Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart: Ein Beitrag zur Hermeneutik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg 3791732994, 9783791732992


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German Pages 280 [281] Year 2021

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Titel
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart
1. Zur These. Leben im Jetzt
2. Zur Verwendung des Begriffs Gegenwart
3. Zum Aufbau der Untersuchung
4. Zu den herangezogenen Theologen. Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg
II. Hans Urs von Balthasar
1. Einleitung
2. Hinführung
2.1 Theologie und Heiligkeit
2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars
2.2.1 Theologiegeschichtliche Einflüsse
2.2.2 Werkgeschichtliches
2.2.3 Theodramatik
2.2.4 Auswertung
3. Christologischer Ansatz
3.1 Dogmatische Geschichtshermeneutik von Christus her
3.2 Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her
3.3 Die Würde der Zeitlichkeit des Menschen von Christus her
4. Hans Urs von Balthasars Verständnis von Gegenwart
4.1 Gegenwart als Fragment. Angenommene Unabgeschlossenheit
4.1.1 Der Mensch als Element der Frage
4.1.2 Das Ganze im Fragment
4.1.3 Verzicht auf Vollendung. Biografie als Fragment
4.2 Wort als Grund der Gegenwart
4.2.1 Gegenwart im Aufbruch
4.2.2 Dialogisch konstituiertes Jetzt
4.3 Gegenwart als Raum der Freiheit
4.3.1 Theodramatik als Geschichte der Freiheit
4.4 Gegenwart als Zeitraum der Sendung
4.4.1 Die Sendung Jesu
4.4.2 Sich spielen oder Person sein. Sendung als identitätsstiftender Sinn
4.4.3 Katholizität. Sendung in individueller und gemeinschaftlicher Dimension
4.5 Mensch und Menschheit. Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung
4.5.1 Menschheit. Anthropologische Konstanten
4.5.2 Mensch und Menschheit. Dramatische Existenz in dogmatischer Terminologie
4.6 Nachchristliche Gegenwart
4.6.1 Christologische Zeitenwende und Säkularisierung
4.6.2 Herausforderungen des Heute. Offenheit, Angst und Fortschritt
4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung
4.7.1 Die sakramentale Transparenz der Gegenwart
4.7.2 Wachstum in der Liebe
5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt in Hans Urs von Balthasars theodramatischer Geschichtshermeneutik
III. Wolfhart Pannenberg
1. Einleitung
1.1 Verwendete Literatur
1.2 Zum Aufbau der Untersuchung
2. Anthropologische Grundlegung
2.1 Der Ausgriff aufs Ganze
2.1.1 Auf Gott hin. Selbstentwurf zwischen vorläufigen Antworten
2.1.2 Der Ausgriff auf die Universalgeschichte
2.2 Zeiterfahrung
2.2.1 Jetztpunkt, Gegenwart und Ganzes
2.2.2 Festgehalten. Die Verkehrung der Zeiterfahrung
2.2.3 Geist. Die Anwesenheit des Ganzen
2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf
2.3.1 Glaube als antizipativer Modus der Selbstgewissheit
2.3.2 Wort als Antizipation
2.3.3 Die Geschichtlichkeit der Wahrheit
2.4 Zwischenergebnis
3. Christologischer Brückenschlag zwischen Anthropologie und Theologie: Offenbarung als Geschichte
3.1 Geschichte und Offenbarung
3.2 Zukunft in Gegenwart. Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus
3.3 Zur Zeitlichkeit theologischer Sprache. Doxologie statt Analogie
3.4 Zwischenergebnis
4. Theologische Deutung
4.1 Gott
4.1.1 Gott als differenzierte Einheit. Der trinitarische Gott als Macht der Zukunft heute
4.1.2 Der »Anfang des Moments« in Gott. Das Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte als differenzierte Einheit
4.1.3 Selbstunterscheidung von Gott als Konsequenz
4.2 Zeit
4.2.1 Zeit und Ewigkeit
4.2.2 Freigegeben. Gegenwart als Durchgangsmoment
4.2.3 Gegenwart als Zeit-Raum der Feldwirkung des Geistes
4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden. Ekklesiologisch qualifizierte Gegenwart
4.3.1 Antizipation und Selbstunterscheidung. Kirche als sakramental begründetes Zukunftszeichen heute
4.3.2 Glaube und Glaubensgrund. Ein neues Selbstverhältnis als Konsequenz
4.4 Zwischenergebnis
5. Ertrag: Die menschliche Daseinskonstitution zwischen Strittigkeit und Gewissheit. Die Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart
IV. Zum Ertrag der Untersuchung
Literaturverzeichnis
Quellen
Sekundärliteratur
Lexikonartikel
Internet
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Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart: Ein Beitrag zur Hermeneutik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg
 3791732994, 9783791732992

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Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

ratio fidei Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie Herausgegeben von Georg Essen, Klaus Müller, Thomas Pröpper (†), Magnus Striet und Saskia Wendel Band 75

Andrea Völkner

Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart Ein Beitrag zur Hermeneutik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg

Verlag Friedrich Pustet Regensburg

Dissertation, Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg Tel. 0941/920220 | [email protected] ISBN 978-3-7917-3299-2 Reihen-/Umschlaggestaltung: Martin Veicht, Regensburg Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2021 eISBN 978-3-7917-7377-3 (pdf ) Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter www.verlag-pustet.de

Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um meine Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2020 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde. Für den Druck wurden missverständliche Ausdrucksweisen verbessert und Rechtschreibfehler korrigiert. Viele Personen haben zum Gelingen des Dissertationsprojekts beigetragen. Mein herzlicher Dank geht an Professor Dr. Notger Slenczka für sein kritisches und kluges Feedback, das die Arbeit stets vorangebracht hat. Ein besonderer Dank sei auch Professor Dr. Georg Essen für sein Zweitgutachten und die Empfehlung in die Reihe ratio fidei ausgesprochen. Jenny Eisbein, Dr. Stefanie Sippel und Dr. Clemens W. Bethge gilt mein Dank für das Korrekturlesen der Arbeit. Ohne meinen Mann Veit hätte ich die Balance zwischen Pfarramt, Familie und Doktorarbeit nicht so gut meistern können. Unsere Tochter Lotta wiederum hat mich durch ihre Wildheit und Spielfreude stets neu geerdet. Danke euch beiden! Potsdam, im Februar 2021

Andrea Völkner

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Inhaltsverzeichnis I. 1. 2. 3. 4.

II. 1. 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.4 4.4.1 4.4.2

Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart ............................................................................... 11 Zur These. Leben im Jetzt ................................................................... 11 Zur Verwendung des Begriffs Gegenwart............................................. 17 Zum Aufbau der Untersuchung .......................................................... 19 Zu den herangezogenen Theologen. Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg .......................................................................... 20

Hans Urs von Balthasar ..................................................................... 24 Einleitung........................................................................................... 24 Hinführung ........................................................................................ 24 Theologie und Heiligkeit .................................................................... 25 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars ............................... 29 Theologiegeschichtliche Einflüsse ....................................................... 29 Werkgeschichtliches ............................................................................ 37 Theodramatik ..................................................................................... 40 Auswertung ........................................................................................ 58 Christologischer Ansatz....................................................................... 60 Dogmatische Geschichtshermeneutik von Christus her ....................... 61 Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her ....... 65 Die Würde der Zeitlichkeit des Menschen von Christus her ................ 71 Hans Urs von Balthasars Verständnis von Gegenwart .......................... 74 Gegenwart als Fragment. Angenommene Unabgeschlossenheit ............ 75 Der Mensch als Element der Frage ...................................................... 75 Das Ganze im Fragment ..................................................................... 78 Verzicht auf Vollendung. Biografie als Fragment .................................. 80 Wort als Grund der Gegenwart ........................................................... 83 Gegenwart im Aufbruch ..................................................................... 85 Dialogisch konstituiertes Jetzt ............................................................. 88 Gegenwart als Raum der Freiheit ........................................................ 90 Theodramatik als Geschichte der Freiheit............................................ 91 Gegenwart als Zeitraum der Sendung .................................................. 96 Die Sendung Jesu................................................................................ 97 Sich spielen oder Person sein. Sendung als identitätsstiftender Sinn ................................................... 99 4.4.3 Katholizität. Sendung in individueller und gemeinschaftlicher Dimension........................................................................................ 101 4.5 Mensch und Menschheit. Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung.. 104

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Inhaltsverzeichnis

4.5.1 Menschheit. Anthropologische Konstanten ....................................... 105 4.5.2 Mensch und Menschheit. Dramatische Existenz in dogmatischer Terminologie .................................................................................... 110 4.6 Nachchristliche Gegenwart ............................................................... 114 4.6.1 Christologische Zeitenwende und Säkularisierung ............................. 115 4.6.2 Herausforderungen des Heute. Offenheit, Angst und Fortschritt ....... 119 4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung .... 125 4.7.1 Die sakramentale Transparenz der Gegenwart .................................... 126 4.7.2 Wachstum in der Liebe ..................................................................... 129 5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt in Hans Urs von Balthasars theodramatischer Geschichtshermeneutik ......................................... 133 Wolfhart Pannenberg ...................................................................... 139 Einleitung......................................................................................... 139 Verwendete Literatur ........................................................................ 139 Zum Aufbau der Untersuchung ........................................................ 143 Anthropologische Grundlegung ........................................................ 147 Der Ausgriff aufs Ganze .................................................................... 150 Auf Gott hin. Selbstentwurf zwischen vorläufigen Antworten ............ 151 Der Ausgriff auf die Universalgeschichte ........................................... 157 Zeiterfahrung ................................................................................... 162 Jetztpunkt, Gegenwart und Ganzes ................................................... 163 Festgehalten. Die Verkehrung der Zeiterfahrung ............................... 165 Geist. Die Anwesenheit des Ganzen .................................................. 167 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf.................... 173 Glaube als antizipativer Modus der Selbstgewissheit .......................... 173 Wort als Antizipation ........................................................................ 176 Die Geschichtlichkeit der Wahrheit .................................................. 177 Zwischenergebnis.............................................................................. 181 Christologischer Brückenschlag zwischen Anthropologie und Theologie: Offenbarung als Geschichte ............................................. 181 3.1 Geschichte und Offenbarung ............................................................ 184 3.2 Zukunft in Gegenwart. Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus ............................................................................... 190 3.3 Zur Zeitlichkeit theologischer Sprache. Doxologie statt Analogie....... 199 3.4 Zwischenergebnis.............................................................................. 201 4. Theologische Deutung ...................................................................... 202 4.1 Gott ................................................................................................. 203 4.1.1 Gott als differenzierte Einheit. Der trinitarische Gott als Macht der Zukunft heute.................................................................. 204 4.1.2 Der »Anfang des Moments« in Gott. Das Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte als differenzierte Einheit ..................... 212

III. 1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 3.

Inhaltsverzeichnis

4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3

Selbstunterscheidung von Gott als Konsequenz ................................. 217 Zeit .................................................................................................. 218 Zeit und Ewigkeit ............................................................................. 219 Freigegeben. Gegenwart als Durchgangsmoment ............................... 226 Gegenwart als Zeit-Raum der Feldwirkung des Geistes ...................... 232 Die Gemeinschaft der Glaubenden. Ekklesiologisch qualifizierte Gegenwart ........................................................................................ 238 4.3.1 Antizipation und Selbstunterscheidung. Kirche als sakramental begründetes Zukunftszeichen heute .................................................. 239 4.3.2 Glaube und Glaubensgrund. Ein neues Selbstverhältnis als Konsequenz ...................................................................................... 245 4.4 Zwischenergebnis.............................................................................. 250 5. Ertrag: Die menschliche Daseinskonstitution zwischen Strittigkeit und Gewissheit. Die Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart .................... 251 IV.

Zum Ertrag der Untersuchung ........................................................ 257

Literaturverzeichnis ................................................................................... 268 Quellen ....................................................................................................... 268 Sekundärliteratur ......................................................................................... 270 Lexikonartikel.............................................................................................. 276 Internet ....................................................................................................... 277

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Abkürzungsverzeichnis Hans Urs von Balthasar: GF = Das Ganze im Fragment H = Herrlichkeit HdW = Das Herz der Welt SC = Spiritus Creator TD = Theodramatik TG = Theologie der Geschichte TL = Theologik VC = Verbum Caro Wolfhart Pannenberg: A = Anthropologie in theologischer Perspektive BSTh = Beiträge zur Systematischen Theologie GSTh = Grundfragen systematischer Theologie OaG = Offenbarung als Geschichte STh = Systematische Theologie ThRG = Theologie und Reich Gottes WuTh = Wissenschaftstheorie und Theologie Hinweis zur Zitierweise: Modalisierende Anführungszeichen „“ kennzeichnen Zitate. Chevrons »« außerhalb von Zitaten kennzeichnen Hervorhebungen der Autorin.

I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart 1. Zur These. Leben im Jetzt Der Mensch steht vor der Aufgabe, seine Existenz zu deuten und ein konstruktives Verhältnis zu sich und zur Welt zu finden. Diese Deutung bedarf scheinbar immer weniger des expliziten Rekurses auf institutionalisierte Religion.1 Die westliche Kultur des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts wird daher häufig und stellenweise nahezu reflexartig als weitestgehend säkularisiert beschrieben.2 Teils werden profane Vollzüge als Ausdruck sakraler Säkularität gedeutet3 oder der Begriff des Religiösen wird derart weit ausgedehnt, dass er nahezu unkenntlich wird. Gräb möchte im Rahmen seiner kulturhermeneutischen Theologie statt von Säkularisierung lieber von der „Individualisierung der gelebten Religion“4 sprechen. „Ob jemand sich als religiös zugehörig bzw. interessiert versteht, kann nicht nach

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Der Begriff der Religion ist unterschiedlich definierbar, vgl. Feil, Art. Religion, 265 f. Er kann funktional in der Bewältigung und Deutung der menschlichen Existenz, substanziell an bestimmten Glaubensinhalten oder polythetisch anhand verschiedener Kriterien, die jeweils nur teils zutreffen müssen, festgemacht werden. Jede Definition birgt jedoch Aporien: Die funktionale Deutung kann den Begriff bis ins Unkenntliche ausdehnen, die substanzielle ihn wiederum zu eng fassen, wenn sie etwa den Glauben an Gott als Attribut voraussetzt, das aber faktisch nicht auf jede Form von Religion anwendbar ist, vgl. Pollack, Differenzierung, 54–56. Neben der explizit konfessionell gebunden Religion, die sich von der Autorität religiöser Überlieferungen her versteht, kann Religion – innerhalb und außerhalb der Kirche – vom Menschen her als „subjektiver Lebensvollzug […], in dem handlungsbestimmende Letztüberzeugungen sich aufbauen, kultiviert und modifiziert werden“ (Korsch, Kulturhermeneutik, 834) gedeutet werden. „Für diesen Prozess sind die kirchlichen Lehrsätze […] nicht mehr inhaltskonstitutiv. Ihnen kann nur dann zugestimmt werden, wenn sie sich als aussagekräftig und deutungsmächtig im individuellen Leben aneignen lassen.“ (Ebd.) Diese Definition, deren Fokus gemäß der Unterscheidung von Pollack auf dem funktionalen Aspekt von Religion liegt, liegt den nun folgenden Ausführungen da zugrunde, wo der Begriff der Religion, Religiosität oder des Religiösen nicht weiter, etwa durch den Zusatz »institutionalisierte«, definiert wird. Die nicht abschließend bestimmbaren Wurzeln dieser Entwicklung werden u. a. in Aufklärung, Idealismus und Marxismus gesucht, die gleichzeitig jedoch Gegenbewegungen wie den Spiritismus provozierten, vgl. Hempelmann, Jenseitshoffnungen, 306 f., und ihrerseits bereits auf geistesgeschichtliche Strömungen reagierten. Nüchtern beschreibt Szenarien quasi sakraler Säkularität am Beispiel von Wirtschaftsunternehmen, Sport, Fernsehen, Tourismus und Lady Di als profaner Heiligengeschichte. Für Nüchtern zehren alle diese Szenarien von der Erinnerung an die Differenz von heilig und profan, vgl. Nüchtern, Religiosität, 35–50. Gräb, Menschsein, 6.

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

Maßgabe der Zustimmung zu doktrinalen Vorgaben entschieden werden“5. Religion drücke sich vielmehr in „Lebenshaltung“6 aus. Der Diskurs um Säkularisierung und Religion trug, wie Feldtkeller bemerkt, da selbst zur Säkularisierung bei, wo wirkmächtig kolportiert wurde, Religion sei gleichzusetzen mit Unaufgeklärtheit, die mit fortschreitender Entwicklung der Gesellschaft überwunden werde.7 Derlei holzschnittartige und von der Realität überholte Theorien werden zu Recht kritisiert, ist doch bereits der Begriff der Religion wie auch der der Säkularisierung, etwa in ihrer Gleichsetzung mit Modernität, faktisch ein diskursives Konstrukt.8 Jedoch kann kaum übersehen werden, dass es in Mittel- und Westeuropa zu einem deutlich erkennbaren Abbruch institutionalisiert religiöser Lebenseinstellungen gekommen ist,9 wie quantitative Studien belegen.10 Der Religions- und Kultursoziologe Detlef Pollack verweist in diesem Zusammenhang auf die Korrelation von individueller Religiosität und konkreter Verankerung in der Institution Kirche,11 und damit zugleich darauf, dass mit der Entfremdung von der Kirche ein Nachlassen von Religiosität insgesamt verbunden ist. Alltagsreligiosität im Sinne Gräbs kompensiert demnach nicht den Verlust an Religiosität, der mit dem Rückgang institutionalisierter Religionsausübung verbunden ist, da Inhalte und Funktionen von Religion einander korrelieren und somit auch zwischen dem Rückgang der institutionalisierten und der individuellen Religionsausübung eine Korrelation besteht. So steht etwa die weitgehende Verabschiedung von einem persönlichen Gottesbild im Zusammenhang mit dem Rückgang von Religiosität überhaupt.12 Einer entpersönlichten Transzendenzvorstellung entspricht demnach ein geringerer Wert, der Religion für das Leben eingeräumt wird.13 Selbst spirituell-esoterische Tendenzen können eher als Ausdruck eines kulturellen Mainstreams, denn als von der Kirche enttäuschtes, religiöses Bedürfnis verstanden werden.14

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Gräb, Menschsein, 4. Gräb, Menschsein, 4. Vgl. Feldkeller, Religionswissenschaft, 24. Vgl. Feldtkeller, Religionswissenschaft, 145–147.148 ff. Vgl. Pollack, Religion, 223 ff. Laut einer Studie der Universität Freiburg und der EKD wird sich die Mitgliederzahl der EKD aller Wahrscheinlichkeit nach bis 2060 im Vergleich zu heute auf 10,5 Mio. halbieren, vgl. Kirche im Umbruch, 7. Vgl. Pollack, Religion, 16 ff. Vgl. Pollack, Religion, 144 ff. Pollack selbst vertritt keine reine Säkularisierungstheorie, die ihr entgegen gesetzte empirische Befunde gar nicht integrieren könnte, sondern eine modifizierte Säkularisierungstheorie auf dem Weg zu einer multi-paradigmatischen Theorie, vgl. ebd. 458 ff. So geht er etwa trotz der Beobachtung des Rückgangs institutionalisierter Religiosität nicht davon aus, dass Religion ein inzwischen völlig privatisiertes Phänomen der Vormoderne sei, vgl. ebd. 12. Vgl. Pollack, Religion, 231. Vgl. Pollack, Religion, 231. Vgl. Pollack, Religion, 224 f. Die „Suche nach religiösem Sinn“ (Pollack, Religion, 231) würde demnach aufgegeben.

1. Zur These. Leben im Jetzt

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Diese Entwicklung betrifft auch das Fragen nach Zeit und Ewigkeit. Mit der Entfernung von der Kirche und einer persönlichen Gottesvorstellung scheint auch das christliche Versprechen einer Ewigkeit für viele Menschen in weite Ferne gerückt oder gleich gänzlich irrelevant geworden zu sein. Ihm kann sogar der Verdacht der Jenseitsvertröstung und eines jahrhundertelangen kirchlichen Machtmissbrauchs einer im Wortsinn höllischen Drohkulisse anhaften. Stattdessen rückt das endliche Dasein hier und heute in den Fokus. Aus qualitativen Befragungen Konfessionsloser zieht die Philosophin und Journalistin Rita Kuczynski das Fazit: „Die Konfessionslosen können also damit leben, ein kaum messbarer Moment unter anderen kaum messbaren Momenten zu sein. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. […] Umso wertvoller ist es ihnen, ihr endliches Dasein hier auf der Erde optimal zu gestalten.“15 In der Sprache der Popkultur heißt das: YOLO – you only live once16, was hier nicht nur als Ausdruck einer hedonistischen Lebenshaltung, sondern als Würdigung der Einmaligkeit des Lebens verstanden sei. Auch ein Philosoph wie Markus Gabriel, der Religion insofern einen produktiven Beitrag zur Selbstbeschreibung des Menschen zuweist, als dass Religion den Menschen über eine rein materialistische Selbstdefinition hinausweist, kommt zu dem Ergebnis: „Wir sind hier und jetzt und das ist alles.“17 Sein Heute ist damit von größter Bedeutung für den Menschen. Das heißt jedoch nicht, dass der Mensch deshalb allein in seinem Heute aufginge.18 Die Transzendenz der Zukunft gegenüber der Vergangenheit, an deren Schnittstelle die Gegenwart steht, macht in der Neuzeit eine neue, zeitliche Opposition aus, die an die Stelle der früheren Ordnung des Kosmos nach Welt und Überwelt tritt. So stellt der Historiker Reinhart Koselleck im Kontext seiner Deutung von Säkularisierung fest, dass die „Säkularisation“, die bis 1800 vor allem ein „politischrechtlicher Vorgang“ war, ab danach durch die Erfahrung der Beschleunigung etwa

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Kuczynski, Weltsicht, 140. https://en.wikipedia.org/wiki/YOLO_(aphorism), aufgerufen am 01.10.2018. Gabriel, Ich, 326. So leitet etwa Gabriel gerade aus der Einmaligkeit menschlichen Lebens im Hier und Jetzt ethische Ziele ab, die keinesfalls etwa einem hedonistischen Aufgehen im Jetzt entsprechen: „Einen anderen Planeten gibt es für uns nicht und mit einem anderen Leben, in dem wir alles besser machen können, ist nicht ernsthaft zu rechnen. Deswegen ist es die zentrale Aufgabe der Philosophie, an einem Selbstporträt des menschlichen Geistes zu arbeiten, das im Sinne einer Ideologiekritik gegen die leeren Verheißungen eines posthumanen Zeitalters ins Feld geführt werden kann.“ (Gabriel, Ich, 327.) Und vorher: „Hiersein ist herrlich, aber nicht immer und nicht für alle. Wir Menschen sind selber daran schuld, wenn wir nicht gemeinsam daran arbeiten, auf diesem Planeten die Bedingungen von Freiheit, Wohlstand, Gesundheit und Gerechtigkeit zu verbessern.“ (Gabriel, Ich, 327.) Gerade weil der Mensch nur hier und jetzt lebt, sieht Gabriel ihn als verpflichtet an, nicht auf „eine utopische Zukunft“ (Gabriel, Ich, 326) zu setzen, sondern hier und heute das Bestmögliche für alle Menschen zu erreichen und auf dieses Ziel hin zuzusteuern.

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

technischer Entwicklungen „eine geschichtsphilosophische Dimension“19 gewinnt, für deren Beschreibung er den Terminus der »Verzeitlichung« einführt: Die „Opposition von Vergangenheit und Zukunft rückt an die zentrale Stelle und verabschiedet die Opposition von Diesseits und Jenseits. Dieser Vorgang mag als Verweltlichung beschrieben werden, korrekter wäre die Bezeichnung ›Verzeitlichung‹.“20 Dabei handelt es sich nun um ein geschichtliches Verhältnis des Menschen zu seinem Dasein,21 in dem die räumlichen Kategorien22 durch zeitliche abgelöst werden – an die Stelle der Überwelt tritt die Zukunft.23 Diese transzendiert die Gegenwart, die zugleich sehr deutlich in ihrer Nicht-Identität mit der Vergangenheit wahrgenommen wird. Koselleck charakterisiert auch die Moderne vermittels des Begriffs der Verzeitlichung.24 Der Philosoph Günter Figal beschreibt in der Folge modernetheoretisch das Verhältnis von Jetzt und Gestern so: „Modern ist die Erfahrung der Zeit als Kluft zw[ischen] der eigenen Gegenwart und dem Vergangenen.“25 Das menschliche Erleben von Gegenwart stellt sich dabei als ambivalent dar: Die Gegenwart hat „unendliche Bedeutung; das Gegenwärtige […] gilt als das dem Vergangenen Überlegene. Aber das Heutige ist morgen von gestern; die Gegenwart verliert sich immer wieder, indem sie zur Vergangenheit wird, und deshalb muß sie unter dem Gesichtspunkt der Modernität immer wieder neu gegen die Vergangenheit behauptet werden.“26 Was bis hier in wenigen Sätzen skizziert wurde, kann je nach Perspektive als Befreiung von der Illusion einer ewigen Überwelt oder als Verlust bergender Deutekatego19 Koselleck, Zeitschichten, 184. 20 Koselleck, Zeitschichten, 183. 21 Vor allem die Erfahrung der „Beschleunigung“ (Koselleck, Zeitschichten, 179 u. ö.), wie sie sich besonders augenscheinlich in technologischen Fortschritten zeigt, liegt dieser Entwicklung zugrunde. 22 Als deren Ursprung benennt Koselleck die Zwei-Reiche-Lehre Augustins, vgl. Koselleck, Zeitschichten, 182. 23 Zur Zukunft als möglichem Ort des Trosts oder der Vertröstung aus der Sicht Konfessionsloser vgl. Kuczynski, Weltsicht, 144–148. 24 Vgl. Figal, Art. Moderne/Modernität, 1377. 25 Figal, Art. Moderne/Modernität, 1377. 26 Figal, Art. Moderne/Modernität, 1377. Figal bezieht seine Aussage auf die Moderne, ohne diese jedoch zeitlich einzugrenzen. Da Figal sich mit dem oben zitierten Satz auf Kosellecks Diktum der Verzeitlichung bezieht (vgl. Koselleck, Zeitschichten, 183), zielt Figal mit seiner Aussage offensichtlich wie Koselleck auf eine die Gegenwartskultur bis heute prägende geistesgeschichtliche Verschiebung.

1. Zur These. Leben im Jetzt

15

rien verstanden werden. Im Rahmen dieser Arbeit soll es möglichst ohne Wertung wahrgenommen und zum Anlass genommen werden, die offensichtlich im westlichen Kulturkreis verstärkt angezweifelte Plausibilität christlicher Daseinsdeutung vor dem Hintergrund des damit im Rahmen der Verzeitlichung berührten Nexus von Zeitlichkeit und Transzendenz neu zu reflektieren. Das menschliche Erleben von Gegenwart in ihrer Bedeutsamkeit und ihrer Flüchtigkeit, als Schnittstelle der Opposition von Vergangenheit und Zukunft, bietet sich dabei als Ausgangspunkt der Frage an, ob tatsächlich und wie sich Denkangebote der christlichen Tradition neu plausibilisieren lassen. Zu beachten ist dabei: Der Mensch verortet sich in der Opposition aus Vergangenheit und Zukunft heute in anderer Weise als früher in einem größeren Ganzen. Entscheidend aber ist, dass er sich damit weiter in einem größeren Ganzen verortet. Diese auf ein größeres Ganzes ausgreifende Bewegung der Verortung kann als religiöser Vollzug gedeutet werden, ohne den der Mensch gar nicht sein kann, denn „Mensch-Sein ist ohne Eingebunden-Sein in das Ganze nicht zu denken.“27 Menschen „sind Teil des Ganzen. Dies in letzter Konsequenz ernst zu nehmen und menschliches Leben entsprechend zu gestalten, bedeutet gleichzeitig, ein religiöses Welt- und Menschenbild anzunehmen.“28 In welches spezifische Verhältnis Teil und Ganzes dabei in christlichen Entwürfen gesetzt werden können, wird unter II. und III. zu erhellen sein. Dabei übernimmt die Alltagsreligiosität nicht alle Funktionen institutionalisierter Religionsausübung, denn zwischen substanziellen Inhalten von Religiosität und religiösen Funktionen fürs Leben besteht eine Korrelation. Und doch bleibt über die Verortung in einem Ganzen, gerade in Bezug auf die Gegenwartserfahrung des Menschen, Religiosität im Leben des Menschen angelegt. Mit Gräb gesprochen muss damit nicht gesagt sein, dass jeder Mensch sich selbst als „von Natur aus religiös“29 verstehen muss. Vielmehr geht es darum, „dass die Fragen, die die Religion stellt, verständlich und allgemein nachvollziehbar sind. Es sind dies Fragen nach dem Sinn des Ganzen und unseres eigenen Daseins in ihm, warum wir für eine bestimmte Zeit auf der Welt sind und was unserem Tun eine unsere endliche Existenz qualifizierende Bedeutung gibt.“30 Von Gräb und ebenso von Feldtkeller her wird also in dieser Untersuchung vorausgesetzt, dass Religiosität nicht allein in institutionalisierter Religionsausübung und in der Zustimmung zu bestimmten Glaubenssätzen begegnet, sondern dass sie bereits funktional im Ausgriff aufs Ganze Gestalt annimmt. Von Pollack her wird zugleich ernstgenommen, dass zwischen Inhalten und Ausübung von Religion eine Korrelation besteht, die etwa die von Gräb so betonte „Lebenshaltung“31 des Menschen unmittelbar 27 28 29 30 31

Feldtkeller, Religion, 193. Feldtkeller, Religion, 194. Gräb, Menschsein, 4. Gräb, Menschsein, 4. Gräb, Menschsein, 4.

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

berührt. Die substanziell-inhaltliche Seite von Religion kann darum nicht vollständig zugunsten ihrer Funktionen übersprungen werden, will man dem Phänomen der Religion und dem, was sie für die Existenz des Menschen ausmacht, gerecht werden. Was ich glaube, lässt nämlich nicht unberührt, wie ich glaube – und damit zugleich wie ich lebe, meine Existenz deute und in ein konstruktives Verhältnis zu mir und zur Welt finde. Folgende These soll vor diesem Hintergrund erhärtet werden: Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Erleben von Zeitlichkeit und Transzendenz, der in besonderer Weise das Gegenwartserleben des Menschen betrifft.32 Er ist insofern als religiös zu verstehen, als dass er die Einbettung des Menschen in ein umgreifendes Ganzes betrifft. Der christliche Glaube ermöglicht dem Menschen eine produktive Einbettung in ein Ganzes, die zu einer konstruktiven Bezogenheit auf seine jeweilige Lebensgegenwart führt. Deutlich gemacht werden soll dies anhand der systematisch-theologischen Reflexion auf die Bedeutung von Gegenwart in zwei geschichtstheologischen Entwürfen von außergewöhnlicher Breite, deren Gegenwartsdeutung bis jetzt noch keiner gesonderten Untersuchung unterzogen worden ist, nämlich Hans-Urs von Balthasars und Wolfhart Pannenbergs. Trotz des Bedeutungsverlustes institutionalisierter Religiosität, den, folgt man Pollack, auch eine individuelle Alltagsreligiosität nicht kompensieren kann, bliebe demnach die moderne Daseinsdeutung – gerade in ihrem Fokus auf das menschliche Heute – einer religiösen Daseinsdeutung verbunden. Diese wiederum bietet Anknüpfungspunkte zu einer spezifisch christlichen Existenzhermeneutik, so dass ein Brückenschlag zwischen einer verzeitlichten und einer spezifisch christlichen Gegenwartsdeutung möglich erscheint. Dabei wird die Dimension der Transzendenz nicht allein als jenseitige Ewigkeit erscheinen – eine Bestimmung, die auch biblischen Begriffen von »Ewigkeit« wie etwa ‫וׄלָם‬, das die fernste Zeit oder den Inbegriff aller Zeit bezeichnet, gar nicht unbedingt entspricht.33 Sie wird jedoch sehr wohl als „Unbestimmtheitshorizont“34 des geschichtlichen, menschlichen Daseins erscheinen, das seine Gegenwart stets auf Zukunft hin überschreitet, und darin potenziell anschlussfähig sein hin auf 32 Dass dieser Zusammenhang besteht und in besonderer Weise das Gegenwarts-/Augenblickserleben betrifft, hat bereits Augustin in seinen confessiones in Kap. XI eindrücklich beschrieben. Dieser Gedanke ist also nicht neu, kann jedoch immer wieder neu fruchtbar gemacht werden. Im Vergleich von Nietzsche und Kierkegaard im Zusammenhang der Fragen nach zeitübergreifender Identität und Freiheit des Menschen vgl. hierzu Essen, G., „Gewiss wir brauchen die Historie …“ Über Identität und Lebensglück – eine philosophisch-theologische Relecture unzeitgemässer Betrachtungen, in: Müller, K., Natürlich: Nietzsche! Facetten einer antimetaphysischen Metaphysik, Münster 2002, 72–99. 33 Vgl. Jenni, Art. Ewigkeit, 229 ff. 34 Danz, Art. Transzendenz, 553.

2. Zur Verwendung des Begriffs Gegenwart

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eine spezifisch christliche Existenzhermeneutik. Gerade hinter der Wahrnehmung der hohen Bedeutung der Gegenwart und damit zugleich der Zeitlichkeit35 des Menschen leuchtet nämlich der Horizont der Transzendenz in neuer Weise auf. Dass heute jede Beziehung zum Ewigen und Unendlichen fehle, wie angesichts der eingangs beschriebenen Entwicklung schon behauptet worden ist,36 muss also kritisch hinterfragt werden. Dass es jedoch eine grundlegende geistesgeschichtliche Verschiebung gegeben hat, ist ebenso unbestreitbar. Darin wird der Gegenwart des Menschen ein enormes Gewicht zugesprochen. Darin findet der christliche Glaube zumindest keinen selbstverständlichen Platz mehr, was ihn vor die produktive Aufgabe stellt, sich neu zu plausibilisieren.

2. Zur Verwendung des Begriffs Gegenwart Bevor nach einer systematisch-theologischen Deutung der Gegenwart zu fragen ist, soll an dieser Stelle noch geklärt werden, wie der Begriff der Gegenwart im Folgenden verwendet wird. Bereits Augustin hat in seinen confessiones auf die Unmöglichkeit verwiesen, Gegenwart über eine bestimmte zeitliche Spanne zu definieren und auf die Subjektivität des Erlebens einer Gegenwartsdauer verwiesen.37 Für Augustin kommt der Gegenwart als ausdehnungslosem, zeitlichem Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft selbst keine Dauer zu; was nach Augustin jedoch andauert, ist das das geistige, „aufmerksame Erfassen des Gegenwärtigen [attentio]“38. 35 Besonders wirkmächtig hat Heidegger die existenziale Verfasstheit des Menschen über den Begriff der »Zeitlichkeit« beschrieben, wobei dem menschliche Dasein die Struktur der Sorge um seine Zukunft und sein Sein als Sein selbst zukommt, vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 334 ff.; Mesch, Art. Zeitlichkeit, 1821. 36 Nüchtern zitiert Havel, der meint: „Die heutige Zivilisation ist erstmals in der Geschichte der Menschheit in ihrem Wesen atheistisch, es fehlt jede Beziehung zum Ewigen und Unendlichen.“ (Nüchtern, Religiosität, 35.) 37 Im 11. Buch der confessiones beschreibt Augustin die Möglichkeit des Menschen, sich kraft der Aufmerksamkeit (attentio) durch das Gedächtnis (memoria) das Vergangene und durch die Erwartung (expectatio) das Kommende gegenwärtig zu halten, vgl. Conf. 11. Buch, K. XXVIII, 37 (Übersetzung: Flasch/Mojsisch). Das bedeutet eine Ausdehnung der Seele (distentio animi) über die Flüchtigkeit des vergehenden Moments hinaus, vgl. Conf. 11. Buch, K. XXVI, 33. Manzke stellt fest, dass „die Zeit diese Ausdehnung des Geistes ist.“ (Manzke, Zeitlichkeit, 262.318 Anm. 1; kursiv im Original), vgl. auch Flasch, Confessiones, 16.20. Die neuzeitliche Fragestellung nach Zeit und Zeiterleben, etwa in einer phänomenologischen Sicht, ist also augustinisch vorgeprägt. 38 Conf. 11. Buch, K. XXVIII, 37 [Übersetzung: Flasch/Mojsisch]. Augustin schreibt darum auch der Zeit als solcher die Tendenz zu, nicht zu sein, da sie durch einen Mangel an Gegenwart bestimmt sei, denn der Gegenwart kommt keine Dauer zu und Vergangenheit und Zukunft »sind« nicht, vgl. Conf. 11. Buch, K. XIV, 17. Jedoch zeigt sich gerade in

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

Der Begriff der Gegenwart unterliegt ebenso wie der des Jetzt bis heute einer vergleichbaren, begrifflichen Doppeldeutigkeit.39 So kann der Begriff der Gegenwart sowohl als Ausdruck für eben jenen ausdehnungslosen Übergang von Vergangenheit zu Zukunft verwendet werden, als auch für das andauernde, menschliche Erfassen von Gegenwart, dem in eben diesem Andauern sehr wohl eine Ausdehnung zukommt, die als menschliche Lebensgegenwart erlebt wird. In diesem letzteren Sinne wird der Begriff der (Lebens-)Gegenwart, ebenso wie die Rede vom (Lebens-)Jetzt des Menschen, im Interesse der Vermittelbarkeit und Kommunikabilität im Folgenden verwendet. Auf dieses lebensweltliche Verständnis hin werden die Entwürfe Balthasars und Pannenbergs befragt. Damit wird der Begriff Gegenwart zugleich in dem Sinne verwendet, in dem Menschen präsentische Aussagen über ihr Erleben tätigen können. Im alltagssprachlichen Gebrauch präsentischer Aussagen kann dabei mit dem Begriff der Gegenwart auf sehr unterschiedliche Zeiträume rekurriert werden. So kann eine präsentische Aussage wie: „Ich blinzedieser negativen Bestimmtheit nach Manzke auch die Bedeutung der Gegenwart für das Zeitverständnis Augustins, vgl. Manzke, Zeitlichkeit, 363 f. Gegenwart von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem werden zu drei Dimensionen der als distentio animi erfahrenen Gegenwart, vgl. Conf. 11. Buch, K. XXVI, 33. Kugelmann wiederum erwägt, ob Antizipation die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem ermöglicht und Augustins Aporie der ausdehnungslosen Gegenwart umgeht, vgl. Kugelmann, Antizipation, 283. Alternativ kann theoretisch sogar alle Zeit als Gegenwart verstanden werden, da es Vergangenheit und Zukunft nur als gegenwärtige Vergangenheit und Zukunft gibt, vgl. die Gegenüberstellung bei Koselleck, Zeitschichten, 247 f. Um alle geschichtlichen Zeitbestimmungen formal hinreichend zu erfassen, schlägt Koselleck im Anschluss an Luhmann u. a. vor, alle Zeitdimensionen selber zu verzeitlichen, so dass sich dreimal drei Kombinationen ergeben: gegenwärtige Vergangenheit, gegenwärtige Zukunft, gegenwärtige Gegenwart – entweder ausdehnungslos nichtig oder alle Zeiten umgreifend; vergangene Gegenwart mit vergangener Vergangenheit und vergangenen Zukünften; zukünftige Gegenwart mit zukünftiger Vergangenheit und zukünftigen Zukünften. Dauer kann nun als von vergangener Gegenwart bis in zukünftige Zukunft reichend beschrieben werden, vgl. Koselleck, Zeitschichten, 248 f. Physiologisch, so sei ergänzt, arbeitete der Medizinpsychologe Pöppel heraus, dass für das menschliche Gehirn mit einer Integrationszeit von drei Sekunden für aufeinanderfolgende Reize und Ereignisse auszugehen ist, die dann als „Gegenwartsfenster“ (Pöppel, Gegenwart, 15) erlebt und mit den vorausgehenden und folgenden Reizen verknüpft werden. Vgl. auch Pöppel, Welterfahrung, 15–22.63. Pöppel folgert aus Experimenten zu Reaktionszeiten, dass die Kontinuität der Zeit für den Menschen vermutlich eine Illusion ist, da subjektive Zeit in „Zeitquanten“ (Pöppel, Welterfahrung, 42) aus Wahrnehmung, Identifikation, Entscheidung und Reaktion unterteilt ist. Seine subjektive Gegenwart hat demnach für den Menschen eine Dauer von wenigen Sekunden und beruht auf einem „Integrations-Mechanismus, der aufeinanderfolgende Ereignisse zu Wahrnehmungsgestalten zusammenfaßt.“ (Pöppel, Welterfahrung, 55.) Die Kapazität dieses Integrations-Mechanismus scheint mit Geschehnissen aus einer Dauer, die drei Sekunden überschreitet, überfordert zu sein, vgl. Pöppel, Welterfahrung, 116. Diese physiologische Beobachtung kann und möchte aber selbstverständlich nicht den existenzphilosophischen, begrifflichen Doppelcharakter von Gegenwart als ausdehnungslosem Schnittpunkt der temporalen Modi und erlebter Dauer auflösen. 39 Vgl. entsprechend dem hier Gesagten zum Begriff des »jetzt« Pöppel, Welterfahrung, 54.

3. Zum Aufbau der Untersuchung

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le“, „Ich fahre Auto“, oder: „Ich studiere“, einen sekunden-, stunden- oder sogar jahrelangen Zeitraum bezeichnen. Indem Gegenwart so nicht als ausdehnungslose Kreuzung von Vergangenheit und Zukunft bestimmt wird, gewinnt sie als erlebte Lebensgegenwart an »Zeitraum«; das jedoch um den Preis, dass ihre Ausdehnung je nach Charakter einer präsentischen Aussage unterschiedlich bestimmbar wird.40

3. Zum Aufbau der Untersuchung Um zu einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart zu gelangen und die These eines Zusammenhangs des Erlebens von Zeitlichkeit und Transzendenz, der sich gerade im Gegenwartserleben ausmachen lässt, zu erhärten, werden im Folgenden die geschichtstheologischen Entwürfe Hans Urs von Balthasars und Wolfhart Pannenbergs herangezogen. Mit dem Begriff der Gegenwart wird dabei nach einem spezifischen Aspekt ihrer Geschichtstheologie gefragt, der zugleich in den Kontext ihres jeweiligen geschichtstheologischen Werkes einzuordnen ist, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, ihre jeweilige Geschichtstheologie in dieser Untersuchung in Gänze darzulegen. Unter I.4. soll, zugleich mit einigen einführenden Worten zu Person und Werk, zunächst deutlich werden, weswegen diese beiden Theologen für die vorliegende Untersuchung ausgewählt wurden. Darauf folgt unter II. und III. die Darstellung ihrer theologischen Deutung von Gegenwart im Kontext ihrer geschichtstheologischen Entwürfe, die den mit Abstand größten Umfang innerhalb von dieser Arbeit einnimmt. Im letzten Abschnitt wird dann der Bogen zurück zur Einleitung (I.1.) geschlagen, indem die Erträge zusammengefasst werden sowie nach der Vermittelbarkeit einer theologischen Gegenwartsdeutung in ein verzeitlichtes Umfeld gefragt wird (IV.). Eingangs- und Ausgangskapitel bilden so den Rahmen der Darstellung.

40 Über den Begriff des Augenblicks und ebenso den des Moments und des Heute wird in dieser Untersuchung supplementär zur Erfahrung der Dauer von Gegenwart die Erfahrung der Flüchtigkeit von Gegenwart zur Sprache gebracht. Über die Konnotation des Räumlichen ist dann noch zwischen den ansonsten sinngleich verwendeten Begriffen Gegenwart und Jetzt zu differenzieren. So prononciert das Adverb »jetzt« genauso wie das substantivierte »Jetzt« die temporale Dimension von Gegenwart, während »gegenwärtig« zeitliches Jetzt und räumliche Anwesenheit explizit mit umfasst.

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

4. Zu den herangezogenen Theologen. Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg Anhand der Werke Hans Urs von Balthasars (* 12.08.1905 in Luzern; † 26.06.1988 in Basel) und Wolfhart Pannenbergs (* 02.10.1928 in Stettin; † 04.09.2014 in München) sollen zwei einander ergänzende Konzepte theologischer Geschichtsund damit auch Gegenwartsdeutung entfaltet werden. Die Entwürfe Balthasars und Pannenbergs widmen sich der Geschichtlichkeit des Menschen und damit zugleich seiner zeitlichen Verfasstheit in besonderer Tiefe, weswegen sie für diese Untersuchung ausgewählt wurden. Während bereits Arbeiten zu ihren jeweiligen Geschichtsverständnissen vorliegen,41 steht eine ausführliche Darlegung, welche Deutung menschlicher Lebensgegenwart sich daraus ergibt, noch aus. Diese soll in den Hauptteilen II. und III. vorgenommen werden. Balthasar und Pannenberg sind zwei der großen Theologen des 20. Jahrhunderts; Balthasar als katholischer Schriftsteller, Herausgeber, Seelsorger und Gründer eines Säkularinstituts, für das er den Jesuitenorden verließ, ohne innerlich mit Ignatius zu brechen, zeit seines Lebens hoch geachtet und doch ein theologischer Außenseiter; Pannenberg als evangelischer Theologieprofessor, der den seinerzeit in der protestantischen Theologie vorherrschenden Strömungen der dialektischen und der kerygmatischen Theologie kontrastierend eine eigene geschichts-, zukunfts- und vernunftbezogene theologische Systematik gegenüberstellte. Auf je eigene Weise gehören Balthasar und Pannenberg zu den Theologen des 20. Jahrhunderts, die sich auf das weite und umstrittene Feld der Geschichtstheologie gewagt haben. Damit haben sie sich auf ein durchaus kontrovers diskutiertes Unterfangen eingelassen. So bezeichnet etwa Dierken geschichtstheologische Interpretamente als Konstruktion, die ihren konstruierten Charakter zugleich in höchstem Maße vergessen macht.42 Er lässt allein die wachsende Einsicht in die Kontingenz 41 Exemplarisch seien genannt: Hartmann, S., Christo-Logik der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar. Zur Systematik und Aktualität seiner frühen Schrift „Theologie der Geschichte“, Hamburg 2004; Kim, S.-T., Christliche Denkform: Theozentrik oder Anthropozentrik? Die Frage nach dem Subjekt der Geschichte bei Hans Urs von Balthasar und Johann Baptist Metz, Freiburg/Br. 1999 (ÖB 34); Plettscher, S., Die Selbstevidenz des Christusereignisses in der Geschichte. Die offenbarungstheologische Dimension der trinitarischen Aussagen bei Hans Urs von Balthasar, Würzburg 2009 (Bonner dogmatische Studien Bd. 45); sowie zu Pannenberg: Grimmer, K.F., Geschichte im Fragment: Grundelemente einer Theologie der Geschichte, Stuttgart Berlin Köln 2000; Koch, K., Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer Philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive, Mainz 1988 (TTS 32); Mostert, C., God and the Future. Wolfhart Pannenberg‘s Eschatological Doctrine of God, London / New York 2002; Wenz, G. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018. 42 Vgl. Dierken, Fortschritte, 19.

4. Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg

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der eigenen Religion als Fortschritt in der Geschichte der Religion gelten, im Zuge dessen heilsgeschichtliche Schemata überholt werden.43 Gott offenbart sich sub contrario im Leiden Jesu und „da sollen wir Gott suchen – diese »altprotestantische« These ist am Ende tragfähiger als jede »neuprotestantische« Geschichtstheologie“44, so formuliert Schröder kritisch am Ende seines Vortrags über die Kriegsbegeisterung im deutschen Protestantismus im Umfeld des I. Weltkrieges. Tatsächlich hat gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor Augen geführt, in welche Abgründe eine fehlgeleitete Geschichtstheologie führen kann, die, allzu unmittelbar und teils sogar von politischen Interessen geleitet, historisches Geschehen und göttliches Wirken miteinander identifizierte. Und zugleich ist Gott doch nicht aus der Geschichte zu verabschieden, wenn er in der Bibel als geschichtlich Handelnder geschildert wird und wenn das Band zwischen Glaube und menschlicher, geschichtlicher Lebenswelt nicht zertrennt und damit der Wirklichkeitsbezug des Glaubens erhalten werden soll. Zudem stehen Theologie der Geschichte45 und Geschichte der Theologie in wechselseitigem Zusammenhang „wie zwei Pole einer Ellipse“46, die zu ignorieren zu blinden Flecken führt. Kasper beschreibt dabei die evangelische Variante der Entgeschichtlichung der Theologie als Existenzialisierung, die katholische als Flucht in die Ekklesiologie. Glaube ohne Geschichte versinkt jedoch, wie Kasper zu Recht festhält, in einer quasi pietistischen Innerlichkeit.47 Es bleibt daher, auch und gerade angesichts der Geschichte der Geschichtstheologie, immer neu zu fragen nach einer angemessenen Zuordnung von Gott und Geschichte. Balthasar und Pannenberg haben dies getan. Ihre Erwartung, Gott in der Geschichte am Werk zu finden, macht sie zu relevanten Gesprächspartnern auch in der Frage nach der Bedeutung des Jetzt. Dabei betonen sie, wie in dieser Untersuchung in den folgenden Kapiteln zu belegen sein wird, unterschiedliche, doch sich in ihren Zugängen ergänzende Aspekte menschlicher Lebensgegenwart. Bei Balthasar geschieht dies durch einen christologischen Ansatz, dem eine individualitätstheoretische Perspektive auf den Menschen als Fragment korreliert, die zu einem theodramatischen Sendungsgedanken führt (II.), bei Pannenberg über seinen anthropologischen Ausgangspunkt, dem menschlichen Ausgriff aufs Ganze, der dem Konzept der Antizipation der Zukunft in Jesus Christus korreliert (III.).

43 Vgl. Dierken, Fortschritte, 17–19.173.218 f.225. Besonders den damit verbundenen Gewinn an Freiheit und Gewaltlosigkeit hebt er hervor, vgl. Dierken, Fortschritte, 218 f. 44 Schröder, 1914 und 1989, 28. 45 Für Geschichtstheologie gilt dabei: „In methodisch gebotener Abstraktheit bezieht sich […] die Geschichtstheologie nicht unmittelbar auf das Wirken Gottes in der Geschichte. Ein solches ist ihr nur in individuellen und kollektiven Selbst- und Weltdeutungen von Menschen zugänglich, die in ihrer Praxis den Gott bezeugen, der sich ihnen in der Geschichte Jesu und vermittelt durch sie geoffenbart hat.“ (Essen, Herausbildung, 148.) 46 Essen/Frevel, Geschichte, 8. 47 Vgl. Kasper, Glaube, 75.

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I. Aspekte einer theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart

Balthasars Geschichtstheologie weist, ausgehend von der Christusoffenbarung als Grundlage seiner Wirklichkeitsdeutung (II.3.), eine starke Fokussierung auf das menschliche Lebensjetzt auf (II.4.1-II.4.7) und wird von daher relevant für die Fragestellung dieser Untersuchung. Balthasar wendet sich grundlegend gegen die „Desinkarnation“48 des Menschen, die da geschieht, wo seine „faustische Unruhe“49, „seine offene Unruhe zu Gott hin, innerhalb der menschlichen Natur“50 aufgelöst werden soll. Dies nämlich entführt den Menschen „zugunsten einer Idee“51 aus seiner Gegenwart ins Zeitlose. Balthasars Entwurf aber möchte den Menschen in sein Jetzt hineinführen. In seiner Geschichtstheologie bedient er sich dabei dramatischer Bezüge des Theaters, die vor die Frage nach der Bedeutung der Existenz des Menschen stellen, wie Balthasar es beispielsweise bei Ionesco ausmacht: „Die Existenz selbst ist das eigentlich Dramatische, weil sie in jähem Umschlag zwei Zustände erweckt: den einer unfaßlichen Fülle, Gegenwärtigkeit, schwebenden Wonne und Leichtigkeit – und den einer Leere und Bedrohung, die sich gerade angesichts dieser Schwebe anzeigt und zum unfaßlichen Schwergewicht wird.“52 Auch in Pannenbergs Geschichtstheologie spielt die Frage nach der menschlichen Lebensgegenwart eine besondere Rolle. Greive versteht in seiner jüngst erschienenen Monografie über Pannenberg dessen Werk als kritische Auseinandersetzung mit dem „Irrationalismus“, der der Schwierigkeit entspringt, dass „die Wahrheitsund Sinnfrage im Leben [als Folge einer historistischen Weltsicht; Anm. d. Vf.in] in der Geschichte unterzugehen scheint“ sowie der kritischen Auseinandersetzung mit der Losung „Carpe diem, als Krönung epikuräischer Weisheit im klassischen Denken geachtet, weil sie auf Seelenruhe mittels klarer Zügelung maßloser Begierden zielt“, die nun in einem verkürzten Verständnis ihrer selbst zum Motto einer „Spaßgesellschaft“53 geworden ist. Pannenberg hält dem nach Greive entgegen: „Sich der Gegenwart im Horizont der Vergangenheit und der Zukunft zu stellen, dient der wahren Orientierung des Menschen, und dieser Zusammenhang der Zeitdimensionen wird allgemein im Verständnis der Wirklichkeit als Geschichte 48 49 50 51 52 53

TD III 132.133. TD III 133. TD III 132. TD III 133. TD I 309 f. Greive, Glaubwürdigkeit, 23 (kursiv im Original). Greive stellt zudem dar, wie Pannenberg sich mit der Hypothese, religiös sei es möglich, von einem Sinn der Geschichte auszugehen, im Gegenüber zum eingangs unter I.1. bereits zitierten Historiker Koselleck positioniert, der dazu tendiert, der Geschichte keinen Sinn zuzuschreiben, vgl. Greive, Glaubwürdigkeit, 56–58.

4. Hans Urs von Balthasar und Wolfhart Pannenberg

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verantwortet, in der der Mensch trotz aller Zerstreuung und Zerrissenheit seine Identität sucht.“54 Vor allem in Bezug auf die Zukunft hat Pannenberg die Bedeutung des christlichen Glaubens dafür herausgearbeitet, sich der Gegenwart tatsächlich gelingend stellen zu können (III.2.1; III.3.; III.4.1). Da Balthasar zwar die Auseinandersetzung mit, aber weniger die Anknüpfung an das neuzeitliche Denken sucht,55 wird seinem Entwurf die in seiner theologischen Anthropologie56 fundierte Gegenwartsdeutung Pannenbergs gegenübergestellt (III.2). Pannenberg setzt nämlich, wie unten zu entfalten sein wird, in seinem Entwurf die Historisierung der Vernunft konsequent voraus und überträgt sie in eigenständiger Weise auf seine Theologie.57 Dass Balthasar und Pannenberg in je eigener Weise von K. Barth inspiriert sind, sich jedoch gerade in ihrer Geschichtstheologie bewusst von ihm absetzen, wird mehrfach Erwähnung finden. Balthasar und Pannenberg weisen von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus nach, dass der Mensch über seine Gegenwart hinaus fragen und sich damit »religiös« in einem größeren Ganzen verorten muss, ohne ihn aus seiner Gegenwart lösen zu wollen. Sie lassen weiterhin vermuten, dass die Fokussierung der Moderne auf die Gegenwart nicht spezifisch a- oder gar antireligiös ist, sondern religiöse Wurzeln hat. Ohne dass der konfessionelle Unterschied übersprungen werden kann und darf, sollen die Entwürfe Balthasars und Pannenbergs im Folgenden nicht allein auf der Ebene der Gegenüberstellung eines katholischen und eines evangelischen Verständnisses zum Jetzt betrachtet werden, das jeweils doch nur exemplarisch und nur bedingt zu verallgemeinern wäre, sondern vor allem auf der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Fragestellung dieser Arbeit nach dem Jetzt des Menschen und seiner Füllung im Hinblick auf den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz. Nun sei nach dieser beiden Theologen gemeinsam gewidmeten Hinführung übergegangen zur jeweils auf einen Entwurf bezogenen Darstellung des Gegenwartsverständnisses von Balthasar (II.) und Pannenberg (III.). 54 55 56 57

Greive, Glaubwürdigkeit, 24. Vgl. Löser, Annäherungen, 21. Vgl. A 16. Darauf, dass die Entwicklung des historischen bzw. historistischen Denkens selbst historisch relativ ist, weist etwa Graf anhand seiner Beobachtungen zum Historismus hin, vgl. ders., Art. Historismus, 1796. Indem Pannenberg nun historisches Denken auf den Offenbarungsbegriff anwendet (III.3.), sucht er, gerade unter Anerkennung dieser Erkenntnis, den Offenbarungsgedanken und die christlich an ihn geknüpften Glaubensinhalte zu validieren. Während nämlich dialektische und kerygmatische Theologie der Historisierung auch des theologischen Denkens insofern entgehen wollten, als dass sie Offenbarung entweder als supranaturales, geschichtsenthobenes Geschehen verstanden (K. Barth) oder das Dass des Glaubens so stark betonten, dass der historische Grund dieses Glaubens demgegenüber als sekundär erscheinen konnte (Bultmann), versteht Pannenberg Offenbarung selbst als Geschichte.

II. Hans Urs von Balthasar 1. Einleitung Ziel der folgenden Kapitel ist es, Balthasars Geschichtstheologie gemäß der eingangs definierten Fragestellung (I.1) auf sein Verständnis von Gegenwart hin zu untersuchen, um anhand dessen den darin aufscheinenden Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz zu erschließen. Hans Urs von Balthasar liefert dabei keine bündige, begriffliche Definition von Gegenwart. Vielmehr muss sein Gegenwartsverständnis aus seinen geschichtstheologischen Ausführungen erschlossen werden. Damit Balthasars Gegenwartsverständnis hierbei nicht freischwebend dargestellt wird, ist unter II.2. zunächst eine Hinführung zu seiner Geschichtstheologie zu bieten. Der sich aus dieser Hinführung erschließende christologische Ansatz der theodramatischen Geschichtstheologie Balthasars wird in seinen für die im Folgenden dargestellte Gegenwartsdeutung Balthasars besonders relevanten Voraussetzungen unter II.3. aufgeschlüsselt. Unter II.4. folgt dann die eigentliche Gegenwartsdeutung Balthasars. Der Ertrag der Untersuchung wird unter II.5. zusammengefasst. Jeder Abschnitt beginnt mit einer einleitenden Vorausschau auf die folgenden Unterabschnitte, der der Orientierung des Lesenden dienen soll. Die eigentliche Darstellung mit Belegen folgt dann in eben diesen Unterabschnitten.

2. Hinführung Als Hinführung in die Geschichtstheologie Balthasars wird im Folgenden zunächst auf die für Balthasars Gesamtwerk charakteristische Verknüpfung von Theologie und Heiligkeit und somit auch Dogmatik und Spiritualität verwiesen (II.2.1). Diese verleiht Balthasars Denken einen existenziell ansprechenden und zugleich doch auch spekulativ-assoziativen Zug, der sich auch in seiner Gegenwartsdeutung bemerkbar machen wird. Ab II.2.2 fokussiert sich die Darstellung zunehmend auf seine Geschichtstheologie. Diese wird im Hinblick auf theologiegeschichtliche Einflüsse verortet (II.2.2.1) sowie eine werkgeschichtliche Hinführung (II.2.2.2) geboten, im Rahmen derer die Theodramatik als bedeutendster und geschlossenster geschichtstheologischer Entwurf Balthasars noch einmal extra vorgestellt wird (II.2.2.3). Eine kurze Auswertung des bis dahin Dargestellten schließt die Hinführung ab (II.2.2.4).

2.1 Theologie und Heiligkeit

2.1

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Theologie und Heiligkeit

In Balthasars Theologie sind rationale Erwägung und Spiritualität eng verwoben. Beobachtungen hierzu seien an den Beginn der Darstellung Balthasars gestellt, da diese Verbindung durchaus ambivalent wahrgenommen werden kann. Sie kann als existenziell ansprechend oder als spekulativ gewertet werden und zugleich schlägt hier das Herz von Balthasars Theologie, wie sich auch in seiner Gegenwartsdeutung zeigen wird. Guerriero formuliert es zu Beginn seiner Monografie über Balthasar treffend so: „Balthasar war kein um seine Aktualität besorgter Theologe. Seine Theologie nährte sich von Gebet und Askese, wobei er das Wagnis des Kontemplativen einging, der in der Begegnung mit Gott eine neue und tiefere Wahrnehmung der Geschichte und der Welt geschenkt erhält.“58 Theologietreiben, etsi deus non daretur, ist von hier aus nicht möglich. Dieser Hinweis ist nötig, um eben jenen spirituellen Zug, der in der Geschichts- und der daraus abzuleitenden Gegenwartsdeutung Balthasars immer wieder aufscheinen wird, im Hinblick auf seine von ihm selbst als spirituell verstandene Theologie wahrnehmen und einordnen zu können. Diese möchte nämlich nicht allein informieren, sondern auch involvieren. Sie hat daher manchmal einen geradezu verkündigenden Klang. „Die Wahrheit Christi ist nicht anders zu erfahren, als dadurch, daß man persönlich sein persönliches Leben nachlebt.“59 Bei Balthasar verbinden sich darum teils gegenständlich gedeutete Dogmatik und Existenzerschließung. Konda stellt in ihrer Untersuchung zu Theologie und Heiligkeit im Werke Balthasars Spiritualität als subjektive Seite der Dogmatik und geistliches Leben als Dogma im Vollzug dar.60 Das daraus resultierende, teils assoziative Ineinander spiritueller, dogmatischer und auch historischer Überlegung, – sowie darüber hinaus gerade in der Theodramatik auch literarischer Bezüge61 und solcher aufs Theater –, erschwert den akademischen Zugang zu Balthasars Theologie.

58 Guerriero, Balthasar, 12 f. Ob unmodern zu sein auch heißen kann, zeitlos zu sein, wird sich wohl daran entscheiden, ob ein theologischer Entwurf, im Sinne Tillichs, um eine gestrige oder die zeitlose Wahrheit des christlichen Glaubens kreist, vgl. Tillich, Theologie, 9. 59 Balthasar, Ordensregeln, 9. Es geht Balthasar darum, die ganze, auch geistige Existenz des Menschen „enger mit Gott zu verbinden“ (VC 212). Balthasars Haltung in dieser Frage ruft Assoziationen zu Bonhoeffer wach: „Das bedeutet, daß eine Erkenntnis nicht getrennt werden kann von der Existenz, in der sie gewonnen ist.“ (Bonhoeffer, Nachfolge, 38.) 60 Vgl. Konda, Heiligkeit, 277–307. Vgl. VC 226 ff. 61 Vgl. Haas, Apokalypse, 62–77. Im Hintergrund steht hier das germanistische Studium Balthasars, so dass auch sein literarischer Zugriff der eines Gelehrten bleibt, wenn auch stets mit einem „theologischen Apriori“ versehen, das ihn nach Haas als „interdisziplinär orientierten Theologen“ (Haas, Apokalypse, 63) ausweist.

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II. Hans Urs von Balthasar

Triebfeder dieser Herangehensweise Balthasars war seine Überzeugung von der Wichtigkeit einer lebendigen Spiritualität, die sich aus den Quellen selbst speisen soll, wie etwa der Patristik. Balthasar gab darum eine große Zahl geistlicher Texte der christlichen Tradition von der Antike bis zur Gegenwart neu heraus, die er teilweise zu diesem Zweck selbst übersetzte.62 Balthasar war überzeugt, Theologie lebe aus der Spiritualität und damit zugleich dem persönlichen Berührtsein durch Gott. Theologie und Heiligkeit63 gehören für Balthasar daher zusammen und sie voneinander zu trennen, verstümmelt seines Erachtens Glauben und Denken. Theologie kommt durch ihre Verbindung mit der spirituellen Dimension der Heiligkeit nicht nur eine rationale, sondern ebenso eine pneumatische Dimension zu,64 ist Gott gegenüber doch nicht „Bescheidwissen“65, sondern Ehrfurcht die angemessene Haltung. Balthasars Theologie möchte dazu beitragen, eine solche Haltung in der eigenen Existenz zu finden. Theologie sollte darum immer, unabhängig vom jeweils vorherrschenden Zeitgeist, „Existenztheologie (eine Tautologie!)“66 sein. Von einer Frage betroffen zu sein, stellt für Balthasar daher keinen Verlust distanzierter Objektivität dar, sondern ist für die Theologie, die ihrem Wesen und ihrer Form nach substanziell dramatisch ist, unerlässlich.67 In »Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I« (VC) äußert er sich darum kritisch zur Entwicklung der Theologie: „Irgendeinmal [sic] geschah die Wendung von der knienden Theologie zur sitzenden Theologie.“68 Damit wurde die wissenschaftliche Theologie „gebetsfremder und damit unerfahrener im Ton, mit dem man über das Heilige reden soll, während die «erbauliche» Theologie durch zunehmende Inhaltslosigkeit nicht selten falscher Salbung verfällt.“69 Auch durch die »Herrlichkeit«70 (H) zieht sich die Beobachtung Balthasars aus VC, dass es bis in die Zeit der Hochscholastik hinein noch Theolo62 Gedacht ist hierbei u. a. an Texte der Reihe »Christliche Meister« im Johannes Verlag Einsiedeln und die Sammlung der fünf großen Ordensregeln (Balthasar, H.U.v., Die großen Ordensregeln, Einsiedeln 82010). Die existenzielle, nicht allein die theoretische Aneignung steht dabei für Balthasar im Fokus, wie es sich exemplarisch im Nachwort zu seiner Übersetzung der Exerzitien des Ignatius von Loyola ausdrückt, in dem Balthasar dazu ermutigt, sich selbst auf einen spirituellen Weg des Lernens zu begeben, der erst im eigentlichen Sinne eine Kenntnis der Exerzitien ermöglicht: Man „muß die Exerzitien machen, um sie kennenzulernen“ (Balthasar in: Ignatius von Loyola, Exerzitien, 115). 63 Im Vorwort seiner Ausgabe der großen Ordensregeln bestimmt Balthasar Heiligkeit als „Empfang und Annahme übernatürlicher, christlicher Sendung.“ (Balthasar, Ordensregeln, 7.) Eine solche Sendung dient der Gemeinschaft, nicht dem Herausheben eines Einzelnen, und zugleich traut Balthasar damit dem Einzelnen zu, eine potenziell prägende Rolle für die Gemeinschaft einzunehmen. Im Prinzip besteht Heiligkeit damit in gelebter Theologie. 64 Vgl. SC 104. 65 TD II,1 107. 66 TG 22 (kursiv im Original). Vgl. u. a. auch TD I 21 f.; Schilson, Präsens, 70. 67 Vgl. TD I 115 f.; TD II,1 135. 68 VC 224. 69 VC 224. 70 Vgl. den Aufbau der Bände H II,1 und H II,2.

2.1 Theologie und Heiligkeit

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gen, doch danach vor allem Laien sind, die ein Gespür für die Herrlichkeit Gottes zum Ausdruck bringen. „Es gibt in der Geschichte der katholischen Theologie kaum ein Ereignis, das weniger beachtet worden ist und doch mehr Beachtung verdient als die Tatsache, daß es seit der Hochscholastik wenig heilige Theologen mehr gab.“71 Diesem zunehmenden Auseinandertreten von Theologie und Heiligkeit möchte er mit seinem Werk entgegentreten. Ins Dramatische transponiert findet sich dieser Topos auch in der Theodramatik, deren Aufbau unter II.2.2.3 thematisiert werden wird: Epische Theologie rede unbeteiligt über Gott, dogmatisch oder narrativ; lyrische spräche ihn im Gebet an, spirituell und persönlich; und die Dramatik sei dann die quasi dialektische Verknüpfung beider Rede- und Begegnungsmodi.72 Da gibt es Autor, Regisseur, Schauspieler und Zuschauer, eine Aufführung, die Zeit kostet,73 die Bühne als Interaktionsfläche für Proben und die Aufführung zwischen Ensemble und Publikum. In der Dramatik gibt es für Balthasar keinen neutralen Standpunkt. Dass niemand unbeteiligt im Zuschauerraum sitzen bleiben kann, ist ihm gewiss.74 Darum auch gehören für ihn Gebet und Theologie zusammen und kann beispielsweise das letzte Kapitel in „Spiritus Creator“ ein Gebet um den Heiligen Geist sein.75 Balthasar meint, dies Vorgehen sei sachgerecht: „Gebetete Theologie heißt nicht «affektive» Theologie im Gegensatz zu eigentlicher, streng-wissenschaftlicher. […] Es soll scharf und richtig gedacht werden. Aber es soll auch sachgerecht gedacht werden, nämlich so, daß man dieser einen, einzigartigen, inhaltlich und methodisch unvergleichlichen Sache gerecht wird.“76 Dabei macht Balthasar in der spirituellen Dimension der Heiligkeit zugleich ein bedeutendes, kritisches Potenzial aus, da sie zum Widerstand gegenüber der kirchlichen Tradition ruft, wo diese sich selbst absolut setzt.77

71 VC 195. Zugleich meint Balthasar jedoch auch: „Die Fortschritte der Scholastik sind evident.“ (VC 224.) 72 Vgl. TD II,1 48–55.55 ff. 73 Vgl. TD II,1 82. 74 Glaube und Werke gehören dabei zusammen. Balthasar kritisiert darum die Vorordnung des Glaubens vor den Werken, die er im Protestantismus ausmacht, vgl. TD II,1 62 f. 75 Vgl. SC 472–479. Der Vergleich zu altkirchlicher und mittelalterlicher Theologie, in der religionsphilosophische Gedankengänge im Zwiegespräch mit Gott vorgetragen werden, etwa in Augustins Confessiones oder Anselms Proslogion, wird durch solche Texte sofort aufgerufen. 76 VC 223 f. 77 Vgl. Balthasar, Schleifung, 12 f. Es sind solche Aussagen, durch die Balthasar vorkonziliar als Reformer wahrgenommen wurde.

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II. Hans Urs von Balthasar

In der Beurteilung des gerade im Hinblick auf den Nexus von Theologie und Heiligkeit sehr eigenständigen Werkes Balthasars scheiden sich die Geister. Je nach Perspektive und Interesse, aus dem heraus Balthasar gelesen wird, wird die stets mitschwingende, spirituelle Saite seiner Theologie als Störung oder als Potenzial wahrgenommen. So weist Hartmann darauf hin, dass Balthasars Schriften teils skizzenhaft-unsystematisch, eher kreisend als linear verfasst sind und sich – gemäß dem spezifischen Anliegen Balthasars, Theologie und Heiligkeit zu verbinden –, Dogmatik und Spiritualität stets durchdringen.78 Disse wiederum nennt Balthasar einen „geniale[n] Interpret der abendländischen Geistesgeschichte“79, dessen eigene Position häufig jedoch mehr in seinen Kommentaren zu anderen Autoren aufscheine als in einem eigens errichteten Denkgebäude. Balthasar, der nie einen theologischen Lehrstuhl innehatte, erschien vielen „professionellen Theologen“ bereits zu seinen Lebzeiten als „Außenseiter“80. Lochbrunner spricht von einem anti-systematischen Zug in Balthasars Werk, da es Balthasar nicht um das Bewältigen von Erkenntnis gehe, sondern eben gerade um das Aufsprengen von Systemen.81 Brauer bezeichnet Balthasar gar als tendenziell antiaufklärerisch und vorkritisch objektivierend. Er entziehe sich dadurch einem rationalen, wissenschaftlichen Diskurs.82 Für seine Verquickung von Dogmatik und Spiritualität wurde Balthasar jedoch auch positiv gewürdigt, etwa von Sicari83 und Guerriero84, die die Bedeutung dieser Verbindung gerade für das pastorale Dasein hervorheben. Winkler entdeckt in ihr einen geeigneten Anknüpfungspunkt der interreligiösen Begegnung.85 In jedem Fall bleibt festzuhalten, dass Balthasars spiritueller Impetus sich auf die Form seiner Theologie auswirkt: Argument und Idee folgen einander bei Balthasar manchmal unmittelbar. Er umkreist seine Themen teils eher assoziativ, als dass er sie systematisch bearbeitet. Gerade im „Verzicht auf ein sicherndes System“86 eröffnet er Denkräume, die sein Gespür für das Heilige erahnen lassen. „Weniger als bei anderen Theologen ist es bei Hans Urs von Balthasar möglich, die theologischen Gedankengänge zu klassifizieren und jeweils auf einen kurzen Begriff zu bringen.“87 Vor eben dieser Herausforderung steht auch die folgende Darstellung.

78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. Hartmann, Christo-Logik, 17 ff. Disse, Singularität, 31. Lochbrunner, Beziehungsgeschichten, 9 f. Vgl. Lochbrunner, Analogia Caritatis, 54–59. Vgl. Brauer, Horizont, 194–199. Vgl. Sicari, Heiligkeit, 191–206. Vgl. Guerriero, Balthasar, 183–219. Vgl. Winkler, Theologie, 162–198. Balthasar, Cordula, 116 f. Vorgrimler, Balthasar, 130.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

2.2 2.2.1

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Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars Theologiegeschichtliche Einflüsse

In Hans Urs von Balthasar begegnet ein eigenständiger Denker. Er selbst verortete sich in der Mitte zwischen einem das Bestehende bewahren wollenden Integralismus und einem reformorientierten Liberalismus. Vorkonziliar wurde er durchaus als Reformer,88 nachkonziliar eher als Restaurator wahrgenommen.89 Aus seiner eigenen Perspektive dagegen zeichnete sich sein Werk durch Kontinuität in ihrem Bezug auf die christliche Offenbarung in der Welt aus.90 Balthasar kann am ehesten der nouvelle théologie zugerechnet werden.91 Er teilte deren Anliegen der „Betonung der Geschichtlichkeit der (personal gedachten) Offenbarung“92, verbunden mit der für die nouvelle théologie typischen Ablehnung eines Zwei-Stockwerk-Denkens. Natur und Gnade bilden demnach nicht „zwei »Stockwerke« der menschlichen Existenz, sondern beide Begriffe sind miteinander enger verbunden: Die G[nade] ist die Antwort auf das Verlangen des Menschen.“93 Dass Balthasar sich für die Wiederentdeckung der Patristik einsetzte, entsprach ebenso dem Ansinnen dieser Strömung.94 In den Kirchenvätern machte er lebendige Quellen des Glaubens aus, die er besonders während der neuscholastisch gepräg88 Dies verdankte sich u. a. seinem Werk »Die Schleifung der Bastionen« aus dem Jahr 1952, in dem sich Aussagen finden wie: „So müssen auch jene, die die Last der zweitausend Jahre kirchlicher Tradition auf ihre Schultern heben, um sie selber und von ihnen her die Gegenwart zu durchklären, es mit der gleichen Jugendlichkeit ihres Christseins tun: jede gefundene Formel ist durchsichtig auf das Ereignis von damals und heute; soweit zu gebrauchen, als es der Wirklichwerdung des Damals im Heute dient, soweit zu lassen, als sie diese hindert. Von vielen komplizierten Denksystemen bleibt vielleicht dies Eine lebendig: daß wir Heutigen daran erkennen, wie andere Zeiten dem überwältigenden Geheimnis Gottes zu begegnen wußten. Wo man dies an den Systemen nicht mehr ablesen könnte, dort wären sie ganz gewiß wert, der tiefsten Vergessenheit anheimgegeben zu werden.“ (Balthasar, Schleifung, 21.) „Die Mitte der Kirche, sagt Balthasar, ist dort, wo man gewöhnlich ihre Peripherie sieht: in ihrem Weltauftrag. Deshalb müssen die abwehrenden Bollwerke geschleift und zu gangbaren Boulevards umgestaltet werden.“ (Henrici, Blick, 39.) 89 Nach dem II. Vaticanum „mußte [Balthasar] sehen, daß die Öffnung zur Welt mißverstanden wurde als Anpassung an die Welt, Haschen nach Zeitgemäßheit.“ (Henrici, Blick, 53.) 90 So stellt er selbst es 1984 in einem Interview dar, vgl. https://www.youtube.com/ watch?v=ygKIWUa-iLM, ab 6:35, aufgerufen am 20.03.2019. 91 Vgl. Voderholzer, Art. Nouvelle Théologie, 415; Löser, Annäherungen, 18–20. 92 Voderholzer, Art. Nouvelle Théologie, 414. 93 Saarinen, Art. Natur und Gnade, 104. 94 Vgl. Löser, Annäherungen, 20. An Balthasars patristischen Studien und Übersetzungen wurde des öfteren bemängelt, er arbeite zu wenig historisch-kritisch. Dies entspringt dem Interesse Balthasars, die Kirchenväter nicht nur eine akademisch-theologischen Leserschaft, sondern einer breiteren Masse zugänglich zu machen – und damit seinem unter II.2.1 geschilderten Impetus, Theologie und Heiligkeit zu verbinden, vgl. Kannengießer, Schule, 78–84.

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II. Hans Urs von Balthasar

ten theologischen Studienzeit nach dem Eintritt in den Jesuitenorden schmerzlich vermisst hatte.95 Zu diesem Eintritt bewegt worden war er 1927 durch Exerzitien, die er in der davor liegenden Zeit als Doktorand der Germanistik durchlaufen hatte.96 Die Balthasar so „zuteilgewordene Berufung [war] nicht nur für seinen weiteren Lebensweg, sondern auch für Grundoptionen seines Denkens von ausschlaggebender Bedeutung“97. Die der spirituellen Grundausrichtung seiner Theologie entsprechende, ignatianische Prägung des Lebens und Werkes Balthasars, die sich auch nach seinem Austritt aus dem Jesuitenorden 1950 durchgehalten hat, bleibt stets zu berücksichtigen.98 Sie wird besonders über den Gedanken der Sendung als gegenwartsrelevant darzustellen sein (II.4.4), ist doch der involvierende Grundgedanke der Theodramatik, wie er sich besonders in TD II,2 auftut, offenkundig den ignatianischen Exerzitien verdankt, in denen sich in der Annahme einer Sendung erschließt, was Christsein ignatianisch heißt, nämlich das Hören auf das rufende Wort und das Freiwerden zur erwarteten Antwort.99 Die analogia entis100 wiederum, deren Bedeutung ihm Erich Przywara vermittelte, bestimmt bei Balthasar „verborgen oder ausdrücklich alle Äußerungen seines 95 Vgl. Vorgrimler, Balthasar, 123. 96 Vgl. Guerriero, Balthasar, 41. 1929 trat Balthasar ins Noviziat des Jesuitenordens ein, vgl. Löser, Annäherungen, 12. 97 Löser, Annäherungen, 12. 98 Vgl. Löser, Annäherungen, 12. Aus Balthasars Sicht bedeutete, gemeinsam mit v. Speyr die Johannesgemeinschaft als Säkularinstitut zu gründen, der Idee des Ignatius zu folgen, auch wenn sich seine Tätigkeit in dieser Gründung nicht dauerhaft innerhalb des Jesuitenordens realisieren ließ und zu seinem Austritt aus dem Orden führte, vgl. Vorgrimler, Balthasar, 128 f. 99 Vgl. Löser, Exerzitien, 154. 100 Als Alternative zu den zwei Polen der univoken Rede von Gott, die dem Je-Größer-Sein Gottes nicht entspricht, indem sie Begriffe auf Gott in der gleichen Weise anwendet wie auf Gegenstände dieser Welt, und der äquivoken Rede von Gott, die in der Konsequenz alle Rede über Gott zum Verstummen bringen und lediglich apophatische Theologie zulassen würde, da kein Begriff Gott auch nur im Ansatz erfassen und jeglicher Begriff in der Anwendung auf Gott damit seine Bedeutung verlieren, also letztlich unbestimmbar würde, hat sich in der katholischen Tradition, vor allem im Gefolge Thomas von Aquins und Cajetans (vgl. Marshall, Art. Analogie, 448.450), die Idee einer analogia entis und einer von daher möglichen analogen Rede über Gott herausgebildet. Konzis zusammengefasst postuliert die analogia entis eine schöpfungsbedingte Ähnlichkeit zwischen göttlichem und menschlichem Sein in einer stets größeren Unähnlichkeit, die den Möglichkeitsgrund menschlicher Rede von Gott darstellt, vgl. Ernst, Rede, 43–57; Hoffmann, Katholische Dogmatik, 77 f. Als ontologische Idee liefert die Vorstellung einer Analogie göttlichen und geschaffenen Seins eine Möglichkeit der Zuordnung von Welt und Gott in verschiedenen Seinsabstufungen, die stets vor der Aufgabe steht, das angemessene Maß aus Unterschiedenheit und Zusammenhang zu wahren. Zur Verwendung dieser Denkfigur bei Balthasar vgl. u. a. Guerriero, Balthasar, 108–110; Faber, Przywara, 392 f.; Merkelbach, Sehnsucht, 243–251; Lösel, Kreuzwege, 67–98; Lochbrunner, M., Analogia Caritatis. Darstellung und Deutung der Theologie Hans Urs von Balthasars, Freiburg 1981, der in seiner Monographie zur Theologie Balthasars dar-

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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Denkens.“101 Dabei wandelt Balthasar sie zunehmend um in eine analogia libertatis: „Diese neue Akzentsetzung eröffnet die Möglichkeiten der Hineinnahme des Begriffs ‚Geschichte‘ in das Reden von Gott und Welt.“102 Balthasar versteht die analogia entis damit nämlich als Geschehen zwischen Gott und Welt, das sich in der Geschichte vollzieht, nicht allein als Aussage über das Sein, theologische Redeweise oder erkenntnistheoretisches Axiom. Löser spricht hierbei von einer ignatianisch geprägten „Umakzentuierung von der Frage nach dem Sein zu der Frage nach der Freiheit“103. „Der wählende Gott und der Gottes Wahl wählende Mensch: Hier tritt das Grundgefüge der Wirklichkeit hervor.“104 Die analogia libertatis bürgt dabei für die Gottebenbildlichkeit des Menschen, denn ohne seine Freiheit stünde der Charakter des Menschen als imago trinitatis in Frage.105 Aus der Begegnung zweier Freiheiten, der Freiheit Gottes und der Freiheit des Menschen, entspringt dann auch das Theodrama, das Balthasar in seiner Geschichtstheologie umschreiben wird und dem viele Aspekte seiner facettenreichen Gegenwartsdeutung zu entnehmen sein werden. Die Anwendung einer theologischen Analogie kennzeichnet Balthasars Denken dabei insofern als Denken von dogmatischen Voraussetzungen her, als dass mit einer theologischen Analogie die Pole des Göttlichen und des Geschöpflichen vorausgesetzt, nicht erwiesen werden. Balthasars Theologie reflektiert also das – wenn auch asymmetrische, so doch reziproke – Aufeinanderhin dieser beiden Pole, setzt es dabei aber zugleich voraus. Da Balthasar, der nouvelle théologie entsprechend, eine „Erneuerung der Theologie aus dem Gespräch mit den Kirchenvätern und den neueren katholischen Schriftstellern“106 erwartete, blieb seine Rezeption neuzeitlicher Philosophie trotz seiner umfangreichen Kenntnisse derselben zu weiten Teilen kritisch.107 Für seine Geschichtstheologie spielt die Auseinandersetzung mit Hegel und Heidegger dennoch eine bedeutende Rolle. Balthasar wendet sich dabei jedoch insofern gegen Hegel, als dass er zwar die Idee einer geschichtlichen Selbstbewegung Gottes auf-

101 102 103 104 105 106 107

stellt, wie die analogia entis bei Balthasar in eine Analogie der Liebe transponiert wird. Die Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf wahrt dabei die Formel der maior dissimilitudo des IV. Lateranense (DS 806), vgl. TD III 355; Lochbrunner, Analogia Caritatis, 282. Balthasars Analogieverständnis führt dabei zu einer „Offenbarungsgestalt“ (Lösel, Kreuzwege, 101) Gottes, die seinem Verständnis nach gänzlich, auch apophatisch, unüberschreitbar ist. Lösel verteidigt Balthasar im Zuge seiner Darstellung gegen den Vorwurf Jüngels gegenüber dem katholischen Analogieverständnis, es führe über die maior dissimilitudo letzten Endes zum Zweifel an der Endgültigkeit der Offenbarung und in eine negative Theologie. Löser, Annäherungen, 17. Löser, Annäherungen, 18. Löser, Exerzitien, 173. Löser, Annäherungen, 56; vgl. ebd. 18. Vgl. Merkelbach, Sehnsucht, 234. Löser, Annäherungen, 21. Als einer dieser Schriftsteller sei Charles Péguy genannt, dessen Werk für Balthasar von großer Bedeutung war, vgl. H II,2 769 ff. Vgl. Löser, Annäherungen, 21.

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II. Hans Urs von Balthasar

nimmt, jedoch in seiner Geschichtstheologie, gerade in der Theodramatik, die Freiheit Gottes betonen und den Anschein einer notwendigen Selbstbewegung Gottes in Schöpfung und Geschichte vermeiden möchte.108 Mit Heidegger stellt Balthasar die Frage des Menschen nach sich selbst in seiner Zeitlichkeit und versteht die Gegenwartsexistenz des Menschen als transparent auf einen Horizont der Transzendenz.109 Er weist Heideggers Aufforderung einer „Entschlossenheit zum Tod“110 jedoch dem heroischen Versuch111 zu, Vergänglichkeit und Leid des zeitlichen, menschlichen Daseins zu bewältigen, und versucht demgegenüber, eine christologische Antwort zu geben. Er gelangt zu der Einsicht, dass die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem für den Christen „als Verweis auf die Liebe zu lesen“112 ist, nämlich die Liebe Gottes zur Welt.113 Besonders hervorzuheben ist, zumal in ihrem Bezug auf Balthasars Geschichtstheologie, seine Rezeption Karl Barths.114 So nimmt Balthasar Barths Ansatz einer christologischen Gesamtdeutung der Wirklichkeit auf.115 Zugleich geschieht diese Rezeption aber kritisch. Balthasar beharrt, ungleich stärker als Barth, auf einem eigenen Sinn – in Balthasars Diktion „Eigensinn“116 - des Geschöpflichen. Balthasar möchte die Christozentrik Barths wahren, jedoch ebenso den „vom Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater verbürgten Raum“117 der geschöpflichen Welt. Der Mensch ist bei Balthasar nicht allein Zuschauer, sondern Mitspieler eines Theodramas, wie unten noch zu entfalten sein wird (II.2.2.3). Und so kritisiert Balthasar

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Vgl. TD III 297 ff.; Kim, Denkform, 176. Vgl. TD III 77 f. GF 105. Vgl. TD IV 294 ff. Zur Unterscheidung eines heroischen und eines Weg des Scheins, um das Leid zu bewältigen, dem Balthasar einen christlichen Weg kontrastiert, vgl. GF 74 ff.77 ff.83 ff. und II.4.5.1. H III,1 974. Löser verweist auf diese Stelle und versteht sie als „Konzentrat der Antwort auf die Anfragen und Anregungen“ (Löser, Annäherungen, 139), die Balthasar Heidegger verdankt. Balthasar meint, dass das Sein nicht subsistieren kann, da es des Seienden bedarf, um zu sein, und das Seiende des Seins bedarf, weswegen die ontologische Differenz im „Sein-SeiendesEreignis“ „auf einen Grund [verweist], der aus Freiheit tätig ist“ (Löser, Annäherungen, 153), und den Balthasar in Gott ausmacht. Im Fokus dieses Abschnitts stehen also Aspekte der Barth-Rezeption Balthasars, nicht eine Analyse der Theologie Barths. Zu Balthasar und Barth vgl. u. a. Balthasar, H.U. v., Karl Barth. Darstellung und Deutung seiner Theologie, Einsiedeln 41976; Guerriero, Balthasar, 106 f.; Lochbrunner, Beziehungsgeschichten, 260 ff. Balthasar verwendet in seiner Darstellung der Theologie Barths hierfür das Bild einer Sanduhr, deren beide Gefäße, Gott und Mensch, allein durch ihre Mitte verbunden sind, durch die alle Körner nach unten rieseln. Diese Mitte ist Christus, vgl. Balthasar, Barth, 210. Balthasar wird an dieser Mitte der Theologie festhalten, wenn auch nicht an der Einseitigkeit der Richtung der Theologie von oben nach unten, und spricht von einer „Inklusion der Schöpfung, der Geschichte, aller Menschen in Jesus Christus“ (TD II,2 30). Balthasar, Barth, 254. Guerriero, Balthasar, 125.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

33

an Barth eine „Tendenz zum System, zur Nötigung“118. Der christologische Ansatz Barths sei angesichts des – auch aus Balthasars Sicht – über Christus zu bestimmenden „Letztsinn“119 des geschöpflichen Daseins unbedingt mitzuvollziehen. Barths christologischer Ansatz wurde jedoch da zu einer „Verengung“120, wo der relative „Eigensinn und Erstsinn“121 des Geschöpflichen von Barth nicht gewahrt wurde, denn: „Die Offenbarung setzt die Geschöpfe nicht in der Weise voraus, daß sie sie im Akt der Offenbarung zugleich setzte.“122 Balthasar kritisiert, dass die Philosophie, die nötig sei, um das Maß des Abstandes zwischen Christus und Mensch zu bestimmen, in dem protestantischen Entwurf Barths nicht zu ihren Recht komme. Daher erschiene „alles übrige Menschsein“ gegenüber Christus als „wahre[m] Menschen“ zu Unrecht als „Epiphänomen Christi“123. Darum auch beschreibt Balthasar Christus bereits in seinem geschichtstheologischen Traktat »Theologie der Geschichte. Ein Grundriss« (TG), das im Folgenden noch vorzustellen ist, als Offenbarung und Inbegriff der „Fülle“124 und „Norm“125 der Geschichte sowie der einzelnen Existenz – und schreibt zugleich doch auch über die Inkarnation Christi: „Ohne die Annahme einer immanenten, von der Schöpfung her geschenkten und unverlierbaren Wesenheit sowohl des Einzelmenschen wie der Weltgeschichte in ihrer zeitlichen Erstreckung und Entwicklung ließe sich keine wahre Menschwerdung und Geschichtswerdung Gottes aufrechterhalten. Es ist nicht die Wesensdefinition des Menschen, daß er ein Glied Jesu Christi ist, und nicht die der Weltgeschichte, daß sie (in Verhüllung) zusammenfällt mit der Geschichte des Reiches Gottes.“126 Die Inkarnation Christi lässt sich also für Balthasar in ihrer Echtheit nur durch die Echtheit und den Eigensinn des Einzelnen und der Weltgeschichte begründen, die wiederum darin gründet, dass der Sohn als Erlöser die Werke des Vaters, der ihr Schöpfer ist, nicht negiert.127 Das sich hier ankündigende »reziproke Moment« der Theologie Balthasars, das im Aufeinanderhin von geschöpflich-geschichtlichem Erst- und Eigensinn – vom Vater her – und christologischem Letztsinn – vom Sohn 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

Balthasar, Barth, 253. Balthasar, Barth, 254. Balthasar, Barth, 253. Balthasar, Barth, 254. Mit dem Begriff »Eigensinn« rekurriert Balthasar auf den eigenen Sinn des Menschen, nicht dessen Trotz oder Sturheit. Balthasar, Barth, 254. Balthasar, Barth, 255. TG 22. TG 23.61. TG 84. Vgl. TG 84 f.

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II. Hans Urs von Balthasar

her – aufscheint, zwischen denen der Geist vermittelt, wird sich bis in sein Spätwerk durchhalten und schließlich, wie noch darzulegen sein wird, theodramatisch gefasst werden.128 Balthasar versteht seinen christologischen Ansatz damit auch – wiederum in Abgrenzung zur Theologie Barths – nicht als ahistorisch. Vielmehr wird mit dem Raum zwischen Erstsinn und Letztsinn des Geschöpflichen zugleich der Raum der Geschichte eröffnet, also der Raum des Freiheitsgeschehens zwischen Gott und Welt, der analogia libertatis. Balthasar überwindet Barths als ahistorisch charakterisiertes Denken damit letztlich auch nicht philosophisch, wenn TG auch philosophisch einsetzt,129 oder durch die Anknüpfung an die neuzeitliche Historisierung des Denkens, sondern durch dogmatisches Denken, das ihn über die Christusoffenbarung zur Trinität führt: „Schon der in Theologie der Geschichte herausgestellte Ansatzpunkt ist ein trinitarischer“130. Balthasar kritisiert an Barth zudem, dass in dessen Theologie, trotz ihrer Betonung menschlicher Freiheit,131 die Möglichkeit des Unglaubens verloren ginge: „Wohl hat der Mensch die Macht zu einem Nein, aber zu keinem so kräftigen, daß es das Ja Gottes zum Menschen aufheben oder in Frage stellen könnte.“132 Balthasar selbst wird, wie bereits anklang und unten noch auszuführen sein wird, in der Theodramatik die Begegnung von zwei Freiheiten schildern, die sich gegenüberstehen: die unendliche Freiheit Gottes und die endliche – doch gleichwohl echte – Freiheit des Menschen.133 Gerade angesichts der Offenbarung Gottes in Christus ist sein – im Gegenüber zur reformatorischen Idee eines unfreien Willen des in Sünde gefangenen Menschen spezifisch katholisches134 – Anliegen, die endliche, menschliche Freiheit im Gegenüber der unendlichen Freiheit Gottes hervorzuheben. „Der Mensch als echter, also mit gottgewollter und -gewirkter Freiheit ausgestatteter Mitspieler im Theo-Drama – dieses Motiv war, so zeigt sich im Rückblick aus den späten Jahren auf die früheren, immer der Gegenakzent, den von Balthasar zu Barths Theologie gesetzt hat.“135 128 So zielt auch die Theodramatik in Christus auf einen „Letzt-Sinn, den man nicht selbst ergreifen, von dem man sich nur ergreifen lassen kann.“ (TD II,2 423.) Es handelt sich um eine „doppelte Bewegung: des Endlichen zum Unendlichen und des Unendlichen ins Endliche“ (TD II,1 182), wie Balthasar der Theologie Maximus Confessors entnimmt, der von einer Vermenschlichung Gottes und einer Vergöttlichung des Menschen spricht, ebd. 129 Vgl. TG 9 ff. 130 Guerriero, Balthasar, 124 (kursiv im Original). 131 Vgl. Balthasar, Barth, 183. 132 Balthasar, Barth, 257. 133 Vgl. TD II,1 170 ff. 134 Balthasar überlegte hierzu in einem Brief an Pietz: „Mir scheint Dramatik in der Theologie die katholische Sicht der menschlichen Freiheit vorauszusetzen (auch noch ‚rudimentär‘, im Sünder, wie immer man das näher festlegen mag - ‚semipelagianisch‘ sagen die Protestanten, aber das Wort ist sehr vieldeutig).“ (Zitiert nach Löser, Annäherungen, 114.) 135 Löser, Annäherungen, 116. Zugleich darf dabei nicht übersehen werden, dass auch Barths

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

35

So ist auch die Bewegung zwischen Gott und Mensch bei Balthasar nicht eine alleinig von Gott über Christus zum Menschen sich realisierende, sondern der entscheidenden Bewegung Gottes zum Menschen korreliert eine in ihrem Eigenrecht wahrzunehmende, fragende Bewegung des Menschen zu Gott hin. So stark Balthasar, ähnlich wie Barth, auch die Bedeutung der Christusoffenbarung und damit die Offenbarung Gottes von oben nach unten unterstreicht, so hebt er doch stärker als der reformierte Theologe Barth136 hervor, dass es im Menschen einen Ort der Anknüpfung gibt, der quasi eine Bewegung von unten nach oben ermöglicht. Wenn diese Bewegung auch in der „Frage“137, ja der „Lücke“138, und nicht der Antwort besteht, so ist damit doch, eben in der Aufnahme von und der Abgrenzung zu Barth intendiert, der Bewegung Gottes zum Menschen die Bewegung des Menschen zu Gott hin zu ergänzen. Wenn diese Bewegung auch ohne Christus nicht zu ihrem Ziel führen kann,139 so gilt doch, dass der Mensch offen ist hin zu Gott, ja auf ihn angelegt. Zugleich drückt sich hierin aber auch Balthasars kritische Auseinandersetzung mit der Neuscholastik aus: „Gemeint ist hier vor allem der Versuch, die neuscholastische Lehre von der natürlichen Vollendbarkeit des Menschen zu überwinden und durch die schon in der alten Theologie, zumal bei Thomas von Aquin, sich findende Auffassung zu ersetzen, der Mensch sei von Natur aus auf die Begegnung mit dem Gott des Evangeliums angelegt.“140

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Theologie schon als „Theologie der Freiheit“ (Weinrich, Barth, 36) charakterisiert worden ist, für die jedoch im Unterschied zu Balthasars Intention gilt: „Das macht ja erst die positive Qualifikation dieses Freiheitsverständnisses [Barths; Anm. d. Vf.in] aus, dass mit der Freiheit nicht mehr das Schicksal des Menschen auf dem Spiel steht, was doch nur zeigen würde, dass sie nicht tatsächlich frei ist.“ (Weinrich, Barth, 38.) Für Barth ist Freiheit die Grundbestimmung erst des christlichen Lebens, nicht des Menschen als solchem, vgl. Weinrich, Barth, 36. Weinrich konstatiert: „Indem Barth die Verwiesenheit der Theologie auf die allein in der Hand Gottes liegende Offenbarung hervorhebt, zieht er die aus seiner Sicht notwendige erkenntnistheoretische Konsequenz aus der reformatorischen Erkenntnis der Alleinwirksamkeit Gottes im Rechtfertigungsgeschehen. Was die Reformatoren für die Soteriologie exponiert haben, wird unter den veränderten Bedingungen der Neuzeit nun zu einer Voraussetzung der Möglichkeit von Theologie überhaupt.“ (Weinrich, Barth, 25.) GF 14. GF 66. „[E]rschöpfende Selbstmitteilung Gottes“ , also mehr als „partiell, fragmentarisch Beauftragter“ (TD II,2 137), etwa im Sinne eines Propheten, kann nur der sein, in dem Sendung und Person in Einheit diese Selbstmitteilung Gottes bilden. Das ist aus Balthasars Sicht nur im Gottmensch Jesus Christus der Fall. Erst in ihm finden darum die Frage des Menschen nach Gott und die Bewegung Gottes zum Menschen wirklich zueinander, vgl. ebd. Löser, Annäherungen, 75.

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II. Hans Urs von Balthasar

Es war Henri de Lubac, einer der Hauptvertreter der nouvelle théologie, über den Balthasar an die Bedeutung des thomistischen desiderium naturale dei verwiesen wurde.141 Die Sehnsucht nach, ja Offenheit des Menschen zu Gott spielt in der Folge in Balthasars Werk, auch in seinen Reflexionen auf die Zeitlichkeit des Menschen, eine bedeutende Rolle. Sie stellt sich für Balthasar jedoch dar als ein „wesenhaft Inchoatives“142, ein „zuständliches Bleiben im Anhub“143, so dass er das desiderium naturale visionis ausdrücklich nicht als „Anknüpfungspunkt“144 der Gnade Gottes verstanden wissen möchte, die die Gnade zu einem „Epiphänomen […] der Natur“145 machen würde. Balthasar spricht stattdessen von einer sich im Wesen der „rechten Kreatürlichkeit ausdrückende[n] aktive[n] Bereitschaft“146 zum Willen Gottes, die sich in Vollendung in Christus realisiert, weswegen Balthasar trotzdem „von der Wortoffenbarung zur Schöpfungsoffenbarung“147 denken möchte, nicht umgekehrt. Was sich im Menschen nach Gott hin ausstreckt, erscheint bei Balthasar von daher als christologisch unterfasste Bewegung. Nicht ohne Erwähnung bleiben soll, dass das Werk Hans Urs von Balthasars eng mit dem Wirken der Ärztin und Mystikerin Adrienne von Speyr verknüpft ist, deren Schriften er verlegte und mit der gemeinsam er die Johannesgemeinschaft gründete. Daher werden vereinzelt Hinweise auf ihr Werk gegeben.148

141 Vgl. Guerriero, Balthasar, 121; Löser, Annäherungen, 195 f. De Lubac vermittelte Balthasar zudem die Idee, dass sich die Wirklichkeit in „Paradox und Synthese“ (Löser, Annäherungen, 194) erfassen lässt, wie sich auch in der reziproken Denkweise Balthasars ausdrückt: Der Mensch sei „auf die Begegnung mit Gottes Zuwendung zu ihm gewollt und geschaffen. Er könne diese Begegnung aber nicht aus eigenen Kräften herbeiführen, sondern sei darauf angewiesen, dass Gott sich ihm gnädig öffne. Darin bestehe das Paradox des Menschen. Nun hat sich Gott tatsächlich dem Menschen mitgeteilt. Das Paradox geht über in die Synthese.“ (Löser, Annäherungen, 195.) Mit de Lubac ist neben Przywara der zweite Theologe genannt, der seit den 30ern das Denken Balthasars in herausragender Weise prägt: „Przywara und de Lubac, ‚analogia entis‘ und ‚tendentia naturalis in gratiam‘ – dies alles mit-, ja ineinander gefügt – kennzeichnen die philosophische und mehr noch theologische Grundüberzeugung, die sich von Balthasar in der Mitte der 1930-er Jahre angeeignet hatte. Der Standpunkt war damit bestimmt; nun galt es, ihn der Bewährung auszusetzen.“ (Löser, Annäherungen, 76 f.) Balthasar bemühte sich in der Folge „die Doppellehre von der Seinsanalogie und von der gnadenhaften Ausrichtung des Menschen […] als die Wasserzeichen von Wirklichkeit zu erweisen.“ (Löser, Annäherungen, 77.) 142 VC 62. 143 VC 63. 144 VC 63. 145 VC 63. 146 VC 63 (kursiv im Original). 147 VC 49. 148 Vgl. Guerriero, Balthasar, 129 ff.223 ff.; Roten, Hälften, 104–132; Löser, Annäherungen, 21.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

2.2.2

37

Werkgeschichtliches

Die vorliegende Darstellung betrachtet Balthasars Geschichtstheologie von der Theodramatik und der in ihr ausgeformten, theodramatischen Geschichtskonzeption her. Seine früheren Schriften, die Aspekte derselben in unterschiedlicher Ausprägung vordachten und dabei je eigene Akzente setzten, sind ebenfalls herangezogen worden. Besondere Berücksichtigung für die Darstellung der Geschichtstheologie Balthasars in dieser Untersuchung finden die folgenden Werke: Zunächst einmal ist »Theologie der Geschichte. Ein Grundriss« in der mehrfach wieder aufgelegten Fassung aus dem Jahr 1959149 zu nennen, die ab späteren Auflagen auch den 1961 erschienen Aufsatz »Kerygma und Gegenwart« umfasst. In TG ringt Balthasar darum, die universale Bedeutung „eines Teils der Geschichte“150, nämlich der Geschichte Jesu Christi, zu erweisen. In TG liefert Balthasar damit nach eigenem Bekunden das „Kernstück einer Theologie der Geschichte“151, das darin besteht, die Zeitlichkeit Christi in Bezug zu setzen zur „allgemeinen Zeit menschlicher Geschichte“152. Dies geschieht offenkundig in Auseinandersetzung mit Barth,153 dessen christologischen Ansatz Balthasar aufnimmt, ihm jedoch die Eigenständigkeit des geschöpflichen, geschichtlichen Daseins in dessen Geschichtlichkeit zu ergänzen sucht und somit auch Barths Ahistorizität überwinden möchte. Ohne einen eigenen Sinn des Geschichtlichen wäre das Eintreten Christi in die Geschichte nämlich ohne Bedeutung, geschähe es doch quasi ins Leere. TG setzt mit einer philosophischen »Hinführung«154 ein, die nach dem Verhältnis von geschichtlichem Gesamtgeschehen und Einzelnem und von daher nach der Möglichkeit fragt, wie ein geschichtlicher Weg zur Erlösung, der für alle gelten soll, wirklich geschichtlich verfasst sein kann und nicht auf Seiten einer allgemeinen Wesenheit liegen soll.155 Er gelangt zur herausfordernden Feststellung, dass in der gott-menschlichen Person Christi das Einmalige geschichtliche Norm wird156 und die Vermittlung zwischen geschichtlichem Gesamtgeschehen und Einzelnem somit über Christus geschieht, was die Fragen nach dem „Stehen Christi in Zeit und Geschichte“ sowie „dem Verhältnis seiner Existenz zur Geschichte der Welt und der Menschheit“157 aufwirft. Diesen Fragen nähert Balthasar sich nun christologisch über vier Abschnitte an: »Die Zeit Christi«158, »Der Einschluss der Geschichte in 149 Die Fassung von 1959 stellt eine Überarbeitung der Erstauflage aus dem Jahr 1950 dar, vgl. TG 6. 150 TG 62. 151 TG 7. 152 TG 7. 153 Vgl. Guerriero, Balthasar, 110 f. 154 Vgl. TG 9–23. 155 Vgl. TG 13. 156 Vgl. TG 15 ff. 157 TG 22. 158 Vgl. TG 23–39.

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II. Hans Urs von Balthasar

das Leben Christi«159, »Die Existenz Christi als Norm der Geschichte«160 und »Die Geschichte unter der Norm Christi«161. Er entfaltet hier, dass Christus durch die „Rekapitulation der Geschichte“162 in den Situationen seiner gott-menschlichen Existenz zu deren Norm wird. Er möchte damit verdeutlichen, dass in Christus nicht nur ein senkrecht in die Geschichte hineinbrechender Gott begegnet, sondern dass Christus auch die vertikal sich realisierenden Wesensgesetze des geschichtlichen Daseins „eingeordnet und unterstellt“163 sind. Diese christologisch-geschichtstheologischen Betrachtungen sind eng mit ekklesiologischen und pneumatologischen Betrachtungen Balthasars verbunden, da der Geist Gottes die Fülle Christi über die Kirche in die Geschichte hinein vermittelt.164 Balthasar nimmt hier, wie er in seinem Vorwort selbstkritisch transparent macht, trotz seines Anliegens, einer Theologie von oben die Eigenständigkeit des Geschöpflichen zu ergänzen, selbst die Perspektive einer Theologie von oben ein, deren Pendant von unten, vom Geschöpf her, er eher postuliere als plausibilisiere.165 So stellt die TG, indem Balthasar hier seinen christologischen Ansatz als historischen Ansatz deutet, zwar das bleibende „Kernstück“166 seiner sich nach und nach entfaltenden Geschichtstheologie dar, aber noch nicht deren umfassende Darstellung. In »Verbum Caro. Skizzen zur Theologie I« sucht Balthasar 1960, wie der Titel bereits nahelegt, nach einer katholischen Fassung einer christologisch begründeten Wort-Gottes-Theologie. Dies tut er weniger systematisch-linear, als vielmehr in assoziativ nebeneinander gestellten Skizzen, die er weniger als „durchgeführte Theologie“ denn als „Hinweis“167 versteht. Das Werk gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste sich der Offenbarung Gottes und der zweite der menschlichen Apperzeption derselben widmet. Besonders die Kapitel »Wort und Geschichte«,168 »Implikationen des Wortes«169 und »Gott redet als Mensch«170 aus Teil I werden in ihren Bezügen auf die Fragestellung der Arbeit herangezogen, da in ihnen thematisiert wird, dass die Geschichtlichkeit des Redens Gottes in Christus auf die Geschichtlichkeit des Menschen trifft. Hervorzuheben für diese Untersuchung 159 160 161 162

163 164 165 166 167 168 169 170

Vgl. TG 39–61. Vgl. TG 61–83. Vgl. TG 83–112. TG 61. Die Situationen des Lebens Jesu enthalten nämlich als „Darstellung des göttlichen, ewigen Lebens in die Welt hinein“ (TG 55) jeweils eine überschießende Sinnfülle, so bereits in ihrer Geschichtlichkeit, so erst recht in ihrer Universalisierung durch den Heiligen Geist. TG 16. Vgl. TG 61 ff. Vgl. TG 7. TG 7. VC 5. Vgl. VC 28–47. Vgl. VC 48–72. Vgl. VC 73–99.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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ist zudem einer der Grundgedanken Balthasars aus dem Kapitel „Merkmale des Christlichen“171 aus Teil II, nämlich dass christlich das Naturhafte nicht aufgehoben, sondern „einbeziehend vollendet“172 wird. Für Balthasar liegt der Sinn dieser Aussage darin, dass Gott sich in Christus im Fleisch offenbart, weswegen Gotteserkenntnis nicht durch die Abwendung vom Fleisch geschehen kann, sondern eben darin geschieht. Guerriero schreibt hierzu: „In Balthasars kategorischen Aussagen [über den Abstieg des Wortes zum Menschen; Anm. d. Vf.in] wird Karl Barths Einfluß in der Sorge spürbar, den absoluten Primat der göttlichen Initiative zu wahren, während sein eigenes Gespür und Anliegen sich darin zeigt, daß er das Fleisch als Ort der Offenbarung hervorhebt. Wenn das Wort Fleisch geworden ist, nähert man sich Gott nicht, indem man Grenze und Materie verneint, sondern indem man seinen eigenen Weg im und durch das Fleisch geht.“173 Dieser Weg, so wird in dieser Arbeit zu explizieren sein, führt den Menschen in seine Geschichte hinein, nicht aus ihr hinaus, und damit zugleich mitten in seine Lebensgegenwart hinein, nicht über sie hinweg. Dem von Balthasar selbst empfundenen Mangel der TG, nämlich dass sie zu einseitig offenbarungstheologisch von oben her gedacht sei, stellt er sich nach VC erneut in seinem 1963 erstmalig erschienenen Werk »Das Ganze im Fragment. Aspekte der Geschichtstheologie« (GF), in dem er auf das fragmentarische, menschliche Dasein in der Zeit reflektiert.174 Hier findet sich nicht nur die Schau von oben, von Gott und seiner Offenbarung in Christus her, sondern Balthasar setzt in seinem Denken bei der Perspektive des Fragments Mensch ein. Nicht umsonst beginnt er seinen zeittheoretischen Einstieg über die Zerstreuung der Zeit, die der Mensch erlebt, mit einer Paraphrase der confessiones Augustins ab Buch X, in denen die Frage des zeitlich verfassten Menschen nach sich selbst und Gott, nach Zeit und Ewigkeit hörbar wird.175 Darauf folgen als zweiter und dritter Hauptteil Reflexionen auf »Die Vollendbarkeit des Menschen«176 als geschichtlichem Wesen sowie von da aus »Die Vollendbarkeit der Geschichte«177, die in den Schluss, nämlich eine »Sammlung im Wort«178 münden. Balthasar möchte dabei das Fragment Mensch nicht zur Ganzheit erheben, sondern es darf sich als Fragment angenommen wissen, da Gott selbst im Logos Christus ins Fragment eingegangen ist. Auch in GF 171 172 173 174 175 176 177 178

Vgl. VC 172–194. VC 191. Vgl. Guerriero, Balthasar, 233. Vgl. GF 11. Vgl. GF 17–59. Vgl. GF 61–123. Vgl. GF 125–241. Vgl. GF 243–354.

