Meister Eckhart - ein Wort im Wort: Versuch einer theologischen Deutung von vier deutschen Predigten 9783050048628, 9783050045160

Eckhart gehört zu den anziehendsten Gestalten christlicher Überlieferung. Er war Meister der Theologie und hat auf diese

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German Pages 389 [382] Year 2008

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Meister Eckhart - ein Wort im Wort: Versuch einer theologischen Deutung von vier deutschen Predigten
 9783050048628, 9783050045160

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Sigrun Jäger

MEISTER ECKHART EIN WORT IM WORT

-

Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens.

Im

Neue Folge Band 15

Auftrag der Dominikanerprovinz Teutonia

herausgegeben von Walter Senner OP (Federführender Herausgeber) Kaspar Elm Ulrich Engel OP Isnard W. Frank OP Ulrich Horst OP

Sigrun Jäger

MEISTER ECKHART EIN WORT IM WORT Versuch einer theologischen Deutung von vier deutschen Predigten

Akademie

Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Dominikanerprovinz Teutonia

CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Bibliothek -

Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 978-3-05-004516-0

ISSN 0942-4059 © Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2008

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal

Republic of Germany

Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 2007 von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Wesentliches, insbesondere den Zugang zu einer mystischen Deutung der Predigten Meister Eckharts, verdanke ich meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Dr. Markus Enders. Ihm und allen, die zum Gelingen dieser Studie beigetragen haben, gilt mein Dank: Herrn Prof. Dr. Peter Walter für die Erstellung des Zweitgutachtens, Herrn Prof. Dr. Edouard-Henri Weber OP für die Anregung zu dieser Studie, Herrn Prof. Dr. Dr. Albert Chapelle SJ (t 05.01.2003) für die Leitung meiner Lizentiatsarbeit am „Institut d'Études Théologiques" in Brüssel zum selben Thema, aus der diese Studie erwachsen ist, und für viele wertvolle Gespräche, dem Land Baden-Württemberg für die Förderung dieser Untersuchung durch ein zweieinhalbjähriges Promotionsstipendium nach dem Landesgraduiertenförderungsgesetz, Herrn und Frau de Braconier d'Alphen für ihre großzügige einjährige Förderung des Projektes, Herrn Dr. Martin Lugmayr FSSP für seinen wissenschaftlichen Rat und Beistand, Herrn Mag. Josef Gruber FSO für seine tatkräftige Unterstützung in der letzten Promotionsphase, Herrn Jochen Oertel für die sachkundige Formatierung der Druckvorlage dieses Bandes, dem Herausgebergremium, insbesondere dem federführenden Herausgeber Herrn Prof. Dr. Walter Senner OP, für die freundliche Aufnahme dieser Studie in die Reihe „Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens, Neue Folge" und der Dominikanerprovinz Teutonia für die finanzielle Ermöglichung der Publikation. Nicht zuletzt danke ich allen selbstlosen Helfern aus meinem Familien- und Freundeskreis, die mit Kopf, Herz und Hand meine Arbeit mitgetragen und begleitet haben.

Freiburg, am

15.

August 2008

Sigrun Jäger 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

.

5

Abkürzungsverzeichnis.

11

Quellen- und Literaturverzeichnis.

17

Einleitung

35

I.

.

Einführung in Leben und Werk Meister Eckharts

1. Leben und Werk. 1.1. Eckharts Lebenslauf von ca. 1260-1313 1.2. Predigttätigkeit in Straßburg und Köln (1313-1327) 1.3. Kölner Inquisitionsprozess, AvignonerLehrbeanstandungsverfahren und Tod

.

.

.

45 49 53 60

Überlieferung, Textgestalt, Echtheit und Editionslage der Werke Meister Eckharts.

67

3. Ein Blick in die Geschichte der Eckhart-Rezeption.

77

4. Meister Eckhart als Theologe, Philosoph, und Mystiker des 13./14. Jahrhunderts

83

2.

Prediger

.

7

II.

1.

Auslegung der Predigten Predigt DW 1: Intravit Jesus in templum et coepit eicere véndenles et ementes (Mt 21,12)

Einleitung. 1.1. Thema und Einleitung der Predigt.

105 108

1.1.1. Thema 1.1.2. Der Grund der Tempelreinigung: Die schöpfungsgemäße Bestimmung der menschlichen Seele für Gott allein. 1.2. Die Tempelreinigung. 1.2.1. Die Vertreibung der Kaufleute 1.2.2. Die Aufforderung an die Taubenhändler. 1.2.3. Der Glanz und das Vermögen der begnadeten Seele. 1.3. Das Wortereignis im gereinigten Tempel. 1.3.1. Vorbedingungen für das Vernehmen des Wortes: Gehorsam und Schweigen 1.3.2. Die Einung der Seele mit Gott durch Jesus, das göttliche Wort, und ihre gnadenhafte Rückkehr in ihren ersten Beginn. 1.3.2.1. Jesus Wort des Vaters, das in der Seele spricht 1.3.2.2. Jesus Mitteilung der göttlichen Weisheit. 1.3.2.3. Jesus Selbstoffenbarung in der Süßigkeit des Heiligen Geistes. 1.4. Schlussgebet um Einswerdung mit Gott.

108

.

.

.

.

-

110 114 114 123 131 137 137

138 138 146

-

-

2.

147 155

Predigt DW 22: Ave, gratia plena (Le 1,28) Einleitung. 2.1. Thema und Einleitung der Predigt. 2.2. Die Sohnesgeburt. 2.2.1. Grundlagen von Seiten Gottes 2.2.1.1. Die Sohnesgeburt als konstitutiver Grund der Schöpfung. .

161 164 175 175

175 2.2.1.2. Die historische Inkarnation des Gottessohnes. 181 2.2.1.3. Die Bestimmung des Menschen, den Sohn zu gebären und eins zu sein mit Gott. 186 2.2.2. Bereitung des Menschen für die Sohnesgeburt. 206

8

.

206 209

.

215

2.2.2.1. Demut 2.2.2.2. Gottesliebe 2.3. Relektüre der Predigt Heimfuhrung der Braut durch die Sendung des Sohnes

.

-

3.

Predigt DW 71: Surrexit autem Saulus de terra apertisque occulis nihil videbat (Act 9,8)

Einleitung. 3.1. Thema und Einleitung der Predigt.

3.2. Licht. 3.2.1. Licht vom Himmel. 3.2.2. Dieses Licht ist Gott 3.2.3. Licht, das die Seele umfängt. 3.2.4. Gott, der in alle Kreaturen fließt. 3.3. Nichts. 3.3.1. Einleitung. 3.3.2. Liebe 3.3.3. Nichts. 3.3.3.1. Er sah nichts, weil Gott eins ist. 3.3.3.2. Er sah nichts, weil er nicht mit seiner natürlichen Erkenntniskraft erkannte. 3.3.3.3. Er sah nichts, weil er Gott unmittelbar erkannte. 3.3.3.4. Er sah nichts, weil das reine göttliche Licht in ihm glänzte und strahlte. 3.3.4. Schlusswort der Braut. 3.4. Schlussgebet. .

.

4.

225 228 231 231 233 237 244 247 247 248

257 257 267 268 271 276 279

Predigt DW 6: Iusti vivent in aeternum (Sap 5,16)

Einleitung.

4.1. Thema und Einleitung der Predigt. 4.2. Die Gerechten. 4.2.1. Die Gerechten geben jedem, was sein ist. 4.2.2. Die Gerechten nehmen alle Dinge von Gott als gleich hin. 4.2.2.1. Vom rechten Wollen bzw. Nicht-Wollen des Gerechten.

281 285 286 286 292 292

9

4.2.2.2. Die Gerechten und ihr Feststehen in der 295 Gerechtigkeit aus Liebe 4.3. Die Gerechten werden leben. 303 4.4. Die Gerechten leben ewig bei Gott. 314 4.5. Schlussgebet. 340 .

Analogielehre Meister Eckharts.

343

4.7. Exkurs zu den Artikeln 8, 9, 10 und 22 der päpstlichen Bulle „In agro dominico" vom Jahre 1329. 4.7.1. Artikel 8. 4.7.2. Artikel 9. 4.7.3. Artikel 10. 4.7.4. Artikel 22.

351 352 355 359 363

Schlussbemerkung.

368

Zusammenfassung.

371

4.6. Exkurs

4.8.

III.

zur

Register Personenregister.

383

Sach- und Begriffsregister. 387

10

Abkürzungsverzeichnis

Meister Eckhart Acta

Acta Echardiana,

hrsg. v. Loris Sturlese, in: LW V, 149-. Daz buoch der gœtlîchen troestunge, hrsg.

v. Meister Eckhart. Josef Quint, in: DW V, 1-105. BT Tauler, Opera, Basel 1521 (BTa), Basel 1522 (BTb). DW Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Abt. I: Die deutschen Werke, hrsg. v. Josef Quint [u.a.], Stuttgart 1936-. ECHARDI resp. Magistri Echardi responsio ad artículos sibi impositos de scriptis et dictis suis, hrsg. u. kommentiert v. Loris Sturlese, in: LW V, 275-354. In Eccli. Magistri Echardi Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24,23-31, hrsg. v. Josef Koch [u.a.], in: LW II, 229-300. In Exod. Magistri Echardi Expositio libri Exodi, hrsg. v. Konrad Weiß, in:LWII, 1-227. In Gen. I Magistri Echardi Expositio libri Genesis, hrsg. v. Konrad Weiß, in:LWI, 185-444. Gen. In II Magistri Echardi Liber parabolarum Genesis, hrsg. v. Konrad Weiß, in: LW I, 447-702. In loh. Magistri Echardi Expositio sancti Evangelii secundum lohannem, hrsg. v. Karl Christ [u.a.], in: LW III. In Sap. Magistri Echardi Expositio libri Sapientiae, hrsg. v. J. Koch [u.a.], in: LW II, 301-634.

BgT

'

Die allgemeinen Abkürzungen entsprechen weitgehend dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie (Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, zusammengestellt von Siegfried M.

Schwertner, Berlin/New York 1994).

11

KT

Tauler, Opera, Köln 1543.

LW

Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischenWerke, hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Abt. II: Die lateinischen Werke, hrsg. v. Josef Koch [u.a.], Stuttgart 1936—. Les Œuvres latines de Maître Eckhart, hrsg. v. E. Zum Brunn [u.a.], Paris 1984-. Paradisus anime intelligentis (Paradis der fornunftigen sele), aus der Oxforder Handschrift Cod. Laud. Misc. 479 nach E. Sievers'

OL

Par.

an.

Pfeiffer

Abschrift hrsg. v. Ph. Strauch, Berlin 1919 (Deutsche Texte des Mittelalters 30). Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hrsg. v. Franz Pfeiffer, 2. Meister Eckhart, Leipzig 1857; Nachdruck: Aalen 1962.

Pr.

Predigt

Proc. Col. I

Processus Coloniensis I, in: Acta, 198-317. Processus Coloniensis II, in: Acta, 318-354.

Proc. Col. II

Prol. gen. Prol. op. prop.

Qu. Par. Quint, Üb. RdU

RS, Üb. VA VeM

Magistri Echardi Prologus generalis in opus tripartitum, hrsg. v. Konrad Weiß, in: LW I, 148-165. Magistri Echardi Prologus in opus propositionum, hrsg. v. Konrad Weiß, in: LW I, 166-182. Magistri Echardi Quaestiones Parisienses, hrsg. v. Bernhard Geyer, in: LW V, 27-83. Meister Eckhart. Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. und übersetzt von Josef Quint, Zürich 21979. Meister Eckhart. Die rede der underscheidunge, hrsg. v. Josef Quint, in: DW V, 137-376. Meister Eckharts Rechtfertigungsschrift vom Jahre 1326, hrsg. v. Otto Karrer [u.a.], Erfurt 1927 (Deutscher Geist 1). Von abegescheidenheit, hrsg. v. Josef Quint, in: DW V, 312—437. Meister Eckhart. Von dem edeln menschen, in: DWV, 314-332.

Antike und mittelalterliche Autoren und Werke an.

Aristoreles, De anima

conf.

Augustinus, Confessiones

cons.

Boethius, De consolatione philosophiae

12

hrsg.

v.

Josef Quint,

De div.

nom.

De pot. De ver.

doctr. christ. ed. Colon. enarr.

in Ps.

Dionysius Areopagita [.Pseudo-], De divinis nominibus Thomas von Aquin, De potentia Dei Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de veritate Augustinus, De doctrina Christiana Alberti Magni De caelo et mundo, ad fidem autographie

éd. Monasterii Westfalorum Editio 1971 Hossfeld, Coloniensis). (= Augustinus, Enarrationes in Psalmos

Enn.

Plotin, Enneaden

Gen. ad litt.

Augustinus, De Genesi ad litteram Thomas von Aquin, Commentum in

In Sent.

libris sententiarum

Magistri

Petri Lombardi

metaph. rep. rhet. S. th.

ScG serm.

trin. ver.

rei.

Aristoteles, Metaphysica Platon, De república (Politeia) Aristoteles, Ars rhetorica

Aquin, Summa theologica Thomas von Aquin, Summa contra gentiles Augustinus, Sermones Augustinus, De trinitate Augustinus, De vera religione Thomas

von

Zeitschriften und häufig zitierte Werke ABG

Archiv für

AfdA

Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur Archives d'histoire doctrinale et littéraire du moyen âge Archiv für Literatur- und Kirchengechichte des Mittelalters Corpus Christianorum. Series Latina, Turnholti [u.a.] 1953—. Church History Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Wien 1866f. Enchiridion symbolorum. Ed. Heinrich Denzinger ; Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 392001. Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique

AHDL ALKGMA CCSL ChH CSEL

DH

DSp

Begriffsgeschichte

13

DT(P)

Divus Thomas. Piacenza

EuA

Erbe und Auftrag

FZPhTh HWP

Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie Handbuch der Dogmengeschichte Historisches Wörterbuch der Philosophie

HZ

Historische Zeitschrift

L

LMA

Werke, 2 Bde., hrsg. u. kommentiert v. Nikiaus Frankfurt a. M. 1993. Largier, Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet, hrsg. v. Georg Steer u. Loris Sturlese, Stuttgart, 1. 1998 (= LE I), 2. 2003 (= LE II). Lexikon des Mittelalters

LThK

Lexikon für Theologie und Kirche

MFCG

Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft

MM

Miscellanea mediaevalia

NRTh

Nouvelle Revue

PL RAM

Series Latina, Bde. 1-217, Paris 1844-55; Paris 21878-90. Revue d'ascétique et de mystique

RevSR

Revue des sciences

HDG

LE

RTPM

SC StGen TPh ThPh

ThQ TOB

TPh TThZ VTB

WDGB

14

Meister Eckhart.

Théologique Patrología cursus completus.

hrsg.

v.

J.-P.

Migne,

religieuses Recherches de théologie et philosophie médiévales Sources chrétiennes, hrsg. v. H. de Lubac und J. Daniélou, Paris 1941 f. Studium

genérale Tijdschrift voor philosophie Theologie und Philosophie Theologische Quartalschrift. Tübingen La Bible. Traduction œcuménique, Paris 71997. Tijdschrift voor philosophie Trier theologische Zeitschrift Vocabulaire de Théologie Biblique, Paris 71991. Würzburger Diözesangeschichtsblätter

ZfdA

Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur

ZfdPh

Zeitschrift für deutsche

ZKG

Zeitschrift für Kirchengeschichte

ZKTh

Zeitschrift für katholische Theologie

ZDP

Philologie

Anmerkung zur Rechtschreibung: In sämtlichen Zitaten aus Werken, die der alten Rechtschreibung folgen, wurde „ß" nach der neuen deutschen Rechtschreibung durch „ss" ersetzt. Anmerkung zu den Bibelzitaten: Die deutschen Bibelzitate sind allesamt der Einheitsübersetzung entnommen, die lateinischen Zitate der Vulgata-Edition B. Fischer, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 41994.

15

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen Meister Eckhart DW I: Meister Eckharts -

-

-

-

-

-

-

-

-

-

Predigten 1-24, hrsg.

u.

übers,

v.

Josef Quint, Stutt-

gart 1958. DW II: Meister Eckharts Predigten 25-59,

hrsg. u. übers, v. Josef Quint, 1971. DW III: Meister Eckharts Predigten 60-86, hrsg. u. übers, v. Josef Quint, 1976. DW IV/1: Meister Eckharts Predigten 87-105, hrsg. u. übers, v. Georg Steer unter Mitarbeit v. Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, 2003. DW IV/2: Meister Eckharts Predigten 106-110, Lieferung 1-2, hrsg. u. übers, v. Georg Steer unter Mitarbeit v. Wolfgang Klimanek und Freimut Löser, 2003. DW V: Meister Eckharts Traktate, hrsg. u. übers, v. Josef Quint, 1963. LW 1/1 : Magistri Echardi Prologi. Expositio libri Genesis. Liber parabolarum Genesis, hrsg. u. übers, v. Konrad Weiss, 1964. LW 1/2: Magistri Echardi Prologi in opus tripartitum et expositio libri Genesis secundum recensionem Cod. Oxoniensis Bodleiani Laud misc. 222 (L). Adiecta sunt recensiones cod. Amploniani fol. 181 (E) ac codd. Cusani 21 et Treverensis 72/1056 (CT) denuo recognitae. Liber parabolarum Genesis editio altera, hrsg. v. Loris Sturlese, 1.-2. Lieferung, 1987; 3.-4. Lieferung, 1992. LW II: Magistri Echardi expositio libri Exodi. Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24, 23-31. Expositio libri Sapientiae. Expositio Cantici Canticorum cap. 1,6, hrsg. u. übers, v. Heribert Fischer, Josef Koch, Konrad Weiss, 1992. LW III: Magistri Echardi expositio sancti Evangelii secundum Iohannem, hrsg. u. übers, v. Karl Christ, Bruno Decker, Josef Koch, Heribert Fischer, Loris Sturlese, Albert Zimmermann, 1994. 17

Magistri Echardi sermones, hrsg. u. übers, v. Ernst Benz, Bruno Decker u. Joseph Koch, 1956. LW IV:

-

opera Parisiensia. Tractatus super oratione domiübers, v. Bernhard Geyer, Josef Koch, Erich Seeberg; Responsio ad artículos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Acta Echardiana, hrsg. u. kommentiert v. Loris Surlese, 2006.

LW V: -

Magistri Echardi

nica, hrsg.

u.

opera latina, auspiciis Institut! Sanctae Sabinae in urbe ad codicum fidem edita, Rom. 1. Super oratione dominica, ed. Raymundus Klibansky, 1934, 2. Opus tripartitum prologi, ed. Hildebrandus Bascour, 1935, 13. Quaestiones Parisienses, ed. Antonius Dondaine. Commentariolum de Eckardi magisterio adiunxit R. Klibansky, 1936.

Magistri Eckardi -

-

-

Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, hrsg. v. Franz Pfeiffer in 2 Bänden, 2. Meister Eckhart, Leipzig 1857, Neudruck: Aalen 1962.

Deutsche

Meister Eckhart. Werke, 2 Bde., hrsg. u. kommentiert v. Nikiaus furt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21).

Largier, Frank-

Meister Eckhart. Deutsche Predigten. Eine Auswahl. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, auf der Grundlage der kritischen Werkausgabe und der Reihe »Lectura Eckhardi« hrsg., übersetzt u. kommentiert v. Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2001.

L'Œuvre latine de Maître Eckhart, traduction publiée sous le patronage du Centre d'Études des Religions du Livre École Pratique des Hautes Études par Alain de Libera, Edouard Wéber, Emilie Zum Brunn, Paris. 1. Commentaire de la Genèse précédé des prologues, texte latin, introduction, traduction et notes par Fernand Brunner, Alain de Libera, Edouard Wéber, Emilie Zum Brunn, 1984. 6. Le commentaire de l'Évangile selon Jean. Le prologue (chap. 1,1-18), texte latin, introduction, traduction et notes par Alain de Libera, Edouard Wéber O.P., Emilie Zum Brunn, 1989.

-

-

Meister Eckehart. Deutsche Predigten und Traktate, Josef Quint, München 1955, Zürich 21979.

hrsg.

und übersetzt

von

Maître Eckhart. Les Traités, introduction et traduction de Jeanne AnceletHustache, Paris 1971. Maître Eckhart.

Paris. 18

Sermons, introduction et traduction de Jeanne Ancelet-Hustache,

-

-

-

I.Sermons 1-30, 1974. 2. Sermons 31-59, 1978. 3. Sermons 60-86, 1979.

Maître Eckhart. Traités et Sermons, traduction, Alain de Libera, Paris 1993.

introduction,

notes et

index par

Sonstige Alberti Magni de caelo et mundo, ad fidem autographie ed. Hossfeld, Monasterii Westfalorum 1971 (Alberti Magni opera omnia, ad fidem codicum manuscriptorum éd. apparatu critico notis prolegomenis indicibus instruenda cur. Inst. Alberti Magni Coloniense, Bernhardo Geyer praeside, 5,1). Aristotelis de anima , liam D. Ross, Oxonii 1956.

recognovit brevique adnotatione

instruxit Wil-

ARISTOTELES: [De anima ] Über die Seele. Griechisch-Deutsch, hrsg. v. Horst Seidl, Hamburg 1995 (Philosophische Bibliothek 476).

Metaphysica, ed. Werner Jaeger, Oxford 1957. ARISTOTELES: [Metaphysica ] Aristoteles Metaphysik. GriechischDeutsch, hrsg. v. Horst Seidl, Hamburg (Philosophische Bibliothek 307-308).

ARISTOTELES:

'

-

-

(E),31989. (N),31991.

1. Bücher 1 (A) VI 2. Bücher VII (Z) XIX -

-

Sancti Augustini confessionum libri XIII, quos post Martinum Skutella iterum ed. Lucas Verheijen, Turnholti 1981 (CCSL 27).

AUGUSTINUS, Aurelius: [Confessiones ] Augustinus. Bekenntnisse, ein-

geleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasmück, Frankfurt am Main, 1987. Sancti Aurelii Augustini de trinitate. Libri XV, cura et studio W. J. Mountain -

-

auxiliante Francisci Glorie, Turnholti. 1. Libri I-XII, 1968 (CCSL 50). 2. Libri XIII-XV, 1968 (CCSL 50A).

Augustinus, Aurelius. De trinitate Bücher VIII-XI, XIV-XV, Anhang: Buch V, hrsg. v. Johann Kreuzer, Hamburg 2001 (Philosophische Bibliothek 523).

19

Sancti Aurelii Augustini enarrationes in psalmos LI-C, post maurinos textum edendum curaverunt D. Eligivs Dekkers O.S.B. et Iohannes Fraipont, Turnholti 1956 (CCSL 39).

AUGUSTINUS, Aurelius: [In epistulam lohannis ad Parthos ] Commentaire de la première épître de S. Jean. Texte latin, introduction et notes par

Agaësse s.j., Paris 1961 (SC 75). Sancti Aurelii Augustini sermones II-CCCXL, in: Opera omnia 5,2, Paris 1845 (PL 38). Avicenna latinas. Liber de anima seu sextus de naturalibus, édition critique de la traduction latine médiévale par S. van Riet, introduction sur la doctrine psychologique d'Avicenne par G. Verbeke, Louvain/Leiden. Paul

-

1. Liber I-II-III, 1972. 2.LiberIV-V, 1968.

-

Bernardus Claraevallensis liber de diligendo Deo, in: Sancti Bernardi opera, 3. Tractatus et opúsculo, ad fidem codicum recensuerunt J. Leclercq/H. M. Rochais, Roma 1963, 119-154. BERNARDUS Claraevallensis: [De diligendo Deo ] Über die Gottesliebe, in: Bernhard von Clairvaux. Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, hrsg. v. Gerhard B. Winkler, 1, Innsbruck 1990, 57-151. Anicii Manlii Severini Boethii

Turnholti 1957

Philosophia consolado, ed. Ludovicus Bieler,

(CCSL 94). BOETHIUS, Anicius M. S.: [Consolatio philosophiae ] Trost der Philosophie, hrsg. u. übers, v. Ernst Gegenschatz, Düsseldorf/Zürich 51998. DIONYSIUS Areopagita [, Pseudo- ]: [De divinis nominibus ], Corpus Dionysiacum, 1. Pseudo-Dionysius Areopagita De divinis nominibus, hrsg. v. Beate Regina Suchla, Berlin/New York 1990 (Patristische Texte und Studien 33). DIONYSIUS Areopagita [, Pseudo- ]: De divinis nominibus , in: Dionysiaca. Recueil donnant l'ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l'Aréopage, 1, Paris 1937, 4-561. Dionysius Areopagita [, Pseudo- ]: De mystica theologia , in: Dionysiaca. Recueil donnant l'ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l'Aréopage, 1, Paris 1937, 565-605. Liber de causis, ed. Adriaan Pattin, in: TPh 28 (1966), 134-203. 20

Liber XXIVphilosophorum. Le livre des XXIV philosophes, éd. Grenoble, 1989.

Françoise Hudry,

NICOLAI DE CUSA: Opera omnia, l.De docta ignorando, ed. Ernestus Hoffmann [u.a.], Lipsiae 1932. 7. De pace fidei cum epistula ad loannem de Segobia, éd. Raymundus Kli-

-

bansky [u.a.], Hamburgi 1959. PLATON: [Res publica (Politeia) ] Der Staat, beabeitet v. Dietrich Kurz, griechischer Text von Emile Chambry, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, Darmstadt 42005 (Piaton. Werke in acht Bänden 4). Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften, hrsg. v. Ferdinand Vetter, Dublin 21968, Nachdruck d. 2. Aufl. 1968 Augsburg 2000 (Deutsche Texte des Mittelalters 11). Sancti Thomae de Aquino quaestiones disputatae de veritate, 1/2, Romae 1970 (Opera omnia, iussu Leonis XIII P. M. edita, 22, 1/2. Quaestiones 1-7). Thomas de Aquino Scriptum super libros Sententiarum magistri Petri Lombardi episcopi Parisiensis, hrsg. v. P. Mandonnet und F. Moos, Paris 1929-47. THOMAS von Aquin: Summa contra gentiles, editío Leonina Manualis, Torino 1940. THOMAS VON Aquin: [Summa contra gentiles ] Summe gegen die Heiden, hrsg. v. Paulus Engelhardt [u.a.], Darmstadt 2001 (Texte zur Forschung 15 u. 16).

[Summa theologica Schmecket und sehet, wie süß Gott ist!ein Mensch< seien und in diesen Frieden versetzt werden, der er [unser Herr] selbst ist.") Ders.: Pr. 7, DW I, 118,2-4: „Unser herre sprach: ,in mir hat ir aleine vride'. Rehte als verre in got, als verre 154

solcher (mit Gott geeinter) Mensch steht „im Dienste Gottes allezeit", weil sein Wille ausschließlich von Gott selbst bewegt und bestimmt wird. Somit wird der Bogen zum Anfang der Predigt geschlagen, wo es heißt, dass Gott in Jesus Christus das allein herrschende Prinzip in der menschlichen Seele sein möchte. Der Satz über den steten Gehorsam des äußeren Menschen gegenüber dem inneren Menschen, der implizit die Sündelosigkeit des gottgeeinten Menschen bis zu seinem Tod behauptet, findet sich in den beiden ersten Kölner Anklageschriften.129 Meister Eckhart verteidigt ihn (erfolgreich, sodass er eine Indizierung dieses Satzes abwenden konnte) mit dem Hinweis auf die Nachfolge Christi, die bis zum leiblichen Tod führen kann, wie im Fall der Märtyrer, jedenfalls aber die

Selbstverleugnung (den Tod des Eigenwillens) fordert.130 1.4.

Schlussgebet um Einswerdung mit Gott

Dass Jesus in uns kommen und hinauswerfen und wegräumen möge alle Hindernisse und uns Eins mache, wie er als Eins mit dem Vater und dem heiligen Geiste in vride. 1st sîn iht in gote, daz hat vride; ist sîn iht ûz gote, daz hat unvride." (LI, 89,1518: „Unser Herr sprach: »In mir allein habt ihr Frieden< . Genau so weit wie in Gott, so weit in Frieden. Was irgend von einem in Gott ist, das hat Frieden; ist dagegen etwas von einem außerhalb Gottes, so hat es Unfrieden.") Vgl. dazu die Interpretation dieser Predigt von M. ENDERS: Gott ist die Ruhe und der Friede. Eine kontextbezogene Interpretation der Predigten 7 (Populi eius qui in te est, misereberis ') und 60 (,In omnibus requiem quaesivi) des Meister Eckhart, Berlin 2005 (MM 32), 450-470 (Predigt 7: 450462). M. Enders sieht in der seinsmäßigen Einswerdung von Gott und Mensch im Seelengrund (und damit in einer seinsmäßigen Vergöttlichung des Menschen im Seelengrund) die äußerste Stufe der unio mystica zwischen Gott und Mensch realisiert (vgl. ebd., 457). Vgl. Ada, Proc. Col. 1 n°63, LW V, 221,7-11 u. ECHARDI resp., Proc. Col. I n°63, LW V, 316,4-5; Ada, Proc. Col. 7/n°123, LW V, 243,12-16 u. Echardi resp., Proc. Col. II n° 123, LWV, 348,5-9. Echardi resp., Proc. Col. 1 n°143, LW V, 301,4-7: „Ad nonum cum dicitur: »Homo potest pervenire ad hoc quod exterior homo sit oboediens interiori usque ad mortem«. Patet hoc esse verum in sanctis martyribus, secundum illud: ,pro iustitia agonizare pro anima tua et usque ad mortem certa pro iustitia', et in loh.: ,qui odit animam suam propter me' etc." („Wenn es heißt: Der Mensch könne dazu gelangen, dass ,der äußere Mensch gehorsam ist dem inneren Menschen bis zu seinem Tod' usw., so ist dies offenkundig als wahr erwiesen durch die Heiligen und Märtyrer, nach dem Worte: ,Um die Gerechtigkeit kämpfe für deine Seele, ja bis zum Tode kämpfe für die Gerechtigkeit!, und bei Joh.: ,Wer seine Seele hasst um meinetwillen' etc." [RS, Üb., 96.] In der Verteidigung auf die Zusatzanklage (Echardi resp., Proc. Col. U n°124, LW V, 348,10-11) fügt Meister Eckhart hinzu: „Qui hoc negat, » iuvenescit«, ut ait philosophus, nec se ipsum abnegavit." („Wer dies verneint, ,hat den Sinn eines Jünglings', wie der Philosoph sagt, und hat sich nicht selbst verleugnet.") [RS, Üb., 130].

155

ein Gott ist, auf dass wir so mit ihm eins werden und Gott.

Amen.'

ewig bleiben, dazu helfe uns

Eckhart schließt mit einem Gebet, weil er sich bewusst ist, dass Jesus, das ewige Wort des Vaters, den Menschen zur Einung mit Gott führen kann. Gott selbst ist es, der durch die Geburt des Sohnes in der menschlichen Seele erstens in uns kommt, zweitens den Tempel reinigt (die Kaufmannschaft hinauswirft und die Tauben wegräumt) und uns mit sich eint.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Gott wohnt seinsmäßig im Innersten einer jeden menschlichen Seele; in ihrem Grund gebiert der Vater unablässig den Sohn. Er möchte aber die gesamte Seele des Menschen lenken, das einzige Bestimmungs- und Bewegungsprinzip für alle seelischen Regungen sein, besonders für „die Bewegungen und Beweggründe des Willens, der letztlich auch das äußere Verhalten des Menschen steuert."132 Im Seelengrund ist Gott immer gegenwärtig, auf der Ebene der Seelenkräfte jedoch hat der Mensch die Freiheit zu wählen, ob und inwieweit er sich von Gottes Gegenwart erfüllen, durchdringen und leiten lässt. Er kann sich entweder nach außen den geschaffenen Dingen zuwenden und seinem Geist durch die Betätigung der eigenen Seelenkräfte die Formen der geschaffenen Dinge einprägen und ihn so mit kreatürlichen Formen besetzen, oder er kann die Eigenwirksamkeit seiner Seelenkräfte zurücknehmen und so Gottes Wirken in sich kein Hindernis mehr entgegensetzen, „leer" bzw. frei werden „von allen durch die Seelenkräfte empfangenen Formen,... von jeder eigenen sinnlichen Gegenstandswahrnehmung, (und) von jedem selbst gewirkten Wissen und Wollen",133 und so eins werden mit Gott.134 Das „freie Vermögen" (d.h. in dieser Predigt der Seelengrund) des menschlichen Geistes bildet die anthropologische Grundlage für die Möglichkeit des Menschen, von Gott allein und nicht von der geschaffenen Ordnung bestimmt

158,30-34. „Daz ouch Jesus in uns komenmüeze und ûzwerfen und hin tuon alle hindemisse und uns mache ein, als er ein ist mit dem vater und mit dem heiligen geiste ein got, daz wir also ein werden mit im und êwiclîchen blîben, des helfe uns got. Amen" (DW I, 20,5-8). M. ENDERS: Selbsterfahrung als Gotteserfahrung. Zum Individualitätsbewußtsein bei Johannes Tauler, Berlin 1996 (MM 24), 642-664, hier 646. M. ENDERS: Selbsterfahrung als Gotteserfahrung, 655. Meister Eckhart: Pr. 18, DW I, 298,1-2: „Diu sêle ist gewihet, in der aleine got ist und in der kein creature ruowe envindet." „Als vil diu sêle ruowet in gote, als vil ruowet got in ir. Ruowet si ein teil in im, sô ruowet er ein teil in ir; ruowet si alzemâle in im, sô ruowet er alzemâle in ir." (L I, 207,28-209,1: „Soviel die Seele in Gott ruht, soviel ruht Gott in ihr. Ruht sie ein Teil in ihm, so ruht er ein Teil in ihr; ruht sie ganz und gar in ihm, so ruht er ganz und gar in ihr.") Ebd., 299,2-4. 156

werden zu können. Die menschliche Freiheit wird von Eckhart nicht auf der Ebene der Seelenkräfte angesiedelt, sondern liegt in diesem Vermögen, Gottes Wirken in sich aufnehmen zu können und sich unmittelbar von ihm ergreifen, bewegen und lenken zu lassen. Durch die Einung mit Gott erlangt der Mensch seine wahre Freiheit. Die Einung mit Gott geschieht nicht durch intellektuelle Spekulation oder durch einen Willensakt, sondern aus reiner Gnade, weil Gott den menschlichen Geist von innen her erfasst und sich ihm mitteilt.135 Der Mensch kann aber die Hindernisse, welche die Wahrnehmung bzw. den Empfang dieser unmittelbaren Selbstmitteilung Gottes stören, beseitigen, indem er seinen Willen von allem Geschaffenen zurücknimmt und die Eigenaktivität der geschaffenen Seelenkräfte beruhigt.1 Die Predigt lehrt die Zuhörer, dass der Eintritt des Menschen in ein unmittelbares Gottesverhältnis nicht nur vom Verzicht auf alle selbstbezogenen Willens-

strebungen, sondern, radikaler,

vom

Aufgeben jeglicher geschöpflichen Eigen-

wirksamkeit des Willens und des Verstandes abhängt. Der Mensch, der sich so ganz Gott überlässt, ist befähigt, den Willen Gottes unmittelbar in sich aufzunehmen. Er dient allein Gott, wie es der alttestamentlichen und neutestamentlichen Forderung entspricht (Dt 6,13; Mt 4,10) und sichert durch seinen Verzicht auf sich selbst, bildlich gesprochen, den Unterhalt des Tempels Gottes in seinem Inneren, sodass Gott in ihm und durch ihn hindurch ungehindert wirken kann. Der so zum Diener Gottes gewordene Mensch wird durch den Empfang Gottes in seinem eigenen Innern zum Erben und Sohn Gottes. Die Predigt macht in ihren letzten Zeilen (expliziter als andere Predigten) deutlich, dass die Rückbindung der Seele an „ihren ersten Ursprung", an Gott, den Vater durch den Heiligen Geist, der ihr von Jesus geben wird, erfolgt. Die erfahrungshafte Rückkehr der Seele in das „wesenhafte Ur-Sein" wird trinitarisch vermittelt.

