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German Pages 422 Year 1999
Philosophische Schriften Band 36
Vom Rätsel des Begriffs Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 65. Geburtstag Von Paola-Ludovika Coriando
Duncker & Humblot · Berlin
Vom Rätsel des Begriffs Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Hertmann zum 65. Geburtstag
Philosophische Schriften Band 36
Vom Rätsel des Begriffs Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 65. Geburtstag
herausgegeben von Paola-Ludovika Coriando
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Vom Rätsel des Begriffs : Festschrift für Friedrich-Wilhelm v. Herrmann zum 65. Geburtstag / hrsg. von Paola-Ludovika Coriando. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Philosophische Schriften ; Bd. 36) ISBN 3-428-09387-9
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-09387-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort der Herausgeberin Die Bedeutung der hermeneutisch-phänomenologischen Schule FriedrichWilhelm v. Herrmanns für die gegenwärtige philosophische Forschung ist kaum zu hoch einzuschätzen. Seine Werke haben neue Maßstäbe für den Zugang zu den Sachen selbst gesetzt und der jüngsten deutschen und internationalen Forschung eine zukunftsträchtige Bahn des Auslegens und Fragens eröffnet. Am 8. Oktober 1999 wird Friedrich-Wilhelm v. Herrmann 65 Jahre alt. Freunde, Kollegen und Schüler aus Deutschland und dem europäischen Ausland, aus Nord- und Südamerika, aus Korea und Japan möchten ihm mit diesem Band ein Zeichen ihres Dankes übermitteln: ein Dank für sein philosophisches Werk, für seine maßgebende Tätigkeit als Haupteditor der MartinHeidegger-Gesamtausgabe, für den sachverbundenen und arbeitsfreudigen Ernst seines akademischen Stils; für die vielen Wirkungsbahnen seines Tuns und für den aufrichtigen, offenen, freundlichen Geist, der sie alle prägt und trägt. Dieser Dank schließt in sich zugleich den Wunsch, daß die Zukunft ihm noch viele lange, erfüllte und in jeder Hinsicht glückliche Jahre des Lehrens und Forschens bringen möge. Vom Rätsel des Begriffs - dieser Titel definiert nicht ein vorgegebenes Thema, sondern möchte in eine Frage hinzeigen, die für die Philosophie überhaupt und besonders für die hermeneutische Phänomenologie, ob selbst thematisch oder nicht, von tragender Bedeutung ist. Jeder erfassende Zugriff auf das zu Denkende zieht dieses in die Helle des Eingegrenzten, Festgehaltenen. Doch je geglückter und sprechender der Begriff in sich steht, desto eindringlicher spricht mit ihm das Rätsel. Rätselhaft ist nicht nur und nicht primär das, was der Begriff nicht erfassen kann, weil es jenseits der menschlichen Möglichkeiten liegt und somit unerreichbar bleibt. Das Rätsel ist der Begriff selbst. Denn er zeichnet einen Riß in die Vielfalt der Erfahrungen und trennt uns von ihnen, indem er den Anspruch erhebt, sie in ein grenzgebendes Wort zu sammeln. Das Rätsel ist das Un-begreifliche am Begriff, das jeweilige Sich-heraus-schälenmüssen des Denkbaren aus der Grenze und für die Grenze. In der größten Klarheit das Geheimnis seines Geschehens bewahrend, weiß das Denken vom Rätsel des Begriffs. In diesem Wissen gründet seine Strenge. Von dieser in das Rätsel rückverwurzelten Klarheit und Strenge des Begriffs lebt die philosophische Arbeit Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns. Aus verschiedenen Stand- und Denkorten bringen die hier erscheinenden Beiträge das Rätsel des Erfahrens und Begreifens ins Spiel. Viele Aufsätze sind dem Denken Heideggers gewidmet bzw. gehen selbständige Wege im Bezugs-
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Vorwort der Herausgeberin
feld dieses Denkens, andere setzen sich mit herausragenden Gestalten der abendländischen geistigen Überlieferung auseinander. Beides entspricht dem Sinn des Fragens und Forschens Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns, das die mitdenkende und würdigende Auseinandersetzung mit der Tradition ebenso zu seinen Aufgaben zählt wie die Arbeit an der Seinsfrage Heideggers, die in jener Auseinandersetzung erst ihre volle Wesentlichkeit und Strenge erlangt. *
Diese Festschrift ist ohne Wissen und Mitwirkung des Jubilars entstanden. Wenn dies einerseits, wie es der Herausgeberin erscheinen will, in höherem Maße dem Sinn einer Würdigung entspricht, so ließ es sich wohl andererseits nicht vermeiden, daß bei der Herstellung der Teilnehmerliste der eine oder der andere wichtige Name unter den Kollegen und Freunden aus dem In- und Ausland vergessen bzw. versehentlich nicht berücksichtigt wurde. Für diese unvermeidbare Unvollständigkeit bittet die Herausgeberin um Verständnis. Vielfältige und vielseitige Hilfe hat die Vorbereitung dieses Bandes begleitet und die Editionsarbeit wesentlich erleichtert. Herrn Dr. Hermann Heidegger, dem Nachlaßverwalter Martin Heideggers, bin ich zu großem Dank verpflichtet für seine großzügige Bereitschaft, den hier erstmals veröffentlichten Text „Zum Einblick in die Notwendigkeit der Kehre" für die Publikation freizugeben, sowie für seine Hilfe beim Übertragen und Kollationieren des Textes. Herr cand. phil. Ino Augsberg hat die im Anhang abgedruckte Bibliographie Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns sowie die Liste seiner akademischen Veranstaltungen in selbständiger und äußerst sorgfältiger Arbeit erstellt. Für seinen hilfsbereiten und sachkundigen Einsatz danke ich ihm sehr herzlich. Mit großem sachlich-technischen Können und Geschick hat Herr cand. phil. Richard Sembera, M. A., die Vereinheitlichung und Formatierung des Textes durchgeführt und die Druckvorlage hergestellt. Für diese zeitaufwendige und entscheidende Hilfe, die ein pünktliches Erscheinen dieses Bandes ermöglicht hat, sowie für seinen erheblichen Anteil an den Korrekturarbeiten danke ich ihm ebenfalls sehr herzlich. Herr Privatdozent Dr. Hans-Helmuth Gander stand mir bei der Planung der Festschrift mit manchen wichtigen Hinweisen und Ratschlägen zur Seite; Herr Professor Dr. Günter Schnitzler und Herr Privatdozent Dr. Hans-Christian Günther haben meine Arbeit mit Hinweisen und Hilfe verschiedener Art unterstützt; Frau Dr. Petra Plieger, Herr Dr. Ivo De Gennaro und Herr Dr. habil. Holger Helting waren mir bei den Korrekturarbeiten sehr behilflich. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Schließlich spreche ich dem Verleger, Herrn Professor Dr. h. c. Norbert Simon, sowie Herrn Dieter H. Kuchta, dem Leiter der Herstellungsabteilung, meinen aufrichtigen Dank aus für die aufmerksame und fördernde Betreuung während der Herausgabe dieses Bandes. Freiburg i. Br., im Frühjahr 1999
Paola-Ludovika Coriando
Inhaltsverzeichnis Martin Heidegger Zum Einblick in die Notwendigkeit der Kehre
1
I . Z u m Selbstverständnis der hermeneutischen Phänomenologie Ewald Richter Heideggers Kritik am Konzept einer Phänomenologie des Bewußtseins. Anerkennung und wachsende Distanz gegenüber dem Werk Edmund Husserls Klaus Held Heideggers Weg zu den „Sachen selbst"
7 31
Rainer Thurnher Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins als Moment der Methodik von „Sein und Zeit" 47 I I . Seinsverlassenheit, Technik und die Macht des Seins Parvis Emad Mastery of Being and Coercive Force of Machination in Heidegger's Beiträge zur Philosophie and Besinnung
73
Pascal David Die Würdigung des Wesens der Technik im Denken Martin Heideggers... 91 Su-jeong Lee Zeitkritik bei Heidegger François Vezin Après le rectorat
101 133
I I I . Wege in das Da-sein François Fédier Des Freundes Stimme
137
Jiro Watanabe Vom Sein ereignet - Im Hinblick auf den Humanismus-Brief.
145
VIII
Inhaltsverzeichnis
Holger Helting Vom Rätsel des Begriffs „Mitsein"
159
Paola-Ludovika Coriando Zu Hölderlins Wesensbestimmung des Menschen
179
Gérard Guest Die Armut der Sprache. Auf dem Weg zum „verborgenen Reichtum der Sprache" 193
IV. Dichtung, Musik und Kunst Walter Biemel Aufbau und Gliederung der Einleitung zu Hegels Ästhetik
213
Ingeborg Schüßler Kunst und Interpretation. Zur Grundlegung der Interpretation in Heideggers Kunstwerkabhandlung
229
Gerhart Baumann Novalis. Dichtung und Enzyklopädie. Unendliche Annäherungen
253
Jorge Rivera Was hören wir, wenn wir Musik hören?
263
Günter Schnitzler Kunst deutet Kunst. Mörikes „An eine Äolsharfe" in den Vertonungen von Brahms und Wolf.
273
V. Überlieferung und Zukunft Hans-Christian Günther Parmenides und die Seinsfrage
301
Ivo De Gennaro riei&oj (Parmenides 11,4 Diels-Kranz)
321
Hans-Helmuth Gander Augustins Memoria-Analyse als Frage nach der Selbsterkenntnis
333
Costantino Esposito Das Seiende und das Gute. Francisco Suârez zwischen Thomas von Aquin und Martin Heidegger
341
Bernhard Casper Transzendentale Phänomenalität und ereignetes Ereignis. Der Sprung in ein hermeneutisches Denken im Leben und Werk Franz Rosenzweigs 357 Manfred Riedel Europäischer Buddhismus. Nietzsche und Heidegger in Lenzerheide
369
Inhaltsverzeichnis
IX
Anhang Bibliographie Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns (erstellt von Ino Augsberg)
389
Lehrveranstaltungen Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns (erstellt von Ino Augsberg)
401
Lebensdaten Friedrich-Wilhelm v. Herrmanns
408
Verzeichnis der Autoren
409
Z u m Einblick in die Notwendigkeit der Kehre* Martin Heidegger Noch bedarf es des Hinweises auf einen geschichtlichen Sachverhalt, der für mich bei der Ausarbeitung von „Sein und Zeit" fast als selbstverständlich galt, der jedoch bei den Stellungnahmen zu „Sein und Zeit" kaum in den Blick genommen wird. Er sei deshalb im Hinblick auf Ihr „Problem" der Selbstinterpretation eigens hervorgehoben. Zu sehen, daß mit dem Ansatz der Seinsfrage im Dasein die Subjektivität verlassen ist, darf als ein wichtiger Schritt im Nachvollzug von „Sein und Zeit" gelten. Aber diese Einsicht bleibt eine Halbheit, solange man nicht gebührend beachtet, daß mit der Subjektivität auch die Bestimmung des Seins als Objektivität und als Gegenständlichkeit im Bewußtsein preisgegeben ist, deutlicher gesprochen: die der Niederschrift von „Sein und Zeit" voraufgehende Auseinandersetzung mit Aristoteles ließ im Voraus das Sein als Anwesenheit erfahren. Die Anwesenheit gab als solche den Wink in den noch ganz des Erfragens bedürftigen Zeitcharakter von Sein. Dieser Sachverhalt ist in der Einleitung von „Sein und Zeit", S. 25 f. 1 so entschieden ausgesprochen, daß die Rede von „Sein" durch die ganze Abhandlung hindurch im Sinne von Anwesenheit gedacht ist. Vorhandenheit und Zuhandenheit sind Weisen von Anwesenheit. Auch das Sein im „Da-sem" ist als ekstatisches ein mehrfaltiges Anwesen zu... Anwesendem. Der Entwurf von Sein, das heißt das Verstehen von Anwesenheit, macht nicht die Anwesenheit, sondern nur das Verstehen und die Eröffnung des Verstehenshorizontes zur Sache des Daseins. Im Voraus bleibt für das Dasein die Angewiesenheit auf das Anwesende, die Eingewiesenheit in das Anwesen bestimmend. Solange man freiDer hier abgedruckte Text, der davon zeugt, wie Martin Heidegger die philosophische Arbeit v. Herrmanns in der denkerischen Auseinandersetzung zu würdigen wußte, ist Teil eines Konvoluts, das den Titel trägt „Die Seinsfrage: Der Holzweg" und dessen Veröffentlichung für den Bd. 73 der Gesamtausgabe vorgesehen ist. Auf dem Deckblatt des Textes befindet sich die Anmerkung Martin Heideggers „vgl. Brief an F.-W. v. Herrmann 20. Februar 1964". In dem erwähnten Brief, der mit den Worten beginnt: „Ihre Dissertation bezeugt eine gründliche Durcharbeitung meiner Schriften und läßt die langen üblichen Mißdeutungen hinter sich..." nimmt Heidegger ausführlich Stellung zur Dissertation v. Herrmanns. - Herrn Dr. Hermann Heidegger sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt für die freundliche Genehmigung einer Erstveröffentlichung des Textes in diesem Band. 1 (Anm. d. Hrsg.: Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Einzelausgabe bei Max Niemeyer, Tübingen.)
2
Martin Heidegger
lieh noch Sein als Gegenständlichkeit des intentionalen Bewußtseins denkt, wird aus dem Seinsveständnis unversehens eine Konstitution und Setzung von Sein. „Sein ist das transcendens schlechthin " (S. 38). Dieser Satz bestimmt einen Sinn von „transzendental", der sich von demjenigen Kants und Husserls grundsätzlich unterscheidet. „Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis" (a. a. O.). Anwesenheit ist nie und in keiner Hinsicht ein Anwesendes; es ist nach dieser Hinsicht das Nichts. Aber das Denken vermochte sich der Anwesenheit als solcher nur auf dem Weg über das Seinsverständnis zu nähern, solange die Seinsfrage, wie das zur Zeit der Entstehung von „Sein und Zeit" geschichtlich gefordert war, sich aus der idealistischen Transzendentalphilosophie herausarbeiten und sich von ihr lösen mußte. Freilich war das ein verfänglicher Weg, der damals nicht so klar vor dem Blick lag wie heute nach vierzig Jahren. Zu der von Aristoteles herkommenden Grunderfahrung von Sein als Anwesenheit gehört der Blick in die 'AA^Seia als einen zum Sein selbst gehörenden Charakter („Sein und Zeit", S. 213). Die 'AA^Seia hat für mich von Anfang an einen ontologischen, keinen erkenntnistheoretischen Sinn. Deshalb durfte 'AA^S-e/a eigentlich nicht mit „Wahrheit" übersetzt werden (vgl. a. a. O., 219 unten), weil man heute diesem Namen sogleich den Sinn von ausgewiesener Richtigkeit und Gewißheit supponiert. Die spätere Rede von der „Wahrheit des Seins" ist daher irreführend. Doch was tut man nicht in der Not des hinreichenden Sagens, die heute noch so groß ist wie vor Jahrzehnten. Mit dem Einblick in das Sein als Anwesenheit ist freilich längst nicht der bestimmende Bezug des Seins zum Dasein erkannt oder gar geklärt. Statt dem unvermittelt nachzufragen, ging die Frage vielmehr auf die Ermöglichung des geworfenen Entwurfs von Anwesenheit aus dem Vorblick auf „Zeit". Das Verfängliche blieb, daß zwar die im üblichen Sinne „transzendental" gestellte Frage nach der Gegenständlichkeit der Gegenstände vermieden war, daß sie sich aber gerade in die Seinsfrage einschlich in der Form der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit (nicht der Erkenntnis des Seienden - sondern des Verstehens von Sein als Sein). Dabei stellte sich die Frage, ob die Zeit als Horizont des Entwurfs von Anwesenheit sich aus der und durch die Zeitlichkeit des Daseins bestimme, oder ob diese als Zeit umgekehrt ihre Bestimmung aus „der Zeit" qua Entwurfbereich von Anwesenheit empfange. Aus dieser beunruhigenden Frage ergab sich eine Situation des Denkens, in der dieses vor einen Sachverhalt sich gestellt sah, der dem Denken die Kehre abverlangte. Aber diese war nicht die Sache eines momentanen Aktes, der sich in einem „Kehrt marsch!" erledigt - die Kehre wurde der Anlaß für ein langwieriges Unterwegs. Mit dem jetzt Gesagten soll nicht der Eindruck erweckt werden, als hätte ich in den Jahren 1925/26 bei der Ausarbeitung von „Sein und Zeit" dies alles so übersichtlich gewußt, wie ich es jetzt darstelle. Wer sich aber in einem wesensnotwendigen Sinne unterwegs weiß, dem wandelt sich ständig die vor ihm sich öffnende Aussicht auf den zugehenden Weg ebenso wie die Aussicht auf den jeweils zurückgelegten, vollends dann,
Zum Einblick in die Notwendigkeit der Kehre
3
wenn dieses unterwegs nicht persönlich-biographisch gemeint, sondern in der Geschichtlichkeit des Daseins erfahren ist (vgl. demgegenüber Husserls „Nachwort" zu „Ideen I" 1930, S. 560, [12]) 2 . Bedenkt man, daß die Geworfenheit das Entwerfen mit- und vorbestimmt, bedenkt man, daß im Entwurf von Sein als Sein es sich um die Erschließung von Anwesenheit als Anwesenheit handelt und daß das Entwerfen kein Setzen bedeutet, dann bleibt es dabei, daß die Wendung von Sein und Zeit zu Zeit und Sein zwar nicht schon die Kehre selbst ist, aber die durch den Gang von „Sein und Zeit" erreichte Lage des Denkens, in der es sich vor die Notwendigkeit der Kehre gebracht sieht. Nachdem freilich die Kehre sichtbar geworden und nach einigen Hinsichten geklärt ist, nimmt sie sich als so selbstverständlich aus, daß man den „transzendentalen" Weg durch „Sein und Zeit" für überflüssig halten möchte. Wer so denkt, läuft Gefahr, das Denken nach der Kehre für einen spekulativen Spaziergang zu halten, bei dem man anscheinend nur noch dichtet. Indes wird die 'AA^S-s/a als solche erst das Denkwürdige. Aber die Verbindlichkeit des entsprechenden Denkens kann erst dann erörtert werden, wenn zuerst die Sache, die bindet, hinreichend gezeigt ist, wobei die „Logik" dieses Denkens als Besinnung auf die Sprache zur Aufgabe wird.
2 (Anm. d. Hrsg.: Edmund Husserl, „Nachwort zu meinen ,Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie'". In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. 11 (1930), Max Niemeyer Verlag Halle (Saale), S. 549-570. Wieder abgedruckt in: Edmund Husserl, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie." 3. Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Husserliana Bd. V. Hrsg. von Marly Biemel, Den Haag 1952.)