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II. Hans Urs von Balthasar

ist es nicht Balthasars Anspruch, eine vollständige Theologie der Geschichte zu bieten.179 Er entfaltet hier aber auf einer existenziellen Ebene seine Theologie des Eigenrechts des Geschöpflichen, wie sie mitten in den Fragen seiner fragmentarischen Existenz aufscheint. Wo Bezüge auf Balthasars Geschichtstheologie und sein Gegenwartsverständnis enthalten sind, werden in der vorliegenden Untersuchung auch einige seiner weiteren, kleineren Schriften mitberücksichtigt.180 Zu nennen ist hier »Der Christ und die Angst« von 1951, ein Werk, in dem Balthasars Haltung seiner eigenen Epoche in ihrem Potenzial und ihren Aporien gerade auch im Umgang mit der Zeitlichkeit des menschlichen Daseins in einer durchaus polarisierenden Weise deutlich wird.181 Aus »Cordula oder der Ernstfall«, einer seiner streitbarsten Schriften, die erstmals 1966 erschien,182 sind u. a. Gedanken zu einer anthropologischen Konstante entnommen, die bei Balthasar zunächst einmal im Rahmen seiner Kritik an der Entmythologisierung des Christentums bei Bultmann und im größeren Kontext der Frage stehen, ob der christliche Glaube durch die Zeiten derselbe bleiben kann.183 In »Spiritus Creator. Skizzen zur Theologie III« (SC), das 1967 erstmalig erschien, ist auf die darin enthaltenen »Improvisationen zu Geist und Zukunft«184 Bezug zu nehmen. Schließlich muss die »Theodramatik« genannt werden, deren Darstellung angesichts ihrer Bedeutung für die Geschichtstheologie Balthasars und ihres Umfangs ein eigenes Kapitel gewidmet sei. 2.2.3

Theodramatik

Balthasar entscheidet sich schließlich, die Geschichte zwischen Gott und Mensch, deren »Zweiseitigkeit« ihn in allen seinen geschichtstheologischen Werken beschäf179 Vgl. GF 14. 180 Die vorliegende Darstellung fokussiert sich damit auf TG, GF, TD und die weiteren, genannten Schriften. Die enorme Fülle der in Balthasars Werk enthaltenen Verweise auf Literatur, Theater, Philosophie und Theologie, denen nachzugehen und die zu kontextualisieren während des Entstehungsprozesses dieser Arbeit nicht immer in der angemessenen Weise möglich schien, ließ angesichts des beschränkten Umfangs dieser Darstellung eine bewusst gesetzte Fokussierung auf die oben benannten, explizit geschichtstheologisch ausgerichteten Werke angeraten scheinen. Dass darum etwa die germanistische Dissertation Balthasars, „Die Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen“, H und schließlich TL weniger Beachtung fanden, als sie verdienen, gibt vielleicht anderen den Anlass, das von diesen Werken her noch zu Balthasars Gegenwartsdeutung zu Sagende zu ergänzen. 181 Vgl. II.4.6.2. 182 Bekannt geworden ist diese Schrift vor allem wegen Balthasars teils übers Ziel hinaus schießender Polemik gegen Karl Rahners Idee eines anonymen Christentums, vgl. Balthasar, Cordula, 84–96. 183 Vgl. Balthasar, Cordula, 74–83. Balthasar macht die Antwort hierauf an nicht weniger als der Bereitschaft zum Martyrium für Christus fest. 184 Vgl. SC 123–155.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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tigt, theodramatisch zu fassen. Die Beschreibung der Geschichte als theodramatisch scheint ihm am ehesten der Christozentrik seiner Geschichtstheologie und dem darin zugleich mitgedachten Eigenrecht des Geschöpflichen zu entsprechen. Mit der Vokabel »theodramatisch« ist also ein involvierendes, wechselseitiges Geschehen zwischen Gott und Mensch umschrieben. Die »Theodramatik« (TD) erschien in vier Bänden, von denen der zweite in zwei Teilbände unterteilt ist, erstmalig zwischen 1973 und 1983. Sie ist zunächst in den Zusammenhang der dreiteiligen Systematik Balthasars aus »Herrlichkeit«, »Theodramatik« und »Theologik« einzuordnen, in den Balthasar sie gestellt hat, sowie an dem geschichtstheologischen Ort wahrzunehmen, an dem Balthasar sie nach seinem Dafürhalten verfasst hat, und sodann ihrem inneren Aufbau nach darzustellen. In seiner großen dreiteiligen Systematik behandelt Balthasar in der »Herrlichkeit« (H) die „Wahr-nehmung“185 der göttlichen Erscheinung, in der »Theodramatik« (TD)186 den Inhalt dieser Wahr-nehmung, nämlich „das göttliche Handeln mit dem Menschen“187, und in der »Theologik« (TL) die göttliche bzw. gott-menschliche Aussageform dieses Handelns. Von der Gestalt der Offenbarung Gottes in der Welt (»Herrlichkeit«) führt der Weg also über das Geschehen zwischen Gott und Welt (»Theodramatik«) hin zum Verstehen desselben (»Theologik«), insoweit dem Menschen eben dies möglich ist. In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt der Auswertung, was Balthasars Trilogie betrifft, darum auf der Theodramatik, da sie in der Ausarbeitung einer dramatischen Theologie der Geschichte den engsten Bezug zur Frage nach der menschlichen Existenz in Bezug auf deren Gegenwartserleben aufweist. In ihr bietet Balthasar den umfassendsten Entwurf seiner Geschichtstheologie und führt die Fäden zusammen, die er vor allem in TG, VC und GF aufgenommen hatte. Zu beachten ist hierbei die geschichtstheologische Selbstverortung Balthasars, von der aus er die Theodramatik entwirft. Die Zeit nach Christus versteht Balthasar nämlich als »nachchristliche«188 Zeit (II.4.6), in der die antichristlichen Mächte „erst eigentlich wach und kampfbereit geworden“189 sind, weswegen nach dem Sieg Christi „die am ausgesprochensten dramatische Periode der Weltgeschichte“190 beginnt. Die dramatische Steigerung des Widerstands gegen Christus ist ein Resultat seines Wirkens und erweist sich darum auch in der Ablehnung Christi als 185 H I 11. Balthasar stellt dort bereits im Vorwort des ersten Bandes seiner theologischen Ästhetik das Programm seiner systematischen Trilogie vor. 186 Er bezieht sich dabei in TD nach H, der es um das Schöne ging, auf die zweite transzendentale Seinsbestimmung: das Gute, vgl. Guerriero, Balthasar, 330. Die Frage nach dem Wahren stellt dann die Theologik, vgl. TL I VII ff. 187 H I 11 (kursiv im Original). 188 Vgl. TD II,2 33–35.365.386.420; TD III 11.110 ff.115 f.126.132.402 f.409; TD IV 16 f.22 u. ö. 189 TD II,2 34. 190 TD II,2 34.

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II. Hans Urs von Balthasar

abhängig von ihm. Erst nach Christus kann der Mensch sich wirklich gegen den Sinn seines Daseins entscheiden. Die Weltgeschichte wird dadurch zur Geschichte „immer schwierigerer Unterscheidung“191, nämlich der Unterscheidung Gottes von den Mächten, die an seine Stelle treten möchten. Erst jetzt ist es darum auch an der Zeit eine Theodramatik zu verfassen, denn: „Es hat lange gebraucht, bis der diffuse Hintergrund endgültig verblaßte und die große Leere sich kundtat, als Alternative zu Jesus.“192 „Der ungeheure, alles versöhnende göttliche Horizont, der von Stoa und Neuplatonismus her alles überwölbte – jüdisches, islamisches, christliches Denken bis hin zum himmlisch-ökumenischen Religionsgespräch des Kusaners – wird zusammengerollt und beiseite gelegt.“193 Patristik und Scholastik setzten diesen Horizont noch wie selbstverständlich voraus, doch nun ist der „Bühnenhintergrund“194 ausgeräumt. In diese nachchristliche Situation hinein und aus ihr heraus entwirft Balthasar die Theodramatik, denn erst in ihr tritt die Situation des Menschen in ihrer ganzen Dramatik zu Tage. Die einzelnen Bände der TD stehen dabei in einem inneren Zusammenhang, der hier erläutert sei, bevor die inhaltliche Entfaltung eben dieser Bände erfolgt: Band I der Theodramatik bietet Prolegomena zur Theodramatik, also einen in die Thematik einführenden Durchgang über den Zusammenhang von Drama, Theater und Theologie. Band II, der in zwei Teilbände unterteilt ist, stellt den Theaterzettel mit den Handelnden des Theodramas dar. Band II,1 enthält dabei eine theologische Anthropologie, Band II,2 die Christologie Balthasars. Band III, der die ersten vier von fünf Akte des Theodramas bietet, stellt eine Soteriologie dar, während Band IV, der mit dem fünften Akt das Endspiel des Theodramas und damit die Eschatologie Balthasars darlegt, zugleich dessen Trinitätslehre entfaltet,195 die bereits unter TD II,2 von der dort gebotenen Christologie her grundgelegt worden war.196 Die im Folgenden nun gebotene, allgemein einführende Darstellung der TD muss unter II.2.2.4 auf die Fragestellung dieser Arbeit hin zugespitzt werden, also auf die Aspekte, die der Fragestellung nach der theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart am nächsten liegen. Band I der Theodramatik besteht aus drei Hauptteilen. Er setzt unter Hauptteil I. »Einleitung: Ortsbestimmungen« nach der Verortung der »Dramatik zwischen

191 192 193 194 195 196

TD III 21. TD III 60. TD III 61. TD III 61. Vgl. TD IV 11. Vgl. TD II,2 463 ff.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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Ästhetik und Logik« (A)197, also H und TL, ein mit »Tendenzen der heutigen Theologie« (B)198. Balthasar setzt sich hier mit Tendenzen199 der Theologie seiner Zeit auseinander, wie er sie beispielsweise in der Auseinandersetzung mit dem Geschichtlichen200 ausmacht. Hier streicht er die Notwendigkeit einer angemessenen Zuordnung der horizontal fließenden Geschichte mit der vertikalen Dimension Gottes heraus, die das Geschichtliche als theologische Tendenz nicht ohne Berücksichtigung des dramatischen Moments der Theologie bieten kann.201 Eben sowenig ist etwa eine futurisch202 ausgerichtete Theologie allein hinreichend, muss doch nebst dem futurischen die apokalyptische „Dramatisierung des Seins“203 erfasst werden. Balthasar möchte in der Auseinandersetzung mit verschiedenen solcher Tendenzen zeigen, dass Theologie „inhaltlich wie formal voller Dramatik“204 ist. Vor dem Hintergrund von möglichen »Bedenken« (C)205 gegen sein theodramatisches Vorgehen stellt Balthasar, u. a. in Auseinandersetzung mit Hegel, eine zu beantwortende Grundfrage an die Theodramatik: „[I]n welchem Sinn ist das theologische Drama ein Drama Gottes selbst?“206 Als letzten Punkt der theologischen Ortsbestimmungen beleuchtet Balthasar das kritische Verhältnis zwischen »Kirche und Theater« (D)207. So unterscheidet Balthasar in seiner Theodramatik den „Mensch des Scheins“ und den „Mensch der Wahrheit“208. Er wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die jahrhundertelange Ablehnung des Theaters durch die Kirche Ausdruck dessen sei, dass die Kirche einer eigenen Auseinandersetzung mit der Frage nach Schein und Wahrheit ausweichen wollte und darum Schein und Spiel als Negativfolie auf Schauspieler und Theater projiziert habe. Balthasar fragt weiter, ob sich die Kirche je mit dem Theater versöhnt habe oder ihren alten Konflikt, der im Ursprung u. a. noch aus antiken sittlichen Bedenken gegen das Theater und der Verballhornung christlicher Märtyrer herrührte, nur verdrängt habe.209 Die Aufarbeitung des Konflikts erscheint Balthasar wichtig und er treibt sie mit TD voran, schließlich gehören »Theologie und Drama« (E)210 zusammen.

197 Vgl. TD I 15–22. 198 Vgl. TD I 23–118. 199 Diese Tendenzen sind: das Ereignishafte, Geschichtliche, Orthopraktische, Dialogische, Politische, Futurische, Funktionale, die Rolle sowie die Freiheit und das Böse, vgl. TD I 23–46. 200 Vgl. TD I 26–29. 201 Vgl. TD I 26 f. 202 Vgl. TD I 37–39. 203 TD I 39. 204 TD I 116. 205 Vgl. TD I 47–80. 206 TD I 64. 207 Vgl. TD I 81–118. 208 TD I 96. 209 Vgl. TD I 96.100. 210 Vgl. TD I 113–118.

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II. Hans Urs von Balthasar

Nach dieser Ortsbestimmung entwirft Balthasar im Hauptteil II ein »Dramatisches Instrumentar«. Er beginnt unter »Der Topos Welttheater« (A)211 mit einer Untersuchung dieses Topos von der Antike bis zur Moderne. Diesem Durchgang entnimmt er drei Differenzen, die als Kategorien fürs Theodrama fruchtbar zu machen sind: – die Differenz zwischen der Endlichkeit der Aufführung und ihrer unendlichen Bedeutung, – die Differenz zwischen Ich und Rolle, – die Differenz zwischen der Eigenverantwortung des Spielenden und seiner Verantwortung vor einem Spielleiter.212 Für die Theodramatik – und auch die folgende Untersuchung – hervorzuheben ist hierbei die Differenz zwischen Ich und Rolle, die Balthasar trotz des Verblassens der Idee eines Welttheaters aktueller denn je scheint.213 Als »Elemente des Dramatischen« (B)214, die Balthasar als existenzerhellende Ausdrucksformen ansieht, sind zu nennen: die Trias der Produktion215 aus Autor, Schauspieler und Regisseur sowie eine zweite Trias der Realisation216 aus Darbietung, Publikum und Horizont. Mit der Frage nach der Endlichkeit217 und dem Kampf um das Gute218 benennt Balthasar dramatische Topoi, die sowohl im Theater bearbeitet werden als auch die christliche Existenzdeutung betreffen. Balthasar fragt, wie in Hauptteil III »Übergang: Von der Rolle zur Sendung« expliziert wird, in der Theodramatik letztlich nach dem Menschen, der sich fragen muss: »Wer bin ich?« (A)219. Der Mensch kann seine »Rolle als Bescheidung« (B)220 verstehen, so mit Freud, Jung und Adler, doch: „Bescheidung wird gewiß ein Element menschlichen Daseins sein müssen, aber Selbstzweck und Schlüssel zum Ganzen kann sie nicht sein“221, oder er interpretiert seine »Rolle als Entfremdung« (C)222, indem er sich nicht mehr in der Zeit, sondern in der Ewigkeit beheimatet wissen möchte oder sich einem den Einzelnen übersteigenden Wesen zuordnet, so im Idealismus, von dem aus der Weg in den Marxismus führte. Unter (B) und (C), meint Balthasar, wird allerdings das personale Ich verfehlt.223 Doch gibt es 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223

Vgl. TD I 121–238. Vgl. TD I 230–236. Vgl. Guerriero, Balthasar, 333. Vgl. TD I 239–449 Vgl. TD I 247–283. Vgl. TD I 283–301. Vgl. TD I 320–387. Vgl. TD I 387–449. Vgl. TD I 453–462 Vgl. TD I 463–511. TD I 511. Vgl. TD I 512–553. Vgl. TD I 554.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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»Vermittlungsversuche« (D)224, so etwa vorchristlich225 im König, der die Frage, wer er sei, „präzis beantworten“226 kann, oder nachchristlich in der Idee, das Absolute verwirkliche sich in der Form des Individuellen,227 oder dialogisch bei Ebner, Buber und Rosenzweig.228 Das Ich wird damit nicht solitär gebildet, sondern in der Begegnung, für Balthasar ein theodramatisch weiterzuführender Grundgedanke seines Werks. In seinem »Schlußwort« (E)229 verweist Balthasar noch einmal auf die Bedeutung der Frage aus Hauptteil III, nämlich der Frage des Menschen nach sich selbst, und weist mit dem Begriff der „Sendung“230 darauf voraus, dass die Frage des Menschen nach sich selbst sich noch nicht durch das in TD I gesammelte „bunte Material“231 zu beantworten ist, sondern theodramatisch im Verweis auf die Sendung des Menschen durch Christus zu beantworten sein wird (II.4.4). Band II der TD behandelt in zwei Teilbänden die Personen des Spiels im Theodrama: Band II,1: »Der Mensch in Gott«, Band II,2: »Die Personen in Christus«. Band II,1 möchte dabei die Freiheit des Geschöpfs vor Gott aufweisen.232 Band II,2 wiederum möchte die Umgriffenheit dieser Freiheit in Christus aufzeigen.233 Hier, in den Personen des Theodramas, liegt der „Zündstoff, der das Feuer der Handlung auslösen“234 wird, denn damit begegnen sich zwei Freiheiten, die unendliche Freiheit Gottes und die endliche Freiheit des Menschen.235 Wie die endliche Freiheit des Menschen sich angesichts der unendlichen Freiheit Gottes behaupten kann, erklärt Balthasar mit einer „Anwendung der Analogia entis auf den Bereich der Freiheit: das Absolute hat die Freiheit, aus der eigenen souveränen Freiheit Freiheit andere, endliche, doch echte Freiheiten zu entlassen“236. Balthasar bedenkt den dramatischen Charakter des Seins, so macht er selbst transparent, dabei von der biblischen Offenbarung her,

224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236

Vgl. TD I 554–603. Zur Unterscheidung vorchristlich-nachchristlich bei Balthasar vgl. II.4.6. TD I 554. Balthasar versteht dies als eine adventische Präfiguration Christi, ebd. Vgl. TD I 567–587. Vgl. TD I 587–603. Vgl. TD I 604–606. TD I 604.605.606. TD I 604. Vgl. TD II,1 106. Vgl. TD II,2 12; TD III 11. TD III 11. Balthasar rekapituliert hier auf TD II,1 und TD II,2. Vgl. TD II,1 170–305. Guerriero, Balthasar, 335. Wo Balthasar die analogia entis theodramatisch als „Relation ungeschaffener und geschaffener Freiheit“ (TD II,1 110, vgl. ebd. 181.183; TD II,2 443 u. ö.), also als analogia libertatis bestimmt, enthüllt sich die analogia entis als Geschehen, nicht nur als Erkenntnistheorie oder ontologische Bestimmung.

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II. Hans Urs von Balthasar

„nicht erst auf sie hin. Das macht sich sogleich dadurch bemerkbar, daß eine Anschauung von Gott, Welt, Mensch nicht primär aus dem menschlichen «Selbstverständnis» aufsteigend, sondern aus dem von Gott her mit Welt und Mensch je schon inszenierten Drama, in dem wir uns als Mitspieler vorfinden, entwickelt werden wird.“237 Auch die Grundfrage der TD, die Frage des Menschen nach sich selbst, wie sie in TD I aufgeworfen wurde, möchte Balthasar von diesem Drama her beantworten. Balthasar hat also das Ganze des Theodramas von Anfang an vor Augen, möchte seine Darstellung aber dennoch vom Impliziten zum Expliziten aufbauen.238 Ein Theaterzettel mit den Darstellern lässt an sich noch keine deutliche Ahnung der Handlung und handelnden Personen entstehen, Balthasar aber beschreibt die Personen des Spiels bereits vor dem Spiel, das enthüllen wird, wer sie sein werden;239 eine Konsequenz aus der Verquickung eines christologischen Ansatzes, der offenbarungstheologisch »von oben« her denkt, mit dem Eigenrecht und der Eigenständigkeit des Geschöpflichen »von unten« – eine Verquickung, aus der heraus sich aus Balthasars Sicht heraus aber eben gerade das Dramatische am Theodrama ergibt. Band II,1 beginnt daher mit dem Hauptteil I. »Hinführendes«. Dort möchte Balthasar aufweisen, dass, auch wenn das Theodrama mit Gott beginnt, auf der Bühne dennoch Platz ist für weitere Mitspieler.240 Das erste Kapitel dieses Hauptteils »Gestalt, Wort, Erwählung« (A)241 vollzieht noch einmal nach, wieso aus der Begegnung mit dem Schönen (H) die Frage nach dem Guten (TD) erwächst.242 Aus Balthasars Sicht gilt nämlich, dass bereits die Macht der Kunst freigebende Macht ist, da sie den Betrachter anspricht, aber zu nichts zwingt, und auch das menschgewordende Gotteswort analog „freiheitstiftendes Wort“243 darstellt. Allerdings gilt im Unterschied zur Kunst für Letzteres: „[D]as Nein zum abschließenden Sinnwort Gottes kann dem frei sich Abwendenden zum Gericht werden.“244 Mit der Möglichkeit der Abwendung vom Guten und dem Gericht deutet das Theodrama sich bereits an. Unter der Überschrift »Das abgebrochene Drama« (B)245 spielt Balthasar die Dramatik menschlicher Existenz jedoch zunächst rein innerweltlich durch und sieht sie an der Tragik der Endlichkeit und der Unmöglichkeit scheitern, 237 TD II,1 9. Vgl. ebd. 47. 238 Vgl. TD II,1 10 f. 239 Vor dem Heben des Vorhangs erschließt sich über die Beschreibung der Personen nur eine Vorahnung der Handlung und die Personen selbst erschließen sich erst durch die Handlung, vgl. TD II,1 11. 240 Vgl. TD II,1 18. 241 Vgl. TD II,1 20–33. 242 Vgl. TD II,1 30.33. 243 TD II,1 27. 244 TD II,1 27. 245 Vgl. TD II,1 34–46.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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persönliches Schicksal und universale Geschichte miteinander zu vermitteln. Deswegen muss »Das sich durchführende Drama« (C)246 als ein Drama auf alle bezogen sein. Es kann nun aber, eben weil es auf alle bezogen ist, nicht von einem Standort außerhalb seiner selbst betrachtet werden, hat also involvierenden Charakter.247 Für die »Theodramatische Hermeneutik« (D)248 heißt das, dieses Drama lichtet sich als involvierendes selbst, eben, indem es involviert.249 Balthasar thematisiert dabei auch die Frage nach dem Leid: „[W]eder Worte noch Techniken noch Zukunftsvertröstungen kommen gegen die Realität des Leidens je-heute und je-aller auf; alle diese ohnmächtigen Versuche mußten überholt werden von einer Tat, die das Leiden von innen her umwerten und mit Sinn begaben sollte, eine Tat, die nur von Gott her gesetzt werden konnte.“250

Dass hiermit bereits auf Christus angespielt ist, in dem Gott sich offenbart und die Welt erlöst, liegt auf der Hand. Schließlich expliziert Balthasar noch »Motive dramatischer Theologie« (E)251, die in der Spiritualität stets lebendig waren, wie der Kampf Jesu gegen Mächte des Bösen, in den er auch seine Nachfolger sendet.252 Diese Motive sollen aufweisen, dass der „Sinn für das Dramatische der Existenz in der Nachfolge Christi durch die Jahrhunderte lebendig blieb, wenn auch zu sehr abgetrennt von den Handbüchern der Dogmatik.“253 Der Hauptteil II von TD II,1 »Dramatis Personae (I)« stellt dann den Ort der Handlung vor: »Der Schauplatz: Himmel und Erde« (A)254. Himmel und Erde sind aufeinander hin angelegt. Die Spannung Himmel-Erde ist die Voraussetzung für das Theodrama. Sie spiegelt in dem einen Kosmos,255 der Bühne des Theodramas ist, das Oben und Unten von Schöpfer und Geschöpf, welches sowohl Begegnung als auch Distanz und damit Drama zwischen Gott und Mensch ermöglicht. Unter der Überschrift »Unendliche und Endliche Freiheit« (B)256 stellt Balthasar Gott und Mensch einander als handelnde Personen gegenüber.257 Theodramatisch ist 246 Vgl. TD II,1 47–80. 247 „Der Ausgriff auf Anfang und Ende ist so total, daß kein Standort übrigbleibt, von dem aus man das Geschehen unbeteiligt, als Epiker, betrachten und schildern könnte.“ (TD II,1 52.) 248 Vgl. TD II,1 81–134. 249 Balthasar spricht von einer „hermeneutische[n] Selbstexplikation“ (TD II,1 19). 250 TD II,1 107. 251 Vgl. TD II,1 135–152. 252 Vgl. TD II,1 148. 253 TD II,1 151. 254 Vgl. TD II,1 155–169. 255 Vgl. TD II,1 159. Balthasar rekurriert hier auf Barth (KD III/3 486–558). 256 Vgl. TD II,1 170–305. 257 Zwischen Gott und der Welt besteht in ihrer Nicht-Identität eine ontologische Differenz. Diese Differenz zwischen Gott, der alles Seiende umfasst, und der Welt, die er aus sich

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II. Hans Urs von Balthasar

also Gott selbst ins Drama involviert.258 Der Mensch wiederum ist nicht machtlose Marionette, sondern ebenfalls handelnde Person, denn das Theodrama ist kein Puppentheater, sondern basiert darauf, dass der unendlich freie, trinitarische Gott den Menschen freisetzt und ihm darin seinen relativen, eigenen Sinn und seine endliche, aber gleichwohl echte Freiheit lässt: „Wenn das Sein-Lassen zum Wesen der unendlichen Freiheit gehört – der Vater läßt den Sohn gleichwesentlicher Gott sein usf. –, dann besteht keinerlei Gefahr, daß die endliche Freiheit, die sich aus sich selbst nicht vollenden kann […] im Raum der Unendlichen sich selbst entfremdet würde.“259 »Der Mensch« (C)260, so der letzte Abschnitt, erscheint von daher mit einer enormen Freiheit ausgestattet261 und ist zugleich doch weiterhin „auf Tragik angelegt“262, gerät er doch immer wieder auf zerstörerische Irrwege und missbraucht seine Freiheit. Es braucht daher einen Mittler zwischen Gott und Mensch, damit der Mensch seine Freiheit produktiv realisieren kann und zu sich selbst findet. Dieser Mittler ist Christus. Erst von Christus her gibt es im eigentlichen Sinne die in TD II,1 bereits vorgestellten theodramatischen Personen.263 Das möchte Balthasar in Band II,2, »Dramatis Personae II«, aufweisen, in dem auch der „Hauptdarsteller“264 des Theodramas, Christus, vorgestellt wird. Balthasar legt somit in TD II,2 seine Christologie dar. Auf die Einleitung265 folgend, in der Balthasar die These aufstellt, dass das „Eingegründetsein des Dramas in Christus“ nicht „Verhinderung“, sondern „allseitige Voraussetzung“266 desselben bildet, entfaltet er diese These. »Die

258 259 260 261

262 263 264 265 266

heraus entlässt, ohne ihrer zu bedürfen, nennt Balthasar das „aus nichts deduzierbare Mysterium“ (TD II,1 106). Da die Trinität in sich selbst raumgebend subsistiert, kann Gott auch der Welt und der endlichen Freiheit in sich einen Raum eröffnen, ohne dass sie deshalb mit ihm identisch wäre, vgl. TD II,1 236 f., und ohne dass ihre Erschaffung für Gott notwendig wäre. Die trinitarische Differenz in Gott wird so zum bergenden Grund der ontologischen Differenz zwischen Gott und Welt. Selbst Gottes »Nicht-Sein« in dem Sinne, dass die göttlichen Hypostasen nicht modalistisch miteinander identisch sind, wohnt eine bergende Kraft inne. Bangerl hat diesen Aspekt der „Latenz Gottes“ (Bangerl, Nichts, 202) in der Theologie Balthasars herausgearbeitet, vgl. Bangerl, Nichts, 194–251. Vgl. TD II,1 176. TD II,1 235 (kursiv im Original). Vgl. TD II,1 306–393. Der Mensch „ist von Gott mit einer genuinen geisthaften Freiheit begabt, die, weil sie ernsthaft geschenkt ist, von der unendlichen Freiheit Gottes nicht «an die Wand gespielt» werden kann, sondern in ihrem Raum (in Gott, wo sonst?) sich zu erfüllen hat.“ (TD II,1 393.) TD II,1 393 Vgl. TD III 11. Balthasar rekapituliert hier auf TD II. TD II,1 393. Balthasar weist hier bereits auf TD II,2 voraus. Vgl. TD II,2 12–20. TD II,2 20.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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Stellung Christi im Theodrama«267, Hauptteil I von Balthasars Christologie, legt dar, dass in Christus Alpha und Omega268 der Menschheitsgeschichte liegen, da Welt und Geschichte durch ihn sind – und er durch sie!269 Das Theodrama wird durch diese „zunächst verwirrende reziproke Kausalität“270 nicht determiniert, sondern eröffnet.271 Die »Christologie im Durchblick«272, Hauptteil II von TD II,2, setzt ein mit dem Unterabschnitt »Das Methodenproblem« (A)273, in dem Balthasar, bevor er unter (B) weiter seine eigene Christologie entfaltet, verschiedene Zugänge zur Christologie darlegt, wie sie theologiegeschichtlich Gestalt gewonnen haben. Unter »Christi Sendung und Person« (B)274 entfaltet Balthasar dann seine Christologie als Sendungschristologie. Die Frage, wer er sei, beantwortet sich für Christus nämlich im Hinblick auf seine Sendung. Von hier aus nun ist auch die Frage des Menschen nach seiner Rolle und damit nach sich selbst, die in TD I aufgeworfen worden war, im Hinblick auf die Sendung des Menschen als dessen personalisierende Rolle zu beantworten. Hauptteil III stellt darum von Christus aus die weiteren Personen des Theodramas als theodramatische Personen in ihren Sendungen dar: die Menschen als analog zu Christus »Erwählte und Gesendete« (A)275, »Die Antwort der Frau« (B)276, in der Maria als Figuration der Kirche hervorzuheben ist, die »Kirche aus Juden und Heiden« (C)277 und »Der Einzelne« (D)278, dessen Rolle bei Balthasar eine enorm hohe Bedeutung zukommt (II.3.2) 267 268 269 270 271

272 273 274 275 276 277 278

Vgl. TD II,2 23–50. Vgl. TD II,2 31. Vgl. TD II,2 14. TD II,2 14. So führt Balthasar als „Anwendung dieser reziproken Kausalität“ in Bezug auf die „Zeit Jesu Christi“ aus, wie Christus selbst zur entscheidenden, dramatischen Person wird: „Sofern [Jesus Christus] sich als der einmalige Sohn des ewigen Vaters weiß, hat er, auch als Mensch, seine besondere Zeit […]. Sofern er aber echter Mensch wird, unterliegt sein Dasein nicht nur der menschlich-geschichtlichen Zeit überhaupt, sondern auch ihrer durch die allgemeine Sünde geprägte Modalität («der Nichtigkeit unterworfen») […]. [A]us der dramatischen Wesenskonstitution, die Christus sowohl Alpha wie Omega sein läßt, verzweigt sich das Dramatische in alle Aspekte seines Wesens, Handelns und Verhaltens hinein.“ (TD II,2 14 f.) In ihnen wird das Dramatische u. a. deutlich in der Freiheit des Abstiegs des Sohnes und der Unfreiheit des Abgestiegenseins, dem Gehorsam der Sendung gegenüber und der Angst vor derselben, vgl. TD II,2 14. Auch und gerade Christus ist also wirklich involviert ins Theodrama. Vgl. TD II,2 53–238. Vgl. TD II,2 53–135. Vgl. TD II,2 136–238. Vgl. TD II,2 241–259. Vgl. TD II,2 260–330. Vgl. TD II,2 331–410. Vgl. TD II,2 411–424.

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Hauptteil IV stellt die Frage, ob »Engel und Dämonen«279 als Mitspieler angesehen werden müssen. Der Hauptteil V widmet sich Gott als »Deus Trinitas«, der mit Christus bereits implizit auf dem Theaterzettel stand. Von Christus her – denn: „In ihm allein ist die Trinität geöffnet und zugänglich“280, – ist nun unter »Der lebendige Gott und das Spiel« (A)281 darzulegen, dass der trinitarische Gott selbst in das Spiel eintreten kann, also nicht unbeteiligt über dem Theodrama thront, ohne jedoch durch seinen Eintritt ins Spiel mythologisch in es hinein verstrickt zu werden oder in ihm aufzugehen. So engagiert sich der Vater im Spiel, ohne sich darin zu verstricken, indem er den Sohn sendet, der sich ebenso ewig wie der Vater für die Welt einsetzt, ja für sie kämpft, während der Geist das Drama von innen her seiner Lösung entgegen treibt.282 Balthasar hebt sich dabei in der Ablehnung einer notwendigen Selbstbewegung Gottes bewusst von Hegel ab.283 Wie sich unter TD II,2 V (A) bereits ankündigte, werden Vater (Sendender) und Sohn (Gesendeter) im durch den Geist vermittelten Sendungsgeschehen als gleich ewige Personen erkennbar,284 und wendet Balthasar dann unter »Von der Person Christi zur personalen Trinität« (B)285 seinen an Christus gewonnenen theodramatischen Personbegriff auf die Trinität an. Von der im Sohn aufscheinenden ökonomischen Trinität führt der Weg damit zur immanenten Trinität. Unter »Trinitarische Gegenwart im Weltspiel« (C)286 thematisiert Balthasar dann wiederum, wie das trinitarische Leben Gottes sich als Urbild des Seins im Verlauf der Geschichte darin spiegelt. Hierfür nimmt er die in den Prolegomena unter TD I II.(B) aufgeführten Triaden wieder auf: die Trias der Produktion287 aus Autor, Schauspieler und Regisseur, die er auf die ökonomische Trinität hin deutet, die sich zur „immanent-ökonomischen“288 Trinität hin lichtet, sowie die zweite Trias der Realisation289 aus Darbietung, Publikum und Horizont,

279 Vgl. TD II,2 427–460. Können etwa Dämonen „Personen in Christus“ (TD II,2 449) sein? Engel können „wie“ (TD II,2 453; kursiv im Original) Spielpersonen erscheinen. Dämonen spielen zwar eine Rolle, verfehlen sie jedoch zugleich, weswegen Balthasar dazu tendiert, sie nicht als Personen des Spiels zu betrachten, da für ihn nur im eigentlichen Sinne Person wird, wer seine persona (Rolle) im Sinne seiner Sendung ausfüllt, vgl. TD II,2 454 ff. Vgl. zur Verknüpfung von Sendung und Personsein II.4.4.2. 280 TD II,2 466. 281 Vgl. TD II,2 463–471. 282 Vgl. TD II,2 471. 283 Vgl. Kim, Denkform, 176. 284 Vgl. TD II,2 467 ff. 285 Vgl. TD II,2 472–479. 286 Vgl. TD II,2 480–489. 287 Vgl. TD I 247–283 und TD II,2 486–488. 288 TD II,2 489. 289 Vgl. TD I 283–301 und TD II,2 488–489.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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die er versteht als „die Weise, wie diese Trinität, das Weltspiel durchformend, es in sich einbezieht.“290 Ab Band III der Theodramatik schildert Balthasar die Handlung des Theodramas. Diese Handlung kann nicht distanziert von einem Zuschauerraum aus geschildert werden, da das theodramatische Geschehen stets ein involvierendes Geschehen ist. So wie Gottes Herrlichkeit nichts statisch Erscheinendes ist, sondern Einsatz für die Welt, so kommt sie auch nur im „analogen Einsatz“291 des Menschen für die Welt in den Blick. In vier Hauptteilen wird die theodramatische Handlung unter dieser Voraussetzung in den Blick genommen. Diese können als die ersten vier von fünf Akte des Theodramas interpretiert werden, nämlich: Exposition, sich steigende Handlung, Höhepunkt und Peripetie, fallende Handlung, Lösung oder Katastrophe.292 Balthasar selbst überschreibt die Abschnitte so nicht und vermeidet damit den Anschein, eine Periodisierung der Geschichte vorzunehmen, die in ein starres, geschichtstheologisches System führt.293 Zugleich scheint die Analogie zu den dramatischen Akten im Theater im Aufbau der Darstellung der theodramatischen Handlung so deutlich durch, dass sie im Folgenden kenntlich gemacht werden soll. In Hauptteil I, »Unter dem Zeichen der Apokalypse«, bietet Balthasar den ersten Akt, die Exposition des Theodramas. Hier interpretiert Balthasar die Offenbarung des Johannes als die gesamte biblische Überlieferung inkludierende, prophetische, „von Gott geschenkte, von der empirischen Geschichte abgelöste, obschon sie integrierende Überschau über das gesamte Geschehen zwischen Himmel und Erde.“294 Motive der Offenbarung des Johannes fasst Balthasar unter »Durchblick durch die Apokalypse« (A)295 zusammen. Die »Besinnung auf die Apokalypse« (B)296 ergibt, dass es in der Geschichte einen „Steigerungsrhythmus“297 gibt, einen wachsenden Konflikt zwischen Gott und Mensch, aber auch der unsichtbaren Mächte, in dem der Mensch nur mit Glauben bestehen kann.298 Dieser Konflikt führt in »Die Konfronta-

290 TD II,2 489. 291 TD III 12. 292 Diese Einteilung folgt Gustav Freytag, vgl. Huber, M., Böhm, E., http://www.li-go.de/prosa/dramaalt/expositionsteigerunghoehewendepunktretardierendesmomentkatastropheALT. html, aufgerufen am 10.04.2019. 293 Dass Balthasar keine Periodisierung der Geschichte vornimmt und bereits in TG und GF Geschichte in unterschiedlichen Schemata umschreibt, die sich, ebenso wie die theodramatischen Akte, nicht nur menschheitlich, sondern auch in der Biografie des Einzelnen realisieren, wird unter II.4.5 zu entfalten sein. 294 TD III 15. 295 Vgl. TD III 15–42. 296 Vgl. TD III 43–55. 297 TD III 54. 298 Vgl. TD III 55.

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tion« (C)299, die besonders in der Zeit nach Christus ausgetragen wird.300 Hauptertrag dieses Durchgangs ist für Balthasar „die alles tragende Einsicht, daß die wesentliche Geschichte sich in der Vertikalen zwischen Himmel und Erde abspielt.“301 Hauptteil II, »Pathetische Weltbühne«, setzt nach dieser Exposition von oben dann quasi im zweiten Akt mit der sich steigernden Handlung beim Menschen und der Suche der Völker wie des Einzelnen nach Sinn ein.302 Nach der Reflexion auf die Weltgeschichte in ihrer vertikalen Dimension in Hauptteil I folgt also nun die »Weltgeschichte horizontal« (A)303. Aus dieser Perspektive nämlich bietet sich dem Menschen seine Existenz dar. Hier wird er aufs Verschiedenste herausgefordert. Ihm begegnet »Der Anspruch der Endlichkeit« (B)304, denn der Mensch lebt ein einmaliges, endliches Leben und muss damit fertig werden.305 »Die Zeit und der Tod« (C)306 verlangen ihm ab, mit ihnen umzugehen. Dazu kommen »Die Freiheit, die Macht und das Böse« (D)307 als Spannungsfelder, in denen der Mensch sich bewegen muss. Der Hauptteil III, »Handeln im Pathos Gottes« beschreibt dann die Handlung des Theodramas als Handlung auf Christus hin. Die Zeit vor Christus308 ist »Die Zeit der langen Geduld Gottes« (A)309. Dann betritt Christus die Bühne. Unter der Überschrift »Soteriologie im geschichtlichen Aufriss« (B)310 liefert Balthasar hierzu eine theologiegeschichtliche Darstellung verschiedener Soteriologien, die das Auftreten Christi deuten, um dann seine »Dramatische Soteriologie« (C)311 vorzustellen, die die „Peripetie“312, also den dritten Akt, des Theodramas darstellt.313 Balthasar arbeitet hier erneut das involvierende, reziproke Moment seiner Christologie 299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313

Vgl. TD III 56–63. Vgl. TD III 60 ff. TD III 67. Vgl. TD III 67. Vgl. TD III 67–74. Vgl. TD III 75–87. Vgl. TD III 78. Vgl. TD III 88–124. Vgl. TD III 125–186. Vgl. TD III 189 ff. Vgl. TD III 189–211. Vgl. TD III 212–294. Vgl. TD III 295–395. TD III 296. Die dramatische Soteriologie muss fünf unter »Soteriologie im geschichtlichen Aufriss« (B) gewonnenen Kriterien genügen: 1. der Dahingabe des Sohnes durch den Vater zur Rettung der Welt, 2. dem Platztausch zwischen dem Sündlosen und den Sündern, 3. der hieraus folgenden Freisetzung des Menschen, 4. seiner Einführung in das trinitarische Leben Gottes, 5. der Initiative der Liebe Gottes in diesem Geschehen, vgl. TD III 295. Dies wird für Balthasar nur durch seine involvierende, theodramatische Deutung möglich. Diese sieht er bei Maximus Confessor präfiguriert, der in Ambigua 7 die Einheit der Freisetzung (3.) sowie der Einführung des Menschen in das göttliche trinitarische Leben (4.) schildert, worin auch der Platztausch (2.), der auf Initiative Gottes erfolgt (5.), und die Dahingabe des Sohnes (1.) enthalten sind, vgl. TD III 357.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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heraus. Von Christus her gilt nämlich: Weder ist Gott nur Zuschauer noch der Mensch passives Objekt des rettenden Handelns Gottes.314 Und auch das soteriologische Handeln Gottes in Christus weist reziproke Momente auf, so erschließt sich die Trinitätslehre erst von einer Theologie des Kreuzes her und zugleich ist die Trinitätslehre die „stets gegenwärtige innere Voraussetzung der Staurologie“315. Nur indem bereits die immanente Trinität hierbei in angemessener Weise als „Grund des Weltprozesses“316 der ökonomischen Trinität verstanden wird, kann gegen K. Rahner, Hegel und Moltmann die Verstrickung Gottes in die Geschichte oder der Anschein, der Weltprozess sei Teil eines Selbstvermittlungsprozesses Gottes, vermieden werden.317 Hauptteil IV nennt Balthasar »Die Schlacht des Logos«. Hier wird nun die nachchristliche Handlung des Theodramas, wenn man weiter der klassischen Einteilung eines Dramas in fünf Akte folgen möchte, als fallende Handlung mit retardierendem Moment geschildert. Zwar hat Jesus, wie im soteriologischen Hauptteil III von TD III geschildert, den Menschen erlöst. Jetzt aber, da Christus erschienen ist, kann der Mensch sich erst wirklich gegen ihn entscheiden.318 Christus „gegenüber gibt es keine Neutralität“319. Daher nimmt das Theodrama nachchristlich dramatisch 314 315 316 317

Vgl. TD III 296. TD III 296. Balthasar denkt hier Kreuz und Auferweckung als Zusammenhang, vgl. ebd. TD III 300. Vgl. TD III297 ff. Immanente und ökonomische Trinität gleichzusetzen wie K. Rahner es in seinem Grundsatz „Die ‚ökonomische‘ Trinität ist die immanente Trinität und umgekehrt“ (Rahner, Schriften IV, 115; kursiv im Original) tut, lehnt Balthasar ab, verlegt das nach seinem Dafürhalten doch den Akzent faktisch auf die ökonomische Trinität in ihrer Selbstmitteilung. Werden immanente und ökonomische Trinität miteinander identifiziert, droht seines Erachtens die immanente Trinität in der ökonomischen aufzugehen und Gott mit der Welt und dem Lauf der Geschichte zu verschmelzen, vgl. TD II,2 466. Zwar können und dürfen immanente und ökonomische Trinität nicht auseinander dividiert werden. Doch wo Balthasar immer wieder betont, dass Gott nicht zum „tragischen, mythologischen Gott“ (TD III 300) werden darf, der sich dem Weltgeschehen nicht mehr entziehen kann, hebt er zugleich hervor, dass die ökonomische Trinität die immanente Trinität voraussetzt, vgl. Kim, Denkform, 136 f. Wird Gott auch aufgrund des ökonomischen Heilswerkes erkannt und begegnet er darin dem Menschen, so ist das doch nur möglich, weil dieses Geschehen im raumgebenden Ur-Drama der immanenten Trinität gründet. Auch Merkelbach entdeckt in der immanenten Trinität die „Grundlegung“ des „Dramas“, das dann mit der ökonomischen Trinität assoziiert wird, vgl. Merkelbach, Sehnsucht, 127–226. Cichon-Brandmaier weist auf die Gefährdung der Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität bei Balthasar hin, wenn Balthasar in einer Art trinitarischer Inversion davon ausgeht, dass, bezogen auf die ökonomische Trinität, während des irdischen Lebens des Sohnes der Geist die Vermittlungsfunktion zwischen Vater und Sohn übernehme, wobei der Sohn dem Geist gehorsam sei. Diese Deutung der ökonomischen Trinität könne, so argumentiert sie, zur Bruchstelle der Zusammengehörigkeit von immanenter und ökonomischer Trinität werden, da sie den immanenten innertrinitarischen Beziehungen nicht entspräche und überdies eine doppelte Sendung des Geistes impliziere, vgl. Cichon-Brandmaier, Trinität, 190–193.391–393. 318 Vgl. TD III 404 ff. 319 TD III 404.

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an Fahrt auf, wie Balthasar in den Abschnitten »Elemente einer christologischen Theologie der Geschichte« (A)320 zu plausibilisieren sucht, unter »Die Provokation Jesu« (B)321 darstellt und unter »Gestalt und Ungestalt der Kirche« (C)322 auf die Situation der Kirche anwendet, deren Situation er also grundlegend als dramatisch versteht. Christus ist dabei nicht der strahlende Held, sondern: »Der Geschlagene ist Sieger« (D)323. Nach dieser dramatischen Steigerung, dem „Gesetz eines sich steigernden Nein gegenüber dem in Christus von Gott her ergangenen Ja“324, steht das Endspiel, also quasi der fünfte Akt, noch aus. Als dieser kann Band IV der Theodramatik gedeutet werden. Hier erschließt sich von Christus her mit der Trinitätslehre der „letzte Horizont der Offenbarung Gottes“325. Zugleich bietet er die Eschatologie Balthasars, da diese auf eine „Einbergung“326 der Welt in die Trinität327 hinausläuft und damit die Lösung des Dramas. Die vorwiegend horizontale Schilderung aus TD III wird nun dem „sinn- und formgebenden Prinzip“ einer „vertikalen Theodramatik“328 eingegliedert. Balthasar geht in Band IV der Theodramatik hart an den Rand des theologisch Sagbaren.329 Oft beruft er sich in diesem spekulativsten Band der Theodramatik auf die Schriften der Mystikerin Adrienne von Speyr,330 deren Wirken eng mit seinem Eigenen verknüpft ist.331 Band IV der Theodramatik gliedert sich in eine Einleitung, der drei Hauptteile folgen. Da Band IV eine theodramatische Eschatologie bietet, setzt Balthasar unter »Zum Begriff christlicher Eschatologie« (A)332 in seiner Einleitung mit der Frage nach der Füllung des Begriffs der Eschatologie ein. Dieser kann exegetisch gefüllt werden, etwa durch Reflexionen auf die Naherwartung Jesu, oder dogmatisch im Hinblick auf die letzten Dinge und das Ende der Welt. Balthasar versucht zu plausibilisieren, dass beide Begriffe miteinander versöhnt werden können, wo erkannt wird, dass die (exegetisch herauszuarbeitende) Naherwartung Jesu für sein eigenes 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329

Vgl. TD III 399–403. Vgl. TD III 404–422. Vgl. TD III 423–438. Vgl. TD III 439–468. TD IV 17. TD IV 48. TD IV 341 u. ö. Vgl. TD IV 341 ff. TD IV 24 (kursiv im Original). Vgl. TD IV 11, wo Balthasar dies selbst reflektiert. Bereits in TD I fragt er: „Kennen wir den fünften Akt?“ (TD I 113.) Er bezieht dies zwar nicht explizit auf Band IV der TD, jedoch sehr wohl auf den eschatologischen Zielgrund der Schöpfung, um den eben dieser Band kreist. 330 Vgl. TD IV 11. 331 Vgl. Roten, Hälften, 108. 332 Vgl. TD IV 14–46.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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Schicksal vermittelt über Kreuz und Auferstehung (in einem dogmatischen Sinne) das „Ende der Welt“333 bedeutet, auch wenn die Weltzeit chronologisch weiterläuft.334 (Eine vergleichbare Deutung von Kreuz und Auferstehung als Ende der Geschichte wird unter III.3. bei Pannenberg begegnen.) Unter »Zur Thematik dieses Bandes« (B)335 erläutert Balthasar weiterhin in der Einleitung von TD IV, dass die Trinität selbst der oben angesprochene „letzte Horizont der Offenbarung Gottes in sich selbst und in seinem dramatischen Verhältnis zur Welt“336 ist, der sich in Christologie (TD II,2) und Soteriologie (TD III) zwar bereits ankündigte, der in TD IV aber noch explizit in seiner Bedeutung benannt und reflektiert werden muss. Anthropologische Eschata wie „Tod, Gericht und Endschicksal“337 sind aus Balthasars Sicht nämlich „nur im Rahmen einer theozentrischen Eschatologie“338 zu behandeln. Seine Eschatologie beschreibt Balthasar näherhin als johanneischpräsentische Eschatologie, in der die eschatologische Zukunft Gottes sich in die 333 TD IV 15. Hattrup interpretiert Balthasars Geschichtstheologie darum als Entwertung der Geschichte: „Das innere Ende der Welt ist damit erreicht […]. Es gibt keinen positiven Grund mehr, warum Geschichte noch weiterläuft.“ (Hattrup, Eschatologie, 27.) Aus Balthasars Sicht setzt die Endgültigkeit des Christusgeschehens die eigentliche Dramatik der Geschichte jedoch erst frei, vgl. II.4.6. Dabei gilt aus Balthasars Sicht: „Christlich gesehen ist das Ende gegenwärtig, das jüdisch weiterhin erwartet wird“ (TD IV 41). Kritisch festgehalten sei: Balthasars Theologie ist manchenteils trotz seiner Würdigung des Judentums (vgl. u. a. GF 168; Einsatz, 19–31.58 f. u. ö.) doch durchaus geprägt von einer Überbietungstheorie der Kirche gegenüber dem Judentum. Auf seine Zeitdeutung bezogen heißt das: Balthasar schreibt dem Judentum eine primär innerzeitliche Hoffnung auf den Messias oder ein messianisches Zeitalter zu, wodurch es das bereits Eingetroffensein dieser Hoffnung und deren Ewigkeitsdimension nicht so würdige wie die Kirche. Gemäß jüdischem Denken wäre Zeit dann rein linear aufzufassen, in christlichem Denken umfasse sie Horizontale und Vertikale. Balthasar kann schreiben: „Es gibt Stellen des Alten Testaments, die in sich gewaltiger und lebendiger sind als in ihrer neutestamentlichen Anwendung und Auffassung“ (VC 80). Balthasar kann unter der Voraussetzung einer geheimnisvollen Harmonie Alten und Neuen Testaments kritisch fragen, ob einer griesgrämigen Philologie, nach der das Alte Testament nichts mehr zu sagen habe, dasselbige vielleicht „nicht «deutsch» genug“ (VC 58) sei und damit auf dem Eigenrecht und der Bedeutung der jüdischen biblischen Tradition beharren, um gleich darauf die jüdische Kritik an der christlichen Deutung Jesu zu beanstanden (VC 59). So durchzieht hier eine Spannung seine Theologie. Eine differenzierte Untersuchung der Darstellung des Judentums in Balthasars Werk würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem überschreiten. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur noch auf zwei in der Tendenz gegensätzliche Wahrnehmungen Balthasars. Eine kritische Sicht auf den jungen Balthasar in seinen Aussagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext von Antisemitismus und Shoa trägt Peterson vor, vgl. Peterson, Contexts, 135–227.250–287. Disse dagegen deutet Balthasars Weiterführung seiner Doktorarbeit in den 1930ern, die „Apokalypse der deutschen Seele“, als zeitgenössische Kritik am Faschismus, vgl. Disse, Singularität, 24. 334 Vgl. TD IV 15. 335 Vgl. TD IV 47–49. 336 TD IV 48. 337 TD IV 48. 338 TD IV 48.

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II. Hans Urs von Balthasar

Gegenwart einprägt und somit horizontale Dramatik in vertikale Dramatik eingebunden wird, ohne darin in Mythologie aufzugehen und damit entdramatisiert zu werden, also ihre Echtheit und ihren Ernst zu verlieren.339 »1. Teil. Die Welt aus Gott« ist der erste Hauptteil überschrieben, in dem Balthasar die »Welt aus der Trinität« (A)340 herleitet, wobei er gerade die „Potentialität der Schöpfung“ positiv wertet, da das geschöpfliche Werden, also das »auf-etwas-hinSein«, die „höchstmögliche Annäherung“ an die „unerreichbare Lebendigkeit“341 der Trinität darstellt, die darin besteht, einander in Liebe Raum zu geben. Daraus folgert Balthasar: „Im Sich-Ereignen der göttlichen Hervorgänge liegen auch die Urideen von Zeit und Raum.“342 Zugleich ist so auch die »Erde zum Himmel« (B)343, denn Himmel und Erde sind aufeinander hin geschaffen, vertikal einander zugeordnet und in Christus zueinander in Beziehung gesetzt.344 Balthasar wagt die tastende Annahme, dass es eine Hoffnung Gottes gibt, dass diese Beziehung gelingt, was das unter (A) gewonnene »zeitliche Moment« in Gott voraussetzt, da Hoffnung auf Zukunft ausgerichtet ist.345 (Balthasar bezieht sich hierfür u. a. auf Pannenbergs Werk »Theologie und Reich Gottes«.346) Die Beziehung zwischen Erde und Himmel realisiert sich dabei für den Menschen gerade in ihrer Vertikalität je jetzt, also, wie in der Einleitung zu TD IV grundgelegt, präsentisch in der Gegenwart, da sie das Jetzt des Menschen nicht nur futurisch nach »vorne« überschreitet, sondern eben auch schon heute nach und von »oben«, von der Erde auf den Himmel hin.347 Der zweite Hauptteil von TD IV ist »2. Teil. Aspekte des Endspiels« überschrieben. »Das Endspiel als Tragödie« (A)348 beschreibt die Dimension der Ablehnung Gottes durch den Menschen und des Leides daran im trinitarischen Gott als Ebene der Tragödie, die im Sohn durch- und überschritten ist.349 Unter »Das Endspiel als trinitarisches Drama« (B)350 gelangt Balthasar nicht zu einer ausgeführten Apokatastasis-Lehre, aber zu einer in Christus begründeten, nicht billigen, sondern „teuren“351 Hoffnung für alle Menschen. Wenn nämlich bereits ihr zeitliches 339 340 341 342 343 344 345 346 347

348 349 350 351

Vgl. TD IV 26. Vgl. TD IV 53–95. TD IV 79. TD IV 80. Vgl. TD IV 96–167. Vgl. TD IV 96 f. Vgl. TD IV 160 ff. Vgl. TD IV 81 Anm. 2. Christliche Hoffnung verwandelt das Einerlei der ausgetretenen Wege der Menschheit in ein je-Neues: „Irdisches Futur ist in ein aus Gnade geschenktes je-neues Jetzt eingeborgen.“ (TD IV 166.) Balthasar verdeutlicht dies an der Dichtung »Das Tor zum Geheimnis der zweiten Tugend« des von ihm hoch geschätzten Dichters Charles Péguy. Vgl. TD IV 171–222. Vgl. TD IV 222. Vgl. TD IV 223–293. TD IV 293.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

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Dasein innerhalb der trinitarischen Beziehungen seinen Ort hat, dann auch ihr ewiges. Der Unterfassung des Menschen durch den Tod352 bezieht Balthasar darum unter »Der Mensch in der Unterfassung« (C)353 auf das eine Gericht,354 das eine „Summe der personalen Gerichte“355 darstellt und nicht aufzuspalten ist in ein individuelles und ein Weltgericht. Er fasst hierbei auch die Läuterung356 des Menschen im Fegefeuer als einen der Gerichtsaspekte auf. Der Mensch lebt und stirbt damit in Christus hinein und somit in das trinitarische Leben: „So ist das Eschaton auch diesmal nicht der Mensch, sondern der dreieinige Gott, der in Kreuz, Höllenabstieg und Auferstehung Christi alles menschliche Treiben – sei es Sünde oder Liebe – unterfaßt.“357 Das eine Gericht wird also letztlich an Christus vollzogen. Das menschliche Dasein ist nicht nur durch den Tod, sondern, tiefer noch, trinitarisch unterfasst.358 Der Bezug auf Barths Erwählungslehre, der in Christus alle als erwählt verstehen konnte,359 leuchtet hier im Hintergrund auf.360 Die Welt aus Gott, wie sie noch im ersten Hauptteil von TD IV benannt wurde, wird damit nun im dritten Hauptteil von TD IV endgültig als Welt in Gott erkennbar, daher auch die Überschrift: »3. Teil. Welt in Gott«. Die »Einbergung« (A)361 der Welt in Gott scheint bereits in der Himmelfahrt Christi362 auf, durch den die Geschöpfe „ohne Einbuße ihrer Geschöpflichkeit“, so wie er seinen Platz gefunden hat, auch ihren Platz „in Gott“363 finden.364 Unter der Überschrift »Gegenseitigkeit« (B)365 beschreibt Balthasar, dass das irdische Dasein im Himmel seine „wahrste, wenn auch unvorstellbare Gegenwart“366 erhalte. Die „trinitarische «Diastase»“ bietet genug Raum für „Je-versöhnt-sein und Versöhnt-werden“367, so dass schlussendlich deutlich wird, dass sich das gesamte Theodrama tatsächlich »Im dreieini352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364

365 366 367

Vgl. TD IV 294 ff. Vgl. TD IV 294–337. Vgl. TD IV 315 ff.325 ff. TD IV 326. Balthasar bezieht sich hierfür auf Rahner, Schriften XII, 456. Vgl. TD IV 329 ff. TD IV 336. Meuffels spricht im Hinblick auf Balthasars Anthropologie treffend von einer „trinitarisch bestimmten Anthropologie“ (Meuffels, Einbergung, 20.) Vgl. Weinrich, Barth, 262–268. Vgl. Balthasar, Barth, 188; TD IV 244. Vgl. TD IV 341–376. Vgl. TD IV 343 ff. TD IV 361. Bereits vorher hatte Balthasar über das Theodrama geschrieben: „Es ist Spiel im Spiel: unser Spiel spielt in seinem Spiel.“ (TD I 20.) Das Drama der Welt ist Drama in Gott, im „geöffneten innertrinitarischen Raum“ (TD II,1 80). Damit ist jeglicher Dualismus aus Immanenz und Transzendenz verunmöglicht. Vgl. TD IV 377–388. TD IV 379. Balthasar betont hierbei, der Mensch habe „nur ein Dasein“ (TD IV 379; kursiv im Original), nicht zwei, also nicht eins auf der Erde und das andere im Himmel. TD IV 388.

58

II. Hans Urs von Balthasar

gen Gott« (C)368 abspielt, ohne dass es deshalb unecht oder unfrei wäre. Vielmehr gewinnt es seine Echtheit und Freiheit gerade vom trinitarischen Gott her und mündet schließlich in die himmlische communio sanctorum ein, die schöpferisches Dasein in Gemeinschaft bedeutet.369 Balthasar schließt unter »Begreifst du, so ist es nicht Gott« (D)370 mit der Frage, ob er sich nicht in TD IV doch verstiegen habe in Bildern und Symbolen, die das Drama menschlicher Existenz am Ende verschlucken.371 Gerade die Einbergung des Theodramas in Gott, die bis in die immanente Trinität reicht, macht jedoch aus seiner Sicht dessen Echtheit aus. Von hier aus ist auch die Grundfrage an die Theodramatik zu beantworten: „[I]n welchem Sinn ist das theologische Drama ein Drama Gottes selbst?“372 Von der immanenten Trinität her ist demnach ein Theodrama möglich, in dem Gott beteiligt ist, ohne ihm ausgeliefert zu sein: „Der ganze Denkzug dieses Buches strebte dahin, zu zeigen, daß die unendlichen Möglichkeiten der göttlichen Freiheit alle innerhalb der trinitarischen Differenzen liegen, somit freie Möglichkeiten innerhalb eines immer verwirklichten ewigen Liebeslebens Gottes sind, welches somit nicht – hegelisch – der Setzung jener freien Möglichkeiten bedarf, um sich selbst zu verwirklichen, aus einem bloßen «Spiel» in den «Ernst» der Liebe überzugehen.“373 Bei weitem nicht alle Facetten der Theodramatik konnten in diesem Durchgang durch das Werk benannt werden. Doch eine Vorstellung vom Entwurf Balthasars wurde hoffentlich geweckt. 2.2.4

Auswertung

Balthasar vermittelt in TD zwischen den beiden Denkrichtungen, die sich in seiner Theologie finden, nämlich dem existenzhermeneutischen Denken vom Menschen und dessen Fragen her, wie es sich im desiderium naturale dei und in der dramatischen Suche des Menschen nach sich selbst in seiner Rolle ausdrückt,374 sowie dem dogmatischen Denken von der christlichen Glaubenslehre her, über die Vorstellung eines theodramatischen Involviertseins des Menschen in das Urdrama des trinitarischen Gottes. Dieser Zusammenhang offenbart sich dem Menschen in Christi Eintreten in die Geschichte. Christus, der Sohn, tritt dabei nicht ins Nichts oder erschafft sich seine Bühne erst, denn es gibt laut TG, wie unter II.2.2.1 bereits erläutert, einen Erst- und Eigensinn des Geschöpflichen und der Geschichte vom

368 369 370 371 372 373 374

Vgl. TD IV 389–446. Vgl. TD IV 446. Vgl. TD IV 447–476. Vgl. TD IV 447. TD I 64. TD IV 465 (kursiv im Original). Vgl. TD I 453 ff.

2.2 Zur Geschichtstheologie Hans Urs von Balthasars

59

Vater her.375 Zugleich ist Christi Eintreten in die Geschichte nicht überflüssig, denn erst durch ihn tritt die Antwort eines Letzt-Sinnes in die Geschichte der Welt hinein – eine Antwort, die Zustimmung und Widerspruch hervorruft. TD erweist sich damit als dramatische (TD I) Ausfaltung der in TG bereits angelegten Denkfigur, nach der der vom Vater gegebene Eigensinn des Geschöpflichen und dessen endliche Freiheit (TD II,1) zu ihrem Letztsinn in Christus (TD II,2) gelangen, was die theodramatische Handlung als geschichtlich (TD III) und eben darin als im tiefsten Sinn trinitarisch begründet (TD IV) erweisen soll. Balthasar entfaltet die Bedeutsamkeit der Geschichte also gerade daran, dass er die Bedeutung und den Eigensinn der Geschichte der Menschheit ebenso wie jeder Einzelperson dogmatisch an einem theodramatischen, trinitarischen376 Ur-Drama festmacht,377 das sich dem Menschen christologisch vermittelt und über das er die Geschichte des Einzelnen mit der Geschichte als Gesamtheit in Bezug zueinander gesetzt sieht. Die Akte des Theodramas sind hierbei in zweierlei Weise zu verstehen. Sie bilden ein weltgeschichtliches Geschehen ab (TD III), das auf ein eschatologisches Ziel (TD IV) zuläuft. TD beschreibt damit ein weltumspannendes, historisches Geschehen. Eben dies Geschehen aber realisiert sich darin, dass die Einzelperson378 in ihrem fragmentarischen Dasein einen existenziellen Zugang zu Christus und ihren Auftrag findet, was sich wiederum in dramatischen Akten ihrer konkreten Existenz ausdrückt, so dass die weltgeschichtlich umspannenden Akte des Theodramas sich in entscheidender Weise im Leben des Einzelnen realisieren. Der konkrete Mensch tritt also nicht allein in einem bestimmten Akt des Theodramas auf, sondern in seiner Lebensgegenwart können sich alle Akte desselben – zumindest inchoativ – realisieren, wie unter II.4.6 noch darzulegen sein wird. Diese Bedeutsamkeit, nämlich »Ort« des Theodramas zu sein, entfaltet die Lebensgegenwart des Einzelnen, auch und gerade in seiner trinitarischen Eingeborgenheit, vom Hauptdarsteller der Theodramatik her, nämlich Christus. In Christus öffnet sich dabei eine Hoffnung auf die Überwindung des Todes, die den ganzen Menschen – nicht nur eine unsterbliche Seele – betrifft. „An die Stelle aller den Menschen zersetzenden Selbst375 Vgl. TG 84. 376 Vgl. Meuffels, Einbergung, 48. 377 So ist menschlicher Selbstvollzug für Balthasar stets Vollzug von Freiheit, wobei die „freie […] Selbstergreifung des Ich“ (TD II,2 420) nach Balthasar trinitarische und inkarnatorische Strukturen aufweist, nämlich a) in der sich nicht selbst verdankenden menschlichen Existenz, die sich b) nur dann selbst entspricht, wenn sie Raum für andere lässt und c) sich als angeredete, zur Antwort Gerufene erlebt, vgl. TD II,2 421. In der Konsequenz dieser geschöpflichen Verfasstheit ist der Mensch auf einen „Letzt-Sinn“ (TD II,2 423) verwiesen. An Abschnitten wie diesen verdeutlicht sich der Doppelcharakter der Theologie Balthasars als einer Theologie von oben – nämlich im Postulat inkarnatorischer und trinitarischer Strukturen, die auch und gerade als geschöpfliche von Gott herkommen –, die zugleich einem existenzhermeneutischen Interesse entspringt – und das menschliche Dasein von daher einfühlsam und plausibel wiedergibt. 378 Vgl. TD II,2 411 ff.

60

II. Hans Urs von Balthasar

deutungen unter der Glasglocke seiner leeren Transzendenz tritt damit erstmals der offene Raum, in den hinein er sich unverkürzt, unverfälscht ausspielen kann.“379 Im Folgenden wird zunächst die besondere Rolle des Protagonisten der TD, Christus, und damit der christologische Ansatz des Denkens Balthasars weiter aufgeschlüsselt werden. Darauf wird die Darstellung der Gegenwartsdeutung folgen, die sich aus seiner Geschichtstheologie ableiten lässt. Implizit wird dabei von II.3.-II.4.7 der werkgeschichtliche Denkweg Balthasars von TG über GF bis TD nachvollzogen. Mit II.3. wird der christologische und damit TG entsprechende Ansatz seines Denkens dargelegt, wenn er auch nicht nur an TG festgemacht wird, da der christologische Denkansatz Balthasars sich durch sein gesamtes geschichtstheologisches Denken zieht. Unter II.4.1 und II.4.2 erfolgt die GF entsprechende Entfaltung des menschlichen Fragens über sein fragmentarisches Dasein hinaus, das seine Antwort in Christus findet. Ab II.4.3-II.4.7 werden dann theodramatische Implikationen und Konsequenzen der freien Bewegung von Gott und Mensch aufeinander hin dargelegt, wobei die Darstellung zu weiten Teilen an TD orientiert ist, jedoch auch die unter II.2.2.2 aufgeführten auf TD hinlaufenden Werke sowie einige weitere Schriften Balthasars Berücksichtigung finden.

3. Christologischer Ansatz Das theodramatisch vermittelte Verhältnis zwischen dogmatischem Denkansatz und existenzhermeneutischer Denkweise Balthasars soll im Folgenden noch näher bestimmt werden. Es soll plausibilisiert werden, dass der Ansatzpunkt des theologischen Denkens Balthasars in der Christologie und damit einem dogmatischen Topos liegt, dass aber eben dieser christologische, dogmatische Ansatzpunkt für Balthasar die Bedeutsamkeit des Historischen ausmacht, ihn also seine Geschichtstheologie entwickeln lässt, sowie dass der christologische, dogmatische Ansatzpunkt seine als individualitätstheoretisch zu kennzeichnende Existenzhermeneutik freisetzt. Der christologische Ansatz Balthasars soll dabei einer dreifachen Aufschlüsselung unterzogen werden, um in seiner grundlegenden Funktion für die Gegenwartsdeutung Balthasars erkennbar zu werden. So wird zu belegen sein, dass aus Balthasars Theologie insofern eine dogmatische Geschichtshermeneutik resultiert, als dass seine Theologie sich von seiner Christologie her als dogmatisch fundiert, aber eben darum gerade nicht ahistorisch versteht380 (II.3.1). In eben diesem dogmatischen, christologischen Ansatz liegt 379 TD II,2 19. 380 Zur klassisch gewordenen Unterscheidung von dogmatischem von historischem Denken in der Theologie vgl. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., GS II, Tübingen 1913, 729–753.

3.1 Dogmatische Geschichtshermeneutik von Christus her

61

auch die Begründung seiner existenzhermeneutischen, individualitätstheoretischen Denkweise, die die Bedeutung der Einzelperson und ihres Jetzt in besonderer Weise hervorhebt (II.3.2). Schließlich verweist das Eingehen Christi in die Zeit auf die Würde der Zeitlichkeit des Menschen und eröffnet den Blick für den trinitarischen Ursprung der Zeit (II.3.3). Dass die Zwei-Naturen-Lehre eine spezifische Bedeutung für die Geschichtstheologie Balthasars hat, wird hierbei bereits unter II.3.2 deutlich werden. Welche Bedeutung das Verständnis von Christus als Logos für Balthasars Geschichtstheologie hat, wird unten unter II.4.2 thematisiert. Dass Balthasars Christologie sich als Sendungschristologie versteht, wird unter II.4.4.1 erläutert.

3.1

Dogmatische Geschichtshermeneutik von Christus her

Balthasar versteht die Christusoffenbarung als Voraussetzung und Erkenntnisgrund der Theologie.381 Balthasar vertritt die Ansicht, dass Gott sich selbst auslegen muss und der Mensch erst in diesem Offenbarungsgeschehen zu Gott und zu sich selbst findet.382 Es bedarf dabei keiner „von außen her an den Glauben führenden Apologetik für Noch-nicht-Glaubende“383. Christus selbst vermittelt nämlich zwischen „Gott und der Welt, zwischen der Offenbarung und der Vernunft“384. Und diese christologische Vermittlung geschieht geschichtlich. Die alles entscheidende Bewegung Gottes zum Menschen385 und die in diese Bewegung Gottes eingeborgene, suchende Bewegung des Menschen auf Gott und auf sich selbst hin386 konvergieren in Christus.387 Bereits in TG entwirft Balthasar darum eine christologische Geschichtshermeneutik und auch der Protagonist des Theodramas ist Christus.388 Balthasars Geschichtstheologie stellt insofern eine dogmatische Geschichtshermeneutik dar, als dass sie mit der Christologie in einem dogmatischen Topos wurzelt, dessen Geltung sie als Norm voraussetzt, die der biblischen Offenbarung

381 So ist die H, die Lehre von der Schönheit (»Herrlichkeit«) der Offenbarung für Balthasar mehr als eine von der Dogmatik abgetrennte Fundamentaltheologie, vielmehr ist sie als Fundamentaltheologie untrennbar mit seiner Dogmatik verbunden, vgl. H I 9. Pulchrum (H), bonum (TD) und verum (TL) gehören für Balthasar als untrennbare Transzendentalia zusammen, vgl. H I 10 f. 382 Vgl. Meuffels, Einbergung, 52. Auf die Inspiration Balthasars durch Barth, die hier im Hintergrund aufleuchtet, weist Meuffels hin unter ders., Einbergung, 41–49. 383 VC 210. 384 VC 210. 385 Vgl. TD II,2 17 f. 386 Vgl. TD II,2 18 f. 387 Vgl. TD II,2 19 f. 388 Vgl. TD II,2 23 ff.

62

II. Hans Urs von Balthasar

entspringt. Balthasar macht seine Theodramatik dahingehend als „«theologisches» Unternehmen“389 transparent: „Das besagt, daß es den dramatischen Charakter des Daseins im Licht der biblischen Offenbarung betrachtet, daß wir also schon von ihr her denken und nicht erst auf sie hin.“390 Für Balthasar bedeutet das keine Horizontverengung, sondern den weitestmöglichen Horizont, der „sämtliche möglichen Selbstentwürfe des Menschen überholen und in sich einordnen kann.“391 Bereits seit TG, ebenso wie in den folgenden Schriften, ist, dieser christologischen und damit dogmatischen Schwerpunktsetzung entsprechend, nicht die historische Analogie für die Betrachtung der Geschichte entscheidend, sondern der „theologische […] Mittelpunkt der Weltgeschichte“392 ist der menschgewordene Gott in Jesus Christus. Zu erkennen, dass mit Jesus Christus das – historisch und somit auch historisch-kontingente – Einmalige universale Geltung hat, ist von daher das „experimentum crucis der Geschichtstheologie“393. Mit großer Selbstverständlichkeit setzt Balthasar damit die normative Verbindlichkeit lehramtlicher Aussagen voraus.394 Das historisch-kontingente Moment dieser Lehre relativiert er insofern, als dass er den Geist Gottes als entscheidendes Subjekt der kirchlichen Lehrbildung versteht.395 Aus der christlichen Binnenperspektive ergibt sie für Balthasar ein stimmiges Bild. Von außen betrachtet, so weiß er

389 390 391 392 393 394

TD II,1 9. TD II,1 9. TD II,1 9. TG 83; vgl. VC 67. TG 111. Das Lehramt fungiert – über das Sensorium des einzelnen glaubenden Christen hinaus – als „regulatives Prinzip für die Erhaltung der Offenbarungsintegrität“ (TD II,1 89) und wahrt somit „durch die sich wandelnden Geschichtszeiten hindurch“ (TD II,1, 89) die Einheit des Glaubens und seine Kontinuität. Das Lehramt verkündet das dereinst geschehene Drama als je-heutiges in die Gegenwart, vgl. TD II,1 91. Es bürgt dafür, dass zu allen Zeiten dasselbe Evangelium mit „Vollmacht“ (TD II,1 91.) verkündigt wird, „wodurch Offenbarung für jede Zeit die verkündigte und sich dabei selbst auslegende ist“ (TD II,1 91, kursiv im Original). Es ist die „Verleiblichung der besagten regula fidei innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft als ganzer.“ (TD II,1 90.) Balthasar fasst zusammen: „Wenn wir anfangs sagten, Theologie könne nur Hermeneutik der Offenbarung sein, aber Offenbarung sei als die Selbstauslegung Gottes in Christus in die Kirche hinein selbst Hermeneutik, und die erste sei auf die zweite hin ausgerichtet, während die zweite sich in die erste hinein auslegen muß, so kann der theologische Ort des «Lehramtes» nur im Bezirk der zweiten Hermeneutik (die natürlich die fundamentale ist) angesiedelt werden.“ (TD II,1, 90.) Theologie dagegen gehört in den ersten Bezirk der Hermeneutik. 395 Vgl. TG 78 f.

3.1 Dogmatische Geschichtshermeneutik von Christus her

63

selbst, bleibt sie strittig.396 Balthasars Theologie und dementsprechend auch seine Geschichtstheologie folgen also, wie in allem bis hier Gesagten bereits deutlich geworden ist, eher einer dogmatischen als einer historischen Methode,397 – wobei Balthasar, wie bereits beschrieben, betont, dass Christus, nicht die Dogmatik zwischen der Offenbarung und der menschlichen Natur, Vernunft und Philosophie vermittelt.398 Rein historisch kann die Gestalt Jesu Christi nach Balthasar ohnehin nicht angemessen erfasst werden, da ihre Bedeutung überzeitlich ist. Auch der Unterscheidung eines (historischen) Jesus‘ der Geschichte und eines (dogmatischen) Christus‘ des Glaubens folgt Balthasar nicht.399 Er wendet sich gegen eine „Zwei-Stockwerk-Theorie: im Unterstock wird der «Jesus der Geschichte» bis zu Ende philologisch und psychologisch analysiert, im Oberstock wird an das Wort Christi als des Sohnes des Vaters kirchlichgemeindehaft und existentiell geglaubt. Als ob an Jesus irgend etwas menschlich verständlich bliebe, falls man es nicht von vornherein als Ausdruck seiner göttlichen Sendung deutet und Persönlichkeit deutet! Diese methodische Schizophrenie entspräche allenfalls der Zerrissenheit des fragenden Menschen, der auch als Glaubender ein Sünder bleibt; aber darum geht es ja nicht, denn die Methode wird nicht durch den Forschenden, sondern durch den Gegenstand diktiert. Dieser Gegenstand ist Christus“400. Für Balthasar gehören historische und dogmatische Wahrheit des christlichen Glaubens vielmehr zusammen,401 denn wie die Inkarnation Christi zeigt, ist die zentrale 396 Das gilt heute umso mehr angesichts der gewachsenen „Spanne zwischen Offenbarung Christi und weltlicher Wissenschaft“ (VC 211). 397 Zöge man etwa Troeltschs schulbildend gewordene Unterscheidung zwischen historischer und dogmatischer Methode heran, so wäre Balthasar zu weiten Teilen auf Seiten der dogmatischen Methode zu verorten. Troeltschs kritisch formuliertes Diktum, „[d]as Wunder ist in Wahrheit entscheidend“ (Troeltsch, Methode, 742), trifft auf Balthasar zu, wobei aber aus Balthasars Sicht das Wunder des christlichen Heilsgeschehens der konkreten Historie nicht indifferent gegenüber steht. Dass Ausgangspunkt und Ergebnis in Balthasars Geschichtshermeneutik in Christus zusammenfallen, wie Troeltsch dies an der dogmatischen Methode kritisiert (vgl. Troeltsch, Methode, 750), sucht Balthasar durch das Aufeinanderhin von Natur und Gnade in seiner Theologie zu umgehen, das das Suchen des Menschen als Wirkmoment in der Relation von Gott und Mensch würdigt und damit den möglichen Zirkel des Denkens von Christus her auf Christus hin aufsprengt. 398 Vgl. VC 210. 399 Vgl. TD II,2 11; vgl. Hartmann, Christo-Logik, 271. 400 VC 56. 401 Dabei deutet Balthasar auch die historisch-kritische Methode dogmatisch. Historisch-kritische Exegese brachte, so schreibt er, mehr aus Versehen als beabsichtigt, die Erkenntnis zum Leuchten, dass verschiedene „Sinnschichten“ (GF 30 Anm. 1) die Bibel durchziehen und dass die Gotteserkenntnis der Menschheit sich gemäß einer der Offenbarung innewohnen-

64

II. Hans Urs von Balthasar

dogmatische Wahrheit des christlichen Glaubens historischer Natur.402 Von seinem christologischen Denkansatz her versteht Balthasar seine Theologie also als dogmatisch und historisch. Ahistorisch möchte Balthasar also gerade nicht denken, wenn seine Weise, historisch zu denken, auch wiederum mit der Christologie403 in seiner Dogmatik wurzelt.404 Schon von seinem spirituellen Impetus her ist Balthasar ahistorisches Denken unmöglich. Im Sinne der Offenbarung gibt es Wahrheit nämlich nur im Vollzug eines christlichen Lebens und damit in der Geschichte. „«[I]n der Wahrheit wandeln»“ ist nämlich „im Sinne der Offenbarung“ „die Art […], wie Glaubende im Besitz der Wahrheit sind“405. Ahistorisch kann der Mensch sich Gott also nicht nähern. Der Mensch braucht dies auch nicht zu versuchen, nähert Gott sich ihm in Christus doch auch in der Geschichte. Balthasar versteht die Geschichtlichkeit der geschöpflichen Welt hierbei als Voraussetzung der „Geschichtswerdung“406 Christi. Das Leben Jesu Christi ist „geschichtsgebildet […]“407. Vor allem aber ist es „geschichtsbildend […]“408, läuft die Geschichte doch auf Christus hin und wird durch ihn doch erst die eigentliche Dramatik der Geschichte freigesetzt. Christus also „ist durch die Welt und ihre Geschichte, die Welt und ihre Geschichte durch ihn.“409. Nur äußerst selten deutet Balthasar dabei konkrete geschichtliche Ereignisse theologisch.410 Vielmehr bindet Balthasar die jeweilige Gegenwart des Menschen,

402

403

404

405 406 407 408 409 410

den Entelechie im Laufe der Zeiten vertiefte und erweiterte. Vgl. auch GF 179–182.222 f. und VC 83 Anm. 1, sowie die dogmatische Deutung der vielfältigen Christologien des Neuen Testaments, wie sie historisch-kritisch herausgearbeitet worden sind, als Entsprechung der Unbegreiflichkeit des menschgewordenen Wortes in Balthasar, symphonisch, 52. Balthasar, Cordula, 76. Troeltsch hielte eine solche Verbindung allenfalls als Übergangsform und „Erweichung und Entzahnung der alten Autoritätslehre“ (Troeltsch, Methode, 753) für sinnvoll. Christologie ist dabei nicht Christus. Die Christologie gehört in den Bereich der Dogmatik. Christus, der Vermittler zwischen Offenbarung und Mensch, steht quasi »über« der Dogmatik, setzt sie gewissermaßen frei. Löser siedelt Balthasars Geschichtsdeutung vor dem Hintergrund von dessen Verquickung historischen und dogmatischen Denkens zwischen den Extremen des historischen Positivismus und eines geschichtsphilosophischen Systems idealistischer Prägung an, vgl. Löser, Interpret, 43. Löser beschreibt Balthasars Denken ambivalent als christozentrischen, phänomenologischen Ansatz. Er mache mit der „Positivität des Endlichen“, der „Gestalthaftigkeit des Geschichtlichen“ und der „Universalität des Katholischen“ drei Haftpunkte für die „Christozentrik der Welt“ (Löser, Interpret, 12) aus, die die Mitte seines Werkes sei. VC 196. TG 84. TG 58. TG 58. TD II,2 14. Balthasar spricht in diesem Zusammenhang von einer „reziproken Kausalität“ (TD II,2 14) in Christus selbst. So bezeichnet er den Eisernen Vorhang als eschatologische Vorschattung der letzten Ausweglosigkeit der Flucht, vgl. TD III 420.

3.2 Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her

65

die subjektiv stets Mitte seiner Lebensgeschichte ist, wie alle menschlichen Gegenwarten an eine quasi »objektive« „Mitte“411 der Geschichte in Christus. Aus seiner ignatianischen Prägung heraus sucht Balthasar dann in dieser Verbindung mit Christus nach der angemessenen Füllung der jeweiligen Gegenwart des Menschen, der gefragt ist, für sein Leben eine Wahl zu treffen.412 Eben darin realisiert sich die lebens-geschichtliche Annäherung des Menschen an Gott, auf die Balthasars Geschichtstheologie aufgrund seines spirituellen Impetus (II.2.1) zielt.

3.2

Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her

Dem dogmatischen, aber nicht ahistorischen, christologischen Ansatz Balthasars entspringt, wie nun entfaltet werden soll, ein existenzhermeneutischer, individualitätstheoretischer Vorrang der einzelnen Person. Dabei erhält das Heute für Balthasar von Christus her seinen Wert und eben diesen Wert versteht er geradezu als das spezifisch Christliche, denn nur von Christus her ist „die Würde jedes einzelnen Menschen und der Wert jeder konkreten geschichtlichen Situation gewährleistet“413. Balthasar schreibt mit Jesus Christus einer historischen Einzelperson universale Bedeutung zu. Bereits in TG nennt Balthasar Christus die „Norm“414 der Geschichte und jedes einzelnen Lebens. Er begründet dies mit der Zwei-Naturen-Lehre. „Es ist evident, daß wenn «einer von uns» seinshaft eins ist mit Gottes Wort und Gottes erlösender Tat, er ebendadurch [sic] erhöht ist zur Norm unseres Wesens wie unserer konkreten Geschichte, der aller Individuen wie der des Geschlechts.“415 Der Geist Gottes setzt Christus dann in Bezug zum Ganzen der Geschichte und des einzelnen Menschen in ihr.416 Als singuläre Einzelperson wird der Gott-Mensch Jesus Christus somit aus Balthasars Sicht zur allgemeinen Wesensnorm der Geschichte des Einzelnen und der Menschheit. Der Buchtitel »Das Ganze im Fragment« kann 411 412 413 414 415 416

TG 21. Vgl. hierzu u. a. Löser, Exerzitien, 172–174 u. Kunz, Ignatianische Spiritualität, 293–303. Löser, Annäherungen, 214. TG 22 f.61 u. ö. TG 15. Indem der Heilige Geist Christus auf das Ganze der Geschichte bezieht, bewirkt er dessen universale Bedeutung für die Geschichte und den Einzelnen. Dies geschieht in seinem Wirken an Jesus in den vierzig Tagen nach der Auferstehung, die ein Stück Himmel auf der Erde vorwegnehmen, in der sakramental-ekklesiologischen Dimension des Wirken des Geistes, in der der Geist Christus auf die Kirche aller Zeiten bezieht, sowie in der personalen Dimension, in der der Geist den Menschen ihre persönlichen Sendungen vermittelt und so das Leben Christi auf das kirchliche Leben und das des Einzelnen bezieht und damit der Geschichte einprägt, vgl. TG 62.

66

II. Hans Urs von Balthasar

insofern regelrecht als Paraphrase der Zwei-Naturen-Lehre verstanden werden. In GF beschreibt Balthasar Christus darum auch als „Mensch seiner Zeit“ der doch die „Fülle der Zeit“ bringt, wie sie nicht „von unten her“417 ersichtet werden könnte. Er ergänzt unter Einbeziehung seiner Logos-Christologie: Das Wort des einen Gottes an alle ergeht nicht außerhalb der Zeit. Es ergeht jedoch auch nicht in Milliarden „Privatoffenbarungen“, sondern es ergeht „als Wort vom EINEN sinnvoller Weise nur an EINER Zeit-Raum-Stelle“418, nämlich in der singulären Gestalt und Geschichte der Person Jesus von Nazareth. Von Christus her, der als singuläre Einzelgestalt „für alle einmalig […] als Ewiger ein irdisches Leben lebt und dieses mit Ewigkeitsgehalt füllt“419, auf den geschichtlichen Letztsinn hin zu denken, kann dann für Balthasar nicht darin münden, dem Allgemeinen den Vorzug vor dem Einzelnen zu geben, also etwa die Bedeutsamkeit der Menschheitsgeschichte höher als die Geschichte eines Einzelnen zu gewichten.420 Vielmehr bekommt analog zu Christus die Bedeutung des Einzelnen „im christlichen Kontext ein ganz bestimmtes, nirgendwo anders bekanntes Pathos“421. „So lautet die Zielfrage der Theodramatik in TD I »Wer bin ich?«422 und so wird auch »Der Einzelne« (D)423, nicht die Menschheit, in TD II,2 im III. Hauptteil explizit als theodramatische Person benannt.424 Und so fragt Balthasar bereits in TG, ob sich etwa Jüngerschaft, Apostolat und Glaube christlich als „Fall von“425 einer übergeordneten Kategorie verstehen lassen und verneint dies: „Man wird diese Fragen alle mit Nein beantworten müssen, nicht deshalb, weil hier überall nicht eine echte Analogie zwischen dem allgemein menschlichen Gesetz und dem christlichen Sonderfall bestünde, sondern deshalb, weil der Sonderfall – und dies von der Einmaligkeit Christi her – so beschaffen ist, daß

417 418 419 420 421 422 423 424

425

GF 194. GF 205. TD IV 343. Vgl. TD II,2 411. Die Menschheitsgeschichte hat nach Balthasar ihren eigenen Sinn, der den Sinn des Einzelnen jedoch nicht aufhebt, vgl. GF 127 ff. TD II,2 411. Vgl. TD I 453 ff. Vgl. TD II,2 411–424. Disse macht auf die Gefahren einer rein auf die Subjektivität des einzelnen Menschen reduzierten Perspektive deutlich, die dazu führen kann, den Anderen aus dem Blick zu verlieren; eine Gefahr, die sich in unserer Gegenwart bis hin zum drohenden ökologischen Kollaps des Planeten ausweitet, vgl. Disse, Singularität, 20 f. Wo Balthasar jedoch zugleich festhält, dass der Mensch nur im Dialog mit seinem Nächsten existiert, wie etwa in Balthasar, Rechenschaft, 14; TD II,2 422 Anm. 19 u. ö., äußert sich der personalistische Zug seiner Theologie, der der Vereinzelung des Einzelnen in Balthasar Theologie wehrt. TG 20.

3.2 Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her

67

er in seiner geschichtlichen Einzelheit zur konkreten Norm der abstrakten Norm geworden ist.“426 In Christus ist der Logos „selber Geschichte“ und im „Leben Christi fällt das Faktische mit dem Normativen […] zusammen“427. „Von der Geschichtlichkeit der Christusoffenbarung her gewinnt auf diese Weise der geschichtliche Pol der menschlichen Existenz eine Aufwertung“428, wie sie nicht philosophisch gewonnen werden kann, sondern nur von der singulären Verbindung des Göttlichen und Menschlichen in Christus her möglich ist.429 Der Vorrang des Singulären zeigt sich auch in Balthasars Ontologie und Erkenntnistheorie, wie hier nur ausschnitthaft skizziert werden kann. Disse spricht von einem grundsätzlichen Vorrang des »Singulären«430 (als nicht nur Partikularen, Individuellen, sondern Einzigartigen) vor dem Allgemeinen bei Balthasar.431 So ist der subjektive, perspektivisch gebundene432 Standpunkt des Menschen für diesen nie überspringbar.433 Universalität bedeutet von ihm aus nach Balthasar stets „kon426 427 428 429 430

TG 20. TG 20. TG 21. Vgl. TG 9–23. Diese Arbeit verdankt die Begrifflichkeit des »Singulären« der Arbeit von Disse: ders., Metaphysik der Singularität. Eine Hinführung am Leitfaden der Philosophie Hans Urs von Balthasars, Wien 1996. 431 Vgl. Disse, Singularität, 23 ff.194 u. ö. Die Dinge haben für Balthasar bis in das Spätwerk der »Theologik« ein „Selbstsein“ (TL I 81), eine ihnen eigene, gottgegebene „Sphäre der Intimität“ (TL I 82). Disse kritisiert Balthasar jedoch dahingehend, dass bei dessen letztlich unklarem Substanzbegriff ungeklärt bliebe, was die individuelle Seinsqualität zweier gleicher Gegenstände ausmache (vgl. Disse, Singularität, 232), sowie mit dem Verweis auf ein letztlich doch unbefriedigend geklärtes Verhältnis von Balthasars Ästhetik mit ihrem Primat der singulären Dinge im Verhältnis zum wissenschaftlichen Fortschritt, der sich auf „Allgemeinstrukturen“ (Disse, Singularität, 233) beziehe. 432 So deutet Balthasar das »Sosein« der Existenz als Perspektivität, während ihr »Dasein« die darüber und über das Fassbare hinausgehende Fülle der Existenz in ihrer Einmaligkeit umschreibt. Vgl. hierzu TL I 211, wo Balthasar auch schreibt: „Diese beiden Seiten [nämlich Sosein und Dasein] des (Da-)Seins vollenden zusammen den personalen Charakter des Seins, der vom Sosein her sich als Perspektivität gezeigt hatte, indem das Seiende nunmehr [nämlich vom Dasein als Gegenpol zum Sosein; Anm. d. Vf.in] ganz als das jeweils Einmalige erscheint.“ Bei Balthasar wird damit Perspektivität quasi zur Seinsform. Disse arbeitet zudem heraus, dass Balthasar der Seinspyramide des Porphyrius ein Seinsverständnis entgegen setzt, das Sein „nicht als bestimmungslose Abstraktion, sondern als Fülle aller Wesensbestimmungen“ (Disse, Singularität, 63) deutet, wodurch eben kein Abstieg vom Allgemeinen zum Besonderen intendiert ist, sondern herausgestrichen wird, dass das Sein nur im Seienden erkennbar wird. Disse kritisiert diese Herangehensweise Balthasars zugleich, da es für heutiges Empfinden nicht zu belegen sei, dass jedem Seienden eine eigene Seinsqualität, ja ein eigener Seinskern zukomme. Es könne vielmehr so sein wie bei einer Zwiebel: Hat man sie vollständig gehäutet, bleibt gar nichts, vgl. Disse, Singularität, 232. 433 Vgl. TL I 207 f.231.

68

II. Hans Urs von Balthasar

krete Universalität“434 und selbst identische Wahrheit existiert nur „in der Form von jeweils einmaliger persönlicher Wahrheit.“435 Balthasar versteht dies nicht als defizitäre, sondern als positiv zu wertende Daseinsgegebenheit. Ontologische Voraussetzung dieser positiven Wertung ist Balthasars Annahme, Sein und Seiendes hätten einen personalen Seinsgrund, nämlich in Gott.436 Perspektivität und Personalität bedeuten ihm darum nicht Verzerrung, sondern positive Verfasstheit und „eigentliche[s] Mysterium des Seins“437. Balthasar kennzeichnet diesem Duktus entsprechend die Frage nach der personalen Einmaligkeit als brennendste aller philosophischen Fragen, meint jedoch: An ihr „stößt das philosophische Denken an seine Grenze“438. Unter dem „Gesichtspunkt der identischen Menschennatur“439 könne philosophisch ein Ich vom anderen immer nur „akzidentiell“440 unterscheiden werden. Die Frage nach der personalen Einmaligkeit ist aus seiner Sicht letzten Endes nur theologisch über den unendlichen Wert des Geschöpfs in den Augen seines Schöpfers beantwortbar. Der unersetzliche Wert der Einzelperson sei unterscheidend christlich, nämlich in der Liebe Gottes verankert, wie sie in Christus dem Einzelnen erwiesen wird. Damit entspringt der dogmatisch-christologischen Geschichtstheologie Balthasars eine individualitätstheoretische Existenzhermeneutik. „Wer «ich» bin, wird mir nicht aus einem allgemeinen γνῶθι σαυτόν […] bewußt, sondern genau aus dem Rückschlag der Tat Christi, die mir beides auf einmal sagt: wie wert ich Gott bin und wie weit wegverloren [sic] ich von Gott war.“441 434 TL I 204. 435 TL I 212 f. 436 Hinter Balthasars christologisch motiviertem, individualitätstheoretischem Fokus auf der einzelnen Person ist damit auch eine Rezeption der heideggerschen, ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem auszumachen, nach der das Seiende nicht außerhalb des Seins als Totalität sein kann, doch das Sein seine Wirklichkeit wiederum nur im einzelnen Seienden gewinnt. Balthasar versteht Gott hierbei als transzendenten, freien und personalen Seinsgrund, vgl. Löser, Annäherungen, 150.151 ff. Da es Sein und Seiendes nicht ohne einander gäbe, würden Sein und Seiendes ohne Gott als ihren Grund in ihrer Verwiesenheit aufeinander ineinander aufgehen, denn Gott, der trinitarisch Einheit in Differenz ist, ist der Grund für das Sein als solches und damit auch das Seiende in seiner Gestalthaftigkeit ebenso wie für dessen Unterschiedenheit. Disse fragt wiederum kritisch, wie bei Balthasar „das Sein zugleich, und zwar in ein und derselben Hinsicht, Allgemeines und Je-Singularisierendes sein“ (Disse, Singularität, 200) soll. 437 TL I 211. Perspektivität und Personalität machen für Balthasar das gestaltenlesende Denken aus, das er vom diskursiven Denken unterscheidet, das sich auf das Allgemeine, nicht das Einmalige, Personale fokussiert, vgl. Disse, Singularität, 165. 438 GF 207. 439 SC 273. 440 SC 273. Dazu könne die Philosophie auch die Begegnung von Ichbewusstsein und Ichbewusstsein nur unzureichend über eben diese identische Menschennatur erklären. 441 SC 274. Balthasar folgert weiter von hier aus bis auf die Trinität hin: „Und die Tat Christi ist Kundgabe der ewigen Liebe Gottes, meines Vaters, dadurch, daß ein Mitmensch, ein Du

3.2 Individualitätstheoretische Existenzhermeneutik von Christus her

69

In Person und Tat Christi kommt der Wert des Einzelnen unüberbietbar zum Ausdruck. Wenn also im Folgenden die Theologie Balthasars auf ihre Hermeneutik der Lebensgegenwart des Menschen hin untersucht wird, so lässt sein Entwurf sich von seinem christologischen Ansatz her über den von daher gewonnenen Primat des Einzelnen in seiner geschichtlichen Einmaligkeit als individualitätstheoretische Existenzhermeneutik erschließen. Balthasar legt dabei der Existenz der Einzelperson analog der Bedeutung der singulären Gestalt Christi größte Bedeutung bei. Wo der Mensch durch Christus zu sich selbst findet, löst ihn das darum auch nicht in Christus auf, sondern lässt ihn in der Übernahme seiner Rolle sein Selbst realisieren, ja Person werden, und somit in der Einzigartigkeit seiner Sendung seine eigene Einzigartigkeit verwirklichen (II.4.4). Das eröffnet Balthasar den Weg einer Deutung menschlicher Lebensgegenwart, die sich nicht in Aporetik erschöpft. Zugleich drückt sich darin ein hoher Anspruch an den Einzelnen aus. „Dass der Einzelne standhält; von der Masse erwarte ich gar nichts“, nennt Balthasar in einem seiner letzten Interviews die Essenz seiner Auseinandersetzung mit Maximus Confessor, für ihn eine der prägenden Größen seines theologischen Denkens,442 und fährt fort: „Ich glaube, dass Einzelne das Geschick der Welt entscheiden.“443 Auch die Kirche als Gestalt hat, allein für sich genommen und ohne Christus, nicht die geringste Plausibilität, weder in ihren ohne Christus unverständlichen Sakramenten noch in ihrer Geschichte voller Verfehlungen. Die Kirche gewinnt laut Balthasar einzig durch die singuläre Gestalt Christi Evidenz.444 In Analogie hierzu sind es die Heiligen, die durch ihr Leben die Lehre der Kirche als „Antwort von oben auf die Fragen von unten“445 in je einzigartiger, konkreter Weise auslegen. Der so dargelegte »Primat des Einzelnen« macht Balthasar nicht undogmatisch. Sein christologischer Ansatz bleibt dogmatisch. Zugleich scheint darin aber seine immense Wertschätzung des individuellen, einzigartigen Menschen auf und macht

442 443

444 445

sich bis ins Äußerste für mich eingesetzt, mich stellvertretend erlöst und in Gottes Kindschaft zurückgebracht hat. Mein Ich ist also das Du Gottes und kann ein Ich nur sein, weil Gott sich zu meinem Du machen will; und wenn dies der Ursinn des Seins ist und ich dennoch nicht zur notwendigen Ergänzung Gottes (d. h. zu Gott selbst) werden soll, dann ist der letzte Gedanke unumgänglich, daß Gott in sich selber ewig Ich und Du und die Liebeseinheit beider sein muß: Das Mysterium der Trinität wird zur unabdingbaren Voraussetzung dafür, daß es Welt gibt, daß zwischen Gott und Welt das Drama der Liebe sich spielt und dieses Drama die Welt innerlich erfüllt als Begegnung von Ich und Du.“ (Ebd. 274 f.; kursiv im Original.) Vgl. Meuffels, Einbergung, 36 ff. Aufgerufen am 08.05.2018 unter: https://www.youtube.com/watch?v=ygKIWUa-iLM, ab 28:20. Vgl. auch Balthasar, Schleifung, 32 und TD II,2 419 f.: „Der christlich Einzelne hat, wenn er sich von Christi Tat und Botschaft her versteht, einen Standort, von dem aus er «die Welt bewegen» kann, auch wenn er dabei selbst untergeht.“ Vgl. H I 445. TG 82.

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II. Hans Urs von Balthasar

seine Theologie nahbar. Mitten im dogmatisch voraussetzungsreichen, teils sogar spekulativen446 Zug der Theologie Balthasars eröffnet sich also der ansprechendste Zugang zu seinem Werk in der eben darin stets aufscheinenden Würdigung der individuellen, einzigartigen Person. Der individualitätstheoretische Vorrang der Einzelperson zeigt sich in Balthasars dogmatischer Geschichtsdeutung, wie unter II.4. auszuführen sein wird: – in seiner christologischen Geschichtsdeutung, in der eine singuläre Person, nämlich Jesus Christus, entscheidend für das Ganze der Geschichte ist,447 – wodurch in der Folge eine Fülle einzigartiger, geschichtsbildender Sendungen freigesetzt werden,448 sowie in seiner Anthropologie: – in der existenziellen Analogie des Theaters für die Suche des Menschen nach der passenden Rolle in seinem Leben und dem damit verbundenen Fokus der Geschichtstheologie Balthasars auf der Geschichte des einzelnen Menschen,449 – durch den Begriff des Fragments als eindrücklicher Figuration der Unvollkommenheit und Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz, in gerade der das Ganze aufzuscheinen vermag,450 – sowie in der Bedeutung der Geschichte des einzelnen Menschen, in der sich die verschiedenen Akte des menschheitsumspannenden Theodramas bereits heute realisieren können.451

Wenn also im Folgenden die Theologie Balthasars auf die Bedeutung des Jetzt hin befragt wird, um anhand dessen dem Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz nachzugehen, so ist stets dieser individualitätstheoretische Zug seiner Theologie mit zu bedenken. In ihm drückt sich zugleich der Erst- und Eigensinn des Geschöpfes vom Vater her aus, das in Christus zu seinem Letztsinn findet, so dass die „unterscheidende Eigenart“ des Geschöpfes durch Christus „erst zur höchsten Geltung“452 kommt.

446 So wirken etwa die »Einblicke ins Innere Jesu und Gottes«, die Balthasar immer wieder bietet, spekulativ, vgl. bspw. TG 23–31; TD IV 223–243. 447 Vgl. TG 111. 448 Vgl. TG 62; TD II,2 411 ff. und II.4.4. 449 Vgl. TD I 233 f. „Die Frage, die gestellt werden muß, lautet nicht: Was für ein Wesen ist der Mensch, sondern «Wer bin ich?»“ (TD I 454, kursiv im Original.) 450 Vgl. GF 122 f. 451 Ausgeführt wird dies unter II.4.5.2. 452 TG 85.

3.3 Die Würde der Zeitlichkeit des Menschen von Christus her

3.3

71

Die Würde der Zeitlichkeit des Menschen von Christus her

Balthasars theodramatischer Geschichtshermeneutik liegt die Annahme zugrunde, dass die Welt nur darum erschaffen wurde, weil sie in Christus vollendet werden wird, also in ihm ihre Zukunft453 findet.454 Das führt bei Balthasar aber nicht zu der Folgerung, es zähle allein diese eschatologische Zukunft. Vielmehr entwirft Balthasar von seiner Christologie aus eine insgesamt positive Wertung menschlicher Zeitlichkeit, geschieht die Inkarnation Christi doch in die Zeit hinein. „[N]icht von außen“455, sondern mitten in der Zeit hat Christus das Heil erwirkt. Das heißt: „[D]urch Jesus Christus wird dem Einzelnen, der sich umwendet und bekehrt, ein Heil angeboten, das etwas anderes ist als «Flucht aus der Zeit».“456 Vielmehr spielt sich die Begegnung mit Christus bis heute in der Zeit ab. Als durch Christus „erwirkte Ewigkeit“457 wohnt der Gegenwart des Menschen dabei proleptisch seine Zukunft inne.458 (Ein vergleichbarer Gedanke wird sich bei Pannenberg unter III.3. finden.) Zeit kann also – gerade christlich – als »Heimstätte« erlebt werden, da sie der Raum der Christusbegegnung ist und die produktive Eröffnung eines Lebensraums darstellt.459 Wird Zeit dennoch als „Selbstwiderspruch“460 erlebt, resultiert diese Empfindung nicht daraus, dass zeitliches Dasein als solches automatisch von Gott entfremdetes Dasein wäre, sondern daraus, dass der Mensch der eben gerade in der Zeit stattfindenden Begegnung mit Gott in Christus entfliehen möchte.461 453 Die christliche Hoffnung erstreckt sich dabei nicht nur auf ein „weltliches Futurum“ (TD IV 48), sondern die „Christuszeit“ in „ihrer einmaligen Erstreckungsform“ (TD IV 49) überschreitet die Schwelle des rein Futurischen eschatologisch. 454 Vgl. TD II,2 236. Durch Christus wurde die theodramatische Freiheitsgeschichte der Welt insofern überhaupt erst ermöglicht, da in ihm der Raum der größten Nähe und der größten Ferne zu Gott eröffnet worden ist und damit der »Spielraum« des Theodramas, vgl. TD II,2 19; TG 54. 455 GF 48. 456 GF 48. So macht auch nicht die zeitlose, mystische Schau Gottes den Menschen Christus aus, vgl. TG 37. In der mystischen Erfahrung der Zeitlosigkeit mag sich zwar auch echte Gotteserfahrung ausdrücken, sie ist dem Menschen in seinem Zeiterleben aber nicht vermittelbar, vgl. TG 27 Anm.1. 457 GF 56. 458 Vgl. GF 53 f.; TD IV 48. Balthasar formuliert dem Duktus johanneischer, präsentischer Eschatologie entsprechend, dass „mit der Auferstehung Jesu die Zukunft zur Gegenwart geworden“ (TD IV 321) ist. 459 Balthasar schreibt über die Zeit, sie sei gottgegebene „Offenbarerin der Liebe durch ihre Vielfalt, ihr langsames Entrollen von Millionen von Möglichkeiten. Sie ist die auseinandergefaltete Intensität der Liebe, die in ihr den wunderbaren Sinn einer Geschichte, eines Prozesses annehmen kann. Schon rein formal, ganz abgesehen von dem, was in ihr sich abspielt, ist sie die herrliche Erfindung Gottes, als Offenbarung seiner Geduld (weil immer wieder Zeit ist) und seiner Ungeduld (weil Zeit unumkehrbar ist).“ (Balthasar, Weizenkorn, 13.) 460 TG 32. 461 Vgl. TD IV 110.

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II. Hans Urs von Balthasar

Jedoch kann Zeit auch aus dem Grund als »Fremde« erlebt werden, da sie die Abwesenheit des Geschöpfs aus der Ewigkeit darstellt und damit eine Form des Nichteinsseins des Menschen mit seinem Ursprung in Gott. So erlebt der Mensch zwar Momente der Muße und der Erfüllung. Diese Momente können allerdings nicht konserviert werden. Zudem kann Gegenwart, wo sie nicht adäquat gefüllt wurde, als unwiderruflich vergangene, versäumte Zeit die Form einer Vergangenheit annehmen, die der Zukunft entbehrt.462 Die Vergänglichkeit des Augenblicks als nicht nur einmalig, sondern „Einmaligkeit selbst“463, macht hierbei die qualitative464 Besonderheit des zeitlichen Daseins aus und begrenzt es zugleich. Die Ambivalenz der Lebensgegenwart des Menschen liegt nämlich auch darin, dass sie in eben dieser Einmaligkeit besonders wertvoll ist und zugleich flüchtiger Lauf zum Tode.465 Der Mensch kann angesichts dessen die Frage nach sich selbst nicht dauerhaft aufschieben, sonst verpasst er die Möglichkeit, sie zu beantworten. Erst durch Christus lichtet sich aus Balthasars Sicht dem Menschen die Frage nach sich selbst – und damit auch der Ursprung seines zeitlichen Daseins in der Trinität. Balthasar verortet nämlich den Ursprung der Zeit des Menschen insofern in dem „nicht zeitlich-prozessual […]“ zu verstehenden „Urdrama“466 und damit der »Dauer«467 Gottes, als dass über Christi Leben, das Leben im Empfangen ist,468 also christologisch, deutlich wird, dass das überzeitliche trinitarische „Ur-Drama“469 den Raum der Zeit eröffnet, in den das menschliche Leben eingeborgen ist.470 Raum wie Zeit entspringen nämlich dem ewigen Raum-Geben des Vaters für den Sohn: „Im Sich-Ereignen der göttlichen Hervorgänge liegen auch die Ur-ideen von Zeit und Raum.“471 Zeit entspringt damit dem innertrinitarischen Leben Gottes, also einem »personalen« Geben und Empfangen. Auch die Zeit der Menschen stellt sich für Balthasar analog hierzu grundlegend dar als „Zeit der Personen“472. Die Zeit462 Vgl. TL I 223. 463 TL I 223. 464 Balthasar gewinnt seine Zeitdeutung nicht über Chronologien von Vorkommnisabläufen, nicht über eine abstrakte, „indefinite todlose und damit un-menschliche Zeit“ (TD III 94), sondern das menschliche Erleben von Zeit ist entscheidend für Balthasars Zeitbegriff. Dieser ist damit wesenhaft qualitativ, vgl. TD I 237. Vgl. zur qualitativen Charakterisierung der Zeit Jesu bei Balthasar Kim, Denkform, 106–111. 465 Vgl. TD I 345 f. 466 TD III 303. 467 Balthasar meint, dass „Gottes «Dauer» nicht Unzeit, sondern eine ihm eigene Über-Zeit“ (TD IV 24) sei, sowie dass Christus zwischen der Über-Zeit Gottes und der Weltzeit vermitteln würde, ebd. 468 „Im Sohn begründet also die Empfänglichkeit für Gottes Willen die Zeit.“ (TG 31.) Vgl. TG 23 ff.; TD II,1 270 f.; TD II,2 136 ff. 469 TD III 303. 470 Vgl. TD III 304. 471 TD IV 80. 472 TD III 92.

3.3 Die Würde der Zeitlichkeit des Menschen von Christus her

73

lichkeit der konkreten, menschlichen Einzelperson ist deshalb weitaus relevanter für Balthasar als die Vorstellung einer vom Einzelnen unabhängigen, abstrakten Menschheitszeit.473 Allerdings endet die Zeit als Zeit des Menschen so auch mit seinem Tod.474 Sie kehrt damit jedoch zugleich in ihre „Heimat, weil Herkunft“475 in der Trinität zurück.476 Das Konstrukt einer absoluten Zeit hingegen, die unabhängig vom Menschen abläuft, bleibt aus Balthasars Sicht abstrakt und damit für seine Vorstellung von Zeit vergleichsweise bedeutungslos. „Geschichtszeit“477 jedenfalls bildet nach Balthasar nicht von sich aus ein Kontinuum, sondern setzt sich zusammen aus den Zeiten der einzelnen Menschen. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Prämisse der Zeitlichkeit des Menschen – ihrer positiven Wertung von der Inkarnation Christi her und ihres durch Christus offenbarten trinitarischen Grundes, der ihr zugleich ihr Ziel gibt – ist im Hinblick auf die Gegenwartsdeutung Balthasars bereits hier festzuhalten, dass die Zeitlichkeit des einzelnen, konkreten Menschen und mit ihr all seine Lebensmomente mit einer besonderen Würde ausgestattet sind. Sein zeitliches Dasein trennt den Menschen nicht von Gott, sondern in Christus begegnet Gott ihm mitten in seiner Zeit, in die der Mensch vom raumgebenden trinitarischen Gott freigesetzt wurde. Seine je-jetzige Gegenwart, so lässt sich hier bereits ableiten, ist damit der einmalige zeitliche Ort, an dem der Mensch sein soll und sein darf. Wie sich dieses Jetzt von Balthasars Geschichtstheologie her im Einzelnen weiter deuten lässt, ist nun zu fragen. 473 Irdische Geschichtszeit ist darum von Sterblichkeit bestimmt: „Nun ist aber die irdische Geschichtszeit durch und durch von der Sterblichkeit bestimmt: das Subjekt dieser Zeit ist ja nicht eine abstrakte Menschheit, die unangefochten durch die Jahrhunderte existiert, sondern die konkrete Anzahl von Menschen, von denen in jeder Minute Tausende sterben. Geschichte ist konkret zusammengesetzt aus einer Unsumme von endlichen Zeiten; die todlose Kontinuität, die wir durch Ausklammerung aller realen Tode konstruieren, ist ein sekundäres Zeitphänomen.“ (Balthasar, Einsatz, 64.) 474 Vgl. TD III 94 f. Balthasar bezieht sich hier auf Gregor von Nyssa. 475 TD IV 90. Balthasar bezieht sich hier auf v. Speyr, so etwa dies, Pforten, 98 ff. Vgl. GF 141 f. 476 Das damit verbundene, kreisförmige Bild von Zeit entspricht der Zeitvorstellung Balthasars, die u. a. von Maximus Confessor beeinflusst ist, durchaus: „Maximus Confessor überlegt bewußt, ob man zu Gott zurückstreben soll, indem man rückwärts aus der verfallenen Zeit zum Paradies oder vorwärts zum Gericht strebt: beide Wege führen zum gleichen Ziel, aber nach rückwärts ist uns die Straße verschüttet, wir müssen vorwärts zum Ursprung heimstreben.“ (GF 133.) Balthasar geht damit von exitus und reditus der Zeit aus. Zeit verläuft gewissermaßen »kreisförmig« von Gott her und auf ihn zu. Ein rein lineares Zeitverständnis bezeichnet Balthasar darum als „Wahnbild“ (GF 133), das erst auftauchen konnte, als man Zeit als ganz und gar immanente Größe zu fassen begann. Da eine rein lineare Welt-Zeit nicht in die Ewigkeit Gottes münden kann, bleibt die christliche Hoffnung auf Auferstehung aber für das bloß „innerzeitliche Geschichtsdenken […] ortlos (u-topisch)“ (Balthasar, Liebe, 59 Anm. 1). Wäre zeitliches Sein nicht in die trinitarische Ewigkeit Gottes eingeborgen, „bliebe als Ausweg aus der Fragmentiertheit des Daseins nur die Flucht in zeitliche Zukunft, die doch vom Wissen des Herzens immer schon überholt und unter sich zurückgelassen wird.“ (GF 352.) 477 Balthasar, Einsatz, 64.