Eine Vernachlässigung der mystischen Dimension der Predigt führt m. E. zu gravierenden Interpretationsfehlem. So reduziert beispielsweise A. Beccarisi die Predigt auf einen „intellektuellen Prozess" der „Selbstreflexion", der „wesenserneuernd" wirken soll (vgl. A. Beccarisi: „Predigt 1", 26-27). Die Aussage, der Mensch entdecke sich

denkend „als göttliche Freiheit" (ebd., 27) bedeutet schlichtweg eine Verwechslung von menschlicher und göttlicher Natur. Nicht die Seele erreicht die Einheit mit den drei göttlichen Personen, sondern wird unter der Bedingung der Aufhebung der Eigenwirsamkeit ihrer Kräfte von Gott mit Gott geeint (gegen M. Eoerding: Got be-

kennen, 30). Nicht die Seele gleicht sich „dem Zustand Jesu Christi"

an

(ebd.),

son-

dern sie wird in der mystischen Einung in und mit Christus mit den göttlichen Seinsvollkommenheiten überformt. Die geschöpfliche Wirklichkeit wird deswegen nicht aufgehoben (entgegen beispielsweise M. Egerding: Got bekennen, 28.)

157

Obwohl in dieser Predigt die Eucharistie nicht direkt angesprochen wird, sind einige thematische Verbindungen zu dieser besonders deutlich. Die hier beschriebene Danksagung137 und Einswerdung mit Jesus vollzieht sich in besonderer Weise in der Eucharistiefeier.138 Auch das Thema der „Süßigkeit" passt zum eucharistischen Kontext.139 Die am Schluss der Predigt beschriebene Vollkommenheitsgestalt des menschlichen Wandels wird nach Eckhart besonders durch die Verbindung mit dem Herrn im eucharistischen Mahl verwirklicht: sonst so eigentlich findest du die Gnade, dass deine leiblichen Kräfte durch die hehre Kraft der körperlichen Gegenwart des Leibes unseres Herrn so geeinigt und gesammelt werden, dass alle zerstreuten Sinne des Menschen und das Gemüt hierin gesammelt und geeinigt werden, und sie, die für sich getrennt zu sehr niederwärts geneigt waren, die werden hier aufgerichtet und Gott in Ordnung dargeboten. Und vom innewohnenden Gott werden sie nach innen gewöhnt und der leiblichen Hemmungen durch die zeitlichen Dinge entwöhnt und werden behende zu göttlichen Dingen; und, gestärkt durch seinen Leib, wird dein Leib erneuert. Denn wir sollen in ihn verwandelt und völlig mit ihm vereinigt werden , so dass das Seine unser wird und alles Unsere sein, unser Herz und das seine ein Herz, und unser Leib und der seine ein Leib. So sollen unsere Sinne und unser Wille und Streben, unsere Kräfte und Glieder in ihn hineingetragen werden, dass man ihn empfinde und gewahr werde in allen Kräften des Leibes und der Seele."140 ,,[W]iIlst du aller Gebresten völlig

„Im Sakrament nämlich und nirgends

137

138

139

140

Vgl. v.a. 155,23-35 (DW I, 11,6-12,4). Vgl. J. Theisens Aussage zu Predigt 80: „Die prototypische Verwirklichung der ,einunge' findet statt in der Eucharistie, auf die hin die Aussagen Eckharts zumal im Vollzugsraum der Predigt zu verstehen sind" (J. THEISEN: Predigt, 114). Im Alten Testament sind zahlreiche Belegstellen zu finden, in denen die Qualität der Süßigkeit dem Wort Gottes, seiner Weisheit, seinem Gesetz und seinem Brot (Manna) zugeschrieben wird, aber auch zugleich der Erkenntnis seiner Weisheit und der Treue zu seinem Gesetz. Gott gibt seinem Volk, als dessen geliebter Bräutigam er besonders von Tritojesaja und Hosea veranschaulicht wird, seine Süßigkeit zu kosten (Ps 33,9: „Kostet und seht, wie gütig der Herr ist"). Jesus vollendet die Offenbarung der göttlichen Süßigkeit (Belegstellen vgl. C. SPICQ/M.-F. Lacan: [Art.] „Douceur", in: VTB, 297-298). Meister Eckhart:/« Gen. 7/n°150, LW II, 619, 9: ,,[D]as Wort,... das voller Süße ist"; DERS.: Pr. 20 a, DW 1,327,2-4; Pr. 20 b, DW I, 345,5-9. LII, 397,17-35. Meister Eckhart: RdU n°20, DW V, 265,3-266,8: ,,[W]an die gnâde vindest dû in dem sacramente und niendert anders als eigenlîchen, daz dîne lîplîchen krefte dâ werdent geeiniget und gesament von der wirdigen kraft der lîplîchen gegenwerticheit unsers herrén lîchamen alsô, daz alle zerströute sinne des menschen und gemüete diu werdent hier inne gesament und geeiniget, und die sunderlîche wären ze sêre geneiget, die werdent hie ûfgerihtet und gote ordenlichen erboten. Und von dem înwonenden gote sô werdent sie inwendic gewenet und gespenet von lîplîchen hindernissen der zîtlîchen dinge und werdent geringe ze götlichen dingen, und, gesterket von sînem lîchamen, sô wirt din lîchame emiuwet. Wan wir suln in in

158

entledigt

und mit Tugenden und Gnaden bekleidet und wonniglich in den Ursprung geleitet und geführt werden mit allen Tugenden und Gnaden, so halte dich so, dass du das Sakrament würdig und oft empfangen kannst; dann wirst du ihm zugeeint und mit seinem Leibe geadelt."141

werden gewandelt und alzemâle werden geeiniget, daz daz sîne unser wirt, und allez daz unser wirt sîn, unser herze und daz sîne ein herze und unser lîchame und der sîne ein lîchame. Alsô suln unser sinne und unser wille, meinunge, krefte und glider in in getragen werden, daz man sîn enpfinde und gewar werde in allen kreften lîbes und sêle." LU, 399,20-25. Meister Eckhart: RdU n°20, DW V, 268,6-10: ,,[W]ilt dû alles gebresten benomen werden alzemâle und mit fugenden und gnâden bekleidet werden und in den ursprunc wünniclíche geleitet und gevüeret werden mit allen fugenden und gnaden, sô halt dich alsô, daz dû daz sacrament wirdiclîche und dicke mügest nemen; so wirst dû ze im geeinet und mit sînem lîchamen geedelt."

159

2.

Predigt DW 22: Ave, gratia plena (Le 1,28)

Einleitung Bibliographie.

'

Von

wem

wurde die Predigt bisher kommentiert?

Maître Eckhart. Sermons, introduction et traduction de Jeanne Ancelet-Hustache, 1, Paris 1974, 188-196; Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe Prediger Mystiker, München 21989, 137-142; DERS.: Geschichte der abendländischen Mystik, 3, München 1996, 325-330; Theisen, Joachim: Predigt und Gottesdienst. Liturgische Strukturen in den Predigten Meister Eckharts, Frankfurt a. M. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, 1169, 372-^415 u. 435^38; Meister Eckhart. Werke, 2 Bde., hrsg. u. kommentiert v. Nikiaus Largier, Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21), 1, 935-939; Mieth, Dietmar: Meister Eckhart. Einheit mit Gott, Düsseldorf 2002, 132-141. -

-

Liturgisches Fest Diese handschriftlich Meister Eckhart zugewiesene und mit „von der Verkündigung marie" bzw. „unser lieben Frowen Verkündigung" überschriebene Predigt,2 wurde von J. Theisen 1990 aufgrund der liturgischen Verankerung der Predigtaussagen einer Messe zugeschrieben, die zu Ehren der Jungfrau Maria im Advent gefeiert wurde („In Commemoratione Beatae Virginis in Adventu").3

Datierung der Predigt im Leben Eckharts Die Predigt wurde zwischen 1313-1327 entweder im Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten in Köln oder im Straßburger Dominikanerinnenkonvent St. 1 2 3

Bibliographie zu Predigt 22 bis zum Jahre

1993: vgl. Literaturhinweise in: L I, 935. in: J. DW 375. I, Vgl. Quint, J. Theisen: Predigt, 372; 413. Vgl. L I, 1993, 935. Die zusammenstehenden Schriftzitate von Joh 1,1 und Jes 9,6 weisen auf den weihnachtlichen Festkreis hin, weil sie

„sowohl im römischen wie im Dominikaner-Missale aufgeführt" sind (J. QuiNT, in: DW I, 379, Anm. 1).

...

in der dritten Weihnachtsmesse

161

Margarethen

gehalten.4

J. Theisen datiert sie sogar ziemlich genau auf den 7.

oder 14. Dezember 1325.5 Sie steht bezüglich ihres wörtlichen Inhalts und des Datums, an dem sie gehalten wurde, einer Reihe anderer Kölner Predigten nahe (Pr. DW 10, 11, 12, 13, 14, 15 und 51 [Pfeiffer CII]) und wurde wahrscheinlich vor den Predigten DW 13, 14, 15 und 51, jedoch nach Predigt DW 12

gehalten.6

Vorbemerkungen zu Predigt 22 In dieser Predigt legt Meister Eckhart die Zusage an Maria in Lukas 1,28: „Du bist voll der Gnade, der Hen ist mit dir" als Einung jeder guten Seele mit Christus in der Gottesgeburt aus. Die Gottesgeburt im Menschen ist durch die innertrinitarische Sohnesgeburt und die Inkarnation grundgelegt. Die Seele wird durch den Empfang des Heiligen Geistes gnadenhaft in dieses Geheimnis hineingenommen. Durch die Wiederholung des strukturierenden Elementes der Predigt „in principio" wird deutlich, dass Eckhart die historische Inkarnation (im Schöße Mariens) und vor allem den Empfang des Sohnes durch die Gabe des Heiligen Geistes (in jeder Seele) zum Ausgangspunkt eines Rückführungs- und Vollendungsprozesses der Schöpfung macht, in dem alle kreatürlichen und selbst innertrinitarischen Bewegungen letztlich im einen Wesen Gottes zur Ruhe kommen. Das natürliche Streben aller Kreatur, durch Gebären dem Vater gleich werden

wollen, findet auf einer übernatürlichen Ebene im Menschen seine Erfülder als Abbild Gottes dazu befähigt ist, durch den Empfang der lung, Sohnesgeburt, die sich im Innersten seines Geistes stets real vollzieht, dem Sohn Gottes gleichgestaltet zu werden.7 4

zu

1998 kam K. Ruh auf die ursprüngliche Annahme J. Quints zurück, dass die Predigt im Straßburger Dominikanerinnenkonvent St. Margarethen gehalten wurde (vgl. K. Ruh: „Rezension zu: Meister Eckhart. Lebensstationen Redesituationen", 468), also in der Straßburger Zeit (1313-1324). Früher datierte K. Ruh diese Predigt „durch eine präzise Anspielung des Predigers auf das Zisterzienserinnenkloster St. Mariengarten, wo er .neulich' gesprochen hätte (DW I, 380,5f), sowie durch den Hinweis auf die .Schule' mit .großen Pfaffen' (DWI, 381,3), womit nur ein Studium genérale gemeint sein kann" (K. Ruh: Meister Eckhart, 137), und auf Grund von Quer- und Rückverweisen anderer Predigten auf die Kölner Zeit (zwischen 1323 und 1327) [vgl. ibidem u. Ders.: Geschichte, 3, 326]. W. Senner datiert die Predigt auf einen „Quatembermittwoch im Advent zwischen 1323 und 1326" (W. Senner: „Meister Eckhart in Köln", 207), also auf die Kölner Zeit. J. Theisen: Predigt, 413. Vgl. J. Quint, in: DW I, 372f. Vgl. L I, 935. Vgl. Röm 8,19: „Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes." -

5 6 7

162

Diese Predigt, die zu den schönsten Predigten Meister Eckharts gezählt werden darf,8 macht wie keine andere die Stellung der Heilsgeschichte in Eckharts Werk deutlich.9 Durch sein Predigerwort will dieser das Mysterium des Kommens Gottes in die Seele vergegenwärtigen. Das Ziel dieses Kommens wird im letzten Teil der Predigt in Bildern der Brautmystik zum Ausdruck gebracht: die Seele wird heimgeführt in das stille verborgene Dunkel der ewigen Gottheit.

Aufbau der Predigt Die Predigtstruktur ergibt sich nicht, wie üblicherweise, aus dem Predigtthema.10 Rein literarisch gesehen, kann man folgende strukturierende Elemente unterscheiden: a) eine Inklusion des Themas (Lk 1,35 + Jak 1,17 + Weish 18,15)," b) die viermalige Wiederholung des „In principio"12 und c) die große Inklusion „ein einiger Sohn".13 Die letztgenannte Inklusion beinhaltet das Hauptthema der Predigt: die Gottesgeburt. Der einleitende Teil dient der Hinführung zu diesem Thema, der anschließende Teil eröffnet eine eschatologische Perspektive. Dies ergibt folgende Gliederung: 2.1. Thema und Einleitung der Predigt (256,1-21) [375,1-376,5] 2.2. Die Sohnesgeburt (256,22-260,15) [376,6-387,12] 2.2.1.

Grundlagen von Seiten Gottes 2.2.1.1. Die Sohnesgeburt als konstitutiver (256,22-31) [376,6-377,3]

Grund der

2.2.1.2. Die historische Inkarnation des Gottessohnes

Schöpfung (256,32-

257,14) [377,4-379,1] 2.2.1.3. Die Bestimmung des Menschen, den Sohn zu gebären und eins zu sein mit Gott (257,14-259,9) [379,1-385,3]

8

9

10 1'

12 13

So auch das Urteil von D. Mieth: „Diese Predigt über Menschwerdung, Gottesgeburt und Rückkehr in den Ursprung, eine der schönsten und persönlichsten Eckharts überhaupt" (D. MlETH: Meister Eckhart. Einheit mit Gott, Düsseldorf 42002, 132). Zur Bedeutung der Heilsgeschichte bei Meister Eckhart vgl. S. 88, Anm. 26. Theisen ermittelt sie aus dem liturgischen Zusammenhang: vgl. J. THEISEN: Predigt, 376-390. 256,5-7 und 257,15-17 (375,4-5 und 379,2-4). 257,18; 258,13; 260,21 und 260,36 (379,5; 382,3; 388,9 und 389,1). 256,22 (376,6) und 260,14-15 (387,12).

163

2.2.2.

Bereitung des [385,4-387,12]

Menschen für die

Sohnesgeburt (259,10-260,15)

2.2.2.1. Demut (259,10-19) [385,4-11] 2.2.2.2. Gottesliebe (259,19-260,15) [385,387,12]

Heimführung der Braut durch die Sendung des Sohnes (260,16-261,13) [387,13-389,11]

2.3. Relektüre der Predigt

2.1. Thema und

-

Einleitung der Predigt

„Ave gratia plena" ist das erste Wort, das die Zuhörer aus dem Munde des Predigers vernehmen. Dieser übersetzt

es

in ihre

Sprache:

Dieses Wort, das ich gesprochen habe auf lateinisch, das steht in dem heiligen Evangelium und besagt auf deutsch soviel wie: „Gegrüßet seist du, voll der Gnade, der Herr ist mit dir!" (Lk 1,28).14

In diesem

Übersetzungsvorgang geschieht etwas Entscheidendes: Das Wort Got-

einzelnen Zuhörer persönlich durch das Wort des Predigers zugeund der sprochen Engelsgruß somit für jeden von ihnen aktualisiert. Die Predigt wird zum Mittel der „liturgischen Neuinszenierung" der Evangeliumsperikope und hiermit die Möglichkeit eröffnet, dass die Heilsgeschichte im Leben eines jeden Hörers wirksam werden kann: tes wird jedem

Der

Heilige Geist wird von oben herabkommen vom höchsten Throne und wird in vom Lichte des ewigen Vaters (Luk. 1,35 + Jak. 1,17 +

dich kommen Weish. 18,15).16

Meister Eckhart lässt die Rahmenerzählung des Evangeliums beiseite, um sich auf einen einzigen Satz zu konzentrieren (den Engelsgruß Lk 1,28). Nachdem er diesen übersetzt hat, fährt er gleich mit dem zweiten Teil der Verkündigung (Lk 1,35) fort: „Der Heilige Geist wird von oben herabkommen" etc. Um den trinita4

5

256,1-5. „Diz wort, daz ich gesprochen hân in latine, daz stât geschriben in dem heiligen êwangeliô und sprichet als vil ze tiutsche: .gegrüezet sîst dû, vol gnâde, der herré ist mit dir!'" (DW I, 375,2^). Vgl. Lk 1,28: „Der Engel trat bei ihr ein und sagte: Sei

gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir." B. McGinn: The Mystical Thought, 55: "an essential characteristic of his preaching as pointed out by Joachim Theisen salvation history becomes immanantized in the eternal now through liturgical reenactement." 256,5-7. „Der heilige geist sol von oben her nider komen von dem obersten trône und sol in dich komen von dem liehte des ewigen vaters" (DW I, 375,4-5). ...

-

6

164

risch geprägten Satz des Lukasevangeliums 1,35 wiederzugeben, kombiniert Meister Eckhart Lukas 1,35 mit Jakobus 1,17 und Weisheit 18,15.18 Er kommentiert also das Schriftwort durch das Schriftwort ganz nach Art der Kirchenväter und wie es die Predigttheorie seiner Zeit vorschrieb.1 Statt: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden", übersetzt Eckhart: „Der Heilige Geist wird von oben herabkommen vom höchsten Throne und wird in dich kommen vom Lichte des ewigen Vaters." Die Verse Lukas 1,29-34 sind weggefallen, oder doch nicht? Es heißt da: „Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären: dem sollst du den Namen Jesus geben. Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben" (Lk 1,31-33). Im Satz: „Der Heilige Geist wird von oben herabkommen vom höchsten Throne und wird in dich kommen vom Lichte des ewigen Vaters" finden wir den „Höchsten" und den „Thron" wieder. Die genannten Verse aus dem Jakobusbrief und dem Buch der Weisheit erlauben es dem Meister nicht nur das Lukaszitat zu interpretieren, sondern geben den Inhalt der Verse Lk 1,29-34 in einer extrem gerafften Form wieder. Bemerkenswert ist auch die Heranziehung des Zitats aus dem Buch der Weisheit (Weish 18,15: „Da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab als harter Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land"), weil dieser Vers in der Weihnachtsliturgie der Kirche auf die Inkarnation bezogen wurde. 7

8

9

Lk 1,35: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden." („Spiritus Sanctus superveniet in te et virtus Altissimi obumbrabit tibi ideoque et quod nascitur sanctum vocabitur Filius Dei." Jak 1,17: „Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben, vom Vater der Gestirne, bei dem es keine Veränderung und keine Verfinsterung gibt." (,,[0]mne datum optimum et omne donum perfectum desursum est descendens a Patre luminum apud quem non est transmutatio nec vicissitudinis obumbratio"); Weish 18,15: „Da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab als harter Krieger mitten in das dem Verderben geweihte Land." (,,[0]mnipotens sermo tuus de cáelo a regalibus sedibus durus debellator in mediam exterminii terram

prosilivit".)

E. Winkler: Exegetische Methoden, 32: „Dass verschiedene Schriftstellen sich gegenseitig auslegen können, ist eine der wichtigsten hermeneutischen Regeln Eckharts." Zur Schriftauslegung in den Sermones: vgl. J. Koch: „Einleitung", in: LW IV, XXXIV: „Hier knüpft Eckhart an die Vorschrift der Predigttheorie an, dass das Thema durch andere Schriftworte, die man in einen inneren Zusammenhang mit ihm bringen kann, entwickelt werden soll."

165

Vergleicht man Lk 1,35 (a) mit der interpretierten Variante Meister Eckharts (b), (b) Der Heilige Geist wird (a) Der Heilige Geist wird

oben herabkommen (Jak 1,17) höchsten Throne (Lk 1,32/Weish

über dich kommen, und die Kraft des Höchsten

von

wird dich überschatten. Deshalb wird das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden

und wird in dich kommen vom Lichte des ewigen Vaters

vom

18,15)

so kommt man zu folgendem Schluss: Die in (a) ausdrücklich erwähnte Inkarnation ist in (b) nur indirekt (durch das Weisheitszitat) enthalten, dafür betont Eckhart, der Heilige Geist werde „von oben" herabkommen (diese Veränderung kommt aus dem Jakobusbrief), „vom höchsten Throne" (Kombination von Lukas 1,35, Lk 1,32 und Weish 18,15) nicht „über", sondern „in dich", „damit nämlich", so Eckhart in seinem Johanneskommentar, „das ,Oben' zum ,In' werde".20 Der Unterschied zwischen der deutschen Einheitsübersetzung und der Übersetzung Eckharts ist auf den von Eckhart verwendeten lateinischen Text zurückzuführen, der das griechische „em at" („über dich") mit „in te" („in dich") übersetzt. Welches Kind heilig und Sohn Gottes genannt wird, erscheint bei Eckhart nicht mehr; implizit wird an Stelle dessen nahegelegt, dass die persönlich Angesprochenen durch die Gabe des Heiligen Geistes Gottes Kinder werden sollen und sind. Zu (b) noch weitere Beobachtungen: „Vom höchsten Throne vom Lichte des ewigen Vaters" bezeichnet den Vater und den Sohn in ihrer Einheit als Quelle des Heiligen Geistes, wie es der lateinischen Version des Glaubensbekenntnisses von Nikaia-Konstantinopel, dem „Filioque", Doch werden weder der Vater noch der Sohn in ihrer persönlichen Eigenheit genannt. Der Sohn wird hier „Licht des ewigen Vaters" genannt, ein Ausdruck, der an Hebr 1,32 und Predigt 2 Meister Eckharts erinnert, in der Jesus dem Hebräerbrief gemäß als „Licht und Widerschein des väterlichen Herzens" beschrieben wird, das „mit Gewalt das väterliche Herz durchstrahlt."23 Die Bezeichnung des Sohnes als ...

entspricht.21

20 21

Meister Eckhart: In ¡oh. n°41,LW III, 34,16-35,1. Vgl. DH n°150, 84, 1. ökumenisches Konzil von Konstantinopel (381), Glaubensbekenntnis: „Credo in Spiritum Sanctum, qui ex Patre Filioque procedit". („Ich glaube an den Heiligen Geist,... der aus dem Vater und dem Sohne hervorgeht".) Hebr 1,3: ,,[E]r [der Sohn] ist der Abglanz seiner [Gottes] Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens." Meister Eckhart: Pr. 2, DW 1,31,4-6. ...

...

22 23

166

...

„Licht" fasst die ganze Heilsgeschichte

den leuchtenden Manifestationen der Gegenwart Gottes im Alten Testament angefangen (z.B. Ex 19,16) über das als „Licht" bezeichnete Gesetz (Spr 6,23), die Weisheit (Weish 7,25-26)24 und das Wort Gottes (Ps 119,105) bis zur neutestamentlichen Identifizierung des Lichtes, des Wortes und der Weisheit Gottes mit Jesus, der fleischgewordenen zweiten göttlichen Person (Joh 1,4—5; 8,12: „Ich bin das Licht der Welt"; Joh 9,5). Die Charakterisierung des Sohnes als „Licht des ewigen Vaters" erlaubt es Meister Eckhart, sowohl die personale Unterscheidung als auch die Einheit und Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater in Bezug auf seine göttliche Natur hervorzuheben.25 Weiters betont er damit, dass der Sohn, das „Licht vom Licht", aus der Erkenntnis des Vaters entspringt26 und dass er der Einzige ist, der die Erkenntnis des Vaters vermittelt (vgl. Joh 1,18). „Licht" spielt (nach H. Blumenberg)27 auch als eine absolute Metapher in metaphysischen und erzusammen,

von

Weish 7,25f: „darum fallt kein Schatten auf sie [sc. die Weisheit]. Sie ist der Widerschein des ewigen Lichts". Vgl. Die Bibel. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, Anm. zu Hebr 1,3: „Abglanz seiner Herrlichkeit und Ausprägung seines Wesensf.] Diese beiden Bilder, die aus der alexandrinischen Theologie der Weisheit und des Logos übernommen sind, Weish 7,25-26, drücken die Wesensgleichheit zwischen Vater und Sohn sowie den Unterschied der Personen aus. Der Sohn ist der Abglanz' oder der Widerschein des Lichtglanzes (vgl. Ex 24,16+) des Vaters, ,Lumen de lumine', ,Licht vom Licht'. Und er ist die Ausprägung' seines Wesens, vgl. Kol 1,15+, dem genauen Abdruck gleich, den ein Siegel hinterlässt, vgl. Jo 14,9." (Christus ist das „Bild" bzw. das „Ebenbild" des Vaters.) „Licht": Gott erkennt sich unmittelbar in sich selbst. „Gottes Wesenheit oder der mit ihr sachlich identische göttliche Intellekt ist einerseits das medium sub quo als das unendliche Licht, wodurch er für sich selbst unendlich erkennbar ist. Sie ist anderseits auch das medium quo, d.i. die species intelligibilis im Akt des göttlichen Selbsterkennens" (F. Diekamp: Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, 1, Münster/Westfalen n1958, 191). „Wort Gottes": „Es ist... ein Wort in Gott, das von Ewigkeit vom Vater gesprochen, d.i. durch das Sprechen oder Empfangen des Vaters gezeugt ist" (ebd., 323). Der Name „Bild des unsichtbaren Gottes" (vgl. Hebr 1,3; Weish 7,25) „lehrt ebenfalls den innergöttlichen Ursprung des Sohnes aus der Erkenntnis des Vaters. Der Sohn ist das ,Bild Gottes' heißt also: er ist durch die Tätigkeit des Vaters dem Vater vollkommen gleich. Also geschieht die Zeugung des Sohnes durch das väterliche Erkennen" (ibidem, 323-324). „Weisheit": „Auch der Name ,Weisheit' wird dem Sohne persönlich beigelegt (1 Kor 1,24.30 ...) Dies kann aber nur mit Rücksicht auf den Ursprung, der den persönlichen Unterschied begründet, geschehen. Der Sohn muss also als Weisheit vom Vater ausgehen, d.h. per modum intellectus gezeugt werden, wie Sir. 24,5, bestätigt (ibidem, 324). H. Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung", in: StGen 10 (1957) 432^47, hier 433 (zit. von B. Hasebrink: „Predigt Nr. 71: .Surrexit autem Saulus'", in: LE I, Stuttgart 1988, 237, Anm. 25). ...

...

...

167

kenntnistheoretischen Überlegungen eine große Rolle. Der Begriff hat nicht nur in der biblischen Tradition einen Aspekt der Rückführung zum Ursprung, sondern auch in der (z.B. dionysischen) Tradition der mittelalterlichen Lichtmeta-

physik.28

Zusammenfassend lässt sich sagen: Schon im ersten interpretierenden Satz, in dem Meister Eckhart noch nicht mit eigenen, sondern mit den Worten der Heiligen Schrift den Engelsgruß auslegt, platziert er die wichtigsten Bausteine seiner späteren Interpretation: die Ausdehnung der Kind- bzw. Sohnschaft auf alle Menschen durch die Gabe des Heiligen Geistes und die durch das fleischgewordene Wort trinitarisch vermittelte Rückführung der menschlichen Seele in Gott. Hieraus ist dreierlei zu erkennen. Zum ersten: die Niedrigkeit der Engelsnatur. Zum zweiten: dass er (d.h. der Engel) sich als unwürdig erkannte, Gottes Mutter beim Namen zu nennen. Zum dritten: dass er es (d.h. das Wort) nicht nur zu ihr, sondern zu einer gar großen Schar sprach: zu einer jeglichen guten Seele, die nach Gott begehrt. Aus dem Engelsgruß und seiner Botschaft ist laut Eckhart „dreierlei zu erkennen. Zum ersten: die Niedrigkeit der Engelsnatur." Die Engel sind „dienende Geister"

(Hebr 1,14) und Boten des Heilsplanes Gottes (vgl. Kol 1,16). Aber wieso spricht

Eckhart hier von der Niedrigkeit ihrer Natur, da doch die rein geistige Natur des Engels der menschlichen, durch Körper, Raum und Zeit begrenzten Natur weit überlegen ist? Der Engel grüßt die, welche „voll der Gnade" ist. Meister Eckhart vergleicht nicht die geschaffene Engelsnatur mit der geschaffenen Menschennatur, sondern mit dem begnadeten Menschen, der „dadurch, dass der Höchste gekommen ist und die Menschennatur angenommen hat", eine Erhöhung über alle Engel selbst über die höchsten geschaffenen Wesen hinaus erfährt.30 -

28

29

30

-

Vgl. B, Hasebrink: „Predigt Nr. 71", 237; vgl. Kommentar zu Pr. 71, S. 235. 256,8-13. „Hie sint driu dinc ze verstânne. Daz erste: kleinheit der engelischen nature:

daz ander: daz er sich unwirdic bekante, daz er gotes muoter nennen sollte; daz dritte: daz er ez ir niht aleine zuo sprach, mêr, daz er ez einer alsô grôzen schar zuo sprach: einer ieglîchen guoten sêle, diu gotes begert" (DW I, 375,6-9). Meister Eckhart: Pr. 5a, DWI, 77,5-10: ,,[U]nd also ist unser menschlich natur unmessiklichen erhöhet von dem, daz der oberst kommen ist und an sich hat genommen die menscheit. Ein meister spricht: wann ich an daz gedenck, daz unser natur ist erhaben über creaturen und sitzt in dem himel ob den engein und wirt angebetten von in, so mûsz ich mich allzemol fröwen in minem hertzen, wann Jhs Chrs, min lieber herr, hat mir alles daz eygen gemacht, daz er an im hat." („L I, 59,6-15: [U]nd so ¡st unsere menschliche Natur unermesslich erhöht dadurch, dass der Höchste gekommen ist und die Menschennatur an sich genommen hat. Ein Meister sagt: Wenn ich daran denke, dass unsere Natur über die Kreaturen erhoben worden ist und im Himmel über den Engeln sitzt und von ihnen angebetet wird, so muss ich mich aus tiefstem Herzensgrunde freuen, denn Jesus Chrisms, mein lieber Herr, hat mir alles das zu eigen

168

„Zum zweiten" bemerkt Eckhart, „dass der Engel sich als unwürdig erkannte,

Gottes Mutter beim Namen zu nennen." Der Engel hält sich respektvoll an die Verherrlichung des Werkes Gottes. Der Name verwahrt die Wesenseigentümlichkeit, die Proprietät der Person. Gott allein hat das Recht, die, welche „voll der Gnade" ist, beim Namen zu nennen, weil nur er das Geheimnis ihrer Person kennt und er allein Zutritt zu ihrem Innersten hat.31 Eckhart nennt Maria hier nicht „Jungfrau", sondern „Gottes Mutter", d.h. er bezeichnet sie als die, welche den Sohn Gottes empfangen und gebären wird.32 Der dritte Satz kündigt das Thema der ganzen Predigt an: Die Gnade, die der Gottesmutter verkündigt wird, soll jedem guten Menschen gegeben werden: „Zum dritten: dass er es (d.h. das Wort) nicht nur zu ihr, sondern zu einer gar großen Schar sprach: zu einer jeglichen guten Seele, die nach Gott begehrt." Die Unterlassung der Namensnennung zeigt an, dass jeder Name eingesetzt werden kann: der Name „einer jeglichen guten Seele, die nach Gott begehrt." Eine „gute Seele" wird hier durch nichts anderes als durch ihr Gottbegehren, also durch ihr Verlangen nach Gott definiert. Das Wort „begehren" drückt im Sinne des lateinischen „concupiscere" buchstäblich den Wunsch nach sinnlichem Vergnügen aus und bezeichnet theologisch den Hang zum Genuss irdischer Güter. Die gute Seele richtet ihr Begehren jedoch weder auf geschaffene Güter noch auf sich selbst, sondern auf Gott allein. Sie erfüllt damit eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Einung mit Gott.33 Sie ist, weil ungebunden an geschaffene Güter, frei zur vollwas er in sich besitzt.") DERS.: Pr. 1, DWI, 12,9-13,10; DERS.: Pr. 52, II, 505,1-2: „Dâ enpfâhe ich einen îndruk, der mich bringen sol über alle engel." (L I, 563,11 f.: „Da [sc. im Durchbrechen] empfange ich einen Aufschwung, der mich

gemacht, DW

bringen soll über alle Engel.") Vgl. Meister Eckhart: In loh. n°506, LW III, 438,3-4: „Nomen a notitia dictum est." (,„Name' [nomen] wird von .Kenntnis' [notitia] her genommen.") Aus dem Verkündigungsbericht Lk 1,26-38 geht hervor, dass Maria den Sohn noch im Rahmen der Begegnung mit dem Engel im Moment ihrer Zustimmung empfangen hat: vgl. TOB, 2448, Anm.j (zu Lk 1,34): «Marie, qui est mariée à Joseph, est encore vierge (v. 27). L'ange lui annonce qu'elle va être mère (v. 31). Elle comprend qu'elle doit l'être aussitôt ».

