtige hat Großes an mir getan“. Der Koran verwendet für den Schöpfer und Richter von allem einen Eigennamen, der aber einfach aus der arabischen Variante des hebräischen ʾel und dem bestimmten Artikel zusammengezogen ist: Alla¯h aus al-ʾila¯h, „die Gottheit“. Auch arabischsprachige Christen verwenden diesen Gottesnamen, Alla¯h. Agnus Dei heißt etwa in Bibel und Liturgie hamal Alla¯h. ˙ Substantivierte Adjektive, die göttliche Eigenschaften benennen, dienen im Koran nicht der Benennung oder gar der tabuschützenden Umschreibung Gottes, sondern der Beschreibung. Es handelt sich also zuerst nicht um Namen im strengen Sinne, sondern um Antworten auf die Frage, wie Gott ist. Es gibt jedoch eine herausragende Ausnahme. In mittelmekkanischer Zeit taucht ar-Rahma¯n ˙ zur Gottesbenennung auf; und dies ist eindeutig ein Name. Der Koran findet ihn biblisch und außerbiblisch vor. Im Arabischen ist er offenkundig eine Nachbildung des nachbiblisch-hebräischen ha-Rahaˇma¯n: „der Barmherzige“. Mit die˙ 3 Wǝ-ʾæl-mî tǝdammǝyu¯nî, wǝ-ʾæsˇwæh, yo¯mar qa¯dôsˇ. ¯ ¯ ¯ 4 Im Falle von qa¯dôsˇ könnte die Artikellosigkeit noch als Sonderfall begründbar sein, nämlich ¯ als Kurzform für qǝdôsˇ Yis´ra¯ʾel, wo der Artikel ja wegen der Konstruktusform vor dem re¯ gierten Nomen in den semitischen Sprachen ohnehin entfällt, obwohl die richtige Übersetzung aber lautet: „der Heilige Israels“. Schon die Septuaginta übersetzt so, mit Artikel übersetzt; die drei Vorkommen sind Jesaja 40,25, Habakuk 3,3, Ijob 6,10. Jedoch scheinen substantivierte Adjektive in der Hebräischen Bibel in der Funktion von Gottesnamen regelmäßig ohne Artikel zu stehen. Zwei Grenzfälle seien aber erwähnt, in denen das Adjektiv mit Artikel Apposition sein könnte, aber doch wohl eher schon ein Gottesname ist. Jeremia 32,18: ha-ʾel hag-ga¯dôl ¯ hag-gibbôr YHWH sǝba¯ʾôt ˇsǝmô – man könnte verstehen: „Gott, der Große, der Mächtige: Herr ¯ ¯ ˙ der Heerscharen ist sein Name“; sowie das bereits oben zitierte haq-qa¯dôsˇ in Jesaja 5,16, wo ha¯ʾel haq-qa¯dôsˇ niqda¯ˇs nicht als „der heilige Gott erweist sich als heilig“ verstehen, sondern als ¯ „Gott, der Heilige, erweist sich als heilig.“

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Felix Körner SJ

sem Wort nimmt die koranische Namenstheologie nun ihre theologischen Eigenakzentuierungen vor: Der, der Rahma¯n genannt wird, heißt nicht nur so, etwa ˙ als Euphemismus für einen in Wahrheit schrecklich Unbarmherzigen; sondern er ist tatsächlich barmherzig. So entsteht m. E. die Doppelung ar-Rahma¯n ar˙ rah¯ım.5 Außerdem setzt der Koran damit den Gott seiner Verkündigung ineins ˙ mit dem von Mose Verkündeten; und damit ist bereits eine dritte Aussage koranischer Namenstheologie gemacht: Die verschiedenen „Namen“ meinen alle denselben. Das sagt Sure 17:110 ausdrücklich: „Sag: Ihr mögt zu Gott beten oder zum Barmherzigen. Wie ihr ihn auch nennt (wörtlich als wen ihr (ihn) auch (im Gebet) anruft), ihm stehen (all) die schönen Namen zu.“ Diese Formulierungsvorgabe wurde zur Bezeichnung der traditionell-islamischen Aufzählungen von Gottesnamen. Die Liste heißt nämlich al-asma¯ʾ al-husna¯ – „die schönsten Na˙ men“. Häufig nennt man 99 Namen. Sie lassen sich gesondert rezitieren oder kalligraphisch ausführen, was die muslimische Frömmigkeit und Kunst auch bald nach der Verkündigung des Koran tut. Jedes Element der Liste kann man später als wirklichen Gottesnamen nehmen, also mit dem Ziel verwenden, von Gott zu reden. Das zeigt sich in den vielen muslimischen Personennamen, die nach dem Schema gebildet sind ʿAbd al-… also „Diener des …“ plus eine Bezeichnung aus der Liste. Jeder der so gebildeten Männernamen bedeutet im Grunde ʿAbdalla¯h, „Diener des einen Gottes“, setzt aber jeweils einen Akzent. Es klingt ja anders, ob einer ʿAbdalhalı¯m, „Diener des ˙ Milden“, genannt wird oder ʿAbdalfatta¯h: „Diener des Eroberers“. ˙ Was lässt sich an der Liste der „schönsten Namen“ beobachten? Nur wenige der koranischen Gottesnamen sind angestammte Substantive, wie „der König“, „der Friede“. Meist handelt sich um Adjektive, die durch Alleinstellung per Artikel substantiviert werden, wie „der Erhabene“. Bei all diesen Namen deutet schon der determinierte Singular auf die Einzigkeit Gottes hin.6 Die wenigsten islamischerseits aufgezählten Namen sind Metaphern, wie sie dagegen in der Bibel häufig vorkommen – etwa „mein Hirte“ (Psalm 23,1). Möglicherweise verweisen aber aus Adjektiven gebildete koranische Gottesnamen auf metaphorisch gebrauchte biblische Konkreta, etwa „der Kompakte“ (as-samad) auf Gott als „Fels“ (Psalm 62,3).7 Viele ˙˙ Bezeichnungen sind semantisch und etymologisch alttestamentlich belegbar. Ein 5 Vgl. Felix Körner, „Theologie der Barmherzigkeit. Ein christlich-islamisches Gespräch“, in: George Augustin (Hg.), Barmherzigkeit leben. Eine Neuentdeckung der christlichen Berufung, Freiburg 2016, S. 251–261. Der Rückgriff auf eine sprachlich verwandte, aber vorzeitige Tradition, in der Gott schon ebenso bezeichnet wurde, ließe sich im Deutschen unter Zuhilfenahme des Althochdeutschen nachahmen: „der barmherzige Armherzı¯ge“, oder auf Italienisch-plus-Latein: „il Misericors misericordioso“. 6 Darauf macht bereits Daniel Gimaret, Les noms divins en Islam. Exégèse lexicographique et théologique, Paris 2007, S. 191 aufmerksam. 7 Raimund Köbert, „Das Gottesepitheton as-samad in Sure 112, 2“, in: Orientalia, N.S. 30 (1961), ˙˙ S. 204–205.

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

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Beispiel ist al-quddu¯s: Es enthält dieselben drei Radikale wie ha-qa¯dôsˇ ( Jesaja 5,16); andere sind stammgleich mit alttestamentlichen Bezeichnungen bei Bedeutungsverschiebung, etwa al-gˇabba¯r, „der Bezwinger“. Das Wort weist dieselben Radikale auf wie das hebräische gabôr: „Held“. Eine weitere Parallele zur Hebräischen Bibel sind die Namenspaare. Am Sinai offenbart sich Gott ja als „Barmherziger und Gnädiger“ (Exodus 34,6). Das Bezeichnungspaar ist assonant: ʾel rahûm wǝ-hanûn. ˙ ˙ Für die sogleich zu entfaltende Theologie ist wichtig, dass die Namen der islamischen Liste häufig ebenfalls in Paaren angeordnet sind. Ein solches Paar kann gleichfalls assonant sein, wie al-wa¯gˇid und al-ma¯gˇid („der Vorhandene“ und „der Herrliche“) – oder kontrastierend, wie „der Offenbare“ und „der Verborgene“ – oder bedeutungsnah wie „der Reiche“ und „der Reichmacher“ (al-g˙anı¯, al-mug˙nı¯); dies auch ohne Wurzelgleichheit: al-hakam „der Richter“ und al-ʿAdl: „der Gerechte, die Ge˙ rechtigkeit“; einmal auch unmittelbar einer biblischen Paar-Vorlage folgend: al-hayy ˙ und al-qayyu¯m – „der Lebendige“ und „der Selbständige“; die beiden stehen sowohl in den traditionellen Listen wie auch schon im Koran zusammen. Dieser greift in dem feierlichen Thronvers, Sure 2:255, das aramäische ʾäla¯ha¯ hayya¯ wǝ-qayya¯m aus ˙ Daniel 6:27 auf: „der lebendige und beständige Gott“, islamischerseits dann als „lebendig und selbständig“ verstanden; und einmal schließlich als Paar von zwei mehrwortigen Namen: ma¯lik al-mulk und du¯ l-gˇala¯l wa-l-ʾi-kra¯m: „der das König¯ tum innehat“ und „dem Majestät und Großzügigkeit eignen“. Eine letzte Bemerkung noch zur Liste der traditionell 99 Namen: Die allermeisten Bezeichnungen, die man traditionell-islamisch als Gottesnamen aufzählt, sind koranisch belegbar. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Name alma¯niʿ, „der Verhinderer“. Er kommt nicht im Korantext vor. So vorbereitet, lässt sich nun eine systematische Namenstheologie entwerfen. Schon im vorislamischen Christentum gab es eine Liste von Gottesnamen als Strukturvorgabe für Theologie, nämlich in einer Schrift des 5. Jahrhunderts de Divinis Nominibus des sogenannten Dionysius Areopagita.8 Lateinische Theologen des Hochmittelalters trugen ihre Gotteslehre öfter in Form eines Kommentars zu diesem Werk des Pseudo-Dionysius vor. Sie schrieben in einer Zeit, die der islamischen Anregung viel verdankte, konnten dabei aber eben zugleich auf eine christliche Eigenquelle zurückgreifen. Eine Theologie aufgrund von Namenslisten ist christlicherseits also sicher kein Import aus dem Islam; einen Boom erlebt sie in der lateinischen Theologie aber erst aufgrund der Begegnung mit der islamischen Tradition. Gottesnamen können auf drei Ebenen Auskunft geben. Sie können die Frage „Wie ist Gott?“ beantworten, „Was ist Gott?“ oder „Wer ist Gott?“. Man wird das übrigens nicht immer auseinanderhalten können oder gar sollen.

8 Corpus Dionysiacum I. De Divinis Nominibus, hg. von Beate Regina Suchla, Berlin 1990.

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Sprechen Namen davon, wie Gott ist, dann können sie Eigenschaften benennen, die im Prinzip auch anderem zukommen,9 oder Merkmale, die nur Gott trägt, etwa alles, was Schlechthinnigkeit benennt, wie „die Wahrheit“, „der Höchste“, oder aber das, was nur Gott kann: Er allein ist „der Schöpfer“. Jedoch sagen Gläubige von Gott, wie er ist, nicht unbedingt, um ihn zu beschreiben; was sie, wenn sie so sprechen, tun, ist häufig ein Gebetsgeschehen: Sie huldigen Gott, stellen sich seine Erhabenheit vor Augen, suchen bei dem so Überlegenen Zuflucht und Trost. Dass es sich um Ehrerbietung handelt, wenn man Gott bei seinen „schönsten Namen“ nennt, legt ja schon der zitierte Koranvers 17:110 nah: „Ihm stehen (all) die schönen Namen zu.“ Dort hatte es aber auch bereits geheißen: „Ihr mögt zu Gott beten oder zum Barmherzigen. Wie ihr ihn auch nennt …“. Das bedeutet offenkundig noch etwas anderes. Man kann noch so verschiedene Eigenschaften aufzählen – es ist doch immer der eine, einzige Gott; andere Gottheiten gibt es nicht. Die Aufzählung verschiedener Namen ist also eine Weise des Einheitsbekenntnisses. Wenn man sich zu Gott bekennen will, wird man sich auch fragen müssen, was man damit überhaupt tut. Interessanterweise können die Namen Gottes selbst darüber Auskunft geben, was das sein soll, jemanden als Gott anerkennen. Wenn man als Gottesnamen etwas sagt wie „der die Herrschermacht innehat“ (ma¯lik almulk), erklärt man auch, was das eigentlich ist, ein Gott. Dasselbe versuchen etwa die Antworten Bultmanns und Luthers auf die Frage, was das ist – Gott: „die alles bestimmende Wirklichkeit“ und „worauf du dein Herz hängst und verlässest“.10 Außer dem Wie können die Namen also auch dazu dienen, das Wer zu benennen. Dann wird die spezifisch monotheistische Frage beantwortet, wem aus den Kandidaten für Anbetung unser Vertrauen, unsere Verehrung, unser Gehorsam gilt. So sagt „Der Herr ist mein Hirt“ wohl zuerst einmal nicht: Ein treffender Ausdruck für meine religiöse Erfahrung wäre die Hirtenmetapher. Die Aussage ist eher: Andere mögen sich der Führung eines irdischen Königs oder eines anderen Gottes anvertrauen, mein Hirt aber ist YHWH.11 Wer einen Gottesnamen nennt, erklärt damit also seine Zugehörigkeit zu ihm, schließt möglicherweise sogar die Existenz, jedenfalls die Anbetung anderer aus – bekennt sich zu diesem Gott. 9 Dem Koran zufolge ist Gott barmherzig (passim), aber auch Menschen können Barmherzigkeit haben, etwa die Jesusanhänger (vgl. Sure 57:27). 10 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt 1977, S. 304 sowie Martin Luthers Erklärung des ersten Gebotes in seinem Großen Katechismus. 11 Vgl. z. B. Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger, Die Psalmen I. Psalm 1–50, Würzburg 1993, S. 153. Wie in der Kommentarreihe üblich, ist der Text der Einheitsübersetzung abgedruckt. Er lautet im Falle von Psalm 23,1: „Der Herr ist mein Hirte“. Die Autoren korrigieren den Ausgangstext nun aber und übersetzen statt dessen umgekehrt und mit verdeutlichender Einfügung: „Mein Hirte ist der Herr (und niemand sonst!).“

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

333

Wie geht nun die islamische Theologie mit den Gottesnamen um? Wichtig ist ihr die Frage: Wenn wir Gottes Namen im Sinne seiner Eigenschaften kennen, ist seine Freiheit dann nicht eingeschränkt? Darauf hätte die theologische Tradition des Islam ja zuerst einmal sagen können, dass die erwähnten kontrastierenden Paare Spielraum geben: Gott ist sowohl der Offenbare wie der Verborgene, sowohl Lebens- wie Todbringer. Damit ist er nicht durch Namen festgelegt. Die klassischislamische Theologie geht aber anders vor:12 Durch Namenskundgabe hat Gott nicht etwa sein Handeln festgelegt, sondern nur seine Namen. Gottes Festlegung (tawqı¯f, „Aufstellung“) bezieht sich darauf, wie die Menschen Gott nennen sollen, nicht darauf, was sie nun von ihm erwarten können. Hier besteht offenbar ein Kontrast zur biblischen Namenstheologie. Für Israel enthält der Name Verheißung; daher handelt Gott „treu seinem Namen“ (Psalm 23,3), und Israel kann dankbar beten: „Die Huld des Herrn will ich preisen, die ruhmreichen Taten des Herrn, alles, was der Herr für uns tat, seine große Güte, die er dem Haus Israel erwies in seiner Barmherzigkeit und seiner großen Huld“ ( Jesaja 63,7). Für die islamische Mehrheitstheologie sind Gottes Namen weder ein göttliches Versprechen, noch auch eine menschliche Erinnerung an die geschichtlichen Großtaten Gottes. Man kann nicht sagen, er heißt so, weil er sich als Barmherziger, Gerechter etc. erwiesen hätte. Was die konkrete Einlösungsbedeutung der in den Namen genannten Eigenschaften ist, wissen die Menschen auch gar nicht. Hier gilt der koranische Kehrvers „Und Gott weiß; ihr aber nicht.“13 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass islamischerseits Namen regelmäßig zur Darstellung eines Kernstücks der Glaubenslehre dienen: der theologischen Gotteslehre. Sie ist im Islam ausdrücklicher- und typischerweise begrifflich, insofern sie von „festgelegten“ Gottesbezeichnungen ausgeht und fragt, was sie bedeuten. Ist Gottes Unendlichkeit nun einer der 99 Namen? Nein; von ihr sprechen die Namenslisten nicht. Gottes Unendlichkeit kommt erst in – erstaunlichen – theologischen Überlegungen vor. Wie kann Gott „alles“ wissen? Dann kennt er doch auch sich selbst. Er aber ist unendlich.14 Damit sei er unwissbar. Das Argument versteht offenbar „alles“ in einem eingeschränkten Sinne, etwa wie „alles Vorhandene“. Die Namenslisten kennen also noch nicht „der Unendliche“, aber sie sprechen von Gottes Größe (al-kabı¯r). Die Theologen betonen, dass es nicht 12 Dazu auch Gimaret, Les noms divins, S. 37–39, sowie S. 44: Auf Gott anwendbare „Namen hängen nicht von uns ab; wir können ihm ja keinen Namen geben, den er sich nicht selbst gegeben hätte, oder sein Gesandter, oder der einstimmige muslimische Konsens“ (al-ʾAsˇʿarı¯, al-Lumaʿ, hg. von Richard McCarthy, The Theology of al-Ashʿarı¯, Beirut 1953, S. 10, Zeile 7–8). 13 Wa-lla¯hu yaʿlamu wa-ʾantum la¯ taʿlamu¯na (2:216.232; 3:66; 16:74; 24:19). 14 Josef van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Band 3, Berlin 1992, S. 260, Band 5, Berlin 1993, S. 260; in anderem Zusammenhang (endlose Dauer) Band 4, Berlin 1997, S. 157.

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um Gottes Größe „in Körperdimension und Umfang“ (bi-hasabi l-gˇuttati wa-l¯¯ ˙ hagˇmı¯yati) gehe.15 Inhaltliche Füllungen des Gottesnamens „der Große“ ver˙ weisen auf seine „Seinsvollkommenheit“ (kama¯l al-wugˇu¯d), sein Alter und darauf, dass alles, was es gibt, aus ihm hervorgeht.16 Zentral für die islamische Profilierung des Gottesgedankens und dessen spekulative Entfaltung ist ein anderes Attribut: Gott der Eine. Erwartungsgemäß findet sich auch das Bekenntnis zur Einheit Gottes in den Namenslisten;17 überraschenderweise sogar zweimal: al-wa¯hid und al-ʾahad.18 Es handelt sich ˙ ˙ damit um eines der erwähnten häufigen Namenspaare, und zwar in semantische und etymologischer Verwandtschaft. Wie ist dies zu verstehen, und wie wurde dies verstanden?

3.

Der Eine im Koran

Beginnen wir mit einer Erörterung des zweiten Einheitsnamens, al-ʾahad. Denn ˙ sie wird kürzer ausfallen und begrifflichen Gehalt und theologische Wirkungsgeschichte nur streifen. Die islamischen Wissenschaftler der klassischen Zeit behaupten, ʾahad sei ein nachvollziehbar aus dem Stamm w-h-d gebildetes ˙ ˙ arabisches Wort, es sei gleichbedeutend mit wa¯hid, und man kenne ʾahad ja als ˙ ˙ gewöhnliche arabische Vokabel. Das stimmt aber nicht ganz. Richtig ist, es gibt ein arabisches Wort ʾahad für „einer“; aber nur in Frage- und Verneinungszu˙ sammenhängen sowie bei größeren Zahlen an der Einer-Stelle und im Wort für „Sonntag“. Außerdem wird ʾahad vom Koran für Gott nur ein einziges Mal ˙ verwendet: Alla¯hu ʾahadun, am Ende des ersten Verses von Sure 112. Nach dieser ˙ Sure folgen im Koran nur noch zwei Schutzformeln (Sure 113 und 114), so dass man Sure 112 durchaus als letztes koranisches Textstück bezeichnen kann. Mit vier Versen ist Sure 112 auch die kürzeste überhaupt. ʾAhad ist also tatsächlich ˙ herausgehoben, aber keineswegs fragend oder gar verneinend. Dieses seltsame Wort steht vielmehr affirmativ am Ende der ersten Zeile eines Gottesbekenntnisses. Was bedeutet dies?

15 Fahraddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. 1209), Lawa¯miʿ al-bayyina¯t fı¯ l-ʾasma¯ wa-s-sifa¯t, hg. von Taha ʿAbd ˙ ˙ 212. ˘ ¯ f Saʿd, Kairo 1976, S. 118, Zeile 15–16, zitiert nach Gimaret,˙ S. ar-Raʾu 16 Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-G˙azza¯lı¯ (gest. 1111), al-Maqsad al-ʾasna¯ fı¯ ˇsarh maʿa¯nı¯ ʾasma¯ʾ ˙ von Fadlou A. Shehadi, Beirut 1971, S. ˙ 144, Zeile 3–10. ˙ Alla¯h ˙al-husna¯, hg. ˙ 17 Bei Pseudo-Dionysius behandelt der letzte Abschnitt die göttliche Einheit, und zwar unter dem Neutrum ἕν. 18 Nr. 66 und 67, wobei die Nummerierung der Liste variieren kann; dies liegt vor allem daran, dass gerade diese beiden Namen, al-wa¯hid und al-ʾahad, in einigen Traditionen zusam˙ ˙ mengenommen werden.

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

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Es scheint sich um eine Anspielung auf eine Stelle der Hebräischen Bibel zu handeln. Der Sprachduktus ist im Koran konfessorisch. Friedrich Rückert hatte die Sure so übersetzt: „[1] Sprich: Gott ist Einer, [2] ein ewig reiner, [3] hat nicht gezeugt und ihn gezeugt hat keiner, [4] und nicht ihm gleich ist einer.“ Man hört schon lange19 heraus, dass Sure 112 mit ihrem „hat nicht gezeugt und wurde nicht gezeugt“ eine Gegenposition zum Nizäno-Konstantinopolitanischen Credo einnimmt, das von Christus bekennt, er ist „gezeugt, nicht geschaffen“. Aber bereits davor heißt es in der Sure eben Alla¯hu ʾahad(un). Diese Formel scheint ˙ nicht mehr auf die christliche Dogmatik zu verweisen, sondern auf das Sˇǝmaʿ Yis´ra¯ʾel. Dort heißt es nämlich ebenfalls am Ende der ersten Zeile: der Herr ist ʾæha¯d – ein einziger. Der Koran schließt sich hier also, bis ins Lautliche hinein, ˙ dem deuteronomischen Monotheismus an.20 Die Hauptaussage der Sure ist demnach Anschluss an das Ein-Gott-Bekenntnis Israels und, so unterstützt, umso deutlichere Ablehnung jedweder Pluralität in Gott: Er ist erhaben darüber, sich ein Kind zuzulegen (vgl. Sure 21:26 und mittelmekkanisch öfter). Der andere ausdrücklich göttliche Einheit bekennende Name ist al-wa¯hid. ˙ Was ist damit koranischerseits gemeint? Es gibt nichts anderes Anbetungswürdiges. Alles, was die Heiden verehren, muss als Pseudogottheit durchschaut werden. Die Objekte paganer Kulte sind für den Koran ʾasna¯m (vgl. den he˙ bräischen Singular sælæm): „menschengemachte Standbilder, Götzen“. Der ˙ Korantext verspottet sie als machtlos, wie es auch die Bibel tut.21 Muhammadbiographisch und rezitationsgeschichtlich wird man sagen müssen, ˙ dass die Rolle des Einheitsbekenntnisses auf mehreren Ebenen liegt: Es schafft ein Sinnempfinden für das eigene Lebensprojekt, es vereinigt die Araber, es gibt Sicherheit, weil die alles bestimmende Macht damit benannt und bekannt ist. Wie verstehen klassische muslimische Autoren die Aussage, dass Gott einer ist?

19 Karl Ahrens, Muhammed als Relgionsstifter, Leipzig 1935, S. 195; jetzt auch Angelika Neuwirth, Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang, Berlin 2010, S. 762. Dazu außerdem: Felix Körner, „Koran als spätantike Bibelauslegung. Das rezitationsgeschichtliche Paradigma“, in: Studia Bobolanum 4/2014, S. 37–62. 20 Das sieht auch Mehmet Paçacı, „Sag: Gott ist ein einziger – ahad/æhâd. Ein exegetischer Versuch zu Sure 112 in der Perspektive der semitischen Religionstradition“, in: Alter Text – neuer Kontext. Koranhermeneutik in der Türkei heute. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Felix Körner, Freiburg im Breisgau ²2015, S. 166–203, S. 173. 21 22:73: „Ihr Menschen! Ein Gleichnis ist geprägt. Hört darauf! Diejenigen, zu denen ihr betet, statt zu Gott (zu beten), können nicht (einmal) eine Fliege erschaffen, auch wenn sie sich (alle) dafür zusammentun (und einander behilflich sind). Und wenn (umgekehrt) eine Fliege ihnen etwas wegnimmt, können sie es ihr nicht wieder abnehmen (wörtlich vor ihr retten). (Wie) schwach ist (hier) der, der (nach etwas) verlangt, und das, wonach verlangt wird!“ Vgl. Psalm 115:5.

336

4.

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Islamische Theologie im 10. und 11. Jahrhundert

Gehen wir zuerst auf die Sicht von drei islamisch-theologischen Klassikern ein. 1. Selbstverständlich hört auch die frühe Theologie die Bedeutung „einzig“ heraus. Sie versteht aber, noch vor der Einzigkeit: Gott ist „einer“ im Sinne von „ungeteilt“. So erklärt der muʿtazilitische Theologe und Korankommentator alˇ ubba¯ʾı¯,22 Gott sei in dreifachem Sinne wa¯hid: unteilbar, einzig-ewig, unabhängig. G ˙ ˇ ubba¯ʾı¯ ein, Bezüglich seiner ersten Erklärung von wa¯hid – „unteilbar“ – gesteht al-G ˙ dass dies gar kein Verehrungswort sei. Auch Atome und sogar Menschen seien ja unteilbar.23 Die Ursprungszusammenhang für die Betonung der Unteilbarkeit Gottes wird die Debatte mit Christen sein.24 Denn diese gelten der islamischen Theologie gewöhnlich nicht als Polytheisten; vielmehr sind sie in muslimischer Wahrnehmung diejenigen, die Gott zwar als einzig anerkennen, aber teilen. ˇ ubba¯ʾı¯ mit seiner letzten Erklärung von al-wa¯hid – „der UnabhänWas al-G ˙ gige, Selbständige“ – genau meint, kann man mit der plotinischen Rede von der 25 causa sui oder mit dem skotistischen Terminus der aseitas26 wiedergeben. alˇ ubba¯ʾı¯ sagt nämlich, dass Gott seine Wesenseigenschaften selbst besitzt, dass er G seine Allmacht, seine Allweisheit und sein Leben keinem anderen verdankt, sondern aus sich selbst hat. 2. Der Bezugstheologe schlechthin des – zumindest arabischsprachigen – sunnitischen Islam ist al-ʾAsˇʿArı¯ (gest. 935). Auch er expliziert sein Verständnis des Gottesnamens al-wa¯hid dreifach. Es bedeute: Gott ist in seinem Wesen un˙ teilbar, in seinen Eigenschaften ohne Gleichen und in seiner Herrschaft ohne Teilhaber.27 Dennoch vertritt al-ʾAsˇʿArı¯, dass Gott zählbar ist.28 Das erscheint wegen der zuvor festgehaltenen Einzigartigkeit nicht folgerichtig. Wieso behauptet der Theologe es dann? Der Grund ist, dass es eine Koranstelle gibt, durch die er sich festgelegt fühlt. In Sure 58:7 heißt es nämlich: ˇ ubba¯ʾı¯ stirbt 916. 22 Der Theologe und Exeget (mutakallim und mufassir) al-G 23 „Unteilbar“: la¯ yatagˇassadu wa-la¯ yatabaʿʿadu – wörtlich: „lässt sich nicht aufgliedern oder ˙ Kairo 1960–1965, Band 4, S. 241, Zeile 4–9 ˇ abba¯r, al-Mug˙nı¯, 16 Bände, zerlegen“. ʿAbd al-G und Band 5, S. 245, 11–12, zitiert nach Gimaret, Les noms divins, S. 192. 24 Gimaret, Les noms divins, S. 193. 25 Plotin, Enneaden VI, 8, 14, 41: αἴτιον ἑαυτοῦ, zitiert nach Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1, Basel 1971, s.v. „Causa sui“. 26 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1, Basel 1971, s.v. „Aseität“. 27 Ibn Fu¯rak, Mugˇarrad maqa¯la¯t al-ʾAsˇʿarı¯, hg. von Daniel Gimaret, Beirut 1987, S. 55, Zeile 9– 10, zitiert nach Gimaret, Les noms divins, S. 194. 28 Die Frage stellten bereits der Muʿtazilit ʿAba¯d ibn Sulayma¯n as-Saymarı¯ (gest. 864) und der ˙ Exeget az-Zagˇgˇa¯gˇ (gest. 923). „Numerisch einer“ wäre wa¯hidun˙bi-maʿna ¯ l-ʿadadi, min tarı¯qi ˙ l-ʿadadi. Aber beide verneinten dies. Sonst fiele Gott ja mit anderen in ein und dieselbe Klasse, ja, wäre ihnen als z. B. „Vierter“ oder „Sechster“ gar nachgeordet! Gimaret, Les noms divins, S. 196.

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Es gibt kein vertrautes Gespräch von dreien, ohne dass [Gott] als vierter, und keines von fünfen, ohne dass er als sechster mit dabei wäre (wörtlich ohne dass er ihr vierter bzw. ihr sechster wäre), auch nicht von weniger als der genannten Zahl oder von mehr, ohne dass er bei ihnen wäre, wo immer sie sind.29

Dass der Einzige zählbar sein soll, ist zugleich eine begriffliche Inkonsequenz, aber auch ein gutes Beispiel für al-ʾAsˇʿArı¯s Verfahren. Er stellt vorgegebene Autorität über den eigenen Schluss. Wo ihm die Offenbarung eine eindeutige Information zu bieten scheint, will er nicht dagegen andenken. In unserem Falle etwa gibt der koranische Wortlaut den Ausschlag. al-ʾAsˇʿArı¯ hätte aber auch sagen können, dass der Koran gar nicht Gottes Zählbarkeit behauptet, sondern Gottes Allgegenwart und daher – das ist der Skopus des Koranverses: – Gottes Allwissen. Der Vers sagt denn auch ausdrücklich vor dem soeben Zitierten: Hast du (denn) nicht gesehen, dass Gott (alles) weiß, was im Himmel und auf der Erde ist?

Und unmittelbar an das oben Angeführte schließt sich, immer noch im selben Vers, an: Hierauf, am Tag der Auferstehung, wird [Gott] ihnen Kunde geben über das, was sie (in ihrem Erdenleben) getan haben. Gott weiß über alles Bescheid.

al-ʾAsˇʿArı¯s erstaunliches Verfahren lässt sich aus zwei Richtungen erklären. Einerseits ist es ein Verstandesopfer: Sowohl seine begriffliche Konsistenz als auch ein intentions-sensibles Koranverständnis unterwirft er einem einzelnen Textwortlaut. Andererseits ist es m. E. eine Eigenentwicklung der muslimischen Einheitstheologie, die al-ʾAsˇʿArı¯ dazu bringt, Gottes Addierbarkeit zu behaupten. Wir kommen darauf zurück. Zusammenfassen könnte man al-ʾAsˇʿArı¯s Sicht jedenfalls wie folgt: Gott ist einer qua einfach, einzigartig, einzigmächtig und Eins-Summand. Diese Theologie findet sogleich ihre Kommentatoren. ˇ uwaynı¯ (gest. 1085) referiert das Verständnis verschiedener asˇʿAriti3. al-G scher Theologen. Gott ist „einzig“ erstens wiederum im Sinne von „unteilbar in seinem Wesen“; das wird nun aber entweder als „etwas, das keine Abtrennung erlaubt“30 erklärt oder ausführlicher als „wovon undenkbar wäre, dass man davon das eine wegnimmt und das andere daranlässt“31. Die zweite Explikation ˇ uwaynı¯ wiedergegebenen des Einheitsbegriffs lautet bei den anderen von al-G Theologen wie bei al-ʾAsˇʿArı¯ selbst: „ohne Gleichen in seinen Eigenschaften“. al29 wa-ma¯ fı¯ l-ʾardi ma¯ yaku¯nu min nagˇwa¯ tala¯tatin ʾilla¯ huwa ra¯biʿuhum wa-la¯ hamsatin ʾilla¯ ¯ ˙ wa-la¯ ʾadna¯ min da¯lika¯ wa-la ˘ ma¯ ka¯nu¯. huwa sa¯disuhum ¯ ʾaktara ʾilla¯ huwa maʿahum ʾayna ¯ ¯ ˇ uwaynı¯, asˇˇ ˇ 30 al-wa¯hidu huwa s-sayʾu llad¯ı la¯ yasihhu nqisa¯muhu¯: Ima¯m al-haramayn al-G ¯ ˙ und Suhayr Muhammad ˙¯ ˙an-Nas ˙ ˇsˇa¯r, Faysal Badı¯r ʿAwn Sˇa¯mil˙fı¯ ʾusu¯l ad-dı¯n, hg. von ʿAlı¯ Sa¯mı ˙ S. 194. ˙ ˙ Muhta¯r, Alexandrien 1969, S. 345, Zeile 2–3, zitiert nach Gimaret, Les noms divins, ˘ ˇ 31 Das ist: allad¯ı la¯ yasihhu fı¯hi rafʿun wa-ʾibqa¯ʾun, Ima¯m al-haramayn al-Guwaynı¯, asˇ-Sˇa¯mil fı¯ ¯ ˙ ˙ ˙ ʿAlı¯ Sa¯mı¯ an-Nasˇsˇa¯r, Faysal Badı¯r˙ ʿAwn und Suhayr Muhammad ʾusu¯l ad-dı¯n, hg. von ˙ S. 194. ˙ ˙ nach Gimaret, Les noms divins, Muhta¯r, Alexandrien 1969, S. 345, Zeile 4–6, zitiert ˘

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ˇ uwaynı¯s – jetzt allerdings Baqilla¯nı¯ (gest. 1013) nimmt – so die Darstellung al-G zwei überraschende Neuakzentuierungen vor. Als Drittes folgt bei ihm nämlich keine Handlungseigenschaft wie „ist ohne Teilhaber an seiner Herrschaft“. Für al-Baqilla¯nı¯ bedeute Gottes Einzigkeit vielmehr drittens, dass die Menschen keinen andern Zufluchtsort und Schutz haben als Gott.32 Das ist gut gesehen. Es entspricht nämlich der ausdrücklichen koranischen Spiritualität: Einzig sichere Zuflucht ist Gott selbst (vgl. 18:27). Bereits zuvor hatte al-Baqilla¯nı¯ allerdings ein pedantisches Bedenken vorgetragen. „Unteilbar“ werde, wie gesehen, gern erklärt als „etwas, das keine Abtrennung erlaubt“. Das aber sei eine unzulässige Formulierung. Denn so habe man zwei Eigenschaften in ein und derselben Definition. Man führe ja erstens „etwas“ an, und zweitens „Abtrennung“. Richtiger lasse sich die Abtrennungslosigkeit als Erklärung göttlicher Einfachheit so ausdrücken: Der Eine ist etwas.33 Man könnte auch übersetzten: „Der eine ist das Ding.“ Es handelt sich in diesem ˇ uwaynı¯ nennt die von Sinne um ein verdinglichendes Einheitsverständnis. al-G 34 ihm zitierte Überlegung zwar „trefflich“ , tut sich dann aber doch selbst schwer damit. Wie al-ʾAsˇʿArı¯s These von der Addierbarkeit Gottes lässt sich m. E. auch al-Baqilla¯nı¯s verdinglichendes Einheitsverständnis nur als Reaktion auf eine bestimmte Entwicklung der islamischen Einheitstheologie erklären. Wir werden darauf sogleich eingehen. Was in jedem Fall auch für die spätere Theologie erhalten bleibt, ist die Dreifacherklärung der göttlichen Einheit als Einfachheit, Einzigartigkeit und Einzigkeit.35 Nun aber ein Blick in die vorklassische Zeit.

ˇ uwaynı¯, asˇ-Sˇa¯mil fı¯ ʾusu¯l ad-dı¯n, 32 La¯ malgˇaʾa wa-la¯ mala¯da bi-siwa¯hu: Ima¯m al-haramayn al-G ¯ ˙ und Suhayr Muhammad Muhta¯˙r, Alexanhg. von ʿAlı¯ Sa¯mı¯ an-Nasˇsˇa¯r, Faysal Badı¯r ʿAwn ˙ S. 194. ˘ ˙ nach Gimaret, Les noms divins, drien 1969, S. 346, Zeile 23–24, zitiert ˇ uwaynı¯, asˇ-Sˇa¯mil fı¯ ʾusu¯l ad-dı¯n, 33 Arabisch: al-wa¯hidu huwa ˇs-sˇayʾu. Ima¯m al-haramayn al-G ˙ ˙ ¯ an-Nasˇsˇa¯r, Faysal Badı¯r ʿAwn hg. von ʿAlı¯ Sa¯mı und Suhayr Muhammad Muhta¯˙r, Alexan˙ ˘ drien 1969, S. 345, Zeile 9, zitiert nach Gimaret, Les noms divins, S.˙ 194. ˇ ˇ ˇ 34 Er schreibt: sadı¯d; Ima¯m al-haramayn al-Guwaynı¯, as-Sa¯mil fı¯ ʾusu¯l ad-dı¯n, hg. von ʿAlı¯ Sa¯mı¯ ˙ und Suhayr Muhammad Muhta¯˙r, Alexandrien 1969, S. 346, an-Nasˇsˇa¯r, Faysal Badı¯r ʿAwn ˙ S. 195. ˘ ˙ Zeile 12–13, zitiert nach Gimaret, Les noms divins, 35 „Einzigartigkeit“ und „Einzigkeit“ können in den Darstellungen zusammengezogen werden. Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-G˙azza¯lı¯, al-Maqsad al-ʾasna¯ fı¯ ˇsarh maʿa¯nı¯ ʾasma¯ʾ Alla¯h al-husna¯, ˙ Fadlou ˙A. Shehadi, Beirut 1971, S.˙144, Zeile 3–10. Fah ˙ raddı¯n ar-Ra¯zı¯ (gest. ˙1209), hg. von ˘ ¯ f Saʿd, Kairo 1976, S. 308, Lawa¯miʿ al-bayyina¯t fı¯ l-ʾasma¯ wa-s-sifa¯t, hg. von Taha ʿAbd ar-Raʾu ˙ ˙ ˙S. 196. Zeile 10; beide zitiert nach Gimaret,

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

5.

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Frühe Muʿtazila

Der frühe Muʿtazilit an-Na¯sˇiʾ al-ʾakbar („der Ältere“, gest. 906) hatte sich bereits eingehend mit der Frage der Einheit Gottes auseinandergesetzt. Er stellt den häresiographischen Befund wie folgt dar: Man ist verschiedener Meinung darüber, was mit der Aussage ‚Gott ist einer‘ gemeint ist. Manche Leute sagen: Wir meinen, dass er nicht zwei oder mehr ist, ohne dass sie (dies) näher erläutern. Andere sagen, wir meinen nicht, dass er eins sei der Zahl nach, auch nicht, dass er eins sei derart, dass, wenn er zu anderem hinzugefügt wird, er und (dieses) andere zwei ergeben; nicht eins als Einzelwesen (sˇahs), das immer noch in viele ˘˙ (weitere) Teile zerteilt werden kann, auch nicht eins im Sinne eines Atoms. Mit ‚eins‘ meinen wir vielmehr ‚ohnegleichen‘. Alles, was seinesgleichen hat, ist nicht realiter eins; denn wenn es zu dem andern addiert wird, ergibt es mit diesem zwei und fällt damit unter die Eigenschaft ‚Nicht-Eins‘. Das Eine und der, welcher der Eine ist, sind in allen Fällen eines nur derart, dass der Verstand dazu kein Zweites findet.36

Die Begriffsanalyse an-Na¯sˇiʾs ist unter drei Rücksicht wertvoll: a. Dass Muslime bereits gut 200 Jahre nach Muhammads Tod Häresiographie ˙ betreiben können, also verschiedene islamische Denkschulen unterscheiden und kritisch darstellen können, belegt die anhaltende Begriffsfreudigkeit der aufgrund des ja wie gesagt ebenfalls begriffsfreudigen Koran entstehenden Religion. b. Das Wort ˇsahs wird im heutigen Arabischen zur Wiedergabe des westlichen ˘˙ Personbegriffs verwendet. Muslime tun sich schwer, Gott als Person zu bezeichnen. Sie begründen dies gewöhnlich mit dem Argument, das sei ein unzulässiger Anthropomorphismus. Im Blick auf Autoren wie an-Na¯sˇiʾ ergibt sich aber ein anderer Ablehnungsgrund; er weist mit der Zurückweisung des Wortes nicht die Personalität Gottes ab, sondern seine Teilbarkeit. c. an-Na¯sˇiʾ sagt nicht nur, dass Gott unvergleichlich und ohnegleichen ist. Die – referierte – Beobachtung, dass Addierbares „Nicht-Eins“ ist, ist von äußerster Konsequenz: Sie ist geradezu übertrieben begriffsscharf, und: die hier explizitierte Intuition hat islamischerseits eine andere große Wirkungsgeschichte. Nicht nur darf neben Gott nichts und niemand angebetet werden, darf man nichts und niemandem dienen neben Gott – beides, Anbeten und Dienen benennt das arabische Verbum ʿ-b-d; nicht nur darf es neben Gott keine Macht geben, denn Gott etwas beizugesellen ist die unvergebbare Sünde.37 36 an-Na¯ˇsiʾ al-ʾakbar, al-Kita¯b al-ʾawsat, hg. von Josef van Ess, in: ders., Frühe muʿtazilitische ˙ Teil ab S. 71. Die zitierte Stelle ist übersetzt bei Josef Häresiographie, Beirut 1971, arabischer van Ess, Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Eine Geschichte des religiösen Denkens im frühen Islam, Band 6, Berlin 1995, S. 371 und wiederum Band 4, Berlin 1997, S. 372. 37 Sure 4:48: „Gott vergibt nicht, dass man ihm (andere Götter) beigesellt (ʾinna lla¯ha la¯ yag˙firu

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Nicht nur dies. Es setzt sich in der Konsequenz des Gedankens von der göttlichen Einheit auch die Sichtweise durch, dass es gar nichts anderes gibt außer Gott. Diese Vorstellung wird zwar von muslimischer wie nichtmuslimischer Seite heute gelegentlich als „mystisch“ beiseitegeschoben; sie gehört jedoch zum klassisch-theologischen Bestand und hat derartig begriffsklare Ausdrucksformen gefunden, dass sie hier als Teil der islamischen Theologie de Deo uno mitbehandelt werden muss.

6.

Sufik

Ausgehen muss man dafür wohl von dem Begriff, der den gesamten Impetus des Islam ausdrückt: tawh¯ıd. Wörtlich bedeutet dies „Einsmachen“. Die Wörter˙ buchbedeutung ist „Einheitsbekenntnis“. M. E. ist das Wort eine Parallelbildung zum biblischen und koranischen „Großseinlassen“ Gottes.38 Der islamische Eigenakzent ist nun, dass es sich nicht um das Bekenntnis der Großtaten Gottes in der als Heilsgeschichte erlebten Zeit handelt, sondern um das Einstimmen in Gottes dynamische Einheit. Der tawh¯ıd schlägt sich im Leben der Muslime als eine mehrfache monistische ˙ Dynamik nieder. Radikale Anerkennung der Einheit Gottes bedeutet für den Muslim, alles andere „für nichts zu erachten. Sein religiöses Erleben und Handeln lässt nur noch eine einzige Wirklichkeit zu, und wenn er diese religiöse Erfahrung einmal in Worten auszudrücken versucht, lehrt er die Einheit des Seins.“39 Man kann also nachvollziehen, dass das radikale Einheitsverständnis, das der koranischen Debatte entstammt, eine scharfe monistische Bewegung auslöst. Im Fachvokabular: tawh¯ıd tendiert zu wahdat al-wugˇu¯d. ˙ ˙ Zuerst zeigt sich diese monistische Tendenz ethisch und epistemologisch, also im Erstreben und Erkennen:40 Die Dynamik des Erstrebens verläuft von Befreiung aus der Befolgung eigener Triebe hin zu jenem Zustand, in dem Ziel allen Strebens Gott ʾan yusˇraka bihı¯). Was darunter liegt (d. h. die weniger schweren Sünden) vergibt er, wenn er (es vergeben) will. Wenn einer (dem einen) Gott (andere Götter) beigesellt, hat er (damit) eine gewaltige Sünde ausgeheckt.“ 38 Das hebräische Piʿel von g-d-l bedeutet „großmachen, loben“. Das Griechische gibt es mit μεγαλύνειν wieder. Dies kann man Lukas 1,46 aus dem Munde Marias hören: Magnificat anima mea Dominum. Im koranischen Arabisch findet sich das entsprechende Wort als k-b-r II: wa-kabbirhu takbı¯ran „und lobe ihn ständig“, Sure 111:17. 39 Mit dem persisch/arabischen Wort für „Einheit des Seins“ – wahdat ul-wugˇu¯d – beginnt denn ˙ Gramlich, Die schiitischen auch Gramlichs Standardwerk über die sufische Lehre. Richard Derwischorden Persiens. Zweiter Teil: Glaube und Lehre, Wiesbaden 1976, hier S. 4–5. 40 Gramlich, Die schiitischen Derwischorden, S. 6, spricht ebenfalls von Monismus, aber statt „epistemologisch“ und „ethisch“ schreibt er, im Stile christlicher Spiritualitätstheologie: „kontemplativ“ und „aktiv“.

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selbst ist. Die Dynamik der Erkenntnis verläuft dabei vom Glauben, dass es keine Gottheit außer Gott gibt, zur Ansicht, dass alles auf Gott als Ursache zurückgeht. Wer Gott nicht in allen Dingen sieht, der sieht eben anderes als ihn. Wenn aber der Mensch sich anderen Dingen als Gott zuwendet, so begreift seine Hinwendung jedesmal etwas von geheimer Vielgötterei in sich.41

Am Ende dieses Verlaufs aber liegt nun ein überraschender Umschlag, der epistemologisch beginnt, jedoch ontologische Konsequenzen hat: Solange ein Mensch noch Gottes Einheit anerkennt – also den tawh¯ıd vollzieht –, begeht er noch Viel˙ götterei. Erst wenn ich mir eingestehe, dass der Handelnde auch in dem Augenblick, in dem aus meinem Mund das Einheitsbekenntnis ergeht, Gott ist, habe ich Gottes Einheit wirklich anerkannt. In letzter Konsequenz bedeutet die Anerkennung der Einheit Gottes, bedeutet also tawh¯ıd mehr als das ausschließliche Erkennen und ˙ Erstreben Gottes. Paradoxerweise ist unser Einheitsbekenntnis selbst dualistisch. Das sehen die Großen der geistlichen Reflexion im Islam auch. Die Radikalformulierung des Halla¯gˇ ist hierfür der locus classicus: ˙ Wenn der Mensch die Einheit seines Herrn bekennt, bestätigt er sein Ich, und wer sein Ich bestätigt, treibt geheime Vielgötterei. In Wirklichkeit ist aber Gott derjenige, der seine Einheit bekennt durch die Zunge der von ihm dazu ausersehenen Kreatur.42

Diese Einsicht brachte den Halla¯gˇ so weit, dass aus seinem Munde zu hören war ˙ ʾana¯ l-Haqq, also „Ich bin Gott“.43 Dafür ließ er sich im Jahre 922 als Ketzer ˙ hinrichten. Denn man verstand, al-Halla¯gˇ mache Gott Konkurrenz. Das Ge˙ genteil war der Fall. Das aus seinem Munde ergehende Wort zeigte, dass er als einer der wenigen Gott keine Konkurrenz machte: Es gibt den Einheitsbekenner al-Halla¯gˇ nicht mehr, Gott allein ist hier gegenwärtig. Mit seiner Hinrichtung war ˙ der Mystiker daher ganz einverstanden. Er rief: Tötet mich, ihr, denen ich vertraue! / In meiner Tötung liegt mein Leben. / Mein Tod ist in meinem Leben, / und mein Leben in meinem Tod. / In meinen Augen zählt die Tilgung meines Wesens / zu den edelsten Gaben / und das Fortbestehen meiner Eigenschaften / zu den hässlichsten Übeln.44

41 Abu¯ Ha¯mid Muhammad al-G˙azza¯lı¯, ʾIhya¯ʾ ʿulu¯m ad-dı¯n, Kairo 1939, Band 1, S. 295, Zeile 19– ˙ ˙ ˙ Derwischorden, S. 7. 21, zitiert nach Gramlich, Die schiitischen ˇ 42 al-Husayn ibn Mansu¯r al-Halla¯g, in: Louis Massignon, Akhbar al-Hallaj, Paris ³1957, S. 93, ˙ Die schiitischen Derwischorden, S. 12. ˙ Nr.˙62, zitiert nach Gramlich, 43 Dazu ausführlich Louis Massignon, La Passion de Husayn Ibn Mansûr Hallâj. Band 1, Paris ²1975, S. 168–176; ein eigenes Unterkapitel widmet dem Ausspruch al-Halla¯gˇs auch Richard ˙ Gramlich, Der eine Gott. Grundzüge der Mystik des islamischen Monotheismus, Wiesbaden 1998, S. 350–353. 44 al-Husayn ibn Mansu¯r al-Halla¯gˇ, Dı¯wa¯n, hg. von Ka¯mil Mustafa¯ asˇ-Sˇaybı¯, Bagdad 1974, S. 24, ˙ nach Gramlich, ˙˙ ˙ Der˙eine Gott, S. 326. zitiert

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Die deutschsprachige Sufismus-Forschung bezeichnet das Zugrundegehen des Gottsuchers angesichts Gottes und um der göttlichen Seinsfülle willen in mittelhochdeutscher Tradition als „Entwerdung“. Diese kann drei Ebenen haben: Entwerden vom Sehen (sˇuhu¯d) und Wollen (ira¯da) des Nichtgöttlichen, aber eben auch Entwerden vom Sein (wugˇu¯d) des Nichtgöttlichen.45 Die Autoren können also im Sinne vollständiger Entwerdung über die Anerkennung der Einheit allen Seins hinausgehen und das Nichtsein von allem Nichtgöttlichen bekennen. Wir müssen daher, ausgehend von der islamischen Eigendiktion fana¯ʾ – „Entwerdung, Auslöschung, Vernichtung“ – dem Islam eine Tendenz zum annihilatorischen Monismus attestieren. Es ist m. E. diese Tendenz, der die beiden wohl überraschendsten Thesen klassisch-islamischer Einheitstheologie wehren wollten: al-ʾAsˇʿArı¯s Behauptung der Addierbarkeit Gottes und al-Baqilla¯nis verdinglichendes Verständnis der göttlichen Einheit.

7.