74

II. Hans Urs von Balthasar

4. Hans Urs von Balthasars Verständnis von Gegenwart Nach der Hinführung in die Geschichtstheologie Balthasars (II.2.) und der Aufschlüsselung des dabei zutage getretenen, christologischen Ansatzes für seine Gegenwartsdeutung (II.3.), die erwiesen hat, dass der Einzelperson in ihrer Gegenwart und Geschichte in Balthasars Entwurf eine besondere Dignität zugemessen wird, sind nun konkrete Inhalte seiner Gegenwartsdeutung im Einzelnen darzustellen. Der Fokus der Darstellung liegt dabei, um Redundanzen zu II.2.2.2 und II.2.2.3 zu vermeiden, stärker auf der Darlegung von Balthasars Gegenwartsverständnis als einer Einzeldarstellung nach Schriften. Sieben Schlüsselthemen werden dabei entfaltet: In Balthasars Reflexion auf die Fragmenthaftigkeit menschlichen Daseins, die den Menschen als Wesen der Frage erweist, findet sich eine der existenziell ansprechendsten Facetten seiner Gegenwartsdeutung, die grundlegend ist für seine Deutung des menschlichen Lebensjetzt, und darum den Auftakt der Darstellung bietet (II.4.1). Das Frage-Wesen Mensch findet die Antwort478 auf seine Daseinsfragen im Logos Christus. Gegenwart erweist sich damit als Wort-Raum, der nur dialogisch Bestand hat, da er im Logos Christus gründet, und der auch darin dialogisch ist, dass jegliche Begegnung in der ihr eigenen Dialogik neue Gegenwart erschafft (II.4.2). Balthasars Verständnis von Gegenwart als Raum der Freiheit und Entscheidung (II.4.3) leitet dann über zu seiner Deutung von Gegenwart als Raum der Sendung, der ein Mensch folgen und damit sich selbst finden und zur Person werden, der er sich aber auch verweigern kann. Geschichte wird so zu einem Geflecht aus erfüllten und unerfüllten Sendungen (II.4.4). In der Geschichte der einzelnen Person können sich die menschheitsumspannenden, theodramatischen Akte dabei bereits heute realisieren (II.4.5). Angesichts der nachchristlichen Ablehnung der Sendung Chris478 Diese Figur der Existenzhermeneutik Balthasars entspricht der nouvelle théologie und ruft zugleich in ihrer Frage-Antwort-Struktur Assoziationen an Tillichs korrelative Existenzhermeneutik wach. Jedoch finden sich kaum Verweise auf Tillich in Balthasars geschichtstheologischen Werken. In GF, das den Fragecharakter menschlicher Existenz besonders eindringlich reflektiert, findet sich kein einziger. In TD findet sich nur zweimal ein direkter Verweis auf Tillich, so in TD II,1 143 Anm. 44 in der Bezugnahme auf das Nichtsein als dreifache Bedrohung der Selbstbejahung des Menschen, nämlich ontisch als relative Bedrohung als Schicksal und als absolute als Tod, geistig relativ als Leere und absolut als Sinnlosigkeit, sittlich relativ als Schuld, absolut als Verdammung, so entnommen aus Tillichs Werk »Der Mut zum Sein« von 1953, 34. Balthasar wertet dies jedoch nur als Quelle Auléns aus, um den es ihm an dieser Stelle eigentlich geht. In TD III 440 zitiert Balthasar Tillich mit dem Satz: „Nur Narrenhoffnung kann auf letzte Erfüllung in dieser Welt hoffen“ (Tillich, P., Das Recht auf Hoffnung, in: Ernst Bloch zu Ehren, Frankfurt 1965, 273), als er die Notwendigkeit einer den Tod übersteigenden Hoffnung darlegen möchte. Auf Tillichs Systematische Theologie, in der er die Fragesituation des Menschen existenzhermeneutisch als Auslegung des Gegenüber von Selbst und Welt entfaltet (so in Tillich, P., Systematische Theologie I-II, Berlin/New York 81987), geht Balthasar in seiner Theodramatik nicht explizit ein. Ob Tillich eine anonyme Inspiration darstellt, muss hier also offen bleiben.

4.1 Gegenwart als Fragment

75

ti, die Balthasar in einer sich steigernden, gegenchristlichen Dramatik abgebildet sieht, der jedoch nicht nur Daseinsangst, sondern auch eine erneute Offenheit Gott gegenüber korrelieren, bestimmt Balthasar Schritte im Glauben als entscheidenden Fortschritt des Menschen (II.4.6). Getragen und ermöglicht wird dieser Fortschritt durch die ekklesiologisch-sakramentale Anwesenheit Christi im Jetzt (II.4.7).

4.1

Gegenwart als Fragment. Angenommene Unabgeschlossenheit

Das »Ganze im Fragment« erscheint im Werk Balthasars nicht nur als Buchtitel, sondern auch als Grundmotiv seiner Geschichtstheologie, wie es bereits in TG angelegt ist. Die bei Balthasar vor allem in GF terminologisch im Begriff des »Fragments« aufscheinende Frag-Würdigkeit des menschlichen Daseins, - kann der Mensch sich selbst im Moment seines Daseins doch immer nur als Fragment erleben –, wird für Balthasar nämlich zum Grund des menschlichen Ausgriffs auf ein Ganzes.479 Aufs Ganze ausgreifen heißt: „nicht auf einiges nur, eine Umwelt, sondern auf Welt, auf Sein im ganzen“480 ausgreifen. Dieses Ganze kann der Mensch nicht ergreifen, aber der Urgrund des Ganzen kann ihm in Christus gegenübertreten, der Inbegriff des Ganzen – im Fragment! – ist. (Eine vergleichbare Denkfigur wird sich im Rahmen einer als fundamentaltheologisch verstandenen Anthropologie bei Pannenberg ab III.2. finden.) Im Hinblick auf Balthasars Gegenwartsdeutung ist diesbezüglich in den kommenden Kapiteln zu belegen: Als Wesen, das in einem flüchtigen, fragmenthaften Jetzt lebt und nie das Ganze erfasst, ist der Mensch Fragment – und als Fragment ist er ein Fragewesen (II.4.1.1). In Christus begegnet dem Menschen das Ganze im Fragment und damit die Antwort auf seine Fragen. Sowohl der Mensch als auch sein Lebensjetzt werden von Christus her als angenommenes Fragment mit einzigartigem Wert verstehbar (II.4.1.2). Damit ist jeglicher Zwang, sich über eine besonders runde, vorzeigbare Biografie vollenden zu müssen, vom Menschen genommen. Das Fragment Mensch ist in Christus angenommen (II.4.1.3). 4.1.1

Der Mensch als Element der Frage

Balthasar deutet den Menschen als Fragment und darum auch als Element der Frage. Dies Fragmentarische liegt im Besonderen in der Zeitlichkeit des Menschen begründet.481 Die Geschichte eines Menschen und er selbst in seiner Sterblichkeit ebenso wie sein jeweiliges, flüchtiges Lebensjetzt bleiben stets bruchstückhaft. Stets 479 Vgl. GF 14. 480 GF 245. 481 Selbst Christus hatte „in der Zeit“ (GF 120) Anteil an dieser rätselhaften Fragmenthaftigkeit.

76

II. Hans Urs von Balthasar

realisiert der Mensch nur bestimmte Möglichkeiten und hierfür steht ihm nur seine jeweilige, flüchtige und nicht einmal in ihrer Dauer abschließend bestimmbare Lebensgegenwart482 zur Verfügung, die er in einer Streuung seiner Zeit zwischen Jetzt und Dann erlebt, die regelrecht einer Zersplitterung gleichkommt.483 Balthasar nutzt u. a. das Beispiel der Liebe zwischen Menschen, um dies zu illustrieren. Heute mögen zwei sich lieben, doch was ist morgen? Spätestens der Tod beendet nämlich selbst die größte Liebe.484 Aber da Liebende nicht „ewige Treue auf Zeit“485 schwören können, bleibt ihre Liebe da angesichts der Vergänglichkeit ihrer Gegenwart nur Teil-Liebe, die der Tod mit sich reißt? Und wie soll der Mensch die privaten, beruflichen und politischen Teilaspekte seiner Existenz wirklich gelingend ausbalancieren? Im „Verzicht auf ein mögliches Ganz-sein-Können kann der Mensch eine gewisse Befriedigung ziehen aus einer schwebenden gegenseitigen Ergänzung und Befruchtung“486 von Teilaspekten des Seins, von Beruflichem und Privatem. Alle Teilaspekte von Sinn, die er entwerfen kann, werden jedoch immerfort „vom Un-Sinn des Ganzen her angefochten und zu Recht geleugnet; der Zweifelnde und Verzweifelte, der alle Teilsinne an Liebe oder Wissen oder Tugend oder Leistung dauernd vom Umgreifenden her als sinnlos entlarvt, ist nicht widerleglich. Ist aber der Mensch bloß Fragment und als solches unvollendbar, so wäre er zweifellos besser gar nicht“487. Ihm bliebe dann nämlich nichts als sich auf einer tieferen Ebene als der des Ganzen in sein Dasein zu bescheiden.488 Damit aber findet Balthasar sich nicht ab. Denn jede Scherbe, so assoziiert Balthasar, ruft den Gedanken an das heile Gefäß hervor.489 Und so verfehlt sich der Mensch selbst, wenn er sich in diese Bescheidung 482 Vgl. GF 22. Balthasar rezipiert hier Augustins confessiones. 483 Vgl. GF 17 ff. Balthasar rezipiert auch hier Augustins confessiones. In ihnen legt Augustin dar, dass der Mensch die Frage nach sich selbst stellen muss und sie doch nicht ohne Gott beantworten kann, vgl. ebd. 18. Dies tritt zu Tage in der Zerstreuung und Zerspannung des menschlichen Geistes zwischen Jetzt und Damals in Erinnerung und Verschüttung des Gewesenen, vgl. ebd. 19 ff. 484 GF 69. „Die quasi-unendliche Liebe zwischen zwei endlichen Wesen ist doch nur möglich, wenn unendliche Liebe im Seinsgrund waltet“ (GF 67) - doch tut sie das? Das kann der Mensch nicht wissen. 485 GF 69. 486 GF 66. 487 GF 67. 488 Vgl. GF 67 f. Solch eine Form von Bescheidung stellt für Balthasar eine Verfehlung des Menschen dar. 489 Vgl. GF 14. Vergleichbar in »Die Gottesfrage des heutigen Menschen«: So ist der Mensch „ganz primär der zum Ganzen hin Offene.“ (Balthasar, Gottesfrage, 19.) Als solcher fordert es ihn heraus, Fragment zu sein. Mit dem Begriff des Ganzen wird auch Pannenberg argumentieren, vgl. III.2.1.

4.1 Gegenwart als Fragment

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ergibt. Balthasar ist der Überzeugung, der Mensch dürfe nicht aufhören, die Frage nach dem Ganzen zu stellen, die aus dem fragmentarischen Charakter seiner Existenz erwächst. Zugleich damit, dass der Mensch als Fragment vor die Frage nach dem Ganzen gestellt ist, muss der Mensch diese Frage jedoch offen lassen. Er muss sie ebenso offen lassen wie die aus seiner fragmentarischen Existenz resultierenden Fragen nach der Bedeutung und Bewältigung des Leides und der Sterblichkeit. Er kann weder durch Mythos, Philosophie oder Askese noch durch heroischen Kampf490 zu Antworten durchdringen. Balthasar kritisiert dabei nicht nur technokratische, sondern auch die klerikalen Spielarten des Versuchs, dem Menschen vom Menschen aus Antworten zu geben. So betrachtet er es als integralistische „Titanismen“491, Ewigkeit in einem irdischen Reich verwalten zu wollen, wie es die Kirche seit Konstantin versucht habe. Das Gleiche gilt für den Versuch, technischen Fortschritt492 oder die technische und politische „Arbeitswelt“493 absolut zu setzen. In all diesem werde nicht ertragen, „daß das Dasein in der Zeit fragmentarisch ist.“494 Dies aber ist und bleibt für den Menschen nicht überspringbar. Antwortversuche, die das Ganze dadurch erreichen möchten, dass sie den einzelnen Menschen zugunsten einer Ganzheit, etwa der Menschheit,495 zu überspringen suchen, muss Balthasar von seinem individualitätstheoretischen und involvierenden, theodramatischen Denken her verwerfen. So kritisiert Balthasar etwa in TD an Hegels, Marx‘ und Teilhards Geschichtsentwürfen, diese würden den Einzelnen überspringen, denn das Umgreifende übertöne in ihren Entwürfen den Einzelnen, seine Freiheit und sein existenzielles Drama.496 Diese Entwürfe seien Epik, nicht Dramatik.497 Als nur vermeintliche Antwort verfehlen sie den eigentlich Fragenden, nämlich den jeweiligen Menschen, machen ihn zu einer „anonyme[n] Ameisenexistenz“498, zugunsten eines auch wieder nur vermeintlich Ganzen. 490 491 492 493 494 495

Vgl. II.4.5.1 zu Versuchen, das Leid zu bewältigen. GF 11. Vgl. II.4.6. GF 67. GF 11. Der einzelne Mensch ist für Balthasar nicht Synthese aus individueller und allgemeiner Menschennatur, sondern es gehört zur allgemeinen Menschennatur, als individueller Mensch verwirklicht zu werden. Ihre Einzigartigkeit unterscheidet und verbindet alle Individuen. Sie verweist zugleich auf die „restlose Inkommunikabilität“ und die „restlose Kommunikabilität“ (TD II,1 188) des Seins. Dass der Einzelne eben in dieser Kollektivindividualität nicht untergeht, ist für Balthasar christologisch über seinen personalisierenden Sendungsgedanken plausibilisierbar, den er in TD II,2 entfaltet, vgl. II.2.2.3; II.4.4. 496 Vielmehr gilt aus Balthasars Sicht: Der je eigene Sinn von Mensch und Menschheit ist aufeinander bezogen. Die Menschheit ist für das Aufscheinen dieser Sinntiefe nicht entscheidender als der einzelne Mensch, vgl. GF 65.122. 497 Vgl. TD II,1 37. 498 Vgl. GF 67.

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II. Hans Urs von Balthasar

Balthasars Theologie setzt sich demgegenüber zum Anspruch, das dramatische Moment aufzunehmen, das das fragmentarische Leben des einzelnen Menschen in der Notwendigkeit der Frage und der Unmöglichkeit der Antwort je jetzt kennzeichnet. Wo das fragmentarische Moment der menschlichen Existenz nämlich akzeptiert und nicht übersprungen wird, zeigt sich, dass der Mensch eben durch sein Fragen eine Leerstelle lässt, die ihn an ein „Ursprung“ wie „Sinnziel“499 umgreifendes Gottesverhältnis verweist, wenn auch in der Form der klaffenden „Lücke“500. Gott ist dem Menschen demnach nicht fremd, denn das menschliche Fragen in der Unmöglichkeit, selbst die Antwort hervor zu bringen, verweist das Geschöpf an seinen Schöpfer.501 In der seiner „Zeit-Zerspannung“502 entspringenden Suche des Menschen nach Ganzheit wird also der Transzendenzbezug des Menschen offenkundig.503 Diese Transzendenz, die sich im Erleben des Menschen äußert, ist eine „wesenhafte, ontische […], sie ist Aufbruch des Fragmentes zu seiner Ganzheit hin.“504 Die fragmentarische Unabgeschlossenheit menschlicher Existenz in ihrer Frag-Würdigkeit erweist sich damit als produktive Offenheit, die es auszuhalten und anzunehmen gilt, denn gerade die Frage nach sich selbst verweist den Menschen über sich selbst hinaus auf einen Antwortenden: „Wir fragen also nach uns selbst, und indem wir so fragen, gedenken wir mehr zu sein als nur eine Frage. Wir meinen, daß jemand Bescheid wissen müßte. Daß einer sei, der die Frage nach uns beantworten kann.“505 Als je einmalige, sterbliche Person steht der Mensch damit je und je heute vor der Frage nach dem Sinn seines Daseins. Der Mensch ist und bleibt dabei das Element der Frage. Seine Lebensgegenwart ist und bleibt daher Zeit des Fragens. 4.1.2

Das Ganze im Fragment

Verstehbar wird das Fragewesen Mensch sich erst von Christus her. Wie unter II.3.2 schon anklang, erschließt Balthasar über die Gestalt Christi den Bezug des fragmentarisch Einzelnen zum Ganzen. Balthasar meint, philosophisch betrachtet könne die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte nur auf der Seite einer Wesenheit liegen und damit im abstrakten, ideellen, umgreifenden Ganzen. Nur dann gelte diese Antwort allen 499 500 501 502 503

GF 67. GF 66. Vgl. GF 99. GF 82. Bereits Augustin entnimmt der fragmentarische Zerstreuung des Zeiterlebens des Menschen Hinweise auf den Ewigkeitsbezug des Menschen, wie Balthasar selbst ab GF 17 ff. darlegt. 504 GF 82. 505 GF 14.

4.1 Gegenwart als Fragment

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Menschen, selbst wenn ein bestimmter, einzelner Mensch sie gefunden hätte.506 Geschichtlichkeit könne einer solchen Antwort nur akzidentiell zukommen, in der Substanz müsse sie geschichtsenthoben sein. Doch für Theodramatik müsse „das Individuelle absolut relevant sein“ und „dieses Individuelle für alle relevant sein“, mehr als ein „Fall von“507, wodurch es im Ganzen aufginge. Auch der universale Horizont der allgemein-menschlichen Rätsel von Leid und Freude, der eine Art anthropologische Konstante durch alle Zeiten darstellt,508 muss aufgerollt und überstiegen werden. Eben dies sieht Balthasar allein in der Geschichte Jesu Christi geschehen, weswegen die Geschichte Jesu Christi zur Mitte seiner Geschichtsdeutung wird. Grundgelegt ist dies bereits in TG. Balthasar setzt dort ein mit der Frage nach der Zuordnung von der „geschichtlichen Einzelperson“ und dem „Gesamtsubjekt“509 der Geschichte. Nur über Christus, der die „seinshafte Verbindung Gottes und des Menschen in einem Subjekt“510 ist, wird ein echt geschichtlicher Pfad der Erlösung möglich, der nicht „nur in einem äußerlichen Sinn geschichtlich“511 ist. Dieser Pfad überspringt das konkret Geschichtliche damit nicht zugunsten einer Wesenheit, in der der Einzelne untergeht, und betrifft doch das Ganze der menschheitlichen „Schicksalsgemeinschaft“512. In Christus selbst finden nämlich relative, menschliche Einmaligkeit und absolute, göttliche Einmaligkeit zueinander, weswegen in ihm „die abstrakten Wesensgesetze, ohne aufgehoben zu werden, seiner christologischen Einmaligkeit eingeordnet und unterstellt“513 werden. Die Zwei-Naturen-Lehre ist für Balthasar, wie bereits unter II.3.2 erwähnt, von entscheidender Bedeutung.514 Nach ihr hat Christus Teil an der absoluten Einmaligkeit Gottes und an der relativen Einmaligkeit eines einzelnen Menschen.515 Gott selbst bekennt sich damit zum Fragment, denn er begegnet in Christus im Fragment. In Christus finden damit zugleich die Fülle Gottes und die fragmentarische, menschliche Existenz in überzeitlicher und geschichtlicher Konkretion zusammen – bis in das Zerbrechen des Herzens Gottes am Kreuz: „Das Ganze im Fragment, nur weil das Ganze als Fragment.“516 Christus geht hierbei als Ganzes im und als Fragment ebenso das 506 Vgl. TG 13. Vgl. hierzu u. a. auch Balthasars kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus, TD I 524–553. 507 TD II,1 83 (kursiv im Original). 508 Vgl. II.4.5.1. 509 TG 11. 510 TG 13. 511 TG 13.. 512 TG 12. 513 TG 16. 514 Sie ist für Balthasar gelungene Verbindung von Konkretem, Geschichtlichem und Abstraktem, Gesetzlichem, vgl. TG 15 f. 515 Vgl. TG 16. 516 GF 260 (kursiv im Original). Die stets fragmentarische menschliche Existenz wird dabei nicht assimiliert, sondern angenommen.

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II. Hans Urs von Balthasar

Ganze der Geschichte an wie den Einzelnen in seinem Jetzt. Christus vermag damit zwischen Einzelnem und Ganzem zu vermitteln. Von Christus her erwachsen dem Menschen darum auch die Antworten auf die Fragen, die seinem zeitlichen, fragmentarischen Dasein entspringen. Nur von Christus her kann der Mensch nämlich erfahren, dass seine zeitliche, fragmentarische Gegenwart mit all ihren Fragen wirklich eine aufs Ganze hin „verheißungsvoll offene Gegenwart“517 ist. Hierbei gilt zudem, dass zwar die gesamte Menschheit „immer schon getragen und unterfaßt“518 wird von Christus, dass der Mensch jedoch erst durch eine glaubende Öffnung für Christus zu dem Sinn und der Freiheit findet, für die er immer schon gedacht ist. Durch diese glaubende Öffnung, die auf eine Sendung519 hin geschieht, wird dem Menschen der Wert seiner Gegenwart erst wirklich klar. Wo so im Heute Zeit und Ewigkeit zusammen fallen, muss der Augenblick weder zur Ewigkeit verklärt werden520 noch braucht er der Zukunft untergeordnet zu werden: „Der Glaube hat daher keinen Anlaß, mit den Idealismen aus der Zeit in einen «ewigen Augenblick» zu fliehen, denn eben in der Zeit hält er das Ganze, da das Ganze ihn in der Zeit hält. Der Glaube hat aber ebensowenig Anlaß, aus einer angeblich unerfüllten Gegenwart in eine erfülltere Zukunft zu fliehen, denn er verlöre mit der fahrengelassenen, geringgeschätzten Gegenwart auch die ihr einwohnende Ewigkeit. Er füllt sich mit dieser Ewigkeit nicht anders, als indem er ihre Sendung in die jetzige Zeit erfüllt: nur im Hodie fallen Zeit und Ewigkeit zusammen.“521 Von Christus her kommt der fragmentarischen Gegenwart des Menschen ein enormer Wert zu. Sowohl der Mensch als auch sein Lebensjetzt werden von Christus her als angenommenes Fragment verstehbar. 4.1.3

Verzicht auf Vollendung. Biografie als Fragment

Die im Wortsinne frag-würdige (II.4.1.1) menschliche Lebensgegenwart hat sich von Christus her als inkarnatorisch angenommene (II.4.1.2) Gegenwart erwiesen. Damit ist zugleich die Frage aufgeworfen, ob der Mensch sich durch den über 517 518 519 520

GF 260. GF 113. Vgl. II.4.4. Würde Gegenwart als „Paradox des ‚Augenblicks‘“ zum Absoluten und verlöre ihre Relation zum „historischen Kontinuum“ kann dahinter eine defiziente Verhältnissetzung von Eschatologie und Geschichte vermutet werden, nach der „Eschatologie als Erlösung von der Geschichte“ (Essen, Geschichtstheologie, 35) aufgefasst wird. 521 GF 353. Diese Sendung „meint und braucht Zukunft“ (ebd.), ohne aber dass diese Zukunft die Gegenwart entwerten würde. Vielmehr tritt mit ihr „das Ewige in die Zeit“ (ebd.).

4.1 Gegenwart als Fragment

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Christus gegebenen Bezug aufs Ganze allen Seins nun zur Ganzheit seines Seins runden kann. Dies jedoch verneint Balthasar – und zwar sowohl im Hinblick auf die Geschichte als Ganze wie als auch in Bezug auf die Biografie des Einzelnen. Balthasar meint zwar sehr wohl, der „geschichtliche[…] Zeitenlauf“, also die Gesamtgeschichte, habe „über den Sinn der Heilsgeschichte“ hinaus eine Bedeutung, „mehr als die bloße Summierung der Ergebnisse aller Einzelexistenzen vor Gott“522. Der geschichtliche Zeitenlauf „verweiger[e] uns aber gleichzeitig jede andere Kenntnis dieses Sinnes außer einem glaubenden Erspüren der Zeichen der Zeit.“523 Die „charismatisch-existentielle Kenntnis“ dieses Sinns ist prophetisch, sie kann nicht umgesetzt werden in „eine neutrale Wißbarkeit.“524 Das Gleiche gilt analog von der menschlichen Biografie. Der Mensch kann den Sinn der Ganzheit seines Existenz weder kennen noch ihr dessen Bedeutsamkeit von sich aus beilegen und sich damit selbst zur Ganzheit vollenden. Gott kann jedoch dem menschlichen Leben, das im Fragment Gestalt gewinnt, im Abtasten der „Bruchstellen der Existenz“ eine „Richtung auf Ganzheit hin“525 geben, in der sich als Richtungssinn lichtet, was irdisch an Ganzheit nicht erreichbar ist.526 Auch der Glaubende kann diese Ganzheit nicht herstellen, vermag jedoch zu erspüren, dass er vom Ganzen ergriffen ist.527 Balthasar erläutert dies vermittels des hebräischen Begriffs für Wahrheit, ‫אֶמֶת‬. Wahr ist demnach, was sich als verlässlich und treu erwiesen hat – und erweisen wird. Daraus folgert Balthasar, dass Wahrheit sich selbst überschreitet auf weitere Wahrheit hin und dass sie je jetzt nicht abschließend erfassbar ist.528 Das gilt für den Sinn der Gesamtheit der Geschichte und der Biografie eines Menschen. Er ist je jetzt erspürbar und bleibt zugleich Ahnung auf Zukunft hin. Diese Vorläufigkeit auszuhalten stellt eine Herausforderung für den Menschen dar. Setzt er aber relative Wahrheits- und Sinnfragmente absolut, verlieren sie ihren 522 523 524 525

GF 168. GF 168. GF 168. GF 116. Zur Terminologie Balthasars sei an dieser Stelle angemerkt: Mit dem Begriff der Ganzheit bezeichnet Balthasar teils im Unterschied zu dem auf die Gesamtheit allen Seins bezogenen Begriff des »ganzen« (vgl. ebd. 245 u. ö.) die Ganzheit eines jeweils fragmentarisch Seienden oder eines bestimmten Aspekt des Seins wie der Geschichte. Terminologisch konsequent führt er dies aber nicht durch, vgl. am Beispiel der Geschichte ebd. 13, wo er auch vom Ganzen – nicht nur der Ganzheit – der Geschichte spricht. Balthasar fragt nach der Ganzheit des Menschen überdies mit dem Terminus „Ganzsein“ (ebd. 100). Mit dem Begriff des Ganzen bezeichnet Balthasar also sowohl die konkrete Ganzheit von Einzelgestalten als auch das Ganze des Seins. Bis auf die Feststellung, dass der Begriff des Ganzen häufig in hervorgehobener, ja titelgebender Weise für das Ganze des Seins steht und der der Ganzheit eher für die Ganzheit einer bestimmten Größe oder eines Wesens, lässt sich somit keine konsequent durchgeführte terminologische Differenzierung erweisen. 526 Vgl. GF 58. 527 Vgl. GF 353. 528 Vgl. Disse, Person, 380.

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II. Hans Urs von Balthasar

Sinn und werden zu Ideologien;529 und setzt etwa ein Mensch sein Wohl über das aller anderen, verliert er den Richtungssinn seines Lebens aufs Ganze hin. Über der Überbetonung dessen, was er heute weiß, hat oder haben möchte, verliert der Mensch damit zugleich seine Zukunft. So entscheidet der Mensch durch die Qualität seiner Bezugnahme auf seine Lebensgegenwart je jetzt darüber mit, ob sein Leben erfüllt ist oder leer und ob es Richtung und Zukunft hat oder nicht, ohne eben diese voll erfassen zu können. Da das zeitliche menschliche Dasein also unüberschreitbar im Modus der Vorläufigkeit verbleibt, besteht die Grundlage christlicher Existenz für Balthasar in der Geduld. Das Wesen der Sünde besteht demgegenüber in der Antizipation der Ewigkeit, also dem Versuch, die Zeit zu überspringen.530 Hält ein Christ die Spannung des eschatologischen Vorbehalts aus »Schon« und »Noch nicht«531 nicht aus und versucht, das Reich Gottes und damit seine eigene Vollendung herbeizuführen, muss er scheitern, denn das einzig mögliche Ende der Weltgeschichte, das Menschen selbst herbeiführen können, ist die Selbstzerstörung.532 Auch durch den christlichen Bezug aufs Ganze bleibt die Existenz des Menschen darum Fragment. Balthasar geht sogar so weit zu sagen, die Existenz eines Christen erscheine noch fragmentarischer als die eines Menschen, der sein Dasein ohne Christusbezug deute. Jesu Existenz selbst erschien „fragmentarischer sogar“533 als jede andere. Ein Christ brauche darum nicht zu versuchen, seine Existenz zu einer Ganzheit abzurunden. Gerade im Verzicht darauf sie abzurunden, komme der Mensch der eigenen Ganzheit nah – und Gott. „Was erscheint, kann ein undeutbarer Scherbenhaufen sein, kann auch die Transparenz einer Ganzheit sein, die dann offenkundig nicht die irdische Ganzheit dieser Fragmente sein kann, sondern anderswo behaust ist.“534 Es ist, „als sei der Verzicht auf ein Sich-Schließen zur eigenen Ganzheit gerade die Einübung in die Ganzheit selbst, als sei Gott nirgendwo näher als in der Demut und Armut der Indifferenz, in der Öffnung zum Tod, im Verzicht auf jede Bemächtigung und Versicherung Gottes.“535 „So bleibt zeitliches Dasein «Exil»“536 - und doch gewinnt Balthasar der menschlichen Lebensgegenwart gerade in ihrer Unvollendbarkeit eine einzigartige Würde ab. Der Duktus seiner Theologie liegt nah bei Adrienne von Speyr: „Praktisch 529 530 531 532 533 534 535 536

Vgl. TD III 68. Vgl. TG 28. Vgl. TD IV 16 f. Vgl. TD III 412 f. GF 120. Vgl. GF 121 (kursiv im Original). GF 123. GF 121.

4.2 Wort als Grund der Gegenwart

83

heißt die Forderung: mit der eigenen Begrenztheit im Sinn des Glaubens an die Unbegrenztheit Gottes fertig zu werden.“537 Wo eben dieser unbegrenzte Gott in Christus das Fragment annimmt, ist der Mensch frei, das auch zu tun. Wo selbst die Ganzheit in der Ewigkeit538 nicht zweite, neubegründete Daseinsgestalt ist, sondern bergende Sammlung eben des Fragmentarischen, wird das Fragment durch das Ganze offenkundig nicht entwertet. Vielmehr drückt sich im Begriff des Ganzen bei Balthasar das Aufgehobensein des Fragments aus, wobei dieses Aufheben nicht in der Nivellierung besteht, sondern der Erhebung und der Bewahrung. Die Antwort in Christus auf die Frage des Fragments Mensch nach sich selbst, nach seiner Ganzheit und dem Ganzen als solchem, bietet sich damit nicht allein in Erklärungen dar. Vielmehr besteht sie im Geschehen der Annahme des Fragments Mensch in Jesus Christus.539 Die Annahme des Fragments durch Christus kann insofern übersetzt werden als »Rechtfertigung« des Daseins, als dass der Mensch dadurch von der unmöglichen Aufgabe befreit wird, sein Lebensjetzt selbst vollenden zu müssen und es dahingehend mit Ansprüchen zu überfrachten – oder es für bedeutungslos zu erachten. Damit ermöglicht die Annahme des Fragments Mensch durch Christus dem Menschen zugleich die Selbst-Annahme als Fragment.

4.2

Wort als Grund der Gegenwart

Die Antwort auf die Frage des Fragments Mensch nach dem Ganzen und sich selbst begegnet dem Menschen in Christus. Diese Antwort verweist den Menschen darauf, dass mit dem Logos Christus Wort den Grund des Seins darstellt.540 Von 537 V. Speyr, Mensch, 13. 538 Vgl. GF 122 f. Nicht die Welt, wie sie zu ihrem Ende war, wird dabei verewigt, sondern ewig wird sein, was gut war, vgl. TD IV 383. In Bezug auf Auferstehung und Ganzheit führt Balthasar aus, dass nur eine leibliche Auferstehung die Ganzheit des Menschen betrifft. Nur die Auferstehung aus den Toten, die auch Kern des christlichen Kerygmas sei, berge den geschichtlichen Menschen in seiner Endlichkeit und Zeitlichkeit im Schoß der Ewigkeit Gottes, vgl. GF 85. Würde dagegen nur eine unsterbliche Seele gerettet oder löste sich der Mensch ins Nirvana auf, würde der Mensch eben gerade keine Ganzheit finden, vgl. GF 76. 539 Christus ist der „Protagonist“ (TD II,2 19) in diesem Geschehen. Christus „überschwebt“ die Welt nicht nur, sondern „berührt und durchdringt“ sie als „Protagonist“ (ebd.). Er belässt „das Ganze nicht in […] Indifferenz, sondern gibt der in sich stagnierenden Weltgeschichte eine Flußrichtung auf Vollendung zu“ (ebd.). 540 Dem Menschen kann nämlich auf seine Fragen nur das „absolute Sein selber“ (GF 66; vgl. TG 122 f.) antworten, das die Differenz zwischen der Einmaligkeit, die die fragmentarische Person ausmacht, und der Universalität, die das Sein ausmacht, überwindet, vgl. GF 66. Diese Überwindung muss personal und relational geschehen, in einer von Gott bestimmten „dialogischen Dramatik“ (GF 69), die der Einzigartigkeit des Menschen gerecht wird und die sowohl dem „dialogischen Wesen“ (GF 100) Mensch als auch Gott entspricht. Möglich wird dies dialogische Geschehen durch den Logos Christus, vgl. GF 245 ff. Auch Theodramatik eröffnet und spielt sich damit ab in einem Wort-Raum, denn Drama und Dialog

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II. Hans Urs von Balthasar

Balthasar her wird Gegenwart infolgedessen verstehbar als dialogisch konstituiertes Aufbruchsgeschehen, wie nun dargelegt werden soll. Das menschliche „Ausgreifen über sich selbst“, in dem der „geschichtsförmig[e]“ Mensch sich vom Standort seines fragmentarischen Jetzt aus das Sein zu lichten sucht, geschieht nämlich „im Wunder der Sprache“541. Sprache aber entwickelt der Mensch nur durchs Angesprochensein.542 Von der für den Menschen grundlegenden Erfahrung des Angesprochenseins schließt Balthasar auf einen worthaften Seinsgrund als solchen.543 Der „Mensch existiert nur durch den zwischenmenschlichen Dialog […] Warum also dem Sein selbst das Wort absprechen?“544 Balthasar entfaltet von daher in GF „Sein als Gespräch und Begegnung“545 und Wort als Seinsgrund.546 Balthasar entwirft damit eine in ihrer Reflexion auf das Wort Gottes

541 542 543 544 545 546

gehören zusammen, vgl. TD II,1 64. Gott macht sich dabei durch sein Reden angreifbar: Der Mensch kann nun „mit dem kundgetanen Geheimnis Gottes gegen ihn vorrücken, ihn entlarven und überwältigen in theologischem Rationalismus und Idealismus, bis er atheistisch erledigt ist“ (Balthasar, symphonisch, 19). GF 245. Vgl. GF 106. Dieser ist zunächst als schweigendes Überwort zu verstehen, da die „Fülle des Schweigens“ (GF 254) alle Worte in sich enthält. Balthasar, Rechenschaft, 15. Löser, Annäherungen, 24. Vgl. Brauer, Horizont 153. Im Hintergrund von Balthasars dialogischer Anthropologie und Theologie steht u..a. die Rezeption von Martin Buber (vgl. Leiner, Art. Personalismus, 1132), Heideggers Werk »Unterwegs zur Sprache« von 1959, vgl. GF 245 Anm. 1, und Max Picard, vgl. ebd. Vergleichbar etwa Balthasars und Picards Verknüpfung von Sprache und Gegenwart: So hat Sprache nach Picard ein eigenes, Zeitlichkeit integrierendes Sein. Ohne Wort verschwimmt die Zeit. Ohne Wort verschwimmen Vergangenheit und Zukunft. Wort hält fest und schafft damit Gegenwart, vgl. Picard, Wort, 150. Besonders das „Wort der Entscheidung“ bestimmt Zeit und erschafft Gegenwart: „Der Mensch, der sich immer entscheiden könnte, würde in einer ewigen Gegenwart leben.“ (Picard, Wort, 82) Balthasar zeigt sich zudem inspiriert durch altkirchliche Theologie, etwa Ignatius von Antiochien (vgl. Balthasar, meditieren, 41), besonders aber durch Origenes. Balthasar verortet im Logos die Mitte origenistischen Denkens, vgl. Balthasar, Origenes, 11–36 u. Löser, Interpret, 99: „Wie kein anderer Kirchenvater hat Origenes über von Balthasars eigenes philosophischtheologisches Denken Macht gewonnen, und dies vor allem bezüglich der Theologie des WORTES in all ihren Dimensionen.“ Balthasar kritisiert dabei Origenes jedoch auch, etwa, dass dieser die Kenose des Logos nicht genug berücksichtige, wodurch seine Theologie einen Hang zum Heldischen bekomme, das aber gerade nicht christlich ist: „Das Heldische ist ein erhabener natürlicher Tugendwert, das Christliche dagegen ist die über die ganze natürliche Wertewelt gebreitete übernatürliche Form des Todes und der Auferstehung Christi.“ (Balthasar, Origenes, 31.) Vgl. auch Löser, Interpret, 88–93; ders. Annäherungen, 258 ff. Den philosophischen Hintergrund der Wort-Theologie Balthasars, gemäß dem er „Sein in seiner Introvertiertheit und Extravertiertheit“ (Löser, Annäherungen, 253) interpretiert und nach der Wahrheit desselben fragt, erläutert Löser ebd. 248 ff. unter besonderem Bezug auf TL I. Der Fokus der in dieser Untersuchung gebotenen Darstellung der Wort-Theologie Balthasars liegt auf den Auswirkungen derselben auf das Gegenwartsverständnis Balthasars, und damit auf GF und TD, nicht auf einer Gesamtdarstellung seiner Wort-Theologie.

4.2 Wort als Grund der Gegenwart

85

über die Fundamentaltheologie hinausgehende, umfassende katholische „Theologie des Wortes Gottes; denn in ihr geht es von Anfang an bis an ihr Ende um den Gott, der gesprochen hat.“547 Menschliche Lebensgegenwart ist darum, wie im Folgenden auszuführen sein wird, in der dialogischen Begegnung mit Christus sich konstituierende Aufbruchsund Schwellensituation. Der Bezug auf den worthaften Seinsgrund der Welt in Christus, in dem der Mensch angesprochen und berufen ist, hält im Menschen hierbei das Gespür für das Potenzial seiner Gegenwart wach und bewahrt ihn vor Resignation und Erstarrung (II.4.2.1). Wo der Mensch infolgedessen aufbricht, wird seine Gegenwart zum Raum seiner Antwort auf die Anrede Gottes. Gegenwart wird darin zum je dialogisch neu konstituierten Jetzt, im Dialog mit Gott, aber auch dem Mitmenschen (II.4.2.2). Wo der Mensch also Christus begegnet, bleibt seine Lebensgegenwart nicht allein Frageraum, sondern wird Ort eines dialogischen Antwortgeschehens. Als Raum der Frage und der Antwort bleibt Gegenwart auf Christus bezogen. War diese Bezugnahme zunächst implizit, führt sie, wo sie in der Christusbegegnung explizit wird, wie bereits in GF angelegt und in TD ausgeführt, zu einem dramatischen Entscheidungsgeschehen, das der Gegenwart eines Menschen eine durchaus unterschiedliche Qualität zukommen lassen kann. 4.2.1

Gegenwart im Aufbruch

Das Ur-Wort, in dem Raum und Zeit gründen, ist für Balthasar Christus: „Die Welt ist im Logos geschaffen“548. Durch Christi „Gestalt“549, die als Logos immerfort offenbarend auf Ursprung und Vollendung verweist,550 hat die Welt ihre Gestalt gewonnen. Jegliche Gestalt wiederum trägt, da sie „Ausdruck“551 ist, Wort in sich. Sie vermag es, einen Menschen anzusprechen und zu ergreifen. Dabei stellt etwa die künstlerische Gestalt es dem Rezipienten frei, auf sie zu reagieren oder sich ihr zu entziehen. Analog zur Kunst versteht Balthasar auch Christus als Gestalt, die anspricht und der gegenüber der Mensch frei ist, zu reagieren oder sich ihr zu entziehen. Solchermaßen freizugeben, zeugt von weitaus souveränerer Macht, als zu einer bestimmten Reaktion zu zwingen.552 Wo der Mensch sich aber dem Gestalt547 Vgl. Löser, Annäherungen, 247 f. 548 SC 97. Balthasar schließt hier an Bonaventura an. Zur Bedeutung Bonaventuras für Balthasars Wort-Theologie vgl. Löser, Annäherungen, 261 ff. 549 SC 98. Vgl. TD II,1 78 f. u. ö. 550 Vgl. SC 98. 551 TD II,1 23. 552 Dabei ist jedoch die Konsequenz der Entscheidung, ein Kunstwerk oder Jesus zu ignorieren, von unterschiedlicher Tragweite, vgl. TD II,1 26–28. Wahrgenommen sei an dieser Stelle, dass Balthasars Denkweise erneut insofern reziprok erscheint, als dass er sowohl vom Logos auf das worthafte Sein der Schöpfung und der Kunst hin denkt, als auch von der Erfahrung des Angesprochenseins durch Kunst und Schöpfung auf Christus als Logos hin denkt. Dabei

86

II. Hans Urs von Balthasar

Wort Jesu öffnet, spürt er: Ich bin angesprochen.553 Wo dann aus dieser Begegnung Beauftragung wird, verortet Balthasar die Schnittstelle zwischen Ästhetik und Dramatik, also zwischen Schönem und Gutem, zwischen der Erscheinung Gottes und der theodramatischen Begegnung der Freiheiten – und damit auch dem ersten Teil seiner Trilogie, der »Herrlichkeit«, und dem zweiten Teil, der »Theodramatik«.554 Geschichte vollzieht sich demnach deshalb, weil Gott in Christus redet und Menschen antworten.555 Balthasar ist davon überzeugt, dass das Wort, Jesus Christus, Geschichte „auch als Geschichte, als einen weltlich-menschheitlichen Vorgang, im einzelnen bestimmt und gestaltet.“556 Das Wort ist hierbei die Klammer um die Geschichte und zugleich „als Geschichte“557 innergeschichtlich wirksam. Der vertikale Bezug der jeweiligen Gegenwart auf das in ihm wirksame Wort bildet darum das Kontinuum der Geschichte. Für Balthasars Gegenwartsverständnis ergeben sich aus dem jeweiligen Christusbezug des Jetzt aber noch weitaus konkretere, existenzielle Deutungen. Als Logos-durchwirkte Geschichte ist die Geschichte des Menschen nämlich eine Aufbruchs-Geschichte. Da nämlich Jesus Christus „göttliche[s] Wort in menschlichem Wort“ ist, ist die Gestalt seines ganzen Lebens „Aussage“558, in der Wort, Tat und Existenz eins sind. Die verschiedenen Lebensalter Jesu sind darum vom Logos-Sein Jesu her wie Prinzipien auf die christliche Existenz hin auslegbar und wirksam. Da der Logos Kind, Jugendlicher und Erwachsener war,559 postuliert Balthasar bereits 1938 in seiner Origenes-Auslegung einen „existentiellen Wahrheits-Relativismus“560, der

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gründet Letzteres in Ersterem. So spricht etwa Kunst nur dann an, wenn der Künstler bereit war, einen „Sinn aus dem Seienden selbst zu empfangen“ (TD II,1 25). Balthasar umschreibt so das Geschehen der Erwählung, vgl. TD II,1 28–30. Vgl. TD II,1 20–30. Balthasar postuliert, alle Worte Jesu im Neuen Testament enthielten einen „Anruf der Situation“ (GF 167). So wie auch die Worte des Alten Testaments sind sie mehr als ein bloßer Gewissensappell, sondern rufen „aus einer Zeit für eine Zeit.“ (GF 167.) „Wenn Kirchengeschichte weithin ein «Krieg der versäumten Gelegenheiten» ist, der auch durch nachträgliche Dogmatisierungen und Kanonisierungen nicht mehr gewonnen werden kann, so aus einem heidenchristlichen Verkennen dieses jüdisch-theologischen Elementes im Neuen Testament.“ (GF 168.) Balthasar denkt darum bereits in GF in Richtung einer noch zu schreibenden „GeschichtsTheologie des Wortes“ (GF 245 Anm. 1). Brauer bezeichnet Balthasars Theologie bereits als „Logos-Geschichtstheologie“ (Brauer, Horizont, 185). VC 36 (kursiv im Original). Dadurch entsteht die Notwendigkeit, sich an ihm auszurichten. V. Speyr formuliert es so, dass in den großen Lebensentscheidungen das Wort vom „vernehmbaren Klang“ zur „Stimme“ wird (dies., Mensch, 52). VC 36 (kursiv im Original). TD IV 224. Vgl. auch Balthasar, meditieren, 14: „Alles an Jesus ist Wort. Auch sein Schweigen“. Bereits im Vorwort zu seinem 1938 erschienen Werk „Origenes. Geist und Feuer“ reflektiert Balthasar die Bedeutung der Lebensalter Jesu für Origenes und führt seine eigenen Gedanken hierzu später auch in GF aus, vgl. Balthasar, Origenes, 29 f.; GF 274–298; Balthasar, Schleifung, 21. Balthasar, Origenes, 29. Wird diese Einsicht aufgegeben, treten Theologie und Heiligkeit unweigerlich auseinander, vgl. ebd., 30.

4.2 Wort als Grund der Gegenwart

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die Anerkenntnis dessen bedeutet, dass es unterschiedliche Reifestufen des Lebens und Glaubens gibt, in denen das Wort dem Menschen auf seinem Weg des geistlichen Wachstums in unterschiedlicher Weise begegnet.561 In GF knüpft Balthasar an diese These an. Dabei hebt er besonders Kindes- und Jugendalter positiv hervor, nicht die vermeintliche Reife des Alters. So sei die Welt für ein Kind wesenhaft neu, voller Wunder, und im Staunen darüber sei es Gott nah.562 Und wie alt ein Mensch auch sein mag, christlich bleibt er insofern doch stets jugendlich,563 als dass seine Gegenwart durch die Anrede Gottes stetige Aufbruchs- und Schwellensituation bleibt. Das Gespür und die Ideale seines Herzens an ein vermeintliches Erwachsensein zu verlieren, ist gerade nicht der Weg der Heiligen.564 Es gibt eine vorgebliche Reife, die in Wahrheit Sklerose ist und den Blick verstellt für das Potenzial der Gegenwart, das darin liegt, mitten in ihr von Gott angesprochen und beauftragt zu werden und damit die Gestalt Christi die Gestalt des eigenen Lebens prägen zu lassen. Von ihrem Logosbezug her illustriert Balthasar also das Aufbruchspotenzial menschlicher Lebensgegenwart, das vor Resignation und Erstarrung zu bewahren vermag – und damit zugleich dem Verlust des Jetzt. Wo dabei aus der Begegnung mit dem Wort heraus Aufbruch geschieht oder verweigert wird, wird aus der je jetzt sich vollziehenden Begegnung mit dem Wort heraus Geschichte geschrieben. Hierbei darf aber nicht übersehen werden, dass hinter Balthasars Wort-Geschichtstheologie zudem eine kenotisch geprägte Theologie steht, nach der Christus im Unwort des Kreuzes Untergang und Zerfall einbirgt und als Wort seine Kraft gerade aus dieser Kenose gewinnt. Wort verliert da an Kraft, wo es vor Tragik flieht.565 So flieht der Logos auch nicht aus der jeweiligen Lebensgegenwart eines Menschen, ob diese nun als erfüllt oder als bedroht erlebt wird, sondern durchwirkt sie und vermag, den Weg mit in die Tiefe zu gehen und wieder aus ihr hinaus zu führen.

561 Balthasar verwendet die paulinischen Bilder von Milch und fester Speise, vgl. Balthasar, Origenes, 30. 562 „Die Sehnsucht nach der unwiederbringlichen Kindheit ist nicht bloße Romantik, sie kann auch, wie Péguy und Bernanos zeigen, tief christlich begründet sein. Das christliche Wunder besteht ja in der Wiedergewinnung der vollen zeitlichen Dauer.“ (VC 76 f.) 563 Vgl. GF 286. 564 Denjenigen, die sich Gott allein durch kritische Reflexion nähern wollen, und nicht auch durch Sehnsucht und Ideale, hält Balthasar Worte des Jesuiten Jean-Joseph Surin entgegen: „Gegenüber den wahren Betern behalten sie immer das letzte Wort in der Meinung, deren offenes Herz und Zärtlichkeit Gott gegenüber mache sie leichtgläubig und vielen Täuschungen unterworfen. Ihr heimlicher Gedanke geht dahin, daß die Seele sich stärkt, wenn sie weniger weich ist zu Gott hin.“ (GF 291; vgl. auch TD IV 166.) Doch diese „täuschen sich gewaltig. Eben jene wahren Gunsterweisungen [d. h. die einst erfahrenen unmittelbaren Berührungen und Tröstungen; Anm. d. Vf.in] führen zur Heiligkeit.“ (GF 291) 565 Vgl. GF 248 f.; TD II,1 26. Das Wort leidet zudem nicht nur am Kreuz, sondern durch alle Zeiten wird es verworfen, vgl. GF 300.

88

II. Hans Urs von Balthasar

4.2.2

Dialogisch konstituiertes Jetzt

Balthasar versteht das soeben skizzierte Aufbrechen des Menschen, – das aus der Begegnung mit dem Wort entspringt und damit Geschichte schreibt –, als Antwort auf die Anrede Gottes. Die menschliche Lebensgegenwart wird, wo sie derart zur Aufbruchssituation wird, nun faktisch nicht mehr nur zum Raum der Frage, sondern auch zum Raum dieser Antwort. Balthasar gelangt damit, seiner WortGeschichtstheologie entsprechend, zu einer dialogischen Gegenwartsdeutung. Balthasar versteht Gegenwart analog hierzu zudem insofern als dialogisch, als dass auch zwischenmenschliche Begegnung Gegenwart konstituiert. Aus Balthasars Sicht kann nur eine dialogische Theologie dem Menschen gerecht werden, denn der „Mensch, dies Gebilde des Logos, ist von Grund auf dialogisch entworfen, und jede monologische Selbstdeutung muß ihn zerstören.“566 „Der Mensch […] existiert nur im Dialog mit seinem Nächsten“567, denn erst am Du entsteht das Ich.568 Erst angesprochen entdeckt der Mensch sich selbst. Die Menschen, die ihn ansprechen, wurden selbst angesprochen und so verweist diese Kette, wie bereits unter II.4.2 anklang, zurück auf ein Ur-Wort und den, der es spricht.569 Es gibt mit diesem Ur-Wort laut Balthasar eine „universale“, „auf dem Grund der Dinge waltende Sprache“570, die reicher ist als jede Laut- und Landessprache. Sie begegnet dem aufmerksamen Beobachter der Welt, stumm und doch beredter als jede andere Sprache. Alles Seiende hat Anteil an diesem schweigenden571 „Überwort“572. Das innerste Wesen der Welt ruht auf diesem Wort, durch das sie erschaffen worden ist, und wird nur durch dieses Wort verständlich. Gott und Geschöpf stehen darum in einem Verhältnis der Rede zueinander und der tiefste Grund des Menschen befindet sich im Zwiegespräch mit Gott, ob der Mensch das weiß und will oder nicht.573 „Im Geschenk der Sprache an den Menschen legt Gott «einen Abglanz vom Wortsein seines Sohnes»“574 in den Menschen hinein. 566 567 568 569

570 571

572

573 574

TD III 133. Balthasar, Rechenschaft, 14. Vgl. TD III 92. So deutet Balthasar auch den zweiten Schöpfungsbericht in Gen 2: Adam kann schon vor der Begegnung mit Eva sprechen, obwohl Menschen Sprache aneinander lernen, vgl. GF 106. TD II,1 24. Wie nach Balthasar alles Seiende auf das Sein bezogen ist, so ist alle Sprache auf die Fülle des Schweigens bezogen, als eine Stille, die alles enthält. Aus ihr heraus spricht Gott sein schöpferisches Wort, in dem er sich zugleich enthüllt und verhüllt. Zum Schweigen Jesu und des Vaters vgl. Balthasar, meditieren, 39–47. GF 256. Anteil daran haben alle Geschöpfe. So kann Balthasar die Pflanzen „gesprochene Worte“ und die Tiere als „sprechende Worte“ (TL I 94) bezeichnen. Einzig der Mensch aber „ist selber substantiell Geist“ (TL I 95), der über seine Äußerungen zu verfügen vermag. Vgl. TD IV 275 f. Immer wieder bezieht Balthasar sich während dieser Ausführungen ausdrücklich auf v. Speyr. TD IV 70.

4.2 Wort als Grund der Gegenwart

89

Die menschliche Erwartung eines zum Menschen redenden Gottes ist damit bereits das „Echo auf ein erstes, geschöpfliches Reden Gottes“575. Balthasar interpretiert hierbei das Frage-Sein des Menschen grundlegender noch als Sprache-Sein. Er nennt den Menschen „Sprache Gottes, Anrede, die sich als solche vernimmt und damit zur Antwort begabt ist“576. Diese Antwort kann, wie von II.4.1.1 her deutlich ist, nicht in einer natürlichen Theologie bestehen, durch die sich der Mensch letztlich selbst Antworten auf seine Fragen geben müsste, was ihm nicht möglich ist. Vielmehr ist sie „gefragt-antwortende[s] Wort“577, das erst durch die Ansprache des Logos ermöglicht wird, und im sich Überantworten des Menschen besteht.578 Wo Gott nämlich den Menschen ruft, kann der Mensch nur im Modus des SichÜberantwortens antworten, d. h., indem er sich Gott anvertraut.579 Seine Antwort an Gott verleiblicht sich damit in der täglichen Existenz.580 Wo Balthasar den Menschen also zum einen als Wesen der Frage bestimmt (II.4.1), das seine Antwort in Christus findet, versteht er den Menschen zum anderen selbst als Antwortenden, wobei dieses Antworten die auf Gott vertrauende und seiner Sendung entsprechende Gestaltung des Lebens meint.581 Der Knoten Mensch löst sich damit erst im „dramatischen Dialog mit Gott“, der ihm nicht „die Anstrengung des Selbstentwurfes erspart“, durch den der Mensch aber „erfährt, wie und woraufhin er sich überhaupt entwerfen kann.“582 Als angesprochene wird die bei Balthasar so oft in den Fokus genommene Einzelperson damit auch nicht zur einsamen Person. Sie bewegt sich vielmehr je jetzt in einem Frage-Antwort-Raum. So wie der Mensch in diesem Frage-Antwort-Raum erst angesprochen durch Gott zu sich selbst und damit erst im Eigentlichen in sein Jetzt findet, so begründet analog auch die zwischenmenschliche Begegnung ein neues Jetzt: Die Ich-Du und Ich-Wir Begegnung konstituiert „durch den Kontakt der einen Person (mit ihrer «Zeit zum Tode») mit anderen Personen (die wieder ihre eigene «Zeit zum Tode» haben) […] ein neues Jetzt, das […] den Einzelnen doch grundsätzlich in das Ganze des menschlichen Schicksals einbezieht.“583 575 Löser, Annäherungen, 256. Philosophisch, so der Darstellungszusammenhang bei Löser, führt der Weg von diesem Echo allerdings ins Verstummen nicht in die „freie Beziehung“ (ebd. 257), die nur der biblische Gott zu setzen vermag. 576 GF 266. 577 GF 256. 578 Vgl. GF 256. 579 Vgl. GF 255 ff. Vgl. v. Speyr, Mensch, 57. 580 Vgl. TD II,1 264 f. 581 Vgl. GF 256. 582 TD II,1 314. 583 TD III 92 f. Balthasars Theologie ist hier offenkundig vom Personalismus Bubers inspiriert, der schreibt: „Gegenwart, nicht die punkthafte, die nur den jeweilig im Gedanken gesetzten Schluß der »abgelaufenen« Zeit, den Schein des festgehaltenen Ablaufs bezeichnet, sondern die wirkliche und erfüllte, gibt es nur insofern, als es Gegenwärtigkeit, Begegnung, Bezie-

90

II. Hans Urs von Balthasar

Erschafft Begegnung dergestalt Zeit, fällt diese Zeit mit dem Abbruch von Kommunikation in sich zusammen.584 So versteht Balthasar die Hölle als kommunikationslos und darum als „punkthafte Zeitlosigkeit“585. Sie stellt das Gegenteil der Ewigkeit Gottes und ihres kommunikativen Dauerns dar. Wie es den Menschen nur im Dialog gibt, so ist also auch seine Zeit Ausdruck von Kommunikation und Begegnung. Ohne Wort gäbe es demnach allenfalls ein punkthaftes Nichts, aber keine Zeit, keine Geschichte und keine Gegenwart, jedenfalls nicht im Sinne eines zu gestaltenden und erfüllten temporalen Lebensraumes.

4.3

Gegenwart als Raum der Freiheit

In der soeben mit dem worthaften Sein des Menschen angesprochenen Möglichkeit zur (über)antwortenden Gestaltung von Lebensgegenwart drückt sich zugleich auch die „endliche Freiheit“586 des Menschen aus. Der Mensch ist damit zwar nicht das alleinwirksame, aber doch das in besonderer Weise hervorzuhebende Subjekt seiner Lebensgegenwart. Theodramatisch soll Lebensgegenwart daher im Folgenden als Raum der Freiheit verstehbar gemacht werden, der durch das „Miteinander“587 von unendlicher, göttlicher und endlicher, menschlicher Freiheit gekennzeichnet ist. Grundgelegt ist dieser Gedanke bereits in TG, wo Balthasar von der „raumgebenden Freiheit Gottes für die Freiheit des Menschen“ schreibt, die durch Christus den Raum schafft, in dem „der Mensch Geschichte agieren [sic]“588 kann. Entfaltet wird dieser Gedanke dann in TD. Dort stellt Balthasar endliche, menschliche und unendliche, göttliche Freiheit einander gegenüber.589 Als ermöglichte Freiheit ist endliche Freiheit dabei immer auf unendliche Freiheit angewiesen.590 Jedoch steht es ihr zugleich frei, dies und damit faktisch ihre eigene Verfasstheit abzulehnen, wenn auch ohne damit eben diese Verfasstheit ändern zu können. Nachchristlich tritt die mit dieser Möglichkeit verbundene Dramatik des menschlichen Daseins in

584 585 586 587 588 589 590

hung gibt. Nur dadurch, daß das Du gegenwärtig wird, entsteht Gegenwart.“ (Buber, Ich und Du, 13.) Bereits Buber, dessen Werk eine bedeutende Inspiration für Balthasar darstellt, wie Leiner, Art. Personalismus, 1132 festhält, postulierte, dass Gegenwart zuerst vom Gegenüber Gottes ermöglicht wird, vgl. Leiner, Art. Personalismus, 1131. Das Grundmotiv der Kommunikation, die Zeit erschafft, ist für Balthasar dann Liebe. Gott redet aus Liebe, denn er möchte Begegnung, vgl. HdW 23. Vgl. TD II,2 457. TD II,2 457. TD II,1 186. TD II,1 186. TG 54. Vgl. TD II,1 170 ff. Vgl. TD II,1 259.

4.3 Gegenwart als Raum der Freiheit

91

aller Schärfe zutage.591 Jetzt nämlich kann der Mensch sich explizit für oder gegen Christus entscheiden – und damit den Grund seiner Existenz und seiner Freiheit. Mit der Möglichkeit dieser freien Entscheidung geht es damit nun zum einen um die Welt unter der Bedingung der Sünde und den Ernst der Möglichkeit, sich selbst zu verfehlen. Übersehen werden darf jedoch zum anderen nicht, dass der Gedanke der Freiheit für Balthasar in erster Linie positiv konnotiert ist, nämlich als Ausdruck des Menschen als imago dei592 in „analogia libertatis“593 zum göttlichen Grund seiner Freiheit. Gegenwart wird dabei zum Raum der Freiheit, deren Ausübung dem Menschen da eine kohärente Identität ermöglicht, wo sich diese Freiheit in Liebe verwirklicht (II.4.3.1). 4.3.1

Theodramatik als Geschichte der Freiheit

Die Theodramatik stellt eine Geschichte der Freiheit dar, entlässt doch die unendliche Freiheit Gottes die endliche Freiheit des Menschen in den „Sinn-Raum“594, den sie selbst als unendliche Freiheit darstellt. Die Echtheit der theodramatischen Handlung korreliert dabei der Freiheit der handelnden Parteien. „Soll Drama sein, müssen Freiheiten einander gegenüberstehen.“595 Dabei bleibt die Frage nach der Reaktion des Menschen auf Gott offen: „[S]oll es zu einem einheitlichen Zusammenspiel kommen, so muß auch der Mensch sich auf das Spiel Gottes einlassen.“596 Die Lebensgegenwart des Menschen wird dadurch als Zeit seiner Entscheidung hierzu zur entscheidenden Zeit. Was in ihr geschieht, bestimmt nämlich nicht nur die folgende Zeit, sondern hat „Ewigkeitsbedeutung“597. Beim „Wiegen“ des Lebens vor Gott ist es dabei weniger die Anzahl der Taten, auf die es ankommt, als vielmehr die Qualität einer „Grundentscheidung“598, die ein Leben prägt.599 Und so ist das 591 592 593 594 595 596 597 598

Vgl. TD II,2 33. Die Freiheit des Menschen als imago dei gründet in der Freiheit Gottes, vgl. GF 210. TD III 443. TD II,1 251. TD II,1 56. TD II,1 81. TD III 77. TD IV 269. Solche Grundentscheidungen sind „der Zeit überlegene“ (TD IV 270) und stehen „unter dem Zeichen des zeitlosen Urteils des ewigen Richters“ (TD IV 270). „Um schlechthin zu verurteilen, müßte der göttliche Richter an nichts Entgegengesetztes, die Abwendung Relativierendes anknüpfen können.“ (TD IV 271.) Es gibt darum Grund zur Hoffnung, dass dieser Richter, der ja retten möchte, (in Christus) einen Anknüpfungspunkt zum Retten findet. Balthasar tendiert in seiner Eschatologie hin zur Allversöhnung, da der ewige Verlust von Teilen der Schöpfung ihm zu sehr als Einbuße der Herrlichkeit Gottes erschiene, und im Hinblick auf den Überschuss der Gnade Gottes in Jesus Christus Hoffnung für jeden Menschen besteht, vgl. TD IV 171–173. 599 Mit der Abwendung von Gott und einer daraus resultierenden Verdammnis steht der „Gedanke einer Tragödie, für den Menschen nicht nur, sondern für Gott selbst“ (TD IV 272) im Raum.

92

II. Hans Urs von Balthasar

Theodrama zu entwickeln aus zwei grundlegenden Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen:600 1. Suche nach Ursprung und Ziel in sich selbst, 2. sich immer neu der absoluten Freiheit verdanken. Dabei bedeutet die erste der genannten Möglichkeiten die Abwendung von Gott, der die Quelle der Freiheit ist,601 und darum ein Leben in wachsender Unfreiheit. Die zweite Alternative hingegen bedeutet, seine Freiheit zu verwirklichen. Balthasar möchte also nicht Autonomie, verstanden als Selbstbestimmtheit des Menschen, und Heteronomie, verstanden als Theonomie eines entmündigten Menschen, kontrastierend gegenüberstellen. Das „Entweder-Oder von Autonomie und Heteronomie“602 ist in Christus, der »frei gehorsam«603 war,604 überholt. Balthasar geht es vielmehr um eine „analogia libertatis“605, in der sich der freie Wille des Menschen immer mehr dem freien Willen Gottes angleicht und, da Gott mehr als nur sich selbst will, davon befreit wird, allein um sich selbst zu kreisen.606 Zwar ist die menschliche Freiheit nämlich durch Sünde beeinträchtigt, der Mensch ist ihrer aber nicht völlig beraubt.607 Die Freiheit des Menschen ist und bleibt eine Gabe Gottes. Als eben solche ist sie aber nicht allein über das Vermögen zu bestimmen, zwischen Gut und Böse zu wählen, sondern über ihre Vollendung innerhalb der unendlichen Freiheit, der sie entspringt.608 Dieser Vollendung bedarf sie, denn die Freiheit des Menschen ist durch Sünde beeinträchtigt. Sie wird nicht nur limitiert durch körperliche Grenzen und Bedürfnisse, durch die Abhängigkeit von einer Außenwelt, durch Affekte und Vernunftregeln609, sondern der Mensch erlebt sich als »zur Freiheit gezwungen«610 und unfrei, das Gute zu tun, das er wollen will.611 Er wird in seinem Wollen stets auf sein Selbst zurückgeworfen. Sünde heißt für Balthasar, in diesem Wollen gefangen zu bleiben und eine in sich selbst 600 601 602 603 604

605 606 607 608 609 610 611

Vgl. TD II,2 33. Vgl. TG 54. TD II,1 203. Vgl. TD II,2 181 ff.; TD II,1 244. Christus ist die „Sinnmitte“ (TD II,1 56) der dramatischen Begegnungen zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit. Freiheit und Gehorsam fallen in ihm in Eins. Jesus, der frei und gehorsam ist, von göttlicher Natur und in seinem Sohn-Sein gleichzeitig dem Vater verdankt, ist „Grund und Ziel“ (TD II,1 243) des Dramas der Freiheiten. Vgl. TD IV 224. Cordula 67; TD III 443. Balthasar entdeckt die Interpretation der analogia entis als analogia libertatis bereits bei Augustin, vgl. H II,1 141. Vgl. TD III 444. Als Sünder hat der Mensch die Tendenz in sich, sich auf sich selbst zu beschränken und sein Selbst zu verabsolutieren, vgl. TD III 174. Die lutherische Lehre vom unfreien Willen erscheint Balthasar dagegen als Verabsolutierung von Teilaspekten christlicher Lehre, vgl. TD II,1 212.224 f. Balthasar rezipiert diesbezüglich zustimmend Augustin, vgl. TD II,1 209–212. Vgl. TD II,1 307. Vgl. TD II,1 311. Vgl. TD II,1 307–309.

4.3 Gegenwart als Raum der Freiheit

93

verkrümmte Existenz zu führen, die Ursprung und Ziel in sich selbst sucht. Sünde bedeutet, die Differenz zwischen sich und Gott und damit den vom trinitarischen Gott geschenkten Raum zu nutzen, um sich von Gott abzuwenden und sich selbst absolut zu setzen.612 Sünde bedeutet damit zugleich, einem Missverständnis seiner selbst aufzusitzen. Die Trennung zwischen Vater und Sohn beschreibt Balthasar jedoch als so tief, dass jede weitere Trennung, auch jede Sünde, sich nur innerhalb dieses trinitarischen Raumes abspielen kann.613 Balthasar spricht von einem »Christusprinzip«614, das von jeher alle Bewegungen der Weltgeschichte, auch die dunkelsten, unterfasst.615 Aber welche Bedeutung kann ein menschliches Nein noch haben, wenn es immer schon vom göttlichen Ja unterfasst ist? Und umgekehrt, welche Bedeutung hat das menschliche Ja? Wie echt ist die menschliche Freiheit da noch, die Balthasar doch so stark betont? Balthasar stellt sich dieser Frage unter der Überschrift »Die Aporie: menschliche Weigerung gegen trinitarische Unterfassung«616 selbst. Er hält dabei an der Realität von Gut und Böse sowie an der Echtheit des menschlichen Ja und Nein fest. Er argumentiert jedoch, dass kaum zu glauben sei, dass Gott weite Teile seiner Schöpfung der ewigen Verdammnis anheim fallen lasse, denn das wäre wie ein Scheitern Gottes.617 Das »Drama in Gott«, das darin besteht, dass er strafen müsste, aber versöhnen möchte,618 müsste demnach, um dieses Scheitern zu verhindern, zugunsten der Versöhnung ausgehen. Durch das Hinabsteigen Jesu bis in die Hölle wird „deutlich, dass Gott die Freiheit des Menschen mit dem Angebot seiner Liebe überall aufsucht, wohin sie sich auch in ihrer Verweigerung begeben haben mag.“619 Folgt daraus die Echtheit des menschlichen Nein ohne ewige, durchaus aber mit innerzeitlicher Konsequenz? Dadurch wäre wiederum insofern die besondere Dramatik menschlicher Lebensgegenwart impliziert, als dass sie, nicht die Ewigkeit, auch Raum der Hölle sein könnte, wie unten noch ausgeführt werden wird. Aber steht das nicht in Spannung zur Betonung der Ewigkeitsbedeutung der Grundentscheidung eines Menschen? Tück wirft die Frage auf, ob der Möglichkeit eines Scheiterns Gottes bei Balthasar nicht doch eine größere Rolle eingeräumt werden sollte, und ob ein Gott, der nichts zu verlieren hat, wirklich der Gott der Theodramatik sein kann, der doch – seiner Liebe entsprechend – alles riskiert.620

612 613 614 615 616 617 618 619 620

Vgl. TD III 305 f. Vgl. TD III 302. Vgl. TD III 63. Vgl. TD IV 173. Vgl. TD IV 171 ff. Vgl. TD IV 173. Vgl. TD II,2 106 ff. Essen, Geschichtstheologie, 77. Vgl. Tück, Freiheit, 114–116.

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II. Hans Urs von Balthasar

Diese Frage muss hier offen gelassen werden. Balthasar legt seine Tendenz zur Allversöhnung im Hinblick auf den „unerschöpflichen Schatz“621 der Gnade offen dar, positioniert sich aber nicht eindeutig. Was in der Möglichkeit der Apokatastasis aber bereits implizit anklingt, ist auch das entscheidende Kriterium von Balthasars theodramatischem Freiheitsbegriff, nämlich die Liebe. So meint Balthasar: „[A]lle Freiheit außerhalb der Liebe ist keine.“622 Da der Mensch nämlich als imago trinitatis auf Beziehung angelegt ist, kann die menschliche Freiheit nur in der liebenden Hinwendung zum Mitmenschen zu sich finden.623 „[E]ine einzelne menschliche Freiheit ist undenkbar. […] Ohne die Mediation des Sozialen kann von Freiheit nicht die Rede sein.“624 Der Mensch muss sich also auf das Wagnis der Liebe einlassen. Ermöglicht wird dies dem Menschen dadurch, dass er Liebe erfährt. Nur durch Liebe findet der Mensch zu einer kohärenten Identität und wird „frei zu sich selbst und zu allen Wesen“625: „Kein Mensch dringt zu seinem eigenen Kern und Grund vor und wird frei zu sich selbst und zu allen Wesen, er sei denn von Liebe angestrahlt, besonnt und bewässert. Er wird es so wenig, als er aus sich selbst für sich eine Sprache erfinden kann“626. Liebe zu erfahren und infolgedessen auch weiterzugeben, bricht die Gebundenheit des Menschen an sich selbst auf. Damit wird zugleich die sündige Gebundenheit seiner Freiheit aufgebrochen. Darum gibt es ohne Liebe keine Vollendung der Freiheit. Verweigert sich aber der Mensch der Liebe, aus der heraus er überhaupt erst freigesetzt wurde, möchte er also Ursprung und Ziel in sich selbst suchen, gerät er in einen Widerspruch zu seiner faktischen Verfasstheit. Er findet keine kohärente Identität. „Wird dieser Widerspruch als endgültig gedacht, so ist er die Hölle.“627 So könnte der Mensch seiner Gegenwart einen Höllen-Charakter geben, indem er „in seinem Zustand bestehend“628 gegen das streitet, was er ist. Jedoch bleibt selbst „der Versuch eines Menschen, sich selbst aus dem in Christus die Welt in sich ein-

621 TD IV 173. Vgl. TD IV 243–264; Tück, Freiheit, 106–110; Greiner, hoffen, 228–260. 622 Balthasar, Gebet, 114. Freiheit realisiert sich im Austausch und Gegenüber, im freigeben. So kann etwa ein plotinischer „auf sein Freisein von allem versessener Gott […] nicht Freiheit geben, selbst wenn außerhalb seiner aufgrund seiner Ausstrahlung so etwas wie Freiheit existiert“ (TD II,1 181, kursiv im Original). In der Konsequenz erschiene ein solcher Gott selbst nicht frei, da er in seiner totalen Unabhängigkeit das soziale Moment von Freiheit nicht zu realisieren vermag. 623 Vgl. TD IV 275. 624 TD II,1 183. 625 GF 108. 626 GF 108. 627 TD IV 274. 628 TD IV 275.

4.3 Gegenwart als Raum der Freiheit

95

holenden trinitarischen Leben auszuschließen, um in sich Hölle zu sein, umfangen von der Kurve Christi“629. Gott lässt dem Menschen damit zum einen die Freiheit, gegen ihn und damit zugleich sich selbst zu streiten, doch er eröffnet ihm zum anderen in Christus auch den Weg zur »Freiheit seiner Freiheit«. Auch dies Handeln Gottes gründet in Liebe. Da nämlich Gott „seine Macht als Liebe“630 offenbart, zwingt Gott den Menschen zu nichts. Gott schränkt seine Macht damit selbst ein.631 Da diese „Selbsteinschränkung“632 aber die freie Entscheidung Gottes ist, offenbart sie wiederum als „Freiheit der Hingabe“633 seine Allmacht. Da Gott der Menschheit schon immer in Liebe zugewandt gewesen ist,634 wird durch das Kreuz auch nicht Gott dem Menschen, sondern der Mensch Gott zugewandt. Der Kreuzestod Christi bewirkt also nicht die liebende Zuwendung Gottes zum Menschen, sondern ist die Folge der freien, liebenden Zuwendung Gottes. Da der Mensch durch Gottes Handeln im Kreuzesgeschehen von der Sünde befreit und damit zum Ja zu Gott ermächtigt wird, wird die menschliche Freiheit im Eigentlichen erst durchs Kreuz wieder hergestellt.635 Balthasar betrachtet dies bereits als Grunderfahrung Israels: „Unsere Freiheit ist unablösbar von unserem Befreitwordensein.“636 „Freiheitsgeschichte“637 im Sinne der Erklärung der Menschenrechte ist trotz antiker Vorschattungen derselben aus Balthasar Sicht darum erst nachchristlich möglich. Kreuz und Auferstehung müssen für Balthasar vor diesem Hintergrund mehr als Symbole der Versöhnung sein, nämlich involvierendes, theodramatisches Gesche629 TD IV 276 f. 630 GF 233. 631 Vgl. GF 232 f. Für Balthasar ist die Frage nach der Mitmächtigkeit des Menschen eine der zentralen geschichtstheologischen Fragen, vgl. GF 218. Balthasar unterscheidet dabei zwei Formen der Macht, nämlich Schöpfungsmacht, über die er schreibt: „[E]s gehört zur Ehrfurcht Gottes vor seinem Geschöpf, daß er das, was das Geschöpf aus eigener Kraft und Anstrengung zu finden und zu leisten vermag, nicht ersetzt oder vorwegnimmt“ (GF 220 f.), und Gnadenmacht, nämlich die Macht Gottes als Macht der Gnade, wie sie sich an Jesus Christus zeigt. Sie verleiht dem Menschen Macht zur Macht. Gott selbst befähigt und beauftragt also den im Prinzip ohnmächtigen Menschen Macht auszuüben. Der Mensch als Sünder möchte jedoch göttliche Macht und ruft eine zweifache Störung hervor: in der Naturordnung als Titanismus der Welt gegenüber, in der Gnadenordnung als Ablehnung der aufnehmenden menschlichen Liebe gegenüber der allmächtigen göttlichen Liebe, vgl. GF 218. Diese zweifache Störung muss beigelegt werden, ohne den Menschen seiner Freiheit zu berauben. Trotz der physischen und geistigen Macht des Menschen kann nur Gott das Gottesverhältnis des Menschen wiederherstellen, vgl. GF 230 f. 632 GF 233 (kursiv im Original). 633 GF 233. 634 Gottes Liebe ermöglicht dem Menschen, Gott wiederzufinden und in Gott sich selbst, vgl. GF 229. 635 Vgl. GF 111. 636 Balthasar, Einsatz, 22. 637 TD II,1 183.

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II. Hans Urs von Balthasar

hen. Selbst der das Leben entschlüsselnde Enthüllungscharakter rein fiktiver Dramatik speist sich daraus, dass andernorts, etwa in der Biografie eines Rezipienten, tatsächlich etwas historisch stattgefunden hat, das analog deutbar ist und für den Rezipienten zu einer inneren Aneignung führt: Ich finde darin mich.638 Umso bedeutender ist in analoger Weise für die Theodramatik das historische Geschehen um Jesus von Nazareth, durch das der Mensch erst im ihm je eigentlichen Sinne zum Mitspieler im Theodrama wird und sich darin findet. Hierbei ist das involvierende Zusammenspiel, nicht die Auseinandersetzung, aus Balthasars Sicht der eigentliche „Kern des Dramatischen“639. Das Theodrama gewinnt seine Gestalt nämlich nicht allein durch den Widerstreit des Menschen gegenüber Gott, sondern nimmt seine eigentliche Form da an, wo es zu einem freien Zusammenspiel von Gott und Mensch kommt. Dies entspricht analog dem trinitarischen „Urdrama Gottes“640, das sich ebenfalls im Miteinander der trinitarischen Personen realisiert, nicht im Gegeneinander. Im so umrissenen theodramatischen Zusammenspiel der Freiheiten wird die menschliche Lebensgegenwart als in die unendliche Freiheit Gottes eingeborgener Freiraum des Menschen lesbar, in dem ihm weitreichende Entscheidungen möglich sind. Deren Sinn realisiert sich im Tiefsten in der freien Annahme einer Sendung, wie nun darzulegen ist.

4.4

Gegenwart als Zeitraum der Sendung

An die Bestimmung von Gegenwart als Raum der Freiheit, wie er sich vor allem aus TG und TD II,1 ergab641 und auch in den folgenden Bänden von TD die Handlung bestimmt, schließt ab TD II,2 die Interpretation von Gegenwart als Zeitraum der Sendung an. Dies ergibt sich aus der in TD II,2 gebotenen Darlegung der Christologie Balthasars,642 der sein theodramatisches Personenverständnis entspringt.643 Nach diesem findet der Mensch durch die Annahme seiner Sendung zu sich selbst als Person.644 Die Annahme oder Ablehnung seines Auftrags, so führt Balthasar bereits in VC645 aus, führt dazu, dass bestimmte Momente als mitwandernde Gegenwart weichenstellende Bedeutung für eine Biografie gewinnen. Bal638 „Weil die Existenz sich in dieser Projektion [des Theaters; Anm. d. Vf.in] ausgelegt erkennt, kann sie sich selbst – in einer Grenzerfahrung – als Rolle in einem umgreifenden Spiel erkennen.“ (TD I 20; kursiv im Original.) 639 TD III 185. 640 TD III 303. 641 Vgl. TD II,1 170–305. 642 Vgl. TD II,2 136–238. 643 Vgl. TD II,2 241 ff. 644 Vgl. Meuffels, Einbergung, 423 f. 645 Vgl. VC 77 f.

4.4 Gegenwart als Zeitraum der Sendung

97

thasar verbindet über seinen Sendungsbegriff ekklesiologisch-diachron bereits in TG und ebenso in TD die Lebensgegenwarten der Menschen aller Zeiten, so dass Geschichte zu einem Flechtwerk aus erfüllten, aber auch unerfüllten Sendungen wird. Nach Löser ist Balthasar gar nicht angemessen zu verstehen, wenn nicht das „Ursprungsereignis der Berufung“646, die in eine Sendung führt, in seiner Bedeutung für Balthasars Gesamtwerk wahrgenommen wird.647 Dies entspricht der ignatianischen Grundstruktur der Theologie Balthasars, ist doch der Sinn der ignatianischen Exerzitien, seine Sendung zu erkennen und anzunehmen, konkret: „sich rufen und sich senden zu lassen“648. Im Realisieren einer Sendung gewinnt das fragmentarische, menschliche Leben mitten in seiner Momenthaftigkeit hierüber einen sinnstiftenden Bezug zum Ganzen. Damit kommt dem Begriff der Sendung auch für Balthasars Verständnis von erfüllter Gegenwart hohe Relevanz zu, realisiert sich doch darüber der produktive Bezug des Augenblicks der Gegenwart zum umgreifenden Ganzen. Seiner Sendung zu folgen erfüllt Gegenwart mit Sinn. Ausgehend von der Sendung Jesu (II.4.4.1) kommt nämlich jedem Menschen seine einzigartige Sendung zu. Es gibt hierbei besondere Momente, also Gegenwart mit einer besonderen Qualität, in der einem Menschen seine Sendung zuteil wird, und die als Gegenwart, die mitwandert, fortan die gesamte Lebenszeit eines Menschen beeinflusst. Indem der Mensch so in der freien Annahme einer Sendung zu sich selbst findet, wird er Person (II.4.4.2). Das jeweilige Heute des Menschen erweist sich bei Balthasar vom Sendungsgedanken her als verknüpft mit den Lebensgegenwarten aller Menschen. In dieser diachronen Verknüpfung liegt die Sendung der katholischen Kirche, weswegen Balthasar das Potenzial einer Sendung nur im Katholischen als maximal realisiert ansieht (II.4.4.3). 4.4.1

Die Sendung Jesu

Nicht zu Unrecht wurde die Christologie Balthasars, in der er den freien Gehorsam Jesu seiner Sendung gegenüber betont, als Gehorsamschristologie charakterisiert.649 Jedoch ist der Gehorsam Jesu eher als bedeutender Aspekt, nicht Inbegriff der Christologie Balthasars zu verstehen. Balthasar selbst spricht von der Sendung als „Schlüssel der ganzen Existenz Jesu“650 und bezeichnet seine Christologie treffend als „Sendungschristologie“651. Jesu Sendung ist es demnach, den Willen des Vaters 646 Löser, Interpret, 6. 647 Vgl. hierzu auch Ackermann, Kern, 282–290; Henrici, Blick, 49; O‘Donnell, Liebe, 263 f.; Tossou, Vollendung, 234 ff. u. v. a. 648 Löser, Annäherungen, 56. Vgl. Vorgrimler, Balthasar, 126. 649 Vgl. Schilson, Präsens, 63; Kim, Denkform, 107. Vgl. TD II,1 76. 650 TG 23. 651 TD II,2 314. Zum Begriff der Sendung vgl. auch TD II,2 136–238, wo Balthasar Sendung als Leitbegriff seiner Christologie markiert. Balthasars Verknüpfung von Sendung und Personsein, die für den Menschen und den Sohn gilt, führt dazu, dass Balthasar auch seinen

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II. Hans Urs von Balthasar

zu tun. Balthasar versteht dies als irdischen Ausdruck von Jesu himmlischem Sohnsein. Jesu Sendung wird daher insofern zum Schlüssel seiner Existenz, als dass sie irdisch und himmlisch Existenz im Empfang ist, so auch im Empfang einer Sendung vom Vater her.652 Balthasar umschreibt also vermittels seiner Sendungschristologie – das Verhältnis von Vater (Sendendem) und Sohn (Gesendetem) – sowie von irdischem und himmlischem Sohnsein Jesu Christi. Er führt die Implikationen seiner Sendungschristologie zudem in weitere Richtungen aus: – Zum Inhalt der Sendung: Jesus offenbart in einzigartiger Weise das liebende Wesen des Vaters, indem er seine Sendung aus Liebe erfüllt.653 – Zum Verhältnis von Sendung und Gesendetem: Person und Sendung fallen in Jesus Christus in einzigartiger Weise in eins, weil der Sohn die Sendung des Vaters „ist“654. Der Sohn spricht in persona als Wort Gottes.655 Diese einzigartige Kongruenz von Person und Sendung resultiert aus der Göttlichkeit des Sohnes.656 – Zu den daraus resultierenden geschichtstheologischen Konsequenzen: Dass Person und Sendung in Christus damit ineinander fallen, ermöglicht mehr als Weltdrama, nämlich Theodramatik.657 Wäre der Sohn nicht der präexistent Gesendete, der ganz eins wird mit seiner Sendung, wäre sein Tod reine Symbolik, die in ihrer Bedeutung nicht über den Tod Johannes des Täufers hinaus ginge.658 Jesu ganzes Wirken stellte nicht mehr dar als ein Vorbild. Doch so ist Jesus „Urbild“659, auf das sich alle Abbilder beziehen. Christus nachzufolgen ist darum mehr als ein unerreichbares, transzendentes Ideal, an dessen Unerreichbarkeit der Mensch verzweifeln müsste.660 Vielmehr ist jede menschliche Sendung analoge Beteiligung an Jesu Sendung, denn: „Im letzten gibt es nur eine

652 653 654 655 656 657 658 659 660

trinitarischen Personbegriff im Zusammenhang mit seiner Sendungschristologie entwickelt, vgl. TD II,2 467–469. Er stellt anhand des Sendungsbegriffs seinen theologischen Denkweg von der Sendung Jesu zum Sohn und von der Person Christi zur personalen Trinität dar, vgl. TD II,2 472–479. Für die Fragestellung dieser Untersuchung liegt der Fokus jedoch auf der Linie, die Balthasar von der Sendung Christi zur Sendung des Menschen zieht. Vgl. TG 23 ff.; TD II,1 270 f.; TD II,2 136 ff. Vgl. TD II,2 474 f. Balthasar, Ordensregeln, 9 (kursiv im Original). Vgl. TD II,2 202. Vgl. TD II,2 137 f.143 f.153. Erneut zeigt sich hier die Bedeutsamkeit der Zwei-NaturenLehre für Balthasars theodramatische Geschichtshermeneutik. Vgl. TD II,2 184 f. Vgl. TD II,2 474. TD II,2 237. Vgl. GF 90.

4.4 Gegenwart als Zeitraum der Sendung

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einzige Sendung: die des Sohnes“661. „Seine Auferweckung ist die Ermöglichung einer personalen Nachfolge und Sendung aufgrund von Rechtfertigung und «Kindesannahme» in seiner Person.“662 Jesus erfüllte seine Sendung geschichtlich. Da jedoch der Sinn seiner Sendung nicht weniger als die „Vollendung der Geschichte“663 ist, bildet seine Sendung die Grundlegung aller anderen Sendungen. „[S]eine persona“ steht „sowohl als Spielrolle wie als seinshafte Person im Zentrum.“664 Balthasar spielt hierbei auf die Doppelbedeutung des lateinischen persona an. So bezeichnet persona ursprünglich die Maske, die eine Rolle im Theater repräsentiert,665 um dann später zur Bezeichnung eines einzigartigen Menschen als Person666 zu werden. Balthasar ist hierbei von seinem theodramatischen Sendungsgedanken her der Überzeugung: Seine persona auszufüllen personalisiert. In einzigartiger Weise ist das bei Christus der Fall. In analoger Weise ist dies von Christus her dem Menschen gegeben, der seiner Sendung nachfolgt. 4.4.2

Sich spielen oder Person sein. Sendung als identitätsstiftender Sinn

Mit dem Begriff der Sendung umschreibt Balthasar theodramatisch die sinn- und identitätsstiftende „Rollenverteilung“ in einem durch Christus eröffneten „SpielRaum“667. Dieser Spiel-Raum, verstanden nicht nur als Bühne der Selbstdarstellung, sondern als Raum involvierender Begegnung, ermöglicht es dem Menschen Person zu werden,668 da die als Sendung angenommene Rolle nicht nur gespielt 661 TD IV 359. 662 TD II,2 39. Balthasar nennt daraufhin drei Grundartikulationen des Daseins Jesu, die ein Handeln Jesu, aber auch ein Handeln an Jesus umfassen: 1. sein Leben als Ankündigung des Reiches Gottes, 2. sein Kreuz als Sieg über den Tod und Öffnung eines Durchgangs zum ewigen Leben, 3. seine Auferweckung als Ermöglichung, ihm aufgrund der Rechtfertigung gemäß einer Sendung nachzufolgen, vgl. TD II,2 39–48. 663 TD II,2 163. 664 TD II,2 463 (kursiv im Original). 665 Vgl. Cancik, Art. Person, 1120. 666 Der Begriff der Person kann mit unterschiedlichen Füllungen und Funktionen versehen werden, vgl. hierzu Herms, Art. Person, 1123 f. Philosophisch haben vor allem Husserl und Heidegger die Verflechtung individueller Gegenwart mit Personsein reflektiert, vgl. Herms, Art. Person, 1125. Zur Unterscheidung der Begrifflichkeit der Person von der des Individuums bei Balthasar sei hier angemerkt: Unter dem Begriff des Individuums versteht Balthasar den unter den allgemeinen Gattungsbegriff subsumierbaren Fall des einzelnen Menschen. Mit dem Begriff der Person bezeichnet er die uneinholbare Einzigartigkeit eines Menschen, der als fürsich-seiender geistiger Raum „jeweils die Einheit des Seins in sich selbst“ trägt und „nicht mehr als Vielheit unter eine andere Einheit subsumiert werden“ (TL I 212) kann. 667 TD II,2 49. Christi Rolle ist dabei eine „zwei-einige“ (TD II,2 237), da er den trinitarischen Gott in der Geschichte vergegenwärtigt und in mannigfachen Sendungen »Rollen« an die übrigen Spieler verteilt. Vgl. v. Speyr: „Jede christliche Sendung liegt innerhalb der Sendung des Herrn“ (dies., Sendung, 89). 668 Vgl. TD II,2 229.

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II. Hans Urs von Balthasar

wird, sondern Identität stiftet und damit »personalisiert«.669 Rolle und Person fallen für Balthasar im Erfüllen einer Sendung also in eins.670 Erfüllte Existenz setzt nach Balthasar damit theodramatisch einen personalisierenden Schritt „[v]on der Rolle zur Sendung“671 voraus. Analog zur Sendung Jesu ist die Sendung eines Menschen für Balthasar darum „kein Akzidenz des empirischen Menschen, sondern das substantielle Wesen der irdisch erscheinenden Person.“672 Wenn auch kein Mensch jesuanisch identisch ist mit seiner Sendung, ist der Mensch doch um seiner Sendung willen erschaffen, die er in seinem Leben erfüllen, ihr teilweise gerecht werden oder sie auch ablehnen kann.673 Lässt der Mensch sich aber in die Nachfolge Christi berufen, fasst der besondere Moment, in dem dies geschieht, seine gesamte Lebenszeit zu einem Sinngefüge zusammen. Es gibt also Momente, denen besondere Bedeutung zukommt, Gegenwart mit einer besonderen Qualität, in der der Mensch sich selbst findet. Manche Gegenwart wird demnach wie vergängliche Zeit erlebt, andere wie unvergängliche. Solche Gegenwart begleitet als „mitwandernde Gegenwart“ die gesamte Lebenszeit eines Menschen: „Zeit ist also keineswegs ein einförmiger Fluß, sie kennt Augenblicke geheimnisvoller Verdichtungen, Gipfelpunkte, wo der Mensch sich frei macht und sich selbst wählt. […] Sagt er Ja zu seinem Auftrag, so erfüllt dieser Augenblick wie eine mitwandernde Gegenwart seine Zeit und rafft sie zu einem Sinngefüge zusammen; sagt er Nein, so wird seine ganze Zeitstruktur verlorene Zeit.“674 Ziel einer Sendung ist dabei nicht, den unkompliziertesten, angenehmsten Weg durch die jeweiligen Wirren seiner Zeit zu finden oder den Herausforderungen seiner Gegenwart mit Verweis auf ein vermeintlich überweltliches Ziel zu entfliehen. Schließlich ergehen Sendungen für und in die Welt und verweisen so auf den Wert 669 Vgl. TD II,2 241; TD III 59 u. ö. Weder Merkmale wie Herkunft, Alter und Geschlecht noch menschliche Zuwendung können nach Balthasar Personalität konstituieren. Zur Frage, ob sein Personverständnis, das in der möglichst vollständigen Deckung mit einer Rolle besteht, nicht faktisch eine De-Personalisierung bedeutet, vgl. Krenski, Kleid, 346 f. 670 Vgl. TD II,2 47. Löser weist darauf hin, dass Balthasar hier erneut Barth zu überwinden sucht, und zwar da, wo dieser den Menschen als Zeugen beschreibt: Der Mensch „ist nicht nur Zeuge, wie Karl Barth es meint, sondern Person.“ (Löser, Annäherungen, 116.) 671 TD I 604. 672 TD II,1 280. 673 Vgl. TD II,2 190. Eine Berufung abzulehnen vernichtet den Menschen nicht, aber es entstellt ihn, vgl. TD II,2 244. Es braucht dann einen Rollentausch, in dem die »Ur-Person« Jesu an die Stelle tritt, an der der Mensch an der Differenz zu seiner Rolle scheitert und aus seiner Rolle fällt, vgl. Krenski, Kleid, 348 f. 674 VC 77 f. Oft liegt der Augenblick solch einer Wahl in der Jugendzeit, scheinbar zu früh für eine solch weitreichende Weichenstellung, die immer Gewinn und Verlust bedeutet, vgl. ebd. 77.

4.4 Gegenwart als Zeitraum der Sendung

101

der zeitlichen Werde-Welt.675 Selbst die Heiligen „geben der Erde das Übergewicht. Denn so will es ihre Sendung“676, zitiert Balthasar Adrienne von Speyr. Die Sendung eines Menschen führt ihn also ins Konkrete. „Im Absoluten verschwinden wollen ist ein Alibi, sich vom Spiel auf der Weltbühne zu drücken.“677 Balthasar unterscheidet hierbei mit der katholischen Tradition die Berufung in den geistlichen und den weltlichen Stand. Beide sind durch die voneinander untrennbare Nächsten- und Gottesliebe sowohl auf die Welt als auch auf Gott gerichtet. Führt die Sendung in den weltlichen Stand jedoch in die Ehe und damit ins Partikulare, führt die Sendung in den geistlichen Stand ins Universale und zeichnet sich durch Exponiertheit und Verletzlichkeit aus.678 Balthasar hebt besonders den Ordensstand hervor und meint: Je größer eine Sendung, „desto größere Entsagung hat sie zu ihrer Voraussetzung.“679 Einige Christen, wobei zuerst die soeben bereits genannten Heiligen anzuführen sind, folgen ihrer Sendung in herausragender Weise.680 Sie verweisen mit ihrem Leben darauf, dass „jeder Mensch so etwas wie einen Standort im Kosmos der Geheimnisse haben kann“681. Gesendet zu werden setzt einen Sendenden voraus und erweist Sendung damit als relationales Geschehen. Balthasar hebt die Rolle des Geistes in diesem Geschehen hervor, als Geist Gottes, der beruft, und als antwortenden Geist des Menschen, der sich neu verstehen lernt. So führt er aus, der Mensch wisse als selbstreflexives Subjekt seines Lebens, dass er Geist sei und müsse doch darüber hinaus weiter fragen, wer er ist. Soll der Mensch als so nach sich fragendes „Geistsubjekt“682 nicht in diesem Fragen oder in einem idealistischen, vermeintlich objektiven Geist-Begriff aufgehen, bleibt für Balthasar als Alternative nur das Konzept der Sendung. Hierbei sagt Gottes Geist dem Geist des Menschen, wer der Mensch für Gott ist, und wofür er auf der Welt ist.683 Nicht nur als Geistsubjekt, sondern als Person, erfährt sich der 675 676 677 678

679 680 681 682

683

Vgl. Baumer, Vermittler, 100–102. TD IV 101. TD III 101. Vgl. Balthasar, Ordensregeln, 16–18. Säkularinstitute wiederum fasst Balthasar als „Zeichen der Lebendigkeit“ (ebd. 29) des Rätestandes auf. Mit der Johannesgemeinschaft gründete er 1944 selbst gemeinsam mit v. Speyr eine solche Weltgemeinschaft. Balthasar, Ordensregeln, 21. Vgl. Ackermann, Kern, 286. GF 326. TD II,2 187.188.190.191 u. ö. Der Mensch muss sich als Geist verstehen, da er sich als selbstreflexives Wesen nicht unter Körper oder Trieb subsumieren lässt. Selbst würde ein Mensch sich rein als Körper definieren, so wäre es immer noch sein in seiner Selbstreflexivität »geistig« verfasstes Selbst, das diese Definition vornähme. In dieser anthropologischen Bestimmung liegt für Balthasar der Ankerpunkt eines weiten, aber nicht uferlosen Geistbegriffs, vgl. SC 248. Vgl. TD II,2 189 f.476 f. Dieses Wirken des Geistes schränkt die Freiheit des Menschen nicht ein und ist häufig nicht vom natürlichen Denken unterscheidbar. Zwischen dem ersten Ruf des Geistes und dem Ergehen der Sendung an einen Menschen liegen Zwischenstufen der Reflexion und des Ringen, vgl. Heße, Berufung, 299–302.

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II. Hans Urs von Balthasar

Mensch nach Balthasar dann infolgedessen da, wo er seine Sendung annimmt.684 Aus Balthasars Sicht verunmöglicht eine Bestimmung zu haben damit nicht, man selbst und frei zu sein, sondern ermöglicht erst die freie Annahme von Lebenssinn685 sowie das Finden seiner selbst als Person. Öffnet sich der Mensch für dieses Geistwirken, ergreift er seinen Sinn zwar nicht zur Gänze, aber er nähert sich dem Sinn seines Seins stetig an, denn dieser ist „Werde-Sinn (das heißt Richtung und Weg)“686, ausgerichtet über das begrenzte menschliche Sein hinaus auf das absolute Sein Gottes hin. Für den kirchlichen Stand etwa heißt das: „Inhalt und Deutung seines Lebens, ja geradezu seine Zeit als von Gott je jetzt geschenkte entgegennehmen, ohne den Versuch, sich ihrer prometheisch zu bemächtigen.“687 Das Annahme oder Ablehnung einer Sendung betrifft das menschliche Gegenwartserleben damit in doppelter Weise: – nämlich punktuell-kairologisch in Form einmaliger und zugleich als solche durch die Zeiten mitwandernder Gegenwartsmomente, die die Verweigerung oder die Annahme einer Sendung bedeuteten, – sowie als Resultat derselben durativ-chronologisch über das Fehlen oder das Erleben eines »Werde-Sinns« auf Zukunft hin, auf die hin der Mensch seine Zeit je jetzt vertrauensvoll von Gott entgegennimmt und Geschichte schreiben kann. Selbst wählen kann ein Mensch seine Sendung dabei nicht.688 Doch lässt er sich von Gott berufen und formen, was für Balthasar nicht Passivität, sondern Ermächtigung bedeutet, kann der Mensch „im Sinne Gottes «Geschichte machen»“.689 4.4.3

Katholizität. Sendung in individueller und gemeinschaftlicher Dimension

Dem Begriff der Sendung kommt bei Balthasar nicht nur eine individuelle, synchrone, sondern auch eine gemeinschaftliche, diachrone Dimension zu. Über den Begriff der Sendung verknüpft Balthasar nämlich nicht nur die Gegenwart des Ein-

684 Vgl. Stinglhammer, http://hansursvonbalthasar.com/vom-geistsubjekt-zur-person, aufgerufen am 15.03.19. 685 Hierfür braucht es ein Geist-Subjekt, denn sich in seine individuelle Lebensbestimmung zu finden, ist ein geistiger Akt der Selbstbestimmung eines Individuums, vgl. Disse, Singularität, 121. 686 TD IV 90. 687 TG 88. 688 Vgl. TD II,2 241. Gott hat für jedes Wesen einen Willen, der bezogen ist auf seine Idee für das Ganze und Christus als Uridee, vgl. TD II,1 275. Die jeweilige Sendung eines Menschen nimmt dabei Bezug auf die Lebensbedingungen des einzelnen Menschen und verfügt zugleich über sie, vgl. Balthasar in v. Speyr, Sendung, 7. Sie entspringt der unerschaffenen Idee Gottes für das Leben des Menschen. 689 GF 258.

4.4 Gegenwart als Zeitraum der Sendung

103

zelnen je jetzt mit der Sendung Christi, sondern die Lebensgegenwarten der Menschen aller Zeiten. Dem Duktus seiner Theologie entsprechend setzt seine Argumentation christologisch ein, nämlich mit der These, in Christus werde Sinn nicht nur gedeutet, sondern gestiftet.690 Nicht nur die Zeit nach, sondern auch die Zeit vor Christus erhalte ihren Sinn durch ihn. Daraus folgt, dass spätere Sendungen frühere betreffen können und umgekehrt, und dass es nicht möglich ist, zu sagen, dass „jede Zeit und jedes Leben für sich genommen einen ruhenden Sinn in sich trägt. Frühere Zeiten und Schicksale sind so wenig abgeschlossen und unwiderruflich vergangen, daß ein direkter Zugang zu ihnen jederzeit möglich bleibt, der sie in ihrem (nur scheinbar endgültig vergangenen) Wesen bestimmt und mit weiterschreitender Zeit fortdauernd verändert. […] Die Schicksale aller sind verflochten; bevor nicht der Letzte gelebt hat, ist nicht endgültig klar, was der Sinn des Ersten gewesen ist.“691 Jeder Mensch, der seine Sendung erfüllt oder sich ihr entzieht, beeinflusst folglich die Ganzheit der Geschichte.692 Seine Gegenwart ist diachron mit der aller anderen verknüpft. Trotz seines Fokus‘ auf die einzelne Person bleibt diese bei Balthasar daher nicht isoliert. Ihre einzigartige Sendung verbindet sie mit allen anderen.693 In der ihr zugewiesenen Rolle liegt der Bezug der Person auf das Ganze und damit ihre „subjektive Katholizität“.694 Sendung sozialisiert dazu insofern, als dass die verschiedenen „Sendungen und die mit ihnen sich identifizierenden Personen“ miteinander die „Communio Sanctorum“ 695 bilden. Balthasar spricht darum auch der Kirche eine Sendung zu. Die Kirche, die zwischen Mensch und Menschheit, zwischen Einzelperson und Geschichte696 und damit auch zwischen den jeweiligen Sendungen der einzelnen Menschen vermittelt, bildet nämlich die entscheidende, Zeit überbrückende Gemeinschaft dieser Sendungen – mit der marianischen Sendung als ihrer Mitte.697 So unauffällig eine einzelne Sendung also auch wirken mag, „wie

690 Vgl. TG 58. 691 TG 59 f. Sendungen erfüllen und brauchen Zeit. Eine Sendung zu erfüllen, verknüpft noch dazu Gegenwart und Ewigkeit, denn Sendungen entstammen der Ewigkeit und führen in sie hinein. Sie brechen mit dem Tod nicht ab, sondern vollenden sich im ewigen Leben, vgl. TD IV 360.382. 692 Entsprechend kann auch der Sinn der Menschheit den Sinn einer einzelnen Person nicht überspringen, vgl. GF 127 f.; TD II,1 46. 693 Vgl. TD I 605 f. 694 TD II,1 53. 695 TD II,2 321. 696 Vgl. II.4.7. 697 Vgl. TD II,2 321.324.

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II. Hans Urs von Balthasar

die Sendung Christi und die der katholischen Kirche“ wirkt sie sich „universal und damit katholisch“698 aus. Jedes christliche Schicksal besitzt damit „universale Wirkung“699. Nur christlich wird die dramatische Existenz des Einzelnen darum „voll ernst genommen“700, folgert Balthasar. Christlich kommt nämlich der Lebensgegenwart des Menschen ein enormes Wirkpotenzial für die Geschichte zu, wenn dies auch nicht immer offenkundig zutage liegen muss. Für Balthasar ist Sendung in ihrer vollen Universalität und Anteilnahme an Christus jedoch nur römisch-katholisch möglich, weder orthodox noch protestantisch,701 ist es doch die katholische Kirche, deren Sendung es ist, zwischen den Sendungen zu vermitteln.

4.5

Mensch und Menschheit. Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

Die diachrone Verknüpfung menschlicher Lebensgegenwart über Generationen hinweg wird nach Balthasar nicht nur durch die Wechselbeziehung von Sendungen, sondern auch über »anthropologische Konstanten« gewahrt, die die menschliche Erfahrungswelt vor allem in der Erfahrung des Leides und der Hoffnung der Überwindung desselben, aber auch in einem gemeinsamen Sinnes- und Sinnempfinden betreffen.702 Balthasar begründet vermittels solcher diachronen, anthropologischen Konstanten – in Frontstellung gegenüber dem Bultmann‘schen Programm der Entmythologisierung703 – die Zugänglichkeit von Glaubensaussagen über die Grenzen kulturgeschichtlicher Epochen hinweg. Balthasar stellt mit ihnen zudem die Vulnerabilität und Fragilität des Lebens dar.704 Diese ist, wie in den folgenden Kapiteln zu belegen sein wird, nicht allein menschheitlich zu bewältigen, etwa indem die Menschheit im letzten Akt des Theodramas, im theodramatischen End698 699 700 701

TD IV 158. Vgl. GF 165. TD II,1 46. TD II,1 46. Vgl. TD I 62. Allein katholisch scheint Balthasar die „effiziente Stellvertretung des Leidens Christi“ und damit die „echte Sendung“ (TD I 62) wirklich erhalten zu bleiben. 702 Vgl. TD II,1 85; Balthasar, Cordula, 75. 703 So in »Cordula oder der Ernstfall«, vgl. Balthasar, Cordula, 74 ff. „In seinem Entmythologisierungsprogramm ging es Bultmann um eine Abkopplung der – auch unter neuzeitlichmodernen Verhältnissen noch aktuellen – Botschaft des Neuen Testaments von den – für den gegenwärtigen Menschen nicht mehr akzeptablen – mythologischen Ausdrucksformen, die diese Botschaft in der Bibel gefunden hat.“ (Leonhardt, Dogmatik, 105; kursiv im Original). „Jesu Auferstehung z. B. ist [nach Bultmann; Anm. d. Vf.in] von der Verkündigung nicht als ein hist. (oder mythisches) Ereignis darzustellen, sondern als eine Wirklichkeit, die die Existenz des Menschen unmittelbar betrifft.“ (Lindemann, Art. Bultmann, 1860.) Ebenjene Trennung von inhaltlichem „Kern“ und mythologischer „Schale“ (Balthasar, Cordula, 83) lehnt Balthasar ab. 704 Vgl. TD II,1 85.

4.5 Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

105

spiel, angelangt. Vielmehr ist sie menschlich, also durch den Einzelnen bereits je jetzt anzugehen. Möglich ist dies, da die das Weltgeschehen umspannenden Akte des Theodramas sich als statūs naturae705 bereits heute im Leben des Einzelnen zu realisieren vermögen. Die damit in der persönlichen Existenz geschehende Realisation des Theodramas weist nicht allein die Menschheitsgeschichte, sondern die konkrete menschliche Existenz heute als entscheidenden Ort des Geschehens der Theodramatik aus. So ist es die jeweilige Lebensgegenwart der Einzelperson, in der die Hoffnung für die Menschheitsgeschichte je jetzt Gestalt gewinnt. Der – für Balthasar unverzichtbare – allumspannende, historische Horizont seiner Geschichtstheologie hebt damit das Heute der Einzelperson in ihrer Bedeutung nicht auf, sondern sogar hervor, entsprechend der individualitätstheoretischen Ausrichtung der Theologie Balthasars. Da das Verhältnis der Geschichte des Einzelnen zu der der Menschheit bereits in TG und GF thematisch wird, werden als Belege im Folgenden neben anthropologischen Befunden aus TD, vor allem TD I, II,1 und III, geschichtstheologische Schemata aus TG und GF herangezogen, ebenso wie Balthasars Streitschrift »Cordula oder der Ernstfall«. Im Folgenden werden zunächst eben jene zeitüberbrückenden, anthropologischen Konstanten zu skizzieren sein, die auf die Dramatik der Gegenwart verweisen (II.4.5.1). Das Theodrama realisiert sich dann nicht nur in der Menschheitsgeschichte, so dass dem Einzelnen nur ein kleiner Auftritt in einem der Akte zugestanden wäre und nur bestimmten Generationen die Hoffnung auf das Erleben der Überwindung der anthropologischen Konstante des Leides bliebe. Das eine Theodrama realisiert sich vielmehr auch in seinen verschiedenen Akten im Leben des Einzelnen. Damit ist es nicht nur die Geschichte der Menschheit, sondern bereits die Lebensgegenwart des Einzelnen heute, in der sich die Hoffnung auf eine Lösung der allgemein-menschlichen Aporie des Leides ausdrückt und zu realisieren vermag (II.4.5.2). 4.5.1

Menschheit. Anthropologische Konstanten

Dem Postulat einer anthropologischen Konstante kommen bei Balthasar zwei Funktionen zu: 1. über eine gemein menschliche Basis an Sinnes- und Sinnempfinden die Vermittelbarkeit von Glaubensüberlieferungen aus vergangenen Zeiten in die Gegenwart zu plausibilisieren,706 was in einem direkten Zusammenhang mit dem dramatischen Entscheidungscharakter von Gegenwart steht, 705 Vgl. TD II,1 306. 706 Gelänge die diachrone Vermittlung der entscheidenden Glaubensinhalte nicht, bedeute dies einen empfindlichen Verlust. So warnt Balthasar in »Cordula oder der Ernstfall« und TD II,1 vor einem „«Substanz»- oder «Gewichtsverlust»“ (TD II,1 88; vgl. Balthasar, Cordula,

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2. und über die allen Menschen gemeinsame Erfahrung von Leid und Tod die bleibenden Aporien der Menschheit zu illustrieren, die nicht allein vom Menschen aus überwindbar sind.707 Zu 1.: Das von Balthasar postulierte, alle Menschen verbindende Sinnes- und Sinnempfinden illustriert er geradezu bildlich an der Himmelfahrt Christi. Er fragt: „[W]äre es etwa für uns das gleiche, wenn Christus, um sinnenhaften Menschen anzuzeigen, daß er zum Vater geht, in die Erde versunken wäre?“708 Oben sind Kopf, Licht und Weite, unten die Füße, das Dumpfe und Finstere.709 Balthasar veranschaulicht daran, dass es ein Sinnesempfinden und ein damit einhergehendes Sinndeutevermögen des Menschen geben muss, das durch die Zeiten verständlich bleibt. Das Verständnis für die Art und Weise vergangener oder fremder Kulturen, Sinn auszudrücken, mag uns Heutigen zwar nur mittelbar gegeben sein; doch „eine Brücke wird immer vorausgesetzt, und das besagt: eine Gemeinsamkeit von SinnIntention, die der verändernden Zeit überhoben ist.“710 Für Balthasar sprechen angesichts dessen weder ein verändertes Weltbild und damit ein historisch-wissenschaftliches Urteil noch das Gefühl des Fremdseins der christlichen Lehrinhalte und damit ein existenzielles Urteil gegen die Möglichkeit einer Anknüpfung gegenwärtiger Theologie an frühere.711 Es sei nämlich nicht nachweisbar, dass Glaubensaussagen, die an ein ptolemäisches Weltbild gebunden sind, bei dessen Ersetzung durch ein kopernikanisches eine substanzielle Einbuße erleiden.712 Diese Argumentation Balthasars zielt, besonders in »Cordula oder der Ernstfall«, wo mit dem Ernstfall die Möglichkeit des Martyriums713 angesprochen ist, auf die Dramatik der Gegenwart in ihrem Entscheidungscharakter. Es darf nämlich aus Balthasars Sicht keinen „Aufschub der Glaubensentscheidung [geben], bis die Ergebnisse der wissenschaftlichen Exegese sich hinreichend verdeutlicht haben“714.