Zur fundamentalen Bedeutung, die dem Begehren bzw. Verlangen in Eckharts Konzept des Aufstiegs der Seele zu Gott zukommt: vgl. L1, 1005, Anm. 418,9-13: „Das Begehren gehört neben der Liebe zur voluntas, also zu einer der drei höchsten Seelenkräfte, und ist als Entfaltung der voluntas zu begreifen [,] der Aufstieg zu Gott nur in heuer begerunge (210,8; vgl. Sermo XXXVI n°365) zu denken, in der sich die Seele nach der Vereinigung sehnt, die die Überformung in der Gottesgeburt ist. Das Begehren ist denn auch gewissermaßen Garant vollkommener Einung, da es nicht nachlässt, bevor der Aufstieg zu Gott und die Einung ganz vollzogen sind Die Dramatik dieser Einung kann auch bei Eckhart durchaus Züge eines Liebesspiels annehmen, in dem Gott die See...

...

...

169

kommenen Willensübereignung an Gott. In Predigt 75 definiert Meister Eckhart die gute Seele als die, die „sich selbst entzogen und in Gott eingewöhnt" ist, in Predigt 16b als die, „die da alle Dinge gelassen hat und sie dort nimmt, wo sie ewig sind."35 Die gute Seele geht über alles Geschaffene hinaus. Sie lässt sich in ihrem Willen nicht mehr von geschaffenen Dingen bestimmen und bewegen, sondern allein von Gott, dem einzig Guten (vgl. Joh 19,17: „Nur einer ist ,der Gute'"). Meister Eckhart stellt hier die exemplarische Bedeutung des im Evangelium berichteten Ereignisses für alle guten Seelen heraus. Die Betrachtung der Verkündigung führt zur Betrachtung dessen, was Gott in jeder Seele wirken will. Im Sinne seiner Aussage: ,,[W]enig bedeutete es mir, dass das Wort für die Menschen Fleisch wurde in Christus, jener von mir verschiedenen Person, wenn es nicht auch in mir persönlich (Fleisch annähme), damit auch ich Gottes Sohn wäre",36 könnte man hier sagen: Was nützte es mir, dass Maria den Gottessohn le reizt, um ihr Begehren zu steigern". Vgl. MEISTER ECKHART: Pr. 45, DW II, 363,10364,4: „Wille hat zwei werk: begerunge und minne.... Die wîle man der dinge begert, sô enhât man ir niht. Sô man sie hât, sô minnet man sie; sô vellet begerunge abe." (L I, 483,6-13: „Der Wille hat zweierlei Werk: Begehren und Liebe Solange man die Dinge begehrt, solange hat man sie nicht. Wenn man sie hat, dann liebt man sie; dann fällt das Begehren weg.") Vgl. DERS.: In Sap. n°85, LW II, 417,10-11: „Optavi. Notandum quod ...

quae sunt magna bona naturae et quae supra vires nostras sunt et etiam impossibilia naturae, soient optari." („Ich wünschte. Es ist zu bemerken: große natürliche Güter, Dinge, die unsere Kräfte übersteigen und sogar der Natur unmöglich sind, sind Gegenstand unserer Wünsche.") DERS.: Pr. 54b, DW II, 567,2-6: ,,[D]az wir mit ganzem herzen ûfklimmen süln mit begerunge ze dem himel und in in und süln alle unser begerunge legen ûf got und ûf die höchste hcehe, niht under got noch mit gote, wan alliu obem dinc hânt allermeist gelegenheit ze würkenne in dem, daz under in ist." (L I, 585,27-32: ,,[D]ass wir von ganzem Herzen mit Verlangen zum Himmel und zu ihm hinaufklimmen und all unser Verlangen auf Gott und auf die höchste Höhe richten sollen, nicht unter Gott noch bei Gott, denn alle oberen Dinge sind am meisten in der Lage, in dem zu wirken, was unter ihnen ist.") Ders.: In Sap. n°75, LW II, 406,3-4; 407,2-3: „illud quod ea

quis quaerit,

et hoc solum, est ipsi dignum, et ipse dignus illo". (,,[D]as, was jemand sucht, und zwar dies allein, ist ihm etwas wert, und er ist dessen würdig"). „Indignus est uno qui plura quaerit." („Unwürdig des Einen aber ist, wer mehreres sucht.") LI, 650, Anm. 14,5: „Das Begehren ist... Ausgangspunkt einer Bewegung, die den Menschen an

Gott bindet und Gott .zwingt', sich dem Menschen zu schenken." Meister Eckhart: Pr. 75, DW III, 299,3-^: ,,[I]n einer ieglîchen guoten, ûzgebrâhten und îngewonten sêle." (L II, 30f: ,,[I]n einer jeden guten, sich selbst entzogenen und eingewöhnten Seele.") Meister Eckhart: Pr. 16b, DWI, 264,lf.: ,,[V]on einer ieglîchen guoten, heiligen sêle, diu dâ hât gelâzen alliu dinc und nimet sie dâ, dâ sie êwic sint." Meister Eckhart: In loh. n°117, LW III, 101,14-102,2: „Parum enim mihi esset verbum caro factum pro homine in Christo, supposito illo a me distincto, nisi et in me personaliter, ut et ego essem filius dei."

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empfangen und geboren hätte, wenn ich ihn nicht empfangen und gebären könnte?37 Eckhart sieht die historische Geburt des Gottessohnes immer auch im Hinblick auf die Universalisierung dieser Sohnesgeburt, die in jeder menschlichen Seele heilswirksam werden soll.38 Ich sage: Hätte Maria Gott nicht zuerst geistig geboren, er wäre nie leiblich von ihr geboren worden. Eine Frau sprach zu unserm Herrn: „Selig ist der Leib, der dich trug". Da sprach unser Herr: „Nicht nur der Leib ist selig, der mich getragen hat; selig

sind, die das Wort Gottes hören und es behalten" (Luk. 11,27/28). Es ist Gott wertvoller, dass er geistig geboren werde von einer jeglichen Jungfrau oder (= will sagen) von einer jeglichen guten Seele, als dass er von Maria leiblich geboren ward.

Mit seiner Aussage über den Vorrang der geistigen gegenüber der leiblichen Geburt aus Maria steht Eckhart auf traditionellem Boden.40 Mit dem an das jesu37

38

39

40

Meister Eckhart hat dies in einer anderen Predigt (Pr. 75, DW III, 300,7-301,3) tatsächlich einmal so formuliert: „Waz hülfe mich, daz Maria ,gnâden vol' waere, ich enwaere denne ouch ,gnâden vol'? Und waz hülfe mich, daz der vater sînen sun gebasre, ich engebaere in denne ouch? Dar umbe gebirt got sînen sun in einer volkomenen sêle und liget alsô kindes inne, ûf daz si in voit ûzgebaere in allen irn werken." („Was hülfe es mir, dass Maria ,voll der Gnade' wäre, wenn nicht auch ich ,voll der Gnade' wäre? Und was hülfe es mir, dass der Vater seinen Sohn gebäre, ich gebäre ihn denn auch? Zu dem Ende gebiert Gott seinen Sohn in einer vollkommenen Seele und liegt im Kindbett, auf dass sie ihn weiter ausgebäre in allen ihren Werken.") Dies tut der von der katholischen Kirche stets hervorgehobenen Sonderstellung Mariens keinen Abbruch. Wenn das Zweite Vatikanische Konzil Maria als „Typus und klarstes Urbild" der Kirche (und somit eines jeden Gliedes der Kirche) bezeichnet (2. Vatikanisches Konzil: Dogmatische Konstitution „Lumen gentium", Kap. 8, n°53), bedeutet dies, dass die Singularität Mariens (mit allen damit verbundenen Gnaden) kein nur individuelles Privileg schafft, sondern im Gegenteil aus der Maria übertragenen Mission für die ganze Menschheit resultiert (vgl. J.-M. Hennaux: La femme et le sacerdoce éternel, in: NRTh 128 [2006] 192-213, hier 204). Die historische Inkarnation bildet für Meister Eckhart erst den Anfang der Vollendung, nicht das Ziel des Heils. Die einzigartige Auserwählung der Gottesmutter ist als solche hingeordnet auf die Fruchtbarkeit aller Menschen. K. Ruh hebt hervor, es dürfe nicht aus den Augen verloren werden, dass die leibliche Geburt Gottes in Maria die Voraussetzung der geistigen Geburt Gottes in der Seele der Gläubigen sei (vgl. K. Ruh: Geschichte, 3, 326). 256,14-21. „Ich spriche: und haste Maria niht von erste got geistliche gebom, er enwaere nie lîplîche von ir gebom worden. Ein vrouwe sprach ze unserm herrén: .saelic ist der lîp, der dich truoc'. Dô sprach unser herre: niht enist der lîp aleine saelic, der mich getragen hat; .saslic sint, die daz wort gotes hoerent und daz behaltent'. Daz ist gote werder, daz er geistliche gebom werde von einer ieglichen junevrouwen oder von einer ieglichen guoten sêle, dan daz er von Maria lîplîche gebom wart" (DW I, 375,10-376,5). Zur Vätertradition dieses Gedankens und seiner Fortsetzung im Mittelalter u.a. auch bei Albert dem Großen und Thomas von Aquin: vgl. B. Weiss: Die Heilsgeschichte, 102-103. Der traditionelle (aus Lk 1,26-1,38 abgeleitete) Gedanke lautet, Maria habe

171

anische „Ich aber sage euch" der Bergpredigt erinnernde „Ich sage" will Eckhart die Autorität der Wahrheit, die er darlegt, betonen. Eckharts Zitat von Lk 11,27-28, „nicht nur der Leib ist selig, der mich getragen hat; selig sind, die das Wort Gottes hören und es behalten", stellt Leib und Geist einander weniger gegenüber als der Originaltext: „Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat. Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen."42 Kann in der Formulierung Eckharts eine diskrete Anspielung auf die im Falle Mariens schon verwirklichte und uns verheißene Beseligung des ganzen Menschen, einschließlich seines Leibes, gesehen werden? Unabhängig von der Antwort auf diese Frage wird nicht nur Maria selig gepriesen, sondern alle, die „das Wort Gottes hören und es behalten". „Hören" ist gleichbedeutend mit „Empfangen". Das mittelhochdeutsche „Behalten" (etwas für sich aufbewahren, für sich behalten, verschweigen, in Obhut haben, bewahren, beherbergen, beobachten) übersetzt das Griechische „cbuAáaaco" (wachen, behüten, [die Gebote, das Gesetz] beobachten, beachten, ...

bewahren). Das Wort beinhaltet demnach sowohl die Bedeutung des Bewahrens, Beherbergens, als auch des Befolgens. Das im Innern der Seele empfangene und bewahrte Wort Gottes soll in jedem Menschen zur Quelle bzw. zum Wirkprinzip all seiner Werke und zum alleinigen Beweggrund aller menschlichen Seelenkräfte werden. Das aufzunehmende Wort ist das Wort des Vaters, das die gnadenhafte Einwohnung der drei göttlichen Personen in der Seele mit sich bringt (Joh 14,23). In der geistigen Geburt geht es darum, den Logos, der nach Eckhart im Seelengrund eines jeden Menschen geboren wird, in der Seele Gestalt annehmen zu lassen und so umgestaltet, dem menschgewordenem Logos gleichförmig zu

werden.43

Dass Meister Eckhart unter dem „Wort Gottes" die Person Christi

Christus durch ihren Glauben zuerst in ihrem Geist empfangen, bevor sie ihn in ihrem Leib empfangen habe. AUGUSTINUS: serm. 215,4; PL 38, 1074, formuliert den Gedanken folgendermaßen: „Maria credendo concepit sine viro. illa fide plena, et Christum prius mente quam ventre concipiens ..." („Maria hat durch den Glauben ohne Mann empfangen jene voll des Glaubens hat Christus in ihrem Geist empfangen, bevor sie ihn in ihrem Schoß getragen hat.") Er und vor ihm schon Ambrosius setzten die Empfängnis Christi bereits in ein Verhältnis zur Gottesgeburt in der Einzelseele. Mt 5,21-22: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist... Ich aber sage Euch". Lk 11,27-28: „Factum est autem, cum haec diceret: extollens vocem quaedam mulier de turba dixit illi: Beatus venter, qui te portavit, et ubera, quae suxisti. At ille dixit: Quinimmo beati, qui audiunt verbum Dei, et custodiunt illud." Für die Empfängnis des Wortes Gottes gilt erst recht, was im Kommentar zu Jesus Sirach von der Empfängnis der Gerechtigkeit im Geist gesagt wird: „Diese Empfängnis vollzieht sich vor und unabhängig von dem äußern Wirken." (MEISTER Eckhart: ...

...

In Eccli. n°27, LW II,

172

255,2-3: „Quae conceptio est

ante et

praeter operari exterius.")

versteht, die Gott-Sein und Mensch-Sein umfasst, beweist eine Stelle in Predigt 49, wo er ausführt, was der Hörer des Wortes Gottes vernimmt: „Er hört Christus als

geboren

von

dem Vater in voller Gleichheit mit dem Vater unter Annahme

Menschheit, (beides) vereint in seiner Person als wahrer Gott und wahrer Mensch als ein Christus: das ist das Wort, das der vollends hört, der das Wort unserer

Gottes hört und es bewahrt in ganzer Vollkommenheit." Meister Eckhart steigert die Aussage dann doch im Sinne des Evangeliums (Lk 1,27-28): „Es ist Gott wertvoller, dass er geistig geboren werde von einer jeglichen Jungfrau oder von einer jeglichen guten Seele, als dass er von Maria leiblich geboren ward." Dieser Satz formuliert die These der ganzen Predigt. Warum „wertvoller"? Wie eine Parallelstelle zur vorliegenden Predigt zeigt, ist sich Eckhart sehr wohl der Kühnheit seines Gedankens bewusst, mit dem er die Seligkeit des Menschen, der das Wort Gottes hört und behält, sogar über diejenige Mariens als leibliche Mutter Gottes stellt, beruft sich dabei aber auf die Autorität Christi selbst.45 Die Steigerung liegt in der Universalisierung der SohnesgeDer äußere Akt

fügt zur inneren Empfängnis eigentlich gar nichts mehr hinzu, weil die sittliche Qualität eines Aktes nach Meister Eckhart „allein in der Absicht, in der die Empfängnis des Aktes sich vollzieht" liegt. (Ebd., n°26, LW II, 253,4-9: ,,[I]n sola intentione conceptionis actus"). Meister Eckhart: ZV. 49, DW II, 428,8-429,2 (LI, 511,21-26). Ebd., 428,3-7: „Haete ich diz gesprochen und waere ez mîn eigen wort, daz der mensche saeliger waere, der daz wort gotes hceret und ez behebet, dan María sí von der geburt, daz si Kristî muoter lîplîche ist, ich spriche aber: und haete ich diz gesprochen, die liute möhte ez wundem. Nû hât ez Kristus selber gesprochen. Dar umbe muoz man ez im glouben als der wârheit, wan Kristus ist diu wârheit." (LI, 511,13-19: „Hätte ich dies gesagt und wäre es mein eigenes Wort, dass der Mensch seliger wäre, der das Wort Gottes hört und es behält, als Maria durch die Geburt ist, durch die sie die leibliche Mutter Christi ist, ich wiederhole: hätte ich dies gesagt, die Leute würde es verwundem. Nun hat es Christus selbst gesagt. Darum muss man es ihm als der Wahrheit glauben, denn Christus ist die Wahrheit.") Dass diese Höherbewertung der geistigen Geburt keine Abwertung der leiblichen Geburt aus Maria bedeutet, beweist eine Stelle aus derselben Predigt, DW II, 432,1-3: „Alliu diu heilige kristenheit biutet unserer vrouwen grôze ère und wirdicheit dar umbe, daz si lîplîche ist diu muoter Kristî, und daz ist billich. Diu heilige kristenheit bitet sie umbe gnâde, und die mac si erwerben, und daz ist billich." (L I, 513,36-515,3: „Die ganze heilige Christenheit entbietet Unserer Frau große Ehre und Würde dafür, dass sie die leibliche Mutter Christi ist, und das ist geziemend. Die heilige Christenheit bittet sie um Gnade, und die vermag sie zu vermitteln, und das ist geziemend.") Aber auch hier findet man anschließend (DW II, 432,3-7) dieselbe Steigerung: „Und ob diu heilige kristenheit ir als grôze ère biutet, als wol billich ¡st, nochdanne vil mê lobes und ère mac diu heilige kristenheit dem menschen erbieten, der daz wort gotes gehceret und ez behalten hat, wan er noch saeliger ist, dan unser vrouwe dâ von ist, daz si lîplîche Kristî muoter ¡st, -

-

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burt, weil der Gottessohn, der in jeder jungfräulichen Seele durch das Hören des Wortes geistig geboren wird, nicht nur einen einzelnen Menschen (Maria) zur Beseligung führen möchte, sondern alle Menschen. Es ist Gott wertvoller, von jeglicher Seele geboren zu werden, weil dies seinem universalen Heilswillen

mehr entspricht. In Maria hat er nicht nur die individuelle Menschennatur des Menschen Jesus, sondern die Menschennatur aller Menschen, die ganze MenschMeister Eckhart lässt sich nicht auf historische oder leibliheit, che Gegebenheiten der Geburt des Gottessohnes einschränken, sondern lenkt den Blick auf das geistige Verständnis der Jungfräulichkeit, das für jeden Menschen gilt. Maria ist dennoch Modell für die Gläubigen, nicht, weil sie die leibliche Mutter des Herrn ist, sondern weil sie in vollkommenster Weise auf das Wort Gottes gehört und es befolgt hat, wie es Jegliche gute Seele" tun kann und soll.47 „Jungfrau" ist jeder Mensch in seiner Gottempfänglichkeit. Meister Eckhart bezeichnet mit der Jungfräulichkeit die latent vorhandene Anlage jeder menschlichen Geistseele, in ihrem Innersten oder Tiefsten Gott empfangen zu können. „Jungfrau" ist jeder Mensch im sogenannten Seelengrund, jener verborgenen „Seite" der Seele, die ausschließlich Gott zugewandt und für ihn allein empfänglich ist. Die „Jungfrau" wird in Predigt 2 durch ihre Bildlosigkeit charakterisiert, was heißt, dass im Seelengrund keine reflexive Vernunfttätigkeit stattfindet.48 In diesem Sin-

angenommen.46

ais Kristus selbe gesprochen hât." (L I, 515,3-9: „Und wenn die heilige Christenheit ihr so große Ehre bietet, wie es wohl geziemend ist, so kann die heilige Christenheit gleichviel dem Menschen noch viel mehr Lob und Ehre erbieten, der das Wort Gottes gehört und es behalten hat; denn ein solcher Mensch ist noch seliger, als es Unsere Frau dadurch ist, dass sie die leibliche Mutter Christi ist, wie Christus selbst gesagt hat.") Für die schon im Evangelium grundgelegte Höherbewertung der geistigen Geburt des Wortes Gottes in jeder menschlichen Seele wird von Eckhart (nach dem Taulerdruck) die Autorität Augustins angeführt. (Genaue Stellenangaben dazu gibt J. QUINT, in: DW I, 375, Anm. 1). Vgl. E.-H. WÉBER: „Le Christ selon Maître Eckhart", in: Christ among the Medieval Dominicans, ed. K. Emery Jr-J. Wawrykow, University of Notre Dame, Notre Dame, Indiana, USA 1998, 416: « Par chair assumée, Eckhart évoque assurément l'humanité individuelle en l'homme Jésus, mais également et à un titre consécutif, comme les Pères grecs pour qui ce que le Fils n'assume pas n'est pas sauvé, la nature humaine au sens universel, celle que vérifie univoquement chacun des humains et que l'union avec Dieu dans le Christ revêt d'une dignité nouvelle. » Vgl. auch den Kommentar zu Pr. 49 von B. McGlNN: The Mystical Thought, 121: "The Meister always insisted that it was because Mary was first completely attentive and obedient to God's word (Luke 11:28) that she merited to become the physical Mother of God and our exemplar." Zum Thema „Jungfrau" bei Meister Eckhart: vgl. MEISTER Eckhart: Pr. 2, DW I, 24,7-26,9. B. MlLEM: The Unspoken Word, 50-58.

174

und gute Seele synonym zu setzen, wie Quint dies in Übersetzung getan hat: Beide lassen alles Geschaffene in der alleinigen Ausrichtung auf Gott hinter sich und stehen mit der Ewigkeit in Beziehung, indem sie die Dinge „dort (nehmen), wo sie ewig sind",49 also in Christus, der ewigen Wahrheit, die in der Seele empfangen wird. Die Gottesgeburt in der Seele ist erst vollständig, wenn die Jungfrau „Weib", also durch Gebären, tatsächlich fruchtbar wird. „Dass der Mensch Gott in sich empfangt, das ist gut", schreibt Meister Eckhart in seiner Predigt 2. „und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau. Dass aber Gott fruchtbar in ihm werde, das ist besser."50 Maria verkörpert als Jungfrau und Gottesmutter diese beiden Aspekte der Empfänglichkeit und der Fruchtbarkeit des menschlichen Geistes. Sie lässt exemplarisch die Bedingungen für die Sohnesgeburt verstehen, die in uns wirksam, d.h. lebensbestimmend werden soll. ist seiner

ne

es

richtig, Jungfrau

2.2. Die Sohnesgeburt 2.2.1.

Grundlagen von Seiten Gottes

2.2.1.1. Die Sohnesgeburt als konstitutiver Grund der Schöpfung

sind\,sWir werden Gott erkennen, wie wir erkannt sind< . Ich aber sage: »Wir werden ihn erkennen recht so, wie er in sich selbst erkennt« in dem Abbild, das einzig Bild Gottes und der Gottheit ist".)

270

sonst nichts wenn

wir uns

wahrzunehmen vermochte. Und das ist uns eine gute Lehre; denn, um Gott bekümmern, so sind wir wenig von außen her bekümmert.

Wenn Gott in seiner lebendigen Einheit, das proportionslos starke „Über-Licht", wie Dionysius sagt, den menschlichen Geist überformt, kann sich das vielheitlich-kreatürliche Bewusstsein des Menschen nicht mehr aufrechterhalten. Im göttlich-einheitlichen Licht der trinitarischen Selbstreflexion ist es Paulus deshalb nicht möglich, etwas anderes als Gott zu erkennen. Das Hiob-Zitat, in dem auf Gottes Befehl hin die Sonne nicht mehr scheint und die Sterne wie unter

Siegel verschlossen bleiben, verdeutlicht diesen Sachverhalt. Die Seele, göttlichen Licht liebend „umfangen", ist von diesem derart erfüllt und ange-

einem vom

zogen, dass sie sich um nichts anderes mehr kümmern kann als um Gott: sie ist unfähig, sich in diesem Licht den geschaffenen Dingen zuzuwenden, weil ihre reflexive Vernunfttätigkeit in der Schau Gottes aktual aufgehoben ist. Sie erkennt Gott mit Gott. Eckhart schließt seine Erläuterungen mit einer pastoralen Empfehlung: „wenn wir uns um Gott bekümmern, so sind wir wenig von außen her bekümmert".

3.3.3.4. Er sah nichts, weil das reine göttliche Licht in ihm glänzte und strahlte nichts sah: Das Licht, das Gott ist, das hat keinerlei Beimifällt keinerlei Beimischung hinein. Es war ein Zeichen dafür, dass er das wahre Licht sah, das da Nichts ist. Mit dem Lichte meint er nichts anderes, als dass er mit offenen Augen nichts sah. Damit dass er nichts sah, sah er das göttliche Nichts. Sankt Augustinus149 spricht: Als er nichts sah, da sah er Gott. Sankt Paulus sagt:150 Wer sonst nichts sieht und blind ist, der sieht Gott. Daher sagt Sankt Augustinus: Da Gott ein wahres Licht ist und für die Seele ein Halt und ihr

Viertens,

warum er

schung; es

333,7-17. „Dô er niht ensach, dô sach er got. Daz lieht, daz got ist, daz vliuzet ûz und machet vinster allez lieht. Daz lieht, in dem dâ Paulus sach, in dem liehte sach er got, niht mê. Dâ von sprichet Job: ,er gebiutet der sunne, daz si niht enschine, und hat die stemen under im beslozzen als under ein insigel'. Von dem, daz er umbegriffen was mit dem liehte, dô ensach er anders niht; wan, swaz der sêle was, daz was bekümbert und was unmüezic mit dem liehte, daz got ist, daz er anders niht enmohte war neh-

Und daz ist uns ein guotiu 1ère; wan, swenne wir mit gote bekümbert sîn, sô sîn wir wênic bekümbert von ûzen" (DW III, 227,6-228,5). AUGUSTINUS: serm. 279 c. 1 n° 1, PL 38 1276: „Et eo tamen tempore, quo caetera non videbat, Jesum videbat." (Augustinus spricht hier von Jesus, schließt also die Menschheit Jesu Christi ausdrücklich mit ein, während Eckhart schlicht von Gott spricht.) Es handelt sich nicht um ein Paulus-Zitat. Nach J. Quint wurde „Sant Paulus sprichet" weil man das Folgende für ein Zitat hielt, während es in „fälschlich eingefügt Wahrheit eine Äußerung von Eckhart ist" (J. QuiNT, in: DW III, 228, Anm. 6). men.

...,

271

näher ist als die Seele sich selbst,151 Seele von allen gewordenen Dingen

so muss es notwendig so sein, dass, wenn die abgekehrt ist, Gott in ihr glänzt und strahlt.

Der vierte Grund für die Blindheit des Apostels liegt in der Reinheit des göttlichen Lichtes: es „hat keinerlei Beimischung". Gott ist reines Sein, er ist (nicht groß, schön, dies oder das). Es fällt kein Schatten in ihn (1 Joh 1,5: „Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm"), nichts, das nicht dieses reine Sein ist, nichts Geschaffenes, da ihm, dem Seins-Vollkommenen, nichts weggenommen noch hinzugefügt werden kann. Die Erblindung des Apostels ist ein Zeichen dafür, dass er das wahre Licht sah, das nichts Bestimmtes, nichts Begrenztes, nichts Geschaffenes ist. Das göttliche Licht erleuchtete Paulus, und in der Erleuchtung sah er Gott. Das erste Augustinuszitat („Als er nichts sah, da sah er Gott") legt den Schwerpunkt der Aussage auf die Tatsache, dass Paulus Gott sah, als er nichts sah; Eckharts Aussage hingegen, die er Paulus zuschreibt („Wer sonst nichts sieht und blind ist, der sieht Gott"), betont die Notwendigkeit des Blindseins, um Gott sehen zu können. Das zweite Augustinuszitat nennt wiederum die totale Abkehr von den Dingen als Voraussetzung dafür, dass Gott, das wahre Licht, zum Halt für die von ihm umfangene Seele wird, in der er unter der oben genannten Bedingung „glänzt und strahlt".153 Das göttliche Licht ist -

-

Vgl.

c. 7 n. 11 (CCSL 50, 285,38f.): „exterius enim conantur deserunt, quibus interior est Deus." („Sie versuchen nämlich nach außen zu gehen und verlassen ihr Inneres, und innerlicher noch als dieses ist Gott.") 333,18-28. „Daz vierde, war umbe er ensach niht: daz lieht, daz got ist, daz enhât keinen gemanc, dâ envellet kein gemanc in. Daz was ein zeichen, daz er daz wäre lieht sach, daz dâ niht enist. Mit dem liehte enmeinet er anders niht, wan daz er mit offenen ougen niht ensach. In dem, daz er niht ensach, dô sach er daz götlich niht. Sant Augustinus sprichet: dô er niht ensach, dô sach er got. swer anders niht ensihet und blint ist, der sihet got. Dâ von sprichet sant Augustinus: sît dem mâle daz got ein war lieht ist und der sêle ein enhalt und ir naeher ist, dan diu

ire,

Augustinus: trin. VIII

et

interiora

sua

sêle ir selber sí: swenne diu sêle gekêret ist von allen gewordenen dingen, von not muoz daz sîn, daz got in ir glenze und blicke" (DW III, 228,6-229,3). Vgl. Joh 1,9: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt"; Joh 1,14: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit"; Hebr 1,3: „er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wenn wir im Wesens"; 1 Joh 1,5-7: „Gott ist Licht und keine Finsternis ist in ihm. Licht leben, wie er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft miteinander"; 1 Joh 2,8: ,,[D]enn die Finsternis geht vorüber und schon leuchtet das wahre Licht"; 1 Joh 5,20: „Und wir sind in diesem Wahren, in seinem Sohn Jesus Chrisms"; 2 Kor 3,18: „Wir alle spiegeln mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn"; 2 Kor 4,4: „So strahlt ihnen der Glanz der Heilsbotschaft auf, die Botschaft von ...

272

„für die Seele ein Halt", weil diese ihr Sein ständig von Gott empfangt und dieses Sein nicht in ihr, sondern in Gott, dem allein In-sich und Aus-sich-selbstseienden Sein bzw. Übersein, wurzelt.154 Gott ist „ihr näher als die Seele sich selbst", weil er ihr innerlicher als ihr Innerstes ist und sie auf Grund seiner unendlichen Einheit zugleich ganz umfangt. Die Metaphern „glänzen" und „strah...

len" bezeichnen hier die Überformung der Seele durch die göttliche Selbstmitteilung in der Sohnesgeburt. Die Abkehr der „Seele von allen gewordenen Dingen" ist die notwendige und hinreichende Bedingung für das Aufleuchten Gottes in ihr. Die Seele kann weder Liebe noch Angst haben, ohne zu wissen, woher. Wenn die Seele nicht hinausgeht zu äußeren Dingen, so ist sie heimgekommen und wohnt in ihrem einfaltigen, lauteren Licht: da liebt sie nicht, noch hat sie Angst oder Furcht. Erkenntnis ist eine Grundfeste und ein Fundament alles Seins. Liebe (wiederum) kann nirgends anders haften als in Erkenntnis.15

„Die Seele kann weder Liebe noch Angst haben, ohne zu wissen, woher." Die kreatürlich liebende und sich ängstigende Seele hat noch einen Außenbezug. Aber wenn sie sich von allem Kreatürlichen abkehrt, ist sie „heimgekommen". Sie ist befreit von allem, was nicht Gott ist, heimgekehrt in ihren Ursprung, und „wohnt in ihrem einfaltigen, lauteren Licht." „Einfaltig" und „lauter" sind, wie oben bereits ausgeführt, sowohl göttliche Eigenschaften als auch Eigenschaften der menschlichen Vernunft in ihrer Wesensverfassung („lauter" bedeutet ein Nichtberührt-werden von und Nicht-Vermischtwerden mit Vielheitlich-Kreatürlichem).156 Die Aussage, die Seele wohne „in ihrem einfaltigen, lauteren Licht", lässt wiederum eine Unterscheidung zwischen dem göttlichen Licht und dem Licht der Seele nicht zu. Die Seele ist der Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist. Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit wir erleuchtet werden zur Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi." Allein das Sein Gottes hat ein Bleiben in sich: Meister Eckhart: Pr. 44, DW II, 342,12-343,10: „Götlich nature giuzet sich in daz lieht der sêle, und si wirt enthalten dar inne. Swenne er die sêle dar în geziuhet, sô vindet si, daz got sîn selbes enthalt ist, und dâ blîbet si, anders si enblibe niemer. Got hât einen enthalt, ein blîben in sînem wesene". (L I, 473,8-: „Göttliche Natur gießt sich in das Licht der Seele, und sie wird darin erhalten. Wenn er die Seele da hinein zieht, so findet sie, dass Gott sein eigener Erhalter ist, und dort bleibt sie, sonst bliebe sie niemals.... Gott hat einen Halt, ein Bleiben in seinem Sein".) 333,29-34. „Diu sêle enmac minne noch angest haben, si enwizze, wâ von. Swenne diu sêle niht ûz engât an diu ûzern dinc, sô ist si heim komen und wonet in irm einvaltigen lûtern liehte. Dâ enminnet si noch enhât angest noch vorhte. Bekantnisse ist ein gruntveste und ein fundament alles wesennes. Minne enmac niht anders haften wan in bekanntnisse." (DW III, 229,3-7). Vgl. M. Enders: „Abgeschiedenheit", 79. ...

...

...

...

273

durchdrungen, überstrahlt und überformt vom göttlichen Licht, mit dem sie aktual eins ist. Die „heimgekommene Seele", ledig eines jeglichen Außenbezuges, ist nicht nur frei von Angst und Furcht, sondern liebt als solche auch nicht. „Ist die Abge-

schiedenheit des menschlichen Herzens vollkommen, so wird sie insofern ,von Erkenntnis erkenntnislos, und von Liebe liebelos und von Licht finster', als mit ihr zugleich die mystische Einung eintritt, in der der göttliche Geist seine Aktualität im abgeschiedenen Geist des Menschen ungehindert entfaltet, wodurch zugleich jede Eigenwirksamkeit des menschlichen Geistes restlos erlischt, der Mensch also Erkenntnis- und liebelos' etc. wird."157 Eckhart schließt zwei allgemeine erkenntnistheoretische Grundsätze an: „Erkenntnis ist eine Grundfeste und ein Fundament alles Seins. Liebe (wiederum) kann nirgends anders haften als in Erkenntnis." Die beiden Sätze über die Erkenntnis und die Liebe sind wichtig für das Gesamtverständnis Eckharts. 1) „Erkenntnis ist eine Grundfeste und ein Fundament alles Seins". In der auf 1302 oder 1303 datierten berühmten ersten Pariser „Quaestio" schreibt der Meister in diesem Sinn Sinn von Gott: „Drittens zeige ich, dass ich nicht mehr der Meinung bin, dass Gott erkennt, weil er ist; sondern, weil er erkennt, deshalb ist er, in der Weise, dass Gott Intellekt und Erkennen ist und das Erkennen selbst die Grundlage seines Seins ist."158 Intellekt und Erkennen Gottes sind also das Fundament seines Seins. Mit dieser Position grenzt sich Meister Eckhart bekanntlich von Thomas von Aquin ab. Für beide sind Sein und Erkennen in Gott zwar identisch, aber für den Aquinaten bildet das Sein Gottes die Grundlage semes Erkennens, während für Meister Eckhart das Erkennen die Grundlage des Seins ist. Wer erkennt, ist das eigentlichste Sein. Gott ist Geist und das Sein ist Geist. Das Alte Testament sagt: Gott ist Sein (Ex 3,14), das Neue Testament fügt hinzu: Gott ist Licht (1 Joh 1,5), Liebe (1 Joh 4,16) und Geist (Joh 4,24). In der Pariser „Quaestio" begründet Eckhart seine Position mit Joh 1,1 („im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort") und Joh 14,6 („ich bin die Wahrheit"): „Nicht aber hat der Evangelist gesagt: ,im Anfang war das Sein, und Gott war das Sein' Femer sagt der Heiland: ,ich bin die Wahrheit' Die Wahrheit aber gehört zum Intellekt".159 Gott als reines „Intelligere" ist nach Eckhart ...