Subjekt und Person

Nun ist die annihilatorisch-monistische Tendenz nicht nur ein regionales islamisches Problem. Die Frage stellt sich ja jedem Glauben, der Gottes Allgegenwart und Einheit bekennen will: Bedroht die Wirklichkeit des einen Gottes die Freiheit, ja die Existenz alles anderen? Mit einer Theologie wie der Wolfhart Pannenbergs lässt sich ein annihilatorischer Monismus wohl überzeugender vermeiden als durch die Erklärung, Gott sei „etwas“. Man wird nämlich sagen müssen, dass Ursprung von annihilatorischem Monismus eine Gottesvorstellung ist, bei der Gott Teilhaber an seiner Göttlichkeit ausschalten will, weil Konkurrenz seine Macht beschränken würde. Pannenberg sieht den Ursprung solcher Schwierigkeiten in einem Verständnis Gottes als Subjekt.46 Der damit problematisierte Subjektbegriff ist der eines Ichs, das sich so selbständig verwirklicht, dass andere ihm in die Quere kommen können, wenn sie sich entfalten. Dagegen bringt Wolfhart Pannenberg das christliche Gottesverständnis in Anschlag. Er entwickelt es nicht aus Begriffen, sondern im Blick auf die Geschichte Jesu. Jesus lebt ganz in Vertrauen auf den, den er seinen himmlischen Vater nennt, und im Gehorsam ihm gegenüber. In der Jesusgeschichte zeigt sich, dass der himmlische Vater seine Herrschaft und Herrlichkeit 45 Abu¯ ʿAbdalla¯h Sˇamsaddı¯n Muhammad ibn Abı¯ Bakr al-Hanbalı¯ ad-Dimasˇqı¯ Ibn Qayyim alˇ awzı¯ya (gest. 1350), Mada¯rigˇ˙as-sa¯likı¯n bayna mana¯zil˙ ‘ʾiyya¯ka naʿbudu’ wa-‘ʾiyya¯ka naG staʿı¯n’, Band 1, Kairo 1956, S. 166, 19–21, zitiert nach Gramlich, Der eine Gott, S. 314. 46 „Keine der trinitarischen Personen hat ihr Wesen aus und durch sich selbst, wie es der moderne Begriff des Subjektes impliziert“: Wolfhart Pannenberg, „Person und Subjekt“, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Band 2, Göttingen 1980, S. 80–95, S. 85.

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ganz Jesus überantwortet hat. Jesus und der Vater verlassen sich völlig aufeinander. Sie gehen aber nicht im anderen auf; ihr Verhältnis ist gerade keine Konkurrenz, weil keine Überlagerung. Ihre Einheit ist die Gemeinschaft in einem Dritten, im Geist, das heißt, in der Dynamik, die immer schenkend über sich hinausgehen will. Das christliche Gottesverständnis ist damit nicht im Sinne des Subjektes entfaltet, sondern personal. Pannenberg sieht die Einheit Gottes als personale Einheit der Liebe, die die trinitarischen Personen „durch wechselseitige Hingabe aneinander verbindet“.47 Gott ist also Person aus communio.48 Die Entfaltung seines Lebens geschieht nicht annihilatorisch, sondern partizipatorisch. Wie aber steht es dann um seine Einheit? Zunächst könnte man zwar sagen, dass Sohn und Geist der „Monarchie“ des Vaters dienen und damit doch seine Einheit anerkannt ist. Das stimmt, aber fasst die Einheit Gottes noch zu statisch. Denn so wäre weder ihre Geschichtlichkeit erkannt, noch die in ihr wirkende Versöhnung.49 Wird die Einheit Gottes jedoch als geschichtlich und versöhnend verstanden, ist sie nicht mehr bloß als Eigenschaft im Blick, sondern als Geschehen. Um der Identität seines Namens willen ( Jes 48,9; vgl. 43,25; Ez 36,22 f.) überläßt Gott seine Erwählten, aber auch seine ganze Schöpfung nicht der Nichtigkeit, sondern überwindet die Abwendung seiner Geschöpfe von ihm durch die Sendung seines Sohnes zur Versöhnung der Welt. Durch die auf die Welt ausgreifende und daher über den Gegensatz zwischen Gott und Welt übergreifende Einheit der Versöhnung durch Liebe wird die Einheit Gottes selbst im Verhältnis zur Welt realisiert. Dadurch wird die zunächst abstrakte Vorstellung der Einheit Gottes als in sich abgesonderter Realität, die der Vielheit sowohl der anderen Götter als auch der Welt nur entgegengesetzt ist, überwunden. Durch die in seinem Offenbarungshandeln sich offenbarende Liebe Gottes wird seine Einheit als Einheit des wahrhaft Unendlichen, die den Gegensatz zu seinem andern übergreift, konstituiert.50

Damit ist die Einheit Gottes zugleich als die wahre Unendlichkeit erwiesen; und damit ist die göttliche Einheit auch als Orientierungsbegriff menschlicher Per47 Wolfhart Pannenberg, „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre“, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Band 2, S. 96–111, S. 108. 48 Vgl. meine zweiteilige Studie „Salvific Community. Part One: Ignatius of Loyola“ und „Salvific Community. Part Two: the Koran“, in: Gregorianum 94 (2013), S. 593–609 und S. 757–772. Dass der Gemeinschaftsbegriff der frühen Christen nicht statisch war, zeigt sich in dem Hinweis von Matthias Laarmann, dass lateinische Glossen biblische κοινωνία nicht nur als communio wiedergeben konnten, sondern auch als communicatio: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9, Basel 1995, s.v. „Selbstmitteilung I“. 49 „Der Gedanke der Einheit Gottes ist also noch nicht damit geklärt, daß die Monarchie des Vaters ihr Inhalt ist. Wenn die Monarchie des Vaters nicht unmittelbar als solche realisiert ist, sondern nur durch Vermittlung von Sohn und Geist, so muß die Einheit der Gottesherrschaft in der Form dieser Vermittlung ihr Wesen haben. Oder vielmehr: das Wesen der Monarchie des Vaters gewinnt selber erst seine Inhaltsbestimmung durch jene Vermittlung.“ Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, Göttingen ²2015, S. 355. 50 Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, S. 480.

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sonalität eröffnet, nämlich als die Geschichte, in der jemand sich vom anderen empfängt, sich verlässt, sich versöhnt. Ein stärker subjekthaftes Verständnis von Gott und vom Menschen muss in Rivalitäten geraten, und daher in ein Entweder– Oder von Schöpfer und Geschöpf. Eine solche annihilatorisch-monistische Tendenz schließt sich leicht dem koranisch zu Wort kommenden und islamischerseits reflektierten Gottesgedanken an, wenn die oben gemachten Beobachtungen zutreffen.

8.

Unendlichkeit in der Geschichte

An dieser Stelle ist ein Einwand zu überprüfen. Ist man nicht in eine apologetische Falle getreten, wenn man einer außerchristlichen Begrifflichkeit einen überlegenen christlichen Begriff entgegenhält? Ist es sachlich richtig, eine christliche communio gegen einen islamischen fana¯ʾ in Anschlag zu bringen? Verkehrt wäre es, den Islam auf eine theistische Annihilationstendenz zu reduzieren und festzulegen; wir werden daher auch gleich erneut das islamische Material befragen. Zuvor aber zwei Blicke auf die Bibel. Ein erster Blick ist hier erfordert, weil der christliche Glaube kein Begriffskonstrukt ist. Daher kann weder am Ziel – noch aber auch am Anfang christlicher Theologie ein Begriff stehen.51 Der Glaube kommt vom Geschehen. Was aber sind dann Ausgangspunkte für das Partizipatorische am christlichen Zeugnis? Woher kommt die Zentralität der communio-Dynamik des Christentums? Ist der fraglos faszinierende Gedanke, dass der Unendliche nicht allein als Gegenüber des Endlichen zu denken ist, denn aus dem christlichen Grundzeugnis zu beziehen? Man kann hierfür an Jesu Entscheidung erinnern, Jünger zu berufen und zu bevollmächtigen. Jesus versteht sich nämlich als beauftragt, andere an seinem Bezeugungsprojekt der Gottesherrschaft zu beteiligen. Damit ist die Gegenüberstellung vom „Heiligen Gottes“ (so, dämonisch, Markus 1,24) und der Welt schon aufgebrochen in Richtung einer Einbeziehung. Sodann entscheidet sich Jesus an allen bezeugten Weichenstellungen gegen eine Selbstdurchsetzung; offenbar im Vertrauen, dass entscheidend nicht der Gewaltsieg des Guten über das Böse ist, sondern dass auch das Widrige eine Rolle in der zur Erfüllung kommenden Gottesgeschichte hat – statt Steine in Brot zu verwandeln, statt Sünder aus dem heiligen Gottesvolk auszuschließen, statt sich mit Gewalt oder Flucht gegen seine bevorstehende lebensgefährliche Gefangennahme zu wehren. Schließlich erkennt schon die frühe Kirche das Christusgeschehen als Gottes 51 Daher kritisiert Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, S. 481 auch Hegels Versuch, die Wahrheit der Behauptung, dass Gott der wahrhaft Unendliche ist, über Begriffs- und Schlusslogik zu erweisen. Erwiesen werden kann dies nur im Blick auf die Geschichte.

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Überwindung von aller Trennung: „Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles zu versöhnen“ (Kolosser 1,19–20a). Ein zweiter Blick muss der Hebräischen Bibel gelten. Sollte man der Gottesvorstellung Israels einen annihilatorischen Monismus attestieren? Lässt sich, anders gefragt, partizipatives Personsein auch ohne Dreifaltigkeitstheologie denken? a. Israel versteht seinen Gott als eifersüchtig. Das legt nahe, dass er Konkurrenten ausschaltet. Pannenberg bezieht dieses biblische Gottesverständnis in sein Denken ein; er spricht von Gottes „Eiferheiligkeit“.52 Dies ist nun aber kein einfacher Euphemismus für Rivalenvernichtung, also für annihilatorischen Monismus. In der Rede von Gottes „Eiferheiligkeit“ hatte Pannenbergs alttestamentlicher Lehrer Gerhard von Rad vielmehr zwei Bewegungen Gottes miteinander verbunden: sein Eifern und sein Heiligen. Gottes radikal persönliches Engagement verlangt ausschließlichen Kult und ausschließliches Vertrauen. Gottes Heiligungswirken aber geht noch weiter. Es geht ihm nicht nur ums Ausschalten von anderen Verehrungskandidaten, also von „fremden Göttern“, sondern um das Ausschalten von allem Profanen; jedoch nicht um dessen Vernichtung, sondern um seine Einbeziehung. Ziel ist, dass „die Herrlichkeit Gottes die ganze Erde erfüllen wird“.53 Pannenberg sieht in der Heiligkeit Gottes – der profanen Welt gegenüber und auf sie ausgreifend – eine Strukturparallele zum philosophischen Begriff des wahrhaft Unendlichen.54 Gottes Plan, alles in allem zu sein, alles zu erfüllen, ist seine, die göttliche Weise, Einheit zu verwirklichen und daher im Vollsinne „einer“ zu sein. b. Gott will durch sein Volk bezeugt werden; das heißt auch: Gottes Bundespartner tragen die Verantwortung, Gott vor der Welt zu vertreten. Damit sind sie an Gottes Geschichtsprojekt beteiligt, und zwar so sehr, dass sie Gott blamieren können (vgl. Ezechiel 36,20–21). Der biblische Erwählungsgedanke ist stark partizipatorisch. c. Die Schrift stellt Gott auch als Schöpfer des Himmels und der Erde vor. Sein Schöpfersein aber besagt ja gerade seinen Willen, dass es anderes, Nichtgöttliches gibt. Der Schöpfungsgedanke ermöglicht also bereits, das Verhältnis von Unendlichem und Endlichem nicht als Rivalität zu verstehen. d. Teilhabe an der Göttlichkeit ist damit schon in Israel etwas Zwiespältiges. Einmal ist sie die von Gott in seiner „Heiligkeit“ gewollte und gewirkte Einbe52 Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, S. 163, und dann im Bezug auf Gottes Einheit S. 480. 53 Numeri 14,21; Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments. Band 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferung Israels, München 1969, S. 220.216. Er verweist auch (S. 220) auf die Sacharjaweissagung: „An jenem Tag wird auf den Pferdeschellen stehen: Dem Herrn heilig. Die Kochtöpfe im Haus des Herrn werden gebraucht wie die Opferschalen vor dem Altar. Jeder Kochtopf in Jerusalem und Juda wird dem Herrn der Heere geweiht sein“ (14,20–21b). 54 Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, S. 432.

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ziehung von Geschaffenenem in Gottes Herrlichkeit. Zum andern aber kann Teilhalbe an der Göttlichkeit auch den eigenmächtigen Griff des Geschöpfs nach göttlicher Herrlichkeit meinen. Wer sie besitzen will, in der Form eines anderen Gottes oder in der Weise der Anmaßung, es selbst sein zu können, unabhängig von Gottes beteiligender Herrschaft, der ist Rivale und den schlägt dann auch die göttliche Eiferheiligkeit vernichtend. Teilhabe an der Göttlichkeit kann man sich also nur von Gott schenken lassen.

9.

Nicht-ausschließende Einheit Gottes im Koran

Lassen sich in den Grundlagen des Islam auch derartige, stärker partizipative Tendenzen ausmachen, so dass islamischerseits eine Unendlichkeit Gottes denkbar wird, die das Endliche nicht aus Gott ausschließt? Zuerst ist bemerkenswert, dass die muslimischen Schilderungen eines geistlichen Weges durchaus nicht immer mit der persönlichen Auflösung des Anbetenden enden. Vielmehr kommt mit oder – überraschend – nach dem Entwerden (fana¯ʾ) in vielen Darstellungen ein baqa¯ʾ – ein Bleiben im Sinne eines Fortbestehens. Denn der Sufiweg „besteht darin, dass Gott dich dir sterben und dich durch sich leben lässt“.55 Allerdings können auch hier wieder annihilatorische Tendenzen zutage treten, nun aber umgekehrt. Die Rivalität führt dann zur Entwerdung Gottes! Ein Zwischenschritt ist auf diesem Weg der erwähnte Halla¯gˇ. Der Mystiker kann ˙ sagen, er wurde selbst zu Gott. Wie al-Halla¯gˇ dazu kam, wurde oben nachge˙ zeichnet (bei Fußnote 43). Erstmals findet sich ein vergleichbarer Ausspruch bereits ein Jahrhundert zuvor, im Munde Abu¯ Yazı¯ds: „Mein Ich ist nicht mein Ich, denn ich bin Er und mein Ich ist sein Er.“56 Der Halla¯gˇ ging nun aber noch ˙ weiter; die Rivalität schlug hier in die andere Richtung um. Abu¯ Yazı¯d hörte vom Gebetsrufer das ‚Gott ist groß!‘ Er erwiderte: ‚Ich bin größer!‘.57 ˇ unayd bei Abu l-Qa¯sim al-Qusˇayrı¯, Das Sendschreiben al-Qusˇayrı¯s über das Sufitum. 55 G Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Richard Gramlich, Wiesbaden 1989, Kapitel 41,3, zitiert nach Gramlich, Der eine Gott, S. 329. 56 Abu¯ Yazı¯d Tayfu¯r ibn ʿI¯sa¯ al-Bista¯mı¯ (gest. 875), bei Ru¯zbiha¯n-i Baqlı¯-i Sˇ¯ıra¯zı¯, Sˇarh-i ˇsath¯ıya¯t, ˙ Corbin, Teheran/Paris ˙ ˙ Der ˙ ˙ eine hg. von Henry 1966, S. 135, Nr. 229, zitiert nach Gramlich, Gott, S. 344. 57 Baqlı¯, Sˇarh-i ˇsath¯ıya¯t, S. 101, Nr. 162, zitiert nach Gramlich, Der eine Gott, S. 358. Da der ˙˙ Gebetsruf ˙den arabischen Elativ ʾakbar verwendet, der sowohl „größer“ als auch „sehr groß“ bedeuten kann, und im Bezug auf Gott dann sogar „unvergleichlich groß“, lässt sich das Diktum auf verschiedenen Ebenen hören. Eine andere Übersetzungsmöglichkeit wäre, ebenso spannungsreich: „Abu¯ Yazı¯d hörte vom Gebetsrufer das ‚Gott ist unvergleichlich groß!‘ Er erwiderte: ‚Ich auch!‘.“

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Oder er sagte: Mose wollte Gott sehen. Ich will nicht Gott sehen, er will mich sehen.58

Abu¯ Yazı¯d wird, „verbal wenigstens, auch zum Rivalen Gottes“, der träumt, er würde das Höllenfeuer mit Gott um die Wette anblasen.59 Das sind jedoch vielleicht ironische, vielleicht aber auch didaktische, jedenfalls mehrheitlich abgelehnte Extrembeispiele. Unbestrittenes Fundament und Kriterium islamischen Glaubenslebens ist der Koran. Die koranische Rückfrage lohnt sich. Rückfrage bedeutet allerdings nicht, dass man eine Unmittelbarkeit unseres Zugangs, unter Absehung der koranischen Wirkungsgeschichte, herstellen müsste oder auch nur könnte. Theologische Reflexionen, auch die hier aufgezeichneten, liefern Problemanzeigen und deuten Lösungen an. So wird eine neue Rückfrage möglich: Gibt es Vorstellungsmuster der Einheit Gottes im Koran, die nicht auf eine Ausschaltung alles Nichtgöttlichen hintendieren? Den Hauptzug der koranischen Einheits-Theologie könnte man als gestalterisch bezeichnen. Die Einheit Gottes gestaltet eine neue Möglichkeit von Menschsein: Sie ermöglicht ein ungeteiltes, ausgerichtetes und verantwortliches Dienstleben der Menschen. Die Einzigkeit Gottes kann im Koran so verkündet werden, dass sogleich die Ermutigung folgt, ihm dienstbar ergeben (muslim) zu sein. Die zugrundeliegende Logik ist: Wenn die Menschen wissen, wer der einzige Herr ist, wissen sie auch, wem sie dienen sollen – und da er sich äußert, auch wie sie ihm dienen sollen. 21:106 In diesem (Koran?) liegt ein Auftrag zur Übermittlung an Leute, die (uns zu) dienen (bereit sind). 107 Und wir haben dich nur deshalb (mit der Offenbarung) gesandt, um den Menschen in aller Welt Barmherzigkeit zu erweisen. 108 Sag: Mir ist nur eingegeben (zu verkünden), dass euer Gott ein einziger Gott ist. Wollt ihr denn nicht (ihm) ergeben sein? 109 Wenn sie sich daraufhin abwenden, dann sag: Ich habe euch ganz einfach (?) (oder: klipp und klar?) Bescheid gegeben. Und ich weiß nicht, ob das, was euch angedroht wird, nahe bevorsteht oder noch in (weiter) Ferne liegt.

Aus der Verkündigung der göttlichen Einheit folgt also im Idealfall der ergebene Dienst; jedoch bleibt dem Menschen die Möglichkeit, Gottes Einheit und die daraus folgende Dienstverpflichtung abzulehnen – bis die Strafe im Endgericht kommt. Aus der Einheit Gottes folgt der ergebene Dienst; es folgt aber noch mehr. Die Einheit Gottes formt eine wieder vereinte Menschheit. Die verschiedenen Gruppierungen, wie Stämme oder Religionen, sind keine unüberwindliche Ab-

58 ʿAbu l-Fadl Muhammad ibn ʿAlı¯ Sahlagı¯, an-Nu¯r min kalima¯t Abı¯ (Yazı¯d) Tayfu¯r, in: Ab˙ ¯, Sˇataha¯t as-su¯fı¯ya, Kairo 1949, S. 111, Zeile 7–8, zitiert nach˙Gramlich, Der ˙ Badawı darrahma¯n ˙ ˙ ˙ ˙˙ eine Gott, S. 358. 59 Gramlich, Der eine Gott, S. 358.

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trennung zwischen den Menschen. Mit dem Auftreten des Islam soll eine neue Einheit über jedem Tribalismus geschaffen werden: 49:13 Ihr Menschen! Wir haben euch geschaffen (, indem wir euch) von einem männlichen und einem weiblichen Wesen (abstammen ließen), und wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr euch (auf Grund der genealogischen Verhältnisse) untereinander kennt.

Das letzte Verb lässt sich auf zwei Weisen verstehen: Die kulturellen Unterschiede sind eine Herausforderung, „einander kennenzulernen“; oder aber – so die hier zitierte Übersetzung – der Vers erinnert an die gemeinsame Abstammung aller Menschen, derentwegen sie einander ja schon kennen. Eine dritte Weise der Beteiligung findet sich in der Anthropologie des Koran, wenn man seine Lehre von Gottes Barmherzigkeit betrachtet. Zuerst ist hierfür zu fragen, worin eigentlich seine Barmherzigkeit besteht. Ein wichtiger Grundzug ist die Vergebungsbereitschaft. Sie kommt etwa in Sure 6 zur Sprache: 54 Und wenn diejenigen, die an unsere Zeichen (oder: Verse) glauben, zu dir kommen, dann sag: Heil (sala¯m) sei über euch! Euer Herr hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet (kataba rabbukum ʿala¯ nafsihı¯ r-rahmata). Wenn (demnach) einer von euch in Un˙ wissenheit Böses tut und dann später umkehrt und sich bessert (findet er Gnade). Gott (wörtlich Er) ist barmherzig und bereit zu vergeben.

Die Menschen sollen die Barmherzigkeit nach-empfinden und nachahmen. Gottes Vergebungsbereitschaft soll Vorbild für zwischenmenschliches Vergeben werden: 64:14b Wenn ihr verzeiht, Nachsicht übt und vergebt (folgt ihr damit dem Beispiel Gottes). Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.

Ausdrücklich wird die Rede von der göttlichen Vorbildlichkeit zwar erst in der von Rudi Paret eingefügten Erläuterung; jedoch ist die Entscheidung des Übersetzers für diese Erklärung aus dem Wortlaut des Verses gut nachvollziehbar: Gott ist barmherzig und vergebungsbereit – seid ihr es also auch. Ein letzter koranischer Gedanke, der auf eine teilgebende Persönlichkeit Gottes verweist: Gott ist der alleinige Schöpfer; wer aber Schöpfer ist, will ja das Dasein des Geschaffenen, nicht seine Beseitigung. 39:4b Er ist der eine, allgewaltige Gott. 5 Er hat Himmel und Erde wirklich (und wahrhaftig) geschaffen. Er deckt (wörtlich: windet (wie einen Turban)) die Nacht über den Tag und (umgekehrt) den Tag über die Nacht. Und er hat die Sonne und den Mond in den Dienst (der Menschen) gestellt – jedes (der beiden Gestirne) läuft (seine Bahn) auf eine bestimmte Frist. Ja, er ist der, der mächtig ist und (immer) bereit zu vergeben.

Wer staunend die Schöpfungsleistung Gottes anerkennt und sieht, wie Gott den Geschöpfen sorgsam ihre Dienste zugeteilt hat, kommt nicht so schnell auf den Gedanken, dass der Schöpfer sein eigenes Sein auf Kosten dieser seiner Geschöpfe durchsetzen will.

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10. Ein und derselbe Gott? Wo Gläubige verschiedener Religion die Einheit Gottes bekennen, stellt sich schließlich auch die Frage: Haben Muslime und Christen denselben Gott? „Haben“ klingt unangemessen possessiv. Die Formulierung sollte allerdings nicht rundweg als theologische Fehlleistung zurückgewiesen werden. Die Johannesbriefe verwenden das Verb „haben“ sehr wohl in Bezug auf Gott. Sie erheben damit jedoch keinen Besitzanspruch, sondern geben den Glaubenden die Zusicherung, mit dem Heilsgut, in Heilsgemeinschaft leben zu dürfen.60 Der Koran beantwortet die Frage, ob es derselbe Gott ist, ohne von Haben zu reden; er weist die Muslime an, den Juden und Christen – den „Schriftbesitzern“ – zu sagen: 29:46 Unser und euer Gott ist einer. Ihm sind wir ergeben.

Der Koran spricht hier objektivierend; in unseren Sprachen muss man dafür die Kopula verwenden: „ist“. Das islamischen Glaubenbekenntnis (sˇaha¯da) muss man sogar mit einer Existenz-Formel übersetzen: „Es gibt keine Gottheit außer Gott – la¯ ʾila¯ha ʾilla¯ lla¯h“. Und christlicherseits? Der locus classicus, um die Frage zu beantworten, ob der islamischer- und christlicherseits geglaubte Gott derselbe ist, vermeidet sowohl das Possessive als auch das Objektivierende und hat weder „er ist“ noch „es gibt“: Die Bezugsformel stammt aus dem Jahre 1067. In seinem Schreiben an den muslimischen Fürsten an-Na¯sir (gest. 1088) versichert Papst Gregor VII., Mus˙ lime und wir Christen „glauben und bekennen“ – wenn auch auf verschiedene Weise, licet diverso modo – ein und denselben Gott.61 Ist damit alles geklärt? Glauben wir an denselben Gott? Vier Bedenken sind zu erwägen: Heißt das nicht bloß: Wir glauben jeweils an einen Gott? Ist die Übersetzung „ein und denselben Gott“ nicht eine übertriebene Präzisierung des unum Deum? Kann das nicht auch bedeuten: Wir sind beide Monotheisten? Gerade weil der Papst unsere je „verschiedene Weise“ gleich mitsagt, ist eindeutig, dass er meint:

60 Die Gläubigen „haben“ nach 1 Johannes: κοινωνίαν, παράκλητον, ἐντολήν, χρίσμα, τὸν Πατέρα, παρρησίαν, ἐλπίδα, ζωὴν (αι᾿ώνιον), μαρτυρίαν, τὸν Υἱόν, τὰ αι᾿τήματα (das Erbetene) und nach 2 Johannes 1,9 Θεόν. 61 „Hanc utique caritatem nos et vos specialius nobis quam ce˛teris gentibus debemus, qui unum Deum, licet diverso modo, credimus et confitemur, qui eum creatorem seculorum et gubernatorem huius mundi cotidie laudamus et veneramur. Nam sicut apostolus dicit: ‚Ipse est pax nostra, qui fecit utraque unum.‘“ Epistolae selectae in usum scholarum ex Monumentis Germaniae Historicis separatim editae. Das Register Gregors VII., hg. von Erich Caspar, Band II/1: Buch 1–4, Berlin 1920, S. 288, Zeile 11–15: „Wir und Ihr, wir schulden uns diese Liebe fraglos mehr als anderen Völkern, die wir den einen Gott, wenn auch auf verschiedene Weise, glauben und bekennen und ihn täglich als Schöpfer der Zeiten und Herrscher dieser Welt loben und verehren. Wie ja auch der Apostel sagte: ‚Er ist unser Friede, die aus den beiden eines machte.‘“

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Wir und Ihr, wir verehren keine zwei verschiedenen Götter. Hier ist „ein Gott“ also auch nicht nur eine Aussage der Attributenlehre, sondern, der Theologie der Religionen: Die Bekenntnisse von Muslimen und Christen beziehen sich auf denselben Gott. Ist dies lediglich eine Schutzbehauptung, die die christliche Seite immer dann hervorholt, wenn sie gut Wetter machen will? Einwände dieses Stils kann man nie ganz entkräften. Aber man kann versuchen, den Inhalt des Gregorzitats als theologisch richtig zu erweisen. Das soll unten geschehen. Wenn man aber auf den politischen Kontext jüngster Verwendungen des Zitats von 1067 achtet, stellt man fest: Papst Benedikt XVI. führte es zwar in Ankara wenige Wochen nach den Verwerfungen aufgrund seiner Regensburger Rede an – hier könnte also das GutWetter-Machen eine Rolle gespielt haben; als sich jedoch das II. Vatikanische Konzil mittelbar auf das Gregorwort bezogen hatte (Nostra Aetate 3) und als Johannes Paul II. es 199162 wörtlich anführte, waren keine besonderen islamisch– christlichen Spannungen vorausgegangen. Es wäre vorschnell, das Zitat als politisch motivierte Kompromisstheologie zu desavouieren. „Wenn auch auf verschiedene Weise – licet diverso modo“: Kann man den modus so einfach ausblenden? Gehört das Wie des Glaubens im Christentum nicht so wesentlich zum Gottesverständnis, dass ein Bekenntnis diverso modo automatisch einen anderen Gott meint? Die Stärke dieses Einwandes liegt in seinem impliziten Verweis auf die Trinitätstheologie. Der Geist ist selbst Gott: Das Glaubenkönnen, die Gottesbeziehung, die Heilsgemeinschaft ist selbst göttliche Wirklichkeit. Daher, ließe sich folgern, ist nur das Dreifaltigkeitsbekenntnis Anerkennung des Gottes, den die Kirche bezeugt. Wer so weit geht, hat zu viel bewiesen. Denn Christen bekennen sich ja zum Gott Israels, ohne dass der Glaube Israels trinitarisch wäre; und auch das Neue Testament spricht noch nicht von einem Wesen in drei Personen. Christen explizieren ihren Glauben heute in der Dreifaltigkeitstheologie. Sie bekennen sich damit aber zum „Gott und Vater Jesu Christi“ (2 Korinther 1,3). Deshalb können sie andere Glaubensausdrücke als Bekenntnis zu demselben Gott anerkennen. Kann man bei der Benennung Gottes wirklich von Christus absehen und so das Glauben etwa der Muslime als Bekenntnis desselben Gottes sehen? Auch einander widersprechende, ja sogar verkehrte Angaben können erfolgreich, nämlich eindeutig denselben benennen.63 Allerdings kann man, solange die Geschichte noch 62 An die muslimischen Gläubigen zum Ende des Fastenmonats Ramadan. Rom, 3. April 1991. Die offiziellen Dokumente der katholischen Kirche zum Dialog mit dem Islam. Zusammegestellt von Timo Güzelmansur, Regensburg 2007, Nr. 2300. 63 Felix Körner, „JHWH, Gott, Alla¯h: Drei Namen für dieselbe Wirklichkeit?“, in: Theologischpraktische Quartalschrift 158 (2010), S. 31–38, S. 32: „Dass Muslime von Gott zum Teil anderes sagen als Christen, sogar Konträres, bedeutet nicht, dass es sich bei dem so Bezeichneten um eine andere Wirklichkeit handelte. Mein irdischer Vater wurde von seinen Angestellten auch

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nicht zu ihrer Erfüllung gelangt ist, eine Nennung, die sich auf Gott beziehen soll, nicht so leicht auf ihren Erfolg überprüfen wie die Nennung etwa einer menschlichen Person. Denn Gott liegt nicht in der Raumzeit vor; daher lassen sich sprachlichen Bezugnahmen auf ihn nicht durch Hindeuten vereindeutigen. Will Israel die Frage beantworten, wer Gott ist, weist es auf seine Geschichte. Das Gottesvolk bekennt seinen Gott, der sich in seinen Großtaten als der Herr zu erweisen begonnen hat. Christen werden selbstverständlich immer durch die Christusgeschichte erklären, wen sie mit Gott meinen. Durch ihn können Menschen aus allen Völkern die Gewissheit haben, zum Gottesvolk hinzugenommen zu sein und in Gemeinschaft mit Gott zu stehen. So wird „Jesus Christus“ zum entscheidenden Gottesnamen des christlichen Glaubens (vgl. Philipper 2,9–11). Damit erkennt der christliche Glaube im Christusgeschehen einschließlich der Auferstehung Christi die vollste Vorwegereignung des Geschichtsendes. Es gibt nun allerdings Menschen, die sich zu dem einen Weltenschöpfer und Weltenrichter bekennen wollen, aber nicht anerkennen, dass Gott einen ungekündigten Erwählungsbund mit Israel geschlossen hat und dass Ostern die vollste Vorwegnahme der Erfüllung allen Weltgeschehens ist. So etwa sieht es der Islam. Für die Muslime ist „Jesus Christus“ kein Gottesname. Haben sie damit einen anderen Gott? Die Frage, ob es derselbe ist, kann auf der Ebene „Wie ist Gott?“ und auf der Ebene „Wer ist Gott?“ gestellt sein. Zum ersten muss man feststellen: Muslime sagen ja nicht, dass sich Gott in Christus offenbart hat, dass sich also das Projekt seiner Weltverwandlung am vollsten im Paschageschehen vorwegereignet hat. Im Sinne der Frage „Wie ist Gott?“ glauben Muslime und Christen nicht an denselben Gott. Aber auch unter Christen gibt es auf die Frage, wie Gott ist, stark abweichende Antworten. Hinter der Frage, ob es derselbe Gott ist, steht nun aber auch die andere, immer dazugehörige Erkundung, wer Gott ist, also: Worauf man sich verlässt, wen man als alles bestimmende Wirklichkeit anerkennt. Hierauf würden Muslime nun immer sagen: der, den auch die Bibel bezeugt; zwar wollen sie aufgrund des Koran einige Richtigstellungen am biblischen Zeugnis vornehmen. Dass sie den dort zur Sprache kommenden Gott aber, und nur ihn, bekennen wollen, steht ihnen außer Frage. Wenn wir bekennen und begründen können, dass sich im Christusgeschehen das Geschichtsende in größter je gegebener Fülle ereignet hat, wenn so der Gottesname „Christus“ Kriterium wahren Glaubens ist, darf man dahinter wieder zurückfallen? Auf die Treue im Christus-Bekenntnis kommt es an (vgl. Lukas völlig anders angesprochen und beschrieben als von uns Kindern, ohne dass von zwei unterschiedlichen Personen die Rede gewesen wäre. Dieses Beispiel zeigt, dass auch stark divergierende Formen der Bezugnahme sich auf dieselbe Wirklichkeit beziehen können.“ Und: „Sogar fehlerhafte Bezeichnungen müssen die Bezugnahme nicht scheitern lassen. Selbst wenn man irrig ‚der 43. Präsident von Amerika, Barak Obamah‘ schreibt, ist klar, wen man meint. Ebenso können irrige Gotteslehren doch denselben Gott meinen.“

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12,8). Das treue Bekenntnis besteht jedoch nicht in der Behauptung, mit der eigenen sprachlichen Ausdrucksform die Wahrheit zu besitzen. Bekenntnis ist kein Besitz, sondern Anerkennung von Wirklichkeit. Es enthält daher die Haltung, dass ich von dem, was ich nicht selbst bin, beschenkt werde. Da der christliche Glaube nun bekennt, dass alle Ereignisse der Geschichte in Christus erfüllt sind, werden sich Christen auch immer dafür zu interessieren haben, welche Ereignisse es denn noch gibt und wie sie in Christus zu ihrer Fülle kommen. Eine offene Unzufriedenheit mit dem, was wir bisher erkannt und bekannt haben, liegt daher in jedem geschichtsbezogenen Glauben. Weil der Glaube nicht aus einer Formel, sondern aus anerkannter Wirklichkeit lebt und weil er sich auch auf die weitergehende Geschichte bezieht, ist christliche Bekenntnistreue nie nur Gefundenhaben, sondern immer auch Weitersuchen.64 Aber kann man denn nicht auch weitersuchen, ohne vorauszusetzen, es handle sich um denselben Gott? Warum sollte man ein alternatives Gottesbekenntnis überhaupt als Bekenntnis zum einen Gott anerkennen wollen? Der Sinn einer solchen Anerkennung ist nicht in Analogie zur Ökumene zu denken. In der ökumenischen Bewegung wollen Glaubensgemeinschaften, die Christus als die vollste Vorwegnahme des Geschichtsendes anerkennen, der einen kirchlichen Gemeinschaft näherkommen, etwa durch einen differenzierten Konsens in theologischen Fragestellungen.65 – Im Interreligiösen ist das weder Ausgangspunkt noch Ziel noch Vorgehensweise. Mit welcher Hoffnung führt man dann ein interreligiöses Gespräch, etwa das islamisch–christliche? Wir erhoffen ein glückendes, freies, aneinander interessiertes, gemeinsam gestalterisches Zusammenleben von Menschen aus grundsätzlich66 verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Lebenssichten. Wenn wir dabei anerkennen, dass wir eigentlich denselben Gott bekennen wollen, werden unsere Begegnung unmittelbarer zur gegenseitigen Reinigung und Bereicherung.67 Denn so ist nicht nur eine Debatte

64 Augustinus sieht die Dynamik des Glaubens häufig als gleichzeitiges Gefundenhaben und Weitersuchen; die bekannteste Stelle ist wohl „‚Quaerite Deum, et vivet anima vestra.‘ Quaeramus inveniendum, quaeramus inventum. Ut inveniendus quaeratur, occultus est; ut inventus quaeratur, immensus est. Unde alibi dicitur: ‚Quaerite faciem eius semper.‘ – ‚Sucht Gott und eure Seele wird leben‘. Suchen wir ihn, der zu finden ist! Aber suchen wir ihn auch, den wir schon gefunden haben! Auf dass wir ihn suchen können, um ihn zu finden, ist er verborgen; auf dass wir ihn suchen können, wenn wir ihn schon gefunden haben, ist er unermesslich. Daher heißt es auch anderswo: ‚Sucht sein Antlitz allezeit‘“ (in Ioannis evangelium tractatus 63,1 mit Zitaten aus Psalm 68,33 und 104,4). 65 Konsens in Grundwahrheiten: Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, Nr. 13. 66 Felix Körner, Kirche im Angesicht des Islam. Theologie des interreligiösen Zeugnisses, Stuttgart 2008, S. 17, 346. 67 Sekretariat für Nicht-Christen (heute: Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog), Dialog und Mission (1984), Nr. 21; aufgegriffen von Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an

Einheit Gottes in der klassisch-islamischen Theologie

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ermöglicht, sondern ein Glaubensgespräch. Wenn Muslime und Christen davon ausgehen, dass sie denselben Gott bekennen wollen, erklären sie sich als – aus verschiedenem Zusammenhang kommende – gemeinsame Gottsucher. Der Paulus der Apostelgeschichte geht davon aus, dass man den wahren Gott auch anbeten kann, ohne zu wissen, wer er ist. Paulus sagt das in der Hoffnung, genau dann Christus bezeugen zu können. „Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch“ (17,23). Er unterstellt einfach einmal, dass seine Gesprächspartner dasselbe tun wollen wie er: den Einzigen, der wahrhaft der Anbetung würdig ist, zu verehren. Diese Unterstellung verpflichtet ihn nun keineswegs, alles zu bestätigen, was die andern tun. Gerade weil sie so als Gottsucher anerkannt sind, kann er ihnen aber den Christusglauben anschlussfähig bezeugen. Die Beantwortung der Frage, ob es derselbe Gott ist, enthält also einerseits die Möglichkeit, die überzeugende Wahrheit des Christusglaubens zu verkünden; dies aber nur, wenn andererseits bereits zuvor unterstellt ist, dass die Gesprächspartner gemeinsam Gottsucher sind.

11.

Ergebnis

Klassisch-islamische Theologen können Gottes Einheit erstaunlich dinghaft fassen. Sie reagieren damit offenbar auf den extremen Monismus der Mystik. Sie hat nämlich einen annihilatorischen Zug: Weil Gott einzig ist, ist alles andere nichts. Diese Tendenz ist eine radikale Konsequenz aus der koranischen Ablehnung aller Vielheit in Gott. Ihren Ursprungszusammenhang hat diese Ablehnung im Kampf für die Einheit Gottes und gegen polytheistisch oder christlich wahrgenommene Gotteskonkurrenz. Problem einer Gotteslehre der Verdinglichung, der Annihilation und der Konkurrenzvermeidung ist, dass Gott als Subjekt vorgestellt wird. Eine christliche Gotteslehre, wie sie Pannenberg entwickelt, versteht Gott nicht subjekthaft, sondern personal. Die Person verwirklicht sich, indem sie sich auf den andern verlässt, von ihm her lebt. Auch für ein Verständnis Gottes als wahrhaft unendlich, der daher kein Rivale des Endlichen ist, lassen sich im Koran Ansätze finden.

die Römische Kurie vom 21. Dezember 2012 und in dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von Papst Franziskus (Nr. 250).

Gunther Wenz

Theologie der Vernunft Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchener Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom SS 1969

1.

Christlicher Glaube und vernünftiges Denken

Mit Beginn des Sommersemsters 1968 fanden an der am 1. Oktober des Vorjahres formell errichteten Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München die ersten Lehrveranstaltungen statt; die von der Fakultäts- und Universitätsleitung vorbereiteten Eröffnungsfeierlichkeiten mussten wegen eskalierender Studentenunruhen unterbleiben. Im Vorlesungsverzeichnis ist Wolfhart Pannenberg (1928–2014), der zu den Gründungsmitgliedern der Fakultät zählte, mit einem Kolleg zur Wirklichkeit Gottes und seiner Offenbarung vertreten. Darin entfaltete der Inhaber des Lehrstuhls Systematische Theologie I seine Projektskizze „Offenbarung als Geschichte“, mit der sich Anfang des Jahrzehnts innerhalb des deutschen Protestantismus ein neuer theologischer Gesamtentwurf in Abgrenzung zur Wort-Gottes-Theologie Karl Barths und der Bultmannschule angekündigt hatte.1 Einem weiteren Großprojekt innerhalb seines Konzeptionsentwurfs widmete Pannenberg eine von einem Tutorium begleitete Lehrveranstaltung im Sommersemester 1969. Ihr Titel lautete: „Theologie der Vernunft“. Das Manuskript der Vorlesung befindet sich im Archiv der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und ist im Nachlassfindbuch unter der Nummer 2.1.5.60 verzeichnet. Eine korrekturbedürftige Transkription kann von Interessenten auf Anfrage bei der Pannenberg-Forschungsstelle der Münchener Hochschule für Philosophie eingesehen werden. Über die Theologie der Vernunft hatte Pannenberg bereits in seiner Zeit in Mainz zweimal an der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät gelesen, 1 Offenbarung als Geschichte in Verbindung mit R. Rendtorff, U. Wilckens, T. Rendtorff hg. v. Wolfhart Pannenberg, Göttingen (1961) 31965. Im Nachwort zur zweiten Auflage (a. a. O., 132– 148) anerkennt Pannenberg vorbehaltlos die Berechtigung der kritischen „Frage nach dem Begriff des Wissens und Erkennens“ (a. a. O., 146), den sein Offenbarungskonzept impliziere; um sie zu beantworten, sei allerdings „eine ganze ‚Theologie der Vernunft‘ erforderlich“ (ebd.).

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nämlich im WS 1963/64 und im SS 1967.2 In der Einleitung, mit der er das Kolleg im Herbst 1963 eröffnete (= E I), wird das Gesamtprogramm der Unternehmung in knappen Sätzen skizziert. Christlicher Glaube und vernünftiges Denken stehen sich nicht beziehungslos gegenüber, sondern bilden eine Spannungseinheit, die weder eine unmittelbare Gleichsetzung noch eine Separierung beider erlaubt. Der christliche Glaube muss denkende Rechenschaft über sein Wesen und seine Inhalte ablegen, um zu einem entwickelten Bewusstsein seiner selbst und des Grundes zu gelangen, der ihn fundiert. Er bedarf daher der Theologie als einer Weise vernünftigen Denkens. Umgekehrt kann die Vernunft ihrerseits der Theologie und des Glaubens nicht entbehren, um jener absoluten Sinnprämisse gewahr zu werden, in deren Voraussetzung sie gründet und ohne die sie keinen Bestand hat. Weil sie konstitutiv auf Letztbegründung ausgerichtet ist, gehört die Reflexion auf das Absolute unveräußerlich zum Wesen der Vernunft. Pannenberg will das Problem der Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube, wie er zu Beginn der Mainzer Vorlesung ausdrücklich erklärt, nicht defensiv, sondern offensiv angehen. Seine Angriffslust ist dabei zum einen gegen eine Theologie gerichtet, die sich durch autoritäre Gehorsamsforderung, durch unmittelbares Insistieren auf subjektiver Gewissheit und Evidenzerfahrung, durch Reduktion von Religion auf Moral oder auf andere Weise gegenüber den Ansprüchen der Vernunft immunisiert und gedankliche Rechenschaft schuldig bleibt. Die Offensive zielt aber auch und im gegebenen Zusammenhang vor allem darauf, durch konstruktive Kritik beschränkter Verständnisformen von Vernunft deren wesenskonstitutiven Bezug auf Religion und Theologie erneut zur Geltung zu bringen. Pannenberg geht es vornehmlich darum, die theologischen Impli-

2 Vgl. ferner das im Nachlassfindbuch unter 2.1.5.61 verzeichnete Manuskript „Theology of Reason“ 1966/67 (Harvard). „The Course Outline“ benennt nach der problemorientierten Einleitung (Faith and Reason) zwei Teile: Types of Reason. The Reality of Reason. Die Bibliographie zu dem Unterabschnitt “Historical Reason, or the Historicity of Reason” verweist auf Band I und VII von Wilhelm Diltheys Gesammelten Schriften, auf Diltheymonographien von F.W. Bollnow und H.A. Hodges sowie auf Hans Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“ von 1962. Hinzugefügt ist ein Verweis auf Heideggers „Being and Time“, insbesondere auf die Ausführungen zu Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. – Im später nach ihm benannten Kreis um Pannenberg scheint man sich schon zu Studiumszeiten neben Jaspers intensiv mit Heidegger und insbesondere mit „Sein und Zeit“ beschäftigt zu haben. Eine besondere Bewandtnis hat es mit dem gemeinsamen Besuch in der Schwarzwälder Berghütte des Meisters am Nachmittag des 16. August 1952, den offenbar Ulrich Wilckens von Hinterzarten aus auf Initiative Rolf Rendtorffs arrangiert hatte. Man reiste auf zwei Motorräder (RT 125; Zündapp 200) an, Rolf Rendtorff und Dietrich Rössler auf dem einen, Klaus Koch und Pannenberg auf dem anderen. Auf dem Weg nach Todtnauberg kam es zu einem Sturz auf verölter Fahrbahn, der die Mannschaft indes nicht von der bevorstehenden Aufwartung abhalten konnte. Ein Dankesbrief vom Herbst des Jahres gibt offizielles Zeugnis von der Begegnung; s. o. 15 ff. sowie 71 ff.

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kationen zu erheben, die für Vernünftigkeit konstitutiv sind, und damit die Vernunft selbst zum theologischen Thema zu machen. Für das am 21. April 1969 eröffnete Münchener Kolleg wurde eine zusätzliche Einleitung verfasst (=E II), die im handschriftlichen Material derjenigen der Mainzer Vorlesung vorangestellt ist und nach Ausweis einer dem Manuskript beigegebenen Gliederung zusammen mit dieser (E I) vorgetragen wurde. Die Münchener Einleitung beginnt mit einem Verweis auf den Vortrag „Glaube und Vernunft“, den Pannenberg in den Jahren 1965 und 1966 vor den theologischen Fachschaften in Marburg und in Hamburg gehalten hatte und der im ersten Band seiner gesammelten Aufsätze zu „Grundfragen systematischer Theologie“ veröffentlicht worden ist.3 Die für den Druck überarbeitete Einleitung schließt zum Teil wörtlich an die Mainzer Prolegomena an und enthält auch sonst viele formale und inhaltliche Bezüge zu dem Kolleg über „Theologie der Vernunft“. Das Verhältnis von Glaube und Vernunft, so Pannenberg in dem 1967 publizierten Vortragstext, wird sich „sehr verschieden darstellen, je nachdem, mit was für einem Verständnis von Vernunft man es zu tun hat. Entsprechendes gilt natürlich vom Glaubensverständnis. … Im Hinblick auf die Vieldeutigkeit des Vernunftverständnisses will ich mich auf drei typische Formen beschränken: wir werden die apriorische Vernunft, die sogenannte ‚vernehmende‘ Vernunft und die geschichtliche Vernunft in den Blick nehmen.“4 Nach Pannenberg bezeichnet „die Entdeckung der Geschichtlichkeit der Vernunft … die Hauptrichtung, in der das Vernunftverständnis seit Kant vertieft worden ist“5. Die Besinnung auf sie führe konsequent in den Zusammenhang der Theologie und namentlich der Eschatologie, weil ohne proleptisch-antizipatorischen Vorgriff auf noch ausstehende, künftige Sinntotalität, die Vergangenem und Gegenwärtigem bleibende Bedeutung verleihe, die Vernünftigkeit der Vernunft in ihrem geschichtlichen Wesen nicht begründbar sei. Gelte dies, dann erweise sich Vernunft von sich aus und um ihrer selbst willen als aufgeschlossen für die christliche Religion und ihren Glauben. Der Glaube kann „nicht im Gegensatz zur Vernunft stehen. Er erinnert vielmehr die Vernunft an ihre eigene absolute Voraussetzung, in dem er von der eschatologischen Zukunft spricht und von ihrem Vorschein in der Geschichte der Auferstehung Jesu, von der der Glaube herkommt. Damit kann der Glaube der Vernunft dazu verhelfen, in ihrer Reflexion sich selbst voll durchsichtig zu werden. Schon aus diesem Grunde – wenn es sonst keinen gäbe – sollte die Theologie ihr Reden von der eschatologischen Zukunft nicht als überholt preisgeben; denn gerade dadurch gäbe sie den 3 W. Pannenberg, Glaube und Vernunft, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 237–251. 4 A. a. O., 244. 5 A. a. O., 247.

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positiven Bezug des Glaubens zum Wesen der Vernunft auf. Gerade in seiner Ausrichtung auf eine letzte, eschatologische Zukunft kann der Glaube sich als Kriterium für die Vernünftigkeit der Vernunft bewähren.“6

2.

Typologie des Vernunftverständnisses

Die Einleitung der Münchener Vorlesung über „Theologie der Vernunft“ greift den Gedankengang des Vortrags zu „Glaube und Vernunft“ auf, bringt einige vorbereitende geistesgeschichtliche Beispiele und theologische Gesichtspunkte zum Problem der Verhältnisbestimmung seiner beiden Titelbegriffe bei, um mit knappen Bemerkungen zu der im ersten Vorlesungsteil zu entwickelnden Typologie unterschiedlicher Vernunftverständnisse zu schließen. „Es kann“, so Pannenberg, „nicht Aufgabe einer Erörterung sein, die auf einen gegenwärtig vertretbaren, haltbaren Sinn von ‚Vernunft‘ und ‚Vernünftigkeit‘ zielt, alle Einzelheiten in dem Prozeß philosophiegeschichtlicher Wandlungen des Vernunftverständnisses zu registrieren. Die Darstellung wird sich vielmehr bemühen, bestimmte Typen des Vernunftverständnisses zu konstruieren, die eine Vielfalt von geschichtlich aufgetretenen Positionen decken und durch ihre innere Problematik zum jeweils folgenden Typ überleiten, der seine Überlegenheit darin besitzt, daß er diesen Problemen, aber auch den Wahrheitsmomenten der vorigen Position gerecht zu werden vermag. Durch die Erörterung einer Reihe solcher Typen oder ‚Aspekte‘, die im groben auch eine geschichtliche Abfolge repräsentieren, soll schließlich nicht nur das der gegenwärtigen Diskussion angemessene Niveau der Vernunftproblematik erreicht, sondern auch ein Bewusstsein davon ermöglicht werden, welche Aspekte jede gegenwärtige Auffassung von ‚Vernunft‘ in sich berücksichtigen sollte und wo – weil das nicht geschieht – gegenwärtige Konzeptionen der Vernunft unter dem Niveau des gegenwärtigen Standes der Problementwicklung bleiben. Der Durchgang durch eine sowohl historisch wie sachlich begründete Abfolge von Typen des Vernunftverständnisses gibt also ein anders kaum erreichbares Kriterium zur Beurteilung gegenwärtiger Auffassungen von ‚Vernunft‘ an die Hand.“ (E II,13 f.) Inhalt und Ziel des ersten Kollegteils sind damit benannt. Die Einleitung der Vorlesung SS 1969 schließt mit einer kurzen Vorschau auf die Thematik des zweiten Teils. Am Endpunkt der vernunfttypologischen Reihe, „wo das für unser Urteil höchste Niveau der Vernunftproblematik erreicht ist, wird dann der Versuch gemacht werden müssen, die wichtigsten Funktionen der Vernunft aus der so gewonnenen Perspektive zu behandeln. Dadurch wird sich wiederum ein Urteil über die Fruchtbarkeit und Sachgemäßheit dieser Perspektive ergeben – 6 A. a. O., 251.