707

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76) der christlichen Lehre, die er, wie er in TD II,1 darlegt, an der regula fidei festmacht, die zwischen dem „objektiven Bestand des Credo“ und dem „subjektiven Glaubensakt des Einzelnen“ (TD II,1 89) vermittelt. In »Cordula oder der Ernstfall« akzentuierte er zudem bereits seine auf diesen subjektiven Glaubensakt bezogene Forderung, es dürfe keinen „Aufschub der Glaubensentscheidung“ (Balthasar, Cordula, 80; kursiv im Original) geben, wie er aus einer entmythologisierenden Relativierung der Glaubensinhalte resultiere. Vgl. TD II,1 85. In GF 74 ff. verweist Balthasar auf Versuche, „Erlösungswege“ (GF 75) aus den alle Menschen betreffenden Aporien des endlichen Daseins zu finden, wie er sie unter GF 68 f. u. ö. schildert. Balthasar, Cordula, 75 (kursiv im Original). Vgl. Balthasar, Cordula, 75. TD III 77. Vgl. Balthasar, Cordula, 74. Vgl. Balthasar, Cordula, 74 ff. Vgl. Balthasar, Cordula, 14 ff. Durch seine Theorie vom anonymen Christen, so wirft Balthasar dort auch K. Rahner vor, würde dieser vom „Kriterium des Martyriums“ (ebd. 85) dispensieren. Balthasar, Cordula, 80 (kursiv im Original).

4.5 Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

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Jedoch gebe es einen ebensolchen Aufschub von Heute auf ein unbestimmtes Morgen als Folge einer entmythologisierten Sicht auf das Christusgeschehen, die die soeben illustrierte anthropologische Konstante von Sinnes- und Sinnempfinden aus Balthasars Sicht nicht ernst genug nimmt. Nur wenn demgegenüber klar ist, dass Christus tatsächlich aus Liebe zum Menschen gestorben ist, dies also historisches Geschehen ist, nicht nur heutigen Menschen unzugängliche, mythologische Umkleidung einer Glaubensaussage, wird ein Mensch bereit sein, hier und heute die Entscheidung zu treffen, sein Leben für seinen Glauben nicht nur einzusetzen, sondern sogar – bis hin zum Martyrium – hinzugeben.715 Der von Balthasar nicht geleugnete historische Abstand zwischen den Lebenswelten der Antike und der Gegenwart scheint ihm als „sekundäres Problem“716 der Theodramatik überbrückbar, ohne dass deswegen die Notwendigkeit der Transposition von etwa biblischen Aussagen in die Lebensgegenwart ihrer heutigen Rezipienten zu leugnen wäre, denn wie Balthasar schon in »Schleifung der Bastionen« feststellte, gilt generell: „Eine Wahrheit, die nur noch tradiert wird, ohne von Grund auf neu gedacht zu werden, hat ihre Lebenskraft eingebüßt.“717 Er entwirft darum Kriterien für eine gelingende Transposition von Glaubensüberlieferungen, nämlich dass 1. der Heilige Geist „theologisches Apriori“718 bleiben müsse, und dass 2. Glaube vonnöten sei, der an der Glaubensüberlieferung Primäres von Sekundärem zu unterscheiden vermöge,719 da 3. keine Transposition durch einen „Substanz- oder Gewichtsverlust der Offenbarung“720 erkauft werden dürfe. Zu 2.: Balthasar geht davon aus, es gebe einen alle Menschen, gleich welcher Weltanschauung, verbindenden „gesamtmenschlichen Horizont“, der insbesondere die „illusionäre Hoffnung“ betrifft, „Dinge, die zum endgültigen menschlichen Horizont gehören, wie Tod, Leid, Unrecht, aus diesem entfernen oder sie wenigstens als scheinhaft durchschauen und übersteigen zu können.“721 Er versteht damit die Erfahrung von Leid ebenso wie die Hoffnung, es zu übersteigen, als anthropologische Konstanten.722 Das Scheitern der „illusionäre[n] Hoffnung“723, das Leid zu überwinden, verweist bleibend auf den gemeinsamen Horizont der Menschen aller 715 Vgl. Balthasar, Cordula, 81.122. 716 TD II,1 85. 717 Balthasar, Schleifung, 22. So geht es bei der Betrachtung der Sendung der Propheten nicht ums „kopieren“, sondern darum, zu „lernen“ „in gelassener Demut“ (Balthasar in v. Speyr, Sendung, 8 f.). Vgl. TD II,1 86. 718 TD II,1 86. 719 Vgl. TD II,1 86. 720 TD II,1 87. 721 TD II,1 85. 722 Eben dies deutet Balthasar dahingehend, dass Transpositionen „historisch begrenzter Horizonte“ der christlichen Glaubensüberlieferung angesichts dieses gesamtmenschlichen Horizonts ein „sekundäres Problem“ (TD II,1 85) für die Theodramatik darstellen. 723 TD II,1 85.

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II. Hans Urs von Balthasar

Zeiten. „Mensch und Menschheit leben notwendig im Flußbett der immer gleichen Aporien“.724 Obwohl Menschen und Geschichte insofern aufeinander angelegt sind, als dass Menschen geschichtsförmig sind und die Geschichte menschenförmig ist,725 erscheint den Menschen ihre Zeit angesichts ihrer Sterblichkeit doch wie ein „Ablauf, der zu nichts hinläuft“726. Welchen Widerstand sie dem Tod auch entgegensetzen oder welch spekulative Anstrengung sie unternehmen, ihm den Stachel zu ziehen, rein anthropologisch sind Leid und Tod nicht zu bewältigen.727 Des Menschen „Lage in der Welt ist dramatisch; wollte er es sich selber verbergen, so würde die Bühne es ihm offenbaren.“728 Damit stellt seine dramatische Lage den Menschen vor die unter II.4.1.1 bereits angesprochene Sinnfrage. Axiomatisch setzt Balthasar hierbei voraus, Sinn müsse unendlich sein, um wirklich Sinn bleiben zu können.729 Doch der Tod verunmöglicht Unendlichkeit und damit auch das Bleiben eines Sinnes. Zwar steigert das Bewusstsein der Sterblichkeit zugleich das Bewusstsein für den Wert des Augenblicks.730 Doch vor allem bringt der Tod Leid ins Leben. Wegen des Todes bleiben in diesem Leben darum alle Sinnfragen bestenfalls „vorläufig lösbar“731. „Der Tod ist der allem Denken möglicher Ganzheit scheinbar unüberwindlich über den Weg geworfene Felsblock.“732 Menschen entwerfen – damals wie heute – vor allem zwei Wege, das Leid zu bewältigen, die meist vermischt auftreten.733 Da ist der Weg des Scheins, der die materielle Welt, das Leid und das Ich der Menschen als Schein deutet, so etwa im indischen Kulturraum und bei manchen griechischen Philosophen.734 Dieser Weg gibt das Wesen der Menschen preis, da er mit dem Schmerz ihre Ganzheitlichkeit preisgibt.735 Als zweiten Weg benennt Balthasar den tragischen Weg des heroischen Kampfes, bei dem der Mensch im Kampf zum Sinn des Daseins durchbrechen möchte, etwa bei Nietzsche, in griechischen Tragödien, in der germanischen Sagenwelt und in dualistischen Welt- und Gotteskonzepten.736 Der Weg 724 TG 122. 725 Vgl. GF 245. 726 TG 32. Allein auf sich selbst zurück geworfen erfährt der Mensch sein Dasein als „Nichtganz-sein-Können“, während im „radikalen Bösen“ sogar die willentliche Weigerung liegt, auf eine Ganzheit überhaupt zuzuschreiten, vgl. GF 89. 727 TG 120. 728 TD I 300. 729 Vgl. TG 94. 730 Vgl. SC 125. Diesen quasi unendlichen Wert des Augenblicks schreibt Balthasar der Gegenwart der einzelnen Person zu, nicht der „Gattung, die als solche nicht «stirbt»“ (ebd. 125). 731 TD II,1 75 (kursiv im Original); vgl. TD III 69. 732 GF 68. 733 Vgl. GF 80. 734 Vgl. GF 74–77. 735 „[V]ielleicht ist der Verzicht auf den Schmerz, auf die mögliche Ganzheit des Menschen hin angesehen, verhängnisvoller als der Verzicht auf die Lust.“ (GF 76.) 736 Vgl. GF 77–79. In der Tradition dieses Weges verortet Balthasar auch Luther, vgl. GF 83.

4.5 Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

109

des Scheins möchte aus der Welt wegführen und verliert darin seinen historischen Grund, wohingegen der Weg der Tragik der Welt ungleich stärker verhaftet ist. Oft genug verbinden sich beide Wege: „Auch der mystische Aufstieg zum Einen fordert in seiner Weise den Schmerz des verzichtenden Herzens, auch der heroische Kampf meint eine letzte Versöhntheit mit der Existenz.“737 Jedoch bleiben die Menschen „Wesen am Rande des Nichts“738. Zwar können sie Sinnfragmente ertasten, nicht aber den Sinn des Daseins zur Gänze erfassen.739 Im Mensch klafft darum wesenhaft eine unschließbare Lücke. Sie „umrandet negativ den Ort des Gottesverhältnisses.“740 Der Mensch verzweifelt angesichts dieser Lücke an seiner zusammengesetzten Natur aus unendlicher Sehnsucht und Endlichkeit, da er nicht zu klären vermag, wie er vollendet werden kann. Erhält sich ein Mensch trotz dieses Schmerzes seine Sehnsucht nach Sinn und stellt sich somit seiner »dramatischen« Lage, vermag er aufzubrechen und seiner Sehnsucht zu folgen. Andernfalls erstarrt er und sucht sich sein kleines Wohlbehagen. So tun es aus Balthasars Sicht die meisten: Der „durchschnittliche Mensch resigniert früh mit einem Kompromiß zwischen den nie ganz zu integrierenden Hälften des Daseins: Freundschaft und Studium, Familie und Büro, privater und politischer Existenz.“741 Es scheint, als habe der Mensch angesichts der menschheitlichen Konstante des Leides und der Sterblichkeit keine andere Wahl, als auf einer sehr bescheidenen Ebene nach irgendeiner Art von Vollendbarkeit zu suchen Auch die Idee eines unendlichen, allmächtigen Gottes hilft dem Menschen für sich genommen dabei nicht. Sie führt ihm lediglich seine Unzulänglichkeit und Sterblichkeit umso schmerzlicher vor Augen.742 737 GF 80. Aspekte beider Wege finden sich auch im Christlichen: in Gottesschau und Erkenntnisgewinn, Jesu Leiden und der Kreuzesnachfolge der Christen. Doch geht das Christentum in diesen zwei Wegen nicht auf, sondern darüber hinaus. Es trägt damit laut Balthasar den Anspruch in sich, als „reine Gnadentat Gottes“ allen anderen Religionen, Philosophien und Erlösungswegen „überlegen“ (ebd. 85) zu sein, wenngleich diese ebenfalls ein ernstes Ausstrecken nach Gott darstellen und sie, wenn auch verhüllt, Momente der Wahrheit in sich bergen, vgl. ebd. 74. 738 TD II,2 209. 739 Vgl. TD III 73. 740 GF 66. Diese negative Umrandung des Ortes des Gottesverhältnisses entspricht dem FrageSein des Menschen, wie es unter II.4.1.1 skizziert wurde. 741 GF 66. Umso beglückender ist es für den Menschen, wenn in der Begegnung mit Gott die Sphäre ganzheitlicher Existenz aufblitzt. Diese Erfahrung kann allerdings weder gesichert noch gespeichert werden und sie ist überaus anfechtbar. Zudem sind alle Teilsinne an Liebe und Wissen vom Zweifelnden oder Verzweifelten widerlegbar – sowie vom scheinbar offensichtlichen „Un-Sinn des Ganzen“ (ebd. 67). 742 Vgl. GF 68.

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II. Hans Urs von Balthasar

4.5.2

Mensch und Menschheit. Dramatische Existenz in dogmatischer Terminologie

Die Aporien der Menschheit, wie sie unter II.4.5.1 dargestellt wurden, können weder bewältigt werden, indem sie zum Schein erklärt, noch indem sie heroisch bekämpft werden, so ist Balthasar überzeugt.743 Auch die Konzentration auf das kleine, private Wohlbehagen stellt keine Lösung dar, sondern vielmehr eine Verdrängung der dramatischen Situation des Menschen. Aus Balthasar Sicht ergibt sich die Lösung nur christlich. Dabei entlehnt der christliche Weg dem Weg des Scheins „das Schema der Trennung von Gott, dem [Weg des heroischen Scheiterns; Anm. d. Vf.in] den dramatischen Ernst, der im Schmerz die Aussöhnung der Welt sieht.“744 Der christliche Weg, Leid zu bewältigen, unterscheidet sich vom Weg des Scheins und vom tragischen, heroischen Weg jedoch darin, dass er in Christus selbst geschichtliches Geschehen ist, „sich innerhalb der Geschichte abspielt“745, diese also nicht zum Schein verklärt, und doch nicht tragisch in der Vergänglichkeit des Zeitenlaufs gefangen bleibt. Der christliche Weg verdrängt Leid und Tod auch nicht, wie sich im Wirken und im Geschick Christi zeigt, vor allem in Passion und Ostern. In Christus wird nicht nur ein Zeichen auf die Menschheit hin gesetzt, sondern in Jesus von Nazareth wird ein konkreter Mensch in seiner fragmentarischen Zerbrechlichkeit zu der Sprache, in der das erlösende Heilsereignis sich ausdrückt. Jeglicher Einsatz zur Befreiung von Leid, Nöten und Zwängen, wie er christlich in der Nachfolge Jesu gefordert ist,746 darf darum den „Horizont der letzten Befreiung durch Christus und zu ihm hin“747 nicht aus den Augen verlieren. Er würde sonst den Wurzelgrund seiner Hoffnung verlieren.748 Um den mit dieser Hoffnung verbundenen Horizont zu illustrieren, verwendet Balthasar verschiedene geschichtstheologische Schemata.

743 Vgl. GF 80–82. 744 Guerriero, Balthasar, 120. Der Weg des Scheins und der tragische Weg verbleiben für Balthasar im Vorläufigen. Mit dem Siegeszug der Philosophie verliert sich die Überzeugungskraft mythischer Bilder und „dahinter tritt die offene Aporie des geschichtlichen, widersprüchlichen Menschen wieder nackt hervor. In diese Situation ist der dritte biblische und christliche Weg eingestiftet.“ (GF 82.) 745 GF 84. 746 Dabei wird von Christen nicht verlangt zu siegen, sondern standzuhalten, vgl. TD III 450 f. Das heißt, sie sollen sich selbst dann für das Gute einsetzen, wenn sie es nicht (vollständig) realisieren können. 747 TD III 454. Das menschlich Fassbare als alleiniger Maßstab der Theologie wäre nach Balthasar eine anthropologische Reduktion, vgl. Balthasar, Liebe, 19 ff. 748 „Das Christentum hat dem Menschen einen unverhofften Weg zu seiner sonst immer gescheiterten Vollendung gezeigt, einen Weg aber, der den Glauben an die Auferstehung Christi voraussetzt und darin die Vernunft ärgert“ (GF 100).

4.5 Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

111

Balthasar differenziert existenziell bereits in TG zwischen wirklicher Zeit, also Zeit der Gottesbegegnung, und unwirklicher, verlorener Zeit, in der Gott nicht auffindbar ist, da der Mensch vor ihm flieht.749 Balthasar unterscheidet dort, – und damit faktisch die soeben aufgeführte existenzielle Differenzierung ausführend –, verschiedene Modi der Zeitlichkeit, die transzendenten Ordnungsschemata der christlichen Tradition entsprechen: – die paradiesische Zeit, in der Gott dem Menschen erschlossen war, – die verlorene Zeit der Sünde, als Gott die Erschaffung der Welt bereut, – die Zeit des Erlösers, in der Gott sich neu Zeit nimmt für die Schöpfung.750 Von Christus aus sind die Zeit des Alten und des Neuen Bundes zu unterscheiden.751 Balthasar unterscheidet zudem in GF – Schöpfungszeit, – Sündenzeit, – Offenbarungszeit, – Kirchenzeit.752 Wird Schöpfungszeit dem Vater zugeordnet, so ist Offenbarungszeit zu beschreiben als „die Ära des werdenden Wortes Gottes“,753 die in besonderer Weise dem Sohn zugehört. Mit Christus ist die Offenbarungszeit abgeschlossen.754 Kirchenzeit ist dann die Zeit des Heiligen Geistes, der die Zeit, die er prägt, zugleich transzendiert, denn: „Der Heilige Geist in der Kirche ist zwar ein historischer, aber kein innergeschichtlicher Faktor.“755 Ein System entwickelt Balthasar aus seinen unterschiedlichen Einteilungen nicht. So kommen „die eben aufgezählten vier Aspekte dieser theologischen Zeit unter sich nicht univok, sondern nur analog“756 überein. Und so ist selbstverständlich auch die von der alttestamentlichen Zeit zu unterscheidende neutestamentliche Zeit Schöpfungszeit757 und alle Jahrhunderte der Weltgeschichte sind dadurch verbunden, dass sich in ihnen das eine „totale Drama, das seine Mitte in Jesus Christus hat, aber in ihm die Welt von Anfang bis Ende ins Spiel einbezieht“758, abspielt.

749 750 751 752 753 754 755 756 757 758

Vgl. TG 32. Vgl. TG 32. Vgl. TG 32; GF 160. Vgl. GF 160. GF 144. Vgl. Guerrieo, Balthasar, 122. GF 143. GF 160. Vgl. GF 160. TD II,1 136.

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II. Hans Urs von Balthasar

Die verschiedenen Schemata, die Balthasar bereits vor TD in TG und GF entwickelt, lassen jedoch eine einordnende Bezugnahme auf die Akte des Theodramas zu, also Exposition, sich steigende Handlung, Peripetie, fallende Handlung und Lösung, wie sie unter II.2.2.3 dargelegt wurden. Die Theodramatik ist in ihnen bereits angelegt. Die paradiesische Zeit etwa entspräche der Exposition, die verlorene Zeit der Sünde der sich steigernden Handlung, die Zeit des Erlösers der Peripetie. Und wiederum entspräche die Schöpfungszeit der Exposition, die Sündenzeit der sich steigernden Handlung, die Offenbarungszeit der Peripetie, die Kirchenzeit der fallenden Handlung. Selbst das apokalyptische Endspiel (TD IV) realisiert sich, wie in TG bereits aufscheint, im Kampf gegen das „Babylon in uns“759 und der Unterfassung der einzelnen, menschlichen Existenz – bis in ihre Vergänglichkeit als tragischen Ausdruck der Kostbarkeit der Individualität760 – durch Christus. In ihrer Unterschiedlichkeit kongruieren alle transzendenten Ordnungsschemata in dem Motiv, dem Menschen die Verortung der von ihm erlebten Lebensgegenwart in einem größeren Ganzen zu ermöglichen, bei der auch seine Hoffnung auf die Überwindung von Leid und Tod nicht ortlos bleibt. Dies gelingt nur, wenn das Jetzt des Menschen nicht übersprungen und weder nach oben in ein ewiges Über-Sein aufgelöst noch nach vorne einer innerzeitlichen Zukunft untergeordnet wird. So äußert Balthasar kritisch über den Buddhismus, der seiner Ansicht nach dem Weg des Scheins zuzuordnen wäre, und den Marxismus, der dem heroischen Weg folge: „Die Extreme, Buddhismus und Marxismus, berühren sich […] in der Negation der Gegenwart, des einzig faßbar Seienden.“761 Im Theodrama hingegen kann der Mensch sein Heute verorten – und erkennt dabei zugleich, dass das Theodrama sich in seiner Existenz heute realisiert. Christlich wird das Jetzt damit so hoch geschätzt wie nirgends sonst. Faktisch stellt Balthasar also mit allen oben aufgeführten Schemata die menschheitlichen Konstanten von Leid und Tod geschichtstheologisch in den Kontext des Theodramas von Sünde und Versöhnung – seine ebenso entscheidende Gestalt aber gewinnt das Theodrama menschlich, also im Leben der konkreten Einzelperson je jetzt, nämlich als Ausdrucksform ihrer Hoffnung, ebenjene Aporien zu überwinden. Es gibt damit nicht zwei Theodramen, ein allumspannendes und ein existenziellindividuelles, sondern das allumspannende realisiert sich im existenziell-individuellen – also, indem sich das Ganze im Fragment realisiert. Exemplarisch ausgeführt sei dies an vier Akten, die als Status der Menschheit und der Einzelperson Gestalt annehmen:762 1. Akt: status naturae integrae 2. Akt: status naturae lapsae 759 760 761 762

TG 111. Die Vokabel »Babylon« enthält nicht zu überhörende apokalyptische Anklänge. Vgl. TD IV 294 ff. TD III 132. Vgl. TD II,1 306.

4.5 Gegenwart zwischen Aporie und Hoffnung

113

3. Akt: status naturae reparatae 4. Akt: status naturae glorificatae. Balthasar verortet dabei die gegenwärtige Menschheitsgeschichte im 3. Akt des status naturae raparatae.763 Im Leben der einzelnen Person jedoch können sich bereits heute alle vier Akte vergegenwärtigen.764 Sie ist also nicht an den Akt des Theodramas gebunden, das die Menschheit gerade durchläuft. Die obige Aufzählung darf darum in ihrem Bezug auf die Einzelperson nicht als zeitliche Abfolge missverstanden werden. So hält Balthasar für möglich, dass Heilige und Kinder Anteil am statui naturae integrae haben, und hebt hervor, dass die Lebensgegenwart einer Person proleptisch in spe, non re durch ihren Bezug auf den statum naturae glorificatae gekennzeichnet sein kann.765 Es ist also das Theodrama der einzelnen Person, das bei Balthasar immer wieder erneut zum Kreuzungspunkt von Zeit und Überzeit zu werden vermag.766 Zunächst einmal erscheint der Mensch sich eben darum als „Der Unfeststellbare“767. Theodramatisch aber wird er „von der undurchführbaren Aufgabe [erlöst], sich von seiner Gebrochenheit her als ungebrochenen zu entwerfen, ohne dabei einen Wesensaspekt seiner selbst fallenzulassen“, da der Mensch theodramatisch „von vornherein in den dramatischen Dialog mit Gott“ eingefügt ist und in diesem Dialog „seine endgültige Bestimmung“768 erfährt. Als Frage formuliert leuchtet dieser Gedanke bereits vor TD in »Cordula oder der Ernstfall« auf: „Sollte der Christ gar die unerhörte Chance haben, von seiner Endgestalt her seinem Leben Gestalt zu geben?“769 (Nicht über ein theodramatisches Konzept, sondern über die Idee der Antizipation wird Pannenberg ähnliche Gedanken formulieren.) In der konkreten Lebensgegenwart eines Menschen vermag sich nämlich über den Christusbezug dieses Menschen die Hoffnung auf eine Lösung der oben skizzierten Aporien der Menschheit auszudrücken und ein Leben von dieser Lösung her bereits heute möglich zu werden. Die Hoffnung auf diese Lösung gilt dabei zum einen der Einzelperson und zum anderen der Menschheit als Ganzer, – die Balthasar ausdrücklich nicht gegeneinander ausspielen möchte.770 Erneut leuchtete aber hier die besondere Dramatik der Lebensgegenwart der Einzelperson bei Balthasar auf, ebenso wie ihr besonderes Potenzial, schon heute von ihrer Vollendung her Gestalt zu gewinnen. 763 764 765 766 767 768 769 770

Vgl. TD II,1 306. Vgl. TD II,1 12. Vgl. TD II,1 306 f. Dies deutete sich oben schon darin an, dass das Endspiel sich im Kampf gegen das „Babylon in uns“ (TG 111) bereits heute realisiert. TD II,1 306. TD II,1 314. Balthasar, Cordula, 116 (kursiv im Original). Nur theodramatisch wird weder die Einzelperson in der Menschheit noch die Menschheit im Einzelnen aufgelöst. „[I]nnerweltlich-naturhaft“ (TD II,1 313) lässt sich diese Spannung nicht ausbalancieren.

114

4.6

II. Hans Urs von Balthasar

Nachchristliche Gegenwart

Balthasars Geschichtsdeutung ist, auch da, wo sie auf Aporien des menschlichen Daseins reflektiert (II.4.5), insgesamt optimistisch. Sie macht in der Existenz der Einzelperson ein geschichtsprägendes Potenzial zum Guten aus (II.4.4.) und geht von der Möglichkeit aus, dass sich bereits in der Lebensgegenwart eines Menschen seine zukünftige Vollendung inchoativ realisieren kann (II.4.5.2). Zugleich aber geht Balthasar von einer sich steigernden Krisis aus, die mit dem zeitenwendenden Auftreten Jesu Christi einsetzt; so breit ausgeführt in TD771 und so bereits angelegt im Büchlein »Der Christ und die Angst«, ebenso wie etwa in »Wort und Geschichte«772 sowie in »Implikationen des Wortes«773 in VC. In TD III, die den Geschichtsverlauf vor Christus774 und sein Auftreten schildert,775 entfaltet Balthasar dieses Motiv als handlungsbestimmendes Moment der Theodramatik: Jesu Wirken schafft eine derart endgültige Alternative, dass es „als historisches Ereignis die Weltgeschichte entzweischneidet“776, was personale und soziale Auswirkungen auf das Leben jedes einzelnen Menschen hat.777 Diese christologische Zeitenwende teilt, wie nun dazustellen ist, die Geschichte in eine vor- und eine nachchristliche Epoche, wobei Balthasar die Säkularisierung als ein nachchristliches Phänomen interpretiert, das Folge dieser Zeitenwende ist. Erst das Auftreten Christi ermöglicht nämlich die sich im Geschichtsverlauf steigernde Abwendung von Christus. Den unter II.4.5.2 aufgeführten transzendenten Ordnungsschemata ist, aufgrund ihrer Bedeutung für das Werk Balthasars als gesonderter Punkt, daher nun ebenjene Einteilung in ein vor- und ein nachchristliches Zeitalter zu ergänzen (II.4.6.1). Hier ist auch die ambivalente Haltung Balthasars seiner eigenen Epoche gegenüber darzulegen, vor deren zeitgenössischem Hintergrund und in Auseinandersetzung mit der er diese Unterscheidung entwickelt. In dieser Ambivalenz hervorgehoben sei das depersonalisierende Moment, das er als Kennzeichen nachchristlicher Gegenwart ausmacht. Darin drückt sich nach Balthasar der Versuch aus, die von ihm als positiv gewertete Offenheit der Gegenwartskultur seiner Zeit nicht produktiv werden zu lassen, sondern die dieser Offenheit zugleich aufgrund der Kontingenz des Daseins entspringende Angst in einer depersonalisierenden Fortschrittsgläu771 Vgl. TD III 67–186 »Pathetische Weltbühne«. 189–395 »Handeln im Pathos Gottes«. 399– 468 »Elemente einer christologischen Theologie der Geschichte«. Vgl. auch TD II,2 30–36 »Das Dramatische an der Inklusion in Christus«. 772 Vgl. VC 28–47. 773 Vgl. VC 48–72. 774 Vgl. TD III 189 ff. 775 Vgl. TD III 295 ff.399 ff. 776 TD III 399. „[Ü]ber das Faktum des Christusereignisses hinaus ist theologisch in der Weltgeschichte nichts Weiteres möglich und erwartbar als dessen Auslegung und Auswirkung, die beide fortan immer mehr zum Anlaß und Motiv innergeschichtlicher Dramatik werden.“ (TD IV 41.) 777 Vgl. TD II,1 147.

4.6 Nachchristliche Gegenwart

115

bigkeit aufzulösen. Dies Bestreben äußert sich etwa im Versuch, die Lebensgegenwart der einzelnen Person zugunsten eines technischen Fortschritts in der Zukunft zu überspringen. Dadurch flieht der Mensch aus seiner Zeit und entwertet damit zugleich sein Lebensjetzt. So entpuppt sich gerade der Versuch, in der Zeit aufzugehen, indem vermeintlicher, innerzeitlicher Fortschritt absolut gesetzt wird und den Ewigkeitsgedanken ersetzt, als Flucht aus der Zeit und damit zugleich als von Christus her zu überwindender Versuch, die Lebensgegenwart des Menschen zu überspringen (II.4.6.2). 4.6.1

Christologische Zeitenwende und Säkularisierung

Balthasar interpretiert das Auftreten Jesu als die entscheidende historische Zäsur, eine „transzendente […] Komponente“, die die „immanente“778 Komponente berührt, wie diese sich auch entwickelt, und die geschichtstheologisch zu deuten ist und Juden- und Heidentum, Heils- und Weltgeschichte betrifft.779 Er entwirft hierbei zunächst das Bild einer vorchristlichen „Geschichte auf Christus hin“780, in die er das Auftreten Christi einbettet.781 Balthasar geht davon aus, dass das Auftreten Jesu nicht zufällig zu der Zeit geschah, als der Mensch in einem jahrhundertelangen Weg begann, seine Umwelt zu formen und sich immer weniger als Teil der Natur, sondern als ihr Gegenüber zu verstehen. Wo Gott dabei im Verlaufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung in eine „Hinterwelt“782 entschwand, trat Jesus in die Geschichte ein.783 Erst kurz 778 VC 46. Die Inkarnation des Wortes in die Weltgeschichte bedeutet eine Zäsur, die Welt- und Heilsgeschehen betrifft, und die wesentlicher nicht sein könnte: „[D]ieser Kairos, in dem Christus gekommen ist, […] ist auch geschichtstheologisch das Unüberholbare.“ (Ebd.) 779 VC 44–47. 780 TD II,2 33. 781 Die Zäsur des Auftretens Christi beeinflusst welt- und kulturgeschichtliche Entwicklungen, ist aber auch selbst von diesen betroffen, denn das Heilsgeschehen um Christus vollzieht sich nicht unabhängig von historischen Zusammenhängen. Das bedeutet zugleich, dass nicht allein die synchrone Ebene der Gottesbegegnung, sondern auch ihre diachrone Geschichte für den Menschen bedeutsam ist, vgl. TG 99. Das Verhältnis von Welt- und Heilsgeschehen ist dabei nicht vollständig aufhellbar. Es lässt sich lediglich feststellen, dass beide ineinander verflochten sind, ohne ineinander aufzugehen, vgl. TD II,2 28 f. Kim geht davon aus, dass bei Balthasar eine Unterscheidung von Heils- und Weltgeschichte unvermeidlich sei, da er die vorchristliche, heidnische Geschichte als Vorhalle auf Christus hin begreife, woraus ein qualitativer Unterschied der »Geschichten« resultiere. Das bedeute eine fundamentale Unterscheidung zu Löwith und Hegel, vgl. Kim, Denkform, 62 Anm. 54. 782 TD III 409. Er knüpft dabei an Rahner und Hegel an: „Beide sehen, daß das Christentum nicht einseitig für die Säkularisation und die Technisierung der Natur verantwortlich gemacht werden kann, aber damit dennoch im Zusammenhang steht.“ (Ebd.) 783 Balthasar betrachtet das Christentum erkennbar nicht als eine historisch kontingente Religion neben anderen. In seiner Kritik an altorientalischen Religionen vergreift er sich dabei teils im Ton, vgl. VC 47. An Balthasars Argumentation sind an dieser Stelle auch aus ethischer Perspektive kritische Fragen zu stellen. So meint er, die Idee der Einen Welt sei im Zeitalter

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II. Hans Urs von Balthasar

vor diesem Eintreten in die Geschichte entstand Geschichtsschreibung im engeren Sinn, die über eine mythologisch-magisch verklärte Apperzeption von Naturabläufen hinausging. Christus erschien damit kurz nach der Zeit, die den Durchbruch vom Mythos zum Logos markierte, der zwar einen Verlust von Bildern, jedoch einen Gewinn an Sprache bedeutete.784 Für die Geschichte vor Christus heißt das: In den zwei vorchristlichen Jahrtausenden ereignete sich in „Stufen“785 bzw. „Stadien des Menschheitsbewußtseins“786, die sich „nicht in Akte […] unterteilen“787 lassen, der „Durchbruch des Geistes durch das Leben, die Ausgestaltung der Hochkultur in ihrer sozialen Struktur, ihrem politisch-religiös-ästhetischen Mythos, von dieser ermöglichenden Voraussetzung aus endlich die Geburt des Begriffes und damit der Freiheit des Denkens, der Universalität der geistigen Verständigung im griechischen Raum.“788 Die Zeit vor Christus interpretiert Balthasar damit zugleich als eine „langsame, vorbereitende «Eingewöhnung» des Logos, unter den Menschen zu wohnen“789. Speziell das Geschick Israels deutet Balthasar als paradigmatischen Vorlauf der Geschichte auf Gottes Handeln in Christus.790 Die Antike mag zwar eine Art „Erlösungsbedürftigkeit“791 verspürt haben, diese blieb aber im Vergleich zur Erlösungserwartung Israels verschwommen. Die Hellenisierung und das kosmopolitische Klima der Antike ebneten jedoch Wege der weltweiten Verkündigung des Evangeliums und leisteten damit ebenfalls einen Beitrag zum Entstehen der

784

785 786

787 788 789 790 791

der Kolonisation aus der Verbindung griechischen Universalitätsdenkens mit dem Anspruch des Wortes entsprungen, vgl. VC 46. Dass die Intoleranz und Gewalt der Kolonialgeschichte der Gewaltlosigkeit Christi diametral entgegengesetzt ist, beleuchtet er in diesem Zusammenhang nicht, was seine Betrachtungen an dieser Stelle defizitär wirken lässt. Jaspers‘ Theorie einer Achsenzeit vom 8.–2. Jh. v.Chr. deutet Balthasar in diesem Zusammenhang als Öffnung der Welt auf Christus hin, vgl. TG 95; VC 69. Er hebt dabei Israels Rolle hervor, denn erst Israel beginnt, vertikale in horizontale Geschichte zu wandeln. Wo bisher nur Götter am Werk gesehen wurden, da wird nun Geschichte auch als vollgültiges irdisches Geschehen verstanden und „Gott wird in der Geschichte erwartet“ (TG 95). VC 47. VC 44. Der Gedanke an Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts« liegt nah und Balthasar benennt ihn auch, vgl. ebd. Für Balthasar ist die göttliche Offenbarung jedoch keine Abkürzung zu einer der Vernunft letztlich ohnehin zugänglichen Erkenntnis über Gott, sondern deren notwendige Voraussetzung, vgl. GF 144. TD III 189. VC 69. TD II,2 33 f. Vgl. TD III 189. TD III 209. Während die Geschichte Israels im Licht auf Christus zu lief, lief die Geschichte der Heiden im Verborgenen ebenfalls auf Jesus zu. Unter den Völkern leuchtete ausschnittartig auf, was durch die Predigt des Evangeliums in Ganzheit erschien, vgl. GF 185.

4.6 Nachchristliche Gegenwart

117

Kirche.792 Der „Universalismus Christi“793, dessen Wirken die ganze Geschichte und jeden Einzelnen betrifft, traf auf die „in Hellas erstmalig aufgetauchte[…] Welteinheitsidee“794. Das Auftreten Christi erscheint Balthasar dann wie das Zentrum der Geschichte. Mit Christus ist nach Balthasar die Fülle der Erkenntnis erreicht. Die ersten tausend Jahre nach Christus widmen sich darum der Kontemplation und dem staunenden Erforschen der Trinität.795 Die naive Synthese aus Welt- und Heilsgeschichte der ersten Jahrhunderte nach Christus wurde jedoch zu Recht in der Neuzeit gesprengt. Mit ihren naturwissenschaftlichen Entdeckungen tat sich ein solch gewaltiger Zeitraum menschlicher Urgeschichte auf, dass das Geschehen um Christus aus Balthasars Sicht erst recht nicht relativiert, sondern als Abschluss einer komplexen Entwicklung lesbar wird, die ausgesprochen positive Folgen für die Menschheitsgeschichte hat, denn die „Welt gewöhnt sich an die Gegenwart des Lichtes und übernimmt bewußt und unbewußt von der christlichen Lehre vieles, was ethisch, kulturell und religiös für die Menschheit förderlich ist. Die Proklamation der Menschenrechte ist unbedingt christlicher Inspiration.“796 Die Antworten des Christentums werden dem sich absolut setzenden Menschen jedoch auch mehr und mehr zum Ärgernis. Die Anknüpfung an das Wort geschieht nicht nur positiv, sondern es „gibt eine fortschreitende Beraubung und Entblößung der Kirche durch die weltliche Humanität, die darauf hinzielt, der Kirche alles für die Menschheit Brauchbare abzunehmen und ihr nur das Unverwendbare, nämlich ihren unverdaulichen Absolutheitsanspruch zu belassen.“797 Wo Balthasar die Zeit nach Christus, so auch seine eigene Lebensgegenwart, immer wieder als „nachchristliches“798 Zeitalter bezeichnet, weist dieser Begriff bei ihm darum häufig die Konnotation des »Gegenchristlichen« auf. Erst nach Christus ist Atheismus möglich, denn die antichristlichen Mächte sind nach seinem Sieg

792 Vgl. VC 45 f.95 f.; ein Beitrag, der laut Balthasar auch in der Freiheit bestand, Gott nichts bringen zu können und zu müssen. 793 VC 45. 794 VC 46. 795 Vgl. TG 101. 796 VC 40. 797 VC 40 f. 798 Vgl. TD II,2 33–35.365.386.420; TD III 11.110 ff.115 f.126.132.402 f.409; TD IV 16 f.22 u. ö.

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II. Hans Urs von Balthasar

„erst eigentlich wach und kampfbereit geworden“799, weswegen nach ihm „die am ausgesprochensten dramatische Periode der Weltgeschichte“800 beginnt. Jetzt erst kann der Mensch sich im eigentlichen Sinne gegen den Sinn seines Daseins entscheiden.801 Der Widerstand gegen Christus steigert sich hierbei und bleibt doch zugleich ein Resultat seines Wirkens, weswegen er sich auch in der Ablehnung Christi als abhängig von Christus erweist. Die Alte Kirche konnte sich noch durch das Anknüpfen an die Antike auf eine „natürliche Frommheit“802 des Menschen beziehen, doch von der Renaissance an wurde dieses Unterfangen mühevoller. Spätestens mit der Aufklärung ist dieser Versuch endgültig fraglich geworden. Balthasar hält diese Entwicklungen für unumkehrbar: „Dieser Gang in die Säkularität ist irreversibel, auch größte Atomkatastrophen würden in keine religiöse Naivität zurückführen.“803 Nicht nur die abendländische Geistesgeschichte und die schließlich mit ihr einhergehende Technologisierung des Daseins, sondern auch die „Freisetzung des Menschen aus dem von der Bibel stammenden Bewußtsein des Er-löstseins [sic] und der Personalisierung“804 haben zu dieser Entwicklung beigetragen. Denn die Freiheit, die Christus brachte, bedeutet auch die Möglichkeit, die eigene Person ohne oder gegen Christus bestimmen zu wollen. Da aus Balthasars Perspektive das Erfüllen einer Sendung in der Nachfolge Jesu den eigentlichen Schritt von der Rolle zur Person bedeutet (II.4.4), muss der Versuch, die eigene Person ohne Christus bestimmen zu wollen, jedoch letztlich scheitern. Wurden Wert und Bedeutung der Einzelperson erst an Christus in ihrem vollem Gewicht erkennbar, und sind sie 799 800 801 802

TD II,2 34. TD II,2 34. Vgl. zur Selbstverortung Balthasars in eben dieser nachchristlichen Epoche II.2.2.3. TD III 61. Balthasar nennt die Spätantike im Gegensatz zur Aufklärung, in der die Aporien menschlichen Daseins in seiner Unvollendbarkeit verstärkt aufbrachen, „adventisch-offen […]“ (GF 104). Natürliche Gotteserkenntnis hält Balthasar weiterhin für möglich, er betont aber die „tiefe Latenz“ (TD III 61), in der sich Gott verbirgt, weswegen die Christusoffenbarung unüberspringbar bedeutsam bleibt. 803 TD III 61. Säkularisierung korreliert dem Anspruch Jesu, der eine Weg zu Gott zu sein, in der Form des Widerspruchs diesem Anspruch gegenüber, vgl. TD III 412. Die Welt als „das Andere Gottes“ (TD III 414) zu verstehen, ist hingegen eine sinnvolle Form der Säkularisierung, die die Gottesbeziehung sogar stärkt. Unumkehrbar ist für Balthasar in diesem Zusammenhang auch die Trennung von Staat und Religion, vgl. TD III 141 u. ö. Balthasar gewinnt der Säkularisierung denn auch positive Seiten ab. Sie befreite die Weltgeschichte von der naiven Gleichsetzung von Weltgeschichte mit Heilsgeschichte, die eine Übergriffigkeit seitens der Theologie darstellte. Da die Naherwartung der ersten Christen sich nämlich nicht bestätigte und das mit Christus angebrochene letzte Zeitalter sich dehnte, wurde es zum Anlass mannigfacher geschichtstheologischer Spekulationen. Eben damit stellte sich die berechtigte Frage, ob die Weltgeschichte mehr ist als nur der Raum für das Christusgeschehen und ob dem Werden der Welt nicht doch ein eigener Sinnbereich zufällt, wie er ihm seit der Neuzeit denn auch zugesprochen wird, vgl. GF 136 ff. Zum Erst- und Eigensinn des Geschöpflichen vgl. Balthasar, Barth, 254. 804 TD III 61.

4.6 Nachchristliche Gegenwart

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nicht nur durch ihn sichtbar geworden, sondern auch nicht von ihm ablösbar, dann gehen sie ohne Gottesbezug verloren oder wandeln sich in Totalitarismen, in denen der Einzelne untergeht. „Das desiderium visionis ist innerweltlich unstillbar, deshalb entstehen aus ihm, wenn es seine Ruhe nicht in Gott sucht, alle Formen des Fanatismus, des Anarchismus und des jede Ordnung zerstörenden Terrorismus.“805 Der Mensch ist also nachchristlich vor die Entscheidung für oder gegen Christus gestellt und damit die Entscheidung mit den weitreichendsten Konsequenzen für die Ganzheit seines Lebens und der Geschichte. Aufgrund der sich steigernden Abwehr gegen Christus ist die Entscheidung für Christus heute schwieriger zu fällen ist als in vergangenen Gegenwarten. Das Heute der Gegenwart jetzt steht also in einem schwierigeren Verhältnis zu Christus als das Heute vergangener Zeiten. Wie Balthasar sein gegenwärtiges Heute dahingehend näher charakterisiert, ist nun darzulegen. 4.6.2

Herausforderungen des Heute. Offenheit, Angst und Fortschritt

Balthasar bestimmt die Epoche, in der er lebte, und das heißt, das von Umbrüchen und Kriegen gebeutelte und zugleich durch einen so noch nie dagewesenen technischen Fortschritt gekennzeichnete 20. Jahrhundert, als konstruktiv offen, als angsterfüllt und fortschrittsgläubig, wobei das konkrete Verhältnis dieser drei Bestimmungen im Folgenden aufzuschlüsseln ist. Da dieser Befund in einem engen inneren Zusammenhang mit Balthasars Postulat einer nachchristlichen Krisis steht, fällt er überwiegend kritisch aus, prononciert jedoch auch das Potenzial der (Post-) Moderne. Dieses Potenzial liegt zum einen, auch wenn dies zunächst überraschen mag, in der Erschütterung der Kirche. Angesichts des schwindenden Einflusses der Kirche im westlichen Kulturkreis fragt Balthasar: „[W]enn die Kirche angeblich von der sich verselbständigenden Welt aus ihren Machtpositionen gedrängt wurde, ist sie da nicht sich selber ursprünglicher zurückgegeben worden, diesmal ohne den spätantiken kulturellen Beigeschmack der Weltflucht, sondern in einer vielleicht noch nie so erfahrenen Nähe zum Evangelium?“806 805 TD III 132. Balthasar beschreibt nachchristliches Denken als durchaus noch umgetrieben von der Frage nach dem Absoluten, das es jedoch z. B. titanisch in vitalen Kräften oder im vermeintlich objektiven, idealistischen Weltengeist zu verorten suche, in dem der Einzelne untergehe, vgl. TD II,1 387 ff. 806 GF 151. Als Kirchenzeit ist Gegenwart für Balthasar stets umkämpft. Die Kirche ist Ziel der Angriffe von Mächten, die nicht stillgelegt werden wollen und deren Niederlage doch

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Gerade der Verlust der Macht gibt die Kirche folglich sich selbst zurück. Zum anderen, um nun zur Darstellung der drei oben genannten Kriterien seiner Zeit überzugehen, verortet Balthasar das Potenzial seiner Zeit in deren Offenheit. So ermöglicht die Offenheit der (Post-)Moderne das Nebeneinander einer Vielzahl von Weltanschauungen.807 Durch dieses „Offenlassen der Lösung“808 wird an alttestamentliche Zeiten angeknüpft, die ebenfalls durch konstruktive Offenheit gekennzeichnet waren. Der Mensch kann sich so als Frage erkennen, die nach II.4.1.1 auf Gott hin zielt. Balthasar hält es trotz dieser Offenheit in heutigen Zeiten für schwerer als früher an einen Gott zu glauben.809 An der Wurzel des gegenwärtigen, nachchristlichen Bewusstseins stehe nämlich eine »unchristliche« Angst vor dem Sein und der Abgründigkeit des Seins, vor dem Leben und dem Tod zugleich.810 Diese Angst begründet er ihrem Wesen nach in der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem, die den Menschen auf die Kontingenz seines Daseins verweist.811 Die

807 808 809 810 811

schon sicher ist. Der Mensch lässt das religiöse Fragen sein, das eigentlich sein Wesen ausmacht, oder wirft sich dem Wort kämpferisch entgegen, vgl. Rechenschaft, 17. Der Mensch erlebt sich als Mächten ausgesetzt, seien es, neutestamentlich gesprochen, Geistesmächte oder, materialistisch betrachtet, biologische und wirtschaftliche Zwänge. Den entscheidenden Kampf zwischen den Mächten lokalisiert Balthasar hierbei inmitten der Kirche, nicht um sie herum. „Dieser Kampf ist die letzte Wahrheit der Geschichte.“ (TG 110.) Nicht zwischen dem Reich Gottes und dem Reich der Welt, sondern mitten in der Kirche findet sich der „theologische Kern der Geschichte“, im Kampf gegen das „Babylon in uns“ (TG 111). Balthasar hält dabei für möglich, dass die Kirche „bis an den Rand der Vernichtung dezimiert“ (TD III 438) wird. Dennoch bliebe sie vollgültig Kirche und wäre gerade durch ihr Leid noch tiefer mit ihrem Erlöser verbunden. In der „Positivität des Anderen“ entdeckt Lochbrunner bei Balthasar eine hin Öffnung zur Postmoderne, vgl. Lochbrunner, Beziehungsgeschichten, 13. TG 124. Vgl. Balthasar, Angst, 46 f.; ders., Einsatz, 109. Vgl. Balthasar, Angst, 45 f.; ders., Katholisch, 12 f. Vgl. Balthasar, Angst, 74 f. „Was in der Transzendenz und der darin sich anzeigenden Kontingenz aufklafft, ist für den das Seiende erkennenden Geist Grund der Angst.“ (Ebd. 75) Mit dem Begriff der Transzendenz bezeichnet Balthasar an dieser Stelle, „daß der Geist, um ein Seiendes als solches erkennen zu können, jedes einzelne und endliche Seiende überstiegen haben und des Seins ansichtig geworden sein muss.“ (Ebd. 74.) Dieses Sein aber ist Grund des Seienden und seines das Seiende apperzipierenden Geistes, und wird damit nicht ansichtig wie Seiendes, sondern verweist »als Transzendenz« auf die Kontingenz des Seienden. Zur Verwandtschaft seiner Gedanken zum Wesen der Angst mit Kierkegaard merkt Balthasar an, dass Kierkegaard den „Punkt ihres Entspringens richtig erkannt, aber den Schwindel vor der innerhalb der Endlichkeit des Geistes sich öffnenden Leere inhaltlich nicht voll genug beschrieben hat. Es ist nicht die Leere des Nichts seiner eigenen innern Dimension, wovor der Geist sich ängstigt, sondern die Leere, die dort aufgähnt, wo die Nähe Gottes und seine Konkretheit sich in eine Ferne und Entfremdung von Gott“ (ebd. 85) als einem Anderen gewandelt hat. Nicht nur die Verbindung zu Kierkegaard, auch die Auseinandersetzung mit Heidegger ist mit Händen zu greifen, vgl. ebd. 8.

4.6 Nachchristliche Gegenwart

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individualitätstheoretische Wendung der „Realdistinktion des hl. Thomas“812 zwischen Wesen und Sein hin zur Erkenntnis der eigenen Kontingenz („ich bin, ich könnte aber auch nicht sein“813), die Balthasar „Quell alles religiösen und philosophischen Denkens“814 nennt, wirft demnach nicht nur Fragen (II.4.1) auf. Vielmehr macht sie angesichts der Ungewissheit ihrer Lösung auch Angst. Diese Angst raubt dem Menschen seine produktive Offenheit. Gegenüber angstvollen „Verkapselungen“815 in sich selbst aber äußert Balthasar sich abschätzig, besonders, wenn nicht nur Menschen, die sich nicht als Christen verstehen, sondern Christen von Angst betroffen sind. So fällt Balthasar das harte Urteil: Ist ein Christ „Neurotiker und Existentialist, dann fehlt es ihm an christlicher Wahrheit, dann ist sein Glaube krank oder schwach.“816 In Christus wird jedoch nach Balthasar nicht nur die absolute Angstlosigkeit geboten und verheißen, sondern Angst kann auch bis zum Äußersten verschärft werden. Christlich sind damit für Balthasar zwei Formen der Angst möglich, nämlich die Anfechtung oder die Anteilnahme am Leiden Christi. Es braucht dabei nicht viel für eine Anfechtung: „Das Wunder des christlichen Vertrauens auf Gott und auf die Erlösung am Kreuz ist etwas so Zartes, so sehr nur vom Himmel her verständlich und glaubhaft zu Machendes, daß es bloß eines Hauches bedarf, um diesen reinen Spiegel mit der Trübung der Angst sich beschlagen zu lassen.“817 Ist die Angst eines Christen jedoch nicht nur »neurotische Anfechtung«, sondern Anteilnahme am Leiden Christi, wird ihr zugleich ein besonderer Sinn verliehen, 812 813 814 815 816

Balthasar, Rechenschaft, 12 (kursiv im Original). Balthasar, Rechenschaft, 12. Balthasar, Rechenschaft, 12. Balthasar, Angst, 47. Balthasar, Angst, 46. Solche Christen haben sich anstecken lassen von der Gefährdung ihrer Zeit: Sie „messen die Kraft des Glaubens an ihrer eigenen Ohnmacht, sie projizieren die Welt Gottes in ihre Psychologie, anstatt sich von Gott messen zu lassen.“ (Ebd. 57.) Zur berechtigten Kritik an diesem Urteil Balthasars und seinem Buch „Der Christ und die Angst“, vgl. Splett, Angst, 315–331: Glaube beseitigt Angst nicht, sondern erlöst sie. 817 Balthasar, Angst, 52. Stets „geht der «Trost» des Glaubens der nachfolgenden «Trostlosigkeit» voraus, weil ja diese, als christliche Anfechtung, anders als im Entzug eines geistlichen Lichtes gar nicht erfahren werden könnte.“ (Balthasar, Angst, 61 f.; kursiv im Original.) Die Angst eines Christen, der bereits den Trost Gottes erfahren hat, kann Anteil an der Passion Christi und insofern Auftrag sein. Sie ist jedoch zunächst ununterscheidbar von der Angst der gegenwärtigen Welt, die einem Christen nie gleichgültig sein darf, wenn er sich auch nicht von ihr affizieren lassen soll. Gefragt ist also die Gabe der discretio, die zu verstehen hilft, inwieweit das Erleben von Angst Anteilnahme am Leiden Christi oder Zeichen eines schwachen Glaubens ist. Balthasar begegnete solchen Frage in der Begleitung v. Speyrs, deren Leidenszustände er als ein Mitleiden mit Christus interpretierte, das sich vor allem in ihren Karsamstagserfahrungen verdichtete, vgl. Guerriero, Balthasar, 151 f.

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II. Hans Urs von Balthasar

der in der Vertiefung der Beziehung zu Christus durch diese Angst besteht.818 Die nachchristliche Angst vor dem Sein und der Abgründigkeit des Seins kann also Christen und »Nicht-Christen« betreffen, wenn erstere aus Balthasars Sicht letztlich auch gegen die Macht der Angst gefeit sein sollten, und ist zugleich zu unterscheiden von der Angst eines Christen, die Anteilnahme am Leiden Christi und damit quasi ein schwer zu tragendes Charisma darstellt. Balthasars Überlegungen zur Angst der nachchristlichen Gegenwart geschehen im Zusammenhang mit seinem teils sehr kritischen Fortschrittsverständnis. Demnach versucht nämlich der Mensch, seine Angst vor dem Sein und dessen Abgründigkeit, vor dem Leben und vor dem Tod, durch vom Menschen selbst hervorgebrachten Fortschritt zu bewältigen; ein Versuch, der laut Balthasar misslingen muss. Balthasar unterscheidet in seinem Fortschrittsverständnis dabei einen Offenbarungsfortschritt, wie er sich in der Überlieferung Israels niedergeschlagen hat, einen Fortschritt der Dogmenentwicklung819 und einen Fortschritt der Profangeschichte.820 Nach Christus muss sich nun jede Entwicklung und damit auch jeder »Fortschritt« an seiner Fülle messen lassen.821 Zwar wirkt der Geist Gottes sowohl Offenbarungsfortschritt als auch Dogmenentwicklung. Einzig den Offenbarungsfortschritt Israels, den Balthasar als Entfaltung der Offenbarung auf Christus hin deutet, betrachtet er jedoch als echten Fortschritt, der uneingeschränkt positiv zu werten ist – analog dem Fortschritt des Glaubenden auf Christus zu, wie später noch zu explizieren sein wird (II.4.7.2). Je anders verhält es sich mit der kirchlichen Lehrentwicklung und dem profanen Fortschritt. So ist die kirchliche Lehrentwicklung keine Entwicklung im eigentlichen Sinne. Vielmehr kreist sie staunend um die ihr geschenkte Fülle Christi, fügt ihr aber nichts wesensmäßig Neues hinzu. Trotz ihrer Lehrentwicklung steht die Kirche heute Gott nicht wissender gegenüber als die Alte Kirche.822 Vor allem dem Fortschritt der Profangeschichte steht Balthasar 818 Balthasar, Angst, 48 ff. 819 Balthasar meint: Im Zuge des säkularen Evolutionsdenkens hielt der Gedanke der Dogmenentwicklung in die Theologie Einzug. Weder relativiert dabei die Anerkenntnis einer religiösen Entwicklung den christlichen Absolutheitsanspruch nach Balthasar, noch ist der Entwicklungsgedanke selber einfach säkularisierte Theologie. Beide Vorstellungen sind für Balthasar unzulässige Vereinfachungen, vgl. GF 192 f. 820 Der »natürliche« Fortschritt der Profangeschichte und der »übernatürliche« Fortschritt sind nicht identisch, sie konvergieren aber im ihnen inhärenten Moment der Verinnerlichung und Universalisierung. Trennen möchte Balthasar beide Sphären also auch hier nicht. Für ihn hieße natürlichen und übernatürlichen Fortschritt voneinander zu scheiden, einem theologischen und kosmologischen Dualismus das Wort zu reden. Wären sie voneinander geschieden, gäbe es zwei Universalitäten, doch Christus ist das höchste konkrete Universale. In ihm finden Natur und Übernatur zusammen, weswegen sie, ohne sie miteinander zu identifizieren, nicht wieder künstlich voneinander getrennt werden dürfen, vgl. VC 95 f. Anm. 1. 821 Vgl. TG 102. 822 Vgl. GF 145. Christi Eintreten in die Geschichte ist unüberbietbar und so ist auch das „gnoseologisch Neue ein ontologisch Altes“ (ebd. 149). Balthasar warnt davor, ein „Prinzip

4.6 Nachchristliche Gegenwart

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erkennbar skeptisch gegenüber, da er in ihm dort ein depersonalisierendes Moment ausmacht, wo er lediglich auf technisierende Verfügbarmachung abzielt. Er unterscheidet darum beim Fortschritt der Profangeschichte noch einmal technischen von kulturellem und damit qualitativ-geistigem Fortschritt. Technischer Fortschritt, wie das Aufkommen moderner Tonträger, ist dabei nicht zu vergleichen mit dem qualitativ-geistigen Fortschritt, den das Komponieren eines musikalischen Werkes darstellt.823 Letzterer erscheint Balthasar weitaus bedeutsamer.824 Auch kulturelle Fortschritte erweisen sich seiner Ansicht nach manches Mal jedoch als rein technische Fortschritte, die die menschliche Existenz ihrem Wesen nach nicht voranbringen, sondern sie vielleicht sogar gefährden. Da es im technischen Bereich ständig zu Neuerungen kommt, verwechselt der Mensch Fortschritt überdies kategorial: „Weil sich technisch etwas bewegt, und zwar durch den Menschen in seiner Beschränktheit und Endlichkeit, wird die Technik zum heuristischen Prinzip erhoben und zum Hebelarm, womit man das Ganze zu bewegen, vielleicht aus den Angeln zu heben hofft. Das ist grundsätzlich Verzicht auf Metaphysik und deren Ersetzung durch Anthropologie und (Tiefen-)Psychologie.“825 Balthasar sieht Fortschritt also im Eigentlichen als positiv an, jedoch charakterisiert er diesen als Offenbarungsfortschritt und, wie noch näher zu explizieren sein wird, als Glaubenswachstum826 und damit anders als dies gemeinhin der Fall sein dürfte, – nämlich als technische und kulturelle Entwicklung –, wobei er vor allem

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feststellbaren «Fortschritts»“ (TD III 401) an der Dogmenentwicklung festzumachen. Die apostolische Verkündigung ist im Wesentlichen zu allen christlichen Zeiten die gleiche. Da sie alle Fülle in sich trägt, braucht sie sich nicht eigentlich zu entwickeln, sie leuchtet jedoch in jeder Epoche in einem neuem Licht. So können Antworten auf Fragen der Weltgeschichte im Wirken von Heiligen liegen, doch gibt es hierfür keine berechenbare Gesetzmäßigkeit und an „der wesentlichen Stelle liegt das Leben der Kirche, zusammen mit dem ihres verklärten Hauptes, über die Ebene des Fortschritts hinaus.“ (TG 104.) Vgl. TD III 87. Von einer tragfähigen analogia proportionalitatis spricht Balthasar gar dort, wo, in Anerkenntnis der Grenzen dieser Analogie, Künstler das Formlose bewältigen und Gott an Karfreitag und Ostern allen Untergang und Zerfall der Welt einbirgt, vgl. TD II,1 26. Nur der Einzelne, nicht das Geschichtsganze ist dabei zum qualitativen Fortschritt fähig: „Es ist seltsam, daß gerade der dem biologischen Gesetz des Blühens und Alterns unterliegende Einzelne aufgrund seiner Freiheit eines wahren Fortschritts fähig ist, während das Geschichtsganze, auf das jenes biologische Gesetz (Spengler, Toynbee) nur sehr partiell anwendbar ist, des qualitativen Fortschritts unfähig ist. Ein solcher war die Komposition der Jupitersymphonie, während deren Verbreitung als Massenware auf Schallplatte, Tonband, Funk keiner ist.“ (TD III 87.) TG 123 (kursiv im Original). Echter Fortschritt ist für Balthasar darum stets christologisch bestimmt, sowohl im Alten Bund als auch im Leben des Einzelnen bis heute als Fort-Schreiten auf Christus hin. Fortschritt ist durch diese Richtung für Balthasar eine personale Kategorie und korrespondiert in seiner ekklesiologischen Dimension dem Fortschreiten des Menschen hin zu Christus und dem inneren Wachsen der Kirche auf Christus hin. Dieses Fort-Schreiten geschieht verborgen, aber real: „Also Tatsache des Fortschritts ohne dessen Feststellbarkeit.“ (GF 166.)

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II. Hans Urs von Balthasar

letzterer ebenfalls ein gewisses Fortschrittspotenzial einräumt. Er kritisiert jedoch, dass der Mensch immer wieder versucht, die Welt und sein Sein quantitativ zu fassen, da ihm „der philosophische Griff ins Qualitative von vornherein mißlingen muß: nämlich das unendliche «Geisterreich» als den Inbegriff der qualitativen Personen von irgendwoher in den Blick und Besitz zu bekommen“827. Der einzelne Mensch jedoch, der nicht quantifizierbares Etwas ist, sondern dem doch die Qualität des Personseins zukommen soll, gerät dabei unter die Räder. Technischer Fortschritt „stürmt über seinem Grab selbstzwecklich weiter.“828 Die Absolutsetzung technischen Fortschritts entwertet also das im Eigentlichen qualitativ – über ihre Sendung (II.4.4) – zu deutende Leben der einzelnen Person, die doch ihrem Wesen nach nicht verzwecklicht und funktionalisiert und damit quantifiziert werden kann. „Der Fortschrittsoptimismus einer technisierten Kultur muß nur darum so lärmen, weil sie immer mehr Todesschreie der vergewaltigten Person zu übertönen hat.“829 In der auf das innerzeitliche Dasein konzentrierten Überhöhung des technischen Fortschritts macht Balthasar zugleich die Flucht vor dem Ewigen aus. Die Flucht vor dem Ewigen stellt jedoch paradoxerweise zugleich eine Flucht aus der Zeit dar, da in Christus die Ewigkeit in die Zeit eingegangen ist. Der Begegnung mit ihm versucht der Mensch auszuweichen. „Der Fortschrittsglaube ist Flucht aus der Zeit, weil er vor allem Ewigen in der Zeit flieht.“830 Durch Flucht aus der Zeit lassen sich die Aporien des unüberspringbar zeitlichen, menschlichen Daseins jedoch nicht lösen. Selbst sollte nämlich die Lösung der menschlichen Aporien in der Zukunft durch technischen Fortschritt gelingen: So wäre „alle vorausgehende historische Gegenwart ihrer Realität beraubt und zu einer reinen werkzeuglichen Vorstufe eines jetzt unabsehbaren Vorn degradiert“831. Das aber kann von Christus her nicht sein, von dem her die Lebensgegenwart jedes Menschen zu jeder Zeit ihre unverlierbare Würde hat (II.3; II.4.5.2.). Dadurch also, dass der Mensch seine Angst vor dem Sein durch Fortschrittsgläubigkeit zu bewältigen versucht, wird die produktive Offenheit des zeitgenössischen Menschen dem Sein gegenüber zugeschüttet. Der Mensch als Person wird in seinem Eigenwert und seinen eigentlichen Fragen übergangen. Seine Lebensgegenwart wird entwertet, da sie einem depersonalisierenden Fortschrittsdenken untergeordnet wird. Die Person löst sich auf in einer Entwicklung, mit der sie Schritt halten muss, will sie heute nicht von gestern sein. 827 GF 66. 828 TD III 118. 829 GF 71. Das tiefste Innere des Menschen hat keinen Anteil am technischen und kulturellen Fortschritt, der wesentlich nur auf der Naturseite des Menschen erfolgt. Statt der Suche nach wahrer Liebe, statt dem Aushalten von Schmerz wird die „Entknotung des Knotens Mensch“ (ebd. 72) in technischem Fortschritt und in seiner Funktionalisierung für Wirtschaft und Politik versucht. 830 TD III 86. 831 TD III 86.

4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung

125

Die Suspendierung der Ewigkeit zugunsten eines innerzeitlichen Fortschrittsdenkens, bei dem Fortschritt als Ziel Ewigkeit als Ziel ersetzt, wertet demnach das Jetzt nicht auf und tröstet den Menschen auch nicht in seiner Angst, sondern überspringt den Menschen als Person und degradiert seine Lebensgegenwart zum Uneigentlichen. Balthasar scheint seine Epoche damit in eine Aporie verstrickt: einerseits die Flucht vor dem Ewigen, andererseits die Flucht aus der Zeit. Die menschliche Lebensgegenwart wird so gerade nicht gewürdigt. Anstelle eines Fortschrittsglaubens, der den Menschen als Person überspringt und seine Gegenwart auf eine Zukunft hin abqualifiziert, setzt Balthasar auf ein Wachstum des Menschen in der Liebe, wie nun (II.4.7.2) auszuführen sein wird.

4.7

Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung

Balthasar schreibt gegenüber dem soeben geschilderten Selbstwiderspruch der nachchristlichen Epoche der Kirche eine Brückenfunktion zwischen Jetzt und Ewigkeit zu, die das Jetzt in seiner Eigentlichkeit würdigt. Er versteht unter der Kirche eine geistgewirkte Realität, vermittels derer die Lebensgegenwart der Einzelperson und die Geschichte verbunden sind und die durch den Geist832 die Geschichte prägt. Dieses Wirken bezieht Balthasar in besonderer Weise auf die katholische Kirche, jedoch geschieht es auch über diese hinaus. Die nachchristliche Ära (II.4.6) ist also wie unter II.4.5.2 bereits auf-, aber noch nicht ausgeführt, als „Kirchenzeit“833 zu charakterisieren, in der die Präsenz Christi sich durch die Kirche in der Weltgeschichte auswirkt. In eben dieser Auswirkung, die auch die jeweilige Gegenwartsrelevanz der Kirche ausmacht, verortet Balthasar den Sinn der Kirchenzeit, ohne dass sich deswegen in der Kirche der volle Überblick über den Sinnhorizont des Daseins finden würde.834 Zwischen christologischem Ereignis als Ursprung und Ziel ist der kirchlich getragene Glaubende jedoch je jetzt eingeborgen in das diachrone »Kon832 „Das Ereignis der Universalisierung [Christ] ist in besonderer Weise Tat des Heiligen Geistes. […] Er ist es, der die Geschichte und das Antlitz sowohl der Kirche wie des einzelnen Glaubenden prägt, indem er das Leben Jesu auslegt (das selber den Vater ausgelegt hat), ihm die Gestalt und Dringlichkeit einer je-jetzt gültigen Norm verleiht.“ (TG 61 f., kursiv im Original.) 833 GF 144. Die Zeit der Kirche lokalisiert Balthasar hierbei zwischen der „Offenbarungszeit mit ihrem echten Fortschritt und der Weltgeschichtszeit mit ihrem fragwürdigen Fortschritt, ihrer undurchsichtigen Sinnrichtung“ (TG 127). In der Kirchenzeit entfaltet sich das Christusereignis, das seinerseits in der „ihm vorgeordneten göttlichen Über-Zeit der ökonomischen Trinität“ gründet, welcher wiederum die immanente Trinität in ihren Prozessionen „übergeordnet“ (TD IV 26) ist. Die Kirchenzeit folgt darum nicht nur chronologisch der Zeit Christi, sondern entspringt ihr auch quellhaft. Durch Kirchenzeit wird horizontale Dramatik darum eingeborgen in vertikale, vgl. TD IV 26. 834 Die Kirche weiß nur das, was sie wissen muss, um ihrem Weg zu folgen, vgl. TG 112.

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II. Hans Urs von Balthasar

tinuum« der Kirche, das Ewigkeit in Zeit hinein auslegt. Kirche wird demnach verkannt, wenn sie aus einer außerchristlichen Perspektive als ein religiöses Phänomen unter vielen gedeutet wird.835 Sie ist in hervorgehobener Weise Ort des Wirkens des Geistes, der die „vollkommene Aktualisierung [des Lebens Jesu; Anm. d. Vf.in] für jeden Augenblick der Geschichte“836 wirkt. Daraus ergeben sich die im Folgenden von TG, VC, GF, SC bis TD darzustellenden Schlaglichter der Ekklesiologie Balthasars im Hinblick auf dessen Gegenwartsdeutung, nämlich: Die Existenz der Einzelperson in ihrer Gegenwart und die Weltgeschichte sind ekklesiologisch ineinander verschränkt. Die Lebensgegenwart des Menschen ist hierbei in ihrer sakramental-ekklesiologischen Dimension nicht opak, sondern unmittelbar zu Christus. Die Kirche kann dem einzelnen Menschen diese Erfahrung vermitteln, es kann jedoch auch geschehen, dass der Einzelne gegen die Institution Kirche im eigentlichen Sinne Kirche sein muss (II.4.7.1). Der Sinn der Kirchenzeit liegt im Wachstum in der Liebe. Selbst die widrigste Gegenwart kann da als produktiv und sogar als beschirmt erfahren werden, wo der Mensch sich ausgerichtet weiß auf das, was durch den Heiligen Geist von der Zukunft schon vorgegeben ist, nämlich die Liebe (II.4.7.2). 4.7.1

Die sakramentale Transparenz der Gegenwart

Für Balthasar ist eines der „Grundelemente katholischer Dramatik“837 die wechselseitige, grundsätzlich unbeschränkte Einflussnahme des Einen auf den Anderen durch die Zeiten, in der, zunächst einmal bezogen auf die Leben der Christen, diese einander gegenseitig bewegen, wodurch auch die Geschichte als Ganze bewegt wird. Balthasar versteht die Kirche als Vermittlerin dieser Bewegung, was die nachchristliche Zeit ganz grundsätzlich als Kirchenzeit ausweist. In der Kirche strebt der Einzelne zu Christus als ihrem Haupt. Die Kirche, die die Einzelperson nie übergehen kann, da sie in ihr Gestalt gewinnt838 und die sich doch über den einzelnen Christen und seine Zeit hinaus erstreckt, prägt dann die Weltgeschichte als Ganze.839 Die Kirche vermittelt damit auch zwischen dem Leben der Einzelperson und der Weltgeschichte und damit den Leben aller Menschen. Die Kirche als Institution ist zwar vorläufig, ihre Zeit wird eschatologisch durch das Reich Gottes abgelöst werden.840 Durch die diachrone Präsenz der Kirche ist Geschichte seit Christus jedoch „grundlegend «sakral»“841. Der besondere Ewig835 836 837 838 839 840 841

Vgl. GF 145. TG 62. TD III 385. „Wo ein Christ ist, da ist Kirche“ (Balthasar, Schleifung, 70). Vgl. GF 165. Vgl. TD II,2 405. TG 105. Das gilt noch einmal in besonderer Weise für die Kirchengeschichte. Balthasar zitiert v. Campenhausen: „Wenn nach einem bekannten Wort Rankes jede weltgeschichtli-

4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung

127

keitsbezug der Kirche zeigte sich bereits bei ihrem „Lebendigwerden“, das Balthasar als „«historische» Gegenwärtigsetzung eines Überhistorisch-Ewigen innerhalb der Geschichte“842 versteht. Die Kirche vermittelt ihren ihr damit bleibend gegebenen Ewigkeitsbezug sakramental in die Gegenwart der Gläubigen.843 Jesu Existenz wird im Sakrament „nicht in ihrer geschichtlichen Vergangenheit, sondern «in mysterio» vergegenwärtigt“ ohne von „seiner [d. h. Jesu; Anm. d. Vf.in] Geschichtlichkeit“844 ablösbar zu sein. Balthasar hebt dabei besonders die Bedeutung der Eucharistie hervor.845 Geht Christus in der Eucharistie in die Zeit ein, dann »würdigt« er die Gegenwart mit seiner Anwesenheit. Für Balthasar wehrt diese Würdigung des Jetzt einer möglichen Überbetonung der Eschatologie. Der Katholizismus, so meint er, sei durch die Inkarnation Christi846 auf die Vergangenheit, durch die Eucharistie auf die Gegenwart und durch die Erwartung des Kommens Christi auf die Zukunft847 bezogen. So würden alle Modi der Zeit ausgewogen gewürdigt. Von seiner spezifisch katholischen Ekklesiologie aus kritisiert Balthasar hierbei den Protestantismus. Dieser, so urteilt Balthasar, möchte durch Zeitsprünge ad fontes synchron werden mit den Ursprüngen des Glaubens. Balthasar spricht kritisch von einer „Überspringung der historischen Zwischenglieder“848. Der strenge Protestantismus wiederum, der das Alte und Neue Testament als Gesetz und Verheißung und nicht als „Wortleib [Christi; Anm. d. Vf.in], der notwendig auch als eucharistischer Lebensleib […] in seiner Kirche wohnt“849, ansehe, neige zu einer Überbetonung der Eschatologie.850 Katholischerseits geschehe die Vermittlung des Glaubens dagegen diachronekklesiologisch. Die für Balthasar substanziell wichtige Besinnung auf die Quellen des Glaubens vollzieht sich damit nicht durch »Sprünge« zurück, sondern durch das Ernstnehmen des diachronen Kontinuums Kirche, in dem die Ursprünge des Glaubens stets gegenwärtig sind.

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che Epoche unmittelbar zu Gott ist, so ist die Kirchengeschichte in einem noch entschiedeneren, greifbareren Sinn in all ihren Epochen unmittelbar zu Christus, in dessen Bezeugung und Vergegenwärtigung alle Kirchen ihren einzigen legitimen Sinn und Inhalt erkennen.“ (TD IV 383.) GF 139. Balthasar betont diese Dimension des Gottesdienstes, vgl. Dahlgrün, Spiritualität, 453. Die Sakramente vermitteln himmlische in zeitliche Wirklichkeit, vgl. TD IV 116; Plettscher, Selbstevidenz, 388–392. Vgl. TG 72. Vgl. TD II,2 35. Die Kommunion hat auch für Gott Bedeutung. Gott wird der Gemeinde in ihr gegenwärtig, quasi gleichzeitig, vgl. TD II,1 66, ohne jedoch dadurch dem Verlauf der Zeit unterworfen zu sein, vgl. TG 74. Gleichzeitig stellt sie eine Würdigung der Zeitlichkeit überhaupt dar, wie unter II.3.3 dargestellt wurde. Zum futurischen Moment des Katholischen vgl. TD II,1 67. GF 146. VC 19. Vgl. VC 19.

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II. Hans Urs von Balthasar

Die Kirche partizipiert dabei auf ihrem Weg durch die Geschichte an zeitgenössischen Entwicklungen, woraus für sie der Auftrag der „Inkulturation“851 ohne Selbstaufgabe erwächst. Die Inkulturation von Riten, Liturgie und Verkündigung verweist jedoch in erster Linie auf die Geschichtlichkeit der Welt, nicht der Kirche.852 Da das eigentliche Wesen der Kirche überzeitlich ist, ihre Geschichte aber nur als Weltgeschichte geschildert werden kann,853 lässt die Kirchengeschichtsschreibung stets Wesentliches vermissen. Einzig glaubend, und damit aus einer Binnenperspektive heraus, ist an ihr mehr zu entdecken als Zeit- und Kulturgeschichte.854 Eben da die Kirche an der ewigen, unsichtbaren Wirklichkeit Gottes teilhat, ist Kirchengeschichte sowohl aus der Außen- als aus der Binnenperspektive nur in Ausschnitten darstellbar. „Ein unbekanntes Gebet, ein verborgenes Leiden mit Christus kann ganze Felder sichtbarer Wirksamkeit verursacht haben.“855 Ein einzelner, zurückgezogener Asket vermag durch sein Gebet den geschichtlichen Verlauf zu beeinflussen.856 Da ein solches Geschehen jedoch historisch nicht darstellbar ist, kann nicht nur die Kirchen-, sondern auch die Weltgeschichte lediglich in Ausschnitten erschlossen werden. In analoger Weise sind die Wirkungen Christi auf die Geschichte nicht zweifelsfrei identifizierbar. Erst recht ist ihre Realität nicht an der Kirche ablesbar.857 Festgehalten werden kann nur, dass Jesu Auftreten eine unübersehbare „Provokation“ darstellt, die ein „utopisch-transzendierendes Ideal vorzeichnet“858, dem zu folgen die Kirche aufruft und bei dessen Verwirklichung sie zur Seite steht. Was die Kirche also in ihrer Liturgie verkündigt, soll sie geschichtlich verwirklichen.859 Die „kirch851 TD III 434. 852 Anpassungen der Liturgie etc. zeigen auf, dass „das Moment der Entwicklung primär auf seiten der Weltgeschichte liegt, und nur sekundär und nachfolgend auf seiten der Kirche.“ (GF 148.) Vgl. GF 149 ff. 853 Vgl. GF 166 f. 854 Vgl. VC 30. So war auch die Resonanz auf Jesus und die Apostel seitens ihrer Zeitgenossen äußerst beschränkt und bewirkte zunächst keinen sichtbaren Umbruch der Weltgeschichte. Und geht die Kirche, die doch jenseitiges Heil verspricht, allzu organisch in ihre jeweilige Zeitgeschichte ein, so kann ihr das negativ als Unglaubwürdigkeit ausgelegt werden, vgl. VC 31. Weder an der Kirche noch an Christus ist also empirisch oder historisch-kritisch ein unabweisbarer Sinn ablesbar, vgl. GF 166 f.193 f. Glaubende jedoch können in ihrer Geschichte ihre „eigene Glaubenserfahrung ausgelegt finden“ (GF 167). 855 GF 143 (kursiv im Original); vgl. v. Speyr, Mensch, 15. 856 Vgl. TG 92. 857 Vgl. TD II,2 27. 858 TD II,2 29. Dieses Ideal soll dann sogar noch erreicht werden: „Die Kirche überfordert den natürlichen Menschen immerfort, indem sie von ihm die Nachfolge Christi verlangt.“ (Balthasar, Angst, 92.) Der Geist Gottes erst ermöglicht dem Menschen die Nachfolge Christi, die ohne ihn eine Überforderung des Menschen wäre, vgl. GF 90. Menschlich bergend geschieht dies in der Kirche, vgl. GF 94–99. 859 Vgl. VC 99.

4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung

129

liche […] Präsenz Christi“860 wirkt sich so in der Weltgeschichte aus. Darin liegt die unverlierbare Gegenwartsrelevanz und bleibende Aktualität der Kirche. Dabei ist von einem dialektischen Bezug zwischen innerem Aufbau und äußerer Strahlkraft auszugehen. Mithin ist die Lebensumstände von Menschen gerechter zu gestalten ebenso Auftrag der Kirche wie ihr Glaubenswachstum zu fördern.861 Die Kirche scheitert jedoch immer wieder an ihrem Auftrag.862 Wo es nun der Institution nicht gelingt, da sind Einzelne gefragt, die kirchliche Bestimmung zu verwirklichen, ohne sich von der Institution abzuwenden. Balthasar nennt Beispiele wie den Dominikanermönch Bartolomé de Las Casas, der als Einzelner zeigte, wie die Kirche als Ganze der indigenen Bevölkerung in Amerika hätte begegnen müssen.863 Der Bezug auf Christus wird damit zwar ekklesiologisch vermittelt, kann jedoch auch in die Opposition gegen die bestehende Kirche führen, wodurch der Einzelne dann gegen die Institution Kirche im eigentlichen Sinne Kirche sein muss.864 Auch das diachrone Kontinuum der Kirche, die „als Realität ihren Gliedern vorangeht“865, überspringt also die Lebensgegenwart des Einzelnen nicht, sondern realisiert sich in ihr. 4.7.2

Wachstum in der Liebe

Kann die faktische Verfasstheit der Kirche auch in die im vorigen Kapitel angedeuteten Konflikte führen, da die Institution Kirche immer wieder an ihrem Auftrag versagt, so besteht das eigentliche Wesen der Kirchenzeit doch im Wachstum in der

860 GF 197; Plettscher, Selbstevidenz, 344–348. Da Kirche und Welt aufeinander hin existieren, darf Kirche sich vom weltlichen Geschehen nicht desinteressiert abwenden, sondern ist gefragt unter den sich je verändernden Bedingungen ihren Auftrag zu erfüllen, in Wort und Tat Christus zu bezeugen, vgl. Balthasar, Schleifung, 79: „Herabsteigen der Kirche in die Fühlung mit der Welt“. Balthasar verwendet für das Verhältnis von Welt und Kirche auch das biblische Gleichnis von Teig/Welt und Sauerteig/Kirche, vgl. Balthasar, Einsatz, 17 f. Das Verbot der Weltflucht auf der einen und die Unmöglichkeit einer innerzeitlichen, selbst gewirkten Vollendung auf der anderen Seite eröffnen das Spannungsfeld, in dem die Kirche wirkt: „[E]inem Glauben, der auf der Menschwerdung ruht, ist jede Flucht aus der Welt verwehrt; einem Glauben aber, der sich ganz aus der Initiative Gottes empfängt, ist jeder Versuch untersagt, das Heil durch eigene Kraft «herbeizudrängen»“. (Balthasar, symphonisch, 160.) 861 Vgl. TD II,2 399. 862 Balthasar formuliert blumig: Aus Jesu „Tränen“ über die Ablehnung seiner Sendung „wird die Kirche geboren, deren spröde Institution wie die Kristallisierung dieser flüssigen Schmerzen sein wird.“ (GF 295.) 863 Vgl. TD II,2 416 f. 864 Vgl. TD II,2 416–419. 865 TD II,2 416.

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II. Hans Urs von Balthasar

Liebe,866 wie es sich in der Kirche im „persönlichen Fortschritt […]“867 eines Menschen realisiert. Liebe wird darin, wie im Folgenden zu belegen sein wird, vermittels des Heiligen Geistes als Zukunft des Menschen erkennbar, die seine Gegenwart erst im eigentlichen Sinn frei und produktiv werden lässt. Balthasar stellt seine Überlegungen hierzu in den Kontext seines bereits unter II.4.6.2 vorgestellten Fortschrittsgedankens. Kirche entwickelt sich demnach als Kirche nicht fort.868 Die Kirche heute ist nicht klüger als die Alte Kirche. Zwar vertieft sich in der kirchlichen Tradition sehr wohl das Verständnis der Fülle, die Christus gebracht hat – wenn auch, ohne dass je eine abgeschlossene Dogmatik entstünde, da der geschenkte Inhalt zu allen Zeiten das Gefäß übersteigt.869 Der entscheidende Fortschritt innerhalb der Kirche geschieht jedoch nicht auf der begrifflichen Ebene, sondern in dem soeben benannten Wachstum eines Menschen in der Liebe. Solch persönliches Wachstum interpretiert Balthasar in seinen Überlegungen zum Sinn der Kirchenzeit als Fortschritt im eigentlichen Sinne, der eine 866 Balthasar macht in der Liebe das johanneische Moment der Kirche aus, zu dem noch das marianische und petrinische Moment kommen: Die Kirche als Ganze ist für Balthasar marianisch qualifiziert, vgl. GF 94 ff. Das Amt wiederum deutet er petrinisch und die sich idealerweise in der Kirche ausdrückende Liebe johanneisch: „1952 schildert Balthasar drei Urgestalten der Kirche: Petrus als das Amt, Maria als das Ganze, als das Realsymbol der Kirche, als die Kirche in ihrer reinsten Idee, die darum näher bei Christus steht als das Amt, Johannes in der Mitte zwischen beiden, als die in keiner Gestalt zu erschöpfende Liebe.“ (Vorgrimler, Balthasar, 133.) 867 GF 165 (im Original kursiv). 868 „[D]ie Kirche als Kirche kann sich nicht entwickeln. Was möglich ist und der theologische Sinn der Kirchenzeit, das ist die Auswirkung der kirchlichen Präsenz Christi in der Weltgeschichte.“ (GF 197.) Balthasar bezieht dies auf gesellschaftliche und dogmatische Entwicklungen. In Jesu „gesamte[r] Existenz als Wort des Vaters“ (TD IV 25) liegt alles später Entfaltete bereits vor, denn was Jesus ist, hat immer ein Kommendes in sich, weist über sich hinaus und ist mehr als nur Gegenwärtiges, trägt es doch Zukunft in sich. Auch hier bezieht sich Balthasar auf v. Speyr, vgl. TD IV 26 Anm. 13. 869 Nie wird das Ganze des Wissens um die Offenbarung erreicht werden, so dass eine abgeschlossene Dogmatik entstünde. Vielmehr entspricht das Gegenteil der Wahrheit. Wer glaubt, muss stets zu einem Sprung ins Neue, Unbekannte bereit sein, wie er auch vom Alten in den Neuen Bund notwendig war, vgl. TG 80 f. In der „Kontemplation der biblischen Überlieferung durch die Jahrtausende hin“ entfalten sich jedoch „Dimensionen des Geistes“ (Balthasar, Liebe, 53), die die Selbstoffenbarung der Liebe Gottes tiefer verstehen lassen. Was die Alte Kirche implizit wusste, expliziert die Kirche der späteren Jahrhunderte. Für Balthasar zeigt sich das besonders in der Mariologie. Die Lehrentwicklung der Mariologie, „wohl das höchste Beispiel für die Auslegung des Lebens des Herrn durch den Heiligen Geist“ (TG 81), ist nicht mit Mitteln der Logik zu erklären. Erst die Kirche der Gegenwart weiß Maria auch als „Mittlerin der trinitarischen Gnaden […] hinreichend zu würdigen“ (TD IV 429). Eine solche Lehrentwicklung ist für Balthasar nicht selbstverständlich, sondern entspringt einem Geheimnis, das nur Gottes Geist zu ersinnen vermochte. Liefen die mariologischen Dogmatisierungen der Neuzeit auch scheinbar ihrer Zeit zuwider, entsprechen sie ihr doch auf einer tieferen, pneumatischen Ebene. In solch geheimnisvollen Tiefendimensionen liegt nach Balthasar vielleicht die stärkste Neuerungs- und Entwicklungskraft der Kirche, vgl. GF 147.

4.7 Die diachrone Gegenwart Christi in ekklesiologischer Vermittlung

131

weltgeschichtlich relevante, ja kosmische Bewegung der Schöpfung hin zu Christus darstellt. „Entscheidend ist hier ferner, daß das Gesetz des kosmischen Fortschritts nirgendwo außerhalb des Gesetzes des persönlichen Fortschritts gesucht wird und doch als ein echter weltgeschichtlicher Fortschritt gesetzt ist.“870 Nicht nur der Fortschritt der Weltgeschichte ist derart mit der biografischen Ebene der Einzelperson verknüpft, auch die kirchliche Tradition erwacht erst im Bezug auf das konkrete Dasein des Menschen je jetzt zum Leben. So darf die immer wieder nötige Anknüpfung an überkommene, kirchliche Traditionen nicht zu einer Ausrede werden, den Fragen der Gegenwart auszuweichen. Die Berufung auf Glaubens- und Lehrtraditionen darf nicht als Vorwand genutzt werden, „um einer geforderten Entscheidung, die nur in exponierter Einmaligkeit gefällt werden kann, zu entgehen“.871 Möglich wird diese aktualisierende Aneignung durch das Wirken des Geistes, denn die Zeit der Kirche ist die „vom Heiligen Geist gewirkte Universalisierung der zeithaften und doch urbildhaften Existenz Christi“.872 Die Sendung des Geistes und die Stiftung der Kirche denkt Balthasar damit eng zusammen.873 So bestimmen Geist und Kirche die nachchristliche Wirklichkeit als „geschichtsimmanente Faktoren, deren Wesen und Kern geschichtstranszendent bleibt: sie machen Geschichte, ohne selber geschichtlich zu sein; sie sind aber nicht weniger als Geschichte (etwa bloße Ideen oder Strukturen), sondern mehr als Geschichte: Gegenwart erfüllter Ewigkeit in der Zeit.“874 Auch durch das Kirchenjahr vermittelt der Geist Gottes Ewigkeit ins Jetzt. Da der Jahreskreis durchs Kirchenjahr gegliedert ist, kommen die verschiedenen Aspekte der Existenz Christi dem Menschen stets aufs Neue entgegen und prägen sich seinem Leben ein.875 870 GF 165 (kursiv im Original). Vgl. GF 354; TD II,2 471 und II.4.6.2. 871 Balthasar, Angst, 93. Das Moment der gnadenhaften, je neuen, aktualisierenden Aneignung des Glaubens betont Balthasar auch in seiner Rezeption Pascals, vgl. H II,2 537 f. 872 TG 7. 873 Vgl. TG 78; GF 317; Balthasar, Theologie, 253 f.; Tossou, Vollendung, 350–423. 874 GF 139 f. Vgl. zum Verhältnis von Geist und Kirche TL III 234–380. 875 Der Heilige Geist vermittelt die Fülle Christi durch das Kirchenjahr in die Ordnung der Kirche und des Jahres hinein, vgl. GF 322. Das Einmalige Christi wird dabei dem Einmaligen des Menschen eingesenkt, vgl. GF 323 (vergleichbar v. Speyr, dies., Pforten, 23–29). „Die zeitlichen Feste wollen uns dem Menschensohn angleichen, die überzeitlichen uns der allzu irdischen Auffassung Christi entwöhnen und das Stehenbleiben bei der sinnlichen Krippe, dem sinnlichen Kreuz, dem sinnlich geschauten Auferstandenen verhindern: «Laßt mich auffahren zum Vater!»“ (GF 324.)

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II. Hans Urs von Balthasar

Mit der Ewigkeit scheint zugleich die Zukunft des Menschen in seinem Heute auf. Als Unterpfand der Ewigkeit ist der Geist „jetzt Gegenwart nur im stärksten Verweis auf Zukunft.“876 Der Sinn des Jetzt erschöpft sich darum nicht im Jetzt.877 Vermittels der pneumatologischen Dimension der Verheißung, die Balthasar als „Zielursächlichkeit“ deutet, ist „alles Seiende […] Noch-nicht dessen, was es sein kann“878. Dabei bleibt dem Menschen das, was er zukünftig sein kann und woher er damit schon heute ist, durch den Geist nicht unbekannt. (Was bei Balthasar hier anklingt, nämlich die gegenwartsbestimmende Zielursächlichkeit alles Seienden, wird Pannenberg, wie unter III.4. dargelegt werden wird, in großer Breite ausführen.) Der Heilige Geist, der selbst Ausdruck schöpferischer Liebe ist, legt nämlich dem Menschen die Liebe Gottes als dessen Zukunft aus. Eine solchermaßen hoffnungsvolle Zukunftserwartung erweist sich als gegenwartsrelevant, auch und gerade da, wo Gegenwart als mühsam und unerquicklich erlebt wird. Selbst „widrige Gegenwart erweist sich also als produktiv […] für die herrliche Zukunft aufgrund dessen, was von der Zukunft schon vorgegeben ist: der Liebe“879. Wo Liebe die Zukunft ist, ist Gegenwart selbst da nicht hoffnungslos, wo sie als dunkel und belastend erlebt wird, und der entscheidende, ja weltgeschichtliche Fortschritt im Dasein des Menschen besteht damit im Wachstum in der Liebe. Diese gegenwartserhellende Offenheit von Zukunft her auf Liebe hin würde, ebenso wie die Freiheit des Menschen, in einem Welt- respektive Zeitverständnis ohne Geistbezug geopfert. Einer rein materialistischen, also vermeintlich880 »geistlosen« Perspektive bliebe nämlich nur die kausale Kategorie der Wirkursächlichkeit und damit ein durch die Vergangenheit bestimmtes, deterministisches Weltbild.881 Diesem aber könnten weder Gegenwart noch Zukunft Freiraum sein, da sie kausal durch ihre Vergangenheit bestimmt wären. Balthasar spricht, was angesichts der sich hier andeutenden, allumfassenden Zukunfts-Weite seines Geistbegriffs nur folgerichtig ist, von einer Weltdimension882 des Heiligen Geistes, die es verunmöglicht, dessen Wirken lediglich auf die römisch-katholische Kirche zu reduzieren, so sehr er diese auch hervorhebt. So verortet er das Wirken des Heiligen Geistes in der Natur, in den unterschiedlichen christlichen Konfessionen sowie im geschaffenen Geist883 des Menschen, der sich nicht anders begreifen kann als durch den selbstreflexiven, geistigen „Vorausgriff 876 877 878 879 880

SC 122. Vgl. SC 152. SC 123. SC 151. Da die Deutung des Daseins als solche ein geistiger Vorgang ist, wie auch immer diese Deutung ausfällt, stellt eine materialistische Weltsicht im Prinzip eine Unmöglichkeit dar. 881 Vgl. SC 124. 882 Vgl. TL III 383–386. Auch andere „kirchliche Gemeinschaften“ als die katholische können „in ihren Sakramenten durchaus den Heiligen Geist spenden“ und schon Augustin stellt fest, dass „viele «drinnen» sind, die «draußen zu sein scheinen».“ (TL III 384.) 883 Vgl. SC 266 f.

5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt

133

auf eine unausdenkbare Vollendung“884. In diesem Vorausgriff stimmt er mit der Zukunftsnatur des göttlichen Geistes analog überein, der die Gegenwart des Menschen auf die eschatologische Zukunft der Liebe Gottes ausrichtet.

5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt in Hans Urs von Balthasars theodramatischer Geschichtshermeneutik Die in I.1. zugrunde gelegte Annahme lautete, dass sich über das Gegenwartserleben des Menschen der Zusammenhang zwischen Zeitlichkeit und Transzendenz plausibilisieren lässt. Vor diesem Hintergrund sollte erfragt werden, welche Rolle dem menschlichen Lebensjetzt in theologischen Entwürfen zugesprochen werden kann, ob sich die obige These von hier aus erhärten lässt und ein Brückenschlag zwischen moderner, verzeitlichter und spezifisch christlicher Gegenwartsdeutung möglich ist. Bevor unter IV. der Ertrag der Untersuchung hierzu insgesamt gebündelt wird, seien erste Beobachtungen zu Balthasars Gegenwartsdeutung gesammelt. Unter II.4. wurde die große Bedeutung, die menschlicher Lebensgegenwart bei Balthasar vor dem Hintergrund seiner theodramatischen, von einem christologischen Ansatz aus entwickelten Geschichtstheologie (II.2.; II.3.) zukommt, entfaltet und damit die Frage nach einem theologisch verantworteten Verständnis des Jetzt des Menschen unter sieben Gesichtspunkten beantwortet: Die Lebensgegenwart des angesichts seiner zeitlichen Zerstreuung nach sich selbst und dem Ganzen fragenden Menschen erschien als angenommenes und daher annehmbares Fragment (II.4.1), als dialogisch konstituierter Raum der Begegnung mit dem Logos (II.4.2), als Raum der Freiheit (II.4.3), in dem der Mensch durch die Annahme seiner Sendung zu sich selbst findet (II.4.4), als Raum der Realisation theodramatischer Akte und damit Ausdruck der Hoffnung auf die Lösung gesamtmenschlicher Aporien (II.4.5), nachchristlich als Ort einer dramatischen Steigerung des Widerstandes gegen Christus, dem zugleich das Potenzial produktiver Offenheit innewohnt (II.4.6), und schließlich ekklesiologisch-sakramental als Raum der Anwesenheit Christi und des Wachsens in der Liebe und damit auf die Zukunft hin (II.4.7). Das Gegenwartserleben des Menschen wird von Balthasars geschichtstheologischem Entwurf aus dabei tatsächlich als Kristallisationspunkt des menschlichen Transzendenzbezuges lesbar, der in die produktive Offenheit verschiedenster Fragen und Deutemöglichkeiten führt. Als zeitliches, vergängliches Wesen, das in der Zerstreuung seiner Zeit von Gegenwart zu Gegenwart lebt, ist der Mensch nämlich, wie Balthasar phänomengerecht und von daher plausibel umschreibt, ein fragmen884 SC 125. Pannenberg wird die Zukunftsbezogenheit des Geistigen in eigener Weise noch deutlicher hervorheben, vgl. III.2.2.3 u. III.4.2.3.

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II. Hans Urs von Balthasar

tarisches Wesen (II.4.1) und damit als „Geistsubjekt“885 (II.4.4.2) zugleich ein sich selbst und sein jeweiliges Jetzt in seinen Fragen (II.4.1) transzendierendes Wesen. Die „Anerkennung des Paradoxes“ als Mensch an eine konkrete, je einmalige, flüchtige Daseinssituation gebunden zu sein, doch darin nach absoluter Bedeutung zu suchen, entspricht dabei nach Balthasar „alltägliche[r] Erfahrung“886, wenn der Mensch dieser Erfahrung auch allzu oft ausweicht887 (II.4.5.1). Die „Ursituation“888 der Augenblicksexistenz889 des Menschen, nur „ein Mal“890 zu sein, lässt, so etwa philosophisch bei Heidegger, die „Transparenz des Seinsmysteriums“ ansichtig werden – oder lässt den Menschen, so etwa literarisch von Rilke aus, „als den Betreuer des Absoluten beglaubigt“ erscheinen, der dabei jedoch zugleich immer wieder „jede Betreuung durch ein Absolutes von sich weis[t]“891. Balthasar veranschaulicht in seiner Geschichtstheologie eben diesen Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz, der von Augustin bis Heidegger und darüber hinaus dem Menschen immer wieder Anlass zum Philosophieren und Theologietreiben gegeben hat, und damit auf eine allgemein menschliche, nicht allein christliche Sonderfrage verweist, die jedoch unterschiedlichste Deutungen freisetzt, deren eine Balthasars theologische Geschichtsdeutung darstellt. Das an seiner Zeitlichkeit aufbrechende Fragen verweist den Menschen dabei nach Balthasars Theologie über sich selbst hinaus nicht allein an Ideen wie etwa die einer abstrakten Ganzheit, sondern an einen Antwortenden (II.4.1).892 Die Antwort und damit sich selbst und seine Freiheit findet der Mensch nämlich nach Balthasar erst in der Antwort durch den Logos Christus (II.4.2) und damit zugleich dem Bezug auf die Ewigkeit Gottes. „[I]m Raum der Freiheit Gottes […] ewiges Leben

885 TD II,2 187.188.190.191 u. ö. 886 TD III 78. Dies gilt vor- und nachchristlich, wie Balthasar am Spannungsfeld der Suche nach bleibendem Sinn und Vergänglichkeit des Menschen deutlich macht, vgl. TD III 77. 887 Vgl. GF 66. 888 TD III 77. 889 Vgl. TD III 77. 890 TD III 78 (kursiv im Original). Balthasar zitiert hier Rilkes Duineser Elegien. 891 TD III 77 f. Balthasar macht hier durch den Verweis auf Heidegger deutlich, dass er die Erkenntnis der Fraglichkeit, die die Zeitlichkeit des Menschen für denselben ausmacht, auch und im Besonderen Heidegger verdankt, gibt in seinem Werk jedoch eine spezifisch christliche Antwort. 892 Selbst Balthasars personalistisch und christologisch inspirierte These einer dialogisch je neu konstituierten Gegenwart (II.4.2) ist hierbei insofern lebensweltlich nachvollziehbar, als dass eine geteilte Erfahrung oftmals mehr Substanz zu besitzen scheint, als eine Erfahrung, mit der ein Mensch allein bleibt. So ziehen viele Menschen vielleicht auch deshalb etwa den Besuch eines Konzertes zu zweit dem Besuch alleine vor. Zwar kann es Erlebnisse geben, die gerade in der Einsamkeit ihre Tiefe gewinnen, doch scheinen diese häufig selbst den Charakter einer »Begegnung« aufzuweisen, sei es mit sich selbst, einem Kunstwerk, der Natur oder einem Ort, und darin über eine innere Dialogik zu verfügen.

5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt

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gewinnen zu können“ betrifft den Menschen „ganzmenschlich“893 und überschreitet zugleich die „Leere“ seiner „unerfüllbaren Transzendenz“894 eschatologisch. Eben in diesem dialogisch und eschatologisch qualifizierten Transzendenzbezug versteht sich der Entwurf Balthasars aber gerade nicht als Theologie, die aus dem Jetzt hinausweist und daraus ins Jenseits zu flüchten sucht. Vielmehr versteht Balthasar den christlichen Glauben und die damit gegebene eschatologische Erwartung präsentisch so, dass der Menschen durch sie in unübertroffener Deutlichkeit in sein Jetzt hineingeführt wird, mehr als jeder andere philosophische, religiöse oder technische Entwurf des Menschen und der Welt dies könnte (II.4.5.2; II.4.6.2). Aus Balthasars Perspektive kommt der fragmentarischen Lebensgegenwart eines Menschen damit zugleich „Ewigkeitsbedeutung“895 zu. Mit Christus begegnet in ihr das Ganze im Fragment. So vollzieht sich auch das christologisch qualifizierte Antwortgeschehen (II.4.2) im Raum der Freiheit heute (II.4.3), nicht erst in einer eschatologischen Zukunft. Auf diese Zukunft hin wächst der Glaubende in der Liebe (II.4.7.2), doch braucht der Mensch christlich weder ins Zeitlose noch in die Zukunft zu flüchten.896 Vielmehr liegen bereits in der „Vertikalität“ und „Präsentialität“ die „Letzten Dinge“ „und nicht bei einer in horizontaler Zukunft liegenden Endzeit.“897 Balthasars Entwurf macht diesem Duktus entsprechend durch seine Sendungsbezogenheit (II.4.4) deutlich, dass Theologie gar nicht jetzt-vergessen sein darf, sondern dass dem Jetzt im christlichen Glauben entscheidende Bedeutung zukommt. Jetzt ist die Zeit, seinen Auftrag zu finden und zu erfüllen. Balthasar mutet der verzeitlichten Verortung der menschlichen Gegenwart als Schnittpunkt zwischen zeitlichem »Hinten« und »Vorne« damit über seinen eschatologischen Transzendenzbegriff weiterhin die Koordinate des »Oben« einer Ewigkeit zu, sieht diese sich allerdings im Jetzt und auf Zukunft hin realisieren, also nicht über, sondern inchoativ in der Zeit, im Rahmen seiner präsentisch akzentuierten Eschatologie. Damit kommt dem Jetzt bei Balthasar ebenfalls ein Schnittpunktcharakter auf die (horizontale und eschatologische) Zukunft hin zu. Dies muss schon von der alle Zeit umgreifenden, trinitarischen Dauer Gottes und damit von „Gottes Gegenwart für den Menschen“898 her so sein, von der her der Mensch nach Balthasar erst seine Gegenwart begreifen kann.899 Diese Gegenwart Gottes ist nämlich 893 TD II,2 19. Die christliche Eschatologie betrifft nämlich in ihrer Überwindung des Todes den ganzen Menschen, Leib und Seele, sie bezieht sich nicht „akosmisch auf eine bloße unsterbliche Seele“ (TD II,2 18). 894 TD II,2 18. 895 TD III 77. 896 Vgl. TD III 132. 897 TD IV 166. Balthasar entnimmt hier Péguys Dichtung »Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung«, dass „alle futurische Eschatologie ihren (durchaus berechtigten) Platz innerhalb einer präsentischen hat.“ (TD IV 161.) 898 TD IV 48. 899 Vgl. TD IV 48.

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II. Hans Urs von Balthasar

stets „Je-mehr“900, das auf den Menschen zukommt, auch und gerade da, wo dieses Je-Mehr sich dem Menschen als das „historisch in Jesus Christus Gewesene“901 darstellt. Nur als „erwartete[s]“ ist das „Mysterium Gottes“ „das gegenwärtige“902. (Pannenberg wird dieses Moment noch stärker betonen als Balthasar.) So realisiert sich dann analog auch im Jetzt des konkreten Menschen heute, ob dieser sich von Christus her gelingend und damit im eigentlichen Sinne wirklich auf Zukunft hin entwirft oder nicht. Nicht allein die verzeitlichte Opposition von Vergangenheit und Zukunft ist dabei für Balthasar entscheidend, sondern die von seiner »Ewigkeitsperspektive« her geprägte Unterscheidung theodramatischer Akte und Status (II.4.5; II.4.6). Lebensweltlich vermittelbar wird Balthasars Theologie vor allem über die existenziellen Fragestellungen, die mitten in dieser Verortung aufleuchten. „Vorstellungslogiken religiöser Sprache“903 müssen zwar zunächst nur eine Binnenlogik erzielen. Sie können jedoch da an Vermittelbarkeit und Plausibilität gewinnen, wo sie über einen generellen „Lebensbezug“904 individuell angeeignet werden können. Das heißt: Ihre allgemeine Gültigkeit wird bedingt durch ihre individuelle Annehmbarkeit.905 Diese ist bei Balthasar über den individualitätstheoretischen (II3.2), existenzhermeneutischen Zug seiner Theologie gegeben, der ein unmittelbares Wiederfinden existenzieller Fragen und Erfahrungen ermöglicht. Wo Balthasar hierbei etwa in TD das Theater als Analogie für die Suche des Menschen nach sich selbst und nach Auftrag und Ort im Leben nutzt, erschließt sich die Bedeutung der Suche nach einer Rolle im Leben, die der Person, die sie annimmt, entspricht, in der Abwehr der „Depersonifikation“906 selbst bei Nicht-Nachvollzug der theodramatischen Analogie. Und so wird, wo der Moment der freien (II.4.3) Annahme oder Ablehnung einer Sendung907 als „mit900 901 902 903 904 905

TD IV 48. TD IV 48. TD IV 48. Korsch, Kulturhermeneutik, 835. Korsch, Kulturhermeneutik, 835. Auch Pannenberg reflektiert diesen Zusammenhang, so im Zusammenspiel von Theologie und Humanwissenschaften, vgl. BSTh 1, 91. 906 Graf, Art. Kulturprotestantismus, 1852. In dieser Abwehr kann ein Element ausgemacht werden, das den Entwurf Balthasars von seinem Anliegen her mit kulturprotestantischen Entwürfen verbindet. 907 Die Idee einer Sendung kann dabei das Missverständnis einer Heteronomie des Menschen implizieren, wie Balthasar selbst sieht. Balthasar sieht dies Missverständnis jedoch durch die Aufhebung des Gegensatzes von Autonomie und Heteronomie in Christus als überwunden an, vgl. II.4.3.1; TD II,1 202 f.; TD IV 224. Zudem kann der Mensch sich als rein autonome Selbstbezogenheit gar nicht widerspruchsfrei denken. Bereits sein Ursprung ist stets ein verdankter, ist der Mensch doch geboren und hat sich nicht selbst in sein Dasein gesetzt. Dem somit gegebenen, ekstatischen Charakter des Menschen widerspricht insofern auch das Erleben des Herantretens einer Aufgabe an ihn nicht, zumal die Übernahme nicht ohne innere Affizierung geschehen kann, wo sie, wie bei Balthasar intendiert, die Personidentität des Menschen betrifft.

5. Ertrag: Die Bedeutsamkeit des Jetzt

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wandernde Gegenwart“908 (II.4.4.2) das Leben eines Menschen fortan bestimmt, die Erfahrung lebenswendender Erlebnisse und Entscheidungen thematisch. Vermeintlichen »Gesetzen«, wie etwa, das Leben hier und jetzt müsse alles sein und bieten oder das Heutige sei morgen von gestern und die Gegenwart sei darum der Zukunft unterzuordnen, hält Balthasar das »Evangelium« entgegen, die fragmentarische, zeitliche Gegenwart des Menschen sei in ihrer Unvollkommenheit angenommen und annehmbar. Der christologische Bezug aufs Ganze befreit hierbei von dem Druck, sich selbst zu einer Ganzheit runden zu müssen (II.4.1.3). Damit wird dem Menschen ein Selbstverhältnis angeboten, das nicht darauf beruht, sich selbst vollenden zu müssen, sondern sich als Fragment einem Ganzen anvertrauen zu dürfen, das selbst im Fragment begegnet. Balthasar entgeht so gerade in der Annahme des fragmentarischen Moments menschlichen Daseins jeglichem Eskapismus. Der Ausgangspunkt des Denkens bleibt bei Balthasar stets ein doppelter, da auch dem Denken vom Menschen her bei Balthasar reziprok das Denken vom den Menschen unterfassenden Christusgeschehen, ja der Trinität, stets mitgesetzt ist.909 Dass Balthasars Entwurf, auch in seiner reziproken Denkweise, theologisch und dogmatisch voraussetzungsreich ist, muss dabei ebenso festgehalten werden. Balthasar gibt „der «Zeit» Gottes“ den „Primat vor der Zeit des Geschöpfs […], dessen Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sich an Gottes Weise des Dauerns zu messen und auszurichten hat.“910 Balthasar setzt voraus, dass der Mensch bereits in seinem Fragen trinitarisch unterfasst ist (II.2.2.3; II.3.3; II.4.3.1). Sein geschichtstheologisches Konzept bleibt trotz seiner ansprechenden, individualitätstheoretischen Existenzhermeneutik in seiner theodramatischen »Ewigkeitsperspektive« von einem hohen dogmatischen Voraussetzungsreichtum gekennzeichnet. Obwohl Balthasar der historisierten Vernunft der Neuzeit nicht einfach den „Einschlagstrichter“911 Christi in die Geschichte entgegenhalten möchte,912 setzt er die Wirklichkeit Gottes vermittels seines analogen (II.2.2.3) und christologischen Denkansatzes (II.3.) von Anfang an voraus und verortet die Fragen des Menschen darin. Innerhalb seines Denkens ist dies konsequent. Von einem Standpunkt außerhalb dieses dogmatischen Denkens gut zugänglich und nach außen leicht vermittelbar ist es nicht. Pannenbergs Theologie, die in ihrer Endgestalt konsequent beim menschlichen Ausgriff auf ein Ganzes hin einsetzt, der bereits unter I.1. als zumindest funktional religiöser Vollzug gedeutet wurde, ergänzt durch ihren anthropologischen Ausgangspunkt das Potenzial an argumentativer Vermittelbarkeit, das Balthasars reziprokem, 908 VC 78. 909 In einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung zum 100. Geburtstag von Balthasar wird von einer „gleichzeitig theo- und anthropozentrische[n] Denkform“ (https://www.nzz.ch/articleCZRX1-1.163243, aufgerufen am 13.5.19) Balthasars gesprochen. 910 TD IV 48. 911 TD II,2 23.28. 912 Vgl. TD II,2 56 f.