I. Z U M SELBSTVERSTÄNDNIS DER HERMENEUTISCHEN PHÄNOMENOLOGIE
Heideggers Kritik am Konzept einer Phänomenologie des Bewußtseins Anerkennung und wachsende Distanz gegenüber dem Werk Edmund Husserls Ewald Richter
A. Vorbemerkungen Die nachfolgenden Überlegungen befassen sich mit einer philosophischen Konstellation, die aufschlußreiche Perspektiven bietet und die nicht zuletzt einen Bezug zur Wahrheitsfrage in sich birgt. Ausgangspunkt und Grundlage der Überlegungen bilden „Entdeckungen der Phänomenologie"1, bei denen die Intentionalität in dem von Edmund Husserl formulierten Sinn die grundlegende Entdeckung ist, durch die weitere möglich wurden. Es wird einerseits erläutert werden, weshalb für Martin Heidegger diese Entdeckungen eine bis zu einem gewissen Grad überzeugende Gestalt durch Husserl erhalten haben. Hierbei wird deutlich werden, in welcher Weise Heidegger die angesprochenen Entdekkungen für ein erneutes Durchdenken aufgreift. Andererseits wird die wesentliche Kritik Heideggers an Husserl erörtert werden, die sich zentral gegen den Bewußtseinsbegriff bei Husserl richtet und sich mit Erscheinen der Arbeiten Husserls nach den „Logischen Untersuchungen" mehr und mehr verschärfte. Um eine äußerst lehrreiche Konstellation handelt es sich deshalb, weil Heideggers Kritik im direkten Zusammenhang mit seiner Neubegründung steht, und zwar zunächst mit zentralen Gedanken von „Sein und Zeit", dem großen Werk seiner „ersten Weg- und Fragebahn". Die Kritik hat darüber hinaus eine beachtenswerte Bedeutung für eine heute keineswegs überholte phänomenologisch geleitete Grundlagenbesinnung. Würde die Distanzierung Heideggers von Husserl nur als eine Aufmerksamkeit verdienende Differenz zweier großer Denker herausgestellt, dann käme dabei die besondere Bedeutung des hier zutage tretenden Problems zu kurz. Zur Diskussion und damit auf dem Spiele steht nämlich mit dem von Husserl Be1 Ein von M. Heidegger in seiner Marburger Vorlesung v. SS 1925 verwendeter Ausdruck. Vgl. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, GA 20 (Hg. Petra Jaeger), Frankfurt a. M. 1979, 3. durchgesehene Auflage 1994, S. 34. Hier wie im folgenden wird für die „Martin Heidegger Gesamtausgabe" im Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, die Sigle GA verwendet.
2 Festschrift v. Herrmann
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Ewald Richter
gonnenen und von Heidegger auf ein neues Fundament Gestellten ein Denkweg, der große Möglichkeiten beinhaltet. Diese laufen jedoch Gefahr, wieder aus der Hand gegeben zu werden, wenn mit dem Bewußtseinsbegriff traditionelle Vorstellungen aufgenommen werden, die den phänomenologischen Neuanfang und Heideggers weiteres Durchdenken desselben zunichte machen. Vom „Problem des Bewußtseins" ist zwar in letzter Zeit verstärkt die Rede. Doch selten wird dabei die Frage hinreichend differenziert gestellt, weshalb in den Werken Martin Heideggers der traditionelle Begriff des „Bewußtseins" als philosophisch ungeeignet eingeschätzt wird, während die wissenschaftliche Arbeit seines Lehrers Edmund Husserl offensichtlich der „Bewußtseinsforschung" gewidmet war. Äußerlich gesehen ist der Unterschied durchaus bekannt, doch wird er dennoch zumeist als wenig bedeutsam für unser heutiges Denken angesehen. Demgegenüber soll im folgenden deutlich gemacht werden, daß die genauere Aufklärung des Unterschiedes für das Verständnis der Seinsfrage Heideggers und darüber hinaus für unser heutiges Denken von großer Wichtigkeit ist. Der frühe Heidegger war trotz skeptischer Vorbehalte zur Überzeugung gelangt, daß sich mit der Phänomenologie E. Husserls ein in einer wichtigen Hinsicht neues Fragen anbahnte, dem zuzuwenden es sich lohnte. Für ihn selbst konnte sich dabei eine entscheidende Förderung der eigenen Arbeit ergeben. Wie sich dann die Zuwendung und die wachsende Distanz konkret vollzog, sei mit einigen vorgreifenden Formulierungen angedeutet. Das erste, was hier zu nennen ist, betrifft die Bedeutung, die Heidegger den „Logischen Untersuchungen" Husserls zuerkannte. Von dieser Wertschätzung zeugt u. a. ein Zitat aus den sechziger Jahren. Heidegger schreibt: „Auch nach Erscheinen der , Ideen zu einer reinen Phänomenologie4 hielt mich der nicht nachlassende Bann, der von den »Logischen Untersuchungen4 ausging, gefangen" 2. Im folgenden werden die Gründe zu dieser in partieller Hinsicht positiven Einschätzung im Detail deutlich werden. Was aber den weiteren Weg Husserls betrifft, erkannte Heidegger, daß Husserl trotz der Argumente zur Widerlegung des Psychologismus (im 1. Bd. der „Logischen Untersuchungen") den von ihm verwendeten Begriff des Bewußtseins „aus der Descartesschen Psychologie und der Kantischen Erkenntnistheorie einfach... übernommen" hatte3. Mit dem Erscheinen des Aufsatzes „Philosophie als strenge Wissenschaft" (in der Zeitschrift „Logos", Bd. 1, 1910/11) kam die Tendenz Husserls zum Durchbruch, das Bewußtsein im Sinne einer erkenntnistheoretischen Klärung zu bearbeiten, es als „theoretisches Feld" auszubauen und zu behalten, und das „Erkennen des Erkennens" von einem letztlich gesicherten Boden her auszuweisen4. Husserls Untersuchungen werden jetzt deutlich von diesem theoretischen Interesse geleitet. Selbst emotionale Erlebnisse werden nach Heideggers Worten mit dem theoretischen Erkennen in eine 2 M. Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 85. 3 M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, GA 17 (Hg. F.W. v. Herrmann), 1994, S. 271. 4 Ebd., S. 61 f.
Heideggers Kritik am Konzept einer Phänomenologie des Bewußtseins
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ungerechtfertigte Analogie gesetzt. Besonders seit Erscheinen der „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" (1913) ist Heidegger deutlich geworden, daß Husserl „bewußt und entschieden in die Überlieferung der neuzeitlichen Philosophie einschwenkte"5, d.h. in eine durch die Titel „Subjektivität" und „transzendental" gekennzeichnete „Bewußtseinsphilosophie". Mit einem kurzen Wort gesagt sah Heidegger, daß sich Husserl den Boden wieder entzog, auf dem er zuvor einen ersten ausbaufähigen Halt gewonnen hatte. Entscheidend ist dabei schließlich, daß Husserl die Frage nach der Möglichkeit eines unmittelbaren Zusammengehörens des Seins der intentionalen Verhaltungen (Husserl spricht bei diesen „Verhaltungen" von „Akten des Bewußtseins") mit einer entsprechenden Seinsweise des intendierten Seienden keiner Aufhellung zugeführt hat.
B. Heideggers positive Herausstellung grundlegender Einsichten Husserls In einer seiner Marburger Vorlesungen, nämlich derjenigen des Sommersemesters 1925, war Heidegger offenkundig bemüht, sich in den Partien, die heute im Bd. 20 der Gesamtausgabe als Kapitel 2 des „vorbereitenden Teils" aufgenommen sind, betont positiv auf Husserls „Logische Untersuchungen" zu beziehen. Die Vorlesung zeigt in diesem 2. Kapitel eine geradezu bewundernswerte Fähigkeit Heideggers, einerseits der eigenen Sache voll verpflichtet zu bleiben und dennoch in direkter Form auf Husserls Leistung einzugehen (die zentralen Konzepte werden im genannten Kapitel unter der Überschrift „fundamentale Entdeckungen der Phänomenologie" behandelt). Heidegger vermeidet in seiner Darstellung den Begriff des „Bewußtseinsaktes" und setzt zugleich dort besondere Akzente, wo er das von Husserl zum „Akt als intentionalem Erlebnis" Gesagte übernimmt. Bei den Akten handele es sich um „Verhaltungen des Lebens" wie z. B. „Wahrnehmung, Urteil, Liebe, Haß..." und hierbei gehe es nicht um „Tätigkeit, Vorgang oder irgendeine Kraft", sondern gemeint sei eben mit „Akt" eine intentionale Beziehung6. Die „Intentionalität" ist, wie Heidegger betont, keine „an die Erlebnisse als seelischer Zustände herangebrachte Zuordnung zu anderen Wirklichkeiten" 7 . Wenn bei unseren Verhaltungen, die nur mit Vorbehalt sog. „Erlebnissen" zugerechnet werden können, die Struktur des „Sich-richtens-auf 4 angemessen in den Blick kommen soll, dann ist grundsätzlich jede Theorie über „Psychisches, Bewußtsein, Person und dergleichen" fernzuhalten. Es macht, wie Heidegger sagt, „blind" gegen die Intentionalität, in ihr „eine Theorie der Beziehung zwischen Physischem und Psychischem" zu sehen8. So wird Wahrnehmung nicht „erst dadurch intentional, daß ein Physisches zum Psychischen in Beziehung tritt".
5 6 7 8
2*
M. Heidegger, Mein Weg in die Phänomenologie, S. 81 ff (Zitat S. 84). M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, S. 47. Ebd., S. 36. Ebd., S. 46.
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Ewald Richter
Eine Trugwahrnehmung, die sich auf kein existierendes Reales beziehen würde, wäre dann nicht intentional 9 . Indem dies berücksichtigt wird, läßt sich Husserls „Entdeckung" der Intentionalität besonders dort positiv unterstreichen, wo dieser von der „Selbstgegebenheit des Gegenstandes in der Anschauung" im strengen Sinne der „Identifizierung des Vermeinten und des Angeschauten" spricht (vgl. auch das unter F. 3 zum Evidenzbegriff bei Husserl Gesagte). Hier entlarvt sich das Scheinproblem des „Hineingelangens" eines „Äußeren" in unsere „innere Sphäre". In diesem Sinne wendet sich Heidegger kritisch gegen jene, die bei unserer vermeintlich subjektiv gefärbten Erkenntnis nach „inneren Indizien" Ausschau halten, durch die eine Anwendbarkeit auf eine „äußere Welt" als legitimiert angesehen werden könne. Heidegger spricht von einer „traditionellen mythologischen Art von Evidenz", an der man festhalten wolle, wenn man bei der Evidenz nach einem „eigentümlichen Index gewisser Erlebnisse und vor allem der Urteilserlebnisse" sucht, gleichsam als Meldung eines psychischen Datums dafür, „daß draußen dem Urteilen etwas Reales entspreche". Das Gesagte richtet sich vorwiegend gegen die „sogenannten Evidenzgefühle" im Sinne eines Heinrich Rickert 10 . Noch grundsätzlicher richtet sich Heidegger gegen eine sehr gängige Vorstellung zum Erkenntnisprozeß, und zwar im Zusammenhang mit der „kategorialen Konstitution", in der für ihn (hier freilich über Husserl schon deutlich hinausgehend) ein „Sehenlassen des Seienden in einer Gegenständlichkeit" liegt. Bei der kritisierten Vorstellung wird an einen gegebenen Stoff gedacht (an ein „Gewühl von Affektionen", wie Heidegger ironisierend hinzufügt), der durch den Geist geformt wird, damit daraus ein „Bild der Welt" entstehe11. Es kann natürlich nicht geleugnet werden, daß einige Einfuhrungssätze aus Kants „Kritik der reinen Vernunft" ( B l ) dieser bequemen Vorstellung Vorschub leisten. Allerdings muß dazu gesagt werden, daß bei Kant selbst keineswegs ein „Bild" der Welt als Produkt der Formung erstehen soll (und auch kein „Schleier", der sich über eine unerkennbare Ding-an-sich-Welt legt). Nicht zuletzt ist bei Kant auch kein „Gewühl von Affektionen" als Ausgangspunkt angesetzt. Doch dürfte schon ein lockerer Anklang an jene simplifizierenden Vorstellungen genügen, um mit guten Gründen auf die Einsichten der „Logischen Untersuchungen" zu verweisen und hier insbesondere auf den Evidenzbegriff bei Husserl. Denn auch bei modernen Modifikationen der „Abbildtheorie" wird selten das Übel an der Wurzel gesehen und entsprechend ausgeräumt.
C. Die zentrale Frage nach der Möglichkeit der „Selbstgegebenheit" Die „Selbstgegebenheit des Gegenstandes" erwies sich im Zusammenhang mit dem rechten Verständnis der Intentionalität als ein grundlegender Gedanke Husserls, der - wird zunächst von der Beschränkung auf Seiendes als „Vorhan9 10 11
Ebd., S. 40. Ebd., S. 67. Ebd., S. 97.
Heideggers Kritik am Konzept einer Phänomenologie des Bewußtseins
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denes" abgesehen - bei Heidegger auf volle Zustimmung stieß. Hinsichtlich der Möglichkeit der „Selbstgegebenheit" jedoch ergaben sich für Heidegger entscheidende Defizite bei Husserl, die besonders dadurch hervortraten, daß Husserl einen Weg einschlug, der die Einsicht in die Möglichkeit verbaut. An der jetzigen Stelle seien die Probleme und Aufgaben, die es hier zu bewältigen gilt, zunächst in Form von Fragen angesprochen. „Selbstgegeben" kann nach Husserl sowohl der Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung oder Anschauung sein als auch das „Kategoriale" als Gegenstand der „kategorialen Anschauung". In jedem Fall haben wir es einerseits mit intentionalen Verhaltungen und andererseits mit dem in den Verhaltungen Intendierten zu tun. Es klang im Vorangehenden die Frage schon an: Wie kann die Seinsweise der intentionalen Verhaltung mit der Seinsweise des in der Verhaltung intendierten Seienden zusammenkommen ? So zu fragen, heißt jetzt weiter: Wie kann mit einer Erschlossenheit des Seins der Verhaltungen (mit einem entsprechenden Seinsverständnis) auch das intendierte Seiende in einer ihm gemäßen Seinsweise verstanden sein ? Es muß eingesehen werden können, daß das an ihm selbst und für es selbst - mit v. Herrmann zu sprechen - „selbsthaft-ekstatisch" erschlossene Sein der Verhaltung rückverweist auf eine „horizontale Erschlossenheit" des Seins des intendierten Seienden, d. h. daß es die letztere in Anspruch nimmt. Husserl kann überhaupt „auf Grund seines Bewußtseinsbodens das Grundphänomen der Erschlossenheit nicht sehen"12. Wie ist dann - über Husserl hinausgehend - eine derartige Rückverweisung möglich ? Sie verweist auf eine „Offenheit" des Seins des nicht daseinsmäßigen Seienden im Sinne einer ursprünglicheren Offenheit. In der Tat geht es Heidegger um Klärung eines solchen Verhältnisses, wenn er von „ekstatischer Entrücktheit" der Seinsweise der Verhaltung spricht. Diese betrifft gerade die Entrücktheit des „besorgenden Seins des Daseins" in die grundlegendere „horizontale Erschlossenheit" der Seinsweisen des nichtdaseinsmäßigen Seienden. Doch liegt - wie wir hörten eine „Offenheit des Seins" außerhalb dessen, was eine Bewußtseinsphilosophie in den Blick bringen kann. Indem also Husserl nicht angemessen nach einer primären Seinsweise der intentionalen Verhaltung gefragt hat, konnte er auch nicht sehen, daß Seiendes „im Seinsverständnis der intentionalen Verhaltung verstanden ist aus der Erschlossenheit der Seinsweise dieses Seienden"13. Dies einzusehen besagt zugleich, die Rechtmäßigkeit der Rede von der „Selbstgegebenheit" zu verstehen. Hierauf wird im letzten Abschnitt zurückzukommen sein. Im Moment sei festgehalten: Der Vergleich zwischen Heidegger und Husserl hat sich über die partielle Einstimmigkeit hinaus an der soeben in Kürze formulierten Frage zu orientieren. Wir werden weiter ins einzelne gehend verstehen, weshalb diese Frage auf dem Boden der Bewußtseinsphilosophie nicht sinnvoll zu beantworten ist, d.h. inwiefern hier (im Unterschied zum Rückgang auf das Da-sein) nirgends ein Blick auf eine vorgängige und aufgeschlossen gehaltene „Offenheit" freigegeben ist. Heideggers Anlehnung an Husserls Formulierungen betrifft also nur das, was von der Kritik an der Bewußtseinsphilosophie im wesentlichen 12 13
F.-W. v. Herrmann (Zitat aus einem Brief an den Verf.). Ebd.
12
Ewald Richter
unberührt ist bzw. so formuliert werden kann, daß die weitere Begründung offen bleibt.
D. Heideggers Rückbesinnung auf das Denken der Griechen, insbesondere des Aristoteles Mit der wachsenden Distanz zu Husserl geht bei Heidegger der Versuch Hand in Hand, das in der Phänomenologie neu Gefundene auf ein vertieftes Verständnis des Grundzuges der griechischen Philosophie - besonders auf die Philosophie des Aristoteles - zu beziehen. Diesen Bezug galt es für die eigene Arbeit fruchtbar zu machen. In der Marburger Vorlesung „Logik, Die Frage nach der Wahrheit" (WS 25/26) charakterisiert Heidegger den Aristotelischen Logosbegriff in aufschlußreicher Weise14. Es geht ihm um die Fundiertheit einer Aussage (mit apophantischer Ais-Struktur) im verstehenden Auslegen (mit hermeneutischer AisStruktur). An elementaren Aussagen, wie etwa: „Die Tafel ist schwarz" macht er deutlich, daß die Prädikation die „Ais-Struktur" zwar hat (die Tafel wird als schwarz bestimmt), daß aber diese Struktur hier nur in abgeleiteter Weise auftritt 15 . Sie liegt den Aussagesätzen über Dinge wie Tisch, Bank, Haus, Polizist schon zugrunde. Sie liegt schon vor, wenn ich diese Dinge nur „sehe und nehme, wie sie sind". Dies wird wie folgt erläutert. Wenn ich mit jenen Dingen zu tun habe, „nehme" ich sie, wie sie sind, und dieses „Nehmen" ist ein „Nehmenais". Dabei gehe ich nicht direkt auf das „schlicht Genommene" zu, „ich habe es gleichsam im vorhinein schon umgangen"16. Und dies heißt: „Die Schlichtheit des Vernommenen schließt nicht aus eine verwickelte Struktur des Nehmens". Auch in § 32 über „Verstehen und Auslegung" (2. Absatz) von „Sein und Zeit" betont Heidegger, daß „alles vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen [...] an ihm selbst schon verstehend-auslegend" ist. Wird dies gesagt, so ist es nicht etwa unverträglich mit der zugleich vertretenen Feststellung, daß ein schlichtes Sehen einer bestimmten Farbe bezüglich des ihm Eigenen keineswegs erst auf Grund von Beziehungen oder Unterschieden zu anderen Farben oder zu Tönen zustande kommt. Es steht also die Behauptung, daß sich die Ais-Struktur bereits bei der Wahrnehmung des Zuhandenen findet, keineswegs dem in § 7B Gesagten entgegen, wo vom als-freien Sehen des je Eigenen einer Farbqualität die Rede ist 17 . Eine Behauptung der erstgenannten Art besagt: Ich sehe etwas stets „als" Tisch, „als" Tür usw., und d.h. die Annahme eines als14
M. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21 (Hg. W. Biemel), 1976, S. 143 ff. 15 Ebd., S. 145. 16 Ebd., S. 147. 17 In § 7b von „Sein und Zeit" spricht Heidegger unter Bezugnahme auf Aristoteles davon, daß beim Sehen von Farben, Hören von Tönen usw. die Wahrnehmung ,je auf ihre ifta zielt, das je genuin nur gerade durch sie und für sie zugängliche Seiende. Dabei komme kein „als etwas" ins Spiel. Es ergibt sich, daß hier das Vernehmen immer wahr ist. Ebenso ist bei Aristoteles das reine voth, das schlicht hinnehmende Vernehmen der einfachsten Seinsbestimmungen des Seienden als solchen" „nur entdeckend" und kann ebenfalls nie falsch sein. GA 21, S. 150.