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inwieweit sie in der Lage ist, das Phänomen der Vernunft differenziert zu erhellen und die Vielfalt ihrer Aspekte zu integrieren.“ (E II,14) Der zitierten Münchener Einleitung, die vierzehn, von Pannenberg selbst paginierte Seiten umfasst und aus späterem Anlass mit einigen Zusätzen geringeren Umfangs versehen wurde, die sich deutlich vom ursprünglichen Text abheben lassen, ist ein handschriftliches Inhaltsverzeichnis beigegeben, das zwei Gliederungsentwürfe enthält. Eine dritte Gliederungsvariante bietet ein maschinenschriftlicher Text, der die thematische Abfolge der zwölf Vorlesungen benennt, die – unterbrochen nur durch Pfingsten – vom 21. April bis zum 14. Juli 1969 jeweils montags gehalten wurden; Hinweise auf die im Tutorium zu behandelnden Texte sind beigegeben. Vergleicht man die Gliederungsentwürfe der Vorlesung miteinander, so zeigen sich nicht unerhebliche Abweichungen. Sie betreffen vor allem den zweiten Vorlesungsteil, dessen thematische Bestände nicht von Anfang an in fixer Form feststanden und erst im Laufe der Vorlesungszyklen genauer ausgearbeitet wurden, wobei die Zuordnung der Themenbestände variieren konnte. Gliederungsvarianten begegnen aber auch in Bezug auf den ersten Vorlesungsteil, auf den sich seiner Grundlegungsfunktion wegen im Folgenden die Aufmerksamkeit konzentrieren soll.7 In einem der Vorlesungseinleitung WS 1963/64 beigelegten Handzettel notiert Pannenberg folgende Reihung von Typen des Vernunftverständnisses: 1. Rezeptive. Platon, Locke; 2. Produktive/apriorische. Kant – die vorangestellte Bezeichnung: Apriorisch/schöpferische wurde gestrichen; 3. Reflektierende. Hegel (Phänomenologie); 4. Geschichtliche Vernunft. Dilthey. Ein beigefügter 5. Abschnitt ist mit der Überschrift versehen: Vernunft und Sprache, Heidegger, Sprachanalyse. Zum geplanten zweiten Teil wird lediglich vermerkt: Aspekte der Vernunft. Die handschriftliche Erstfassung der Gliederung des Vortrags SS 1969, der die Themenabfolge in dem von Pannenberg durchnummerierten8 Kollegmanuskript 7 Für die Inhalte des zweiten Teils, auf die nur verhältnismäßig knapp eingegangen wird, sei auf den Beitrag von Wolfgang Greive in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ 58 [2012], 96–131 verwiesen: „Wolfhart Pannenbergs Vorlesung ‚Theologie der Vernunft‘. Eine Skizze.“ Den grundlegenden Referenztext bildet bei Greive wie in der vorliegenden Abhandlung das vollständige Manuskript der Vorlesung SS 1969. Berücksichtigt wird außerdem eine Vorlesungsmitschrift des Autors vom SS 1967. Besonders interessant ist Greives Vergleich der Einleitungen ins jeweilige Kolleg. Mit Recht wird der Stellenwert betont, den die Erörterungen zum hebräischen und zum griechischen Wahrheitsverständnis in der zweiten Einleitung einnehmen (vgl. W. Pannenberg, Was ist Wahrheit?, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie, 202– 222). Auf die unterschiedliche Zahl der bei Pannenberg begegnenden Typen des Vernunftverständnisses nimmt Greive u. a. in Anm. 17 Bezug. Seine Zählung orientiert sich am Manuskript der Vorlesung vom SS 1969. Warum im Folgenden an einer Stelle von diesem Verfahren abgewichen wird, wird zu begründen sein. 8 Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Paginierung; Unterstreichungen werden durch Kursivierung wiedergegeben. Einschübe sind von Pannenberg durch Buchstabenreihungen markiert, die der betreffenden Seitenzahl beigefügt sind. Anmerkungen befinden sich in der Regel auf ansonsten textfreien Manuskriptrückseiten, die der betreffen-

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entspricht, sieht dagegen, wie es scheint, einen weiteren Typ des Vernunftverständnisses vor, so dass sich folgende Reihung ergibt: Kap. 1: Die rezeptive Vernunft (11–32); Kap. 2: Die apriorische Vernunft (32–59); Kap. 3: Die Offenheit der Vernunft (59–66); Kap. 4: Die reflektierende Vernunft (67–115); Kap. 5: Die geschichtliche Offenheit der Vernunft (115–139). Der Abschnitt über Vernunft und Sprache ist nun als 6. Kapitel (139–161) dem zweiten Vorlesungsteil zugeordnet, der die Überschrift „Vernunft als Anwalt der Einen Wahrheit“ trägt und über das sechste hinaus vier weitere Kapitel enthält: Kap. 7: Die Reflexion auf die absolute Voraussetzung der Vernunft (162–176); Kap. 8: Phantasie, Begriff und Wissenschaft (176–199 [sic!]); Kap. 9: Erkenntnis und Irrtum (Die Vorläufigkeit vernünftiger Einsicht) (191); Kap. 10: Wissenschaft, Metaphysik und Theologie (192–210). Im Vergleich zum Gliederungsentwurf der 63/64er Vorlesung zählt die Konzeption vom SS 69 offenbar einen zusätzlichen Typ des Vernunftverständnisses. Doch gibt der „Blick auf die moderne Antithese zur apriorischen Vernunft“ (59), den Pannenberg in den in eckige Klammern gefassten Schlusszeilen des Kantabschnittes ankündigt, keinen wirklich eigenen Typ von Vernunftverständnis zu erkennen. Knapp ins Auge gefasst werden Ausführungen von K. Jaspers, der „die Strenge des Begriffs vermissen lässt“ (63), sowie von A.N. Whitehead (Teilhard de Chardin) und E. Bloch, die freilich nach Urteil Pannenbergs mit der Reflexionsstruktur der Vernunft zugleich ihre Geschichtlichkeit „übersprungen“ (67) haben und nicht in der Lage sind, die Neuheit des Neuen, von dem sie sprechen, angemessen zu bestimmen. Die Offenheit der genannten Vernunftkonzeptionen ist beschränkt, ihr systematischer Status nicht geeignet, eine eigenständige vernunfttypologische Stellung zu behaupten. In Form eines zweiten, mit der ausdrücklichen Qualifikation „besser“ versehenen handschriftlichen Gliederungsentwurfs bestätigt Pannenberg den benannten Sachverhalt selbst, indem er unter Umstellung der Paragraphen- auf Kapitelzählung9 zur ursprünglichen vernunfttypologischen Viererreihung zurückkehrt: Kap. 1: Die rezeptive Vernunft; Kap. 2: Die Vernunft als bestimmende Kraft (apriorische und schöpferische Vernunft; Einbildungskraft); Kap. 3: Die reflektierende Vernunft; Kap. 4: Die Geschichtlichkeit (Vorläufigkeit) und Offenheit der Vernunft. In der Vorlesung scheint diese Reihung beibehalten worden zu sein, wie der erwähnte maschinenschriftliche Vorlesungsplan nahelegt (vgl. Findbuch 2.1.6.63). Auf die rezeptive und apriorische folgt die reflektierende Vernunft, die nun vorzugsweise dialektische Vernunft genannt wird; dann wird in zwei Vorlesungen (2. und 9. Juni) den Stelle gegenüber liegen. Der Transkription sind die nötigen Hinweise zur Textgestaltung beigegeben. Es bedürfte eigener Forschungen, die von Pannenberg verwendete Primär- und Sekundärliteratur genau zu sichten. 9 Der ursprüngliche §3 fällt dadurch aus der Zählung und kommt in Kap. 2 (zunächst §2) über die schöpferische (apriorische) Vernunft zu stehen, wohingegen der vormalige §4 zu Kap. 3 über die reflektierende Vernunft wird.

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von der Offenheit und der Geschichtlichkeit der Vernunft gehandelt. Zusatzanmerkungen und Großeinschübe im Manuskript (vgl. 88a–i; 117a–z [13]) weisen darauf hin, dass Pannenberg seine Vorlesung zur „Theologie der Vernunft“ beständig aktualisiert hat. Spezieller Forschungen wert wäre die Klärung der Frage, wie sich die vorangegangenen Fassungen zur Vorlesung SS 1969 verhalten und welche Fortschreibungen diese in späterer Zeit gefunden hat.

3.

Die rezeptive Vernunft

Vernunft kommt von Vernehmen. Alle Erkenntnis hebt mit der Rezeption eines Gegebenen an. Die Anfänge der Philosophie bieten dafür an sich selbst einen Beleg.10 „Für die griechischen Denker war das Wissen in erster Linie Hinnahme der Wahrheit und des Seienden, nicht etwa ein schöpferischer Akt des Menschen, sondern eher das Empfangen der Selbstenthüllung des Seienden.“ (11) Erkenntnis verdankt sich danach in erster Linie nicht der Tätigkeit des Erkennenden, sondern einer Erleuchtung, die es primär zu empfangen gilt. Dieser Grundsatz hat seine Richtigkeit nicht nur in Bezug auf die ionischen Naturphilosophen oder andere anfängliche Denker in der Übergangsphase vom Mythos zum Logos. Er trifft für alle Vorsokratiker und auch für Sokrates selbst zu, dessen Idee des Guten bestimmend werden sollte für die Entwicklung insbesondere des platonischen Denkens, in welchem die Vernunft erstmals zum entwickelten Bewusstsein ihrer selbst und zu der Einsicht gelangte, nicht erst Folge, sondern bereits implizite Voraussetzung jeder Seinserkenntnis zu sein. Ideenerkenntnis, ohne welche das Sein des Seienden nicht erkannt werden kann, ist nach Platon kein Resultat menschlicher Gedankenproduktion, sondern Ergebnis einer Einsicht, die gleich dem Sonnenlicht einfällt und Erleuchtung bewirkt. Für die christliche Patristik sollte diese Erkenntnislehre bestimmend werden, und durch Augustins Illuminationstheorie hat sie prägenden Einfluss auf weite Teile der Geistesgeschichte des abendländischen Mittelalters gewonnen. Dass auch Aristoteles dem platonischen Ansatz nicht fernsteht, belegt Pannenberg u. a. an der Tatsache, dass der Stagirite die vernünftige Aktivität des nous poietikos, der aus den seelisch erinnerten Abbildern des sinnlich Wahrgenommenen das Allgemeine heraushebt, um so Begreifen zu ermöglichen, nicht etwa zu einem menschlichen Seelenvermögen erklärt, sondern direkt auf die Einwirkung des göttlichen Nus zurückführt. Dass die Menschenseele auch in sinn10 Vgl. dazu den im Findbuch unter 2.2.68 angeführten Text: „Rezeptive Vernunft: Die antike Deutung der Erkenntnis als Hinnahme vorgegebener Wahrheit.“ Er liegt als Typoskript vor und ist mit 144 Anmerkungen und einer handschriftlichen Notiz versehen. Als Vorlage diente erkenntlich die Manuskriptversion der entsprechenden Vorlesungspassage vom WS 1963/64.

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licher Hinsicht primär leidentlich zu denken ist, versteht sich unter aristotelischen Bedingungen von selbst. Diese Auffassung wird auch von der stoischen Erkenntnislehre geteilt, für die in ideeller Hinsicht das Inspirationsthema bestimmend bleibt. Es ist „der in der menschlichen Seele wirkende göttliche Logos, der die vielerlei Sinneseindrücke ordnet und zusammenfasst, so dass jene Sicherheit des Wissens entsteht, die der Stoiker erstrebt“ (17 Anm.). In seinen Folgeteilen ist der erste Abschnitt zum rezeptiven Vernunfttyp, der die Erkenntnis als Hinnahme des gegenwärtig Wahren in der Antike thematisiert, vor allem den Schwierigkeiten gewidmet, die sich für antike Erkenntnistheorien aus dem problematischen „Übergang von den Sinneseindrücken zur begrifflichen Erkenntnis“ (17) ergeben. Diese Schwierigkeiten, die er in Bezug auf Platon und Aristoteles eingehend erörtert, geben Pannenberg Anlass zu einem ersten Vergleich zwischen griechischem und hebräisch-jüdischem Denken (vgl. 19 ff.) und zu dem für die Gesamtkonzeption wichtigen Hinweis, die Abblendung der „Zeitlichkeit des wahrhaft Seienden (bzw. der Wahrheit)“ (17c) sei ursächlich für die verbleibenden Aporien antiker Philosophie. Diese Thematik ist hier nicht zur Darstellung zu bringen. Vermerkt sei lediglich, dass sich die wesentlichen Aspekte dessen, was Pannenberg am Ende seiner regulären akademischen Lehrtätigkeit im Wintersemester 1993/94 zum Verhältnis von Platonismus, Aristotelismus sowie Stoizismus und jüdischchristlicher Tradition ausgeführt hat11, bereits dreißig Jahre vorher finden. Entsprechendes gilt für die Bemerkungen zur Erkenntnis als Hinnahme des Wirklichen in Mittelalter und Neuzeit, die den zweiten Abschnitt der Ausführungen zur rezeptiven Vernunft in der Vorlesung vom Wintersemester 1963/64 bilden. Sie weisen voraus auf die beiden Kapitel von „Theologie und Philosophie“, die von der Emanzipation der neuzeitlichen Kultur vom Christentum und den für die frühe Neuzeit bestimmenden Ansatz der Philosophie handeln. Dies gilt vor allem für den Passus über John Locke und die Empiristen.12 Als Erben antiker Fragestellungen erscheinen die Anhänger Lockes und Humes Pannenberg am ehesten in ihrem Bestreben, „alles Erkennen letztlich auf Empfang einer vorgegebenen Wahrheit zu verstehen“ (24 Anm.). Dies rechtfertige es, „den Empirismus in das Kapitel ‚rezeptive Vernunft‘ einzubeziehen. Aber verglichen mit altgriechischen Theorien des Erkennens ist im Empirismus der Grundgedanke des Empfangs vorgegebener Wahrheit beschränkt worden auf die Sphäre der Sinneswahrnehmung.“ (Ebd.) Zu berücksichtigen ist nach Pannenberg ferner, dass im neuzeitlichen Empirismus die Sinneswahrnehmung im Unterschied zu den antiken Konzeptionen höher bewertet werde als der Intellekt. Die mittelalterlichen Wurzeln dieser Entwicklung werden unter besonderer Be11 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 37 ff. 12 Vgl. a. a. O., 157 ff.

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rücksichtigung des Ockham’schen Konzeptualismus freigelegt. Was sachlich iteriert, ist nach Pannenbergs Urteil das alte Problem des Verhältnisses von sinnlicher Wahrnehmung und begrifflicher Erkenntnis. Diesbezüglich hätten weder Locke oder Hume noch auch die Hauptrepräsentanten der rationalistischen Traditionslinie aufgeklärter Philosophie – Descartes, Leibniz und Wolff – eine angemessene Lösung beigebracht. Aus dieser Aporie erhellt die überragende Stellung Immanuel Kants, dessen Erkenntnistheorie sich von empirizistischen und rationalistischen Abstraktionen gleichermaßen fernzuhalten suchte. An Kants Ansatz exemplifiziert Pannenberg den zweiten Vernunfttyp, nämlich denjenigen der schöpferischen, produktiven, apriorischen Vernunft.

4.

Die produktiv-apriorische Vernunft

Vorbereitet werden Pannenbergs Erörterungen zur Kant’schen Vermittlung des Gegensatzes von Empirismus und Rationalismus durch einige Überlegungen namentlich zu Thomas von Aquin und zu Nikolaus von Kues, worauf hier nicht einzugehen ist. Was Kants Erkenntnistheorie betrifft, wie sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ grundgelegt ist, so verbinden sich in ihr Empirismus und Rationalismus zu einer transempirischen Theorie des Empirischen. Sie weist apriorische Vernunftstrukturen auf, die als Möglichkeitsbedingung jeder empirischen Erkenntnis fungieren, ohne selbst empirischer Herkunft zu sein. Sie löst aber die Vernunftapriori nicht vom Bezug auf Empirie ab, um ihnen einen transzendenten Status zuzuerkennen; ihre Geltung wird im Gegenteil von aposteriorischen Beziehungszusammenhängen abhängig gemacht, die für sie konstitutiv sind. Kants transzendentale Erkenntnistheorie transzendiert das Empirische, ohne dass unter ihren Bedingungen von einer transempirischen Transzendenz die Rede sein könnte. Seine theoretische Vernunftkritik zielt auf Destruktion traditioneller Metaphysik, um ihren Sinngehalt in konstruktive Praxis zu transformieren. Der Transzendentalphilosoph zeigt, um mit Pannenberg zu reden, „daß aus der apriorischen Struktur des menschlichen Geistes nur eine Theorie der menschlichen Erkenntnis, nicht aber eine apriorische Theorie des Seienden an sich, eine apriorische Ontologie, zu begründen ist“ (40 unter Verweis auf KrV A247/B303). Für eine apriorische Theontologie gar fehle in Kants Denken jede Grundlage. Sein Begriff von Vernunft sei und bleibe empiriegebunden und erlaube in theoretischer Hinsicht von Ideen lediglich einen regulativen, nicht aber einen objektiven Gebrauch zu machen. Verstand und Vernunft fungieren bei Kant nicht als selbständige Erkenntnisquellen jenseits der Empirie; ihre apriorischen Elemente sind zwar transempirischer Natur und auf Empirie nicht reduzierbar, aber ohne Bezug auf sie mit keinem Gebrauchs- und Erkenntniswert versehen. Erst durch Beziehung auf Anschauung

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gewinnen die Verstandeskategorien ihre Gültigkeit, und nur in ihrer regulativen Funktion für verständiges Erfahrungswissen sind die Vernunftideen Seele, Welt und Gott von Bedeutung. Ein objektiver Gebrauch ist von den Grundthemen der klassischen metaphysica specialis nicht nur faktisch nicht zu machen, ein solcher Gebrauch ist nach Kant theoretisch prinzipiell ausgeschlossen. Breit dargelegt wird Kants erkenntnistheoretischer Ansatz von Pannenberg anhand der Lehre von Raum und Zeit als apriorischer Anschauungsformen, wie die transzendentale Ästhetik sie entfaltet. Grundiert ist die Darstellung durch ausführliche Bezugnahmen auf die Debatte, die einst zwischen Leibniz und dem Newtonschüler Samuel Clark zur Raum-Zeit-Thematik stattfand. Sie hat auch fernerhin Pannenbergs Interesse auf sich gezogen. Newton und Clark fassen Raum und Zeit als Realitäten auf, wohingegen sie Leibniz als ordines, nicht als res, also als Gedankengebilde zum Zwecke der Wirklichkeitsordnung gelten. Unbeschadet dieser Differenz führen sowohl Clark als auch Newton Raum und Zeit auf Gott zurück. „Beiden gelten Raum und Zeit als die Mittel der göttlichen Weltordnung, die der Mensch nur nachvollzieht, sei es durch sinnliche Erfahrung oder durch sein Denken. Kants Bemühen nun war, lange bevor er die Kritik der r. Vernunft schrieb, darauf gerichtet, eine Vermittlung zu finden zwischen Newton (dessen Physik er für unbezweifelbar hält) und Leibniz (der die ontologischen Aporien des Newton’schen Raumbegriffes zu vermeiden wusste).“ (43) In seiner kritischen Erkenntnistheorie ist Kant nach Pannenberg diese Vermittlung gelungen, aber um den Preis einer anthropozentrischen Reduktion. „Durch die Beziehung von Raum und Zeit auf den Menschen konnte Kant … sowohl Newton gerecht werden darin, daß wir Raum und Zeit als etwas Reales erfahren (nicht als bloßes Gedankending), als auch Leibniz darin, dass Raum und Zeit nicht als unabhängig existierende Substanzen und auch nicht als reale Attribute Gottes gedacht werden können; sie sind also nicht absolut real, sondern nur für unsere Erfahrung. Damit daß der Mensch und seine Erfahrung zum letzten Bezugspunkt der Aussagen über Raum und Zeit gemacht wird, sind alle weitergehenden Fragen unterbunden.“ (44)

Durch anthropozentrische Reduktion und Überführung von Ontologie in eine Theorie menschlichen Erkennens, das sich an die Grenze des Endlichen gebunden weiß, hat Kant nach Pannenberg zwar den traditionellen aufklärungsphilosophischen Antagonismus zwischen Rationalismus und Empirismus zu beheben vermocht, dafür aber „ein anderes Problem eingetauscht“ (ebd.), nämlich dasjenige der Übereinstimmung der subjektiven Anschauungsformen mit dem objektiven Gehalt der angeschauten Wirklichkeit. Dieses Problem sei nicht auf die transzendentale Ästhetik beschränkt, sondern wiederhole sich strukturanalog auf allen Theorieebenen der „Kritik der reinen Vernunft“. Durch seine „Übertragung bestimmter Funktionen von Gott auf den Menschen“ (46)

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habe Kant das individuelle Problem des Verhältnisses von Denken und Sein gleichsam auf Dauer gestellt und seine theoretische Unlösbarkeit festgeschrieben. Dies trete im Zusammenhang der transzendentalen Analytik ebenso zutage wie im Kontext der transzendentalen Dialektik. Habe der Gott der traditionellen Metaphysik die Einheit von Ich und Welt theologisch gewährleistet, so sei bei Kant der Hiatus zwischen dem Ichsubjekt transzendentaler Apperzeption und der Welt als dem Inbegriff alles wirklichen und möglichen Seins definitiv. Trotz der Aporien, die sie bewerkstelligt habe, gesteht Pannenberg „Kants Übertragung der Ontologie in Erkenntnistheorie“ (47) zu, unaufgebbare Einsichten auf den Weg gebracht zu haben. Sie betreffen seinem Urteil gemäß den produktiven Charakter der Vernunft, der dem einschlägigen Vorlesungsabschnitt den Titel gegeben habe und in Kants Lehre von der Phantasie besonders eindrucksvoll herausgearbeitet worden sei. Als produktive Einbildungskraft vermittle die Phantasie Kant zufolge zwischen Sinnlichkeit und Verstand, um darüber hinaus „eine Schlüsselposition für das Verständnis der Erkenntnis“ (51) überhaupt dadurch zu gewinnen, das sie auf den schöpferischen Charakter der Vernunft insgesamt verweise. Bei Kant selbst bleibt dieser Charakter Pannenberg zufolge zwar insofern unterbestimmt, als er die Vernunft an invariante Strukturen des Apriorischen binde. „Ihm schwebte eben das Ideal eines – wenigstens im Grundsätzlichen – geschlossenen Systems der Erkenntnis vor, wie er es in Mathematik und Newton’scher Physik vorhanden glaubte. Daß Erkenntnis ein geschichtlicher Prozeß ist, in welchem mit dem Einzelnen auch das Ganze und die Prinzipien in ständiger Bewegung sind, scheint Kant kaum als ein für das Wesen der Vernunft fundamentales Phänomen gesehen zu haben.“ (52) Gleichwohl habe er durch seine Lehre von der produktiven Einbildungskraft zur Beförderung eines prozessualen Verständnisses von Erkenntnis beigetragen. Kants Lehre von der Phantasie öffnet nach Pannenberg das Feld für eine Fülle von Vernunftentwürfen, die den Rahmen des apriorisch Festgelegten sprengen und immer neue Erfahrungsmöglichkeiten erschließen. Sie lassen sich nicht von vorneherein und auch nicht definitiv auf den Begriff bringen, sondern bereiten eine Zukunftsoffenheit vor, wie sie geschichtlicher Vernunft gemäß ist und allein von ihr angemessen erfasst werden kann. Denken hat sich an Erfahrung zu bewähren. Aber die „Bewährung unseres Denkens an der Erfahrung scheint selbst ein unabsehbarer Prozeß zu sein, bei dem ständig das Denken die Sinneserfahrung deutet, die Sinneserfahrung das Denken zur Umbildung, zu neuen Entwürfen veranlasst (mehr mittelbar als unmittelbar)“ (56). Vernünftige Erkenntnis vollzieht sich in einem unabschließbaren Prozess. Darauf wird in einem Sonderabschnitt (Die Offenheit der Vernunft), der auf Kommendes vorausweist und Pannenbergs eigene Position antizipiert, unter Verweis auf Hamanns, Herders und Jacobis kritische Reaktionen auf Kant sowie auf W. Kamlah, K. Jaspers, A. W. Whitehead, Teilhard de Chardin und H. Bergson eigens Bezug genommen, bis

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dann nach knappen Bemerkungen zur nachkantischen Entwicklung bei Fichte, Schelling und Schleiermacher am Beispiel von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ der Typus reflektierender Vernunft gekennzeichnet wird. Durch vernünftige Reflexion tritt die Vernunft in eine Beziehung zu sich und zu der Grenze ihrer jeweiligen Bestimmungsmomente, die sie sich zu Bewusstsein bringt. „Diese Bewegung, daß das Denken, angespornt von der Erfahrung, die es mit sich selber macht (im Horizont der Daseinserfahrung im umfassendsten Sinne) kritisch auf sich selbst reflektiert, die Schranken der eigenen Resultate aufsucht, um sie zu überwinden – das ist … das Wesen der reflektierenden Vernunft. Diese kritischen Reflexion auf sich selbst hat Kant weder als Wesen der Vernunft erfaßt, noch auch hinsichtlich seines eigenen Systems durchgeführt.“ (57) Der dadurch bedingte Mangel wurde von Hegel zum Einwand gegen Kant erhoben und zum Motiv genommen, die Grenze der Vernunftkritik konstruktiv zu überschreiten. Als gewusst ist die Schranke des Bewusstseins gedanklich bereits transzendiert.

5.

Die reflektierende Vernunft

Kants Philosophie entzweit, was zusammengehört. „Das Erkenntnisvermögen, wie er es darstellte, war in ein Gegenüber zur realen Welt gebannt (daher der Dualismus von Denken und Ding an sich). Kant hielt die Vorstellung dieses Gegenüber unverändert fest. Er sah nicht, daß jede konkrete Erfahrung dieses Gegenüber aufhebt, nicht endgültig, aber in vorläufiger Weise, sofern sie Wahrheit hat, Übereinstimmung von Ich und Wirklichkeit ist. Bei Kant blieb der Gegensatz von Ich und Wirklichkeit in abstrakter Starrheit bestehen, und er wurde sich nicht bewusst, daß dieser Gegensatz in dieser Form eine Abstraktion ist. Darum wurde ihm die gesamte Erfahrung, gemessen an diesem abstrakten Gegenüber (das Kant für das eigentlich Reale hielt) zur bloßen Erscheinung.“ (59) Hegel Kantkritik zielt nach Pannenberg auf diese unbehobene Abstraktheit und das entsprechende Reflexionsdefizit. „Kant hat zwar selbst auf die Struktur der Vernunft reflektiert, aber er hat solche Selbstreflexion, überhaupt die Bewegung der Reflexion nicht als das Wesen der Vernunft gedacht.“ (Ebd.) Bei Hegel sei dies anders: Sein Denken ist durch den beständigen Reflex auf den Vernunftvollzug und die Grenzen seines jeweiligen Begreifens ausgezeichnet; es repräsentiert damit einen Typ von Vernunftverständnis, der dem Kant’schen Ansatz ebenso überlegen ist wie den ehemals vernunfttypologisch eigens mitgezählten modernen Antithesen zur apriorischen Vernunft, die Vernunftoffenheit zwar proklamieren, aber gedanklich nicht hinreichend zu bewähren vermögen (vgl. 60–67). Ein ausführlicher Kommentar zur „Phänomenologie des Geistes“ steht im Mittelpunkt der Vorlesung vom WS 1963/64. Die Geschichte des Geistes wird durch einen Erkenntnisgang beständiger Reflexion erschlossen, durch welche die

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Beschränktheit der jeweiligen Geistphänomene zu Bewusstsein gebracht und zugleich transzendiert wird. Mit dem, was Hegel abwertend Reflexionsphilosophie nennt, ist die selbstreflexive Dialektik des sich entwickelnden Geistes nicht zu verwechseln. Sie bezieht ihre spekulative Kraft durch das fortschreitende Erfassen der Einheit im Verschiedenen und Entgegengesetzen. Es ist nicht möglich, aber auch nicht nötig, Pannenbergs Rekonstruktion der Hegel’schen Wissenschaft der „Phänomenologie des Geistes“ von der sinnlichen Gewissheit über die Wahrnehmung und den Verstand bis hin zur Wahrheit der Gewissheit seiner selbst und zur Gewissheit und Wahrheit der Vernunft überhaupt nachzuzeichnen und die Genese des Hegel’schen Geistgedankens, wie sie sich ihm darstellt, bis hin zur offenbaren Religion und zum absoluten Wissen zu verfolgen. Wichtiger und ertragreicher als eine solche Rekonstruktion der Rekonstruktion einer Rekonstruktion ist die Konzentration auf kritische Bemerkungen Pannenbergs zu dem von Hegel vermeintlich oder tatsächlich geübten Verfahren. Hegels Gedankenfortschritt generiert sich nach Pannenberg durch fortschreitende Reflexion auf bislang unbegriffene Voraussetzungen und implizite Prämissen. Dabei meine Hegel, dass sich der Gedankenfortschritt mit innerer Notwendigkeit aus dem Reflexionsvollzug dergestalt ergebe, dass jede neue Entwicklungsstufe aus der alten deduktiv abzuleiten sei. In Wirklichkeit verhalte es sich jedoch anders. Was Hegel zu tun meint, ist nach Pannenberg nicht identisch mit dem, was er tatsächlich tut. „Hegel meinte ja, es entstehe mit ‚Notwendigkeit‘, ohne daß das Bewußtsein weiß, ‚wie ihm geschieht‘, hinter seinem Rücken der neue Gegenstand dadurch, daß dasjenige, was das Bewusstsein als an sich gegebenen Inhalt ansieht, nur für es das an sich Gegebene ist … Dieses Selbstverständnis Hegels entspricht nicht dem, was sich in seinem Denken tatsächlich vollzieht. Die jeweils neue Stufe entsteht nicht einfach mit ‚Notwendigkeit‘ hinter dem Rücken des Bewußtseins, sondern nur durch eine das Widersprechende zusammenfassende Tat des Bewusstseins selbst, durch die Erfindung eines Ausdrucks, der dies leistet.“ (77 Anm.) Die Entwicklung des Begriffs, der die Differenz von Denken und Sein umgreift, vollzieht sich nicht zwangsläufig, sondern in der Einheit von Notwendigkeit und Freiheit. Folgt man Pannenberg, dann bleibt in Hegels Dialektik das Freiheitsmoment unterbestimmt: „Den Ausdruck für die Einheit des Entgegengesetzten zu finden, ist eine spontane Leistung (der Phantasie!). Der Einfall muss sich aber daran bewähren, dass er die Einheit des Entgegengesetzten der jeweils vorangehenden Stufe zum Ausdruck bringt.“ (77) Der dialektische Progress in der Erscheinungsgeschichte des Geistes vollzieht sich nicht von selbst und ist unter Absehung vom produktiven Charakter der Vernunft nicht zu begreifen. Das heißt nach Pannenberg indes nicht, dass dem zum Bewusstsein seiner selbst gelangten vernünftigen Subjekt gegenstandskonstitutive Bedeutung zuzuerkennen sei. Es gilt im Gegenteil als ein verhängnisvoller Grundschaden der Hegel’schen Argumentation, das Selbstbewusstsein im Verhältnis zum

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Gegenstandsbewusstsein überzugewichten. Nicht dass Pannenberg zu der vorkantischen Auffassung zurückkehren wollte, „daß die Wahrheit der gegenständlichen Welt in den wahrgenommenen Dingen oder Kräften selbst schon vollendet ist, als ob sie im Bewußtsein nur abgebildet zu werden brauchte“ (81). Das den Sinnen Gegebene und sinnlich Rezipierte kann nicht anders als in einem produktiven Akt verstanden und begriffen werden. Die Wahrheit des Seienden ist nicht ohne Erkennen und tätige Aneignung vorhanden. Um zu vernünftiger Wahrnehmung der Wirklichkeit und ihrer Wahrheit zu gelangen, bedarf es Pannenberg zufolge der Phantasie und ihrer Einfälle, die sich aus dem Vorhandenen nicht ableiten lassen, weil sie das Gegebene transzendieren, seien es Einzelgegebenheiten oder ganze Gegebenheitskomplexe. Doch besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Phantasie und Fiktion. Als fiktiv ist eine reine Gedankentätigkeit ohne Rückhalt und reflexiven Rückbezug auf schon Gedachtes und bereits Begriffenes, also auf überkommenes Wirklichkeitsverständnis zu beurteilen. Zwar negiert die Phantasie das Vorgegebene, aber nicht in abstrakter, sondern in der bestimmten Weise dessen, was Hegel Aufhebung nennt. Von Fiktion unterscheidet sich Phantasie mithin durch ihre reflexive Disziplinierung. Die Wendung von der durch Reflexion disziplinierten Phantasie nimmt bei Pannenberg genau die Stelle ein, die bei Hegel der Spekulationsbegriff bezeichnet. „Die Phantasie bringt das negativ (nämlich in Abhebung vom schon Gedachten) erfaßte Gegebene positiv mit dem Denken zusammen, indem sie es in einen neuen Gedanken faßt.“ (83) Pannenbergs eigene Ausführungen zu Hegel können als ein Beleg für die Richtigkeit dieser Feststellung gelesen werden. Es spricht für sein entwickeltes Problembewusstsein, dass er die bisher vorgebrachte Kritik an Hegel zumindest teilweise relativiert, etwa hinsichtlich des Vorhalts deduktiver Zwangsläufigkeit der dialektischen Entwicklung oder hinsichtlich der These einer unstatthaften Prärogative des subjektiven Selbstbewusstseins dem gegenständlichen Weltbewusstsein gegenüber. Was an der vorgetragenen Kritik festgehalten wird, fasst sich in dem Einwand zusammen, Hegels System ermangele die nötige Einsicht in die Vorläufigkeit aller und damit auch der eigenen Erkenntnis. Die Annahme einer dialektischen Selbstvollendung des Begriffs im absoluten Wissen ist nach Pannenberg abwegig, weil sie unterschlägt, dass jeder Begriff des Absoluten stets nur Vorgriff, proleptische Antizipation des im Begriff zu Begreifenden sein kann. Um von diesem Abweg ferngehalten zu werden, bedarf die Vernunft der Religion, die sie weder theoretisch noch praktisch zu substituieren vermag. Die Religion verschafft der Vernunft einen Begriff einer in allem Begreifen vorausgesetzten und unbehebbaren Unbegreiflichkeit ihres Sinngrundes und hindert sie dadurch, sich zu totalisieren und sich in verkehrter Weise in sich zu verschließen. Die Religion bewahrt der Vernunft ihre Offenheit und weist sie in die Geschichte ein, die sie auch und gerade dann nicht hinter sich lassen kann, wenn sie sie zu verstehen sucht. Um des antizipatorischen, proleptischen, vor-

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läufigen Charakters alles vernünftigen Begreifens willen bestreitet Pannenberg Hegel das gedankliche Recht, den letzten Schritt über die Religion hinausgehen zu können zum absoluten Wissen: „Die Aufhebung des Selbstbewusstseins in die allgemeine Sache stellte sich für uns als ein nicht abschließbarer Prozeß dar, bei dem Gegenstandsbewußtsein und Selbstbewußtsein aufeinander bezogen bleiben und durch ihre geschichtliche Herkunft einerseits, durch den jeweiligen Stand der Beobachtung und weltgestaltende Verwirklichung andererseits bedingt und begrenzt bleiben.“ (112)

6.

Die geschichtliche Vernunft

Hegels Phänomenologie des Geistes endet in einer Aporie, die nach Pannenberg unbegriffen bleibt, solange der Begriff darauf insistiert, im absoluten Wissen zum vollendeten Selbstabschluss gelangt zu sein. Begriffen und in Offenheit transformiert sei die unter Hegel’schen Systembedingungen ausweglose Aporie erst, wenn die Vorläufigkeit und der antizipatorische Charakter allen Begreifens und mit ihm die theoretische Unaufhebbarkeit des religiösen Verhältnisses begriffen werde. Die dem Vorlesungsmanuskript beigegebene Kurzfassung einer Auslegung von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ bestätigt das bisherige Ergebnis. Was Hegel „absolutes Wissen“ nennt, ist „ein eschatologisches Thema“ (88i Anm.): „(S)eine Inanspruchnahme durch Hegel läuft auf eine Eliminierung der Differenz zwischen Gegenwart und Eschaton hinaus.“ (Ebd.) Solle dies vermieden werden, müsse philosophisches Wissen das Bewusstsein seiner Endlichkeit und Vorläufigkeit in seinen Begriff integrieren und zu einem geschichtlichen Verständnis seiner selbst gelangen. Zwar sei alles Begreifen auf Totalität und Letztgültigkeit ausgerichtet. Aber der Begriff bleibe stets hinter der von ihm intendierten Wirklichkeit zurück und sei daher nur als Vorgriff angemessen zu begreifen. Dies gehe der reflexiven Vernunft auf, wenn sie konsequent auf sich reflektiere: „Die Reflexion auf die geschichtliche Bedingtheit des reflektierenden Lebens der Vernunft, die ihre Radikalität gewann durch das Insistieren auf der Endlichkeit der Vernunft als individueller13, führt über deren Auffassung als Reflexionsbewegung hinaus zum Begriff der geschichtlichen Vernunft.“ (115) Charakteristisches Kennzeichen geschichtlicher Vernunft ist Offenheit. Ihre erinnerungsgesättigte, erfahrungsreiche Geistesgegenwart ist aufgeschlossen für 13 Dieser Nebensatz ist auf dem für Anmerkungen vorgesehenen Blatt als Einfügung in den zitierten Passus vorgesehen, der den Schlusssatz des Abschnittes über die reflektierende Vernunft bildet. Darunter notiert Pannenberg mit anderer Feder: „überarbeiten!! neues Kap. : hier Offenheit + Geschichtlichkeit als ein Thema zusammennehmen + dialek. Neomarxismus mitberücksichtigen.“ Es folgt ein wohl schon früher gegebener Verweis auf H. Marcuse, Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, 1932.

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Neues, dem sie erwartungsvoll und hoffnungsfroh entgegensieht. „(A)n sich“, sagt Pannenberg, ist die Geschichtlichkeit der Vernunft „von Hegel entdeckt worden“ (ebd.). Tiefer als irgendein Denker vor ihm habe er gesehen, was es mit der geschichtlichen Bedingtheit aller Vernunftvollzüge auf sich hat. „Er hat die Standpunktbedingtheit jeder Position erkannt. Und dennoch finden sich bei Hegel nur Ansätze zu einem geschichtlichen Verständnis der Vernunft. Ihre volle Entfaltung ist verhindert durch das Erbe der apriorischen Vernunftphilosophie, das Hegel nicht vollständig abzuschütteln vermochte: Die Bewegung der Reflexion hat bei Hegel die Tendenz, sich als Bewußtseinsstruktur zu verselbständigen.“ (116 f.) Hegel habe die geschichtliche Bedingtheit der Reflexionsbewegung des Bewusstseins selbst nicht genügend bedacht, weil er sie als Entwicklung einer zugrundeliegenden Natur und eines immer schon bestehenden Wesens der Vernunft meinte verstehen zu können. Dadurch habe er den Schein einer dialektischen Notwendigkeit im fortschreitenden Denkweg der „Phänomenologie des Geistes“ erzeugt und verkannt, „daß jeder neue Reflexionsschritt nicht etwa aus dem vorhergehenden hergeleitet werden kann, sondern einen Sprung darstellt, einen neuen Inhalt, der nachträglich auf die Problematik der vorhergegangenen Stufe bezogen wird und sich an ihr bewährt“ (117). Geschichte ist bei Hegel, so Pannenberg, „noch nicht als offener Prozeß der Reflexion gedacht, sondern als das zeitliche Abbild der an sich bestehenden logischen Struktur des Geistes als Begriff“ (117a) 14. Ein Mann wie Herder, dessen Theorie werdender Gottebenbildlichkeit eigens hervorgehoben wird, habe hier weiter gesehen. Konsequenter als Hegel habe er den Begriff der Vernunft mit dem offenen Prozess geschichtlicher Erfahrung verbunden. Namentlich Wilhelm Dilthey rezipierte dieses Erbe, um es für das 20. Jahrhundert fruchtbar zu machen. Der menschliche Geist, der sich in Geschichte objektiviert, ist selbst geschichtlich vermittelt und verfasst. Es galt, das Daseinsverständnis des Menschen aus der geschichtlichen Erfahrung selbst zu begründen. Die Lösung dieser Aufgabe geschah dadurch, „daß die Psychologie des seelischen Lebens selbst historisiert wurde und damit zu einer allgemeinen Theorie der geschichtlichen Erfahrung umgebildet wurde, die identisch ist mit Diltheys Hermeneutik und als Fortbildung der Hemeneutik Schleiermachers begriffen werden kann“ (117e Anm.). Bedeutung und Grenzen der Dilthey’schen Hermeneutik werden im Folgenden aufgewiesen. Entscheidend ist die These, dass eine Antizipation des Ganzen des eigenen Lebens bzw. der Menschheits- und Weltgeschichte überhaupt die Voraussetzung dafür ist, einem einzelnen Lebens- oder Geschichtsereignis ir14 Der materialreiche Einschub 117a–117z (13) ist rückbezogen auf den ehemaligen §3 über die Offenheit der Vernunft und enthält neben Verweisen auf Dilthey, auf den im Folgenden die Aufmerksamkeit konzentriert wird, eine Reihe von Stellungnahmen zu (marxistischen und) neomarxistischen Auffassungen vom geschichtlichen Bildungsprozess der Vernunft, wobei insbesondere Adorno, Habermas und Sartre in Betracht kommen (vgl. 117 lff.)

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gendeine Bedeutung zuzuerkennen. Um diese Grundannahme zu profilieren, werden Bezüge hergestellt, die auf das kategoriale Problem von Teil und Ganzem, Einzelbedeutung und einer Sinntotalität hingeordnet sind, die alle Bedeutungen begründet und in sich begreift. In ihr sollen Denken und Sein endgültig konvergieren und zu vollendeter Harmonie gelangen, was unter Bedingungen menschlicher Endlichkeit indes niemals der Fall ist. Die für jede Bedeutungszuweisung konstitutive Voraussetzung einer Sinntotalität lässt sich menschlicherseits nur antizipativ wahrnehmen und verweist an sich selbst auf einen göttlichen Grund als die Sinnbasis von Geschichte überhaupt. Vernunft konzipiert Wirklichkeit in ihrer Totalität, ohne des Ganzen der Geschichte und der endgültigen Einheit von Denken und Sein mächtig zu sein. Sie bleibt daher auf religiös-theologische Vorgaben angewiesen, die sie zwar zu prüfen vermag, ohne sie je prinzipiell bzw. definitiv erledigen zu können. Die geistige Tätigkeit des Menschen besteht ihrer Grundform zufolge nach Pannenberg im Entwurf einer Sinnganzheit, deren Totalität die Bedeutung alles Einzelnen fundiert. Diese Entwürfe blieben stets vorläufig und auf eine endliche Perspektive bezogen, die ihren Unendlichkeitswert einschränke. Ein Indiz hierfür sei die irreduzible Pluralität von totalisierenden Sinnentwürfen. Sie belege die Partikularität jeder Sinntotalitätsannahme. Das Ganze des geschichtlichen Lebens der Vernunft stehe unter einem eschatologischen Vorbehalt, ohne dessen Bewusstsein es kein vernünftiges Selbstverständnis der Vernunft geben könne. Pannenberg hat des Öfteren und zur Überraschung mancher zu verstehen gegeben, dass Diltheys Denken für ihn ungleich prägender geworden sei als das Hegel’sche. Man wird dazu aber auch die wiederholte Bemerkung zu hören haben, „daß Dilthey die Geschichtlichkeit des Denkens nicht auf dem Niveau der Hegelschen Reflexionsdialektik durchdacht hat, sondern auf einer sehr viel schlichteren geistigen Stufe“ (118). Vergleichbare Vorbehalte werden in Bezug auf Diltheys Lehrer Ranke und auf Droysen geltend gemacht, dessen Historik für die historische Schule paradigmatisch geworden sei. Doch sei trotz aller unbestreitbaren Mängel ein Fortschritt über Hegel hinaus insofern erkennbar, als es „im Sinne der Offenheit das Bewußtseins auf ein je noch Unbegriffenes hin“ (119 Anm.) fortzubilden gelte. Den Schlüssel hierzu biete Diltheys Einsicht, dass nicht etwa die Geschichte im Ganzen ihres Verlaufs Ausdruck einer apriorischen Struktur des Geistes, sondern umgekehrt die Struktur des Bewusstseins selbst von der Geschichte abhängig sei. Dass die Zukunft als Grund der Geschichtlichkeit des Daseins fungiert, hat nach Pannenberg erst Heidegger in der nötigen Deutlichkeit gesehen, ohne sich wirklich klar darüber zu werden, „daß es dem Dasein beim Zurückkommen aus der vorlaufend ergriffenen Zukunft auf das Erbe des Gewesenen wesentlich auf die Ganzheit seines Daseins ankommt“ (126). Bei Bultmann verhalte es sich grundsätzlich nicht anders. Erst Gadamer habe mit „Wahrheit und Methode“ den

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Schritt über Heidegger und Dilthey hinaus getan. Entscheidend dafür sei es gewesen, dass er den Dilthey’schen Gedanken des wechselseitigen Zusammenhangs von Teil und Ganzem über den Ansatz seines Urhebers hinaus fortentwickelt habe. Hieraus schließt Pannenbergs eigene Konzeption einer in jeder Bedeutungszuweisung sich vollziehenden Prolepse von Sinntotalität und universalgeschichtlicher Antizipation an. Menschliches Leben weiß sich als bedeutsam im Vorgriff auf die Gesamtheit des eigenen Daseins. Doch kann dieser Vorgriff nicht vollzogen werden ohne Prolepse eines umfassenderen Ganzen, nämlich desjenigen der Universalgeschichte, in welche mit der Menschheitsgeschichte auch die Geschichte der Natur inbegriffen sei. Der „Vorgriff auf das Ganze der Geschichte, auf das Ganze aller Wirklichkeit überhaupt“ ist „notwendig, damit auch nur von einem Einzelnen in seiner Ganzheit angemessen gesprochen werden kann – wenn auch nur vorläufig“ (134). Das Ganze der Individual- und Universalgeschichte ist „nicht abgeschlossen, wohl aber antizipierbar“ (135). Auch Antizipationen des noch ausstehenden, zukünftigen Ganzen sind standpunktbedingt und lediglich vorläufige Vorwegnahmen. Sie sind umso gehaltvoller, je wirklichkeitserschließender sie fungieren und je mehr sie das Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit in sich fassen. Beide Aspekte bilden für Pannenberg einen Zusammenhang: „Das menschliche Denken in phantasievollen Antizipationen entspricht der Seinsstruktur der Dinge selbst, ihrer Unabgeschlossenheit. Aber es ist die Frage, inwieweit unser Erkennen eine bestimmte Antizipation der Zukunft in den gegenwärtigen Phänomenen selbst aufweisen kann, ferner inwieweit die in jedem Phänomen antizipierte Gesamtzukunft durch es zugänglich wird. Davon hängt die Gültigkeit der antizipierten Auffassung vom Ganzen der Universalgeschichte ab.“ (Ebd.) Der Vorlesungsabschnitt über geschichtliche Vernunft schließt mit zusammenfassenden Ausführungen über die normativen Geltungskriterien von Sinntotalitätsantizipationen. Die dazugehörenden theologischen Gehalte sind in der Lehre von der in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth begründeten christlichen Antizipation des universalgeschichtlichen Ganzen enthalten, wie die „Grundzüge der Christologie“ sie entfalten, die im Jahr 1964 erstmals erschienen sind.15

7.

Zur Vernünftigkeit geschichtlicher Vernunft

Die von Pannenberg namhaft gemachten Typen repräsentieren jeweils ein mustergültig ausgeprägtes Vernunftverständnis. Doch kommen sie nicht beziehungslos nebeneinander zu stehen, sondern werden in ein konsekutives Verhältnis gesetzt, wobei chronologische und sachliche Gesichtspunkte einander 15 Vgl. W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 47 ff.