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II. Hans Urs von Balthasar

durch seinen christologischen Ansatz geprägten Entwurf abgesprochen werden kann (nicht: muss). Bereits da, wo Balthasar Barths Ahistorizität über Christologie und Trinitätslehre und damit dogmatisch überwinden möchte (II.2.2.1; II.2.2.3; II.3.), denkt Pannenberg ungleich stärker von der Historisierung der Vernunft her, indem er Offenbarung als Geschichte versteht. Der dogmatischen Existenzhermeneutik des reziproken Denkansatzes Balthasars sei darum die fundamentaltheologisch in der Anthropologie einsetzende Theologie Pannenbergs ergänzt.

III. Wolfhart Pannenberg 1. Einleitung Wolfhart Pannenbergs Theologie wird in den folgenden Kapiteln in ihren Bezügen auf die Fragestellung dieser Arbeit untersucht. Ebenso wenig wie bei Balthasar ist dabei eine vollständige Einführung in die Theologie Pannenbergs beabsichtigt, wenngleich verschiedene Aspekte derselben in unterschiedlicher Breite ausgeführt werden. Nach der werkgeschichtlich gegliederten Vorstellung der verwendeten Literatur (III.1.1) folgen Bemerkungen zum Aufbau der Untersuchung, der sich an der Endgestalt der Systematik Pannenbergs orientiert (III.1.2). Dieser Gestalt folgt auch der Aufbau der Darlegung, indem sie anthropologisch beim Ausgriff des Menschen über sein Jetzt hinaus einsetzt (III.2.) und Offenbarung als Geschichte als christologisches Scharnier (III.3.) hin zur theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart (III.4.) deutet. Der Ertrag der Untersuchung wird unter III.5. gebündelt.

1.1

Verwendete Literatur

Vor allem folgende Werke Pannenbergs wurden herangezogen, um das Gegenwartsverständnis Pannenbergs herauszuarbeiten: »Offenbarung als Geschichte« (OaG), die theologische Programmschrift Pannenbergs und weiterer Theologen aus dem Jahr 1961, findet besondere Berücksichtigung, da OaG als Grundkonzeption mit der Antizipation des Endes der Geschichte im Christusgeschehen fundamentale Bedeutung für Pannenbergs Geschichtstheologie und sein gesamtes Wirken behielt.913 Den aus OaG resultierenden, eschatologischen Zukunftsbezug der Theologie stellt Pannenberg in der Monografie »Theologie und Reich Gottes« (ThRG) von 1971 dar. Er entfaltet dort im Hinblick auf Gotteslehre, Ekklesiologie und Ethik, dass durch Christus die Zukunft in die Gegenwart eingetreten ist. Sämtliche theologischen loci sind darum vom Reich Gottes her zu betrachten. Geschichte und Offenbarung in der Formel der »Offenbarung als Geschichte« zu verbinden, entspricht als historisiertes Denken dem Geschichtswesen Mensch. Diesen in OaG angelegten Zug arbeitet Pannenberg nach und nach stärker heraus. Pannenbergs 1983 erschienene »Anthropologie in theologischer Perspektive« (A), 913 Dies drückt sich auch in dem 21 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von OaG von Pannenberg selbst verfassten Vorwort zur 5. Auflage von OaG von 1982 aus, das ebenfalls mehrfach zitiert werden wird.

140

III. Wolfhart Pannenberg

ist als Ergebnis dieser Entwicklung hervorzuheben, die sich in »Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie« von 1962 erst ankündigte, aber noch nicht zur vollen Durchführung gelangt war. Pannenberg weist in A die fundamentaltheologische Bedeutung der Anthropologie für sein Denken auf, die sich auch in dieser Arbeit widerspiegelt.914 Berücksichtigung finden dabei vor allem Pannenbergs Thesen im 5. Kapitel »Die Identitätsproblematik«915, nämlich im Hinblick auf die Behandlung der Frage nach Ganzheit und Personalität,916 und das abschließende 9. Kapitel »Mensch und Geschichte«917. Zudem finden sich zahlreiche Verweise auf kleinere Schriften Pannenbergs, so etwa aus »Grundfragen systematischer Theologie« (GSTh), Band 1 und 2, den Aufsatzsammlungen Pannenbergs, die um den Zusammenhang von Gottesfrage und geschichtlicher Wirklichkeit kreisen. Folgende Schriften sind hieraus hervorzuheben: Berücksichtigung findet der 1962 erschienene und in GSTh 1 wieder abgedruckte Aufsatz »Was ist Wahrheit?«918, in dem Pannenberg die Einheit der Wahrheit als Geschichtsprozess beschreibt. Besonders hinzuweisen ist zudem auf den Aufsatz »Analogie und Doxologie«, der 1963 erstmalig erschien.919 Pannenberg legt hier die Konsequenzen einer durch historisiertes Denken geprägten und von Christus her antizipativ auf Zukunft ausgerichteten, theologischen Denkform für die theologische Sprachform dar. Diese Sprachform kann nicht in der Analogie, sondern muss in der Doxologie bestehen. 1963 erschien zudem erstmalig der Aufsatz »Hermeneutik und Universalgeschichte«920, in dem Pannenberg entfaltet, dass ohne – jeweils kritisch zu diskutierende – Antizipation eines Bedeutungsganzen auch das Einzelereignis nicht gedeutet werden kann. Auch der Vortrag »Eschatologie und Sinnerfahrung«921 von 1972, in dem Pannenberg sich mit der bleibenden Bedeutung der Religion befasst, wird herangezogen. Dort entfaltet er die These, religiöse Sinnerfahrung sei auf Zukunft bezogen. Zu ergänzen ist zudem »Die Auferstehung Jesu und die Zukunft des Menschen«922, ist es doch die Auferstehung Jesu, die dem Menschen erst im Eigentlichen Zukunft eröffnet.

914 915 916 917 918 919 920 921 922

Vgl. A 11–23. Vgl. A 185–235. Vgl. A 228. Vgl. A 472–517. Vgl. GSTh 1, 202–222. Vgl. GSTh 1, 181–201. Vgl. GSTh 1, 91–122. Vgl. GSTh 2, 66–79. Vgl. GSTh 2, 174–187.

1.1 Verwendete Literatur

141

»Zeit und Ewigkeit in der religiösen Erfahrung Israels und des Christentums«923, ein Vortrag aus dem Jahre 1975, thematisiert erneut die temporale Struktur religiöser Erfahrung, die auf die Differenz zwischen Gott und Geschöpf verweist, sowie ein Verständnis von Ewigkeit, das die Zeit nicht „von sich ausschließt, sondern als durch die Eschatologie vermittelte Differenzeinheit in sich aufhebt.“924 Auch aus der Aufsatzsammlung »Beiträge zur Systematischen Theologie« (BSTh) sind Schriften hervorzuheben. Hier ist aus Band 1, der sich unter der Überschrift »Philosophie. Religion. Offenbarung« auf „Grundlegungsfragen der Theologie konzentriert“925, vor allem »Die Bedeutung der Kategorien ‚Teil‘ und ‚Ganzes‘ für die Wissenschaftstheorie der Theologie«926 von 1978 zu nennen. Pannenberg fasst das Anliegen dieses Aufsatzes selbst so zusammen: „Auf den hermeneutisch gedeuteten Begriff des Ganzen als im geschichtlichen Prozeß der Erfahrung noch unabgeschlossener Ganzheit von Sinn und Bedeutung bezieht sich auch das Reden von Gott als Grund und Vollendung dieses aus seiner letzten Zukunft zu denkenden Ganzen.“927 Pannenberg versteht diesen Aufsatz als Anknüpfung an Gedankengänge des bereits 1963 erschienenen und hier ebenfalls berücksichtigten Aufsatzes »Hermeneutik und Universalgeschichte«.928 Band 2 von BSTh bietet unter der Überschrift »Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung« Beiträge zu einer Theologie der Natur. Zur Thematik des Geistes, die bei Pannenberg die eben schon benannte Frage nach dem Ganzen eng berührt, werden u. a. herangezogen: »Geist als Feld – nur eine Metapher?«929 von 1996 und »Bewußtsein und Geist«930 von 1983. Die Frage nach der Vollendung und damit der Eschatologie behandeln der Vortrag »Die Aufgabe christlicher Eschatologie«931 von 1995, in dem Pannenberg die Unterschiedenheit und die eben darin liegende Verbundenheit von Geschöpf und Schöpfer sowie die Bedeutung der Lehre von der Wiederkunft Christi behandelt, sowie »Das Nahen des Lichts und die Finsternis der Welt«932 von 1992, wobei in 923 924 925 926 927 928 929 930 931 932

Vgl. GSTh 2, 188–206. GSTh 2, 11. BSTh 1, 7. Vgl. BSTh 1, 85–100. BSTh 1, 8. Vgl. BSTh 1, 8. Vgl. BSTh 2, 64–68. Vgl. BSTh 2, 123–140. Vgl. BSTh 2, 271–282. Vgl. BSTh 2, 283–294. Wie Balthasar geht Pannenberg davon aus, dass es keinen Fortschritt im christlichen Glauben über Christus hinaus gibt, BSTh 2, 289.

142

III. Wolfhart Pannenberg

dem letzteren Aufsatz die Auseinandersetzung mit Löwith im Fokus steht. Pannenberg stimmt darin mit Löwith überein, dass es einen Gegensatz zwischen christlicher Zukunftshoffnung und Fortschrittsglauben gebe. Löwith habe jedoch nicht klar genug wahrgenommen, dass in Christus die Zukunft bereits erschienen sei. Verantwortlich hierfür sei jedoch die Theologie, die, vermeintlich um ihren christologischen Markenkern vor Angriffen zu schützen, dessen Historizität preisgegeben habe und nicht mehr anzunehmen fähig sei, dass ein analogieloses, historisches Geschehen möglich sei. Schließlich ist die dreibändige »Systematische Theologie« (STh), die zwischen 1988 und 1993 erschien, und in der Pannenberg einen Gesamtentwurf seiner Dogmatik darlegt, zu nennen. Im ersten Band fragt Pannenberg nach dem Wahrheitsgehalt der christlichen Rede von Gott. Er thematisiert Offenbarungs- und Trinitätslehre. Für die Fragestellung dieser Arbeit sind besonders die im methodischen Sinne fundamentaltheologischen933 Überlegungen zur natürlichen Kenntnis des Menschen von Gott relevant,934 die Pannenberg im Rahmen seiner Überlegungen zum Gottesgedanken und der Frage nach dessen Wahrheit äußert.935 Gleiches gilt für den Rekurs auf Offenbarung als Geschichte und als Wort Gottes,936 der das Abschlusskapitel des Abschnitts über die Offenbarung Gottes bildet.937 Der zweite Band der Systematischen Theologie Pannenbergs thematisiert Schöpfungstheologie, Anthropologie und Christologie. Pannenberg betont dabei in seiner Schöpfungstheologie das schöpferische Wirken des Geistes und bezieht es konkret auf dessen Wirken in Zeit und Raum,938 was sich, ebenso wie die Frage der personalen Einheit des Menschen,939 als besonders relevant für ein aus seiner Theologie ableitbares Gegenwartsverständnis erweisen wird. Der dritte Band der Systematischen Theologie Pannenbergs bietet dessen Ekklesiologie und Eschatologie. Hier sind es ekklesiologisch vor allem Pannenbergs Thesen zum Glauben,940 zur zeichenhaften Gestalt der Heilsgegenwart Christi, vor allem in den Sakramenten,941 sowie eschatologisch die Frage nach dem Verhältnis von Reich Gottes und Zeit,942 die in die vorliegende Untersuchung einfließen.

933 Vgl. STh I 72. Fundamental sind diese Überlegungen damit allein methodisch, denn der „Sache nach fundamental ist in der Theologie nur Gott selbst bzw. seine Selbstoffenbarung in Jesus Christus“ (ebd.). 934 Vgl. STh I 121 ff. 935 Vgl. STh I 73–132. 936 Vgl. STh I 251–281, 937 Vgl. STh I 207–281. 938 Vgl. STh II 105 ff. 939 Vgl. STh II 209 ff. 940 Vgl. STh III 155 ff. 941 Vgl. STh III 265 ff. 942 Vgl. STh III 625 ff.

1.2 Zum Aufbau der Untersuchung

1.2

143

Zum Aufbau der Untersuchung

Um den Aufbau der folgenden Untersuchung zu erläutern, sind zunächst noch ein paar weitere, werkgeschichtliche Vorbemerkungen zur Theologie Pannenbergs nötig. Im Anschluss an diese wird die Gliederung der folgenden Kapitel begründet. Pannenberg sucht in seiner Theologie von Anfang an einen Weg zwischen dem Offenbarungspositivismus der dialektischen Theologie Karl Barths und der existenzialistisch geprägten, kerygmatischen Theologie Rudolf Bultmanns.943 Die Geschichtsvergessenheit, die er beiden attestierte, suchte er bereits in OaG zu überwinden, an deren Grundthesen er zeit seines Wirkens festhielt. Seine konsequent historisierte Theologie entwickelte er unter Aufnahme der Idee der Überlieferungsgeschichte und somit in Anlehnung an das exegetische Werk des Alttestamentlers Gerhard von Rad.944 Fundamentaltheologisch knüpft er im Verlauf seines theologischen Arbeitens dann zusehends deutlicher an Schleiermachers „These einer Konstitution menschlichen Subjektseins aus der Gottesbeziehung“ an, lehnt jedoch den „Subjektivismus“945 Schleiermachers ab. Auch von Schleiermachers Verständnis von Religion, nämlich alles Einzelne als einen Teil des Ganzen zu verstehen, ist Pannenberg beeinflusst.946 Die Frage nach dem Verhältnis von Teil und Ganzem, die über den menschlichen Ausgriff aufs Ganze in dieser Untersuchung thematisch werden wird (III.2.1; III.3.2), bearbeitete er vor dem Hintergrund der Arbeit Diltheys,947 kritisierte jedoch dessen Einengung der „Kategorie ‘Bedeutung‘ auf das einzelne Dasein.“948 Mit der Betonung der Eschatologie knüpft er an Entwicklungen der protestantischen Theologie seit Johannes Weiß949 und Albert Schweitzer an und beerbt zugleich die dialektische Theologie, die damit auf die Katastrophe der Weltkriege im 20. Jh. reagierte.950 Angesichts seiner Betonung der Bedeutung der Universalgeschichte (III.2.1.2; III.4.2.2) übt er Kritik am frühen Heidegger, der ihre Bedeutung s.E. nicht genug herausstrich,951 lässt sich jedoch zugleich durch die „durch Heidegger eingeführte Seinsbestimmung des Vorgriffs“952 inspirieren, die 943 944 945 946 947

948 949 950 951 952

Vgl. Wenz, Theologie, 9 f. Vgl. Nüssel, Geschichte, 72. Wenz, Theologie, 279. Freyer, Zeit, 281. Schon Dilthey hat gezeigt, dass menschlichem Sinnerleben eine Verhältnisbestimmung von Teil und Ganzem zugrunde liegt. Erst am Ende des Lebens wird nach Dilthey die endgültige Bedeutung der Lebensereignisse erkennbar, vgl. GSTh 2, 72 f.; Pannenberg, Philosophie, 311; A 497–499; Greive, Glaubwürdigkeit, 22 f. Freyer, Zeit, 281. Vgl. STh III 572. Vgl. Greive, Glaubwürdigkeit, 121 ff. Vgl. Wenz, Geschichte, 288. Freyer, Zeit, 282. Diesen Vorgriff versteht Pannenberg jedoch nicht wie Heidegger primär als Sorge, sondern Sorge verweist auf den ihr zugrundeliegenden ekstatischen Daseinsmodus des Menschen und den hiermit verbundenen Vorrang der Zukunft, vgl. A 511 Anm. 129.

144

III. Wolfhart Pannenberg

inmitten der historischen Relativität antizipativ (III.2.3) einen reflektierten Bezug aufs Ganze ermöglicht.953 An der Ausarbeitung von OaG, aus der heraus Pannenberg diese Züge mehr und mehr entwickelt, waren neben Pannenberg selbst Ulrich Wilckens954 sowie Rolf Rendtorff955 und Trutz Rendtorff956 beteiligt. Während letztere sich jedoch im Laufe der Jahre von dem 1961 erstmalig erschienenen Entwurf distanzierten, blieben die darin angelegten Grundlinien für Pannenbergs weiteres theologisches Arbeiten bis in das Spätwerk seiner dreibändigen Systematischen Theologie und damit zeit seines Lebens maßgeblich.957 Als Programmschrift bietet OaG einen Gegenentwurf sowohl zur existenzial geprägten, kerygmatischen Bultmannschule als auch zur Wort-Gottes-Theologie im Gefolge Barths, den zwei in der deutschsprachigen, evangelischen Theologie vorherrschenden Schulrichtungen ihrer Zeit. Pannenberg und seine damaligen Mitstreiter wollten den „antihistorische[n] Glaubenssubjektivismus“958, der beide verband, überwinden und den Graben, der sich darin zwischen Dogmatik und historischer Forschung auftat, überbrücken. Hierfür suchte man nach einer angemessenen Zuordnung von Offenbarung und Geschichte. Indem man die diachrone, geschichtliche Dimension der Offenbarung pointiert herausstrich, sollte Bultmanns existentiale Engführung des Offenbarungsbegriffs auf dessen synchrone, kerygmatische Relevanz überwunden werden, durch die Geschichte auf Geschichtlichkeit reduziert wurde und in der die transsubjektive Relevanz der Geschichte nicht zum Ausdruck kam.959 Ebenso wollte man die Reduktion des Offenbarungsbegriffs auf das senkrecht von oben hereinbrechende Wort Gottes bei Barth überwinden, durch die die Offenbarungsgeschichte als suprarationale Übergeschichte erscheint.960 Beidem stellte man sich nach einem jahre-

953 Ohne das Dass des Einflusses Heideggers zu negieren, hält Wenz jedoch auch fest: Was das für Pannenbergs Theologie grundlegende Programm OaG betrifft, lässt sich der Einfluss Heideggers nicht präzise bestimmen, vgl. Wenz, Begegnungen, 75. 954 Vgl. Wilckens, U., Das Offenbarungsverständnis in der Geschichte des Urchristentums, in: Pannenberg, W. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, 42–90. 955 Vgl. Rendtorff, R., Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel, in: Pannenberg, W. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, 21–41. 956 Vgl. Rendtorff, T., Das Offenbarungsproblem im Kirchenbegriff, in: Pannenberg, W. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen 51982, 115–131. 957 Pannenberg hielt über die Jahre an seinem Programm fest und stellte die Thesen von OaG dabei zugleich immer wieder in neue Zusammenhänge, vgl. Schwöbel, Rational Theology, 498. Er modifizierte sein Arbeiten mit OaG etwa da, wo er festhält, man habe 1961 zu „unvermittelt bibeltheologisch argumentiert“ (OaG VII) und dabei den Gedanken einer Selbstoffenbarung Gottes, der erst neuzeitlichem Denken entsprungen sei, in die Bibel hineingelesen. 958 Wenz, Theologie, 10. Vgl. Mostert, Future, 8. 959 Vgl. Wenz, Kreis, 24. 960 Vgl. Wenz, Kreis, 24.

1.2 Zum Aufbau der Untersuchung

145

langen Diskussionsweg in den 1950ern961 durch die unter III.3. noch in Grundzügen darzulegende Konzeption von OaG. Im Verlauf seines theologischen Arbeitens rückt bei Pannenberg die Idee einer Offenbarung als Geschichte dann faktisch in eine Scharnierfunktion zwischen seiner theologischen Anthropologie, in der er seine Systematik später fundamentaltheologisch grundlegte,962 und den materialen Ausführungen seiner Dogmatik. Dieser systematische Grundzug spiegelt sich auch in der Reihung der folgenden Kapitel wider, die beim Menschen in seinem Ausgriff aufs Ganze einsetzen (III.2.), dem Christus als entscheidende Gestalt der Offenbarung als Geschichte eine tragfähige Antizipation des Ganzen (III.3.) und damit eine theologische Daseinsdeutung im Eigentlichen erst ermöglicht (III.4.). Hiermit wird, so mag man einwenden, Pannenbergs Theologie in einer anderen Reihung präsentiert, als das in einer entstehungsgeschichtlich orientierten Betrachtung der Fall sein würde, in der beispielsweise OaG oder der noch frühere Aufsatz »Heilsgeschehen und Geschichte«963 von 1959 den Auftakt der Untersuchung darstellen könnten. Mit der hier gewählten Reihung soll jedoch das Vermittlungspotenzial der Theologie Pannenbergs zwischen verzeitlichter und theologischer Gegenwartsdeutung in der deutlichsten Weise zum Vorschein gebracht werden. Unter den Gesichtspunkten der Fragestellung dieser Untersuchung ist also eine der Systematik hinter seiner Systematik verpflichtete Darstellung hilfreicher als ein entstehungsgeschichtlicher Aufriss. Dass Pannenberg der Grundkonzeption von OaG zeit seines Lebens folgte, verschafft seinem Werk eine hohe innere Kohärenz, die ein solches Vorgehen ermöglicht. Dabei darf selbstverständlich nicht übersehen werden, dass Pannenberg zur Zeit der Entstehung von OaG theologisch noch nicht in der Weise vom Menschen her dachte, wie er es später in A tut, sondern dass sein Anliegen zunächst war, mit seiner Neufassung des Offenbarungsbegriffs einen Gegenentwurf zur dialektischen Offenbarungstheologie bieten zu wollen.964 Jedoch entfaltete Pannenberg die spätere, anthropologische Grundlegung seiner Theologie, die in der vorliegenden Darstellung bereits vom späteren Pannenberg her vorausgesetzt wird, 961 Vgl. Wenz, Kreis, 17 ff. 962 Vgl. A 11–23. Auch hier geht Pannenberg einen anderen Weg als Barth, über dessen Theologie Weinrich schreibt: „Barth [bestreitet], wenn es um Gott geht, dem Menschen die Möglichkeit […]. von sich aus auch nur in die richtige Richtung blicken zu können. Gott ist kein Gegenstand, auf den die menschliche Erkenntnis früher oder später durch eigene Anstrengungen geführt werden könnte. Und so ist die Theologie alles andere als eine selbstverständliche oder auch nur naheliegende Möglichkeit des Menschen.“ (Weinrich, Barth, 15.) Je mehr Theologie dem „faktisch annullierten Anschein“ hinterherlaufe, „von allgemeinem Interesse zu sein“, desto mehr verspiele sie „auch den Rest an Interesse“ (Weinrich, Barth, 16). 963 In diesem Aufsatz deutet Pannenberg den Begriff der Geschichte im Licht der Eschatologie. In OaG deutet er dann auch den Begriff der Offenbarung im Licht der Eschatologie, vgl. GSTh 1, 6. 964 Vgl. Greive, Glaubwürdigkeit, 148 ff.

146

III. Wolfhart Pannenberg

wie bereits gesagt, nicht in der Abwendung, sondern in der Ausfaltung von OaG.965 Indem OaG im Folgenden als Scharnier zwischen anthropologischer, denkerischer Grundlegung und theologischer Daseinsdeutung dargestellt wird, soll zugleich ein Potenzial dieses Programms kenntlich gemacht werden, nämlich, kurz gesagt, das einer als geschichts- eben auch menschenbezogenen Theologie. In der Darstellung von Pannenbergs Gegenwartsdeutung ist also mit dem in OaG implizit angelegten und in seiner Anthropologie explizierten erkenntnislogischen Einsatz derselben in der Anthropologie einzusetzen (III.2.). OaG (III.3.) fungiert sodann als Scharnier hin zu seiner theologischen Deutung des Jetzt (III.4.), deren Inhalte Pannenberg wiederum als sachlogisch der Anthropologie vorgeordnet versteht.966 Was von III.3. her unter III.4. auszuführen ist, ist also der Sache nach grundlegend für die menschliche Existenz, kann jedoch nur ausgehend von der menschlichen Existenz (III.2.) plausibel dargestellt werden. Die anthropologische Grundlegung der aus Pannenbergs Theologie gewonnenen Gegenwartsdeutung (III.2.) gliedert sich dabei in den menschlichen Ausgriff aufs Ganze als Grunddatum menschlichen Daseins (III.2.1), Zeiterfahrung (III.2.2) und Antizipation (III.2.3). Die theologische Deutung von Gegenwart (III.4.) ist im Hinblick auf Gottesbegriff (III.4.1), Zeitverständnis (III.4.2) und Ekklesiologie (III.4.3) zu entfalten. Diese je drei Punkte korrelieren einander inhaltlich: III.2.1 Der Ausgriff aufs Ganze ↔ III.4.1 Gott, III.2.2 Zeiterfahrung ↔ III.4.2 Zeit, III.2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf ↔ III.4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden. Ekklesiologisch qualifizierte Gegenwart. Die Implikate des menschlichen Gottesbezuges für den Gottesbegriff und die materiale Dogmatik selbst sind größtenteils erst in der theologischen Deutung derselben zu explizieren. Da aber Pannenbergs Anthropologie wenn auch keine dogmatische,967 so doch eine fundamentaltheologische968 Anthropologie ist,969 werden theologische Implikate, wo sie direkt im Selbstverhältnis des Menschen ange965 „So verweist er [Pannenberg; Anm. d. Vf.in] in Offenbarung als Geschichte auf die Bedeutung der Auferstehungshoffnung hin als ‚ein Neuwerden des ganzen Menschen‘ für das Verständnis des Menschen in seiner „unendlichen Offenheit‘ ‚über jede gegebene Situation hinaus‘ (OaG 109). Die Sache des Christentums beeindruckt durch ihre anthropologische Relevanz.“ (Greive, Glaubwürdigkeit, 157.) 966 Vgl. STh I 173 f. Anm. 120. 967 Dogmatische Anthropologie setzt die Wirklichkeit Gottes immer schon voraus, argumentiert also von dogmatischen Voraussetzungen her, vgl. A 21 f. 968 Fundamentaltheologische Anthropologie nimmt ihren Ausgang bei „Phänomenen des Menschseins“ (A 21), wie sie humanbiologisch, psychologisch, kulturanthropologisch und soziologisch untersucht werden können und befragt die Ergebnisse dieser Untersuchungen dann auf theologische Implikate hin. 969 Vgl. A 21.

2. Anthropologische Grundlegung

147

legt sind, bereits in der anthropologischen Grundlegung der Gegenwartsdeutung Pannenbergs aufgeführt. Der in diesem Durchgang durch die Theologie Pannenbergs gewonnene Ertrag für sein Verständnis der Gegenwart des Menschen wird schlussendlich gebündelt (III.5). Erneut beginnt jeder Abschnitt mit einer einleitenden Vorausschau auf die folgenden Unterabschnitte, der der Orientierung der Lesenden dienen soll.970 Die detaillierte Darstellung mit Belegen folgt dann in eben diesen Unterabschnitten. In Zusammenfassungen werden vor allem die Ergebnisse gebündelt, die für die Fragestellung der Arbeit von besonderer Bedeutung sind.

2. Anthropologische Grundlegung Bei Pannenberg kommt der Anthropologie der Rang einer „fundamentaltheologischen Leitwissenschaft“971 zu. So stellt er fest, der Ausgangspunkt einer Theologie, die heute noch als plausibel und relevant wahrgenommen werden möchte, müsse in der Anthropologie liegen, was, da die Existenz Gottes als solche strittig geworden ist, sogar noch umso mehr gelte. „[D]ie christliche Theologie in der Neuzeit [muss] ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen.“972 Es geht dabei „um die Frage, ob Religion unerläßlich zum Menschsein des Menschen gehört oder im Gegenteil dazu beiträgt, den Menschen sich selber zu entfremden.“973 „Es bleibt […] dabei, daß das Verständnis des Menschen, die Anthropologie, über den Zugang zum Gottesgedanken im Streit zwischen Theologie und Atheismus entscheidet“974. 970 Eine Ausnahme hierzu bilden III.2. und III.3., die auch als übergeordnete Abschnitte inhaltlich argumentieren. 971 Wenz, Theologie, 38 (im Original kursiv). Vgl. Munteanu, Was ist der Mensch?, 14–17. 972 A 15. 973 A 15. 974 Pannenberg, Freiheit, 38. Nicht übersehen werden darf darüber hinaus die Bedeutung des Weltverständnisses für die Gottesfrage bei Pannenberg. Weiter folgt nämlich: „obwohl die endgültige Haltbarkeit eines jeden behaupteten Gottesgedankens darüber hinaus am Weltverständnis hängt, daran nämlich, inwieweit ein behaupteter Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit verstehbar wird.“ (Ebd.) Bultmann bezeichnete bereits 1925 Gott als »alles bestimmende Wirklichkeit« und macht an dieser Bestimmung deutlich, dass es kein Reden »über« Gott geben kann und »von« Gott reden immer auch heißt, von sich selbst zu reden, vgl. Bultmann, Sinn, 26–28. Pannenberg nimmt Bultmanns Formel von Gott als »alles bestimmender Wirklichkeit« auf und deutet sie in eigenständiger Weise.

148

III. Wolfhart Pannenberg

Ohne anthropologische Grundlegung nämlich kann die Theologie keinen „stichhaltigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit“975 erweisen, der aber zum Erweis ihrer Wahrheit unumgänglich ist. Damit wendet Pannenberg sich gegen zwei Aporien des Barth‘schen Ansatzes, nämlich zum einen – bezogen auf den antihistorischen Zug der Theologie Barths –, dass ein Überspringen geschichtlicher Kategorien einer durch die Historisierung des Denkens geprägten Neuzeit keinen überzeugenden, theologischen Ansatz präsentieren kann. Erst geschichtliches, theologisches Denken nämlich entspricht ihr – und tiefer noch, dem Geschichtswesen Mensch. Zum anderen stellt Pannenberg an Barths Glaubenssubjektivismus die Frage, ob Barth mit seinem »Glaubenswagnis« nicht gegen seine eigene Intention sehr wohl anthropologisch einsetze,976 und bemerkt, dass Barth den theologischen „Subjektivismus wider Willen auf die äußerste Spitze getrieben“ habe und gerade durch die „Abweisung der Anthropologie […] erst recht in die Abhängigkeit anthropologischer Bedingtheit“977 geraten sei. Der Glaube erschien nämlich, da Barth in seiner Theologie mit einer „Entscheidung, mit Gott selber zu beginnen,“ nicht einer „Begründung“ einsetzte, als „willkürliche subjektive Setzung des Menschen“978. Barth habe da Recht mit seiner Kritik, wo die Theologie des 19. Jh.s sich „allzu arglos und unbesehen auf philosophische Positionen einließ, die ihrerseits auf einer Verselbständigung des Menschen gegen die Theologie und ihr Thema beruhten.“979 Die Aneignung anthropologischer Grundlagen der Theologie muss daher stets kritisch geschehen, aber sie muss geschehen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Geschichtswissenschaft.980 „Die konkrete Wirklichkeit des Menschen wird am ehesten von der Geschichtswissenschaft erreicht; denn diese handelt vom konkreten Lebensvollzug der Individuen und ihrem Zusammenwirken im Prozeß ihrer Geschichte.“981 Pannenberg versteht den Menschen nämlich primär als Geschichtswesen.982 Jede biologische, psychologische oder soziologische Beschreibung des Menschen, die seine Geschichtlichkeit nicht erfasst, bleibt abstrakt. In seiner Konkretheit wird der Mensch erst geschichtlich erfasst, schließlich „findet der Lebensvollzug des 975 976 977 978 979 980

A 15. Vgl. STh I 54. A 16 (kursiv im Original). A 16. A 18. Beispielhaft nennt Pannenberg die Moralphilosophie Kants. Pannenberg zählt Humanbiologie, Psychologie, Kulturanthropologie und Soziologie als fundamentaltheologisch heranzuziehende Referenzen auf, stellt aber die Geschichtswissenschaft in den Vordergrund, vgl. A 21 f. 981 A 22. 982 Die Geschichtswissenschaft stellt für Pannenberg die „pyramidale Spitze aller anthropologischen Wissenschaften“ (Wenz, Theologie, 39) dar.

2. Anthropologische Grundlegung

149

Menschen seine Konkretion in der Geschichte“983. Auch die Theologie darf daher die Geschichtlichkeit des Menschen und die damit verknüpfte Frage nach der Geschichte als solcher nicht umgehen, will sie nicht am Menschen vorbei denken. Die Existenzerschließung des Menschen als geschichtlich verfasstem Wesen, das auf Zukunft und damit auf eine Ganzheit hin angelegt ist, bildet in der Folge die Basis des theologischen Denkens Pannenbergs. Indem er anthropologisch bei der Grunderfahrung des Menschen als zeitlich verfasstem Wesen ansetzt, verortet er den hermeneutischen Ursprung jeglicher Geschichtstheologie in der Struktur des Menschseins. Diese Struktur wiederum erschließt Pannenberg wesenhaft über einen Gottesbegriff. Wo im Folgenden also bereits in der anthropologischen Grundlegung theologische Bezüge dargelegt werden, geschieht dies, da diese bei Pannenberg unmittelbar derselben entspringen. Für Pannenberg ist nämlich der Mensch als solcher nie ohne Gottesbezug denkbar, wie auch Gunther Wenz hervorhebt: „[A]nthropologische […] Phänomene werden [bei Pannenberg] auf ihre religiösen und theologischen Implikationen hin durchsichtig gemacht mit dem Ziel, das religiöse Verhältnis und den Gottesbezug als konstitutiv zum Menschsein des Menschen gehörig zu erweisen.“984 „Die Frage des Menschen nach sich selber und die Frage nach der göttlichen Wirklichkeit gehören zusammen“985. So gehört zur Ursituation des Menschen nach Pannenberg ein unthematisches Wissen von Gott, das nicht in inhaltlicher Kenntnis besteht und doch lebensgeschichtliche Wirksamkeit entfaltet.986 Dabei motiviert auch die Bindung des Menschen an seine Gegenwart den Ausgriff des ekstatisch verfassten Menschen über sein Jetzt hinaus auf ein Daseinsganzes, was Pannenberg als einen sich zunächst im Modus der Unausdrücklichkeit vollziehenden, impliziten Ausgriff auf Gott987 versteht. Es ist dabei stets die Frage nach einem tragfähigen Selbstentwurf, die den Menschen zu diesem Ausgriff veranlasst. Pannenbergs Theologie bietet durch eben diese anthropologische Fundierung, hinter der das Interesse an der Vermittelbarkeit und Plausibilisierung christlicher Theologie steht,988 sowie durch die sich darin aus983 984 985 986 987

A 472. Wenz, Theologie, 38. A 69. Vgl. STh I 129. Vgl. zur Darstellung dieses Topos Oehl, Th., Gottes strittige Wirklichkeit und unthematisches Wissen von Gott. Zum Zusammenhang zweier Kerngedanken in Pannenbergs Theologie, in: Wenz, G. (Hrsg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018, 119–134; sowie zum für Pannenberg in diesem Zusammenhang sehr bedeutsamen Zusammenhang von Gegenwart und Geist A 510 f. und III.4.2.3. 988 Vgl. A 15 ff.

150

III. Wolfhart Pannenberg

drückende Geschichtsbezogenheit989 ein relevantes Modell, Fragen nach der Bedeutung menschlicher Lebensgegenwart zu bedenken. Nach dem menschlichen Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) sind darum die diesem zugrunde liegende Erfahrung von Zeit (III.2.2) sowie der aus diesem beiden resultierende Daseinsmodus der Antizipation darzustellen (III.2.3). Die für den weiteren Fortgang der Argumentation entscheidendsten Ergebnisse werden als kurzer Zwischenertrag zusammengefasst (III.2.4).

2.1

Der Ausgriff aufs Ganze

Das Selbstverständnis des Menschen bestimmt sich nach Pannenberg durch vorläufige Antworten.990 Der in diesen Antworten vorgenommene Ausgriff aufs Ganze ermöglicht dem Menschen einen Selbstentwurf zu bilden und stellt die erkenntnislogische Grundlage der Theologie dar. Dieser Topos, der bereits in A Gestalt angenommen hat,991 bildet dann auch den Auftakt der STh: Das Fragen nach der Wahrheit der christlichen Lehre, die Pannenberg als Thema, nicht nur als Voraussetzung der systematischen Theologie bestimmt,992 verweist nämlich auf den menschlichen Ausgriff auf ein Ganzes als Ausgangspunkt religiöser Erfahrung.993 Vom Menschen in seinem Selbstentwurf zu sprechen heißt dabei letztlich, auf Gott zu sprechen zu kommen, insofern als dass der Ausgriff aufs Ganze schließlich bis auf die „alles bestimmende Wirklichkeit“994 und damit Gott verweist. In den folgenden zwei Kapiteln wird also zu belegen sein, dass Pannenberg den Menschen als Wesen deutet, das sich selbst aus vorläufigen Antworten entwirft. Dem Menschsein in seiner Geschichtlichkeit ist damit ein zunächst einmal unthematischer Ausgriff auf eine Sinntotalität inhärent, die dem Menschen primär religiös ins Bewusstsein tritt. Der Selbstentwurf des Menschen, der sich in vorläufigen Antworten vollzieht, greift faktisch auf Gott aus (III.2.1.1). In seiner Geschichtlichkeit gelangt der Mensch damit zu einem zunächst impliziten Gottesbezug, der, vor allem durch dessen geschichtliche Explikation in der jüdischchristlichen Gotteserfahrung, die eschatologisch die Bedeutung der Zukunft für die Geschichtlichkeit des Menschen hervortreten lässt, als konkreter Gottesgedanke 989 990 991 992 993 994

Vgl. A 22. Vgl. STh I 130. Vgl. A 11–23.233–235.237 u. ö. Vgl. STh I 58 ff. Vgl. STh I 127 ff. Pannenberg, Freiheit, 38; vgl. WuTh 299 ff.318.323 u. ö. Für Bultmann, der die Formel von Gott als alles bestimmender Wirklichkeit geprägt hat, folgt aus dieser Formel zugleich, dass der Mensch von sich reden muss, wenn er von Gott redet und eine Rede „über Gott“ (Bultmann, Sinn, 26) wie über einen vom Menschen getrennten Gegenstand nicht möglich ist. Auch für Pannenberg sind Gottesbegriff und Welt- und Selbstverständnis untrennbar verbunden.

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

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das Geschichtsbewusstsein des Menschen freisetzt und zur Ausbildung einer universalgeschichtlichen Perspektive führt, in der der Mensch sich verorten muss. Ihre gemeinsame Zukunft verbindet in dieser universalgeschichtlichen Perspektive Vergangenheit und Gegenwart (III.2.1.2). Dass Pannenbergs Anthropologie sich als fundamentaltheologische Anthropologie versteht, wird an den bereits in den zwei folgenden Kapiteln deutlich aufleuchtenden Implikationen derselben im Hinblick auf sein Gottesbild deutlich werden. 2.1.1

Auf Gott hin. Selbstentwurf zwischen vorläufigen Antworten

Pannenberg versteht den Menschen ausdrücklich nicht als Element der Frage, sondern der Antwort. Die generalisierende Annahme, die Seinsfrage sei Kennzeichen menschlicher Daseinsstruktur, nennt Pannenberg eine „pathetische Abstraktion“995. Der „Mensch existiert keineswegs in der ständigen Offenheit der Frage.“996 Menschen entwerfen ihr Selbst stattdessen „immer schon aus vorläufigen ‚Antworten‘ auf die ‚Frage‘ ihrer Existenz, Antworten, die so lange beibehalten werden, wie sie sich als tragfähig bewähren, dem Grundvertrauen einen verläßlichen Halt bieten.“997 Der Mensch befindet sich mit den Antworten, die er auf die Fragen seines Daseins und seiner Identität gebildet hat, je jetzt erst noch auf dem Weg zu sich selbst.998 Hierbei prägt das lebensgeschichtliche Unterwegssein eines Menschen seine Individualität.999 Der Mensch kreiert auf seinem Lebensweg seine Identität aus Antworten, die ihm heute tragfähig erscheinen und durch die er geschichtlich in seiner Individualität geprägt wurde, und überschreitet diese doch zugleich auf eine Zukunft hin. Die menschliche Identität setzt sich so aus vorläufigen Antworten zusammen, die die größtmögliche Gewissheit bezüglich der eigenen Identität und Zukunft in die Ungewissheit der Gegenwart bringen sollen. Die so geschehende Überschreitung des Lebensjetzt auf ein Lebensganzes hin bedeutet den zunächst einmal unthematischen Ausgriff auf eine Sinntotalität, ja die unbestimmte, intuitive Anwesenheit des Ganzen im Gefühl.1000 Diese „Gegen995 STh I 130. Pannenberg verweist auf die katholische Theologie, die so argumentiere, namentlich K. Rahner und J.B. Metz, ebd. Anm. 185. Nach dem Ersten Weltkrieg sei die Vorstellung des Menschen als Frage nach Gott auch in der evangelischen Theologie faktisch an die Stelle einer natürlichen Theologie getreten, vgl. ebd. 996 STh I 130. 997 STh I 130. 998 Wie der Mensch dabei doch „schon gegenwärtig irgendwie die Person“ (STh III 650) sein kann, die er erst sein wird, wird unter III.2.2.3 zu fragen sein. 999 Vgl. Pannenberg, Mensch, 97. 1000 Vgl. STh III 193 Anm. 212. Dieses Sinnganze kann bereits als proleptischer Anteil an der Zukunft Gottes gedeutet werden, vgl. Pękala, Vielfalt, 75. Oehl erhellt, warum der spätere Pannenberg in STh im Gegensatz zu WuTh Sinntotalität und intuierter Unendlichkeit dieselbe Funktion zuschreiben konnte. So habe Pannenberg in der Unendlichkeitsintuition wohl zuerst eine (rein, nicht theo-) anthropologische Fundierung der Theologie

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III. Wolfhart Pannenberg

wart des Endgültigen und wahrhaft Wirklichen“ wird präreflexiv erlebt „als Gegensatz des Ewigen und Bleibenden zum Bereich des in der Zeit Veränderlichen und Vergänglichen.“1001 „Der primäre Zugang zu jenem nur im Fragment gegebenen Ganzen liegt im Gefühl.“1002 Die Erfahrung der eigenen Endlichkeit verweist aber dann, so wie jede Grenze nach dem Dahinter fragen lässt, dort, wo sie den Raum des Präreflexiven überschreitet und ins Bewusstsein tritt, auf die Frage nach einer tiefer liegenden Wirklichkeit – und damit nach einem thematisch explizierten Sinnkonzept. Die zunächst noch intuitive Erfahrung des Ganzen wird, wo sie dem Menschen thematisch wird und ins Bewusstsein tritt, in der Reflexion auf ihre Geschichtlichkeit als Antizipation erkennbar. „Erst die Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Erfahrung jenes Ewigen und Bleibenden erfaßt diese Erfahrung als Antizipation.“1003 Jegliche, so auch eigene Grenzen implizieren dabei stets ein Anderes hinter diesen Grenzen, denn Endlichkeit kann nicht ohne Unendlichkeit gedacht werden.1004 Die Identität des Menschen, die sich im Spannungsfeld aus dem zunächst unthematischen Empfinden einer Sinntotalität und dann dem thematischen Reflektieren desselben im Angesicht der eigenen Endlichkeit herausbildet, ist für Pannenberg religiös konnotiert: „Die aller Erfahrung vorgängige und alle endlichen Gegebenheiten einschließlich des eigenen Ich übersteigende Wirklichkeit, derer wir im Bewußtsein unserer Endlichkeit gewahr werden können, ist dem Menschen primär in der Form religiöser Erfahrung zu Bewußtsein gekommen.“1005

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gesehen und dies Urteil später revidiert, als er die Unendlichkeitsintuition als nicht im Menschen begründete zu deuten begann. Dem zugrunde liegt eine Weiterentwicklung seiner Argumentation: „[D]er Totalitätsbegriff ist nicht von einer seiner Realisationen her zu begründen, wie [Pannenberg] dies 1973 versucht hatte, sondern umgekehrt sind seine Realisationen durch eine Untersuchung dieses Begriffs als solchem als eben dessen Realisationen aufzuweisen. […] Denn dass es so etwas wie Sinntotalität gibt, lässt sich nicht unmittelbar am Sinn aufweisen, sondern nur, wenn man den Sinn als Realisation des begrifflichen Zusammenhangs von Endlichem und Unendlichem aufweist […]; man muss argumentieren, dass der Sinnbegriff nicht ohne Rekurs auf das begriffliche Verhältnis von Endlichem und Unendlichem zu verstehen ist.“ (Oehl, Wirklichkeit, 132 f.; kursiv im Original). A 502. A 503. Das Begriffspaar des Ganzen und des Fragments ruft Assoziationen zu Balthasar wach. Tatsächlich versteht Pannenberg ihn als verwandten Denker, bei dem er allerdings die „begriffliche Analyse“ (A 503 Anm. 108) vermisst. A 502. Endlichkeit ist nämlich die „Einschränkung des Unendlichen“ (Oehl, Wirklichkeit, 123) – und Unendlichkeit nach cartesianischer, vorkantischer Ontologie ihre als Wirklichkeit gegebene Voraussetzung, vgl. ebd. Zu Pannenbergs Kritik an Kants Deutung von Descartes vgl. STh I 381 f. BSTh 1, 30.

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

153

Diese religiöse Erfahrung, die ein implizites Wissen des Menschen von Gott darstellt, bestimmt Pannenberg erneut als Antwort des Menschen auf die Fragen seiner Daseinssituation. Aus dieser Antwort heraus erst können Fragen entstehen, die zunächst implizit Fragen nach Gott sind, indem sie „ein Ungenügen an den endlichen Dingen der Welterfahrung“1006 ausdrücken. Wenn dieses Ungenügen dann einem Wissen von Gott aus anderen Quellen begegnet, können diese Fragen auch explizit die Form von Fragen nach Gott annehmen. Pannenberg geht also von einer religiös konnotierten Form der »natürlichen Kenntnis Gottes«1007 aus, die sich als zunächst „unthematische Präsenz des Ganzen des Lebens“ und damit als „unthematisches Wissen von Gott“1008 im zeitlich-biografischen Verlauf menschlichen Lebens – und dann auch dessen Reflexion – einstellt.1009 Gott ist damit „jedem Menschen von allem Anfang an gegenwärtig und wird von einem jeden gekannt, obwohl er noch nicht als Gott gewußt wird.“1010 1006 STh I 130. 1007 Dabei handelt es sich aus Pannenbergs Sicht um die Gotteserfahrung der Religionen im „Prozeß der Welterfahrung und des durch sie entstehenden Bewußtseins von Gott“ (STh I 131). Die verschiedenen Religionen sind daher mitnichten pauschal als Götzendienst zu verurteilen, sondern verdienen eine differenzierte Betrachtung. Pannenberg unterscheidet die ursprüngliche »natürliche Religion« der antiken Philosophie, die den Gottesgedanken von der politischen und dichterischen Theologie unterschied, von der späteren »natürlichen Theologie« der Aufklärung, die darunter eine ursprünglichere, abstrakte Form der Gotteslehre verstand, die von den positiven Religionen gewissermaßen verunreinigt worden wäre, oder auch die zu gewinnende Abstraktion aus den am höchsten entwickelten positiven Religionen. Pannenberg hebt mit Hume und Schleiermacher dagegen hervor, dass eine solche abstrakte natürliche Theologie von ihren positiven Vorformen abhängig sei (Schleiermacher) und sich faktisch nirgendwo ausgebildet habe, sondern dass das menschliche Gottesbewusstsein stets die Form der positiven Religionen angenommen habe (Hume), vgl. STh I 110 f.140.143.151. Gotteserkenntnis werde jedoch dann zum Produkt anstelle des Grundes von Religion, wenn Glaube sich nicht im geschichtlichen Offenbarungshandeln Gottes begründet weiß, das dem menschlichen Bewusstsein gegenübersteht, sondern in einer natürlichen Religion verankert wird, die vermittels natürlicher Theologie das Gottesbewusstsein des Menschen anstelle des Handelns Gottes in den Fokus rückt, vgl. STh I 137 f. 1008 Wenz, Theologie, 46. Oehl weist darauf hin, dass dieses »Wissen« als unthematisches epistemisch im Modus der „Gewissheit“ (Oehl, Wirklichkeit, 122; kursiv im Original) vorliegt und als „präreflexives, intuitives, gefühlsmäßiges, ahnendes – eben unthematisches – Wissen […]aus kategorialen Gründen nicht falsifizierbar“ ist, nämlich da es kein „propositionales Wissen“ (Oehl, Wirklichkeit, 122; kursiv im Original) ist. 1009 Das unthematische Wissen von Gott ist kein zeitloses Gefühl. Pannenberg denkt den Menschen auch in Bezug auf dessen Erkenntnismöglichkeiten nie ohne Absehung von dessen Geschichtlichkeit. So sieht Pannenberg zwar das transzendentale Ich im Sinne Kants, das nicht, wie noch bei Descartes von einem Gottesbegriff her erschlossen wird, als entscheidendes Erkenntnissubjekt an. Allerdings bildet das Transzendentalsubjekt erst geschichtlich seine Identität heraus. Pannenberg historisiert damit Kant, vgl. Wenz, Theologie, 52 f. 1010 STh I 131. Für jeden Menschen, ob Christ oder nicht, besteht zudem die Hoffnung, in Gottes Reich zu gelangen, da hierfür die Übereinstimmung mit dem von Jesus verkündigten Gotteswillen entscheidend ist, nicht die zufällige lebensgeschichtliche Begegnung

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III. Wolfhart Pannenberg

Oehl unterscheidet dabei drei Ebenen, „auf denen das unthematische Wissen von Gott auftritt“1011: die Ebene von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, die Ebene der philosophischen Reflexio1012 und die Ebene der theologischen Thematisierung des ursprünglich unthematischen Wissens von Gott.1013 Auf der ersten Ebene wird der Begriff »Gott« vom Menschen noch gar nicht reflektiert verwendet, da diese Ebene nicht begrifflich, sondern präreflexiv, intuitiv verfasst ist. Die begriffliche Reflexion, die dann auch mit einer inhaltlichen Füllung des Begriffs Gott einhergeht, geschieht erst auf der zweiten Ebene, wo die zunächst unthematische Reflexion aufs Ganze thematisch wird und somit auch begrifflich expliziert wird, etwa in philosophischer Reflexion.1014 Der Begriff »Gott« stellt, wo er in der Beschreibung der ersten beiden Ebenen verwendet wird, zunächst eine Chiffre dafür da, vor das „Ganze der Wirklichkeit“1015 gestellt zu sein. Das gilt auch da noch, wo, wie es in „den säkularen Kulturen der Neuzeit“ mehr und mehr der Fall ist, die im „Wort benannte Wirklichkeit unsicher geworden“1016 ist. Der Begriff Gott bleibt damit, obwohl strittig, für den Menschen, der ja in seinem Dasein aufs Ganze ausgreifen muss, unverzichtbar und ist von daher, wie die Sache, für die er nun zunächst einmal als Chiffre steht, als zum Menschsein gehörig zu verstehen. Um als ein »der Realität entsprechender« Begriff tatsächlich plausibilisierbar zu sein, muss er zugleich einen Weltbezug aufweisen. Er würde sonst ja auch nicht vor das Ganze der Wirklichkeit stellen. Der Gottesgedanke, den der Mensch entwickelt, da er sich je und je heute auf morgen und damit letztlich in der Begrenztheit seiner Biografie auf ein Ganzes hin entwerfen muss, muss nämlich menschlicher Welterfahrung zugänglich sein und ihr entsprechen, denn ein Gott, der die Welt nicht »bestimmen« würde, wäre kein Gott:

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mit der Kirche, vgl. STh III 662. Pannenberg unterscheidet in der Folge zwischen einer bewussten und einer unbewussten Teilhabe an Jesus Christus. Christen haben demnach lediglich den noetischen Vorsprung, schon jetzt ihr Leben in Gottes Hand geborgen zu wissen, vgl. STh III 663. Oehl, Wirklichkeit, 123. Oehl nennt das unthematische (und philosophische) Wissen von Gott eine „instantane, ja zeitlose“ (Oehl, Wirklichkeit, 125) Form des Gottesbewusstseins, von der jedoch nach Pannenberg gilt: „Da Gott sich wesentlich geschichtlich offenbart, ist er nicht instantan offenbar“ (ebd.). Immerhin aber verweist, so die in dieser Untersuchung vertretene These, das instantane Moment des menschlichen Daseins als solches den Menschen insofern auf seinen Gottesbezug, als dass es ihn zu einem Überschritt über seine Gegenwart auf seine Zukunft hin bewegt und Gott die Macht der Zukunft darstellt. Insofern steht es nicht in einem absoluten Gegensatz zum geschichtlichen Selbsterweis Gottes. Vgl. Oehl, Wirklichkeit, 123. Strittig ist dabei, ob es Gott als intuitiv erahnten Unendlichen gibt, unstrittig ist nach Pannenberg jedoch, wie die Philosophie in der Metaphysik erweist, dass es „ein solches Unendliches gibt. […] [D]arin liegt ein wesentlicher Grund, warum Theologie der Metaphysik bedarf.“ (Oehl, Wirklichkeit, 126.) STh I 81. Pannenberg zitiert hier K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, 1976, 57. STh I 73.

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

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„Erst dadurch, daß die Welt sich als bestimmt durch den vom Menschen geglaubten und gedachten Gott erweist, kann sich das Gottesbewußtsein der Religion seiner Wahrheit vergewissern.“1017 Gott muss damit die „alles bestimmende […] Wirklichkeit“1018 sein. Sonst wäre er nicht Gott. Die mit seinem Weltbezug gesetzte Frage nach der Realität und Macht eines Gottes stellt sich dabei in einer auf eine unbekannte Zukunft hin offenen Welt immer wieder neu und setzt zugleich die zeitüberbrückende Kontinuität der Macht Gottes voraus. So gilt: „Ein Gott wird als eine zeitübergreifend identische Macht geglaubt“1019 und „Götter, die Gegenstand religiöser Verehrung werden, sind nicht nur Augenblicksgrößen, sondern Mächte, von denen immer wieder bestimmte Machtwirkungen erwartet werden.“1020 Wo der Mensch sich also als gebunden an sein Jetzt erlebt, erwartet er von Gott, dass dieser mehr als eine Momenterscheinung sei. Dieser übergreifende Anspruch des menschlichen Selbstbewusstseins an den von ihm erdachten Gottesbegriff reibt sich jedoch an der Unabgeschlossenheit und Subjektivität und damit der Begrenztheit menschlicher Welt- und Lebenserfahrung, der er zugleich entspringt. Zudem gilt: Unendlichkeit bleibt solange selbst endlich, wie sie das Endliche nicht mit umfasst. Daher ist ein Gottesgedanke erforderlich, der Transzendenz und Immanenz umfasst und im Verlauf der Reflexion auf ihn zum Begriff des Geistes als Absolutem führt, ohne sich jedoch in diesem Begriff als Begriff aufzulösen,1021 denn Begriffe, so auch der Gottesgedanke, stellen für Pannenberg Antizipationen dar,1022 die auf zukünftige Bewährung harren.1023 Im Falle des Gottesgedankens rechnet 1017 STh I 174 f. „Das geschieht nicht in der Weise des kosmologischen Gottesbeweises, der im Rückschluß von der Welt, insbesondere von der Zufälligkeit alles Endlichen, einen von sich aus seienden Ursprung oder Urheber der Welt postuliert. Für den Gottesglauben der Religion ist der Gottesgedanke vielmehr schon Ausgangspunkt der Hinwendung zur Welterfahrung, und die Welterfahrung hat die Funktion einer Bewährung oder auch Nichtbewährung der im religiösen Gottesgedanken immer schon beanspruchten Wahrheit, daß Gott die alles bestimmende Wirklichkeit ist.“ (STh I 175.) Bewährt der Gottesgedanke sich, versteht Pannenberg dies als „Selbsterweis des geglaubten Gottes im Medium der Welterfahrung“ (ebd.), bewährt er sich nicht, erscheint er als „bloß subjektive Vorstellung des Menschen“ (ebd.). Zugleich, so sei ergänzt, ermöglicht der Weltbezug des Gottesgedankens nach Pannenberg das Aufbrechen jeglicher narzisstischer Anthropozentrik, da ein Gottesgedanke auf die Fülle und Vielfalt des Daseins bezogen werden muss, um als solcher glaubhaft sein zu können. 1018 WuTh 302.318. Vgl. WuTh 323. 1019 STh I 176. 1020 STh I 176. 1021 Vgl. Wenz, Theologie, 49 f. 1022 Vgl. III.2.3.2. 1023 Die hinter all diesem aufleuchtende Frage nach der Identität zwischen dem über Unendlichkeit erahnten Gott und Gott selbst als alles bestimmender Wirklichkeit kann mit Pan-

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III. Wolfhart Pannenberg

Pannenberg mit dessen Bewährung durch den Erdachten selbst, nämlich Gott, wobei diese Bewährung real in der Welt und damit in der Geschichte geschehen muss. Im diesem Abschnitt korrespondierenden Kapitel, das die dritte Ebene der theologischen Reflexion betritt, nämlich III.4.1 über Gott als Macht der Zukunft, wird dies näher zu erläutern sein. Pannenberg erwartet die tiefste Antwort auf die notwendigerweise aus der Unabgeschlossenheit und Endlichkeit menschlichen Daseins resultierenden, ganz unterschiedlichen, möglichen Antworten damit von einem Gott, der unabhängig von dem vom Menschen über ihn erdachten Gottesgedanken »da sein« muss, da ansonsten „der Gottesgedanke selbst aufgehoben, weil als bloße Setzung des religiösen Bewußtseins behandelt würde.“1024 Pannenberg hält einen Gottesgedanken ohne einen »realen Gott hinter dem Begriff« für ein Oxymoron, wodurch der Begriff Gott äquivok würde. Wahrzunehmen ist also bereits hier: Der Gottesbegriff, also der Begriff der alles bestimmenden Wirklichkeit, wird von Pannenberg „von vornherein als als Explikat einer Erfahrung begriffen […], einer Erfahrung, in der Gott sich selbst zu erfahren gibt.“1025 Die »alles bestimmende Wirklichkeit« kann nur durch sich selbst zugänglich werden. Ein solcher „Selbsterweis“1026 Gottes entspräche auch der Logik des Gottesgedankens.1027 Es geht Pannenberg also nicht allein um Deduktionen aus einem Begriff, die nur weitere Begriffe hervorbringen könnten, sondern um einen Erweis durch Erfahrung, der auf der „Selbstexplikation“1028 Gottes beruht.

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nenberg als Bedingung der Wissenschaftlichkeit der Theologie verstanden werden. „Da das Unendliche, qua Intuition und Reflexion, nicht schon mit Gott zu identifizieren ist, bleibt der hypothetische Charakter der Theologie erhalten“ (Oehl, Wirklichkeit, 129 f.), da sie so einen unabhängig von ihr bestehenden Bezugspunkt, nämlich das „im unthematischen Gottesbewusstsein intuierte Unendliche“ (Oehl, Wirklichkeit, 125), hat und zugleich eine Forschungsfrage, nämlich ob dieses Unendliche der christliche Gott sei und wie sich damit das Eine zum Anderen verhalte., vgl. Oehl, Wirklichkeit, 126. STh I 176 Anm. 125. Das Zitat entstammt einer kritischen Bezugnahme Pannenbergs auf Tworuschka und damit einem anderen Argumentationszusammenhang als dem hier dargestellten, verdeutlicht jedoch, dass Pannenberg einen Gottesgedanken ohne einen »realen« Gott für ein Oxymoron hält. Gott muss als alles bestimmende Wirklichkeit mehr sein als ein Gedanke, dessen Geschichte die Theologie untersucht, vgl. WuTh 299 ff. Gott, nicht nur die Geschichte des Christentums ist darum Gegenstand der Theologie, vgl. ebd. Zwar hat der Mensch nur einen Gottesgedanken, nicht Gott selbst. Gott, nicht der Gottesgedanke, bleibt jedoch entscheidend für Theologie, denn würde der Gottesgedanke auch theologisch rein als menschliche Projektion bestimmt und könnte Theologie in der Folge lediglich noch Umfang und Geschichte dieses Gedankens untersuchen, ginge Theologie in Anthropologie, Psychologie oder Soziologie auf, vgl. WuTh 302. Schmidt, Einheit, 115. OaG 105. Pannenberg bezeichnet die logische Bewährung des Gottesgedankens als „Selbstbeweis Gottes“ als eine „Form des ontologischen Gottesbeweises“, da sie „nicht durch eine dem Gottesgedanken äußerliche Instanz erfolgt“ (WuTh 302). Jedoch bleibt der Gottesgedanke, da diese Bewährung heute noch nicht abschließend möglich ist, „Hypothese“ (ebd.). Schmidt, Einheit, 115 (kursiv im Original).

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

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Pannenberg setzt also in seinem Argumentationsgang beim geschichtlichen Dasein des Menschen ein, das über den lebensgeschichtlich je jetzt unverzichtbaren Ausgriff aufs Ganze zu einem Gottesgedanken führt, ohne jedoch Gott lediglich als Implikat menschlichen Bewusstseins zu deuten. Um als an seine Gegenwart gebundenes Wesen, dessen Selbstentwurf in antizipativen Antworten besteht, zu sich selbst zu finden, braucht der Mensch aus Pannenbergs Perspektive Gott, nicht nur einen Gottesgedanken. Das zeigt sich auch im folgenden Kapitel, in dem dem hier umrissenen, unthematisch einsetzenden Ausgriff auf eine Sinntotalität, der dem Menschen auf seiner zweiten, reflexiven Ebene ins Bewustsein tritt, der in der Gottesbegegnung thematisch werdende, menschliche Ausgriff auf die Universalgeschichte ergänzt wird. 2.1.2

Der Ausgriff auf die Universalgeschichte

Das nun folgende Kapitel greift inhaltlich insofern in Teilen bereits III.3. voraus, als dass der im Folgenden thematisierte Ausgriff auf die Universalgeschichte erst nach Christus und der sich in ihm vollziehenden Offenbarung als Geschichte im eigentlichen Sinne thematisch werden und ins Bewusstsein des Menschen treten konnte. Dieser Vorgriff ist an dieser Stelle nötig, da Pannenberg in die neuzeitliche Situation nach Christus hinein schreibt. Der Ausgriff auf die Universalgeschichte betrifft den Menschen seit Christus nämlich nun auch da, wo er sein Dasein ohne einen Christusbezug zu deuten scheint, und gehört von daher in die fundamentaltheologische Anthropologie. Für Pannenbergs Anthropologie gibt es wohl kaum einen zentraleren Satz als: „Der Mensch ist seinem Wesen nach geschichtlich.“1029 Der einzelne Mensch wie auch die Menschheit als Ganze sind geschichtlich verfasst.1030 Unter Geschichte versteht Pannenberg dabei eine „kontingente Ereignisfolge, deren vollständiges Verständnis nur im Zusammenhang einer Antizipation der Wirklichkeit im Ganzen möglich wird“1031. Geschehen und Verständnis desselben bilden dabei einen überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang.1032 In Pannenbergs Anthropologie kommt der Geschichtswissenschaft darum größte Bedeutung zu, da sie „der gelebten Wirklichkeit des Menschen am nächsten“1033 kommt, transzendiert der 1029 Pannenberg, Mensch, 96. Vgl. Wenz, Theologie, 41 f. 1030 Vgl. A 472. 1031 Nüssel, Geschichte, 83. Nüssel zeichnet dort die Entwicklung dieses in WuTh 31–73 vertretenen Geschichtsverständnisses in seiner Entwicklung aus OaG nach. Pannenbergs Geschichtsverständnis integriert dabei die Möglichkeit neuartigen, analogielosen Geschehens sowie evolutiver Episoden, die gesetzmäßigen Entwicklungen unterliegen, und reflektiert auf der Metaebene darauf, dass die Entdeckung sich wiederholender, allgemeiner Strukturen ebenfalls historisches Geschehen in Form von Erzählung sei. 1032 Vgl. III.3.1. 1033 A 472.

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III. Wolfhart Pannenberg

Mensch sich in der ihm eigenen, elementaren Offenheit doch selbst, da er von dem Geschehen aus, das er erlebt, nach einem Verständnis desselben sucht, was ihm nur möglich ist im Ausgriff auf die Totalität der Wirklichkeit, die er geschichtlich erlebt. Der Mensch ist demnach nicht über eine statische Natur erfassbar, sondern nur über (seine) Geschichte.1034 Damit tritt die stets nur vorläufig beantwortbare Frage der Universalgeschichte auf den Plan, in die der Mensch seine Lebensgegenwart einbetten muss. Dem menschlichen Ausgriff aufs Ganze entspringt nämlich im Hinblick auf die das Gegenwärtige übersteigende Zukunft die Frage nach der Vollendung der Geschichte. Die Antwort auf diese Frage ist als Bezugsrahmen der menschlichen Antworten auf seine Daseinsfragen sowohl unverzichtbar als auch unerreichbar. Der geschichtliche Verlauf selbst mit seinem Wechsel aus Aufstieg und Niedergang kann nämlich nicht zur Vollendung führen. „Die Vollendung, um die es den Menschen in der Geschichte geht, übersteigt die Schranken jeder geschichtlichen Gegenwart“1035. Der ungewisse Ausgang der Geschichte ist durch Geschichtsschreibung zudem gar nicht erfassbar1036 und die unaufhebbare „Endlichkeit der Erfahrung“1037 des Menschen unüberspringbar.1038 Der geschichtliche Verlauf vollzieht sich in einer vom Menschen aus unauflösbaren Spannung aus Entropie und Evolution.1039 So strebt das Universum einerseits – zumindest, sollte es ein in sich abgeschlossenes System sein – gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik auf den Wärmetod hin, andererseits entwickelten sich immer komplexere Strukturen und Organisationsformen des Lebens. Die ekstatische Offenheit des Menschen über sich selbst hinaus, die auf die Offenheit geschichtlichen Geschehens trifft, verweist den Menschen somit an einen umfassenden, gegenwärtig jedoch nicht abschließend erfassbaren

1034 Vgl. A 473–478.478 ff. 1035 A 473. 1036 Pannenberg benennt diverse Aporien wie diese als Grund der Abkehr von der Suche nach einem Sinn der Geschichte, wie ihn epochemachend Löwith vollzogen hat, vgl. GSTh 2, 112 f.: Ist die Menschheit Handlungssubjekt der Geschichte erscheint sie als Hypostasierung eines individuellen Ichs, doch gibt es keine Menschheitsgeschichte, bleibt nur die Vielzahl einzelner und verstrickter Interaktionen von Individuen. Gibt es Geschichte, muss es ein Kontinuum durch die Zeit geben, doch worin soll es bestehen, in Strukturen oder in seiner Darstellung, was dem Historiker eine quasi göttliche Stellung einbrächte? Im Gegensatz zu Löwith geht Pannenberg dennoch von einem Sinn der Geschichte aus, der im Christusgeschehen erkennbar wird, das – wiederum in Abgrenzung zu Löwith – den geschichtlichen Verlauf „nicht supranatural-übergeschichtlich durchbricht, sondern antizipativ-proleptisch vollendet.“ (Wenz, Löwith, 396.) 1037 GSTh 1, 120. 1038 Pannenberg kritisiert darum, Hegels „System des absoluten Begriffs“ suche die „Endlichkeit der Erfahrung“ (GSTh 1, 120) und das „Eigenrecht des Individuellen“ (GSTh 1, 121) zu übergehen. 1039 Vgl. STh II 135.

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

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Zusammenhang, der als Zusammenhang der Geschichte der Geschichtlichkeit des Menschen vorgeordnet ist.1040 Dass der Mensch sich derart als in einen universalgeschichtlichen Zusammenhang verwickelt entdeckt, hängt mit der unter III.2.1.1 bereits erwähnten Selbstexplikation Gottes zusammen. Erst durch das unter III.3. noch von OaG her zu umschreibende Christusgeschehen, Inbegriff der indirekten Selbstmitteilung Gottes, tritt der universalgeschichtliche Rahmen menschlicher Existenz im Eigentlichen ins Bewusstsein des Menschen und stellt ihn seitdem vor die Herausforderung, sich hierzu zu verhalten. Ins Bewusstsein begann dies bereits Israel zu treten. Vermittels des jüdisch-christlichen Gottesgedanken bildete sich nach Pannenberg die adäquate Fassung der Grundstruktur menschlichen Daseins aus.1041 Hier verortet er damit auch das Aufbrechen geschichtlichen Denkens im eigentlichen Sinne, denn geschichtlich denken heißt für Pannenberg in entscheidendem Maße: von der Zukunft her denken, nicht in mythischem oder zirkulärem Regress. Israel entdeckte demnach aus seinem Gottesgedanken heraus die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, das erst von einer unberechenbaren Zukunft her Sinn gewinnt.1042 Israel erlebte nämlich seinen Gott als frei zu immer neuem Wirken in der Welt, nicht ohne jedoch in seinen Taten auch eine konsekutive Geschehnisfolge abgebildet zu sehen. Der Schöpfungsgedanke erlaubte die Ausdehnung dieser Anschauung auf die gesamte Welt/-Zeit. Die Auferstehung Jesu antizipierte dann das Ziel der Geschichte. „[D]ie biblische Überlieferung“ bildet damit „den Ursprung des uni1040 Vgl. Wenz, Geschichte, 288, der die hinter dieser Aussage liegende Kritik an Heidegger, der das Verhältnis von Geschichte und Geschichtlichkeit umgekehrt fasst, darstellt. 1041 Vgl. A 482 ff. 1042 Vgl. Pannenberg, Mensch, 99; ders,. Freiheit, 66. Israel entdeckte, dass Geschichte die Sphäre des Selbsterweises Gottes ist. Offenbarungsbegriff und „Erscheinungsgeschichte Gottes in der Geschichte der Religionen“ (STh I 188) korrespondieren einander dabei. Bereits in OaG wurde die Einbettung des Christusgeschehens in die Geschichte Israels und damit die Bedeutung des Alten Testaments betont. These 5 in OaG lautet: „Das Christusgeschehen offenbart nicht als isoliertes Ereignis die Gottheit des Gottes Israels, sondern nur, sofern es Glied der Geschichte Gottes mit Israel ist.“ (OaG 107.) R. Rendtorff kritisierte diese Einbettung jedoch später als Scheinrehabilitierung des Alten Testaments: „Es war mir damals nicht bewußt, daß dieser Gott, von dem hier gesprochen wird, nur insofern der Gott Israels ist, als die christliche Kirche an die Stelle Israels getreten ist. Dem Programm ‚Offenbarung als Geschichte‘ liegt implizit eine ‚Substitutionstheorie‘ von äußerster Konsequenz zugrunde.“ (Rendtorff, Offenbarungsverständnis, 39.) Auch G. Klein beanstandet die unklare Zuordnung von AT, frühjüdischer Apokalyptik und Tradition Israels in seiner bereits 1964 erschienenen, harschen Kritik am Programm Pannenbergs seitens der darin angegriffenen dialektischen Theologie. Er kritisierte, dass die jüdisch-apokalyptische Tradition partikularistisch hervorgehoben werde und das AT insgesamt doch nivelliert werde, vgl. Klein, Hypothese, 33–37. Pannenberg wehrte sich gegen Vorwürfe dieser Art, indem er u. a. R. Rendtorffs Unterscheidung zwischen einer (gegenüber dem Judentum automatisch übergriffigen) Aneignung und einer Auslegung (, die anerkennt, dass sich Christliches ins Alte Testament nur hinein- nicht hinauslesen lässt,) des Alten Testaments problematisiert, und darauf verweist, dass Jesus selbst Teil der frühjüdischen Geschichte sei, vgl. OaG X.

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III. Wolfhart Pannenberg

versalgeschichtlichen Denkens überhaupt“1043. Gott wird dabei im Zusammenhang der Erfahrung der Wirklichkeit im Ganzen von der Welt her erfahren, insofern er zum Grund eines Gesamtverständnisses der Welt und des Menschen in ihr wird.1044 Nicht der einzelne Mensch als ein vergängliches, zufälliges Wesen oder die Menschheit, die nur in der Vielzahl einzelner, kontingenter Existenzen besteht, sondern Gott ist damit Träger und Garant der Einheit der Geschichte, woraus für Pannenberg folgt: „Die Einheit der Weltgeschichte ist auch heute noch nur vom Gott Israels her zugänglich.“1045 Erst da in der Geschichte Israels und Jesu Christi Gott selbst dem Menschen geschichtlich entgegen kommt und ihm Zukunft verheißt, entwickelt der geschichtlich verfasste Mensch überhaupt sein Geschichtsbewusstsein und wird damit in seiner Geschichtlichkeit vollendet.1046 Pannenberg erschließt damit das geschichtliche Dasein des Menschen in der Welt über die existenzielle Logik seines Gottesgedankens, die eine universalgeschichtliche Einheit der Weltgeschichte überhaupt erst im Eigentlichen denkbar macht. Der Anthropologie kommt dabei methodische Priorität in Fragen der Fundamentaltheologie zu, jedoch ist sie nicht „der Sache nach“1047 das Fundament der Theologie. In Auseinandersetzung mit der existenzialen Hermeneutik Bultmanns schreibt Pannenberg darum: „Wie, wenn die [biblischen; Anm. d. Vf.in] Texte gerade umgekehrt die Vorordnung des Gottes- und Weltverständnisses vor das Selbstverständnis des Menschen ausdrücken? Und gerade darin dürfte der historische Abstand der neutestamentlichen Texte von der geistigen Situation Bultmanns deutlich hervortreten, und vielleicht liegt darin doch auch eine Frage an unser gegenwärtiges Denken.“1048 Pannenberg geht davon aus, dass Gott seit Beginn der Neuzeit nur noch vom Menschen her gedacht werden kann, dies jedoch als die unabdingbare Voraussetzung menschlichen Selbstverständnisses.1049 Pannenbergs Gottesbegriff geht dem 1043 GSTh 1, 121. 1044 „Die Fraglichkeit des menschlichen Daseins hat es ja wesentlich mit dem Weltverhältnis zu tun, insofern die Ganzheit des Daseins nur in Relation zur Ganzheit der Welt zu erlangen ist. Darum kann sich der Mensch mit keiner Antwort auf die Fraglichkeit seines Daseins zufriedengeben, die nicht sein Weltverhältnis mit einschließt, die Welterfahrung (auch die der Physik!) als ein Ganzes verständlich macht.“ (GSTh 1, 102 Anm. 18.) 1045 Pannenberg, Mensch, 103. 1046 Vgl. Pannenberg, Mensch, 99. 1047 STh I 174 Anm. 120 (kursiv im Original). Pannenberg erläutert dort eine entscheidende Prämisse aus WuTh 419.424 f. Vgl. auch STh I 207. 1048 GSTh 1, 102. 1049 „Steht es nicht so, daß der Mensch eine Antwort auf die Frage nach sich selbst nicht ohne ein Wissen von der Welt, von der Gesellschaft, von der Geschichte und von Gott zu erwarten hat? Dann aber kann das Selbstverständnis nicht ohne Rücksicht auf vorgängiges

2.1 Der Ausgriff aufs Ganze

161

menschlichen Selbstverständnis damit zwar nicht erkenntnislogisch, aber sachlogisch voraus, wobei sein Gottesbegriff sich zugleich ohne Welt- und damit auch ohne Geschichtsbezug verflüchtigen würde. Der Gottesbegriff Pannenbergs ist also verankert im Menschen, der in seinem Selbstentwurf sein Jetzt aufs Ganze hin überschreitet, doch begründet erst Gott durch sein Entgegenkommen in der Geschichte die Möglichkeit des Menschen, (universal)geschichtlich auf sich selbst und damit Gott zu reflektieren und hierbei mit seinem Geschichtsbewusstsein das Bewusstsein für sich selbst und sein Dasein auszubilden. Kann der Mensch sich nicht deuten ohne den Ausgriff auf ein universalgeschichtlich Ganzes, dann sind historische und damit auch theologische Forschung für Pannenberg ebenfalls nicht ohne universalgeschichtlichen Bezug denkbar. Ebenso wie der Historiker steht der Theologe demnach in universalgeschichtlich vermittelten „Bedeutungszusammenhängen“1050 mit den Gegenständen seiner Untersuchung. Vergangenes Geschehen kann folglich nie wirklich vom Forschenden abgetrennt oder in vermeintlich objektiver Manier betrachtet werden. Nur im zu erfragenden Gesamtzusammenhang der Geschichte lässt sich nach dem Sinn eines überlieferten Textes und dessen Geschichte fragen.1051 Vergangenes Geschehen ist darum auch niemals als totes Geschehen zu charakterisieren: „Sofern historische Arbeit immer das Problem der Universalgeschichte impliziert, hat sie es also keineswegs, wie gelegentlich behauptet worden ist, nur mit dem Totenfeld des Vergangenen zu tun, so daß das Amt des Historikers dem des Friedhofsgärtners zu vergleichen wäre“.1052 In der Theologie darf hermeneutisch jedoch, ebenso wie in der Geschichtswissenschaft, auch universalgeschichtlich die historische Differenz zwischen der Entstehungssituation biblischer Texte und dem Jetzt nicht einfach übersprungen wer-

Weltverständnis und in gewissem Sinne auch nicht ohne vorgängiges Gottesverständnis thematisiert werden; Welt- und Gottesverständnis sind nicht nur Ausdruck der Frage des Menschen nach sich selbst, sondern das Verhältnis zur Welt, zur Gesellschaft, zu Gott vermittelt den Menschen überhaupt erst mit ihm selbst. Nur durch Vermittlung dieses Verhältnisses gewinnt er sein Selbstverständnis.“ (GSTh 1,102; kursiv im Original.) 1050 GSTh 1, 94. 1051 Vgl. GSTh 1, 116. Aus dem überlieferungsgeschichtlichen Geflecht von Geschichte und Text-Geschichte ergibt sich eine differenzierte Einheit. Die vergangene Gegenwart der Entstehungszeit eines Textes und die spätere Gegenwart seiner Rezipienten sind verbunden. Die griechische Tragödie etwa birgt zeitübergreifende Wahrheiten über den Menschen. Urchristliche Texte haben über ihre Entstehungszeit hinaus Bedeutung für die Christenheit bis heute. Und Geschichtsschreibung wiederum wird stets durch jeweilige Gegenwartsinteressen geleitet, vgl. GSTh 1, 96. 1052 GSTh 1, 94.

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III. Wolfhart Pannenberg

den.1053 Als hermeneutische Vermittlungsinstanz schlägt Pannenberg den stets gegenwartsrelevanten eschatologischen Bezug der biblischen Texte vor.1054 Ihre gemeinsame Zukunft verbindet damit überlieferungsgeschichtlich Vergangenes und Gegenwärtiges. Dahinter leuchtet erneut bereits der eschatologische Horizont Pannenbergs auf: Ihre gemeinsame Zukunft verbindet nämlich letztlich alles Vergangene und Gegenwärtige, von den ersten physikalischen Prozessen vor Milliarden von Jahren über die Dinosaurier bis hin zu den Menschen.1055 Auch der menschliche Selbstentwurf vollzieht sich primär auf diese Zukunft hin.1056 Und ob der Mensch dies nun reflektiert oder nicht, bereits wo er ein Ereignis deutet, greift er damit nach Pannenberg zumindest implizit auf einen universalgeschichtlichen Zusammenhang hin aus.

2.2

Zeiterfahrung

Entwirft sich der Mensch im Ausgriff aufs Ganze und tut er das vor allem, indem er sein Jetzt auf Zukunft hin überschreitet, liegt seinem Selbstentwurf in entscheidender Weise die Erfahrung von Zeit zugrunde. Dieser Zeiterfahrung ist nun im Hinblick auf Pannenbergs Gegenwartsverständnis in drei Kapiteln nachzugehen von denen jedes seine Entsprechung unter III.4.2. findet. 1053 Rein historische Fragen, etwa die Suche nach dem hinter einem geschichtlichen Dokument stehenden Ereignis, sind dabei zu unterscheiden, jedoch faktisch nicht zu trennen von hermeneutischen Fragen. So führt etwa die hermeneutische Betrachtung eines historischen Textes stets in historische Fragestellungen wie nach seinen Entstehungsbedingungen und diese wiederum führt in hermeneutische Fragestellungen, etwa nach der Vermittlung von Texten und Geschehnissen der Vergangenheit in den Horizont der Gegenwart, vgl. GSTh 1, 93 f., in Auseinandersetzung mit Gadamer. 1054 Vgl. STh III 367 f. Eine universalgeschichtliche Hermeneutik scheint in Bezug auf die Religionen und das Christentum zwar gerade nicht die absolute Bedeutung des Christentums, sondern das Gegenteil aufzuweisen, indem sie selbiges notwendigerweise relativiert, da ein einzelnes Geschehen nicht die volle Offenbarung Gottes sein kann und sich als historisch kontingentes Geschehen erweist. Da Pannenberg durch die jüdisch-christliche Eschatologie aber Entscheidendes über das Ende der Geschichte zu wissen meint, denkt er dennoch universalgeschichtlich und hält an der besonderen Relevanz der jüdisch-christlichen Überlieferung fest. 1055 Vgl. ThRG 19. 1056 In dieser Zukunftsausrichtung deutet sich bereits die in der theologischen Deutung ab III.4. zu explizierende eschatologische Ausrichtung der Theologie Pannenbergs an: „Der Mensch ist unterwegs zu einer künftigen Wesensverwirklichung, die alles gegenwärtig Vorhandene übersteigt“ (STh III 198). Erst die eschatologische Vollendung bringt das Wesen des Menschen und damit seine Identität vollgültig zur Erscheinung. Die Identität des Menschen mit sich selber nach der Auferstehung der Toten begründet Pannenberg hierbei darin, dass Gott alles Gewesene gegenwärtig bleibt, vgl. STh III 652. Das gegenwärtige Leben ist damit „Erscheinungsform und Werdeprozeß seiner eschatologisch zu offenbarenden Wesensgestalt“ (ebd.).

2.2 Zeiterfahrung

163

Dabei wird zunächst auszuführen und zu belegen sein, dass Pannenberg die Erfahrung einer mitwandernden Jetztschwelle beschreibt, die den Menschen auf die unüberspringbare Bindung an sein Jetzt verweist und über die hinaus er zugleich auf Vergangenheit und Zukunft hin auszugreifen vermag.1057 Zur Gegenwart wird dem Menschen von seinem jeweiligen Jetzt aus dabei das, wozu er sich aktiv verhalten kann (III.2.2.1). Der positiven Einbettung menschlicher Lebensgegenwart in ein antizipiertes Ganzes kontrastiert Pannenberg die egozentrische Reduktion menschlichen Daseins auf den Augenblick des Ich, durch die der Mensch sein Selbst gerade nicht gewinnt, sondern verliert, und die zu einer Verzerrung seiner Zeiterfahrung führt.1058 Pannenberg macht damit am Gegenwartserleben des Menschen die Notwendigkeit deutlich, sich in ein produktives Verhältnis zur eigenen Zeit- und Endlichkeit zu setzen (III.2.2.2). Der menschliche Ausgriff aufs Ganze geschieht geistig und »das Ganze«, sei es das Ganze einer Biografie oder der Weltgeschichte, kann dem Menschen nicht als solches, sondern nicht anders als »geistig« anwesend sein.1059 Den Ermöglichungsgrund des zeitübergreifenden, auch das eigene Jetzt in Selbstreflexion und Weltentwurf überschreitenden, menschlichen Gegenwartsbewusstseins nennt Pannenberg darum »Geist« (III.2.2.3). 2.2.1

Jetztpunkt, Gegenwart und Ganzes

„Mit dem Zeitbewußtsein des Menschen ist ihm – primär in der Weise des Gefühls – ein Verhältnis zum Ganzen seines Lebens erschlossen“1060. „Die Kontinuität [seines] zeitüberbrückenden Bewußtseins entspringt aus der Antizipation der Zukunft“1061, die in Sorge oder Vertrauen geschehen kann. Der Strom der Zukunft scheint dabei über den Menschen hinweg zu fließen und wird zur Vergangenheit, doch der „Jetztpunkt“1062, der Vergangenheit und Zukunft voneinander scheidet, wandert mit dem Menschen durch sein Leben. Was über diesen Jetztpunkt hinaus als Gegenwart erfahren wird, kann kurze Augenblicke oder auch längere Zeitperioden umfassen, je nachdem, ob es beispielsweise um reflexartige Reaktion oder politische Prozesse geht. So bestimmt der Mensch vom subjektiven Standpunkt seines Jetzt aus, was für ihn Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ist. Die unter-

1057 1058 1059 1060

Vgl. A 509–511; Pannenberg, Mensch, 51. Vgl. Pannenberg, Mensch, 55. Vgl. A 507 ff. A 417. Die an dieser Stelle in eine Darlegung der Geschlechterbeziehungen einbettete Aussage über das menschliche Zeitbewusstsein, ist als für Pannenbergs Anthropologie grundlegende Aussage über das Zeitbewusstsein des Menschen zu verstehen. 1061 A 510. 1062 Pannenberg, Mensch, 51.

164

III. Wolfhart Pannenberg

schiedlich erfahrbare Ausdehnung der Gegenwart korreliert dabei den jeweiligen Handlungsmöglichkeiten des Menschen: „Wir zählen all das zur Gegenwart, worüber wir noch verfügen, wozu wir noch Entscheidungen treffen können. Woran wir nichts mehr ändern können, das heißt uns vergangen.“1063 Die derart in Handlungsoptionen aufscheinende, unüberspringbare Perspektivität menschlichen Gegenwartserlebens verweist auf die Mächtigkeit und Ohnmächtigkeit des zeitlich verfassten Menschen der Welt und seinem Leben gegenüber. Ebenso verweist sie hierüber auf die elementare Koppelung von Welt- und Selbsterfahrung, die die Wirklichkeitserfahrung des Menschen ausmacht. Wirklichkeitserfahrung ist dabei nicht möglich ohne Erfahrung seiner selbst, denn der Mensch ist „im Gegenüber der erfahrenen Wirklichkeit doch immer schon bei sich selbst.“1064 Die solcherart an das Jetzt des Selbst gebundene Zeiterfahrung stellt eine Einschränkung des menschlichen Wahrnehmungsradius dar, jedoch ist ihr zugleich die Mächtigkeit inhärent, sich Noemata zeitübergreifend gegenwärtig zu halten.1065 Zwar ist der Modus von Erinnerung, Entwurf und Erwartung, in dem dies geschieht, nur ein unvollkommener Ersatz für die tatsächliche Gegenwart der Dinge, und auch das jetzt der Wahrnehmung Gegenwärtige bleibt seinem Wesen nach für das menschliche Wissen stets mehr oder minder verborgen. Dennoch ist dem Menschen der Ausgriff und Selbstentwurf auf ein gegenwartsüberschreitendes Ganzes hin möglich, ja, in jedem Augenblick seines Daseins ist dem Menschen sein Lebensganzes im Gefühl gegenwärtig, wenn die Anwesenheit dieses Ganzen auch vage bleibt und nur in Erinnerung und Erwartung zumindest gewisse Konturen gewinnt.1066 Das Jetzt des Menschen bleibt auch hierin stets „fließende[s] Jetzt“1067. Der Mensch erlebt sein Dasein also als stetes Jetzt und kann doch seine Gegenwart – und so auch zugleich sein Dasein – nicht festhalten.

1063 Pannenberg, Mensch, 51. 1064 Pannenberg, Mensch, 50. 1065 Außerhalb des temporalen Flusses würden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander geschaut. Einen solchen Überblick schreibt Pannenberg nur Gott zu, dessen Wissen und Bewusstsein das des Menschen übersteigt, und der sich auch ohne einen zeitlichen Ort nicht selbst verliert. „Alles ist ihm gegenwärtig und wird von ihm in seiner Gegenwart festgehalten. Solches Gegenwärtighalten ist nicht notwendigerweise ein Wissen im Sinne unseres menschlichen Bewußtseins und Wissens. Wohl aber läßt sich umgekehrt sagen, daß auch wir uns durch unser Wissen das Gewußte gegenwärtig sein lassen.“ (STh I 411.) 1066 Vgl. STh III 643 f. 1067 STh III 644. Die von Pannenberg hier verwendete Unterscheidung von fließendem Jetzt des Menschen und stehendem Jetzt Gottes schließt an Boethius De trin. IV 71–77 an.

2.2 Zeiterfahrung

2.2.2

165

Festgehalten. Die Verkehrung der Zeiterfahrung

Versucht der Mensch, den Augenblick festzuhalten und damit, ihn ewig währen zu lassen, verliert er ihn. Das Klammern an den Augenblick versteht Pannenberg gerade nicht als Annahme der Zeitlichkeit, sondern als destruktive Selbstbezogenheit, die die menschliche Zeiterfahrung und mit ihr das menschliche Dasein als solches verzerrt. Wo die Annahme seiner Zeitlichkeit dem Menschen ermöglichen würde, sich in ein produktives Verhältnis zu ihr und zu sich selbst zu setzen, versetzt die Ablehnung derselben den Menschen in einen zerstörerischen Selbstwiderspruch, wie nun zu belegen sein wird. So hat der Mensch durch die je eigene, ihm gewährte Dauer ein einmaliges,1068 individuelles, von anderen unterschiedenes Dasein. Das temporale Auseinandertreten der Momente des menschlichen Daseins erscheint dabei als Bedingung der Selbständigkeit des Menschen,1069 da ein endliches Wesen sich nur durch das zeitliche Auseinandertreten seiner jeweiligen Lebensmomente selbständig und intersubjektiv betätigen kann.1070 Die zeitliche Existenz des Menschen in einem mitwandernden Jetzt zwischen Vergangenheit und Zukunft, dessen Kontinuität für den Menschen aus der Antizipation seiner Zukunft entspringt, eröffnet ihm also Handlungsspielräume, doch führt sie ihm durch das unaufhaltbare Vergehen jedes Augenblicks, durch das das frühere Jetzt einem neuen Jetzt weichen muss, zugleich auch seine Limitation vor Augen. Der Mensch hat Zeit und zugleich »hat« er sie nicht, sondern »ist« durch sie. Sein »stets-jetzt-sein« macht dem Menschen also über den Fluss der Zeit sein Leben und die Dinge verfügbar und verfügt doch auch über ihn. Letzteres ist für den Menschen nicht immer leicht auszuhalten. Die menschliche Ichzentriertheit, die sich, wie Pannenberg im Anschluss an Augustin formuliert, als amor sui manifestiert, lässt den Menschen auch seine eigentlich exzentrische Natur nur im Selbstbezug des amor sui realisieren.1071 In der so gearteten Verzerrung der menschlichen Offenheit auf ein Ganzes hin zur Verschlossenheit im eigenen Ich verfehlt der Mensch sich selbst. In dieser Verschlossenheit nimmt der Mensch auch den Moment allein für sich in Anspruch.1072 1068 Pannenberg hebt die Bedeutung der Einmaligkeit des menschlichen Lebens hervor, vgl. hierzu in Auseinandersetzung mit Reinkarnationsvorstellungen und der Idee der unsterblichen Seele STh III 609. 1069 Vgl. STh III 646. 1070 „Das selbständige Dasein der Geschöpfe hat die Form der Dauer als zeitübergreifende Gegenwart, durch die sie anderen gleichzeitig sind und sich zu ihnen verhalten – im Außereinander des Raumes. Da sie ihr Dasein nicht aus sich selber haben, ist ihre Gegenwart von ihrer Herkunft als ihrer Vergangenheit unterschieden.“ (STh II 117.) „Nur als Reintegration des Verschiedenen entsteht die Selbständigkeit geschöpflicher Dauer.“ (STh III 646 f.) 1071 Vgl. STh III 605 f. 1072 Vgl. Pannenberg, Mensch, 55.

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III. Wolfhart Pannenberg

„Obwohl das Ich exzentrisch auf das Ganze der Wirklichkeit und darin zumindest implizit auf Gott als dessen Ursprung bezogen ist, wird diese Bezogenheit faktisch realisiert in der Form der Selbstsucht (amor sui).“1073 In STh III rekurriert Pannenberg selbst auf eine längere Passage aus dem Aufsatz »Tod und Auferstehung in der Sicht christlicher Dogmatik«1074, der sich in GSTh 2 findet. Dort referiert er die hinter dieser Selbstverfehlung stehende Struktur der Zentralität des Ichzentrums, das den Ausgriff des Menschen aufs Ganze verzerrt, und der eigentlichen Exzentrizität des Ich, die es aufgrund dieser Verzerrung nicht zu realisieren vermag. Da Pannenberg diese Aussagen selbst für so zentral hält, dass er eine längere Passage zitiert, sei an dieser Stelle ebenfalls ein längeres Zitat aus diesem Text geboten: „Wir haben unser Selbst, unsere Identität, immer nur im Vorgriff auf das Ganze unseres Lebens. In solchem Vorgriff auf das Ganze ist dieses immer schon verzerrt dadurch, daß wir das Ganze unseres Lebens und der Wirklichkeit überhaupt aus der Perspektive des jeweiligen Zeitmomentes erleben, bezogen auf unser Ichzentrum. Dieses Ichzentrum fällt nicht zusammen mit der Identität und Integrität unseres Selbst, der Integration des Ganzen unseres individuellen Daseins. Das Ich ist vielmehr gebunden an den jeweiligen Augenblick. In der Selbstbezogenheit, mit der es sich in jedem Augenblick als Zentrum der Welt erlebt, ist dieses Ich immer schon strukturell bestimmt als amor sui, wie Augustin das beschrieben hat. Zwar ist das Ich auch stets über sich hinaus, exzentrisch. Es kommt zu sich selbst im andern seiner selbst. Aber im andern ist es doch immer wieder nur bei sich selbst.“1075 Der Mensch reduziert also seine Gegenwart auf den Augenblick seines Ich, in dem er sich perspektivisch verzerrt als „Zentrum der Welt erlebt“1076 und den er zur Ewigkeit erweitern möchte. In diesem „Mißverständnis des Augenblicks“ verortet Pannenberg die „Wurzel der Verkehrung der Zeiterfahrung“1077, durch die die temporalen Modi der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als zerrissen empfunden werden. Diese Verkehrung äußert sich im Klammern ans Jetzt, im Nachtrauern um Vergangenes und der Furcht vor der Zukunft. Die Selbstsucht des Ich reißt es, gerade im Bestreben sich ganz zu besitzen, von seinem Selbst los, das doch erst die „Integration des Ganzen unseres individuellen Daseins“1078 darstellt.

1073 1074 1075 1076 1077 1078

STh III 605 f. Vgl. GSTh 2, 146 ff. GSTh 2, 153 (kursiv im Original); vgl. STh III 605. GSTh 2, 153. Pannenberg, Mensch, 55. GSTh 2, 153.

2.2 Zeiterfahrung

167

In vergleichbarer Weise rekonstruiert Pannenberg den Zusammenhang zwischen Augenblick des Ich, Endlichkeit und Sterblichkeit. Dabei ist das menschliche Zeitbewusstsein die Voraussetzung des menschlichen Wissens um die eigene Sterblichkeit: „Das spezifisch menschliche Zeitbewußtsein, zusammen mit der Fähigkeit, das eigene Leben in Analogie zu dem der andern Menschen um uns herum zu betrachten, ist Voraussetzung des Wissens um die Unausweichlichkeit des eigenen Sterbens.“1079 Jedoch ist bei Pannenberg Endlichkeit nicht mit Sterblichkeit gleichzusetzen.1080 Nicht seine Endlichkeit, sondern die Ablehnung seiner Endlichkeit wird dem Menschen nämlich zum Tode. „Könnten wir als wir selbst, als das endliche Ganze unseres Daseins existieren, dann wäre das Ende als Moment in die Identität unseres Daseins integriert und würde ihm darum kein Ende setzen.“1081 Doch der Mensch wähnt sich unendlich und verfehlt sich damit selbst.1082 Im Ausgriff aufs Ganze sucht er das Ganze seiner selbst in misslingender Weise zu verabsolutieren. Dabei würde die Annahme der eigenen Endlichkeit als zum „Leben als ganzes“1083 gehörig den Tod überwinden, da mit ihr die Endlichkeit ins menschliche Dasein integriert und ihm darum kein Ende setzen würde.1084 Doch zu dieser integrierenden Annahme ist der Mensch nicht fähig. Er lebt stattdessen aus dem „jeweiligen Augenblick [des] Ich“1085, ohne darin in der Lage zu sein, von sich aus als das endliche Ganze seines Daseins und damit als sein „Selbst“1086 zu existieren. Die jeweilige Gegenwartsexistenz des Menschen bringt also die allein vom Menschen aus nicht bewältigbare Herausforderung mit sich, den je wieder vergehenden Augenblick nicht nur anzunehmen, sondern auch loszulassen, und zugleich darin die eigene Endlichkeit zu akzeptieren. 2.2.3

Geist. Die Anwesenheit des Ganzen

Damit Lebensgegenwart nicht nur als zerrissen erfahren wird, bedarf es der antizipativen Anwesenheit des Ganzen im Jetzt des Menschen. Das Ganze, auf das der 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086

STh III 599. Vgl. STh III 603 ff. STh III 606 f. Vgl. STh III 607. STh III 606. Vgl. STh III 606. STh III 606. STh III 606.

168

III. Wolfhart Pannenberg

Mensch biografisch oder universalgeschichtlich ausgreift, kann ihm nicht als solches gegenwärtig sein, sondern wird ihm geistig anwesend. Bei Pannenberg erscheint das ekstatische, und, wie sich ebenfalls bereits angedeutet hat, zukunftsbezogene Moment des zeitlichen Daseins des Menschen als Ausdruck einer geistigen Grundverfassung des Lebens.1087 Beim Entwurf seiner Identität als Person ist der Mensch darum auf »Geist« angewiesen. Wie umfassend Pannenberg seinen Geistbegriff in seiner Systematik entwickelt hat, wird im folgenden Kapitel zumindest ausschnitthaft deutlich werden.1088 Pannenberg meint: „Person ist jeder Mensch in seiner leibseelischen Ganzheit, so wie sie im jeweils gegenwärtigen Augenblick seines Daseins zur Erscheinung kommt.“1089 Und: „Für jeden von uns gilt, daß wir nicht wissen, was wir sein werden, und doch sind wir es schon irgendwie. Ich bin noch auf dem Wege zu meinem eigentlichen Selbst, und doch bin ich auch schon immer ich selbst.“1090 Damit also in der gegenwartsgebundenen Daseinssituation des Menschen, in der er erst auf dem Wege zu sich ist und doch schon Person, die Personalität des Menschen in Erscheinung treten kann, bedarf es der Vermittlung zwischen dem Ich des Augenblicks und dem Selbst des Menschen als Ganzem seiner Identität. Dies ist einzig im Modus der Antizipation der Zukunft möglich. Einzig darin kann der Mensch angesichts „seiner zeitlichen Erstreckung“1091 schon heute als er selbst existieren, kann er doch sein Selbst immer nur im Vorgriff auf ein Ganzes erfahren.1092 Dabei gilt: „Die die Beschränktheit des jeweiligen Lebensmomentes unendlich übersteigende Ganzheit des Selbst kommt zur gegenwärtigen Erscheinung als Personalität. Person ist der Mensch in seiner Ganzheit, die das Fragmentarische seiner vorhandenen Wirklichkeit überschreitet.“1093

1087 Vgl. STh II 498 und Lee, Vollender, 66 ff.79. 1088 Zur Pneumatologie Pannenbergs und deren Genese vgl. Lee, C.-J., Der Heilige Geist als Vollender. Die Pneumatologie Wolfhart Pannenbergs, Frankfurt a.M. 2009. Im Rahmen dieser Untersuchung können nur Ausschnitte dieses bei Pannenberg sehr umfangreichen Feldes dargelegt werden. 1089 STh II 230. 1090 BSTh 2, 167. Pannenberg geht davon aus, dass Menschen dazu bestimmt sind, „wahrhaft sie selbst zu sein“ (STh III 200); eine Bestimmung, die der Mensch nicht allein aus sich selbst heraus erreichen kann. 1091 STh II 230. 1092 Vgl. STh III 605 und Wenz, Theologie, 253. 1093 A 228. Als Person ist er daher – im Gegensatz zu einer Sache – „nie gänzlich verfügbar, sondern durch eine verborgene ‚Innenseite‘ und durch Freiheit ausgezeichnet.“ (Ebd.)

2.2 Zeiterfahrung

169

„Das ist nur möglich im Vorgriff auf die Wahrheit unseres Daseins, die uns gegenwärtig ist durch den Geist im Medium unseres Lebensgefühls.“1094 Den primären Zugang zu jenem nur im Fragment gegebenen Ganzen verortet Pannenberg also im Gefühl.1095 Und bereits in diesem Gefühl drückt sich Geist aus. Wurzelhaft sind Gefühl und Vernunft dabei zunächst insofern verbunden, als dass im unmittelbaren Erleben nicht zwischen Subjekt und Objekt unterschieden wird.1096 Aus dieser wurzelhaften Verbindung „erwächst die durch die Eindrücke der Sinne veranlaßte Differenzierung zwischen den auf das eigene Selbst bezogenen Gefühlen und der auf das Ganze der Gegenstandswelt gerichteten Vernunft“1097. Die kognitive Antizipation des Ganzen als reflexiver Akt des Bewusstseins, der sprachlich in Erscheinung tritt und eben damit die Differenzierung zwischen Gefühl und Vernunft „definitiv“1098 werden lässt, ist also vom Gefühl für das Ganze zu unterscheiden.1099 Dem „vernünftigen Bewußtsein“1100, das als Bewusstsein seine Einheit „[e]rst von der sprachlich gefaßten Identität der Dinge und ihrer Ordnung her, in der auch der eigene Leib seinen Platz und damit das Wörtchen ‚ich‘ seinen Bezugspunkt findet“1101, erhält, fällt dabei jedoch insofern die „Führung“ zu, als dass „es durch Erinnerung und Erwartung die Momente des eigenen Lebens sich gegenwärtig zu halten und auf ihre Vereinbarkeit hin zu reflektieren vermag.“1102 Wo der Mensch sich bereits heute als Person erlebt, also sein (Person-)Selbst im (Augenblicks-)Ich als realisiert wahrnimmt, da ist hierbei »Geist am Werk«:

1094 1095 1096 1097 1098 1099 1100 1101 1102

STh II 230. Vgl. A 503. Vgl. A 503 f. A 504. A 504. Vgl. A 504. STh II 230. A 505. STh II 230. Der Mensch wird deshalb jedoch nicht allein durch sein Selbstbewusstsein zur Person. So ist das Gegenstandsbewusstsein der mühsam zu erlernenden Verwendung des Personalpronomens Ich und damit dem Selbstbewusstsein vorgängig, vgl. STh II 225; STh I 410 Anm. 103; A 505. Erfahren wird Personalität vielmehr primär im Erleben des Du eines Gegenüber. Wie unter III.4.2.3 auszuführen sein wird, heißt das für Pannenberg insbesondere, den Menschen als Werk des göttlichen Geistes zu verstehen: „Ohne das Wirken des göttlichen Geistes im Menschen wäre ihm keine Personalität im tieferen Sinne des Wortes zuzuerkennen. Denn Personalität hat es zu tun mit dem Inerscheinungtreten der Wahrheit und Ganzheit des individuellen Lebens im Augenblick seines Daseins.“ (STh II 227.) Auch Säuglinge und Demente sind daher im Vollsinne Person, kommt es doch dafür nicht auf ihre Verstandestätigkeit und einen bestimmten Grad an Selbstbewusstsein an, sondern die Wirksamkeit des göttlichen Geistes.

170

III. Wolfhart Pannenberg

„Ist so die Person die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, so läßt sich Personalität als ein Sonderfall der Wirksamkeit des Geistes verstehen, ein Sonderfall antizipatorischer Gegenwart der endgültigen Wahrheit der Dinge.“1103 Als Person und damit im antizipatorischen Bezug auf das Ganze seiner Selbst im Augenblick des Ich erweist sich der Mensch also als Geistwesen.1104 Geist tritt hierbei im Erleben von Personalität in Erscheinung, die sich bereits präreflexiv auszudrücken vermag, und somit nicht erst als Bewusstsein oder Vernunft,1105 sondern weitaus elementarer als deren Ermöglichungsgrund.1106 Dem Geist des Menschen liegt Geist zugrunde, „die wirksame Gegenwart einer den Individuen vorgegebenen, ihr Dasein übersteigenden und konstituierenden Sinnsphäre, die sich dem Erleben der Menschen wenigstens partiell erschließt und von ihnen mitgestaltet, nicht aber überhaupt erst hervorgebracht wird.“1107 Ein solcher Ermöglichungsgrund leuchtet nicht nur im Menschen, sondern im Ganzen der Welt auf. „Leben, Bewegung und Tätigkeit“1108 verdanken sich stets Geist.1109 Wäre Geist nicht Ursprung der gesamten Wirklichkeit, könnte er auch nicht zum Erfassen dieser Wirklichkeit befähigen.1110 Pannenbergs Geistbegriff betrifft damit auch die Tier- und Pflanzenwelt und alle leblosen Dinge darüber hinaus.1111 Alles, was ist, ist demnach in einer Dauer und Identität und damit in 1103 A 513. „Personalität und geistesgegenwärtige Zukunftsoffenheit gehören daher untrennbar zusammen.“ (Wenz, Theologie, 253.) 1104 Was für Pannenberg weiter heißen wird: Geistesgeschöpf, vgl. A 514. 1105 Vernunft und Geist sind nicht gleichzusetzen, vielmehr ist die Vernunft abhängig vom Wirken des Geistes, vgl. STh II 221. Dieser Geist ist bereits im präreflexiven Erleben am Werk, in dem die Vernunft wurzelhaft angelegt ist. 1106 Vgl. A 506. 1107 A 506. Um die „Einführung des Geistbegriffs systematisch zu rechtfertigen“ bedarf es darum auch nicht nur der Anthropologie, sondern des „Zusammenhang[s] einer allgemeinen Ontologie“, zumal wenn man nicht zu einer „bewußtseinsphilosophischen Engführung“ (A 507) gelangen will. 1108 STh II 96. 1109 Aus Pannenbergs Perspektive ist in all diesem Gottes Schöpfergeist am Werk, vgl. STh II 96 ff. Pannenberg geht zudem von einer Entsprechung zur Naturwissenschaft aus, meint also, dass nicht nur die Theologie, sondern auch die Naturwissenschaft faktisch eine nicht nur materiell, sondern geistig verfasste Wirklichkeit beschreibt: „Auch die anorganische Wirklichkeit hat ihren Ursprung im göttlichen Schöpfergeist, obwohl sie nicht wie die Lebewesen innerlich durch diesen Geist beseelt ist. Solche Erwägungen kommen Feststellungen heutiger Naturwissenschaftler entgegen, denen zufolge die moderne Physik keine materialistische Beschreibung des Universums mehr bietet.“ (BSTh 2, 136.) Pannenberg zitiert Süßmann: „So erscheint uns der Stoff aller Dinge wie aus Gedanklichem gewirkt.“ (BSTh 2, 136.) Damit ist kein philosophischer Idealismus intendiert, sondern der Versuch einer Erklärung, wieso menschliches Bewusstsein Naturprozesse zu erfassen und in Teilen sogar zu meistern vermag. 1110 Vgl. BSTh 2, 136. 1111 Vgl. STh II 96 ff.

2.2 Zeiterfahrung

171

einer Weise »geistig fundiert«, die das Vorfindliche transzendiert. Es ist alles seinem Wesen nach mehr als das, was gegenwärtig vorhanden und wahrnehmbar ist, und daraufhin benenn- respektive ansprechbar. Lebendige Wesen sind nicht nur passiv geistig fundiert, sondern verhalten sich aktiv zu ihrer Identität, die stets das überschreitet, was je jetzt aufscheint. Der Geist ist damit in der ekstatischen Bewegung des Lebendigen auf das Eigentliche seines Seins hin quasi intensiver anwesend als im Leblosen.1112 In diesen all-umfassenden Begriff des Geist-Ganzen schließt Pannenberg auch soziokulturelle Gegebenheiten ein. Unter Geist versteht er damit auch den Ermöglichungsgrund sozialer und kultureller Einheit sowie historischer Zusammenhänge.1113 Die Suche des Individuums nach seiner Identität setzt diese umfassenden Zusammenhänge voraus.1114 Geist begegnet hier als Geist einer Familie, eines Teams oder einer kulturellen Gemeinschaft.1115 Zwar bleibt der „Bildungsprozeß der Geschichte […] in jeder geschichtlichen Gegenwart unvollendet“1116. „Dennoch ist in jedem geschichtlichen Augenblick schon das Ganze des in seinem geschichtlichen Gange noch unabgeschlossenen Lebens gegenwärtig.“1117 Da vermittels Geist das Ganze der Wirklichkeit stets anwesend ist, ist nicht nur Individuen, sondern auch Nationen und Kulturen die Bildung einer Identität möglich, wenn diese Identität auch jeweils vorläufig bleibt.1118 Die so gebildete Gemeinschaft kann und soll bergende Gestalt annehmen, aber sie kann auch in Dämonie, wie die des Nationalismus oder eines Korpsgeistes, verkehrt werden.1119 Solche Dämonie beruht auf „Selbstzentriertheit“ statt „Selbsttranszendenz“1120 und damit zugleich der „Partikularisierung des Gemeinschaftsinteresses, das sich selber natürlich als universal verbindlich ausgibt“1121. Sie stellt eine Verkehrung dessen dar, was dem eigentlichen, exzentrischen Wesen des Menschen als geistigem Wesen entspricht.

1112 Vgl. STh II 159 f. 1113 Vgl. A 506. 1114 „Der Vorgriff auf das Ganze des individuellen Lebens, der die Selbstgewißheit des einzelnen in jedem gegenwärtigen Moment konstituiert, impliziert daher immer auch schon das gesellschaftliche Ganze, in dessen Zusammenhang das Individuum lebt, und über die partikulare Gesellschaft hinaus deren Ort im Leben der Menschheit.“ (GSTh 2, 74.) 1115 Gemeinschaft und Übereinstimmung sind Kennzeichen der Wahrheit des Geistes, vgl. A 516; BSTh 2, 139. Sünde ist demgegenüber, lediglich nach der „Selbsterweiterung der partikularen Endlichkeit“ (A 514) zu streben. Obwohl der Mensch in diesem Losreißen von Gott die Quelle des Lebens hinter sich lässt, stirbt er nicht sofort, da er „den in ihm wirkenden Geist selber mit sich reißt“ (A 514). Wenn auch „in der Form der Verkehrung“, so bleibt darum doch auch das Leben des Sünders „geistbestimmt“ (A 514). 1116 A 501. 1117 A 501. 1118 Vgl. A 515. 1119 Vgl. A 515. 1120 BSTh 2, 140. 1121 A 515.