157

158

159

...

M. ENDERS: „Abgeschiedenheit', 86 mit Eckhart-Zitat aus VA, DW V, 428,7-9 : „Und sô diu abegescheidenheit kumet ûf daz hcehste, sô wirt si von bekennene kennelôs und von minne minnelôs und von liehte vinster", und Hinweis auf Parallelstellen. Meister Eckhart: Qu. Par. I n°4, LW V, 40,5-7: „Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo, ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelligere fundamentum ipsius esse." Meister Eckhart: Qu. Par. 7n°4, LW V, 40,8-12: „Non autem dixit evangelista: ,in principio erat ens et deus erat ens'. Item dicit salvator Ioh.14: ,ego sum veritas'. Veritas autem ad intellectum". ...

274

(in dieser „Quaestio" im Unterschied zur Hauptthese des „Opus tripartitum")160 so

so unendlich, dass er nicht einmal mehr als Sein bezeichnet werden kann in dem Sinne, „dass das Sein etwas Kreatürliches sei und deshalb dem Schöpfer, der unerschaffen ist, nicht zukommen könne. Zudem könne Gott als Ursache des Seins nicht das Verursachte selbst sein, sondern nur die Lauterkeit des Seins (purtias essendi), Gott ist nach der ersten Pariser Quaestio kein Seiendes, sondern etwas Höheres als das Seienden61 „Das göttliche Sein ist als erkenntnishaftes, vollständig sich selbst transparentes und vollkommen erfülltes Sein puritas essendi und in dieser Lauterkeit eins mit dem göttlichen Erkennen, also istige vernünfticheit."*62 Diese Erkenntnis Gottes empfangt die Seele in der unio mystica. „Liebe (wiederum) kann nirgends anders haften als in Erkenntnis." Nur das Erkannte kann (nach einem typisch dominikanischen Axiom) geliebt werden. Die Frage ist hier, mit welcher Liebe die Seele liebt, denn kurz vorher hat Eckhart gesagt, sie liebe nicht. Die heimgekommene Seele muss folglich begabt sein mit der göttlichen Liebe selbst. Sie ist in die innertrinitarische Erkenntnis- und Liebesbewegung des dreifaltigen einen Gottes hineingenommen. Im vorliegenden Predigtzusammenhang sind Erkenntnis und Liebe also nicht auf kreatürliche Erkenntnis und Liebe, sondern auf die höhere Erkenntis und Liebe zu beziehen, von der die Seele, überformt vom göttlichen Licht, „erkenntnis- und liebelos" wird.

vollkommen,

Wenn die Seele blind ist und sonst nichts sieht, so sieht sie Gott, und das ist notwendig so. Ein Meister sagt: Das Auge in seiner höchsten Reinheit, wo es keine Farbe (in sich) hat, sieht alle Farbe; nicht nur, wo es in sich selbst aller Farbe bloß ist, sondern (auch) da, wo es sich am Leibe befindet, (auch) da muss es ohne Farbe sein, wenn man Farbe erkennen soll. Was ohne Farbe ist, damit sieht man alle Farbe, und wäre es selbst unten an den Füßen. Gott (nun) ist ein so geartetes Sein, das alles Sein in sich trägt. Soll Gott der Seele bekannt werden, so muss sie blind sein. Darum sagt er: „Er sah das Nichts, von dessen Licht alles Licht, von dessen Sein alles Sein ist."164

160 161

162 163

164

Die Hauptthese des Opus tripartitum lautet: „Deus est esse W. Beierwaltes: „Deus est esse esse est deus", 5-82.) M. Enders: „Meister Eckhart", 108.

esse est -

Deus".

(Vgl.

-

L II, 687-688, Anm. 76,14-16. Auch in der dritten Pariser „Quaestio" gibt Eckhart der Vernunft in der Beziehung zwischen Mensch und Gott den Vorrang vor der Liebe. „Die vornehmste Beziehung des Menschen zu Gott ist die der Erkenntnis, denn darin ist der Mensch Gott gleichförmig und verwirklicht zugleich seine größte Freiheit, weil der Mensch nirgends so frei von allem Materiellen ist wie in der Vernunft" (B. HASEBRINK, „Predigt Nr. 71", 233). 333,34-334,8. „Swenne diu sêle blint ist und anders niht ensihet, sô sihet si got, und daz muoz von nôt sîn. Ein meister sprichet: daz ouge in sîner grcesten lûterkeit, dâ ez keine varwe enhât, dâ sihet ez alle varwe; niht aleine, dâ ez in im selber blôz ist aller

275

Der erste Satz wiederholt, dass die Blindheit der Seele die notwendige und hinreichende Bedingung für die Gottesschau ist. Nur der abgeschiedene Geist ist empfänglich für Gott und somit fähig für die Vereinigung mit ihm. Meister Eckhart veranschaulicht seine Aussage mit einem aristotelischen Zitat.165 Wie das Auge in sich selbst aller Farbe bloß ist, um Farbe zu sehen, so muss die Seele alles Kreatürlichen entblößt sein, um Gott zu sehen. Anders ausgedrückt: Nur die von allen kreatürlichen Formbestimmungen freie oberste Vernunft vermag alles die Fülle des Seins zu erkennen.166 „Gott (nun) ist ein so geartetes (ein so reines) Sein, das alles Sein (alle Farben, alle Kreaturen in ihrem ideellen Sein) in sich trägt." Gottes Sein (in Wahrheit ein Über-Sein) trägt alles Sein in sich. Ein unmittelbares Erkennen dieses überseienden Gottes ist nur der von aller kreatürlichen Vemunfttätigkeit entblößten (blinden) Seele möglich. „Darum sagt er: ,Er sah das Nichts', von dessen Licht alles Licht, von dessen Sein alles Sein ist." „Er sah das Nichts", die sich jeder Beschreibung entziehende Fülle Gottes, die Quelle allen Lichtes und allen Seins. -

-

3.3.4. Schlusswort der Braut Daher sagt die Braut im Buch der Liebe: „Als ich ein wenig weiterging, da fand ich, den meine Seele liebt" (Hohel. 3,4). Das Wenige, über das sie hinauskam, das waren alle Kreaturen. Wer die nicht zurückstößt, der findet Gott nicht.167

varwe, mêr: dâ

ez an dem lîchamen stât, dâ muoz ez âne varwe sîn, dâ man bekennen Swaz dâ ist âne varwe, dâ sihet man alle varwe, waere ez joch unden an den vüezen. Got ist ein solch wesen, daz in im treget alliu wesen. Sol got werden bekant der sêle, sô muoz si blint sîn. Dâ von sprichet er: ,er sach' daz ,niht', des lieht alliu lieht sint, des wesen alliu wesen sint" (DW III, 229,7-230,6). Aristoteles: an. II c. 7, 418b26 (Ed. Pirotta, 107): „Est autem coloris susceptivum, quod sine colore". Vgl. Meister Eckhart: BgT, DW V, 28,9f; Ders.: In loh. n°100, LWIII, 86,1 Of. Vgl. Meister Eckhart: Qu. Par. II n°2, LW V,30,l-4: „quia intellectus, in quantum intellectus, nihil est eorum quae intelligit, sed oportet quod sit »immixtus«, »nulli nihil habens commune«, ut omnia intelligat,ut dicitur in III De anima, sicut visum oportet nullum habere colorem, ut omnem colorem videat" (mit Zitat von Aristoteles: an. III t. 5 [r c. 4 429a24]: „(intellectus) nihil est actu eorum quae sunt ante intelligere"; t. 4 (429al8): „necesse itaque, quoniam omnia intelligit, immistum esse"; t. 12 (429b23): „nulli nihil habet commune". („Der Intellekt als Intellekt ist nichts von dem, was er erkennt, sondern er muss ,unvermischt' sein und ,darf mit nichts irgend etwas gemein haben', um alles erkennen zu können, wie es im 3. Buch Von der Seele heißt, in derselben Weise wie der Gesichtssinn farblos sein muss, um alle Farbe sehen zu können.") 334,8-12. „Dâ von sprichet diu brut in der minne buoche: ,dô ich ein wênic vürbaz kam, dô vant ich, den mîn sêle minnet'. Daz ,wênic', vür daz si kam, daz wären alle crêatûren. Swer die niht ze rücke stcezet, der envindet gotes niht" (DW III, 230,6-9).

sol

165

166

167

276

varwe.

,Als ich ein wenig weiterging, da fand ich, den meine Seele liebt", nimmt den letz-

des Abschnittes über die Liebe wieder auf.168 Das Hinausgehen der Braut über alle Kreaturen beschreibt den entscheidenden und schwierigsten Schritt auf dem Wege der Seele zu Gott: „Wer die (Kreaturen) nicht zurückstößt, der findet Gott nicht." Das Wort „zurückstoßen" drückt eine gewisse Gewaltsamkeit aus. Es erinnert an Christi Wort: „die Gewalttätigen reißen es (das Himmelreich) an sich" (Mt 11,12). Dieses Zurückstoßen der Kreaturen, welches die Voraussetzung für die Einung mit Gott ist, meint keine Ablehnung oder Verachtung der Geschöpfe, sondern bezeichnet die radikale Abkehr des Eigenwillens von allem Geschaffenen, die erst eine reine, selbstlose Liebe ermöglicht. Die geforderte strenge Disjunktion zwischen Gott und allem Geschaffenen ist durch Eckharts Absicht erklärbar, seine Zuhörer zur Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit bei Gott zu führen.

ten Satz

Sie (die Braut) gibt auch zu verstehen: Wie fein, wie lauter das auch sein mag, mittels dessen ich Gott erkenne, es muss hinweg. Ja, sogar, wenn ich das Licht, das wirklich Gott ist, nehme, insofern es meine Seele berührt, so ist dem unrecht. Ich muss es in dem (= da) nehmen, wo es ausbricht. Ich könnte das Licht nicht recht sehen, wo es auf die Wand scheint, wenn ich nicht mein Auge dahin kehrte, wo es ausbricht. Und selbst dann, wenn ich es nehme, wo es ausbricht, muss ich auch dieses Ausbrechens noch entledigt werden: ich muss es nehmen, so wie es in sich selbst schwebend ist. Ja, selbst dann noch, sage ich, ist es das Richtige nicht: ich muss es nehmen, wo es weder berührend noch ausbrechend noch in sich selbst schwebend ist, denn das ist alles noch (Seins-)Weise. Gott aber muss man nehmen als Weise ohne Weise und als Sein ohne Sein, denn er hat keine Weise. Daher sagt Sankt Bernhard: Wer dich, Gott, erkennen soll, der muss dich messen ohne Maß.' 9

Der auf das Zurückstoßen aller Kreaturen folgende Höhenweg der Seele nur scheinbar ein linearer Aufstieg von Stufe zu Stufe, in Wirklichkeit ein der zeitlichen Abfolge entzogenes Geschehen wird von Meister Eckhart so geschildert, dass jede Aussage durch die jeweils nachfolgende relativiert wird. Er beginnt mit der notwendigen Entblößung von der Eigenwirksamkeit des kreatürlichen seelischen Erkenntnisvermögens: „Wie fein, wie lauter das auch sein mag, mittels dessen ich Gott er-

-

168 169

331,25(222,10).

334,12-27. „Si meinet ouch: swie kleine, swie lüter daz ist, dâ bî ich got bekenne, daz muoz abe. Nochdenne daz lieht, daz waerlîche got ist, nime ich daz, als ez mîne sêle rüeret, im ist unreht: ich sol ez nemen in dem, dâ ez ûzbrichet. Ich enmöhte daz lieht niht wol gesehen, dâ ez schînet an die want, ich enkêrte denne mîn ouge dar, dâ ez ûzbrichet. Dennoch, nime ich ez, dâ ez ûzbrichet, des selben ûzbrechennes muoz ich beraubet werden; ich sol ez nehmen, dâ ez in im selben swebende ist. Dennoch spriche ich, im ist unreht: ich sol ez nehmen weder, dâ ez rüerende ¡st noch ûzbrechende ist noch in im selben swebende, wan ez ist noch allez wise. Man muoz got nehmen wîse âne wîse und

wesen

âne wesen,

wan er

enhât keine wîse. Dâ

von

sprichet

sant

Bernhart:

swer

dich, got, bekennen sol, der muoz dich mâzen sunder maze" (DW III, 230,9-231,3). 277

kenne, es muss hinweg." Eckhart fährt fort: „Ja, sogar, wenn ich das Licht, das wirklich Gott ist, nehme, insofern es meine Seele berührt, so ist dem unrecht." Sogar wenn es wirklich Gott ist, der sich der Seele zu erkennen gibt (sie „beriihrt"), ist es „unrecht", verletzt die Liebe, wenn sie es dabei auf die Erfahrung Gottes abgesehen hat. Der Braut geht es nicht um Berührung, nicht um Trost, nicht um Gotteserfahrung, sondern um Gott selbst, um ihn allein. „Ich muss es in dem (= da) nehmen, wo es ausbricht. Ich könnte das Licht nicht recht sehen, wo es auf die Wand scheint, wenn ich nicht mein Auge dahin kehrte, wo es ausbricht." Die Braut muss sich zur Quelle dieses Lichtes, zur Heiligen Trinität, kehren. Die menschliche Erfahrung des göttlichen Lichtes, das sich der Seele mitteilt, muss überstiegen werden. Ist mein Auge" (= meine Absicht) noch auf die „Wand" die Kreaturen/meine Seele gerichtet, dann nehme ich es noch auf kreatürliche Weise wahr. Die Seele ist hier noch „Empfangsorgan" für die Trinität. Sie muss aber über sich hinaus in das Licht der Dreifaltigkeit gelangen. Dies kann sie nicht selbst vollbringen, es geschieht ihr aus Gnade: sie muss selbst des Ausbrechens noch „entledigt" („beraubet") werden: „Und selbst dann, wenn ich es nehme, wo es ausbricht, muss ich dieses Ausbrechens noch entledigt werden: ich muss es nehmen, so wie es in sich selbst schwebend ist." Das „in sich selbst schwebende Licht" ist das Licht der trinitarischen Selbstreflexion. „Ja, selbst dann noch, sage ich, ist es das Richtige nicht: ich muss es nehmen, wo es weder berührend noch ausbrechend noch in sich selbst schwebend ist, denn das ist alles noch (Seins-)Weise." In Predigt 69 schreibt Meister Eckhart ähnlich: „ihr [der Vernunft] genügt's so wenig an Gott wie an einem Stein oder an einem Baum. Sie ruht nimmer, sie bricht ein in den Grund, wo Gutheit und Wahrheit ausbrechen, und nimmt es in principio, im Beginn, wo Gutheit und Wahrheit ihren Ausgang nehmen, noch ehe es irgendeinen Namen gewinnt, ehe es ausbricht, in einem viel höheren Grunde, als es Gutheit und Weisheit sind." Selbst das Licht der trinitarischen Selbstreflexion eine göttliche Seinsweise, d.h. eine Vollkommenheitsweise Gottes, nämlich die seiner absoluten Selbsterkenntnis, die ihm neben allen anderen Vollkommenheitsmodi zugesprochen wird muss noch überschritten werden: „Gott aber muss man nehmen als Weise ohne Weise und als Sein ohne Sein, denn er hat keine Weise. Daher sagt Sankt Bernhard: Wer dich, Gott, erkennen soll, der muss dich messen ohne Maß."171 Gott aber muss ,

-

-

-

-

LU, 53,29-36. Meister Eckhart: Pr. 69, DW III, 179,3-7: ,,[I]r engenüeget als wênic an gote als an einem steine oder an einem bourne. Si engeruowet niemer; si brichet in den grünt, dâ güete und wârheit ûzbrichet, und nimet ez in principio, in dem beginne, dâ güete und wârheit ûzgânde ist, ê ez dâ deheinen namen gewinne, ê ez ûzbreche, in einem vil hoehern gründe, dan güete und wîsheit sí." Bernardus Claraevallensis. Liber De diligendo deo, in: Sancti Bernardi Opera, 3. Tractatus et opúsculo, ad fidem codicum recensuerunt J. Leclercq/H. M. Rochais, Roma 278

in der absolut reflexionsfreien Einheit seines einzigen, unendlichen Wesens „nehmen", gottgeeint erkennen. Während bei Bernhard die Liebe ohne Maß ist, ist es bei Eckhart die Erkenntnis. Er meint mit dieser weise- und maßlosen Erkenntnis Gottes eigenes Erkennen, das, weil es sich vollkommen auf sich selbst zurückbezieht, von Gottes eigener Liebe nicht getrennt werden kann und in das der Mensch in der mystischen Einung unmittelbar hineingenommen ist. „Weise ohne Weise", „Sein ohne Sein", „messen ohne Maß." Mit diesen paradoxen Ausdrücken rührt Eckharts Sprache an Grenzen, die der menschliche Verstand nicht zu überschreiten vermag. So wenig wie Gott aufgrund der Differenzstruktur des diskursiven Denkens durch menschliches Vermögen unmittelbar erkannt werden kann, ebenso wenig kann menschliche Sprache, ein Kind des Denkens, die Wirklichkeit dieses einfachen Wesens Gottes beschreiben. Erst jenseits aller kreatürlichen Möglichkeiten eröffnet sich jener sowohl denkerisch wie sprachlich nicht mehr fassbare Zugang zu Gott, dessen erhabene Einzigkeit nur stammelnd angedeutet werden kann. Eckhart schließt, wie immer, mit einem Gebet. man

3.4.

Schlussgebet

Bitten wir unsern Herrn, dass wir in die Erkenntnis kommen ohne Weise und ohne Maß ist. Dazu helfe uns Gott. Amen."2

mögen, die da

ganz

„Ohne Weise und ohne Maß" ist allein der wesenhaft unendliche und unermessliche Gott.173 Nur er, der „den Geist nicht nach Maß" gibt,174 kann uns in seine 1963, 119: „Causa diligendi Deum, Deus est; modus, sine modo diligere". („Der Grund, Gott zu lieben, ist Gott. Das Maß [Gott zu lieben] ist, ohne Maß zu lieben"). Hierzu vgl. M. Enders: „Bernhard von Clairvaux. Ein Lehrmeister der Liebe", 71 f. u. 77f. Vgl. Meister Eckhart: Pr. 9, DW I, 147,1-2: „Sant Augustinus sprichet: got ist wîse âne wîsheit, guot âne güete, gewaltic âne gewalt" (L I, 107,35f: „Sankt Augustinus sagt: Gott ist weise ohne Weisheit, gut ohne Gutheit, gewaltig ohne Gewalt"); vgl. Augustinus: trin. V c. 1 n. 2 (CCSL 50, 207,37-44): „ut sic intellegamus deum si possumus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum, sine indigentia creatorem, sine situ praes[sid]entem, sine habitu omnia continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione mutabilia facientem nihilque patientem." („So müssen wir uns, wenn wir es vermögen und so gut wir es vermögen, Gott denken als ohne Eigenschaft gut, als groß ohne Größe, als Schöpfer ohne Bedürftigkeit, als ohne Sitz vorsitzend, als alles zusammenhaltend ohne äußere Gestalt, als überall seiend ohne örtliche Bestimmtheit, als immer dauernd ohne Zeit, als Schöpfer der wandelbaren Dinge ohne Wandlung seiner selbst, als ein Wesen ohne Leiden.") 334,28-30. „Biten wir unsern herrén, daz wir komen in daz bekantnisse, daz dâ alzemâle âne wîse und âne mâze sî. Des helfe uns got. Âmen" (DW III, 231,4-5). 279

eigene Erkenntnis und damit in eine angemessene Erkenntnis seiner selbst aller Dinge führen. Um diese Gnade bittet Eckhart zum Schluss der Predigt.

und

Zusammenfassend lässt sich sagen: Gott ist Licht Gott ist Nichts. Dass Gott Licht sei, lehrt die Heilige Schrift; dass Gott Nichts sei, verlangt lange Erklärungen. Diese gibt Eckhart, indem er den vierfachen Sinn des Nichts nur innerhalb der Liebe zu verstehen gibt. Die doppelte Erwähnung der Liebe mit Bezug auf das Hohelied am Anfang und am Ende des Predigtteiles über das Nichts unterstreicht ihre Bedeutung für den Menschen auf seinem Rückweg zu Gott. Nur in der Liebe kann Gott als das überseiende Nichts erkannt werden. In Predigt 6 lehrt Eckhart: „Durch das Erkennen nehme ich Gott in mich hinein; durch die Liebe hingegen gehe ich in Gott ein."175 In vorliegender Predigt wird Paulus vom göttlichen Licht erleuchtet, und Eckhart zeigt anhand der Figur der Braut des Hohenliedes den einzig möglichen Weg der menschlichen Seele zur mystischen Einung mit Gott auf, nämlich den der Preisgabe alles Geschaffenen aus Liebe zu Gott. Apg 9,8 ist ein Gegenbild zu Gen 3,7, wo Adam und Eva nach dem Sündenfall, der den Verlust des Paradieses zur Folge hat, ihre kreatürliche Nacktheit entdecken („Da gingen ihnen die Augen auf). Paulus hingegen „stand auf von der Erde, und mit offenen Augen sah er nichts." Sein Blick ist nicht mehr auf Irdisches, auf sich und die Dinge, gerichtet, sondern allein auf Gott. -

173

174

175

Meister Eckhart: In Sap. n°219, LW II, 553,12: „Deus autem immensus, sine mensura, est." („Gott aber ist unermesslich, das heißt ohne Maß.") Ders.: In Exod. n°156, LW II, 139,1: „divinae essentiae immensitas et infinitas". (,,[D]ie Unermesslichkeit und Unendlichkeit der göttlichen Wesenheit"). Meister Eckhart: In loh. n°361, LW III, 306,6: „non enim ad mensuram dat deus spiritum". (,,[D]enn Gott gibt den Geist nicht nach Maß"). L I, 87,10f. Meister Eckhart: Pr. 6, DW I, 113,7-8.

280

4.

Predigt DW 6: Iusti vivent in aeternum (Sap 5,16)

„Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes,

sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. Jesus erwiderte ihnen: Heißt es nicht in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn?" -

(Joh 10,33-38)

Einleitung Bibliographie.

'

Von wem wurde die Predigt bisher kommentiert?

Maître Eckhart. Sermons, introduction et traduction de Jeanne Ancelet-Hustache, 1, Paris 1974, 80-87; Kirchner, Reinhard: „Meister Eckharts Predigt,Iusti vivent in aeternum'", in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 100 (1978) 229-262; Ruh, Kurt: Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 21989, 155-157; DERS.: Geschichte der abendländischen Mystik, 3, München 1996, 339-342; lOHN, Friedrich: Die Predigt Meister Eckharts. Seelsorge und Häresie, Heidelberg 1993, 78-97; 108-17; Meister Eckhart. Werke, 2 Bde., hrsg. u. kommentiert v. Nikiaus Largier, Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20 u. 21), 1, 808-819; Sells, Michael A.: Mystical Languages of Unsaying, Chicago 1994, 168-173; MlLEM, Bruce: The Unspoken Word. Negative Theology in Meister Eckhart's German Sermons, Washington 2002, 112-142;2 FLASCH, Kurt: „Predigt 6: ,Iusti vivent in aeternum'", in: LE II, Stuttgart 2003, 29-39. 1 2

Bibliographie zu Predigt 6 bis zum Jahre 1993: vgl. Literaturhinweise in: L I, 808. B. MlLEM: The Unspoken Word, 113, Anm. 1 kommentiert kurz die Forschungsperspektiven von R. Kirchner, F. lohn, N. Largier und M. A. Seils. 281

Überlieferung der Predigt Predigt (wie Predigt 1) den höchsten Echtin seiner weil sich Eckhart heitsgrad, „Responsio" auf die zweite Anklageliste im Kölner Prozess selbst als ihr Verfasser bekennt: „Tricesimus quintus articulus in sermone ,Iusti in perpetuum vivent'".3 Im Laufe des Kölner Prozesses werden Eckhart zwei vom kritischen Text Quints abweichende Formulierungen vorgelegt, die er im einen Fall als „dem Wortlaut nach falsch und irrig", im anderen Fall als „Irrtum" bezeichnet.4 Der im Vergleich zum heutigen Text unterschiedliche Wortlaut der lateinischen Exzerpte der Kölner Anklagelisten, besonders der zweiten Liste (die beide Formulierungen enthält), kann nach dem heutigen Stand der Forschung nicht durch Nachlässigkeit oder Böswilligkeit der Denunzianten oder des Kölner Gerichts erklärt werden.5 Wenn aber die These stimmt, dass die Denunzianten (außer im Fall von Predigt 2) nur von Eckhart autorisiertes Material verwendet haben, wie ist dann seine Reaktion zu erklären? Diese Frage und damit die Frage nach der Wortlautechtheit des von Quint rekonstruierten Textes ist zumindest an den beiden betroffenen Textstellen nicht ganz geklärt. In puncto Autorschaft besitzt diese

Liturgisches Fest J. Theisen nennt vier

Märtyrerfeste, an denen die Schriftstelle des Predigtthemas (Weish 5,16) gelesen wurde: Tiburtius, Valerian und Maximus (14. April), Neureus, Achilleus und Pancratius (12. Mai), Sieben Märtyrerbrüder (10. Juli) und Abdon und Sennen (30. Juli). Er datiert die Predigt auf das zuletzt genannte Fest, an dem das Evangelium Mt 5,1-12 verkündet wurde, von dem besonders die letzten beiden Seligpreisungen6 inhaltlich mit dem Thema der Predigt in Zusam3 4

5 6

Vgl. Acta n°47, LW V, 236,1-10 u. ECHARDI resp., Proc. Col. 7/n°89, LW V, 339,17f.; G. Steer: „Zur Authentizität", 151. ECHARDI resp., Proc. Col. II n°92, LW V, 340,3: „Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat." (= Antwort auf den Satz: „Vivere meum est esse dei, vel vita mea est essentia dei, quidditas dei quidditas mea"); ECHARDI resp., Proc. Col. 1 n°132, LW V, 296,10-11: „Quod autem sequitur ultimo in eodem articulo: ,transformamur et convertimur in deum", error est." („Was aber an letzter Stelle im gleichen Satz folgt: ,Wir werden umgestaltet und verwandelt in Gott', ist ein Irrtum.") [RS, Üb., 92]. Vgl. G. STEER: „Zur Authentizität", 129f. J. Theisen: Predigt, 297; Mt 5,10-12: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt."

282

menhang stehen. Im Predigt angegeben.7

Basler Taulerdruck wird

Allerheiligen als Termin für diese

Datierung der Predigt im Leben Eckharts Wahrscheinlich fällt die vorliegende Predigt in die Zeit der intensivsten Predigt-

periode Eckharts in Straßburg (1313-1323/24),8 in der er möglicherweise amtlich als Generalvikar seines Ordens mit der „cura monialium", der seelsorgerlichen Betreuung von Dominikanerinnen in der Ordensprovinz Teutonia, beauftragt war.9 In dieser Periode sind vermutlich auch der Traktat „Das Buch von der göttlichen Tröstung" und die Predigt „Vom edlen Menschen" (der „Liber benedictus") entstanden.10 Vorbemerkungen zu Predigt 6 Die Gerechtigkeit ist ein Thema, das sich durch das ganze Werk Eckharts zieht. In dieser Predigt schreibt er: „Wer die Lehre von der Gerechtigkeit und vom Gerechten versteht, der versteht alles, was ich sage". Seine Lehre von der Gerechtigkeit hat er in verschiedenen lateinischen und deutschen Schriften entwickelt, vor allem in seinem Johanneskommentar,11 in seinem Kommentar zum Buch der Weisheit12 und im „Büchlein der göttlichen Tröstung", dessen erstes Kapitel praktisch einen Kommentar zu Predigt 6 bildet.13 Von den mittelhochdeutschen Predigten ist die vorliegende eine der ausführlichsten Darstellungen des Verhältnisses zwischen Gott und dem Gerechten.14

7

8 9

0 1

2 3 4

Vgl. L 1, 808.

K. Ruh: Meister Eckhart, 136; 155-157. „Zeitliche Zuordnungen fehlen" allerdings (K. Ruh: „Zu Meister Eckharts Kölner Predigten", 43). Zum neusten Forschungsstand über die Straßburger Zeit vgl. S. 53, Anm. 54. K. Ruh: Meister Eckhart, 117. Meister Eckhart: In loh. n°14-27, LWIII, 13,1-21,13; vgl. auch n°46, 38,5-12;

n°48-50, 39,9-41,9; n°68, 56,7-57,14; n°107, 91,5-92,6; n°316, 262,13-263,4; n°504f.,434,14-435,12f; n°640-641, 556,10-557,4. Meister Eckhart: In Sap. n°59-70, LW II, 386,1-399,3 (ebenfalls zu Weish 5,16); vgl. auch ebd. n°41-44, LW II, 362,4-367,7. Vgl. K. Flasch: „Predigt 6 ,Iusti vivent in aeternum'", in: LE II, 49; Meister Eckhart: BgT, c. 1, DW V, 9,4-15,5.

Von den anderen Deutschen Predigten sind v.a. Pr. 39: „Iustus in perpetuum vivet" (DW II, 246-268), Pr. 41: „Qui sequitur iustitiam" (DW II, 282-297) und Pr. 10: „In diebus suis placuit deo et inventus est iustus" (DW I, 159-174) erwähnenswert.

283

Die mit der Gerechtigkeit verbundene Selbst- und Willensentäußerung, das Feststehen im Hinnehmen des göttlichen Willens in Lieb und Leid, Gemach und Ungemach ist ebenfalls eine Grundkonstante Eckhartscher Predigt. Das eigentliche Hauptthema dieser Predigt, das ihr auch ihre innere Kohärenz gibt (und vor allem im dritten Teil der Predigt entfaltet wird), ist die „Verwandlung des Menschen in Gott", die nur um den Preis radikaler Selbstentäußerung (des „ûzgânfs]" aus sich selbst) im Einssein mit dem Wort bzw. mit dem Sohn Gottes „erreicht" oder vielmehr empfangen wird.16 Die Ankläger Eckharts fanden in dieser Predigt besonders viel Material, das sie „glaubten als häretisch bezeichnen zu müssen. Es handelt sich um nicht weniger als 10 Stellen".17 Vier der 28 Artikel der päpstlichen Bulle „In agro dominico" beziehen sich auf vorliegende Predigt.18

Aufbau der Predigt Nach einer Einleitung mit dem Thema aus dem Buch der Weisheit (Sap 5,16), lässt sich die Predigt in drei Teile gliedern, in denen Eckhart die Elemente 1. „die Gerechten", 2. „leben" und 3. „ewiglich" auslegt, wobei er den zweiten Teil des 15 16

17 18

Vgl.

z.B. Meister Eckhart: Pr. 11, 16b, 25, 30, Pfeiffer, Pr. XLIII, 145- (= Quint, Üb. Pr. 46, 370-), Pfeiffer, Pr. LV, 176- (= Quint, Üb. Pr. 48, 379-). Mit einem anderen Wort, das Eckhart zwar nicht benutzt, der Sache nach aber beschreibt: die „Vergöttlichung" („divinado", „deificado") des Menschen. Eckhart bevorzugt aus der Heiligen Schrift stammende Worte wie „transformado" (1 Kor 15,5152) oder „transfigurado" (2 Kor 3,18), um die Einung des Menschen mit Gott zu beschreiben (vgl. B. McGinn: The Mystical Thought, 153), die er als Vergöttlichung (d.h., wie sich herausstellen wird, als gnadenhaft-seinsmäßige Mitteilung der göttlichen Seinsvollkommenheiten an den Menschen) versteht. K. Ruh: Geschichte, 3,342. Johannes XXII: Bulle „In agro dominico" vom 27. März 1329, Artikel 8, 9, 10, die

„tarn ex suorum sono verborum quam ex suarum connexione sententiarum errorem seu labern heresis continere" (die „sowohl ihrem Wortlaut nach wie nach dem Zusammenhang ihrer Gedanken Irrtum oder das Mal der Häresie enthalten") und Artikel 22, der zu jenen Artikeln zählt, die „reperimus nimis male sonare et multum esse temerarios de heresique suspectos, licet cum multis expositionibus et suppletionibus sensum catholicum formare valeant vel habere" (die „als überaus übel klingend und sehr kühn und der Häresie verdächtig" erfunden wurden, „wenn auch zugestanden werden mag, dass sie mit vielen Erklärungen und Ergänzungen einen katholischen Sinn ergeben und haben können") [Der lateinische Text stammt aus M.-H. Laurent: „Autour du procès", 443, die Übersetzung aus Quint, Üb., 454]. Das oben genannte ,3üchlein der göttlichen Tröstung", dessen erstes Kapitel nach K. Flasch, wie oben bemerkt, einen Kommentar zu dieser Predigt darstellt, ist Teil des „Liber benedicrus", derjenigen Schrift Eckharts, die das Inquisitionsverfahren ausgelöst hat (vgl. M. ENDERS: „Meister Eckhart", 127).

284

Schriftzitates („und ihr Lohn ist bei Gott") in den ersten Teil (,,[d]ie Gerechten werden leben ewiglich") hineinzieht und die Kategorie des „Lohnes" als unpassend für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im ewigen Leben verwirft. Das

ergibt folgende Gliederung: Einleitung der Predigt (182,2-5) [99,2^t] (182,6-184,8) [99,5-105,3] Die 4.2.1. Gerechten geben jedem, was sein ist (182,6-183,2) [99,5-101,15] 4.2.2. Die Gerechten nehmen alle Dinge von Gott als gleich hin (183,3184,8) [102,1-105,3]

4.1. Thema und

4.2. Die Gerechten

4.2.2.1. Vom rechten Wollen bzw. Nicht-Wollen des Gerechten

(183,3-20) [102,1-14] 4.2.2.2. Die Gerechten und ihr Feststehen in der Liebe (183,21 184,8) [103,1-105,3]

Gerechtigkeit

aus

-

4.3. Die Gerechten werden leben

(184,9-25) [105,4-106,3] [106,4-115,4]

4.4. Die Gerechten leben ewig bei Gott (184,26-187,11) 4.5. Schlussgebet (187,12-13) [115,5-6]

4.1. Thema und

Einleitung der Predigt

„Die Gerechten werden leben ewiglich, und ihr Lohn ist bei Gott" (Weish. 5,15).20 Nun merkt recht genau auf den Sinn dieses Wortes; mag es auch schlicht und all-

gemeinverständlich klingen, so ist er doch sehr beachtenswert und durchaus gut.21

Dieses Schriftwort, das den Gerechten eine künftige Belohnung bei Gott in Aussicht stellt, fördert, falsch gedeutet, ein im Grunde genommen egoistisches Lohnend Leistungs-)denken und eine Verlagerung der Heilserwartung ins Jenseits. Eckhart will zu einem tieferen Verständnis dieses „sehr beachtenswerten und durchaus guten Wortes" führen:

„Die Gerechten werden leben."22 19 20 21

Vgl. 186,12-21 (112,3-9).