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wechselseitig durchdringen, ohne trennungsscharf unterschieden werden zu können. Aus der typologischen Abfolge ergibt sich ein Prozess, der am besten mit dem Hegel’schen Begriff der Aufhebung zu bezeichnen ist, obgleich aus ihm nicht der Vernunftanspruch dialektischer Totalvermittlung resultiert, der vielmehr seinerseits aufzuheben und in dasjenige zu überführen ist, was Pannenberg geschichtliche Vernunft nennt. In der Reflexionsstruktur der Vernunft, die an Hegels „Phänomenologie des Geistes“ exemplarisch erhoben wird, sind die rezeptiven und produktiven Bestimmungsmomente der Vernunft dialektisch vermittelt und zu differenzierter Einheit verbunden: „die Rezeption eines Gegebenen, das nicht willkürlich übersprungen werden kann, wenn es zu Erkenntnis kommen soll; die spontane Gliederung, Gestaltung des Gegebenen durch seine Auffaßung als Einheit von Allgemeinem und Besonderem: diese Spontaneität war in der apriorischen Vernunft erkannt worden, aber zu Unrecht als eine ein für allemal gleiche Funktion der Synthesis gedacht worden. Die Reflexionsnatur der Vernunft hat demgegenüber das Wesen der Vernunft als den Prozeß einer Bildungsgeschichte des Bewußtseins enthüllt.“ (113; Schlusssatz wurde auf der Anmerkungsseite zugefügt.) An diesen reflexiv vermittelten Bildungsprozess des Bewusstseins schließt Pannenbergs eigene Konzeption eines geschichtlichen Vernunftverständnisses an, für welches Zukunftsoffenheit kennzeichnend ist. Geschichtlich ist jene Vernunft zu nennen, die das Bewusstsein ihrer eigenen Vorläufigkeit nicht nur in ihren Begriff zu integrieren vermag, sondern Vorläufigkeit als konstitutiv zu jeder Form von Vernünftigkeit gehörig erfasst. Ziel der Pannenberg’schen Typologie ist es, das geschichtliche Vernunftverständnis als das, wenn man so will, vernünftigste zu erweisen. Die zukunftsoffene Vernunft hebt die Differenz von rezeptiver und produktiver Vernunft in sich auf und entwickelt die reflektierende dergestalt fort, dass die geschichtliche Bedingtheit jedes vernünftigen Reflexionsschritts in das Selbstverständnis der Vernunft integriert wird. Scheint die Offenheit und ständige Bewegtheit des geschichtlichen Vernunftprozesses dessen Einheit zu zersetzen und in eine Unzahl differenter Gesichtspunkte aufzulösen, so verweist nach Pannenberg „die Kategorie der Bedeutung und die damit zusammenhängende Kategorie des Vorgriffs auf ein Bedeutungsganzes umgekehrt über die Relativität der Geschichtlichkeit hinaus auf ein Ganzes von Bedeutungszusammenhängen in der Universalgeschichte“ (136). Zwar lasse sich nicht leugnen, dass der „Begriff eines alles umfassenden Ganzen“ (ebd. Anm.) keinen Realbegriff im üblichen Sinne darstelle, sondern „gewisse metaphorische Züge“ (ebd.) enthalte, da er mit allem Innerweltlichen auch die totalitas mundi transzendiere. „(O)ntologisch unmöglich“ (ebd.) sei die Annahme einer unbedingten und absoluten Sinntotalität deswegen nicht. Ihre Voraussetzung sei vielmehr unverzichtbar, um der Bedeutung des Faktums, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, gewahr zu werden und

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wahrzunehmen, dass Einzelseiendes und das Sein insgesamt bedeutsam sind. In der Durchführung dieses Arguments vollzieht Pannenberg auf seine Weise die neuzeitliche Wende von der Kosmologie zur Anthropologie nach. Im selbsttranszendenten Wesen des Menschen und seiner weltoffenen Ausrichtung auf eschatologische Zukunft hin wird die Angewiesenheit alles Seienden auf fundierende und umfassende Sinnganzheit manifest. Dabei ist es nicht allein der individuelle Einzelmensch, dessen Leben auf Sinntotalität angewiesen ist; die Menschheitsgemeinschaft insgesamt steht in einem universalgeschichtlichen Transzendenzbezug eschatologischer Künftigkeit, ohne den weder ihre Einheit noch die Bedeutung des Geschehens sinnvoll zu erheben ist, das sie verbindet. Es wäre einer eigenen Untersuchung wert zu analysieren, wie und nach Maßgabe welcher genauen Auswahlkriterien Pannenberg die vier geltend gemachten Vernunfttypen mit geistesgeschichtlichen Epochen und ihren philosophischen Repräsentanten in Verbindung bringt; für die rezeptive Vernunft stehen insbesondere Platon und Locke, für die produktive Kant, für die reflektierende Hegel, für die geschichtliche Dilthey, unter Bezug auf den Pannenberg seinen eigenen Entwurf vorzugsweise entwickelt. Sehr interessant wäre des Weiteren eine detaillierte Inspektion der Sekundärliteratur, die jeweils zu Rate gezogen wird. Manche Aufschlüsse bezüglich der Genese der Pannenberg’schen Konzeption können hieraus gewonnen werden. Man vergleiche etwa, um nur ein Beispiel unter vielen zu wählen, die nachhaltige Wirkung der 1963 erschienenen Kantinterpretation Friedrich Delekats16, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Theologe und Religionsphilosoph in Mainz gelehrt hat. Delekats These einer anthropozentrischen Deutung von Raum und Zeit sowie einer funktionalen Ersetzung Gottes durch das als zeitlos gedachte Ich der transzendentalen Apperzeption ist bereits für die Kantauslegung Pannenbergs im WS 1963/64 bestimmend und hält sich durch bis in das einschlägige Kapitel von „Theologie und Philosophie“ von 1996. Dabei ist gewiss davon auszugehen, dass Pannenberg Literatur stets produktiv und mit der Intention konstruktiver Anverwandlung rezipiert hat; dies ändert indes nichts an dem von ihm selbst hervorgehobenen bemerkenswerten Sachverhalt früher Übereinstimmung mit Delekat.17 Ein zweiter Teil der Vorlesung vom WS 1963/64 sollte nach ursprünglicher Planung im Anschluss an die im ersten entwickelte Tpyologie „das Phänomen der Vernunft in seinen Beziehungen zu Sprache, Logik, Metaphysik, Glaube und Wissenschaft“ (10) erhellen und zwar unter der Überschrift „Struktur der Vernunft“ (ebd.). Dieser Teil ist weniger detailliert ausgearbeitet als der erste. Einige Unklarheiten in der Stoffgliederung lassen sich kaum beheben. Sie hängen damit 16 F. Delekat, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, Heidelberg 1963. 17 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 184 Anm. 27.

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zusammen, dass Pannenberg seine Vorlesung vom WS 1963/64 für späteren Vortrag weiterbearbeitet und ergänzt hat. In der vorliegenden Form des Manuskripts spiegelt sich der Vorgang eines „work in progress“ wieder, dessen Einzelheiten hier nicht zu entschlüsseln sind. Stattdessen seien einige sprachphilosophische bzw. theologische Charakteristika vermerkt. Was eine Sache ist und worin ihre Bedeutung besteht, kann nur durch Sprache ans Licht gebracht werden. Sprache führt Seiendes der Erkenntnis zu; erst sie bringt „die Sachen zu sich selbst, freilich wieder in je vorläufiger Weise. Und darin ist die Sprache das eigentliche Lebenselement der Vernunft.“ (139) Das Vorlesungskapitel zu „Vernunft und Sprache“ wurde im Vergleich zu den vorgesehenen anderen des zweiten Kollegteils recht genau elaboriert. Ein ausführliches Literaturverzeichnis ist beigegeben. Nach einer anthropologischen Grundlegung der Thematik werden aktuelle Sprachtheorien zur Darstellung gebracht und für den eigenen Ansatz ausgewertet. Vieles von dem, was Pannenberg in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983 über „Sprache als Medium des Geistes“18 ausführt, findet sich bereits in der knapp zwei Jahrzehnte zuvor gehaltenen Vorlesung. Für den Fortgang der Argumentation ist der Gesichtspunkt bestimmend, dass in jeder sprachlichen Äußerung ein unausdrücklicher und ungesagter Sinnhorizont in Anspruch genommen wird, um Satz und Rede Bedeutung zu verleihen. Auf jenes „immer vorausgesetzte Bedeutungsganze“ (162) ist alles Sprechen bezogen, und ohne die vorläufige Prämisse von Sinntotalität ist kein vernünftiger Geistesvollzug möglich, dessen Medium die Sprache ist. In einem Abschnitt „Die Reflexion auf die absolute Voraussetzung der Vernunft“ wird dies eigens thematisiert. Die „Reflexion auf das Ganze des ungesagten Bedeutungshintergrundes der sprachlich artikulierten Erfahrung (ist) unerläßlich, obwohl dabei immer eine Verendlichung des in Wahrheit unabsehbaren Bedeutungsganzen stattfinden wird“ (164). Dieser Tatsache ist durch die Einsicht Rechnung zu tragen, dass die notwendige Reflexion auf das Ganze der Bedeutungszusammenhänge selbst „einen wesentlich proleptischen, antizipatorischen Charakter“ (ebd.) hat. Mit dieser Einsicht überschreitet sich die reflexive auf die geschichtliche Vernunft, um gerade so ihrem selbsttranszendenten Wesen zu entsprechen. Reflexion auf Sinntotalität und das umfassende Bedeutungsganze als absoluter Voraussetzung der Vernunft ist nach Pannenberg die vornehmste Aufgabe der Philosophie, die sie traditionell in Form der Metaphysik wahrgenommen hat. Nicht ihr, sondern lediglich dem mit ihr verbundenen Anspruch, „das Ganze des Seienden ein für allemal begrifflich zu denken“ (166), sei der Abschied zu geben zugunsten eines Konzepts, das mit der Einsicht in die vernünftige Unentbehrlichkeit der Absolutheitsthematik das Bewusstsein verbinde, ihrem absoluten 18 Vgl. ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 328 ff.

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Sinngehalt stets nur in proleptischer, antizipatorischer, vorläufiger Weise entsprechen zu können. Die geistesgeschichtliche Entwicklung nach Hegel weist nach Pannenberg in diese Richtung, wie namentlich an Heidegger verdeutlich wird. „So läßt sich dann sagen: Es ist die Bestimmung der Vernunft in der Bewegung ihrer durch Geschichtlichkeit charakterisierten Reflexion, in Offenheit für das ‚Geläut der Stille‘ freizuwerden zu neuen schöpferischen Synthesen des Vorhandenen durch antizipierende Zuerkennung seiner Bedeutung.“ (176) In einer Lehre vom Begriff als Vorgriff wird entfaltet, was dieser Satz, der als Summe der Vorlesung über die „Theologie der Vernunft“ gelesen werden kann, wissenschaftstheoretisch zu bedeuten hat und welche Implikationen und Folgen er für das Verständnis der Theologie als Wissenschaft von Gott hat. Das Konzept der Schrift über „Wissenschaftstheorie und Theologie“ von 1973 ist in nuce vorhanden und in Teilen bereits expliziert.19 Der wissenschaftliche Begriff, der Anspruch auf Vernünftigkeit erheben kann, ist hypothetischer Vorgriff auf ein Ganzes, das am Einzelnen zu kontrollieren und auf sein Bedeutungsvermittlungsvermögen hin zu überprüfen ist. Diese Bestimmung gilt nach Pannenberg für alle Wissenschaften und somit auch für eine wissenschaftlich betriebene philosophische Metaphysik und Theologie. Auch metaphysische und theologische Sätze sind wie alle, die wissenschaftlich Wahres zu besagen beanspruchen, hypothetisch und auf künftige Bewährung hin angelegt. Der Unterschied und Vorzug von philosophischer Metaphysik und Theologie den anderen Wissenschaften gegenüber liegt nicht in einer speziellen wissenschaftlichen Form und Methode, sondern darin begründet, wissenschaftliche Vernunftvollzüge auf ihre unverzichtbaren, wenngleich nur stillschweigend mitgesetzten Sinnprämissen transparent zu machen. Um sich nicht ideologisch zu verblenden bzw. selbst zu totalisieren, bedürfen die Wissenschaften philosophischer Metaphysik und Theologie, die ihrerseits an sie gewiesen sind, um ihre wirklichkeitserschließende Kraft zu bewähren. Bleibt zu fragen, welche Bedeutung dem Glauben für die Vernunft und ihre wissenschaftlichen Selbstvollzüge einschließlich derer von Philosophie und Theologie zukommt. Auf diese Eingangsfrage der Vorlesung lenkt ihr Schlussparagraph direkt zurück. Er fasst den Ertrag des Bisherigen mit dem Hinweis zusammen, dass die Beschreibung des inneren Lebens der Vernunft von der rezeptiven, produktiven, reflektierenden hin zur geschichtlichen, die Erschließung des sprachlich gearteten Horizonts der Offenheit geschichtlicher Vernunft sowie die Reflexion auf ihre vorausgesetzten Absolutheitsprämissen immer deutlicher den eschatologischen und theologischen Charakter der Vernunft hätten hervortreten lassen. Anders als im Verhältnis zu vorgängigen und von ihr überholten Vernunfttypen könne der Glaube im Falle geschichtsoffener Ver19 Vgl. ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. Main 1973, bes. 157 ff.

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nunft mit einer fundamentalen Konvergenz der beiderseitigen Anliegen rechnen. Die Beziehung von Glaube und geschichtlicher Vernunft ist auf keinen antagonistischen Gegensatz, sondern viel eher auf Synthese hin ausgerichtet. Jedenfalls ist dies nach Pannenbergs Urteil unter der Voraussetzung der Fall, dass die Geschichtlichkeit der Vernunft nicht mit Relativismus verwechselt, sondern in ihrer eschatologisch-antizipatorischen, auf künftige Ganzheit hin vorgreifende Wesensstruktur erkannt wird. Einer geschichtlich verstandenen bzw. sich selbst geschichtlich verstehenden Vernunft kommt der Glaube insofern entgegen, als sein Gottvertrauen eine Grundgewissheit enthält, welche Künftiges hoffnungsfroh erwarten lässt. Indem er sich gegenwärtig auf Gott verlässt, erscheint dem Glauben die Zukunft bereits jetzt in jener aufgeschlossenen Form, die Voraussetzung ist für den Vollzug geschichtsoffener Vernünftigkeit. In diesem Sinne kann Pannenberg sagen, „daß erst der Glaube die Vernunft in ihr wahres Wesen bringt“ (206): „Glaube und Vernunft verweisen wechselseitig aufeinander in einer geistigen Gesamtbewegung. Entgegengesetzt ist der Glaube nicht der Vernunft, sondern dem Unglauben und dem Aberglauben, die freilich beide in der Geschichte der Neuzeit auch ihre Rolle gespielt haben und gern im Gewande der Vernunft aufgetreten sind. Beiden aber ist der Anspruch auf die Vernunft streitig zu machen. Nicht Unglaube oder Aberglaube, sondern der Glaube, und zwar der christliche Glaube, bewährt sich als Kriterium und Erfüllung der Vernünftigkeit der Vernunft.“ (209) Mit diesen Sätzen endet das Vorlesungsmanuskript; die verbleibende Folgepassage hat Pannenberg eigenhändig gestrichen. Dies sollte nicht hindern, sie dennoch zu lesen und zwar unter Konzentration auf dasjenige, was zu Glauben und Unglauben als „Einstellung“ gesagt wird.20 Die diesbezüglichen Ausführungen sind geeignet, in eine Relektüre des gesamten Vorlesungsmanuskripts einzuweisen gemäß dem Motto: Geschichtliche Vernunft bedenkt stets aufs Neue ihre Herkunft, nicht um Vormaliges lediglich zu wiederholen, sondern um es geistesgegenwärtig zu öffnen auf Zukunft hin.

20 Vgl. ders., Systematische Theologie. Bd. III, Göttingen 1993, bes. 156 ff.

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Ich und das Absolute Wolfgang Cramers philosophische Theologie im Kontext seiner transzendentalontologischen Subjektivitätstheorie „Ich sitze mit einem Philosophen im Garten; er sagt zu wiederholten Malen ‚Ich weiß, daß das ein Baum ist‘, wobei er auf einen Baum in unsrer Nähe zeigt. Ein Dritter kommt daher und hört das, und ich sage ihm: ‚Dieser Mann ist nicht verrückt: Wir philosophieren nur.‘“ (R. Monk, Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Stuttgart 21992, 611)

1.

Von der Schwierigkeit, Selbstverständliches zu verstehen

Selbstverständliches scheint sich von selbst zu verstehen. So sagt es sein Begriff. Der Baum dort ist ein Baum. In dieser Tautologie spricht sich eine Selbstverständlichkeit aus, die normalerweise kein Problem bereitet. Dies ändert sich erst, wenn man vom Standpunkt des Alltagsbewusstseins abrückt und sich bewusst macht, was es mit dem Bewusstsein und mit dem Zusammenhang von Wissen und Sein näherhin auf sich hat. Diese verrückte Stellung nimmt die Philosophie ein, die, wenn man so will, ohne Verrücktheit nicht zustande kommt und keinen Bestand hat. Philosophie ist „Nachdenken über das Denken“1. Nicht immer denkt Denken über das Denken nach. Es ist vielmehr in aller Regel selbstvergessen bei der Sache, ohne sich Gedanken über sich selbst zu machen. Dies ändert sich erst, wenn Denken auf sich selbst Bezug nimmt und beispielsweise danach fragt, wie es bei der Sache bzw. den Sachen sein kann. Dann wird sich das Denken selbst zum Problem. Reflektiert es des Weiteren über sein Vermögen, über sich selbst zu reflektieren, und bedenkt so, was es mit seiner Reflexion auf sich hat, „so muß es einsehen, daß es allein aufgrund des gemeinen und geläufigen Gedankens ‚Ich‘ solche Reflexion sein konnte“.2 1 W. Cramer, Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlass. Hg. v. K. Cramer, Frankfurt a.M. 2012, 110. 2 Ebd. – Nach U. Saßmann, der das Gesamtwerk Cramers unter transzendentalphilosophischen, ontologischen und spekulativen Gesichtspunkten ins Auge gefasst hat, nimmt das aus einem Prinizip gedachte Systemganze als Theorie des Theoretischen bei der Frage der Philosophie nach sich selbst ihren Anfang, um zu „fragen, unter welchen Bedingungen überhaupt etwas zur Frage werden kann, nach den Voraussetzungen, dem Modus der Zusammenhänge, in denen eine Frage überhaupt vorkommen kann“ (U. Saßmann, Transzendentale Ontologie?, in: H.

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Vom gemeinen, geläufigen, natürlichen Ich-Gedanken, wie er für jeden Reflexionsvollzug grundlegend ist, nimmt Wolfgang Cramers (1901–1974) Philosophie ihren Ausgang.3 Er bestimmt nicht nur ihren Anfang, sondern ihr gesamtes Beginnen, ohne deshalb ihr letzt- und allesbegründender Gedanke zu sein. Denn um den natürlichen Gedanken „Ich“ in seiner Selbstverständlichkeit zu verstehen, bedarf es der Einsicht, dass das Ich sich nicht selbst dazu gemacht hat, Ich zu sein, sondern sich als es selbst gegeben ist. Vermöge seiner Einsicht in sein Sich-Gegebensein, welche philosophisches Denken Cramer zufolge zu vermitteln hat, nimmt sich das Ich als Einzelnes wahr, welche Wahrnehmung es nicht nur auf andere Ichsubjekte4 und das All dessen verweist, was es nicht unmittelbar selbst ist, sondern auch auf den fundierenden Grund von jedem Ich und allem Nicht-Ich, auf das Absolute. Was das universale All anbelangt, in dem alles, was ist, seinen Bestand hat, so gelten dem natürlichen Bewusstsein die weltlichen Dinge im Raum und, wenn Radermacher/P. Reisinger [Hg.], Rationale Metaphysik. Die Philosophie Wolfgang Cramers. Bd. 1, Stuttgart 1987, 181–205, hier: 184 f.). Indem die Philosophie nach den Bedingungen der Möglichkeit philosophischer Fragen fragt, stellt sie die Prinzipienfrage. Cramer beantwortet sie mit einer transzendentalen Ontologie der Subjektivität, die aber von Anfang an auf eine absolutheitstheoretische Letztbegründung ausgerichtet ist. Für die transzendentalontologische Theorie erschließt sie prinzipiell und mit Evidenz, dass das Bewusstsein zwar „der Grund des Bewußten“ (a. a. O., 186), nicht aber der Grund dafür ist, „Bewußtsein zu sein“ (ebd.). Um den Grund des Seins des Bewusstseins als des Grundes des Bewussten zu ergründen, muss nach dem Absoluten gefragt werden, das als Ursprung alles Bestimmten, aller Bestimmtheitsformen und ebenso als der Ursprung seiner eigenen Bestimmtheit zu gelten hat. Für die Philosophie ergibt sich folgende Bestimmung: „von dem, was fraglos ist, geht sie aus, um bei dem, was nicht zu hinterfragen ist, zu enden.“ (A. a. O., 185) 3 Nach Studium der Philosophie und Mathematik in Breslau und Heidelberg lehrte W. Cramer seit 1949 Philosophie in Frankfurt a.M., zunächst als Privatdozent, dann als außerplanmäßiger und außerordentlicher Professor. Sein Sohn Konrad (1933–2013), Herausgeber der Nachlassschriften, war von 1982 an bis zu seiner Emeritierung Ordinarius für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen. Die Schwerpunkte seiner philosophischen Arbeit lagen wie diejenigen seines Vaters auf dem Feld von Subjektivitätstheorie, Metaphysik und Philosophischer Theologie. Vgl. dazu Konrad Cramers Vorstellungsbericht im „Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1998“ (Sitzung am 6. 2. 1998), 207–218. A. a. O., 209 bezeichnet er es als „ein Versagen der deutschen akademischen Philosophie“, dass es sein Vater „nie zu einem Ordinariat bringen sollte“. Über sich selbst urteilt K. Cramer in sympathischer Bescheidenheit: „Ich bin kein systematischer Philosoph. Dazu reichen meine Fähigkeiten nicht aus. Ich bin Historiker der Philosophie in systematischer Absicht.“ (A. a. O., 211) Zum Wirken von W. Cramers Lehrer Richard Hönigswald (1875–1947) in München, wohin er mit Wirkung vom 1. 4. 1930 berufen wurde, sowie zu seiner Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand am 1. 9. 1933, die wegen seiner jüdischen Herkunft erfolgte, vgl. H.O. Seitschek (Hg.), Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Die philosophische Lehre an der Universität IngolstadtLandshut-München von 1472 bis zur Gegenwart, St. Ottilien 2010, 140–144; zur unrühmlichen Rolle, die M. Heidegger in dem Verfahren spielte, vgl. a. a. O., 144. 4 Eine Theorie der Intersubjektivität hat Cramer nur ansatzweise entwickelt. Auch die, wenn man sie so nennen darf, Lehre vom objektiven Geist bleibt im Vergleich zu derjenigen vom subjektiven und vom absoluten eher unterentwickelt.

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man so will, der Weltenraum selbst „fraglos als transzendente Realitäten und dies so selbstverständlich, dass ausdrückliche Formulierung dieses Wissens ihm geradezu unverständlich erscheint“5. Entsprechendes trifft für das Sein der Dinge in der Zeit zu, deren Realität das natürliche Bewusstsein ebenfalls mit fragloser Selbstverständlichkeit voraussetzt. Cramer stellt diese Voraussetzung nicht infrage, um sie zu destruieren, sondern in der Absicht, sie gegen den Einwand zu sichern, auf lediglich transzendentalem Schein zu beruhen. Eine solche Sicherung hinwiederum ist nach seinem Urteil nur subjektivitätstheoretisch und durch den Aufweis möglich, das Ich als die conditio sine qua non von Anschauungen gegenständlicher Erscheinungen in Raum und Zeit sei als eine transzendentale zugleich eine Seinsgröße, von deren realer Bestimmtheit aus auf die Realität der Außenwelt geschlossen werden könne. Weil das konkrete Ich als transzendentalontologische Größe in seinem seelischen Inneren temporal verfasst und in seiner leibhaften Organgestalt raumeinnehmend sei, schaut es alles in Form von Raum und Zeit an und zwar nicht, wie gegen Kant eingewendet wird, in Gestalt bloßer Erscheinungen, sondern so, wie die Dinge in Raum und Zeit an sich selbst sind. Es ist eine der wesentlichen Pointen von Cramers transzendentalontologischer Transformation der Transzendentalphilosophie, den dem natürlichen Bewusstsein mit fragloser Selbstverständlichkeit innewohnenden Anspruch zu rechtfertigen, Realitäts- und nicht lediglich Erscheinungsbewusstsein zu sein. Diese Rechtfertigung kann nach Cramer indes nicht unkritisch, sondern nur durch konstruktive Metakritik der Kant’schen Kritik erfolgen. „Der Begriff vom Transzendentalen“, so die Devise, „ist in der Philosophie Kants noch nicht zu Ende gedacht.“6 Wird er zu Ende gedacht, dann hat eine Transformation der Transzendentalphilosophie in eine transzendentale Ontologie statt, welche den Transzendenzanspruch des natürlichen Bewusstseins legitimiert. In seinem ausgearbeiteten monadologischen System, dessen Genese anschließend thematisiert werden wird, hat Cramer seine transzendentale Ontologie des 5 W. Cramer, Raum, Zeit und transzendentaler Schein, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 13 (1959), 568–582, hier: 568. 6 A. a. O., 577. Vgl. K. Cramer, a. a. O., 212: „Wenn wir Objekte in Raum und Zeit erkennen, so meinen wir alle, daß wir uns in bewußter Weise auf etwas beziehen, das unabhängig davon existiert, daß wir uns auf es beziehen. Diese Meinung aber impliziert, daß wir unser Bewußtsein von dem unterscheiden, dessen wir uns da bewußt sind. Und dies impliziert, daß wir ein Bewußtsein von unserem Bewußtsein haben können müssen. Denn anders könnten wir den für Objekterkenntnis konstitutiven Unterschied zwischen unseren objektiven Wissensansprüchen und den Objekten selbst (nämlich als Objekten) nicht machen. Objekterkenntnis setzt Selbsterkenntnis voraus. Die Frage: Wie ist Objekterkenntnis möglich? zieht daher die Frage nach sich: Wie ist Selbstbewußtsein als Wissen des Subjekts der Erkenntnis von sich möglich?“ Zur Frage, „was ein Subjekt von Selbstzuschreibungen ist“ und „was es bedeutet, daß eine Person zu ihrem Körper sagt, er sei der ihre“, vgl. K. Cramer, Aporien der cartesianischen Auffassung des Verhältnisses zwischen Körper und Geist, in: F. Cramer (Hg.), Erkennen als geistiger und molekularer Prozess, Weilheim/New York/Basel/Cambridge 1991, 3–26, hier: 26.

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Bewusstseins von Seinstranszendenz erlebnistheoretisch fundiert und zwar unter drei Aspekten, demjenigen der Produktivität, der Temporalität und der Determiniertheit von Erlebtem. Erleben ist produktiv, es zeugt, wie Cramer sagt, im Erleben das Erlebte. Die Ichmonade macht Erfahrungen, und ihr Bewusstsein ist Aktualität und keineswegs mit einer Wachstafel zu vergleichen, auf der eine bewusstlose Außenwelt Eindrücke hinterlässt. Ohne Bewusstsein kann von dem Sein des Seienden, dessen es bewusst ist, nicht die Rede sein. Erlebtes bedarf der Stetigkeit des Erlebens; ansonsten kommen keine Erlebnisse zustande. Nur wenn Erleben andauert, werden Erlebnisse gemacht. Eben jene stete Erlebensdauer nennt Cramer die ursprüngliche Temporalität des Erlebens. Als drittes Moment, welches das Erleben kennzeichnet, tritt zu Produktivität und Temporalität noch die Determiniertheit hinzu, nicht äußerlich, sondern als ein transzendentalontologisch konstitutives Bestimmungsmoment der dreieinigen Erlebnisstruktur singulärer Ichsubjekte, deren Subjektivität nach Cramer zugleich transzendental und ontologisch verfasst ist. Mit der transzendentalontologischen Selbsterfassung des Ich ist die Initiative zur Ausbildung der systematischen Philosophie Cramers ergriffen. Doch bedarf es, um jenen Ausgang als letztbegründet zu erweisen, einer Kehre, die das philosophische Beginnen nicht länger vom Ich und seiner Welt, sondern vom absoluten Grund derselben bestimmt sein lässt, um vom Absoluten in seiner Absolutheit selbst den Ausgang zu nehmen. Definitiv zu Ende gedacht ist die Transzendentalphilosophie nach Cramer erst dann, wenn sie nicht nur in eine Transzendentalontologie, sondern in eine ontotheologische Theorie des Absoluten überführt wird. Das Absolute in seiner absoluten Notwendigkeit zu bedenken, ist nötig, um zu verstehen, was in allem Verstehen selbstverständlich vorausgesetzt und in Anspruch genommen wird: der natürliche Ich-Gedanke, der den Ist-Gedanken und eine Selbst und Welt umfassende Ontologie gemäß Cramers ursprünglicher philosophischer Einsicht unveräußerlich mit sich führt, was durch eine entwickelte Kategorienlehre eigens zu erheben ist. Versucht man den Gedankengang der Cramer’schen Philosophie in einer vorläufigen Zusammenfassung zu charakterisieren, so legt sich ein Vergleich mit traditionellen exitus-reditus-Schemata nahe: Vom natürlichen Ich-Gedanken schreitet Cramers Denken zu einer transzendentalontologischen Theorie fort, die sich als Kategorienlehre von den Bestimmtheitsformen des Ich und seiner Welt realisiert, um in der Theorie des Absoluten als der Bestimmheit-selbst ihren letzten Grund zu finden, von dem her auf das Bestimmte und nachgerade auf den anfänglichen natürlichen Ichgedanken zurückzukommen ist, um ihn in seiner ursprünglichen Selbstverständlichkeit zu verstehen.7 7 Vgl. die analoge Beschreibung des Denkverlaufs der Cramer’schen Philosophie durch H. Wagner, Ist Metaphysik des Transzendenten möglich? (Zu W. Cramers Philosophie des Absoluten), in: D. Henrich/H. Wagner (Hg.), Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt a.M. 1966, 290–326, hier: 307 f.: „Der natürliche lch-Gedanke ist (sc. Cramer zufolge) ein zweifelsfreier Ist-Gedanke. Von ihm aus läßt sich darum das Tran-

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2.

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Cramers ursprüngliche Einsicht

Im Vorwort der Festschrift zum fünfundsechzigsten Geburtstag Wolfgang Cramers, die neben einem gehaltvollen Beitrag Hans Wagners zur Absolutheitstheorie des Jubilars u. a. Dieter Henrichs berühmt gewordene Studie „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ enthält, haben die Herausgeber ihrer Überzeugung Ausdruck verliehen, „daß die Transzendentalphilosophie, auch wo sie sich die Gestalt einer Systematik von Begriffen gegeben hat, nicht so vergangen und wesenlos ist, wie es nach dem Ende des Neukantianismus scheinen konnte“8. An ihrem Ursprung und in ihrer Geschichte, so Henrich und Wagner, sei die Transzendentalphilosophie Theorie der Subjektivität gewesen, die im entfalteten Begriff des Subjekts den Grund alles möglichen Wissens gesucht habe. Diesen Ansatz verfolge auch Cramer und zwar mit dem Ziel, die Transzendentalphilosophie zu einer Transzendentalontologie fortzubilden und auf eine Theorie des Absoluten hin zu überschreiten, welche die Tradition der klassischen Metaphysik unter neuzeitlichen Bedingungen fortzusetzen in der Lage sei. Als Theoretiker der Subjektivität sei Cramer zu Grenzfragen vorgedrungen, welche aktuelle Philosophie zu ihrem Schaden weithin aus den Augen verloren habe. Doch sei Cramer auch als Metaphysiker stets der Subjektivitätstheorie und damit der Transzendentalphilosophie verpflichtet geblieben. Cramers Ansatz beim Ich-Gedanken kann als Beleg seiner Treue zu einer transzendentalphilosophischen Subjektivitätstheorie gewertet werden. Der dem natürlichen Bewusstsein geläufige Ich-Gedanke markiert den Ausgang seines Philosophieren. Seiner ursprünglichen Einsicht gemäß enthält dieser den für alle Ontologie grundlegenden Ist-Gedanken unmittelbar und evidentermaßen in sich. Dem Ich-Gedanken, den das auf sich rückbezogene Denken denken muss, liegt zwar keinerlei Anschauung zugrunde; er erweist aber als Ist-Gedanke in nichtfalsifizierbarer Weise das Sein des Ich. Ich ist und hat sich nicht selbst dazu gemacht, Ich zu sein. Sein Sein ist ihm gegeben, welche Einsicht der Schlüssel dafür bieten soll, das im Bewusstsein als seiend Gewusste mit Bewusstsein, also auf philosophische, nicht lediglich natürliche Weise als bewusstseinstranszendent gegeben zu erkennen. Die Transzendentalphilosophie ist nach Cramer szendentalproblem lösen, der Ist-Anspruch unserer Gedanken legitimieren. Das geschieht in einer Ontologie des Ich. Diese realisiert sich als Kategorienlehre vom Ich. Sie wird aber dabei zur allgemeinen Theorie vom Wesen und vom letzten Grund aller Kategorien. Sie geht daher in eine Theorie des Absoluten über. Die Theorie des Absoluten schließt auch die Theorie vom Verhältnis zwischen diesem Absoluten und allem Anderen ein; diese erweist das Andere als kategorial bestimmtes Einzelnes; damit wird es nötig, das Verhältnis aufzuklären: Absolutes → Kategorien → Einzelnes. Die Theorie des Absoluten wird zur Theorie der Entäußerung des Absoluten. Die Entäußerung des Absoluten ist gleichzeitig Ursprung der Kategorien, im einzelnen wie ihrem System nach. So endet die Themenfolge in einer Speziellen Kategorienlehre.“ 8 D. Henrich/H. Wagner (Hg.), a. a. O., Vorwort der Herausgeber.

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entsprechend zu einer transzendentalen Ontologie fortzubilden. „Es ist zu ersehen, daß die Transzendentalphilosophie, welche als Bewußtseinsphilosophie anhebt und welche die Transzendentalität des Bewußtseins begreifen will, notwendig den Realismus begründen muß, falls sie ihre Aufgabe gemeistert hat.“9 Cramers Begründung des Realismus erfolgt auf transzendentalontologische Weise, nämlich vermittels der Seinsgewissheit, die dem auf sich selbst bezogenen Ich evidentermaßen zur Einsicht kommt. Mit der Erkenntnis des dem Ich-Gedanken konstitutiv zugehörigen Ist-Gedanken ist ihm zufolge zugleich erkannt und zu Bewusstsein gebracht, dass das im Bewusstsein als seiend Gewusste einen bewusstseinstranszendenten Status hat. Um auf den Baum zurückzukommen, von dem der eingangs zitierte Philosoph wiederholt sagte, er wisse, dass das ein Baum sei. „Der Baum dort gilt dem Denken als dem Denken transzendent.“10 Ihre gedankliche Begründung findet diese Transzendenzannahme nach Cramer in dem durch den Ich-Gedanken ursprünglich legitimierten Ist-Gedanken, von dem her die Ontologie mittels einer ausgearbeiteten Kategorienlehre transzendentalphilosophisch zu entwickeln sei. In der Nachlassschrift „Das Denken und der Gedanke ‚Ich denke‘“11 ist dieser Zusammenhang in bündiger Form zur Darstellung gebracht. Um die ursprüngliche Einsicht Cramer’scher Philosophie präzise zu erfassen, empfiehlt sich ein Vergleich mit der Kant’schen Egologie, auf die sie in Kritik und Konstruktion beständig bezogen ist. Was denke ich, wenn ich den Gedanken „Ich“ denke? Nach Kant dasjenige, was alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ohne Mannigfaltiges in sich zu enthalten. Die traditionelle Seelenlehre rationaler Metaphysik hatte den Ichgedanken mit der Annahme einer immateriellen, in ihrer Einfachheit inkorruptiven Substanz von selbstidentisch-personaler Spiritualität assoziiert, welche nicht nur als Form- und Lebensprinzip alles Materiellen fungieren, sondern in ihrer Immortalität das unbedingte Prinzip zeitlos-überzeitlicher Ewigkeit in sich tragen sollte. Kant gilt diese Annahme als obsolet. Nach seinem Urteil sitzen alle seelenmetaphysischen Ich-Theorien einund demselben Grundirrtum auf: Sie machen die Einheit des Bewusstseins im Sinne einer Objektanschauung vorstellig, um sie mit der Kategorie der Substanz oder analogen Verstandesbestimmungen in Verbindung zu bringen, obwohl das 9 W. Cramer, Vom Transzendentalen zum absoluten Idealismus, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift 52 (1960/61), 3–32, hier: 9. Warum das so ist, begründet Cramer in Sonderheit in Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom transzendentalen und empirischen Ich (vgl. a. a. O., 11 ff.) und mit Husserls Egologie (vgl. a. a. O., 13 ff.); auch auf Heidegger wird Bezug genommen (vgl. a. a. O., 15 f.) in Bestätigung der Maxime: „Die transzendentale Konstitutionstheorie ist in der transzendental-ontologischen Konstitutionstheorie zu verankern.“ (A. a. O., 16) 10 Ders., Die absolute Reflexion, 114. 11 Vgl. a. a. O., 109–121.

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die Einheit des Bewusstseins identifizierende „Ich denke“ nach Einsicht transzendentaler Erkenntniskritik nichts anderes bezeichnet als bloße Einheit im Denken und zwar ohne jede gegebene Anschauung, auf welche Verstandesbegriffe Anwendung finden können. Was Kant im transzendentalen Sinne „Ich“ nennt, fungiert als Bedingung der Möglichkeit jedweder Apperzeption. Beim Begriff der transzendentalen Apperzeption handelt es sich wie bei demjenigen des Transzendental-Ich um einen theoretischen Grenzbegriff, von dem Kant zufolge lediglich regulativer, nicht aber objektiver Gebrauch gemacht werden kann. Zwar gelte apodiktisch, dass in allen Verstandesurteilen das „Ich denke“ bestimmendes Subjekt und nie lediglich Prädikat desjenigen Verhältnisses ist, welches das Urteil ausmacht; doch lasse sich dieser Gewissheit kein objektives Wissen vom Subjekt als einer für sich bestehenden Substanz entnehmen. Analog ist nach Kant auch in anderer Hinsicht zu urteilen: Das Ich transzendentaler Apperzeption ist zweifelsfrei singulär im Sinne eines logisch einfachen Subjekts, das in keine Pluralität von Subjekten aufgelöst werden kann; gleichwohl wäre es verfehlt, hieraus auf ein individuelles Wesen zu schließen, welches als einfache Substanz aller Verstandestätigkeit zugrunde liegt. Mit einem identischen Wissen um sich selbst lässt Kant das Bewusstsein alles Mannigfaltigen notwendig ausgestattet sein; das heißt aber nicht, dass die Identität sich wissender Subjektivität als selbstbewusstes Personsein eines in allem Wechsel der Zustände substantiell mit sich einiges Denkwesen gedacht werden könnte. Dieser Schluss wird im Gegenteil als irrig qualifiziert mit der grundsätzlichen Folgerung, dass die Analyse des Ichbewusstseins im Denken für die objektive Selbsterkenntnis schlechterdings nichts erbringe. Die Einheit des dem theoretischen Vernunftgebrauch zugrundeliegenden Bewusstseins für eine objektive Selbstanschauung zu nehmen und mit einem vorhandenen Bewusstsein des Ich von sich selbst zu identifizieren, ist Kant zufolge ein Trugschluss. In Wahrheit nämlich denke der die Einheit des Bewusstseins denkende Gedanke „Ich denke“ nur Einheit im Denken ohne jede gegebene Anschauung. Was für das transzendentale Ich an sich selbst gilt, gilt nach Kant entsprechend in Bezug auf das Verhältnis seiner selbst zu demjenigen, was es nicht ist. Zwar geht die Differenz des Ich von allem Nicht-Ich aus dessen identischem Wissen um sich selbst notwendig hervor, da alle Erfahrungsgegenstände vom Ich als solche erkannt werden, die von ihm verschieden sind. Die Möglichkeit eines dinglosen Ichbewusstseins oder gar die Tatsächlichkeit der Existenz bloß denkender Wesen ohne Erfahrungsweltbezug kann nach Kant auf diese Weise dennoch nicht zur Gewissheit gebracht werden. Den Bestand einer solchen Gewissheit behauptet auch Wolfgang Cramer nicht; doch kritisiert er, dass von dem her, was Kant transzendentales Ich nennt, kein Übergang zu finden sei zum Realich, welches sich in einer wirklichen Welt vorfinde und mannigfaltige Er-

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fahrung mit sich selbst und mit demjenigen mache, was es nicht, jedenfalls nicht unmittelbar selbst sei.12

12 Das Problem des erkenntnistheoretischen Status der sog. Vernunftideen und namentlich der Weltidee ist jüngst von M. Gabriel erneut und in einer Weise aufgegriffen worden, die einen Vergleich mit Kant förmlich herausfordert (vgl. M. Gabriel, Die Erkenntnis der Welt – eine Einführung in die Erkenntnistheorie, München 2012. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.). „Die Welt ist nicht von dieser Welt“ (382; bei G. gesperrt), heißt es; es gibt sie nicht. Warum es die Welt nicht gibt, hat Gabriel nicht erst in seinem neuesten Buch, welches die Wendung zum Titel erhebt, sondern bereits in seiner Einführung in die Erkenntnistheorie zu beantworten versucht. Von Kant her liegt das Argument nahe, was Welt genannt werde, sei als Inbegriff alles Erfahrbaren selbst nicht Gegenstand von Erfahrung, so dass vom Weltbegriff nur ein regulativer und kein objektiver Gebrauch gemacht werden könne. Was hinwiederum das Kant’sche Transzendental-Ich anbelangt, das alle Weltvorstellungen einheitsstiftend muss begleiten können, so hat es eine mit dem empirischen Ich nicht zu verwechselnde transmundane Stellung, ohne dass Transzendenzaussagen oder objektive Aussagen welcher Art auch immer über seinen Status gemacht werden könnten. Vergleichbare Argumentationen finden sich bei Gabriel. Doch scheint sein Weltbegriff mit demjenigen Kants nicht deckungsgleich zu sein, was damit zu tun haben wird, dass er die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich nicht im kantischen Sinne nachzuvollziehen gedenkt, sondern eher einem transzendentalontologischen Ichverständnis zuneigt, wie es sich bei Cramer findet. Unter Welt, sagt Gabriel, können wir „annäherungweise den Bereich verstehen, in dem alles vorkommt, was es gibt“ (14). Weltgegeben ist offenkundig alles, was sich gegenständlich in Erfahrung bringen und objektiv erkennen lässt. Nun gehören der Welt indes nach Gabriel nicht nur Gegenstände an, auf die sich die Erkenntnis richtet, sondern auch die Erkenntnis selbst und zwar nicht nur die Gegenstandserkenntnis, sondern auch diejenige, die sich selbst zum Gegenstand und reflex wird bis dorthin, dass sie eine förmliche Erkenntnistheorie ausbildet, welche beansprucht, „Erkenntnis der Erkenntnis zu sein“ (9). Treffe dies zu, dann könne die Welt nicht einfachhin gegenständlich und als Gegenstandswelt bestimmt werden. Anderes zu behaupten beruhe auf einem Fehlurteil, welches zu dem falschen Schluss führe, das es, indem es Welt als „einen einzigen allumfassenden Gegenstandsbereich“ (380) gebe, auch einen Gegenstand bzw. gegenständlichen Bereich geben könne, von dem alles Gegenständliche abzuleiten bzw. auf den alles Existente zurückzuführen sei. Einen Deduktionismus bzw. Reduktionismus dieser Art nennt Gabriel ontischen Monismus. Als ein verbreitetes Beispiel hierfür wird der sog. Physikalismus angeführt. Dieser behaupte, „dass alles, das existiert, letztlich im Gegenstandsbereich der Physik existiert“ (379). Dass er mit dieser Behauptung in eine Antinomie und in einen Widerspruch zu sich selbst gerate, beweise u. a. die Tatsache, dass „im Physikalismus oder in jeder anderen ontischen monistischen Theorie immer ein Kontrast am Werk“ (381) ist, der zwar häufig ignoriert werde, aber dennoch unzweifelhaft bestehe, nämlich „derjenige zwischen der monistischen Theorie selbst und ihrem Gegenstandsbereich. Die Theorie des ontischen Monismus untersteht nicht den Bedingungen, die sie ihren Gegenständen zuschreibt.“ (Ebd.) Sie ist nicht fähig, sich auf sich selbst anzuwenden. Ein ontisch-monistischer Physikalismus betreibt nach Gabriel nicht Physik, sondern Metaphysik und zwar falsche. Bleibe Physik Physik, dann gerate sie weder in Konflikt mit Metaphysik noch mit Religion. Religion ist Gabriels Urteil zufolge „kein Wissensanspruch, der in Konkurrenz zu wissenschaftlicher Theorie auftritt. Sie entspringt nicht einmal dem Bedürfnis einer Welterklärung im modernen Verständnis dieses Wortes. Sowohl das wissenschaftliche

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Soll der Begriff „Ich“ in seinem transzendentalen und in seinem „realen“ Gebrauch nicht völlig äquivok verwendet werden, dann muss Cramer zufolge zwischen Transzendental-Ich und demjenigen Ich ein Verhältnis walten, das Weltgegenstände und sich selbst in Bezug zu ihnen empirisch zu erfassen vermag. Dieses Verhältnis zu erschließen ist eines der Zentralanliegen der transzendentalontologischen Subjektivitätstheorie Cramers, die Kants Egologie einerseits scharf als abstrakt kritisiert, um andererseits doch konstruktiven Anschluss an sie zu suchen. Faktisch nämlich habe Kant, so Cramer, in seiner Lehre vom transzendentalen Ich diese bereits transzendiert, ohne freilich die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Cramer schickt sich an, dieses Defizit dadurch zu beheben, dass er den Ich-Gedanken an sich selbst als Ist-Gedanken zu begreifen und die Transzendentalphilosophie zur Transzendentalontologie dergestalt zu transformieren sucht, dass er das Ich, welches als die Bedingung der Möglichkeit allen Denkens und Vorstellens fungiert, selbst als jene ontische Einheit erfasst, der unmittelbare und nichtfalsifizierbare Seinsevidenz eignet. Ich ist in einem eine transzendentale und eine ontologische Größe. Mit diesem Satz dürfte die ursprüngliche Einsicht Cramer’sche Philosophie zutreffend umschrieben und zugleich markiert sein, worin sie sich von der Kant’schen von Anfang an und durchgehend unterschieden weiß: Während bei Kant das Verhältnis von transzendentaler und empirischer Subjektivität nach seinem Urteil rätselhaft bleibt, sucht Cramer das Rätsel des Ich dadurch zu lösen, dass er das als Möglichkeitsbedingung der Einheit des Denkens fungierende Ego nicht lediglich als Funktions-, sondern als Seinseinheit denkt, um auf diese Weise dem konkreten Ich in seiner Subjektivität transzendentalen Rang zuzuerkennen.13 Bleibt als auch das religiöse Weltbild sind falsch, sofern es sich um Weltbilder handelt.“ (M. Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, 195. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.) Entsprechendes gilt für Gott, dessen Reich nach Jesu Wort nicht von dieser Welt ist: „Die Idee, für die ‚Gott‘ steht, ist die Idee einer unbegreiflichen Unendlichkeit, in der wir dennoch nicht verloren sind. GOTT ist die Idee, dass das Ganze sinnvoll ist, obwohl es unsere Fassungskraft übersteigt. Wenn Menschen an ‚Gott‘ glauben, dann geben sie ihrer Zuversicht Ausdruck, dass es einen Sinn gibt, der sich uns zwar entzieht, uns aber gleichzeitig auch einbezieht.“ (194 f.) Anders formuliert: „Die Religion entspringt dem Bedürfnis zu verstehen, wie es in der Welt Sinn geben kann, der verstanden zu werden vermag, ohne dass wir diesen Sinn einfach in die Welt hineindichten. So betrachtet ist es ganz richtig, wenn gesagt wird, Religion sei eine Form der Sinnsuche.“ (203) 13 Zum Problem vgl. H. Jahnson, Kants Lehre von der Subjektivität. Eine systematische Analyse des Verhältnisses transzendentaler und empirischer Subjektivität in seiner theoretischen Philosophie, Bonn 1969. Ferner: N. Meder, Das Problem der Grundlegung einer Theorie des Subjektes im Vergleich von Hönigswald und Cramer, in: H. Radermacher/P. Reisinger (Hg.), a. a. O., 112–131. Im Einsatz bei der Subjektivität des erlebenden Menschen erwies sich Cramer als treuer Schüler seines Lehrers Hönigswald, der wie Husserl und Heidegger der konkreten Subjektivität transzendentalen Rang zuerkannt hatte. Zum Einfluss der Denkpsychologie Hönigswalds auf Cramer vgl. u. a. H. Kuhn, Die Medialität des Bewusstseins, in: a. a. O., 63–75, hier: 65 ff. Ferner: K.W. Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalon-

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hinzuzufügen, dass Cramers Kritik an Kants Transzendentalphilosophie im Allgemeinen und der transzendentalen Apperzeption im Besonderen „in ihrem Fundament kompromißlos stets dieselbe geblieben (ist): Die ihr zugemutete Leistung, Objektbewußtsein zu konstituieren, könne sie nicht erbringen, ihre transzendentale Funktion sei nicht einzusehen …. Sie sei ein erzeugter bloßer Gedanke, eine leere Identität, die unmöglich die grundsätzliche ‚Ichhaftigkeit‘ aller Vorstellungen fundieren könne. Vorstellungen und der Ich-Gedanke selbst gründeten vielmehr vorgängig in dem singulären Ich als ontologischer Einheit … von Bestimmung und Bestimmbarkeit, deren Einheit keine Synthesis, keine vom Denken gestiftete Einheit sei.“14 tologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigwalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels, Bonn 1995. Zur Konsistenz des Cramer’schen Systems äußert sich Zeidler sehr kritisch (vgl. 139 ff.). Cramer bleibe überzeugende Argumente dafür schuldig, wie er „den transzendentalen Idealismus verwerfen und zugleich seine Monadologie als Antwort auf die offenen Begründungsfragne der Transzendentalphilosophie exponieren“ (152) könne. Auch seine „unvollendet geblieben(e)“ (166) Absolutheitstheorie biete einen solchen argumentativen Beweis nicht an. Die Aufhebung der erkenntniskritischen Differenz von empirischen und transzendentalen Bestimmungen bleibe methodisch und sachlich unausgewiesen (vgl. 167). Interessant sind die Bezüge, die Zeidler zwischen Cramers Philosophie und derjenigen Schellings herstellt (vgl. 165). 14 P. Reisinger, Ontologische und transzendentale Egologie, in: H. Radermacher/P. Reisinger (Hg.), a. a. O., 140–158, hier: 140. Zum Problem einer Ontologie bei Kant und zur Frage, ob diese naturalistisch sei, vgl. u. a. G. Sans, Ist Kants Ontologie naturalistisch? Die „Analogien der Erfahrung“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, Stuttgart/Berlin/Köln 2000. Unter Ontologie wurde in der klassischen Philosophie vor Kant die erste und allgemeine Disziplin der Metaphysik verstanden, die „sich mit den grundlegenden Bestimmungen dessen befasst, was ist“ (a. a. O., 11). Den traditionellen ontologischen Anspruch, synthetische Erkenntnisse a priori von Dingen überhaupt geben zu können, weist Kant als anmaßend zurück. Die erkenntnistheoretischen Gründe hierfür sind in der „Kritik der reinen Vernunft“ angegeben. Synthetische Erkenntnisse a priori kann es ihr gemäß nicht von demjenigen geben, was „Ding an sich“ heißt, sondern nur in Bezug auf Gegenstände der Erfahrung, also auf dasjenige, was Kant Erscheinung nennt. Auf den Gegenstandsbereich erfahrbarer Erscheinungen beschränkt Kant Sans’ Interpretation zufolge die Geltung ontologischer Prinzipien. Nicht als ob er der Ontologie überhaupt den Abschied gegeben hätte; als ein „System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die gegeben wären“ (KrV A 845/B 873; zit. n. a. a. O., 11), sei sie auch bei ihm von Bedeutung, wie die transzendentale Analytik als der erste Teil der transzendentalen Logik belege. Insofern übernehme Kant „den Gedanken der Ontologie als einer philosophischen Grundlagendisziplin“. Er begrenze ihre Zuständigkeit aber im Unterschied etwa zur rationalistischen Ontologie des Leibniz-Wolffschen Systems auf den Gegenstandsbereich der Erscheinungen, die empirisch in Erfahrung zu bringen sind, wohingegen auf Menschenseele, die Welt im Ganzen oder auf Gott als den Grund von Selbst und Welt überhaupt ontologische Prinzipien nicht anwendbar seien. „Die drei Teilgebiete der rationalistischen Metaphysik, Psychologie, Kosmologie und Theologie, fallen nicht in den Gegenstandsbereich dessen, was Kant Ontologie nennt. Die Geltung ontologischer Prinzipien ist eingegrenzt auf den Bereich der Gegenstände unserer Erfahrung.“ (Ebd.) Mit welchen möglichen Erfahrungsgegenständen rechnet Kant? Handelt es sich dabei le-

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3.