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III. Wolfhart Pannenberg

Pannenberg verweist mit dem Begriff Geist also darauf, dass, wenn auch im Modus der Antizipation, „das Endgültige gegenwärtig mitten in der Relativität und im Fluß der Geschichte“1122 aufscheint. „Die Gegenwart des Wahren und Endgültigen inmitten der unvollendet abbrechenden Prozesse der Geschichte, inmitten irdischen Mißlingens und irdischer Vergänglichkeit, nennen wir Geist.“1123 Er verweist mit dem Begriff Geist damit zugleich auf „die konstitutive Bedeutung einer Sinngegenwart […], die sich nicht menschlichem Handeln und menschlicher Sinnsetzung verdankt, sondern umgekehrt der Konstitution der menschlichen Subjektivität und aller menschlichen Sinndeutung schon zugrunde liegt.“1124 Geist also ermöglicht dem Menschen den (zunächst im Gefühl angesiedelten, präreflexiven, dann durch Vernunft sich vollziehenden) Ausgriff aufs Ganze, wie er unter III.2.1 beschrieben wurde, und stellt die antizipative Gegenwart des Ganzen je jetzt dar. Geist ermöglicht damit auch im jeweiligen Daseinsmoment das Inerscheinungtreten des Menschen als Person, ebenso wie die Erfahrung von Sinn, den der Mensch nicht selbst hervorbringen muss, sondern der einer Sinnsphäre entspringt, ohne die der Mensch zu keiner Sinndeutung gelangen könnte. Sein Gegenwartserleben als Person verweist den Menschen auf die somit gegebene, geistige Natur seines Daseins und der Welt. Die darin sich ausdrückende Selbsttranszendenz verweist den Menschen zugleich auf die Exzentrizität seines Daseins, das sich nicht in reiner Selbstbezogenheit zu erfüllen vermag. Wie unter III.4.2.3 zu entfalten sein wird, setzt Pannenberg damit sachlogisch eine menschlicher Selbsterfahrung vorgängige, göttliche Geist-Größe voraus, die in der proleptischen Anwesenheit des Ganzen erfahrbar wird und die Welt als schöpferisches (Kraft-)Feld des Lebens durchwirkt.1125

1122 A 501 f. Pannenberg spricht auch vom Geheimnis der Gegenwart des Ewigen im Geist, vgl. ThRG 46. 1123 A 505. 1124 A 505. 1125 Vgl. STh II 99 ff.; BSTh 2, 64 ff. Über die Verknüpfung von Feldbegriff und Geist versucht Pannenberg zwischen Teil und Ganzem zu vermitteln und zu plausibilisieren, dass dem Einzelnen stets ein Bezug zum Ganzen gegeben ist, vgl. Lee, Vollender, 92–96.

2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf

2.3

173

Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf

Das Konzept der Antizipation wird, wie sich in den Reflexionen auf den menschlichen Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) und seine Zeiterfahrung (III.2.2) bereits angedeutet hat, zum leitenden Strukturprinzip in Pannenbergs gesamtem Entwurf. Gegenwart ist nur über die Antizipation von Zukunft bewältigbar. Der stets auf Zukunft hin geschehende, menschliche Selbstentwurf soll nun im Folgenden als ein »Modus von Glauben« interpretiert werden, der nicht identisch ist mit dem christlichen Glauben, aber potenziell offen auf diesen hin. Gewissheit seiner selbst gibt es für den Menschen demnach je jetzt nur als antizipativ verfassten Glaubensakt, dessen Inhalt da, wo er thematisch wird, ebenfalls antizipiert ist. Der Inhalt des Geglaubten kann sich dem Menschen nur geschichtlich erschließen, nämlich, indem er sich im Fluss der Zeit als zukunftsfähig und damit als wahr bewährt1126 (III.2.3.1). Er entspricht damit der sprachlichen Erkenntnisstruktur des Menschen, stellt doch jeder Begriff eine Antizipation der Wirklichkeit dar.1127 Das gilt in besonderer Weise für den Gottesbegriff, in dem der für den Menschen unverzichtbare, antizipative Ausgriff aufs Ganze der Wirklichkeit sprachlich Ausdruck findet und der diesen Ausgriff erst ermöglicht. Sprechen weist damit einen Glaubenscharakter auf (III.2.3.2). Auch die Wahrheit, auf die der Glaube des Menschen sich bezieht, stellt sich so als geschichtlich dar. In der antizipativen und damit temporalen Struktur des Selbstentwurfs drückt sich nämlich die „Geschichtlichkeit der Wahrheit“1128 aus, die sich auf Zukunft hin bewähren muss und die dem neuzeitlichen Menschen über die historische Forschung immer deutlicher ins Bewusstsein getreten ist.1129 Diese Geschichtlichkeit der Wahrheit hat nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch anthropologische Relevanz. So wird Pannenbergs Anthropologie zum Entwurf des Menschen von seiner Zukunft her, wenn er etwa den Menschen über das Ereignis der Freiheit von seiner darin antizipierten, – unter III.2.3.1 als notwendig für einen lebensbejahenden Selbstbezug bestimmten – Wesenszukunft her bestimmt (III.2.3.3). 2.3.1

Glaube als antizipativer Modus der Selbstgewissheit

Glaube ist für Pannenberg, ebenso wie Wissen, „eine Form des Sichverhaltens zur Wahrheit“1130. Wo Wissen aber, ebenso wie Erkenntnis, gegenwartsbezogen ist, ist Glaube zukunftsbezogen. Durch eben diese Zukunftsbezogenheit wird er unverzichtbar für die Gegenwartsbewältigung des Menschen, kann der Mensch doch 1126 1127 1128 1129 1130

Vgl. GSTh 2, 226–264. Vgl. STh I 276 ff. GSTh 1, 217. Vgl. GSTh 1, 217. STh III 156.

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III. Wolfhart Pannenberg

nicht anders, als das, was er erlebt, in Sinn- und Erklärungszusammenhänge auf Zukunft hin einzubetten – also zu antizipieren, und damit, wo dies vertrauensvoll geschieht, einen »Glaubensakt« zu wagen. In diesem Modus des Glaubens antizipiert der Mensch Zusammenhänge bis hin zu einem Bedeutungsganzen, denn misst ein Mensch auch nur einem einzigen Einzelereignis eine Bedeutung bei, dann antizipiert er damit zugleich, mindestens implizit, ein Bedeutungsganzes (III.2.1.2).1131 Die so antizipierten »Glaubensinhalte« bleiben jedoch auf der biografischen ebenso wie auf der universalgeschichtlichen Ebene ungewiss. Jegliche Antizipation geschieht nämlich zum einen an ihre jeweilige „Gegenwart gebunden, die im Prozeß der Zeit auf eine offene Zukunft hin immer wieder von neuen Augenblicken überholt wird“1132, und ist zum anderen zugleich auf eben diese neuen, zukünftigen Augenblicke ausgerichtet. Der sich in dieser Antizipation realisierende Ausgriff aufs Ganze bleibt damit stets ein subjektiver, geschichtlicher1133 Selbstentwurf des Menschen hin auf eine heute noch unzugängliche, da zukünftige Sinntotalität. Wenn also das Relative auch nur relativ ist in Bezug auf ein Absolutes, so kann der Geschichte dennoch, solange sie noch ihren Gang geht, kein absoluter Sinn zugewiesen werden.1134 Die Bedeutungszusammenhänge, die Menschen dennoch herstellen, bedürfen der ständigen Modifikation. Das gilt für den Gang der Geschichte ebenso wie für das kalendarische Jahr, wiederkehrende Naturereignisse und persönliche Biografien, die allesamt ihre Rolle für den Selbstentwurf des Menschen spielen. Der Mensch antizipiert mit ihnen also, teils bewusst, teils unbewusst, ein Bedeutungsganzes und lebt zugleich in einer fundamentalen Ungewissheit, was die Tragfähigkeit der Bedeutungszusammenhänge angeht, in die er sein Dasein mit ihnen stellt. „Wir haben uns früher klar gemacht, daß jede Einzelerfahrung ihre Bestimmtheit nur im Zusammenhang eines Bedeutungsganzen hat. Daher ist der Gedanke einer Totalität der Wirklichkeit Bedingung aller Erfahrung überhaupt, Bedingung schon der Erfahrung von einzelnen Gegebenheiten. Doch diese Totalität der Wirklichkeit selbst ist noch nicht gegeben, denn sie ist nicht abgeschlossen vorhanden. […] Sie wird nur antizipiert als Sinntotalität.“1135

1131 Vgl. GSTh 1, 7. 1132 STh II 311. 1133 Geschichtlich heißt hier „der Bestätigung oder Erschütterung durch den Fortgang der Erfahrung ausgesetzt“ (WuTh 312 f.; kursiv im Original). 1134 Vgl. STh I 64. Pannenberg knüpft hier an Dilthey an. 1135 WuTh 312 (kursiv im Original). Im Einzelnen kann, ja muss das Ganze aufleuchten. Der „antizipatorische Charakter der Erfahrung der Totalität von Wirklichkeit als Sinntotalität“ macht darum auch die „Geschichtlichkeit der Selbstbekundung göttlicher Wirklichkeit verständlich“ (WuTh 313).

2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf

175

Das so umrissene, zunächst einmal erkenntnistheoretische Spannungsfeld der Vorwegnahme von Bedeutungszusammenhängen hat entscheidende Auswirkungen auf die existenzielle Selbstgewissheit des Menschen, unter der hier ein positiver, sich selbst und sein Dasein bejahender Selbstbezug gemeint ist, der nicht allein durch Zweifel oder Sorge bestimmt ist – obwohl dies dem Menschen nahe liegen müsste. Das Wesen des Daseins kann nämlich innerhalb des zeitlichen Verlaufs nur vom letzten Kapitel einer endlichen Abfolge her antizipiert werden und das letzte Kapitel einer Biografie ist innerzeitlich stets der Tod. Doch dieser kann nicht letzte, Sinn stiftende Zukunft sein, da er keine Ganzheit konstituiert, sondern das Leben fragmentierend abbricht und seitens der Hinterbliebenen zudem divergierende Deutungen des Lebens des Verstorbenen evoziert.1136 Er bringt damit weder Vollendung noch Klarheit. Statt des Todes als vermeintlichem Vollender ist darum eine „Wesenszukunft“1137 unerlässlich, durch die sich Sinn und Bedeutung eines Lebens konstituieren lassen, die nicht willkürlich gesetzt werden und nicht im Nichts verschwinden. Da eine solche Wesenszukunft jedoch heute nicht ergriffen, sondern nur vorgreifend geglaubt werden kann, kann es Selbstgewissheit je jetzt letztlich nur als antizipativ verfassten Glaubensakt geben. Dass der Mensch also auch angesichts seiner aufgrund seiner Sterblichkeit ausweglosen Lage zu einer lebensbejahenden Daseinshaltung gelangen kann, weist ihn als Wesen aus, das glaubt. Dieser Glaube drückt sich zunächst nicht inhaltlich, sondern vielmehr in einer Lebenshaltung und einem unmittelbaren Selbstverhältnis aus, das eine bergende Sinntotalität zunächst einmal impliziert, ohne sie deshalb sofort reflexiv explizieren zu müssen. Pannenberg selbst schreibt: „[V]ertrauensvoll der Zukunft entgegenzugehen […] ist freilich nicht schon Glaube im Sinne der Hinwendung zum Gott der Bibel. Solche Ausdrücklichkeit des Glaubens ist erst auf dem Grunde geschichtlicher Gottesoffenbarung möglich.“1138 Obwohl jedoch dem Menschen der Gott der Bibel nicht „immer schon als konkretes Gegenüber vor Augen“ steht, kann in zunächst unthematischer, „unausdrücklicher Weise“ dennoch „von seiten des Geschöpfes Glaube oder Unglaube in dankbarer Annahme des Lebens und vertrauensvoller Aufgeschlossenheit einerseits oder andererseits in der Angst um das eigene Seinkönnen vollzogen werden.“1139 Christlicher Glaube „richtet sich als Vertrauen auf die

1136 Vgl. Pannenberg, Metaphysik, 62. Pannenberg widerspricht Heidegger an dieser Stelle vehement. 1137 GSTh 2, 73. 1138 STh II 288. 1139 STh II 289. Im Folgenden wird stärker der Aspekt des Glaubens als der des Unglaubens eines jeden Menschen betont, liegt in ersterem doch ein Vermittlungspotenzial zwischen moderner und theologischer Daseinsdeutung, das nicht auf einer Entgegensetzung von christlich und »nicht-christlich« beruht, sondern das beides verbindende Potenzial einer fundamentaltheologischen Anthropologie verdeutlicht.

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III. Wolfhart Pannenberg

Zukunft“1140 und wagt sich über die Grenze des „Wissens als Zugang zum wahrhaft Beständigen“1141 hinaus. Dieses Grundverständnis von Glauben, das Pannenberg bereits in GSTh 21142 entfaltet und bis in STh III1143 auf den jüdisch-christlichen Glauben anwendet,1144 soll also hier bereits auf den antizipativen Selbstentwurf auch des Menschen, dem die Gottesfrage nicht thematisch geworden sein muss, angewendet werden – nämlich im Bezug auf die von ihm antizipierte Integrität seines Selbst im jeweiligen Augenblick des Ich. Was sein Potenzial angeht, sich der Zukunft anzuvertrauen, soll der für den Menschen unverzichtbare, antizipative Selbstentwurf also näher bestimmt werden als ein »Modus des Glaubens«. Im Ausgang von der Theologie Pannenbergs wird damit möglich zu sagen, dass sich Menschsein stets in einem Modus von Glauben vollzieht, wobei graduelle Unterschiede in der Ausprägung der damit verknüpften Selbstgewissheit offenkundig sind. Offenkundig ist dabei auch, dass da, wo der Glaube an die eigene Zukunft abhanden gekommen ist und kaum noch Selbstgewissheit gegeben ist, das Leben eines Menschen am Abgrund steht, und dass demgegenüber wiederum ein Glaube, der den Menschen nicht allein auf das Ende seines Daseins verweist, sondern ihn in einen darüber hinaus tragenden Zusammenhang einbettet, ein lebensförderndes Potenzial darstellt. 2.3.2

Wort als Antizipation

Wo der antizipative Ausgriff aufs Ganze dem Menschen thematisch wird, vollzieht er sich sprachlich. Sprache selbst weist dabei die Grundstruktur der Antizipation auf. Sprache und Zeit korrespondieren einander bereits insofern, als dass der Mensch vermittels Sprache zu erinnern, zu vergegenwärtigen und zu entwerfen vermag, was war, was ist und was sein kann. Worte stellen darum auch eine Vorwegnahme der Wirklichkeit dar, auf die sie sich beziehen. Sie können aufgrund dieser Korrespondenz von Sprache und Zeit keine absolute, sondern stets nur vorläufige Wahrheit abbilden. Jeglicher Begriff hat also antizipatorischen Charakter, denn er greift auf eine mögliche Wahrheit hin aus.1145 Unter Bezugnahme auf Ebeling1146 hebt Pannenberg hierbei weniger die Ungewissheit der zukünftigen Bewährung von Worten hervor, sondern vielmehr, dass Wort es vermag, das Verborgene, insbesondere das Vergangene und Zukünftige, gegenwärtig sein zu lassen und ihm damit eine besondere Mächtigkeit zukommt.

1140 1141 1142 1143 1144 1145 1146

STh III 157. STh III 157. Vgl. GSTh 2, 226–264. Vgl. STh III 156 ff. Vgl. STh III 157 ff. Vgl. Pannenberg, Metaphysik, 68. Pannenberg bezieht sich auf Ebeling, G., Wort und Glaube 2, Tübingen 1969, 396 ff.

2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf

177

In besonderer Weise gilt das für den Begriff »Gott«,1147 in dem, wie unter III.2.1 bereits aufgezeigt, immer das Ganze der Welt und des eigenen Daseins angesprochen ist und in dem der für den Menschen unverzichtbare Ausgriff aufs Ganze der Wirklichkeit seinen eigentlichsten Ausdruck findet. Pannenberg folgert daraus, dass „das gesprochene Wort als Ereignis (nicht als Handlung, also nicht als Sprechakt)“1148 als antizipatorischer Vorgriff auf das Ganze der Wirklichkeit stets Gott als Grund des Ganzen mit meinen muss, jedenfalls dann, wenn Gott wirklich Grund der Wirklichkeit ist1149 und insofern sprachlich implizit tatsächlich stets auf eine Sinntotalität ausgegriffen wird.1150 Nur durch diesen nicht vom Menschen getanen, sondern sich in seinem Sprechen ereignenden Ausgriff auf Gott kann Vergangenes und Zukünftiges überhaupt in Sprache gegenwärtig werden. Die „antizipatorische Form“ der Sprache, die der „Zeitlichkeit der Wirklichkeit“ und der ebenfalls temporal gefassten „Vergegenwärtigung des Verborgenen“ entspricht, stimmt dann zugleich in eben dieser Form mit dem Inhalt des Evangeliums überein, nämlich dem „Inerscheinungtreten der Zukunft Gottes“1151. Pannenberg gewinnt so ein „theologisch vertieftes Verständnis menschlicher Sprache“1152. Daraus kann gefolgert werden: Insofern als dass Sprechen sich gegenwartsgebunden und gegenwartstranszendierend vollzieht und damit Antizipieren bedeutet und Antizipation, wo sie vertrauensvoll geschieht, Glauben bedeutet, geschieht auch Sprechen nicht ohne Glauben und Gottesbezug. 2.3.3

Die Geschichtlichkeit der Wahrheit

Mit der Neuzeit wurde die „Geschichtlichkeit der Wahrheit“1153 endgültig offenkundig. Auch die Wahrheit, auf die der Glaube des Menschen sich bezieht, stellt sich ihm geschichtlich dar. Daher soll nun gefragt werden, ob der Mensch sich

1147 1148 1149 1150 1151

Vgl. STh III 678. STh I 276. Vgl. STh I 277. Vgl. A 382. STh I 277. So lässt auch der „Bericht“ (STh I 277) von Jesus Christus sein Geschick gegenwärtig werden. Indem Pannenberg die Evangelien Berichte nennt, grenzt er sich zugleich gegen eine tendenziell ahistorische Lesart der Evangelien als rein kerygmatische Entscheidungsrufe ab. 1152 STh I 277 (kursiv im Original). Pannenberg führt weiter aus: An die Stelle des mythischen Wortes über die Urzeit, in dem die Dinge ursprünglich begrifflich verortet und auf ein magisches Wort der Götter in die Vergangenheit zurück geführt wurden, trat in der Bibel nach und nach der „Geschichtsbericht“ (STh I 278) des biblischen Wortes. Anstelle des mythischen Wortes und urzeitlicher Setzungen traten geschichtliche Erwählung und jederzeit wirksames weisheitliches Durchwalten der Welt, vgl. STh I 279. 1153 GSTh 1, 217. Zu Pannenbergs Wahrheitsverständnis vgl. Leppek, Th., Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, Göttingen 2017.

178

III. Wolfhart Pannenberg

glaubend zu einer absoluten Wahrheit verhält oder diese in geschichtlicher Relativität aufgeht. Bereits der Blick in die Geschichte erweist die historische Bedingtheit von Wahrheit, denn zu unterschiedlichen Zeiten erscheinen Menschen unterschiedliche Dinge als wahr. Die „Einheit der Wahrheit“1154 erscheint von daher als „Geschichte der Wahrheit und zwar so, daß die Wahrheit selbst eine Geschichte hat und daß ihr Wesen der Prozeß dieser Geschichte ist. Die geschichtliche Wandlung selbst muß als das Wesen der Wahrheit gedacht werden, wenn an ihrer Einheit noch festgehalten werden soll, ohne daß borniert ein Einzelstandpunkt sich mit dem Ganzen der Wahrheit verwechselt.“1155 Auch wenn geschichtliche Wandlung ihr Wesen ist, bleibt Wahrheit für Pannenberg, auch trotz der „schöpferische[n] Subjektivität“1156, vermittels derer der Mensch sich ihr annähert, eine Größe, die es zu finden gilt, nicht nur zu erschaffen.1157 Ihr kommt nach Pannenberg trotz ihrer historischen Relativität ein absolutes Moment zu. So liegt beispielsweise die Relevanz einer religiösen Glaubenswahrheit nach Pannenberg nicht allein darin, dass sie „Existenzausdruck“ ist, sondern auch darin, „woran der Glaube glaubt.“1158 Nicht nur der Akt des Glaubens, sondern auch das davon zu unterscheidende Fürwahrhalten eines Inhalts macht sein Glaubensverständnis aus.1159 Er kritisiert das existenzialistische Wahrheitsverständnis darum mit den Worten: „Die je eigene Wahrheit wird gesucht, nicht die Wahrheit

1154 GSTh 1, 217. 1155 GSTh 1, 217 f. 1156 GSTh 1, 214. Pannenberg reflektiert, u. a. im Anschluss an Nikolaus von Kues, darauf, dass der Mensch als Ebenbild Gottes schöpferisch tätig ist im Erfassen der Welt, vgl. GSTh 1, 213. „Für diese schöpferische Subjektivität des Menschen mußte nun aber die Übereinstimmung mit der außermenschlichen Wirklichkeit zum Problem werden.“ (GSTh 1, 214.) „Die ‚objektive Gültigkeit‘ menschlichen Denkens ist nur gewährleistet unter der Voraussetzung eines dem menschlichen Geiste mit der außermenschlichen Wirklichkeit gemeinsamen Grundes.“ (GSTh 1, 215.) Diesen Grund macht Pannenberg in Gott aus. „Das neuzeitliche Verständnis der Wahrheit von der Subjektivität des Menschen her bleibt also an die Voraussetzung Gottes, wie sie der Kusaner zuerst formuliert hat, gebunden. So betrachtet aber ist die Subjektivierung der Wahrheit als eine legitime Auswirkung biblischen Verständnisses der Wirklichkeit zu beurteilen.“ (GSTh 1, 215) »Gott vorauszusetzen« versteht Pannenberg hierbei als Frage: „Die Subjektivität kann sich selbst und ihr Denken nicht als Wahrheit verstehen, ohne Gott vorauszusetzen als den einen Ursprung alles Wirklichen. Dabei hat der Akt dieser Voraussetzung nur den Sinn einer offenen Frage, nicht den einer eigentlichen Gotteserkenntnis.“ (GSTh 1, 222.) 1157 Pannenberg vertritt aufgrund seines korrespondenztheoretischen Denkens ein realistisches Wirklichkeitsverständnis, vgl. Leppek, Wahrheit, 382 f. 1158 GSTh 1, 212. 1159 Vgl. STh III 171; Leonhardt, Dogmatik, 144.

2.3 Im Modus des Glaubens. Antizipation als Selbstentwurf

179

überhaupt.“1160 Zwar stellt Wahrheit sich tatsächlich als subjektive Wahrheitsüberzeugung dar. Jedoch kann eine Wahrheit, die nicht als Wahrheit für alle behauptet werden kann, auch nicht die subjektive Wahrheit eines Einzelnen sein.1161 Der Glaubensakt kommt darum nicht ohne einen Glaubensinhalt aus, der unabhängig vom Glaubensakt wahr ist. Und hierbei gilt: „Was die Zukunft als wahr entscheidet, das wird auf Grund dieser Entscheidung immer wahr gewesen sein.“1162 Dass die Wahrheit sich zukünftig erweisen wird, ermöglicht Pannenberg, relative geschichtliche Bedingtheit und unbedingte Gültigkeit von Wahrheit zusammen zu denken. Der Mensch kommt darum nicht umhin, trotz aller angesichts seines relativen historischen Standpunkts nötigen epistemischen Zurückhaltung, bereits je jetzt nach der Wahrheit schlechthin für das Ganze der Wirklichkeit zu fragen.1163 Damit fragt der Mensch zugleich nach seiner Wesenszukunft, also der Wahrheit über sich selbst, wie sie bereits gegenwärtig in Erscheinung1164 treten kann, und dies nach Pannenberg vor allem im Ereignis der Freiheit tut: „Im Ereignis der Freiheit ist die Wesenszukunft des Menschen schon Gegenwart.“1165 Die Begriffe der Freiheit und der Zukunft korrelieren einander dabei schon insofern, als dass, wer keine Zukunft hat, auch zu nichts frei ist. Pannenberg nimmt, wie sich eben auch darin äußert, dass er das Wesen des Menschen von seiner Wesenszukunft her bestimmt, in seinem Denken ganz generell eine „Umkehrung der Zeitfolge, wie sie im Gedanken der Kausalität gewöhnlich vorausgesetzt wird“1166, vor. Nicht seine Vergangenheit bestimmt den Menschen im Eigentlichen, sondern seine Zukunft. Die »Absolutheit der Wahrheit«, auf die sich der Mensch dabei notwendigerweise bezieht, muss ihm innerhalb der geschichtlichen Relativität menschlicher Erfahrung 1160 1161 1162 1163

GSTh 1, 211 (kursiv im Original). Vgl. A 15; STh I 60. ThRG 21. Das gilt auch und besonders für die Frage nach der christlichen Wahrheit: „Die Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens fragt danach, ob er uns Heutigen noch die Einheit der Wirklichkeit, in der wir leben, erschließen kann, wie das einst in der antiken Welt der Fall gewesen ist und den Sieg des Christentums in der antiken Oekumene des Mittelmeerraumes begründet hat. Die Frage nach der Wahrheit des christlichen Glaubens fragt also nicht nach irgendeiner Sonderwahrheit, sondern nach der Wahrheit schlechthin“ (GSTh 1, 202). Nicht umsonst setzt Pannenbergs dreibändige Systematische Theologie mit der Frage nach der christlichen Wahrheit ein, vgl. STh I 11 ff. 1164 Zu Überlegungen Pannenbergs zum Begriff der Erscheinung vgl. ThRG 79–91. Pannenberg vermutet dort, ausgehend vom „definitiven Sinn der Erscheinung der Zukunft Gottes in Jesus von Nazareth“ (ThRG 91; kursiv im Original): „Die Zukunft will gegenwärtig werden; sie tendiert zu ihrer Ankunft in einer ständigen Gegenwart.“ (ThRG 91; kursiv im Original.) 1165 GSTh 2, 79. 1166 ThRG 28. Pannenberg macht den Ursprung der Welt nicht in der Vergangenheit aus, sondern in der Zukunft, die Gott für seine Welt bereit hält, weswegen auch in der Vergangenheit bereits die Zukunft Gottes am Werk ist, vgl. ThRG 19. Vgl. Freyer, Zeit, 282 ff.

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III. Wolfhart Pannenberg

und Reflexion zugänglich werden, denn nur, was sich im Fluss der Zeit als beständig erweist, kann innerzeitlich als wahr erkannt werden. Pannenberg verdeutlicht dies am hebräisch-biblischen Wahrheitsbegriff. Der hebräische Wahrheitsbegriff fasse zwar das Wahre und Beständige als mit sich selbst identisch auf und korrespondiere insofern dem griechischen,1167 doch suche er die „Selbstidentität des Wahren nicht [wie der griechische Wahrheitsbegriff; Anm. d. Vf.in] als ewige Gegenwart hinter dem Fluß der Zeit zu erfassen, sondern als das, was sich im Fortgang der Zeit selbst als beständig bewährt und erweist“1168. ‫ אֶמֶת‬muss darum immer wieder neu geschehen und was wirklich ‫ אֶמֶת‬ist, stellt sich erst in der Zukunft heraus. Auch hier zeigt sich: Da also »Wahrheit geschieht« und sich somit geschichtlich auf Zukunft hin bewähren wird, kann Pannenberg nicht nur von einer Geschichte der Wahrheit zu sprechen, sondern Wahrheit selbst als Geschichte auffassen, ohne dass sie darum in historischer Relativität aufginge.1169 Wo ein Mensch sich in seiner subjektiven Gewissheit, die es nur im Vorgriff auf eine letzte Bestätigung geben kann,1170 glaubend auf biblische, jüdisch-christliche Traditionen bezieht, versteht er sich dabei nicht nur im Wort »Gott«, sondern auch im »Worte Gottes«1171 als getragen vom Vorgriff Gottes auf das Ende der Geschichte, wie Pannenberg in seinem Konzept der »Offenbarung als Geschichte« expliziert. 1167 Im Griechischen zeige demnach eine wahre Aussage das Seiende als Seiendes auf und das Nichtseiende als Nichtseiendes. Die Rede, der Logos, nicht die Sinne, zeigen demnach die Wahrheit auf, und Wahrheit ist. Sie habe damit einen ungeschichtlichen Zug. Auch der griechische Wahrheitsbegriff frage jedoch nach dem Bestand der Dinge, nach dem, was bleibt und der Erfahrbarkeit von Wahrheit, so dass nach Pannenbergs Verständnis der griechische Wahrheitsbegriff vom Wahrheitsverständnis Israels umgriffen wird, vgl. GSTh 1, 209. 1168 STh I 64. 1169 Vgl. GSTh 1, 117.204 u. GSTh 2, 230. Wenn Pannenberg Offenbarung als Geschichte versteht und diese wahr sein soll, muss er auch Wahrheit als Geschichte verstehen können. 1170 Vgl. STh I 57. 1171 Pannenberg hinterfragt die Selbstverständlichkeit, mit der vor allem im Protestantismus vom Wort Gottes die Rede ist. Als Gründe für diese Selbstverständlichkeit führt Pannenberg an: die Bedeutung des Wortbegriffs in der Bibel, die reformatorische Auffassung vom Glauben, der am Wort hängt, ein Verständnis der Bibel als Wort Gottes, personalistisches Denken in der Verbundenheit mit der anschaulichen Vorstellung von einem redenden Gott, vgl. STh I 263 f. Einer naiven Gleichsetzung von Offenbarung und Wort Gottes stehen jedoch mythologisch-magisches Denken vom göttlichen Wort als Ursprung des Kosmos, die historisch-kritische Exegese, die das Schriftprinzip notwendigerweise hinterfragt und Vermittlung und Interpretation der Rede vom redenden Gott und seinem Wort nötig macht, die Pluralität der biblischen Vorstellungen vom Wort Gottes und die Unterscheidung von Gott als Subjekt und Inhalt seines Wortes, das häufig eben nicht Gott selbst unmittelbar zum Inhalt hat, entgegen, vgl. STh I 264 ff. Pannenberg bestimmt dann seine Wortgottesvorstellung über seinen Offenbarungsbegriff – nicht umgekehrt. Der Begriff der Offenbarung wiederum ist darum nicht durch den Begriff des Wortes Gottes zu präzisieren, sondern durch das „Inerscheinungtreten der von Propheten und apokalyptischen Sehern angesagten Zukunft“ (STh I 280; kursiv im Original). Nur aufgrund ihrer

3. Offenbarung als Geschichte

2.4

181

Zwischenergebnis

Das stets mitwandernde Gegenwartserleben des Geschichtswesens Mensch verlangt nach dem Überstieg desselben auf Zukunft hin. Da der zeitlich verfasste Mensch ein Gegenwarts-Wesen ist, muss er also auch ein zukunftsbezogenes Wesen sein. Die antizipative Verfasstheit des Menschen wird damit zum Kulminationspunkt der Anthropologie Pannenbergs. Der unabdingbar zum Menschsein gehörige Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) erweist sich hierbei in entscheidender Weise als Ausgriff auf Zukunft. Damit ist der Mensch jetzt und erfährt sich selbst als Person, indem er über dieses Jetzt hinausstrebt (III.2.2). Seine Zeitlichkeit nötigt ihn zur Selbsttranszendenz. Der antizipative Modus seiner Existenz kann von daher als Modus des Glaubens (III.2.3) verstanden werden, in dem er schon heute auf eine Wahrheit hin ausgreift, die sich auf Zukunft hin zu bewähren hat.

3. Christologischer Brückenschlag zwischen Anthropologie und Theologie: Offenbarung als Geschichte Über OaG wird im Folgenden christologisch die Brücke geschlagen zwischen dem fundamentaltheologischen, anthropologischen Ausgangspunkt der aus Pannenbergs Geschichtsdeutung abgeleiteten Gegenwartsdeutung und der dieser sachlogisch vorgeordneten, theologischen Deutung menschlicher Existenz. Die Wahrheit, auf die hin der Menschen in seinem Heute ausgreift und die sich zukünftig zu bewähren hat, ist nämlich nach OaG bereits in Christus in die Geschichte eingetreten. Pannenbergs Thesen in OaG seien daher hier aufgeführt. Sie haben zum Inhalt:1172 – These 1: Die Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte ist indirekte Selbsterschließung. – These 2: Die Offenbarung findet am Ende der offenbarenden Geschichte statt. – These 3: Geschichtsoffenbarung ist durch ihren universalen Charakter im Unterschied zu speziellen Theophanien für jeden prinzipiell erkennbar.

antizipatorischen Struktur kann nämlich überhaupt von einer Offenbarung Gottes, die innerhalb der Geschichte geschehen ist, gesprochen werden, vgl. Kugelmann, Antizipation, 55. Als Wort Gottes erweist sich demnach das Offenbarungsgeschehen, das das Ende der Geschichte offenbart. Ohne den darin liegenden Rückbezug auf Geschichte bliebe die Kategorie des Wortes Gottes eine mythische Kategorie. Jesus Christus selbst ist demnach Wort Gottes als „Inbegriff des göttlichen Schöpfungs- und Geschichtsplans und seiner endzeitlichen, aber auch schon antizipatorischen Offenbarung“ (STh I 281). 1172 Vgl. OaG 91–114.

182

III. Wolfhart Pannenberg

– These 4: Erst im Geschick Jesu von Nazareth, noch nicht in der Geschichte Israels, verwirklicht sich die universale Offenbarung, da sich in ihr das Ende aller Geschichte vorweg ereignet hat. – These 5: Das Christusgeschehen ist nur insofern göttliche Selbsterschließung, als dass es Teil der Geschichte Israels mit Gott ist. – These 6: In den heidenchristlichen Kirchen kam es zur Ausbildung außerjüdischer Offenbarungsvorstellungen, in denen die Universalität des eschatologischen Selbsterweises Gottes im Christusgeschehen zum Ausdruck kommt. – These 7: Das Wort bezieht sich auf Offenbarung als Vorhersage, als Weisung und als Bericht. Umrissen sei OaG im Folgenden jedoch weniger material, als vielmehr in seiner formalen Relevanz für die vorliegende Untersuchung, nämlich eben als Scharnier zwischen anthropologischer Grundlegung und theologischer Deutung der aus Pannenbergs Systematik abgeleiteten Gegenwartsdeutung. Hierfür ist die christologische These 4 hervorzuheben: Erst im Geschick Jesu von Nazareth, noch nicht in der Geschichte Israels, verwirklicht sich die universale Offenbarung, da sich in ihr das Ende aller Geschichte vorweg ereignet hat. Pannenberg schreibt: „[A]lles Erkennen vollzieht sich von einer Vorwegnahme seiner Ergebnisse her“1173 – und damit antizipativ. Damit allerdings „bleibt die Zukunft immer unberechenbar“1174, solange das Ende der Geschichte unbekannt ist. Die „Geschichte als Ganzes“1175, ohne Bezug auf die sich der Mensch nicht zu deuten vermag,1176 erschließt sich nach These 4 von OaG jedoch vom Christusgeschehen her.1177 Dieses stellt nämlich „mit der Aufweckung [sic] Jesu“1178 die Vorwegnahme des Endes der Geschichte dar, obwohl dieses Ende „für uns andere noch aussteht.“1179 Pannenberg hebt damit die Bedeutung des „eschatologische[n] Charakter[s] des Christusgeschehens“ als entscheidendem, letztgültigem „Selbst-

1173 1174 1175 1176 1177

OaG 102 Anm. 15. OaG 104. OaG 104. Vgl. III.2.1.2. Insofern, als dass hierbei stets die in der Zukunft liegende Vollendung konstitutiv ist für Pannenbergs Geschichtsbegriff, erscheint es ihm „als notwendiges Implikat der Konzeption einer Einheit der Geschichte, anzuerkennen, daß die Ganzheit der Geschichte nur transzendent begründet werden kann: Denn Gott ist als die alles bestimmende Wirklichkeit die ‚Macht des Seins‘ und die ‚Macht der Zukunft‘“ (Essen, Vernunft, 350; kursiv im Original). Pannenberg möchte damit zugleich die „unausweichlich religiöse[…] Verfaßtheit des Gegenstandes der historischen Forschung“ belegen: „der Historiker als ein gewissermaßen ‚anonymer Theologe‘“ (Essen, Vernunft, 351). 1178 OaG 104. 1179 OaG 105.

3. Offenbarung als Geschichte

183

erweis“1180 Gottes, dessen Notwendigkeit unter III.2.1.1 postuliert worden war, hervor: „Nur der eschatologische Charakter des Christusgeschehens begründet es, daß es keinen weiteren Selbsterweis Gottes über dieses Geschehen hinaus geben wird: Auch das Weltende wird lediglich in kosmischem Maßstab das vollziehen, was an Jesus bereits geschehen ist.“1181 Damit eröffnet sich dem Menschen der Weg zur Deutung der Geschichte vom Christusgeschehen aus. Wenn die anthropologische Fundierung der Theologie Pannenbergs in OaG auch noch nicht in der späteren Form von A und STh gegeben ist, so ist sie in OaG doch bereits im Keim angelegt. Pannenberg selbst schreibt, dass ein in der kritischen Rezeption von OaG zu oft übersehenes Vermittlungsinteresse zwischen „dem Verhältnis von Gotteswirklichkeit und Welt […] den neuzeitlichen Problemhorizont des Buches“1182 bildet. Bereits in OaG angelegt, wenn auch nicht breit ausgeführt, ist das anthropologische Implikat, dass dies Vermittlungsinteresse nicht nur die Zukunft der Gesamtgeschichte, sondern damit zugleich die Biografie jedes Menschen betrifft, indem sie „unsere Lebenswirklichkeit in das Licht der letzten Entscheidung“1183 stellt: „Daß im Geschick Jesu der eine Gott aller Menschen und Zeiten offenbar ist, das muß sich […] vor allem auch der alltäglichen Wirklichkeitserfahrung jeder Zeit […] bewähren.“1184 Indem von These 4 von OaG her nun im Folgenden das Christusgeschehen als entscheidende Antwort des unter III.2 dargelegten Ausgriffs aufs Ganze verstanden wird, von dem her erst das Ganze der Geschichte in den Blick genommen werden kann, von der her erst wiederum auch der einzelne Mensch sein Dasein deuten kann, kann OaG darum als christologischer Link zwischen dem anthropologischen Ausgangspunkt des späteren Denkens Pannenbergs (III.2) und der diesem entspringenden theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart, wie sie unter III.4 noch aus seinem Entwurf abzuleiten sein wird, interpretiert werden. Über diese Lesart des Konzepts von OaG soll also der Überschritt vom erkenntnislogischen, anthropologischen Ansatzpunkt des Gesamtwerkes Pannenbergs, wie er von der Endgestalt seines Werkes her in dieser Untersuchung vorausgesetzt ist (III.1.2), zur diesem sachlogisch vorgeordneten, theologischen Interpretation menschlicher Gegenwart geschehen.

1180 1181 1182 1183 1184

OaG 105. OaG 105. OaG V. OaG 105. OaG 104 Anm. 17.

184

III. Wolfhart Pannenberg

Pannenberg entwickelt zwar zuerst seine Geschichtstheologie (OaG) und entwirft den Menschen erst später (A, STh) in voller Breite als geschichtliches Wesen. Die Verbindung der in A und STh dann endgültig gebotenen Ausgangsbasis seines Denkens in der fundamentaltheologischen Anthropologie (III.2) mit der materialen Dogmatik (III.4) ergibt sich aber über die christologisch gefasste Antizipation der Zukunft, wie sie in OaG, vor allem in These 4, dargelegt ist (III.3). Im Folgenden ist zu einem besseren Verständnis der Geschichtstheologie Pannenbergs das aus OaG resultierende Verhältnis von Geschichte und Offenbarung im Werk Pannenbergs näher zu beleuchten (III.3.1). Der Antizipation der Zukunft in Jesus Christus (III.3.2) entspringt dabei, dass – Teil und Ganzes gelingend in Bezug zueinander gesetzt werden können und – Zukunft im Jetzt anbricht. – Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus bleibt dabei allerdings umstritten. Vor diesem Hintergrund erscheint Pannenberg die Doxologie, nicht die Analogie, als angemessenste theologische Sprachform, da sie auf Zukunft hin auszugreifen sucht (III.3.3). Der Zwischenertrag wird in einem kurzen Kapitel gebündelt (III.3.4).

3.1

Geschichte und Offenbarung

Pannenberg betrachtet Geschichte seit OaG nicht mehr, wie noch in dem frühen Aufsatz »Heilsgeschehen und Geschichte«, der vor OaG erschien und dieser Programmschrift teils bereits vorgriff, als das zwischen Verheißung und Offenbarung eingespannte Geschehen,1185 sondern Offenbarung als Geschichte vermittelt zwischen Gott und Welt.1186 Die Offenbarung Gottes geschieht nicht »gnostisch direkt«, sondern »geschichtlich indirekt«.1187 Sie bricht nicht senkrecht von oben in die Geschichte ein, sondern ist die Macht, die sie bewegt.1188 Anders als geschichtlich ist für Pannenberg ein konkretes, selbsterschließendes1189 Handeln1190 Gottes nicht vorstellbar. 1185 Geschichte ist nicht einfach das zwischen Verheißung und Erfüllung eingespannte Geschehen. So „fugenlos“ (GSTh 1, 9) fallen Verheißung und Erfüllung nicht ineinander. Vielmehr denkt Pannenberg seit OaG überlieferungsgeschichtlich, was bedeutet, dass „die tradierten Verheißungen im Lichte neuer geschichtlicher Erfahrung jeweils neu interpretiert“ (Wenz, Theologie, 16 Anm. 9) werden. 1186 Vgl. OaG V. 1187 Vgl. OaG 110. 1188 Vgl. GSTh 1, 5. 1189 Vgl. OaG 91 ff. 1190 Zu dem für Pannenberg zentralen Begriff des Handelns Gottes vgl. STh II 15 ff.

3.1 Geschichte und Offenbarung

185

Der eine Zeitlang diskutierte Programmtitel »Geschichte ist Offenbarung« konnte sich indes nicht durchsetzen, sondern wurde 1955 zunächst einmal zu »Offenbarung ist Geschichte«, wodurch zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass Offenbarung bestimmt, was Geschichte ist.1191 Jedoch konnte es auch dabei nicht bleiben, sollten doch sowohl das Missverständnis einer natürlichen Theologie als auch einer idealistischen Geschichtsdeutung vermieden werden. „Wird das Ganze der Wirklichkeit in seinen unveränderlichen Verhältnissen (als Kosmos) als indirekte Mitteilung des wahren Gottes verstanden, dann sind wir auf dem Wege der griechischen philosophischen Gottesfrage, der ‚natürlichen Theologie‘. Wird aber das Ganze der Wirklichkeit in ihrem zeitlichem Wandel als Geschichte und so als Selbstmitteilung Gottes gedacht, dann befinden wir uns auf dem Wege, den das Denken des Deutschen Idealismus seit Lessing und Herder eingeschlagen hat.“1192 Pannenberg versucht stattdessen, Geschichte und Offenbarung in ein Verhältnis zueinander zu setzen, das Braaten unter Hinweis auf die Konjunktion »als« (in ihrer Funktion der näheren Erläuterung eines Bezugswortes) so umschreibt: „The word ‘as’ gives a clue to their ontology of historical revelation. What is the connection between revelation and history? Revelation comes not merely in or through history but as history. Revelation does not exist above history, entering it from the outside as a suprahistorical substance.“1193 Pannenberg umgeht damit sowohl die Gleichsetzung als auch die Trennung von Offenbarung und Geschichte. Er umgeht damit zugleich einen rein supranaturalen und damit auch suprahistorischen Offenbarungsbegriff ohne den Offenbarungsbegriff als solchen aufzugeben,1194 indem er davon ausgeht, dass Gott sich indirekt in seinem Handeln im Ganzen des geschichtlichen Geschehens offenbart, wie es sich primär vom Christusgeschehen als Prolepse des Endes der Geschichte her erschließt. Den von ihm im Singular verwendeten Terminus Geschichte bezieht Pannenberg hierbei auf das eine Gesamtgeschehen der „Selbstoffenbarung Gottes“1195 in 1191 1192 1193 1194

Vgl. Wenz, Kreis, 19. OaG 17 f. Braaten, History, 27 (kursiv im Original). Vgl. Nüssel, Geschichte, 71 f. Pannenberg hält den Offenbarungsbegriff im Hinblick auf die „Leidenschaft, Gott zu denken“ (OaG VI) für absolut zentral und kritisiert, dass die evangelische Theologie sich dem zu sehr entziehe, vgl. OaG VIff. 1195 OaG XI. „Die Verbindung des Begriffs der Selbstoffenbarung Gottes mit dem der Geschichte — und zwar nicht nur mit einzelnen Geschichtsereignissen, sondern (entsprechend der Einheit des geschichtlich handelnden Gottes) mit dem Gesamtprozeß der von

186

III. Wolfhart Pannenberg

der Geschichte Israels bis zu Jesus Christus, wobei er von der „Zusammenfassung der ganzen Menschheit in Jesus Christus“1196 ausgeht. „Dabei ist es der biblische Überlieferungszusammenhang selbst, der von der Erwartung der in der Zukunft liegenden Vollendung des göttlichen Geschichtshandelns zeugt und darin den Sinn der Rede von Geschichte im Singular begründet.“1197 Im Hintergrund des Singulars Geschichte steht also Pannenbergs Rezeption überlieferungsgeschichtlicher Theologie, nach der Deuten und Überliefern selbst geschichtliches Ereignis ist, das in einem überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang zum geschichtlichen Geschehen steht. Pannenberg versucht dabei durch die Verquickung von Offenbarung und Geschichte im Bezug auf den Geschichtsbegriff den Dualismus aus historischem Ursprungsgeschehen und deutender Überlieferung desselben1198 sowie im Bezug auf den Offenbarungsbegriff den Dualismus aus Manifestation und Interpretation zu überwinden. Er meint, „Offenbarung vermittle sich in und als Überlieferungsgeschichte und zwar zugleich in ihrer Faktizität und ihrer Bedeutung, die beide zwar zu unterscheidende, aber nicht zu trennende Momente eines, nämlich des überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhangs seien, der Sein und Bewusstsein des Geschehens verbinde und damit auch die Bedingung der Möglichkeit historischer Arbeit schaffe.“1199 Die Reflexion von (Offenbarung als) Geschichte ist nämlich überlieferungsgeschichtlich selbst Teil des geschichtlichen Verlaufs, ebenso wie auch das historische (Offenbarungs-)Geschehen.1200

1196 1197 1198 1199 1200

Gott gewirkten Geschichte — faßt diesen ganzen Prozeß der Geschichte Israels bis zum Auftreten Jesu von seinem Ende her zusammen.“ (Ebd.; kursiv im Original.) OaG XI. Nüssel, Geschichte, 75. Diesen macht Pannenberg aus in der „Differenzierung zwischen Historie und Kerygma bei Rudolf Bultmann und Nachfolgern“ (Nüssel, Geschichte, 77 f.). Wenz, Kreis, 44. Pannenberg verbindet hierbei die von ihrem Ursprungsgeschehen zu unterscheidende Überlieferungsgeschichte des christlichen Glaubens, an die beide jeweils eine Annäherung nur durch historische Forschung möglich ist, konzis dargelegt dadurch, dass er die Offenbarung des Endes der Geschichte in der Geschichte Jesu in These 4 von OaG in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt. Durch die Betonung der Endgültigkeit, die der Offenbarung in Jesus auch und gerade in ihrem antizipativem Charakter zukommt, die in Christus Geschehen und Deutung des Endes der Geschichte umfasst, sucht er zu vermeiden, Offenbarung in Manifestation und Interpretation aufzuspalten, da sie in der Geschichte Christi untrennbar verbunden sind. Wo Offenbarung und Geschichte derart verwoben sind, ergibt auch die Abspaltung einer Heils- von einer Weltgeschichte keinen Sinn, vgl. BSTh 2, 287 f. Eben sowenig überzeugt Pannenberg die Unterscheidung einer „amtlichen“ (STh III 540) offenbarten Heilsgeschichte im Gegenüber zu einer verhüllten und daher letztlich unaussprechlichen Heilsgeschichte im Weltgeschehen.

3.1 Geschichte und Offenbarung

187

Im Hintergrund von OaG steht also die Anwendung eines exegetisch gewonnenen Begriffs, nämlich der Überlieferungsgeschichte, auf die systematische Theologie. Pannenberg versteht im Anschluss an Gerhard von Rad bereits die alttestamentliche Überlieferungsgeschichte als reziproken Zusammenhang nicht nur der Weitergabe vermeintlicher Fakten aus der Vergangenheit, sondern ebenso ihrer Kombination zu einer „religiösen Sinngeschichte: Heilsgeschichte gibt es allein im Modus der Überlieferungsgeschichte.“1201 Indem Pannenberg diesen exegetisch vorgeprägten Begriff der Überlieferungsgeschichte systematisch-theologisch anwendet, sucht er der Wort-Gottes-Theologie ein produktives Verhältnis von Wort und Geschichte entgegenzusetzen, indem das Wort Gottes anstelle einer direkten Selbstoffenbarung Gottes „zu einem Moment von dessen indirekter Selbsterschließung [wird], die immer schon geschichtlich vermittelt ist.“1202 Wo Pannenberg damit die erkenntnistheoretische Einsicht in den Zusammenhang von Ereignis und Deutung als „geschichts-metaphysische […] Prämisse des Offenbarungshandelns Gottes“1203 fasst, möchte er dabei zugleich einen Beitrag zur Plausibilisierung des christlichen Glaubens leisten, der die Historisierung des Denkens produktiv aufnimmt.1204 Die damit aus OaG resultierende Verbindung von historischer und systematischer Argumentation bleibt für Pannenbergs gesamtes Werk charakteristisch.1205 Zugleich bleibt damit für Pannenbergs gesamtes Werk von zentraler Bedeutung, dass der Begriff der Geschichte in Bezug auf die biblischen Überlieferungen trotz der Erkenntnis, dass viele der erzählten Ereignisse nicht wie berichtet historisch stattgefunden haben, nicht aufgegeben werden darf, da davon der „Wirklichkeitsgehalt der Rede von einer Offenbarung Gottes in Jesus Christus und damit auch die Nüchternheit und der Ernst des Glaubens an den Gott der Bibel selber“1206 betroffen sind.1207 Die Rede von Gottes Wirken in der Weltgeschichte verschämt zu 1201 1202 1203 1204 1205

Lauster, Gedächtnis, 712. Freyer, Zeit, 255. Freyer, Zeit, 256 (kursiv im Original). Vgl. Freyer, Zeit, 253 f. Wenz verdeutlicht, dass in der Zentralthese Pannenbergs von der Antizipation des Eschaton in Christus systematische und historische Argumentation in für Pannenberg charakteristischer Weise ineinander greifen, indem die systematische These einer Offenbarung nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte, durch die Annahme des endzeitlichen Charakters der Sendung Jesu Christi historisch hergeleitet wird, vgl. Wenz, Theologie, 16.19. Systematisch-theologische Resultate leuchten nach Pannenberg nur ein, wenn sie in ihren historischen Entstehungszusammenhang eingebettet werden, vgl. STh I 7 f. Theologische Aussagen und Begriffe lassen sich nicht abgelöst von dem historischen Ort verstehen, dem sie entstammen. Ihre Genese und ihr Inhalt korrelieren. Pannenberg versteht seinen Ansatz von daher als religionsgeschichtliche Theologie, die die Offenbarungsgeschichte mit den wissenschaftlichen Mitteln der historisch-kritischen Forschung untersucht, vgl. STh I 7. 1206 STh I 254. 1207 Was vergangen ist, ist zwar vergangen, und Geschichte insofern nur durch den hermeneutischen Akt der Interpretation zugänglich. Das gilt auch für die Geschichte Jesu sowie

188

III. Wolfhart Pannenberg

verschweigen, hält Pannenberg für die größere Gefahr als das Risiko von Fehldeutungen desselben, da der Wirklichkeitsbezug der Theologie sonst verloren ginge.1208 Zugleich ginge damit der konkrete, historische Bezug der Gegenwart auf die Offenbarung in Christus verloren. Aus Pannenbergs Perspektive ist die Auffassung, es zähle gemäß der historischen Methode nur die historische Analogie, nach der der Radius bis dato gemachter, gegenwärtiger Erfahrung in der Geschichte nie wesentlich überschritten werden könne, nicht zwingend voraussetzungsärmer und plausibler als die These, die er selbst vertritt, nämlich, Gott könne innerhalb der Geschichte Neues wirken.1209 Im Hintergrund dieser These Pannenbergs steht erkennbar die Bestrebung, an der Historizität der Auferstehung Jesu festzuhalten, für die es keine historische Analogie gibt, und die doch die Begebenheit ist, an der christlicher Glaube als Urdatum hängt, stellt sie doch die Antizipation des Endes der Geschichte dar und wird in ihr doch Jesus als Gottes Sohn beglaubigt.1210 Gemäß des Duktus seiner Theologie aller biblischen Zeugnisse, vgl. WuTh 279. Einen Dualismus aus »Historie« (nach Art eines historischen Positivismus) und »Geschichte« (mit einem der historischen Forschung unerreichbaren Deutungsüberschuss), der zur Illusion führt, man könne sich des Glaubens ohne Rückgriff auf geschichtliches Geschehen und historische Forschung versichern, lehnt Pannenberg jedoch ab, vgl. Pannenberg, Problemgeschichte, 155; Braaten, History, 26–32. Eben sowenig bietet der Rückzug auf ein Kerygma, das ohne historischen Bezug auskommen muss, für Pannenberg eine gangbare Alternative, da die biblischen Texte ihrem Selbstverständnis nach auf historisches Geschehen bezogen sind. Glaube hat ein „Lebensinteresse“ (GSTh 1, 82) an seinem historischen Grund, das gerade die alttestamentliche Forschung wieder zu Tage brachte. Vergleichbar WuTh 279: „Wenn die Überlieferung in ihrem eigentlichen Sinn zur Sprache kommen soll und nicht nur als Spiegel der Selbstverständigung einer isoliert in sich kreisenden Subjektivität, dann muß sie auf die ihr in der Historizität ihres Ursprungs und in der ganzen Reihe ihrer Gestaltungen eigentümliche Bedeutung befragt werden. In dieser Frage nach der dem Historischen eigentümlichen Bedeutung ist die über das bloß Historische hinausdrängende Reflexion auf seine gegenwärtige Relevanz aufgehoben, aber unter der Direktion des historischen Phänomens selbst, das wegen der an ihm wahrgenommenen Bedeutung zum Gegenstand eines Überlieferungsprozesses wurde.“ 1208 Vgl. STh III 538.540. 1209 Vgl. Berten, Glaube, 29–32. Pannenberg stellt dies bereits in seinem Aufsatz »Heilsgeschehen und Geschichte« von 1959 fest, an den OaG in dieser Hinsicht anknüpft, vgl. GSTh 1, 49 ff. Wenz weist darauf hin, dass der Ausschluss alles Neuen aufgrund des Prinzips historischer Analogie aus Pannenbergs Sicht „nachgerade unter den Gesichtspunkten historisch kritischer Methodik entwicklungshemmend wäre.“ (Wenz, Kreis, 26 f.) Pannenberg versteht zudem die Evolutionslehre als Hinweis darauf, dass Gott „unablässig Neues“ schafft und sich nicht nur der „Erhaltung einer einmal gesetzten Ordnung“ (STh II 143) widmet. 1210 Vgl. OaG XIV. In seiner Christologie, »Grundzüge der Christologie«, erstmals erschienen 1964, legt Pannenberg dar, dass die Auferweckung Jesu zugleich den Grund der Einheit Jesu mit Gott darstellt, und versucht damit, die Kluft zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus des Glaubens zu überbrücken, vgl. Pannenberg, Christologie, 47 ff. In »Grundzüge der Christologie« stellt Pannenberg dar, dass Jesu Botschaft vom

3.1 Geschichte und Offenbarung

189

als explizitem Gegenentwurf zu ahistorischen Tendenzen charakterisiert Pannenberg das Christusgeschehen, auch und gerade Jesu Auferstehung, darum als »echtes« historisches Geschehen,1211 das „tatsächlich stattgefunden“1212 hat. Mit These 4 von OaG zur Auferstehung Christi, die als zentral für die Scharnierfunktion von OaG zwischen anthropologischer Grundlegung und theologischer Deutung von Pannenbergs Gegenwartsverständnis ausgemacht wurde, bezieht sich Pannenberg also – ganz gemäß seines geschichtlichen Offenbarungsbegriffs – auf ein historisches Geschehen,1213 und zwar ein solches, das gerade als historisch analogieloses Novum von herausragender Bedeutung ist und, wie in den folgenden Kapiteln auszuführen sein wird, jegliche menschliche Lebensgegenwart in ein eschatologisches Licht taucht. Als Glaube, der sich auf historisches Geschehen bezieht, bleibt der christliche Glaube dabei trotz des Überschreitens der historischen Analogie an die historischkritische Methode verwiesen.1214 Pannenberg versteht sich sogar gerade im Über-

1211

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Nahen des Reiches Gottes „seine Einheit mit Gott begründet. Jesus verweist von sich weg auf den kommenden Gott. Damit wird Gott indirekt, d. h. im Verweis Jesu auf ihn, offenbar.“ (Schmidt, Einheit, 112.) Diese in »Grundzüge der Christologie« gebotene Christologie versteht sich, so Nüssel, als Christologie von unten: Pannenberg ergänzt ihr in GSTh 2, 129–145 in seinem Aufsatz »Christologie und Theologie« eine Theologie von oben, die der „Unterschiedenheit Jesu von Gott“ als einer Christologie von unten die „Selbstunterscheidung von ihm“ (GSTh 2, 145) als eine Christologie von oben entgegen hält. In STh II 315–440 führt Pannenberg dann beides zusammen, so Nüssel, Geschichte, 84. Vgl. OaG XIV. Vgl. auch Pannenberg, Problemgeschichte, 351. Dort hebt Pannenberg im gleichen Zug auch die Vorläufigkeit und Unsicherheit historischen Wissens hervor, die zur geschichtlichen Wirklichkeit und damit auch zur Geschichte Jesu gehören. Natürlich ist Pannenberg zudem in der Lage zu erkennen, dass es den Autoren der Evangelien nicht immer um die exakte Schilderung historischer Begebenheiten geht. Vor allem was die Auferstehung betrifft, hebt er die Bedeutung ihrer Historizität jedoch stark hervor, so auch in seiner Predigtpraxis, vgl. Pannenberg, Gegenwart Gottes, 54.140 f.145 f.151 f. u. ö. Wenz, Theologie, 184. Auch Essen betont die Bedeutung der Auferweckung für Pannenberg als „raumzeitliches Ereignis“ (Essen, Vernunft, 363). Damit macht Pannenberg sie historischer Kritik zugänglich. Pannenberg macht darauf aufmerksam, dass der erklärende Bezugsrahmen der neutestamentlichen Überlieferung von der zu erklärenden Auferweckung Jesu, nämlich die „apokalyptische Auferstehungshoffnung“ (Essen, Vernunft, 401), ein anderer ist als der neuzeitliche Fragehorizont. „Innerhalb eines anthropozentrisch-profanen Wirklichkeitsverständnisses aber, so Pannenberg, muß das Ostergeschehen fremd und unverständlich bleiben, weil der ihm ursprünglich eignende Bedeutungszusammenhang neuzeitlichem Denken faktisch nicht mehr nachvollziehbar ist.“ (Essen, Vernunft, 401.) Sein „theonomes Wirklichkeitsverständnis“, das einen „Systemrahmen[…] höherer Allgemeinheitsstufe“ darstellt, möchte Pannenberg dadurch als plausibel ausweisen, dass es „das Explanandum – die geschichtliche Selbstbekundung des von Gott Auferweckten – verständlich machen kann“ (Essen, Vernunft, 402). Vgl. Wenz, Kreis, 27.

190

III. Wolfhart Pannenberg

schreiten der historischen Analogie als Verfechter historisch-kritischen Denkens, da dieses selbst Neues hervorbrachte.1215 Pannenberg versteht somit die Gegenwart des Menschen als überlieferungsgeschichtlich und ursprungsrelational bezogen auf das „Damals“ eines historischen Offenbarungsgeschehens, über dem aber „die eschatologische Qualifizierung der Gegenwart vom Christusgeschehen und der Heilszukunft her nicht verlorengehen“1216 darf. Indem Pannenberg Offenbarung als Geschichte fasst, stellt er die Gegenwart zum einen überlieferungsgeschichtlich in einen unauflösbaren Zusammenhang mit ihrer Geschichte. Dies tritt besonders in historischer Forschung zutage. Zum anderen besteht dieser Zusammenhang in entscheidender Weise in der eschatologischen Qualifikation der Gegenwart, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gegenwart teilen, denen allen die Zukunft gemeinsam ist, die in der Auferstehung Jesu Christi gemäß These 4 von OaG vorweggenommen wurde.

3.2

Zukunft in Gegenwart. Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus

An drei Unterabschnitten, die sich jeweils auf III.2.1; III.2.2 und III.2.3 beziehen, sollen die Konsequenzen der Antizipation des Eschaton in Jesus Christus im Hinblick auf die Frage der Deutung menschlicher Lebensgegenwart noch deutlicher als bisher geschehen vor Augen gemalt werden sowie im Anschluss daran Konsequenzen für die dogmatische Denkweise Pannenbergs benannt werden. – Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus ermöglicht, da sie die Gottheit Gottes offenbart, erst eine gelingende Verhältnissetzung von Teil und Ganzem. Durch sie läuft der menschliche Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) nicht ins Leere. 1215 „Vielleicht darf man in bezug auf die neuzeitliche Geschichte des Christentums die Behauptung wagen, daß erst nachdem die autoritäre Gestalt der christlichen Überlieferung für ihren Fortgang überflüssig geworden ist – und das ist durch die Ausbildung der historischen Methode in der Theologie geschehen –, die Freiheit der Kinder Gottes die Stufe der Mündigkeit erreichen und die politischen und sozialen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens entsprechend verwandeln konnte.“ (ThRG 55.) Für Religion heißt das: Da Geschichte, wie eben gerade solche Neuerungen erahnen lassen, eine „für immer Neues kontingent offene“ (OaG 104) ist, muss auch Religion eine grundlegende Offenheit für Neues aufweisen. Möchte Religion ihrem Anspruch gerecht werden, Wirklichkeit zu erschließen, muss sie dieses Neue integrieren und sich somit entwickeln können. Nur eine geschichtliche Religion vermag solch eine Entwicklung zu leisten, vgl. WuTh 316. Nur sie vermag ihre Veränderlichkeit und historische Bedingtheit wahrzunehmen, zu reflektieren und zu integrieren, vgl. WuTh 278 ff.316. Mythische Religiosität wird in ihrem Regress auf eine vermeintlich ideale Urzeit dagegen von geschichtlichen Veränderungen überholt und eine rein existenziale oder kerygmatische Religiosität würde letztlich den Menschen als geschichtliches Wesen verfehlen. 1216 OaG 95.

3.2 Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus

191

Das Jesusgeschehen hat Ziel und Ende der Geschichte vorweggenommen, wie die vierte These von OaG aussagt: „Die universale Offenbarung der Gottheit Gottes ist noch nicht in der Geschichte Israels, sondern erst im Geschick Jesu von Nazareth verwirklicht, insofern darin das Ende alles Geschehens vorweg ereignet ist.“1217 Insofern im Jesusgeschehen die Vollendung der Geschichte eingetreten ist, wird Gott in seiner Gottheit am Geschick Jesu offenbar: „Nur insofern also, als die Vollendung der Geschichte in Jesus Christus bereits eingetreten ist, nur insofern ist Gott an seinem Geschick endgültig und vollständig offenbar. Das Ende der Geschichte aber ist mit der Aufweckung [sic] Jesu an ihm schon geschehen, obwohl es für uns andere noch aussteht. Darum — und nur unter dieser Voraussetzung — hat der Gott Israels im Geschick Jesu endgültig seine Gottheit erwiesen und ist nun auch als der eine Gott aller Menschen offenbar.“1218 Für die Christologie heißt das, wie Pannenberg entsprechend OaG in BSTh 1 schreibt, dass die Einheit Jesu mit Gott deutlich wird, und zwar „durch den eschatologischen Sinn seines Auftretens und seiner Geschichte“ – und damit wiederum von der „Geschichte Jesu als des neuen Adam her“1219 der Bezug jedes Menschen auf Gott: „Nur durch den Bezug auf das Ganze der Menschheit in ihrer Geschichte, nur durch den eschatologischen Sinn seines Auftretens und seiner Geschichte läßt sich die Einheit Jesu mit Gott dartun, die umgekehrt (von Gott her) Gottes Menschwerdung in diesem Menschen anzeigt. Durch diesen Bezug auf das Ganze der Menschheit in ihrer Geschichte wird von der Geschichte Jesu als des neuen Adam her zugleich der Bezug jedes Menschenlebens auf den in Jesus offenbaren Gott erschlossen.“1220 Aufgrund des eschatologischen Charakters des Christusgeschehens braucht es keine weiteren Selbsterweise Gottes darüber hinaus.1221 Die mit dem Selbsterweis Gottes in Jesu Geschick ergehende Offenbarung der Gottheit Gottes ist es, um der es Pannenberg in OaG zunächst einmal geht. Mit der Gottheit Gottes werden über 1217 1218 1219 1220 1221

OaG 103. OaG 104 f. BSTh 1, 96. BSTh 1, 96. Vgl. OaG 105.

192

III. Wolfhart Pannenberg

das Christusgeschehen aber zugleich das Ganze der Wirklichkeit und der Zusammenhang des einzelnen Menschenlebens damit thematisch; ja, wie Pannenberg in GSTh 1 schreibt, „konstituiert“1222: „Es ist die Besonderheit des Jesusgeschehens, daß durch es das Ganze allererst als solches konstituiert wird, während alle anderen Begebenheiten nur durch ihren Bezug auf dieses besondere Geschehen einen Bezug zum Ganzen der Wirklichkeit haben.“1223 Erst christologisch ergibt sich in der Folge für Pannenberg eine tragfähige Bestimmung des Verhältnisses von Teil und Ganzem. Im Sinne Schleiermachers wird damit „durch die Reflexion auf das letztumgreifende Ganze aller endlichen Wirklichkeit […] jedes einzelne Endliche in seiner konkreten, individuellen Bestimmtheit mit Gott vermittelt“1224. Für die Theologie ist damit die Reflexion auf das Verhältnis von Teil und Ganzem ganz generell essenziell, da „sie zwischen dem Endlichen und der absoluten Wirklichkeit Gottes die gedankliche Vermittlung ermöglicht.“1225 Mit Gott wird nämlich in der Theologie „der Begriff des Ganzen als des letztumfassenden Ganzen aller endlichen Wirklichkeit“1226 thematisch.1227 Gott selbst ist aber nicht das Ganze, denn für das Ganze gilt: „Das Ganze kann nicht als selbstkonstitutiv gedacht werden. Als Ganzes seiner Teile ist es geeinte Einheit, die einen Grund ihrer selbst als einende Einheit voraussetzt.“1228 Diese einende Einheit macht Pannenberg in Gott aus, insofern als dass er Ursprung der Einheit und der Teile des Ganzen ist: „Die Unendlichkeit der einenden Einheit (und so auch ihre Differenz von demjenigen, was als endlich eo ipso Teil der Welt als geeinter Einheit ist) kann nur dann bestehen, wenn sie nicht nur Ursprung der Einheit der Teile, sondern auch der Teile selber ist. Damit erst ist Gott als schöpferischer Ursprung der Welt gedacht.“1229

1222 GSTh 1, 89 Anm. 19. 1223 GSTh 1, 89 Anm. 19. „Bei Jesus ist der Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit durch den (seinerseits nur aus dem israelitischen Geschichtsverständnis verständlichen) eschatologischen Charakter seiner Botschaft, seines Anspruchs und seines Geschicks gegeben; denn eben dadurch, daß ihr Ende — das im Anspruch und im Geschick Jesu vorweg ereignet wird — in Sicht kommt, gewinnt die Geschichte allererst ihre Ganzheit.“ (Ebd.) 1224 BSTh 1, 96. 1225 BSTh 1, 96. 1226 BSTh 1, 93 (kursiv im Original). 1227 Theologie ist „Wissenschaft von Gott, die sich aber ihrem Gegenstand nur indirekt, durch das Studium der Religionen, zuwenden kann.“ (WuTh 349.) 1228 BSTh 1, 94 (kursiv im Original). 1229 BSTh 1, 94 (kursiv im Original).

3.2 Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus

193

Durch das Christusgeschehen erst ist – mit der Gottheit Gottes – der schöpferische Ursprung der Einheit der Teile und der Teile selber – und damit der Ursprung des Ganzen der Wirklichkeit – offenbar geworden, auf den der Mensch sich im Entwurf seiner selbst beziehen muss (III.2.1). Erst damit ist es dem individuellen, konkreten Menschen, der Teil dieser Wirklichkeit ist, überhaupt möglich, auf das Ganze der Wirklichkeit auszugreifen, die sein fragmentarisches Jetzt stets überschreitet, und auf die hin er in seiner „Selbsttranszendenz“1230 doch angelegt ist. – Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus lässt erkennbar werden, dass Zukunft im Anbruch gegenwärtig ist. Dies betrifft eben jene Jetztschwelle, an der der Mensch sich in der Erfahrung seiner Zeit stets vorfindet (III.2.2). In Christus wird Zukunft als »im Anbruch« gegenwärtig erkennbar, so in Jesu Wirken in der Geschichte und so dort bis heute, wo ein Mensch sich diesem Wirken öffnet.1231 Deutlich wird dies in Pannenbergs Deutung des Reiches Gottes. Die heilvolle Gottesherrschaft, die Jesus als zukünftig hereinbrechende (Lk 11,2; Mt 6,10) und zugleich gegenwärtige (Lk 11,20 par; Lk 17,20 f.) verkündigt, ist der Anbruch der Zukunft Gottes und als Zukunft selbst der „dynamische Grund ihres Gegenwärtigwerdens“1232. Pannenberg wendet sich dabei gegen „Bemühungen, die Eschatologie Jesu ihres Zeitsinnes zu berauben und seine Leidenschaft für die Zukunft Gottes umzusetzen in eine Gegenwart der Ewigkeit im Augenblick.“1233 Gegenwarts- und Zukunftsdimension des Reiches Gottes schließen einander nämlich nicht aus, sondern gerade aus ihrer Zukünftigkeit heraus bricht die Gottesherrschaft gegenwärtig an.1234 Gegenwart löst sich darin nicht auf, sondern erhält „ihre verborgene Bedeutung“1235, wird sie doch für die Zukunft Gottes in Anspruch genommen. Das Heilsgeschehen in Christus ist dabei „kein bloßes futurum, sondern ein perfectum präsens“1236. Es strukturiert die Geschichte in die Zeit ante Christum natum und post Christum natum,1237 wobei die eschatologische Wende des Christus1230 BSTh 2, 140. 1231 Vgl. STh III 650. 1232 STh II 369. Kugelmann macht im Begriff der Antizipation die Möglichkeit aus, das Verhältnis von Zukunft und Gegenwart des Gottesreiches zu bestimmen: Jesus behauptet Gottes Wirksamkeit für die Gegenwart und „[d]as heißt, die Betonung der Gegenwärtigkeit des Gottesreiches bedingt gerade die Zukünftigkeit und Strittigkeit der Wahrheit dieser Behauptung und ermöglicht so, die neue Qualität des Gottesreiches in ihrer Zukünftigkeit als jetzt schon wirksame zu denken.“ (Kugelmann, Antizipation, 286.) 1233 GSTh 1, 390. 1234 Von der Geschichte Jesu ausgehend vermutet Pannenberg: „Die Zukunft will gegenwärtig werden; sie tendiert zu ihrer Ankunft in einer ständigen Gegenwart.“ (ThRG 91; kursiv im Original.) 1235 STh III 650. 1236 So formulierte es schon Löwith, vgl. BSTh 2, 287. 1237 Vgl. BSTh 2, 287.

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III. Wolfhart Pannenberg

geschehens geschichtlich vergangen ist ohne je überholt zu sein, da sie Antizipation und Gewähr der Zukunft darstellt, von der her die Gegenwart Gestalt gewinnt. Wie lange die Geschichte Jesu zurückliegt, ist als rein quantitativer Faktor dabei ohne Belang. Das Christusgeschehen ist, wenngleich Geschichte, darum dennoch unüberholbar Gegenwart, „weil Anbruch der immer noch offenen letzten Zukunft, die in der fortdauernden Herrschaft des Auferstandenen zur Rechten des Vaters im Himmel schon Gegenwart ist.“1238 Dies gilt auch für die jeweilige Lebensgegenwart des Menschen, in der diese heilvolle Zukunft anzubrechen vermag. – Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus bleibt gegenwärtig umstritten. Sie suspendiert nicht vom Leben im »Modus des Glaubens« (III.2.3), sondern setzt »Glauben an Jesus Christus« frei. Dass das Ende der Geschichte sich in Christus vorweg ereignet hat, determiniert die Geschichte nicht, sondern markiert die Offenheit des geschichtlichen Verlaufs. Geschichte wird so nämlich von ihrer „offenen letzten Zukunft“1239 und nicht einer alles bestimmenden Vergangenheit her lesbar.1240 Gegenwart ist von dieser Zukunft her kein determinierter, sondern ein offener Raum. Bis zu ihrem endgültigen Anbruch manifestiert sich die Gottesherrschaft in der Geschichte jedoch nur vorläufig und zeichenhaft,1241 so dass der Mensch seine Gegenwart als unerlöst und unvollendet erlebt. Die gegenwärtig erfahrbare Wirklichkeit nennt Pannenberg daher defizient.1242 Das Bewusstsein für diese Defizienz drückt sich in der bildhaften eschatologischen Sprache aus. Reales Leid schreit darin nach realer Überwindung, nicht bloß nach Umdeutung,1243 denn Leid kann nicht übersprungen, sondern muss überwunden werden.1244 Allein auf einer denkerischen Ebene ist daher auch keine Klärung der damit angesprochenen Theodizeefrage möglich. Erst im zukünftigen Reich Gottes wird diese Frage lösbar sein.1245 Christliche 1238 1239 1240 1241

1242 1243 1244

1245

GSTh 2, 7. GSTh 2, 7. Vgl. III.4.1.1. Vgl. STh II 12 f. Vgl. zur Nicht-Identität des Reiches Gottes mit der gegenwärtigen Welt und irgendeiner bestehenden oder propagierten politischen Ordnung: „Die gegenwärtige Welt zeigt durch ihre Ungerechtigkeiten […] die unübersehbare Kluft, die zwischen ihr und dem Reich Gottes besteht. Es ist ein Zeichen für den nüchternen Realismus der biblischen Überlieferungen, daß sie nicht […] das Reich Gottes für gegenwärtig in einer bestimmten politischen Lebensform, vorzugsweise in derjenigen des eigenen Volkes ausgegeben haben, sondern seine Zukunft verkünden.“ (ThRG 38.) Vgl. STh III 667. Vgl. STh II 191. In Pannenbergs früheren Schriften begegnete die Frage der Theodizee nur peripher. Pannenberg selber nahm die Kritik daran als Auftrag für sein weiteres theologisches Arbeiten auf, vgl. Tupper, Theology, 300. Vgl. STh III 684 ff.

3.2 Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus

195

Theologie ohne Eschatologie ist darum für Pannenberg schon deshalb undenkbar, da die Frage der Theodizee auf eine eschatologische Antwort hindrängt.1246 Der Vollmachtsanspruch Jesu, dass die Gottesherrschaft gegenwärtige Realität wird für die, die seine Botschaft annehmen, und der ihn dadurch regelrecht als „Ort der Gegenwart Gottes“1247 ausweist, bleibt jedoch umstritten. Gegenwärtig kann die damit verknüpfte Hoffnung, auch auf Überwindung des Leids, nur in der Ausdrücklichkeit des Glaubens an Jesus Christus antizipiert werden, die dem Glauben (oder Unglauben), der einem jeden Menschen zukommt, seine entscheidende Hoffnungsperspektive (oder Wendung) gibt. Auch aus der von Pannenberg angenommenen Historizität der Auferstehung Jesu folgt hierbei nicht, dass diese »historisch beweisbar«1248 wäre, denn sie nimmt ja eine Wirklichkeit vorweg, die sich gegenwärtig erst im Anbruch befindet. Das Endgeschehen ist zudem trotz seiner Antizipation im Christusgeschehen nicht mit demselben zu identifizieren.1249 Auch die endgültige Bestätigung Jesu als Gottessohn und Erstling der Auferstandenen steht noch aus.1250 Pannenberg vollzieht damit denkerisch sowohl die intellektuelle Zumutung der Annahme einer Auferstehung Jesu Christi nach als auch deren Bedeutsamkeit für den christlichen Glauben: „Es ist sicherlich verständlich, daß viele Christen als moderne Menschen es schwierig finden, die Argumentation für ihren Glauben an Jesus Christus mit einer weltanschaulich so umstrittenen Annahme wie der Tatsache der Auferstehung eines Gestorbenen zu belasten, aber historisch und sachlich ist der Ursprung des christlichen Bekenntnisses und seiner christologischen Aussagen nun einmal nicht anders zu verstehen“1251. Pannenberg räumt also die Strittigkeit der christlichen Hoffnung und des Glaubens daran ein. Wahrheit bleibt auch und gerade christologisch als Zukunftsgröße immer auf zukünftige Bewährung hin angelegt.1252 Die Versuchung aller Religionen gegenüber der Wahrheit liegt demgegenüber in der Vereinnahmung Gottes.1253 Die 1246 1247 1248 1249

1250 1251 1252 1253

Vgl. STh II 201. STh II 375, vgl. ebd. 384 f.417. Vgl. STh II 404 Anm. 115. Vgl. OaG X. Die Frage nach dem Wann des Endes ist seit Jesus allerdings überholt, denn die Naherwartung, uneinholbares Kennzeichen der Wirksamkeit Jesu, hat sich an ihm selbst erfüllt und war Kennzeichen und Besonderheit von Jesu irdischem Wirken, vgl. Pannenberg, Christologie, 250. Vgl. Pannenberg, Christologie, 52 f. STh II 325. Vgl. III.2.3.3. Vgl. STh I 195. Innerhalb von Zeit und Geschichte wird auch die theologische Erkenntnis stets vorläufig bleiben. Ein Dogma ist für Pannenberg mit Barth ein „eschatologischer Begriff“ (STh I 26), dessen endgültige Klarheit erst mit der endgültigen Offenbarung Gottes am Ende der Geschichte gegeben sein wird.

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III. Wolfhart Pannenberg

religiöse Wahrheitsfrage offen zu halten und sie damit zugleich nicht für obsolet, sondern der Diskussion für würdig zu erachten, mag dabei sowohl fundamentalistischen als auch säkularistischen Strömungen als Zumutung erscheinen. Doch auch der christlich Glaubende darf die Frage nach der Wahrheit Gottes weder suspendieren noch eine positive Antwort voraussetzen, denn solange die Geschichte nicht vollendet ist, muss die Gottesfrage in ihr strittig bleiben.1254 „Es ist das Feld der Strittigkeit der Wirklichkeit Gottes, in welchem nicht nur die Dogmatik, sondern schon die Existenz des Christen und die Kirche ihren Ort haben.“1255 Diese Anerkenntnis bildet darum geradezu eine „Wahrheitsbedingung“1256 menschlicher Aussagen über Gott. Entscheidend ist für Pannenberg, dass der Glaube sich über diese kritische Selbstreflexion „im Bunde mit der wahren Vernunft“1257 befindet. Für die Dogmatik folgt daraus, dass sie versucht, im Bunde mit eben dieser Vernunft „Nachvollzug und Vorentwurf der Kohärenz der göttlichen Wahrheit selber“1258 zu sein. Indem Pannenberg Wahrheit generell als zukünftige Größe bestimmt, verdeutlicht er, dass die Theologie ihre Frag-Würdigkeit sowie die Zukünftigkeit ihrer Verifikation mit den Hypothesen aller wissenschaftlichen Disziplinen teilt.1259 Für Pannenberg kommt dogmatischen Sätzen in der Folge der wissenschaftstheoretische Status einer Hypothese zu.1260 Sie vertreten damit einen Anspruch auf 1254 1255 1256 1257 1258

Vgl. STh III 547 f. STh I 72. STh I 65. STh I 477. STh I 66. Dogmatisch kann also nicht vorausgesetzt werden, was Wahrheit ist, sondern Dogmatik versucht, die „Kohärenz der christlichen Lehre und damit auch die Einheit der Welt, ihrer Geschichte und ihrer künftigen Vollendung als Ausdruck der Einheit Gottes zu denken“ (STh I 66). Pannenberg bezeichnet dogmatische Wahrheit als Kohärenzsystem, daher gilt nicht: Es »steht in der Schrift« oder ist kirchlicher Konsens, darum ist es schon vorab als wahr erwiesen, vgl. STh I 31 f. 1259 Korsch jedoch stellt fest, dass sich „kein nennenswerter Zustimmungsfortschritt für [Pannenbergs eschatologische; Anm. d. Vf.in] Konzeption über theologische Kreise hinaus“ (Korsch, Eschatologie, 164) abzeichnet und konstatiert: „Aber auch jenseits dieser empirischen Beobachtung bleibt das Sachproblem bestehen, daß die Vorwegereignung des Endes in der Auferweckung Jesu eine Einsicht individuellen Glaubens ist, mit der sich zwar ein Raum des Ganzen öffnet, der sich jedoch allein unter dieser Bedingung des religiösen Überzeugtseins als plausibel erweist, de facto aber mit anderen Auffassungen von Geschichte koexistieren muß.“ (Ebd.) 1260 Vgl. STh I 66. Wenn auch der Glaubensakt keinen hypothetischen Status kennt, so ist dies beim Glaubensinhalt durchaus der Fall, vgl. STh I 67 Anm. 128. Der besonders strittige Satz der Auferstehung Jesu von den Toten wird erst dann nicht mehr strittig sein, wenn die Möglichkeit der Totenauferweckung sich durch die allgemeine Erfahrung, dass die Toten auferstehen, als wahr erweist. Der Zweifel daran erweist die Aussagen hierzu als Hypothe-

3.2 Die Antizipation des Eschaton in Jesus Christus

197

Wahrheit, der aber stets anfechtbar ist und dessen endgültige Bewährung noch aussteht. Theologie „‘beweist‘“ dennoch – wenn „ihr Modell von Welt, Mensch und Geschichte“ „stichhaltig“ ist – die „Wahrheit der christlichen Lehre“, indem sie den Wahrheitsanspruch der christlichen Lehre als „denkbar ausweist und so erhärtet“1261. Pannenberg interpretiert es dabei als „Wechselwirkung“1262, nicht Zirkelschluss, dass Gottesoffenbarung sich dabei an menschlicher Selbst- und Welterfahrung zu bewähren hat, weist doch die Schöpfung in ihrem Geschaffensein einen natürlichen Bezug zu Gott auf. An Pannenbergs Dogmatik, die auf der Deutung des Christusgeschehens als Antizipation des Zieles der Geschichte beruht, die es ermöglicht, auf eine Sinntotalität auszugreifen, wurde jedoch auch Kritik geübt. So wurde ihm etwa vorgeworfen, mit der Antizipation solle die Struktur einer Argumentation selbst zum Argument werden. Gewähr hierfür solle vor allem ein umstrittenes historisches Geschehen sein, nämlich das Geschick Jesu. „Damit wird ein Ereignis in der Geschichte zum Kriterium für das Ganze der Geschichte gemacht. […] Der Verweis auf eine mögliche eschatologische Verifikation ist aber selbst keine Verifikation. Pannenberg überlädt den Gedanken der Antizipation, indem er ihn mit begründendem Anspruch versieht.“1263 Tatsächlich soll nicht nur eine Methode und mit ihr die Struktur einer Argumentation, nämlich die Antizipation, sondern der Gegenstand derselben ihre Verifikation leisten, denn „in der Struktur der Antizipation [liegt] eine Abhängigkeit des Geltungsanspruchs vom Antizipierten.“1264 Konkret heißt das, dass 1. die Verifikation der Antizipation durch eine Person, nämlich Jesus Christus, geschehen soll. Diese Bewährung geschieht erst zukünftig, meint Antizipation doch Vorgreifen,

1261

1262 1263 1264

sen im weiteren Sinne, vgl. STh I 66 f. Pannenberg möchte die „vom persönlichen Glauben unabhängige Kontrolle aller theologischen Aussagen zulassen.“ (Leonhard, Dogmatik, 144; kursiv im Original.) Lebkücher weist hierbei auf die Schwierigkeit der Anwendung des naturwissenschaftlichen Begriffs Hypothese in den hermeneutischen Wissenschaften hin, die etwas Gegebenes interpretieren und faktisch eben keine falsifizierbaren Hypothesen, sondern stattdessen mehr oder weniger überzeugende Deutungen vornehmen, vgl. Lebkücher, Natur, 50. STh I 70. Anstelle von Säkularismus oder Fundamentalismus ist darum „die Erneuerung des Bündnisses zwischen Glaube und Vernunft“ (BSTh 3, 37) anzustreben. Braaten beschreibt die Notwendigkeit dieses Bündnisses: „If reason precedes faith, the simple believer is made dependent upon the oscillating opinions of historical scholars; on the other hand, if faith is primary, the suspicion arises that faith projects its own basis and content out of itself. The dilemma can be resolved only if what are called reason and faith are not seperable acts, following a chronological or psychological sequence, but are actually coessential dimensions of a total act of a person.“ (Braaten, History, 49.) GSTh 1, 8. Grimmer, Geschichte, 165. Pannenberg, Metaphysik, 73.

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III. Wolfhart Pannenberg

nicht Ergreifen. Und zu dieser Verifikation gehört nicht die Überwindung des Existenzials der Offenheit des Menschen auf eine nun bereits bekannte Zukunft hin, sondern verifizierend wirkt 2. bereits heute die existenzielle Entsprechung zu und Begründung der antizipativen Offenheit des Menschen auf Zukunft hin. Dies stellt keine endgültige Verifikation dar, aber doch eine Plausibilisierung der Denkfigur. Pannenberg möchte in seiner Dogmatik, eben indem er über Christus eine Gewissheit der Zukunft erschließt, die Offenheit der Zukunft wahren und begründen, die menschlicher Wirklichkeitserfahrung und der Offenheit der Wahrheit als solcher (III.2.3.3) entspricht. „Da wir aber noch nicht wissen, welche Wirklichkeit diesem Gleichnis [der Auferstehung als Ausdruck menschlicher Hoffnung über den Tod hinaus; Anm. d. Vf.in] einmal an uns entsprechen wird, so wissen wir auch nicht, was eigentlich damals an Jesus geschehen ist. Auch die Jünger Jesu hatten dafür nur das Gleichniswort ‚Auferstehung von den Toten‘. Im proleptischen Charakter des Geschickes Jesu liegt also begründet, daß die Zukunft für uns noch offen ist. Und umgekehrt: Ohne diesen proleptischen Charakter würde das Geschick Jesu nicht die endgültige Offenbarung der Gottheit Gottes sein können, da die Offenheit der Zukunft konstitutiv zu unserer Wirklichkeit gehört“1265. Pannenbergs von OaG her entwickelte Dogmatik erscheint gerade in dieser Offenheit als ein dem menschlichen Dasein adäquater Entwurf, der, wie oben dargelegt, in seiner weiterentwickelten Gestalt seinen Ausgang schließlich in der Beziehung des Einzelnen zum Ganzen verortet. „Erst die Beziehung des Einzelnen zum Ganzen — wie immer sie gefaßt werden mag — ermöglicht es, begründet von einer Manifestation des einen Gottes, der aller Dinge mächtig ist, in solchem einzelnen Geschehen [gemeint ist das Christusgeschehen als Antizipation des Endes der Geschichte; Anm. d. Vf.in] zu sprechen.“1266

Darzustellen ist nun noch, wie Pannenberg angesichts der Offenheit der Zukunft und der bleibenden Strittigkeit aller Gotteserkenntnis von seinem antizipativen Denken her die Rede von Gott charakterisiert.

1265 GSTh 1, 221. 1266 OaG XIII (kursiv im Original).

3.3 Zur Zeitlichkeit theologischer Sprache

3.3

199

Zur Zeitlichkeit theologischer Sprache. Doxologie statt Analogie

Pannenberg plädiert anstelle der Analogie für die Doxologie1267 als theologische Sprachform, da sie allein der Zukünftigkeit Gottes entspräche; schließlich sei Gottes Gottheit erst dann erwiesen, wenn sich die Zukunft so erfüllt habe, wie sie im Glauben an Christus antizipiert wurde. Analogie dürfe dagegen keinesfalls als „unbezweifelte Wahrheit“1268 einem theologischen System zugrunde gelegt werden, da sie zugunsten eines analog gedeuteten Jetzt durch die Preisgabe der Zukunft den Verlust der Freiheit des Menschen zur Folge habe. Das heuristische Prinzip der Analogie sei, das Unbekannte vom Bekannten her zu bestimmen, da in beidem der gleiche »Logos« walte:1269 Demnach steht nicht nur menschliches Reden von Gott, sondern auch die Wirklichkeit selbst in einem Verhältnis der Analogie zu Gott. Wo Gott als erste Ursache vorausgesetzt wird, folgt daraus eine seinsmäßige Entsprechung von Schöpfer und Geschöpf, die aufgrund der ontologischen Abstufungen zwischen beiden zugleich die Begrenztheit analoger Rede über Gott anerkennt.1270 Die theologische Analogie setzt jedoch, wie bereits Duns Scotus konstatierte und Pannenberg aufgreift, univoke Sprache stets voraus.1271 Die Entgegnung, dass die „Eindeutigkeit des Begriffs sekundär sei gegenüber einer ursprünglicheren, Gleichheit und Verschiedenheit umgreifenden Sprachform“1272, vermengt für Pannenberg terminologisch unscharf Begriff und Wortbedeutung. Begriffe sind notwendigerweise univok, unbeschadet der primären Unbestimmtheit von Wortbedeutungen in ihren geschichtlichen Wandlungen. Nur durch diese Univokation ist Verständigung überhaupt möglich. Analoge Rede von Gott muss darum stets auf univoke Rede zurückgreifen.1273 Wenn auch menschliches Reden von Gott „unweigerlich analog“1274 ist, so etabliert die theologische Analogie doch faktisch keine unabhängige dritte Sprachform zwischen Univokation und Äquivokation, sondern greift auf 1267 1268 1269 1270

1271

1272 1273 1274

Vgl. STh I 66. Pannenberg, Balthasar, 19. Vgl. GSTh 1, 189 f. „Die Welt des Geschaffenen steht in einer Analogie zu Gott, während die Umkehrung dieses Verhältnisses, die durch unser Reden von Gott geschieht, sofern es sich analog zu unserer Welterfahrung vollzieht, bereits die Inadäquatheit unserer Gotteserkenntnis ausmacht“ (GSTh 1, 182), unter Bezugnahme auf Thomas von Aquin, Summa theologica I q 13a 6. Vgl. Pannenberg, Art. Analogie, 352 und GSTh 1, 186 Anm. 9: „Schon Duns Scotus hat gesehen, daß analoge Begriffe nur unter der Bedingung als Mittelbegriff im Schlusse taugen, daß sie einen univoken Kern haben (Ord. I d. 3 = Ed. Vat. vol. III, 1954, n. 26). Er war allerdings im Gegensatz zu uns der Meinung, daß die Möglichkeit, auf Gott selbst zu schließen und also auch die univoke Geltung bestimmter Begriffe für Gott und Kreatur zu postulieren sei.“ STh I 373 Anm. 14. Vgl. Marshall, Art. Analogie, 449. Marshall, Art. Analogie, 449.

200

III. Wolfhart Pannenberg

erstere zurück. Sie kann keine neue Wortbedeutung generieren, die nicht auf den Begriff und damit faktisch eine Univokation zurückgreifen müsste. Es ist das Verdienst der theologischen Analogie, dem Menschen ins Gedächtnis zu rufen, dass all sein Reden von Gott bestenfalls »analog« bleibt, ihn also nie ganz erfasst.1275 Stünde jedoch Gottes Sein selbst tatsächlich in Analogie zum übrigen Seienden und wäre dementsprechend seine Ewigkeit die grenzenlose Dauer eines Wesens, das von Anfang her ist, so wäre sein vorhandenes Sein in sich bereits abgeschlossen. Ein solcher, in seinem Sein abgeschlossener Gott müsste auch den geschichtlichen Verlauf determiniert haben. Gott und Geschichte wären bereits »fertig«. Ein solches Denkmodell ließe weder Gottes noch der geschöpflichen Freiheit Raum und leistete damit der atheistischen Kritik am Theismus Vorschub, der Gottesgedanke sei Ausdruck der Selbstentfremdung und Entmündigung des Menschen.1276 Pannenberg fasst seinen Gottesgedanken anders, wie unter III.4.1.1 im direkten Anschluss an das hier zu Sagende zu explizieren sein wird. Indem Pannenberg nämlich Gott, der ja in der Antizipation der Zukunft in Christus offenbar geworden ist, als »Macht der Zukunft« versteht, wird aus seiner Sicht der Gottesgedanke darüber plausibilisierbar, dass Gott eben nicht als vorhandenes Sein in Analogie zum übrigen Seienden zu verstehen ist, sondern im Sinne des Zukünftigen als Chiffre des Möglichen und damit der Freiheit; denn Zukunftsmächtigkeit bedeutet Freiheit.1277 Pannenberg plädiert daher anstelle der Analogie für die Doxologie als angemessenere, theo-logische Sprachform. Zwar liegt der Doxologie eine Analogie des theologischen zum profanen Sprachgebrauch zugrunde, jedoch setzt sie keine Analogie ihres Sprachgebrauchs zu Gott selbst1278 voraus, da die doxologische Analogie sich auf den alltäglichen und theologischen Sinn des Wortes beschränkt.1279 Sie vermeint nicht, alltäglichen Wortsinn und Wirklichkeit Gottes zu umgreifen. Doxologische Aussagen versteht Pannenberg damit im Anschluss an Boethius‘ Unterscheidung im Unterschied zur aequivocatio a casu als aequivocatio a consilio, d. h. den Gebrauch ein und desselben Wortes aus bestimmten Gründen für einen anderen Inhalt.1280 Den Bezug zwischen Wort und Sache möchte Pannenberg im Gegensatz zur Hochscholastik hierbei ausdrücklich auch deshalb nicht analogisch auffassen, 1275 Vgl. Pannenberg, Gotteserkenntnis, 215. 1276 Vgl. Pannenberg, Freiheit, 38 ff. und ders., Reich Gottes, 15. 1277 „Die Wirklichkeit der Zukunft und die der Freiheit gehören also dem Vorhandenen gegenüber zusammen. Beide sind selbst nicht vorhanden, haben aber Macht über das Vorhandene.“ (Pannenberg, Freiheit, 42.) Da Gott sich selber Zukunft ist, ist er vollkommen frei, vgl. STh I 443. 1278 Vgl. GSTh 1, 192. 1279 Vgl. GSTh 1, 185.201. 1280 Pannenberg bezieht sich hierfür auf Boethius‘ In cat. Arist. lib. 1, PL 64, 166 B., vgl. GSTh 1, 193.

3.4 Zwischenergebnis

201

da doxologische Rede die Worte aus dem Verfügungsbereich des Menschen in die Anbetung1281 – bis in die Äquivokation – entlässt.1282 Der sonst übliche Sinn der Worte wird also frei gegeben und doch besteht die Aussicht, dass die zukünftige Offenbarung der δόξα Gottes sie als wahr erweisen wird. Sprache greift immer auf zukünftige Bewährung aus (III.2.3.2) Die Analogie vermag aber im Gegensatz zur Doxologie die zeitliche Differenz der menschlichen Rede von Gott zu ihrer Erfüllung durch Gott angemessener zu fassen: „Diese zeitliche Differenz zwischen unserm Reden von Gott und seiner Erfüllung durch Gott selbst ist durch den Analogiebegriff nicht mehr aussagbar. Von uns aus geurteilt, werden die Begriffe, mit denen wir Gottes Wesen preisen, im Akt des Lobopfers äquivok. Zugleich aber sprechen wir sie aus in der Hoffnung auf eine Erfüllung, welche die in der Analogie fixierte Distanz weit überwindet.“1283 Somit ist nach Pannenberg die Doxologie, die der unüberspringbaren Geschichtlichkeit1284 menschlichen Redens Rechnung trägt, in ihrem proleptischen, das Jetzt überschreitenden Charakter als, wenn auch nicht angemessene, so doch immerhin weniger unangemessene Rede von Gott der Analogie überlegen.1285

3.4

Zwischenergebnis

Der antizipative, menschliche Ausgriff aufs Ganze läuft durch die indirekte Offenbarung Gottes in der Geschichte nicht mehr ins Ungewisse oder gar Leere, da in Jesus Christus Ende und Ziel der Geschichte antizipiert worden sind. Indem Pannenberg Offenbarung als Geschichte fasst, stellt er die Gegenwart überlieferungsgeschichtlich in einen unauflösbaren Zusammenhang mit der gesamten Geschichte. 1281 Pannenberg entwickelt seine Theologie des Gebets der doxologischen Ausrichtung auf Zukunft entsprechend ebenfalls von der Erfahrung der Offenheit der Zukunft, da es eben diese Offenheit ist, die den Menschen zum Gebet ruft, speziell zur Bitte, vgl. STh III 236. In seinem Gebet ist der Mensch zugleich an der Heraufführung des Reiches Gottes beteiligt, vgl. ebd. Angesichts der Begrenztheit des menschlichen Handelns nennt Pannenberg das Gebet sogar die „höchste Form der Beteiligung der Menschen an der Herbeiführung des Reiches Gottes“ (ebd.). 1282 Vgl. GSTh 1, 201. 1283 GSTh 1, 201. 1284 „Allein schon wegen seiner Geschichtlichkeit bleibt alles menschliche Reden von Gott unvermeidlich zurück hinter einer vollen und endgültigen Erkenntnis der Wahrheit Gottes.“(STh I 65.) In der Doxologie jedoch erhebt sich „der Redende über die Schranken der eigenen Endlichkeit zum Gedanken des unendlichen Gottes“ (ebd.). 1285 Die Doxologie stellt darum für Pannenberg eine angemessene Form systematischer Reflexion dar, vgl. STh I 66.

202

III. Wolfhart Pannenberg

Des Weiteren verdeutlicht er die eschatologische Qualifikation, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gegenwart teilen, da ihnen allen dieselbe Zukunft gemeinsam ist. Auch und gerade als in Christus antizipierte Zukunft bleibt dabei die Zukunft und mit ihr die Daseinssituation des Menschen offen. Die Antizipation des Eschaton in Christus, wie Pannenberg sie seit OaG beschreibt, nimmt eine Vermittlungsfunktion zwischen dem anthropologischen Fundament sowie der explizit theologischen Gegenwartsdeutung ein, die sich aus Pannenbergs Geschichtstheologie ableiten lassen. Der Glaube des Menschen findet in Christus seinen Hoffnungsgrund und kann zu christlichem Glauben werden. Die Erfahrung einer mitwandernden Lebensgegenwart, die es zu füllen und zugleich zu übersteigen gilt, setzt in der Begegnung mit der ihr entsprechenden »Offenbarung als Geschichte« theologisches Denken frei. Die angemessenste Weise theologischer Rede besteht dabei im doxologischen Ausgriff auf die mit der Offenbarung Gottes in Jesus sich abzeichnende und sich je jetzt vergegenwärtigende Zukunft hin.

4. Theologische Deutung Nach der anthropologischen Grundlegung der Deutung menschlicher Lebensgegenwart, wie sie aus Pannenbergs Werk abgeleitet werden soll, muss auf die Darstellung von OaG als Brücke zur theologischen Deutung der menschlichen Lebensgegenwart eben diese nun folgen. Pannenberg versteht die menschliche Lebensgeschichte dabei als eingebettet in das geschichtliche Handeln Gottes.1286 Er denkt auf das Reich Gottes als heilvollen Zielpunkt der christlichen Eschatologie hin1287 und von der Antizipation dieser Zukunft der Welt im Geschick Jesu her.1288 Unter jeweiligem Rückbezug auf die entsprechenden Kapitel aus III.2. ergibt sich für III.4. damit der folgende Aufriss: Greift der Mensch aufs Ganze und zugleich damit, zumindest implizit, auf Gott als „alles bestimmende Wirklichkeit“1289 aus (III.2.1) und gewinnt er den Bezug aufs Ganze in entscheidender Weise von der Antizipation des Eschaton in Jesus Christus her, in dem Gott sich offenbart sowie Ziel und Zukunft der Geschichte und des konkreten Menschenlebens antizipiert hat (III.3.), erscheint Gott als „alles bestimmende Wirklichkeit“1290 als Macht der Zukunft (III.4.1.). Der menschlichen Zeiterfahrung (III.2.2.) korrelieren theologi1286 So fragt Pannenberg: „Wie könnten die Christen von dem in der Geschichte handelnden Gott Israels sprechen, wenn sie sein Geschichtshandeln nicht in ihrer eigenen Geschichte […] und der Völkerwelt am Werke sehen wollten?“ (STh III 538.) 1287 Vgl. STh III 572 f. 1288 Vgl. OaG 103 ff. 1289 WuTh 318. 1290 WuTh 318.

4.1 Gott

203

sche Reflexionen auf Zeit und Ewigkeit (III.4.2). Und wurde schließlich der antizipative, menschliche Selbstentwurf als Modus des Glaubens lesbar (III.2.3.), folgt nun die Darstellung der Kirche, die Ort der zeichenhaften Vergegenwärtigung der Zukunft ist, als gegenwarts- und zukunftsgestaltende Gemeinschaft der Glaubenden im Heute (III.4.3). Das letzte Kapitel dieses Abschnitts bündelt dessen Erträge in einem kurzen Zwischenergebnis (III.4.4). Für den Menschen resultiert aus der so darzulegenden theologischen Deutung – als wiederum anthropologische Konklusion theologischer Daseinsdeutung – die Selbstunterscheidung von Gott (III.4.1.3), die aber gerade nicht die Abkehr von Gott intendiert, sondern die nun thematisch gewordene Bezugnahme auf Gott im christlichen Glauben (III.4.3.2).

4.1. Gott Die Deutung menschlicher Lebensgegenwart muss sich bei Pannenberg im Horizont der Gottesfrage vollziehen. Die Frage des Menschen nach sich selbst ist für Pannenberg nämlich zugleich die Frage nach Gott (III.2.1), denn aus Pannenbergs Perspektive ist der Ausgriff aufs Ganze zugleich der Ausgriff auf die Wirklichkeit Gottes, die Pannenberg als grundlegend für die Wirklichkeit des Menschen versteht. Gott ist damit nicht das Ganze, aber sehr wohl der Ursprung des Ganzen.1291 Ist Gott tatsächlich einende Einheit der Welt (III.3.2), muss gegenwärtige Erfahrung in die auf ihn zu beziehende Glaubensüberlieferung integrierbar sein. Pannenberg geht es damit nicht um die Integration vergangener, religiöser Erfahrung in gegenwärtige. Vielmehr fragt er danach, ob gegenwärtige Erfahrung in die Überlieferung der als das Ganze bestimmend gedeuteten Wirklichkeit Gottes integrierbar ist.1292 Realisiert der Mensch nun den Ausgriff aufs Ganze in entscheidender Weise im Ausgriff auf die Zukunft, gewinnt der trinitarische Gott, in dem als differenzierter Einheit die Einheit der Welt und die Offenheit ihrer Zukunft gründet, nun entsprechend als Macht der Zukunft Gestalt. Diesen Gedanken entwickelt Pannenberg besonders anschaulich in ThRG und führt ihn bis in STh fort, etwa im Hinblick auf eine eschatologische Schöpfungslehre.1293 Erkenntnislogisch kann Pannenbergs Gottesgedanke damit weiterhin vom Menschen her gedacht werden.1294 Sachlogisch jedoch setzt Pannenbergs Argumentation trinitarisch ein und integriert damit gegenwärtige Erfahrung in die Überlieferung der als das Ganze bestimmend gedeuteten Wirklichkeit Gottes. So versteht er die Selbstunterscheidung von Vater, Sohn 1291 „Natürlich ist Gott nicht zu verwechseln mit dem Ganzen alles Wirklichen, wohl aber ist er dessen Ursprung“ (GSTh 1, 195 Anm. 28). 1292 Vgl. STh III 529 f. Anm. 134. 1293 Vgl. ThRG 28 u. ö.; STh II 15–201 u. ö. 1294 Vgl. ThRG 18, wo Pannenberg darlegt, dass jede Erfahrung von Zukunft zumindest indirekt Gotteserfahrung ist.

204

III. Wolfhart Pannenberg

und Geist – und damit Gott als differenzierte Einheit – als Grund der Freisetzung des Menschen in seine Gegenwart und damit auch in eine Zukunft (III.4.1.1). Da Gott also die Macht der Zukunft ist und damit nicht abgeschnitten vom geschichtlichen Geschehen in der Zeit, ist schlechterdings zentral für Pannenbergs Gottesidee, dass Gott auch geschichtlich handelt und somit innergeschichtlich begegnet - entsprechend OaG. Pannenberg erläutert, erneut ausgehend von der Trinitätslehre, die es ermöglicht, Gott selbst und seine Taten als differenzierte Einheit zu lesen, dass Gott geschichtlich handeln kann, ohne dass seine Göttlichkeit oder seine Einheit durch eine Vielzahl innergeschichtlicher Taten verloren ginge. Hervorzuheben ist hierbei sein Schöpfungshandeln, in dem die Welt nicht nur erschaffen wurde, sondern als creatio continua auch je jetzt erhalten wird, so dass der »Anfang jeden Augenblicks« in Gott liegt. Ohne das Kontinuum dieses Ewigkeitsgrundes gäbe es keinen Zusammenhang der Daseinsmomente. Die Notwendigkeit der Fremderhaltung allen sich selbst erhaltenden Daseins verweist auf das Staunenswerte, Wunderbare jeden Augenblicks (III.4.1.2). Pannenbergs Gottesidee, gemäß der er Gott seinem trinitarischen Sein und auch seinem soeben angesprochenen Handeln nach als differenzierte Einheit erfasst, führt ihn dann wieder zurück zur Frage nach dem Menschen, nämlich zu dessen Selbstunterscheidung von seinem Ziel-Grund, der in Gott liegt, sowie einer die Gegenwart zugleich einbergenden und überschreitenden Lebensausrichtung auf Zukunft hin, und damit zu einer anthropologischen Konklusion. Dabei vermittelt, wie schon in der Trinität, gerade die Differenz die Einheit (III.4.1.3). Der Mensch kann sich also in einem Ziel-Grund seines Lebens gegründet wissen, weil er nicht selbst dieser Grund ist. Der Gottesgedanke entspricht damit der Unterscheidung von gegenwärtigem und zukünftigem Sein, aus der folgt, dass der Mensch sich unterscheiden muss vom Ziel-Grund seiner selbst, der in Gott zu verorten ist. Von Pannenbergs Werk her kann damit die Erfahrung der Differenz von Gegenwart und Zukunft fruchtbar gemacht werden für die Plausibilisierung und Näherbestimmung eines Gottesgedankens. 4.1.1

Gott als differenzierte Einheit. Der trinitarische Gott als Macht der Zukunft heute

Pannenberg hält für plausibilisierbar, dass Gott mehr ist als das nicht fassbare Objekt der sich zunächst implizit vollziehenden Reflexion aufs Ganze (III.2.1.1). Pannenberg hält für plausibilisierbar, dass Gott die alles bestimmende Wirklichkeit und damit »Ziel-Grund1295 des Ganzen« ist. Dahinter steht die Annahme Pannenbergs, 1295 Über den Begriff des Grundes sucht bspw. auch Gerhardt eine philosophische Gottesidee zu entwickeln, vgl. Gerhardt, V., Gott und Grund, in: Deuser, H. u. D. Korsch (Hrsg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, 85–101.

4.1 Gott

205

dass „die Dinge und Menschen“ „[a]uf dem Wege ihrer Geschichte in der Zeit […] nur durch Antizipation dessen [existieren], was sie im Lichte ihrer letzten Zukunft, des Advents Gottes, sein werden“1296. Gott ist dabei für Pannenberg als trinitarischer Gott die Macht der Zukunft, in der die Schöpfung gründet. Im Folgenden wird, um dies auszuführen, zunächst die wirklichkeitskonstituierende Zukunftsmächtigkeit Gottes skizziert. Dann wird die Verankerung dieser Zukunftsorientierung der Rede von Gott in der Trinitätslehre transparent gemacht, die bei Pannenberg wiederum in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus verankert ist. Dessen Verkündigung des Reiches Gottes drückt die sich vergegenwärtigende Zukunftsmächtigkeit Gottes aus. In einem kurzen Kapitel ist also weit auszuholen. Zunächst einmal liegt es dem Menschen nah, sich im Rückgriff auf seine Vergangenheit seiner selbst zu versichern, sei es durch die Beschäftigung mit der eigenen Herkunftsbiografie, sei es durch mythisches Denken1297 oder den Rekurs auf eine ideale Urgesellschaft, wie er etwa im Marxismus geschieht sowie in Nietzsches Idee eines Urmenschen.1298 Pannenberg geht den gegenläufigen Weg, da er innerbiblisch eine Zukunftsorientierung eintreten sieht, an der er sein Denken ausrichtet.1299 So sind zwar Textcorpora wie der priesterschriftliche Schöpfungsbericht entsprechend mythischer Weltbilder noch dem Denken von einem vergangenen Ursprung her verhaftet, doch durch frühjüdische, apokalyptische Strömungen richtet sich der Blick zunehmend in die Zukunft, in der ein besonderes Wirken Gottes erwartet wird. Diese Zukunft wird schließlich in Jesu Auftreten und Verkündigung gegenwärtig, verortet Pannenberg doch die „Gegenwart der Zukunft Gottes im Auftreten Jesu“1300. So begründet auch die Botschaft Jesu vom Nahen des Gottesreichs die christliche Gemeinde, die damit ihre Gegenwart als Wirkung ihrer Zukunft

1296 STh III 573. 1297 Pannenberg bezieht sich für die Deutung des Mythos als Sicherung gegen die Ungewissheit der Zukunft auf Mircea Eliade, vgl. STh I 203. Pannenberg postuliert eine Entwicklung religiöser Perspektive, gemäß der diese sich zuerst von einer mythischen Urzeit her verstanden und dann schließlich auf eine eschatologische Zukunft hin entworfen habe. Er meint: In „den Anfängen menschlicher Religion blieb die Zukünftigkeit Gottes freilich noch verborgen.“ (ThRG 26.) 1298 Vgl. A 483. 1299 Vgl. A 483. „Wo geschichtliche Veränderungen des Gottesverständnisses als solche thematisch werden, da wird die mythische Lebensorientierung durchbrochen.“ (STh I 185.) So ist es in der Religionsgeschichte Israels passiert, jedoch finden sich mythische Stoffe, etwa durch das Zurückdatieren späterer Erfahrung in eine mythische Urzeit, auch in der israelitischen Glaubenstradition. Doch Israel orientierte sich nicht an einer mythischen Vergangenheit, sondern richtete sich aus auf eine von Gott verheißene Zukunft. Auch die mythische Urzeit kann allerdings im Kult wieder vergegenwärtigt werden, vgl. GSTh 2, 199. Gott, der sich in seinen Taten in der Vergangenheit, heute und schließlich auch in der Zukunft heiligt, schafft in seiner Selbstidentität jedoch stets den entscheidenden diachronen Zusammenhang. 1300 STh II 506.