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freien Wahrnehmens der Dinge liefe auf die Annahme eines „bloßen Anstarrens" hinaus. Wenn in neuerer Zeit „wahr" und „falsch" der Dingwahrnehmung häufig vom Urteil her rückinterpretiert wird, dann sieht Heidegger bei Aristoteles und allgemein in der griechischen Philosophie einen ursprünglicheren Ansatz. Um einem folgenreichen Mißverständnis vorzubeugen, sei eine kleine Zwischenbemerkung eingeschoben, bevor wieder auf das griechische Denken zurückgelenkt wird. Die geschilderten Verhältnisse werden nicht selten verkannt, weil bei flüchtiger Betrachtung oft der Eindruck entstanden ist, es besage „das als-mäßige Verhalten als Bedeuten ein irgendwie subjektives Gestalten und Auffassen eines Vorhandenen". Dies ist aber zurückzuweisen. Ich bin vielmehr in eigentümlicher Weise schon bei einem „Wozu" (wozu das Betreffende dienlich ist), wenn ich auf das Begegnende „zurückkomme" und es nehme, wie es ist. Auf diese Struktur, die einer Aussage als fundierende Struktur schon zugrunde liegt, gilt es, sich näher zu besinnen. Heidegger formuliert das, worum es wesentlich geht, im weiteren wie folgt: Das verstehende Bedeuten „lebt in der nächsten Welt und Umwelt im Ganzen. In diesem Bedeuten hat das Dasein Aufschluß über seine Welt; der Aufschluß selbst ist die Entdeckung der jeweiligen Bewandtnis"18. Das „Dasein" ist - dies sei zunächst ein wenig suggestiv formuliert - „schon draußen", nämlich dort, wo Dinge selbst „offenbar" sein können. Und wie wir noch genauer sehen werden, liegt es an Husserls Rückbiegung der Besinnung in die „Bewußtseinsphilosophie", daß Heidegger dessen Weg nicht weiter folgen konnte. Wir wollen uns klar machen, inwiefern Heidegger sich in dieser Einsicht im Durchdenken des von den Griechen Erörterten bestärkt sah. Die Griechen - sagt Heidegger - kennen „so etwas wie Bewußtsein nicht" 19 . Das, „was man roh, in mißverständlicher Weise als Seelenvermögen, Wahrnehmung, Denken, Wollen bezeichnet, sind z. B. für Aristoteles keine Erlebnisse, sondern Weisen des Daseins eines Lebenden in seiner Welt" 20 . Das „Eigentümliche" ist für Aristoteles, daß die Welt „da", d. h. aufgeschlossen ist und daß Seiendes ist in der aufgeschlossenen Welt 21 . Wenn von „Leben" die Rede ist, so liegt darin das „Möglichsein, ganz bestimmte Möglichkeiten zu haben". Und damit hängt die Definition des menschlichen Seins zusammen: „Ein solches Leben steht in der Möglichkeit des Umgangs mit den pragmata, mit der Welt als einer besorgbaren , und zwar ein solches Sein, „das sprechen kann", 22 Der Mensch hat die Welt „da" in der Weise des abhebenden Sichzugänglichmachens, d. h. in der einheitlichen Artikulation der Welt. So wird dann auch das im apophantischen Logos Bedeutete als da-seiend aufgezeigt in der da-seienden Welt 23 . Mit der Als-Struktur - aber nicht primär im Urteil - kommt die Möglichkeit der Verdeckung ins Spiel. Aristoteles betont, in welchem Umfang 18 19 20 21 22 23
GA 21, S. 150. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, S.48. Ebd., S. 293. Ebd., S. 52. Ebd., S. 22 Ebd. S. 21.
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sich der Mensch in der Täuschung bewege. Heidegger hebt dabei hervor, daß weithin in den Dingen selbst ein Anschein der Täuschung liegt, so daß die Wahrheit den Dingen erst abgerungen werden muß. Dies schließt mit ein, daß die im Reichtum der Welt auftretenden Täuschungen speziell mittels „thematisch präparierter" Gegenstände einer „wissenschaftlichen Untersuchung" zum Verschwinden gebracht werden können. Entscheidend für Heidegger ist, daß sich die Griechen von vornherein nicht mit den Schwierigkeiten eines „Hinauskommens" aus einem sog. „Bewußtseins" belasten mußten. Daß es den Begriff des Bewußtseins bei ihnen nicht gibt, heißt aber nicht, daß die Weisen des „Sich Verhaltens" wie das Wahrnehmen und das Vernehmen gar nicht selbst vernommen werden. Es bleibt bei den Griechen allein die Beantwortung der Frage offen, welcher Art das Vernehmen jener Verhaltungen sei. Wird dieses Offenbleiben der Antwort verglichen mit dem Verweis auf eine sog. „innere Wahrnehmung", dann wird kaum ein Zweifel aufkommen, daß Heidegger dem Offenbleiben der Antwort den Vorzug gibt. Generell festhalten wollen wir: Nach dem bisher Gesagten wird unabweisbar erforderlich, die Frage nach dem „Sein unserer Verhaltungen" auf eine zureichende Basis zu stellen. Um die angesprochene Grundfrage mit erweitertem Blick erneut angehen zu können, seien die nachfolgenden Betrachtungen mit einigen Bemerkungen zur Husserlschen Forschungsmaxime „Zu den Sachen selbst" und Heideggers Stellungnahme hierzu eröffnet.
E. Die Forschungsmaxime „Zu den Sachen selbst" und die „phänomenologische Methode" Die Maxime „Zu den Sachen selbst", wurde von Husserl zuerst in den „Logischen Untersuchungen" als methodische Forderung herausgestellt 24 (in den „Ideen" wird sie auch das „Prinzip aller Prinzipien" genannt). Husserl verbindet mit ihr eine Forderung, die allem vorgängig ist und die sich bei der Urteilsfällung auf eine „Schau" beruft, der die Sachen und Sachverhalte „selbst gegenwärtig" sind. Im Ausgang der Untersuchung dürfe, da jener Ausgang in einem unmittelbar Erfaßbaren liegt, von keinen „faktischen philosophischen Richtungen" Gebrauch gemacht werden. Es ist nicht schwer zu erraten, daß Heidegger dem zustimmt, daß er jedoch die geforderte Richtungsfreiheit in hohem Maße als interpretationsbedürftig ansehen mußte. F.-W. v. Herrmann hat sich der Frage näher angenommen, worin die bedingte Zustimmung Heideggers zur Husserlschen Maxime im einzelnen besteht. Er macht folgendes deutlich: Was die „Behandlungsart" (das „Wie der Behandlung") betrifft, so nimmt Heidegger Husserl beim Wort. Mehr noch, er versteht die Forderung nach Standpunkts- und Richtungsfreiheit in einem schärferen Sinn als Husserl selbst. Wenn nämlich Husserl „das ichliche Bewußtseinsleben 24 E. Husserl, Logische Untersuchungen, zweiter Band, I. Teil, 2. umgearbeitete Auflage, Halle 1913, S. 6.
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mit seinen intentional verfaßten Erlebnissen" als das „Untersuchungsfeld der phänomenologischen Philosophie thematisiert", das fortan der „ einzige " Gegenstand der phänomenologischen Philosophie sein sollte, dann war mit dieser thematischen Festlegung auf einen bestimmten Gegenstand auch die Methode zwangsläufig einer Festlegung unterworfen, der sich Heidegger keineswegs unterstellen konnte25. Wird an Heidegger die Gegenfrage gestellt, ob es einen formalen Phänomenologiebegriff (im Sinn der thematischen Unabhängigkeit) überhaupt geben könne, dann gilt es folgendes zu bedenken. Wenn der Phänomenbegriff „formal" genommen wird, dann kann dies besagen, daß zunächst offengelassen wird, ob es sich beim „Gegenstand" um irgendein Seiendes oder um das Sein handelt. Steht das Thema jedoch fest, dann wird sich dies auch auf den Logos der Untersuchung und damit insgesamt auf die „Phänomeno-logie" als Methode auswirken. In seiner „Hermeneutischen Phänomenologie des Daseins" äußert sich v. Herrmann detailliert zum „formalen Sinn des Logos" der Phänomenologie bei Husserl und Heidegger. Demnach kann gesagt werden: „deskriptiv" im „rein formalen Sinn ist die Phänomenologie Heideggers wie die Husserls". Aber, und dies macht v. Herrmann noch einmal im einzelnen deutlich, die phänomenologische Methode ist, „auch wenn sie als Methode von ihren thematischen Gegenständen unterschieden ist", von diesen nicht geschieden, sondern sie steht vielmehr „in einem Bezug zur Sachheit der zur behandelnden Sache"26. Und diese zu behandelnde Sache ist beim „vulgären Phänomenologiebegriff 4 ein aufzuweisendes Seiendes, während es beim „phänomenologischen Phänomenologiebegriff 4 Heideggers um Seinsenthüllung geht. Die Unterscheidung entspricht dem, was in „Sein und Zeit" in § 7 A zum „Phänomenbegriff' ausgeführt wurde. Insgesamt verweist Heidegger zum Phänomenologiebegriff auf die griechische Bedeutung von „Phänomen" und „Logos" und erläutert zu Beginn von § 7 C den „formalen Sinn" der Phänomenologie durch: „das was sich zeigt, so wie es sich von ihm selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen lassen". Das „Sich-an-ihm-selbst-zeigen" betrifft ersichtlich den Phänomenbegriff und damit den thematischen Gegenstand, während das „Von-ihm-selbst-her-sehen-lassen" auf den Logosbegriff verweist. Das Aufweisen des Logos wird dabei von Heidegger insofern noch näher bestimmt, als es sich um ein „direktes Aufweisen" 27 dessen handelt, was sich an der Sache selbst zeigt. Und wie es um „direkte Aufweisung" geht, so geht es auch stets um die Möglichkeit der direkten Ausweisung des an der Sache selbst Aufgewiesenen. Doch findet sich der entscheidende Hinweis zum phänomenologischen Phänomenologiebegriff in folgendem Satz: Das, was „ i m ausgezeichneten Sinn" Phänomen ist (nämlich das Sein) zeigt sich „zunächst und zumeist gerade nicht und bedarf daher einer ausdrücklichen Aufweisung. 25 F.-W. v. Herrmann, Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl, 2. Auflage, Frankfurt, a. M. 1988, S. 12 f. 26 F.-W. v. Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, Frankfurt a. M., 1987, S. 340. 27 Ebd. S. 339.
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Heidegger hebt hervor, daß es bei Husserl nicht zur Frage nach dem Sein unserer intentionalen Verhaltungen gekommen ist. Da aber Husserls Maxime „Zu den Sachen selbst!4' ihre Wirkung auf ihn trotzdem nicht verfehlte, sei zur Vororientierung ein kurzes Wort hinsichtlich des Zugangs zur Seinsfrage vorangestellt. Ist das Thema das „Sein", dann wird es einer ganz besonderen „Zugangsmethode4' bedürfen. Hier muß der Weg, der zur „Sache selbst" führt, erst gebahnt werden, dies nicht zuletzt durch „kritischen Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe und Quellen, aus denen sie geschöpft sind". Heidegger spricht in den „Grundproblemen" dort, wo sich auch der eben zitierte Satz findet, von der „phänomenologischen Reduktion". Diese ist „Rückführung des Blickes vom Seienden zum Sein" 28 . Sie ist damit zugleich Rückführung in das Ermöglichende. Sie führt den Blick zurück auf das „Seinsverständnis", das eine „natürliche Bezogenheit auf das Seiende" im Sinne Husserls erst ermöglicht. 29 Es sind jetzt in aller Kürze die wichtigsten Voraussetzungen angesprochen worden, unter denen es sinnvoll ist, bei weiteren Erörterungen zu „Intentionalität", „Evidenz" und „kategoriale Anschauung" den Doppelaspekt der einerseits positiven und andererseits kritischen Stellungnahme Heideggers zusammennehmend darzulegen.
F. Die Schwerpunkte des Husserlschen Neubeginns in der Sicht Heideggers I. Vorbereitende Hinweise Im Vorangehenden wurde in den Grundzügen bereits die Bedeutung hervorgehoben, die Husserls Begriff der Intentionalität für Heideggers Denken gewonnen hat. Wenn in diesem Abschnitt auf Intentionalität, Evidenz und „kategoriale Anschauung" näher eingegangen wird, dann geschieht dies im Sinne der Vorbereitung für den wichtigsten Anstoß, den Heidegger von Husserl mehr oder weniger indirekt - empfing: den Anstoß für die Seinsfrage. „Husserl", sagt Heidegger im „Seminar in Zähringen" (1973), „berühre oder streife" mit dem Begriff der „kategorialen Anschauung" die Frage nach dem Sein30. Dies hat folgenden Hintergrund. Mit den Ausdrücken „sinnliche Anschauung" und „kategoriale Anschauung" verbindet sich das Problem eines „zweifachen Sehens", bei dem „Sehen" jeweils etwas Verschiedenes beinhaltet. Wie Heidegger erläutert, ist das Kategoriale (als Beispiel wählt er die „Substanzialität") etwas, „was in seinem Nichterscheinen dem Erscheinenden das Erscheinen ermöglicht". In diesem Sinne kann man sogar sagen, daß das Katego28 M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24 (Hg. F.-W. v. Herrmann), Frankfurt a. M. 1975, S. 29. 29 F.-W. v. Herrmann, Wege ins Ereignis, Frankfurt a. M. 1994, S. 48. 30 M. Heidegger, Seminare, GA 15 (Hg. Gerd Ochwadt), Frankfurt a. M. 1986, S. 373.
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riale „erscheinender als das Erscheinende selbst ist". 31 Sowohl das Gegenständliche der sinnlichen Wahrnehmung als auch das Gegenständliche der kategorialen Anschauung (das Kategoriale) ist „gegeben". Wird Husserl von Heidegger ins positive Licht gerückt, dann kommt zur Sprache, daß Husserl durch das „Gegebensein" des Kategorialen etwas zur Diskussion gestellt hat, aus dem Heidegger einen Hinweis auf „Vergegenwärtigung des Seins" entnehmen konnte, das „in der Kategorie phänomenal anwesend ist" 32 . Nimmt man jedoch in Fehleinschätzung der zwei Arten des „Sehens" die Intentionalität ganz hinein in das Bewußtsein, dann kommt sie aus ihm nicht mehr hinaus - ist dann als Intentionalität nicht fundiert. Der „Bereich des Bewußtseins" kann - wie Heidegger sagt - nicht durchbrochen werden (es liege in der Grundverfassung des „Ego cogito", daß es wie die Monade bei Leibniz „keinerlei Fenster" hat 33 ). Das „Sein" in Bewußt-sew drückt eine Immanenz im Bewußtsein aus. Wenn Heidegger trotzdem die Leistung Husserls im Anfangsteil der Marburger Vorlesung vom SS 25 sehr positiv darstellt, so geschieht dies unter Zurückhaltung der genannten eigenen Vorbehalte, d.h. im Hintergrund steht die eigene Einsicht, die mit dem Bewußtseinsbegriff nicht verträglich ist. Heidegger hat diese Einsicht 1973 noch einmal wie folgt zum Ausdruck gebracht hat: „Das Sein im Da-sein muß ein ,Draußen' bewahren. Deshalb ist die Seinsweise des Daseins in ,S. u. Z.' durch die Ek-stase gekennzeichnet. Streng genommen bedeutet Da-sein daher: das Da ek-statisch sein" 34 . Heidegger vermag also Husserl nur dann positiv zu sehen, wenn statt (oder hinter) „Bewußtsein" in angemessener Weise „Da-sein" steht. Dort, wo er Husserl positiv interpretiert, sollte hieran gedacht werden, auch wenn Heidegger seine kritischen Vorbehalte - wie z. B. in Teilen der „wohlwollenden" (v. Herrmann) Marburger Vorlesung des SS 25 - nicht an jeder Stelle ausdrücklich herauskehrt. I I . Intentionalität Das rechte Verständnis der „Intentionalität" betrifft das zentrale philosophische Problem des Bezuges zu „Seiendem selbst" sowie die Möglichkeit dieses Bezuges. Mit der Einsicht in die„Selbstgegebenheit des Gegenstandes" verbindet sich eine wichtige Leistung Husserls, die Heidegger, wie mehrfach erwähnt, ausdrücklich anerkennt. Kritisch beurteilt Heidegger jedoch, daß Husserl die Frage nach dem Sein des „Bewußtseins" nicht befriedigend erörtert hat, ja im entscheidenden Sinn überhaupt unerörtert läßt. Mit zunehmender Distanz verfolgte Heidegger, daß bei Husserl in der Zeit nach den „Logischen Untersuchungen" (und z. T. Auch schon in den „Logischen Untersuchungen selbst") das theoretische Interesse und damit die „Sorge der Gewißheit" in einer Weise überwog, daß sich die Frage nach dem Sein der 31 32 33 34
Ebd., S. 377. Ebd., S. 378. Ebd., S. 383. Ebd.
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Verhaltensweisen von vornherein, ohne hinreichend explizit gestellt zu sein, einseitig orientierte und damit „verunstaltet" wurde 3 5 . Das Studium der Intentionalität fiel bei Husserl zusammen mit dem Studium der Intentionalität des Erkennens36. Andere Verhaltensweisen konnten als solche nicht mehr frei in den Blick kommen. Die Frage nach dem Sein einer primären Verhaltensweise und nach der ihm gemäßen Seinsweise des intendierten Seienden blieb damit von vornherein ungestellt. Führen wir dies noch etwas näher aus. Husserl unterschied intentionale Akte in Akte des „leeren Meinens" und „bedeutungserfüllende" Akte. Dabei wird die Intentionalität als ein auf Vermeintes gerichtetes Meinen gefaßt. Hier schleicht sich eine „bestimmte Vorzeichnung der Blickrichtung" ein, die sogar dazu geführt hat, zu behaupten, es bilde „das theoretische Meinen das Fundament" „für jeden intentionalen Zusammenhang verwickelter Art" 3 7 (in diesem Sinn wurde vom „willentlichen, liebenden, hassenden Meinen" gesprochen). Es gilt jedoch zu beachten, daß damit nicht nur die Seins weise der Verhaltungen verkannt sondern zugleich auch das „Wie des intendierten Seienden" nicht ausreichend befragt ist. Genauer besagt dies für Heidegger: Bei der Verhaltung des theoretisch vorstellenden Denkens ist das „Wie" des Seienden, seine Seinsweise, die "pure Wirklichkeit", die „Vorhandenheit". In ihr begegnet das Seiende als Ding, sein „Wassein" liegt in seiner Dinglichkeit. Die theoretische Verhaltung hat jedoch einen sekundären Charakter. Es liegt nämlich - wie in „Sein und Zeit" näher ausgeführt ist - der Seinsweise der „Vorhandenheit" schon eine fundierende Seinsweise zugrunde, die der „Zuhandenheit". In ihr begegnet das Seiende als Zeug, mit dem es je seine „Bewandtnis" („Wassein") hat. Bleibt die primäre Seinsweise ungesehen und unberücksichtigt, dann ist mit diesem Defizit unvermeidlich die Möglichkeit der Selbstgegebenheit sowohl des Zuhandenen als auch des Vorhandenen der weitergehenden Rückfrage entzogen (hierauf wird in Abschnitt G näher eingegangen werden). Somit zeigt sich nun deutlich, was eingangs vorgreifend angesprochen wurde: Durch das Einschwenken in die neuzeitliche Bewußtseinsphilosophie hat sich Husserl den Boden wieder entzogen, auf dem er ursprünglich einen ersten Halt gewonnen hatte. Denn auch für das theoretische Meinen kann die Frage nicht abgetan werden, was uns überhaupt berechtigt zu sagen, der Gegenstand könnte als zunächst „bloß" vermeinter (sog. „Leermeinen") durch Wahrnehmung oder Anschauung als „er selbst" gegeben werden (in der Wahrnehmung als „leibhaft-da" und in der bloßen Anschauung als „vergegenwärtigt").