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Monadologisches Programm und geisttheoretische Durchführung

Am Anfang von Cramers wissenschaftlichem Werk stehen Arbeiten zur Mathematiktheorie. Seine Habilitationsschrift „untersucht die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Mathematik“15 und zwar anhand jenes Erkenntnisprindiglich um physikalische Gegenstände oder transzendieren die Möglichkeiten der Erfahrung die „Grenzen der Newtonschen oder irgendeiner anderen Physik“ (12)? Eine Interpretation der drei Analogien der Erfahrung soll diese Frage beantworten. Nach Sans entwickelt Kant in ihnen „eine nicht-naturalistische Theorie der Natur“ (18). Um diese Zentralthese zu begründen und zu erläutern, muss zunächst geklärt werden, was nach Kant „als Gegenstand der Erfahrung gelten kann und wie demnach die Welt der Erfahrung ontologisch verfasst ist“ (ebd.). Mit diesem Problem und der These, „daß die Objektivität des Erkannten auf den formalen Prinzipien der Erkenntnis beruht“ (41), beschäftigt sich das 1. Kapitel der Sans’ schen Dissertation. Die beiden Folgekapitel thematisieren unter dem Stichwort Substanz, Subjekt, Substrat die materielle Grundlage von Gegenstandserfahrungen sowie den Unterschied und Zusammenhang äußerer und innerer Erfahrung. Was die innere Erfahrung anbelangt, so wird das Gegebensein immaterieller Substanzen bestritten. Möglicher Gegenstand von Erfahrung ist nicht das Ich an sich selbst, sondern das empirische Subjekt, das sich leibhaft in Erfahrung bringen lässt. Kap. IV und V suchen zu beweisen, dass Kant keine durchweg mechanistische Ontologie vertritt, sondern mit spontaner Verursachung bestimmter Ereignisse rechnet. „Hinsichtlich des menschlichen Handelns ist er kein Determinist, sondern Kompatibilist.“ (18) Ereignisse müssen nicht notwendigerweise durch andere Ereignisse „empirisch“ verursacht sein, sie können ihre Ursache auch in „intelligiblen“ Gründen eines Handlungssubjekts haben (vgl. 136). Ihren systematischen Abschluss findet Kants Ontologie Sans zufolge in der in Kap. VI thematisierten Einsicht, dass die einzelnen Dinge als gegliedertes Ganzes nach dem Vorbild des lebendigen Organismus zu konzipieren seien. Alles in allem spiegle „Kants Ontologie die Stellung des Menschen im Mittelpunkt einer als Einheit erfahrenen und verstandenen Natur“ (159). Es sei infolgedessen falsch, die Geltung von Kants ontologischer Theorie von Dingen und Ereignissen auf eine mechanistische Physik zu beschränken, da ihre Gegenstandsreichweite größer sei und sich über eine naturwissenschaftliche Physik und Kosmologie hinaus auch auf die Anthropologie erstrecke. Von einem Naturalismus der Kant’schen Ontologie könne sonach nicht die Rede sein. 15 W. Cramer, Das Problem der reinen Anschauung. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung der Prinzipien der Mathematik, Tübingen 1937, III. Die nachfolgenden Verweise im Text beziehen sich hierauf. Cramers Habilitationsschrift behandelt neben dem Begriff der reinen Anschauung auch den Begriff des Unendlichen, wobei die Erörterungen ebenfalls über zahlentheoretische Probleme hinaus in philosophische Grundsatzfragen führen. Zu vergleichen ist dazu die 1937/38 in den Blättern für Deutsche Philosophie erschienene Untersuchung über den Begriff des Unendlichen. „Das Unendliche ist zunächst in der Mathematik ein methodisches oder Begriffe ermöglichendes Prinzip. Das Unendliche als Anschauungsprinzip stiftet das Universum, die Welt als das alle Dinge und Ereignisse schematisch umfassende Raum-ZeitTotale. Das Unendliche als methodisch-mathematisches Prinzip liefert ein mathematischkonstruktives Bild vom Universum, einen Begriff von der Welt. Schließlich tritt das Unendliche – wenn man auch hier, weil vom Ganzen, vom Unendlichen reden darf – als sinngebendes Ganzes auf, als Weltauffassung. Ein und dieselbe Funktion wirkt sich in verschiedenen Modifikationen aus. Was ist diese eine und selbe Funktion, was ist das Unendliche seinem Begriffe nach?“ (W. Cramer, Über den Begriff des Unendlichen, in: Blätter für Deutsche Philosophie. Zeitschrift der Deutschen Philosophischen Gesellschaft. Hg. v. H. Heimsoeth, Berlin 1937/38,

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zips, „das Kant reine Anschauung nennt“ (ebd.). Insofern geht es in ihr nicht nur um den „Begriff der mathematischen Methode“ (ebd.), sondern zugleich um „ein grundlegendes Problem der wissenschaftlichen Philosophie“ (ebd.). Man kann Cramers Interesse am Problem der reinen Anschauung als ein frühes Indiz seiner kantkritischen Annahme deuten, „daß die Transzendentalphilosophie nicht über die Immanenz dessen, was für ein Bewußtsein ist, hinausgekommen sei, daß sie selbständiges, eigenprinzipiiertes Transzendentes nicht implikativ in ihre Theoriebildung aufgenommen habe“16. Aus dieser Problemlage heraus entwickelt sich Cramers System: „Wenn Transzendentes implikativ gesichert werden soll, so muß anscheinend in der Theorie von einem Ausgangspunkt, dem Subjekt, als einem, das schon Sein birgt, begonnen werden, und zwar in Gegenstellung zu einem Konstrukt oder einem Prinzipgedanken, von dem her Seiendes vermutlich nur in einer Bestimmungsimmanenz erschlossen werden könnte. Für Cramer ist daher das Subjekt ein solches, das von sich einen ich-Gedanken und damit einen ist-Gedanken denkt, also den Gedanken, daß es sei. Dieser Doppelgedanke ist transzendental konstitutiv: wenn das Ich so denkt, dann deshalb, weil es nur so Ich sein kann. Das Sein des Ich ist erster Fall eines Transzendenten, denn sein Sein ist nicht das Sich-Bestimmen allein, sondern Referent des Bestimmens. Die Aufgabe wäre nun, über die ‚Transzendenz in der Immanenz‘ (um Husserls – wenn auch anders gemeinten – Ausdruck zu gebrauchen) hinauszukommen zu sonstiger Transzendenz.“17 Programmatisch entworfen hat Cramer das Konzept seiner Philosophie in seinem „erste(n) nach dem zweiten Weltkrieg 1954 veröffentlichten großangelegten Buch“18 mit dem an Leibniz gemahnenden Titel „Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung“19. Die im ersten Teil geltend gemachte Kantkritik bereitet die kon-

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272–284, hier: 274 f. Den „Begriff des unendlich Kleinen“ erörtert Cramer in einem Beitrag über „Die Aporien des Zeno und die Einheit des Raumes“ im Zusammenhang der eleatischen Lehre von der Einheit des Seienden, in: Blätter für Deutsche Philosophie. Zeitschrift der Deutschen Philosophischen Gesellschaft, Berlin 1938/39, 347–364, hier: 347; zum zenonischen Beispiel vom Wettlauf Achills mit der Schildkröte vgl. a. a. O., 351 ff.) K. Hartmann, Subjektontologie und ihr Verfahren, in: H. Radermacher/P. Reisinger [Hg.], a. a. O. 209–221, hier: 210. A. a. O., 211. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 10 (Vorbemerkungen des Herausgebers). Ders., Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung, Stuttgart 1954. Das Buch entwirft das Programm von Cramers Philosophiekonzeption als einer auf eine Theorie des Absoluten angelegten transzendentalen Ontologie konkreter Subjektivität. „Alle folgenden Veröffentlichungen dienen der weiteren Ausarbeitung, auch dort, wo er (sc. Cramer) sich eingehend mit anderen Philosophen, wie Kant und Spinoza, auseinandersetzt.“ (E. Rogler, Subjektivität und Transzendentalität, in: H. Radermacher/P. Reisinger [Hg.], a. a. O., 159– 180, hier: 159) Das Wort „Monade“ wird im Cramer’schen Werk durchweg sinnidentisch gebraucht. Es ist keineswegs auf Ich-Subjekte beschränkt. „Alle animalia sind Monaden. Das Monadenreich dürften wir nur in einem sehr begrenzten Ausschnitt kennen. Was wissen wir schon von der Welt, in der wir leben, was von Welten oder Ordnungen, in denen wir nicht

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struktive Grundeinsicht vor, wonach das Ichbewusstsein ursprünglich gar nicht anders denkbar ist denn als Ist-Bewusstsein, nämlich als ein Bewusstsein spezifischer Seinsbestimmtheit seiner selbst. Das sich wissende Bewusstsein weiß sich als ein bestimmtes Selbstbewusstsein, als ein singuläres Ich, das in seiner monadischen Singularität verwiesen ist auf andere Ichmonaden in einer gemeinsam gegebenen Welt. Was es mit dem Zusammenhang von Monade und Welt näherhin auf sich hat, wird in einem zweiten Teil der Monographie erörtert. Cramer zeigt, dass Selbst und Welt einen differenzierten Zusammenhang bilden, nicht im Sinne einer äußerlichen Korrelation, sondern nach Weise einer ursprünglichen Beziehung, die in der psychophysischen Verfasstheit der Ich–Monade selbst ihren Grund hat. Als leibseelische Einheit ist das Ich an sich selbst welthaltig wie umgekehrt von Welt ohne Selbst keine Rede sein kann, auch wenn die Existenz von weltlich Seiendem vom selbstbewussten Ich als vorausgesetzt und selbstverständlich gegeben in Anschlag gebracht wird. Die Ausführungen über Denken und Sprache im dritten Teil bestätigen diesen Sachverhalt. Nachdem er im vierten und fünften Teil seiner Monadologie „Vom mathematischen Gegenstand“ sowie von den kosmologischen Antinomien und dem Freiheitsproblem gehandelt hat, entwickelt Cramer im Schlussteil des Buches Grundzüge einer Absolutheitstheorie. Der sechste und letzte Teil der Abhandlung trägt die Überschrift „Von der letzten Frage und vom letzten Grunde“. Letzter Grund können weder die gegebene Welt noch das sich selbst gegebene Ich sein, da beide wegdenkbar sind. Nicht wegdenkbar ist allein, was als Grund von Selbst und Welt auch noch die Bedingung der möglichen Wegdenkbarkeit beider ist, nämlich das Absolute als die Bestimmtheit-selbst.20 In seiner Unwegdenkleben?“ (W. Cramer, Kausalität und Freiheit, in: R. Berlinger/E. Fink [Hg.], Philosophische Perspektiven. Ein Jahrbuch. Bd. 5, Frankfurt a.M. 1973, 9–28, hier: 20) Bekannt und unmittelbar zugänglich ist uns nach Cramer allein die Monade, die wir selbst sind. Vom Ich selbst und dem natürlichen Ich-Gedanken hat die Monadologie daher ihren Ausgang zu nehmen, um zu bedenken, was es mit anderen Denkmonaden, die sich als Ich wissen, und mit tierischen Monaden auf sich hat, die keine Denkmonaden, aber nach Cramer beseelte und auf ihre Art auch freie, zu rudimentären Formen von Selbsttätigkeit fähige Lebewesen sind. Generell gilt, dass alle Lebewesen, die Erlebnisse haben und Erfahrungen machen können, Monaden zu nennen sind. Ob bzw. inwieweit Pflanzen darunter fallen, lässt Cramer offen. Dass die psychophysische Einheit, welche jede Monade ist, Rätsel aufgibt und „schwer zu begreifen“ (a. a. O., 21) ist, hat Cramer wiederholt betont. Erschließen lässt sich ihr Geheimnis nach seinem Urteil nur von innen heraus, also auf monadologische Weise und nicht durch distanzierte Außenbetrachtungen. Auch Tier- und Pflanzenkunde lässt sich ohne Selbsterfahrung nicht angemessen betreiben. Einer auf empirische Externbeobachtung beschränkten Biologie entgeht, wonach sie ihrem Begriff gemäß sucht: das Leben und seine Lebendigkeit. 20 Vgl. im Einzelnen J. Stolzenberg, Die Bestimmtheit-selbst. Zu Wolfgang Cramers erster Konzeption des Absoluten in „Die Monade“, in: H. Radermacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), Rationale Metaphysik. Die Philosophie Wolfgang Cramers. Bd. 2, Stuttgart 1990, 185– 215. Cramers erste Konzeption einer Absolutheitstheorie, mit der er „seiner Überzeugung von der Möglichkeit einer rationalen Theologie nach Kant und nach Hegel“ (a. a. O., 184) Aus-

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barkeit steht das Absolute als das schlechterdings Notwendige in einer konstitutiven Beziehung zu allem Nicht-Notwendigen und Wegdenkbaren, ohne doch durch diesen Bezug bedingt zu sein. Denn seine Absolutheit steht nicht unter der Bedingung des Bedingten, sondern ist unbedingt, wobei absolute Unbedingtheit Unvordenklichkeit impliziert.21 Vor Durchführung seines skizzierten absolutheitstheoretisch-metaphysischen Konzepts hat Cramer sein monadologisches Programm zunächst in subjektivitätstheoretischer Hinsicht zu explizieren und zu systematisieren versucht.22 Dies druck gab, „stieß schon früh auf Kritik“ (ebd.). J. Stolzenberg hat in seinem angegebenen Text Cramers Konzeption gegen die vorgebrachten Einwände zu verteidigen gesucht (vgl. a. a. O., 206 ff.). Zur Struktur des Cramerschen Begriffs der Bestimmtheit-selbst, wie sie sich Stolzenberg darstellt, vgl. a. a. O., 209 ff. Diese in der Monadologie erstmals umschriebene Struktur „in die Form einer Theorie vom Absoluten zu überführen, ist“, so Stolzenberg, „zu Cramers philosophischer Lebensaufgabe geworden. Im Blick auf die weitere Entwicklung von Cramers Philosophie des Absoluten stellt deren erste Konzeption aber nicht nur einen alsbald überwundenen Ausgangspunkt dar. Ihre systematische Bedeutung ist darin zu sehen, daß sie auch schon das Kriterium für die Beurteilung dieser Entwicklung enthält, wenngleich in der Form eines in ihr selbst noch ungelösten Problems. Dieses Kriterium besteht in der Realisierung der logischen Unabhängigkeit der Theorie der internen Verfassung des Absoluten, die Cramer auch weiterhin als eine Theorie der absoluten Bestimmtheit verstanden hat, von der Theorie der Bestimmtheit von Einzelnem, einer Unabhängigkeit, die gleichwohl noch verständlich machen muß, auf welche Weise das Absolute Grund des einzelnen Bestimmten sein kann.“ (A. a. O., 215) 21 Mit Recht hat W. Ritzel am Schluss seiner instruktiven Anzeige von Cramers Werk „Die Monade“ auf die Nähe der absolutheitstheoretischen Argumentation zu Schellings Spätphilosophie aufmerksam gemacht, wie sie in der 1955, ein Jahr nach Cramers Monadologie, erschienenen Abhandlung von Walter Schulz über „Die Vollendung des Deutschen Idealismus und der Spätphilosophie Schellings“ zur Darstellung gebracht worden sei. Wer beide „Bücher mit Verständnis gelesen hat, kann die Gemeinschaft im Sachlichen nicht verkennen!“ (W. Ritzel, Rez. W. Cramer: Die Monade etc., in: Philosophischer Literaturanzeiger 10 [1957], 206–215, hier: 214 f.) Transzendentales Denken neigt nach Schellings Urteil insofern zur Selbstverkehrung, „als es seinen eigenen Grund nur von sich als Ich her versteht und nicht auch noch umgekehrt sich von seinem Grund her“ (S. Schwenzfeuer, Natur und Subjekt. Die Grundlegung der schellingschen Naturphilosophie, Freiburg/München 2012, 286). In seiner Freiheitsschrift von 1809 hat er diese transzendental-philosophische Tendenz mit dem Unwesen des Bösen in Verbindung gebracht, um in seinem Spätwerk sodann von der durch die negative Philosophie abverlangten vernünftigen Selbstbegrenzung her einen Zugang zu erschließen zum unvordenklichen Grund menschlicher Subjektivität, dessen offenbare Faktizität die positive Philosophie der Mythologie und Offenbarung zu bedenken hat. Humane Freiheit ist sich gegebene und zugleich alteritätsoffene Freiheit. Es gilt der auch für den späten Fichte gültige Grundsatz: „Trotz der Unhintergehbarkeit der setzenden Tätigkeit ist das Ich nicht der Grund von allem, sondern im Gegenteil selbst nur eine endliche Erscheinungsform des Absoluten.“ (G. Sans, Ich und Nicht-Ich, in: SGZ 137 [2012], 305–309) 22 Vgl. in diesem Zusammenhang auch das von Konrad Cramer aus dem Nachlass seines Vaters edierte Manuskript „Das Ich und das Gute“ (W. Cramer, Das Ich und das Gute. Eine Grundlegung der Philosophie. Mit einem editorischen Nachwort hg. v. K. Cramer, in: Neue Hefte für Philosophie 27/28 [1988], 3–55). Nach K. Cramer hat man davon auszugehen, „daß das Manuskript ‚Das Ich und das Gute‘ als Dokument für den internen Zustand anzusehen ist,

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geschah in der 1957 in erster, 1965 in zweiter Auflage erschienenen „Grundlegung einer Theorie des Geistes“. Dieter Henrich hat in einer Besprechung der Erstauflage emphatisch den „hohe(n) Rang von Form und Konsequenz dieses einzigen grundlegenden systematischen Werkes (gewürdigt), das nach 1945 in Deutschland veröffentlicht wurde“23. Nach Einschätzung der Herausgeber eines zweibändigen Sammelwerkes zur Philosophie Cramers gilt dieses Urteil „(a)uch gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts … noch uneingeschränkt“24; bei der „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ handle es sich „um eine Dokumentation der rationalen Metaphysik vom Geist der Descartes, Wolff, Baumgarten, Spinoza und Leibniz“25. Das Werk26 ist in drei Teile gegliedert: vom Denken; vom Erleben; vom Geist. Es beginnt damit, „die Frage und die Methode ihrer Lösung zu entwickeln, um dann im Verlaufe des zweiten Teiles in einen Prozeß stringenter Folgerung einzumünden. Es ist große Mühe darauf verwandt, die Theorie des Geistes durch die Theorie des Lebens zu fundieren, die Egologie in der Monadologie zu verankern. Allein dadurch wird das Verhältnis ‚Geist–Natur‘ hinreichend klar. Der teilweise sehr abstrakte Gedankengang ist nicht Marotte, sondern liegt im Wesen philosophischer Fragestellung. Philosophie ist nicht die Kunst oder der Unfug, für Allbekanntes eine sich gewichtig ausnehmende Terminologie zu schaffen. Es ist doch klar, daß man mit Selbstverständlichkeiten nicht durchkommt, wenn eben nach den Gründen der Selbstverständlichkeit gefragt ist.“ (8) Den Ausgangspunkt für Cramers von ihm selbst so genannte „transzendentale Ontologie der Subjektivität“ (9) bildet erneut die selbstverständliche Überzeugung des natürlichen Bewusstseins „in einer realen, bewusstseinsunabhängigen Welt zu leben, auf die es sich erkennend und handelnd bezieht“27. Cramer affirmiert diesen Realismus, aber nicht auf unmittelbare, sondern auf transzendentalontologische Weise, um ein naturalistisches Missverständnis des natürli-

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in dem sich Wolfgang Cramers Philosophie der Subjektivität in der Zeit zwischen der Fertigstellung der Druckvorlage für ‚Die Monade‘ im Jahre 1952 und der Fertigstellung der Druckvorlage für die ‚Grundlegung einer Theorie des Geistes‘ im Jahre 1956 befunden hat, – und zwar ist der Zeitpunkt, für den es ein solches Dokument ist, der Herbst 1954 bzw. der Winter 1954/55.“ (A. a. O., 52 f.) Bemerkenswert ist der Text nach Urteil seines Herausgebers vor allem deshalb, weil er „im Unterschied zu allen von Wolfgang Cramer publizierten Arbeiten zur Philosophie der Subjektivität“ (a. a. O., 54) im Rahmen einer moralphilosophischen Skizze „ein Stück Theorie der Intersubjektivität entwickelt“ (a. a. O., 55; vgl. dazu 44 ff.). D. Henrich, Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie, in: Philosophische Rundschau 6 (1958), 237–263, hier: 237. H. Radermacher/P. Reisinger (Hg.), a. a. O., 7. Ebd. W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes (1957). Zweite erweiterte Auflage, Frankfurt a.M. 1965. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. J. Stolzenberg, Wolfgang Cramer, in: J. Nida-Rümelin (Hg.), Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis v. Wright, Stuttgart 21999, 155–161, hier: 156.

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chen Bewusstseins prinzipiell abzuwehren, ohne deshalb einem abstrakten Idealismus zu verfallen. Die entscheidende Frage, welche Cramers transzendentale Ontologie der Subjektivität zu beantworten sucht, lautet: „Wie kann das Bewußtsein in seiner Konstitution des Gegenstandes den Gegenstand als NichtGegenstand, das Konstituierte als nicht durch das Bewußtsein konstituiert wissen? Diese Frage“, so Cramer, „hat Transzendentalphilosophie bislang nicht beantwortet. Und das deshalb nicht, weil ihre Grundlage hierzu nicht ausreicht. Denn der transzendentalen Konstitutionstheorie hat eine ganz andere Konstitutionstheorie vorauszugehen.“ (24) Ihre Grundidee besteht in der aus der Selbstanalyse von Subjektivität hervorgehenden Einsicht, dass Ich sich selbst gegeben ist, ohne sich selbst zu Ich gemacht zu haben. „Die Subjektivität ist Realität, nicht ein von ihr Konstituiertes, und eben dieses weiß sie in der Erzeugung des Gedankens ‚Ich denke‘. Sie weiß sich ursprünglich als zeitliche Realität. Also kann sie, da sie Begriff von sich hat, über sich nachdenken. Sie kann sich selbst analysieren, sich den Modus ihrer Zeitlichkeit zu Begriff bringen, nach der Bedingung der Möglichkeit ihres Seins fragen. Als Realität, die sich den Gedanken ‚Ich denke‘ erzeugt, kann sich eine Subjektivität ihre Konstitution zum Problem stellen. Diese ihre Konstitution ist nicht ihre Leistung.“ (Ebd.) Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht möglich, aber auch nicht nötig, Cramers Kritik am Kantischen Zeitbegriff im Einzelnen zu entfalten. Ihr Skopus ist auf die Einsicht gerichtet, dass die Vorstellungen, als deren Möglichkeitsbedingung das transzendentale Ich fungieren soll, nur in zeitlicher Form möglich sind. Entsprechend sind sie „dem Subjekt notwendig in der Form der Zeit gegeben. Soll es zum Begleiten des ‚Ich denke‘ überhaupt kommen, so muß das Ich als jeweils begleiten könnendes gewußt werden. Das Ich kann gar nicht umhin, sich als zeitliches zu denken.“28 Muss das Ich aber, wenn es den Ich-Gedanken denkt, sich notwendigerweise als zeitlich denken, dann geht aus dem „Ich denke“ Cramer zufolge mit nichtfalsifizierbarer Evidenz hervor, dass Subjektivität sich nie lediglich als transzendentale Größe im logischen Sinne einer Ich=Ich-Gleichung denken kann, sondern stets als eine Realgröße zu begreifen hat, der Sein eignet. Es ergibt sich, „daß Ich-Gedanke und Seinsgedanke gar nicht voneinander lösbar sind. Cramer begründet seine Ontologie am straffesten über den Ich-Gedanken, der immer auch schon Seinsgedanke ist. Daß der Seinsgedanke Geltung beanspruchen kann, ist durch die Strukturiertheit des Ich-Gedankens garantiert.“29 Ich ist; aber es ist auf kategorial andere Weise gegeben als Nichtich. Es ist sich gegeben und in seinem Sichgegebensein die Voraussetzung dafür, dass Gegebenheiten überhaupt als gegeben wahrgenommen werden. Cramers Theorie der 28 M. Zelger, Das Absolute und die Kategorien, in: H. Radermacher, R. Reisinger, J. Stolzenberg (Hg.), a. a. O., 256–286, hier: 258. 29 Ebd.

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Subjektivität verleugnet ihre transzendentalphilosophische Herkunft ebenso wenig wie seine Ontologie mit der Seinslehre der traditionellen vorkantischen Metaphysik gleichgesetzt werden darf. Zwar ist nach seinem Urteil wahr, dass Ich nicht ohne Sein gedacht werden kann; wahr ist aber auch und zugleich, dass vom Sein des Seienden ohne Bewusstsein und sich wissendem Wissen nicht die Rede sein kann. Zwar setzen Bewusstsein und Selbstbewusstsein Seiendes als gegeben voraus. Aber die vorausgesetzte Gegebenheit von Nichtich hat Ich zur nicht wegzudenkenden Voraussetzung. Nicht als ob Ich Nichtich unmittelbar aus sich heraussetzen würde. Aber das Vorausgesetztsein von Nichtich kann als vorausgesetzt nur unter der Voraussetzung von Ich identifiziert werden. Ohne Ich kann das Gegebensein keiner Gegebenheit erfasst werden. Die Egologie bleibt insofern die transzendentale Basis der Ontologie. Doch hat nach Cramer die transzendentale Ichlehre notwendigerweise ontologische Form anzunehmen, weil aus dem Ich selbst die Einsicht seines Sich-Gegebenseins zu gewinnen ist, aus welcher Einsicht heraus der ontologisch grundlegende Seinsgedanke hervorgeht. Weichenstellende Bedeutung für Cramers „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ kommt dem „als zentrales Motiv des Buches entwickelten Produktionsbegriff“ (9) zu. „Das Bewußtsein“, so lautet J. Stolzenberg zufolge Cramers Grundthese, „produziert die Unabhängigkeit des Gegenstands von seinem Produziertsein.“30 Heißt dies, dass das Ich das Nichtich als nichtgesetzt setzt? Im Sinne Cramers hat dieser Satz insofern seine Richtigkeit, als das Vorausgesetztsein des Seins als Vorausgesetztsein an der Voraussetzung des Bewusstseins und seiner Produktivität hängt. Aber das produktive Bewusstsein hat sich nicht unmittelbar selbst produziert, sondern weiß sich als sich gegeben, nicht zwar auf gegenständliche, wohl aber auf ungegenständliche Weise. Auf ungegenständliche Weise sich gegeben ist das Ich von Gegenständen der Erfahrungswelt charakteristisch unterschieden, dieser aber zugleich untrennbar insofern verbunden, als alles konkrete Icherleben welthaltig ist. Man kann das die Determiniertheit des Ich und seines Erlebens nennen. Aus dem Realitätsgedanken „Ich denke“ erhellt, mit Cramer zu reden, „das Transzendenzbewußtsein der Welt“ (23). Die Gegenständlichkeit von Weltgegenständen ist ohne eine transzendentale Konstitutionstheorie nicht zu begreifen. Aber die „transzendentale Leistung der Subjektivität ist ihrerseits aus der ontologischen Konstitution der Subjektivität zu begreifen. Der transzendentalen Konstitutionstheorie hat die Theorie von der ontologischen Konstitution der Subjektivität vorauszugehen. Diese Ontologie der Subjektivität ist aber selbst in der ursprünglich gerechtfertigten transzendentalen Leistung, der Erzeugung des ursprünglich wahren Gedankens ‚Ich denke‘, wohlgegründet. Die Frage nach der Möglichkeit einer Ontologie der Subjektivität ist mit dem keiner Rechtfertigung 30 J. Stolzenberg, a. a. O., 156 f.

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bedürftigen Realitätsgedanken ‚Ich denke‘ schon positiv entschieden. Weil die Ontologie der Subjektivität transzendental ursprünglich legitim ist, ist sie transzendentale Ontologie.“ (24 f.) Nach Cramer ist die Transzendentalphilosophie zu einer transzendentalen Ontologie der Subjektivität, genauer der „singulären Subjektivität“ (10) fortzubilden.31 Ich ist singuläres Ich, Monade. Zu konkreter Gestalt gelangt die Monadologie als die allgemeine Theorie von Subjektivität, wie sie der Ichgedanke erschlossen hat, in Cramers Theorie des Erlebens. Die singuläre Ichmonade vereinigt „Realitäten differenter Seinsmodi“ (41) in sich: „Denn sie ist Sichbestimmen, das durch Nicht-Sichbestimmen bestimmt wird.“ (41 f.) Man kann das auch so sagen: Die singuläre Ichmonade ist eine psychophysische Differenzeinheit. Indes „wäre es ein falscher Begriff von Einheit, sich zwei Realitäten von verschiedenem Seinsmodus zu denken – Leib und Seele –, die nur zusammenhängen und eine (vielleicht unerklärbare) Verbindung miteinander eingehen. Man kann nicht Leib denken und Seele denken und Verbindung denken. Das ist falsches Denken.“ (42) Rechtes Denken weiß, dass die Ichmonade keine Zusammensetzung von Leib und Seele, überhaupt keine „Korrelation unterschiedener Momente“ (43) ist, sondern „Einheit von Realitäten differenter Seinsmodi, deren Prinzip zugleich eines der Momente in der Einheit ist. – Sichbestimmen ist nicht nur Prinzip und Realität zugleich, sondern auch Prinzip des Unterschieds und Unterschiedenes zugleich. Das andere Unterschiedene ist Nicht-Sichbestimmen, aber als Nicht-Sichbestimmen vom Sichbestimmen nur unterschieden, weil das Prinzip ‚Sichbestimmen‘ die Negation beherrscht. Da Sichbestimmen Prinzip und Moment ist, wird vom beherrschenden Moment gesprochen. Das andere Moment heiße determinierendes Moment.“ (Ebd.) 32 31 Zum Begriff des Individuums als eines Einzelnen von einmaliger Individualität und unteilbarer Einzigkeit vgl. den Text „Individuum und Kategorie“, in: K. Oehler/R. Schaeffler (Hg.), Einsichten. FS G. Krüger, Frankfurt a.M. 1962, 39–70. Ein singuläres Subjekt, das einzig und einmalig ist, ist ein Einzelnes mit anderen einmaligen und einzigen Einzelsubjekten in einer intersubjektiv vermittelten Welt naturbezogener und zugleich naturtranszendierender Kultur. Ein Individuum ist daher mit anderen Individuen vergleichbar und allgemein bestimmbar, ohne in seiner Individualität ein bloßer Inbegriff von Allgemeinbestimmungen zu sein. Auch dies, so Cramer, erhellt aus dem Ichgedanken. Ich, der ich den Gedanken „Ich“ und „Ich denke“ denke und damit meiner selbst als eines singulären Subjekts auf transempirische Weise mit nichtfalsifizierbarer Evidenz bewusst werde, weiß, wenn ich „Ich“ und „Ich denke“ denke, dass ich, der Denkende, nicht der Gedanke „Ich“ bin, sondern ich selbst als der transzendentale Seinsgrund aller Gedanken einschließlich desjenigen von Ichheit und Ich selbst. Das singuläre Subjekt ist entsprechend kein bloßer Einzelfall der Kategorie Individualität, sondern Individuum an sich selbst. Dies zu erfassen, ist nach Cramer alles andere als leicht: „(D)as Einzelsein des Einzelnen“, so sein Urteil, sei „bislang noch in keiner Philosophie bewältigt worden“ (a. a. O., 42). 32 Ausführlich und zustimmend dargestellt ist der Gedanke der psychophysischen Einheit singulärer Subjektivität nach Maßgabe von Cramers „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ in der Monographie von R. Schmelz „Subjektivität und Leiblichkeit. Die psychophysische

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Was mit Sätzen wie diesen gesagt ist, lässt sich am ehesten anhand eines Beispiels aus Cramers Theorie des Erlebens verdeutlichen. Erlebnisse werden gemacht und sind ohne seelische Aktivität nicht, was sie sind. Sie sind aber als produktive Erzeugnisse der Seele zugleich determiniert durch den beseelten Leib und die sinnlichen Eindrücke, die er von Natur aus körperlich empfängt. Es ergibt sich ein erlebnistheoretischer Zusammenhang von Sichbestimmen (Seele), Nicht-Sichbestimmen, das vom Sichbestimmen bestimmt ist (Leib), und einem Nicht-Sichbestimmen, das nicht vom Sichbestimmen bestimmt und daher als das Unbestimmte zu bestimmen ist (bloße Natur). Um ein Beispiel zu geben: Durch unbestimmte Reize wirkt bloße Natur affektiv auf ein empfängliches Sinnesorgan ein, um durch dieses leibhaft empfunden und im Seelenleben zu einem bestimmten Sinneseindruck verarbeitet zu werden. Dies gilt grundsätzlich für die Erlebnisse aller erlebnisfähigen Lebewesen, die daher im Unterschied zu Entitäten ohne Leben bzw. ohne Erlebnisfähigkeit traditionell als beseelt bezeichnet werden; es gilt aber insbesondere für das menschliche Erleben, das ohne Ichtätigkeit nicht sinnvoll zu denken ist. „Wir erleben nicht äußere Reize (denn äußere Reize sind dem Erleben transzendent), wir erleben auch nicht das durch äußere Reize affizierte Organ oder physiologische Vorgänge (auch solches ist dem Erleben transzendent), sondern wir erleben = zeugen Sinneseindrücke mit Bezug auf das durch Reize affizierte Organ.“ (46) Eine Theorie sinnlichen Erlebens hätte dies im Einzelnen zu explizieren.

Einheit in der Philosophie Wolfgang Cramers“ (Würzburg 1991). Dort werden Cramers Leibbegriff sowie seine transzendentalontologische Herleitung der Leiblichkeit der Subjektivität detailliert rekonstruiert und mit anderen Konzeptionen verglichen. Es gilt der Grundsatz: „Die psychophysische Einheit ist eine transzendentalontologische Bestimmung und kein wohlbekanntes Faktum der Erfahrung.“ (8) Die rechte Einsicht in sie erschließt sich allein von der Realität her, die im Gedanken „Ich denke“ gegeben ist. Vertieft wird sie durch Analyse der dem Erleben innewohnenden Dialektik von Sichbestimmen und Bestimmtwerden: „Erleben erlebt nicht sich selbst, sondern anderes seiner selbst, aber aus sich. Es ist Sichbestimmen, das bestimmt wird: rezeptive Spontaneität, das Ineins von innerer und äußerer Bestimmtheit.“ (A. a. O., 42) „Das Determinierende rührt Erleben in seinem Sein nicht an. Dieses Sein, die innere Bestimmtheit des Erlebens, bestimmt auch noch den Modus seiner äußeren Determiniertheit.“ (ebd.) Neben dem Thema der inneren und äußeren Bestimmtheit singulärer Subjektivität in ihrer psychophysischen Einheit thematisiert Schmelz u. a. ihre raum-zeitliche Verfasstheit sowie den Zusammenhang von Intersubjektivität und Leiblichkeit. Cramers transzendentalontologischer Begriff singulärer Subjektivität erweist sich Schmelz zufolge anderen Leib-Seele-Konzeptionen u. a. darin überlegen, dass er Psyche und Physis in ihrer Unterschiedenheit als Einheit und als in ihrer Einheit unterschieden zu erfassen vermag (vgl. 129 ff.). Seele und Leib charakterisieren singuläre Subjektivität „nicht als zwei miteinander verbundene selbständige Realitäten, sondern als eine dialektische Einheit zweier Seinsmodi: Nur leibhaft kann Erleben sich Wirklichkeit zeugen, und nur unter dem Prinzip des Erlebens vermag ein Körper Leib zu sein und diejenigen Vermittlungsleistungen zu vollbringen, die das ‚In-der-Welt-und-mit-Anderen-Sein‘ des ganzen Subjekts möglich machen und tragen.“ (129)

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Denken ist nach Cramer „ein Modus von Erleben“ (56). Um zu leben und Erlebnisse zu haben, muss man nicht denken. Eine Theorie des Erlebens hingegen kann „(n)ur eine denkende Monade“ (ebd.) aufstellen. Dadurch ist die Richtigkeit des vorhergehenden Satzes nicht infrage gestellt, den Cramers Erlebnistheorie vielmehr ausdrücklich zu verifizieren sucht. Denken muss eingedenk sein, dass es ein Modus von Erleben, nicht Erleben selbst ist. Um dies zu erfassen und sich selbst zu ergründen, hat es daher hinter sich zurückzudenken. „Zwar ist ein Zurückdenken hinter das Denken nur dem Denken möglich, aber nicht steht die Bestimmung, auf die sich die denkende Monade reduziert, deshalb unter der Bestimmung des Denkens. Besser gesagt, die Bestimmung zwar setzt Denken voraus, aber nicht setzt die in der Bestimmung bestimmte Bestimmtheit Denken voraus.“ (Ebd.) Was die Theorie des Denkens betrifft, so muss nach Cramer eine Bestimmung gesucht werden, „die Erleben zum Denken spezifiziert“ (Ebd.). Gefunden werden kann diese Bestimmung seinem Urteil zufolge nur im Ich-Gedanken, in welchem das animal rationale den Grund seiner selbst bedenkt und zwar als einen nicht erdachten: „die Monade kann sich nicht selbst zu einer denkenden machen … Denken von Sein ist nur möglich, weil Denken Denken aus Sein ist.“ (58) Seinsdenken ist ein Charakteristikum jeder Ichmonade. Philosophische Ichmonaden haben vor anderen lediglich den Vorzug, die monadologische Grundeinsicht durch Denken des Denkens zu erheben. Bleibt hinzuzufügen, dass Cramers Philosophie des Geistes prioritär als Subjektivitätstheorie und damit als Theorie des subjektiven Geistes verfasst ist. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass „(d)er objektive Geist, das Reich des Geistes, … Erzeugnis des subjektiven Geistes, zwar nicht des einzelnen subjektiven Geistes, sondern gemeinschaftliches Erzeugnis und gemeinschaftlicher Besitz der Gemeinschaft der Geister“ (88) ist. Weil er Letzteres in seiner „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ nicht eigens thematisiert habe, müsse der in ihr entwickelte Begriff des subjektiven Geistes, so Cramer, in gewisser Hinsicht als unterentwickelt gelten. Doch liege, was ein Mangel zu sein scheint, „in der Natur der Sache. Zwar wird der subjektive Geist notwendig auch durch anderen Geist und durch das Reich der Geister bestimmt. Um aber einen Begriff von diesem Bestimmtwerden entwickeln zu können, muß dasjenige, was bestimmt wird, schon als Geist vorausgesetzt werden. Analyse der Intersubjektivität setzt Analyse der Subjektivität voraus.“ (Ebd.)

4.

Vom endlichen zum absoluten Geist

Cramers Theorie der Subjektivität ist in dem Werk „Die Monade“ exponiert und durch die „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ systematisch fundiert und entfaltet worden. „Wenn im Systembegriff der Philosophie auch eine systematische

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Entfaltung der Argumente gefordert wird, so ist sie (sc. die Grundlegung) des Verfassers erstes systematisches Werk.“33 Dieses Zitat stammt aus Dieter Henrichs Studie „Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie“. Um im

33 D. Henrich, Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie, 247. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. In den Kontext von Cramers Theorie des Geistes als einer psychophysischen Differenzeinheit passt, was Thomas Nagel in seiner 2012 auf Englisch und ein Jahr später in deutscher Übersetzung publizierten Studie „Mind and Cosmos“ ausführt (Th. Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013. Die nachfolgenden Seitenverweise in dieser Anmerkung beziehen sich hierauf.) Angestrebt wird der Erweis, „dass das Körper-Geist-Problem nicht bloß ein lokal begrenztes Problem ist, das mit dem Verhältnis zwischen Geist, Gehirn und Verhalten bei lebendigen tierischen Organismen zu tun hat, sondern dass dieses Problem unser Verständnis des gesamten Kosmos und dessen Geschichte vollkommen durchdringt“ (11). Die Zielscheibe von Nagels Argumentation bildet eine nicht nur im Kontext der Naturwissenschaften herrschend gewordene naturalistische Weltanschauung, die durch einen materialistischen Reduktionismus gekennzeichnet sei. Der reduktive Materialismus meine nicht nur Geist und Seele auf ein physisches Substrat, sondern alles, was ist, auf einen materialistischen Ursprung zurückführen zu können. Gegen dieses nach seinem Urteil spekulative und keineswegs empirisch ausweisbare Weltbild und gegen das Denkschema, dem es sich verdanke, ist Nagels Kritik gerichtet. Nagel ist dezidierter Antireduktionist und vertritt die Auffassung, dass in der Natur Prinzipien wirksam seien, „die ihrer logischen Form nach eher teleologisch statt mechanistisch sind“ (17). Nichts spreche dafür, dem reduktionistischen Denkschema einen Alleinanspruch auf Wissenschaftlichkeit zuzuerkennen und es für sakrosankt zu erklären. Die herrschende Lehre, wonach alle Seinsgestalten einschließlich lebender Wesen evolutionär aus einem materialistischen bzw. quasimaterialistischen Ursprung hervorgegangen seien bzw. hervorgingen, beruhe nicht auf wissenschaftlichen Erfahrungsdaten, sondern auf einem weltanschaulichen Vorurteil. Insofern sei der antireduktionistischen Kritik der Evolutionstheorie und entsprechender Theoriekonzepte recht zu geben, wie sie von kreationistischer Seite oder von Vertretern eines Intelligent Design etc. vorgetragen würden. Es sei „offenkundig unfair“ (23), diese Kritik mit Spott zu überziehen und vorgetragene Einwände dadurch zu erledigen, dass man sie lächerlich mache. Nagel selbst geht es nicht um eine theistische Alternative zum materialistischen Reduktionismus. Er will philosophisch nicht die kosmologisch-anthropologische Notwendigkeit der Annahme eines transzendenten Wesens erweisen, welches die Welt und alles, was ihr immanent ist, willentlich gesetzt hat. Seine Intention geht zunächst lediglich dahin, „den immanenten Charakter der Naturordnung komplizierter zu veranschlagen“ (24): „Der Materialismus verlangt den Reduktionismus; das Scheitern des Reduktionismus verlangt deshalb eine Alternative zum Materialismus“ (29). Wie diese Alternative seiner Auffassung nach auszusehen hat, wird von Nagel unter den Aspekten Bewusstsein (vgl. 55 ff.), Kognition (vgl. 105 ff.) und Wert (vgl. 140 ff.) im Einzelnen entfaltet. Geist, so Vf. im Anschluss an Konzeptionen eines, wie es heißt, „objektiven“ (32) Idealismus, sei „nicht bloß ein nachträglicher Einfall oder ein Zufall oder eine Zusatzausstattung …, sondern ein grundlegender Aspekt der Natur“ (30). Der evolutionistische Naturalismus hingegen impliziere, indem er den Geist zu einem Epiphänomen der Materie erkläre, „dass wir keine unserer Überzeugungen ernst nehmen sollten, auch nicht das wissenschaftliche Weltbild, auf dem der evolutionistische Naturalismus selbst beruht“ (47); dieser sei nicht zur theoretischen Selbstanwendung fähig, sondern hebe sich auf, wenn er auf sich selbst bezogen werde. Nagels Buch schließt mit der Wette seines Autors, dass der seit geraumer Zeit dominante materialistisch-

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Anschluss an sie Cramers Subjektivitätstheorie in Grundzügen und unter Hinordnung auf ihre ursprüngliche Einsicht noch einmal zusammenfassend zu skizzieren: Sie und die sie kennzeichnende „Ontologie des Bewußstseins von Transzendenz“ (240) werden fundiert von einer Theorie des Erlebens als temporaler Produktion und Determiniertheit. Produktiv ist das Erleben, weil das Bewusstsein die ihm transzendenten Gegenstände selbsttätig in Erfahrung bringt und nicht lediglich passiv hinnimmt. Das erlebende Subjekt ist, wenn es Erlebnisse hat, am Erleben aktiv beteiligt, sonst würde es nichts erleben. Die Annahme, „Bewußtsein nehme Seiendes in sich auf wie der Korb die Früchte“ (241), muss als eine „unhaltbare Vorstellung“ (ebd.) erachtet werden. Ist doch der Bezug auf Seiendes dem Bewusstsein nicht äußerlich, da es ja als Bewusstsein des Seienden dessen inne ist und um es weiß. Im Erlebnis sind Erleben und Erlebtes eins. Ohne die dem Erleben eigene Produktivität wird nicht erlebt. In der Stetigkeit ihrer Produktivität lebt alles Erleben. Diese Stetigkeit und Dauer machen seine Temporalität aus. Zeitlichkeit ist nicht lediglich Erlebensumstand, sondern „selbst das oberste Prinzip, die Struktur des Erlebens“ (ebd.). Ihre Ergänzung finden die für den Begriff des Erlebens konstitutiven Momente von Produktivität und Zeitlichkeit in demjenigen der Determination als dem dritten Moment im dreieinigen Erlebnisbunde. Erleben erlebt Erlebtes, Denken denkt Gedachtes, Bewusstsein ist sich dessen bewusst, was es sich zu Bewusstsein bringt, und zwar auf stetige und darin temporale Weise. Als erlebendes Erleben und temporales Produzieren hat Erleben sich gleichwohl nicht selbst produziert; es ist seiner Dauer nicht mächtig und, wenn es in stetiger Produktion andauert, in seinem Erleben stets durch anderes mitbestimmt. Erleben ist determiniert. Erst wenn Produktion, Temporalität und Determination „als innere Einheit ein und desselben Ursprungs verstanden sind, wird der Begriff der Monade zum Prinzip der Entwicklung einer Monadologie“ (242). So ist der Begriff der Monade selbst prinzipiell, nämlich aus einem ursprünglichen Gedanken heraus zu denken. Als dieser eine Ursprungsgedanke fungiert bei Cramer der mit dem Ist-Gedanken ursprünglich eine Ich-Gedanke, wobei gilt: „Ich kann ‚ist‘ sinnvoll nur dann denken, wenn ich zugleich ‚Ich denke ist‘ denke. Aber der Sinn des so gedachten ‚ist‘ ist näher der, daß ‚Ich denke‘ das ‚ist‘ denkt als das, was ist, gleichgültig ob Ich es denkt oder nicht. Auf diese Weise gewinnt Cr(amer) aus dem Begriff Sein den Boden der Monadologie, die Vereinzelung der Subjektivität und ihre Leistung als Transzendenzvermeinung. Die Transzendenz des Ist-Sinnes ist be-

neodarwinistische Naturalismus des säkularen Wissenschaftsestablishments, der Geist, Leben und alle Entitäten auf einen indifferenten physischen Ursprung reduziere, „in einer oder zwei Generationen lachhaft wirken wird – auch wenn er vielleicht durch einen neuen Konsens ersetzt werden wird, der ebenso wenig triftig ist. Des Menschen Wille, zu glauben, ist unerschöpflich.“ (183)

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gründet in der Voraussetzung des Realitätsprinzipes Subjektivität und deshalb nur aus einer transzendentalen Ontologie zu deduzieren.“ (245) Cramers transzendentale Ontologie singulärer Subjektivität will ihrem Selbstverständnis nach „als eine systematische Ausarbeitung des cartesischen ‚cogito ergo sum‘, insbesondere des ‚esse‘ der ‚res cogitans‘ gelten. Sie ist auch eine Ausgestaltung des Leibnizschen Monadenbegriffs, insbesondere eine Analyse der Einfachheit der ‚simple substance‘. Sie ist auch eine Weiterentwicklung des Kantischen Begriffs vom Transzendentalen (so sehr sie sich auch von Kant entfernt) und von transzendentaler Apperzeption. Schließlich kommen in ihr Hegelsche Motive zur Geltung, einmal weil Sichbestimmen das Prinzip der Subjektivität ist, dann, weil Sichbestimmen auch bestimmt wird, womit die Negation in die Bestimmung der Subjektivität aufgenommen wird. Und schließlich hat Hegel über die Subjektivität am gründlichsten nachgedacht. Und doch unterscheidet sich die transzendentale Ontologie wesentlich von Hegels Theorie des Geistes.“34 Dies ist Cramer zufolge vor allem deshalb der Fall, weil das Zeitprinzip der Subjektivität bei Hegel „nicht thematisch geworden“35 sei mit Folgen, die das Gesamtsystem beträfen, von dessen eigentümlicher Dialektik sich Cramer entschieden distanziert. Am deutlichsten trete das systematische Defizit Hegels in der Schlusslehre der Wissenschaft der Logik36 und in der Theorie des absoluten 34 W. Cramer, Grundlegung einer Theorie des Geistes, 92. 35 Ebd. 36 Vgl. hierzu u. a. G. Sans, Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre, Berlin 2004. Sans versucht, die Gründe dafür anzugeben, warum Hegel „die Form des Schlusses seit dem Beginn seiner philosophischen Laufbahn als zur Darstellung spekulativer Zusammenhänge besonders geeignet ansah“ (12). Als Referenztext fungiert vor allem der 1816 erschienene dritte Teil der „Wissenschaft der Logik“, also die sog. subjektive Logik bzw. Logik des Begriffs. Sans zufolge ist Hegels Logik mit einem teleologischen Zug versehen, der evolutionsgeschichtliche Vergleiche nahelegt. Der reine Begriff muss sich über das Urteil zum Schluss fortentwickeln, um seine Bestimmung zu verwirklichen. Erst im Schluss erfasst der Begriff seinen Begriff und vollendet ihn auf entsprechende Weise. Um dieses spekulative Logikverständnis zu profilieren, greife Hegel auf Bestände traditioneller Logik zurück, um in Auseinandersetzung mit ihren Einteilungen der syllogistischen Formfiguren und Arten von Schlüssen in Kritik und Konstruktion das eigene Konzept zu entwickeln. Nach Sans rechtfertigt Hegel seine spekulative Theorie des Begriffs, „indem er sie als Implikation der gewöhnlichen Auffassung von der Funktion des mittleren Terms des Schlusses erweist“ (30): „Hegel nutzt die Diskussion der mit der formallogischen Theorie des Schlusses verbundenen Schwierigkeiten, um eine von der formallogischen verschiedene Theorie des Begriffs zu etablieren.“ (Ebd.) Eine ihrer Pointen bestehe in dem Aufweis, dass der realisierte, zum Begreifen seiner selbst gelangte Begriff schlussendlich nicht mehr der Differenz von Denken und Sein unterliege. Mit Sans zu reden: Der Begriff ist „nicht bloß eine Form des Denkens, sondern zugleich etwas real Existierendes“ (ebd.). Die Habilitationsschrift von Sans besteht, wie von einer Hegelarbeit nicht anders zu erwarten, aus drei Teilen: 1. die Definition des Schlusses (vgl. 37 ff.), 2. die drei Figuren des Schlusses (vgl. 89 ff.); 3. die Entwicklung des Schlusses (vgl. 143 ff.). Es ist im gegebenen Zusammenhang nicht möglich, aber auch nicht nötig, auf Details der Untersuchung einzugehen. Es