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III. Wolfhart Pannenberg

versteht.1301 Die Apokalyptik in ihrer Zukunftszentriertheit ist darum von zentraler Bedeutung für ein angemessenes Verständnis Christi.1302 Ohne apokalyptischen Bezug würde Christologie zu Mythologie. Sie verlöre ihre Relation zur Zukunft des Menschen und damit zu seiner Geschichtlichkeit. Von dieser an der Apokalyptik und an Christus gewonnenen Zukunftsorientierung her versteht Pannenberg dann auch die Schöpfung als Wirkung des kommenden, also zukünftig sich erweisenden Gottes. Pannenberg vermutet: „Zwar hat Jesus nicht direkt schon die Schöpfung als das Werk des kommenden Gottes bezeichnet, aber eine solche Sicht dürfte auf der Linie des für seine Botschaft charakteristischen Gefälles von der Zukunft Gottes zur Vergangenheit und Gegenwart der Welt liegen.“1303 Die Welt ist also für Pannenberg im Eschaton als ihrem Ursprung begründet, denn Gott selbst ist „als absolute Zukunft […] der freie Ursprung seiner selbst und seiner Geschöpfe.“1304 Damit ist die Gegenwart des Menschen nicht allein eine Folge seiner Vergangenheit, sondern in viel entscheidenderem Maße von ihrer schöpferischen Zukunft her zu bestimmen. Auch die Einheit der Wirklichkeit muss aus Pannenbergs Sicht in ihrer Zukunft liegen, denn: „Ohne gemeinsame Zukunft würde die gegenwärtige Welt in ihre Vielheit auseinanderfallen.“1305 Da Pannenberg dieses einende Wohin von Gottes schöpferischer Zukunft her bestimmt, verbürgt für ihn der Gottesbegriff in der Konsequenz zugleich die Einheit der Menschheitsgeschichte.1306 Auch die jeweili1301 Vgl. ThRG 12. 1302 Vgl. Wenz, Theologie, 182 f. 1303 STh II 171. Der Anfang der Welt ist dann nicht alles bestimmend. Erst im Licht der Eschatologie wird der Anfang der Welt deutbar. Damit intendiert Pannenberg keine göttliche Vorherbestimmung, wie sie nachaufklärerisch kaum denkbar wäre. Er rechnet jedoch mit Zielen Gottes für die Menschheit, die Gott mit menschlicher Beteiligung erreichen möchte, vgl. A 501. Er versteht seine Geschichtsauffassung dabei nicht als teleologisch, da ein teleologisches System keinen Raum ließe für Kontingenz. Es entspräche einer determinierten Weltsicht ohne Freiheit. Pannenberg weist darum auch Sauters Deutung seiner Theologie als teleologisch von sich. Er führt Sauters Deutung gar auf einen Druckfehler in einem seiner Aufsätze zurück, vgl. GSTh 1, 9. 1304 STh I 443; vgl. STh II 172; BSTh 2, 78. „Damit ist der Gedanke erreichbar, dass alles Seiende als Antizipation seiner Vollendung bereits in der Zeit seines eigenen Daseins teilhat an der Ewigkeit Gottes als Ursprung und Quelle der Zeit.“ (Essen, Geschichtstheologie, 70.) 1305 ThRG 17. 1306 „Das in der christlichen Geschichtstheologie die Einheit der Geschichte verbürgende göttliche Subjekt ist durch kein menschliches Subjekt ersetzbar, weder durch hypostasierte Kollektivsubjekte, noch durch den ‚Kollektivsingular‘ der Geschichte selber.“ (A 491.) Dass dieses Subjekt in Jesus Christus rettende Gestalt angenommen hat, ist nach Pannenberg unüberholbar für alle Lebewesen, selbst sollte es extraterrestrische Lebewesen geben, von entscheidender Relevanz. „Pannenberg hält daran fest, daß die Bedeutung Jesu Christi

4.1 Gott

207

ge Gegenwart des einzelnen Menschen heute ist damit von Zukunft quasi eingeklammert. Sie läuft auf ihre temporal-lineare und eschatologische Zukunft hin und kommt zugleich vom christologisch antizipativ realisierten Eschaton her. Sie teilt ihre eschatologische Zukunft mit allen vergangenen und zukünftigen Gegenwarten aller Menschen. Pannenberg versteht Gott damit als „Macht der Zukunft“1307. Nur ein Gottesbegriff, der Gott als Macht der Zukunft beschreibt, kann nach Pannenberg überhaupt Ausdruck von Hoffnung sein, denn Zukunft allein ist der Gegenwart mächtig: „Die Macht der Zukunft und nur sie kann Gegenstand der Hoffnung und des Vertrauens sein. Denn die Zukunft ist des Gegenwärtigen mächtig. Sie ist die Macht des Widerspruchs gegen das Gegenwärtige und entbindet die Kräfte zu dessen Überwindung. Eben darum vermag auch sie allein, zu retten und zu erhalten.“1308 Von Gottes »Sein« gilt daher: „Jedenfalls ist [Gott] nur in der Weise, wie die Zukunft der Gegenwart mächtig ist, weil die Zukunft entscheidet, was aus dem gegenwärtig Vorhandenen wird.“1309 Der Mensch ist der Zukunft nur bedingt mächtig. Gott aber ist aller Zukunft mächtig.1310 Darum begründet seine »Zukünftigkeit« auch seine Ewigkeit. So war Gott schon immer und ist und wird immer sein als „die Zukunft, die noch jeder Gegenwart mächtig gewesen ist. So impliziert die Zukünftigkeit Gottes seine Ewigkeit.“1311 Über Gottes Zukunft kann darum keine Zukunft hinausgehen,1312 eben sowenig wie Gott selbst in seinem »Sein« überschreitbar ist. Da Gott derart die Macht der Zukunft ist, heißt von Gott zu reden, auf Zukunft auszugreifen, was zugleich dem Charakter der Rede von Gott als Doxologie (III.3.3) entspricht. Indem Pannenberg Gott als Macht der Zukunft bestimmt, bestimmt er ihn zudem als Ursprung der Freiheit, da Zukunft zu haben für die Freiheit der Wahl von Möglichkeiten steht. Gegenwart als Wirkung der Zukunft zu verstehen, bedeu-

1307 1308 1309 1310 1311 1312

sich bis an die äußersten Enden des Universums erstrecke, weil Gott verheißen habe, durch Christus das Ganze von Raum und Zeit zu einer allumfassenden Einheit zusammenzuschließen.“ (Peters, Art. Außerirdische Wesen, 997.) ThRG 14. GSTh 1, 393. GSTh 1, 393. Vgl. STh I 443. GSTh 1, 394. Vgl. Lee, Vollender, 128.

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III. Wolfhart Pannenberg

tet nach Pannenberg daher keine teleologische Spielart des Determinismus.1313 Weiterhin ist die schöpferische Zukunftsmacht Gottes damit eine Macht der Liebe,1314 eben da sie die Schöpfung1315 und mit ihr den Menschen in sein Dasein freisetzt1316 und damit aufbaut und nicht zwingt oder zerstört, was dem Raub von Freiheit gleichkäme. Gottes Macht der Liebe bejaht die Gegenwart, die sie erschafft, und gewährt ein Dasein, das nicht wieder sinnlos ins Nichts zurückfällt. Als liebende Macht der Zukunft versteht Pannenberg Gott darum zugleich personal.1317 In den soeben aufgerufenen Stichworten der Liebe und der Personalität leuchtet bereits die Trinitätslehre als Grund hinter der über die Zukunft auszumachende Ver1313 Aus der theologischen Verortung des Ursprungs der Welt im Eschaton als der auf sie zukommenden Ewigkeit Gottes resultiert also nach Pannenberg nicht die Determination des Geschichtsverlaufs. Vielmehr wäre dieser dann als determiniert zu beschreiben, wenn seine Vergangenheit ihn vorherbestimmen würde. Pękala kritisiert mit Kim jedoch, dass Pannenberg durch seine Zukunftsausrichtung lediglich eine scheinbare Öffnung seines Systems zur Freiheit hin vollzieht, vgl. Pękala, Vielfalt, 81–83; Kim, Offenbarung, 484 f. Mostert wiederum erkennt an, dass Pannenbergs Verständnis von Kausalität durch sein Verständnis der Zukunft als Grund der Gegenwart mehrdimensionaler ist als ein lineares Ursache-Wirkung-Schema, vgl. Mostert, Future, 174 f., und schreibt: „In [Pannenbergs] view it makes an enormous difference whether past events determine some future outcome or whether the future is determinative of the present. For him there can only be a deterministic system if past events determine the future.“ (Mostert, Future, 177.) Wenn es eine Bestimmung der Welt gibt, dann die zur Liebe und Liebe setzt frei (Mostert, Future, 179). 1314 „Liebe ist letztlich die einzige gültige Antwort, die der Mensch auf die ihn aus dem selbstverständlichen Trott des Dahinlebens aufschreckende Frage hat, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Liebe begründet Dasein.“ (ThRG 23.) 1315 Wird Schöpfung so theologisch von der Zukunft her verstanden, besteht kein Konflikt zwischen der Theologie und der kausalen Betrachtung der Welt in den Naturwissenschaften, vgl. ThRG 28. Vielmehr betrachten beide den gleichen Gegenstand aus unterschiedlichen Blickwinkeln. 1316 Vgl. ThRG 25–27. Seine Freiheit zu realisieren bedeutet zudem, sich zu verdanken, da der Ursprung der Freiheit nie allein in dem gerade vorhandenen Subjekt liegt, das seine Freiheit realisiert, sondern in einer übermenschlichen, personalen Wirklichkeit begründet ist, vgl. Pannenberg, Freiheit, 45. Vielleicht liegt hier ein Teil der Antwort auf die Frage Monteanus an Pannenbergs Anthropologie, wie der Mensch ein freies Wesen sein kann, „wenn er sein selbständiges Bestehen dem Wirken des Geistes Gottes verdankt“ (Monteanu, Was ist der Mensch?, 365). 1317 Ist Gott Macht der Zukunft, kann er „kein Ding“ (GSTh 1, 393) sein, denn die Macht der Zukunft tritt personal aus sich heraus und verharrt nicht bloß in unpersönlicher Latenz. Hat jedoch die Macht der Zukunft tatsächlich personalen Charakter und lässt sie sich wirklich mit »Gott« ansprechen oder bedeutet diese Benennung eine unzulässige Anthropologisierung? Pannenberg beantwortet diese Frage, indem er die Kategorie des Personalen aus „der religiösen Erfahrung, im Erscheinen des Numens“ (GSTh 1, 395) herleitet. Damit wird die Kategorie des Personalen nicht vom Menschen auf Gott übertragen, sondern ist vielmehr aus der Sphäre numinosen Erlebens auf den Menschen übertragen worden, vgl. ThRG 15. Freiheit wird für Pannenberg von daher zum „Kern des Personalen“ (GSTh 1, 396). Da Person zu sein die Freiheit impliziert, mehr zu sein als das gegenwärtig Vorhandene, sind weder Gott noch der Mensch »fertig vorhanden«, vgl. Pannenberg, Freiheit, 43.

4.1 Gott

209

bindung von Zeit und Ewigkeit in Pannenbergs Gottesgedanken auf. Pannenberg deutet die immanenten, trinitarischen Relationen nämlich als voneinander unterschiedene, wechselseitige Selbstunterscheidung1318 und versteht diese geschichtlich: „Der trinitarische Gott ist in sich selbst ein geschichtlicher Prozeß“1319. „Gott ist kein in sich selbst ruhendes Seiendes, sondern er ist selbst die Zukunft seiner kommenden Herrschaft“1320. „Die trinitarischen Unterscheidungen zwischen Vater, Sohn und Geist sind begründet in der Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart Gottes, die doch in der Einheit Gottes umgriffen sind zur ewigen Gegenwart Gottes, die der Geist ist.“1321 Die Trinität ist darum „Bewegung der göttlichen Liebe“1322, die nicht nur sich, sondern der Schöpfung Zukunft ermöglicht.1323 Gott ist also über die Zeit erhaben und steht doch in einem echten Verhältnis zu ihr, wie auch die Bibel darlegt.1324 Heilsökonomisch kann daher mit K. Barth von einem „Vorher und Nachher“1325 in Gott ausgegangen werden. Dieses Vorher und Nachher kann wiederum mit K. Rahners Diktum, die immanente Trinität sei die ökonomische und umgekehrt, auch auf die immanente Trinität übertragen werden.1326 Gottes trinitarische Einheit ist daher nicht „unterschiedslose Identität“, sondern „in sich differenzierte Einheit“1327. So ist auch die Einheit Jesu mit dem Vater nicht unmittelbare, sondern „differenzvermittelte Einheit“1328. Und der Schlüssel zum Verständnis Jesu ist nicht seine Selbstidentifikation mit Gott oder sein Vollmachtsanspruch, sondern seine Differenz zum Vater, die eben in der für ihn konstitutiven Selbstunterscheidung vom Vater zu Tage tritt und Ausdruck seines ewigen Sohnseins ist.1329 Im 1318 1319 1320 1321 1322 1323

1324 1325 1326 1327 1328 1329

Vgl. STh I 335–355. ThRG 29. ThRG 28. ThRG 28. ThRG 28. Vgl. ThRG 28. Ringleben spricht von einer „Konstitutionslogik“ (Ringleben, Werden, 465) in Pannenbergs Gottesidee, die über eine „Darstellungslogik“ (Ringleben, Werden, 465) hinausgeht, und nach der Gott ist, indem er Geschichte hat. „Für Pannenberg geht es darum, Gottes Selbstsein als im Handeln seines Sich-Offenbarens sich herstellend zu begreifen.“ (Ringleben, Werden, 462.) Vgl. III.4.1.2. Vgl. STh I 438. STh I 438 f. (kursiv im Original). Vgl. STh I 438 f. STh I 438. Wenz, Theologie, 186. Vgl. STh I 336 f.; STh II 387 u. ö. Vgl. STh I 337 f.; STh II 415–422. Selbstunterscheidung bedeutet dabei für Vater, Sohn und Geist nicht streng dasselbe. So ist die Selbstunterscheidung Jesu vom Vater der Erkenntnisgrund seines ewigen Sohnseins und konstitutiv für den Bezug des ewigen Sohnes zum Vater. Nur in davon unterschiedener Weise kann dann wiederum auch das Vatersein des Vaters vom Sohn abhängig gemacht werden. Der Vater übergibt dem Sohn die Herrschaft und macht sich darin angewiesen auf den Sohn, der sie ihm wieder zurück gibt (1. Kor 15,24 f.). Die Gottheit des Vaters hängt nun vom Sohn ab, vgl. STh I 340. „Das bedeutet, daß es in der Geschichte des Sohnes um die Gottheit des Vaters selber geht.

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III. Wolfhart Pannenberg

geschichtlichen Verlauf tritt darum die trinitarische Unterschiedenheit Gottes hervor, wohingegen die Einheit Gottes verborgen bleibt.1330 Der ökonomischen Trinität liegt damit nicht eine unmittelbar erkennbare Einheit zugrunde, sondern die Differenz der immanenten Trinität. Pannenberg setzt hierbei weiterhin mit Rahner die Identität der immanenten und ökonomischen Trinität voraus. Wo Rahner aber an der „Selbstmitteilung des Vaters durch den Sohn“ als „Leitgedanken“1331 der Trinitätslehre festhielt, macht Pannenberg „das konkrete Verhältnis Jesu zum Vater [als] Ausgangspunkt der trinitätstheologischen Reflexion“1332 aus. Er zieht damit nach eigenem Bekunden die „Konsequenz“1333 aus Rahners Ansatz. Er bricht zugleich erneut das suprahistorische Offenbarungsdenken Barths auf. Zwar verortet er nämlich mit Barth die „Wurzel“1334 der Trinitätslehre in der Offenbarung, denn „Gott kann nur erkannt werden, wenn er sich selbst zu erkennen gibt.“1335 Wesensoffenbarung Gottes kann dabei nur „der Gesamtumfang seiner Erscheinungen oder aber eine solche Einzelerscheinung [sein], die für jenen Gesamtumfang konstitutiv ist“1336, die „sachlich eins [ist] mit dem grenzenlosen Feld der unthematischen Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung.“1337 Die Einzelerscheinung, in der die Wesensoffenbarung Gottes in ausschlaggebender Weise Gestalt gewonnen hat, bestimmt Pannenberg bereits seit OaG als das Christusgeschehen. Dabei reicht es jedoch nicht, sich wie Barth auf den „Begriff der Offenbarung“1338 und die „formale […] Vorstellung des sich selbst offenbarenden Gottes“, aber nicht den „Inhalt der Offenbarung Gottes in Jesus Christus“1339 zu beziehen. Vielmehr gilt: In der Geschichte, konkret: in der Geschichte Jesu, die von der „Selbstunterscheidung“1340 des Sohnes vom Vater und damit dem „Verhältnis Jesu zum Vater, wie es im Zusammenhang der Botschaft von der Gottesherrschaft

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Für den Vater ist seine eigene Gottheit vermittelt durch den Sohn, der in der Geschichte Jesu offenbar wird, so wie umgekehrt für Jesus der eine Gott ganz mit dem Vater identisch ist im Unterschied von ihm selber; und nur indem Jesus diesem von ihm unterschiedenen Gott, dem Vater, dient, sein kommendes Reich verkündet, erweist er sich als den Sohn. Daß aber in der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater die Gottheit des Sohnes in ihm aufscheint, das ist das Werk des Heiligen Geistes“ (GSTh 2, 124; kursiv im Original). Die Selbstunterscheidung des ewigen Sohnes vom Vater ist wiederum der Seinsgrund der Geschöpfe in ihrer Unterschiedenheit vom Vater, vgl. STh II 36 f. Pannenberg bezieht sich hierfür unter anderem auf Luthers Lehre vom deus absconditus, vgl. Wenz, Theologie, 82. STh I 335. STh I 335. STh I 334. KD I/1 326. STh I 207. STh I 388. STh I 389. STh I 330 (kursiv im Original). STh I 331 (kursiv im Original). STh I 335.

4.1 Gott

211

seinen Ausdruck gefunden hat“1341, kündet, sowie der Beglaubigung desselben in der Auferstehung1342 und der „Erfahrung des Geistwirkens im Leben der Kirche“1343 erwuchs aus der Wurzel der Offenbarung die Trinitätslehre. Pannenberg versteht also auch hier im Unterschied zu Barth Offenbarung konsequent überlieferungsgeschichtlich als »Offenbarung als Geschichte«. Von hier aus versteht er die „Selbstunterscheidung Jesu als Mensch vom Vater“, die sich historisch vollzog, als Aufweis, „daß Gott in Ewigkeit nicht anders Vater ist als im Verhältnis zu [Jesus]“1344. Pannenberg erblickt damit in der Trinitätslehre, die Gott als in sich differenzierte Einheit umschreibt und die Überwindung des Dualismus aus Einheit und Vielfalt darstellt sowie Zeit und Ewigkeit miteinander vermittelt, den „Gottesgedanken der als Geschichte ereigneten Offenbarung“1345. Das heißt zugleich: Das Dasein Gottes ist vor dem Hintergrund des bis hier Gesagten nicht als überweltlich von der Schöpfung getrennt zu verstehen, sondern zunächst einmal ist es die „wirksame Gegenwart in der Weltwirklichkeit selber“1346, in der Gott in den Phänomenen dieser Welt begegnet.1347 Der trinitarische Gott ist als Macht der Zukunft stets gegenwärtig: „Mit der eschatologischen Zukunft tritt Gottes Ewigkeit in die Zeit ein, und von dort her ist sie allem Zeitlichen, das dieser Zukunft vorhergeht, schöpferisch gegenwärtig.“1348 Der Modus dieser Anwesenheit der Zukunft in der Gegenwart ist als inchoativ zu bestimmen: „Durch das Zusammenwirken von Vater, Sohn und Geist kommt die Zukunft Gottes zum Anbruch in der Gegenwart der Geschöpfe“1349. Diese Zukunft verkündete Jesus als das Reich Gottes. Dieses eschatologische Reich Gottes, das bereits heute durch das Handeln des Menschen Gestalt, wenn auch nicht Vollgestalt, annehmen kann, stellt darum als Zukunft den entscheidenden „Orientierungspunkt“1350 für das Tun und Lassen des Menschen dar. Seine Gegenwart kann der Mensch somit im eigentlichen Sinne nur von der Zukunft in Gott her verstehen und gestalten, denn in dieser Zukunft liegt der schöpferische Grund seiner Gegenwart ebenso wie seiner Freiheit. Und wenn der trinitarische Gott die Macht der Zukunft und das Reich Gottes tatsächlich die Zukunft der Welt ist, dann hat „alle Erfahrung von Zukunft zumindest indirekt mit Gott zu tun.“1351 1341 1342 1343 1344 1345 1346 1347 1348 1349 1350 1351

STh I 331. Vgl. STh I 331 f. STh I 292. STh I 337 (kursiv im Original). OaG 105. STh I 387. Vgl. GSTh 1, 8 Anm. 7. STh III 573. STh I 424. BSTh 2, 276. ThRG 18.

212 4.1.2

III. Wolfhart Pannenberg

Der »Anfang des Moments« in Gott. Das Handeln Gottes in Schöpfung und Geschichte als differenzierte Einheit

Liegt der Grund der Gegenwart des Menschen in der Zukunft, die Gott als Schöpfer für ihn bereithält,1352 zeichnet sich bereits ein Zusammenhang der unterschiedlichen Daseinsmomente der Menschen in diesem gemeinsamen Grund ab. Dieser Zusammenhang stellt sich, wie im Folgenden zu belegen sein wird, so wie Gott selbst in sich „differenzierte Einheit“1353 ist, als „differenzierte Einheit“1354 des Handelns Gottes dar, in der die einzelnen Augenblicke durch das Ganze der Ewigkeit Gottes verbunden sind. In die differenzierte Einheit dieses schöpferischen Handelns Gottes ist die Lebensgegenwart des Menschen eingeschrieben. Pannenberg versucht dabei über den Begriff des »Handelns«, das er als „‚Selbstverwirklichung‘ Gottes in seinem Verhältnis zur Schöpfung“1355 versteht, das Sein Gottes in sich mit Gottes Sein in der Welt zu verbinden. Gottes Handeln bezieht sich dabei auf die Geschichte als Ganze und besteht nicht in unvermittelten Eingriffen.1356 Auch Gottes Geschichtshandeln nimmt teil „an der Qualität seines Handelns als Schöpfungshandeln“1357: „Als ein ewiger Akt umspannt das Schöpfungshandeln Gottes den ganzen Weltprozeß und durchdringt alle Phasen der Ökonomie des göttlichen Handelns in seiner Geschichte.“1358 Da die Welt fortlaufend durch Gott als ihren Schöpfer erhalten wird,1359 wird der Moment der Gegenwart als Bestandteil dieser differenzierten Einheit des erhaltenden Schöpferhandelns Gottes weder zum isolierten Ereignisatom noch löst er sich im Ganzen auf. Stattdessen findet jeder Moment seinen Anfang in Gottes Schöpferhandeln.1360 Den Moment derart von Gott her zu deuten, heißt zugleich, dem Staunen über das eigene Dasein Ausdruck zu verleihen.1361 Gottes Schöpferwesen macht dabei überhaupt erst im Eigentlichen möglich von „Taten Gottes in Zeit und Geschichte zu reden“1362 und es entspricht eben die1352 1353 1354 1355

1356 1357 1358 1359 1360 1361 1362

Vgl. ThRG 28. STh I 438. STh II 22. STh I 418. „Dabei kann der Begriff des Handelns dazu dienen, die Relevanz der heilsökonomischen Tätigkeit Gottes für sein inneres Leben, für die ewige Selbstidentität seiner Gottheit, zu verdeutlichen. Denn indem der Handelnde im Vollzug seines Handelns bei dem andern ist, das er hervorbringt, verhält er sich zugleich zu sich selbst. Er ist als der so Handelnde er selbst.“ (STh I 417 f.) Vgl. STh I 417 ff. STh II 57. STh II 57. Vgl. STh II 56 ff. Vgl. STh II 59. Vgl. STh II 63: Das „Entstehen“ und „erst recht der Fortbestand der kreatürlichen Gestalten und Zustände“ ist in jedem Moment „wunderbar“ (ebd.) STh II 58.

4.1 Gott

213

sem Schöpferwesen Gottes, dass ihm die Beziehungen seines Handelns zu seinen Geschöpfen nicht äußerlich sind. Pannenberg grenzt seinen Begriff des Handelns Gottes dabei gegen die irrige Vorstellung einer den Geschichtsverlauf determinierenden „Tyrannis“1363 Gottes ab, die den Geschöpfen ihre Eigenständigkeit raubt. Pannenberg führt diese Vorstellung auf eine verfehlte Auffassung von Gott als endlichem Subjekt zurück, dessen Zukunft von seiner Gegenwart verschieden ist und das darum nach totaler Kontrolle über diese strebt.1364 Eine gänzlich autonome Weltgeschichte zu postulieren, bedeutete jedoch wiederum, Gott als Macht der Zukunft preisgegeben zu haben. Gott regiert stattdessen „durch das Handeln seiner Geschöpfe hindurch“1365 seine Schöpfung und begegnet Menschen so in der Zeit, ohne deshalb in der Zeit aufzugehen. Während also Menschen als Handelnde einen Ort in der Zeit haben, greift Gott, etwa durch menschliches Tun hindurch, handelnd in die Zeit ein, ohne einen Standpunkt in der Zeit beziehen zu müssen. Da das göttliche Handeln jedoch endliche, zeitliche Wesen zum Gegenstand hat, „wird es die endlichen Ereignisse und Wesen im Zusammenhang einer Zeitenfolge hervorbringen, in der ihr Dasein auf eine zukünftige Vollendung bezogen ist.“1366 Nach Pannenberg entspricht es der Wirklichkeit Gottes, wie sie in der Bibel geschildert wird, wenn Gottes Handeln hierbei als „differenzierte Einheit“1367 gedeutet wird. So kennt die hebräische Bibel keinen Geschichtsbegriff im modernen Sinne, jedoch findet sich in ihr die Rede vom Kollektivplural der ‫כָל־מַעַשֵה יְהוָה‬ (Jos 24,31; vgl. auch Ps 33,4 u. ö.).1368 Diese Begrifflichkeit steht dem Terminus Geschichte am nächsten und kann als differenzierte Einheit des Handelns Gottes gedeutet werden, mit der zugleich ausgesagt ist, dass den einzelnen Taten Gottes durch seine Treue Beständigkeit und Zusammenhang zukommt, wie es auch der Vielheit in der Einheit des trinitarischen Gottes entspricht. Die Einheit Gottes verunmöglicht es daher nicht, von einer „Vielfalt und Mannigfaltigkeit göttlicher

1363 1364 1365 1366

STh I 420. Vgl. STh I 420. STh III 542. STh II 21. Von Gottes Handeln lässt sich nur in diesem differenzierten Sinne „ein Strukturiertsein durch Unterscheidung und Zuordnung von Mitteln und Zwecken behaupten und auch das nur mit Einschränkungen“ (STh II 20), denn Gott ist nicht wie der Mensch abhängig von Mitteln und der Realisierung von Zwecken. Nur im Hinblick auf die „Funktion der Integration einer Ereignisreihe in eine von ihrem Ende her begründete Einheit“ (ebd.) lässt sich begründet von Zweck und Mitteln göttlichen Handelns sprechen. Aus menschlicher Perspektive wird es daher möglich, von einem »Plan« Gottes (Jes 5,19) zu reden, den er geschichtlich verwirklicht und der auf die Gemeinschaft Gottes mit seinen Geschöpfen zielt, vgl. STh II 21. Kein Geschöpf ist dabei bloßes Mittel zum Zweck, sondern der Zweck dient dem Geschöpf, vgl. ebd. 1367 STh II 22. 1368 Vgl. STh II 22.

214

III. Wolfhart Pannenberg

Handlungen zu sprechen, die in der ewigen Einheit seines Wesens und seiner Tätigkeit zusammengefaßt sind“1369. Mit Augustin (de civ. dei XI) nimmt Pannenberg dabei an, die Welt sei nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit erschaffen worden:1370 „[N]on est mundus factus in tempore, sed cum tempore.“1371 Die Schöpfung ist also kein „Akt in der Zeit“, sondern die „Konstituierung der endlichen Wirklichkeit der Geschöpfe mitsamt der Zeit als ihrer Daseinsform“1372. In seinem erhaltenden Schöpferwirken und seiner Weltregierung nimmt Gott jedoch an der zeitlichen Struktur seiner Geschöpfe teil.1373 Die creatio continua setzt als Erhaltung der Schöpfung den Schöpfungsakt und das Dasein der Geschöpfe bereits voraus und erweist sich in der „Teilnahme des trinitarischen Gottes am Leben seiner Geschöpfe“1374 und damit auch der ihre Existenz kennzeichnenden Zeitdifferenz als zeitlich strukturiert. Die Erhaltung der Schöpfung und auch die „Weltregierung“1375 Gottes sind damit „Ausdruck der Teilnahme Gottes am Leben der Geschöpfe und seiner Zeitstruktur“1376. Sie unterscheiden sich jedoch dadurch, dass die Erhaltung auf den Ursprung der Schöpfung bezogen ist und die Weltregierung auf die Vollendung hin ausgreift.1377 Von Gottes erhaltendem – und Neues schaffenden1378 – Schöpferhandeln her, wie es sich in der die Schöpfung erhaltenden creatio continua ausdrückt,1379 lässt sich damit zugleich der „Anfang“1380 jeden Augenblicks in Gottes Schöpfung verorten:

1369 STh II 58. 1370 Da Gott als Macht der Zukunft ewig ist und Zeit seiner Ewigkeit entspringt, wird Pannenbergs Zeitbegriff in dieser Untersuchung erst unter III.4.2 nach seinem Gottesbegriff (III.4.1) thematisiert. Es lässt sich in dieser Darstellungsreihung nicht ganz vermeiden, dass in einigen Fällen, wie hier in Bezug auf die Schöpfungslehre, bereits auf Pannenbergs Zeitbegriff und damit III.4.2 voraus gegriffen wird. 1371 STh II 54. 1372 STh II 75. 1373 Vgl. STh II 75. 1374 STh II 75. 1375 STh II 70.71.72. u. ö. Die Weltregierung Gottes ist verborgen. Zwischen gegenwärtiger Verborgenheit und künftiger Vollendung des Gottesreiches bleibt darum zu unterscheiden und erst die Zukunft wird zeigen, ob tatsächlich Gott die „Herrschaft über seine Schöpfung keineswegs entglitten“ (ebd. 72) ist. 1376 STh II 75 (kursiv im Original). 1377 Vgl. STh II 75. 1378 Vgl. STh II 146. 1379 Vgl. STh II 55. Die creatio continua ist eine Näherbestimmung der creatio ex nihilo, die fortlaufend andauert, vgl. STh II 146 Anm. 323. Vgl. zur fortlaufenden Erhaltung der Geschöpfe in jedem Daseinsaugenblick auch BSTh 2, 43. 1380 STh II 59.

4.1 Gott

215

„Der Schöpfungsgedanke enthält […] mehr als eine Aussage über den Anfang der Welt. Jedes einzelne Geschöpf, sogar jedes neue Ereignis, jeder Augenblick, hat seinen ‚Anfang‘ in Gottes Schöpfung.“1381 Gott ist dabei „alles von ihm Geschaffene gleichzeitig gegenwärtig“1382, und zwar „[g]erade als hinsichtlich seiner ‚temporal position‘ verschieden“1383. In der Unterschiedenheit seiner temporalen Position von sich ist es Gott gegenwärtig und von ihm bejaht.1384 Der Ursprung aller Augenblicke in Gott als schöpferischer Macht der Zukunft begründet damit sowohl den Zusammenhang als auch die temporale Unterschiedenheit der Augenblicke. Pannenberg stimmt hierbei dem Philosophen und Mathematiker Alfred N. Whitehead darin zu, dass kosmologisch betrachtet erst „momentane Ereignisse“1385 zur Entstehung von in Zeit und Raum ausgedehnten Körpern geführt haben. Von da aus dürfe aber kein „Ereignisatomismus“1386 konstruiert werden, der übersehe, dass das „extensive Kontinuum der Raumzeit“ nicht nur „auf das Auftreten von Ereignissen“1387 fundiert ist, sondern ebendiese Ereignisse auch auf dieses Kontinuum angewiesen sind. Dieses Kontinuum liegt in Gottes Schöpferhandeln. Entspringt jeder Augenblick dem Schöpferwirken Gottes und damit Gottes Ewigkeit, kann er kein isoliertes Zeitatom sein, sondern ist als Moment eines Ganzen in den Zusammenhang eines Ganzheitshorizonts des Daseins gesetzt, in dem er sein Eigenrecht nicht verliert und zugleich auf seinen Grund in Gott als differenzierter und einender Einheit verwiesen ist, der ihn mit allen anderen Momenten verbindet. Ohne dieses mit Gott gegebene Kontinuum der Ewigkeit ließe sich auch „der Übergang von einem Augenblick zum andern gar nicht verstehen.“1388 Gott ist „jedem Zeitmoment gegenwärtig […], indem seine Ewigkeit den Übergang zum nächsten Zeitmoment vermittelt und den Zusammenhang mit allem Vorangegangenen festhält.“1389 Der Moment ist damit auf das Ganze angewiesen, um im Übergang zu den anderen Momenten existieren zu können. 1381 1382 1383 1384

1385 1386 1387 1388 1389

STh II 59. STh I 438. STh I 438 (kursiv im Original). Vgl. STh I 438. „Wenn Herrschaft Gottes und Wirklichkeit Gottes sich nicht voneinander trennen lassen, dann bedeutet die Botschaft Jesu vom Kommen der Gottesherrschaft, daß die Wirklichkeit Gottes selbst die Zukunft der Welt ist. Dann aber hat es alle Erfahrung von Zukunft zumindest indirekt mit Gott zu tun. Dann muß ferner jeder Augenblick, in dem ein bis dahin zukünftiges endliches Ereignis geschieht, als ein freier Akt Gottes verstanden werden, der jenem endlichen Ereignis Dasein verleiht, indem er es von seiner eigenen machtvollen Zukünftigkeit und ihrer Unendlichkeit unterscheidet und für sich setzt.“ (ThRG 18.) STh II 148. STh II 148. STh II 149. BSTh 2, 49. BSTh 2, 49.

216

III. Wolfhart Pannenberg

Dass der Moment seinen Anfang in Gott findet, verhindert insofern das Auseinanderfallen der Momente und lässt sie als Bestandteil der differenzierten Einheit des Schöpferhandelns Gottes verstehbar werden. Der Mensch erlebt im Verstreichen seiner Zeit diesen Übergang von Moment zu Moment. Darin erfährt er zugleich die dahinterstehende Wahrheit, dass das menschliche, gegenwartsgebundene Dasein auf das Kontinuum eines Ewigkeitsganzen angewiesen ist, um von Moment zu Moment sein zu können. Zugleich „entgleitet“ ihm dieser Zusammenhang immer wieder und er bedarf der „Erinnerung“1390 daran. Auch und gerade als sich selbst erhaltendes Dasein ist das menschliche Dasein nämlich auf das erhaltende Wirken Gottes angewiesen, das erst die Selbsterhaltung der Geschöpfe und ihre Selbständigkeit ermöglicht.1391 Das heißt: Der Mensch ist Veränderungen ausgesetzt, die ihm die Notwendigkeit selbsterhaltenden Handelns vor Augen führen, möchte er nicht vergehen. Wer sich aber selbst erhalten muss, weiß damit zugleich, dass er nicht immer da ist, und erfährt damit auch, dass er seinen Grund nicht in sich selbst trägt.1392 Sonst könnte er sich ewig selbst erhalten. Die „momentane Präsenz“1393 eines Menschen reicht aber nicht dazu aus, das Ich des Menschen im Zeitfluss zu erhalten.1394 Das im Fluss der Zeit gebundene Ich kann seine Dauer und die Ganzheit seines Seins nicht auf seine momentane Gegenwart gründen. Sein momentanes Jetzt weicht stattdessen unweigerlich dem nächsten.1395 Der Mensch ist also als sich selbst erhaltendes Lebewesen zugleich auf „Fremderhaltung“1396 angewiesen und gerade die Notwendigkeit der Selbsterhaltung verweist ihn auf die Erhaltung allen geschöpflichen Seins durch Gott. Dies drückt sich in einem Selbstverhältnis aus, das Pannenberg als das Bewusstsein einer „Identität im Wechsel“1397 beschreibt. Da Menschen „ihr Dasein nicht aus sich selber haben, ist ihre Gegenwart von ihrer Herkunft als ihrer Vergangenheit unterschieden.“1398 Und: „Sie sind für ihr Dasein als Dauer auf die Ewigkeit angewiesen als auf die Zukunft des Guten“1399. Im Nachdenken über sein Dasein kann dem Menschen deshalb bewusst werden, dass „[j]eder Augenblick, jedes einzelne Ereignis […], weil kontingent, letztlich unableitbar, sein faktisches Eintreten also wunderbar“1400 ist:

1390 BSTh 2, 49. 1391 Vgl. STh II 69. Gottes Treue, die aus der gegenseitigen Treue von Vater und Sohn hervorgeht, begründet die Möglichkeit geschöpflicher Selbsterhaltung, vgl. ebd. 1392 Vgl. STh II 68. 1393 Wenz, Theologie, 264. 1394 Vgl. III.4.2.1. 1395 Vgl. STh III 645. 1396 STh II 68. 1397 STh II 68 (kursiv im Original). 1398 STh II 117. 1399 STh II 117. 1400 STh II 62. Pannenberg knüpft dort an Augustin und Schleiermacher an.

4.1 Gott

217

„Weil es nicht selbstverständlich ist, daß überhaupt etwas geschieht, darum ist nicht nur das Entstehen, sondern auch und erst recht der Fortbestand der kreatürlichen Gestalten und Zustände in jedem Augenblick wunderbar.“1401 Als Gegenwartswesen, das von Moment zu Moment lebt, selbständig und eben darin doch erhalten, wird der Mensch also an das Wunderbare seines Daseins verwiesen und damit an die differenzierte Einheit des Schöpfungshandelns Gottes, in dem jeder seiner Daseinsmomente seinen Grund findet. 4.1.3

Selbstunterscheidung von Gott als Konsequenz

Durch die Botschaft vom Reich Gottes erkennt der Mensch, dass die Zukunft nicht „Fortsetzung des Vorhandenen“, sondern „schöpferischer Ursprung alles Seienden“1402 ist. Diese Erkenntnis verändert die Gegenwart des Glaubenden. Sie befreit ihn von Bindungen und Zwängen, wie seine Gegenwart festzuhalten oder sich von ihr abzukehren.1403 Sie stellt den Glaubenden in ein neues, produktives Verhältnis zur Welt, zu seiner Gegenwart und Zukunft.1404 Die Erkenntnis, dass die Gegenwart sich der Zukunft, nicht der Vergangenheit verdankt, bewahrt den Menschen davor, sich der Zukunft zu verschließen, „die immer Verwandlung mit sich bringt“1405. „Mit der Blüte gegenwärtigen Daseins verbindet sich oft eine Arroganz, die blind macht für den vorläufigen Charakter der eigenen Daseinsform.“1406 Diese Tendenz, die „Wurzel alles Widersinns, alles Leids und alles Bösen“1407 ist, aufzubrechen, ist eines der Grundanliegen der eschatologisch begründeten Schöpfungslehre Pannenbergs. Dabei hebt Pannenberg hervor, dass nach seiner eschatologischen Schöpfungslehre die Liebe Gottes in Erscheinung tritt, indem sie etwas von sich unterscheidet. Er schreibt, dass sein „Versuch einer eschatologisch orientierten Lehre von der Schöpfung […] sein Zentrum in einer neuen Auffassung der göttlichen Liebe [hat]. Diese tritt in Erscheinung dadurch, daß die Macht der Zukunft etwas von sich unterscheidet und in ein eigenes Dasein freisetzt“1408. Da wahre Allmacht das ihr Entgegenstehende bejaht, bejaht Gott, dem selbst nicht die Grenzen menschlichen Daseins auferlegt sind, den Menschen eben gerade in seinen Grenzen: „Gerade in seiner Begrenztheit ist das Geschöpf von Gott ewig bejaht.“1409 1401 1402 1403 1404 1405 1406 1407 1408 1409

STh II 63. ThRG 26. Vgl. ThRG 27; III.2.2.2. Vgl. ThRG 27. ThRG 27. ThRG 26 f. ThRG 27. ThRG 28. Vgl. STh I 454–456. STh I 455 (kursiv im Original).

218

III. Wolfhart Pannenberg

Der Mensch ist in der Folge ebenfalls zu einer Selbstunterscheidung aufgerufen. Mit Gott als Grund seines Daseins verbindet sich der Mensch nämlich ebenfalls, indem er sich von ihm unterscheidet. Wo Gott nämlich in sich differenzierte Einheit ist, die ihre Gemeinschaft in der Selbstunterscheidung der göttlichen Personen gewinnt, und wo Gott als Macht der Zukunft seine Schöpfung freisetzt, indem er sie von sich unterscheidet, ist auch der Mensch zu einer Selbstunterscheidung von Gott gerufen. Diese ist als „Annahme der eigenen Geschöpflichkeit vor Gott“, in der „der ewige Sohn im Menschen Gestalt annimmt“1410, Bedingung seiner Gemeinschaft mit Gott und wird von Christus her als „Teilnahme an der Sohnesbeziehung Jesu“1411 ermöglicht. Gottes Reich zu erwarten und sich eben darin von Gott als schöpferischem Grund dieser Zukunft zu unterscheiden, setzt in ein spezifisches Verhältnis zu sich selbst und zur eigenen Lebensgegenwart. Zum Einen drückt das liebende, diese Selbstunterscheidung des Menschen freisetzende Ja Gottes zur Begrenztheit der zeitlichen, gegenwartsgebundenen Existenz des Menschen die Annehmbarkeit desselben aus. Zum Anderen ist der Mensch zugleich gerufen zur Überschreitung seiner Gegenwart im Vertrauen auf Gott als Macht der Zukunft, eben da es mit ihm einen Ziel-Grund seines Lebens gibt. Der Mensch kann sich wiederum darum in diesem Ziel-Grund gegründet wissen, weil er nicht selbst dieser Ziel-Grund ist, sondern sich von ihm unterschieden weiß.

4.2

Zeit

Mit der Zukunftsmächtigkeit Gottes ist ein grundlegender, in der Gotteslehre verorteter Aspekt von Pannenbergs Zeitverständnis unter III.4.1 bereits zur Sprache gekommen. Um Pannenbergs Deutung menschlicher Lebensgegenwart angemessen zu erfassen, müssen noch weitere Aspekte seines Zeitverständnisses betrachtet werden. Der Zeiterfahrung des geschichtlich verfassten Menschen (III.2.) legt Pannenberg in seiner theologischen Deutung derselben dabei einen Ewigkeitsursprung der Zeit in Gott zugrunde.1412 Pannenberg bezieht sein theologisches Zeitverständnis dabei, wie im Folgenden zu belegen sein wird, bis auf Augustin und vor allem die Philosophie Plotins zurück. Er entlehnt ihr die Vorstellung, die Ewigkeit sei Ursprung, nicht Gegensatz der Zeit. Zeit gewinne ihre Einheit von ihrem Ziel-Grund in der Ewigkeit her. Pannenberg deutet dementsprechend die Erfahrung der Ich-Kontinuität im Zeitenfluss, die mehr als ein punktuelles Erleben der Gegenwart ermöglicht, als Hinweis auf eine geschöpfliche Teilhabe an der Ewigkeit Gottes, dem jeder Moment in seiner Ein1410 STh II 430. 1411 STh II 500. 1412 Vgl. STh I 441 ff.

4.2 Zeit

219

maligkeit gegenwärtig ist. Zeit wird so zum Modus der Verbindung des Menschen mit der Ewigkeitstiefe seines Daseins. Da Ewigkeit nicht nur Ursprung, sondern vor allem auch Ziel der Zeit ist, ist besonders Zukunft bedeutend für das Zeitverständnis Pannenbergs. So realisiert sich auch die Vermittlung zwischen Zeit und Ewigkeit darüber, dass die Zukunft Gottes antizipativ bereits heute im Leben eines Menschen Gegenwart wird, wie in ausschlaggebender Weise in Jesus Christus geschehen. Da ewige Gegenwart die Gleichzeitigkeit aller Zeitmodi bedeutet, wird sie dem Menschen zum Gericht, aus dem ihn wiederum nur Christus rettet (III.4.2.1). Der Mensch hat also aus der Ewigkeit her Zeit bekommen. Wo er aber seine Zeit in dem Sinne »haben« möchte, dass er sein endliches Jetzt ins Unendliche auszudehnen versucht, kommt die Ablehnung des Menschen seiner geschöpflichen Endlichkeit gegenüber zum Ausdruck und wird der Ewigkeitsbezug der Zeit verfehlt. Der Mensch steht damit vor der Herausforderung, seine temporal verfasste Selbständigkeit nicht über die Ablehnung seiner Endlichkeit in eine von Pannenberg als sündig charakterisierte Verselbständigung zu verkehren, die ihn von Gott als Quelle des Lebens entfernt und ihm damit den Tod bringt. Wo der Mensch aber auf Gott als Macht der Zukunft vertraut, kann er seine Gegenwart selbständig gestalten und sie zugleich als Durchgangsmoment auf seine Wesensvollendung hin ziehen lassen. Erst dadurch, dass Gegenwart so Teil eines endlichen Ablaufs ist, der in die Ewigkeit mündet, wird sie im eigentlichen Sinne deutbar (III.4.2.2). Die je-jetzige, antizipative Teilhabe des zeitlichen Menschen an der ihn konstituierenden Ewigkeit realisiert sich über die zeit-räumliche Feldwirkung des Geistes Gottes (III.4.2.3). 4.2.1

Zeit und Ewigkeit

Unter III.2.2.1 war dargestellt worden, dass dem Menschen mit seinem Zeitbewusstsein, zunächst vermittels des Gefühls, ein Bezug zum Ganzen seines Seins erschlossen ist. Pannenberg vermutet, dass darin die Teilhabe des Menschen an der Ewigkeit aufscheint: „Daß in unserem Selbstbewußtsein das Ganze unseres Seins in jedem Augenblick gegenwärtig ist, läßt sich vielleicht nur als Teilhabe an der Ewigkeit angemessen beschreiben.“1413 Ist dem tatsächlich so, dann gibt es „keinen tieferfahrenen Augenblick, der nicht als Gegenwart der Ewigkeit erfaßt würde, und das gerade in seiner Einmaligkeit.“1414 1413 Pannenberg, Metaphysik, 51. In seiner Anthropologie schreibt Pannenberg von der „Gegenwart der Ewigkeit“ im Bewusstsein der Identität des Menschen und „des Wesens der Dinge im Ganzen alles Seienden“ (A 517). 1414 Pannenberg, Mensch, 55. Vgl. auch ders., Metaphysik, 64.

220

III. Wolfhart Pannenberg

Pannenberg verortet dabei hinter ebenjener Erfahrung eine das menschliche Ich konstituierende „Berührung der Ewigkeit im Jetzt“1415: „Ohne solche Berührung der Ewigkeit im Jetzt wäre nicht einmal die Vereinnahmung der Zeit für das Ich möglich, weil dieser Mittelpunkt des Ich dann nicht da wäre.“1416 Das Ich könnte nämlich ohne Berührung der Ewigkeit gar nicht über eine Zeitdauer aufrechterhalten werden, sondern ginge stattdessen im Augenblick auf. Das menschliche Selbstbewusstsein vermag also „das eine Ganze unseres Seins nur in vorgreifender Teilhabe am Ewigen zu präsentieren und zu repräsentieren“1417. Ohne eine dem menschlichen Zeiterleben zugrunde liegende „Zeit als Einheit – d. h. aber als Ewigkeit“1418 könnte der Mensch demnach keinen zeitlichen Zusammenhang erfahren und gäbe es kein den Moment überschreitendes Ich. Anhand der Erfahrung des durch die Zeiten wandernden »Mittelpunkts des Ich« des Menschen ist damit zugleich das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit und damit das „Schlüsselproblem“1419 christlicher Eschatologie angesprochen. Als „Ganzheit des Lebens“ und „Bedingung des Zusammenhangs“ zeitlicher Momente bildet Ewigkeit nämlich nach Pannenberg den „Konstitutionsgrund der Zeit“1420. Zeit ist damit nicht allein durch das Auseinandertreten der temporalen Ereignisabfolge in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu bestimmen, sondern als in der Ewigkeit wurzelnde Einheit.1421 Dass es allein der Mensch ist, der mit seiner Zeitanschauung die Einheit der Zeit begründet, erscheint Pannenberg schon aus dem Grund nicht als plausibel, dass der endliche Mensch keine potenziell unendliche Größe begründen kann.1422 Pannenberg substanziiert die Einheit der Zeit also nicht anthropologisch, etwa in einer zeitübergreifend gegenwärtigen Ich-Identität des Menschen,1423 sondern theologisch in der Ewigkeit Gottes. 1415 Pannenberg, Mensch, 55. 1416 Pannenberg, Mensch, 55. 1417 Wenz, Theologie, 53. Der Mensch realisiert dabei eine höhere Stufe der Teilhabe an Gottes Ewigkeit als die Tiere, ohne jedoch die Stufe Gottes zu erreichen, deren Ewigkeit erst Ganzheit im Vollsinne ermöglicht, vgl. STh III 647. 1418 STh II 114. 1419 STh III 641. Pannenberg benennt folgende Spannungsfelder, die davon betroffen sind: die Identität der Auferstandenen mit der Person, als die sie gelebt haben, die Zukunft des Gottesreiches und seine Gegenwart im Wirken Jesu, die allgemeine Auferstehung der Toten und die Ankunft der Verstorbenen bei Gott gleich nach ihrem Tode, die Wiederkunft Jesu und sein irdisches Wirken, die Weltregierung Gottes und die Zukünftigkeit seines Reiches, vgl. ebd. 1420 STh III 487. 1421 Vgl. STh II 114. 1422 Vgl. STh II 114 ff. 1423 Vgl. STh II 115 f.

4.2 Zeit

221

Pannenberg rekurriert in seinen Ausführungen unter anderem auf Augustin, der die „Gegenwart des Seins als Dauer“1424 als Teilhabe an der Ewigkeit begreift, die die Zukunft und mit ihr zugleich den Ursprung des Menschen umfasst, also eine für das Ich des Menschen konstituierende Bedeutung aufweist: „Die Gegenwart des Seins als Dauer stellt sich dabei im Sinne der augustinischen distentio animi als begrenzte Partizipation an der Ewigkeit dar, die als Zukunft des Endlichen zugleich Möglichkeit seiner Vollendung wie auch seines Endes und in dieser Ambivalenz der kontingente Ursprung seines Seins ist.“1425 Zeit ist dennoch nicht „aus dem Begriff der Ewigkeit“1426 ableitbar, denn: „Jeder Versuch, einen Ursprung der Zeit vorstellig zu machen, muß immer schon Zeit voraussetzen.“1427 Plotin, der in seiner Zeitlehre eine noch bedeutendere Referenz für Pannenberg darstellt als Augustin, hat daher „den Übergang von der Ewigkeit zur Zeit mit Recht als einen Sprung aufgefaßt.“1428 Plotin bestimmt „Ewigkeit als Gegenwart der Ganzheit des Lebens“1429. „Die so verstandene Ewigkeit ist nach Plotin nicht nur der Zeit entgegengesetzt, sondern sie ist Voraussetzung für das Verständnis der Zeit selbst“1430. Die „zeiterlebende Seele“ vermittelt nämlich den Bezug „des in der Zeit Getrennten auf die Ganzheit der Ewigkeit“1431. Nur so können die getrennten Zeitmomente auf ein Ganzes bezogen werden.1432 Als Abfolge ist Zeit damit, obwohl sie in einem Gegensatz zur Ewigkeit steht, dennoch „konstituiert“ durch den „Bezug zur ewigen Ganzheit“1433. Plotin postuliert dabei entgegen Aristoteles, Zeit sei kein 1424 Pannenberg, Metaphysik, 64. 1425 Pannenberg, Metaphysik, 64. Darüber hinaus übt Pannenberg Kritik am Zeitbegriff Augustins. Augustin vernachlässige die Bedingtheit der Zeit durch ihren Ewigkeitsbezug, er verstehe Zeit als Schöpfung Gottes, die getrennt ist von Gottes Ewigkeit, deute sie platonisch als Abbild der Ewigkeit und verknüpfe, wiederum im Gefolge Platons, Zeit und Bewegung, wonach Zeit nicht, wie bei Plotin, als Vorbedingung für Bewegung erscheine, sondern aus der Bewegung der Himmelskörper hervorgehe. Vor der körperlichen Bewegung der Geschöpfe gab es demnach keine Zeit. Die Ewigkeit Gottes gilt Augustin daher als zeitlos, ja als Gegensatz zur Zeit, wenn er Ewigkeit auch als Vergangenes und Zukünftiges umgreifend beschreiben konnte. Pannenberg kritisiert Augustin auch dahingehend, dass dieser den Zukunftsbezug Plotins nicht aufgenommen habe. Vgl. Pannenberg, Metaphysik, 71. Vgl. auch Flasch, Confessiones, 49: „Augustin denkt nicht die Ewigkeit als Zukunft; eher eliminiert er die Zukunft durch Ewigkeit.“ 1426 STh II 116. 1427 STh II 116. 1428 STh II 116. 1429 STh I 436. 1430 STh I 436. 1431 STh I 436. 1432 Vgl. STh I 436. 1433 STh I 437.

222

III. Wolfhart Pannenberg

der Bewegung sekundäres Phänomen, sondern aufgrund ihres Ewigkeitsgrundes, der in der Seele des Menschen liegt, die am Einen teilhat,1434 aller Bewegung vorgängig.1435 Auf ein Zeitganzes können getrennte Augenblicke demnach nur durch ihre Verknüpfung mit der Ganzheit der Ewigkeit bezogen werden, vermittelt durch die Seele in ihrem Zeiterleben. Pannenberg meint darum: „Die Ewigkeit ist […] nicht Inbegriff der Zeit, sondern eher ist die Zeit mit dem Auseinandertreten ihrer Modi – Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit – zu einer Geschehensfolge als aus der Ewigkeit hervorgegangen und bleibend von ihr umgriffen zu denken. Zumindest ist die Ewigkeit konstitutiv für das Erleben und den Begriff der Zeit; denn der Zusammenhang des im Fortgang der Zeit Getrennten wird nur verständlich, wenn die Zeit als Einheit – d. h. aber als Ewigkeit – schon zugrunde liegt.“1436 Zumindest Erleben und Begriff der Zeit können also nach Pannenberg ohne ewige Einheit nicht erfahren bzw. gebildet werden. Dabei merkt Pannenberg zu Plotin kritisch an, dass diesem das Heraustreten der Zeit aus der Ewigkeit gemäß seines Emanationsschemas als „Fall“1437 erscheinen muss, da er keine Vorstellung einer trinitarischen Vermittlung von Zeit und Ewigkeit hatte, sowie dass Zeit sich nicht in der Weise emanatorisch aus Ewigkeit ableiten lässt, dass die Ewigkeit der Zeit als ihr Ursprung temporal vorgängig und somit in kommensurabler Weise zeitlich verfasst wäre.1438 Aus einem emanatorischen Sturz resultiert nach Pannenberg zudem ein paradoxes Verhältnis von Zeit und Ewigkeit, denn umgriffe das Unendliche das Endliche nicht positiv, sondern stünde in einem negativen Verhältnis der Entgegensetzung, dann erwiese sich das Unendliche faktisch selbst als endlich, da es am Endlichen eine Grenze hätte. Pannenberg versucht stattdessen die Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit christologisch über die Menschwerdung des Sohnes zu schlagen, denn Christus realisiert die Ewigkeitsteilhabe des Menschen in grundlegender Weise. Durch die Inkarnation des Sohnes wird der Gegensatz von Zeit und Ewigkeit aufgehoben, „indem die Zukunft des Vaters und seines Reiches den Menschen durch den Sohn gegenwärtig wird.“1439 Diese »Ewigkeits-Zukunft« geht so authentisch in die menschliche Gegenwart ein, dass sie selber Vergangenheit wird und der Vergegenwärtigung durch den Geist bedarf. Das enthüllt die Vermittlung zwischen Zeit und Ewigkeit in der Ewigkeitsteilhabe des Menschen nun auch als trinitarisches Geschehen, das 1434 Vgl. STh II 114. 1435 Vgl. STh II 114 f.: Bewegung und Zeitmessung durch Bewegung setzt Zeit voraus, so dass nach Plotin bei Aristoteles das Wesen der Zeit unklar bleibt. 1436 STh II 114. 1437 STh II 116. 1438 Vgl. STh II 116. 1439 STh I 481.

4.2 Zeit

223

der Mensch nicht wirkt, sondern in das er hineingenommen ist. So ist es auch nicht der Begriff des Unendlichen, sondern die „Dynamik des Geistes, aber des Geistes im alttestamentlichen Sinne des Wortes“1440, der als bewegende Kraft die Sphäre des Noetischen überschreitet, die zwischen Unendlichem und Endlichem eine positive Vermittlung erlaubt. Erst der Gedanke der „göttliche[n] Liebe in ihrer trinitarischen Konkretheit“ erlaubt aber letztlich, „die Spannung des Unendlichen und des Endlichen in sich ohne Beseitigung ihrer Differenz“1441 zu schließen. Zeit bleibt bei Plotin jedoch, und hier knüpft Pannenberg erneut positiv an, der Modus, in dem das gefallene Viele in Verbindung steht mit dem Ganzen als ewigem Künftig-Ganzem,1442 da die Ganzheit alles Seienden, auch des endlichen Seins, nicht in Tod und Nichts liegen kann, sondern nur in einer zukünftigen, erneuten Teilhabe an der Ewigkeit.1443 Auf diese Ganzheit führt die Zeit erneut hin und findet damit ihren Ziel-Grund in der Ewigkeit. Zukunft ist darum „konstitutiv für das Wesen der Zeit“1444. Die Vergangenheit spielt hingegen eine weniger hervorgehobene Rolle in Pannenbergs Nachdenken über Zeit. Er hält fest, dass die Frage nach einem ersten Ereignis faktisch unbeantwortbar1445 und der Anfang des Universums daher zeitlich nicht bestimmbar ist, da er keinen physikalisch beschreibbaren Zustand darstellte. Unbeschadet der Relativität der Zeit jedoch „gehört zur Endlichkeit jedes Vorgangs in der Zeit ein Anfang“1446, weswegen Pannenberg auch für das Universum als endlichen Prozess mit einem Anfang rechnet, wenn dieser auch physikalisch nicht beschreibbar sein mag. Dieser Anfang ist kein Anfang in der Zeit, sondern der Anfang der Zeit,1447 die Bedingung der Möglichkeit selbständigen geschöpflichen Lebens ist. Die Zeit entstand demnach mit der Hervorbringung der Welt der Geschöpfe und die Schöpfung ist kein Geschehen in der Zeit, sondern ein ewiges Handeln Gottes.1448 Augustin wollte mit eben dieser bereits oben unter III.4.1.2 angesprochenen These die Unveränderlichkeit Gottes betonen, der nicht innerhalb zeitlicher Schranken agiere. Zwischen der unveränderlichen, zeitlosen Ewigkeit Gottes und der Zeit in ihrem geschichtlichen Verlauf voller Wendungen tut sich in Augustins Verständnis allerdings dadurch ein Graben auf, den Pannenberg, der nicht von Gottes Unveränderlichkeit, sondern von seiner Treue1449 sprechen möch1440 1441 1442 1443 1444 1445 1446 1447 1448 1449

STh I 481. STh I 481. Vgl. Pannenberg, Metaphysik, 57.62 und BSTh 2, 66. Vgl. Pannenberg, Metaphysik, 64. STh I 441. Vgl. STh II 182 f. STh II 183. Vgl. STh II 54. Vgl. STh II 52 f. „Im Unterschied zur Vorstellung von der Unveränderlichkeit Gottes schließt der Gedanke seiner Treue weder die Geschichtlichkeit, noch die Kontingenz des Weltgeschehens aus, aber umgekehrt brauchen Geschichtlichkeit und Kontingenz seines Handelns auch nicht

224

III. Wolfhart Pannenberg

te und Ewigkeit trinitarisch, wie unter III.4.1.1 beschrieben, nicht als zeitlos definiert, überwinden will. Für Pannenberg bekommt die Gegenwart ihren Bezug zur Ewigkeit darum auch über ihren Bezug über den zeitlichen Verlauf, entweder Richtung Vergangenheit oder Zukunft: „Nur über die urzeitliche Vergangenheit oder über die Zukunft hat die Gegenwart ihren Bezug zu ihrer verborgenen Ewigkeitstiefe.“1450 Hierüber kann, entsprechend der Antizipation der Ewigkeits-Zukunft Gottes in Christus, die Ewigkeits-Zukunft Gottes dem Menschen bereits heute Gegenwart werden: „Weil die Zukunft Gottes die Parusie seiner Ewigkeit ist, bildet sie die Tiefendimension schon der gegenwärtigen Zeit, und als solche kann sie für den Glaubenden, der auf Gottes Zukunft sein Vertrauen setzt, schon jetzt Gegenwart werden.“1451 Träte dies, im Vertrauen des zeitlich verfassten Menschen sich realisierende, temporale Vermittlungsmoment zwischen Gegenwart und Ewigkeit zurück, entstünde wiederum eben die von Pannenberg abgelehnte Diastase zwischen Ewigkeit und zeitlich verfasster Welt. Bereits die Bibel geht nicht von einer solchen Diastase aus. So korrespondiert der hebräische Begriff ‫עוֹלָם‬, etwa in Psalmworten (Ps 90,2; 104,31), Gottes „Selbigkeit“1452 und wird demnach schon in der hebräischen Bibel nicht einfach in infinite Ausdehnung aufgelöst, die mit Zeit und Welt nichts zu tun hätte. Wo Pannenberg nämlich unter dem menschlichen Selbst die Person- und Wesens-Identität des Menschen versteht, die sein Augenblicks-Ich in alle zeitlichen Richtungen übersteigt, deutet er Gottes »Selbigkeit«, die die Jederzeitigkeit der göttlichen Gegenwart umfasst,1453 als der Zeit nicht nur entgegen gesetzt oder in ihr angesiedelt, sondern alle Zeit umgreifend.1454 „Gott ist in seiner Ewigkeit aller

1450 1451 1452 1453

1454

in Widerspruch zur Ewigkeit Gottes zu stehen: Wenn Ewigkeit und Zeit erst in der eschatologischen Vollendung der Geschichte koinzidieren, dann ist unter dem Gesichtspunkt der Geschichte Gottes auf jene Vollendung hin Raum für ein Werden in Gott selbst, nämlich im Verhältnis von immanenter und ökonomischer Trinität, und in diesem Rahmen ist es dann auch möglich, von Gott zu sagen, daß er selber etwas wurde, was er zuvor nicht war, als er in seinem Sohne Mensch wurde.“ (STh I 472 f.) Über den Begriff der Treue setzt Pannenberg also Gottes Ewigkeit und sein geschichtliches Handeln bis hin zur Inkarnation des Sohnes in Bezug zueinander, was es ihm ermöglicht von einer „Geschichte Gottes“ (ebd. 473) zu sprechen. Zur dahinterstehenden „Konstitutionslogik“ (Ringleben, Werden, 465) von Pannenbergs Gottesgedanken vgl. ebd. GSTh 2, 203. GSTh 2, 202. STh I 434. Pannenberg akzentuiert dabei Ewigkeit und Allgegenwart Gottes unterschiedlich: „Während aber zur Ewigkeit Gottes gehört, daß alle Dinge ihm gegenwärtig sind und bleiben, legt die Behauptung der Allgegenwart Gottes den Akzent darauf, daß Gott allen Dingen auch am Ort ihres eigenen Daseins gegenwärtig ist“ (STh I 444; kursiv im Original). Vgl. STh I 436.

4.2 Zeit

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Zeit gleichzeitig“1455. »Himmel« wird dann zum metaphorischen Ausdruck dafür, dass Gott alle Zeiten gegenwärtig sind.1456 Daraus ergeben sich wiederum Konsequenzen für die Wertung des Augenblicks. Auch das Einmalige und Zufällige, das Momentane und Flüchtige ist Gott nämlich ewig gegenwärtig,1457 weswegen das Allgemeine nicht mehr Anspruch auf Ewigkeit hat als das Besondere.1458 Das lässt die Lebensmomente eines einzelnen Menschen nicht weniger bedeutend erscheinen als die Gesamtheit der Geschichte – und entspricht zudem der zu Beginn des Kapitels angesprochenen Wahrnehmung von Ewigkeitstiefe gerade in der Einmaligkeit des Augenblicks. Insofern erscheint auch die Einheit der Zeit bei Pannenberg als »differenzierte Einheit«, die sich in der Vielfalt der Momente realisiert, die zu einer Dauer verbunden sind, da sie ihren Grund in der einenden Einheit der Ewigkeit Gottes finden. Im Prinzip lässt sich dabei der Unterschied von Zeit und Ewigkeit daran festmachen, wie zeitliche und ewige Gegenwart zu bestimmen sind. Während ewige Gegenwart nämlich Vergangenheit und Zukunft umgreift,1459 ist Gegenwart in der Zeit durch Vergangenheit und Zukunft begrenzt – ohne jedoch dass die Zeitmodi deshalb zu voneinander isolierten Zeitatomen würden, was wiederum ihrem ursprungshaften Ewigkeitsbezug als „gegebene Zeit“1460 zu danken ist. Nicht das Nichts, sondern die Ewigkeit begrenzt damit auch die Zeit – und als ewige Gegenwart bedeutet Ewigkeit auch als „Ende von Zeit“1461, Zeitlichem und Geschichte,1462 nicht Erstarrung und Tod, sondern „Teilhabe an Gottes eigenem ewigen Leben“1463. Und so wird auch erst in der Ewigkeit Gottes das ganze menschliche Leben als Einheit gleichzeitig Gegenwart sein.1464 Eben diese Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des menschlichen Lebens in der ewigen Gegenwart bringt jedoch dessen Dissonanzen zu Tage: zunächst das Eine gesagt, doch dann 1455 1456 1457 1458 1459 1460 1461 1462 1463 1464

STh I 421; vgl. STh II 113. Vgl. STh I 435. Vgl. Pannenberg, Mensch, 54. Vgl. Pannenberg, Mensch, 53. Vgl. STh II 113. STh III 644. Die Dauer des Daseins des Menschen ist demnach „gegebene Zeit, begrenzte Teilnahme an der ewigen Gegenwart des Schöpfers.“ (STh III 644.) STh III 639. Vgl. STh III 639. STh III 639. Vgl. Wenz, Theologie, 266. Das Ende der Zeit bringt nicht die Vernichtung der Zeitmodi, sondern ihre Integration in eine andauernde Gegenwart, vgl. STh II 117. Das Leben in der Auferweckung ist „dasselbe wie das Leben, das wir jetzt auf Erden führen. Aber es ist unser jetziges Leben so, wie Gott es sieht aus seiner ewigen Gegenwart. Daher wird es auch wieder ganz anders sein, als wir es jetzt erleben.“ (Pannenberg, Mensch, 57.) Es besteht daher trotz der Unterschiedenheit des zeitlichen und ewigen Daseins eine Identität des jetzigen mit dem zukünftigen Leben bei Gott. Endgeschichtliche Zukunft und Gegenwart der Glaubenden lassen sich darum „nicht einfach exklusiv gegeneinander abgrenzen.“ (STh III 624.) Es handelt sich um eine „Identität des Verschiedenen“ (STh III 618).

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das Andere getan. Deswegen wird Ewigkeit dem Menschen zum Gericht. In der Gleichzeitigkeit aller seiner widersprüchlichen Lebensmomente geht der Mensch als Sünder zugrunde. „Die Ewigkeit ist das Gericht“1465. Was nämlich die zeitliche Unterschiedenheit vorher trennte, droht in der ewigen Gleichzeitigkeit den Menschen zu zerreißen. Die Gemeinschaft mit Christus, antizipiert in der Taufe, rettet jedoch durch dieses Gericht hindurch.1466 4.2.2

Freigegeben. Gegenwart als Durchgangsmoment

Die verschiedenen Lebensmomente des Menschen treten ihm in seinem zeitlichen Dasein stets auseinander. Ein Moment weicht dem anderen. Der Mensch steht damit vor der Herausforderung, sich nicht an den Augenblick zu klammern und die Ganzheit seines Selbst darauf zu reduzieren (III.2.2.2), sondern seine Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft selbständig zu gestalten und sie zugleich vertrauensvoll als Durchgangsmoment auf die in Christus antizipierte Zukunft hin wieder freizugeben. Dies ermöglicht ihm im zeitlichen Verlauf seines Lebens, je jetzt in Übereinstimmung mit seinem Selbst zu leben, ohne dass er sein Selbst dabei zur Gänze fassen oder deuten könnte. Die im Folgenden im Hinblick hierzu entfaltete theologische Gegenwartsdeutung berührt den Nexus von Sünde und Tod, macht das eigentliche Selbst des Menschen in dessen Gottesebenbildlichkeit aus und verweist bis auf das Ende der Geschichte. Es ist das »Alleinstellungsmerkmal« des Menschen unter allen Geschöpfen, dass er von seiner Zukunft weiß. Kein Lebewesen sonst weiß in dieser Art um seine Zukunft. Wie jedoch seine Zukunft aussehen wird, das weiß der Mensch nicht, trotz aller seiner Planungen und jeglicher magischer, divinatorischer oder technischer Bewältigungsversuche.1467 Mit der Offenheit der Zukunft bleibt dem Menschen aber auch das Wesen der gegenwärtigen Wirklichkeit und seiner selbst ein Stück weit verborgen. In dieser Ungewissheit1468 bestimmt die Zukunft die Erfahrung der Gegenwart, da der Mensch in Freude oder Angst auf sie zu lebt. Das „Auseinandertreten der Lebensmomente in der Folge der Zeit“ wird zwar „als Durchgangsmoment auf dem Wege [zur] Vollendung“1469 in der Ewigkeit 1465 STh III 656. 1466 Vgl. Pannenberg, Mensch, 58; STh III 658. Diese Gemeinschaft kann sich im Verlaufe des Lebens explizit oder implizit realisiert haben, in bewusster Hinwendung zu Jesus Christus oder in der Übereinstimmung eines Lebens mit Jesu Botschaft, auch wenn der betreffende Mensch nie von Jesus gehört hat, vgl. STh III 661 ff. 1467 Vgl. GSTh 2, 174. „In der Differenz der Zukunft von menschlicher Planung tritt die Wirklichkeit Gottes in Erscheinung.“ (Ebd.) 1468 Vgl. GSTh 2, 173. „Dabei sieht jede neue Gegenwart wiederum einer dunklen und geheimnisvollen Zukunft entgegen, aus der so oder so bestimmte bedeutungsvolle Ereignisse hervorgehen werden. In solcher Weise bestimmt die Zukunft die Erfahrung der Gegenwart und so die Gegenwart selbst“ (ThRG 16) in Freude oder Angst. 1469 STh II 117.

4.2 Zeit

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überwunden sein.1470 Doch da durch dieses Auseinandertreten Handlungsabläufe ermöglicht werden, ist „[d]as Nacheinander in der Zeitfolge […] offenbar eine Bedingung dafür, daß die Geschöpfe als endliche Wesenheiten Selbständigkeit gewinnen können“1471 - in ihrem Verhältnis zueinander und zu ihrem Schöpfer. Diese durch die Zeit gewährte Selbständigkeit ist eine verdankte. Pannenberg nennt darum demgegenüber den Versuch, die zeitlich verfasste Selbständigkeit des Menschen zu verabsolutieren und sich darin zum Grund seiner selbst zu machen, „Verselbständigung“1472 und damit Sünde.1473 Durch die Angst vor der Zukunft wandelt sich dabei die an sich gute, Selbständigkeit ermöglichende Ego-Zentrik des Menschen1474 zur lähmenden Ichbefangenheit. Darin verwehrt es sich der Mensch, sich je jetzt als sich selbst gewährt anzunehmen und seiner Zukunft vertrauensvoll entgegen zu gehen. Er klammert sich stattdessen an sein Jetzt und versucht, sich darin selbst zu behaupten. Das derart verselbständigte Verhältnis des Menschen zur Zeit ist von Zerrissenheit und Leere gekennzeichnet. Es ist Ausdruck der »Herrschaft der Sünde«, die als „Gegeneinander der Menschen“ tief in den „Naturbedingungen des gegenwärtigen Daseins verwurzelt“1475 ist. Statt wie angestrebt zum Herrn seiner Zeit zu werden, erweist sich der Mensch darin als beherrscht, nämlich von der Ablehnung der Grenzen, die ihm seine Endlichkeit1476 setzt, und der Verzweiflung an der Unverfügbarkeit seines zeitlich verfassten Seins. So scheitert der Versuch, „die Identität und Ganzheit des eigenen Lebens auf das Jetzt der Gegenwart des Ich zu begründen“1477. Soll der vergängliche Moment des Ich das Ganze 1470 1471 1472 1473

1474 1475 1476

1477

Vgl. III.4.2.1. STh II 117 (kursiv im Original). STh II 303 (kursiv hervorgehoben A.V.) Pannenberg kritisiert darum an Heidegger: „Heidegger hat in Sein und Zeit (1927) diese Herauslösung der Zeit aus ihrer Fundierung durch die Ewigkeit vollendet, indem er die Zeit nicht nur auf eine allgemeine Struktur transzendentaler Subjektivität, sondern auf den konkreten Vollzug des sich selber ‚zeitigenden‘ Daseins begründete. Christliche Theologie wird darin eine Beschreibung der Verkehrung der Konstitution der Zeit erblicken, wie sie im Lebensvollzug des Sünders tatsächlich stattfindet. Aber noch diese Verkehrung setzt die Fundierung der Kontinuität und Einheit der Zeit auf die göttliche Ewigkeit immer schon voraus.“ (STh III 645 f.) Vgl. STh II 298. STh III 629. Zu einer im Anschluss an Aristoteles gewonnenen, positiven Bestimmung von Endlichkeit, die – im Gegensatz zur Unendlichkeit – eine Vollendung das Daseins ermöglicht, vgl. Slenczka, Endlichkeit, 291 ff. Diese Bestimmung von Endlichkeit identifiziert Endlichkeit und Sterblichkeit, vgl. ebd. 296. Pannenberg wiederum setzt Endlichkeit nicht mit Sterblichkeit gleich. Zwar fällt beides in der Zeit ineinander, eschatologisch gilt dies jedoch nicht mehr, vgl. STh II 310 f. Allerdings braucht es nach Pannenberg jedoch sehr wohl die Endlichkeit der Universalgeschichte im Sinne eines Endes ihres zeitlichen Verlaufs, damit diese nicht unvollendbar und undeutbar ins Leere läuft, vgl. STh III 632. STh III 644. Die dem Geschöpf von Gott gegebene, gute Zeit und die Verkehrung im Verhältnis zu ihr durch den Sünder dürfen jedoch nicht gleichgesetzt werden, vgl. STh III 646.

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sein, vergeht das Ganze und geht somit verloren. „So wird unsere Endlichkeit uns zum Tod.“1478 Im Anschluss an diese bereits unter III.2.2.2 dargelegten Überlegungen Pannenbergs wird in seiner theologischen Deutung menschlichen Daseins der Tod als Folge der Sünde verstehbar. Der Ausgriff des Menschen auf die Ganzheit seines Selbst wird nämlich da zur Sünde, wo der Mensch „das ‚Sein wie Gott‘ als ‚Raub‘ an sich zu reißen [versucht], um es der eigenen Endlichkeit einzuverleiben, statt diese im Dienste ihrer göttlichen Bestimmung zum Lobe Gottes zu leben.“1479 Der Tod ist hierbei, anders als die Endlichkeit, nur in Verbindung mit der Sünde, nämlich als ihre „Wesensfolge“1480, ein Bestandteil der Schöpfung. Zwischen Endlichkeit und Sterblichkeit muss daher, wie oben und unter III.2.2.2 bereits erwähnt, unterschieden werden:1481 „Die eschatologische Hoffnung der Christen kennt eine Endlichkeit geschöpflichen Daseins ohne Tod. Darum kann der Tod nicht notwendig zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins gehören. Nur für das Dasein in der Zeit bleibt bestehen, daß Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens zusammengehören.“1482 Grund hierfür ist nicht die Zeit, sondern die Sünde. Der Tod kommt dabei nicht äußerlich zur Sünde hinzu, sondern er entspricht dem Wesen der Sünde, das in der Abkehr von Gott besteht – und damit der Quelle des Lebens.1483 Sein Leben erscheint dem Menschen nach der Abkehr von der Quelle des Lebens erst recht als Leben „im Schatten des Todes“1484. Die Furcht vor dem Tod motiviert den Menschen nun zwar zu noch mehr entschlossener Selbstbehauptung, verwehrt ihm aber dadurch andererseits, sein Leben, so wie es ist, anzunehmen.1485 Daraus ergibt sich eine verhängnisvolle Abwärtsspirale: Sünde bedeutet Tod und Todesfurcht treibt in Sünde. Es ist die erhaltende Schöpfergüte Gottes, die dem Menschen trotzdem 1478 STh III 606. 1479 A 228. 1480 STh II 313. Pannenberg kritisiert von daher die Unterscheidung eines natürlichen Todes, der zum Menschsein gehöre, vgl. STh III 603 f., und eines Gerichtstodes. Auch den Tod als Strafe der Sünde zu bezeichnen problematisiert Pannenberg, da auf diese Weise ein äußerliches Hinzukommen des Todes zur Sünde impliziert wird. Tod und Sünde stehen aber in einem Wesenszusammenhang. Pannenberg spricht von einer inneren Folgerichtigkeit, die zu vergleichen ist mit einer naturgesetzlichen Abfolge, vgl. STh II 309. Da der Tod schon vor dem Menschen in der Welt war, spekuliert Pannenberg, schon in der vormenschlichen Evolution des Lebens scheine sich eine „dämonische Dynamik“ (STh II 313) aufgebaut zu haben. 1481 Vgl. STh III 603. 1482 STh II 311. 1483 Vgl. STh II 304. 1484 STh II 312. 1485 Vgl. STh II 312.

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immer wieder Augenblicke ursprünglicher Lebensfreude und die Erfahrung erfüllter Zeit schenkt.1486 Doch anstatt sich in der sündigen Verweigerung der eigenen Endlichkeit an den Augenblick zu klammern, darf der Mensch sich als endliches Wesen der Zukunft Gottes anvertrauen, da sich ihm im Vertrauen auf Jesus Christus „die Zukunft des Menschen“1487 eröffnet. Diese gilt allen Menschen und tritt an den Christen bereits gegenwärtig in Erscheinung: „Für den christlichen Glauben ist Jesus Christus die Zukunft des Menschen. […] Was durch Jesus Christus geschehen ist, das ist […] nicht nur für die Christen und ihre Zukunft bedeutsam, sondern für die Zukunft der Menschheit überhaupt. An den Christen aber tritt die Zukunft der Menschheit jetzt schon in Erscheinung“1488. Die Zukunft des Menschen liegt in der Auferstehung mit Christus.1489 Die Art, wie der Anteil an der Auferstehungszukunft gegenwärtig in Erscheinung tritt, beschreibt Pannenberg über den Einsatz des Lebens und damit das Freigeben desselben, nämlich als Teilhabe am Tod Christi: „Die Zukunft des Menschen in der Auferstehung Jesu Christi ist […] gegenwärtig wirksam als Teilhabe an seinem Tode. Dabei ist […] nicht nur das Ereignis des Todes selber gemeint, sondern das Leben aus der Kraft der kommenden Gottesherrschaft, die dazu befähigt, das eigene Leben einzusetzen und aufzuopfern für die Sache Gottes in der Welt, im Dienste an Gottes Liebeswillen, der der Welt zugewandt ist und darauf zielt, allen Menschen den Frieden der Gottesherrschaft zu vermitteln.“1490 Gerade dieses „in Dienst“ genommen sein „für die Gemeinschaft der Menschen“ bedeutet „individuelle Erfüllung“1491 – und den Gegenentwurf zur amor sui. Ein Christ kann so sein Leben in jedem Augenblick als Durchgangsmoment auf dem Weg zur Vollendung deuten, besonders im Hinblick auf seine Mitmenschen je heute bewusst füllen und freigeben. Die Vollendung wiederum, auf die hin der Christ sein Leben freigibt, versteht Pannenberg als schöpfungsgemäße Gottesebenbildlichkeit und bezieht sie nicht auf einen mythologischen Ursprung zurück-, sondern auf die Zukunft voraus.1492 So 1486 1487 1488 1489 1490 1491 1492

Vgl. STh II 313 f. GSTh 2, 175. GSTh 2, 175. Vgl. GSTh 2, 182. GSTh 2, 183. GSTh 2, 183. Vgl. Wenz, Theologie, 139 f.

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ist das Prädikat »sehr gut«, das in Gen 1 der Schöpfung zukommt, und das Lob Gottes durch die Schöpfung in den Psalmen als Vorgriff auf die Vollendung der Schöpfung in Christus zu verstehen.1493 Erst mit der Vollendung der Welt kommt ihre Schöpfung zum Abschluss. Klammert der Mensch sich an sein momentanes Jetzt, verschließt er sich also der Wesenszukunft seines Selbst. Gibt er sein Jetzt im Vertrauen auf Christus frei, kann eben jene Zukunft seines Selbst und der Welt bereits jetzt in Erscheinung treten und seine Gegenwart erfüllen. Das Ziel der Gottesebenbildlichkeit ist dem Menschen dabei zunächst nicht explizit bewusst. Pannenberg verortet es zunächst einmal implizit im Drang, sein Leben intersubjektiv und über die Sphäre des Endlichen hinaus zu transzendieren sowie in einem tragenden Grundvertrauen ins Dasein.1494 Sein Lebensganzes ist dem Menschen dadurch, wenn auch nur vage, als Gefühl präsent. Pannenberg verortet in diesem präsent sein eine ferne „Entsprechung“1495 des Jetzt von Gott und Mensch, wobei der Mensch im Gegensatz zu Gott erst durch Erinnerung und Erwartung auf seine Ganzheit ausgreifen muss. Um seine Lebensmomente als Durchgangsmomente nicht nur zu akzeptieren, sondern auch mit Gründen deuten zu können, braucht es dabei eine eschatologische Perspektive auf das Ende der Geschichte überhaupt: „Jede Einzelerfahrung setzt als Bedingung ihrer Bestimmtheit ein Ende der Geschichte voraus, von dem her die Geschichte nicht nur der Menschheit, sondern des Universums als Gesamtprozeß konstituiert ist.“1496 Es reicht also nicht, dass der Mensch stirbt, damit eine Vollendung oder auch nur die Deutung seiner Existenz möglich wird, es reicht hierfür auch nicht, dass es eine Universalgeschichte gibt oder eine solche zumindest postuliert wird, sondern eben diese Universalgeschichte als Geschichte des Universums muss hierfür enden. Der geschichtlichen Existenz des Menschen kann nur dann ein Sinn zukommen, „wenn solche Vollendung seiner Geschichte selber geschichtliches Ereignis und als solches das Ende der Geschichte sein wird“1497. Ein Ende als Vollendung der Gesamtgeschichte ist nötig.1498 Sonst könnte alles immer noch in einem neuen Licht erscheinen. 1493 Vgl. STh II 196.201. Wird der Mensch Jesus gleichgestaltet, gewinnt er seine eigentliche Bestimmung der Gottesebenbildlichkeit. Pannenberg entdeckt dahinter mit der Theologie des 2. Jahrhunderts die Historisierung und Prozessualisierung der griechischen Vorstellung von einer menschlichen Wesensnatur. „Nicht mehr wird die Natur des Menschen als von Anfang an fertig und in jedem Individuum gleichmäßig realisiert gedacht, sondern das Menschsein des Menschen, seine Natur, ist nun verflüssigt in den Prozeß einer Geschichte auf die Zukunft des neuen Menschen hin.“ (GSTh 2, 177.) 1494 Vgl. STh II 263. 1495 STh III 644. Pannenberg greift auch hier wieder auf Augustin zurück. 1496 STh III 636. 1497 STh III 632. 1498 Vgl. STh III 632 f.

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Mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ist ein Ende der Welt in Form des Wärmetodes auch physikalisch wieder in den Blick gekommen. Möglich ist auch, dass das Universum nach einer Phase der Ausdehnung in eine Phase der Kontraktion übergeht, die in einer Singularität »endet«.1499 Dieses Ende läge weit hinter dem anzunehmenden Ende der Menschheit und bildete nicht unmittelbar, wie in der biblischen Eschatologie, das Ende ihrer Geschichte. Die Annahme eines eschatologisch qualifizierten Endes der Geschichte bleibt also auch vor dem Hintergrund eines physikalischen Endes der Welt höchst ungewiss.1500 Aufgrund der Geschichtlichkeit der Sinnerfahrung, die stets das Ende von Dingen beinhaltet und damit als Hinweis auf ein Ende der Dinge als solches interpretiert werden kann, kann auf ein Ende der Welt aber mit Gründen geschlossen werden – auch ohne einen Gottesgedanken als dessen Voraussetzung. Dieses Ende als Vollendung zu verstehen allerdings, wie es nötig wäre, damit der geschichtlichen Existenz des Menschen ein Sinn zugeschrieben werden könnte, bedarf es dann sehr wohl eines Gottesgedankens, da nur so nicht das Nichts, sondern Gottes Ewigkeit das Ende der Zeit darstellt.1501 Die Ausdrücklichkeit des Anvertrauens auf diese Zukunft hin bricht die Ichbefangenheit des Menschen auf und geht in der Konkretheit ihrer Inhalte über ein unthematisches Urvertrauen ins Leben hinaus. Die Ausdrücklichkeit dieses Anvertrauens wird, wie Pannenberg immer wieder betont, erst möglich aufgrund der geschichtlichen Offenbarung Gottes.1502 Für den geschichtlich verfassten Menschen bedarf es einer Geschichte, in der Gott sich als der alleinige Herr über das Zukünftige erweist,1503 und der Dynamik göttlichen Geistwirkens,1504 um die Verselbständigungstendenz des Menschen gegen Gott und die daraus resultierenden Konflikte mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu überwinden, so dass er seine Gegenwart sowohl freigeben als auch gerade darin annehmen und selbständig gestalten kann. Während Pannenberg dabei eine Vermittlung zwischen neuzeitlicher Denkweise und christlichem Glauben durch das Aufleuchten eines hoffnungsvollen Zukunfts1499 Vgl. STh II 184 f. 1500 „Der Schluß von strukturellen Implikationen unserer gegenwärtigen Erfahrung auf die künftige Realität eines Endes kann schon wegen der Kontingenz realen Geschehens auch im Verhältnis zu den Formen unserer Erfahrung (die deshalb nach Kant nur Antizipationen tatsächlicher Erfahrung sind) nicht apodiktisch sein.“ (STh III 638.) 1501 Vgl. STh III 639. 1502 Vgl. STh II 288. 1503 Für Israel heißt das: Im Blick auf seine Geschichte fand Israel im Erweis der Treue Gottes das Vertrauen in eine verheißungsvolle Zukunft. Verheißung und Verheißender traten dabei mehr und mehr ineinander, bis hin zum Erscheinen von Jesus, vgl. GSTh 1, 397. Fürs Christentum heißt das: „Der christliche Zukunftsglaube […] hängt ganz und gar an der Zukunft Gottes und seines Kommens zur Verwandlung dieser Welt.“ (BSTh 2, 286.) 1504 Der Geist Gottes gewährt dem Menschen Teilhabe an der Ewigkeit und damit seine Dauer. Er wirkt den Verselbständigungs- und damit auch Auflösungstendenzen geschöpflichen Lebens entgegen, vgl. STh II 104.124.

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horizonts, der dem Menschen in seiner Zukunftsausrichtung entspricht, auch in einem weitgehend säkularisierten Kontext möglich erscheint,1505 hält er die apokalyptische Vorstellung eines Weltendes mit zeitgenössischem Denken für schwer vermittelbar.1506 Pannenberg hält dennoch an ihr fest, da durch sie nicht nur die Vollendung des einzelnen Menschen denkmöglich wird, wie etwa in einer individualisierten Auferstehungshoffnung,1507 sondern auch die Vollendung der Geschichte der ganzen Menschheit, die letztlich wiederum auch den Einzelnen in der Sinnfrage seiner Existenz betrifft.1508 Für Pannenberg entscheidet die Frage der Eschatologie darüber hinaus die Frage nach der Wirklichkeit Gottes und damit auch die Frage nach der Tragfähigkeit seiner Verheißungen, denn Gott ist erst dann als Gott erwiesen, wenn sich die Zukunft so erfüllt, wie sie im Glauben an ihn antizipiert wurde.1509 Wo im Vorherigen (III.4.1.2; III.4.2.1) deutlich wurde, dass Pannenberg den Anfang der Welt als Anfang der Zeit versteht, ist nun klar geworden, dass er auch auf ein Ende der Welt-Zeit hin denkt, was Gegenwart, da sie dann Moment nicht in einer unendlichen und damit unbestimmbaren, sondern einer endlichen Abfolge, also Durchgangsmoment auf Vollendung hin ist, überhaupt erst im Eigentlichen deutbar macht.1510 4.2.3

Gegenwart als Zeit-Raum der Feldwirkung des Geistes

Als derart in ein Ganzes eingebunden wird Gegenwart bei Pannenberg als ZeitRaum der Feldwirkung des Geistes Gottes lesbar. Der Geist verbindet nämlich als zeitübergreifend anwesende, jeweils „gegenwartsbestimmende Macht im

1505 Vgl. GSTh 1, 18. Dabei ist zu beachten: „Angesichts der historischen Differenz der Moderne vom Urchristentum ist heute die Teilnahme an jenem urchristlichen Glauben nur unter der Bedingung ohne schwärmerische Selbstvergessenheit möglich, daß diese Differenz selbst ein Moment menschheitlicher Wirkung der in Jesus erschienenen Zukunft Gottes ist.“ (GSTh 1, 18.) Außerdem gilt: Die Differenz zwischen Weltlichem und Geistlichem und damit auch die Säkularität der politischen Ordnung der Gegenwart entspringt dem eschatologischen Bewusstsein des christlichen Glaubens, der die Spannung von Vorläufigem und Endgültigem offen hält, und bedarf desselben, um bewahrt zu werden, vgl. STh III 66. 1506 Vgl. STh III 574 ff. 1507 Auch diese hält Pannenberg jedoch für wertvoll, denn die Hoffnung auf ein ewiges Leben nach dem Tod entspricht seines Erachtens nicht dem selbstsüchtigen Egoismus des Einzelnen, sondern dem Willen des Schöpfers, dass seine Geschöpfe leben sollen. „Der Wille des Schöpfers rechtfertigt den Lebenshunger, der sich nicht genügen läßt an diesem irdischen Leben und sich mit nichts Geringerem zufriedengibt als der Teilhabe an Gottes Ewigkeit.“ (BSTh 2, 273.) 1508 Vgl. STh III 634. 1509 Vgl. STh III 583. 1510 Dass wiederum ewige Gegenwart nicht der Ungewissheit ihrer ewigen Zukunft anheim fällt, wäre dann damit erklärbar, dass ihr Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig sind. Somit ginge der Ausgriff auf sie nicht ins Ungewisse, auch wenn ihre Ausdehnung unendlich ist.

4.2 Zeit

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Glaubenden“1511 die Zeiten, wirkt er doch die antizipative Anwesenheit des Ganzen (III.2.2.3) und der „eschatologische[n] Heilszukunft“1512 im Glaubenden schon heute. Der Geist Gottes vergegenwärtigt, wie unter III.4.2.1 schon anklang, die Zukunft Gottes je jetzt, denn wo die Ewigkeitsteilhabe des Menschen zum Kreuzungspunkt zwischen Zeit und Ewigkeit wird, da sieht Pannenberg Geist am Werk. Pannenberg sucht dieses Geschehen mithilfe des aus der Philosophie und Physik entlehnten Begriffes eines Kraftfeldes und dessen Wirksamkeit in Zeit und Raum zu erklären. „In der schöpferischen Macht der Zukunft als Feld des Möglichen aber äußert sich die Dynamik des göttlichen Geistes in der Schöpfung.“1513 Es ist nämlich der Geist Gottes, durch den das Reich Gottes „gegenwärtig anbricht“1514. Gegenwart lässt sich von daher als Zeit-Raum der Feldwirkung des Geistes bestimmen, der Ursprung und Hervorbringer des eschatologischen Lebens (1 Kor 15,45 ff.)1515 und damit auch der kontingenten1516 Dynamik des Lebens heute ist, entsprechend 1511 1512 1513 1514 1515 1516

GSTh 2, 199. GSTh 2, 199. STh II 119. STh II 120. Vgl. Lee, Vollender, 44 ff. Pannenberg bestimmt die schöpferische Dynamik des Geistes als Ursprung der kontingenten Einzelereignisse sowie der dauerhaften Ordnungen des Naturgeschehens, vgl. STh II 124. Diese geistliche Dynamik bleibt der alltäglichen und naturwissenschaftlichen Betrachtung verborgen, ist ihr aber anschlussfähig und erweitert sie. Pannenberg entwickelt dabei einen spezifischen Begriff von Kontingenz. Die Ordnungen der Naturgesetze und das kontingente Wirken Gottes stehen demnach nicht im Widerspruch zueinander. Die Ordnungen der Naturgesetze sind sogar Mittel des kontingenten göttlichen Wirkens bei der Hervorbringung selbständiger Geschöpfe, da erst unter der Voraussetzung der Gleichförmigkeit elementarer Prozesse die thermodynamischen Schwankungen stationärer Zustände die Quelle neuer Entwicklungen werden können. „Erst unter der Voraussetzung der Gleichförmigkeit elementarer Prozesse können die thermodynamischen Schwankungen von stationären Zuständen zur Quelle von signifikant Neuem werden, und erst auf der Stufe menschlicher Kulturbildung gibt es jene komplexe Form des geschichtlich Einmaligen, die wir aus der menschlichen Geschichte kennen.“ (BSTh 2, 79.) Auch Naturgesetze haben dabei ihre Geschichte, sie sind nicht ewig. Das Auftreten von komplexen Strukturen wie Atomen und ihre Beschreibung in Naturgesetzen ist selber kontingent. Erst mit der menschlichen Kulturbildung begegnet dann das geschichtlich Einmalige. Auch die naturgesetzlichen Ordnungen haben aber ihre Geschichte, da sie erst auftraten, als die Voraussetzungen für sie gegeben waren: „Bevor Atome existieren, sind mathematische Formeln, die ihre innere Struktur und das Verhalten zueinander beschreiben, noch keine Naturgesetze.“ (BSTh 2, 79.) Dadurch werden sie aber selber zum kontingenten Faktum und der Begriff der Kontingenz kann nun umfassender gefüllt werden als nur mit NichtNotwendigkeit, da das einmalige Unableitbare und das geordnet Gleichförmige als kontingent erscheinen. Kontingent ist demnach, „was nicht unmöglich ist, aber nichtsein könnte und doch tatsächlich ist.“ (BSTh 2, 80 u. vgl. Pannenberg, Kontingenz, 1057.) Zum komplexen Gebrauch des Kontingenzbegriffs bei Pannenberg als „global, local, and nomological contingency“ vgl. auch Russel, Contingency, 23 ff. Pannenberg nimmt nämlich die Begrifflichkeit Russels in modifizierter Weise auf. Den Anfangs- und Rahmen-

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der Annahme Pannenbergs, dass Gegenwart primär als Wirkung ihrer (eschatologischen) Zukunft zu verstehen ist. Pannenberg verwendet den Feldbegriff dabei nicht nur als Metapher, sondern versteht ihn als »tatsächliche« Annäherung an die Realität Gottes.1517 Pannenberg deutet den Geist in seiner strukturierenden und belebenden Wirksamkeit also als Manifestation1518 eines göttlichen Feldes. Gott als Geist1519 wirkt „als alles durchbedingungen des Universums kommt demnach nomologische Kontingenz zu, dem Universum hinsichtlich der Rolle der Naturkonstanten für die Geschichte der Natur globale Kontingenz und beides steht noch im Unterschied zur local contingency des geschichtlichen Geschehens, vgl. Pannenberg, Kontingenz, 1054 f. Überdies sucht Pannenberg über den Kontingenzbegriff seine Vorstellung der Personenhaftigkeit Gottes zu plausibilisieren: „Die Kontingenz der Ereignisse ist eine entscheidende Vorbedingung für alles Reden von einer Macht der Zukunft, insbesondere als personhaft wirkender Macht“ (ThRG 15). „Die Kontingenz [von Ereignissen im growing block der Universalgeschichte als werdendem Totum; Anm. d. Vf.in] geht nicht verloren, weil das jeweils Einzugliedernde aus der unbestimmten Zukunft kommt.“ (Zelger, Universaltheorie, 151 Anm. 26.). Balthasar umschreibt die zukunftsbezogene Spitze des Kontingenzbegriffs Pannenbergs daher zu Recht so: „[G]emeint ist: das nicht von der Vergangenheit her Notwendige“ (TL III 389). 1517 D. h.: nicht als poetische Metapher, sondern als Verallgemeinerung physikalischer Züge des Feldbegriffs wie der wellenförmigen Ausbreitung von Feldwirkungen, vgl. BSTh 2, 64. Lebkücher hält dagegen, dass Pannenbergs Auslegung des Feldbegriffs nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine gelungene Metapher (und zwar im engeren Sinne einer Übertragung von Bedeutungsgehalten zwischen sich eigentlich nicht entsprechenden Bedeutungszusammenhängen) darstellt. Pannenberg ontologisiere damit eine physikalische Verhältnisbestimmung. Dabei seien Pannenberg jedoch einige Fehler unterlaufen. So sind Felder nicht zwangsläufig als primäre Realität zu deuten, der gegenüber Materie sekundär wäre oder die von Materie unabhängig wären. Auch sei die Physik als solche entgegen Pannenbergs Einschätzung nicht »geistiger« geworden. Überdies kritisiert Lebkücher, der Feldbegriff sei weder, wie Pannenberg postuliert, aus dem antiken Pneumabegriff noch von Faraday herleitbar. Und würde Pannenberg den Feldbegriff tatsächlich im physikalischen Sinne verwenden, gäbe es keinen Raum mehr für Kontingenz und Gott selbst wäre nicht mehr frei, vgl. Lebkücher, Natur, 65–109.210 f. 1518 Pannenberg spricht von einer »Singularität« im Feld Gottes, vgl. STh II 104. Er möchte damit verhindern, dass der Geist selbst als unpersönliches Feld erscheint, jedoch kann dieser Eindruck bei der Verwendung des Feldbegriffs schwerlich ganz ausgeräumt werden. 1519 Pannenberg weitete seine Verwendung des Feldbegriffes schließlich bis auf die Trinität aus, da Gott Geist ist (Joh 4,24). Die unendliche Ganzheit, die allen Raum- und Zeitgrößen vorauszusetzen sei, sei als aller Teilung in Raum und Zeit vorgängig zu denken, und philosophisch daher zu Recht mit der göttlichen Ewigkeit identifiziert worden. Die Anwendung des Feldbegriffs nicht nur auf den Geist-, sondern auch auch auf den Gottesgedanken gewinne so philosophische Plausibilität, denn bedinge Ewigkeit wie nach Plotin Zeit, könne das Feld der göttlichen Unermesslichkeit dementsprechend die Möglichkeit physikalischer Kraftfelder bedingen. Pannenberg weist selbst darauf hin, dass Materie und Naturgesetze damit nicht als sekundäres Phänomen einer geistigen Dynamik aufgewiesen sind, und sich seine Hypothesen nicht aus der Physik ableiten lassen, vgl. BSTh 2, 66. Eine Vermittlung zwischen Theologie, Philosophie und Physik, und damit einhergehend eine plausible Näherbestimmung des Gottesgedankens, erscheint ihm über den Feldbe-

4.2 Zeit

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dringendes und dynamisch durchwaltendes Feld“1520 dabei in allem, ohne von einer Vermittlungsinstanz abhängig zu sein, eben sowenig wie ein Kraftfeld der Luft oder eines Äthers bedarf, um wirksam zu sein. Vermittels Geist wird also das Ganze gegenwärtig (III.2.2.3), da (Gott als) Geist das Ganze durchwirkt. Pannenberg verknüpft seine Pneumatologie, indem er das Wirken des Geistes als Ausdruck der „schöpferischen Macht der Zukunft als Feld des Möglichen“1521 versteht, semantisch mit einem relativitätstheoretischen Verständnis der Raumzeit, nach dem Raum nicht in Eigenschaften und Beziehungen von Körpern aufgeht, sondern „Raum selbst als Feld zum physikalischen Gegenstand“1522 wird. Für Pannenberg bildet vor diesem Hintergrund nicht Bewusstsein, sondern die raumzeitliche Größe der Bewegung den Inbegriff der Feldwirkung des Geistes.1523 Pannenberg möchte damit die subjektivistische Verengung des Geistes auf das Bewusstsein sowie den cartesianischen Dualismus aus Geist und Materie überwinden.1524 Die Erfahrung von Geist als raumzeitlich wirksamem Feld des Möglichen wäre demnach zudem nicht allein der christliche Sonderfall, sondern Ausdruck allgemein menschlicher Erfahrung.1525 Das πνεῦμα korreliert damit weniger dem νοῦς als vielmehr der ַ‫ ;רוּח‬eine Korrelation, wie Pannenberg sie vergleichbar in der begriffsgeschichtlichen Tradition der stoischen Pneumalehren ausmacht.1526 Pannenberg knüpft damit aber in erster Linie an die biblische, schöpfungstheologische Tradition an, nach der die ַ‫רוּח‬ Ursprung und Prinzip des Lebens ist (Gen 1,2; Jes 31,3; Ps 104,29 f.), nicht allein Chiffre des Bewusstseins oder der Vernunft. Der Geist des Menschen ist demnach nicht sein Geist, sondern ַ‫ רוּח‬wird vom Menschen empfangen und wirkt in ihm.1527

1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526

1527

griff allerdings denkbar. Über ihn werde die aller Teilung in Raum und Zeit vorgängige Ganzheit als reale Bedingung der Möglichkeit alles Teilhaften in Raum und Zeit erfasst. Pannenberg kritisiert demgegenüber an Kant, dieser habe „die theologische Dimension im Gedanken der Vorordnung des Ganzen von Raum und Zeit vor aller Erfassung bestimmter Raum- und Zeitgrößen abgeschnitten, indem er Raum und Zeit zu bloßen Anschauungsformen der menschlichen Subjektivität erklärte.“ (BSTh 2, 65.) Pannenberg nennt dies eine „anthropologische Reduktion“ (BSTh 2, 65). Lebkücher weist sowohl auf diese Entwicklung als auch die daraus zugleich resultierende Unschärfe des Feldbegriffes bei Pannenberg hin, der den Feldbegriff zunächst auf den Geist Gottes und später dann auch auf die Trinität sowie in der Schöpfungslehre anwandte, vgl. Lebkücher, Natur, 72 f. BSTh 2, 64. STh II 119. BSTh 2, 59. Vgl. BSTh 2, 67; STh III 19. Vgl. Lee, Vollender, 56. Vgl. Lee, Vollender, 62 f. Gottes Geistwirken im Gottesvolk und der Kirche ist daher ein spezifischer Fall eines Geistwirkens, das alle Menschen betrifft. Pannenberg verweist hierfür auf Max Jammer, vgl. BSTh 2, 64. Lebkücher vermerkt herzu kritisch, dass Jammer nicht die Herkunft, sondern die Verwandtschaft der antiken philosophischen Begrifflichkeit mit modernen Feldtheorien darstellt, vgl. Lebkücher, Natur, 96 f. Pannenberg notiert, Aussagen über einen Geist des Menschen im Unterschied zum Geist

236

III. Wolfhart Pannenberg

Die „säuberliche Trennung“1528 von menschlichem Geist und Geist Gottes sieht Pannenberg darum nicht als Exegese, sondern vielmehr als Eisegese an. Die biblischen Texte sprächen unbefangen von einem „Anteil der menschlichen Seele an der Kraft des göttlichen Geistes“1529. Der Geist des Menschen partizipiert demnach am Geist Gottes. Dies geschieht vor allem dort, wo er sein Leben auf andere hin überschreitet.1530 Pannenberg versteht damit die Bibel, in der der Geist als Prinzip des Lebens und in Entsprechung zur Dynamik des Windes vorgestellt wird, als Quelle eines nicht auf das Bewusstsein eingeengten Geist-Begriffs. Bereits das biblische Reden vom Geist und Atem Gottes impliziert und entspricht nämlich raumzeitlichen Vorstellungen (Gen 1,2; Ps 104,30), die Pannenberg nicht spiritualisierend auflösen möchte.1531 Raum erscheint im Rahmen dieser Überlegungen Pannenbergs zu „Raum und Zeit als Aspekte[n] des Geistwirkens“1532 nicht als vorgegebene Größe, die Gott füllen müsste, sondern die „Raum konstituierende Unermeßlichkeit Gottes“1533 ist dem geschöpflichen Raum vorgegebener absoluter Raum. Dieser Gottesraum ist nicht geometrisch aufzufassen, was ein pantheistisches Gottesbild oder die Vorstellung eines leeren Raumes als Behälter für die Welt zur Folge hätte, sondern bezeichnet die relationale Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung. So wird der geschöpfliche Raum gebildet durch Relationen, denen der trinitarische Beziehungsraum Gottes zugrunde liegt.1534 Gott, der in seiner Unendlichkeit allen Dingen gegenwärtig

1528 1529 1530

1531 1532 1533 1534

Gottes fänden sich nur am Rande der Bibel, vgl. A 514. Aus der Teilhabe des Menschen am Geist, der „auch Ursprung alles Lebens außer uns ist, Ursprung der unterschiedlichen Gestalten geschöpflicher Wirklichkeit“ (BSTh 2, 135) leitet Pannenberg zudem die These ab, diese Teilhabe vermöge zu bewirken, dass die menschliche Wahrnehmung der Welt nicht durch Sinnes- und Gehirnaktivität hoffnungslos verfälscht werde. Der Mensch vermöge die Welt also tatsächlich vergleichsweise adäquat wahrzunehmen. Schließlich vermutet Pannenberg noch, mit dieser Annahme könne der Zirkel vermieden werden, der sich daraus ergibt, dass das Bewusstseins zugleich Ursprung von Kultur und Sprache sein soll und diesen doch auch entsprungen ist, vgl. BSTh 2, 132. BSTh 2, 129. BSTh 2, 131. Vgl. Lee, Vollender, 65. Lee kritisiert dies als zu undeutliche Unterscheidung des ewigen Geistes Gottes vom geschaffenen, endlichen Geist des Menschen, vgl. Lee, Vollender, 238–244. Mit Dirscherl und anderen beanstandet Lee, dass Gottes Geist so in die Sündhaftigkeit des Menschen verstrickt werde und dass Pannenbergs Pneumatologie faktisch einem Panentheismus entspräche, vgl. Lee, Vollender, 241. Balthasar kritisiert an Pannenberg, er unterscheide den kosmologischen Geistbegriff des Alten Testaments zu wenig von dem soteriologischen des Neuen Testaments, dies weise „grob gesagt in Richtung auf eine gewisse Identität des transzendierenden menschlichen Geistes und eines irgendwie als «Weltseele» aufgefassten göttlichen Geistes“ (TL III 389), was mehr Anlehnung als, wie eigentlich intendiert, Distanzierung von Tillich sei, vgl. TL III 389. Vgl. STh II 105 f.; BSTh 2, 129. STh II 105. STh II 109. Vgl. STh II 107 ff.

4.2 Zeit

237

ist, konstituiert demnach in eben dieser Gegenwärtigkeit den Raum der Welt. Seine Unendlichkeit liegt auch der menschlichen Auffassung von räumlichen Verhältnissen zugrunde. Auch die Kontinuität der Zeit entsteht erst durch die räumliche Verbindung von Momenten. „Ohne Raum wäre Zeit nur eine Folge diskontinuierlicher Augenblicke.“1535 So verräumlicht auch die Relativitätstheorie Zeit, indem sie den Zusammenhang von Zeit, Ort und Geschwindigkeit darstellt. Sie bricht dadurch das Newtonsche Weltbild auf und entspricht doch der räumlichen Wahrnehmung der Zeit, die der Mensch seit alters her hatte, etwa wenn er die Zeit am Lauf der Sonne ablas.1536 Pannenberg tendiert dennoch zu einem Primat der Zeit vor dem Raum. Der Zeitbegriff erweist sich nach Pannenbergs Ansicht insofern als primär, als dass er für den Begriff des Raumes konstitutiv ist, denn Raum umfasst „das, was gleichzeitig gegenwärtig ist.“1537 Das heißt, es gibt keinen Raum ohne Gleichzeitigkeit. Die Unterscheidung von Raum und Zeit entsteht demnach erst aus menschlicher Reflexion, nämlich der Unterscheidung von Nebeneinander und Nacheinander. Die Reduktion Pichts von Raum auf Zeit, nach der Raum Zeit ist,1538 bezeichnet Pannenberg zwar als „überspitzt“, betrachtet sie aber nichtsdestotrotz als „Bedingung für eine theologische Interpretation der Gegenwart Gottes im Raum als dynamische Wirksamkeit des göttlichen Geistes.“1539 Er beschreibt die raumzeitlich strukturierte Feldwirkung des göttlichen Geistes dementsprechend unter Hervorhebung zeitlicher Termini wie Gleichzeitigkeit und Dauer: „So ist die Dynamik des göttlichen Geistes als Wirkungsfeld in Verbindung mit Zeit und Raum zu denken: mit der Zeit durch die Macht der Zukunft, die den Geschöpfen eine eigene Gegenwart und Dauer gewährt, mit dem Raum durch die Gleichzeitigkeit der Geschöpfe in ihrer Dauer.“1540 Der Relativitätstheorie zufolge kann es zwar keine absolute Gleichzeitigkeit geben, da Geschwindigkeit und Zeit korrelieren. Gleichzeitigkeit wird damit aber nicht

1535 1536 1537 1538 1539

Pannenberg, Metaphysik, 65. Vgl. Pannenberg, Mensch, 52. STh II 111. Vgl. STh II 111. STh II 111. Pannenberg ist „der Meinung, wenn der Raum als Form der Gleichzeitigkeit im Nebeneinander der Erscheinungen zu verstehen ist, dann kann man die Verräumlichung der Zeit schon in der ‚präparierten Zeit‘ der naturwissenschaftlichen Zeitmessung und folglich im naturwissenschaftlichen Modell der Raum-Zeit oder des Raum-ZeitEnergiefeldes als ‚Extrapolation‘ der faktisch immer begrenzten Teilhabe des zeitüberbrückenden menschlichen Bewußtseins an der ewigen Gegenwart Gottes begreifen.“ (Lee, Vollender, 99.) 1540 STh II 124.