35 In der alles umfassenden „Sorge der Gewißheit" bekundet sich nach Heidegger durchgängig das „Versäumnis der Seinsfrage". Vgl. „Einführung in die phänomenologische Forschung", S. 247 ff. 36 Ebd., S. 272. 37 Ebd.
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I I I . Evidenz und Wahrheitsbegriffe Wie dargestellt gelangte Husserl zur Einsicht, daß das Vermeinte des intentionalen Aktes des Meinens (des Leermeinens) der „Gegenstand selbst" ist. Husserl nennt konsequenterweise das Zur-Deckung-bringen des Vermeinten und Angeschauten eine „identifizierende" Erfüllung. Auch jetzt ist die Kritik Heideggers zu berücksichtigen, daß Husserl sich ganz am theoretischen Evidenzbegriff orientiert. Dies besagt, daß Husserl zwar sieht, inwiefern zu jedem „Gegenstandsgebiet entsprechend seiner Sachhaltigkeit" eine spezifische Evidenz gehört. Was er jedoch nicht sieht, ist der Unterschied zur „eigentlichen Evidenzfrage", zur Frage „nach der spezifischen Evidenz des Zugangs zu einem Sein und des Erschließens dieses Seienden" 38 . „Evidenz" im Bereich des theoretisch Gegenständlichen ist bei Husserl ein intentionaler Akt der „Identifizierung des Vermeinten und Angeschauten"39. Wird die Beurteilung speziell auf diese Einsicht bezogen, dann kann mit Heidegger gesagt werden, die „Herausarbeitung der Evidenz" sei „zum erstenmal Husserl gelungen". Mit diesem Satz hat Heidegger die Leistung Husserls ausdrücklich unter Nennung seines Namens herausgestellt. Zusätzlich könnte hier an das berühmte Beispiel aus § 44 b von „Sein und Zeit" gedacht werden 4 0 , bei dem Heidegger bei der Ausweisung einer Aussage wie „das Bild an der Wand hängt schief 4 davon spricht, daß die Ausweisung im Ausweisungsvollzug einzig auf das Seiende selbst bezogen ist 41 . Husserls Erklärung der Wahrheit, seine Formulierung der berühmten Wahrheitsbegriffe, schließt inhaltlich unmittelbar an das Vorangehende an42. Wird der Akt der Identifizierung des Vermeinten und Angeschauten als Akt der Evidenz bestimmt, so ergibt sich der erste Wahrheitsbegriff. Bei ihm wird „Wahrheit" bestimmt als das „intentionale Korrelat des Aktes der Identifizierung" (das Intentum), d. h. als das Identischsein von Vermeintem und Angeschautem. Indem die angeschaute Sache selbst erfaßt wird, wird das Identischsein erfahren. Heidegger unterstreicht hierbei, daß das Wahrsein als ein „Verhalt" zwischen Vermeintem und Angeschautem erfahren ist. Diesen Verhalt nennt er den „Wahrverhalt". Husserls zweiter Wahrheitsbegriff ergibt sich, wenn die Erklärung auf die „Aktstruktur der Evidenz selbst" (als der deckenden Identifizierung) bezogen wird. Schließlich ergibt sich ein dritter Wahrheitsbegriff, wenn „wahr" soviel wie „die Erkenntnis wahr machend" heißt, wenn also das Wahre ein originär Angeschautes ist. Ein vierter Wahrheitsbegriff, der sich auf die „Richtigkeit" der Intention (in specie) bezieht, bleibt in der Vorlesung vom SS 25 unerwähnt, vermutlich weil er hinreichend geläufig ist und sich mit ihm oftmals unangemessene Assoziationen verbinden.
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M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, S. 273. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, S. 67. 40 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 218; GA 2, S. 289 f. 41 Vgl. E. Richter, Wahrheit und Logik, in: Die Frage nach der Wahrheit (Hg. E. Richter), Frankfurt a. M. 1997, S. 133. 42 M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, S. 69 ff. 39
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Im Zusammenhang mit dem ersten Wahrheitsbegriff (Identischsein von Vermeintem und Angeschautem) diskutiert Heidegger den Fall, in dem der vermeinte Sachverhalt der Aussage mit dem Wörtchen „ist" ausgedrückt ist. Sage ich „der Stuhl ist gelb", dann kommt zweierlei zusammen. Einerseits drückt das „ist" das Gelbsein des Stuhles aus, fungiert also als Strukturmoment des Sachverhaltes. Andererseits enthält das Wörtchen „ist" eine Bekräftigung, der bisweilen durch „ist wirklich" oder „ist wahrhaft" Nachdruck verliehen wird. Dabei handelt es sich um den Bestand des „Wahrverhaltes", des Bestehens der Identität zwischen dem vermeintem Sachverhalt und angeschautem „Sachverhalt selbst". Das „ist" findet sich also einerseits als Moment des vermeinten Sachverhaltes im Satzverhalt (wie Heidegger auch sagt) und vermag andererseits dem Wahrverhalt Ausdruck zu verleihen. „Besteht" der Wahrverhalt, dann ist im Angeschauten der Sachverhalt als identisch mit dem vermeinten Sachverhalt „selbst anwesend"43. Die Satzwahrheit ist also in der Anschauungswahrheit fundiert. Mit dieser Einsicht in den Vorrang der fundierenden Anschauungswahrheit vor der Satzwahrheit geht für Heidegger seine eigene Frage nach einem fundamentaleren Zusammenhang zusammen. Es führt nicht weiter, wie Husserl es tut, das Verhältnis zwischen Gemeintem und Angeschautem auf eine Ebene mit Sachverhalten zu stellen 4 4 . Dieser Punkt kann aber nicht weiter aufgeklärt werden, ohne zuvor das Problem der „kategorialen Anschauung" zu erörtern. IV. Kategoriale Anschauung Bei der „kategorialen Anschauung" handelt es sich um eine besondere Art des „Sehens", insofern das Kategoriale ähnlich wie das Sinnliche in einer Anschauung „gegeben" ist. Hier geht es also darum zu klären, wie das kategorial Gegebene mit dem sinnlich Gegebenen als ein Gegebenes zusammenkommt. Und diese Einsicht geht Hand in Hand mit der vorgängigen Einsicht, wie wir das Gegebene in der Seinsweise der Verhaltungen derart verstehen, daß wir uns auf das Gegebene selbst beziehen können. Gehen wir von einem einfachen Beispiel aus, das Heidegger verwendet. Es werde behauptet: „dieser Stuhl ist gelb" 45 . Mit der schlichten Wahrnehmung ist nach Husserl „eine Gegenstandsganzheit gegeben" im Sinne einer „leibhaftigen Selbigkeit" des Dinges. Sofern aber Momente und Teile eines schlicht erfaßten Ganzen doch präsent sind, müssen sie auch abhebbar sein. Die Hebung des Momentes „gelb" ist nicht möglich, ohne die Hebung des Ganzen „Stuhl", der dieses Moment in sich enthält. Genauer gesagt heißt das: In der Hebung von „gelb" als seiend in Stuhl ist zugleich mit einbezogen die Hebung von „Stuhl" als eines Ganzen, das dieses Moment in sich enthält. Ja, gehoben wird primär der Sachverhalt des Gelbseins des Stuhles. Dieser wird durch die Hebung „ausdrücklich". Mache ich die Wahrnehmungsaussage „Dieser Stuhl ist gelb" und frage nach dem Ausweis dieser Aussage, dann habe ich es mit einem „Überschuß" an Intentionen zu tun. 43 44 45
M. Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 112. Ebd. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, S. 85 f.
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Bei dem Überschuß geht es um das Wörtchen „ist", das keinem „realen Prädikat" (vgl. Kant zum „ontologischen Gottesbeweis") zuordbar ist. Die Aussage „dieser Stuhl ist gelb" drückt mehr aus als durch sinnliche Wahrnehmung vorfindlich ist. Und darin liegt nun: Diejenigen Momente, für die in der sinnlichen Wahrnehmung keine Erfüllung auffindbar ist, werden diese Erfüllung nach Husserl durch „kategoriale Anschauung" finden. So allein kann der Sachverhalt in der wahren Aussage „dieser Stuhl ist gelb" „ausdrücklich zugeeignet" werden. Durch die Heraushebung des Sachverhaltes wird jedoch der Gegenstand (im Beispiel: der Stuhl) kein anderer. Er wird vielmehr „in dem, was er ist" ausdrücklich und damit „neu erschlossen". „Die Hebung der Sachverhaltsbeziehung" ist „eine Weise eigentlicher Vergegenständlichung der vorgegebenen Sache"46. Bei einer ersten groben Skizzierung der Erfüllungsproblematik wird etwas leicht übersehen, das Heidegger bei seiner Husserldarstellung im SS 25 mit guten Gründen rechtzeitig mit einbringt: Jede Dingwahrnehmung ist von vornherein von „kategorialer Anschauung" „durchsetzt", wodurch sie trotz ihrer Schlichtheit von komplexer Struktur ist 47 Im Zusammenhang mit den „Akten der Synthesis" bezieht sich Heidegger zwar unmittelbar auf Husserl, vermochte jedoch die Diskussion auf ein neues Niveau zu heben. Wenn Husserl in diesem Zusammenhang auf zwei Arten des „Gegebenseins" aufmerksam wurde, dann kommt es Heidegger darauf an, daß das Erscheinen des Kategorialen als ein ursprünglicheres Erscheinen gesehen wird. Das Erscheinen des Gegenstandes wird dadurch ermöglicht, aber gleichwohl ist - wie Heidegger besonders herausstellt - das Ursprünglichere hier nicht als ein subjektives Apriori anzusehen. Wohl sind, wie es Husserl herausgearbeitet hat, die Akte der kategorialen Anschauung in den Akten sinnlicher Wahrnehmung fundiert. Nach Heideggers Kommentar heißt das aber nichts anderes als: „jede gegenständliche Explikation ist keine frei schwebende, sondern eine solche des Vorgegebenen", sie ist Explikation der „sinnlichen Anschauung" (dies gilt ebenso für die Akte der Ideation, die anschließend an die synthetischen dargestellt werden 48, s. u.). Als in Akten der sinnlichen Wahrnehmung fundiert, bestimmen die kategorialen Akte die intendierte Gegenständlichkeit neu, sie machen sie in neuer Weise zugänglich49. Beide gegebenen Gegenständlichkeiten (die der sinnlichen Wahrnehmungsakte und die der kategorialen Akte) sind somit als „einheitliche Gegenständlichkeit" zu verstehen. Das neue „Zugänglichmachen" betrifft die Gegenständlichkeit selbst. Im Sinne Heideggers heißt dies: In den gestuften Akten gibt sich vom Gegenstand selbst her Neues, und es gibt sich so, daß der gegebene Gegenstand kein anderer wird. Er wird allein in dem erfaßt, was er selbst ist.
46
Ebd., S. 86. Husserls „Schlichtheit der Wahrnehmung" charakterisiert jeweils die Intentionalität, betrifft die Weise des Erfassens. Diese besagt, daß das Erfassen die Einheit der Wahrnehmung nicht „erst durch einen höherstufigen Akt" finden kann (vgl. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffes, S. 82). 48 Ebd., S. 94. 49 Ebd., S. 84 47
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Wenn Heidegger andeutend sagt, daß Husserl im Zusammenhang mit der „kategorialen Anschauung" die Seinsfrage schon „berührte", dann wird dies durch die von ihm selbst aufgezeigten Bezugspunkte erst eigentlich deutlich. Hierhin gehören bei den besprochenen einfachen Aussagen und ihren „synthetischen Akten" besonders die Hinweise auf deren Ais-Struktur. Wenn gesagt wird, daß jede Dingwahrnehmung von vornherein von „kategorialer Anschauung" „durchsetzt" sei, daß sie trotz ihrer Schlichtheit von komplexer Struktur sei, dann sollte daran gedacht werden, daß die Ais-Struktur der apophantischen Aussage auf die Ais-Struktur des Verstehens zurück verweist. Jedes sehende Nehmen der Dinge wie Tisch, Stuhl usw. ist genau besehen ein „Nehmen-als". Doch werden die Dinge derart gerade als das genommen, was sie sind. Weist also der von Husserl ausgehende Anstoß in seinem Kern in eine Richtung, bei der das Kategoriale nicht nur ein Ermöglichendes, sondern zugleich ein „Gesehenes" ist, dann liegt das besondere Gewicht bei den betrachteten Aussagen auf einer diesen zugrunde liegenden Synthesis, die schon die einfache Dingwahrnehmung auszeichnet. Es darf daher auch nicht überspielt werden, daß die Erfüllungsproblematik schon von vornherein mit dem Problem sog. „kategorialer Momente" verquickt ist und daß dieses Problem somit keinen bloßen Nachtrag zur Problematik der Erfüllung sinnlicher Bedeutungen betrifft. Unterscheidet man das Gegenständliche der sinnlichen Wahrnehmung vom Gegenständlichen der kategorialen Anschauung, dann werden wahrgenommene Dinge zwar durch die kategoriale Anschauung auf neue Weise zugänglich, sie werden aber wie gesagt hierdurch überhaupt erst als das erfahren, was sie von Grund auf „sind". Eine besondere Art von Akten sind bei Husserl die Akte der Ideation, in denen das Meinen des Allgemeinen, genauer der sog. „species" beschlossen ist. Das „Problem des Allgemeinen", die Lehre von den species, hat für Husserl eine ausgezeichnete Bedeutung. Husserl verbindet damit eine scharfe Kritik an „neueren Abstraktionstheorien", insbesondere an Abstraktionstheorien empiristischer Prägung. Die „ideierende Abstraktion" steht im Gegensatz zu einem Konzept, bei dem der Übergang zur Allgemeinvorstellung derart vollziehbar sein soll, daß sämtliche Einzeldinge, die vom Allgemeinbegriff repräsentiert werden, an diesem teilhaben. Husserl betont z. B. gegen Locke, daß an einem Allgemeinbegriff wie „Dreieck", sofern dieser nichts Widersprüchliches enthalten darf, nicht noch „irgendwie" sowohl das Merkmal „rechtwinklig" wie das Merkmal „schiefwinklig" teilhaben kann. Bei den Akten der Ideation ist das Meinen derart auf die species gerichtet, daß keine fundierende Gegenständlichlkeit „mitgemeint" ist. Das schließt aber nicht aus, daß bei Husserl auch bei der Ideation das Kategoriale auf einer fundierenden sinnlichen Anschauung beruht 50. Im Sinne Heideggers ist zu sagen: Wenn ich mich in meiner Umwelt bewege und sage „ich sehe Häuser", dann sehe ich nicht notwendig verschiedene unterschiedliche Häuser „ausdrücklich". Aber ich sehe auch nicht schon ohne weiteres „ausdrücklich" ein „allgemeines Wesen" oder „allgemeine Wesen". Wenn 50
Ebd., S. 94.
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ich Häuser sehe, ist dennoch ein „Als-was" stets „miterfaßt", nämlich als das, „was hier gewissermaßen das Vorgegebene aufklärt" 51 . Und schließlich ist auch der Fall denkbar, daß ich „ausdrücklich" Allgemeines meine, etwa ein Dreieck, für das ich etwas beweise, das für ein Dreieck (mit den für es unerläßlichen Eigenschaften) gilt. Für Husserl hat aus einem einsichtigen Grund die Ideation einen ganz besonderen Stellenwert, der mit seiner grundsätzlichen Tendenz der Sicherung „wissenschaftsfähiger" Aussagen zusammenhängt. Bei Bedeutungen von Aussagen, die wissenschaftsfähig sind, ja überhaupt bei ausgedrückten Bedeutungen, geht es ihm von vornherein um „identische Bedeutungen". Das Bewußtsein im Sinne des Bewußtseinsstromes kann in seiner Einmaligkeit für Husserl ersichtlich „nicht eigentlich mögliches Gebiet einer Wissenschaft" sein. Daher verfällt das transzendentale Bewußtsein alsbald „einer weiteren Reduktion , der eidetischen 52. Nunmehr wird nach Heidegger die folgenschwere Tendenz der Bewußtseinsforschung noch sichtbarer. Sie erweist sich als Tendenz der vorgängigen Reinigung von allem, was nicht Thema einer möglichen Wissenschaft werden kann. Es liegt nahe zu sagen, daß das Thema der Wissenschaftlichkeit doch ohne Frage als solches ein wichtiges Thema ist. Aber auch bei Beschränkung auf Wissenschaftsbegründung bleibt die Frage, ob eine solche Aufgabe befriedigend bearbeitet werden kann, wenn die fundierende Seinsweise des Seienden hierbei außer acht bleibt. Letztlich heißt das: gerade die Frage nach der Möglichkeit der Selbstgegebenheit des Gegenstandes der wissenschaftlichen Erkenntnis bliebe ein nicht zu behebendes Rätsel, wenn ihr einziger Boden der „fensterlose" Bereich des Bewußtseins wäre. Hier wiederum kann Heideggers Hinweis kaum überhört werden, daß im Unterschied zum Bewußtsein das Sein in Da-sein ein „Draußen" bewahrt und bewahren muß.
V. Heideggers Kritik an der Bewußtseinsphilosophie Im abschließenden Teil gilt es, diejenigen Aspekte, bei denen Heidegger sich von Husserl distanziert, d. h. dessen Rückbezug ins „Bewußtseinsleben" verwirft, noch genauer im Lichte des neuen von Heidegger eröffneten Weges zu bedenken. Nach Heidegger konnte Husserl eine befriedigende Antwort weder auf die Frage nach dem Sein der „Akte" noch auf die Frage nach dem primären Sein des Gegebenen anbieten. Somit konnte Husserl, und dies war für Heidegger der besondere Antrieb zum völlig neuen Durchdenken der Problematik, die Frage nicht beantworten, wie das Sein der Verhaltungen aus dem Sein des intendierten Seienden und dessen ursprünglicher Offenheit derart bestimmt ist, daß das intendierte Seiende aus jener ursprünglichen Offenheit heraus verstanden wird und derart als „Seiendes selbst" gegeben sein kann. 51 52
Ebd., S. 91. M. Heidegger, Einführung in die phänomenologische Forschung, S. 274.