Weish 5,15: „Die Gerechten aber leben in Ewigkeit, der Herr belohnt sie, der Höchste sorgt für sie". 182,2-5. „,Die gerehten suln leben êwiclîche, und ir Ion ist bî gote'. Nû merket disen sin gar eben; aleine er grop lûte und gemeine, sô ist er doch gar merklich und gar guot" (DW I, 99,2-4).

285

Das hier mit „werden" übersetzte Wort „suln" bedeutet auch „sollen". Der Satz kann in diesem Sinne wie ein Wunsch, eine Aufforderung, ein kraftvolles Versprechen von seiten Gottes oder wie ein schöpferisches Wort Gottes verstanden werden, welches das Verheißene auch ins Leben ruft. Dieses „suln" ist ein Wort, das, jetzt gesprochen, in die Zukunft weist und diese in gewisser Weise schon enthält. Der zitierte Vers aus dem Buch der Weisheit stellt einen Zusammenhang zwischen gerecht sein und „leben" her. Eckhart stellt die für den Gewinn dieses Lebens entscheidende Frage: Welches sind die

Gerechten?23

4.2. Die Gerechten 4.2.1. Die Gerechten gebenjedem,

was

sein ist

Der Meister antwortet zunächst mit einer seit Piaton klassischen Definition der Gerechten aber im Unterschied zu den griechischen Philosophen gleich zu Beginn der Predigt in die Gemeinschaft des mystischen Leibes Christi ein:25

Gerechtigkeit,24 bettet den

Eine Schrift sagt: „Der ist gerecht, der einem jeden gibt, was sein ist": die Gott geben, was sein ¡st, und den Heiligen und den Engeln, was ihrer ist, und dem Mitmenschen, was sein ist.26

Um welche „Schrift" es sich genau handelt, ist kaum eruierbar, weil Eckharts Quellenangabe, wie meist in seinen Deutschen Predigten, sehr ungenau bleibt und die Bestimmung der Gerechtigkeit als „suum cuique tribuere" zu seiner Zeit

182,6. ,„Die gerehten suln leben'" (DW I, 99,5). 182,6. „Welhez sint die gerehten?" (DW I, 99,5). Platon: rep. IV, 433a: ,,[D]ass das Seinige zu tun und sich nicht in vielerlei einzumi-

schen Gerechtigkeit ist" (Übersetzung Schleiermacher, 321). Diese Definition bestimmte auch die aristotelische Definition der Gerechtigkeit, welche die antike Philosophie weithin tradiert hat: s. z.B. Aristoteles: rhet. I, 9, 1366b 9f: „Es ist eine Tugend, durch die jeglicher das Seinige erhält und wie es das Gesetz angibt" (vgl. R. Hauser: [Art.] „Gerechtigkeit", in: HWP 3, 329-334, hier 330f.). Vgl. J. Theisen: Predigt, 297: „Die Definition des Gerechten, mit der Eckhart die Predigt beginnt, versteht den Gerechten als Glied des Corpus Christi mysticum: er ist Gott, den Engeln, den Heiligen und den Nächsten verantwortlich." 182,7-9. „Ein geschrift sprichet: »der ist gereht, der einem ieglîchen gibet, daz sîn ist«. Die gote gebent, daz sîn ist, und den heiligen und den engein, daz ir ist, und dem ebenmenschen, daz sîn ist" (DW I, 99,6-8).

286

„längst zum Gemeingut der Popularphilosophen und der Juristen geworden" war, Eckhart sie also einfach „aus dem vorhandenen Bildungsstoff' aufgreifen konnte. Die Gerechten geben „einem jeden, was sein ist"; sie stehen nach Eckharts vorliegender Bestimmung in einer verantwortlichen Beziehung zu „Gott", „den Heiligen", „den Engeln" und den „Mitmenschen" (mhd. „ebenmenschen"). Die „Heiligen" werden hier in der hierarchisch absteigenden Aufzählung auffallenderweise noch vor den „Engeln" gereiht, was mit der herausragenden Würde des Menschen 28 zu tun haben mag, die Eckhart in seinen Predigten immer wieder hervorhebt. Das mittelhochdeutsche Wort „ebenmensch" klingt schöner als „Mitmensch", weil es den Nächsten nicht nur als den sieht, der „mit" mir ist, sondern als den, der mir ebenbürtig ist, also als jemanden, der mir gleich, nach Eckhart mit derselben Sohnschaft ausgestattet ist wie ich. Es erinnert an das „Ebenbild" Gottes, als das der Mensch geschaffen ist, und bezeichnet die Würde des gemeinsamen Ursprungs. Ähnlich wie in vorliegender Predigt schreibt Eckhart in seinem Kommentar zum Weisheitsbuch: „Der Mensch schuldet mit seinem Werk Gott Ehre, den Seligen im Himmel Freude, dem Nächsten Besserung oder Erbauung und den Verstorbenen Beistand" und begründet diese Pflichten jeweils mit einer Stelle aus der Heiligen Schrift.29 Gottes ist die Ehre. Wer sind die, die Gott ehren? Die aus sich selbst gänzlich ausgegangen sind und des Ihrigen ganz und gar nichts suchen in irgendwelchen Dingen, was immer es sei, weder Großes noch Kleines; die auf nichts unter sich noch über K. FLASCH: „Predigt 6", 42. Vgl. ebd., 42f: „Quint (DW I, 99, Anm. 2) nennt als Quelle die ,Institutiones' Justinians. Doch hat die Definition eine längere Vorgeschichte und eine weitere Verbreitung." (K. Flasch führt anschließend den römischen Rechtgelehrten Ulpian als Schöpfer der lateinischen Formel für die Gerechtigkeit an, femer Ambrosius, Augustinus, die mittelalterlichen Autoren und Thomas von Aquin.) LII, 866, Anm. 532,15f. weist auf die für die vorliegende Predigt nicht uninteressante Eckhartsche Verbindung zwischen Anselms Begriff der „rectitudo" mit Formulierungen Iustinians hin, z.B. in Meister Eckhart: In loh. n°48, LW III, 39,9-10: „quod iustitia sit quaedam rectitudo ,qua redditur unicuique quod suum est'." (,,[D]ass die Gerechtigkeit eine gewisse Geradheit ist, ,kraft deren man einem jeden zuteilt, was sein ist'.") M. Enders zufolge kann diese „Rechtheit" als „ein Adäquationsbegriff, der die Angeglichenheit (bzw. Übereinstimmung) einer endlichen Entität an ihre Ziel- oder Zweckbestimmung zum Ausdruck bringt, gekennzeichnet werden" (M. ENDERS: Anselm von Canterbury. Über die Wahrheit, Hamburg 2003 [Philosophische Bibliothek 535], LXIX-LXX). Eckhart zufolge erfährt die menschliche Natur durch die Menschwerdung des Gottessohnes einen Aufschwung, die sie über alle Engel erhebt (vgl. Meister Eckhart: Pr. 52, DW II, 505,2; Pr. 5a, DW I, 77,5-6; Pr. 22, DW I, 375,6). Meister Eckhart: In Sap. n°59, LW II, 387,4-6f: „homo in opere suo débet deo honorem, beatis in patria laetitiam, proximo emendationem sive aedificationem, defunctis subventionem." Vgl. 1 Tim 1,17 u. 1 Kor 10,31 ; Lk 15,7.10; Mt 5,16; 2 Makk 12,46.

287

sich noch neben sich noch an sich sehen; die nicht nach Gut noch Ehre noch Gemach noch Lust noch Nutzen noch Innigkeit noch Heiligkeit noch Lohn noch Himmelreich trachten und sich alles dieses entäußert haben, alles Ihrigen, von diesen Leuten hat Gott Ehre, und die ehren Gott im eigentlichen Sinne und geben ihm, was sein ist. -

erster Stelle genannt, weil alles Gute, das an seinen Geschöpfen geschätzt werden kann, diesen von Gott gegeben ist. Auch die einer menschlichen Person erwiesene Ehre hatte nach mittelalterlichem Verständnis ihren letzten Anhalt nicht in ihr selbst, sondern in Gott.31 In seiner Grundbedeutung meint der Begriff „Ehre", der zur Zeit Eckharts eine ungleich wichtigere Lebensbedeutung besaß als heute,32 ein durch Wort und Tat bekundetes Ansehen oder Achten eines anderen.33 Jemanden ehren bedeutet demgemäß, ihm das Ansehen, die Achtung oder die Wertschätzung zukommen zu lassen, die ihm gebührt. Bei den Griechen der Antike handelte es sich um „ein Ansehen, das der Einzelne durch seine Vortrefflichkeit gewinnt und das ihm eine besondere Stellung in der Gemeinschaft verschafft".34 Gott gebührt auf Grund seiner absolut unübertrefflichen Vollkommenheit und seiner Stellung als Ursache und einziger Quell aller Vollkommenheit bedingungslose Achtung und höchste Wertschätzung. In seinem Sapientiakommentar beruft sich Eckhart für seine Aussage auf 1 Tim 1,17 („Gott allein sei Ehre und Herrlichkeit") und 1 Kor 10,31 („tut alles zur Verherrlichung Gottes").35 In seinem zweiten Genesiskommentar bemerkt er, nachdem er ebenfalls 1 Tim 1,17 und Dan 3,57 zitiert hat: „Überhaupt ist die Schrift voll von solchen Worten. Sie lehrt überall, dass niemand sich selbst, sondern ,allein Gott' Lob und Ehre

„Gott", dem Ehre gebührt, wird an

spende."36

30

31 32

33 34 35 36

182,10-18. „Gotes ist diu ère. Wer sint, die got êrent? Die ir selbes alzemâle sint ûzgegangen und des im alzemâle niht ensuochent an keinen dingen, swaz ez joch sí, noch grôz

noch klein, die niht ensehent under sich noch über sich noch neben sich noch an sich, die niht enmeinent noch guot noch ère noch gemach noch lust noch nuz noch innicheit noch heilicheit noch Ion noch himelrîche und dis alles sint üzgegangen, alles des im, dirre liute hat got ère, und die êrent got eigenlîche und gebent im, daz sîn ist" (DW I, 100,1-7). Vgl. W. Eckermann: [Art.] „Ehre", in: LMA 1662-1663, hier 1662. Vgl. M. Bindschedler: „Meister Eckharts Lehre von der Gerechtigkeit", in: Studia Philosophica. Jb. d. Schweiz. Philosophischen Gesellschaft 13 (1953) 58-71, hier 59, Anm. 5. Ohne Ehre konnte der freie Mann beispielsweise bei den Germanen nicht leben, weshalb er bei Ehrverlust gezwungen war, sein Leben für ihre Wiedergewinnung einzusetzen (vgl. H. Reiner: [Art.] „Ehre", in: HWP 2, 320). Vgl. H. Reiner: [Art.] „Ehre", in: HWP 2, 319-323, hier 319. Ebd., 320. Meister Eckhart: In Sap. n°59, LW II, 387,7-8: „Tim. 1: ,soli deo honor et gloria', et iterum Cor. 10: ,omnia in gloriam dei fache'." Meister Eckhart: In Gen. II n°25, LW I, 495,6-8: „Et plena est scripture de similibus, docens ubique laudem et honorem neminem sibi attribuere, sed ,soli deo'."

288

Eckhart kommt anschließend zum Kerngedanken seiner Definition der GerechDiese charakterisiert er zuerst in ihrem Gottesverhältnis als diejenigen, „die ir selbes alzemâle sint üzgegangen". Wie ist dieses „gänzliche Ausgehen aus sich selbst" zu verstehen? Nach Eckhart sind nur diejenigen gerecht, die überhaupt nichts mehr für sich wollen (die „des Ihrigen ganz und gar nichts suchen in irgendwelchen Dingen, was immer es sei, weder Großes noch Kleines"), die ihren Willen auf nichts Geschaffenes mehr richten („die auf nichts unter sich noch über sich noch neben sich noch an sich sehen"), die jegliches „Trachten" nach äußerem bzw. materiellem „Gut", nach inneren Gütern (nach „Ehre", „Gemach", „Lust", „Nutzen") und selbst nach heiligen Gaben („Innigkeit", „Heiligkeit", „Lohn"), ja sogar nach dem „Himmelreich" um ihrer eigenen Seligkeit willen aufgegeben haben. Nur diejenigen, die sich durch die vollkommene Aufgabe des Eigenwillens total empfänglich gemacht haben für Gott, „ehren Gott im eigentlichen Sinne". Nur sie antworten durch ihre Ganzhingabe an Gott in richtiger, existentieller Weise auf die Totalschuldigkeit des Menschen Gott gegenüber. Nur sie anerkennen und preisen ihn in gebührender Weise für das, was er ist: ihr Schöpfer, Herr und Gott.37 Eckharts Aussage über die Gerechten wurde allerdings in einem gegenüber dem Predigttext signifikativ veränderten Wortlaut im Jahre 1329 in der päpstlichen Bulle „In agro dominico" als häretisch verurteilt, galten doch gerade Heiligkeit und Himmelreich als die zu erstrebenden Ziele für jeden gottesfürchtigen Menschen.38 Meister Eckhart, der, wie viele andere Stellen seines Werkes bezeugen, keineswegs ein Gegner von Tugendübungen oder tätiger Nächstenliebe

ten.

-

-

Diese radikale Selbstentäußerung führt nach Eckhart zum wahren Menschsein. In der Predigt VeM (DW V, 115,20-24) definiert er den Menschen folgendermaßen: „Mensche in der eigenschaft sínes ñamen in dem latine meinet in einer wise den, der sich alzemâle under got neiget und vüeget, allez, daz er ist und daz sin ist, und ûfwert got aneschouwet, niht daz sin, daz er hinder im, nider im, bi im weiz. Daz ist volliu und eigeniu demüeticheit; den namen hat er von der erden." (L II, 327,1-6: „»Mensch« in der eigenen Bedeutung des Wortes im Lateinischen bedeutet in einem Sinne den, der sich mit allem, was er ist und was sein ist, unter Gott beugt und fügt und aufwärts Gott anschaut, nicht das Seine, das er hinter, unter, neben sich weiß. Dies ist volle und eigentliche Demut; diesen Namen hat er von der Erde.") „Qui non intendunt res, nec honores, nec utilitatem, nec devotionem intemam, nec sanctitatem, nec praemium, nec regnum caelorum, sed omnibus his renuntiaverunt, etiam quod suum est, in illis hominibus honoratur Deus." („Die nicht nach Vermögen, nicht nach Ehren, nicht nach Nutzen, nicht nach innerer Andacht, nicht nach Heiligkeit, nicht nach Lohn und nicht nach dem Himmelreich trachten, sondern all dem entsagt haben, auch , was das Ihrige ist, in diesen Menschen wird Gott geehrt") [DH n°958, 1329]. Vgl. hierzu II. 4.7.1 („Exkurs zu den Artikeln 8, 9, 10 und 22 der päpstlichen Bulle ,In agro dominico' vom Jahre 1329").

289

war39 hat diese Aussage im Verlauf des Kölner Prozesses mit Schriftbeweisen verteidigt und seinen Anklägern seinerseits „Unwissenheit" und „Irrtum" vorgeworfen: es verneinen, beweist Unwissenheit und Irrtum. Denn der Vollkommene hat durchaus in nichts sonst sein Genüge und ruht in keinem Gewinn und keiner Gabe Gottes, sondern Gott in seinem Wesen ist ihm Lohn genug, nach 1 Kor 3: ,Unser Genüge ist aus Gott', und Gen 15: ,Ich will dein Lohn sein', und Ex 33: ,Wenn nicht du vorangehst, so führe uns nicht aus dem Lande!' so spricht der Mann, dem gesagt ward: ,Ich will dir alles Gute zeigen'."

„Das ist durchaus wahr, und

-

Die oben aufgezählten Güter sind für Eckhart nur Gaben Gottes, nicht Gott selbst. Dem „Lebemeister" geht es in der Gewissheit, „dass Gott es nicht unterlässt, uns alles zu darum, die Menschen mit seinen Predigten zu einer vollkommenen, selbstlosen Gottesliebe zu führen. Um diese Liebe, die Gott um seiner selbst und nicht um seiner Gaben willen geschenkt werden soll, geht es auch in vorliegender Stelle. In ihrer höchsten Form besteht die Liebe des Menschen zu Gott nach Eckhart allerdings darin, sich allein von Gottes eigener Wirksamkeit erfüllen und bestimmen zu lassen. Die, die „ir selbes alzemâle sint ûzgegangen" können in letzter Konsequenz nach nichts mehr „trachten", weil sie Gott gegenüber keinen Eigenwillen mehr entfalten. Gott erfüllt den von allem Kreatürlichen losgelösten Menschen mit seinem eigenen Leben und Wollen und wird so zum eigentlich Handelnden im Menschen. Erst durch den Empfang der göttlichen Gerechtigkeit wird der Mensch gerecht und findet das eigentliche (ewige) Leben (,,[d]ie Gerechten werden leben"). Gott gegenüber schuldet der Mensch seine Ganzhingabe, sich selbst; den Engeln und Heiligen steht nach Eckhart Freude zu:

geben"41

Den Engeln und den Heiligen soll man Freude geben. O Wunder über alle Wunder! Kann ein Mensch in diesem Leben Freude geben denen, die in dem ewigen 39

40

41

Man denke allein

an die berühmte Predigt 86 über Martha und Maria, in der er der tätigen Martha entgegen der üblichen Auslegung gegenüber der kontemplativen Maria den Vorzug gibt (DW III, 472-503). RS, Üb. 120. Echardi resp., Proc. Col. 11 n°90, LW V, 339,22-26: „Solutio. Totum verum est, et negare hoc est ignorare et errare. Perfectus enim nihilo prorsus contentatur nee quiescit in aliqua mercede aut dono dei, sed deus, id quod est, merces est ipsi sufficiens, secundum illud Cor.: ,nostra sufficientia ex deo est'; Gen. 15: ,ego ero merces tua'; Exodi 33: ,si non tu ipse praecesseris, ne educas nos de loco isto' ait

ille, cui dictum est:

,ego ostendam tibí omne bonum'." Meister Eckhart: Pr. 41, DW II, 296,13-297,2: „Sît des gewis, daz got des niht enlaezet, er engebe uns al Im ist vil nœter, daz er uns gebe, dan uns ze nemenne; aber wir suln ez niht meinen". (L I, 447,21-25: „Seid des gewiss, dass Gott es nicht unterlässt, uns alles zu geben Ihm ist viel nötiger, uns zu geben, als uns zu empfangen; wir dürfen es aber nicht darauf absehen".)

Vgl.

...

...

290

Leben sind? Ja, wahrhaftig! Jeglicher Heilige hat so große Lust und so unaussprechliche Freude durch jegliches gute Werk, durch ein gutes Wollen oder ein Begehren haben sie so große Freude, dass kein Mund es auszusprechen vermag, wie große Freude sie dadurch haben. Warum ist dem so? Weil sie Gott so ganz über alle Maßen lieben und ihn so recht lieb haben, dass seine Ehre ihnen lieber ist als ihre Seligkeit. Und nicht nur die Heiligen und die Engel, vielmehr Gott selbst hat so große Lust daran, recht als sei es seine Seligkeit, und sein Sein hängt [sc. hänge] daran und sein Genügen und sein Wohlbehagen. Wohlan, nun merkt auf! Wollten wir Gott aus keinem anderen Grunde dienen als um der großen Freude willen, welche die daran haben, die im ewigen Leben sind, und Gott selbst, wir könnten es gern tun und mit allem Fleiß.42 -

Eckharts Enthusiasmus („O Wunder über alle Wunder!") gilt der Tatsache, dass dem Menschen Möglichkeit und Macht gegeben ist, bis ins jenseitige Leben der Himmlischen (neben Engeln und Heiligen wird auch Gott genannt) zu wirken, und zwar nicht nur dem vollkommenen Menschen, sondern auch dem sich bekehrenden Sünder, der nicht nur durch ,jegliches gute Werk", sondern schon durch jede gute Absicht („durch ein gutes Wollen oder ein Begehren") unaussprechlich große Freude bei den Vollendeten bewirkt. Eckhart begründet deren Freude mit ihrer jedes Maß übersteigenden Gottesliebe, die sie Gottes Ehre selbstlos der eigenen Seligkeit vorziehen lässt. Engel und Heilige sind so Ansporn und Beispiel für die Menschen der sogenannten pilgernden Kirche. Eckhart steigert seine Rede anschließend, indem er den Gewinn an Lust und Freude nicht nur den Heiligen und Engeln, sondern auch Gott selbst zuspricht, und zwar so, als ob Gottes „Seligkeit sein Sein sein Genügen und sein Wohlbehagen" nicht in ihm selbst gelegen wären, sondern von den guten Werken und Absichten des Menschen abhingen. Wird die „als ob"-Rede nicht auf den zweiten Nebensatz bezogen, ergibt sich folgende Schwierigkeit: Einerseits sind in Gott keine Akzidentien, die Freude muss deshalb seinem Wesen zugesprochen werden. Andererseits muss aufrechterhalten werden, dass Gott in sich selbst nicht ...

...

182,19-34. „Man sol geben den engein und den heiligen vröude. Eyâ, wunder über alliu wunder! Mac ein mensche in sisem lebene vröude geben den, die in dem ewigen lebene sint? Jâ wasrliche! ein ieglich heilige hât sô grôzen lust und sô unsprechelîche vröude, von einem ieglichen guoten werke, von einem guoten willen oder einer begerunge hânt si sô grôze vröude, daz ez kein munt ûzsprechen kan, noch kein herze kan ez erdenken, wie grôze vröude sie dâ von hânt. War umbe ist daz? Dâ minnent sie got als unmaezlîche sêre und hânt in sô rehte liep, daz sin ere in lieber ist dan ir saelicheit. Niht aleine die heiligen noch die engel, mêr: got selber hât sô grôzen lust dar abe, rehte als ob ez sin saelicheit si, und sin wesen swebet dar an und sin genüegede und sin Wollust. Eyâ, nû merket! Enwellen wir gote niht dienen umbe kein ander sache wan umbe die grôzen vröude, die sie dar an hânt, die in dem ewigen lebene sint, und got selber, wir möhten ez gerne tuon und mit allem vlize" (DW I, 101,1-13). 291

verändert und sein Sein durch die Zuwendung des Menschen zu ihm keinen Zuwachs erfahren kann, dass er also nicht abhängig ist vom Menschen. Es war Eckhart als Scholastiker zweifelsohne bewusst, dass Gott als „actus purus" keine weitere Vollkommenheit empfangen kann.43 Da Gott sich nach Eckhart aber über die Gegenliebe des Menschen freut, kann dies nur bedeuten, dass er sich um des Menschen willen freut im Sinne einer vollkommenen Liebe, die sich am Glück des Geliebten erfreut. Gott freut sich um der Menschen willen, weil sie durch ihr Gotteslob und ihre guten Taten und Absichten glücklich und selig werden.44 Die Intention, anderen (in diesem Falle den Engeln, Heiligen und Gott) Freude bereiten zu wollen, ist bar jeglichen Lohndenkens, also frei von Selbstbezogenheit und für Eckhart deshalb ein moralisch einwandfreies Motiv menschlichen Wollens und Tuns. Zwei weitere Gruppen von Mitmenschen, denen die Gerechten zukommen lassen sollen, was ihnen gebührt, werden genannt: Die im Fegefeuer und die noch auf Erden Lebenden: Man soll auch denen Hilfe geben, die im tes Beispiel) denen, die noch leben.45

Fegefeuer sind,

und

Förderung und (gu-

Als Beistand für die, die im Fegefeuer sind, nennt Eckhart in seinem Sapientiakommentar das Gebet, indem er 2 Makk 12,46 zitiert: „es ist ein heiliger und heilsamer Gedanke, für die Verstorbenen zu beten, damit sie von ihren Sünden erlöst werden."46 Dem Nächsten schuldet der Mensch „Besserung oder Erbauung." In seinem Kommentar zum Johannesevangelium zitiert er dafür Rom 14,19: „Lasst uns untereinander wahren, was der Erbauung dient" und Rom 15,2: „Ein jeder sei seinem Nächsten gefällig zur

Erbauung."48

4.2.2. Die Gerechten nehmen alle Dinge von Gott als gleich hin 4.2.2.1. Vom rechten Wollen bzw. Nicht-Wollen des Gerechten Ein solcher Mensch ist gerecht in einer Weise, aber in einem anderen Sinne sind die gerecht, die alle Dinge von Gott als gleich hinnehmen, was immer es sei, groß oder klein, lieb oder leid, und zwar ganz gleich, ohne Weniger oder Mehr, das

Vgl. K. Flasch: „Predigt 6", 41. Gegenposition vgl. K. Flasch: „Predigt 6", 41-42. 183,1-2. „Man sol ouch den geben, die in dem vegeviure sint, und den, die noch lebent" (DW I, 101,14-15). Meister Eckhart: In Sap. n°59, LW II, 387,13-388,2. Vgl. Meister Eckhart: In Sap. n°59, LW II, 387,5. Meister Eckhart: In loh. n°310, LW III, 258,10-11.

292

hilfe und

bezzerunge

eine wie das andere. Schlägst du das eine irgenwie höher an als das andere, es verkehrt. Du sollst dich deines eigenen Willens entäußern.

so

ist

Mir kam neulich der Gedanke: Wollte Gott nicht wie ich, so wollte ich doch wie er. Manche Leute wollen in allen Dingen ihren eigenen Willen haben; das ist böse, es steckt ein Makel darin. Die anderen sind ein wenig besser: die wollen wohl, was Gott will, und gegen seinen Willen wollen sie nichts; wären sie aber krank, so wollten sie wohl, es möchte Gottes Wille sein, dass sie gesund wären. So wollten also diese Leute lieber, dass Gott nach ihrem Willen wollte, als dass sie nach seinem Willen wollten. Man muss es hingehen lassen, es ist aber das Rechte nicht. Die Gerechten haben überhaupt keinen Willen; was Gott will, das gilt ihnen alles gleich, wie groß das Ungemach auch sei.49

Nachdem Meister Eckhart vom guten Wollen des Menschen gesprochen hat, behandelt er nun eine andere, höhere Art und Weise des Gerecht-Seins. Ein Gerechter dieser Art setzt Gott kein menschlich-eigenes Wollen entgegen, er macht sich Gottes Willen bedingungslos zu eigen, „nimmt alle Dinge von Gott als gleich hin". In seinem lateinischen Johanneskommentar leitet Eckhart das geforderte gleichmütige Verhalten des Gerechten vom göttlichen Wesen ab, das überall und in allem eines ist. Um göttlich und gottförmig zu sein, muss der Mensch sich folglich überall und in allem einförmig verhalten. „Denn auch ,Gott ist einer' (Gal 3,20), und davon leitet sich das Wort einförmig ab."50 Die Gerechten ahmen im gleichmütigen Hinnehmen aller Dinge und Lebensumstände „ohne Weniger und Mehr" Gottes wesenhafte Einförmigkeit nach. Der Gerechte soll sich seines eigenen Willens „entäußern". Er soll nicht nur nichts wollen, was unterhalb von Gott bzw. Gottes Willen ist, sondern überhaupt nicht mehr (selbst, eigentätig) wollen. „Schlägst du das eine irgendwie höher an als das andere, so ist es verkehrt", weil es eine Bevorzugung des eigenen Willens vor dem göttlichen Willen bedeutet, der sich dem Menschen nach Eckhart gerade in dem ihm

183,3-20. „Dirre mensche ist gereht in einer wise, und in einem andern sinne sô sint gereht, die alliu dinc glich enpfähent von gote, swaz ez joch si, ez si grôz oder klein, liep oder leit, und al glich, noch minner noch mêr, einz als daz ander. Wigest dû daz ein iht mêr dan daz ander, sô ist im unreht. Dû soit dînes eigenen willen alzemâle ûzgân. Ich gedâhte niuweliche umbe ein dinc: enwölte got niht als ich, sô wölte ich die

doch als er. Sumliche liute wellent im eigenen willen hân an allen dingen; daz ist bcese, dar in vellet gebreste. Die andern sint ein wênic bezzer, die wellent wol, waz got wil, wider sinen willen enwellent sie niht; wasren sie siech, sô wölten sie wol, daz ez gotes wille waere, daz sie gesunt wasren. Also wölten die liute, daz got nach irm willen wölte, lieber dan daz sie nach sînem willen wölten. Man muoz ez vertragen, im ist aber unreht. Die gerehten enhânt zemâle keinen willen; waz got will, daz ist in allez glich, swie grôz daz ungemach si" (DW I, 102,1-14). Meister Eckhart: In loh. n°l 12, LW III, 97,4.

293

zeigt.51

das ihm widerfahrt, Die bedingungslose Menschen dem Annahme all dessen, was widerfahrt (Freud und Leid), gründet allerdings nicht in einer fatalistischen Haltung, sondern setzt die höchste Freiheit voraus, die nur in der Liebe zum Einen (und folglich in der ständigen Absage an die kreatürlich bedingten Impulse der Eigenliebe) ihren Grund hat. Eckhart verdeutlicht das Gesagte anschließend am unterschiedlichen Verhalten dreier Menschengruppen. Eine erste will in allen Dingen an ihrem eigenen Willen festhalten. Eine solche Haltung bezeichnet Eckhart als „böse", weil der Wille dieser Menschen habituell verhärtet, verstockt, ichbezogen ist. Die ein wenig besseren Leute sind (wie die Kaufleute in Predigt 1) mit ihrem Willen wohl auf Gott bezogen, aber nicht um seiner selbst, sondern um seiner guten Gaben willen. Im Johanneskommentar tadelt Eckhart eine solche Haltung: „Ferner ist es aber eine große Verkehrtheit des menschlichen Herzens, den Willen Gottes unserem Willen angleichen und auf diesen Willen zurückbeugen zu wollen, und nicht vielmehr unseren Willen nach dem seinen auszurichten, insbesondere, da es natürlich ist, dass das Untere durch das Obere geregelt wird, nicht umgekehrt; vor allem deshalb, weil alles, was Gott will, eben dadurch, dass er es will, gut wird und gut ist; umgekehrt aber und entgegengesetzt verhält es sich mit unserem Willen."52 Scheinbar Nichtgutes, wie beispielsweise eine Krankheit, kann sehr wohl zum guten Werk gehören, das Gott am Menschen vollbringt. „Man muss es hingehen lassen", sagt Eckhart in Bezug auf die Leute, die im Falle der Krankheit doch lieber hätten, dass es Gottes Wille sei, sie gesunden zu lassen. Eine solche Einstellung ist nicht ganz schlecht, weil sie ein gewisses Vertrauen in Gottes Güte setzt, aber noch nicht „das Rechte", weil sie immer noch

unverfügbar Vorgegebenen,

Vgl. M. Enders: „Das göttliche Wesen der Liebe", 35, der in Anm. 41 folgende EckhartSteilen zitiert: Meister Eckhart: Pr. 4, DW I, 62,5-7: „Nu möhtest dû vil lîhte sprechen:

weiz ich, ob ez sí der wille gotes oder niht? Daz wizzet: enwaere ez gotes wille niht, sô ouch niht. Dû enhâst noch siechtage noch nihtes niht, got enwelle ez." (LI, 47,24-27: „Nun könntest du vielleicht sagen: Woher weiß ich, ob es der Wille Gottes ist oder nicht? Wisset dies: Wäre es Gottes Wille nicht, so wäre es auch nicht. Du hast weder Krankheit noch irgend etwas, Gott wolle es denn.") Meister Eckhart: Pr. 41, DW II, 291,3f: „Nu sprechet ir gerne: ,waz weiz ich, ob ez gotes wille ist?' Ich spriche: und enwaere ez gotes wille niht einen ougenblik, sô enwaere ez niht; ez muoz iemer sîn wille sîn." (LI, 441,35-443,1: „Nun sagt ihr gerne: »Woher weiß ich denn, ob es Gottes Wille ist?« Ich antworte: Wäre es auch nur einen Augenblick lang nicht Gottes Wille, so wäre es auch nicht; es muss stets sein Wille sein.") Meister Eckhart: In loh. n°605, LW III, 528,1-5: „Adhuc autem magna cordis humani perversitas velle voluntatem dei conformari nostrae voluntati et ad ipsam voluntatem reflecti, et non nostram magis ad illam rectificari, praesertim cum naturale sit inferiora regulari per superiora, non e converso; maxime etiam cum omne quod deus vult hoc ipso quod vult bonum fit et bonum est; e converso vero et contrarium de nostra volúntate." waz

enwaere ez

294

ichbezogen bleibt. Das Rechte ist, wie bereits oben gesagt, den menschlichen Eigenwillen zurückzunehmen und Gottes Willen in allen von Gott gebenen Lebensumständen bedingungslos anzunehmen. Gott, dessen Wille notwendigerweialles se gut ist, will für alle das Bestmögliche, „was Gott will, das gilt Echtheit der Prüfstein für die die im Leiden wird Gerade zum Haltung gleich".53 hat die Gabe der Mensch so wenn das, Willensentäußerung, „denn, empfängt, weswegen der Mensch froh und getröstet ist, in sich selbst. Empfangt man aber ...

so hat noch findet noch weiß man nichts, worüber man sich freuen könnte, 4 als Gott und Gottes Willen allein." „Die Gerechten haben überhaupt keinen (selbstbewegten) Willen", denn sie nehmen durch die Aufhebung der geschöpflichen Eigentätigkeit ihres Willens Gott gegenüber seinen Willen so unmittelbar in sich auf, dass allein Gottes Wille sie bewegt und leitet. Für sie wandelt sich sogar das Leiden, in dem sie den Willen Gottes aufnehmen, in reines Gott-Erleiden.55

nicht,

4.2.2.2. Die Gerechten und ihr Feststehen in der

Gerechtigkeit aus Liebe

Den gerechten Menschen ist es so ernst mit der Gerechtigkeit, dass, wenn Gott nicht gerecht wäre, sie nicht die Bohne auf Gott achten würden; und sie stehen so fest in der Gerechtigkeit und haben sich so gänzlich ihrer selbst entäußert, dass sie weder die Pein der Hölle noch die Freude des Himmelreiches noch irgend etwas beachten. Ja, wäre alle Pein, die jene haben, die in der Hölle sind, Menschen oder

Vgl. dazu Meister Eckhart: BgT, DW V, 20,7-: ,,[U]nmügelich ist, daz got iht welle

wan guot; und sunderliche in dem und von dem, daz ez got wil, sô wirt ez und ist von not guot und ouch daz beste." (LII, 249,27-30-: ,,[E]s ist unmöglich, dass Gott irgend etwas denn Gutes wolle; und insonderheit gerade darin und dadurch, dass es Gott will, wird es und ¡st es notwendig gut und zugleich das Beste".) LII, 255,6-10. Meister Eckhart: BgT, DWV, 23,8-11: ,,[W]an sô der mensche nimet, sô hât diu gäbe in ir selben, warumbe der mensche vrô sí und getrcestet. So man aber niht ennimet, sô enhât man niht noch envindet noch enweiz man niht, des man sich vrouwe, dan got und gotes willen aleine." M. Enders: Das mystische Wissen, 279. Zu Eckharts Konzeption des „Leidens ohne Leid" vgl. ebd., 278-279: „Denn dieser .Konzeption' zufolge kann sich der Mensch den schmerzvollen Charakter, das Leidvolle seines Leides dadurch nehmen lassen, dass er sein (ihm von Gott gegebenes) Leiden rein um Gottes willen auf- und entgegennimmt, und das bedeutet: Dass er in seinem gottgegebenen Leid alleine den gebenden Gotteswillen in sich aufnimmt und .empfängt', so dass seine Auf- und Übernahme des Leides ihm zum reinen Empfang des sich ihm in der Gabe des Leides schenkenden Gotteswillens wird, der mit dem göttlichen Sein identisch ist. Wem daher die Aufnahme des Leides zum ,Ort' der Aufnahme des Gotteswillens, zur vollkommenen Übereignung an das göttliche Sein selbst wird, für den wandelt sich der Charakter seines Leidens (der Schmerz oder Leidensdruck seines Leidens) in ein reines ,Gott-Erleiden', in die beseligende Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit bei Gott."