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Geistes zutage. Hegel zufolge sei dieser, so Cramer, „das Ganze, die Dialektik das Prinzip des notwendigen Zusammenhanges der Momente im Ganzen. Ist das Absolute notwendig Entfaltung zu sich selbst, dann ist es ihm notwendig, sich zu verzeitlichen. Zeitliches ist nunmehr so notwendig wie das Absolute. Der zeitliche Geist – der diese Entfaltung konzipierende Philosoph – nimmt damit in Anspruch, die letzte absolute Notwendigkeit des Zeitlichen zu begreifen. Dieses aber ist dem zeitlichen Geist“, sagt Cramer, „prinzipiell unmöglich.“37 Obwohl es dem endlichen Geist des zeitlich verfassten Ich grundsätzlich nicht möglich ist, das Absolute auf den Begriff zu bringen, vermag er doch dessen Unbegreiflichkeit zu begreifen und zu bedenken, was es mit der Unvordenklichkeit des Grundes von Selbst und Welt auf sich hat. Diese Möglichkeit wird der Philosophie durch die Kategorienlehre erschlossen.38 Ihre Aufgaben und Megenügt festzuhalten, zu welchem Schluss die Analysen der Schlusslehre Hegels führen, nämlich zu dem Erweis, „dass der Begriff nicht nur als eine Form des subjektiven Denkens aufgefasst werden darf. Der hegelsche Begriff bezeichnet zugleich dasjenige, was dem Denken gewöhnlich als Objekt entgegengesetzt wird. Die Überlegungen Hegels zielen also nicht auf den Nachweis der Existenz eines von dem Begriff unterschiedenen Gegenstandes, sondern auf die Objektivität des Begriffs selbst.“ (35) Hegel konnte diese These in bestimmter Weise schon bei Kant angelegt und vorgebildet finden: Stellt doch für Kant „das Urteil gerade nicht die Trennung von Begriff und Anschauung, sondern ihre ‚objektive Einheit‘ dar“ (42 unter Verweis auf KrV B 140 ff.). Daran schloss Hegels Lehre vom Begriff an mit dem Ziel, den vermeintlichen Gegensatz von Subjektivität und Objektivität zu vermitteln. Die zentrale Funktion des mittleren Terms in der logischen Schlusslehre, auf deren Erweis sich Sans konzentriert, erhellt hieraus. Zusammenfassen lässt sich der Grundgedanke der Hegel’schen Schlusslehre nach Sans in dem Satz, dass die Funktion des Schlusses als Form des reinen Denkens genau dann gewährleistet ist, „wenn der mittlere Term die Bedeutung des objektiven Allgemeinen annimmt“ (224). Was hinwiederum die Objektivität des Begriffs anbelangt, so hört dieser Sans zufolge „in den letzten beiden Arten des Schlusses auf, bloß eine Form des Denkens zu sein und wird zur Sache selbst“ (ebd.). Auf diesen „wohl provozierendsten Teil seiner Theorie des Begriffs“ (233), der auf eine Reformulierung des ontologischen Gottesbeweises der Traditionen hinausläuft, sind die Schlussbemerkungen zu Hegels Ideenlehre bezogen. Sie zeigen zugleich das punctum saliens auf, in welchem Philosophie und Theologie wenn nicht koinzidieren, so doch tendenziell konvergieren. Nachgerade auf diesen Punkt haben sich nach meinem Urteil auch die Diskussionen um Cramers Hegelverständnis und um seine eigene Absolutheitskonzeption zu konzentrieren. 37 W. Cramer, a. a. O., 93. 38 Vgl. M. Zelger, Das Absolute und die Kategorien, in: H. Radermacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), a. a. O., 256–286. Cramers Kategorienlehre und Absolutheitstheorie werden „aus seiner Subjektivitätstheorie geboren“ (a. a. O., 256), die Ich nicht lediglich als funktionale Identitätsgröße, sondern als eine Seinseinheit denkt, die sich „als Einheit durch zeitliche Mannigfaltigkeit hindurchhält“ (a. a. O., 257). Doch ist, wie Zelger zurecht konstatiert, mit dem Seinsanspruch des Ich und seiner Rechtfertigung „die Philosophie erst in den Anfang ihrer Aufgabe gestellt“ (a. a. O., 258): „Für das Sein des Ichs muß eine andere Konstitutionsinstanz angebbar sein als das Ich.“ (A. a. O., 259) Sie kann nicht aus dem Ich und seinem Sein hergeleitet werden: „Wenn das Absolute aus Nicht-Absolutem deduziert wäre, wäre es von Endlichem abhängig. Folglich muss das Verhältnis selbst als momentaner Bestandteil des Absoluten ausweisbar sein.“ (A. a. O., 260)

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thoden hat Cramer zusammenfassend in einem im Jahrgang 1960/61 erschienenen Aufsatz der Kant-Studien erörtert. Aristoteles, der eigentliche Begründer der Lehre, versteht unter Kategorien die Grundformen der Aussage über Seiendes. Er zählt in der Regel zehn solcher Prädikamente: Substanz (ousia, substantia), Quantität (poson, quantitas), Qualität (poion, qualitas), Relation (pros ti, relatio), wo (pou, ubi), wann (pote, quando), Lage (keisthai, situs), Haben (echein, habitus), Wirken (poiein, actus), Leiden (paschein, passio). Dem Versuch einer systematischen Ableitung der aristotelischen „modi praedicandi“ unternimmt „zum ersten Mal“39 Thomas von Aquin. Den „zweiten Schwerpunkt“40 in der Geschichte der Lehre von den Kategorien bezeichnet die Neufassung ihres Begriffs und ihrer Zahl durch Kant. Nach diesem benennen die aus den Arten urteilenden Denkens abgeleiteten Kategorien die apriorischen Bedingungen jeder möglichen Erfahrung. Cramer schließt an das transzendentalphilosophische Verständnis der Kategorien an, gibt ihnen aber eine transzendental-ontologische Fassung, welche die Kantische Differenz von Ding an sich und gegenständlicher Erscheinung hinter sich zu lassen bestrebt ist. Cramers Ansatz ist auch in kategorialer, die Kategorien betreffender Hinsicht derjenige einer „ontologisch transformierte(n) Transzendentalphilosophie“41. In seiner Studie zu „Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre“ handelt Cramer zunächst von der allgemeinen Kategorienlehre als der „Theorie vom Bestimmtsein des Bestimmten“42, sodann von der Kategorienlehre im engeren Sinn als der Theorie der „Formen des Bestimmtseins von Einzelnem oder eines Viel bzw. möglichen Viel der Einzelnen“ (351), schließlich vom Endlichen und Unendlichen. Es gilt der absolutheitstheoretische Grundsatz: „Kontingentes muß außer dem Absoluten sein … Aber es muß auch durch das Absolute sein, aus dem Moment der Möglichkeit heraus gesetzt.“ (360) Cramer fügt hinzu: „Das Moment der Möglichkeit zwar ist notwendige Qualität und für das Absolute selbst noch bestimmend, was besagt, daß das Absolute sich mit Notwendigkeit das Moment der Möglichkeit zeugt. Das gesetzte Mögliche hingegen ist nicht

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Der Kategorienlehre kommt dabei eine entscheidende Vermittlungsaufgabe zu. Nach Zelgers Urteil wird Cramers Theorie die Schwierigkeit nicht los, „daß sich das Unbestimmte nur aufgrund der Bestimmtheit der Bestimmtheit aussagen läßt“ (a. a. O., 276); es sei daher einzusehen, dass „vom Absoluten nicht unabhängig von seiner gedanklichen Qualifizierbarkeit gesprochen werden“ (a. a. O., 276 f.) kann. Zelger gibt infolgedessen Hegels Absolutheitstheorie der Cramer’schen gegenüber den Vorzug; es zeige sich, „daß Cramer schon in der Subjektivitätstheorie nur durch eine gedankliche Negation am Gedanken zu einem Denken kam, das nicht Gedanke ist“ (a. a. O., 286). H. M. Baumgartner u. a., Art. Kategorie, Kategorienlehre, in: HWPh 4, 714–776, hier: 722. A. a. O., 727. A. a. O., 775. W. Cramer, Aufgabe und Methoden einer Kategorienlehre, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift 52 (1960/61), 351–368, hier: 351. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Moment der Selbstvermittlung des Absoluten, sondern Produkt seines freien Setzens. Daß Kontingentes durch das Absolute gesetzt sein muß, ist leicht einzusehen. Da Kontingentes auch nicht sein könnte, muß ein Grund seines Seins sein. Kontingentes mag zwar auch durch Kontingentes bestimmt sein, kontingente Momente haben. Doch kann das Bestimmtsein des Kontingenten prinzipiell nicht in seinen kontingenten Bestimmungsgründen und auch nicht in einer Reihe solcher Gründe aufgehen, da diese Bestimmungsgründe und eine Reihe solcher nicht sein könnten. Notwendiges muß der Grund des Seins von Kontingentem überhaupt sein.“ (Ebd.) Das Absolute ist der Grund von Kontingentem überhaupt, das auch nicht sein könnte. Seine Möglichkeit ist ein Moment der Selbstvermittlung des Absoluten, nicht aber seine Faktizität, die durch absolute Setzung gesetzt ist. Als Produkt freier Setzung des Absoluten ist das Kontingente als Einzelnes das „Andere des Absoluten“ (362), als „ein Anderes“ (ebd.) außer dem Absoluten von diesem freigesetzt. Vorbereitet war das skizzierte Ergebnis bereits in dem kurz vorher und zwar ebenfalls in den Kant-Studien erschienenen Aufsatz „Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus“. Auch hier stehen die Lehre von den Kategorien und die Absolutheitstheorie im Zentrum philosophischer Reflexion. In der Kategorienlehre geht es um die Formen der Bestimmtheit des Bestimmten, in der spekulativen Philosophie des Absoluten um das Prinzip aller Bestimmtheit einschließlich der Bestimmtheit von Bestimmtheitsformen. Ausgehend von dem Gedanken „Ich denke“ und den durch ihn ursprünglich legitimierten Ich-Gedanken, vermöge dessen das Ich weiß, ein Bestimmtes von der Bestimmtheitsform „Sich bestimmen“ zu sein, stellt spekulative Philosophie die Frage nach dem Verhältnis von Kategorie und kategorial Bestimmtem, also nach dem Verhältnis der Bestimmtheitsform in der ihr eigenen Bestimmtheit und dem ihr gemäß Bestimmten. „Wie ist überhaupt zu begreifen, daß die Differenz von Kategorie und kategorial Bestimmtem ist?“43 Auf diese Frage antwortet die Theorie des Absoluten als dem Prinzip der Bestimmtheit, von dem her Cramer auf seinen Systemausgang zurückkommt, um ihn absolutheitstheoretisch zu genetisieren. Die Differenz von Kategorie und kategorial bestimmten Einzelnen in seiner Kontingenz ist „nur aus dem Absoluten möglich“44, dessen Theorie nach Cramer so angelegt sein muß, „daß aus dem Absoluten die Möglichkeit von Kontingentem einsichtig wird“45. Als das Nichtnotwendige findet das Kontingente seinen Möglichkeitsgrund im Absoluten, durch welches es ermöglicht und in seiner Tatsächlichkeit gesetzt wird, nicht 43 Ders., Vom transzendentalen zum absoluten Idealimus, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift 52 (1960/61), 3–32, hier: 24. 44 A. a. O., 31. 45 Ebd. unter Verweis auf das Werk des Vf. von 1958: Das Absolute und das Kontingente.

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mit Notwendigkeit, sondern aus Freiheit und – in der Faktizität des singulären Ich – als Freiheit. Indem philosophische Reflexion dem Ich- und ursprünglichen Ich-Gedanken transzendentalontologisch auf den Grund geht, denkt sie sich spekulativ zum Absoluten hin, um von ihm aus zurückzudenken „zum Einzelnen, das da transzendentales Ich ist. Der endliche Geist ist Vereinzeltes, das gleichwohl vereinzigt ist und gleichwohl unendlich. Kraft seiner Unendlichkeit suchte er sich, suchte er seine Unendlichkeit zu begreifen. Er weiß nun, daß er sich nur aus dem absoluten Geist, dem schlechthin Einzigen, dem einfachen Unendlichen begreifen kann, das selbst noch der Ursprung ist des Endlichen, des Unendlichen, das Vieles ist, und des Endlichen, das aus sich unendlich ist.“46 Der transzendentale ist zum absoluten Idealismus geworden, der in keinem Gegensatz steht zum Realismus, sondern dessen Begründung ausmacht.47 Was unter einem absoluten Idealismus zu verstehen ist, der in keinem Gegensatz steht zum Realismus, sondern diesen zur impliziten Voraussetzung hat, ist von Cramer bereits in der 1959, also unmittelbar vor den beiden Beiträgen in den Kant-Studien erschienenen Monographie „Das Absolute und das Kontingente“ expliziert worden. Erklärtes Ziel der Untersuchung ist die Erweiterung der aus dem Gedanken „Ich denke“ gewonnene transzendentale Ontologie zu einer Ontologie der Realität, „die nicht Subjektivität ist“, jedenfalls nicht Subjektivität nach Weise des singulären Ich. Zu denken hat man dabei an das All der Welt und an alles, was ihm zugehört, darüber hinaus aber auch und vor allem an die Möglichkeitsbedingung von All und Allem, nämlich an das Absolute, das nicht nur als letzter, sondern ebenso als erster Grund zu denken ist, da es für die Ontologie der Subjektivität und ihre kosmologischen Bezüge konstitutiv ist. „Dieses Denken vom Absoluten aus“, so Cramer, „wird wahrscheinlich Widerspruch hervorrufen, zumal in einer Zeit, die so zeitbewußt ist, daß sie ängstlich bedacht ist, sich vom Unzeitgemäßen abzusetzen. Nach denen, welche uns diese Zeit künden, zu urteilen, ist nun allerdings das, was einst Philosophie war, unzeitgemäß. Sie proklamieren das Ende der Philosophie. Am Ende ist die Philosophie mit ihnen am Ende.“48 Für Cramer steht fest, dass philosophisches Denken auf das Absolute hin und von ihm her zu denken habe. Erst das Denken vom Absoluten aus führe nämlich „zum Begriff des Vielen als dem Kontingenten und – was wiederum befremdlich sein mag – zum beziehungslosen Vielen, zum Viel der beziehungslosen Einzelnen“49.

46 A. a. O., 32. 47 Zur Verwendung der Begriffe unendlich und endlich bei Cramer vgl. u. a.: Aufgaben und Methoden einer Kategorienlehre, a. a. O., 362 ff. 48 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente. Untersuchungen zum Substanzbegriff (1959), Frankfurt a. Main 21976, 8. 49 Ebd.

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Nach einer Skizze ihres Gedankengangs hat Dieter Henrich in seiner Studie „Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie“ die Cramer’sche Subjektivitätstheorie in fünffacher Hinsicht einer Prüfung unterzogen, nämlich unter Bezug auf „die Argumente für die Temporalität des Erlebens, die Produktionstheorie, die Determinationstheorie, die raumzeitliche Struktur der Welt, und die besondere Form der Rangstufung in der Monade“50. Will man, was dem natürlichen Bewusstsein als Ich gilt, in seinem Welt- und Selbsterkennen nicht wie Kant in der Überindividualität transzendentaler Apperzeption aufgehen lassen, was die Aufklärung des Zusammenhangs zwischen Einzelbewusstsein und Bewusstsein überhaupt, Individual- und Transzendental-Ich, konkretem Selbstbewusstsein und Subjektivitätsprinzip unmöglich machen würde, dann muss nach Cramer dem konkreten Ich in seiner Singularität und mit ihm der Zeitlichkeit seines Erlebens und Denkens selbst transzendentale, näherhin transzendentalontologischer Rang beigemessen werden. Henrich würdigt Cramers Ansatz und die mit ihm verbundene These, ursprüngliche Denk- und Erlebenszeit als „transzendental real“ (248) in Anschlag zu bringen. Er kritisiert aber, dass die Annahme innerer Einheit von Temporalität und Erleben nicht eigens begründet, sondern stets „nur als evidente Voraussetzung benutzt“ (249) werde. „Dem widerspricht nicht, dass mit ihr der Grund aller möglichen Evidenz gemeint ist“ (ebd.), fügt Henrich an. „Es ist auch möglich, aber in der Tat theoretisch unbefriedigend, dass das Prinzip der Evidenz nur als Evidenz beansprucht wird.“ (Ebd.) Von Henrichs Kritik wird auch die Cramer’sche Produktions- und Determinationstheorie betroffen. Zwar sei schlüssig bewiesen, dass Erleben Grund für das Erlebte sein müsse: „die Produktionstheorie gehört zu den bedeutendsten Gedanken von Cr(amer)s System.“ (249) Hingegen fehle die „Begründung dafür, daß man das Erleben nicht radikal als Grund des Erlebten denken kann“ (251). Wohl zeige die Cramer’sche Determinationstheorie überzeugend auf, „daß das Erleben niemals sich selbst zeugt und also auch nicht die Dauer seines Zeugens bestimmen kann. Aus dem Satz, daß das Dasein der Monade nicht aus ihr selbst ist, folgt aber nicht, daß auch der Inhalt ihres Erlebens durch anderes bestimmt sein muß.“ (Ebd.) Damit nicht genug: „Eine weitere ernste Schwierigkeit entsteht dort, wo Cr(amer) vom determinierten Ursprung Erleben in die Dimension des den Ursprung Determinierenden überleitet.“ (252) Diese Überleitung wird von Henrich unter Bezug vor allem auf den „Übergang von der Zeitlichkeit des Erlebens zur Weltzeit“ (ebd.) als „nicht überzeugend“ (ebd.) qualifiziert. Begründet 50 D. Henrich, a. a. O., 248. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Studie.

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wird der Mangel der Determinationstheorie mit kategorientheoretischen Defiziten. Weil sie keine hinreichende Erkenntnis von den Bedingungen möglicher Determination vermittle, bleibe in Cramers Monadologie nicht nur der Übergang vom determinierten Ursprung produktiv-temporalen Erlebens zur Dimension des den Ursprung Determinierenden, sondern auch die interne und externe monadologische Stufenordnung problematisch. Wie das Verhältnis von tierischen Monaden zu Denkmonaden oder das Verhältnis von Fühlen und Denken in Ichsubjekten zu bestimmen sei, bleibe offen. Henrichs Kritik wiegt schwer und das umso mehr, als sie mit gravierenden methodologischen Vorbehalten einhergeht, die das Verhältnis von transzendentalontologischer Subjektanalyse und Kategorienlehre betreffen. Während Cramer die Kategorien „als vergegenständlichte Momente des Sichbestimmens aus dem Erleben als Ursprung“ (254) ableiten wolle, muss nach Henrich schon über Kategorien verfügen, wer „das ontologische Prinzip Subjektivität definieren“ (ebd.) möchte. Cramer selbst ist das bestehende Problem nicht verborgen geblieben, wie u. a. die „Selbstkritik“51 belegt, die er im Anhang der zweiten Auflage (1965) seiner „Grundlegung einer Theorie des Geistes“ in Bezug auf seine in der Erstauflage (1957) entwickelte Lehre von der Determination geübt hat: Der dort „geführte Beweis der Determination des Erlebens (sei) falsch“52. Dieses Eingeständnis hat allerdings nicht zur Folge, dass Cramer von seiner transzendentalontologischen Theorie singulärer Subjektivität und der Annahme abrückt, das Kategorienproblem lasse sich nur in ihrem Kontext angemessen angehen. Er ist im Gegenteil davon überzeugt, dass eine Lösung des kategorialen Determinations- und Bestimmtheitsproblems nur durch Steigerung der Konsequenz zu erreichen sei, mit welcher der ursprüngliche Ansatz beim einzelnen Ich und seiner Selbstwahrnehmung verfolgt werde. Wird die individuelle Subjektivität in der faktischen Einheit ihrer Denk- und Erlebensmomente als notwendiger Zusammenhang begriffen, dann erhellt aus diesem Prinzip und Faktizität verbindenden Begriff Cramer zufolge die kategoriale Ordnung, durch die dem Einzelnen seine Stellung in der Welt gewiesen ist, die es mit anderen Ichsubjekten und Entitäten unterschiedlichster Art teilt. Der Begriff des einzelnen Ich ist nur kategorial in seiner Bestimmtheit zu erfassen. Doch erschließen sich die kategorialen Bestimmtheitsformen ihrerseits nicht unter Absehung vom begrifflich nicht deduzierbaren Sein des singulären Ichsubjekts, welches die Selbstverabsolutierung des Denkens verhindert, was einzusehen nach Cramers Urteil nicht unvernünftig, sondern höchst vernünftig ist. Der Gedanke „Ich denke“ ist ein Ist-Gedanke, der eine gedanklich nicht genetisierbare Prämisse impliziert und auf ein Unvordenkliches verweist. Im 51 W. Cramer, Das Ich und das Gute, 53 (Nachwort des Editors). 52 Ders., Grundlegung einer Theorie des Geistes, 101.

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Gedanken „Ich denke“ „meine ich mich, den Denkenden. Ich meine Singuläres, mich, diesen einzelnen Denkenden. Den Denkenden, der ich bin, kann ich nur meinen, und kann dies nicht bloß denken. Denken kann ich die Ichheit oder auch ein Ich, aber nicht mich. Und dies aus dem Grunde nicht, weil Singuläres grundsätzlich nicht in eine Bestimmung aufgelöst werden kann. Ich, der Denkende, der ich bin, bin zwar von einer Bestimmung, der Bestimmung, ein Denkender zu sein. Aber jeder Denkende ist ein Denkender. Mich, diesen im Denken gemeinten Denkenden, holt keine allgemeine Bestimmung ein.“53 Dies gilt auch für die Bestimmung Einzelheit, in der nach Hegels Logik die Differenz von Besonderheit und Allgemeinheit aufgehoben sein soll. Zwar ist nach Cramer das singuläre Ich von der Bestimmung Einzelheit, aber es geht als Einzelnes nicht in Einzelheit auf, sondern ist eine Größe, zu deren Begriff unvordenkliche Faktizität konstitutiv hinzugehört. Dieter Henrich hat konstatiert, dass Cramer von Hegel vor allem durch die Grundannahme geschieden sei, „dass Denken jeweils vereinzeltes sein muss. In ihm ist eine Identität von Denken und Sein unmöglich.“54 Mag es zunächst erscheinen, Henrichs Cramerkritik klage eine radikale Bestimmung des Seins durch das Denken und einen entsprechenden Vorrang der Kategorienlehre vor einer transzendentalen Theorie der Subjektivität ein, so verflüchtigt sich dieser Eindruck, wenn man den Schluss der Ausführungen „Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie“ ins Auge fasst, wo der Cramer’schen Theorie des Geistes ausdrücklich attestiert wird, sich aus guten Gründen in einer Pattsituation zu befinden: „Sie kann nicht Hegel folgen und kann auch nicht darauf verzichten, zu einer Theorie von der Bestimmtheit als einer Kategorie fortzuschreiten, die, da sie den Begriff der Subjektivität noch beherrscht, nicht von ihr abgeleitet werden kann.“ (256) Ein Ausweg aus dieser Situation sei nur zu erwarten, wenn die spezielle Transzendentalontologie singulärer Subjektivität zu einer allgemeinen Transzendentalontologie erweitert und diese im Verein mit der Theorie vom Einzel-Ich in einer Absolutheitstheorie fundiert werde, welche die Kontingenz des Vielen aus dem Absoluten derart herzuleiten vermöge, dass die Absolutheit des Absoluten ebenso kategorisch gewahrt bleibe wie die nicht notwendige Faktizität des Kontingenten im Zusammenhang eines geordneten, aber seinerseits kontingenten Kosmos. In Cramers 1959 erschienenen Buch „Das Absolute und das Kontingente“ ist nach Henrichs Urteil ein Schritt in diese Richtung getan. Er widmet ihm einen Nachtrag in seiner Monadologierezension. Darin werden Bedenken gegen Cramers Annahme vorgebracht, das Prinzip der Bestimmtheit, dessen universale Geltung unbestritten sei, zum „erste(n) und 53 A. a. O., 103 f. 54 D. Henrich, a. a. O., 256. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Studie.

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einfachste(n) aller Gedanken“ (260), zum „oberste(n) Prinzip alles Denkbaren“ (261) zu erheben. Henrich schließt mit der Bemerkung, man verkleinere die Leistung von Cramers Buch über „Das Absolute und das Kontingente“ nicht, „wenn man sagt, daß es nicht beanspruchen darf, das Problem, das Philosophie sich selbst ist, schon gemeistert zu haben“ (263). Cramers 1959 in Frankfurt am Main bei Klostermann erschienene, lediglich 90 Seiten umfassende Studie „Das Absolute und das Kontingente“ bietet ihrem Untertitel gemäß Untersuchungen zum Substanzbegriff. Sie ist programmatisch gegen jede Form undifferenzierter Alleinheitsphilosophie gerichtet. „Die Alleinheitsphilosophie“, heißt es, „hat sich vollendet in dem Gedanken, daß die eine Substanz, die causa sui ist, sich mit Notwendigkeit in das Viel entfaltet. Deus sive natura. Die konsequenteste Form der Alleinheitsphilosophie ist der Spinozismus.“55 Während nach Lehre des Spinozismus, dem er nicht nur Spinoza, sondern „letztlich auch Hegel“56 zurechnet, alles Moment des Absoluten sei, will Cramer das Absolute so erfassen, dass die Differenz von Absolutem und Kontingentem unbeschadet der Einheit des Absoluten durch seine Absolutheit konstituiert und erhalten wird.57 Nicht nur mittels dieses Motivs erweist sich Cramer als ein Adept jener Philosophie, an die bereits der Titel des Buches über „Die Monade“ erinnert hatte.58 Zwei Jahre vor seinem Tod hat Gottfried Wilhelm Leibniz 1714 zwei Abhandlungen konzipiert, die eine thesenartige Zusammenfassung seines Systems bieten: die „Principes de la Nature et de la Grace, fondés en raison“ und die „Principes de la Philosophie ou la Monadologie“. Beide Texte darf man „getrost als seine ‚Vermächtnisschriften‘ bezeichnen“59. Ihre Lektüre empfiehlt sich nicht 55 W. Cramer, Das Absolute und das Kontingente, 11. 56 A. a. O., 17. 57 Vgl. W. Bartuschat, Das Kontingente in Spinozas Philosophie des Absoluten, in: H. Radermacher/ P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), a. a. O., 99–121, hier: 99: „Der Spinozismus begleitet Cramers Philosophieren als der teils implizite, teils explizite Gegner, seit die Substanzproblematik zunehmend in den Mittelpunkt seiner philosophischen Untersuchungen getreten ist.“ Als „Spinozismus im Felde der Logik“ (W. Cramer, Über die Grundlagen von Gottlob Freges Begriff vom Logischen, in: R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl [Hg.], Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze II, Tübinben 1970 [FS H.-G. Gadamer], 55–76, hier: 76) hat Cramer Gottlob Freges Begriff des Gedankens als der Grundlage des Logischen (a. a. O., 55 ff.) und seinen Begriff vom Begriff als Funktion (a. a. O., 67 ff.) bezeichnet. Basis seiner Konzeption sei „eine handfeste Metaphysik“ (a.a. O., 76). „Ist Wahrheit Gegenstand, dann sind wahre Behauptungen nach Frege dieser Gegenstand, jeweils in Modifikationen gegeben. … Alle Sachverhalte sind Modifikationen, Affektionen, Einschränkungen des Einen, des Wahren.“ (Ebd.) 58 Zum Monadenbegriff und seiner Geschichte vgl. HWPh 6, 114–125, Art. Monade, Monas (F. Lötzsch, H. Poser, H. Böhringer); zu Leibniz a. a. O., 117 ff. Warum er von Leibniz den Terminus „Monade“ übernommen hat, hat Cramer rückblickend in dem Beitrag „Vom transzendentalen zum absoluten Idealismus“ begründet (a. a. O., 16). 59 G.W. Leibniz, Opuscules metaphysiques. Kleine Schriften zur Metaphysik, Darmstadt 1985, 414–439 bzw. 439–483, hier: 410 (Vorbemerkung des Herausgebers).

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nur aus Jubiläumsgründen. Indem sie „die Summe seines philosophischen Lebenswerkes“60 skizzieren, geben sie zum einen konzentrierten Einblick in Leibnizens Metaphysik und ihre Stellung in der Geschichte der Aufklärungsphilosophie und zum anderen erkennbare Hinweise auf die systematischen Gründe, deretwegen Wolfgang Cramer im Anschluss an seinen Lehrer Richard Hönigswald die Monadenlehre im 20. Jahrhundert erneut aufgegriffen hat. Für die Philosophie der Aufklärung sind zwei charakteristisch unterschiedene Richtungen kennzeichnend: die empiristisch-sensualistische und die rationalistische. Während der am Leitbild der Mathematik orientierte Rationalismus die Vernunft apriorisch auf sich selbst zu gründen sucht, bindet der den Realwissenschaften verpflichtete Empirismus die Vernunft an sinnliche Erfahrung und an aposteriorische Verfahrensweisen. Die empiristisch-sensualistische Richtung aufgeklärter Vernünftigkeit war vor allem im angelsächsischen Bereich verbreitet und hat nach ersten Ansätzen bei Francis Bacon in John Locke und David Hume repräsentative Vertreter gefunden. Bei Hume führte die Radikalisierung des empiristischen Standpunkts zu religionskritischen Tendenzen und zu einer prinzipiellen Skepsis gegen jede Form rationaler Metaphysik. Im Frankreich Voltaires fand diese Einstellung viele Anhänger; andere wiederum wie JeanJacques Rousseau gingen gänzlich eigene Wege. Im Unterschied zur revolutionären Radikalität aufklärerischen Denkens in Teilen Frankreichs und Englands schritt die Aufklärung in Deutschland vielfach wenn nicht unter betont christlichen, so doch unter religionsapologetischen Vorzeichen voran. Bestimmend für die deutsche Aufklärungsphilosophie, die im sog. Leibniz-Wolff ’schen System ihre größte geistesgeschichtliche Wirkung erlangte, war nicht der Empirismus, sondern ein Rationalismus cartesianischer Provenienz. Das schwierigste Problem, welches die Philosophie von Descartes hinterlassen hatte, bestand darin, die beiden von ihr in Anschlag gebrachten Größen „res cogitans“ und „res extensa“ in Einklang zu bringen. Baruch de Spinoza versuchte dies durch Behebung ihrer Differenz bzw. dadurch zu bewerkstelligen, dass er beide als Attribute einer einzigen Substanz betrachtete, welche er mit der Wendung „deus sive natura“ umschrieb. Seine „Ethica ordine geometrico demonstrata“ setzt entsprechend direkt mit der „Realidee“ absoluter Substanz ein, um Denken und Anschauung, res cogitans und res extensa als zwei sich entsprechende Seiten des all-einen Absoluten zu begreifen, dessen attributive Modi sie sind. Leibniz wollte Spinoza nicht ohne Vorbehalt folgen, sondern der Gefahr spinozistischer Entdifferenzierungstendenzen in seiner Monadenlehre61 dadurch 60 Ebd. 61 In schulmäßiger Form systematisiert und zu großer Breitenwirkung gebracht wurde die Leibniz’sche Monadologie durch Christian Wolff, dessen System just jene rationale Meta-

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begegnen, dass er das von der göttlichen Urmonade durchwaltete Universum sowohl dieser gegenüber als auch in sich selber deutlicher differenzierte, um damit sowohl der weltüberlegenen Freiheit des Absoluten als auch der Selbständigkeit der endlichen Monaden und namentlich der psychophysischen Individualsubstanz des Menschen die nötige Geltung zu verschaffen. Beide Motive begegnen in signifikanter Weise auch im Werk Wolfgang Cramers. Nichtsdestoweniger bleibt er Spinoza in der Absicht verbunden, das Absolute in absoluter Reflexion aus sich selbst heraus zu begreifen. Im Vorwort seiner 1966 erschienenen Studie über „Spinozas Philosophie des Absoluten“ bekundete W. Cramer, er lege das Buch „vor als den ersten Band einer Reihe, die den Titel hat ‚Die absolute Reflexion‘“62. Dass die Reihe mit einer Arbeit zu Spinoza, näherhin zu den beiden ersten Teilen von Spinozas Ethik begonnen werde, begründet er mit dem Hinweis, dass diese entschlossen beim Unendlichen, und nicht, wie seit Cartesius üblich, beim Endlichen ihren Ausgang nehme. „Dieser als Dogmatismus abgestempelte Beginn ist die Größe des Gedankens. Noch in jeder Proposition ist die aeternitas, das ens absolute infinitum. Es ist kein zweites Werk, das vergleichbar mit Spinoza uns die absolute Dimension spüren lässt, die das Reich des philosophischen Gedankens ist.“ (111) Spinozas Philosophie ist Theologie im emphatischen Sinne. „Die Fundamentalwahrheit des Descartes ist ihm kein Fundament, und mit Recht nicht. Denn ist meine Existenz mir auch unbezweifelbar, so ist sie doch nicht ein Notwendiges. Die Existenz des Notwendigen unter der Bedingung des Zufälligen oder Endlichen zu beweisen, ist für Spinoza nicht der Weg, Wahrheit zu retten. Der Sprung in die Substanz selbst ist allein ihr angemessen. So sehr dies ein Ärgernis sein mag, so sehr es der Vorbereitung bedarf, dem Denken diesen Sprung faßlich zu machen, die gänzliche Rücksichtslosigkeit des Spinoza gegen unsere Besorgnis ist grandios.“ (Ebd.) Um dem endlichen Denken den Sprung in die absolute Substanz fasslich zu machen, erinnert Cramer, dass ein zum Denken bestimmter endlicher „Modus“ wie der Mensch sich seiner Endlichkeit zwar nicht entziehen, sie aber gedanklich auf das Unendliche hin transzendieren kann. „Der zeitlich singuläre Geist denkt das Zeitlichsein und geht darin in Gedanken über sein endliches Sein hinaus. Seinem Denken sind keine Grenzen gesetzt. physik repräsentiert, deren erkenntnistheoretische Unhaltbarkeit Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ von 1781 (21787) aufzuweisen versuchte und zwar in psychologisch-seelenmetaphysischer, kosmologischer und ontotheologischer Hinsicht. Anders als Wolff in seinen „Vernünfftige(n) Gedancken von Gott, Welt und der Seele des Menschen“ von 1720 sowie in seinen sonstigen Schriften meinte, kann nach Urteil Kants, der empiristische und rationalistische Aufklärungstraditionen gedanklich zu vereinen strebte, von den Vernunftideen der speziellen Metaphysik kein objektiver, sondern nur ein spekulativer Gebrauch gemacht werden. 62 W. Cramer, Spinozas Philosophie des Absoluten (Die absolute Reflexion. Bd. 1), Frankfurt a. Main 1966, 7. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Denn er ist Denken des Denkens. Es ist noch seine Frage, ob ein Sein sei, welches seinem Denken Grenzen setzte.“ (118 f.) Indem es bedenkt, was es mit seinem Denken auf sich hat, und den Gedanken „Ich denke“ denkt, erschließt sich dem Denken nicht nur die Einsicht in die Verfasstheit singulärer Subjektivität, es wird zugleich auf die Notwendigkeit verwiesen, über sich hinaus auf das Absolute hin und von diesem her zu denken. Einen weiteren Schritt zu seiner projektierten Theorie des Absoluten hat Cramer im Anschluss an sein Spinozabuch im zweiten Band der Reihe „Die absolute Reflexion“ vollzogen. Er ist Gottesbeweisen und ihrer Kritik gewidmet.63 Im ersten Teil werden unter Berücksichtigung des absoluten Verhältnisses in der Spekulation des Deutschen Idealismus der kosmologische und der ontologische Gottesbeweis abgehandelt. Thema des zweiten Teils ist Kants Kritik der Gottesbeweise, die als nicht überzeugend und unhaltbar kritisiert wird. „Es ist“, so Cramer, „bis heute die gängige Meinung, daß Kant die metaphysica specialis zertrümmert habe. Gewiß meinte dies Kant. Gewiß auch ist es zu einer konservierten Meinung geworden. Die Wahrheit aber ist, daß Kants Kritik ihrerseits in ihren Fundamenten brüchig ist. Sie ist eine Kritik, deren Mittel zu solcher Kritik nicht ausreichen. Dogmatismus ist die eingefrorene Meinung, daß Metaphysik dogmatisch sei. In Wahrheit kehrt die gesamte Problematik wieder, wenn sich herausstellt, daß das Fundament des transzendentalen Idealismus nicht trägt.“ (7) Cramer beurteilt Kants Kritik am ontologischen und kosmologischen Gottesbeweis als unkritisch und die Abkehr von rationaler Ontotheologie als irrig. In einer auch nach philosophischer Mehrheitsmeinung nachmetaphysischen Zeit plädiert er für eine Renaissance der Metaphysik als deren wichtigstes Thema ihm 63 W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik. Prüfung ihrer Beweiskraft (Die absolute Reflexion Bd. 2), Frankfurt 1967. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. „Anmerkungen zu Wolfgang Cramers Natürlicher Theologie“ und ihrem „vornehmsten Inhalt“, den Gottesbeweisen, enthält der Beitrag von M. Oesch, Das absolute Subjekt zwischen Restitution und Vernichtung, in: H. Radermacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), a. a. O., 164–184, hier: 164, 173. Vom Kant’schen Standpunkt aus kritisiert wird „Wolfgang Cramers Widerlegung der Gottesbeweiskritik Kants“ in der gleichnamigen Rezension J. Schmuckers. Schmucker gelangt zu dem Fazit, dass Cramers angebliche Metakritik „in ihrer Substanz vorkritisch ist und die Frucht der bei ihm schon sehr früh beginnenden Auseinandersetzung mit der rationalen Theologie eines Leibniz und der Wolffschule darstellt“ ( J. Schmucker, Wolfgang Cramers Widerlegung der Gottesbeweiskritik Kants. Zu: W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik etc., in: Archiv für Geschichte der Philosophie 52 (1970), 287–301, hier: 297. Vgl. 300: „Man mag den Begriff des Absoluten fassen wie man will: als ens quo maius cogitari non potest, als ens perfectissimum oder ens infinitum, als ipsum esse subsistens, als immensa potestas oder ens necessarium, als Einheit von esse und essentia, als subsistierende noesis noeseos, oder wie sonst auch immer, wir vermögen durch das Verstehen keines dieser Begriffe wirklich einzusehen, was notwendiges Dasein bedeutet. Der Beweis dafür aber liegt darin, daß wir all diesen Begriffen bzw. den durch sie gedachten Gegenständen das Dasein absprechen, daß wir sie in Gedanken ins Nichts versinken lassen können, ohne daß unser Denken in diesem Gedanken sich aufhebt.“)

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die Theorie des Absoluten als einer vernünftigen Theologie gilt. Mag dieses Plädoyer die Zeitgenossen auch irritieren, mag es von ihnen als abwegig abgestempelt werden – Cramer ficht dies nicht an: „Es kann vorkommen, dass vorkommt, was nicht vorkommen sollte.“ (161) In der Zeit, die von den Glaubensinhalten der christlichen Religion lebte, musste die Reflexion auf das Absolute nach Cramer „die Form von Gottesbeweisen annehmen. In diesen Beweisen ist ein philosophischer Gedankengehalt niedergelegt, der aus allem Glaubensinhalt herausgenommen werden kann. Nur um diesen, von allem Glaubensinhalt unabhängigen Gehalt geht es in diesem Buche. Man mag sagen, daß dann füglich nicht mehr von Gott gesprochen werden kann. Aber immer noch wird von dem gesprochen, was der Gott der Offenbarung sein muß, wenn er überhaupt sein soll. Die christliche Metaphysik hat ja aus sich eine Metaphysik entwickelt, die eine Wissenschaft aus ‚reiner Vernunft‘ zu sein beanspruchte. In ihr sprechen sich reine philosophische Gedanken aus. Was haben diese Gedanken für die Frage nach dem Absoluten geleistet?“ (7) Nach Cramer zumindest dies, dass diese Frage fraglos zu jeder Philosophie gehört, die ihren Namen verdient. Denn zu den philosophischen Grundaufgaben, ohne deren Wahrnehmung Philosophie ihrer Bestimmung nicht entspricht, gehört es, „das Mannigfaltige auf absolute Einheit“ (10) zurückzuführen und diese absolute Einheit aus sich selbst zu begreifen (vgl. 11). Anders als Hegel, durch dessen Dialektik „uns die Einheit des kontradiktorischen Gegensatzes offeriert (werde), nicht der Ausschluss des Widerspruchs, sondern der Einschluss des Widerspruchs“ (14), will Cramer „eine Differenz als absolut erweisen, welche ihrerseits Grund ist der Differenz von Sein und Denken“ (11). Als Grund der Differenz von Sein und Denken muss das Absolute in sich differenziert und zugleich auf dergestalt differenzierte Weise mit sich eins sein, dass es differentes Anderes aus sich nicht entlassen muss, aber entlassen kann, um es als Kontingentes zu prinzipiieren. Cramers Theorie des Absoluten zielt auf die Einheit des Vielen und ist insofern antidualistisch. Sie ist aber zugleich gegen jede Form einer Alleinheitsphilosophie gerichtet, wie er sie paradigmatisch bei Spinoza, aber modifiziert auch bei Hegel ausgebildet findet. Denn das Absolute soll das Viele als Kontingentes und nicht als transitorisches Moment oder notwendige Modifikation einer absoluten Einheit begründen. Als bedingtes Dasein ist das Kontingente vom Absoluten bedingt, ohne Bedingung absoluter Unbedingtheit zu sein. Zwar hat diese Einsicht zur Bedingung, dass das bedingte Dasein ist und zwar als ein solches, das seine Bedingtheit einzusehen vermag. Gleichwohl steht auch diese Bedingung nicht über, sondern unter der Bedingung des Unbedingten, was zu erkennen Ziel dessen ist, was Cramer absolute Reflexion nennt. Der kosmologische Gottesbeweis hilft absoluter Reflexion auf die Sprünge, der ontologische setzt sie in Gang, um ihr ganzes Beginnen zu bestimmen. Was den kosmologischen Beweis angeht, so handelt es sich bei ihm Cramer zufolge

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um keinen Schluss: „Er geht nicht aus vom bedingten Dasein und schließt erst auf das unbedingte Dasein, sondern dasjenige, was es notwendig macht, das kontingente Dasein auf einen Grund seines Daseins zu beziehen, ist das Grundlose. Der Beweis sollte die Blickrichtung umkehren. Er sieht nur die Reihe der Gründe. Er sollte auf das Prinzip dieser Reihe blicken. Sein Beweisprinzip ist der grundlose Grund. Der grundlose Grund ist, so betrachtet, schon im Ausgang des Beweises. Aber ist überhaupt kein Dasein, ist Nichts, dann, so scheint es, bedarf es auch keines Grundes. So scheint es. Die Wahrheit ist: auch dann bedarf es des Grundlosen, welches Grund ist. Sein und Nichtsein ist eine Differenz, die ihrerseits erst ist aus dem grundlosen Grunde.“ (53 f.) Der kosmologische Beweis initiiert absolute Reflexion als das Medium der Theorie des Absoluten, der ontologische Beweis lässt sie begreifen, dass der Begriff des Absoluten nicht mit dem Absoluten gleichgesetzt werden kann. „Der Begriff vom Absoluten ist nicht das Absolute selbst. Und eben dies ist im Begriff gewußt.“ (97) Der Begriff, den absolute Reflexion in Aufnahme des ontologischen Arguments vom Absoluten vermittelt, ist im Begreifen absoluter Unbegreiflichkeit begriffen. Die absolute Unbegreiflichkeit des Absoluten ist nicht als das aller Rationalität entzogene Irrationale zu fassen. Würde sie so gefasst, „dann wäre sie schon rationalisiert, in der Form des Begriffs“ (99). Recht gefasst wird die absolute Unbegreiflichkeit des Absoluten nur, wenn das Absolute begriffen wird als der unvordenkliche, dem Denken entzogene und zugleich präsente Seinsgrund des Denkens und alles dessen, was gedacht werden kann und gedacht wird. Der Begriff des Begriffs kommt von dem unvordenklichen Sein her, um sich in ihm begrifflich und somit seinsgemäß zu vollenden. Jeder Kenner wird sich durch die skizzierte Argumentation an die Philosophiekonzepte des späten Fichte und des späten Schelling erinnert fühlen, vielleicht auch an Schleiermachers Bestimmung des Grundes des religiösen Bewusstseins, dessen subjektivitätstheoretischen Prämissen Wolfgang Cramers Sohn Konrad eine eindrucksvolle Studie gewidmet hat.64 Den Bezug zu Fichte stellt Cramer selbst ausdrücklich her. Die späten Wissenschaftslehren böten eine „Deduktion der Undeduzierbarkeit des Verhältnisses von Einheit und Unterschied“ (105), die der Begriffslogik Hegels überlegen sei, obwohl anscheinend das Gegenteil zutreffe. Denn Hegel scheint, indem er den Anfang der Wissenschaft der Logik mit dem reinen, indifferenten Sein macht, „tatsächlich das Kunststück fertig zu bringen, aus dem Unterschiedslosen Unterschied zu entwickeln. Das 64 K. Cramer, Die subjektivitätstheoretischen Prämissen von Schleiermachers Bestimmung des religiösen Bewusstseins, in: D. Lange (Hg.), Friedrich Schleiermacher. 1768–1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 129–162. Kritisch hierzu: U. Barth, Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit. Anmerkungen zu Konrad Cramers Schleiermacher-Interpretation, in: J. Stolzenberg (Hg.), Subjekt und Metaphysik. Konrad Cramer zu Ehren aus Anlaß seines 65. Geburtstags, Göttingen 2001, 41–59.

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reine Sein, so geht es in dem berühmten und berüchtigten Gedankengang weiter, ist Nichts. Reines Sein und reines Nichts sind identisch. Sie sind aber ebenso nichtidentisch, was die Identität der Identität und Nichtidentität zur Folge hat. Reines Sein und reines Nichts verschwinden wechselweise ineinander. Aber das Ergebnis ihres wechselweisen Verschwindens ist ein beruhigtes Verhältnis, die Einheit von Sein und Nichtsein.“ (107) Folgt man Cramer, dann hat Hegel das anfängliche Beginnen des dialektischen Gedankengangs nicht logisch entwickelt, sondern erschlichen. „Die Entwicklung des Unterschieds aus dem Spiel, das getrieben wird mit dem reinen Sein und Nichts, ist Vokabel.“ (109) Hegel habe das harte Sachproblem unstatthaft verschleiert. „Es sieht so aus, als habe er uns den Unterschied entwickelt und die Einheit der Unterschiedenen als Momente der Idee. Es bleiben aber unvermittelt stehen die Prinzipien des Verschwindens und der Aufhebung. Und es ist weder das Verschwinden ausgewiesen noch die Aufhebung aus dem Verschwinden. Es ist weder der Ausgang noch der Fortgang. Die Härte Fichtes dagegen stellt eine klare Aufgabe. Der unausgewiesene faktische Unterschied soll auf absolute Einheit zurückgeführt werden. Es erweist sich als undurchführbar. So bleiben beide unvermittelt stehen. Die Irrationalität der absoluten Einheit ist nun die absolute Grenze der Begreiflichkeit. Hegels Dialektik hingegen ist ein System absoluter Rationalität, das seine eigenen Fundamente vernebelt. Die Wahrheit dürfte die Mitte sein: das irrationale Sein, das Insichsein ist und darum wesentlich Grund der Rationalität ist.“ (111)

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Die absolute Reflexion

Die mit Untersuchungen zu Spinozas Absolutheitsphilosophie sowie zu den Gottesbeweisen und ihrer Kritik begonnene Reihe „Die absolute Reflexion“ war ursprünglich auf fünf Bände angelegt. Doch konnten die projektierten Bücher zum transzendentalen Subjekt, zur Theorie des Absoluten im Deutschen Idealismus und zur absoluten Reflexion nicht mehr erscheinen. „Daß Cramer jedoch auch in seinen letzten Lebensjahren an der weiteren Durchführung seines philosophischen Gesamtvorhabens gearbeitet hat, geht einerseits aus seinen letzten Veröffentlichungen, andererseits aus Schriften hervor, die sich in seinem Nachlaß oder in den Händen seiner Schüler und philosophischen Weggefährten befanden.“65 Im Jahr vor seinem Tod eröffnete Cramer mit einem zwanzigseitigen Artikel „Das Absolute“ das von Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner und Christoph Wild herausgegebene „Handbuch philosophischer Grundbegrif65 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 9 (Vorbemerkungen des Herausgebers).

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fe“. Es handelt sich um die letzte von ihm „noch zum Druck beförderte Arbeit“66. Sie „bietet einen konzentrierten Aufriß für ein Analyseprogramm, das unter dem Namen ‚absolute Reflexion‘ in dem Artikel selbst noch nicht durchgeführt ist. Der Stand, den Cramers Philosophie des Absoluten am Ende seines Lebens erreicht hatte, wird daher nicht durch diese seine letzte Veröffentlichung, sondern durch den hier (sc. in den von K. Cramer herausgegebenen Nachlassschriften seines Vaters) erstmals publizierten und von Cramer selbst so überschriebenen Text ‚Die absolute Reflexion‘ bezeichnet.“67 Was den Handbuchartikel „Das Absolute“ betrifft, so nimmt er seinen Ausgang „von dem im Worte ‚das Absolute‘ liegenden Bedeutungsgehalt“68. Werde die „Wortbedeutung ‚absolut‘ genau genommen“ (2), ergebe sich die förmliche Erkenntnis, dass ein Verhältnis der Ablösung nur dann vorliegt, wenn die Unendlichkeit des Absoluten an und in sich selbst so verfasst ist, dass es dem Endlichen außer sich Raum zu eröffnen und Zeit zu geben vermag. Ansonsten führt vom Absoluten „kein Weg zu Endlichen, zum Werden, zum Vielen“ (ebd.). Rein von der Wortbedeutung her ist somit zu konstatieren, „daß das Absolute in sich ein Moment haben muß, welches seinerseits das Sein von solchem ermöglicht, dessen Nichtsein möglich ist“ (ebd.). Vom Absoluten ermöglichtes Sein, dessen Nichtsein möglich ist, ist endliches Sein. „Endliches wird solches genannt, welches in sich das unsetzbare Moment des Seins hat und dessen Nichtsein möglich ist.“ (ebd.) Mit der Rede vom unsetzbaren Moment des Seins, welches Endliches bei möglichem Nichtsein in sich hat, um zu sein, unterstreicht Cramer, dass das Sein des Endlichen in seiner schieren Faktizität recht gedacht als nicht ausgedacht gedacht werden muss. Generell gehört es zur Endlichkeit endlichen Seins, sich nicht unmittelbar selbst dazu gemacht zu haben, endliches Sein zu sein. Daraus ergibt sich, dass Endliches Nichtendliches voraussetzt, um sein Wesen zu haben und als dasjenige verstanden zu werden, was es ist. Cramer zufolge ist „kein bedeutender Gedankenaufwand erforderlich, um einzusehen, daß Nichtendliches die Bedingung vom Endlichem ist“ (3). Vermittelt wird diese Einsicht in Sonderheit durch die Wahrnehmung der Zeitlichkeit endlichen Daseins und durch die Erkenntnis, dass Endliches sein Ende nicht in sich zu fassen und sein Beginnen nicht unmittelbar zu initiieren vermag. Dem Unendlichen dagegen ist die Endlichkeit des Endlichen nicht äußerlich, sondern dergestalt präsent, dass es sowohl seines Anfangs als auch seines Endes mächtig ist, um sich so als Grund oder Nichtgrund bzw. Abgrund des Endlichen als eines Endlichen, Zeitlichen und Kontingenten zu erweisen.

66 Ebd. 67 A. a. O., 10. 68 W. Cramer, Art. Das Absolute, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Chr. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 1: Das Absolute – Gesellschaft, München 1973, 1–20, hier: 2. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf diesen Artikel.