3 Festschrift v. Herrmann
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Wie zu erwarten ist, wird Grundlegendes des Heideggerschen Seinsdenkens ins Spiel kommen. Wir wollen hier auch das Spätwerk Heideggers mit im Auge haben, eingedenk der Tatsache, daß Heidegger sich durchgehend der einen „Sache des Denkens" zugewandt hat. Wie also ist die Zusammengehörigkeit des Seins der Vorhaltungen und des Seins des intendierten Seienden näher aufzuhellen ? In seinem Werk „Wege ins Ereignis" schreibt v. Herrmann : „Die für jegliches Verhalten zu Seiendem vorgängige Erschlossenheit von Sein überhaupt nennt Heidegger terminologisch das 'Da'. Weil die Erschlossenheit von Sein nur aufgeschlossen ist mit dem und durch den Vollzug des Existierens, wird die Seinsweise der Existenz mit dem 'Da-' zusammen genannt als Da-sein" 53 . In dieser „Erschlossenheit des Da" liegt die näher aufzuhellende Zusammengehörigkeit der Seinsweise der Verhaltungen mit der Seinsweise des in ihnen intendierten Seienden letztlich beschlossen. Die Seinsweise des besorgenden Sein-bei ist, wie in Abschnitt C mit Verweis auf v. Herrmann kurz angesprochen wurde, zum einen für sich erschlossen. Zum anderen aber ist sie als solche entrückt in eine ursprünglichere Offenheit („horizontale Erschlossenheit") der Seinsweise des nichtdaseinsmäßigen Seienden, auf das wir dann in unseren Verhaltensweisen bezogen sind. Wird von der „Daseinserschlossenheit" ausgegangen, dann kann gesagt werden: In der „Daseinserschlossenheit" nimmt der „verstehende Entwurf als geworfen-entwerfend eine „Offenheit" in Anspruch, mit der das Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden erschlossen ist. Dem späteren Heidegger gemäß ist der Entwurf als solcher „ereignet" aus dem „Ereignis", derart daß die in „Sein und Zeit" bedachte „Offenheit der Zeit" auf die Offenheit als „Wahrheit des Seins" zurückzubeziehen ist. Mit den entworfenen Möglichkeiten des Existierens ist Welt aufgeschlossen und innerweltlich Seiendes schon verstanden. Jedoch ist „Welt" hier keineswegs eine Gesamtheit von Seiendem und Vorkommnissen. Welt besagt vielmehr ein „Bezugsganzes der Bedeutsamkeit". In diesem Bezugsganzen der Bedeutsamkeit ist uns Seiendes in seiner primären Seinsweise der Zuhandenheit gegeben und zwar als Seiendes mit dem es jeweils sein Bewenden hat (das „Wassein" des Seienden nennt Heidegger „Bewandtnis"). Das Sein der primären Verhaltung hat Heidegger als „besorgendes Sein-bei" (nämlich „Sein beim besorgten Seienden") bestimmt, das als solches in die „horizontale Erschlossenheit" entrückt ist 54 . Aus der ursprünglichen „horizontalen Erschlossenheit" ist mit dem Seinsverständnis der Verhaltung zugleich auch verstanden, welche Bewandtnis es jeweils mit dem Seienden als Zuhandenem hat. Das intendierte Seiende ist derart als das „Seiende selbst" gegeben. Weshalb nun werden wir bei Husserl keine Hinweise finden können, die einer befriedigenden Begründung der Möglichkeit der „Selbstgegebenheit" dienlich sein könnten? Wie v. Herrmann zeigte, ist es zur Beantwortung dieser Frage erforderlich, sich klar zu machen, daß Husserls real vorhandenes „Bewußtseinsleben" nach Heidegger aus einer verstellenden und verfälschen53 54
F.-W. v. Herrmann, Wege ins Ereignis, S. 43. Ebd., S. 49 f.
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den „ontologischen Rückstrahlung" resultiert. Diese ist der Grund dafür, daß Husserl sich hier auf Vorhandenes im weitgefaßten Sinn bezieht, deren Fundiertheit (in der Seinsweise der Zuhandenheit) er nicht im Blick hat. Um den Sachverhalt genauer durchschauen zu können und um hierbei auch Husserls „transzendentale Reduktion" mit allen Konsequenzen mit einzubeziehen, erweist es sich an dieser Stelle als erforderlich, etwas weiter auszuholen. Mit Bezug auf § 5 von „Sein und Zeit" erläutert v. Herrmann 55, inwiefern nach Heidegger zum eigensten Sein des Daseins einerseits ein gewisses vorontologisches Existenzverständnis des Daseins gehört und andererseits auch eine gewisse Ausgelegtheit (Ausdrücklichkeit des Aufgeschlossenen). Im Grundmodus der Uneigentlichkeit ist danach das Dasein vom eigensten geworfenen Entwurf insofern „abgefallen", als es an die Welt verfallen ist. Es hat demgemäß die Tendenz, sein eigenes Sein aus dem Sein des nichtdaseinsmäßigen Seienden auszulegen und daher als das Sein eines Vorhandenen zu nehmen. Hier „strahlt" das Verständnis der Welt als vorhandener auf die eigene Daseinsauslegung „zurück" (sog. „ontologische Rückstrahlung"). Die vorontologische Selbstauslegung hat damit verstellenden und verfälschenden Charakter. Sie verstellt das eigene Sein und verfälscht zugleich das vorontologische Existenzverständnis. Somit ist es, wie Heidegger formuliert, „ganz und gar nicht gesagt", daß jene Auslegung für eine ontologische Analytik als angemessener Leitfaden übernommen" werden könnte (ebd., § 5 , 2 . Absatz). Es geht also zunächst darum zu zeigen, daß nach Heidegger Husserls Seinsverständnis bei der sog. „natürlichen Einstellung" aus der „ontologischen Rückstrahlung resultiert. Hierbei skizziert v. Herrmann auch den Unterschied der „natürlichen Bewußtseinseinstellung" bei Husserl (sowohl die vorwissenschaftliche wie die wissenschaftlliche Einstellung berücksichtigend) zum absoluten Seinsboden des „transzendentalen Bewußtseins". Letzterer wird durch phänomenologische Epoche und Reduktion gewonnen. Was nun Husserl in der „natürlichen Einstellung" als das eigene Sein beschreibt, ist nach Heidegger ein real vorhandenes „Bewußtseinsleben", d. h. ein Vorhandenes im weitgefaßten Sinn. Diese Sicht Husserls aber resultiert eben im Sinne Heideggers gerade „aus der ontologischen Rückstrahlung des Weltverständnisses auf das Daseinsverständnis" 56, bei der „die eigenste Seinsart der Existenz in verstellter Weise verhüllt" ist. Hier kann sich v. Herrmann auf Heideggers Vorlesung vom SS 1925 beziehen, wo es auf S. 156 heißt: „Durch diese sogenannte natürliche Einstellung wird gerade das spezifische Sein der Akte verstellt" und das Vorurteil unterstützt, es müsse „jede Frage nach dem Sein der Akte auf diese Einstellungsart rekurrieren." Zwar behauptet Heidegger nicht, daß die natürliche Einstellung in ihrem durch die „ontologische Rückstrahlung" verfälschenden Charakter das eigene Dasein ohne Unterschied wie anderes Vorhandenes erscheinen läßt, wohl aber ist in seinem Sinn zu sagen, daß die Seinsart der Vorhandenheit die eigenste Seinsart überlagert und somit das unmittelbare Existenzverständnis keinen angemessenen Eingang in die vorontologische Selbstauslegung findet. Ontologisch „nahe" bin ich mir nur, wenn ich die 55 56
*
F.-W. v. Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, S. 158 ff. Ebd., S. 171
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Selbstverdeckung durchschaue und die nächste vorontologische Seinsauslegung meiner selbst nicht zum Leitfaden für eine ontologische Daseinsanalytik nehme. Endgültig hat sich Husserl dann vom unmittelbaren Existenzverständnis abgeschnitten, wenn er mit der transzendentalen Reduktion" auch noch die Vorhandenheitssetzung des Ich als eines je individuellen Ich in Frage stellt. Bei der natürlichen Einstellung hätte die alltägliche Seinsart als solche noch wieder in den Blick kommen können, wenn nämlich die durch die ontologische Rückstrahlung bedingte Selbstverdeckung (durch die eigene Auslegung) als solche entlarvt würde. Wenn Husserl aber „durch die phänomenologische Epoche und Reduktion" die „universelle Vorhandenheitssetzung der Welt und des auf dem Boden der Welt seienden Ich außer Geltung setzt", dann hat er sich damit der Möglichkeit beraubt, im Sinne Heideggers nach dem Sein der intentionalen Verhaltungen zu fragen 57. Auch Heidegger spricht, wie gegen Ende des Abschnittes E kurz erwähnt, im Sinne seiner „phänomenologischen Zugangsmethode" von einer „Reduktion". Im Vergleich zu Husserl faßt er diesen Terminus aber völlig neu. Bei der Zugangsmethode, die von der Behandlungsart zu unterscheiden ist, heißt „Reduktion" Rückführung vom „naiv erfaßten Seienden zum Sein". In der „Einleitung" zu den „Grundproblemen" wird dies näher erläutert. 58 Für sich gesehen hätte die Reduktion nur den negativen Charakter der Wegwendung des Blickes vom Seienden. Mit ihr vollzieht sich aber zugleich „ein kritischer Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind" (sog Destruktion) 59. Unmittelbar dazu gehört im positiven Sinn die seinsenthüllende „Konstruktion" in einem besonderen ontologischen Entwurf. Reduktive Konstruktion kann somit als Rückführung auf das Ermöglichende angesehen werden. Sie führt auf die Seinserschlossenheit des Daseins zurück, in der die Zusammengehörigkeit des Seins der primären Verhaltungen (des besorgenden Seins bei besorgtem Seienden) und der Seinsweise des Seienden (der Zuhandenheit) ihren Ort findet. In sekundärer Hinsicht geht es Heidegger dann auch um diejenigen Verhaltungen, in denen ein vorgestellter Gegenstand vermeint ist, wobei sich - dies kann mit Worten Husserls gesagt werden - die Meinung in einer entsprechenden sinnlichen Wahrnehmung durch das „leibhaft-da" des „Gegenstandes selbst" auszuweisen vermag oder dieser Gegenstand in der Anschauung „vergegenwärtigt" werden kann. Hier geht es wie gesagt um die Seinsweise der Vorhandenheit, speziell in der Naturwissenschaft um das Objekt in seiner Gegen-ständigkeit. Wird, wie es bei Husserl der Fall ist, das Sein der Verhaltungen ins vorgestellte Bewußtsein verlegt, dann bleibt die vertiefende Rückfrage in die Möglichkeit der Selbstgegebenheit des Seienden ungestellt. Das „Bewußtsein" hat letztlich den Charakter einer Eigensphäre mit bekannten Schwierigkeiten, die Husserls neuer Ansatz ursprünglich zu überwinden versprach. 57
Ebd., S 170 ff. M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S. 29 ff. Vgl. hierzu die Erläuterungen von F.-W. v. Herrmann, in: Heideggers Philosophie der Kunst, Frankf. a. M. 1980, 2. überarbeitete und erweiterte Aufl. 1994, S. 79 f. 59 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, S, 31. 58
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Die Phänomenologie Heideggers konnte dagegen der geschilderten Selbsteinsperrung entgehen und so gelang es ihr, den Dualismus von Bewußtsein und vorgestellter Welt grundlegend zu überwinden. Die „Enthüllung" der existenzialen Strukturen unseres Seins geht, wie wir sahen, bei Heidegger von unserer „alltäglichen Seinsart" als solcher aus. Sie beginnt damit, die durchschnittliche Alltäglichkeit in den Blick zu nehmen, und es geht ihr im weiteren um die Enthüllung der Existenzialien und ihrer Modifikationen. Der von Heidegger neu gefaßte Begriff der phänomenologischen Methode, das „direkte Aufweisen und Ausweisen", besagt nichts anderes als rechtverstandene „Deskription". „Der Logos der phänomologischen Methode", verfährt auslegend60. Richten wir zum Abschluß unser Augenmerk noch einmal auf einen übergeordneten Zusammenhang und ziehen hieraus die Konsequenzen. Zunächst läßt sich sagen: Die Fundierung im „Sein-bei" ist Fundierung in einem Existenzial, das mit anderen Existenzialien (Geworfenheit, Entwurf) zusammen die „Sorgestruktur des Da-seins" ausmacht. Der existenziale Charakter der Sorgestruktur wird von Heidegger auf die Zeitlichkeit des Daseins zurückführt. Eine genauere Einlassung würde zeigen, daß die Zeitlichkeit des Daseins die genannte ursprüngliche Offenheit schon in Anspruch nimmt 61 . Anders gesagt: Die ekstatische Erschlossenheit des Seins der Verhaltungen ist nach Heidegger in die horizontale Erschlossenheit (Offenheit) des Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden entrückt. Die Erschlossenheit des „Da", in der beides begründet ist, liegt der Intentionalität als das Ursprünglichere zugrunde, und dies ersichtlich so, daß sich damit die Rechtmäßigkeit der Rede von der „Selbstgegebenheit" des Seienden unmittelbar ergibt. Im Unterschied zur Bewußtseinsphilosophie Husserls konnte Heidegger verständlich machen, inwiefern Dasein von vornherein mit der Welt vertraut und demgemäß auch bei schon „entdecktem" Seienden ist. Freilich wurde in „Sein und Zeit" die „Explikation der Zeit als des transzendentalen Horizontes" nur angekündigt, aber noch nicht ausgeführt. Die Verfolgung dieser Frage führte erst in den Schriften nach „Sein und Zeit" zu einem genaueren Einblick in die mit der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins gezeitigten „horizontalen Zeit" als des äußersten Horizontes von „Sein überhaupt". Gemäß einer späteren Formulierung Heideggers ist die Frage nach dem „Sinn von Sein", d. h. dem Offenen, darin ein Verstehen von Sein überhaupt sich enthüllt, die Frage nach der „Wahrheit des Seins"62. Die „Wahrheit des Seins" als „Offenheit des Seins", darin wir als „offenstehend" einbezogen sind, ist nun weiterhin zentrales Thema Heideggers. Heidegger ist wie kaum ein anderer bestrebt, die dualistische Konfusion der Bewußtseinsphilosophie zu überwinden. Es sei schwer einzusehen, so lautet vielleicht ein naheliegender Einwand, inwiefern die Rede vom „Bewußtsein des Menschen" einer so harten Kritik aus60
F.-W. v. Herrmann, Hermeneutische Phänomenologie des Daseins, S. 368. Vgl. E. Richter, Ursprüngliche und Physikalische Zeit, Berlin, 1996 (insbes. Einleitung, S. 12 ff). 62 Ebd., S. 14. 61
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gesetzt werde. Gewiß gäbe es Probleme bezüglich des Unterschiedes von Bewußtseinsvorgängen und Dingen bzw. Vorgängen außerhalb des Bewußtseins. Doch hier sei gerade umgekehrt Heidegger der Vorwurf zu machen, das nicht einfache „Problem des Bewußtseins" überspielt zu haben. Wenn jedoch zugegebenermaßen das „Problem des Bewußtseins" vor großen Schwierigkeiten steht, ist dann nicht die Vorfrage um so dringlicher, wie es zugeht, daß hier überhaupt ein „hartes Problem" entstanden ist ? Die heutige Physik ist z. Zt. - abgesehen von offenen Fragen zur Einheitstheorie - „im großen und ganzen" mit sich im reinen. Viele Physiker sehen im Bewußtsein eine „emergente Eigenschaft" (auf hoher Ordnungsstufe). David Layzer, der diese Sicht präferiert, schreibt diesbezüglich: „Wenn meine Vermutung, daß dieses Bewußtsein mit gewissen Formen konstruktiver Aktivität im Gehirn einhergeht, sich als richtig herausstellen sollte, würden wir im Prinzip in der Lage sein vorherzusagen, wann eine Person eine bewußte Erfahrung macht". Doch haben wir, wie Layzer kurz darauf hinzu fügt, „keine Aussicht darauf zu verstehen, warum Bewußtsein eine bestimmte Art von Hirnaktivität begleiten sollte" 63 . Hier wird das sog. Erleben (einige sprechen diesbezüglich vom „Innenaspekt") dem üblichen Verständnis der Physik entzogen. Die Vorgänge würden physikalisch ebenso korrekt ablaufen, wenn sie nicht von Bewußtsein begleitet wären. Insofern wird nicht erwartet, daß diese Frage als Warum-Frage der Physik beantwortbar ist (es läßt sich nur feststellen, daß jene Vorgänge von Bewußtsein begleitet sind, nicht aber erklären, warum dies so ist). Hier wird offenkundig, daß eine Vorfrage sinnvoll ist, nämlich die Frage, wo im Sinne der Grundbegriffe des „Entwurfes der mathematischen Naturwissenschaft" (Heidegger) von letzterer eine Antwort zu erwarten ist und wo nicht. Daß die Hinzunahme eines „Innenaspektes" zu gewissen objektiven Vorgängen sich auf keine physikimmanenten Gründe berufen kann, bestärkt das Argument, hier handele es sich um eine Metabasis, um einen illegitimen Sprung von einem Gebiet in ein anderes. Um ihn zu vermeiden, gilt für viele die stillschweigende Übereinkunft, über Bewußtseinsvorgänge nur „wissenschaftlich vertretbare" Aussagen zu machen, und als solche gelten dann bei näherem Hinsehen ausschließlich Argumente, die Physikimmanentes vorbringen. Anders gesagt: Die Rede vom „Innenaspekt" ist „suspekt" geworden, weil es in der Tat nicht gelingt, überzeugend zu sagen, wie sich dieses „Faktum, für das keine Gründe gefunden werden", zur Physik verhält. Von der Philosophie wird keine Hilfe erwartet, weil sie hinreichend gezeigt habe, daß sie nicht imstande ist, die Beziehung zwischen Physischem und Psychischem aufzuklären. Kann Heideggers Kritik an der „Bewußtseinsphilosophie" in dieser Situation helfen ? Wer den vorangehenden Ausführungen gefolgt ist, wird bemerkt haben, daß Heidegger versucht hat, die Fragestellung des sog. „Bezuges zwischen Physi63 David Layzer, Vom Urknall zum menschlichen Bewußtsein, Oxford 1990, dt. Frankfurt/Leipzig 1995, S. 417.