295

Teufel, oder alle Pein, die je auf Erden erlitten ward oder wird erlitten werden,

Gerechtigkeit verknüpft, sie würden es nicht im mindesten bezu Gott und zur Gerechtigkeit. handelt sich hier um eine „absurde Annahme", wie Jeanne Ancelet-Hustache wäre die mit der

achten;

so

fest stehen sie

Es schreibt: Wenn Gott nicht gerecht wäre, würde Eckhart humorvoll und volksnah ausgedrückt „nicht die Bohne auf Gott achten" und gegen Gott die Partei der Gerechtigkeit Er kann dies so pointiert behaupten, weil er im Glauben absolut sicher ist, dass die göttlichen Vollkommenheiten Gott in seinem Gottsein bestimmen, dass Gott also ohne die Eigenschaft seiner Gerechtigkeit nicht Gott wäre. Unerachtet möglicher zeitlicher und ewiger Folgen ist der Gerechte so fest in der Gerechtigkeit verankert,58 dass er sich selbst vom äußersten denkbaren Schmerz, nämlich der Qual der Hölle, nicht im Geringsten dazu bewegen ließe, von der Gerechtigkeit abzulassen. Für die vollkommene Selbstentäußerung des Gerechten, der selbst das Himmelreich für sich nicht wollte, falls dies dem Willen Gottes entspräche, ist nach Eckhart, wie dies andernorts deutlich wird, die „resignado ad infernum" des Apostels Paulus (vgl. Rom 9,3) als Nachfolge des freiwilligen „descensus ad inferos Jesu Christi" leuchtendes Vorbild.59 -

-

ergreifen.57

Nichts ist dem gerechten Menschen peinvoller und schwerer, als was der Gerechtigkeit zuwider ist: dass er nicht in allen Dingen gleich(mütig) ist.60

183,21-30. „Den gerehten menschen den ist also

ernst ze der gerehticheit, waere, daz sie enahteten eine bône niht üf got und stânat also vaste in der gerehticheit und sint ir selbes also gar üzgegangen, daz sie niht enahtent pîne der helle noch vröude des himelriches noch keines dinges. Jâ, waere alliu diu pîne, die die hânt, die in der helle sint, menschen oder vîende, oder alliu diu pîne, diu in ertrîche ie geliten wart oder iemer sol werden geliten, waere diu gesast bî der gerehticheit, sie enahteten sîn niht einen bast; sô vaste stânt sie an gote und an der gerehticheit"

got niht gereht

waere,

(DWI, 103,1-8). Vgl. Maître Eckhart. Sermons, intr.

et trad, de J. Ancelet-Hustache, 1, Paris 1974, 81: Vient ensuite une supposition dans l'absurde, un faux problème: si Dieu n'était pas juste, Eckhart prendrait contre Dieu le parti de la justice, mais il sait bien que Dieu et la justice sont inséparables. » Meister Eckhart: Sermo XII n°123, LWIV, 117,11-13: „Li autem ,stantivum' a stando dictum notât stabilitatem. De terra enim quae ,in aeternum stat', Eccl. 1, in Psalmo dicitur: ,fundasti terram super stabilitatem suam." („Das ,stantivum' aber kommt von stare, stehen, und bezeichnet die Beständigkeit. Von der Erde nämlich, die ,in Ewigkeit steht' [Pred. 1, 4] heißt es: ,du hast die Erde auf ihre Beständigkeit ge«

gründet' [Ps. 103, 5]".) Vgl. M. Enders: „Meister Eckhart", 109;

Meister Eckhart: RdU n°10, DW V, 223,9-224,1. 183,30-32. „Dem gerehten menschen enist niht pînlîcher noch swaerer, dan daz der gerehticheit wider ist, daz er in allen dingen niht glich ist" (DW I, 103,8-104,2).

296

gerechte Mensch würde nur dann noch leiden, wenn er sich seines geschöpflichen Eigenwillens nicht so entäußert hätte, dass dieser noch von etwas anderem als von der göttlichen Gerechtigkeit selbst bewegt würde. (Die noch nicht in Gottes Willen aufgehobene Eigenwirksamkeit des menschlichen Willens ' ist nach Eckhart überhaupt die einzige Quelle allen Leidens.)

Der

Wie das? Kann ein Ding die Menschen erfreuen und ein anderes sie betrüben, so sind sie nicht gerecht; vielmehr, wenn sie zu einer Zeit froh sind, so sind sie zu allen Zeiten froh; sind sie zu einer Zeit mehr und zur andern weniger froh, so sind sie unrecht daran. Wer die Gerechtigkeit liebt, der steht so fest darauf, dass, was er liebt, sein Sein ist; kein Ding vermag ihn davon abzuziehen, und auf nichts sonst achtet er. Sankt Augustinus spricht: „Wo die Seele liebt, da ist sie eigentlicher als da, wo sie Leben gibt".

Ein Zeichen der Gerechtigkeit ist nach Eckhart die Unwandelbarkeit der Freude des Gerechten. Diese Freude liegt tiefer als emotionale Gemütsbewegungen. Sie ist von spiritueller Art, eine Teilhabe an der immerwährenden, unwandelbaren göttlichen Freude (Gal 5,22). Ein Schwanken der Gefühle im Zuge der Ereignisse oder im Wechsel der Zeit ist der Seele zuzuordnen, sofern sie unter dem Einfluss des Leibes steht (dem äußeren Menschen). Der Geist bzw. der innere Mensch bleibt von Gefühlsschwankungen unberührt.63 Meister Eckhart begrün-

Vgl. M. Enders: Das mystische Wissen, 279 inkl. Anm. 67.

182,32-184,4. „Als wie? Mac sie ein dinc vröuwen und ein anderz betrüeben, sô ensint sie niht gereht, mêr: sint sie ze einer zît vrô, sô sint sie ze allen zîten vrô; sint sie ze einer zît mêr vrô und ze der andern minner, sô ist in unreht. Swer die gerehticheit minnet, der stât sô vaste dar ûf, swaz er minnet, daz ist sîn wesen; den enmac kein dinc abeziehen, noch keines dinges enahtet er anders. Sant Augustinus sprichet: »dâ diu sêle minnet, dâ ist si eigenlîcher, dan dâ si leben gibet«" (DW I, 104,2-105,1). Eckhart lehrt im Traktat „Von Abgeschiedenheit" und in den „Reden der Unterweisung" am Beispiel von Christus und Maria, dass der innerste Kern der Seele, der Seelengrund (an manchen Stellen der Seelengrund mit den obersten Seelenkräften, insofern sie auf Gott ausgerichtet sind), auch im äußersten Leiden leidfrei bleibt (vgl. B. Weiss: Die Heilsgeschichte, 79-81). Nach seiner Lehre im Traktat „Von abegescheidenheit" ist die Abgeschiedenheit die höchste „Tugend" des menschlichen Geistes, genauer: der höchste Zustand, eine göttlich überformte Verfassung des menschlichen Geistes, der dadurch, dass Gott ihm seine eigenen Wesensbestimmungen gnadenhaft mitteilt, sich nicht mehr vom Kreatürlich-Vielheitlichen bewegen und beeinflussen lässt. Die Abgeschiedenheit hat ihre natürliche Grundlage im rezeptiven Aspekt des menschlichen Geistes, den Eckhart nach Art des aristotelischen „intellectus possibilis" konzipiert (vgl. M. Enders: .Abgeschiedenheit des Geistes", 63-87.) Vgl. Meister Eckhart: VA, DW V, 411,11-412,3: ,,[D]az rehtiu abegescheidenheit niht anders enist, wan daz der geist also unbewegelich stände gegen allen zuovellen liebes und leides, êren, schänden und lasters als ein blîgîn berc unbewegelich ist gegen einem kleinen winde." (L II, 443,7-12: ,,[D]ass rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als dass der Geist so unbeweglich stehe gegenüber allem anfallenden Lieb und Leid, Ehren, Schanden und 297

det anschließend das Feststehen in der Gerechtigkeit mit der Liebe zur Gerechtigkeit. Denn so schreibt er in seinem Johanneskommentar „wie anders könnte er [der menschliche Geist] sich an jene Form, die die Gerechtigkeit ist, anNach Eckhart wird das Sein schmiegen, als durch die Liebe zur -

-

Gerechtigkeit?"64

Schmähung, wie ein bleierner Berg unbeweglich ist gegenüber einem schwachen Winde.") Ebd, DW V, 419,5-422,7: ,,[H]âte Kristus ouch unbewegliche abegescheidenheit, dô er sprach: ,mîn sêle ist betrüebet biz in den tôt' und Maria, dô si stuont under dem kriuze, und saget man doch vil von ir klage Nu was in Kristô ouch ein uzwendiger mensche und ein inwendiger mensche, und ouch in unser vrouwen; und swaz Kristus und unser vrouwe ie geredeten von uzern sachen, daz täten sie nach dem uzem menschen, und stuont der inner mensche in einer unbeweglichen abegescheidenheit. Und also redete Kristus, dô er sprach: ,mîn sêle ist betrüebet biz in den tôt', und swaz unser vrouwe klagete, und ander rede, die si tete, sô stuont doch alzît ir inwendicheit in einer unbeweglichen abegescheidenheit." (L II, 447,32-451,5: „Hatte Christus auch unbewegliche Abgeschiedenheit, als er sprach: ,Meine ...

Seele ist betrübt bis in den Tod' , und Maria, als sie unter dem Kreuze stand, wo man doch viel von ihrer Klage berichtet... Nun war in Christus auch ein äußerer und ein innerer Mensch und ebenso in Unserer Frau; und was Christus und Unsere Frau je über äußere Angelegenheiten redeten, das taten sie nach ihrem äußeren Menschen, und stand der innere Mensch in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit. Und so auch redete Christus, als er sprach:,Meine Seele ist betrübt bis in den Tod' ; und bei allem, was immer Unsere Frau klagte und sonst wie redete, stand doch ihr Inneres allzeit in einer unbeweglichen Abgeschiedenheit"). Ders.: RdU n°20, DW V, 270,11-271,8: ,,[0]uch unser herre hâte die obersten und die nidersten krefte ...: sine obersten krefte die hâten eine besitzunge und eine gebrüchunge ewiger saslicheit. Aber die nidersten krefte wären in den selben stunden in dem meisten lîdenne und strîtenne ûf der erde ...: triuwen, allez lîden sol man zemâle bevelhen dem lîchamen und den nidersten kreften und den sinnen; aber der geist sol sich mit ganzer kraft erheben und lediclîchen in sînen got versenken. Mêr: diu lîdunge der sinne und der nidersten krefte diu engât in niht ane noch disiu anvehtunge". (Quint Üb., 85-86: ,,[A]uch unser Herr hatte oberste und niederste Kräfte ...: seine obersten Kräfte waren im Besitz und im Genuss ewiger Seligkeit, die niedersten aber befanden sich zur selben Stunde im größten Leiden und Streiten auf Erden ...: alles Leiden, fürwahr, soll man ganz und gar dem Leibe und den niedersten Sinnen anbefehlen, wohingegen der Geist sich mit ganzer Kraft erheben und losgelöst in seinen Gott versenken soll. Das Leiden der Sinne aber und der niedersten Kräfte noch auch diese Anfechtung berühren ihn [= den Geist] nicht".) Meister Eckhart: In loh. n°46, LW III, 38,7-12: „Videtur quidem in animo ut praesens quoddam animo, sed tarnen quasi foris stans ab ipsa iustitia, apud ipsam, similis quidem utcumque, nondum ipsam attingens. Sequitur autem si quomodo attingat, comprehendat, intret et unum fiat ¡n ipsa et ipsa ¡n isto. Quod quidem fit »inhaerendo eidem ipsi formae«, »ut inde formetur et sit iustus animus« ipse. »Et unde inhaereret illi formae«, quae est iustitia, »nisi amando« iustitiam?" („Sie [die Gerechtigkeit] wird zwar im Geist erschaut als etwas, was dem Geist gegenwärtig ist; aber [der Geist] steht doch gleichsam außerhalb der Gerechtigkeit, bei ihr, ihr zwar irgendwie ähnlich, doch ohne sie schon zu erreichen. Er strebt danach, ob er sie etwa erreiche und erfasse, in ...

...

298

des Geliebten (die göttliche Gerechtigkeit) zum Sein der liebenden Seele. Mit diesem Gedanke knüpft er an den (von ihm sowohl in seinem deutschen als auch in seinem lateinischen Werk öfters zitierten) dionysischen und augustinischen Grundsatz an, nach dem der Liebende durch die Liebe in den Geliebten „verwandelt" wird,65 fasst ihn aber radikal im Sinne einer realen (seinsmäßigen) Eiund eins mit ihr werde und die Gerechtigkeit mit ihm. Das wird erreicht, der Geist sich an eben diese Form anschmiegt, damit er von da aus geformt werde und [so] selbst gerecht sei. Und wie anders könnte er sich an jene Form, die die Gerechtigkeit ist, anschmiegen, wenn nicht durch die Liebe zur Gerechtigkeit?"); vgl. Ders.: In Exod. n°257, LW II, 206,10-207,2: „Amor vero totum offert, totum incendit, totum sursum agit, totum se transformat in amatum, deum scilicet, Uli vivit, non sibimet, seeundum illud: ,vivo ego, iam non ego' etc.; et iterum: ,mihi vivere Christus est'. Uli ergo vivit et ipso vivit, seeundum illud: ,dilectus meus mihi, et ego illi', Cant. 2; ,innixa super dilectum suum', Cant. 8". („Die Liebe aber bringt sich ganz zum Opfer, entbrennt ganz, steigt ganz empor, formt sich ganz in den Geliebten, nämlich in Gott, um, ihm lebt sie, nicht sich selbst, nach dem Wort: ,ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir' [Gal. 2,20] und: ,für mich ist Leben Christus' [Phil. 1,21]. Ihm also lebt sie, und durch ihn lebt sie, nach dem Wort: ,mein Geliebter ist mein, und ich bin sein'; ,sie stützt sich auf ihren Geliebten' [Hohel. 2,16; 8,5]".) Vgl. Augustinus: In ep. loh. ad Parthos tr. II n. 14 (SC 75, 180): „quia talis est quisque, qualis ejus dilectio est. Terram diligis? terra eris. Deum diligis? quid dicam? deus eris? Non audeo dicere ex me, Scripturas audiamus: ,Ego dixi, dii estis, et filii Altissimi omnes.'" (« Car, tel on aime, tel on est. Tu aimes la terre? tu seras terre. Tu aimes Dieu? que dirais- je? seras-tu dieu? Je n'oserais le dire de moi-même, écoutons les Écritures: 'J'ai dit: vous êtes des dieux, vous êtes tous les fils du Très-Haut [Ps. 81,6].'") Vgl. Meister Eckhart: In Sap. n°34, LW II, 354,12-355,3; Ders.: In Ioh. n°48, LW III, 40,3-4; Ders.: Pr. 44, DW II, 343,3-7: „Augustinus sprichet: »rehte als dû minnest, also bist dû: minnest dû erde, sô wirdest dû irdisch; minnest dû got, sô wirdest dû götlich. Minne ich denne got, wirde ich danne got? Des enspriche ich niht, ich wise iueh die heiligen geschrift. Got hât in dem wîssagen gesprochen: ,ir sît gote und sît kint des obersten'«." (L 1,473,15-20: „Augustinus sagt: »Genau so, wie du liebst, so bist du: liebst du Erde, so wirst du irdisch, liebst du Gott, so wirst du göttlich. Wenn ich denn Gott liebe, werde ich dann Gott? Das sage nicht ich, ich verweise euch auf die Heilige Schrift. Gott hat durch den Propheten gesprochen: 'Ihr seid Götter und seid Kinder des Höchsten'« .") Ders.: Pr. 5a, DW I, 79,9-80,6: ,,[W]ir sollend mit aller unser liebe und mit aller unser begerung do (in der grossen wellt, do die engel insehend) sin, als S. Augustinus sprichet: waz der mensch liebhat, daz wirt er in der liebe, sollend wir nun sprechen: hart der mensch gott lieb, daz er dann got werde? daz hilt, als ob es ungloub syg, die liebe, die ein mensch gibt, do ensind nit zwey, me eyn und eynung, und in der liebe bin ich me got, dann ich in mir selber bin. Der prophet spricht: ,Ich hab gesprochen, ir sind gört und kinder des aller höchsten', daz hellt wunderlich, daz der mensch also mag got werden in der liebe; doch so ist es in der ewigen warheit war". (L I, 61,22-34: „Wir sollen mit unserer ganzen Liebe und mit unserem ganzen Verlangen dort [in der großen Welt, in die die Engel schauen] sein, wie Sankt Augustinus sagt:

sie

eingehe

wenn

299

nung zwischen dem Gerechten und Gott, der sich jenem mitteilt. Im vorliegenden Predigtabschnitt führt Eckhart zum Beweis seiner Aussage eine von ihm irrtümlich Augustinus zugeschriebene Sentenz an, die von Bernhard von Clairvaux stammt: „Wo die Seele (lat. ,anima') liebt (lat. ,amat'), da ist sie eigentlicher als da, wo sie Leben gibt (lat. Der „Ort", wo die Seele „Leben gibt", liegt noch in ihr selbst als Lebensprinzip des Leibes. Dies kann deshalb nicht der Endpunkt ihrer Entäußerung sein. Als „forma corporis" bleibt sie an Körperlichkeit, Zeitlichkeit

,animat')".67

Was der Mensch liebt, das wird er in der Liebe. Sollen wir nun sagen: wenn der Mensch Gott liebt, dass er dann Gott werde? Das klingt, wie wenn es Unglaube sei. In der Liebe, die ein Mensch schenkt, gibt es keine Zwei, sondern Eins und Einung, und in der Liebe bin ich mehr Gott, als dass ich in mir selbst bin. Der Prophet spricht: ,Ich habe gesagt, ihr seid Götter und Kinder des Allerhöchsten' . Das klingt verwunderlich, dass der Mensch in solcher Weise zu Gott zu werden vermag in der Liebe; jedoch ist es wahr in der ewigen Wahrheit. Unser Herr Jesus Christus beweist es.") Vgl. OL 6, note complémentaire n°6, 414: « Maître Eckhart exploite le thème avant tout dionysien, et secondairement augustinien, de l'amour qui transforme l'aimant en l'aimé (vgl. In Sap. n°34, LW II, 354,12-355,3; In Exod. n°257, LW II, 206,10-207,2; In Exod. n°265-266, LW II, 213,11-214,12; In Ioh. n°48, LW III, 40,3^1; In Gen II n°147-149, LWI, 616,4-619,5; Sermo VI.3 n°65, LWIV, 63,4-64,4; Sermo VI.4 n°73, LWIV, 70,10-71,4; Sermo XLV,1 n°151, LWIV, 142,5-143,9; Sermo LIVJ n°527, LWIV, 444,8-445,5; Pr. 5a, DW I, 79,9-80,6 ...) et le thème de la puissance passive qui n'a d'autre être que celui de son objet {In Ioh. n°76, LWIII, 64,8-10; In Ioh. n°106-107, LW III, 91,3-92,2; In loh. n°109, LW 93,9f. etc.)... le Maître thuringien souligne cette unité réelle que l'amour infus noue entre le sujet créé et Dieu se communiquant à lui pour le diviniser. ,Qui aime vraiment veut être uni à celui qu'il aime. Or une telle union n'est possible que si l'aimé est à la fois le Parfait et l'Un qui unit effectivement à lui-même le fidèle aimant' {Sermo XXIX n°298, LW IV, 264,14- ). » (Die Stellenangaben wurden in der Schreibweise der vorliegenden Untersuchung wiedergegeben und teilweise erweitert.) Ebd.: Eckhart « allègue .Augustin' pour la sentence: ,L'âme est avec plus de vérité là où elle aime que là où elle anime' {Comm. Jean, § 469, 508; Serm. lat. 17/3, § 170; Serm. ail. 6; DW 1, p. 104 s; Ancelet, 1, p. 84). Mais elle est de Saint Bernard explicitant Mt. 6, 21 (,Là où est ton trésor, là est ton coeur': L. depraec. et disp., c. 20, n° 60; Rome, III, p. 292; la formule, prêtée à Augustin, se lit dans VÉcrit sur les Sent, de Thomas d'Aq., I, d. 15, q. 5, a. 3, diff. 2). » Vgl. Bernhard von Clairvaux: Liber de praecepto et dispensatione c. 20 n°60, Opera III, 292,24: „ñeque enim praesentíor spíritus noster est ubi animât quam ubi amat." Vgl. MEISTER ECKHART: In loh. n°469, LW III, 402,10-11: „Et secundum hoc optime dicit Augustinus quod anima verius est ubi amat quam ubi animât." („Deshalb sagt Augustin sehr treffend, dass die Seele da wirklicher ist, wo sie liebt, als da, wo sie beseelt."); Ders.: Sermo XVI1.3 n°170, LW IV, 162,5-7: „Quomodo ergo mori potest qui se toto amore vadit ad deum, ad vitam, ad esse, qui plus amat iustitiam, vitam, esse, quam se ipsum, qui plus est ,ubi amat quam ubi animate'?" („Wie kann aber der sterben, der von sich weg mit ganzer Liebe zu Gott, zum Leben, zum Sein schreitet, der mehr die Gerechtigkeit, das Leben, das Sein liebt als sich selbst, der mehr [dort] ist, ,wo er liebt als wo er lebt'?") ...

...

300

und Vielheit gebunden, also an ein unvollkommenes, begrenztes Sein. Der Ort, „wo die Seele liebt", liegt hingegen im Anderen, in Gott, im vollkommenen Sein, in der Quelle des Lebens und der Liebe. Die Seele wirkt das vergängliche Leben im Leib und in der Zeit, Gott hingegen wirkt ein unvergängliches Leben nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit, und nicht im Leib, sondern in der Seele selbst. Sie ist in Gott „eigentlicher" als in sich selbst, weil sie von ihm nicht nur ihr geschaffenes Sein, sondern auch das ewige Leben empfangt; weil sie unmittelbar mit dem allein in sich und aus sich selbst seienden göttlichen Sein (mit dem unwandelbaren „esse absolutum" einschließlich ihrer eigenen, innergöttlichen Seinsweise) eins ist. Eckhart schließt diesen ersten Predigtabschnitt, indem er nochmals70 auf den tiefen Sinn des Wortes aus dem Buch der Weisheit verweist und mit Nachdruck die Bedeutung seiner Lehre von der Gerechtigkeit und vom Gerechten unterstreicht: Unser Schriftwort klingt schlicht und gemeinverständlich, und doch versteht kaum jemand, was es mit ihm auf sich hat; und doch ist es wahr. Wer die Lehre von der Gerechtigkeit und vom Gerechten versteht, der versteht alles, was ich sage. 68

Sap. n°69, LW II, 397,4-7: „quidem vitam anima operatur tempore quanto igitur magis praecellit vita quam operatur deus, non anima, operatur etiam non in corpore, sed in ipsa anima, adhuc autem tertio non in tempore, sed in perpetuitate. Et hoc est quod hie dicitur: in perpetuum vivent." Vgl.

Meister Eckhart: In

et in corpore et in

-

Leben wirkt ja die Seele im Leib und in der Zeit wie viel kostbarer ist dann das Leben, das nicht die Seele, sondern Gott wirkt, das er nicht im Leib, sondern in der Seele selbst, zudem aber drittens nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit wirkt. Das ist der Sinn des Wortes: sie werden ewig leben.") Eckharts unmittelbarem Wortlaut nach wird die (mit dem göttlichen Sein identische) göttliche Gerechtigkeit zum Sein des Gerechten. Die Frage ist nun, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind: ob die göttliche Gerechtigkeit nach Meister Eckhart formell („formaliter") zum Sein des Gerechten wird oder nicht und ob im ersten Fall daraus eine teilweise oder völlige Identität des gerechten Menschen mit Gott im Sein folgt (eine völlige Identität würde bedeuten, dass das geschaffene Sein des Gerechten in die göttliche Seinsform hinein aufgelöst, mithin der Gerechte in seinem eigenen Sein zu Gott würde.) Die kirchliche Autorität hat andere, ähnliche Aussagen Meister Eckharts im Sinne einer restlosen Identifizierung von geschaffenem und ungeschaffenem Sein verstanden und verurteilt (vgl. „Votum Avenionense" Art. 21, LW V, 559,54-56; 583,1-27; Übersetzung A. QUERO-SÁNCHEZ: Sein als Freiheit. Die idealistische Metaphysik Meister Eckharts und Johann Gottlieb Fichtes, Freiburg 2004, 366). Die Betonung der Notwendigkeit des ,Aus-sich-Heraugehens', der Ekstasis, um in die Sphäre des göttlichen Seins zu gelangen, spricht an vorliegender Stelle jedoch m.E. für die Aufrechterhaltung eines ontischen Unterschiedes zwischen Mensch und Gott. Ebenso das von Eckhart angeführte „Augustinus"-(in Wirklichkeit Bernhard-)Zitat, will man Eckhart nicht unterstellen, er habe seine eigentlich weit über Augustinus hinausgehende Aussage durch seine Berufung auf das Autoritätszitat nur glaubwürdig machen wollen.

(,,[D]ieses [vergängliche]

69

70

-

Vgl. 182,3(99,2).

301

vorliegender Aussage ist die „Lehre von der Gerechtigkeit und vom Gerechten" der Schlüssel zum Verständnis des Eckhartschen Gesamtwerkes. Es geht in dieser Lehre zentral um die Verhältnisbestimmung zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und dem Gerechten, also um die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch, insofern er gerecht ist, im Sinne einer Attributionsanalogie. Wie eingangs Laut

schon erwähnt, hat Eckhart diese Lehre in verschiedenen Schriften, vor allem in seinem Johanneskommentar und im „Büchlein der göttlichen Tröstung", dargelegt. Eckhart verwendet die Begriffe „Gerechtigkeit" (wie alle „perfectiones generales" und die [allerdings von ihm terminologisch nicht als solche bezeichneten] Transzendentalien), „Sein" und „Gott" synonym.72 Im innertrinitarischen Leben unterscheidet er die gebärende Gerechtigkeit (den Vater) von der geborenen Gerechtigkeit (dem Sohn). Die geborene Gerechtigkeit ist durch das Hervorgehen aus der gebärenden Gerechtigkeit von dieser relational unterschieden, aber wesensidentisch mit ihr. (Der Sohn ist „ein anderer" der Person nach, nicht „etwas anderes" der Natur nach.) Die gebärende und die geborene Gerechtigkeit sind univok eine Gerechtigkeit, ein Leben, ein Sein. Der Mensch empfangt nach Eckhart nun, insofern er gerecht ist, die mit dem göttlichen Wesen identische, ungeschaffene und ungewirkte Gerechtigkeit.73 Und zwar wird er unter Voraussetzung der Selbstentäußerung durch die Sohnesgeburt, die sich im Innersten seines Geistes stets vollzieht, mit dem göttlichen Sein geeint und wird so mit dem Sohn Gottes und in ihm „Sohn der Gerechtigkeit", Kind des Vaters. Es folgt der zweite Teil der Predigt, der dem Thema des (ewigen) Lebens gewidmet ist. -

-

184,4-8. „Daz wort lütet grop und gemeine, und verstât doch wênic ieman, wie im sí, und ist doch war. Swer underscheit verstât von gerehticheit und von gerehtem, der verstât allez, daz ich sage" (DW I, 105,1-3). Vgl. Meister Eckhart: In Eccli. n°67, LW II, 296,7-8: „si loco dei ponamus ,esse' et ,iustitia'." (,,[W]enn wir statt Gott ,Sein' und Gerechtigkeit' sagen.") Vgl. OL 6, note complémentaire n°6, 406-407. Gott selbst ist die Gerechtigkeit: vgl. Ders.: In loh. n°504, LWIII, 434,15: „iustitia, deus" („die Gerechtigkeit, Gott"); Ders.: In loh. n°50, LW III, 41,6-7: „et deus erat verbum. Iustus enim, verbum iustitiae, est ipsa iustitia" („und Gott war das Wort. Denn der Gerechte, das Wort der Gerechtigkeit, ¡st die Gerechtigkeit selbst"). Die Gerechtigkeit und der Gerechte als solcher sind nach Eckhart nur eines (vgl. Meister Eckhart: In Gen. II n°149, LW 1, 618,13f.). Dies wird von Eckhart in seinem zweiten Genesiskommentar als dialogisches Geschehen, als eine aktuale Einheit, beschrieben: vgl. Ders.: In Gen. II n° 147-149, LW I, 616,4-619,5. Der Gerechte wird, insofern er gerecht ist, von der Gerechtigkeit „gezeugt": vgl. Meister Eckhart: In loh. n°519, LWIII, 448,12. 302

4.3. Die Gerechten werden leben „Die Gerechten werden leben". Nichts ist so lieb und so begehrenswert unter allen

Dingen

wie das Leben. Und wiederum ist kein Leben

so

schlimm noch

so

be-

schwerlich, dass der Mensch nicht dennoch leben wolle. Eine Schrift sagt: Je näher etwas dem Tode ist, um so peinvoller ist es. Gleichviel, wie schlimm das Leben auch ist, es will doch leben. Warum issest du? Warum schläfst du? Auf dass du lebest. Warum begehrst du Gut oder Ehre? Das weißt du sehr wohl. Aber: Warum lebst du? Um des Lebens willen, und du weißt dennoch nicht, warum du lebst. So begehrenswert ist das Leben in sich selbst, dass man es um seiner selbst willen begehrt. Die in der Hölle sind, in ewiger Pein, selbst die wollten ihr Leben nicht verlieren, weder die Teufel noch die Seelen, denn ihr Leben ist so edel, dass es unvermittelt von Gott in die Seele fließt. Weil es so unmittelbar von Gott fließt, darum wollen sie leben. Was ist Leben? Gottes Sein ist mein Leben. Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muss Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr.75

Nachdem Meister Eckhart die Selbstentäußerung aus Liebe gepredigt hat, lenkt er nun den Blick seiner Zuhörer auf das Leben, genauer: auf das Leben im eigentlichsten, tiefsten Sinn. Als höchst Hebens- und begehrenswert wird dieses hier als das höchste Gut, das „summum bonum" dargestellt, das von allen Lebenden als letztes Ziel um seiner selbst willen geliebt und erstrebt wird: Leben will nichts anderes als leben. Während die alltäglichen leib-seelischen Lebensvollzüge des Menschen („essen", „schlafen", „Gut oder Ehre begehren") einen außerhalb von ihnen liegenden Grund haben, nämlich dem Lebenserhalt und der Lebensfülle zu dienen, hat das Leben selbst kein Warum; es ist „in sich selbst" begründet und in sich selbst begehrenswert, und Eckhart sagt auch weshalb: weil es unmittelbar von Gott stammt. Selbst diejenigen, die sich am Ort der größtmöglichen Qual, der Hölle, befinden, wollen ihr Leben nicht verlieren und behalten

LI, 811, Anm. 80,18: „Die Quelle Eckharts ist nicht bekannt." 184,9-25. „,Die gerehten suln leben'. Ez enist kein dinc sô liep noch sô begirlich als leben under allen dingen. Sô enist kein leben sô bœse noch sô swaerlich, ein mensche enwelle dennoch leben. Ein geschrift diu sprichet: ie daz dinc dem tôde naeher ist, ie pînlîcher ez ist. Nochdenne swie bœse daz leben ist, sô wil ez leben. War umbe izzest dû? War umbe slaefest dû? Umbe daz dû lebest. War umbe begerst dû guotes oder êren? Daz weist dû harte wol. Mêr: war umbe lebest dû? Umbe leben, und enweist dennoch niht, war umbe dû lebest. Sô begirlich ist daz leben in im selber, daz man ez

umbe sich selber begert. Die in der helle sint in ewiger pîne, die enwölten niht ir leben Verliesen, noch vîende noch seien, wan ir leben ist sô edel, daz ez sunder allez mitel vliuzet von gote in die sêle. Dar umbe wan ez von gote also vliuzet sunder mitel, dar umbe wellent sie leben. Waz ist leben? Gotes wesen ist min leben. Ist min leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sin min sin und gotes isticheit min isticheit, noch minner noch mêr" (DW I, 105,4-106,3).