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Es gehört nach Cramer zum entwickelten Begriff des Endlichen, einfaches Einzelnes zu sein. Im Endlichen, das einen Begriff von sich hat, wird dies offenbar. Singuläre Subjekte sind Individuen und in der Unteilbarkeit des Ich, das sie selbst sind, einheitliche Integrale von Mannigfaltigkeit in all ihren Teilen. Individuelle Ichsubjekte sind transmundane Größen, die alles in der Welt zu transzendieren vermögen einschließlich ihrer selbst. Sie hören aber dadurch nicht auf, kontingent, zeitlich und endlich zu sein, sondern sind bleibend auf eine Voraussetzung angewiesen, ohne welche ihr Sein nicht möglich und existent wäre: Bedingtes hat Unbedingtes zu conditio sine qua non. „Das Endliche gerade in seiner geringsten Bestimmung, enden zu können, hat schon die absolute Dimension zur Bedingung.“ (10) Endliches kann enden. Sein Nichtsein ist möglich, und die Möglichkeit seines Nichtseins begleitet es von Anfang an. Es trägt seinen Konstitutions- und Erhaltungsgrund nicht in sich. Dies gilt für alles Endliche, woran sich zeigt, „daß Endliches nicht Ursache des Daseins von Endlichem sein kann, ist nicht auch das Absolute Ursache“ (11). Zwar kann Cramer die Totalität des Endlichen ungeworden nennen und als ungewordenes Endliches zur Bedingung des Werdens von Endlichem erklären. Aber auch das Weltganze ist nicht das Absolute. Zwar gründet alles im All. Aber das alles gründende All hat seinen Grund nicht in sich, sondern im grundlosen Grund des Absoluten, welches aus dem Nichts Sein herauszusetzen und zu ermöglichen vermag, sodass es existiert, ohne dass die Existenz von Endlichem absolut bzw. für das Absolute notwendig wäre. Endliches muss nicht sein, damit das Absolute sei. Endliches ist nicht nur durch die Möglichkeit je eigenen Endens, sondern „durch die Möglichkeit des Nichtseins von Endlichem-überhaupt bestimmt. Positiv heißt dies: Endliches existiert aus der Freiheit des Absoluten. Der eben genannte Sachverhalt wird die Kontingenz des Endlichen genannt. Mit dem Endlichen ist auch das Werden kontingent. Die Kontingenz des Endlichen, die Kontingenz des Werdens, das Absolute als Freiheit und Können-Sein, all dies ist ein Sachzusammenhang.“ (14) Wäre das Absolute in seinem, wie Cramer sagt, Können-Sein nicht Endlichemüberhaupt transzendent, dann wäre die Kontingenz des Endlichen und nicht zuletzt unsere endliche Freiheit unverständlich, weil eine absolute Notwendigkeit walten und endliches Sein nur ein Modus bzw. transitorisches Moment des Absoluten sein würde. Endliche Freiheit ist nur als freie Entäußerung unendlicher Freiheit denkbar. Auf Absolutheitsreflexionen der bezeichneten Art folgen Erwägungen zum kosmologischen Beweis und seiner Kritik (vgl. 15 f.). Im Anschluss daran kommt Cramer auf den Anfang seines Gedankengangs zurück. „Er war davon ausgegangen, dass Endliches ist.“ (17) Diese Prämisse war zum Aufweis erforderlich, „daß das Absolute die Bedingung des Endlichen ist. Insofern war das Denken ein Rückschreiten von einem Ausgange aus zu einer Bedingung des Ausganges. Wie ist das

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Verhältnis zwischen Ausgang und Bedingung? Bestimmt nicht auch der Ausgang die Bedingung, so daß die Bedingung auch ihrerseits durch den Ausgang bedingt ist?“ (Ebd.) Wäre das Unbedingte als Bedingung des Bedingten durch dieses bedingt, dann wäre es nicht das Absolute, sondern seinerseits ein Bedingtes. Cramer folgert daraus, dass der Ausgang der Theorie des Absoluten vom Endlichen einzuholen und zu überholen sei durch ein spekulatives Denken, welches als absolute Reflexion „die Leiter des Endlichen“ (18) nicht nur nicht mehr benötigt, sondern „verschmäht“ (ebd.). Mehr als eine vorläufige „Idee von diesem Denken“ (19) indes kann Cramer in seiner letzten Druckschrift nicht geben. Er verlangt, den Gedankengang, der vom Endlichen ausging, aufzugeben, und den Anfang mit dem Absoluten zu machen, „d. i., mit dem Sein“ (ebd.), nicht zwar mit dem reinen Sein in seiner indifferenten Unbestimmtheit, mit dem die Hegel’sche Wissenschaft der Logik ihr Beginnen initiierte, wohl aber mit dem Sein, welches die dynamische Potenz ist, dem Möglichen Faktizität zu geben. „Das Sein wird sein das an sich haltende Leben, das die Kraft in sich sammelnde Leben und das vom Können zur Tat fortschreitende Leben, das Leben schaffende Leben.“ (20) Denken hat der Unvordenklichkeit des Seins eingedenk zu sein und nicht unmittelbar mit sich selbst, sondern in absoluter Reflexion mit dem Absoluten seinen Anfang zu machen, um von diesem her sich selbst und alles zu begreifen, was ist. Kennzeichnend und wesentlich für dasjenige, was Cramer absolute Reflexion nennt, ist, dass sie sich „abgelöst von allem sonst als Formen der Reflexion zu Grunde liegenden Inhalt“69 vollzieht. Der in den Nachlassschriften unter dem Titel „Die absolute Reflexion“ veröffentlichte Text, der „offensichtlich … als Buch“ (14) konzipiert, aber wahrscheinlich nicht abgeschlossen wurde, versucht in einzelnen Schritten aufzuweisen, „(w)ie sich hieraus eine Theorie der Be69 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 14. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Hatte Cramer im Zeit-Ewigkeits-Kapitel seines Textes zur absoluten Reflexion bereits kritisch-konstruktive Bezüge der entwickelten Theorie des Absoluten zur christlichen Schöpfungslehre hergestellt (253, 255: „Der Schöpfungsbegriff ist nur haltbar, wenn die Zeit in Deus selbst verlegt wird.“ Ihm muss „die Zeit eine mögliche zu verzeitlichende sein“.), so werden diese Bezüge in den beigegebenen Erwägungen zur natürlichen Theologie und zur Offenbarungstheologie, die sich u. a. ausführlich mit Bultmanns Programm der sog. Entmythologisierung und existentialen Interpretation auseinandersetzen (277: „Die Entscheidung im Sinne Bultmanns ist so leer wie Heideggers Entschlossenheit.“), nicht nur aufgegriffen (301: „Das Wort ‚Schöpfung‘ bezeichnet … ein nicht notwendiges Hervorgehen, einen Aktus der Freiheit.“), sondern auf eine explizit trinitätstheologische Basis gestellt. Was Cramer gegen Schluss seiner Studie über das Verhältnis von Gottvater und Gottsohn und die Unterschiede der wesenseinen göttlichen Hypostasen sagt, liest sich wie ein Auszug aus einem Dogmatiklehrbuch. Indes will Cramer seine Trinitätstheologie nicht im traditionellen Sinne offenbarungstheologisch, sondern entschieden im Sinne einer natürlichen Religion und einer rationalen Metaphysik verstanden wissen. Das Absolute soll in absoluter Reflexion aus absoluter Voraussetzungslosigkeit heraus ergriffen, Gott ganz von Gott her verstanden werden und zwar – wie von der ratio Anselmi zumindest beansprucht – sola ratione, remoto Christo und unabhängig von jeder Glaubensüberzeugung.

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stimmung ‚des‘ Absoluten als des Prinzips der Bestimmtheit und damit auch der Unbestimmtheit ergibt, das am Ende den Namen ‚Deus‘ verdient“ (ebd.). Nach Erwägungen zu menschlicher Erkenntnis und ihren Grenzen wird der Übergang zur absoluten Reflexion genommen und vom Insichsein, vom Sich-sein und vom Außer-sich-Sein des absoluten Subjekts sowie seiner Endliches nicht nur aufhebenden und in sich schließenden, sondern freisetzenden Unendlichkeit gehandelt. Der Text endet mit Ausführungen über die Freiheit in Deus und unsere Freiheit sowie über Zeit und Ewigkeit. Im ersten Abschnitt (II/IV, A: Unsere Erkenntnis und ihre Grenzen) des keine hundert Seiten umfassenden (181–255), aber außerordentlich dicht geschriebenen Textes „Die absolute Reflexion“ begründet Cramer unter Bezug auf den kosmologischen und ontologischen Gottesbeweis die Notwendigkeit einer Umkehr des Denkens weg vom Endlichen und hin zum Unendlichen, um das Absolute an sich und rein aus sich selbst heraus zu begreifen. Die Grenze des kosmologischen Beweises liege darin begründet, dass er die Tatsache, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts, als selbstverständlich voraussetzen muss und unbegriffen der Kontingenz des Daseins verhaftet bleibt, ohne zu absoluter Reflexion zu gelangen. „Er führt nur unter einer der Sache selbst fremden Bedingungen auf das notwendige Dasein, er macht also gerade nicht die absolute Notwendigkeit des esse a se begreiflich. Das notwendige Dasein bleibt an seinem Orte selbst unbegriffen.“ (184) Dem kosmologischen Beweisverfahren wird infolgedessen angeraten, „über seine Prämisse zu reflektieren und sich zu der Einsicht durchzuringen, daß sie selbst schon unter der Bedingung des notwendigen Daseins steht“ (185). Auch das ontologische Argument, das Dasein Gottes zu beweisen, teilt nach Cramer mit dem kosmologischen die fundamentale Schwäche, „daß e(s) etwas vorausschickt, was selbst doch erst durch das Beweisziel bestimmt sein kann, nämlich die Differenz von essentia und existentia. Die Frage ist, ob dasjenige, das diese Differenz schon bestimmt und ihr Grund ist, nicht schon in sich die Vereinigung dieser Differenz sein muß. Diese Frage korrumpiert den ontologischen Beweis. Der Beweis will auf die Notwendigkeit der Vereinigung von essentia und existentia hinaus. Er geht von ihrer Unterscheidung aus. Aber er sollte sein Denken umkehren. Er sollte fragen, ob die Unterscheidung nicht schon die Vereinigung zur Bedingung hat. Er müßte einen Gedanken vortragen, der die Differenz in eins mit ihrer Vereinigung faßt, der die Differenz erst mit ihrer notwendigen Vereinigung begründet.“ (186) Damit ist die Aufgabe einer in absoluter Reflexion zu gewinnenden Theorie des Absoluten umschrieben. Ist die Aufgabe einer in absoluter Reflexion zu entwickelnden Theorie des Absoluten für die menschliche Vernunft bewältigbar? Vermag diese „den Dingen bis auf den Grund zu gehen, den nicht mehr weichenden Grund“ (186)? Die Zweifel daran sind „so alt wie menschliches Denken“ (ebd.) und durch die kri-

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tizistische Philosophie der Moderne verstärkt worden, für welche Kant grundlegend ist. Cramer nimmt diese Zweifel ernst, gibt aber zu bedenken, dass sie bei gegebener Konsequenz die menschliche Denkmöglichkeit und Denknotwendigkeit einer Theorie des Absoluten nicht falsifizieren, sondern im Gegenteil verifizieren. Den Beleg bietet die Einsicht, dass „unser Denken auch Denken des Denkens ist“ (187), was nachgerade eine kritizistische Philosophie nicht in Abrede stellen kann, sondern „fraglos in Anspruch nehmen muß“ (ebd.). Als Denken des Denkens kann das menschliche Denken die Singularität des denkenden und mit anderen Menschen intersubjektiv verbundenen Ich nicht hintanstellen. „‚Unser Denken‘ sagt, daß eine Vielheit denkender Wesen ist, daß jedes der vielen singulär ist, eine Singularität von einer Bestimmung, die auch anderem oder anderem möglichen Singulären zukommt. ‚Unser Denken‘ sagt ferner, daß wir, die Singulären, uns zueinander in Beziehung bringen und kraft dieses Inbeziehungbringens umeinander, um ‚uns‘ wissen. Es können diese Invarianten, Singularität und Intersubjektivität, nicht beiseite gesetzt werden, wenn füglich noch von ‚unserem‘ Denken die Rede sein soll.“ (187) Dies prinzipiell verkannt und damit zugleich die Differenz zwischen Ich und Welt, Bewusstsein und Gegenstand kassiert zu haben, wird als der Grundschaden des Hegel’schen Denkens kritisiert. Schon Kants Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Subjekt ist Cramer zufolge an der bestehenden Sachlage vorbeigegangen (vgl. 188), wenngleich er „die Verkennung der Wahrheit“ (190) noch nicht zu seinem Prinzip erhoben habe, wie dies bei Hegel der Fall sei. Hegels Denken, so lautet Cramers scharfes Urteil, sei haltlos, weil es den Halt an demjenigen Denken, das mit Recht das unsere genannt wird, verloren bzw. aufgegeben habe. Cramers Philosophie will den Anhalt am denkenden Ich und seiner realen Welt weder verlieren noch aufgeben. Es herrscht aber die gewisse Überzeugung, dass menschliches Denken, welches bedenkt, was es mit dem Denken auf sich hat, durch Denken des Denkens zu Gedanken gelangt, die notwendig und absolut, also losgelöst davon gültig sind, dass sie vom denkenden Ich gedacht werden. In ihnen weiß das Denken das Gedachte als real gegeben auch unter den Bedingungen seines Nichtgedachtseins. „Es sind also Gedanken, welche nicht das Werk des Denkens sind, Gedanken, in denen das Denken denkt, und diese sind zu unterscheiden von den Gedanken, welche das Denken denkt. Sollte Denken Denken des Denkens sein müssen, dann wird unser Denken auch die Gedanken, die nicht sein Werk sind, die aber gleichwohl als Gedanken gezeugt sein müssen (und doch nicht gedachte Gedanken sind), auch noch denken können. Solches auf das Denken rückgreifende Denken macht sich Nichtgewußtes, das alles Wissen schon beherrscht, bewußt, es bringt sich die verborgenen Gründe des Wissens ans Licht, ist philosophisches Denken.“ (192) Cramer erklärt „reine und notwendige Gedanken, die nicht gedachte Gedanken sind, (zur) Bedingung der gedachten Gedanken“ (ebd.). Nicht gedachte,

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reine und notwendige Gedanken sind Gedanken, in denen das Denken das Sein des Seienden und alle gedachten Gedanken auf das unvordenkliche Sein, auf das Sein selbst hin transzendiert, um in absoluter Reflexion das Absolute an sich selbst und in seiner absoluten Transzendenz so zu denken, dass das kontingente Sein des transzendentalontologischen Denkich nicht nur nicht ausgeblendet, sondern in seiner Kontingenz und derjenigen seiner bewusstseinstranszendenten Welt denkbar wird. Letzteren Aspekt, nämlich den der unserem Bewusstsein transzendenten Welt, unterstreicht Cramer mehrmals und nachdrücklich: „Wir können unsere Begriffe von den Sachen grundsätzlich nicht mit den Sachen selbst identifizieren“ (193), und wir wissen, dass es sich so verhält, weil wir um die sachliche Bestimmtheit an sich wissen. „Weil wir um die Bestimmtheit an sich des uns Transzendenten wissen, müssen wir um die Differenz wissen von unserem jeweiligen Begriff von der Sache und der Sache selbst.“ (194) Der Begriff einer bestimmten Sache ist jeweils nur ein Vorgriff auf die bestimmte Sache selbst, die in keiner ihrer Bestimmungen vollständig aufgeht. Die vollständige Bestimmtheit einer Sache „kann für uns nicht in ihre vollständige Bestimmung aufgelöst werden. Aber wir müssen um ihre vollständige Bestimmtheit wissen, um sie und nicht diese selbst. Unser Wissen muß also in einem Gedanken die vollständige Bestimmtheit antizipieren. Ansonsten ginge wiederum für uns die Differenz von Sache selbst und unserem Begriffe zugrunde.“ (194) Es ist nicht möglich, aber auch nicht nötig, auf alle Überlegungen Cramers zur Bewusstseinstranszendenz von Sein und zur Frage einzugehen, wie wir um diese Transzendenz wissen können. Betont sei nur mehr, dass die argumentative Schlüsselstellung des singulären Ich, auf das sich Cramers ursprüngliche Einsicht richtet, auch in seiner Spätzeit erhalten bleibt. Das einzelne Ich, das wir selbst sind, ist, so wird repetiert, „nicht Gedanke oder Vorstellung, es ist allen meinen Vorstellungen oder Gedanken in dem Sinne transzendent, daß es die Bedingung des Habens, des Für-mich-Seins überhaupt ist. Daher ist das Selbstbewußtsein ein Transzendenzgedanke, das Meinen meiner ursprünglich transzendierend, nicht freilich transzendierend zu solchem, das außer mir ist, wohl aber zu meinem Sein.“ (198) Mit dem singulären Ich hinwiederum ist Intersubjektivität ursprünglich verbunden. „Ich bin mir ein Ich, einer. Ich repräsentiere mir jeden. Ich transzendiere meine Singularität in meinem singulären Selbstbewußtsein schon zu Allgemeinheit.“ (199) Das Ich weiß sich zusammengeschlossen mit dem, was es nicht ist, nämlich mit Ichwesen, die ihm gleich, und mit Entitäten, die ihm nicht gleich, aber dennoch für ihn da sind und zwar als Gegebenheiten, die es gibt, auch wenn das Ich nicht da bzw. bei Bewusstsein ist. Kants Begriff vom „Ding an sich“ erfährt auf diese Weise eine Rehabilitation: Keineswegs handele es sich bei ihm nur um einen problematischen Begriff „von einem unerkennbaren Sein. Das Ding an sich hat vielmehr in der Kritik der reinen Vernunft einen entscheidende bestimmende

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Funktion. Es legitimiert den Kantischen Begriff von gegebener Vorstellung und den Kantischen Begriff von Anschauung. Die Differenz von Rezeptivität und Spontaneität wäre ohne das Ding an sich unverständlich. Das Ding an sich bestimmt also das uns Erkennbare von Grund aus.“ (200) Weit davon entfernt, eine Grenze unserer Erkenntnis zu sein, wird es von allem Erkennen als Bedingung seiner Möglichkeit vorausgesetzt. Was Kant „Ding an sich“ nennt, ist nach Cramer die Bedingung aller möglichen Erkenntnis und insofern eine wissenstranszendente Voraussetzung von Wissen. Es fungiert aber nicht als absolute, sich selbst voraussetzende Voraussetzung, sondern als eine relative, die konstitutiv auf Erkennen bezogen ist. Absolut vorausgesetzt und in keiner Weise durch Anderes gesetzt ist allein das Absolute in seiner schieren Absolutheit, welche absolute Reflexion an sich selbst zu erfassen sucht und zwar ohne dass sie vorausgehende Setzungen in Ansatz bringt. „Daß die absolute Reflexion voraussetzungslos sein muß, sagt, daß es für sie gleichgültig sein muß, wovon sie ausgeht, und daß diese Gleichgültigkeit in ihren Ausgang mit hineingenommen werden muß. Sie enthält sich also jeder besonderen Qualifikation und jeden besonderen Unterschiedes. Ja, sie enthält sich dessen, von Unterschied überhaupt auszugehen. Sie weiß nicht, ob Unterschied überhaupt sein muß. Sie weiß freilich auch nicht, ob Unterschiedslosigkeit sein kann. So wird sie also damit anfangen, das Unterschiedslose durchzudenken.“ (204 f.) Im Durchdenken des schlechthin Unterschiedslosen, das als Negation von jeglichem Unterschied nichts als Nichts ist, nimmt die absolute Reflexion ihren Ausgang, um zu der Einsicht zu gelangen, dass das nihil pure negativum schlechthinniger Unterschiedslosigkeit Nonsens ist und an sich selbst zugrunde geht, woraus erhellt: „Unterschied muß sein.“ (209) Damit ist der Ursprungssatz absoluter Reflexion formuliert, wobei das „muß“ − gleich einem göttlichen dei − besagt, „daß aus absolutem Grunde Unterschied ist oder das absolut Unterschied ist, das Absolute Unterschied ist“ (209).

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Rationale Trinitäts- und Schöpfungslehre

Absoluter Reflexion ist die Aufgabe gestellt, das „Verhältnis der Unterschiedenen im absoluten Unterschied“ (211) zu durchdenken und als Qualitätsdifferenz zu begreifen. Zwischen den Unterschiedenen und ihrem Unterschiedensein hat ein Unterschied statt. „Das Unterschiedensein ist eine Bestimmung, die Unterschiedenen sind die durch die Bestimmung Bestimmten.“ (Ebd.) Die Differenz von Bestimmung und Bestimmten ist wie die von Unterschiedensein und Unterschiedenem absolut notwendig und muss daher in ihrer Absolutheit aus dem Absoluten selbst begriffen werden. Absolute Reflexion begreift sie abgelöst von allem außer dem Absoluten Gegebenen als Art freier Setzung des Absoluten,

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durch welches dieses sich selbst bestimmt, jedoch nicht in einer in die Logizität des Begriffs aufhebbaren Weise. Zwar erfasst Cramer wie Hegel das Absolute und das absolute Verhältnis, in welchem dieses zu sich selbst steht, als „absolute Subjektivität“ (vgl. 215; bei C. gesperrt) und nicht als Substanz im spinozistischen Sinne. Aber anders als Hegel in seiner Lehre vom absoluten Geist und gegen dessen Theorie vom Begriff des Begriffs ist nach Cramer die ursprüngliche Setzung von Differenz, durch welche sich das Absolute in seinem ungesetzten Sein ins Verhältnis setzt zu sich selbst in seiner Absolutheit, nicht abschließend auf den Begriff zu bringen. Die Differenz der Momente von unbestimmtem Sein und selbstbestimmtem Wesen im Absoluten ist begrifflich nicht aufzuheben. Das Sein des Absoluten und der Ursprungsakt seiner Selbstsetzung ist unvordenklich und in seiner Unvordenklichkeit als unsetzbarer Grund allen Begreifens zu erkennen bzw. anzuerkennen. Cramer selbst hat wiederholt auf die Nähe seiner − absolute Unbegreiflichkeit in sich bergenden − Theorie des Absoluten zu derjenigen hingewiesen, die Fichte in seinen späten Wissenschaftslehren entwickelt hat. In diesen sei der anfängliche Ichphilosoph in der Konsequenz seines ursprünglichen Beginnens „der Philosoph des Absoluten geworden, der der Sache näher gekommen ist als je Hegel. Was Fichte geleistet hat, ist wohl heute noch unerschlossen oder unverstanden. In den späteren Fassungen (sc. seiner Wissenschaftslehre) hat Fichte eindeutig das unaufhebbare Moment des Seins im absoluten Verhältnis erkannt.“ (221) Ähnliches ließe sich im Blick auf den späten Schelling sagen. Wie auch immer: Mit dem späten Fichte und gegen Hegel insistiert Cramer auf der Unaufhebbarkeit des Seinsmoments im absoluten Verhältnis und auf der begrifflichen Irreduzibilität der Differenz zwischen der unbestimmten und unsetzbaren, weil absolut vorauszusetzenden Setzungsmacht des Absoluten und seiner selbstgesetzten Bestimmung, das seinem Begriff entsprechende Absolute zu sein. Das Absolute ist in seinem ungesetzten Sein absolute Voraussetzung seiner selbst und bestimmt sich in einem unvordenklichen Akt der Selbstbestimmung dazu, in differenzierter Einigkeit von Grund und Gegründetem absolut und in seiner Absolutheit sich selbst präsent zu sein. Damit ist, wenn man so will, das Binnenverhältnis der Gottheit Gottes entwickelt, aus dem heraus nach Cramer allererst begreiflich wird, wie sich das Absolute zum Kontingenten zu entäußern vermag. Das Problem bildet ein Zentralthema Cramer’schen Denkens von Anbeginn. Von Anfang an klar war auch, wie die Entäußerung des Absoluten zum Kontingenten hin nicht zu denken sei, nämlich weder nach theistischer noch nach pantheistischer Manier. „Der Pantheismus negiert die Bestimmbarkeit und behauptet die perfekte Bestimmtheit. Er muß das Bestimmen als notwendig denken und, da er über das Endliche Auskunft geben muß, muß ihm die durch das Bestimmen am Orte des Seins erfolgte Differenzierung ein Differenzieren zum Endlichen sein. Er lehrt also, daß aus dem Absoluten das Endliche

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schlechthin notwendig sei, und zwar das Endliche, das existiert. Soweit nun aus Endlichem auch Endliches entsteht, muß er auch dieses Entstehen als mit dem Absoluten schlechthin notwendig denken.“ (231 f.) Infolgedessen negiert der Pantheismus jedwede Form der Freiheit bzw. setzt sie unmittelbar mit absoluter Notwendigkeit gleich. Der Theismus verfährt gegenläufig, um konsequent verfolgt in einer Theorie der potentia absoluta im Sinne absoluten Beliebens zu enden. Er „faßt die Bestimmbarkeit prinzipiell als einen offenen Raum und denkt sie als prinzipiell durch Bestimmung unerschöpfbar. Er denkt daher das Bestimmen der Bestimmbarkeit als ein nur mögliches, als ein Bestimmen aus Freiheit. Er denkt im Absoluten einen möglichen, aber keineswegs notwendigen Akt, den er in Analogie zu uns als einen Akt des Willens faßt.“ (233) Als durch keine Notwendigkeit gebunden nimmt der Wille den Charakter arbiträrer Willkür an. Cramers Theorie des Absoluten und Kontingenten ist darauf angelegt, den Gegensatz von Theismus und Pantheismus zu transzendieren. Das Absolute ist als Grund kontingenten Seins zu denken und zwar so, dass dessen Kontingenz weder in absolute Notwendigkeit aufgelöst noch mit schierem Zufall gleichgesetzt wird. Das Absolute ist zwar Grund von allem, was es in seiner Absolutheit nicht an und für sich selbst ist; aber es ist so absoluter Grund des Nichtabsoluten, dass es dessen relative Selbstständigkeit begründet und das Begründete in eine ihm eigene Freiheit entlässt, deren rechter Begriff derjenige der vermittelten im Unterschied zur unmittelbaren Selbstbestimmung ist, die als grundverkehrter Modus von Freiheit, theologisch gesagt: als peccatum originale beurteilt wird. Wie Cramer die Momente seiner Theorie der Entäußerung und des Außersich-Seins des Absoluten jenseits von Theismus und Pantheismus entwickelt, ist im Einzelnen dem Abschnitt B V seines Nachlasswerkes zur absoluten Reflexion zu entnehmen. „Das Endliche muß aus dem Absoluten sein, da es widersinnig ist, daß außer dem Absoluten noch das Endliche ist“ (233 f.); doch das Endliche muss dergestalt aus dem Unendlichen sein, dass seine Kontingenz und Individuierung verständlich und begreifbar wird. Als das Andere des Unendlichen und Absoluten ist das Endliche und Kontingente Cramer zufolge nicht lediglich dessen Moment, sofern ihm Selbstständigkeit eignet. Relativ ist diese Eigenständigkeit, sofern das Endliche nicht sein muss. Es ist nicht notwendig, sein Nichtsein ist möglich; es ist als ein vom Absoluten Ermöglichtes und faktisch, wenngleich nicht notwendig Hervorgerufenes. Das Absolute ist von absoluter Notwendigkeit, das Nicht-Absolute zwar möglich, aber nicht nötig. In diesem Zusammenhang weist Cramer selbst auf eine Korrektur seiner ehemaligen Theorie über das Absolute und das Kontingente hin. In dem gleichnamigen Buch, „welches sich noch nicht im Rahmen der absoluten Reflexion hielt“ (234), sei das Singuläre „Basis der Argumentation“ (235), sein Argument „ein argumentum a contingentia“ (ebd.) gewesen: „Es war eine vom Singulären zum

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Absoluten zurückgehende Argumentation. Dieser Mangel ist der Mangel, der aller kosmologischen Argumentation notwendig anhaftet. Aber es war, von diesem Mangel einmal abgesehen, damals nicht gelungen, die Differenz von Moment und Anderem absolut zu begründen. Der Verf. konnte keinen Ort im Absoluten angeben, aus dem irgend das Zeugen des Anderen, wie er sagte, zu begreifen gewesen wäre.“ (Ebd.) Erst später, schreibt Cramer, sei ihm klar geworden, „daß nur Aussicht besteht, das Individuationsproblem zu bewältigen, wenn die Reflexion als absolute durchgeführt wird. Es liegt in der Natur der Sache, daß unser diese Reflexion durchführendes Denken zahllose Irrwege geht und gehen muß, um aus dem erkannten Irrtum heraus weiterzukommen. Die hier in diesem Büchlein vorgelegte absolute Reflexion hat für den Verf. nun das Maß der Klarheit erreicht, das wesentlich zu verbessern ihm kaum mehr möglich sein wird, wenn auch z. B. noch die Entwicklung einer Kategorienlehre wünschenswert wäre. Das Entscheidende aber ist für ihn, daß er nun in der Tat meint, die absolute Reflexion mache die Lösung des Individuationsproblems möglich.“ (Ebd.). Cramer begründet seine Meinung von der Lösbarkeit des Individuationsproblems im Wesentlichen mit der durch absolute Reflexion zu gewinnenden Einsicht, dass dem Absoluten ein Moment der Seinsunbestimmtheit eignet, welches in seiner Unvordenklichkeit durch keinen Begriff vom Absoluten zu beheben, sondern begrifflich zu erkennen und anzuerkennen sei. Wäre „nicht das Unbestimmte am Orte des Eins, wäre aller Weg zum Endlichen abgeschnitten! Und es entbehrte schlechthin allen Sinnes, sich das Absolute als Macht, Können und Freiheit zu denken. Die Vorstellung von Gott als Schöpfer verlangt in ihm das Moment des Unbestimmten. Und wäre das Unbestimmte bzw. die Bestimmbarkeit nicht, dann wäre füglich vom Bestimmten auch nicht zu reden. Es mußte daher im Momente des Unbestimmten der Schlüssel liegen, da sich das Unbestimmte als Moment am Orte des Seins erwiesen hatte, um das Tor, das herausführt zum Endlichen, aufschließen zu können. Genau der Grund des Ungenügens, der unser Denken dazu bestimmt, die Sache als aussichtslos aufzugeben, ist der Weg aus der Aussichtslosigkeit.“ (235 f.) Cramer meint nicht, wie Hegels Logik dies für sich beansprucht, die Gedanken Gottes vor der Schöpfung begreifen zu können. Das „berühmte Wort“ (244) sei „nicht sehr ernst zu nehmen, ist nicht viel mehr als eine Metapher, da das Hegelsche Absolute − wenn überhaupt jemand weiß, was es sein soll − jedenfalls Deus nicht ist“ (ebd.). Gott und als Gott Schöpfer und Erhalter von Selbst und Welt kann das Absolute Hegels nach Cramer deshalb nicht sein, weil es abschließend auf den Begriff zu bringen ist. Nur absolute Reflexion, welche einen Begriff vom Unbegreiflichen habe und die Unvordenklichkeit des Begründungsverhältnisses erkenne, in welchem das Absolute zu sich selbst stehe, könne begreifen, was es mit der traditionellen theologischen Rede von göttlicher creatio ex nihilo und creatio continua auf sich habe. Allein ihr sei es möglich, den

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Zusammenhang zwischen der Freiheit in Deus und unserer Freiheit (vgl. 250 ff.) und das Verhältnis zu erfassen, welches zwischen Zeit und Ewigkeit walte: „Das Zeitliche ist in der Zeit, d.i. die Zeit bedarf des Zeitlichen nicht. Das Zeitliche ist durch Agere in der Zeit. Da das Absolute nicht nur Potenz ist, sondern sich Potenz ist, muß ihm die Zeit eine mögliche zu verzeitlichende sein.“ (255) Mit diesen Worten beschließt Cramer seine Ausführungen zur absoluten Reflexion; wer sie zu deuten vermag, der deute sie. Cramers ursprüngliche Einsicht und die Absolutheitsreflexionen seiner Spätzeit sind nicht ohne weiteres zur Deckung zu bringen. Wie verhält sich „der von der transzendentalen Ontologie eingeschlagene Weg“70 zu dem Ziel, „das Absolute an und aus sich selbst zu denken“ (232)? Hat Cramer „die ontologisch verankerte Transzendentalphilosophie bewusst und strikt in die spekulative Philosophie überführt“ (233)? Falk Wagner bejaht letztere Frage. Allerdings sei Cramers Überführung der transzendentalontologischen Subjektivitätstheorie in eine Theorie des Absoluten durch Retardationen aufgehalten worden. Wiederholt müsse er auf Momente rekurrieren, die sich nicht direkt aus dem Prozess des sich selbst bestimmenden Absoluten bzw. der Reflexion ergäben, die ihn begleitet. Lange gelinge es ihm nicht, die innere Selbstdifferenzierung des Absoluten „als einen in sich homogenen Gedankenduktus zu entwickeln“ (238). Dies sei erst nach Aufhebung seines transzendentalontologischen Beginnens in ein Verfahren absoluter Reflexion ermöglicht worden.71 In seiner im Medium absoluter Reflexion vorgetragenen Theorie des Absoluten reflektiert Cramer Wagner zufolge die für jedes Singuläre konstitutive Beziehung von Bestimmtheit bzw. Bestimmung zum Bestimmbaren bzw. Unbestimmten, um das Absolute als die Einheit von Bestimmung und Unbestimmtem und damit als das Prinzip zu erfassen, „das für jede mögliche Bestimmung immer schon konstitutiv ist“ (243). Das Ergebnis sei eine rational genetisierte trinitarische Theologie, die immanente und ökonomische Trini70 F. Wagner, Theo-logie, 232. Die Theorie des Absoluten und der christliche Gottesgedanke, in: H. Rademacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg (Hg.), a.a.O:, 216–255, hier: 232. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 71 Der entscheidende Mangel von Cramers erster Absolutheitskonzeption, deren Anlage sich bereits in dem Buch „Die Monade“ klar abzeichne, liegt Wagner zufolge darin begründet, „daß sie den Begriff des Absoluten unter der Voraussetzung von Bedingungen einführt, die aus dem Begriff des Absoluten allererst zu begründen wären“ ( J. Stolzenberg, Die Bestimmtheit-selbst. Zu Wolfgang Cramers erster Konzeption des Absoluten in „Die Monade“, in: H. Radermacher/P. Reisinger/J. Stolzenberg [Hg.], a. a. O., 185–215, hier: 205). Dieser Kritik stimmt Jürgen Stolzenberg im Grundsatz zu. Auch wenn er Einzelargumente ihrer Begründung abweist (vgl. a. a. O., 205 f.), konstatiert auch er, Cramers erste Konzeption des Absoluten löse die Forderung nicht ein, die Unabhängigkeit des Absoluten vom Kontingenten bzw. dessen Freisetzung durch das Absolute nicht „aus der internen Verfassung des Begriffs des Absoluten mit Gründen dargetan“ (a. a. O., 206) zu haben. Zur Kritik D. Henrichs an der Bezeichnung des Absoluten als „die Bestimmtheit-selbst“ vgl. a. a. O., 207–209.

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tätslehre absolutheitstheoretisch insofern verbinde, als sie „aus der immanenten Selbstdifferenzierung des Absoluten de(n) Übergang zum existierenden Singulären, zum Anderen außer dem Absoluten zu gewinnen“ (248) suche. Wagners programmatisch mit dem Titel „Theo-logie“ versehene Studie „Die Theorie des Absoluten und der christliche Gottesgedanke“ nimmt in hoch konzentrierter Form Einsicht in Cramers metaphysische Gotteslehre und ihre Entwicklung.72 Im ersten Teil wird „das Cramers Philosophie implizit leitende Verständnis von Theologie“ (219) herausgearbeitet. Dies geschieht anhand der Problematik des kosmologischen Gottesbeweises, weil nach Wagner „Cramers Kritik des kosmologischen Arguments zu der Dimension überleitet, innerhalb deren philosophische Theorie des Absoluten und Theologie als Theo-logie allein angemessen thematisiert werden können“ (ebd.). Das kosmologische Argument ende, wie Cramer zeige, in einer Aporie: Es „zielt auf den grundlosen Grund, aber es ist nicht in der Lage, diesen grundlosen Grund an sich selbst zu bestimmen“ (222). Diese Grundaporie teilt Wagner zufolge das kosmologische Argument mit dem religiösen Bewusstsein, das, um sein Gegebensein zu begründen, ebenfalls auf eine absolute Voraussetzung Bezug nehme, ohne es zu vermögen, das Vorausgesetztsein dieser Voraussetzung voraussetzungslos und unabhängig von sich zur Geltung zu bringen. Das Unbedingte dependiere so vom Bedingten und bleibe von ihm bedingt, ohne in seiner Absolutheit an sich selbst erfasst zu werden. Weder der kosmologische Beweis noch das religiöse Bewusstsein können sich, so Wagner, des Ausgangs beim Bedingten „entschlagen“ (225). Sie verfehlen daher die Absolutheit des Absoluten, die nur durch spekulatives Denken in absoluter Reflexion zu erfassen sei. Ist durch den ersten die Kompatibilität des Ansatzes der Cramer’schen Absolutheitstheorie mit theologischen Vorgehensweisen gewährleistet, so wird im zweiten Teil der Wagner’schen Untersuchung zunächst der Weg von der transzendentalen Ontologie der Subjektivität zur Theorie des Absoluten nachgezeichnet, damit dann das im Medium der absoluten Reflexion gedachte Absolute im Anschluss an Cramer entfaltet werde. Seiner spekulativen Theologie zufolge „soll der grundlose Grund als das bedingte Dasein gründender Grund expliziert werden, ohne daß das bedingte Dasein seiner relativen Selbständigkeit außerhalb des Absoluten verlustig geht“ (ebd.). Das Absolute ist „so zu denken, daß auch der Ausgang beim bedingten Dasein als aus dem Absoluten ausgegangen gerechtfertigt werden kann“ (225 f.). Als grundloser Grund muss das Absolute 72 Wagner beklagt, dass Cramers Theorie des Absoluten ebenso wie seine transzendentale Ontologie der Subjektivität „das Schicksal des Schweigens vonseiten der Theologie zuteil geworden“ (218) sei: „Obwohl Cramer der einzige Philosoph ist, der nach Fichte und Hegel eine spekulative Philosophie des Absoluten nicht bloß philosophiegeschichtlich vermittelt oder vorstellungshaft behauptet, sondern eigenständig gedacht und entwickelt hat, ist er für die gegenwärtige Theologie ein so gut wie unbekannter Autor.“ (Ebd.)

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„zugleich der das relative Anderssein gründende Grund sein, jedoch so, dass das Absolute im Gründen des Andersseins dieses als frei aus sich entlässt. In diesem Versuch, das Absolute als das Gründen dessen zu denken, das außer dem Absoluten als relativ Selbständiges ist, besteht“, so Wagner, „die Größe der spekulativen Philosophie Cramers, die prinzipiell dazu berechtigt, sie ebenbürtig der Philosophie Fichtes und Hegels zur Seite zu stellen.“ (226) Wagner interpretiert „Cramers Theorie des Absoluten als spekulative Erfassung von Begriff und Thema der Trinität“ (231), für die von Anfang an die Doppelaufgabe bestimmend gewesen sei, „das Absolute als Grund von allem und darin zugleich als Grund von selbständig Anderem zu denken“ (ebd.). Bei dem Versuch einer Lösung dieser Aufgabe durchläuft Cramers Denken Wagner zufolge genau jene Entwicklung, die durch den Weg vom kosmologischen zum ontologischen und analog durch den Übergang vom religiösen Bewusstsein und seinem Gottesverständnis zur spekulativen Theologie beschrieben worden sei. Cramer habe immer deutlicher eingesehen, dass der Einsatz bei einer transzendentalen Ontologie der Subjektivität nicht das von ihm intendierte Ziel erreichen könne, „das Absolute an und aus sich selbst zu denken“ (232). Erst nach bewusster Überführung seiner ontologisch verankerten Transzendentalphilosophie in spekulative Philosophie gelinge es ihm, das Absolute in absoluter Reflexion an sich selbst zu erfassen und die Möglichkeit des Kontingenten und namentlich des kontingenten Einzelnen in seiner singulären Subjektivität so aus dem Absoluten zu entwickeln, dass es außer dem Absoluten ist. Cramers Lehre vom in sich differenzierten Absoluten, das externe Differenz und Anderes nicht nur als anderes seiner selbst, sondern als wirklich anderes Anderes freisetzt, relativiert nach Wagner „den Dualismus und die pantheistische Alleinheitslehre gleichermaßen. Sie rettet mit dem Dualismus gegen den Pantheismus die relative Selbständigkeit des Anderen außer dem Absoluten. Aber sie insistiert mit dem Pantheismus gegen den Dualismus darauf, dass das selbständige Andere aus dem Absoluten zu generieren ist.“ (241) Geleistet werde dies durch eine trinitarisch strukturierte Theologie. Cramers trinitarische Theologie verstehe sich als rationale Metaphysik, in welcher „der Gottesgedanke in Aufhebung des Glaubensstandpunktes bzw. der Sicht des religiösen Bewusstseins an sich selbst thematisiert“ (249) werde. Aber seine theologia naturalis vel rationalis sei erkenntlich nicht auf dasjenige ausgerichtet, was die sog. natürliche bzw. rationale Theologie als allgemeine Gotteslehre „De Deo“ ausführe und der Dreieinigkeitslehre im Besonderen zugrunde lege. Lehre von Gott ist bei Cramer durchweg Lehre „De deo triuno“. Cramers wesentliches Anliegen besteht Wagner zufolge darin, „Trinität als einzig vernünftige Theo-logie zu entfalten“ (252) mit der Konsequenz, dass natürliche Theologie und Offenbarungstheologie koinzidieren, weil Offenbarungstheologie allein als natürlich-rationale Trinitätstheologie adäquat gedacht

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werden könne gemäß der Devise: „Nur der trinitarisch differenzierte Gott ist eo ipso der sich selbst offenbarende Gott.“ (250) Bei diesem Satz soll es sich im Sinne Cramers ausdrücklich nicht um ein auf biblische, kirchliche oder sonstige Autorität angewiesene bzw. auf ein außerordentliches Erschließungsgeschehen zurückzuführende und dogmatisch zu formulierende Glaubensaussage handeln, sondern um einen „allgemeingültigen und notwendigen Vernunftsachverhalt“ (253). Cramers Trinitätstheologie ist spekulative Absolutheitstheorie und rationale Metaphysik.73

8.

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Die 2012 von Wolfgang Cramers Sohn Konrad unter dem Titel „Die absolute Reflexion“ edierten Nachlassschriften sind in zwei Textgruppen geordnet: Die zweite Gruppe enthält Texte zum Titelthema und zum Thema der sog. natürlichen Theologie, in der ersten sind unter der Überschrift „Das transzendentale Subjekt“ unveröffentlichte Beiträge zu Transzendentalität und Transzendenz, zur Monadologie sowie zum Schritt vom Transzendentalen zur Spekulation, vom endlichen zum absoluten Geist gesammelt. In Bemerkungen des Herausgebers, die seiner Edition vorangestellt sind, wird die Vermutung geäußert, dass W. Cramers Idee einer Philosophie des Absoluten, die schließlich die Gestalt der „absoluten Reflexion“ angenommen habe, von vorne herein Hand in Hand gegangen sei mit der „Ausarbeitung der Grundlegung einer Theorie des Geistes als einer Ontologie der konkreten singulären Subjektivität. Bereits ein von Cramer nie veröffentlichtes fertiges Druckmanuskript von 1941 mit dem Titel ‚Das Totale, die Monade, das Absolute‘ weist in seinem Inhalt auf einen systematischen Zusammenhang zweier Theorie-

73 Wagners eigenes subjektivitätstheoretisches Religionsverständnis ist auf das Problem der Begründung des Ich als der Möglichkeitsbedingung aller Selbst- und Weltwahrnehmung konzentriert. Das religiöse Bewusstsein teilt mit dem humanen Freiheitsbewusstsein die aporetische Struktur, sich als gegeben vorauszusetzen, ohne sich aus sich selbst heraus begründen zu können (vgl. K. Mette, Selbstbestimmung und Abhängigkeit, Studien zu Genese, Gehalt und Systematik der bewusstseins- und kulturtheoretischen Dimensionen von Falk Wagners Religionstheorie im Frühwerk, Tübingen 2013, 156 ff., bes. 169 f.). Aufgelöst werden kann diese Aporie und damit das grundlegende Problem der Religionstheorie nach Urteil des frühen Wagner nur durch eine theologische Theorie des Absoluten. Ohne eine solche MetaTheorie, wie insbesondere Hegel sie zu leisten versucht habe, könne Religion keinen vernünftigen Bestand haben und verfalle zu Recht der modernen Religionskritik. Der frühe Wagner teilt die Forderung Hegels einer zu leistenden Aufhebung der religiösen Vorstellung in den Begriff. Nur durch sie könnten die Gehalte der Religion vernünftig erschlossen und davor bewahrt werden, zu austauschbaren Konsumgütern einer auf geldbestimmte Totalvermittlung abgestellten Kultur zu depravieren (vgl. a. a. O., 171 ff., bes. 222 ff.; zur Wandlung der Theoriekonzeption in Wagners späteren Jahren vgl. 240 ff.).

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bereiche: des einer Philosophie des endlichen und vereinzelten Subjekts und des der Begründung seines Ursprungs im Absoluten.“74 In den publizierten Werken tritt der im Vorwort zu den Nachlassschriften apostrophierte Zusammenhang offen zutage: Die transzendentale Ontologie singulärer Subjektivität als einer monadologischen Theorie des endlichen Geistes bedarf der Grundlegung durch eine Theorie des Absoluten, die ihrerseits so angelegt sein muss, dass endliches, zeitliches, kontingentes Sein aus dem absoluten Sein heraus begriffen werden kann. In dem letzten von ihm selbst in den Druck gegebenen Text, dem Artikel „Das Absolute“ im ersten Band des „Handbuch(s) philosophischer Grundbegriffe“ hat Cramer den Zusammenhang zwischen Theorie des endlichen und absoluten Geistes eigens unterstrichen: „Soll untersucht werden, ob das mit dem Worte ‚das Absolute‘ Gemeinte ein sachliches Fundament hat, kann allein vom Endlichen ausgegangen werden.“75 Das Denken hat sich vom endlichen zum absoluten Geist zu erheben und vom Transzendentalen zum Spekulativen fortzuschreiten.76 Umgekehrt kann der endliche Geist zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst nur vom absoluten Geist und von der Einsicht her gelangen, dass dieser die sich selbst voraussetzende Voraussetzung und Bedingung aller Möglichkeiten darstellt. Cramers transzendentale Ontologie der Subjektivität und seine Theorie des Absoluten lassen sich daher zwar unterscheiden, nicht aber trennen. Cramer wollte eine neue Metaphysik begründen und zwar im Kontext seiner transzendental-ontologischen Theorie singulärer Subjektivität. „Ist die Seinsverfaßtheit des an-sich-wirklichen Subjekts einmal ermittelt und daraus dessen Transzendieren sowohl erklärt als auch legitimiert, dann kann auf dem Wege über eine ‚Ontologie‘ des denkenden (erlebenden) Subjekts eine ‚neue‘ Metaphysik erstellt werden. Eine derartige Metaphysik könnte sich auf gesicherte Transzendenzgedanken über die An-sich-Bestimmtheit von Subjektivität stützen und, wie Cramer meint, von diesen Gedanken aus letztlich zu einer ‚absoluten Reflexion‘ vorstoßen.“77 Initiiert wurde der Vorstoß durch den monadologischen Versuch einer „Überbrückung des unüberwindlich erscheinenden Gegensatzes von Transzendentalphilosophie und Ontologie im zeitgenössischen Denken“78. Um reale Einheit in der 74 W. Cramer, Die absolute Reflexion, 10 (Vorbemerkungen des Herausgebers). 75 Ders., Art. Das Absolute, in: H. Krings/H. M. Baumgartner/Chr. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, 1–20, hier: 2. 76 Vgl. W. Cramer, Die absolute Reflexion, 109 ff.: Vom endlichen Geist zum absoluten Geist, bes. 158 ff. 77 I. Craemer-Ruegenberg, Voraussetzungen zu einer „Ontologie der Subjektivität“. Einige kritische Überlegungen, in: H. Radermacher/P. Reisinger (Hg.), a. a. O., 11–33, hier: 12. Zur Frage, warum nach Urteil von Craemer-Ruegenberg Cramers Überwindung des „transzendentalen Idealismus“ nicht geglückt sei, vgl. a. a. O., 31 ff. 78 W. Ritzel, Rez. W. Cramer, Die Monade etc., in: Philosophischer Literaturanzeiger, 10 (1957), 206–215, hier: 214.