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schem und Psychischem" von „mythologischen Vorstellungen" zu befreien. Der Dualismus ist in der Tat verfehlt, und dies aufzuzeigen gehört zur Fragestellung der Philosophie. Wer die an den Begriff der Intentionalität angeknüpften Überlegungen annimmt, wird mit Heidegger sehen, daß die eigentliche Frage nicht diejenige ist, wie eine Außenwelt (außerhalb des Bewußtseins) „bewiesen" werden kann, sondern wie es dazu gekommen ist, daß überhaupt nach einem Beweis gefragt wird 64 . Auch die Physik ist - wenn auch in einer ihrer Maßgabe entsprechenden Weise - immer schon bei ihren „Gegenständen selbst". Was sie „von den Gegenständen her" sagt, legt sie nicht etwa in diese hinein. Was sie jedoch vom „System Mensch" sagt, betrifft nicht das „Da-sein" des Menschen, nicht seine „Offenständigkeit" in der „Offenheit des Seins". Der letztgenannten verdankt der Mensch aber umgekehrt die Möglichkeit, Physik unter der Maßgabe des objektivierenden Vorgehens zu betreiben. Wir können festhalten: Das sog. „Bewußtsein" (dieser Terminus so genommen, wie er traditionell erwachsen und bis heute gebräuchlich ist) stellt einen geschlossenen Bereich dar, dem das mehrfach erwähnte „Draußen-sein" ermangelt. Hier läßt sich nicht - wie es Heidegger vom Sein unserer Veranstaltungen zeigen konnte - auf eine Erschlossenheit verweisen, die als solche hinaussteht in die Erschlossenheit des Seins des nichtdaseinsmäßigen Seienden65. Mit Recht kann somit von einem subjektiven Bewußtseinsbegriff und von subjektivistischen Theorien, die auf diesen Begriff bezogen sind, gesprochen werden. Gegen derartige Theorien richtet sich Heideggers „Frage nach dem Sein" in seiner frühen wie in seiner späten Zeit. Wenn Heidegger mit dem Satz zitiert wurde „streng genommen bedeutet Dasein daher: das Da ek-statisch sein", so weist dies auf den zentralen Punkt, auf das Entrücktsein in die „Erschlossenheit von Sein überhaupt", die „für jegliches Verhalten zu Seiendem vorgängig" ist 66 .
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M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 206; GA 2, S. 273. Wer sog. „Vorgänge im Bewußtsein" angeben soll, wird vielleicht sagen: „Ich denke an meine Wohnung, zu der ich jetzt zurückkehre", oder „Ich denke daran, welches besondere Vorkommnis der morgige Tag bringen wird". Das sog. „Bewußtsein", so könnte weiter erläutert werden, stellt meine „Wohnung" vor, in der ich mich nicht befinde, bzw. es stellt ein möglicherweise eintretendes besonderes Ereignis vor, das noch in der Zukunft liegt. Im ersten Fall würde Heidegger bei der angegebenen Erläuterung die Gegenfrage stellen, ob ich nicht auch in einem keineswegs nebulösen Sinn auf meinem Heimweg schon in meiner Wohnung als „dieser selbst" bin (nämlich: doch keineswegs in einer bloß vorgestellten), obwohl mein Leib nicht dort ist. Im zweiten Fall würde er entgegenhalten, daß ich das „Zukünftige" nur auf mich zukommen lassen kann, weil ich als Da-sein in das Kommen (das Auf-mich-zukommen des Kommenden) entrückt bin. Und wie steht es überhaupt mit dem sog. „Hinauskommen" zu Dingen und Vorkommnissen der „Außenwelt"? Ist es begründungsbedürftig? Heidegger antwortet an der Stelle, auf die soeben kurz verwiesen wurde, mit einem Satz, der jetzt in vollem Umfang angegeben sei: „Zu beweisen ist nicht, daß und wie die ,Außenwelt' vorhanden ist, sondern aufzuweisen ist, warum das Dasein als In-der-Welt-sein die Tendenz hat, die ,Außenwelt' zunächst ,erkenntnistheoretisch' in Nichtigkeit zu begraben, um sie dann erst zu beweisen". 66 Vgl. F.-W. v. Herrmann, Wege ins Ereignis, S. 43. 65
Heideggers Weg zu den „Sachen selbst" Klaus Held Die Analysen in „Sein und Zeit", dem Werk, mit dem Martin Heidegger zu einem der maßgebenden Philosophen des 20. Jahrhunderts wurde, beruhten erklärtermaßen auf der von Edmund Husserl begründeten - wenngleich existenzial-ontologisch transformierten - phänomenologischen Methode. In seiner Entwicklung nach „Sein und Zeit" hat Heidegger den Begriff der Phänomenologie immer weniger gebraucht, und doch konnte er im Jahre 1962 in einem Seminar sagen, mit seinem Denken habe er „die eigentliche Phänomenologie bewahrt" 1. Husserl hatte die Aufgabe der Phänomenologie mit der Aufforderung formuliert: „Zu den Sachen selbst". Der Verfasser der vorliegenden Ausführungen teilt mit Friedrich Wilhelm von Herrmann die Auffassung, daß die innere Verbindung mit der Phänomenologie in Heideggers Denken nie abgerissen ist. Die folgenden Überlegungen sollen im Umriß zeigen, daß Heidegger nicht nur in „Sein und Zeit", sondern auch später noch versucht hat, Husserls Maxime „zu den Sachen selbst" so radikal wie möglich zu befolgen. Was sind die „Sachen", von denen in dieser Maxime die Rede ist? Dem Menschen der Neuzeit ist es zur völligen Selbstverständlichkeit geworden, alle „Sachen", mit denen er zu tun hat, als „Gegenstände" zu bezeichnen. Die Präposition „gegen" in dem Begriff „Gegenstand" besagt ebenso wie das lateinische „ob" in dem entsprechenden Fremdwort „Objekt", daß die Gegenstände sich irgendwie uns „gegenüber" befinden oder daß ihr Sein „gegen" uns Menschen gerichtet ist. Das kann nur bedeuten, daß die Gegenstände uns als etwas begegnen, das von unseren Vorstellungen über sie unabhängig ist. Um pointiert zum Ausdruck zu bringen, daß die Dinge ein gegenüber unserem Bewußtsein selbständiges Sein besitzen, das über die Bezogenheit auf unser Vorstellen hinausreicht, benutzt die Philosophie seit alters den Ausdruck „an sich", der bei dieser Verwendung den Gegenbegriff zu „für uns" oder „für mich" bildet. Es ist unsere selbstverständlichste Überzeugung, daß die Gegenstände „an sich" existieren, d. h. daß ihr Sein zunächst unabhängig davon stattfindet, ob wir Menschen damit zu tun haben oder nicht. Wir vertrauen darauf, daß die 1 Im Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein", in: Zur Sache des Denkens, S. 48. Auch im programmatischen Humanismusbrief von 1946 hatte Heidegger noch gesagt, daß er seine bahnbrechenden Einsichten der „wesentlichen Hilfe des phänomenologischen Sehens" verdankte. Vgl. „Brief über den ,Humanismus'", im folgenden zitiert (mit der Abkürzung „Humanismusbrief') nach dem letzten Wiederabdruck in: M. Heidegger: Wegmarken (Gesamtausgabe Bd. 9), S. 357.
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„Sachen" oder die „Dinge" erst nachträglich in den Umkreis der Bezogenheit auf uns Menschen geraten, nämlich dann, wenn wir sie zu Gegenständen unseres Erkennens und Handelns gemacht haben. Für dieses vollkommen selbstverständliche Vertrauen hat Husserl 1913 die Bezeichnung „natürliche Einstellung" eingeführt. Wie jeder weiß, kann uns die Überzeugung, ein bestimmtes Ding existiere „an sich", täuschen. Deshalb ist die natürliche Einstellung zwar einerseits die Grundlage unseres ganzen Verhaltens, aber andererseits auch die erste Quelle unserer Vorurteile. Husserl wollte mit der phänomenologischen Methode den Geist der Vorurteilslosigkeit erneuern, aus dem die Wissenschaft bei den Griechen geboren wurde. Die Philosophie würde nicht mehr nach Vorurteilslosigkeit streben, wenn sie die Grundüberzeugung der natürlichen Einstellung vom Ansichsein der Sachen oder Dinge ohne weitere Prüfung akzeptierte. Andererseits darf ein redliches Denken nicht so tun, als gäbe es diese Grundüberzeugung nicht. Die Aufgabe einer kritischen Philosophie kann deshalb nur darin bestehen, zu erklären, wie die natürliche Einstellung zu dieser Überzeugung gelangt. Die Maxime „zu den Sachen selbst" zielt mit dem Wort „selbst" auf das „Ansich" der Dinge und enthält die Aufforderung, konkret die Frage zu beantworten: Wie kommt es, daß die Dinge dem Menschen so erscheinen, daß sie ihm als ansichseiend begegnen? Genau das ist die ursprüngliche Frage von Husserls „Phänomenologie". Das „Erscheinen", um das es der „phänomeno-logischen" Philosophie geht, ist das Sich-Zeigen von Ansichsein in der Begegnung des Menschen mit der Welt und den Dingen. Das Ansichsein der Dinge scheint auf den ersten Blick darin zu bestehen, daß sie als Gegenstände von der Instanz unabhängig sind, denen ihr Sein „gegenüber" liegt oder „gegen" die ihr Sein gerichtet ist. Diese Instanz ist der Mensch als „Subjekt". Das Subjekt hat, wie wir sagen, Vorstellungen von den Dingen, und grundlegend für das Vorstellen ist in der natürlichen Einstellung die Überzeugung, daß die Objekte vom Vorstellen des Subjekts unabhängig sind. Man kann die Maxime „zu den Sachen selbst" als die Aufforderung verstehen, dieser Unabhängigkeit gerecht zu werden. Aber die Befolgung dieser Aufforderung stößt auf eine fundamentale Schwierigkeit, weil die Verneinung der Bezogenheit der Dinge auf das Subjekt wie jede Verneinung von dem abhängig bleibt, was sie verneint. Deshalb kann der Gebrauch des Begriffs „an sich", solange er nur den negativen Sinn hat, als Gegenteil des Ausdrucks „für uns" zu fungieren, die Unabhängigkeit des Seins der Dinge vom Vorstellen nicht sicherstellen. Das kann er erst dann, wenn damit so etwas wie ein „Insichruhen" der Dinge gemeint ist, das nicht von daher verstanden wird, daß sie dem Subjekt gegenüberstehen. Solange das Ansichsein nicht im Sinne eines solchen Insichruhens verstanden wird, muß die Philosophie vom vorstellenden Subjekt ausgehen. Ihr bleibt dann im Grunde nur ein Weg, das Ansichsein der Dinge zu erklären: Sie muß annehmen, daß das Subjekt sich alles, womit es zu tun hat, auf solche Weise gegenüber- oder entgegenstellt, daß es ihm als etwas „an sich" Bestehendes erscheint. Formelhaft gesprochen: das Ansichsein der Dinge kommt durch das Vorstellen des Subjekts zustande. Der Neukantianismus hatte dies so ausge-
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drückt, daß das Subjekt das Sein der Gegenstände „konstituiert": Der Philosoph durchschaut, daß das Sein der Dinge sich eigentlich der Konstitutionsleistung des Menschen verdankt, aber in der natürlichen Einstellung ist dem Menschen diese seine eigene Leistung nicht bewußt. Die natürliche Einstellung ist nach dieser Auffassung diejenige Verfassung des Menschen, in der er nicht erkennt, was er selbst ist, nämlich konstituierendes Subjekt. Husserl hat diese subjektivistische Auffassung 2 vom Verhältnis des Menschen zu den Dingen seit 1913 übernommen, indem er der Phänomenologie in seinem programmatischen Hauptwerk „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie" die Aufgabe zuwies, die „Konstitution" der Gegenstände zu erklären. Aber damit bog er ab von dem Weg zum eigentlichen Ansichsein der Sachen, den er mit der Maxime „zu den Sachen selbst" eigentlich schon eingeschlagen hatte. Diese Maxime ist, wie schon Husserls Schüler der ersten Generation gespürt haben, ihrer tiefsten Absicht nach ein Kampfruf gegen den Subjektivismus; sie ist in ihrer Grundtendenz gegen eine konstitutionstheoretische Erklärung der natürlichen Überzeugung vom Ansichsein der Dinge gerichtet, weil eine solche Erklärung ihre wahre Subjekt-Unbezüglichkeit nicht verständlich machen kann. Nimmt man den Antisubjektivismus der Maxime ernst, so fordert sie dazu auf, das eigentliche Ansichsein der Dinge zu rehabilitieren, das hier vorläufig als „Insichruhen" bezeichnet sei. Allerdings würde man diese Aufforderung gründlich mißverstehen, wenn man glaubte, zugunsten des Ansichseins der Dinge müßte ihre Bezogenheit auf den Menschen aus dem Spiel gelassen werden. Damit würde man bereits die Vorentscheidung fällen, daß das Ansichsein als Negation des Für-uns-Seins verstanden werden muß, und die Möglichkeit, es als ein Insichruhen zu begreifen, würde nicht vorurteilsfrei offengehalten. Die Verneinung der Bezogenheit auf den Menschen liefe auf einen Realismus hinaus, der hinter die Revolution der Philosophie zurückfiele, die Kant mit seiner „kopernikanischen" Wende zum kritischen, transzendentalen Denken vollzogen hat. Heidegger hat schon in „Sein und Zeit" klargestellt, daß es ihm nicht darum ging, zu einem vorkritischen Realismus zurückzukehren, wie einige Interpreten bis heute immer noch anzunehmen scheinen3. Eine kritisch um Vorurteilsfreiheit bemühte Philosophie kann nur von der Bezogenheit der Dinge auf den Menschen ausgehen. Aber sie muß phänomenologisch die Frage stellen, wie es konkret zugeht, daß sie uns als ansichseiend erscheinen. Den ersten Schritt hierbei kann eine einfache Frage bilden: Wie erscheinen uns Menschen ursprünglich die „Sachen", von denen in der Maxime „Zu den Sachen selbst" die Rede ist, d. h. was meinen wir eigentlich mit dem Wort „Sa2 Es ist diese Auffassung, die Heidegger im Auge hat, wenn er im Humanismusbrief, S. 349, von einer „Subjektivierung des Seienden zum bloßen Objekt" spricht und an der gleichen Stelle sagt: „...das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständlichkeit". 3 In „Sein und Zeit", Tübingen 8 1957, S. 212, heißt es mit unzweideutiger Klarheit: „Nur solange Dasein ist, gibt es Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ,ist' auch nicht »Unabhängigkeit« und »ist« auch nicht ,Ansich'". Auf diese Sätze kommt Heidegger in den programmatischen Erklärungen des Humanismusbriefs ausdrücklich zurück.
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che"? „Sache" oder „Ding" ist ein philosophischer Begriff, der bis auf die Griechen zurückgeht. Sie hatten für das, was wir „Sache" oder „Ding" nennen, zwei Wörter: xqrnia und Tiqayiia. Ylqay^a hängt mit ngarrsiv, „handeln", zusammen. Das menschliche Verhalten ist insoweit ein Handeln, als es seine Ziele zur Sprache bringen kann. Zur Erreichung der Ziele bedarf das Handeln geeigneter Mittel. Sie sind das, womit sich das Handeln beschäftigt, die nqay^aTa oder XQTjßara. Die griechische Sprache unterscheidet zwischen beidem, weil es zwei Arten von Mitteln des Handelns gibt. Die primären Mittel sind die Möglichkeiten des Handelns, die wir im Gespräch mit anderen oder im Zurategehen mit uns selbst als solche in Erwägung ziehen können, um irgendwelche vorgegebenen Ziele zu erreichen. Wenn wir solche Möglichkeiten eigens gemeinsam mit anderen beraten, werden sie zu „Angelegenheiten" im Sinne von Verhandlungsgegenständen. Dies ist mit dem Wort -ngayfia gemeint. Fast immer benötigen wir, um eine Angelegenheit in Angriff zu nehmen, geeignete materielle Dinge, die deshalb Mittel für unser Handeln bilden, weil wir sie benutzen und „gebrauchen", griechisch xQW^ai, - daher das Wort XQVßa» Die ^jLtaTa, die Gebrauchsdinge, sind nur in zweiter Linie Mittel des Handelns, weil sie im Dienst der erstrangigen Mittel, der irgay^ara als Angelegenheiten, stehen. Daß die -ngay^iara die primären Mittel des Handelns sind, zeigt auch das romanische Wort „cosa", „chose". Ursprünglich bezeichnet dieses Wort nicht die Gebrauchsdinge; denn es geht auf das lateinische causa zurück. Eine causa ist beispielsweise ein Fall in einem Gerichtsprozeß, also eine Angelegenheit im Sinne des griechischen Wortes Tiqay^a. Aber obwohl die XQ^a*tgl nicht die primären Mittel unseres Handelns sind, rücken sie bei der subjektivistischen Betrachtung der Dinge in den Vordergrund des Interesses, weil sie wahrnehmbare, materielle Gegenstände sind und weil solche Gegenstände am stärksten den Eindruck erwecken, daß ihr Sein eine Selbständigkeit gegenüber unserem Vorstellen besitzt. Deshalb ist es kein Zufall, daß Heidegger bei der phänomenologischen Analyse des menschlichen In-der-Welt-Seins in „Sein und Zeit" von den Gebrauchsdingen ausgegangen ist und untersucht hat, wie sie für das menschliche Dasein als „Zeug" „zuhanden" sind. Diese Analyse enthält implizit eine Kritik an Husserls Grundauffassung, das ursprüngliche Erscheinen der Dinge bestehe darin, daß wir sie wahrnehmen. Trotz dieser Kritik befindet sich Heidegger mit Husserl in einer verborgenen Übereinstimmung, weil er sich bei seiner Untersuchung an den Dingen orientiert, die wir wahrnehmen können, und nicht an den Dingen, die uns gerade nicht auf solche Weise gegeben sind, sondern nur, indem wir sie als eine Angelegenheit, als TTQa'YtLa oder causa bereden. Heidegger läßt sich wie Husserl von der subjektivistischen Ausgangslage des neuzeitlichen Denkens noch die selbstverständliche Annahme vorgeben, was „Sache" heißt, ließe sich primär an den wahrnehmbaren Dingen ablesen. Bei Husserl ist diese Abhängigkeit vom Subjektivismus nur insofern offenkundiger, als er die Wahrnehmung zum Paradigma der Begegnung des Menschen mit allem, was ist, überhaupt erhebt. Heidegger hat später ausdrücklich darauf hingewiesen, daß das Sein der Dinge sich nicht darin erschöpft, als Zeug für den Menschen zuhanden zu sein, und daß das deutsche Wort „Ding" seinen Namen ursprünglich vom „thing"
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bekommen hat, der Versammlung, in der die Germanen ihre gemeinsamen Angelegenheiten berieten. So deutet sich bei ihm selbst schon an, daß die primären Dinge fiir den handelnden Menschen die -ngáy^ara sind. Das hat ihn nicht gehindert, bis in seine Spätzeit das Dingsein, das über das bloße Zuhandensein hinausreicht, an materiellen Dingen zu erläutern wie dem Tempel, dem Krug, dem Fels, der Brücke usw. Trotz dieser Grenze von Heideggers Denken läßt sich mit seiner Hilfe phänomenologisch zeigen, daß wir sowohl beim Erscheinen solcher Dinge als auch beim ganz anders gearteten Erscheinen der Angelegenheiten ein Ansichsein erfahren können, das den Charakter des Insichruhens hat. An dieser Stelle sei im Vorgriff auf das Ergebnis der nachfolgenden Überlegungen darauf hingewiesen, daß beide Erfahrungen des eigentlichen Ansichseins darauf beruhen, daß wir uns dabei für die Welt öffnen. Deshalb wird die nicht mehr subjektivistische Analyse dieser Erfahrungen im folgenden zu einer Phänomenologie der Welt fuhren. Allerdings darf man sich bei einer solchen Analyse nicht durch Heidegger dazu verfuhren lassen, den wesentlichen Unterschied zwischen der Welt der ag^aTa und der Welt der ngi^ßara zu vernachlässigen. Diesem Unterschied entsprechend muß sich der Weg einer nichtsubjektivischen phänomenologisch orientierten Philosophie in zwei Richtungen gabeln. Die Nachzeichnung dieses Weges kann aber nur von Heidegger ihren Ausgang nehmen; denn mit der Zeuganalyse in „Sein und Zeit" hat er den Ansatz zur Überwindung des Subjektivismus der Konstitutionstheorie gefunden, indem er der Husserlschen, am Wahrnehmungsmodell orientierten Erklärung des Ansichseins der Dinge eine wegweisend neue Erklärung entgegenstellte. Deshalb empfiehlt es sich, zunächst auf diesen entscheidenden Übergang von Husserl zu Heidegger einzugehen. Wie erscheint ein Ding dem Menschen bei der Wahrnehmung? Husserl antwortet: Die Gegenstände erscheinen uns niemals isoliert, sondern sie verweisen in ihrem Sinn aufeinander. Deshalb begegnen sie uns immer in einem Netz von Sinnverweisungen, in Horizonten. Die Horizonte halten durch die darin enthaltenen Verweisungen für mich die Möglichkeiten bereit, wie ich meine jeweilige Wahrnehmung fortsetzen kann. Mit diesem „ich kann" beginnt für Husserl unsere Freiheit, und Subjektivität bedeutet Freiheit. Die in unseren jeweiligen Horizonten vorgezeichneten Möglichkeiten, die Freiheit unseres „ich kann" zu entfalten, haben in diesem Sinne einen subjektiven Charakter. Jeder Horizont enthält nicht nur in sich Verweisungen, sondern verweist über sich hinaus auf weitere Horizonte. Deshalb gehören sie alle in einem allumfassenden Verweisungszusammenhang zusammen, der „Welt" als universalem Horizont. Wir haben immer ein Bewußtsein von der Welt, weil wir jeden Horizont, worin wir uns aktuell orientieren, überschreiten können und weil das „undsoweiter" dieser Transzendenzbewegung niemals abbricht. Unser „ich kann" entfaltet sich für Husserl zunächst in dieser Beweglichkeit im umfassenden Spielraum der Horizonte. So wird schon bei ihm deutlich, daß die Freiheit des Menschen und seine Offenheit für die Welt untrennbar zusammengehören.