303

einen unmittelbaren Bezug zu Gott, indem sie existieren. Wenn Eckhart sagt, das Leben „fließe" „unvermittelt von Gott in die Seele", bezeichnet er damit in neuplatonischer Terminologie die ständige Schöpfung („creatio continua") durch das Wirken Gottes, die durch das innertrinitarische Leben begründet ist, und die selbst „die Teufel" [sc. Dämonen] und Verdammten, die nicht mehr in der Zeit leben, ständig am Leben erhält. Mit der Erwähnung der Dämonen und der Verdammten wird die Perspektive fast unmerklich vom irdischen zum jenseitigen Leben hin verschoben und schließlich der Blick auf Gott gelenkt. Es folgt dann die Frage nach dem Wesen des Lebens: „Was ist Leben"? Auf diese Frage antwortet Eckhart in Predigt 5a: „Was von innen her aus sich selbst bewegt wird."77 Die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, kommt Gott allein in absoluter Weise zu; sie gehört zu seinem Wesen (er ist das Leben). Im eigentlichsten Sinne versteht Eckhart darunter (ausgehend von Ex 3,14: „Ich bin, der ich bin") (aristotelisch) die Selbstbewegung des göttlichen Geistes.79 Insofern

Vgl. Meister Eckhart: In Exod. n°16, LW II, 22,3-8: „Vita enim quandam dicit exseritionem, qua res in se ipsa intumescens se profundit primo in se toto, quodlibet sui in quodlibet sui, antequam effundat et ebulliat extra. Hinc est quod emanatio personarum in divinis ratio est et praevia creationis." („Leben nämlich bedeutet eine Art

Überquellen, wodurch etwas in sich selber anschwillt und sich zuerst ganz und gar in

sich selbst ergießt, jedes Teilchen mit sich selbst durchdringend, bevor es sich ausgießt und überwallt. Daher kommt es, dass das Ausfließen der Personen in der Gottheit der Grund für die Schöpfung ist und ihr vorangeht.") Vgl. B. McGlNN: The Mystical Thought, 100-101: "whenever he [Eckhart] talks of God as 'flowing into all creatures' he ist speaking of creation". Vgl. Meister Eckhart: In Ioh. n°517, LW III, 447,2-3: „in divinis esse sive essentia non gignit nee gignitur... quod nihilominus ipsa essentia sive esse sub ratione sive proprietate unius et paternitatis redundat germinando, spirando, creando in omne ens, tarn creatum quam increatum." (,,[I]n Gott zeugt nicht die Wesenheit und wird nicht gezeugt... dennoch ergießt sich die Wesenheit selbst oder das Sein, insofern es Eines und ihm Vaterschaft eigentümlich ist, im Sprossen, Hauchen, Erschaffen in jedes Seiende".) Vgl. ebd., 447,10-11 : „esse enim sive essentia dei cum sua proprietate patris, unitate scilicet, descendit in omnia a se quocumque modo procedentia." (,,[D]enn das Sein oder die Wesenheit Gottes mit seiner Eigenschaft als Vater, nämlich der Einheit, steigt in alles herab, was von ihm auf irgendwelche Weise hervorgeht.") L I, 63,14f. Meister Eckhart: Pr. 5a, DW I, 80,18f.: „waz ist min leben? daz von innen bewegt wirt von im selber." Meister Eckhart: In loh. n°61, LW III, 51,4-5: „Deus autem vita est, loh. 14". („Gott aber ist das Leben" [Joh. 14,6].) Ders.: In loh. n°19, LW III, 16,12-13: „vita id est »prineipium sine principio«. Hoc enim proprie vivit quod est sine principio." („Leben, das heißt ,Ursprung ohne Ursprung'. Denn das lebt im eigentlichen Sinne, was ohne Ursprung ist.") „Nach Aristotelischer Lehre ist das ,Leben' selbst, bzw. das Leben in seiner höchsten Form, nichts anderes als die Tätigkeit der Vernunft selbst, weil deren reflexiver Selbst...

304

Gott die Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, seinen Geschöpfen mitteilt, haben diese, wenn auch in verschiedenen Formen und abgeleitet, formal gesehen dieselbe Fähigkeit wie er. Für den Menschen, der als Bild und Gleichnis Gottes, nämlich als geistbegabtes Wesen geschaffen wurde, gilt: er lebt in dem Maße, in dem er sich im Denken, Wollen und Handeln von dem ihm innewohnenden Gott bewegen lässt.

bezug

vollkommen selbstbestimmt und damit reine

Selbstbewegung ist. Vgl.

Aristoteles, Metaph XII 7, 1072b26f. ...; femer Metaph. XII 7, 1072 18ff." (M. Enders: „Selbsterkenntnis", 208, Anm. 17; vgl. ebd., 207-208). Meister Eckhart: In Sap. n°5, LW II, 326,8-327,2: „Primo, quia »simplex« et ipsum solum redit se toto super se totum »reditione completa«, et propter hoc ex De causis est sciens se ipsum et omnia per essentiam." („Erstens: ,ein einfaches Wesen', und es allein, wendet sich ,in vollkommener Rückwendung' ganz auf sich selbst zurück, und darum erkennt es, -

-

nach dem Buch Von den Ursachen, sich selbst und alles durch seine Wesenheit.") Dies belegen zahlreiche Stellen in Eckharts Werk: vgl. z.B. MEISTER Eckhart: In loh. n°62, LW III, 51,7-12: „quod vivum dicitur sive vivens omne, quod ex se ipso vel a principio intra et in ipso movetur. Quod autem non movetur nisi ab aliquo extra, vivum non est nec dicitur. Ex quo patet quod proprie non vivit omne, quod habet efficiens ante se et supra se, sive finem extra se vel aliud a se. Tale est autem omne creatum. Solus deus, utpote finis ultimus et movens primum, vivit et vita est." (,,[D]ass lebendig oder lebend alles genannt wird, was aus sich selbst oder von einem inneren Wirkgrund und in ihm bewegt wird. Was aber nur von außen her bewegt wird, das ist und heißt nicht lebendig. Daraus erhellt, dass alles das nicht eigentlich lebt, was ein Bewirkendes vor sich und über sich oder ein Ziel außer sich und neben sich hat. Derart ist aber alles Geschaffene. Gott allein, das letzte Ziel und das erste Bewegende, lebt und ist das Leben.") Ders.: In loh. n°311, LW III, 259,7-11: „Vivum enim est quod habet motum sive quod movetur ab intra ex se ipso; mortuum autem dicitur unumquodque, quando non movetur ex se ipso sive ab intra, sed tantum ab aliquo extra. Sic opus est mortuum, quando ad ipsum movet quid extra ut prineipium vel ut finis. Deus autem solus animae illabitur et intus est." („Denn lebendig ist, was seine Bewegung aus sich oder von innen her hat; tot aber heißt ein jedes, wenn es nicht aus sich selbst oder von innen her, sondern nur von etwas Äußerem bewegt wird. So ist ein Werk tot, wenn ein äußerer Beweggrund sein Ursprung oder Ziel ist. Gott allein aber senkt sich in die Seele ein und ist in ihrem Innern.") Ders. : In Sap. n°184, LW II, 519,3-521,1: „omnis actio ab intra procedens delectabilis est et suavis et vita est sive vivere,... Vita vero sive vivere est talis operatio, utpote non ab extra, sed ab intus et intimis procedens.... Deus autem, utpote causa prima et finis ultimus, intimus est omnibus quae movet. Hinc est quod illa opera omnia et sola, quae deus in nobis operatur et nos in illo propter illum, utpote intimum, viva sunt. Omnia vero opera, quae operamur propter quid aliud extra ipsum, qui solus veré intimus est nobis et essentiae illabitur, utpote esse, mortua sunt, eo quod in ipsis talibus operibus nos (non) movet, sed movemur ab aliquo extra sicut mortuum et iam non vivum. Nihil enim citra ipsum deum essentiae nostrae illabitur. Illa sisola nostra sunt ab intus in et sunt et nobis quidem opera proficiunt, divina, quae quibus deus intimus movet et nihil foris aut extra." („Jede Tätigkeit, die von innen hervorgeht, ist angenehm und mild, ist Leben oder Lebendigsein, Leben aber oder ...

...

305

Auf dieselbe Frage („Was ist Leben?") antwortet Eckhart hier jedoch mit einer 81 These, die im ersten Moment „ungeheuerlich, zweifelhaft oder falsch" eine vollkommene Identität von Gott und Mensch nahezulegen scheint: „Gotes wesen ist mîn leben. Ist mîn leben gotes wesen, sô muoz daz gotes sîn mîn sîn und gotes •

isticheit mîn isticheit, noch minner noch mêr". Die Kölner Ankläger haben Eckhart die beiden Sätze in einer kürzeren Fassung vorgeworfen, die von ihnen im Sinne einer Identität des menschlichen Lebens mit dem göttlichen Sein bzw. Wesen und einer Identität des menschlichen Wesens mit dem göttlichen Wesen interpretiert worden ist:

„Vivere meum est esse dei vel vita mea est essentia dei, quidditas dei quidditas mea." („Gottes Sein ist mein Leben, oder Gottes Wesen ist mein Leben, Gottes Wesenheit meine

Wesenheit").82

ist eine solche Tätigkeit, da sie nicht von außen, sondern von innen und dem Innersten hervorgeht. Gott aber, die erste Wirkursache und das letzte Ziel, ist allem, was er bewegt, zuinnerst. Daher kommt es, dass alle die Werke, und zwar sie allein, lebendig sind, die Gott in uns wirkt und wir ¡n ihm und seinetwegen, der ja zuinnerst ist. Alle Werke aber, die wir wegen irgend etwas anderem außer ihm wirken, der allein uns wahrhaft zuinnerst ist und der als Sein in das Wesen eindringt, sind tot. Denn in solchen Werken bewegt er uns nicht, vielmehr werden wir wie etwas Totes und nicht mehr Lebendiges von außen her bewegt. Nichts, was Gott nachsteht, dringt ja in unser Wesen ein. Denn jene Werke allein nützen uns, sind unsere Werke und göttlich, die von innen kommen und in denen Gott innerlich wirkt, nichts von außen oder äußerlich.") Meister Eckhart: Pr. 5a, DW I, 80,18-81,4: „Nun; ,wir leben in im' mit im. waz ist min leben? daz von innen bewegt wirt von im selber. wir sollend dannen ussz bewegt werden, dannen ussz wir leben, daz ist: durch in. Wir mugen und müssen uss unserm aigen wurken uon innan. Sullen wir denn leben in im oder durch in, so sol er unser aigen sin und sullen wir uss unserm aigen wurken; also als got alle ding wurkt uss sinem aigen und durch sich selber, also sullen wir uss demm aygen wurken, das er ist in uns." (L I, 63,13-25: „Und nun: ,wir leben in ihm mit ihm. Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. wir sollen vielmehr daraus bewegt werden, woraus wir leben, das heißt: durch ihn. Wir können und müssen aus unserem Eigenen von innen her wirken. Sollen wir also denn in ihm oder durch ihn leben, so muss er unser Eigen sein und müssen wir aus unserm Eigenen wirken, so wie Gott alle Dinge aus seinem Eigenen und durch sich selbst

wir dem aus müssen das so wirkt, Eigenen wirken, er in uns ist.") Ein Ausdruck, den Eckhart in der allgemeinen Vorrede zum dreiteiligen Werk gebraucht, um seine Mitbrüder in das Studium desselben einzuführen. Einiges aus den Thesen, Problemen und Auslegungen wird „beim ersten Anblick ungeheuerlich, zweifelhaft oder falsch erscheinen" („primo aspectu monstruosa, dubia aut falsa"), warnt der Meister, was sich ändere, „wenn man es mit Scharfsinn und größerer Hingebung durchdenkt" (vgl. Meister Eckhart: Prol. gen. n°8, LW I, 152,4-5). ECHARDI resp., Proc. Col. II n°92, LW V, 340,3-8 (RS, Üb., 120).

Lebendigsein

aus

...

...

...

...

...

...

81

82

306

Eckhart verteidigt sich in Köln (übrigens erfolgreich, weil der Satz kirchlich nicht verurteilt wurde) mit einem Hinweis auf das Analogieverhältnis, das bestehen bleibe, sowie mit zwei Schriftzitaten:

„Ich gestehe, dass dies dem Wortlaut nach falsch und irrig ist. Wahr indessen und erbaulich und fromm ist, dass das ganze Sein eines gerechten Menschen, sofern er gerecht ist, von Gottes Sein ist, wenn auch das Analogieverhältnis bestehen bleibt. Femer, sicherlich ist niemand wahrhaft göttlich, ohne dass Gott in ihm ist. Steht doch fest, dass niemand gerecht ist, außer durch die Gerechtigkeit, wie nichts weiß ist als durch die Weiße. Vergl. das Wort: .Christus ist mein Leben',83 und ,Ich lebe, doch nicht ich, es lebt in mir Christus'84."85 Zunächst einige Bemerkungen zu den Unterschieden zwischen dem uns vorliegenden und dem Eckhart im Laufe des Prozesses vorgelegten Text: In der lateinischen Fassung entfallt die im mittelhochdeutschen Text formulierte Bedingung („Ist ...") und die Schlussfolgerung („sô muoz ..."). Eckhart schreibt hier nicht: „so muoz gotes sin min sin sin" („so muss Gottes Sein mein Sein sein") und auch nicht: „sô muoz gotes isticheit min isticheit sîn" („so muss Gottes Wesenheit meine Wesenheit sein") im Sinne einer Identifizierung von göttlichem und menschlichem Sein bzw. Wesen, sondern er schreibt: „so muoz gotes sîn mîn sîn und gotes isticheit mîn isticheit" („so muss Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit"),86 eine Formulierung, die im Sinne einer gnadenhaften Mitteilung des (mit dem göttlichen Wesen identischen) göttlichen Seins unter Wahrung des Analogieverhältnisses verstanden werden kann. Beim Ausdruck „isticheit" handelt es sich um eine von „ist" abgeleitete sprachliche Neubildung Eckharts. Bereits die ältere Eckhart-Forschung hielt fest, dass dieser Terminus immer die besondere, einzigartige Seinsweise Gottes bezeichnet. So handelte es sich für M. S. Morard um „das ungewordene überseiende, bestimmungslose reine Sein, das esse purum per se subsistens des heiligen Thomas, das Gott (kraft der Identität seines Seins mit seinem Wesen) unendlich ...

Vgl. Phil 1,21: „Denn für mich ist Christus das Leben und Sterben Gewinn." Vgl. Gal 2,19-20: „Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat." RS, Üb., 120. ECHARDI resp, Proc. Col. II n°92, LW V, 340,3-8: „Dicendum quod falsum est et error, sicut sonat. Verum quidem est, devotum et morale quod hominis iusti, in quantum iustus, totum esse est ab esse dei, analogice tarnen. Constat enim quod

iustus est nisi a iustitia, sicut nec albus nisi ab albedine, seeundum illud: ,mihi viChristus est' et iterum: ,vivo ego, iam non ego, vivit in me Christus'. Propter quod débet homo esse sollicitus, ut sit iustus et iuste agat. Dictum est de hoc supra." Vgl. M.S. Morard: „Ist, istic, istikeit bei Meister Eckhart", in: FZPhTh 3 (1956) 169-186; hier 181 f. nemo vere

307

über alles sonstige Sein hinaus erhebt als ein Einziges, das deshalb eher ein Nichts als ein Sein heißen soll: das göttliche Überwesen in seiner einzigsten Seinsweise."87 ,,[J]stikeit ist von ist abgeleitet und kommt im vollen Sinn nur allein dem einzigen ist zu, das Gott allein ist, indem Gott allein, als wesenhaftes Sein, aus dem Eigenen Sein hat, ja eigentlich Sein ist. Der Ausdruck meint also

geradehin das Sein Gottes als Aus-sich-selbst-Sein, zugleich aber und deswegen die Wesenhaftigkeit, Reinheit, Fülle und Einzigkeit des göttlichen Seins."88 Die neuere Forschung hebt darüber hinaus die intellektuelle Natur dieses mit seinem Sein identischen göttlichen Wesens hervor, das sich nach Eckhart auf Grund seiner wesenhaften Einfachheit allein ganz auf sich selbst zurückwendet, und übersetzt „isticheit" entsprechend mit „Gottes ewige Rückwendung auf sich selbst",90 also mit einem Ausdruck, der die Bewegung, das Leben des göttlichen Geistes wiedergibt. Außerdem, so A. Beccarisi, erscheine der Terminus in Zusammenhängen, „in denen Eckhart das Theorem der Einheit zwischen Mensch und Gott und des intellektuellen Grundes dieser Einheit"91 vertiefe, wo die „Dynamik zwischen Gottheit und Mensch im Spiel" sei.92 Die Frage ist nun, ob in diesen Sätzen nicht doch eine Identität zwischen menschlichem Leben und göttlichem Sein bzw. menschlichem und göttlichem Wesen ausgesagt ist und ob es nicht naheliegend wäre, daraus eine vollkommene Identität von menschlichem und göttlichem Sein und sogar eine Wesensgleichheit von Mensch und Gott abzuleiten? Es gibt tatsächlich Stellen in Eckharts Werk, in denen Leben als etwas Göttliches dargestellt wird. Allerdings unterscheidet Eckhart an diesen Stellen zwischen Leben und Sein, das er in diesen Fällen (im Unterschied zum Leben) eindeutig als etwas Geschaffenes (und somit als etwas von Gott Unterschiedenes) 87

88 89

Ebd., 173. Ebd., 175.

Meister Eckhart: In Sap. n°5, LW II, 326,8-327,2: „Primo, quia »simplex« et ipsum solum redit se toto super se totum »reditione completa«, et propter hoc ex De causis est sciens se ipsum et omnia per essentiam." („Erstens: ,ein einfaches Wesen', und es allein, wendet sich ,in vollkommener Rückwendung' ganz auf sich selbst zurück, und darum erkennt es, nach dem Buch Von den Ursachen, sich selbst und alles durch seine Wesenheit.") K. Flasch: „Predigt 6", 35,2-3. Für eine ausführliche philosophische Analyse des Terminus „isticheit" vgl. A. BECCARISI: Isticheit nach Meister Eckhart. Wege und Irrwege eines philosophischen Terminus, Berlin 2005 (MM 32), 314-334 sowie DIES.: „Philosophische Neologismen zwischen Latein und Volkssprache: istic und isticheit bei Meister Eckhart", in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 70/2 (2003) 329-358. A. BECCARISI: Isticheit nach Meister Eckhart, 317. Ebd., 315. -

-

90

91 92

308

betrachtet.93 Auch Eckharts Schöpfungsglaube steht gegen eine einfache Identifi-

zierung von göttlichem und menschlichem Sein, denn dieser schließt ein, dass Gott seinen Geschöpfen ein von ihm unterschiedenes, eigenes, geschöpfliches, formales Sein verleiht,94 was Ziel seines Schöpfungsaktes ist.95 Der dominikani93

Meister Eckhart: In Gen. 7 n°l 12, LW I, 266,2-267,10: „turn quia ,quod factum est, in ipso' non factum est sive creatum sed ,vita' est, turn quia ipse deus proprie vivit, utpote non ab extra motus, sed ab intra, a semet ipso. Unde scriptura ipsi frequenter vitam sive vivere appropriât... Act. 17 ,in ipso', deo scilicet, ,vivimus' .ipsius genus sumus'. Ubi notandum quod vivum in ratione vivi increatum est et increabile. Hinc est quod ubicumque invenitur purum et simplex vivere, ita ut non sit esse aliud praeter vivere, icreatum est. Terminus autem creationis esse est. Hinc est quod omne habens esse aliquod praeter vivere factum est et creatum ratione esse, nequáquam autem ratione vivere. Verbi gratia: homo mortalis est ratione qua corporeum est aliquod, non autem ratione qua animatus anima rationali." („Denn zum ersten ist das, ,was geworden ist, in ihm' nicht gemacht oder geschaffen, sondern ,Leben' [Joh. 1,3.4]; zum andern lebt nur Gott im eigentlichen Sinn, da er ja nicht von außen, sondern von innen, aus sich selbst bewegt wird. Deswegen spicht die Schrift ihm häufig das Leben oder Lebendigsein als Eigentümlichkeit zu [vgl. z.B. Deut. 5,26; 1 Kön. 17,26.36; Ps. 41,3] Apg. 17,28 ,in ihm', nämlich in Gott ,leben wir' ...,wir sind seines Geschlechtes'. Hierbei ist zu bemerken, dass das Lebendige als solches ungeschaffen und unerschaffbar ist. Wo immer sich also Leben in solcher Reinheit und Einfachheit findet, dass es nur Leben, nicht aber sonst noch ein Sein ist, ist es ungeschaffen. Ziel der Erschaffung ist ja das Sein. Daher ist alles, was neben dem Lebendigsein noch irgend ein Sein hat, gemacht und geschaffen, sofern es dieses Sein hat, nicht aber sofern es lebt. Der Mensch z.B. ist sterblich, sofern er ein körperliches Wesen, nicht aber, sofern er durch die vernünftige Seele beseelt ist".) Ders.: In Sap. n°24, LW II, 344,6-345,1: „»prima rerum creatarum est esse«. Unde res producta a deo, quamvis sit ens, vivens et intelligens, ratione tarnen solius esse est creabilis. Unde si quid esset vivens aut intelligens, non habens esse aliquod praeter et extra vivere et intelligere, ipsum esset ut sie increabile. Propter quod signanter et subtiliter dictum est: ,quod factum est in ipso vita erat', loh. 1, quasi dicat: ipsum factum a deo, quod est quidem in se ipso, in deo vita erat et ut vita increabile, sicut deus upse increabilis." („,[D]as erste der geschaffenen Dinge ist das Sein'. Obgleich nun ein von Gott hervorgebrachtes Wesen ein Seiendes, Lebendes und Erkennendes ist, so ist es doch nur im Hinblick auf Sein erschaffbar. Gäbe es also ein lebendes oder erkennendes Wesen, das neben und außer dem Leben und Erkennen keinerlei Sein besäße, so wäre es als solches unerschaffbar. Das besagt das tiefsinnige Wort: ,was geworden ist, war in ihm Leben' [Joh. l,3f], als wollte [Johannes] sagen: das durch Gott Gewordene hat in sich selbst Sein, war aber in Gott Leben und als Leben unerschaffbar, wie Gott selbst unerschaffbar ist.") Vgl. auch unten Anm. 94 (In Sap. n°32). Eine der deutlichsten Belegstellen hierfür findet sich in Meister Eckhart: In Sap. n°32, LW II, 353,2-4: ,„facta' vero, creata scilicet, ,per ipsum', deum scilicet, ,sunt', id est habent esse formale extra in rerum natura sub formis propriis quibus sunt. Sed in ipso nondum sunt, ut sunt... sed sub ratione vivere et intelligere." (,„[D]as Gewordene' also, nämlich das Geschaffene, ,ist durch ihn', nämlich durch Gott, das ...

...

94

...

...

309

sehe Theologe unterscheidet grundsätzlich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, klar zwischen dem geschöpflichen und dem göttlichen Sein: An manchen Stellen seines Werkes wird erstens das formhaft innewohnende Sein der Geschöpfe (das „esse formaliter inhaerente") explizit vom absoluten Sein, das Gott ist (dem „esse absolute") unterschieden;96 das geschaffene, partikulare Sein im Unterschied zu Letzterem als „Dies-und-Das-Sein" bzw. als „ens hoc et hoc" bezeichnet. In der ersten Pariser „Quaestio" (sie gilt der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Erkennen in Gott)97 wird der Unterschied zwischen den Geschöpfen und Gott zweitens so ausgedrückt, dass das Sein den Geschöpfen zu-, Gott aber abgesprochen wird. Gott ist weder ein Seiendes noch ein Sein, sondern etwas Höheres als das Seiende und das Sein, nämlich „Lauterkeit des Seins" („puritas hat formales Sein außerhalb [des göttlichen Geistes] in der Naturwirklichkeit Formen, durch die es ist. In Gott ist [das Geschaffene] aber noch nicht nach seiner konkreten Existenz sondern als sein Leben und Denken.") Zu Eckharts Schöpfungsbegriff: vgl. MEISTER ECKHART: Prol. gen. n°12, LW I, 157,8: „Creare quippe est dare esse ex nihilo." („Schaffen heißt ja aus dem Nichts Sein geben"); Ders.: Prol. gen. n°16, LW I, 160,7: „creado est collado esse" („Schöpfung ist Mitteilung des Seins"); Ders.: In Sap. n°19, LW II, 340,10-11: „Creado enim est collatío »esse post non esse«." („Denn Schöpfung ist Verleihung ,des Seins nach dem Nichtsein'.") Ders.: In Sap. n°25, LW II, 345,6-7: „creado est rerum ex nihilo production' („Schöpfung ist die Hervorbringung der Dinge aus dem Nichts.") Zum Ziel des Schöpfungsaktes vgl. Ders.: In Sap. n°19, LW II, 339,3f: „Creavit enim, ut essent omnia. („Er schuf nämlich alles, dass es sei.") Ders.: In Sap. n°35, LW II, 355,15-16: „finis creationis sit rerum ipsum esse" („das Ziel der Schöpfung ist das Sein der Dinge"); Ders.: In Sap. n°19, LW II, 340,4: „Perfectio omnis et omnium est esse ipsorum". („Die ganze Vollkommenheit aller Dinge ist ihr Sein".) Eine genaue Darstellung des Schöpfungsgedankens Meister Eckharts findet sich bei K. Kremer: „Meister Eckharts Stellungnahme zum Schöpfungsgedanken", in: TThZ 74/2 (1965) 65-82 und in Ders.: Gott und Welt, 50-52. Im selben Beitrag findet sich eine kritische Bewertung der 1329 in der päpstlichen Bulle „In agro dominico" verurteilten Sätze von Eckharts Schöpfungslehre (bes. 76-77). Zum Thema „Seinsspekulation und Geschöpflichkeit in der Mystik Meister Eckharts" vgl. A. M. HAAS: Gottleiden, 173-176. Während die Hauptthese des „Opus tripartitum", „esse est deus" („das Sein ist Gott") Zweifel darüber aufkommen lassen könnte, ist die Verteidigungsschrift ein verlässlicher Zeuge dafür, wo in aller Deutlichkeit zu lesen ist: „Ad quintum cum dicitur: .Esse est deus'. Dicendum quod hoc verum est de esse absoluto, non de esse formaliter inhaerente." (ECHARDI resp., Proc. Col. / n°l 17, LW V, 289,6-7; RS, Üb., 86: „Wenn es heißt: ,Das Sein ist Gott', so muss man sagen, dass dies wahr ist hinsichtlich des absoluten Seins, nicht vom formhaft innewohnenden.") Vgl. ebd. n°116, 289,4-5; Ders.: In Sap. n°32, LW II, 353,2-4 (zit. in Anm. 94 ). Meister Eckhart: Qu. Par. I: „Utrum in Deo sit idem esse et intelligere" („Sind in Gott Sein und Erkennen identisch?"), LW V, 37-48. Meister Eckhart: Qu. Par. /n°8f., LW V, 45,1 f.

heißt,

es

unter den besonderen

...

310

essendi")99 bzw. reine Vernünftigkeit, „Intellekt und Erkennen".100 Obwohl im

„Opus tripartitum" (im „Dreiteiligen Werk") die Hauptthese „Deus est esse" (Gott ist das Sein) lautet, widerspricht sich Eckhart nicht, dies sei nebenbei angemerkt. Denn in der ersten Pariser „Quaestio" ist das Sein für Eckhart etwas Kreatürliches („sobald wir zum Sein kommen, kommen wir zum Geschöpf) kann also dem Schöpfer, der unerschaffen ist, nicht zukommen. Das im „Dreiteiligen Werk" Gott zugesprochene Sein aber entspricht der „Lauterkeit des Seins" der Pariser Quaestio (dem „Über-Sein" oder dem „überseienden Nicht-Sein" der deutschen Predigten),102 das den Geschöpfen nicht zukommt. Wie den Geschöpfen wegen der These „esse est deus" das Sein nicht abgesprochen werden kann, so kann im zweiten Fall Gott das Sein auch nicht abgesprochen werden. Selbst an den Stellen, an denen Eckhart diese Unterscheidungen wegzulassen scheint und behauptet, dass in Gott und den Geschöpfen ein und dasselbe Sein sei, wird drittens das analoge Verhältnis zwischen Gott und den Geschöpfen nicht aufgehoben, weil in diesem Fall das Sein (und mit ihm alle Transzendentalien und Seinsvollkommenheiten) formaliter nur als in Gott verwirklicht angesehen wird.1 Wie aus seinen Darlegungen des analogen Verhältnisses zwischen ,

99 100 101

102

103

Ebd., 45,10. Ebd.,41,13f. Ebd., 41.

Auch

wenn die Perspektive sich im Dreiteiligen Werk in Bezug auf die (nach neueren Erkenntnissen) etwas früher oder ungefähr gleichzeitig entstandenen Pariser Quaestionen etwas verschiebt, widersprechen sich die beiden Thesen „esse est deus" und „deus est intelligere" nicht, weil das in der „Quaestio" Gott abgesprochene Sein nur das geschöpfliche Sein ist (das Sein des „Dies und Das"), die Gott zugesprochene „Lauterkeit

des Seins" aber identisch ist mit dem im „Opus tripartitum" Gott zugesprochenen Sein. Die Kompatibilität der These „esse est deus" mit der Existenz des „esse rerum" (des „Seins der Dinge") hat v.a. F. Brunner deutlich aufgezeigt: Vgl. F. Brunner: „Compatibilité chez Maître Eckhart de la thèse ,esse est deus' et de l'affirmation de „l'esse rerum", in: Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, hrsg. v. K. Flasch, Hamburg 1984 (Corpus Philosophorum Teutonicum Medii Aevi, Beiheft 2), 138-146. Vgl. Meister Eckhart: In Eccli. n°53, LW II, 282,1-5: „analogata nihil in se habent positive radicatum formae seeundum quam analogantur. Sed omne ens creatum analogatur deo in esse, veritate et bonitate. Igitur omne ens creatum habet a deo et in deo, non in se ipso ente creato, esse, vivere, sapere positive et radicaliter." (,,[W]as zu einem andern in analogem Verhältnis steht, hat in sich seinsmäßig und wurzelhaft keinen Ansatz zu der Form, auf der dieses Verhältnis beruht. Nun steht aber alles geschaffene Seiende nach Sein, Wahrheit und Gutheit in analogem Verhältnis zu Gott. Also hat alles geschaffene Seiende Sein, Leben und Denken seinsmäßig und wurzelhaft von Gott und in Gott, nicht in sich selbst als geschaffenem Seienden.") Zum Analogiebegriff Eckharts: vgl. H. Hof: Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des

311

Gott und den Geschöpfen hervorgeht, ist Gott allein das Sein aus sich, durch sich und in sich selbst. Er ist das subsistierende Sein selbst („ipse esse subsistens"). Die Geschöpfe sind nur, insofern sie das Sein von Gott und in ihm haben („esse ab altero et in altero")104; sie sind nur, weil Gott in ihnen gegenwärtig ist. Das geschöpfliche Sein ist ein von Gott empfangenes und auf Gott hingeordnetes, relationales Sein:105 „Cum enim homo accipit totum suum esse se toto a solo Deo, sibi est esse non sibi esse, sed deo esse, deo, inquam, ut principio dante sein ganzes esse, et deo ut fini, cui est et cui vivit". („Denn wenn der Mensch Sein nicht ein Fürallein ist für ihn das Sein gänzlich von Gott empfangt, so sich-sein, sondern ein Zu-Gott-sein, zu Gott, sage ich, als Ursprung, der das Sein gibt, und zu Gott als Ziel, für das er [der Mensch] ist und lebt.") In seiner Verteidigung, in der Eckhart, wie bereits erwähnt, die ihm vorgelegte Formulierung, die auf eine Identifizierung von Mensch und Gott im Sein und in der Natur hinauslaufen würde, ausdrücklich als „falsch und irrig" ablehnt, argumentiert er mit dem Analogieverhältnis, das bestehen bleibe, denn er habe lediglich vom „Sein" des Menschen „in quantum iustus" gesprochen. Mit diesem Ausdruck „insofern" ist, wie Eckhart selbst eingangs seiner Verteidigung zu den Sätzen aus dem Trostbüchlein erklärt, „eine Beschränkung auf den strengen Begriff als solchen" gemeint, die „alles andere, auch alles nur gedanklich von dem Begriff Verschiedene, ausschließt."107 Dies wiederum bedeutet, dass Eckhart, ...

...

...

...

Verhältnisses der Eckhartschen Philosophie zur neuplatonischen und thomistischen Anschauung, Lund und Bonn 1952, 28; 80-89; 90-112; J. KOCH: „Zur Analogielehre Meister Eckharts", in: Altdeutsche und altniederländische Mystik, hrsg. v. K. Ruh, Darmstadt 1964, 275-308 bzw. J. KOCH: Kleine Schriften, 2 Bde., Rom, 1973 (Storia e Letteratura 127), 1, 367-397; F. Brunner: „L'analogie chez Maître Eckhart", in: FZPhTh 16 (1969) 333-349 ; DERS.: Maître Eckhart. Approche de l'œuvre, Genève 1999, 52-66; M. Enders: „Meister Eckhart", in: Kölner Theologen, 113-114. Vgl. auch II.4.6. („Exkurs zur Analogielehre Meister Eckharts"). MEISTER Eckhart: In Gen. II n°25, LW 1,496,1. Vgl. Meister Eckhart: In Eccli. n°4, LW II, 233,1-3: „Relationi autem suum esse est non suum esse; sibi esse est non sibi, sed alterius, ad alterum et alteri esse." („Das der Beziehung eigene Sein ist aber das Nicht-eigen-Sein; für sie ist Sein nicht ein Fürsich-Sein, sondern ein Sein des andern, zum andern hin und für das andere.") Meister Eckhart: In loh. n°107, LW III, 92,9-12. RS, Üb., 79. ECHARDI resp., Proc. Col. I n°81, LW V, 277,7-8: „Primum est quod li ,in quantum', reduplicado scilicet, excludit omne aliud, omne alienum etiam secundum rationem a termino." B. McGinn hebt in seiner Monographie über Meister Eckhart die Wichtigkeit dieses "inquantum-Prinzips" für die Eckhart-Interpretation hervor: B. McGinn: The Mystical Thought, 15-16: „The phrase 'insofar as he is just' {inquantum iustus) used here is crucial, both for understanding Eckhart's defense, and for the proper interpretation of his preaching and teaching. The just person pre...