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Mannigfaltigkeit des Seienden stiften zu können, muss das Ich nach Cramer sich wissendes Bewusstsein von nicht durch es selbst gestifteter, sondern an sich seiender Einheit sein. Der transzendentalphilosophische ist entsprechend in einen transzendentalontologischen Ansatz zu transformieren, welcher der konkreten Subjektivität transzendentalen Rang zuerkennt und das singuläre Ich „gleichzeitig als Prinzip und Tatsache“79 behandelt. „Diese konkrete und ontologische Fassung der Subjektivität bedeutet einen tiefen Einschnitt in den Entfaltungsgang der Transzendentalphilosophie; sie eröffnet neue Möglichkeiten, gibt auch manch älterer, lang unterbrochener Tradition wieder Chance und Raum, stellt aber auch vor eine ganze Reihe neuer Schwierigkeiten, für die so leicht ganz befriedigende Lösungen nicht abzusehen sind.“80 In seiner Studie zu W. Cramers Philosophie des Absoluten „Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?“ hat Hans Wagner eine ganze Reihe solcher Schwierigkeiten benannt und dargelegt, aus welchen Gründen seine Philosophie „an einigen Stellen nicht die Cramer’schen Wege zu gehen wagt“81. Wagner begrüßt Cramers Bestreben, „die Themata der alten Metaphysik, der Metaphysik transzendenter Gegenstände und Gegenstandsverhältnisse“ (295) erneut aufzugreifen. Schon die Unternehmung als solche sei aufregend genug; gelinge sie gar, dann verblasse „neben Cramers Tat alles, was das Zeitalter bisher sonst an philosophischen Taten gesehen haben mag; denn diese Tat bringt dann, was am meisten uns fehlt: die Versöhnung der metaphysischen Vernunft mit der kritischen; und ein Berg von Büchern, deren Inhalt die metaphysische Vernunft eingeschüchtert hat, wird dann zur Makulatur.“ (290 f.) Die alles entscheidende Frage lautet: „Ist also Cramer, indem er die Lehre von transzendenten Gegenständen erneuert, daran, uns Wissen oder aber Blendwerk zu geben?“ (292) Habe Kant recht, dann treffe letzteres zu, denn nach seiner Vernunftkritik könne es eine Metaphysik von transzendenten Gegenständen (Gott, Seele, Welt) nicht geben, da die Gegenstände Leistungen der reinen (theoretischen) Vernunft „transzendental, keineswegs aber transzendent“ (ebd.) seien. Kritische Metaphysik könne Kant zufolge sonach nur „von Geltungsverhältnissen und transzendentalen Geltungsgründen“ (293), nicht aber „von überempirischen Seinsverhältnissen und überempirischen Seinsgründen“ (ebd.) handeln. Ist Cramer ein vorkritischer Philosoph? Nein, sagt H. Wagner, das ist er nicht: „Weder ignoriert er Kants Kritik der transzendent gebrauchten Vernunft noch fällt er gar hinter die kritische Fragestellung zurück – und doch versucht er eine 79 H. Wagner, Rez. W. Cramer, Die Monade etc., in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift 48 (1956/57), 559–565, hier: 564. 80 Ebd. 81 H. Wagner, Ist Metaphysik des Transzendenten möglich? (Zu W. Cramers Philosophie des Absoluten), in: D. Henrich/H. Wagner, Subjektivität und Metaphysik, 290–326, hier: 308. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Doktrin des Transzendenten.“ (290) Haben das nicht auch schon die führenden Philosophen des Deutschen Idealismus auf eine Weise versucht, die konstruktiv über Kant hinausgeführt habe und dennoch nicht hinter seine Vernunftkritik zurückgefallen sei? Cramer sieht sich Wagner zufolge außerstande, diese Frage zu bejahen: „Nur wer über dem, was Fichte (Schelling) und Hegel sagen, nicht mehr sieht, was auch sie tun, kann übersehen, daß deren Metaphysikbegriff prinzipiell kantisch bleibt (der Unterschied an Tiefe und Weite ist ja keine Differenz im Prinzipiellen). Wenn sich die Metaphysik des deutschen Idealismus in Hegel vollendet, dann ist sie Wissen um die im Wissen selbst liegenden absoluten Gründe des Wissens, Wissen um die Absolutheit des Wissens – und Wissen um die im Subjekt selbst liegenden absoluten Gründe des Subjekts (in seiner Totalität und hinsichtlich aller seiner Bezüge, zu Welt, Natur, Kunst usw.), Wissen des Subjekts um die Absolutheit seiner selbst; und so ist sie absolutes Wissen und Wissen des Absoluten. Aber das Absolute, dessen Wissen sie ist, ist nicht ein Gegenstand und nicht ein Gegenstandsfeld, das den Charakter eines absoluten Seienden hätte, welches sich eben deswegen, weil es diesen Charakter hat, der Erfahrung durch das Subjekt entzöge, gleichwohl aber so oder so seiner transzendenten Gegenständlichkeit zum Trotz vom nämlichen Subjekt erkannt werden könnte.“ (293 f.) Nach H. Wagner wird Cramers Denken verkannt, wenn man es im Hegel’schen Sinne deutet. Anders als im Falle Cramers sei bei Hegel das Absolute niemals identisch mit dem, „was in Offenbarungs- oder auch in natürlicher Theologie als Gott gedacht“ (294 Anm. 1) werde: „Metaphysik, das ist ihm vielmehr ‚der mit seinem reinen Wesen sich beschäftigende Geist‘; der Gegenstand der Metaphysik, das ist ihm nicht ein unserem Geiste in Transzendenz gegenüberstehendes Seiendes, sondern eben der Geist selbst in seinem reinen Wesen, welches Unendlichkeit und Unbedingtheit ist. Wenn Metaphysik hier sowohl absolutes Wissen wie Wissen des Absoluten ist, so ist sie das absolute Wissen des Geistes von sich selbst als dem Absoluten; das Absolute, dessen Wissen der Geist ist, fällt nicht außer ihn selbst.“ (294) Wie Fichtes und Schellings Begriff der Metaphysik bleibe auch derjenige der Logik und Geistphilosophie Hegels prinzipiell kantisch und gedanklich von der Annahme der Unmöglichkeit einer Metaphysik der Transzendenz bestimmt. Cramer hingegen wolle „gerade über eine veränderte transzendentale Metaphysik zu einer Metaphysik des Transzendenten kommen“ (295). Wie soll das zugehen? Antwort: „Cramer sucht sein Vorhaben durchzuführen, indem er sich in einem durch ihn modifizierten ‚transzendentalen Idealismus‘ einen kritischen, aber desto brauchbareren Ausgangspunkt schafft, um dann mittels eines Fortgangs zu einem ‚absoluten Idealismus‘ eigener Prägung, schließlich zu seiner Metaphysik des Transzendenten zu kommen.“ (296) Hans Wagner ist seinen eigenen Angaben zufolge im Grundsatz bereit, Cramer auf dem eingeschlagenen Weg philosophisch zu folgen; denn dieser Weg ist

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prinzipiell sein eigener, wie sein 1959 erschienenes, von Cramer rezensiertes Hauptwerk „Philosophie und Reflexion“ belegt.82 Gleichwohl ergeben sich schon in Bezug auf den Ausgangspunkt Cramer’schen Philosophierens Anfragen. Als Ausgangspunkt, „der verläßlich sein und so auch dem Weg und schließlich dem Ziel sichere Gültigkeit verleihen soll“ (310), fungiert bei Cramer der „‚natürliche Ich-Gedanke‘“ (ebd.) als „Inhalt einer wiederum als natürlich bezeichneten Reflexion“ (ebd.), die „ihrerseits – als Erstes überhaupt – aller philosophischen Reflexion als deren unerlässliche Bedingung“ (ebd.) vorausgehe. Warum wählt Cramer diesen Ausgang? Nach Wagner vor allem deshalb, weil das Ich, welches die natürliche Reflexion im Ich-Gedanken denkt, zweifelsfrei nicht bloßer Gedanke, sondern denktranszendente Realität ist. Das im Ich-Gedanken der natürlichen Reflexion gedachte Ich ist und zwar auf nicht falsifizierbare Weise. Mit ihm ist ein Ist-Anspruch unmittelbar verbunden. Wolle man den IstAnspruch sonstiger Gedanken rechtfertigen, so müsse dies im Ausgang von dem im Ich-Gedanken evidentermaßen mitgesetzten Ist-Gedanken geschehen. Denn nur so könne der Ist-Anspruch der Gedanken, die vom Ich gedachte Gedanken sind, legitimiert werden. Mit Wagners Worten: „Vom Ich-Gedanken und von ihm allein aus muß also die Legitimierung des Ist-Anspruchs aller übrigen Gedanken versucht werden, und der Ausgang vom Ich-Gedanken hat genau diesen Zweck, den Fortgang zu solcher Legitimation zu ermöglichen. Die für alle Gedanken gesuchte Legitimation nun ist eben diese Legitimation ihres Ist-Anspruchs, d. h. der Nachweis, daß in ihnen wirklich anderes Seiendes, und zwar in seinem Ansichsein und in seiner Ansichbestimtheit gedacht wird, oder auch: daß in ihnen wirklich Bewußtseinstranszendentes, und zwar in seinem bewußtseinstranszendenten Sein und seiner bewußtseinstranszendenten Bestimmtheit gedacht und erkannt wird.“ (311) Ist der Ansatz beim natürlichen Ich-Gedanken zielführend? Vermag er den Begründungsgang zu initiieren, der zu einer Ontologie und absolutheitstheoretischen Metaphysik führt? Wagner äußert Bedenken: Durch den natürlichen IchGedanken werde das Ich nur des Seins seiner selbst auf zweifelsfreie Weise 82 H. Wagner, Philosophie und Reflexion, München/Basel 1959 (Drittauflage 1980). Vgl. die umfangreiche Rezension dieses Buches durch Cramer in: Philosophische Rundschau 11 (1963), 68– 90. Cramer weiß sich mit Wagner, wie er selbst ein Schüler Richard Hönigswalds, in dem Anliegen einig, „einen Gegensatz zu vermitteln, der seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Transzendentalphilosophie das philosophische Denken in Bewegung gehalten hat, den Gegensatz von transzendentalem und faktischem Subjekt. Ein Subjekt ist Prinzip, sofern es gültige Gedanken denkt und um Geltungsdifferenz weiß, zugleich ist es einzelnes oder faktisches Subjekt. Wagner legt eine Theorie der Subjektivät vor, die aus dem das ganze Buch beherrschenden Motiv der Geltung entworfen ist. Das Grundthema ist die Einheit von Prinzip und Faktum und die Entfaltung dieser Einheit in ihre Momente.“ (A. a. O., 68) Differenzen zwischen Wagner und Cramer ergeben sich in der Durchführung dieses programmatischen Grundthemas. Vgl. K.W. Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie, 139 ff.; 209 ff.

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versichert und zwar als eines bestimmten Einzelnen. Der Gedanke, welchen der natürliche Ich-Gedanke denkt, wenn er Ich denkt, ist derjenige eines singulären Ich, das ich selbst bin. Ist er als konkreter Ich-Gedanke geeignet und fähig, allgemeine Ist-Ansprüche zu rechtfertigen? Eine entsprechende Anfrage hatte bereits Dieter Henrich in seiner Studie „Über System und Methode von Cramers deduktiver Monadologie“ vorgetragen und mit der Forderung verbunden, die transzendentalontologische Theorie der Subjektivität als ontologia specialis zu einer allgemeinen Ontologie und Kategorienlehre zu erweitern. Ist Cramer dieser Erweiterung gelungen? Nach Urteil H. Wagners eignet dem IchGedanken als Gedanke des konkreten Ich von sich selbst zwar unmittelbare Gewissheit; er trage aber „keinerlei Fähigkeit in sich, allen sonstigen – durch wen auch immer denkbaren – Gedanken ihren Ist-Anspruch zu sichern; seine transzendentale Leistungsfähigkeit ist notwendig so partikulär wie er selbst.“ (312) Zwar sei anzunehmen, dass ohne den natürlichen Ich-Gedanken „selbst eine ganz vorläufige Bestimmung der Grundglieder des Erkenntnisverhältnisses“ (ebd.) nicht möglich sei, aber eine zureichende Begründung für die Gültigkeit und Verlässlichkeit dieser Grundglieder lasse sich aus der natürlichen Ich-Reflexion nicht geben. Das Ich erweist sich Cramer zufolge reflexiv für sich selbst als an-sich-seiend. Aus dem Prinzip, welches die Bestimmtheit-an-sich des Ich konstituiert, können nach ihm Kategorien als Formen prinzipieller Bestimmtheit gefolgert werden, die für alle Entitäten in Anwendung zu bringen sind, um sie als dasjenige Seiende zu bestimmen, welches sie sind. Schließlich sei nach dem Prinzip aller Bestimmtheit überhaupt zu fragen, um zu einer Letztbegründung der Kategorienlehre in einer Theorie des Absoluten zu gelangen. Ist diese Suche Cramers erfolgreich gewesen oder bleibt sein System dem natürlichen Ich-Gedanken derart verhaftet, dass er bis zuletzt nicht oder nur durch einen unvermittelten und nicht vermittelbaren Sprung über ihn hinauskommt? Wagners Einschätzung fällt ambivalent aus. Für seinen Teil jedenfalls gelangt er zu dem eindeutigen Schluss, dass die Philosophie nicht beim einzelnen Ich, nicht einmal beim Subjektgedanken als solchem, sondern beim Denken selbst seinen Ausgang zu nehmen habe. Nach Wagner ist es höchst „bedenklich, mich selbst und den natürlichen Gedanken von mir selbst in dieser Weise an den Anfang zu stellen. Freilich ist es wahr, daß ich gar nicht anfangen und gar keine Schritte tun könnte, wenn ich nicht wäre und mich selbst nicht denken könnte. Aber das ist eine triviale Wahrheit und sie betrifft möglicherweise ganz nur meine private Geschichte. Ob ich oder mein Gedanke von mir selbst an den Anfang der Philosophie gehöre, und, falls ich dahin gehöre, in welcher Weise ich da allein hingehören kann, das muß sich alles erst erweisen.“ (319) Der Anfang, so Wagner, sei in der Philosophie mit dem zu machen, was ihr gesamtes Beginnen zu bestimmen hat: mit dem Denken und dem Bedenken dessen, was es mit der Unbedingtheit des Denkens

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auf sich hat. Nur aus dem Denken des Denkens heraus könne sich schließlich eine Theorie des Absoluten ergeben. Ob unter diesen Voraussetzungen ein Weg an Hegel vorbei oder gar über ihn hinaus führt, wäre zu fragen. Wagner meint diese Frage bejahen zu können und beansprucht für das Resultat seines Philosophierens genau jenen Ausgleich, auf welchen er auch das Cramer’sche angelegt sieht: den „Ausgleich des säkularen Gegensatzes zwischen dem Unendlichkeitsimplikat des spekulativen Idealismus Hegels und dem Endlichkeitsimplikat des kritischen Idealismus Kants“ (320). Zu Beginn des ersten, der Seinslehre gewidmeten Buches seiner Wissenschaft der Logik weist Hegel darauf hin, erst in neuerer Zeit sei das Bewusstsein von der Schwierigkeit entstanden, „einen Anfang in der Philosophie zu finden“83. Nicht minder schwierig scheint es um die Findung eines philosophischen Schlusses bestellt zu sein, was mittlerweile jedem, der vorliegenden Text bis zu dieser Stelle gelesen hat, bewusst geworden sein dürfte. Um zu guter Letzt und ohne den Anspruch, damit zu einem definitiven Ende gelangt zu sein, noch einmal auf den Anfang und mit ihm auf das Gesamtbeginnen der Cramer’schen Philosophie zurückzukommen, dessen Verlauf H. Wagner bündig umschrieben hat: „Der natürliche Ich-Gedanke verbürgt dem diesen Ich-Gedanken denkenden Ich, daß es ist. Es ist darüber hinaus aber auch möglich, eine Theorie dieses Ich aufzubauen; diese Ich-Theorie beantwortet vorzugsweise zwei Hauptfragen: was das Ich ist und wie das Ich sich denken kann. Es ergibt sich: das Ich ist von bestimmter Kategorie, Einzelnes von bestimmter Kategorie, von bestimmter Seinsartung. Die Ich-Theorie ist demnach Ich-Ontologie. Aus der ganz bestimmten Seinsartung, von welcher das Ich ist, erklärt sich und aus ihr allein erklärt sich, warum es Transzendenzbewußtsein und gültiges Transzendenzbewußtsein ist. Darum ist diese Ich-Ontologie gleichzeitig Transzendentalphilosophie (und die Transzendentalphilosophie ist hier Transzendentalontologie, eben als transzendentale Ontologie des Ichs). Auf dieser Ich-Ontologie baut dann schließlich die universale Ontologie auf ( jene ist also insoweit Fundamentalontologie); die universale Ontologie nun ist allgemeine Kategorienlehre; auf ihr wiederum wird sich schließlich die Metaphysik des Absoluten erheben.“ (321) Cramers allgemeine Kategorienlehre ist im Kontext der Theorie endlicher und absoluter Subjektivität nur ansatzweise ausgearbeitet worden. Die universale Ontologie bildet eine Funktion der Ichontologie, und es ist nicht recht erkenntlich, wie Cramer sich die, wenn man so sagen darf, objektive Ordnung des Kosmos denkt. Diese Problemanzeige betrifft zum einen die Naturphilosophie und zum anderen diejenige philosophische Sparte, die bei Hegel die Philosophie des objektiven Geistes genannt wird. Beide Disziplinen sind bei Cramer ver83 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band: Die objektive Logik. Erstes Buch: Die Lehre vom Sein (1882). Zweites Buch: Die Lehre vom Wesen (1813), Hamburg 1999, 53.

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gleichsweise wenig bearbeitet. Die Pole seines Denkens werden durch Egologie und Absolutheitstheorie bestimmt. Cramers Metaphysik steht in einem transzendentalphilosophischen Entdeckungszusammenhang, ohne ihrem Selbstverständnis nach transzendentale Metaphysik zu sein; denn seine Theorie des Absoluten intendiert entschieden eine Metaphysik der Transzendenz: „in ihr steht nicht mehr nur dies zur Frage, worin alle Gedanken von Bestimmtem und von Bestimmtheiten, von Gegenständen und von Gegenstandskategorien ihren letzten und absoluten Grund haben mögen, sondern dies, worin alles Bestimmte selbst (alles Seiende bestimmter Art), alle Bestimmtheit selbst (alle bestimmte Seinsart) und alle Bestimmtheitskategorien (alle Seinsprinzipien) ihren letzten und absoluten Grund haben.“ (323) Man wird nicht leugnen können, dass diese Fragestellung alle theologische Aufmerksamkeit verdient, weil sie selbst von dezidiert theologischer Art ist. Entsprechendes gilt von der Frage des Ich nach sich selbst, die von der wissenschaftlichen Theologie unter anthropologischen und christologischen Gesichtspunkten aufzugreifen ist, was dann möglicherweise noch einmal ein ganz neues Licht auf den egologischen Bezugspunkt von Cramers Philosophie werfen könnte. Wie und wodurch, fragt H. Wagner, bewirkt Cramers Ich-Ontologie metaphysischen Halt und Befestigung im Absoluten? Antwort: „Nur dadurch, daß jenes subjectum, auf welchem als auf dem allein dafür zureichenden Grund die Wahrheit der Ich-Ontologie ruht und ruhen muß, nicht etwa mit jenem Ich identisch ist, welches sich erst in seinem natürlichen Ich-Gedanken selbst gedacht hat und das nun das Untersuchungsobjekt der Ich-Ontologie ist. Denn es ist undenkbar, daß dieses Ich, das da seiner bestimmten Seinsartung nach enthüllt wird, auf Grund dieses seines Seinsbestandes hinreichender Grund dafür sein könnte, daß nun die Enthüllung selbst, diese IchOntologie, die Garantie der Wahrheit mit sich führen könnte – was sie doch gewiß muß: sowohl für sich selbst wie für all das, wofür sie als Fundament benutzt werden wird: für die Allgemeine Kategorienlehre und für die Metaphysik des Absoluten. M.a.W.: Jenes Objekt der Ich-Ontologie, jenes Ich, das Einzelnes von bestimmter Kategorie ist, reicht nicht aus, um als subjectum dieser Ontologie die Wahrheit dieser Ontologie zu gewährleisten. Und so ist denn“, fährt Wagner fort, „auch von Anfang an neben dem natürlichen Ich und dem natürlichen Ich-Gedanken ein ganz anderer Gedanke grundlegend mit im Spiel: der Gedanke eines Subjekts, das mir die Wahrheit über mich selbst allererst ermöglichen muß. Dies, daß dieses subjectum veritatis und ich sicherlich nicht wahrhaft außereinander sein können, erlaubt mir keineswegs, mich für jenes, jenes für mich zu halten oder auch jenes unbedacht und ungenannt zu lassen. Denn, so gewiß jenes Subjekt der Wahrheit und ich nicht außereinander stehen können, so gewiß hat auch keine Koinzidenz oder gar

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Identität statt.“ (321 f.) Man muss kein Jesuit sein, um bei diesen Worten an Jesus Christus zu denken. Cramers Absolutheitstheorie, so wurde gesagt, erschließt trinitätstheologische Bezüge. Entsprechend wäre seine transzendentalontologische Theorie singulärer Subjektivität zur Christologie ins Verhältnis zu setzen. Geschähe dies, dann würde sich, wie mir scheint, der Gesamtzusammenhang seiner auf Subjektivität und Metaphysik konzentrierten Philosophie noch einmal in einem neuen Licht darstellen; Perspektiven würden eröffnet, die in Cramers Denken zwar vorgesehen sind, aber nicht eigentlich in den Blick genommen werden. Zu denken ist an hamartiologische, soteriologische und eschatologische Aspekte, die auch in philosophischer Hinsicht nicht minder bedeutsam sind als protologische. Zu denken wäre ferner an die Problematik von Prinzip und Faktum, Absolutheit und Kontingenz, die im Zentrum Cramer’scher Aufmerksamkeit steht und in Bezug auf die von der Christologie her gefragt werden müsste, ob sie wirklich sola ratione oder nur durch eine Theorie angemessen wahrzunehmen ist, die den Anspruch aufgibt, Religion und das Verhältnis substituieren zu können, in welchem der Glaube zu seinem Grund und Gegenstand steht.

9.

Epilegomena

Historiographie kommt nicht umhin, Epocheneinteilungen und Periodisierungen vorzunehmen, wiewohl diese zumeist mehr über die aktuelle Situation verraten, aus der heraus sie getroffen wurden, als über die geschichtlichen Zusammenhänge, welche sie gliedern. Die Philosophiegeschichtsschreibung macht diesbezüglich keine Ausnahme. Es ist noch nicht allzu lange her, da war „linguistic turn“ in aller Munde. Die sprachphilosophische Wende galt als die vorerst letzte und entscheidende geschichtliche Etappe der Philosophie, durch welche das subjektivitätstheoretisch-bewusstseinsphilosophische Paradigma überboten und aufgehoben worden sei, welches im Laufe der Neuzeit allmählich die antiken und mittelalterlichen Ontologien abgelöst habe, um dann epochalen Einfluss zu nehmen. Subjektivität sollte von nun an aufhören, der Epochenindex der Zeit zu sein, und durch Intersubjektivität und Sprache als fundamentalsten Orientierungsrahmen ersetzt werden. Auch Religionsphilosophie, die etwas auf sich hielt, nahm sprachanalytischen Charakter an, um sich religiösen „Sprachereignissen“ im Sinne etwa performativer Akte oder anderer Verbalhandlungen samt ihren Verschriftlichungsformen zuzuwenden. Alles schien – sage und schreibe, wenn man so will – auf einen Paradigmenwechsel hinauszulaufen. Sieht man genauer zu, dann fällt es allerdings nicht ganz leicht zu erklären, worum es sich bei der sog. analytischen Religionsphilosophie eigentlich handelt.

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Im Artikel „Analytic Philosophy of Religion“ im „Oxford Handbook of Philosophy of Religion“84 werden im Sinne historischer Typisierung drei Phasen mit jeweils spezifischer Orientierung unterschieden. In einer ersten, bis etwa 1965 reichenden Phase habe man sich „fast ausschließlich mit der religiösen Sprache, insbesondere mit deren kognitiven Sinn“ (19) befasst. Als philosophischer Gewährsmann habe eher der frühe als der späte Wittgenstein fungiert, sofern der späte nicht mehr frage, „was eine Äußerung wahr machen würde, sondern unter welchen Umständen es angemessen wäre, etwas zu sagen“ (25). Leitend für die Anfangsphase analytischer Philosophie sei demgegenüber immer die Frage gewesen, wann und unter welchen Bedingungen etwas der Fall und ein religiöser Satz objektiv wahr bzw. sachadäquat sei. Das Interesse an der als Sachadäquanz vestandenen Wahrheit religiöser Sätze, deren Objektivität analytische Religionsphilosophie zu prüfen beabsichtigt habe, mache ihre „Wende zum metaphysischen Realismus“ (ebd.) verständlich, wie sie sich in der zweiten Phase seit den 1980er Jahren vollzogen habe. Seither lasse sich die analytische Religionsphilosophie primär als „Philosophie des Theismus“ (19; vgl. 26 ff.) verstehen, wie sie je auf ihre Weise etwa von Alvin Plantinga, Richard Swinburne oder William Lane Craig vertreten werde. Bevorzugte Themen seien das Problem der Existenz Gottes bzw. dasjenige der Beweisbarkeit seines Daseins, sodann die Frage nach dem Sinn von Aussagen, welche die göttlichen Eigenschaften und Wesensattribute beträfen, sowie die Theodiozeethematik als traditioneller Stein des Anstoßes theistischer Theologie.85 Eine dritte, gegenwärtig im Gang befindliche Phase analytischer Religionsphilosophie bezeichnet der einschlägige Artikel im Oxfordhandbuch für Religionsphilosophie als Phase der „Diversifikation“ (19), in der u. a. auch Wittgensteins Spätwerk gebührende Berücksichtigung finde. Trotz sich mehrender Unterschiede zwischen den einzelnen Ansätzen und vielfältiger neuer Herausforderungen (vgl. 37 ff.) bleibe die „Analytic Philosophy of Religion“ eine religionsphilosophische Klasse für sich mit eigentümlicher Gesamtsignatur (vgl. 44 ff.). Unmittelbar ins Auge falle ihr dezidiert angelsächsischer Charakter sowie die Distanz insbesondere den subjektivitätstheoretischen Ansätzen der nachkantischen Kontinentalphilosophie gegenüber. Das Erkenntnisideal der 84 W. Hasker, Analytic Philosophy of Religion, in: W. Wainwright (Ed.), Oxford Handbook of Philosophy of Religion, Oxford 2005, 421–446. Die deutsche Version des Beitrags findet sich in: B. Irlenborn/A. Koritensky (Hg.), Analytische Religionsphilosophie. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2013. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich zunächst auf den deutschsprachigen Artikel von W. Hasker, dann auf den Gesamtband. 85 Die genannten Problemfelder stehen auch in dem von Irlenborn und Koritensky herausgegebenen Sammelband im Zentrum des Interesses: Die Attribute Gottes werden exemplarisch anhand zweier Beiträge zu Allmacht und Allwissenheit verhandelt; zur Frage der Existenz Gottes werden in vier Texten ontologische, kosmologische, teleologische und moralische Argumente erwogen, zum Problem des Übels sind drei exemplarische Aufsätze beigegeben.

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analytischen Religionsphilosophen sei primär an den Naturwissenschaften, an mathematischer und technischer Exaktheit sowie an formaler Logik orientiert und auf eine wenn nicht subjektlose, so doch subjektunabhängige Objektivität ausgerichtet. Dies unterstreichen auch die Herausgeber des anmerkungsweise erwähnten deutschsprachigen Sammelbandes zum Thema. Sie sprechen von einer „robusten Objektivierung des Gottesbegriffs“ (10) und führen den metaphysischen Theismus analytischer Religionsphilosophie hierfür ebenso als Beleg an wie das Bemühen um Anschluss an naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle der Welt, die zu den „besten uns zur Verfügung stehenden“ (11) erklärt werden. Eine Tendenz zu einer buchstäblichen Interpretation traditioneller Glaubensaussagen sei unverkennbar. Man neige dazu, religiöse Aussagen wörtlich zu nehmen. Wolle man nicht von einem blanken Realismus sprechen, so sei doch ein dezidierter Anti-Antirealismus zu attestieren, der sich in einer besonderen Vorliebe für vorkantische Philosophiekonzepte sowohl rationalistischer (etwa Leibniz) oder empirischer (etwa Locke) Provenienz niederschlage. So werde eine Tradition hochgehalten und mit Innovationspotenzialen versehen, „die aus kontinentaler Perspektive oft nur als Vorläufer für den kantischen Kritizismus wahrgenommen werde“ (13).86 Auch Wolfgang Cramer hält vorkantische Philosophietraditionen namentlich Leibniz’scher Provenienz hoch, ohne deshalb einen an Kant geschulten subjektivitätstheoretischen Ansatz seiner Religionsphilosophie preiszugeben. Seine auf Transzendenz und eine absolute Reflexion des Absoluten ausgerichtete Transzendentalontologie singulärer Subjektivität lässt sich daher als eine interessante Vermittlungsgestalt zweier vermeintlich konträrer Theoriekonzepte werten. Im Zuge des sog. linguistic turn ist häufig behauptet worden, erst durch die analytische Philosophie sei mit dem Verstehen von Sprache ein angemessenes Verständnis von Intersubjektivität und kommunikativem Handeln erreicht worden, das Subjektivitätstheoretikern und Bewusstseinsphilosophen von Descartes bis Husserl mehr oder minder verschlossen geblieben sei. Gegen diese Sicht ist von 86 Sage mir, wie du es mit Kant hältst, und ich sage dir, welches Verhältnis du zur analytischen Philosophie im Allgemeinen und ihrer Religionsphilosophie im Besonderen hast! Die Haltung zum Königsberger Weltweisen und seinem Denken ist für die Beurteilung der analytischen Philosophie von entscheidender Bedeutung ist. Mit „einige(n) parolenhafte(n) Hinweise(n) auf Kant, ohne jegliche Kenntnisse der Einwände gegen den Kantianismus durch die neuere analytische Philosophie“ (47), ist es dabei gewiss nicht getan; mit dieser Einschätzung hat William Hasker zweifellos Recht. Man darf allerdings auch nicht übersehen, dass die Kantkritik analytischer Philosophen ihrerseits nicht selten recht parolenhaft ausfällt. Ein signifikantes Beispiel hierfür gibt in dem von Irlenborn und Koritensky edierten Band der berühmte Oxford-Philosoph für christliche Religion, Richard Swinburne, der aufgrund einer sehr oberflächlichen Interpretation der „Kritik der reinen Vernunft“ zu dem Schluss kommt: „Die kantische Doktrin über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis war ein großer Fehler. Die analytische Philosophie hat sich im Gegensatz zur kontinentalen Philosophie von dieser Doktrin befreit.“ (57)

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Wolfgang Cramer und anderen geltend gemacht worden, dass der Sinn der Rede von Intersubjektivität mit der Möglichkeit stehe und falle, den Ausdruck Subjektivität sinnvoll zu gebrauchen, was ohne egologische Selbstwahrnehmung nicht möglich sei.87 Denn was Subjektivität und mithin auch Intersubjektivität sei, lasse sich nicht nach Art von äußeren Bewusstseinsgegenständen beschreiben. Der entwickelte Begriff von Subjektivität setzt nicht nur ein Innesein der Innen-Außen-Differenz voraus, wie es allen fühlenden Wesen gemein ist, sondern ein sich wissendes Bewusstsein. Ohne ein Wissen, das um sich selbst weiß und ohne sich wissendes Selbstbewusstsein lässt sich weder begreifen, was es mit Subjektivität, noch, was es mit Intersubjektivität auf sich hat. Diese Erkenntnis hat sich mittlerweile auch in weiten Teilen der analytischen Philosophie durchgesetzt, die seit geraumer Zeit konstruktiven Anschluss an Theoriebildungen der traditionellen Subjektivitäts- und Bewusstseinsphilosophie sucht. Dies belegen eine Vielzahl analytischer Theorien über Selbstbewusstsein und Subjektivität namentlich in der angelsächsischen Philosophie der letzten Jahrzehnte. Wer „Ich“ sagt, ist nicht nur und hat auch nicht nur ein Bewusstsein, sondern hat und ist ein Bewusstsein seiner selbst, welches Selbstbewusstsein er auch allen jenen zuerkennen wird, mit denen er tatsächlich oder potentiell in intersubjektiver Beziehung steht. Selbstbewusstsein ist als ein allgemeines Kennzeichen von Ichwesen anzunehmen, obwohl es stets nur von jenem Ich aus, das ich selbst bin, als dasjenige erkannt werden kann, was es ist. Selbsterkenntnis ist in allen Formen intersubjektiver Anerkenntnis konstitutiv mitgesetzt. Damit ist nicht gesagt, dass Selbstbewusstsein als Wissen des Ich um sich selbst erst aus einem Erkenntnisakt hervorgeht. Setzt doch jeder solcher Akt schon Selbstbewusstsein voraus, das sich nicht erst infolge expliziter Reflexion ergibt. Selbstbewusstsein ist nicht das Ergebnis einer reflexen Beziehung des Ich auf sich selbst. Ebenso wenig kann es aus einer Relation zu anderem abgeleitet werden und sei dieses andere ein anderes Ichsubjekt. Das Ich hat das Bewusstsein seiner selbst unmittelbar, es ist bei sich vor aller Reflexion. Die Rede von einem gewissermaßen 87 Vgl. neben Cramer exemplarisch M. Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991. Ohne Ich kann von Du und Wir nicht sinnvoll die Rede sein, so zutreffend die Feststellung ist, dass jedes einzelne Ich eine sozial vermittelte Größe darstellt. Man wird von einer Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität auszugehen und sowohl die Vorstellung, Einzelne seien bloße Funktionsmomente eines gesellschaftlichen Ganzen, als auch die Annahme zu vermeiden haben, soziale Bezüge seien Individuen äußerlich. Doch ist mit dieser Vorbemerkung das philosophisch entscheidende Problem noch nicht eigentlich berührt, geschweige denn einer Lösung zugeführt. Es besteht in der Frage, wie Intersubjektivität als Beziehung von Subjekten und Subjektivität in einer Weise zu denken ist, dass die für sie kennzeichnende Selbstbezüglichkeit von Solipsismus präzise unterschieden werden kann. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass das zu bedenken Aufgegebene nur dann recht bedacht ist, wenn es nicht lediglich in beobachtender Außenperspektive, sondern so in Betracht kommt, wie es sich den in Selbstbeziehung und Beziehung zu anderen begriffenen Ichsubjekten selbst darstellt.

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natürlichen, unmittelbaren Selbstbewusstsein hat von daher ihre Richtigkeit, wenngleich es sich bei besagter Unmittelbarkeit um keine vermittlungslose handeln kann: Ist doch das selbstbewusste Ich sich gegeben, wenngleich als der konstitutive Grund seines Gegebenseins weder es selbst noch etwas Anderes in Frage kommt, sei dieses Andere ein anderes Etwas oder ein anderes Ich. Jedes Ich ist als es selbst exzentrisch strukturiert. Es kann seinen Grund weder in sich befassen noch in demjenigen fassen, was es von sich als dasjenige unterscheidet, was es nicht selbst ist. Der Grund des Ich gehört weder ihm selbst noch seiner Welt zu. Er transzendiert Selbst und Welt. Dies kann nur dann verkannt werden, wenn Subjektivität und intersubjektive Bezüge vergegenständlicht und zum Objekt propositionalen Wissens gemacht werden. Weder ist Intersubjektivität ein „Sachverhalt“, der mit dem Verhältnis von Sachen vergleichbar und unter sachlichen Gesichtspunkten hinreichend erfasst werden kann, noch stellt die Subjektivität selbstbezüglicher Ichsubjekte ein bloßes Relat intersubjektiver Relationen dar. Zwar ist kein selbstbezügliches Ich realiter ohne intersubjektive Beziehung denkbar; doch ist es ebensowenig durch Intersubjektivität erklärbar, sofern ein Ich ein anderes nur dann als Alter Ego wahrzunehmen vermag, wenn es mit sich selbst bekannt ist und sich selbst als Ich weiß. „Die radikal intersubjektivistisch-genetische Theorie des Selbstbewusstseins setzt sich dem gleichen Einwand aus wie die am gegenstands-theoretischen Modell von Selbstbewusstsein als Reflexion orientierte.“88 Was Ich als selbstbewusste Subjektivität an sich selbst ist, kann nicht durch reflexen Bezug des Bewusstseins auf sich selbst erklärt werden. „Als Ich kann im Akt der Reflexion nur das faktisch werden, was über ein Kriterium seines Selbstseins vor aller Reflexion schon verfügte: die Reflexion kann nur schon setzen und explizit machen (auch: in Urteilsform entfalten), was nicht-thetisch, nicht-propositional und implizit dem vorreflexiven Bewusstsein schon bekannt war.“89 Selbstbewusstsein geht nicht erst aus dem Bewusstsein hervor, das sich seines Bestandes versichert, um zur Gewissheit seiner selbst zu gelangen und sich wissendes Ich zu sein. Noch weniger als ein Reflexionswissen ist das ursprüngliche Wissen des Ich um sich selbst ein gegenständliches Wissen um etwas – und sei dieses Etwas das Ich selbst. Das Wissen, welches das Ich immer schon von sich selbst hat, ist weder gegenständlich noch reflexiv, sondern von jener vermittelten Unmittelbarkeit, die sich – zur Erkenntnis gebracht – theoretisch in der These zusammenfassen lässt, das Ich sei als es selbst sich gegeben. Die ursprüngliche Einsicht Wolfgang Cramers ist damit abschließend noch einmal umschrieben.90 88 A. a. O., 31. 89 A. a. O., 161. 90 Wie sich die ursprüngliche Einsicht Cramers zu derjenigen Fichtes verhält und welche Parallelen sich in der Entwicklung beider Denker zeigen, wäre einer eigenen Erörterung wert.

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Der Text wurde als Tischvorlage anläßlich eines von Tobias Müller (vgl. ThPh 91 [2016], 46– 66) konzipierten, im Frühjahr/Herbst 2014 durchgeführten Kolloquiums des religionsphilosophischen Instituts der Münchener Hochschule für Philosophie zum Gottesgedanken W. Cramers zwecks eines ersten Systemüberblicks erstellt; auf Werke anderer Autoren, die zur Diskussion standen, ist anmerkungsweise Bezug genommen.

Vgl. dazu etwa: J. Stolzenberg, Fichte heute, in: W. Beierwaltes/E. Fuchs (Hg.), Symposium Johann Gottlieb Fichte. Herkunft und Ausstrahlung seines Denkens, München 2009, 85–96. Stolzenberg weist u. a. nach, dass Subjektivitäts- und Intersubjektivitätstheorie keineswegs in Gegensatz zueinander treten müssen. Ein Wesen, das von sich und in Bezug auf sich selbst „Ich“ sagen kann, ist sich seiner singulären Individualität bewusst und hat zugleich einen allgemeinen Begriff seiner selbst, der ihn mit anderen Ichwesen dergestalt vereint, dass der Erkenntnis eigenen individuellen Selbstseins die Anerkenntnis des individuellen Selbstseins anderer korrespondiert. Jedes Ich ist als es selbst einzig und unbeschadet seiner Einzigkeit eines unter anderen; und jedes Ich weiß, indem es um sich selbst weiß, dass dem so ist. Es ist sich im Bewusstsein seiner selbst dessen bewusst, Ichheit und singuläres Ich, vernünftige Allgemeinheit und singulärer Einzelner zu sein, der seine Individualität in Beziehungen zu anderen gerade durch vernünftige Anerkennung ihres Andersseins auszubilden hat, um von anerkannten Ichwesen seinerseits anerkannt zu werden (vgl. a. a. O., 93 ff.). Stolzenberg, einer der besten Kenner der Cramer’schen Philosophie, hat seine egologischen Untersuchungen u. a. in musiktheoretischer Hinsicht fruchtbar gemancht, worauf anmerkungsweise hingewiesen sei: J. Stolzenberg, „Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben“. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne, München 2009. Die „Entdeckung des Ich in der Lyrik“ (vgl. K.S. Guthke, Die Entdeckung des Ich in der Lyrik. Von der Nachahmung zum Ausdruck der Affekte, in: W. Barner (Hg.), Tradition, Norm, Innovation, soziales und literarisches Verhalten in der Frühneuzeit der deutschen Aufklärung, München 1989, 93–124) gehe mit einer analogen musikgeschichtlichen Entwicklung in der Mitte des 18. Jahrhunderts konform. Es vollziehe sich ein „Wandel der Auffassung von Musik als Nachahmung von Affekten zur Auffassung von Musik als Ausdruck des Gefühls innerer Bewegtheit“ (Stolzenberg, a. a. O., 12). Im Hintergrund beider Entwicklungen steht die „Idee, dass die Natur menschlicher Subjektivität nicht gegenständlich, und das heißt, als ein natürlicher, theoretisch objektivierbarer Gegenstand unter anderen natürlichen Gegenständen zu begreifen ist. Menschliche Subjektivität konstituiert und realisiert sich vielmehr in spezifisch expressiven Akten im Sinne der Gestaltung und Realisierung eines von Natur aus vorhandenen Potentials.“ (A. a. O., 13) Dem Konzept expressiver Subjektivität entspricht die Annahme, dass die innere Quelle des Selbst als Ursprung aller seiner Äußerungen unerschöpflich ist, weil sie im Unendlichen gründet. Der Brunnen des Ich reicht in unermessliche Tiefen. Vgl. dazu auch: Chr. Taylor, Quellen des Selbst, Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt 1994. Nach Taylor versteht sich das sog. neuzeitliche Ich in der Regel nicht als eine solipsistische Größe von unmittelbarer Autonomie und Selbstbestimmung, sondern als eine Einheit, die sich als sich gegeben weiß und diesem Wissen entsprechenden Ausdruck verschafft. „Es ist dringend erforderlich, die Neuzeit vor ihren besonders vorbehaltlosen Befürwortern zu schützen.“ (Chr. Taylor, a. a. O., 8)

Christoph Levin

Predigt über Johannes 15,16 am 12. September 2014 im Gottesdienst zum Abschied von Wolfhart Pannenberg, Professor für Systematische Theologie, in der Universitätskirche St. Markus in München

Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe. ( Joh 15,16)

Liebe Gemeinde, „Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?“ Wir alle kennen die Antwort auf diese Grundfrage unseres Glaubens: „Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin.“ Dass ich mir nicht selbst gehöre, dass ich mir nicht überlassen bin auf Gedeih und Verderb, sondern dass ich einen Herrn habe, der die Verantwortung für mein Leben trägt, das ist unser Trost, der uns fröhlich leben und selig sterben lässt. „Nicht ihr, sondern ich“, sagt Christus. Nicht wir, sondern er steht an den Wegmarken und verfügt über uns. Er lässt uns ins Leben treten, das wir aus seiner Hand empfangen und unter seiner Hut getrost durchwandern. Wenn wir über die Höhen schreiten, ist er bei uns, und erst recht ist er bei uns, wenn wir wandern im finstern Tal. Darum ist allein er es, der uns unser Leben am Ende wieder nehmen kann. Ihm geben wir es zurück, wenn wir sterben in die ausgebreiteten Arme unseres Herrn hinein, der am Kreuz auf uns wartet. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“, diese grundlegende Heteronomie hat Wolfhart Pannenbergs Leben und Wirken bestimmt. Aus ihr hat er seinen Auftrag als Theologe vernommen. Aus ihr kam seine Autorität. Als der große Denker, der er war, war er nicht autonom und wollte es auch nicht sein, sondern heteronom, oder genauer: theonom. Er lebte nicht für sich, sondern von der Sache der Theologie und für sie. Ihr hat er nachgedacht als der alles bestimmenden Wahrheit – er sagte sogar: als der alles bestimmenden Wirklichkeit –, die grundlegend ist nicht nur für den denkenden Theologen, sondern für das menschliche Dasein als solches. Dieses Nachdenken war seine theologische Existenz, und in dieses Nachdenken hat er seine Studenten mit

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hineingenommen und sie geprägt. Sie kamen in Scharen seinetwegen aus der ganzen Welt nach München, so wie auch er in den Vereinigten Staaten gewirkt hat und weltweite Vortragsreisen unternahm. Seine Art, Theologie zu treiben, war auch für Nichtprotestanten von hohem Belang. Die Grenzen zwischen den Konfessionen relativierten sich. Er war bestimmt, dass er hinging und Frucht brachte und seine Frucht blieb. Das hat sich an seinem Leben erfüllt, wie wir dankbar bezeugen. Heute, da dieses Leben vollendet ist, danken wir Gott, dass er Wolfhart Pannenberg unter uns hat leben und wirken lassen. Der christliche Glaube ist aus seinem inneren Wesen heraus denkender Glaube. Das lernte man bei ihm. An Gott glauben schließt ein, Gott zu denken. Wenn es aber wirklich Gott ist, den wir denken, ist er derjenige, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Gott denken kann man deshalb nur mit Entschiedenheit und Mut. Die Gottesfrage ist eine universale Frage, sonst wäre sie falsch gestellt. Mit Halbheiten verträgt sie sich nicht. Wenn im Blick auf Gott die Wahrheitsfrage gestellt wird, ist Religion keine Privatsache mehr, die ins Ermessen gestellt wäre. Dann geht es ums Ganze. Dann geht um mich und dich im tiefsten Grund unserer Existenz. Dann geht es zugleich um das, was allen Menschen gemeinsam ist und jeden einzelnen unbedingt angeht. Dann geht es um das Woher und Wohin unseres Seins und unseres Denkens. Dann geht um den Sinn der Geschichte vom unvordenklichen Anfang an bis in alle noch ausstehende Zukunft. Dann geht es auch um verbindliche Normen für unser Zusammenleben, die nicht ins Belieben gestellt sind. Wolfhart Pannenberg hatte nie einen Zweifel, dass die akademische Theologie ein öffentliches Amt zu versehen hat, wie auch die Kirche, wenn sie ihrem Auftrag gerecht werden soll, eine öffentliche, gesellschaftliche Institution sein muss, kein religiöser Verein. Er hatte nie einen Zweifel, dass die Theologie an die Universität gehört als eine ihrer vornehmsten Disziplinen, unentbehrlich für die Vollständigkeit und den methodischen Zusammenhang der wissenschaftlichen Fächer. Für Pannenberg war es auch selbstverständlich, dass die Theologie ein ebenbürtiger Partner der Philosophie ist, dass sie sich als Teil der Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt verstehen muss und den Dialog mit der Tradition nicht scheuen darf, sondern braucht. Dasselbe gilt für das Verhältnis der Theologie zur Geschichtswissenschaft, zumal Pannenberg die Geschichte als den Bereich zu denken unternahm, in welchem die Wirklichkeit Gottes sich erweist. Und schließlich sind Theologie und Religionswissenschaft einander zugeordnet; denn die universale Wahrheit meldet sich, mindestens als Frage, auch in den außerchristlichen Religionen zu Wort. In besonderem Maße aber bringt sich die universale Wahrheit in der weltweiten Christenheit zur Geltung, deren Spaltung daher um so mehr als widersinnig erscheinen muss. Pannenberg war ein überzeugter und beharrlicher Oekumeniker; nicht weil er irgendwelche kirchenpolitischen Ziele verfolgte,

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sondern als dezidiert evangelischer Theologe und um der Sache der Theologie, um des Evangeliums willen. Dass seine Haltung entschieden evangelisch war, zeigte sich besonders in Pannenbergs Bezug zur biblischen Exegese. Die häufige Gefahr, dass die systematische Theologie den Schriftbezug aus dem Blick verliert, kannte er nicht. Ganz im Gegenteil suchte er die Offenbarung in der Schrift und in der durch die Schrift vermittelten geschichtlichen Wirklichkeit. Dabei hatte das Alte Testament als Geschichtszeugnis, wie Gerhard von Rad es verstand, eine Schlüsselrolle. Die religionsgeschichtliche Sonderstellung Israels war für Pannenbergs Verständnis der Offenbarung grundlegend, und er sah sie in Jesus Christus vollendet. Seine Systematische Theologie ist in breitem Maße biblische Theologie. Auch seine Frömmigkeit hatte ihr Fundament in der Bibel. Denn das muss man immer hinzusehen: Wolfhart Pannenberg war ein Mensch von großer geistiger Weite, der dem universalen Anspruch des Gottesgedankens wie wenige zu entsprechen in der Lage war – aber diese Weite gründete in einer klaren Bindung. Er war ein frommer Mann. Indes war auch seine Frömmigkeit ungewöhnlich wie er selbst: stocknüchtern, vollkommen unsentimental. An der Stelle der sogenannten Spiritualität, die heute mancherorts in der Kirche sogar zum Ausbildungsziel geworden ist, stand bei ihm die Intellektualität. So und nicht anders ist er zum Vorbild geworden, und so fehlt er uns. In solcher Nüchternheit nahm er am Leben der Kirche intensiv Anteil und brauchte das auch. Er hat gern in St. Matthäus gepredigt, und das Abendmahl war ihm lebenswichtig als der hier und jetzt erfahrbare Ausdruck der universalen Heilswahrheit Gottes wie auch als das Zeichen der universalen Einheit der Kirche. Das Verhältnis zu seiner Kirche war, wie wohl bei den meisten von uns, nicht ungebrochen. Er litt auch daran. Und er gehörte zu einer Generation, die das nicht achselzuckend hinnahm und sich mit der religiösen Beliebigkeit nicht zufrieden gab. Auch innerhalb der Theologie gab es heftigen Streit. Ihm wie auch seinen Kontrahenten war bewusst, dass die Wahrheitsfrage sich nicht versuchsweise beantworten lässt. Wo Wahrheit im Spiel ist, da kann auch etwas falsch sein, um so mehr, wenn es um die universale Wahrheit Gottes geht. Das musste klar gesagt und darum musste gestritten werden. Das war überaus lebendig und spannend. Es war keine „schlaffe und glaubensarme Zeit“. Der Anspruch, den Wolfhart Pannenberg mit seiner theologischen Existenz verkörperte, war sehr entschieden. Wer bei ihm studierte, musste sich darauf einlassen. Er konnte nicht einfach nur mitlaufen. Für den erforderten Fleiß wurde er aber mit einem großartigen Zugang zur Welt des abendländischen Denkens belohnt und konnte sich anstecken lassen vom Selbstbewusstsein großer akademischer Theologie. Denn Pannenberg war selbstbewusst. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht

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bleibe, auf dass, worum ihr den Vater bittet in meinem Namen, er’s euch gebe.“ Es war Erwählung und Bestimmung im Spiel. Das hatte aber eine Kehrseite, und erst diese Kehrseite war es, die Pannenbergs Autorität begründete: das Wissen, Berufener eines Herrn zu sein. Er war selbstbewusst, weil er selbstlos war, hingegeben seinem Herrn und dessen Sache. Er war ein treuer Diener Jesu Christi. Pannenberg war auf seine Weise ein Asket. Seine Anzüge waren grau. Meist war ein tiefer Ernst um ihn. Aber wer ihn deshalb für humorlos hielt, täuschte sich sehr und hätte den Glauben unterschätzt, der hinter allem stand. Pannenberg konnte sich von sich selbst distanzieren. „Nicht ich, sondern er“, das bestimmte auch sein Selbstverhältnis. Deshalb konnte er sich auch selbst vergessen und das ihm von Gott geschenkte Leben genießen. „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt“, das bedeutet zuletzt keine Alternative, sondern eine Summe: die Gemeinschaft zwischen dem Herrn und seinen Jüngern. Hier tut sich noch ein anderer Raum religiöser Erfahrung, ja Offenbarung auf, über das theologische Denken und über die Geschichte hinaus: die communio sanctorum, in die Christus uns berufen hat. Wenn wir diese Gemeinschaft mit unserem Herrn im Gehorsam leben, so werden wir nach seinem Vorbild uns gegenseitig zum Christus. Auch das hat es in Wolfhart Pannenbergs Leben gegeben. Es ist hier besonders an die letzten Jahre zu erinnern, als wir erleben mussten, dass dieser brilliante Kopf sich selbst entzogen war, jedenfalls soweit unsere Augen es sahen und soweit die Möglichkeiten der Kommunikation mit ihm reichten. Bei allem Leid, das damit verbunden war, geht auch davon ein Zeugnis aus. Die grundlegende Passivität des Daseins, die unser Leben vor Gott immer bestimmt, wurde an ihm unübersehbar. Und auch die Liebe kam in besonderer Weise zur Geltung in der aufopfernden Treue, mit der seine Frau ihn gepflegt hat und mit der seine engsten Schüler die Verbindung gehalten haben. „Nicht ich, sondern du“. Worte gaben nicht mehr den Ausschlag, sondern die helfende Hand und die Geste. Für die Vergewisserung des Glaubens war es vor allem das Abendmahl. Das verstand er noch, wenn er in Andeutung das Kreuz schlug. „Er erquicket meine Seele, ob ich schon wanderte im finstern Tal.“ So lassen wir uns in der Erinnerung an Wolfhart Pannenberg durch den Hebräerbrief mahnen: „Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben; ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach.“ Amen.

Verzeichnis der Autoren

Prof. Dr. Godehard Brüntrup SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Walter Dietz, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, EvangelischTheologische Fakultät, 55099 Mainz Dr. Ludwig Jaskolla, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Dr. Dr. Felix Körner SJ, Theologische Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana, Piazza della Pilotta 4, 00187 Rom PD Dr. Malte Dominik Krüger, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Theologische Fakultät, Franckeplatz 1/30, 06099 Halle (Saale) Thorsten A. Leppek, Dipl.-Theol., Güldenstück 2, 65510 Idstein Prof. Dr. Christoph Levin, Ludwig-Maximilians-Universität München, Evangelisch-Theologische Fakultät, Geschwister-Scholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Reinhard Leuze, Paosostr. 53, 81243 München Prof. Dr. Ekkehard Mühlenberg, Georg-August-Universität Göttingen, Theologische Fakultät, Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen Dr. Tobias Müller, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Friederike Nüssel, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Theologische Fakultät, Ökumenisches Institut, Plankengasse 1–3, 69117 Heidelberg

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Verzeichnis der Autoren

Thomas Oehl, B.A., M.A., Ludwig-Maximilians-Universität München, Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft, GeschwisterScholl-Platz 1, 80539 München Prof. Dr. Georg Sans SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Josef Schmidt SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Harald Schöndorf SJ, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München Prof. Dr. Dr. h.c. Gunther Wenz, Hochschule für Philosophie München, Kaulbachstr. 31a, 80539 München (Pannenberg-Forschungsstelle) Dr. Georgios Zigriadis, Maria Ramersdorf-München, Ramersdorfer Str. 6, 81669 München