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Aber unser Bewußtsein kann die potentielle Unendlichkeit des Transzendierens aller Horizonte nie in eine aktuale Unendlichkeit verwandeln, worin die Welt auf einen Schlag gegeben wäre; denn es ist im konkreten Fortgang der Erfahrung immer an faktisch vorgegebene einzelne Horizonte gebunden. Durch diese Endlichkeit wird uns spürbar, daß die Dinge „mehr" sind als das, was von ihnen in den jeweils aktuellen Horizonten erscheint; ihr Sein reicht über die auf diese Horizonte beschränkten Erfahrungsmöglichkeiten des Bewußtseins hinaus. So erklärt sich für Husserl, wie sich in unserem Bewußtsein das Ansichsein der Dinge konstituiert. Die Grundlage dieser Erklärung bildet die Freiheit des „ich kann"; denn die Unendlichkeit seiner horizonthaften Entfaltungsmöglichkeiten ist der Maßstab, an dem die faktische Wahrnehmung gemessen wird; ihre Endlichkeit, die Vorgegebenheit der Horizonte, ist eine Einschränkung dieser Unendlichkeit der Subjektivität und wird somit nur von ihr her verständlich. In diesem Sinne bleibt Husserls Interpretation des Ansichseins der Dinge subjektivistisch. Trotzdem hält sie die Möglichkeit bereit, den Bannkreis der Subjektivität zu verlassen. Weil Husserl die Freiheit des „ich kann" von vornherein als Beweglichkeit in der potentiellen Unendlichkeit des universalen Horizonts interpretiert, übersieht er, daß die Beweglichkeit beim Erscheinen der Dinge schon innerhalb der jeweiligen Horizonte beginnt, noch bevor sie auf andere Horizonte hin transzendiert werden. Diese Beweglichkeit erfahren wir allerdings nicht bei der bloßen Wahrnehmung der Dinge, sondern nur, indem sie uns als „Zeug" in einem Horizont ihres Gebrauchs begegnen, d. h. in der Sprache von „Sein und Zeit": als „Zuhandenes" in der Welt als „Bewandtniszusammenhang". Der störungsfreie Gebrauch der Zeugdinge ist eine Beweglichkeit schon innerhalb eines solchen Horizonts. Der eigentliche Grund dafür, daß Husserls Wahrnehmungsmodell unzureichend bleibt, liegt darin, daß es nicht erklären kann, wie eine Freiheitserfahrung beim Erscheinen der Dinge gerade in der Bindung an einen vorgegebenen endlichen Horizont möglich ist. Indem Heidegger von der Zuhandenheit der Dinge ausgeht, treibt er zunächst die transzendental-kritische Interpretation ihres Seins auf die Spitze. Beim reibungslosen Gebrauch besteht das Sein der Dinge ganz und gar in ihrer Bezogenheit auf den Menschen. Ihre Unabhängigkeit, das Moment des Ansichseins, verschwindet restlos zugunsten ihres Für-uns-Seins. Heideggers erste bahnbrechende Entdeckung in „Sein und Zeit" war, daß gerade diese Weise des Erscheinens der Dinge die stärkste Erfahrung von Ansichsein enthält. Wir könnten nämlich die Erfahrung eines störungsfreien Gebrauchs der Zeugdinge nicht machen, wenn wir uns dabei nicht darauf verlassen würden, daß sie uns bereits als etwas Brauchbares zur Verfügung stehen, bevor wir sie von Fall zu Fall in Dienst nehmen. Dieses Vertrauen bietet die beste Erklärung dafür, warum wir in der natürlichen Einstellung mit solcher Selbstverständlichkeit davon überzeugt sind, daß das Sein der Dinge bereits stattfindet, bevor wir sie zu unserem Gegenstand machen. In dieser Erklärung für die natürliche Überzeugung vom Ansichsein der Dinge liegt nun aber eine weitere Entdeckung: Den eigentlichen Rückhalt für das Vertrauen in das Zur-Verfügung-Stehen des Zuhandenen bilden nicht die
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Zeugdinge selbst, sondern die Welt als der Horizont, der sie mit solcher Zuverlässigkeit für den Gebrauch bereithält, daß wir uns im Vertrauen darauf im Umgang mit ihnen frei bewegen können. Das Ansich ist demnach die Welt, wie sie uns zunächst alltäglich als Horizont des Gebrauchs vertraut ist. Die Aufforderung der Maxime „zu den Sachen selbst" zielt auf das Ansich, wie wir es im Erscheinen der Dinge erfahren. Wenn die Welt dieses Ansich ist, erweist sich damit der Plural der „Sachen selbst" als ein Singular: Die eine „Sache selbst" der phänomenologischen Philosophie ist die Welt 4 . Entscheidend ist dabei der Zusammenhang der Welt mit der Freiheit. Unsere faktische Bindung an einen jeweiligen Horizont des Gebrauchs, also die Endlichkeit der als Ansich erfahrenen Welt schränkt die Freiheit im Umgang mit den Zeugdingen nicht ein, sondern macht sie allererst möglich, weil sie die ungehinderte Beweglichkeit bei der jeweiligen Indienstnahme des Zeugs gewährleistet. Husserl hatte geglaubt, die Freiheit des „ich kann" gebe es nur in der unendlichen Weite, welche die Welt als der Universalhorizont besitzt, der alle Einzelhorizonte transzendiert. Heidegger entdeckt, daß die ganze Weite der Welt sich schon vor diesem Transzendieren in der inneren Weite des jeweiligen Gebrauchshorizonts meldet. Weil diese innere Weite für die Beweglichkeit des reibungslosen Umgangs mit dem Zeug Platz gibt, ist die Welt gerade in ihrer Endlichkeit eine Dimension der Offenheit. Husserl begreift die Endlichkeit der faktisch vorgegebenen Horizonte noch - in Übereinstimmung mit der großen Tradition der Metaphysik - von der Unendlichkeit her und versteht sie als Einschränkung der Unendlichkeit. Bei Heidegger bekommt der Charakter der Einschränkung, den die Endlichkeit hat, eine völlig neue Bedeutung. Zu Heideggers Gedanken in der Zeuganalyse zählt folgende wegweisende Beobachtung: Die Verweisungsbezüge, deretwegen wir die Welt des Gebrauchs der Dinge als einen Horizont bezeichnen, treten nur dann als solche hervor, wenn der Gebrauch des Zeugs gestört ist. Das bedeutet: der Bewandtniszusammenhang gibt die zuhandenen Dinge für ihre ungestörte Dienlichkeit frei, indem er selbst sich zugunsten dieser Dienlichkeit unserer Aufmerksamkeit entzieht und verborgen bleibt. Die „Welt" als Offenheitsdimension hält den Spielraum für unsere Beweglichkeit im Umgang mit dem Zuhandenen dadurch offen, daß sie selbst vollkommen unauffällig bleibt. Der Begriff „Ansich" bekommt damit in der deutschen Sprache einen Doppelsinn; es ist nicht nur, wie zu Anfang gesagt, der Gegenbegriff zu „für mich" oder „für uns", sondern er hat auch die Bedeutung, mit der er in dem Verb „ansichhalten" vorkommt, das soviel bedeutet wie „sich zurückhalten". Die Welt als jeweiliger Bewandtnishorizont „hält sich zurück" mit ihrem eigenen Erscheinen, so daß auf diese Weise gerade das Erscheinen der Zeugdinge in ihrer Dienlichkeit stattfinden kann. Die Einschränkung der Freiheit durch die Endlichkeit besteht in der Angewiesenheit darauf, daß die dafür platzgebende Offenheitsdimension sich dem Erscheinen entzieht.
4 Und nicht etwa das „Sein", wie Heidegger gemeint hat; vgl. v. Vf. „Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie", in: A. Gethmann-Siefert u. O. Pöggeler (Hrsg.): Heidegger und die praktische Philosophie, Frankfurt a.M. 1988.
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Dafür, wie die Welt die Freiheit gerade durch Einschränkung, nämlich durch ihr Ansichhalten ermöglicht, gibt es ein hilfreiches Modell in der alltäglichen Erfahrung. Als das eigentliche Ansich hat die Offenheitsdimension „Welt" den Charakter der Vorgegebenheit. Das Vor-gegebene ist - wie diese Wortbildung sagt - eine Gabe. Wenn es sich um das Geschenk eines Menschen für einen anderen handelt, verbindet eine Gabe den Beschenkten mit dem Geber. Der Empfänger ist in seinem Umgang mit dem Geschenk umso weniger an den Geber gebunden, d. h. in seiner Freiheit eingeschränkt, je mehr der Geber sich zurückhält und nicht die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Geber tritt dann nicht in Erscheinung, wenn der Akt des Gebens unauffällig bleibt; deshalb wird in Japan und in der Türkei das Überreichen eines Geschenks traditionell so sehr der Beachtung entzogen, daß dies unkundigen Besuchern aus anderen Kulturen geradezu als Unhöflichkeit erscheinen kann. Die Welt als Offenheitsdimension ist kein Ding, das jemand einem anderen schenken kann. Deshalb gibt es hier keinen Geber, der hinter seine Gabe zurücktritt. Was sich hier dem Erscheinen entzieht, ist allein das Geschehen des Gebens selbst, die Freigabe des Spielraums für die Freiheit durch das Ansichhalten. Nur durch die Unauffälligkeit dieses Geschehens kann die Freiheit des Menschen hervortreten. Wegen dieser Unauffälligkeit hat Heidegger in seiner Spätzeit gesagt, die Philosophie müsse zu einer „Phänomenologie des Unscheinbaren" werden 5. Weil das besagte Geschehen ein Platzgeben ist, kann uns die Welt als ein Raum erscheinen. Aber dieser Raum ist kein statisch vorhandener Behälter, sondern es gibt ihn nur, indem er sich durch Ansichhalten öffnet, - indem er „weitet", wie Heidegger formuliert. Die „weltende" Welt dimensioniert sich als Dimension der Offenheit, indem sie sich verbirgt. 6 Den ersten Schritt zur Erkenntnis des Ansichseins der Welt hat Heidegger mit der Entdeckung getan, daß die Beweglichkeit des Umgangs mit den Zeugdingen darauf beruht, daß die Welt als Welt des Gebrauchs, als „Bewandtniszusammenhang", an sich hält. Aber mit dieser Entdeckung war noch nicht die Frage beantwortet, wie sich vom Ansichsein der Welt her das Ansichsein der Dinge verstehen läßt, auf das sich der Plural der Maxime „zu den Sachen selbst" ursprünglich bezog. Indem die Dinge uns als Zeug dienlich sind, behalten sie nicht einmal mehr soviel Ansichsein, wie Husserl ihnen in seiner Kon5
M. Heidegger: Seminare, Frankfurt a.M. 1986 (Gesamtausgabe Bd. 15), S. 399. Daß der Raum der Welt als Geschehen des Weltens stattfindet, ist in der philosophischen Tradition nur einmal aufgeblitzt, im Begriff der %toqa in Piatons „Timaios". Das Substantiv %a>ga hängt mit dem Verb %uyqtoi zusammen, das ein Platzmachen durch Zurückweichen bezeichnet. Die xtoqa ist der Raum der Welt, der für das Erscheinen der Dinge Platz gibt, indem er selbst in die Verborgenheit zurückweicht und sich so, wie Piaton sagt, dem menschlichen Begreifen entzieht. Noch im heutigen Griechisch tragen viele Ortschaften, wo Menschen wohnen, den Namen %cbea. Sie können so heißen, weil die Menschen an diesen Stellen Plätze in der Welt eingerichtet haben. Die Offenheit der Welt tritt hier als solche in Erscheinung, indem sich durch das Handeln des Menschen die unbewohnbare Dichte der ursprünglichen Natur solchermaßen auflockert, daß sie dem Menschen einen Spielraum für sein Verhalten einräumt. Eine solche Auflockerung heißt im alten Deutsch Lichtung. Von daher kann Heidegger das Geschehen des Weltens als Lichtung bezeichnen. Daß er ihm auch den griechischen Namen %coga hätte geben können, scheint ihm entgangen zu sein. 6
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stitutionstheorie noch zugebilligt hatte. Das liegt daran, daß Heidegger die Beweglichkeit des „ich kann", die bei Husserl erst mit dem Transzendieren der endlichen Horizonte einsetzt, schon innerhalb der Horizonte des Bewandtniszusammenhangs beginnen läßt; denn diese horizont-interne Beweglichkeit beruht auf der reibungslosen Dienlichkeit der Dinge, in der sich ihr Sein darin erschöpft, „für uns" verfügbar zu sein. Die Beweglichkeit im Spielraum der Horizonte war schon bei Husserl der Grund dafür, daß er das Ansichsein nur subjektivistisch verkürzt und nicht in seiner eigentlichen Gestalt als Insichruhen zu Gesicht bekam. Der Rückgriff auf unsere subjektive Beweglichkeit scheint charakteristisch für alle Analysen, die nicht bis zum eigentlichen Ansichsein der Dinge, ihrem Insichruhen, vordringen. Auch die in der englischsprachigen Welt vorherrschende analytische Philosophie kann nicht bis zum eigentlichen Ansichsein der Dinge gelangen, weil sie von der subjektiven Beweglichkeit des menschlichen Sprechens ausgeht. Das läßt darauf schließen, daß uns das eigentliche Ansichsein der Dinge solange entgeht, als ihr Erscheinen auf Seiten des Menschen mit einer Bewegung im Spielraum der Horizonte des Gebrauchs, der Wahrnehmung, des Sprechens oder welcher menschlichen Aktivität auch immer verbunden ist. Es zeigt sich erst dann, wenn wir der inneren Ruhe der Dinge, auf die der Ausdruck „Insichruhen" schon vordeuten sollte, in einer Verfassung der Ruhe begegnen, indem wir gesammelt vor oder bei einem Ding verweilen. Für eine solche Verfassung ist wesentlich, daß wir nur durch eine entsprechende Stimmung in sie gelangen können; aber es würde zu weit führen, hier darauf einzugehen.7 Wie der Mensch vor einem Ding verweilen kann, hat Heidegger zum ersten Mal in seiner Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks von 1936 aufgewiesen. Aber die Überwältigung durch ein Werk der großen Kunst ist, wie sich weiter unten noch zeigen wird, nicht die einzige Möglichkeit des Verweilens. Für das nichtsubjektivistische Verständnis des Ansichseins enthält die besagte Abhandlung die entscheidende neue Einsicht, daß die innere Ruhe der Dinge ihren Sinn nicht aus unserer subjektiven Beweglichkeit empfängt, sondern aus einer anderen Bewegung: dem Geschehen, das die Welt ist. Dieses Geschehen enthält in sich zwei Bewegungen, die eine Einheit bilden, gerade indem sie miteinander streiten: das Ansichhalten als ein Sich-Verbergen und das Sich-Öffnen als Erscheinenlassen der Dinge. Eine solche Zusammengehörigkeit-durch-Widerstreit gab es schon bei Heraklit. Er hat sie als „gegenspännige Fügung" bezeichnet, griechisch: -naXivrovog aQiLovivf. 7 Es bedarf einer Grundstimmung, wie Heidegger formuliert. Für die Frage, wodurch und in welcher Gestalt solche Stimmungen möglich werden, vgl. v. Vf. Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger, in: O. Pöggeler u. D. Papenfuss (Hrsg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Band I, Frankfurt a.M. 1991, mit den dort gegebenen Literaturhinweisen. (Der Begriff „Grundbestimmung" im Aufsatztitel ist ein bei der Redaktion des Sammelbandes entstandener Fehler.) Es sei außerdem auf die Analyse der Grundstimmungen in der Untersuchung von Peter Trawny hingewiesen: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, Freiburg/München 1997. 8 Diels/Kranz: Fragmente der Vorsokratiker, B 51; vgl. dazu v. Vf.: Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft. Eine phänomenologische Besinnung, Berlin 1980, S. 166 ff.