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Gerechten als solchem spricht, vom geschöpflichen Träger der Gebzw. vom menschlichen Subjekt, insofern es geschaffen ist, abstrahiert rechtigkeit und den Menschen praktisch nur im Hinblick auf die göttliche Qualität, die ihm gegeben wurde, betrachtet. „Insofern" der Gerechte gerecht ist, empfangt er die mit dem göttlichen Sein identische Gerechtigkeit. Im Sinne der Wahrung des Analogieverhältnisses hat der Gerechte das gleiche göttliche Sein, allerdings in einem anderen „Seinsmodus"'08 als Gott selbst, in dem allein es formaliter verwirklicht ist. Allerdings fällt auf, dass die Verteidigung Eckharts nicht genau zum vorliegenden Predigtzusammenhang passt, in dem Eckhart zwar zu Beginn des Absatzes von den Gerechten spricht, dann aber auf das Leben allgemein zu sprechen kommt und Gottes Sein mit seinem Leben identifiziert. Er scheint sich in seiner Stellungnahme mehr auf die Anklage und auf seine grundsätzliche Intention in dieser Predigt zu beziehen als auf den Wortlaut des (uns vorliegenden) Predigttextes. Was ist aus all diesen Gegebenheiten zu schließen? Eckharts Antwort auf die Frage „Was ist Leben?", die leicht als Identität von Gott und Mensch missverstanden werden könnte und die zur Anklage Eckharts geführt hat, kann in der Reihe jener Texte, in denen Eckhart zwischen Leben als etwas Göttlichem und Sein als etwas Geschaffenem unterscheidet, wie folgt interpretiert werden: Mein Leben ist im Grunde genommen, d.h. (im radikal Eckhartschen Sinne) in meinem exemplarursächlichen, innergöttlichen Sein, identisch mit Gottes Sein. Und wenn dem so ist, bin ich konsequenterweise mit Gott ontisch so unmittelbar verbunden, dass ich nicht getrennt von ihm, sondern eins bin mit seinem Sein und mit dem Leben seines Geistes, was aber nicht heißt, dass ich, insofern ich geschaffen bin, mit ihm identisch bin. Insofern ich in Gott lebe, bin ich im Besitz des göttlichen Seins und Lebens, ist das ewige Leben jetzt schon mein. Eckhart blickt hier gleichsam durch die geschaffene Wirklichkeit hindurch auf den Seinsgrund alles Geschaffenen in Gott, der wesensident ist mit diesem. Während es in diesem Predigtabschnitt um die Immanenz Gottes in der menschlichen Seele geht, war im vorherigen Abschnitt die Rede von der Selbstwenn er vom

in his total existential reality) must have everything that Divine Justice possesses. the first principle he invoked in introducing his Cothat of formal was defense logne predication. As he puts it: (McGinn zitiert an dieser Stelle in englischer Übersetzung ECHARDI resp., Proc. Col. 7 n°81, LW V, 277,7-8). This shows that not to understand the inquantum principle is not to understand Eckhart." Zum Begriff „in quantum" vgl. MEISTER ECKHART: In Eccli if 61, LW II, 296,11-13: „omne, quod iusti sumus et quod iusta operamur, sumus utique et operamur, in quantum sumus in iustitia et iustitia in nobis est." (,,[A]lles, was wir als Gerechte sind und was wir Gerechtes wirken, das sind und wirken wir ja, insofern wir in der Gerechtigkeit sind und sie in uns.") Vgl. Meister Eckhart: In Eccli. n°52-53, LW II, 280,5-282,6.

cisely insofar as he is just (not

...

313

entäußerung der Seele aus Liebe.109 Der Mensch erfährt im Maße seiner entäußerung diese seine innerste, sein Leben begründende Wirklichkeit. 4.4. Die Gerechten leben

Selbst-

ewig bei Gott

Predigtteil, in dem Eckhart den Rest des Bibelzitates von Sap 5,16 kommentiert, schmilzt er das Schriftwort zusammen und setzt es in die Gegenwart: „Sie leben ewig bei Gott" (nicht: „sie werden leben");110 die Kategorie des Lohnes wird, wie bereits eingangs erwähnt, absichtlich beiseite gelassen. Sie leben ewig „bei Gott", ganz gleich bei Gott, weder darunter noch darüber. Sie wirken alle ihre Werke bei Gott und Gott bei ihnen. Sankt Johannes spricht: „Das Wort war bei Gott" (Joh. 1,1). Es war völlig gleich und daneben, nicht darunter noch darüber, sondern gleich. Als Gott den Menschen schuf, da schuf er die Frau aus des Mannes Seite, auf dass sie ihm gleich wäre. Er schuf sie weder aus dem Haupte noch aus den Füßen, auf dass sie weder unter noch über ihm wäre, sondern dass sie gleich wäre. So auch soll die gerechte Seele gleich bei Gott sein und neben Gott, ganz gleich, weder darunter noch darüber."1 Der Gerechte lebt „bei Gott", ,,,bei', und darum ist der Gerechte Gott gleich, Im dritten

denn Gott ist die Gerechtigkeit", schreibt Eckhart in einer anderen deutschen Predigt zum Thema „Iustus in perpetuum vivet". „Und darum: Wer in der Gerechtigkeit ist, der ist in Gott und ist Gott" "2 insofern er gerecht ist, müsste man gemäß Eckharts „inquantum"-Zusatz anfügen. Die Präposition „bî" („bei") drückt innertrinitarisch sowohl die Unterschiedenheit der zweiten von der ersten göttlichen Person als auch deren Wesensgleichheit aus (vgl. Joh 1,1: „der Logos -

109

110 1''

112

184,3(104,5). Vgl. 184,26(106,4).

184,26-35. „Sie lebent êwiclîche ,bî gote', rehte glîch bî gote, noch unden noch oben. Sie würkent alliu iriu werk bî gote und got bî in. Sant Johannes sprichet: ,daz wort was bî gote'. Ez was alzemâle glîch und was bî neben, noch undenân noch obenan, sunder glîch. Dô got den menschen machete, dô machete er die vrouwen von des mannes sîten, dar umbe daz si im glich waere. Er machete sie niht von dem houbte noch von den vüezen, daz si im waere weder vrouwe noch man, sunder daz si glîch wasre. Also sol diu gerehte sêle glîch bî gote sîn und bî neben gote, rehte glîch, noch unden noch oben" (DW I, 106,4-107,4). Die Quint-Übersetzung von „daz si im waere weder vrouwe noch man, sunder daz si glîch waere" mit „auf dass sie weder unter noch über ihm wäre" ist durch den im Mittelalter üblichen prädikativen Gebrauch von Mann und Frau für über- bzw. untergeordnet gerechtfertigt. L I, 423,423,18-20. MEISTER ECKHART: Pr. 39, DW II, 257,4f: „Er sprichet ,bî', und dar umbe ist der gerehte glîch gote, wan got ist diu gerehticheit. Und dar umbe: swer in der gerehticheit ist, der ist in gote und ist got."

314

Gott")."3

Die „Gleichheit" wird innertrinitarisch der zweiten göttlichen '4 Person, dem ewigen Wort, zugeeignet1 und bezeichnet ebenfalls die Wesensgleichheit mit dem Vater bei relational-personaler Unterschiedenheit."5 Diese Wesensgleichheit wird hier von Eckhart den Gerechten zugesprochen. Die Gerechten (immer „nur", insofern sie gerecht sind) besitzen folglich dasselbe göttliche Wesen wie der göttliche Sohn. Dies wird auch durch das folgende Zitat aus dem Johannesprolog (Joh. 1,1: „Das Wort war bei Gott") und durch Eckharts Vergleich mit der Erschaffung des Menschen deutlich. Wie Mann und Frau dieselbe (menschliche) Natur haben, so hat der Gerechte (insofern er gerecht ist) dieselbe (göttliche) Natur wie Gott. Möglicherweise deutet Eckhart mit dem Johannes-Zitat auch an, dass die Gerechten im „Wort", also in der zweiten göttlichen Person, „bei Gott" sind und sie in ihm dem Vater „ganz (wesens-)gleich" sind, dass sie also nur in der Einung mit dem Logos, nicht getrennt von ihm, die Selbigkeit des göttlichen Wesens mit dem Vater besitzen. Aus der Einung der Gerechten mit Gott im Sein folgt eine Einung im Wirken. Die Gerechten wirken die Werke Gottes und Gott die Werke der Gerechten (,,[s]ie bei Gott und Gott bei ihnen"), wie Eckhart auch in seinem Kommentar zum Buch der Weisheit schreibt: „von den Gerechten heißt es, sie seien in Gottes Hand, weil Gott durch sie und in ihnen wirkt und sie selbst durch Gott und in ihm wirken der Gerechte ist in Gottes Hand, weil er mit Gott wirkt und Gott mit ihm, wie der Leib mit der Seele so sehr ein und dasselbe Werk wirkt."116 war

bei

...

...

113

114

115

116

Meister Eckhart: In loh n°5, LW III, 7,1—4: Adhuc autem quinto sciendum quod hoc ipso, quod quid procedit ab alio, distinguitur ab illo. Et hoc est quod sequitur: verbum erat apud deum. Non ait: sub deo, nec ait: descendit a deo, sed ait: verbum erat apud deum. Li enim apud deum sonat in quandam aequalitatem." („Zudem muss man aber fünftens wissen: dadurch, dass etwas aus einem anderen hervorgeht, wird es von ihm unterschieden. Das besagt das Folgende: das Wort war bei Gott. Er sagt nicht: unter Gott, noch sagt er: es stieg von Gott herab, sondern: das Wort war bei Gott. Denn bei Gott deutet auf eine gewisse Gleichheit hin.") Meister Eckhart: BgT, DW V, 30,9-10: „Glichnisse gibet man dem sune in der gotheit" (LII, 263,30f.: „Gleichheit eignet man in der Gottheit dem Sohne zu"). Ders.: In Sap. n°57, LW II, 384,8-9: „sicut enim in divinis patri appropriatur unitas, sie filio aequalitas." (,,[W]ie nämlich Gott dem Vater die Einheit zugeeignet wird, so dem Sohn die Gleichheit.") Zum Verhältnis von Einheit und Gleichheit in der philosophischen und theologischen mittelalterlichen Traditionslinie, in der Meister Eckhart steht: s. W. Beierwaltes: Denken des Einen, 368-384. Vgl. M. Enders: „Das göttliche Wesen der Liebe", 27: „Innerhalb Gottes eignet dem Sohn vollkommene Gleichheit mit dem Vater; d.h., er ist die vollkommene Gleichheit selbst, die nicht tautologische Identität bzw. Einerleiheit, sondern Selbigkeit des Wesens bei relational-personaler Unterschiedenheit bedeutet." Meister Eckhart: In Sap.- n°26, LW II, 371,3-11: „in manu dei dieuntur esse iusti, quia deus operatur per ipsos et in ipsis et ipsi operantur per deum et in deo iustus in ...

315

Wer sind die, die in solcher Weise gleich sind? Die nichts gleich sind, die allein sind Gott gleich. Göttliches Wesen ist nichts gleich; in ihm gibt es weder Bild noch Form. Die Seelen, die in solcher Weise gleich sind, denen gibt der Vater gleich und enthält ihnen nichts vor. Was der Vater zu leisten vermag, das gibt er einer solchen Seele in gleicher Weise, fürwahr, wenn sie sich selbst nicht mehr gleicht als einem andern, und sie soll sich selbst nicht näher sein als einem andern. Ihre eigene Ehre, ihren Nutzen und was immer das Ihre ist, das soll sie nicht mehr begehren noch beachten als das eines Fremden. Was immer irgend jemandes ist, das soll ihr weder fremd noch fern sein, es sei böse oder gut. Alle Liebe dieser Welt ist gebaut auf Eigenliebe. Hättest du die gelassen, so hättest du die ganze Welt gelassen.

„Nichts gleich" sind diejenigen (Gerechten), die alles Geschaffene, einschließlich des eigenen, selbstgesetzten Wollens und Denkens, gelassen haben. Dieses Lassen meint die Vernichtung der subtilsten, noch geschöpflich verursachten Eigenbewegungen des menschlichen Willens und Intellekts, das Lassen aller Bilder und Formen, die von einem Geschöpf erzeugt und eingeprägt wären. Nur diejenigen Seelen, die in dieser Weise das eigene Wollen und das selbstbewegte diskursive Denken der Ratio aufgegeben haben, gleichen Gott, der nichts Ge-

schaffenem, Endlichem, durch eine begrenzte Form Bestimmtem gleicht und durch keine

unum

118

119

erfasst werden

kann."9

Die

anthropologi-

dei est, quia operatur cum deo et deus cum ipso, sicut corpus cum anima adeo et idem opus operantur".) Vgl. dazu auch Joh 14,12 („Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater") und Eckharts Kommentar zu dieser Stelle (Meister Eckhart: In loh. n°587-, LW III, 514,1-.) 184,36-185,12. „Wer sint die also glich sint? Die niht glich sint, die sint aleine gote glich. Götlich wesen enist niht glich, in im enist noch bilde noch forme. Die seien, die also glich sint, den gibet der vater glich und entheltet in nihtes niht vor. Swaz der vater geleisten mac, daz gibet er dirre sêle glîch, jâ ob si glîch stât ir selber niht mêr dan einem andern, und si sol ir selber niht naeher sîn dan einem andern. Ir eigen ere, ir nuz und swaz ir ist, des ensol si niht mêr begem noch ahten dan eines vremden. Swaz iemannes ist, daz sol ir weder sîn vremde noch verre, ez sí bcese oder guot. Alliu minne dirre werlt ist gebûwen ûf eigenminne. Haetest dû die gelâzen, sô hastest dû al die werlt gelazen" (DW I, 107,5-109,1). Meister Eckhart: In ¡oh. n°l 10, LW III, 94,13-14: „quotquot autem receperunt eum, nudi scilicet ab omni forma genita et impressa a creatura, dedit eis potestatem filios dei fieri" („Allen aber, die ihn aufnahmen, [nämlich] die da bloß sind von aller Form, die von einem Geschöpf erzeugt und eingeprägt wäre, gab er Macht, Gottes Söhne zu werden"). Eckhart wiederholt in seinem Werk immer wieder, dass es das Eigene Gottes sei, kein Gleiches und kein Gleichnis zu haben, um die absolute Einzigkeit des Erhabenen zu betonen: Meister Eckhart: Sermo XLIX n°509, LW IV, 424,5-6: „Dei enim proprium est non habere simile sive similitudinem." („Denn Gott ist es eigen, nicht seinesgleichen zu haben.") Ders.: In Sap. n°286, LW II, 619,7-620,2: „quia deus, et hic solus, non habet parem.... quia deus est impar, et par in ipso non est.... »primus non habet genus nee manu

117

geschöpfliche Kategorie

316

Grundlage der Möglichkeit, „nichts gleichen" zu können, liegt im rein rezeptiven „Vermögen" der menschlichen Vernunft bzw. des menschlichen Geistes, das Eckhart nach dem aristotelischen „intellectus possibilis" konzipiert. Nur denen, die nichts gleich sind, „gibt der Vater gleich und enthält ihnen nichts vor", d.h. der Vater gibt diesen gerechten Seelen sich selbst, seine ganze göttlisehe

*

che Natur ohne Abstriche. Die Gabe von seiten Gottes ist immer vollkommen, ihre vollkommene Aufnahme seitens des Menschen jedoch an die Aufgabe jeglicher Selbstreflexivität Auf ethisch-praktischer Ebene äußert sich dieses Lassen eines jeglichen geschöpflichen Selbstbezugs in der Loslösung von der Bevorzugung der eigenen, partikulären Existenz, des eigenen Ansehens, der eigenen Vorteile etc., die mit der persönlichen Zuwendung zum Nächsten, mit einer allgemeinen und qualitativ gleichen Liebe zu Freund und Feind, die niemanden ausgrenzt oder bevorzugt, Hand in Hand Eckhart bringt es auf den Punkt: „Alle Liebe dieser Welt

geknüpft.121

geht.122

quiditatem nec qualitatem nec quantitatem nec quando nec ubi nec contrarium nec diffinitionem nec demonstrationem nec simile sibi«, »et non est communicans ei quod est ab ipso«. Sie ergo non habet parem, ut dictum est primo." (,,[W]eil Gott, und er allein, nicht seinesgleichen hat. weil Gott nicht gleich ist, weil gleiches nicht in ihm ist. der erste hat keine Gattung und keine Washeit, keine Beschaffenheit und keine Größe, kein Wann und kein Wo, kein Gegenteil und keine Definition, keinen Beweis und kein ihm Ähnliches', ,und er hat nichts gemeinsam mit dem, was von ihm stammt'. Also hat er nicht seinesgleichen, wie an erster Stelle gesagt wurde.") Ders.: Pr. 76, DW III, 322,24f: „Wan denne gotes nature ist, daz er niemanne glich enist, sô ist daz von not, daz wir ...

120 121

122

...

her zuo komen, daz wir niht sin, daz wir gesast mügen werden in daz selbe wesen, daz er selbe ist." (L II, 133,12-15: „Da es denn Gottes Natur ist, dass er niemandem gleich ist, so müssen wir notgedrungen dahin kommen, dass wir nichts sind, auf dass wir in dasselbe Sein versetzt werden können, das er selbst ist.") Vgl. S. 243. Vgl. Meister Eckhart: In loh. n°640, LWIII, 557,1-4: „Iustitia enim gignens et pariens iustum se totam dat iusto et se dando dat et notificat omnia quae iustitiae sunt; quamvis enim iustus habeat magis et minus, non tarnen iustitia reeipit magis et minus, ut dicitur in Praedicamentis. Impium est enim a deo dimidiam sperare iustitiam." („Denn die Gerechtigkeit, die den Gerechten zeugt und gebiert, gibt sich ganz dem Gerechten, und indem sie sich gibt, gibt und macht sie alles bekannt, was der Gerechtigkeit eigen ist. Obgleich nämlich der Gerechte mehr oder weniger [an Gerechtigkeit] hat, nimmt die Gerechtigkeit jedoch kein Mehr oder Weniger in sich auf... Frevelhaft ist es nämlich, von Gott eine halbe Gerechtigkeit zu erhoffen.") „Zur wahren Nächstenliebe aber gehört mit dem Merkmal der Selbstlosigkeit auch das der Gleichheit und Allgemeinheit und damit einschlussweise auch die Feindesliebe. Weil nämlich Gottes vollkommene Liebe sich selbst in allem liebt und es daher ein und dasselbe ist, was er liebt... liebt er jeden und alle in exakt gleicher Weise, ist seine Liebe qualitativ unterschiedslos und universell. Der nach Gottes Sohn gebildete, ...

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Hättest du die gelassen, so hättest du die ganze Welt das Lassen der „Eigenliebe" ist der Schlüssel zur gottgeeinten Lebensform der Gerechten, wie aus dem Predigtübergang vom Lassen zum Thema der Sohnesgeburt geschlossen werden kann.124 „Alle Liebe dieser Welt ist gebaut auf Eigenliebe", eben weil sie weltliche Liebe und Liebe zu dieser Welt ist. „Eigenliebe" meint hier in einem pejorativen Sinn die verkehrte, selbstbezogene und ausgrenzende Liebe zur „Welt" als Inbegriff des Vielheitlichen, Wandelbaren und Vergänglichen im Gegensatz zur wahrhaften, erlaubten und erwünschten Liebe zu sich selbst, welche die Liebe zu allen anderen Menschen mit einschließt.

ist

gebaut auf Eigenliebe.

gelassen";123

d.h. mit den Eigenschaften des göttlichen Sohnes begnadete, gleichsam göttlich liebende Mensch liebt daher auch seine Mitmenschen, und zwar prinzipiell alle Menschen, in vollkommen gleicher, in ungeteilter Weise; seine Liebe ist als diejenige des göttlichen Geistes allgemein und qualitativ einheitlich" (M. Enders: „Das göttliche Wesen der Liebe", 36). Zur einheitlichen Qualität der Liebe Gottes vgl. Ders.: „Liebe und Leid. Zum mystischen Verständnis der Liebe bei Heinrich Seuse und Johannes Tauler", in: Die Realität des Inneren. Der Einfluß der deutschen Mystik auf die deutsche Philosophie, hg. v. Gerhard Stamer, Amsterdam 2001, 25-71, 32. Auch für den Predigtabschnitt ab: „So auch soll die gerechte Seele gleich bei Gott sein so hättest du die ganze Welt gelassen" (184,33-185,12) [107,3-109,1] musste sich Meister Eckhart in Köln rechtfertigen. Eckhart argumentiert mit der für die Gottesliebe erforderlichen Selbstverleugnung und Nächstenliebe sowie der notwendigen Gleichförmigkeit des menschlichen mit dem göttlichen Willen: Vgl. ECHARDI resp., Proc. Col. II n°93; LW V, 340,9-19 (Anklage) u. ebd. n°94, LW V, 340,20-24 (Antwort): „Constat enim quod amans deum oportet quod abneget semet ipsum, tollat quod suum est, diligat proximum sicut se ipsum, sit conformis divinae voluntati, ut omne quod deus vult et ipse velit et aequaliter hoc et illud. Nam si inaequaliter, ¡am non solum deum nee dei voluntatem nee deum in omnibus nee omnia in deo vult." („Steht doch fest, dass wer Gott liebt, sich selbst verleugnen, was sein ist, hintansetzen und den Nächsten lieben muss wie sich selbst, derart gleichförmig dem göttlichen Willen, dass er alles, was Gott will, auch selber wolle, sei es dies oder jenes, in gleicher Weise. Denn wenn er ungleich liebt, so liebt er schon nicht mehr Gott allein und den göttlichen Willen und nicht Gott in allem und alles in Gott") [RS, Üb., 121]. Vgl. M. ENDERS: Das mystische Wissen, 203: „Das ,Tor' zum Anfang des .übernatürlichen' göttlichen Lebens im Menschen ist sein ,Sich-selbst-Lassen', ist der ,Tod' seines eigenen Willens." Diese „gesunde", dem göttlichen Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten entsprechende Liebe zu sich selbst wird von Eckhart beispielsweise in Predigt 12 angesprochen: Meister Eckhart: Pr. 12, DW I, 195,1-3: „Hast dû dich selben liep, sô hast dû alle menschen liep als dich selben. Die wîle dû einen einigen menschen minner liep hast dan dich selben, dû gewünne dich selben nie liep in der wârheit, dû enhabest denne alle menschen liep als dich selben". (L I, 145,lOfi: „Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen we...

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Nachdem Eckhart gesagt hat, dass der Vater den gerechten Seelen „gleich gibt" und „in gleicher Weise",126 enthüllt er im Folgenden, wie er das tut: nämlich durch die Geburt seines Sohnes in der menschlichen Seele. Der Vater gebiert seinen Sohn in der Ewigkeit sich selbst gleich. „Das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort" [Joh. 1,1]: es war dasselbe in derselben Natur. Noch sage ich überdies: Er hat ihn geboren aus [lege: in\]m meiner Seele. Nicht allein ist sie bei ihm und er bei ihr als gleich, sondern er ist in ihr; und es gebiert der Vater seinen Sohn in der Seele in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert und nicht anders. Er muss es tun, es sei ihm lieb oder leid.

Mit den ersten beiden Sätzen hebt Eckhart nicht die persönliche Unterscheidung von Vater und Sohn hervor, sondern die Selbigkeit dessen, was sie (ihrer göttlichen Natur nach) sind. Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt einer Kette von Steigerungen, die die Sohnesgeburt in der Seele und die Sohnwerdung des Menschen beschreiben. Der Vater gebiert den Sohn nicht nur in sich, „in der Ewigkeit sich selbst gleich", sondern und darin liegt die erste Steigerung auch in der menschlichen Seele, und zwar „in derselben Weise, wie er ihn in der Ewigkeit gebiert." Die Formulierung in der Vergangenheit („Er hat ihn geboren in meiner Seele") drückt hier nicht etwas Zeitliches aus, sondern die Transzendenz dieses Geschehens, das sich im Innersten jeder menschlichen Geistseele stets vollzieht. Nach Eckhart besteht bezüglich dieser Geburt des Sohnes eine durch das göttliche Wesen selbst bedingte Notwendigkeit. Der Vater wäre nicht er selbst, wenn er sich nicht gäbe und den Sohn nicht gebären würde (seine Aussage, er müsse diesen auch in die menschliche Seele gebären, bezeichnet Eckhart, wie unten ersichtlich, als emphatische Redeweise). Offensichtlich waren bereits diese Gedanken Eckharts für seine Ankläger mehr als ungewöhnlich, denn er musste sie während des Prozesses verteidigen, und er tut dies folgendermaßen: -

-

„Man muss sagen, dass dies wahr ist. Denn weder einen andern Sohn zeugt der Vater, noch auf andere Weise in mir als in der Ewigkeit. In Gott nämlich gibt es weder .anderes' noch ,auf andere Weise', und er hat keinen anderen Sohn in der

niger wenn 126

127 128

185,3

lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft du nicht alle Menschen so lieb hast, wie dich selbst".) u.

liebgewonnen, -

185,5 (107,7 u. 107,8).

Die Übersetzung J.

Quints ist hier zu kritisieren (vgl. unten Anm. 128).

185,13-19. „Der vater gebirt sînen sun in der êwicheit im selber glich. ,Daz wort was bi gote, und got was daz wort': ez was daz selbe in der selben nature". Noch spriche

ich mêr: er hat in gebom in mîner sêle. Niht aleine ist si bi im noch er bi ir glich, sunder er ist in ir, und gebirt der vater sînen sun in der sêle in der selben wise, als er in in der êwicheit gebirt, und niht anders. Er muoz ez tuon, ez si im liep oder leit"

(DWI, 109,1-7).

319

als den einen, der ,der Erstgeborene ist unter vielen Brüdern [Rom. 8,29]', die umgewandelt sind in dieses gleiche Bild: den Sohn, der nicht in viele zerteilt ist, sondern die vielen in sich vereint, da er selber Gott und somit einer in allen ¡st, auch dem Wesen nach. Und wenn es heißt: ,Er muss es tun', so ist dies wahr, wenn auch emphatische Redeweise, um Gottes Güte und Liebe zu preisen, der ganz und gar gut ist durch sein Wesen, und dessen Güte ,ihm nicht gestattet, ohne Samen zu sein', wie Dionysius sagt, weshalb er sowohl sich selbst wie auch alles Seine hingibt, nach dem Wort: ,Mit ihm hat er uns alles gegeben' (Rom. 8) wenn wir der Aufnahme fähig sind. Offb. 3: ,Ich stehe vor der Türe und klopfe an', und ls. 30: ,Der Herr wartet, dass er sich euer erbarme.' Denn ihm ist Geben wesentlich und so recht eigen, nach dem Satze: ,Das Erste ist reich durch sich selbst'. Vgl. Matth. 23: ,Wie oft wollte ich deine Küchlein versammeln, du aber hast nicht gewollt', mit der Erklärung Augustinus zur Stelle." I29

Ewigkeit

...

-

Für Eckhart bildet die Verkündigung der Immanez der ewigen Geburt des göttlichen Sohnes in der menschlichen Seele und deren Quasi-Notwendigkeit jedoch erst die Basis dessen, was er eigentlich zu sagen hat: Der Vater gebiert seinen Sohn ohne Unterlass, und ich sage mehr noch: Er gebiert mich (als) seinen Sohn und (als) denselben Sohn. Ich sage noch mehr: Er gebiert mich nicht allein (als) seinen Sohn; er gebiert mich (als) sich und sich (als) mich und mich (als) sein Sein und (als) seine Natur. Im innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geiste, da ¡st ein Leben und ein Sein und ein Werk. Alles, was Gott wirkt, das ist Eins; darum gebiert er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied. Mein leiblicher Vater ist nicht eigentlich mein Vater, sondern nur mit einem kleinen Stückchen seiner Natur, und ich bin getrennt von ihm; er kann tot sein und ich leben. Darum ist der himmlische Vater in Wahrheit mein Vater, denn

ECHARDI resp., Proc. Col. 11 n°96-97, LW V, 340,28-341,10: „Dicendum quod veest, quia nee alium filium nee aliter générât pater in me quam in aeternitate. In deo enim nee cadit aliud nee aliter nee habet filium in aeternitate nisi unum, qui est ,primogenitus in multis fratribus', ,in eandem imaginem transformatis', qui non dividitur in multis, sed multos in se unit. Nimirum, cum ipse sit deus, qui utique unus est in omnibus, etiam per essentiam. Quod autem dicitur: »Oportet eum faceré«, verum est. Est tarnen locutio emphatica, commendans dei bonitatem et amorem, qui se toto bonus est per essentiam, quae bonitas non sinit ipsum sine germine esse, ut dicit Dionysius. Propter quod et se ipsum dat et omne quod habet, secundum illud: ,cum illo omnia nobis donavit', Rom. 8, dummodo nos simus apti reeipere, Apoc. 3: ,ego sto ad ostium et pulso', et Is. 3(0): ,exspectat dominus, ut misereatur vestri'. Ipsi enim dare est per essentiam et per se, secundum illud: »primum dives est per se«, et Matth. 23: ,quotiens volui congregare pullos tuos, et noluisti ?' secundum Augustinum super illo." [Übersetzung RS, Üb., 121-122.] Anklage: vgl. ebd. n°95, LW V, 340,25-27. Zum Gedanken, dass Gott seinen Sohn in der menschlichen Seele gebären „muss": vgl. Kommentar zu Predigt 22, S. 208, Anm. 142. Zum Gedanken, dass das Erste durch sich selbst reich ist: vgl. Liber de causis § 20 u. W. Beierwaltes: „Primum est dives per se" (vgl. S. 183). rum

320

ich bin sein Sohn und habe alles das von ihm, was ich habe, und ich bin derselbe Sohn und nicht ein anderer. Weil der Vater (nur) ein Werk wirkt, darum wirkt er mich als seinen eingeborenen Sohn ohne jeden Unterschied.130

Die nächste Steigerung „er gebiert mich (als) seinen Sohn" konnte noch im Licht der gewagtesten Aussagen der Kirchenväter verstanden werden. Cyrill von Alexandrien beispielsweise sagte vom Menschen, er sei im Sohn und durch den Sohn Sohn Gottes von Natur und aus Gnade: von Natur in Christus und in ihm allein, aus Teilhabe und aus Gnade er selbst durch Christus im Heiligen Geist.131 Mit der Aussage „Er gebiert mich (als) denselben Sohn" verlässt Eckhart jedoch den traditionellen Boden der Theologie. Erst recht mit der dritten Steigerung, welche nicht nur die Hervorbringung des Menschen als denselben göttlichen Sohn, sondern eine seinsmäßige Identifizierung des Sohnes mit GottVater und mit der göttlichen Natur durch diese Geburt behauptet (woraus nicht mit zwingender Notwendigkeit die gänzliche Verwandlung der menschlichen in seinen Sohn; er gebiert die göttliche Natur folgt). „Er gebiert mich nicht allein sein Sein und seine Natur."13 mich sich und sich mich und mich ...

...

...

130

131

132

...

...

...

185,19-34. „Der vater gebirt sînen sun âne underlâz, und ich spriche mêr: er gebirt mich sînen sun und den selben sun. Ich spriche mêr: er gebirt mich niht aleine sînen sun, mêr: er gebirt mich sich und sich mich und mich sîn wesen und sin nature. In dem innersten quelle dâ quille ich ûz in dem heiligen geiste, dâ ist ein leben und ein wesen und ein werk. Allez, waz got würket, daz ¡st ein; dar umbe gebirt er mich sînen sun âne allen underscheit. Min lîplîcher vater ist niht eigenliche min vater sunder an einem kleinen stückelin sîner nature, und ich bin gescheiden von im; er mac tôt sin und ich leben. Dar umbe ist der himelische vater waerlîche min vater, wan ich sin sun bin und allez daz von im hân, daz ich hân, und ich der selbe sun bin und niht ein ander. Wan der vater ein werk würket, dar umbe würket er mich sînen eingebornen sun âne allen underscheit" (DW I, 109,7-110,7). Cyrill von Alexandrien: ,,'iva Kai rjueic ¿>ç ¿v aùxcp xe Kai 8i' aùxôv ulol 0eoû (puaiKcûç xe Kai raxà x«Plv- 't'uaiKÛjç uèv wç ¿v aùxcp xe Kai uóvgj, ueGeKxwç ôè Kai Kaxà xápiv îjue'iç Si' aùxoû èv nveúuaxi." („Cela afin que nous aussi, en lui et par lui, nous soyons fils de Dieu par nature et par grâce. Par nature, en lui et en lui seul; par participation et par grâce, nous-mêmes par lui, dans l'Esprit.") [PG 75, 700Af; SC 97, Cyrille d'Alexandrie. Deux dialogues christologiques, intr., texte G. M. de Durant O.P., 256.] Vgl. dazu ähnlich Meister Eckhart: Pr. 83, DW III, 447,3-8: „Sol aber ich also got bekennen ane mittel, so mus vil bi ich er werden vnd er ich werden. Me sprich ich: Got mus vil bi ich werden vnd ich vil bi got, aise gar ein, das dis ,er' vnd dis ,ich' Ein ,ist' werdent vnd sint vnd in der istikeit ewiklich ein werk wirkent; wände vil nüzze sint dis ,er' vnd dis ,ich', de ist got vnd die sei. Ein einig ,hie' oder ein einig ,nv', so mochte dis ,ich' mit dem ,er' niemer gewirken noch ein gewerden." (L II, 195,12-23: „Soll ich unvermittelt erkennen, so muss ich schlechthin er und er muss ich weraber Gott den. Genauerhin sage ich: Gott muss schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, dass dieses »Er« und dieses »Ich« ein »Ist« werden und sind und in die...

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Theologisch lässt sich diese Aussage insofern rechtfertigen, als der Sohn (nach Hebr 1,3) das vollkommene Bild des Vaters ist, Vater und Sohn eins sind (vgl. Joh 17,22) und der Gerechte, insofern er gerecht ist, eins ist mit dem Sohn. Eckhart beschreibt hier die Seinsweise des mit dem Sohn Gottes mystisch geeinten Menschen, der aus Gnade (nicht von Natur aus, wie in seiner präexistenten Seinsweise) mit dem göttlichen Sein ungetrennt und unvermischt eins geworden ist. „Im innersten Quell" wird der Gerechte als solcher geboren als derselbe Sohn: „Im innersten Quell, da quelle ich aus im Heiligen Geiste, da ist ein Leben und ein Sein und ein Werk".133 „Quellen" bezeichnet die Selbstbewegung des innertrinitarischen Lebens. Der „innerste Quell" ist der Vater als hervorbrin-

gendes Prinzip.1 Eckhart rechtfertigt seine Aussage anschließend denkerisch konsequent mit dem notwendigerweise einheitlichen Wirken Gottes („Alles, was Gott wirkt, ist Eins"), denn die göttliche Natur kann sich unter Wahrung der Einheit ihres Wesens nur einmal hervorbringen. Der Gerechte hat nicht nur proportional Anteil an der göttlichen Natur Christi, sondern ist mit dieser (insofern er gerecht ist) eins. „Man darf nämlich nicht die falsche Vorstellung haben", schreibt Eckhart in 4

seinem Johanneskommentar, „als wäre durch den einen Sohn oder das eine Bild »Seinsheit« ewig ein Werk wirken; denn dieses »Er« und dieses »Ich«, das heißt Gott und die Seele, sind sehr nutzbringend < fruchtbare ein einziges Hier oder ein einziges Nun ohne Warum