238

III. Wolfhart Pannenberg

zur Gänze eliminiert, sondern eben im Wortsinne relativiert, da sie relativ zu beziehen ist auf Ort und Geschwindigkeit des Beobachters. „Solche relative Gleichzeitigkeit ist stets Gleichzeitigkeit des in sich Ungleichzeitigen. Im Falle des menschlichen Zeitbewußtseins ist sie ermöglicht durch das Phänomen zeitüberbrückender Gegenwart, das wohl erstmalig von Augustin beschrieben worden ist. […] Das Erlebnis der Dauer ist die umfassendste und komplexeste Gestalt zeitübergreifender Gegenwart“1541. Der Mensch erlebt seine Gegenwartsdauer also nicht als absolute, sondern als relative Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in Raum und Zeit. Auf das Ganze auszugreifen ist dem Menschen dabei nur möglich, da er Anteil am Geist hat, in dem in relativer Gleichzeitigkeit das Ganze anwesend ist (III.2.2.3). Als „Medium der Unmittelbarkeit jedes einzelnen Christen zu Gott“1542 verbindet der Geist die Christen hierbei zu einer Gemeinschaft und konstituiert damit die Kirche, die auf die Zukunft „einer im Reiche Gottes erneuerten Menschheit“1543 verweist, wie nun darzulegen ist.

4.3

Die Gemeinschaft der Glaubenden. Ekklesiologisch qualifizierte Gegenwart

Kirchengebäude und die darin vorfindlichen Kunstwerke sind häufig Jahrhunderte alt. Agendarische Sprache und Formen liturgischer Elemente rekurrieren teils bis auf mittelalterliche oder altkirchliche Formeln. Gottesdienste halten die Musik vergangener Jahrhunderte am Leben. Biblische Texte und kirchengeschichtliche Gestalten verweisen auf die lange Geschichte der Kirche. Doch nichts entspräche weniger dem eigentlichen Wesen der Kirche als die Ausrichtung in die Vergangenheit, geht es nach Pannenberg. Für ihn ist die Kirche durch ihren Christusbezug in herausragender Weise der Ort der Antizipation der Zukunft in der Gegenwart. Für die folgenden Kapitel sind Aspekte der Ekklesiologie Pannenbergs relevant, wie er sie vor allem in STh III entfaltet. Dabei ist seine Bestimmung der Kirche über den Zeichenbegriff hervorzuheben, denn „[g]erade als Zeichen ist das gottesdienstliche Leben der Kirche […] wirksame Gegenwart und Vermittlung des künftigen Heils.“1544 Die Kirche erzählt also nicht nur vom Reich Gottes, sondern es bricht in ihr an.1545 In der Kirche wird Zukunft demnach nicht nur verkün1541 1542 1543 1544 1545

STh II 112. STh III 154. STh III 155. STh III 44. Vgl. STh III 40 ff.

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

239

digt, sondern zeichenhaft gewinnt sie sakramental bereits gegenwärtig Gestalt. Die Kirche gewinnt dabei in einem Wechselspiel aus Antizipation der Zukunft und Selbstunterscheidung von derselben ihre Gestalt, und zwar als auf Freiwilligkeit beruhende Gemeinschaft von Menschen, die diese Zukunft erwarten, und damit als Gemeinschaft der Glaubenden. In gemeinsamen Gegenwartsherausforderungen und vor allem der gemeinsamen Zukunft aller Christinnen und Christen erblickt Pannenberg dabei den aussichtsreichsten Hoffnungsgrund ökumenischer Bestrebungen (III.4.3.1). Nachdem so die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden betrachtet wurde ist noch ein abschließender Blick auf den einzelnen Menschen als Glaubenden zu werfen. Der christliche Glaube geht dabei insofern über den antizipativen Selbstentwurf eines jeden Menschen, der unter III.2.3 als Modus des Glaubens beschrieben wurde, noch hinaus, als dass er sich auf einen bestimmten, historisch vermittelten Glaubensgrund und eine darüber vermittelte spezifische Zukunftshoffnung bezieht. Dabei kann er nicht einfach als wahr vorausgesetzt werden. Die christliche Glaubensgewissheit erscheint durch ihre Verankerung im Christusgeschehen bei Pannenberg dennoch quasi als Ziel-Form menschlicher Selbstvergewisserung. Die christliche Heilsgewissheit gründet aber nicht im Menschen, sondern in der Verheißung Gottes. Das neue Selbstverhältnis nämlich, das der Glaube begründet, kann im Glauben nur darum begründet sein, weil der Glaubensgrund nicht im Menschen selbst liegt (III.4.3.2). 4.3.1

Antizipation und Selbstunterscheidung. Kirche als sakramental begründetes Zukunftszeichen heute

„Die Kirche eröffnet in einer säkularen Gesellschaft dem einzelnen die Chance, jetzt schon an der letzten Bestimmung alles menschlichen Lebens teilzuhaben.“1546 In diesem Auftrag kann sie ihren „Beitrag zum gesellschaftlichen Leben“1547 leisten. Als Institution verfügt die Kirche zwar nicht über die Gegenwart der im Evangelium1548 versprochenen Zukunft Gottes, doch durch den Geist wird diese in ihr durch die Verkündigung des Evangeliums „Ereignis“1549, so dass die Kirche „die pneumatische Gegenwartsgestalt der Zukunft Christi“1550 darstellt. Das Reich Gottes, das Inbegriff dieser Zukunft ist, und die Kirche sind dabei nicht identisch. Vielmehr verweist die Kirche als „Zeichen“1551 auf das Reich Gottes. „Nur in der Weise 1546 ThRG 45. 1547 ThRG 45. 1548 Das Evangelium ist Quelle des Daseins der Kirche, da es gegenüber der Kirche die Autorität Christi repräsentiert. Pannenberg versteht das Evangelium darum ausdrücklich nicht als Produkt der Kirche, sondern betont: „Die Kirche ist creatura verbi.“ (STh II 510.) 1549 STh III 50. 1550 Wenz, Theologie, 199 (im Original kursiv). Vgl. A 517. 1551 STh III 44.45.50 u. ö.

240

III. Wolfhart Pannenberg

des Zeichens, nicht in ungebrochener Realität ist diese Zukunft in der Kirche schon Gegenwart.“1552 Als „vorläufige Darstellung der Zukunft der Menschheit“1553 ist die Kirche mit dem Reich Gottes also nicht identisch,1554 sondern „Antizipation der künftigen Gemeinschaft einer im Reiche Gottes zu erneuernden Menschheit“1555. Damit die „Heilszukunft Gottes“1556 in der Kirche als ihrem Zeichen dennoch gegenwärtig wird, braucht es eine „Wirklichkeit, die in eine andere Wirklichkeit wirksam hineinwirkt und -reicht, ohne sich diese im Sinne einer teilweisen oder vollständigen Identität schlicht und notwendig ‚einzuverleiben‘. Solches wird gefunden im Denken personaler Verhältnisse.“1557 Es ist nämlich die als „Dependenzverhältnis“1558 quasi personale Selbstunterscheidung der Kirche von der Gottesherrschaft, durch die die Kirche als zeichenhafte Antizipation des Reiches Gottes erkennbar wird. Die Kirche kann ihre Funktion, inmitten der weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen und Krisen bereits jetzt Modell des Reiches Gottes zu sein,1559 nur unter der Bedingung wahrnehmen, dass sie sich nicht mit dem Reich Gottes identifiziert,1560 sondern sich davon unterscheidet.1561 Erst in der Selbstunterscheidung von der Zukunft Gottes gewinnt eben diese Zukunft Raum in der Gegenwart.1562 Die ihren Status begründende Erwählung1563 der Kirche bezieht dabei potenziell alle Menschen mit ein, so dass die Kirche antizipatorisches „Zeichen und vorläufige 1552 STh III 59. In Zeiten des Leidens und der Verfolgung ist die Zeichenhaftigkeit der Kirche häufig stärker hervorgetreten als in Zeiten äußerlichen Wohlergehens, vgl. STh III 45. 1553 STh III 471, vgl. auch STh III 501 f. Die Erwählung durch Gott zielt letztlich auf die Inklusion aller hin, also der gesamten Menschheit, vgl. STh III 564 f. Für Pannenberg ist die Weite der christlichen Hoffnung, die Menschen aller Zeiten einbezieht, ein Argument gegen Feuerbach, der dem Christentum Heilsegoismus vorwarf, vgl. STh III 203. Vgl. auch ThRG 47: „Die Gegenwart der Zukunft Gottes durch Glaube und Hoffnung umgreift die ganze Welt.“ Eine solche Ganzheit kann nicht solitär erreicht werden. 1554 Vgl. STh III 42.503. 1555 STh III 32, vgl. STh III 44 u. ö. „Werkzeug für die Einheit der Menschen mit Gott und untereinander“, also für die „künftige[…] Gemeinschaft im Reiche Gottes“ ist die Kirche „nur durch ihre Zeichenfunktion, nicht im Sinne der Herstellung des Reiches Gottes“ (STh III 61). 1556 STh III 50. 1557 Oehl, Zeichenbegriff, 82 (kursiv im Original). 1558 Oehl, Zeichenbegriff, 99. Die Kirche bleibt der transzendenten Wirklichkeit untergeordnet, die sich in Sendung und Gericht an ihr bekundet. In der Weise, in der Gott an der Kirche handelt, gewinnt die Differenz zwischen Gott und Kirche Gestalt; kontingent, konkret und bezogen auf die Einheit der Heilökonomie Gottes, die die Weltgeschichte umspannt, vgl. STh III 544. Die Kirche ist nicht einmal „unvollständige Anfangsgestalt des Reiches Gottes“ (STh III 42). 1559 Vgl. STh III 565. 1560 Vgl. GSTh 2, 205. 1561 Vgl. STh III 44 f. 1562 Vgl. GSTh 2, 205. 1563 Pannenberg nennt die Kirche das erwählte Gottesvolk der Endzeit, vgl. STh III 549. Für ihn ist es eine Frage der Erwählungslehre, ob die Kirche „auf ihrem Weg durch die

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

241

Darstellungsform der im Reiche Gottes versöhnten Menschheit“1564 als ganzer ist, wenn sie ihre konkrete Gestalt auch im Leben des Einzelnen und einer partiellen, gemeindlichen Gemeinschaft gewinnt. Auch Leben und Lehre der Kirche haben als Antizipation dabei stets vorläufige Form.1565 Vom Licht ihres Zukunfts-Ursprungs in Christus her muss die Kirche jeweils neu entscheiden, inwieweit Lehre und Bekenntnis reformbedürftig sind.1566 Die Kirche ist ihrer jeweiligen Gegenwart also verbunden und geht, auch in ihren Lebensäußerungen, doch nicht in ihr auf. Eben da die Kirche als Zeichen auf das Reich Gottes verweist, muss sie nämlich stets zwischen Endgültigem und Vorläufigem unterscheiden. Hieraus resultiert ihr Potenzial, menschliche Ordnungen zu relativieren und vor Totalitarismen zu warnen.1567 Diese kritische Funktion behält sie auch und gerade in einer Gesellschaft, die sich in steigendem Maße als säkular begreift.1568 Gemeinden, die sich nur geistlichen Fragen widmen und sich aus allem Politischen heraushalten wollen, „sind in Wirklichkeit Bastionen der Verteidigung des Bestehenden.“1569 Der kritischen Funktion der Kirche der Welt gegenüber entspricht es nicht, sich zu isolieren, da das kommende Gottesreich kein außerweltliches Phänomen ist, sondern „die künftige Bestimmung der gegenwärtigen Gesellschaft“1570. Jedoch ließe sich auch das gegenüber der Isolation andere Extrem eines theokratischen Staatssystems christlich nicht legitimieren. Zwar steht die Kirche für das Endgültige und der Staat für ein

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Geschichte Ort des eschatologischen Heils ist und faktisch als solcher erfahrbar wurde“ (STh III 11). STh II 509. Vgl. STh III 137. Und so wird die Einheit der Kirche angestrebt und ihre Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität wird geglaubt, nicht einfach konstatiert. Eben dieser Glaube an die Katholizität und Apostolizität der gegenwärtigen Kirche als Vorschein des Gottesreiches und Sendung der Kirche wird für ihre jeweilige Zeit produktiv, vgl. Pannenberg, Ekklesiologie, 240. Vgl. STh III 137 f. So kann es in gewisser Weise Fortschritte in der christlichen Lehre geben. Zwar gibt es nämlich keinen Fortschritt über Christus hinaus, doch gibt es durchaus Fortschritte, die nicht nur ein Vorankommen des persönlichen Glaubenswachstums sind, sondern es kann „Fortschritte im Verständnis seiner [gemeint ist Jesus Christus; Anm. d. Vf.in] damaligen Geschichte und ihrer Bedeutungszusammenhänge“ (BSTh 2, 289) geben. Dieser Fortschritt bedeutet „Reformation“ (BSTh 2, 291) als vertiefende Rückbesinnung auf den Ursprung. Die Spaltung der Kirche beurteilt Pannenberg dabei von Eph 4,13 her keinesfalls als Fortschritt, sondern eher als „Katastrophe“ (BSTh 2, 291). Auch unter christlichen Gesichtspunkten gibt es zudem durchaus Fortschritte in Recht, Gesellschaft und Kultur. Allein die hoch entwickelte Technik taugt als Diagnosekriterium für eine fortschrittliche Zeit jedoch nicht. Sie kann mit einem Niedergang von Kultur und Werten durchaus einhergehen, vgl. BSTh 2, 293. Vgl. STh III 69 f. Vgl. STh III 69–71. ThRG 43. ThRG 43.

242

III. Wolfhart Pannenberg

Vorläufiges, doch kann die Kirche kein Reich Gottes herbeiführen, denn:1571 „Die Wirkungen des Versöhnungsgeschehens bleiben in dieser vergehenden Welt partiell und verborgen.“1572 Durch Spaltungen, fehlende Herzensweite und Intoleranz wird die zeichenhafte Existenz der Kirche zudem immer wieder verdunkelt. Noch einmal ist darum zu betonen, dass die Kirche ihre gesellschaftsprägende Kraft nur dann entfaltet, wenn sie sich selbst vom künftigen Reich Gottes unterscheidet, und nicht den Anspruch erhebt, dieses unter der Aufhebung der Differenz von Geistlichem und Weltlichem gesellschaftlich selbst realisieren zu wollen. Dem Wesen der Kirche als Leib Christi entspricht es jedoch sehr wohl, dass das in ihr gegenwärtige eschatologische Heil durch diakonisches und missionarisches Handeln bereits heute in die Welt hineinwirkt.1573 Schon dadurch, dass die Kirche den Sonntag heiligt, fällt ein Zukunftsglanz in die Gegenwart, da der Sonntag für den Anbruch der eschatologischen Vollendung steht.1574 Über das diakonische Handeln und die Wortverkündigung hinaus vermittelt die Kirche vor allem durch die Sakramente ihren Zukunftsbezug zeichenhaft in die Gegenwart. Trotz berechtigter Kritik1575 am sakramentalen Zeichenbegriff, etwa dass theologiegeschichtlich der Geschehnischarakter des Wortes selbst darüber nicht immer adäquat erfasst wurde, bleibt ihm aus Pannenbergs Sicht doch das „Verdienst, das Ineinander von Gegenwart des Heils […] und noch ausstehendender 1571 Vgl. STh III 112 f. Jedwede menschliche Bemühung um Frieden und Gerechtigkeit, so nötig sie ist, behält den Charakter des Vorläufigen und Gebrechlichen, vgl. BSTh 2, 275. 1572 STh III 403. Die Kirche muss sich auch in ihrem gesellschaftsprägenden Engagement dessen bewusst bleiben, dass die von ihr angestoßenen Entwicklungen gesellschaftlichen Zusammenlebens stets vorläufige Gestalt haben und im besten Fall Abbild und Vorzeichen des Kommenden sind, vgl. STh III 518. Die eschatologische Gemeinschaft der Christen findet in keiner diesseitigen politischen Ordnung eine Gestalt, die ihr völlig entspräche, vgl. STh III 521. 1573 Vgl. STh III 470. 1574 Vgl. ThRG 50 f. Pannenberg geht grundlegend davon aus, dass die Unterscheidung von heilig und profan, die etwa Eliade wirkmächtig vornahm, in der Temporalität religiöser Erfahrung gründet, da in ihr gegenwärtig Vorhandenes und wahrhaft Wirkliches unterschieden werden, vgl. GSTh 2, 190 ff. Über die dem Menschen entgegenkommende Zukunft bricht demnach Heiligkeit in die profane Gegenwart ein. Die „Sphäre des Heiligen [rückt dabei] entsprechend der Orientierung Israels am Geschichtshandeln Jahwes von der Vergangenheit in die Zukunft“ (GSTh 2, 196) und „[i]m Urchristentum ist […] die Differenz von heilig und profan wieder durch die Zeitstruktur des religiösen Verhältnisses bestimmt“ (GSTh 2, 199), da heute schon geheiligt ist, wer sich der Zukunft Gottes anvertraut. 1575 So ist es kritisch zu sehen, wenn „die Deutung des Sakraments als Zeichen“ die „Sakramentalität Jesu Christi selbst und seiner Passion als des göttlichen Heilsmysteriums“ (STh III 382) zurücktreten lässt. In seinen kritischen Anmerkungen zu einem zeichenhaften Sakramentenverständnis folgt Pannenberg weitestgehend Ebeling, wenn er referiert: Wird das Wort als Zeichen gedeutet, das auf eine Sache weist, hält es zugleich von der Sache fern, vgl. STh III 383. Das Element im Sakrament überdeckt in einem solchen Zeichenverständnis den Geschehnischarakter des Wortes selbst, vgl. STh III 383 f.

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

243

Heilsvollendung zumindest näherungsweise zu erfassen.“1576 So realisieren Taufe und Abendmahl bereits im Jetzt zeichenhaft die Teilhabe am Reich Gottes, auch wenn auch sie zu unterscheiden bleiben von der künftigen, eschatologischen Vollendung.1577 Im „Vollzug des Zeichens“ ist „die Sache zugleich gegenwärtig“1578. Sakramental verdichtet sich damit die Zukunft im Jetzt. Taufe und Abendmahl werden dabei erst im Hinblick auf die durch sie zum Heil gegenwärtige Passion Christi zu sakramentalen Zeichen, und damit durch ihren Zusammenhang mit dem einen göttlichen Heilsmysterium in Jesus Christus.1579 Die zeichenhafte Darstellung des Kommenden in den Sakramenten geht in ihrer Bedeutung darum weit darüber hinaus, bloße Illustration zu sein. Vielmehr wird in ihr in Christus begründet, was sie zeigt. So wird ein Mensch in der Taufe Teil des Leibes Christi und im Abendmahl wird diese Gemeinschaft erneuert.1580 Der sakramentale Zeichenbegriff Pannenbergs ist darum von seinem ekklesiologischen Zeichenbegriff zu unterscheiden: Das Sakrament erscheint bei Pannenberg als Anbruch des Reiches Gottes, da es trotz der bleibenden Vorläufigkeit des Heute eine Identität im Anbruch1581 mit dem zukünftigen Sein im Reiche Gottes herstellt, wie sie die „durch die Geschichte gehende Institution“1582 Kirche selbst in ihrer Selbstunterscheidung vom Reich Gottes nicht darstellen kann. Die Kirche selbst ist nur insofern Sakrament – im Sinne von Heilsmysterium –, dass sie an Christus Anteil hat, „also im Ereignis der Teilhabe an Jesus Christus, wie es im gottesdienstlichen Leben der Kirche stattfindet.“1583 So hat die Kirche auch ihren Bestand von den Sakramenten her. Sie entsteht, schon da sie ja nicht durch leibliche Geburtenfolge Bestand hat, durch die Neugeburt der Taufe sakramental immer

1576 1577 1578 1579

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STh III 384. Vgl. STh III 267.473. STh III 387. Für Pannenbergs Sakramentenbegriff ist also die Zugehörigkeit des Geschehenden zum Heilsmysterium Christi entscheidend, vgl. STh III 369 ff.388.390.399.432. Indem Pannenberg auch in seiner Sakramentenlehre die antizipative Gegenwart der Vollendung in Christus betont, gelangt er zu einem vergleichsweise offenen Sakramentenbegriff. Ehe und Ordination könnte daher seines Erachtens auch in der evangelischen Dogmatik ein quasisakramentaler Charakter zugesprochen werden, vgl. STh III 391 ff. Ebenfalls kann, da Jesus da gegenwärtig wird, wo eine Beziehung auf sein Wirken und seine Person erkennbar wird, auch in diakonischem Engagement, Heilung und Evangelisation von einer quasi sakramentalen Gegenwart Christi gesprochen werden, vgl. STh III 389. All diesem kommt eine „sakramentale […] Zeichenhaftigkeit“ zu, wenn sie auch „keine rituellen Zeichenhandlungen sind.“ (Ebd.; kursiv im Original.) Vgl. STh III 324. Taufe und Abendmahl tragen in ihrem sakramentalen Vergegenwärtigungscharakter mythische Züge, so dass Pannenberg von einer Integration des Mythos in das Christentum ausgeht, nicht seiner Eliminierung, vgl. STh I 204. Vgl. Oehl, Zeichenbegriff, 96. Oehl, Zeichenbegriff, 96. STh III 55.

244

III. Wolfhart Pannenberg

wieder neu.1584 Zudem ist das Abendmahl für sie konstitutiv: „Darin hat die Kirche ihr Dasein extra se“1585. Auch der einzelne Mensch erfährt sein Dasein in den Sakramenten als extra se gegründet in Christus. So wird auch der Getaufte durch das einmalige Augenblicksereignis der Taufe mit bleibender Wirkung zum Getauften, da er nie wieder Ungetaufter sein wird.1586 Erfüllt ist das Zeichen der Taufe jedoch erst, wenn der Mensch der Richtung folgt, in die es zeichenhaft und wirksam zeigt,1587 nämlich die eschatologische Zukunft des Menschen.1588 Als „zeichenhafte Antizipation der ganzen Lebensgeschichte des Getauften von deren Ende her“ ist die Taufe nämlich angewiesen auf „den Nachvollzug durch Aneignung ihres Inhalts im Glauben.“1589 Das Leben der Christen wird darum zum „Nachvollzug des in der Zeichenhandlung vorwegnehmend Dargestellten.“1590 Die lebensgeschichtliche Einholung der Sakramente ist also unerlässlich. Das Abendmahl setzt hierbei die Mahlgemeinschaft der ersten Christen mit Jesus fort.1591 Schon die Gastmähler Jesu waren durch seine Teilnahme „Zeichen der Gegenwart des Gottesreiches“1592 und zeugten von der künftigen Aufnahme der Teilnehmenden in das kommende Reich Gottes. Als primär „eschatologische Gemeinde“1593 stellt die Kirche darin bis heute je jetzt dar, was die Zukunft der Gottesherrschaft bedeutet. Das Abendmahl ist daher mehr als eine Gedächtnisfeier, nämlich „Darstellung der Einheit der Kirche in ihrer Begründung aus der Gegenwart Christi“1594. Kirchengemeinschaft und Abendmahlsgemeinschaft gehören daher untrennbar zusammen, da die eschatologische Gemeinschaft der Kirche(n) im Abendmahl antizipativ Gegenwart wird.1595 Auch Pannenbergs Überlegungen zur Ökumene weisen einen temporalen Bezug auf. Das Zerbrechen der Kirche in die verschiedenen Konfessionen versteht Pannenberg dabei zunächst als schuldhafte Trennung dessen, was zur Einheit bestimmt ist. Diese Einheit lässt sich jedoch nicht allein durch eine Besinnung auf die Ver1584 1585 1586 1587 1588 1589 1590 1591 1592 1593 1594 1595

Vgl. STh III 475 f. STh III 323. Vgl. STh III 268.283. Vgl. STh III 272. Vgl. STh III 101. STh III 305. STh III 473. Vgl. STh III 314. Vgl. STh III 316. STh III 323. STh III 476. Vgl. STh III 357. Die gegenwärtige Wirklichkeit des Auferstandenen im Abendmahl ist dabei identisch mit der des Jesus der Geschichte, jedoch in einer Weise, die über die Identität eines Menschen mit seinem biografisch früheren Ich hinausgeht, nämlich als Leben des Auferstandenen, als durch die göttliche Ewigkeit „verklärte Wirklichkeit seiner irdischen Lebensgeschichte“ (STh III 347). Pannenberg hält die Bedeutung des Glaubens für dieses „Ereignis“ (STh III 355), das sich besonders in der Epiklese ausdrückt, fest.

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

245

gangenheit, etwa den consensus antiquitates (Calixt) wiederherstellen. Er kann nur den Herausforderungen der Gegenwart entspringen, so wie es bei den protestantischen Kirchenunionen des 19. und 20. Jahrhunderts faktisch gewesen ist. Nur Jesus Christus kann die Konfessionen jedoch endgültig einen, denn er schafft allen eine gemeinsame Zukunft. Die Vergangenheit kann also nur insofern den Weg in die Zukunft und zur Einheit der Kirche weisen, als dass sie Zukunft enthält, und die Vergangenheit der jeweils anderen Konfession kann nur dann akzeptiert werden, wenn sie als eigene Vergangenheit akzeptiert wird.1596 So betont Pannenberg, die Gegenwart der Trennung zwischen den Konfessionen sei nur im Hinblick auf gemeinsame Gegenwartsherausforderungen sowie vor allem die gemeinsame Zukunft zu überwinden. Die evangelische Kirche, die sich kongregationalistisch als freie Versammlung der Glaubenden versteht, stellt durch ihren Freiheitsbezug für Pannenberg dabei zwar das originäre Modell christlicher Gemeinde dar. Jedoch darf durch den diesem Modell zugrunde liegenden Gedanken der Selbstevidenz der Bibel und des vermeintlich unmittelbaren synchronen Bezuges des Glaubenden je jetzt zur Glaubensüberlieferung „die Abhängigkeit jeder christlichen Gegenwart von dem Prozeß der Überlieferung, in dem sie steht“1597, nicht unterschätzt und missachtet werden, als wäre es eine rein willkürliche Entscheidung, zur Kirche zu gehören. „Der Vorrang von Überlieferung und Umwelt vor aller individuellen Entscheidung muß mitbedacht werden.“1598 So erhellt sich die Selbstevidenz der Bibel nur in einander gegenläufigen Deutungsversuchen und die Einheit der Christen verlangt nach einer diachronen Verbundenheit – in Vergangenheit, Gegenwart und im Besonderen: in Zukunft. 4.3.2

Glaube und Glaubensgrund. Ein neues Selbstverhältnis als Konsequenz

Bereits die antizipative Grundverfasstheit des Menschen wird in Pannenbergs Entwurf als Modus des Glaubens lesbar (III.2.3.1). Das Motiv auch des christlichen Glaubensaktes vermutet Pannenberg in dieser „unausdrücklichen Bezogenheit menschlicher Existenz auf das göttliche Geheimnis“1599. Wo diese unausdrückliche Bezogenheit im christlichen Glauben zu einer ausdrücklichen Bezogenheit wird, also zu einer „Unmittelbarkeit des persönlichen Verhältnisses zu Gott“1600, wird „das künftige Heil […] gegenwärtig wirksam und verwandelt das gegenwärtige Leben zu einem Leben in Glaube, Hoffnung und

1596 1597 1598 1599 1600

Vgl. Pannenberg, Ekklesiologie, 211–218. ThRG 59. ThRG 59. STh III 171. STh III 9.

246

III. Wolfhart Pannenberg

Liebe.“1601 Der christliche Glaube stellt damit die entscheidende gegenwartsprägende Kraft zum Guten dar. Ganz grundlegend stellt der christliche Glaube dabei eine „Form des Sichverhaltens zur Wahrheit“1602 (III.2.3.3) dar, die aber über die unausdrückliche Bezogenheit menschlicher Existenz auf das göttliche Geheimnis nun auch das explizite Vertrauen darauf umfasst, dass das in der Kirche verkündigte Evangelium von Jesus Christus, und damit der Glaubensinhalt, sich als wahr erweisen wird. Kenntnis und Zustimmung zum christlichen Glaubensinhalt sind dabei Grundlagen des christlichen Glaubensakts.1603 Voraussetzung des glaubenden Vertrauens (fiducia) in Christus sind darum die Kenntnis (notitia) des Geglaubten sowie die Zustimmung (assensus) dazu.1604 Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich dem Menschen dabei so, „wie jeweils Wirklichkeit im ganzen geschichtlich erfahren worden ist.“1605 Anders wäre sie dem Menschen nicht erfahrbar. Pannenberg unterscheidet dabei Glaubensgrund und Glaubensdeutung.1606 Glaubensgrund ist das geschichtlich bekundete Christusgeschehen. Dieses setzt eine Vielfalt historisch divergierender Glaubensdeutungen desselben frei. Nur über diese ist der Glaubensgrund wiederum »erreichbar«. Ist aber der „Glaubensgrund“, nämlich „Person und Geschichte Jesu“1607, im Verlauf der Geschichte nur innerhalb seiner divergierenden Deutungen erfassbar, hat jegliche auf ihn bezogene Glaubensgewissheit antizipativen Charakter. Auch das „gläubige Vertrauen, das sich inmitten einer fragmentarischen Welt und eines unvollendeten Lebensweges im Wissen um die Gefährdung beider auf die Zukunft Gottes richtet“1608, ist nie objektive Einsicht, sondern bleibt stets „subjektive Antizipation“1609. Der geschichtliche Grund des Glaubens ist also so angreifbar wie unverzichtbar. Anders kann der an den zeitlichen Ort seiner Gegenwart gebundene Mensch nicht glauben. Die Differenz von Glaubensgrund und Glaubensdeutung gehört dabei insofern zum Glaubensgrund selbst, als dass sie auf den Verheißungscharakter desselben verweist, der wiederum deutlich macht, dass der Glaubende noch nicht hat, woran er glaubt.1610 Sie ent-

1601 STh III 9. 1602 STh III 156. Auch Hoffnung und Liebe liest Pannenberg analog zum Glauben vom Licht der Zukunft als ihrer Erfüllung her, vgl. STh III 196 ff.206 ff. 1603 Vgl. STh III 171. 1604 Vgl. STh III 159.171. 1605 WuTh 314. 1606 Vgl. III.3.1. zur entsprechenden Unterscheidung und Verbindung von Manifestation und Interpretation in Pannenbergs Offenbarungsbegriff. 1607 STh III 179. 1608 GSTh 2, 263. 1609 GSTh 2, 264. 1610 Vgl. STh III 177–184.

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

247

spricht zudem der Begrenztheit menschlicher Einsicht, die der Geschichtlichkeit des Menschen entspringt.1611 Der christliche Glaube überschreitet dabei trotz der mit ihm einhergehenden Bedeutung des Wissens über seinen Bezug aufs Ganze, der sich in seinem Gottesbezug ausdrückt, in spezifischer Weise den Bereich des Wissens, denn während Wissen sich allein auf gegenwärtig Gewusstes bezieht, bezieht Glaube sich als Antizipation auf Zukünftiges1612 (III.2.3.1), schließlich antizipiert der christliche Glaube eine eschatologische, heilvolle Zukunft,1613 die das bei Weitem übersteigt, was vom Menschen aus für seine Zukunft erwartbar wäre und sich doch bereits heute als gegenwartsmächtig erweist. Die in dieser gegenwartsbestimmenden Antizipation sich ausdrückende Glaubensgewissheit weist einen direkten Bezug zur Selbstgewissheit des Menschen auf. Die christliche Glaubensgewissheit, deren Gegenstand die Wirklichkeit Gottes und der geschichtliche Glaubensgrund sind,1614 erweist sich nämlich darin, dass sie die Zukunft für den Glaubenden trotz allem, was dagegen spricht, als heilvoll erwartet, zugleich als „Selbstgewißheit, […] also auf die Integrität [des] Selbstseins“1615 bezogen. Der christliche Glauben bewirkt damit eine heilvolle Erneuerung des Selbstverhältnisses des Menschen, die die Schranken des ohne diesen Glauben gegenwärtig Erwartbaren eschatologisch deutlich überschreitet. Der christliche Glaube lässt sich durch die darin vorgenommene Neudeutung des Menschen nicht beweisen. Jedoch kann er sich über die gegenwartsverändernde Tragfähigkeit dieses Vertrauens je jetzt bewähren. Die in ihm gewonnene Gewissheit ist also weniger eine „theoretische, sondern […] eine wesentlich praktische Gewißheit“1616. Sie gründet aber nicht auf der „Selbsterfahrung oder Selbstanschauung des Ich“1617. Glaubensgewissheit kann nämlich nicht aus der Selbstgewissheit des Menschen hervorgehen, kann doch nicht einmal das Ich zweifelsfrei dem Denken vorausgesetzt werden.1618 Vielmehr wird das Selbst selbst von Gott her empfangen, erhebt es doch über die Grenzen des Jetzt und ermöglicht damit zugleich diese Grenzen zu akzeptieren: „Das Selbstsein, dessen wir uns im Selbstbewußtsein bewußt sind, erhebt uns über die Schranken unseres gegenwärtigen Daseins und gibt uns eben dadurch 1611 1612 1613 1614 1615

Vgl. STh III 178. Vgl. STh III 157. Vgl. STh III 158. Vgl. STh III 193 f. STh III 184. Pannenberg hebt im Fortgang seiner Argumentation besonders die Bedeutung der Weltgewissheit, vgl. STh III 188 ff., und des Gefühls als unthematischem Weltbezug hervor, ohne das keine Glaubensgewissheit entstehen könne, vgl. STh III 195 f. 1616 STh III 184. 1617 STh III 184. 1618 Vgl. GSTh 2, 254.

248

III. Wolfhart Pannenberg

die Kraft, diese Schranken auf uns zu nehmen. Darum ist das Selbst, als das wir uns wissen, nie im Vorfindlichen begründet, sondern kann ebenso wie die Einheit der Welt nur von Gott her empfangen werden“1619. Glaubensgewissheit gründet also nicht in der „Selbsterfahrung oder Selbstanschauung des Ich“, sondern vielmehr in der „Verheißung Gottes, die als konkreten Menschen persönlich zugesagte in ihnen die Gewißheit ihres Heils begründet, indem sie von ihnen als sie persönlich betreffend angenommen wird.“1620 Infolgedessen wird die „Heilsgewißheit des Glaubens“ als „das Personsein des Menschen selber konstituierende Gewißheit“ erkennbar, die nicht nur eine „Sonderthematik“ betrifft, sondern das Personsein des Menschen „neu konstituiert“1621, also eben nicht aus diesem herstammt, sondern es herstellt. Das „Heilsgeschehen“ befreit den Menschen hierbei aus der „Verfangenheit in seine […] Subjektivität“1622. Pannenberg kann dabei sogar sagen, dass die Heilsverheißung Gottes es „gebietet, des zugesagten Heils gewiß zu sein“1623. Jedoch kann das Heilsgeschehen neuzeitlich nicht mehr über „die Autorität der Kirchenlehre und der Heiligen Schrift“1624 als wahr verbürgt werden. Die für den christlichen Glauben nötige Vermittlung historischer Kenntnis funktioniert nicht mehr über autoritative Vorgaben, sondern der Mensch sucht seinen Standpunkt anhand historischer Wahrscheinlichkeitsurteile unter dem Vorbehalt möglicher Revision. Er ist sich also der Relativität seiner gegenwärtigen und damit an seine Gegenwart gebundenen Erkenntnis bewusst. Auf den Verlust der Sicherung christlicher Wahrheit durch die kirchliche und biblische Autorität wurde in der Folge allzu häufig durch eine „subjektivistische Verkürzung“1625 der Wahrheit, die sich auch nach Pannenberg tatsächlich im Gewissen1626 des Menschen findet,1627 1619 GSTh 2, 262. 1620 STh III 184. Vgl. STh III 185. In Bezug auf die göttliche Wahrheit spricht Pannenberg darum auch von deren „Selbstevidenz“ (GST 2, 264) und nennt das Evangelium „selfauthenticating“ (GST 2, 264; kursiv im Original), ohne dass Glaubensgewissheit deshalb unter den Gesichtspunkten der theoretischen Reflexion nicht mehr „subjektive Antizipation“ (GST 2, 264) wäre. 1621 STh III 185. 1622 STh III 189. 1623 STh III 184 (kursiv im Original). 1624 STh III 189. 1625 STh III 189. 1626 Gewissheit muss dem Gewissen des Menschen entsprechen, da es beiden um das Ganze geht: „Gewißheit und Gewissen gehören zusammen, weil es in beiden um das Ganze der Wirklichkeit und so um uns selbst geht.“ (GSTh 2, 262.) Im Hintergrund dieser Verbindung von Gewissen und Gewissheit steht Pannenbergs Auseinandersetzung mit Ebelings Gewissensbegriff, nach dem der Mensch nicht Gewissen hat, „sondern er ist Gewissen. Er ist sein eigener Zeuge.“ (Ebeling, Wort und Glaube, 440.) Zu Ebelings Verständnis von Glauben und Gewissheit vgl. Ebeling, Dogmatik, 132 f. 1627 Pannenberg spricht von der „in der Lehre vom Zeugnis des heiligen Geistes im Gewissen der Menschen enthaltene[n] Wahrheit“ (STh III 189).

4.3 Die Gemeinschaft der Glaubenden

249

reagiert. Um aber eine subjektivistische Verkürzung zu vermeiden und doch in angemessener Weise auf die neuzeitliche Unmöglichkeit einzugehen, Glauben durch Autorität einzufordern, muss die „Welterfahrung in das Verständnis der Entstehung von Gewißheit“1628 einbezogen werden.1629 Der Begriff der Verheißung Gottes muss dabei über den Zuspruch der Sündenvergebung hinaus auf die „Verheißungsstruktur der Botschaft und Geschichte Jesu“1630 bezogen werden, wie es ja auch dem Duktus von OaG entspricht. Die Verheißung muss also der „geschichtlichen Welt gegenwärtig“ werden und auf deren „Zukunft und [das] Wesen der Welt im ganzen“1631 bezogen sein. Ohne die Bedeutung der Glaubensinhalte für seinen Glaubensbegriff aufzugeben erkennt Pannenberg dabei wiederum an: „Dabei braucht der Bezug auf das Ganze der Welt und des eigenen Lebens im Glaubensakt nur in der unthematischen Weise des Gefühls beteiligt zu sein, als implizit mitgegeben im konkreten Gegenstand und Grund des Glaubens und Bekennens.“1632 Die Bejahung und Anerkenntnis der Verheißung bleibt damit in entscheidender Weise auf das „Gefühl“1633 angewiesen, in dem der Glaube (oder Unglaube) jedes Menschen sich ausdrückt (III.2.3). Dort drückt sich Glaubensgewissheit aus und gründet doch zugleich nicht dort, sondern in der Verheißung Gottes, die sich in der geschichtlichen Welt als wahr zu bewähren hat und von der Kirche bezeugt wird. Die vorliegende Darstellung der Theologie Pannenbergs nahm damit ihren Ausgang in Überlegungen zum Selbstverhältnis des Menschen (III.2.) und mündet in eine Neudeutung des Menschen in seinem Selbstverhältnis, in der der Mensch erfährt, dass sein Ausgriff aufs Ganze nicht ins Leere verläuft, sondern seine Selbstgewissheit in den Verheißungen Gottes gründet, da in Christus die Zukunft angebrochen ist, der er sich je jetzt glaubend anvertrauen darf.

1628 STh III 189. 1629 Entsprechend gilt für die Theologie: So geht auch Theologie „[a]ls Wissenschaft von Gott“ das Ganze der Wirklichkeit an, denn „die Frage nach Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit geht alles Wirkliche an.“ (WuTh 298.) Was wiederum das Ganze der Wirklichkeit angeht, muss als gegenwartswirksam verstehbar sein. So ist auch „das entscheidende Thema christlicher Theologie die Frage nach der gegenwärtigen Wirklichkeit des christlichen Glaubens […], und zwar nicht nur in dem Sinne, daß das Christentum gegenwärtig noch fortbesteht, obwohl seine Substanz vielleicht längst aufgezehrt ist, sondern im Sinne der Frage, ob die Substanz selbst, die Sache, an der christlicher Glaube letztlich hängt, sich uns als gegenwartsmächtig bewährt.“ (WuTh 298.) Auch wenn Theologie sich ihrem Gegenstand, Gott, nur religionsgeschichtlich nähern kann, wird darum nicht die Religionsgeschichte zu ihren Gegenstand, so dass Theologie zu seiner „historisch-antiquarischen Disziplin“ (WuTh 299) wird, sondern ihr Gegenstand bleibt Gott, vgl. WuTh 299 ff. 1630 STh III 195. 1631 STh III 195. 1632 STh III 195. 1633 STh III 195. „Die rationale Rechenschaft kommt ohnehin nie zum Abschluß mit dem, was im Gefühl (wenn auch vage) als Ganzes gegenwärtig ist und in der religiösen Vorstellung artikuliert wird.“ (STh III 195.)

250

4.4

III. Wolfhart Pannenberg

Zwischenergebnis

Von Pannenberg her kann die Erfahrung der Differenz von Gegenwart und Zukunft erkenntnislogisch fruchtbar gemacht werden für die Plausibilisierung des Gottesgedankens. Der Mensch greift nämlich demnach als Gegenwarts-Wesen aufs Ganze und damit die Zukunft aus und unterscheidet sich in diesem Ausgriff vom Ziel-Grund seiner selbst, der in Gott verortbar ist. Der Mensch findet also den Ziel-Grund seines Lebens in Gott; und damit einen Ziel-Grund, in dem er sich nur darum gründen kann, weil er als Mensch nicht selbst dieser Grund ist. Der Zukunftsorientierung der Rede von Gott in ihrer wirklichkeitserschließenden Bedeutung korreliert dabei die wirklichkeitskonstituierende Zukunftsmächtigkeit Gottes. Gottes Wirklichkeit ist mithin grundlegend für die Wirklichkeit des Menschen und der Anfang jeden Moments liegt in Gott, der trinitarisch als differenzierte Einheit zu denken ist und eben darum nicht in sich verschlossen bleibt, sondern schöpferisch handelt und den Menschen in die Zeit freisetzt, über die der Mensch zugleich die Ewigkeitstiefe des Augenblicks erahnt und sich auf Ewigkeit zubewegt (III.4.1). Pannenberg legt der Zeiterfahrung des Menschen damit sachlogisch eine »Einheit der Zeit« zugrunde, die der Ewigkeit Gottes entspringt. Damit wird dem Menschen im Vertrauen auf Gott als Macht der Zukunft die Angst vor der Zukunft genommen, die ihn dazu bringt, sich an seine Gegenwart zu klammern. Er wird frei, seine Gegenwart selbständig zu gestalten und sie zugleich als Durchgangsmoment auf seine Wesensvollendung hin freizugeben. Findet die Zeit Anfang und Ziel in Gottes schöpferischem Wirken, ist Gegenwart Moment nicht einer unendlichen und damit unbestimmbaren, sondern einer endlichen Abfolge, also Durchgangsmoment auf etwas hin, und damit überhaupt erst im Eigentlichen deutbar (III.4.2). Christlicher Glaube erweist sich darin als in der Gemeinschaft der Glaubenden gelebtes, gegenwartsprägendes und in der Kirche sakramental-zeichenhaft Gestalt gewinnendes Vertrauen auf die Zukunft. Die unausdrückliche, sich im Modus des Glaubens vollziehende Bezogenheit des Menschen auf das Geheimnis Gottes, die sich im grundlegend menschlichen, antizipativen Ausgriff aufs Ganze realisiert, wird hierin explizit thematisch. Christlicher Glaube überschreitet im Vertrauen auf Christus als Glaubensgrund und die christlichen Glaubensinhalte das allein vom Menschen her gegenwärtig für die Zukunft Erwartbare und gründet nicht im Personsein des Menschen, sondern begründet es (III.4.3).

5. Ertrag: Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart

251

5. Ertrag: Die menschliche Daseinskonstitution zwischen Strittigkeit und Gewissheit. Die Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart Überzeugend ist für den Menschen das, worin er sich selbst erkennt: „Das kenne ich. Das erlebe ich.“ Indem Pannenberg in der anthropologischen Grundlegung seiner Theologie den Menschen treffend als Wesen beschreibt, das, um sein Jetzt leben zu können, im antizipativen Entwurf seiner Selbst auf ein Ganzes hin ausgreifen muss (III.2), setzt er in seiner Theologie bei der Frage des Menschen nach sich selbst ein und bietet ihm somit die Möglichkeit sich gleich mit den ersten Schritten seines Denkweges zu identifizieren. Für den Einstieg in seinen Entwurf ist nicht die Anerkenntnis einer bestimmten Dogmatik nötig, sondern schlicht die Erfahrung des Menschseins, zu der für das Gegenwartswesen Mensch stets auch die Erfahrung der auf ihn zukommenden Zukunft gehört. Gegenwart ist dem Menschen nach Pannenberg hierbei das, wozu der Mensch sich verhalten kann (III.2.2.1). Dieses Verhalten ist in besonderer Weise auf die Zukunft bezogen. Und wenn das Reich Gottes tatsächlich die Zukunft der Welt ist, so Pannenbergs These, dann hat „alle Erfahrung von Zukunft zumindest indirekt mit Gott zu tun.“1634 Der Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz leuchtet dabei von Pannenbergs Werk aus tatsächlich in besonderer Weise am Gegenwartserleben des Menschen auf. So bildet nach Pannenberg die gegenwartsgebundene und doch über das Augenblicks-Ich hinausstrebende Natur des menschlichen Daseins, in der sich die menschliche Identität in der Bewegung vorläufiger Antworten konstituiert, die Grundlage einer unthematischen Religiosität (III.2.1.1), die sich im Spannungsfeld der Bindung des Menschen an sein Jetzt und den darüber hinausgehenden Ausgriff auf sein Lebensganzes und das Ganze der Welt realisiert (III.2.2.1). Der Versuch, eine Selbstidentität unter sich ändernden Umständen zu erhalten, kann hierbei nur im Modus der Antizipation gelingen (III.2.3).1635 Der sich so in Antworten auf die Frag-Würdigkeit menschlichen Daseins realisierende Ausgriff aufs Ganze (III.2.1) beruht also auf der Zeiterfahrung des Menschen als geschichtlich verfasstem Wesen (III.2.2). Er erweist, da er sich als antizipativer Selbstentwurf vollzieht, den Menschen als Wesen, das stets in einem Modus des Glaubens existiert (III.2.3). Der Mensch ist also als Gegenwarts- ein Zukunfts- und damit zugleich ein Glaubenswesen. Ist damit eine religiöse Deutung des Menschen vom Menschen her möglich geworden, kann auch ein entsprechender Gottesbegriff gebildet werden, der das Korrelat des menschlichen Ausgriffs aufs Ganze der Wirklichkeit darstellt und das 1634 ThRG 18. 1635 Im Modus der Antizipation als entscheidendem Ausdruck des Selbstverhältnisses kann dabei das Selbst des Menschen, das sein Augenblicks-Ich übersteigt, zur Erscheinung kommen – für Pannenberg ein Geist-Geschehen (III.2.2.3).

252

III. Wolfhart Pannenberg

gegenwärtig durch den Menschen Erfassbare zugleich benennt, überschreitet und als Grund desselben ansprechbar wird (III.2.3.2). Pannenberg plausibilisiert vermittels dieses Denkweges die Rede von Gott als Grund der Wirklichkeit, ohne von der materialen Dogmatik her zu argumentieren, sondern indem er bei der Selbstund Welterfahrung des Menschen einsetzt (III.2.1.2; III.2.3.2 u. ö.). Die aus Pannenbergs Entwurf her mögliche Deutung des menschlichen Selbstund Weltverhältnisses als Modus von Glauben, der einen grundlegenden, antizipativen Akt des Menschseins darstellt (III.2.3.1), der dem spezifisch christlichen Glauben (III.4.3.2) vorausgeht und damit zugleich dessen Anknüpfungsfähigkeit an das Menschsein schlechthin aufweist, ermöglicht einen ansprechenden, denkerischen Neueinsatz im Hinblick auf den Begriff des Glaubens, der beim Selbstentwurf des Menschen einsetzt, ohne dort stehen bleiben zu müssen. Glaube wird ausgehend vom Selbst- und Weltbezug des Menschen her denkbar: „Wo du dir Fragen nach dir selbst und der Welt beantwortest, da beginnt Glaube.“ Zugleich kann dieser Glaube nicht in einem selbstreferentiellen Subjektivismus stecken bleiben, ist doch schon das Gegenwartserleben des Menschen, dem er nach dieser Darstellung in besonderer Weise entspringt, von einem ekstatischen Charakter gekennzeichnet: „Die zeitüberbrückende Gegenwart, die das menschliche Bewußtsein kennzeichnet, hat […] ekstatischen Charakter. Sie ist Ausdruck des für den Menschen spezifischen Seins beim andern als einem andern, Ausdruck der Exzentrizität seiner Lebensform, darin auch Ausdruck der Gegenwart des Geistes, der in den lebendigen Beziehungen der Dinge wirkt. Das ekstatische Weltverhältnis ist selber zeitlich strukturiert, und zwar von der Antizipation der Zukunft her. Von der Zukunft her erschließt sich das bleibende Wesen der Dinge, weil erst die Zukunft entscheidet, was wahrhaft beständig ist.“1636 Diese Erschließungskraft der Zukunft bestimmt auch den Übergang vom anthropologischen Ansatz Pannenbergs in den Bereich der explizit theologischen Deutung menschlicher Lebensgegenwart. Dieser vollzieht sich bei Pannenberg über die Näherbestimmung seines Gottesbegriffs vermittels eines Offenbarungsgeschehens, das der seiner Ansicht nach primären Bestimmtheit des Menschen entspricht, nämlich seiner Geschichtlichkeit. Dieser Übergang deutet sich in der Darstellung dieser Arbeit bereits da an, wo Pannenberg postuliert, die Näherbestimmung des Gottesbegriffs über ein göttliches Wirken in der Geschichte lasse dem Menschen seine Geschichtlichkeit erst im Eigentlichen ins Bewusstsein treten, womit der Gottesgedanke zunächst weiterhin als Korrelat des menschlichen Selbstverhältnisses gelesen werden kann, das ihm jedoch nun bereits eigenständig gegenüberzutreten scheint (III.2.1.1). Explizit dargestellt wird dieser Übergang dann im Konzept der »Offenbarung als Geschichte« (III.3.). Dieses Konzept entspricht, da sich Offenbarung 1636 A 510 f.

5. Ertrag: Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart

253

ihm gemäß geschichtlich vollzieht, der geschichtlichen Bestimmtheit des Menschen und seiner zeitlich verfassten Erfahrungswelt (III.2.2). Zugleich bleibt es mit dem Anspruch verbunden, dass es wirklich eine Offenbarung Gottes in der Geschichte gegeben habe und von dieser her, da sie das Ende der Geschichte antizipiert habe, eine treffende Antizipation der Wahrheit möglich sei, wenngleich diese immer strittig bleiben wird. Zwar gibt es nämlich auf dem Felde einer Offenbarungsreligion subjektive Gewissheit, bedingt durch subjektive Erfahrung – doch stets nur im Vorgriff auf eine letzte Bestätigung in der (eschatologischen) Zukunft. Die Theologie Pannenbergs entspricht dann material weitestgehend überkommener Dogmatik, die quasi »adventlich«1637 vom Lichte des zukünftigen und zugleich gegenwärtig anbrechenden Reiches Gottes her dargelegt wird (III.4.1– 4.3.2). Dabei gewinnen Pannenbergs trinitätstheologische Überlegungen (III.4.1), seine plotinisch inspirierte Theorie einer trinitarisch vermittelten Abkünftigkeit der Zeit aus der Ewigkeit (III.4.2.1) und der Zeichencharakter (quasi-)sakramentaler Vollzüge (III.4.3.1) durch ihre Verquickung mit der Frage des Menschen nach sich selbst an Plausibilität und Vermittelbarkeit: Ist der Mensch bei Pannenberg über seinen Ausgriff aufs Ganze primär geschichtlich qualifiziert und realisiert sich dies vor allem im Ausgriff auf die Zukunft (III.2.1), gewinnt Gott komplementär als Macht der Zukunft Gestalt (III.4.1.). Seiner Reflexion auf die Zeiterfahrung des Menschen (III.2.2) ist ein theologisch vertieftes Verständnis der Zeit zu ergänzen, das Zeit als Modus der Verbindung zur Ewigkeit Gottes versteht (III.4.2.). Dem antizipativen Selbstentwurf des Menschen, der als Modus des Glaubens Gestalt gewinnt (III.2.3), korreliert die Kirche, Ort der zeichenhaften Gegenwart der Zukunft Gottes, als Gemeinschaft der Glaubenden, deren Glauben das rein von menschlicher Erfahrung her gegenwärtig für die Zukunft Erwartbare im Vertrauen auf Christus als Glaubensgrund in der Weite seiner Hoffnung vertrauensvoll überschreitet (III.4.3). Dabei setzt Pannenbergs Theologie, wie exemplarisch aufgezeigt wurde, immer wieder anthropologische Folgerungen frei, die auf das Selbstverständnis des Menschen abzielen, etwa die Selbstunterscheidung des Menschen von seinem ZielGrund und das christologisch begründete Vertrauen, eine heilvolle Zukunft zu haben, die bereits die Gegenwart bestimmt (III.4.1.3; III.4.3.2). Die eigentümliche Spannung aus Modernität und Konservativismus in der Theologie Pannenbergs resultiert aus dem in all diesem aufscheinenden Ineinander von modernem, erkenntnislogischem Einsatz beim Menschen und vergleichsweise konservativer, sachlogisch vorgeordneter Dogmatik. Gerade durch konsequentes historisches Denken möchte Pannenberg dabei den Offenbarungsgedanken »retten«, der nun eben nicht rein supranatural, sondern als Geschichte verstehbar wird, und zugleich gerade dadurch neu plausibilisiert werden soll. 1637 Greive profiliert die Theologie Pannenbergs treffend „als Auslegung des religiösen Wortes Advent“ (Greive, Glaubwürdigkeit, 441; kursiv im Original).

254

III. Wolfhart Pannenberg

Pannenberg scheint dabei da eine Vermittlung zwischen »verzeitlichter« Denkweise und christlichem Glauben möglich zu werden, wo einer weitgehend säkularisierten Gegenwartskultur das Geschehen um Jesus als antizipativer Ausdruck einer Zukunftshoffnung nahegebracht wird (III.4.2.2). Tatsächlich macht sein Entwurf es möglich, die faktische Notwendigkeit des Ausgriffs des GegenwartsWesens Mensch auf eine Zukunft ebenso wie die Sehnsucht nach einer gelingenden Zukunft und damit einem gelingenden Selbstentwurf in Bezug zu einer religiösen Daseinsdeutung zu setzen. Zugleich erkennt Pannenbergs Entwurf die bleibende Strittigkeit des Christusgeschehens und der Gottesfrage an. Die Frage nach der Realität und Macht Gottes stellt sich nämlich in einer auf Zukunft hin offenen Gegenwart immer wieder neu, denn erst am Ende der Geschichte kann die Identität des verborgenen Gottes mit dem in Jesus Christus offenbarten Gott erkennbar werden. An Pannenbergs Entwurf ist darum bereits kritisiert worden, dass die Bewährung des christlichen Glaubens auf den „St.-Nimmerleinstag“1638 verschoben werde. Pannenberg selbst weist es von sich, den Gottesgedanken vor atheistischer Kritik in eine unbestimmte Zukunft retten zu wollen, da seinem Gottesbegriff nach die Welt bereits heute Ausdruck der Macht Gottes sein muss.1639 Diese Macht Gottes wiederum ist aber die Macht der Zukunft (III.4.1.1), wie sich am Christusgeschehen erwiesen hat, das die Zukunft, ja das Ende der Geschichte vorweggenommen hat (III.3.). Die Gegenwart selbst erscheint, wenn sie so vom historisch betrachtet in der Vergangenheit liegenden Christusgeschehen her als Wirkung ihrer eschatologischen Zukunft verstanden wird, als regelrecht eingeklammert zwischen Zukunft und Zukunft (III.4.2.1). Die Zukunft wird zum (Ziel-)Grund der Gegenwart (III.4.1.1; III.4.2.1 u. ö.). Daher kann an Pannenbergs Entwurf durchaus die Frage gestellt werden, ob die Gegenwart darin nicht überstrahlt wird von der Zukunft. Pannenberg selbst möchte allerdings trotz seines Fokus auf die Eschatologie nicht nur die Zukünftigkeit, sondern auch die antizipative Gegenwärtigkeit des Reiches Gottes je jetzt hervorheben. Erst durch diese Gegenwärtigkeit des Reiches Gottes gewinnt die christliche Eschatologie nämlich ihre eigentliche Relevanz für lebenspraktische und ethische Fragen und verbleibt somit auch nicht im Bereich supranaturaler Spekulation.1640 Indem der Mensch sich nämlich auf die Zukunft Gottes ausrichtet, gewinnt diese Zukunft in der Gegenwart Gestalt und verwandelt die Welt heute:1641 1638 1639 1640 1641

Moukala, Vermittlung, 136 im Anschluss an Hansjürgen Verweyen. Vgl. ThRG 14. Vgl. ThRG 10 f. Wird die Zukunft schon heute zeichenhaft (III.4.3.) Gegenwart, so ist die zukünftige Vollendung der gegenwärtigen Realität gegenüber keine völlig andere. Vielmehr ist das gegenwärtige Leben als Erscheinungsform und Werdeprozess seiner eschatologisch zu offenbarenden Wesensgestalt und Identität zu begreifen (III.2.1.1 und III.4.1.1). So bedeutet auch die Auferstehung nicht die Verlängerung der Lebenslinie eines Menschen, sondern die Wiedergabe seines eigentlichen Seins, wobei die damit sich realisierende Wesenszukunft

5. Ertrag: Antizipation der Zukunft als Grund der Gegenwart

255

Jegliche Antizipation der Zukunft, so schreibt Pannenberg zudem, bleibe stets an die jeweilige „Gegenwart gebunden, die im Prozeß der Zeit auf eine offene Zukunft hin immer wieder von neuen Augenblicken überholt wird.“1642 Gerade der Ausgriff auf seine Zukunft, selbst der Ausgriff auf eschatologische Zukunft, erweist darum auch die Bindung des Menschen an den jeweiligen Augenblick seiner Existenz. Es bleibt stets der konkrete Mensch jetzt, der seine Zukunft antizipiert. Das gilt auch da, wo sich aus der Zukunftsorientierung des christlichen Glaubens eine befreiende und manchmal auch kritische Distanz zum jetzt Vorfindlichen ergibt (III.4.1.3). Auch diese stellt eine Form der Bezugnahme auf ihre Gegenwart dar, nicht allein eine Loslösung. Die Erfahrung der verborgenen und doch wahrnehmbar wirksamen Anwesenheit der Zukunft Gottes im Jetzt ermöglicht dem Menschen dabei eine lebensbejahende Neubestimmung menschlicher Lebensgegenwart. „Vertrauen auf Zukunft und ein Leben in der Gegenwart aus solchem Vertrauen“1643 stellen für Pannenberg produktive Alternativen zur angstvollen „Ichbefangenheit“1644 des Menschen in der Daseinssituation der Zeitlichkeit dar.1645 Dies kommt bei Pannenberg in mehrfacher Weise zum Ausdruck: Wenn Pannenberg postuliert, um das Ich des Menschen im Zeitfluss zu erhalten, reiche die Subjektivität menschlichen Bewusstseins nicht aus, sondern es brauche die Ewigkeit Gottes (III.4.2.1), dann liegt in der in dieser Aussage sich ausdrückenden Selbstunterscheidung (III.4.1.3) des Menschen von seinem Grund zugleich der Freispruch vom Anspruch, Grund seiner selbst sein zu müssen. Seine zeitliche Gegenwart ist dem Menschen demnach gewährt und gewährt ihn sich selbst. So kann auch das Staunen über das Wunderbar-sein des Augenblicks (III.4.1.2), der eben nicht selbstverständlich da ist oder vom Menschen selbst erschaffen wäre, als Ausdruck des Erwünscht- und Gehaltenseins menschlicher Existenz gedeutet werden, für das der Mensch nichts leisten muss. Er ist sich selbst geschenkt. Muss der Mensch sich vieles auch erkämpfen, als er selbst ist er in seiner Endlichkeit angenommen. Die Opposition von Vergangenheit und Zukunft (I.1.) bedroht den Menschen damit nicht, etwa insofern als dass er seine Gegenwart angesichts derselben irgendwie behaupten müsste oder die Zukunft (des Todes) sie ihm entrisse. Vielmehr ver-

1642 1643 1644

1645

des Menschen, etwa im Ereignis der Freiheit, wiederum bereits jetzt Gegenwart werden kann, vgl. GSTh 2, 79. STh II 311. STh II 288. STh II 288. Dabei gilt über das Verhältnis von Angst und Ichfixierung: „Die Ichfixierung selber läßt sich nicht auf die Angst zurückführen, weil sie schon in der Angst enthalten ist. Aber in der Situation der Zeitlichkeit wird durch die Angst die Fixierung auf das eigene Ich ständig reproduziert. Die Unsicherheit der Zukunft und die Unabgeschlossenheit der eigenen Identität nähren wiederum die Angst. So wird der Mensch durch seine Angst in der Ichbefangenheit festgehalten.“ (Ebd.) Vgl. STh II 288 f.

256

III. Wolfhart Pannenberg

weist die Transzendenz der Zukunft gegenüber der Gegenwart den Menschen auf die Zielrichtung seiner Zeit und damit seines Daseins. Der Mensch darf sich von ihr her seiner Gegenwart anvertrauen und sie gestalten, ohne sich an sie klammern zu müssen, wodurch sie ihm als Freiheitsraum verloren ginge (III.2.2.2). Und so gewinnt der Augenblick gerade dadurch an Bedeutung, dass er, auch und gerade für andere, hin- und freigegeben wird (III.4.2.2), was der vielgestaltigen Erfahrung entspricht, dass für andere da zu sein und ihnen Zeit zu schenken das Leben reich macht. Bei Gott, dem die Ganzheit seines Lebens und seiner Geschöpfe unverlierbar Gegenwart ist, bleibt das menschliche Leben dabei mit jedem seiner Augenblicke aufgehoben (III.2.2.1; III.4.2.1). Im christlichen Glauben drückt sich damit der der Zeitlichkeit des Menschen inhärente Transzendenzbezug aus. Der christliche Glaube vertröstet dabei nicht auf einen unbestimmten, überweltlichen Ewigkeitsraum. „Echte Hoffnung macht vielmehr schon die Gegenwart hell und verändert sie damit.“1646

1646 Pannenberg, Gegenwart Gottes, 152.

IV. Zum Ertrag der Untersuchung In den vorausgegangenen Kapiteln wurden die geschichtstheologischen Entwürfe Balthasars und Pannenbergs auf das darin aufscheinende Gegenwartsverständnis befragt (II.; III.). Dabei konnte die These erhärtet werden, dass zwischen dem Erleben von Zeitlichkeit und Transzendenz ein elementarer Zusammenhang besteht, der in besonderer Weise am Gegenwartserleben des Menschen deutlich wird. Gerade das Gegenwartserleben des Menschen verweist denselben über sich und sein Jetzt hinaus auf ein umgreifendes Ganzes. Die Verortung in diesem umgreifenden Ganzen ist als religiöser Vollzug lesbar. Dies gilt auch und gerade in einer modernen, verzeitlichten Perspektive aufs Dasein. Balthasar und Pannenberg plausibilisieren dies über die Wahrnehmung, dass das Gegenwartserleben des Menschen denselben auf den fragmentarischen Charakter seiner Existenz verweist (II.4.1; III.2.). Infolgedessen werde das Gegenwartserleben zum Grund eines das Augenblicks-Selbst transzendierenden Ausgriffs auf ein Ganzes. Dieser Ausgriff ziele, wenn auch oft genug implizit, bis auf die alles bestimmende Wirklichkeit (Gottes) (III.2.1.1). Er kann insofern als religiös verstanden werden, als dass er einen „subjektive[n] Lebensvollzug [darstellt], in dem handlungsbestimmende Letztüberzeugungen sich aufbauen“1647. Er ist religiös als Ausdruck davon, dass „[j]edes Menschenbild“ einen „Hintergrund“ braucht, „in den hineingestellt der Mensch gezeichnet wird.“1648 Ohne den im Ausgriff über sich und sein Jetzt hinaus gegebenen Transzendenzbezug könnte der Mensch gar nicht als er selbst in Erscheinung treten, hätte er doch keinen Hintergrund oder kein Gegenüber, von dem er sich unterscheiden (III.4.1.3) und damit wiederum in seiner Eigentlichkeit, zu der auch seine Zeitlichkeit gehört, wahrnehmen, annehmen und deuten könnte. Im Einzelnen sei dies nun am direkten Vergleich der Entwürfe Balthasars und Pannenbergs veranschaulicht, bei dem auch die unterschiedlichen formalen und materialen Akzente deutlich werden, die beide Theologen setzen. Wo der Ausgriff des Menschen aufs Ganze nämlich bei Pannenberg im Verlaufe seiner theologischen Entwicklung zu dem zentralen Ausgangspunkt seiner Theologie geworden ist (III.2.1), wird er bei Balthasar dogmatisch ungleich voraussetzungsreicher in den Kontext der theodramatischen Unterfassung des Menschen durch Gott eingebettet (II.2.2.2; II..2.2.3), der eine reziproke Denkform von Gott auf den Menschen hin und umgekehrt entspricht. Balthasars Anthropologie erscheint dadurch, auch in ihrem Bezug auf das desiderium naturale dei (II.2.2.1), im Sinne der Unterscheidung Pannenbergs zwischen 1647 Korsch, Kulturhermeneutik, 834. Vgl. Anm. 1. 1648 Feldtkeller, Religion, 193.

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IV. Zum Ertrag der Untersuchung

dogmatischer und fundamentaltheologischer Anthropologie,1649 als dogmatische Anthropologie,1650 während Pannenberg seine Anthropologie als fundamentaltheologische Basis seiner Dogmatik versteht. Eine vergleichbare Divergenz zeigt sich an ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit Barth, dessen ahistorische Tendenzen beide überwinden möchten, jedoch unterschiedliche Wege dafür gehen. Während Balthasar Barths Ahistorizität dogmatisch überwinden möchte (II.2.2.1), strebt Pannenberg dies vermittels historisch-kritischen, überlieferungsgeschichtlichen Denkens an (III.1.2). Pannenberg rezipiert neuzeitliche Denkstrukturen wie die Historisierung des Denkens affirmativ und macht sie zur Grundlage seiner Theologie. Balthasar rezipiert sie ungleich stärker in der kritischen Auseinandersetzung (II.2.2.1). Balthasar sucht also Barths Ahistorizität letztlich dogmatisch zu überwinden, indem er die Bedeutsamkeit der Geschichtlichkeit des Geschöpflichen im Spannungsfeld von Erstsinn vom Vater her und Letztsinn vom Sohn her begründet (II.2.2.1). Pannenberg hingegen sucht dieselbe Überwindung durch überlieferungsgeschichtliche Aufnahme der neuzeitlichen Historisierung der Vernunft, der die fundamentaltheologische Grundlegung seiner Theologie in einer theologischen Anthropologie entspricht, die die Geschichtlichkeit des Menschen als dessen entscheidendes Wesensmerkmal ausmacht.1651 So ist auch die Christologie seit TG der Ausgangspunkt von Balthasars Geschichtstheologie,1652 während sie in Pannenbergs Geschichtstheologie in eine Vermittlungsfunktion zwischen anthropologischem Denkeinsatz und theologischer Existenzdeutung gerückt ist. So erklärt Balthasar Geschichte von christologischen 1649 Fundamentaltheologische Anthropologie wendet sich „Phänomenen des Menschseins zu, wie sie von der Humanbiologie, der Psychologie, Kulturanthropologie oder Soziologie untersucht werden, um die Aufstellungen dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen.“ (A 21.) Nachgezeichnet wurde das in dieser Arbeit im Hinblick auf das geschichtliche Dasein des Menschen, bei der die Darstellung von Pannenbergs Theologie einsetzte. 1650 „Die traditionelle dogmatische Anthropologie setzt die Wirklichkeit Gottes schon voraus“ (A 21). Vgl. Meuffels, Einbergung, 5, der die trinitarische Offenbarung Gottes als Grundlage der Anthropologie Balthasars hervorhebt und im Hinblick auf Christus schreibt: „In dieser Person, in dieser Sendung sind alle Umrisse vorgezeichnet, die das christliche Menschenbild ausmachen.“ (Ebd.) Balthasar unterscheidet vorchristliche, christliche und nachchristliche Anthropologie, vgl. TD II,1 315. Er setzt ihr auch damit ein christologisches, geschichtstheologisches Schema voraus. Seine Anthropologie in der Theodramatik versteht sich als christlich, denn christliche Anthropologie „allein erlöst den Menschen von der undurchführbaren Aufgabe, sich von seiner Gebrochenheit her als ungebrochenen zu entwerfen, ohne dabei einen Wesensaspekt seiner selbst fallenzulassen.“ (TD II,1 314.) Auch Pannenberg gelangt in der Sache zu dieser Position, setzt aber, wie bereits mehrfach erwähnt, in seinem Denken fundamentaltheologisch anthropologisch ein. 1651 Vgl. A 472 ff. 1652 Auch die Hinführung von TG, die die philosophische Frage nach dem Verhältnis von Konkretem, Zufälligem und Allgemein-Notwendigem stellt und diese Frage zur „nichtüberschreitbare[n] Grenze“ (TG 13) der Philosophie erklärt, geht alsbald selbst über in christologische Betrachtungen, vgl. TG 9–23.

IV. Zum Ertrag der Untersuchung

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Ideen her, wie der Zwei-Naturen-Lehre (II.3.2), der Inkarnation (II.3.3) und seiner Logos- (II.4.2) und Sendungschristologie (II.4.4). Seine theodramatische Geschichtsdeutung folgt auf die in H dargelegte Reflexion auf die Offenbarung Gottes, deren entscheidende Gestalt in Christus liegt.1653 Pannenberg wiederum leitet vermittels der Christologie über von den Antworten des Menschen zur Antwort Gottes, vom Denken »vom Menschen aus« zum Denken »auf Gott hin« und »von der Zukunft her«, da diese in Christus offenbart wurde. Vermittels des Ausgriffs des Menschen über seine Gegenwartserleben hinaus veranschaulichen dabei Balthasar und Pannenberg den Zusammenhang von Zeitlichkeit und Transzendenz (II.4.1; III.2.), wobei diese Transzendenz zunächst als Transzendenz der Zukunft über die Gegenwart und insofern als „Unbestimmtheitshorizont“1654 menschlichen Daseins verstanden werden kann. Als eschatologische Transzendenz wird diese Transzendenz da lesbar, wo beide davon ausgehen, dass als durch Christus „erwirkte Ewigkeit“1655 der Gegenwart des Menschen proleptisch seine Zukunft innewohnt.1656 Diese spezifisch christliche Deutung des Zusammenhangs von Zeitlichkeit und Transzendenz wird da auch außerhalb einer christlichen Binnenlogik als produktives, lebensbejahendes Angebot zur Selbstdeutung potenziell plausibilisierbar, wo sie, wie bei Pannenberg, ihren denkerischen Ausgangspunkt in der Anthropologie findet (III.2.). Sie setzt damit nämlich nicht voraus, was sie erweisen möchte. Vielmehr ermöglicht sie dem Menschen zunächst eine Identifikation mit ihrer denkerischen Ausgangsbasis, nämlich dem menschlichen Ausgriff aufs Ganze, und bewegt sich erst von da aus weiter in Richtung einer christlichen Daseinsdeutung. Bei Balthasar findet sich das unmittelbar ansprechendste Eingangstor in sein Werk in seiner Darstellung des Menschen als Fragment (II.4.1.), hinter der allerdings, wie oben zusammengefasst, bereits eine dogmatische Anthropologie steht, die in Balthasars Christologie wurzelt. Die hohe Bedeutung des menschlichen Fragens nach dem Ganzen bei Balthasar darf dabei freilich nicht übersehen werden. In seiner Darstellung des fragmentarischen, menschlichen Lebens1657 wirkt er dabei zugleich provokanter und einfühlsamer als Pannenberg. Weder Balthasar noch Pannenberg entsprechen dem Zerrbild zeitflüchtiger Theologie, die den Menschen aus seinem Jetzt heraus in eine spekulative Ewigkeit entreißen möchte.1658 Der Fokus auf das menschliche Lebensjetzt und eine christliche Perspektive aufs Dasein müssen sich offenkundig nicht widersprechen. Die 1653 1654 1655 1656

Vgl. H I 445 ff. Danz, Art. Transzendenz, 553, vgl. I.1. GF 56. Vgl. GF 53 f.; TD IV 48. Balthasar formuliert dem Duktus johanneischer, präsentischer Eschatologie entsprechend, dass „mit der Auferstehung Jesu die Zukunft zur Gegenwart geworden“ (TD IV 321). Zu Pannenberg vgl. III.3. 1657 Vgl. GF 63 ff. 1658 Vgl. TG 37; TD III 132; Pannenberg, Gegenwart Gottes, 152.

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IV. Zum Ertrag der Untersuchung

menschliche Lebensgegenwart erscheint Balthasar und Pannenberg als positiver, dem Menschen Freiheit1659 (II.4.3) und Selbständigkeit (III.2.2.2) gewährender Raum der Lebensgestaltung. Dabei leitet aber Balthasar die Freiheit des Menschen aus der analogia libertatis des Menschen und seines liebenden Schöpfers ab, während Pannenberg, der ausdrücklich Kritik an der analogia entis übt (III.3.3), seinen Freiheitsgedanken über die Zukunft als Raum der Möglichkeiten gewinnt. Auch das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft akzentuieren beide unterschiedlich. Bei Balthasar liegt die Zukunft des Menschen primär vor ihm, entsprechend der Zeiterfahrung des Menschen, wie sie sich im Fluss der temporalen Modi, Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, widerspiegelt. Pannenberg akzentuiert weitaus stärker, dass die Zukunft des Menschen nicht nur vor, sondern auch hinter ihm liegt, da mit Ostern das Ende der Geschichte proleptisch Realität geworden ist, so dass die Gegenwart vom Christusgeschehen her von (antizipierter) Zukunft und zukünftiger Zukunft regelrecht eingeklammert wird.1660 Gegenwart ist demnach bei Pannenberg im Eigentlichsten von Zukunft her. Dieser materiale Unterschied resultiert aus den formal unterschiedlichen Wirklichkeitszugängen beider Theologen. Balthasar hält in seiner Theologie, wie teils explizit, zu weiten Teilen implizit deutlich wird, an der Analogie (II.2.2.1; II.2.2.3) fest, die die Annahme der Subsistenz Gottes bereits voraussetzt, und davon ausgeht, dass sich das Sein je jetzt im Verhältnis der Analogie zu Gott vollzieht. Pannenberg dagegen möchte (theologische) Erkenntnis über den Weg der Antizipation (III.2.3; III.3. u. ö.) und damit den Zukunftsbezug der Gegenwart gewinnen.1661 Dies entspricht seinem weitaus 1659 Oben unter Anm. 134 ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Rede von der Freiheit des Menschen »als solchem«, nicht erst als gerechtfertigtem, ein unterscheidend katholisches Moment der Theologie Balthasars darstellt. Wirkmächtig betonte Luther, dass Freiheit nicht ein „natürliches Vermögen“, sondern eine „Gabe [ist], die dem Menschen im Geschehen der Rechtfertigung zuteil wird“ (Huber, Art. Freiheit, 322). 1660 Vgl. III.4.1.1. Balthasar versteht zeitliche Existenz als Sein auf Zukunft hin, vgl. VC 80. Er kann bspw. die Geschichte von Völkern jedoch auch von ihrer Zukunft her deuten, vgl. VC 78. Dabei ergibt sich bei ihm aber nicht die Reihung Zukunft-Gegenwart-Zukunft. Läuft in Balthasars Denken die Geschichte nämlich primär auf ihre Vollendung hin, deren präsentisches Moment er von seinem johanneischen Impetus her ebenfalls stark betont, akzentuiert Pannenberg das Eschaton ungleich stärker als Ursprungsgeschehen. Auch Balthasar deutet Jesu Auferstehung als Ende der Geschichte, vgl. GF 352 f.; TD IV 15.41.324. Jedoch erscheint das Christusgeschehen bei ihm stärker als Mitte des historischen Verlaufs, vgl. TG 21; VC 67. Die Geschichte wird dadurch entzwei geteilt in vor- und nachchristlich (II.4.6). Auch für Pannenberg ist die Geschichte strukturiert in das Geschehen vor und nach Christus. Er betont diesen Aspekt aber weitaus weniger als Balthasar, da für ihn der Zielcharakter des Christusgeschehens im Fokus steht. Dem entspricht, dass das Christusgeschehen für Pannenberg nicht so sehr in dramatischer Steigerung einen nachchristlichen Widerstand freisetzt, sondern Verstehen (Gottes, der Welt und seiner selbst) ermöglicht, vgl. III.2.1.2. 1661 Die Frage nach Sinn und Grenze der theologischen Analogie ist einer der frühesten Berührungspunkte zwischen Balthasar und Pannenberg. So war Pannenbergs erster Aufsatz der Analogielehre Balthasars gewidmet, wie sie in dessen Buch zu Barth Gestalt annahm, vgl.

IV. Zum Ertrag der Untersuchung

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weniger theologisch voraussetzungsreichen, fundamentaltheologischen Denkansatz in der Anthropologie. Daraus resultiert ein unterschiedliches akzentuiertes Gegenwartsverständnis: – Aus Balthasar Perspektive existiert die Welt bereits gegenwärtig – zwar in je größerer Unähnlichkeit, doch dafür in theo-dramatisch involvierender, relationaler Weise – Gott-analog. Darin ist der Mensch je heute in seiner Gegenwart geborgen. – Aus Pannenbergs Perspektive wird die Gegenwart je heute antizipativ von ihrer Zukunft in Christus her. Und so greift auch der Mensch je heute über seine Gegenwart auf seinen Ziel-Grund in Gottes Zukunft hin aus. Gerade im Ausgang vom anthropologischen Ausgriff aufs Ganze hebt Pannenberg also, wie im II.2.1 korrespondierenden Abschnitt III.4.1 deutlich wird, die Zukunftsmacht Gottes deutlich hervor, während Balthasar ungleich stärker vom »Bereits-heute« der Gegenwart Gottes her denkt. Damit gelingt Balthasar zugleich eine stärkere Würdigung des menschlichen Lebensjetzt als Pannenberg. Dieser unterschiedlich gesetzte temporale Akzent durchzieht ihre gesamte Theologie. Wo Balthasar, gut katholisch, die ekklesiologisch-sakramentale (II.4.7) Gegenwart Christi im Heute betont, fokussiert sich Pannenberg ungleich stärker auf die Antizipation der Zukunftsmächtigkeit Gottes und des von Jesus verkündigten Reiches Gottes (III.4.1.1) und versteht auch die Kirche, vor allem in ihren (quasi-)sakramentalen Vollzügen, als Zukunftszeichen mitten in der Gegenwart Pannenberg, W., Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar, in: ThLZ 78, 1953, 18–23. Balthasars Analogiebegriff ist dabei – im Unterschied zu dem von Pannenberg, der sich in Bezug auf die Analogie auf ihre, seiner Ansicht nach nur mangelhafte, erkenntnistheoretische Funktion konzentriert – per definitionem relational und akthaft. Für Balthasar bedeutet die theologische Analogie nicht nur ein abstraktes, erkenntnistheoretisches Konzept, sondern den Inbegriff liebender Relationalität endlicher und unendlicher Freiheit. Für Balthasar verlangt auch darum jede Erkenntnis Gottes nach handelnder Antwort. Und die Erscheinung Gottes (H) kann überhaupt nur in einem Geschehen der Begegnung (TD) »verstanden« (TL) werden, vgl. TD I 15. Vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Analogieverständnisse kann Balthasar Pannenbergs früher Kritik an Barth nicht zustimmen, dass dessen Theologie in ihrer Struktur trotz der Ablehnung einer analogia entis zugunsten einer analogia fidei einem statischen Analogiebegriff verpflichtet bliebe, der dem Begegnungscharakter der Offenbarung Gottes in Christus nicht entspräche, vgl. Balthasar, Karl Barth, IV und Pannenberg, Balthasar, 24. Aus Balthasars Sicht kann die theologische Analogie im Eigentlichen gar kein statisches Erkenntniskonzept sein. Pannenberg wiederum kritisiert an der theologischen Analogie deren argumentative Inkonsistenz, da sie faktisch entgegen ihrer Intention bleibend auf Univokation angewiesen sei. Er formuliert darum entsprechend seinem Konzept der Antizipation eine temporale Kritik an der Analogielehre, nach der die theologische Analogie durch ihren starken Gegenwartsbezug den Primat der Zukunft Gottes nicht hinreichend berücksichtige, weswegen die Doxologie als antizipative Redeweise der Analogie vorzuziehen sei (III.3.3).

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IV. Zum Ertrag der Untersuchung

(III.4.3). Balthasar sucht vorrangig nach der Sendung, die die Lebensgegenwart des Menschen heute erfüllen soll (II.4.4), wohingegen bei Pannenberg das GegenwartsWesen Mensch vor allem zum zukunftsbezogenen Wesen wird, da der Mensch nur auf Zukunft hin leben und handeln kann (III.2.4).1662 Wo Balthasar Geduld als Grundlage christlicher Existenz versteht, die Vorläufigkeit menschlicher Existenz als ihr großes Potenzial deutet und das Wesen der Sünde demgegenüber in der Antizipation der Ewigkeit verortet (II.4.1.3; ähnlich II.4.6.2), könnte Pannenbergs Konzept der Antizipation der Zukunft geradezu als Ausdruck einer diese produktive Vorläufigkeit der Gegenwart überspringenden Ungeduld gelesen werden. Das heißt nicht, dass Balthasar das Moment der Vorläufigkeit auch der Lebensgegenwart des Glaubenden nicht bewusst wäre, betont er doch gerade deren Fragmenthaftigkeit (II.4.1), oder dass Pannenberg die Gegenwart intentional überspringen wollte, wie unter III.5. ja bereits herausgearbeitet worden ist. Die pointierte Hervorhebung des geschichtsprägenden Potenzials, einer Sendung zu folgen (II.4.4),1663 lässt Lebensgegenwart im individualitätstheoretisch geprägten (II.3.2; II.4.6) und damit sehr modern auf das individuelle Jetzt fokussierten Entwurf Balthasars jedoch stärker positiv in den Fokus treten als Pannenbergs ständige Betonung, der Mensch existiere in seinem Jetzt im Ausgriff darüber hinaus – wenngleich dieser Ausgriff gerade in seiner Vermittlungsfunktion zwischen Theologie und »verzeitlichter« Gegenwartskultur relevant ist und eindrucksvoll plausibilisiert, dass Zeitlichkeit und Transzendenzerleben nicht im Widerspruch stehen, sondern das zeitliche GegenwartsDasein des Menschen eben dieses Transzendenzerleben evoziert.1664 Der Ausgriff aufs Ganze (III.2.1), über den Pannenberg dies ausdrückt, kann im Rahmen seines Entwurfs geradezu als theologische Variante der »verzeitlichten« Opposition von Vergangenheit und Zukunft (I.1.) gelesen werden. Reflektiert Theologie glaubwürdig auf das menschliche Zeiterleben, dann gewinnt sie ein erhöhtes Maß an lebensweltlicher Plausibilität. Sie wird dann als Ausdruck dessen verstehbar, dass der Mensch, wie Balthasar meint, Wesen der Frage ist (II.4.1.2) – oder, wie Pannenberg dagegen hält, Wesen der Antwort (III.2.1.1), die er sich auf seine Fragen immer schon antizipativ geben muss. Da Frage und Antwort nicht ohneeinander sein können, weil jede Frage verschiedene Antwortmöglichkeiten freisetzt, selbst wenn noch nicht entschieden werden kann, welche tragfähig ist, und weil jede Antwort neue Fragen aufwirft, ist es an 1662 In gewisser Weise entspricht er hier Balthasars Urteil über den eschatologisch ausgerichteten, strengen Protestantismus, vgl. VC 19. 1663 Wo Balthasar hervorhebt, die gesendete Person mache Geschichte, streicht Pannenberg stärker heraus, (Lebens-)Geschichte präge Individualität, vgl. III.2.1.1. 1664 Dies kann verstanden werden als ein spezifisch temporaler Ausdruck dessen, was Lauster so formuliert: „Das Christentum ist die Sprache eines Weltgefühls, das den Überschuss als das Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt versteht, es ist daher die Sprache einer kontinuierlichen Verzauberung der Welt. Diese Verzauberung endet in der Moderne nicht, sie nimmt andere Formen an.“ (Lauster, Verzauberung, 13.)

IV. Zum Ertrag der Untersuchung

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dieser Stelle zwar möglich, Balthasars und Pannenbergs Konzepte als supplementär zu lesen. Auch für Balthasar ist die Antwort auf die »Frage Mensch« in Jesus bereits erschienen (II.4.2). Pannenberg wiederum meint nicht, der Mensch existiere stets in zutreffenden, gesicherten Antworten, sondern hebt deren antizipativen Charakter hervor (III.2.1). Die Denklogik Balthasars und Pannenbergs divergiert an dieser Stelle jedoch erkennbar. Balthasar folgert zwar, wie unter II.4.1.2 aufgeführt, dass Gott dem Menschen nicht fremd ist, denn das menschliche Fragen in der Unmöglichkeit, selbst die Antwort hervor zu bringen, verweise das Geschöpf an den Schöpfer.1665 Dies entspricht der anthropologischen Grundlegung der Theologie wie sie bei Pannenberg Gestalt gewinnt, jedoch gerade nicht, da Balthasar die Antwort auf das desiderium naturale dei letztlich rein auf die Seite Gottes verlegt, wenn der Mensch Frage bleibt, und er der Reflexion des Menschen damit weniger Erkenntnisgewinn zutraut als Pannenberg. Dadurch bleibt, auch wenn Balthasar im Verlauf der Entwicklung seiner Theologie an das menschliche Selbstverhältnis in seinem Frage-Charakter anknüpfen und somit keine reine Theologie von oben entwerfen möchte, durchaus der Eindruck einer in ihrem Kern doch supranaturalen Offenbarungstheologie bestehen. Balthasars Dogmatik liegt dabei auch seiner ansprechenden Charakterisierung des Menschen als Frage-Wesen bereits zugrunde. Dabei betont Balthasar zudem, dass die Antwort auf das Fragen des Menschen nach sich selbst als das Erleben von Annahme in Christus geschieht (II.4.2), während die Antwort bei Pannenberg ungleich stärker über eine christliche Denklogik der Antizipation gesucht wird. Zum Verhältnis von christlicher und verzeitlichter Daseinsdeutung zu beachten ist weiterhin: Da das Christentum als solches kein kulturenthobenes Unterfangen ist, sondern die Kultur prägt, in der es seine Gestalt annimmt, und von dieser beeinflusst ist,1666 kann es der »Verzeitlichung« menschlicher Lebensdeutung gar nicht nur antithetisch gegenüber stehen, sondern wird stets auch selbst Anteil an ihr haben.1667 Dieser Anteil wird, so ist vor dem Hintergrund der Untersuchung der Entwürfe Balthasars und Pannenbergs zu vermuten, nicht nur partizipativ, sondern möglicherweise auch ursächlich sein. So kann die Inkarnation Christi in die Zeit (II.3.3) sowie die Sendung seiner Jüngerinnen und Jünger in ihre jeweilige Zeit (II.4.4) als Ausdruck der Bedeutsamkeit menschlicher Lebensgegenwart gelesen werden. Diese Bedeutsamkeit gewinnt sie auch im Hinblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft (III.3.; III.4.), ist Gegenwart auf sie hin doch keine Zeit leerer Mühen, sondern ihr kommt ein Richtungssinn zu. Diese christliche Würdigung und zugleich Überschreitung menschlicher Lebensgegenwart kann als eine Wurzel der momentan vorherrschen1665 Vgl. GF 14.99. 1666 Vgl. Lauster, Verzauberung, 13–17. 1667 Das gilt auch für die Säkularisierung. Balthasar verweist exemplarisch auf Rahner und Hegel, die beide von einem Zusammenhang zwischen Christentum und Säkularisierung ausgingen, vgl. TD III 409.

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IV. Zum Ertrag der Untersuchung

den, verzeitlichten Gegenwartsdeutung interpretiert werden.1668 Pannenberg selbst leitet die „Vergeschichtlichung des Selbstverständnisses des Menschen“ aus dem urchristlichen Anspruch ab, der Mensch finde erst in Christus „zu seiner eigentlichen Bestimmung“1669 (III.2.1.2). Und wo Balthasar die hohe Bedeutsamkeit der Gegenwart aus der Inkarnation des Sohnes ableitet, dessen Eingehen in die Zeit die Würde der Zeit zum Ausdruck bringt (II.3.3), wird es in der Folge auch theologisch möglich, von einer »Verzeitlichung« zu sprechen, die der Bewegung Gottes in die Welt und damit in die Zeit hinein als Handeln auf Zukunft hin entspricht; eine Bewegung, in der Gott sich im Sohn selbst »verzeitlicht«.1670 Sie bedeutet das Kommen Gottes zu den Menschen und gibt ihrem Heute seine einzigartige Würde und Sendung. Sie stellt einen Einspruch gegen jede fromme Jenseitsflüchtigkeit dar1671 und ist in ihrer Erwartung des Reiches Gottes zugleich Ausdruck der Transzendenz der Zukunft dem Heute gegenüber.1672 Damit ist nun endgültig der dem Anschein nach gegebene Gegensatz aufgebrochen, der sich zwischen einer vermeintlich säkularen, verzeitlichten Gegenwarts1668 Damit ist nicht gesagt, dass die christliche Tradition die einzige Wurzel der momentan vorherrschenden, »verzeitlichten« Gegenwartsdeutung ist. 1669 A 482. Balthasars Sendungsgedanken als Ausdruck eines primär geschichtlich verfassten Menschenbildes (II.4.4) zu verstehen, scheint diesem Gedanken verwandt. 1670 Balthasar nutzt das Stichwort der Verzeitlichung selbst nicht, schreibt aber: „Weil Gott selbst die Herrlichkeit und die Demütigung des zeitlichen Daseins auf sich genommen hat, ist es unmöglich, die Form der Zeitlichkeit von der Offenbarungswahrheit zu abstrahieren, um so ein bloßes System unzeitlicher Wahrheit zurückzubehalten.“ (VC 78.) 1671 Zudem weist gerade auch die hebräische Bibel einen positiven Bezug auf die Daseinsgegenwart des Menschen auf. Sie feiert den Schöpfer in seiner Schöpfung (Ps 104) und die Segensgaben des Lebens heute (Hi 42,12 ff.). Die gegenwärtig wahrnehmbare Fokussierung aufs Jetzt kann auch als Erbe der lebensbejahenden, hebräisch-jüdischen Tradition verstanden werden. Der Rat, das Hier und Heute zu leben, begegnet bereits früh in der Antike, etwa im Rat der Siduri im Gilgamesch-Epos, vgl. Zgoll, https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/gilgamesch/ch/ ec1099f6061e75fe784251192303e476/, aufgerufen am 06.02.2019. Später findet er sich bei Horaz: Carpe diem! Die christliche Tradition entstammt nicht einem luftleeren Raum, sondern verdankt sich vor allem jüdischem, aber auch heidnisch-antikem Denken, wie nicht übersehen werden darf. 1672 Inspiriert durch Balthasar und Pannenberg wird damit quasi die Überwelt Gottes in einer verzeitlichen Weise gedeutet, vgl. I.1. Mit der eschatologischen Verknüpfung von Zukunft und Ewigkeit liegt keine Verzeitlichung in einem rein innerzeitlichen Sinne vor, sondern die Überwelt wird vermittels der eschatologischen Perspektive sehr wohl eingespielt. Koselleck selbst ist der Ansicht, dass als „Säkularisat“ christlichen Erbes nur die „Zielbestimmtheit bezeichnet werden [kann], die sich an die progressiven Hoffnungen knüpfte, nämlich in Zukunft ein Reich des Glückes und der Herrschaftsfreiheit herbeizuführen. Zweitens ist allenthalben als Säkularisat anzusprechen, daß die Geschichte selber überhaupt ein Ziel haben solle.“ (Koselleck, Zeitschichten, 195.) Der „harte Kern der Beschleunigungserfahrung [, die der Verzeitlichung zugrunde liegt; Anm. d. Vf.in], nämlich die technische und industrielle Überformung der menschlichen Gesellschaft“ sei hingegen „nicht aus theologischen Prämissen ableitbar“ (ebd. 195).

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kultur und einer religiösen Weltsicht bei einer oberflächlichen Betrachtung aufzutun scheint. Wo der Fokus auf das Jetzt des Menschen zunächst als Ausdruck einer säkularisierten Weltsicht erschien (I.1.), wird er nun als Ausdruck sinn- und lebensdeutender und darin religiöser Gehalte lesbar und eben darin als eigenständige Verlängerung christlich-religiöser Überlieferungen. Eben damit trägt er das Potenzial in sich, die christliche Theologie an ihre ureigensten Wurzeln zu erinnern. Ohne dass die unter I.1 skizzierte geistesgeschichtliche Verschiebung weg von institutionalisierter Religiosität damit negiert werden kann,1673 geht die schablonenhafte Entgegensetzung einer säkularisierten und einer religiösen Weltsicht im Bezug auf den Nexus von Zeitlichkeit und Transzendenz nicht auf. Zugleich sind Balthasar und Pannenberg dabei jedoch auch der Ansicht, dass die Verortung des Menschen in einem Ganzen erst im Zusammenhang der christlichen Religion zu einer im eigentlichen Sinne tragfähigen Selbstdeutung führt. Vermittelbar wird das hoffnungsstiftende und damit Gegenwart erhellende Potenzial einer theologischen Daseinsdeutung einer verzeitlichten Gegenwartskultur in der Folge als spezifische Gestalt einer Zukunftshoffnung (III.2.3.1; III.4.3), durch die der Mensch seine Gegenwart befreit leben kann, und die eben diese verzeitlichte Gegenwartskultur wurzelhaft mit freigesetzt hat. Das besondere Potenzial einer christlichen Daseinsdeutung liegt dabei in der Annahme des Menschen als Fragment, die im Glauben an eine kontrafaktische »Rechtfertigung« des menschlichen Daseins in seiner Fragmenthaftigkeit besteht (II.4.1.4). Eben durch ihren Bezug auf ein Ganzes muss die menschliche Existenz sich nicht selbst in dieses Ganze wandeln. Das ermöglicht dem Menschen, nach der Füllung seiner Lebensgegenwart zu fragen, die ihn tatsächlich zu sich selbst bringt. Mitten in der Opposition aus Vergangenheit und Gegenwart, in der die Gegenwart sich scheinbar stets dagegen behaupten muss, selbst Vergangenheit zu werden (I.1.),

1673 So betrafen die bis hier deutlich gewordenen Konsonanzen eines theologischen und eines »verzeitlichten« Gegenwartsverständnisses primär die Apperzeption des temporalen Daseinscharakters des Menschen. Dissonanzen können sich dort auftun, wo theologische Interpretamente den innerzeitlichen Bezugsrahmen des menschlichen Daseins unter Bezugnahme auf die christliche Überlieferung auf eine als überzeitlich, ja ewig verstandene Dimension der Transzendenz hin überschreiten oder die Anerkenntnis bestimmter Glaubenssätze voraussetzen, so etwa beispielhaft bei Balthasar, wo er Gegenwart theodramatisch im trinitarisch geöffneten Raum Gottes verortet (II.3.3) und als dialogischen Wort-Raum im λόγος Christus gegründet sieht (II.4.2), und bei Pannenberg, für den ein eschatologisch (III.3.2) gefüllter Zukunftsbegriff Grund und Ziel der Gegenwart bildet und der den Charakter von Gegenwart als Moment der creatio continua (III.4.1.2) hervorhebt, der von Gott mit Blick auf die eschatologische Zukunft freigesetzt wird (III.3.2; III.4.1.1). Weiterhin überschreitet die ekklesiologische Glaubensdimension, die für die sakramentale Anwesenheit Christi (II.4.7) oder auch die sakramental-zeichenhafte Zukunftsdimension kirchlicher Vollzüge (III.4.3) in der Gegenwart theologischerseits geltend gemacht wird, eine rein innerzeitliche Betrachtung der Gegenwart.

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ermöglicht dies die Akzeptanz des Moments als Durchgangsmoment (III.4.2.2), der als eben dieser seine bleibende Bedeutung hat. In der christlichen Gegenwartsdeutung drückt sich zudem ein Gespür für das Wunderbare des menschlichen Daseins aus (III.4.1.2). Dieses Gespür bezieht sich in besonderer Weise auf die Ambivalenz des Lebens zwischen Selbst- und Fremderhaltung,1674 die auch das Gegenwartserleben des Menschen betrifft. Der Mensch erlebt sich nämlich nicht nur als Subjekt seiner Lebensgegenwart, das dieselbe gestaltet, sondern er erlebt auch, dass seine Gegenwart ihm gewährt wird, da er sie nicht selbst hervorbringt.1675 Dies erlebt er insofern, als dass er sie nicht festzuhalten vermag und doch stets »in« ihr lebt. Mit seiner Gegenwart wird der Mensch sich so zugleich selbst geschenkt, was ihn auf einen Ziel-Grund seines Daseins verweist. Auch die existenzielle Erschließungskraft der Geschichtstheologien Balthasars und Pannenbergs liegt in der Deutung des konkreten und individuellen menschlichen Daseins jetzt. So ist Balthasars theodramatische Hermeneutik der Geschichte stets individualitätstheoretische Existenzhermeneutik der jeweiligen Lebensgegenwart eines Menschen auf der Suche nach seiner Rolle im Leben (II.2.3 und II.4.4.2) und in Pannenbergs durch den Gedanken der Antizipation geprägten geschichtstheologischen Entwurf ist es stets der konkrete, geschichtsförmige Mensch jetzt, der Zukunft antizipiert (III.2.1). Hermeneutik der Geschichte gibt es für Balthasar und Pannenberg also nicht ohne Hermeneutik des Jetzt und des Menschen, um dessen Jetzt es sich jeweils handelt. Auch in theologischen Entwürfen, die nach objektiver Evidenz streben,1676 bleibt die subjektive Frage des Menschen nach sich selbst 1674 Vgl. STh II 63.68. 1675 Dass es „erstaunlich“ (Feldtkeller, Religion, 240) ist, „hervorgebracht“ (ebd.) zu sein, wie Feldtkeller u. a. im Hinblick aufs Geborensein des Menschen darlegt (vgl. ebd. 240 f.), und das Staunen hierüber sich religiös ausdrückt, gilt auch für die Zeitlichkeit menschlichen Lebens. 1676 Vgl. Verweyen, Fundamentaltheologie, 395 Anm. 38, der dieses Streben als Gemeinsamkeit zwischen Balthasar und Pannenberg ausmacht. In unterschiedlicher Weise machen beide diese Evidenz an Christus fest. So hält Balthasar die objektive Evidenz für „das subjektive Erfahrungsvermögen“ für unverzichtbar, da dieses „seine Daseinsberechtigung und Rechtfertigung in einem erfahrbaren Objekt“ (H I 413) findet. Gott erschließt sich dem Menschen dementsprechend in seiner Offenbarung in der Gestalt Christi (H I 414–417). Dabei weist Striet auf die Schwierigkeit hin, an Christus eine objektive Evidenz (vgl. H I 413 ff.) des Heilsgeschehens festzumachen, deren Erkenntnis allein durch die Sünde getrübt sein könne, und hält an der „Möglichkeit dieses Nichtsehenkönnens“ (Striet, Wahrnehmung, 80) fest, ohne Balthasars Grundintention aufgeben zu wollen, dass nur Liebe glaubhaft ist und diese in Jesus in überragender Weise Gestalt und damit auch Evidenz gewinnt. Pannenberg wiederum hebt in seinem Streben nach objektiver Evidenz die prinzipielle Zugänglichkeit des geschichtlichen Offenbarungsgeschehens, das in Christus zu seinem Höhepunkt findet, für die Vernunft hervor, so etwa in der stark umstrittenen These 3 von OaG (vgl. OaG 98), und die Entsprechung von christlichem Glauben und Vernunft. (Dass die Rolle des Heiligen Geistes für die Glaubenserkenntnis hierdurch fragwürdig wird, kompensierte er durch die Entwicklung seiner umfassenden Pneumatologie, von der hier nur ausschnitthaft die Rede sein konnte, vgl. III.4.2.3.) Auch wenn die „Unerschöpflichkeit des Glaubens-

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unüberspringbar. Und so kann Geschichtstheologie offenkundig nur im Rahmen der Selbstauslegung des Menschen in seiner zeitlichen Verfasstheit in Erscheinung treten. Scheinbar vordergründige, geschichtstheologische Fragen, wie die nach einer Heilsgeschichte, sind damit faktisch sekundär. Primär fragt der Mensch geschichtstheologisch nach seinem Ort in der Geschichte, nach seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der individualitätstheoretische Zug der Theologie Balthasars (II.3.2) und die anthropologische Fundierung der Theologie Pannenbergs (III.2.) tragen diesem Moment Rechnung. Religiöse Daseinsdeutung ist damit mitnichten obsolet. Sie vollzieht sich überall dort, wo der Mensch sein Jetzt deutend und strebend überschreitet. Verzeitlichte und theologische Perspektive auf Gegenwart korrelieren und ergänzen einander dabei in hohem Maße.1677 Dies Potenzial gilt es von Seiten der Theologie her fruchtbar zu machen und im Dialog und der Verkündigung zur Sprache zu bringen. Gerade das Anknüpfen an ein verzeitlichtes Verständnis des Daseins bietet damit eine Möglichkeit, den christlichen Glauben in einer insofern säkularisierten Kultur zu plausibilisieren, als dass die konfessionell gebundene Religionsausübung sich im Rückgang befindet. Vermittels der Apperzeption menschlicher Lebensgegenwart kann die implizite Präsenz von Religion im Leben des Menschen und die Relevanz einer explizit religiösen Daseinsdeutung kommunikabel werden.

inhalts“ angesichts der „Differenz zwischen der Gegenwart des Glaubens und der Zukunft Gottes“ nicht überholbar ist, darf Theologie „hoffen, daß ihr immer wieder Einsichten geschenkt werden, die sie zu vernünftiger Vergewisserung der im Glauben antizipierten Wahrheit Gottes gelangen lassen“ (BSTh 1, 84). Und so besteht etwa nach Pannenberg zwischen Schöpfungstheologie und Naturwissenschaft eine grundlegende „Konsonanz“ (BSTh 2, 42), die eine vernunftgemäße, interdisziplinäre Vermittlung ermöglicht. 1677 Die Auseinandersetzung mit »verzeitlichter« und christlicher Sichtweise kann neu ins Bewusstsein rufen, dass eine apodiktische Trennung zwischen Immanenz und Transzendenz wie zwischen zwei Welten, einer diesseitigen, zeitlichen und eine jenseitigen, überzeitlichen, weder der christlichen Theologie entspricht (II.2.2.1; III.3.2) noch dem sein Selbst transzendierenden Charakter des Menschen. Dies gilt besonders auch für die hebräische-jüdischen Wurzeln der christlichen Tradition. So meint etwa ‫ עוׂﬥָם‬bis auf wenige, späte Belege zumeist »fernste Zeit« (Gen 6,4; Jes 42,14) und war doch anschlussfähig zu einer Deutung als göttliche Ewigkeit (Jes 40,28) oder ewiges Leben des Menschen (Dan 12,2), vgl. Jenni, Art. Ewigkeit, 228 ff. Und wäre des Menschen Lebensjetzt der Inbegriff des Ganzen, dann bliebe dem Menschen nur der selbstreferentielle Bezug auf sein je-heute und damit sein eigenes Dasein. Er wäre in einer in sich selbst verkapselten Existenz gefangen. Eine nur vermeintlich christliche, absolutgesetzte Ewigkeitsorientierung dagegen würde blind machen für die Ästhetik, die Dramatik und die Anforderung des Augenblicks und damit für das Jetzt als solches, aber auch wiederum seiner Verflechtung mit der heute noch unbestimmbaren, nur antizipativ erreichbaren Ganzheit des Seins. Sie würde damit zugleich die konkrete Einzelperson des Menschen zu überspringen suchen und bei diesem unmöglichen Versuch unweigerlich fallen, da sie, so wie es für Geschichtstheologie als solche gilt, ohne ihren Bezug auf das Jetzt des konkreten Menschen, gar nicht Gestalt anzunehmen vermag.

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ratio fidei

Beiträge zur philosophischen Rechenschaft der Theologie Band 40

Frank Meier-Hamidi / Klaus Müller (Hg.): Persönlich und alles zugleich. Theorien der All-Einheit und christliche Gottrede

Band 41

Ottmar John / Magnus Striet (Hg.): »… und nichts Menschliches ist mir fremd« Theologische Grenzgänge

Band 42

Mariele Nientied: Reden ohne Wissen. Apophatik bei Dionysius Areopagita, Moses Maimonides und Emmanuel Levinas. Mit einem Exkurs zu Niklas Luhmann







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Band 43

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Band 48

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264 Seiten, ISBN 978-3-7917-2291-7

446 Seiten, ISBN 978-3-7917-2376-1

200 Seiten, ISBN 978-3-7917-2430-0

200 Seiten, ISBN 978-3-7917-2431-7

200 Seiten, ISBN 978-3-7917-2432-4

376 Seiten, ISBN 978-3-7917-2438-6

Band 49 Florian Mittl: Hoffnung als anthropologische Grundkategorie. Fundamentaltheologische Beiträge aus der Diskussion mit Marcel Gabriel, 272 Seiten, ISBN 978-3-7917-2465-2 Band 50 Julia Enxing: Gott im Werden. Die Prozesstheologie Charles Hartshornes 2. Auflage, 320 Seiten, ISBN 978-3-7917-2495-9

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Francisco de Aquino Júnior: Theologie als Einsicht in die Gottesherrschaft. Die Methode der Befreiungstheologie nach Ignacio Ellacuria

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Band 56 Magnus Lerch: Selbstmitteilung Gottes. Herausforderungen einer freiheitstheoretischen Offenbarungstheologie eBook (pdf), eISBN 978-3-7917-7073-4 Band 57 Kerstin Stürzekarn: Freiheit, die Befreiung braucht. Konturen eines theologischen Freiheitsbegriffs 304 Seiten, ISBN 978-3-7917-2736-3 Band 58 Isabella Guanzini: Anfang und Ursprung. Massimo Cacciari und Hans Urs von Balthasar 224 Seiten, ISBN 978-3-7917-2778-3 Band 59 Gunda Werner: Die Freiheit der Vergebung. Eine freiheitstheoretische Reflexion auf die Prärogative Gottes im sakramentalen Bußgeschehen, 392 Seiten, ISBN 978-3-7917-2779-0 Band 60 Martin Dürnberger / Aaron Langenfeld / Magnus Lerch / Melanie Wurst (Hg.): Stile der Theologie. Einheit und Vielfalt katholischer Systematik in der Gegenwart 336 Seiten, ISBN 978-3-7917-2881-0 Band 61 Klaus Viertbauer: Gott am Grund des Bewusstseins? Skizzen zu einer präreflexiven Interpretation von Kierkegaards Selbst 200 Seiten, ISBN 978-3-7917-2888-9 Band 62 Oliver Wintzek: Gott in seiner allwissenden Vorsehung auf dem Prüfstand der Kontingenz. Eine motivarchäologische Kritik des theologischen Kompatibilismus 696 Seiten, ISBN 978-3-7917-2889-6 Band 63 Jakob Helmut Deibl: Fehl und Wiederkehr der heiligen Namen. Anachronistische Zeitgenossenschaft Hölderlins 232 Seiten, ISBN 978-3-7917-2725-7

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Band 66 Miriam Leidinger: Verletzbarkeit gestalten. Eine Auseinandersetzung mit »Verletzbarkeit« anhand der Christologien von Jürgen Moltmann, Jon Sobrino und Graham Ward 360 Seiten, ISBN 978-3-7917-2946-6 Band 67 Sebastian Pittl: Geschichtliche Realität und Kreuz. Der fundamentale Ort der Theologie bei Ignacio Ellacuría 432 Seiten, ISBN 978-3-7917-3006-6 Band 68 Martin Breul: Diskurstheoretische Glaubensverantwortung. Konturen einer religiösen Epistemologie in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas 272 Seiten, ISBN 978-3-7917-3049-3 Band 69 Markus Welte: Die christologische Hermeneutik Bernhard Weltes. Christusverkündigung im Horizont des neuzeitlichen Seinsverständnisses 332 Seiten, ISBN 978-3-7917-3106-3 Band 70 Christian Danz / Georg Essen (Hg.): Dogmatische Christologie in der Moderne. Problemkonstellationen gegenwärtiger Forschung 320 Seiten, ISBN 978-3-7917-3118-6 Band 71 Kathrin Stepanow: Analysis dubii. Die theologische Legitimität iterativen Zweifelns 240 Seiten, ISBN 978-3-7917-3148-3 Band 72 Caroline Helmus: Transhumanismus – der neue (Unter-) Gang des Menschen? Das Menschenbild des Transhumanismus und seine Herausforderung für die Theologische Anthropologie 416 Seiten, ISBN 978-3-7917-3195-7 Band 73 Bernhard Nitsche / Florian Baab / Dennis Stammer (Hg.): Gott – Geist – Materie. Personsein im Spannungsfeld von Natur und Transzendenz 216 Seiten, ISBN 978-3-7917-3191-9

Band 74 Julian Tappen: Hoffen dürfen. Fundamentaleschatologische Überlegungen zu einer zeitgemäßen Eschatologie der Versöhnung 248 Seiten, ISBN 978-3-7917-3252-7

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