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Als Offenheitsdimension für das Erscheinen enthält die Welt, so wie wir sie alltäglich erfahren, zwei allumfassende Gegenden, zwischen denen sich jegliches Erscheinen abspielt: Himmel und Erde. Im vorphänomenologischen Realismus der natürlichen Einstellung verstehen wir unter diesen Gegenden zwei statisch einander gegenüberliegende Räume, die ihrerseits von der Welt als dem ausgedehntesten Raum umschlossen werden. Aber phänomenologisch ist die Welt nicht der statisch vorhandene größte Behälter, sondern ein gegenspänniges Geschehen. Als dieses Geschehen ist sie die „Gegend aller Gegenden"9. Die Weltgegenden Himmel und Erde sind die beiden Weisen, wie die Welt als Geschehen Gegend ist, nämlich als Streit zwischen Sich-Eröffnen und SichVerschließen. Himmel und Erde als Geschehnisse gehören durch diesen Streit gegenspännig zusammen. Dies zeigt sich aber nur in den wahrnehmbaren materiellen Dingen, und zwar dann, wenn wir vor ihnen gesammelt verweilen, weil dabei ihre materiellen Qualitäten für uns auf neue Weise in Erscheinung treten. Wegen der Körperlichkeit der Qualitäten können wir von den Dingen sagen, daß sie „aus Erde" sind. „Erde" ist dabei der Name für die Stofflichkeit aller Materien, aus denen die Dinge bestehen. Der gemeinsame Zug, der es erlaubt, alle Stoffe als Erde zu bezeichnen, ergibt sich daraus, daß sie uns in der alltäglichen Erfahrung der Dinge als etwas erscheinen, in das wir auf verschiedene Weisen „eindringen" können. Das Eindringen hat immer den Sinn, daß wir mit ihm in die innere Dunkelheit des Stoffes Licht bringen. Aber diese Helligkeit ändert nichts daran, daß der Stoff von sich aus dunkel ist. Diese Dunkelheit ist phänomenologisch die Erde als das Geschehen des Sich-Verschließens. Wenn wir vor einem Ding gesammelt verweilen, erfahren wir, wie es in die Weltgegend der Erde hineingehört, indem seine materiellen Qualitäten uns auf neue Weise ansprechen. Die Erde zeigt sich dann für uns in diesen Qualitäten als das in sich Verschlossene und Dunkle. Das fasziniert uns, weil damit das Geschehen des Sich-Verschließens, das sich dem Erscheinen entzieht, als dieses Sich-Entziehende ins Offene tritt, es wird in das Geschehen des Sich-Öffnens hineingenommen; die Erde kommt in der offenen Weite des Himmels als solche zum Vorschein, indem die von Hause aus dunklen materiellen Qualitäten in dieser Weite gleichsam Leuchtkraft erhalten. 10 Aber dieses Geschehen wird seinerseits nur dadurch für uns erfahrbar, daß die Qualitäten, welche die Dinge auf solche Weise an den Tag legen, stofflich sind, d. h. in die Erde hineingehören.11 In diesem Wechselverhältnis zeigt sich, daß Erde und Himmel 9
Wie Husserls und Heideggers gemeinsamer Schüler Eugen Fink im Geiste Heideggers formuliert hat in: Sein, Wahrheit, Welt - Vor-Fragen zum Problem des PhänomenBegriffs, Den Haag 1958, S. 151. 10 Heidegger bezeichnet dies in der Kunstwerk-Abhandlung als „Aufstellen einer Welt", vgl. „Der Ursprung des Kunstwerkes", in: Holzwege (Gesamtausgabe Bd. 5), Frankfurt a. M. 1977, S. 29 f f Mit den Hinweisen auf die Kunstwerk-Abhandlung wird hier nicht der Anspruch einer zureichenden Interpretation erhoben. Für eine eingehende Interpretation sei vor allem auf Friedrich Wilhelm von Herrmanns Kommentar verwiesen: Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung ,Der Ursprung des Kunstwerkes', Frankfurt a. M. 2 1994. 11 Dies nennt Heidegger a.a.O., S.31 ff., „Herstellen der Erde".
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einander wechselseitig brauchen, und zwar gerade als Geschehnisse, die miteinander im Widerstreit liegen. Das Sein der Dinge ist ein Insichruhen, weil im Erscheinen ihrer Stofflichkeit das Widerspiel von Himmel und Erde als gegenspännige Fügung ausgetragen wird. Mit dieser Erkenntnis, die wir Heidegger verdanken, hat die Philosophie erstmals den Zugang zu einem postsubjektivistischen Verständnis des Ansichseins gewonnen. In Husserls Wahrnehmungsanalyse und in der Zeuganalyse von „Sein und Zeit" hatte es zwar schon eine Ahnung von der offenen Weite des Himmels gegeben, weil das Erscheinen der Dinge bei ihrem Gebrauch als xQyiuLTCL und bei ihrer Wahrnehmung in Horizonte eingebettet ist, in denen wir uns bewegen können, indem wir den Verweisungslinien des Bewandtniszusammenhangs oder der Wahrnehmungswelt folgen. Aber diese Weite der Welt als Horizont, d. h. als Spielraum subjektiver Beweglichkeit, ist nur ihre unserem Vorstellungsvermögen zugängliche Seite, - die Seite, die dem Subjekt gleichsam zugekehrt ist. Dahinter verbirgt sich die vom Subjekt abgekehrte Seite, das Ansichhalten der Welt als eines Geschehens, das Welten, das Heidegger im Feldweggespräch über die Gelassenheit ausdrücklich als die Kehrseite des Horizonts charakterisiert hat. 12 Es bleibt nun aber noch zu beachten, daß die wahrnehmbaren Dinge, deren eigentliches Ansichsein durch die postsubjektivistische Phänomenologie der Weltgegenden verständlich wird, uns in der alltäglichen Erfahrung zunächst als etwas Zuhandenes, als das Zeug erscheinen, d. h. als ygr\[L(LT(L. Zu Beginn der vorliegenden Überlegungen war darauf hingewiesen worden, daß es auch die „Dinge" gibt, die uns im gemeinsamen Gespräch als Angelegenheiten begegnen, die wir zusammen mit anderen Menschen als Möglichkeiten des Handelns, des ngárreiv, in Erwägung ziehen. Weil es sich bei einem ngayiia, lateinisch gesprochen: einer causa, nicht um etwas Wahrnehmbares mit materiellen Qualitäten handelt, kann der Streit von Sich-Verbergen und Offenbarwerden hier nicht als das gegenspännige Geschehen von Himmel und Erde in Erscheinung treten. Trotzdem gibt es dazu eine Entsprechung. Der alltägliche Umgang mit den Angelegenheiten ist durch subjektive Beweglichkeit gekennzeichnet: Die Menschen in ihrer Durchschnittlichkeit - in der Sprache von „Sein und Zeit": das „man" - verweilen bei keiner Sache, son12
M. Heidegger, „'Ayxißourii).." in: Feldweg-Gespräche (Gesamtausgabe Bd. 77), Frankfurt a. M. 1995, S. 112 ff. Die Wendung des Denkens, mit der es sich der oben genannten Kehrseite zukehrt, ist die „Kehre". Durch die Kehre gewinnt das „gegen" der Dinge eine Bedeutung, die über das „gegen" der „Gegen-ständlichkeit" hinausreicht. Um diesen Überschuß des „gegen" zur Sprache zu bringen, greift Heidegger im Feldweggespräch auf eine alte Mundartform des Wortes „Gegend" zurück, das seinerseits mit der Präposition „gegen" zusammenhängt, und bezeichnet die Welt, sofern sie als die vom Subjekt abgekehrte Gegend aller Gegenden, also als Welten verstanden wird, als „Gegnet". In der in der Gesamtausgabe veröffentlichten Urfassung des Feldweggesprächs benutzt Heidegger gelegentlich für das „Gegnen" der „Gegnet" noch das Wort „Welten", vgl. S. 149. Im zu Lebzeiten veröffentlichten Auszug aus dem Gespräch unter dem Titel „Zur Erörterung der Gelassenheit" (in Gesamtausgabe Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens, Frankfurt a. M. 1983) hat er das Wort „Welten" nicht mehr verwendet, vgl. S. 69 f. 4*
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dem lassen sich ruhelos von einer Angelegenheit auf die nächste verweisen. Aber wir können auch innehalten. Dies geschieht, wenn die Beratung einer Angelegenheit nicht bloße Routine ist, sondern wenn es dabei „ums Ganze geht", d. h. wenn die Welt als das Ganze der Angelegenheiten, die eine Gemeinschaft von Menschen verbindet, auf dem Spiel steht. Heidegger ist von seinem Verdikt über das „man" in „Sein und Zeit" nie losgekommen, und so hat er nicht bedacht, daß es ein Verweilen bei den irgay^iara gibt, worin wir ihr Insichruhen erfahren können. Das dürfte der eigentliche Grund dafür sein, daß sein Denken vor der politischen Welt versagt hat. Bei der Beratung von schicksalhaften Angelegenheiten für eine Gemeinschaft spitzt sich die Erwägung der Handlungsmöglichkeiten auf die Frage zu, ob die gegenwärtig diskutierte Situation eine günstige Gelegenheit dafür bietet, etwas bahnbrechend Neues zu beginnen. Das ist, griechisch ausgedrückt, die Frage nach einem Kairos. Ein Kairos ist etwas Neues, das noch in der Zukunft verborgen liegt und doch schon in die Gegenwart hineinragt, indem es beim gemeinsamen Handeln als Möglichkeit „zum Greifen naheliegt". Wenn eine Gemeinschaft von Menschen eine solche Möglichkeit wirklich ergreift, gewinnt damit die Welt ihrer gemeinsamen Angelegenheiten eine neue Gestalt; das Geschehen des Sich-Öffnens der Welt bekommt gleichsam einen neuen Schub. Dadurch entspricht der Kairos dem Himmel. Wegen der unaufhebbaren Unbekanntheit der Zukunft als Zukunft gibt es niemals eine Sicherheit in der Frage, ob eine gegenwärtige Situation ein Kairos ist. Deshalb wird die gemeinsame Erwägung der Möglichkeit eines Kairos unvermeidlich zu einem Streit der Meinungen. Die Unvermeidlichkeit dieses Streits macht eine normative Grundlage erforderlich, die gewährleistet, daß die Beteiligten sich trotzdem miteinander verständigen können. Eine solche Grundlage kann nur in irgendwelchen verbindlichen Maßstäben für das gemeinsame Handeln bestehen. Aber wenn die Maßstäbe gegenständlich als Imperative, Gebote, Gesetze, Pflichten, Werte usw. vorgestellt werden, können sie keine Sicherheit bieten, daß alle Beteiligten darin übereinstimmen; denn dergleichen ist prinzipiell kontrovers diskutierbar. Die Maßstäbe müssen vorgegenständlich in Gestalt von gelebten Verhaltensregeln Verbindlichkeit besitzen. Das sind die „guten Sitten", die habituell gewordenen Verhaltensweisen, für die man einander seit alters lobt und die man für nachahmungswürdig hält. Die Sitten bilden das „Ethos" im ursprünglichen griechischen Sinne dieses Wortes, d. h. den gewohnten gemeinsamen Ort, wo eine Gemeinschaft von Menschen sich bei der Gestaltung ihres Zusammenlebens durch das Handeln beständig aufhält. Die Sitten sind uns selbstverständlich, weil sie sich von langer Hand durch Gewohnheit eingespielt haben; sie stammen aus der Vergangenheit. Aber sie sind uns auch deshalb selbstverständlich, weil sie als solche kein Gegenstand unserer Aufmerksamkeit sind. Deshalb entzieht sich die Vergangenheit, in der sie entstanden sind, jeder Erinnerung, durch die sie als gleichsam datierbare Vergangenheit zum Gegenstand einer ausdrücklichen Vergegenwärtigung werden könnte. Das Ethos ist das für eine solche Erinnerung Uneinholbare und damit das Vergangene als solches, das „Alte" im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Das Alte bleibt uns als dunkle Vergangenheit
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unwiederbringlich fern, und doch ist es uns in den Sitten als gelebtes Erbe lebendig gegenwärtig und nahe. So ist die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens in einem Ethos - in der Sprache von „Sein und Zeit" ausgedrückt - die ursprüngliche Erfahrung der Vergangenheit als „GeWesenheit". Das Ergreifen eines Kairos - die Erneuerung des Geschehens der Welteröffnung - hat seinen Rückhalt in einem Ethos, das in seiner unauffälligen Selbstverständlichkeit und wegen der Dunkelheit seiner Herkunft den Charakter der Verborgenheit hat. Das ist im Bereich der -nqayiiara die Entsprechung dazu, daß die wahrnehmbaren Dinge durch die materiellen Qualitäten, mit denen sie in der Weite des Himmels ins Offene treten, in die dunkle Erde hineingehören. Auch im Kairos begegnet uns wie bei der Gewesenheit des Ethos das Ferne als fern und nahe ineins. In ihm erscheint die „Zukunft" als solche, nämlich als das Neue, das einerseits durch seine Unbekanntheit immer im Kommen, in unerreichbarer Ferne bleibt und dadurch den Meinungsstreit hervorruft, das aber andererseits im Sinne des französischen Wortes „avenir" auf uns „zukommt", indem es uns als ergreifbare Möglichkeit schon ganz nahe ist. So ist der Kairos wieder in der Sprache von „Sein und Zeit" ausgedrückt - die ursprüngliche Erfahrung der „Zukünftigkeit". Himmel und Kairos einerseits sowie Erde und Ethos andererseits entsprechen einander, aber sie sind jeweils nicht dasselbe. In der Abhandlung über den Ursprung des Kunstwerks deutet sich das bei Heidegger an; denn im Unterschied zur späteren Polarisierung von Himmel und Erde im „Geviert" von Göttlichen und Sterblichen, Himmel und Erde stellt er hier der Erde die „Welt" gegenüber. Die Welt trägt in diesem Text einerseits als das Offene, wohinein alles Erscheinende aufgeht, Züge des Himmels im Sinne des griechischen OVQCLVOS, der bei Piaton und Aristoteles die vorherrschende Bezeichnung für das Weltganze als Kosmos bildet, und andererseits Züge der geschichtlichen Welt, die deshalb „geschichtlich" ist, weil der Kairos ihr Geschehen in Bewegung hält. Diesem Doppelcharakter entsprechend wird auch die Erde einerseits als das Dunkle und Bergende wie später im Geviert „kosmologisch" verstanden, und andererseits erscheint sie als geschichtliche Heimat für das gemeinsame Wohnen der Menschen, also als Ethos. Aber bei Heidegger selbst unterbleibt diese Differenzierung, weil er nicht sieht, daß es eine eigene Welt der irgayfiara gibt, bei denen wir auf eine ganz eigentümliche Weise verweilen, indem wir sie kontrovers diskutieren. So kann er in seiner Entwicklung nach der Kunstwerk-Abhandlung das Widerspiel von Welt und Erde durch das von Himmel und Erde im Geviert ersetzen, ohne darüber Rechenschaft zu geben, wie sich die Polarität von Himmel und Erde im Geviert zu der von Welt und Erde in der Kunstwerk-Abhandlung verhält. Was in dieser Entwicklung von Heideggers Denken verloren geht, ist die Möglichkeit, das Eigene der geschichtlichen Welt der TTgayiicLTa, wie sie im Widerspiel von Ethos und Kairos erfahren wird, von der „kosmologisch" erfahrenen Welt des Widerspiels von Himmel und Erde zu unterscheiden. Ethos und Kairos stehen in einem ähnlichen Verhältnis wie Himmel und Erde, weil sie einander gerade durch ihren Widerstreit bedingen. Durch die Nähe der im Kairos nahenden Zukunft rückt das Ethos in die Ferne der Vergangen-
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heit; denn eine bevorstehende Änderung der Lebensverhältnisse läßt das Althergebrachte als überholt erscheinen. 13 Aber zugleich absorbiert die Nähe der Zukunft die Aufmerksamkeit des Meinungsstreits und bewahrt dadurch das Ethos vor seiner Vergegenständlichung in diesem Streit, so daß es uns durch seine vorgegenständliche Selbstverständlichkeit als Aufenthaltsort nahe sein kann. Durch diese Nähe des Ethos wiederum wird die Zukunft, die sich im möglichen Kairos ankündigt, ferngehalten, weil die Beharrungskraft des Altgewohnten sich dem Gegenwartwerden des Neuen verweigert. 14 Dieselbe Nähe des Ethos aber macht andererseits dieses Gegenwartwerden auch möglich, weil es als Verständigungsgrundlage den Meinungsstreit ermöglicht, der zum Ergreifen des Kairos führen kann. So werden wir in der Erfahrung des Wechselverhältnisses von Ethos und Kairos der Zeit in ihrer nicht mehr subjektivistisch gedachten Ursprünglichkeit inne, wie Heidegger sie in seinem späten Vortrag „Zeit und Sem" von 1962 beschrieben hat: Eigentliche Zukunft und Gewesenheit bedingen einander wechselseitig gerade dadurch, daß Nähe und Ferne miteinander streiten, indem die Gewesenheit dem Zukünftigen, Ankommenden die Ankunft „vorenthält" und dieses seinerseits dem Gewesenen die Verfügbarkeit in einer vergegenständlichenden Erinnerung „verweigert" 15 . Diese „gegenspännige Fügung" bemerken wir aber nur, wenn wir durch den Meinungsstreit bei einer schicksalhaften Angelegenheit verweilen und auf diese Weise ein 7zqayiia als insichruhende „Sache" erfahren. Die Offenheitsdimension, die sich so für uns auftut, ist die politische Welt, die von den Griechen geschichtlich begründet wurde, als sie ihre Polis zur Demokratie umgestalteten, d. h. zu dem Lebensraum, der sich allein durch den Meinungsstreit eröffnet 16. Demgegenüber ist die Offenheitsdimension, deren wir innewerden, indem uns ein xQ^ß& als Ort der gegenspännigen Fügung erscheint, die materielle Welt der von uns bewohnten „Natur", die natürliche Lebenswelt. Sie eröffnet sich im Widerspiel der Weltgegenden Himmel und Erde, und dies geschieht zu jeder Zeit und an allen Orten, wo Menschen die Erde bewohnen. Dieses Widerspiel findet zwar in concreto immer nur in einer bestimmten kulturellen Gestalt statt; d. h., was „Himmel" und „Erde" für die Menschen bedeuten, ist nicht in jeder Region auf dem Erdball dasselbe. Trotzdem unterliegt die Welt der politischen Angelegenheiten, verglichen mit der natürlichen Lebenswelt des Widerspiels von Himmel und Erde, in einer viel 13 Diese originäre Erfahrung bildet phänomenologisch die Grundlage für das, was Heidegger im Vortrag „Zeit und Sein" von der nicht mehr subjektivistisch interpretierten Zukunft sagt: „... sie hält das Gewesen offen, indem sie seine Ankunft als Gegenwart verweigert", in: Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 16. 14 Dies ist die originäre Erfahrung, aufgrund deren Heidegger im gleichen Vortrag, S. 16, vom Nähern der Nähe sagen kann, daß es „das Ankommen aus der Zukunft offenhält), indem es im Kommen die Gegenwart vorenthält". 15 Das in Anm. 14 genannte „Nähern" „verwahrt", wie Heidegger im Anschluß an den dort zitierten Satz fortfährt, „was im Gewesen verweigert, was in der Ankunft vorenthalten bleibt". 16 Vgl. hierzu v. Vf. „Eigentliche Existenz und politische Welt", in: K. Held u. J. Hennigfeld (Hrsg.): Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke, Würzburg 1993.
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durchgreifenderen Weise dem geschichtlichen Wandel, weil hier die Zeit regiert, die einerseits jeweils ein bestimmtes Ethos zur Gewohnheit werden läßt und die andererseits überraschend den Kairos möglich macht, der das ganze Zusammenleben einer Gemeinschaft verändern kann. Auch im „kosmologisch" verstandenen Widerspiel von Himmel und Erde macht der Mensch eine Erfahrung von Zeit, nämlich im Schwanken seiner Befindlichkeit, das grundlegend durch das „Klima" bedingt ist, d. h. dadurch, daß er als leibliches Wesen den periodischen Umschwüngen des Elementaren von Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, Helligkeit und Dunkelheit im Wechsel von Tag und Nacht und im Wechsel der Jahre und Jahreszeiten ausgesetzt ist. 17 Nur indem das Verhältnis zwischen dieser Zeiterfahrung und der Zeiterfahrung, auf die sich das Zusammenleben in einer politischen Welt gründet, geklärt wird, kann sich herausstellen, inwiefern die Welt der i r g i ^ a r a und die natürliche Lebenswelt der ^ ^ a r a Gestalten ein und derselben Welt sind, und erst damit beantwortet sich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den interkulturell invariablen Strukturen der natürlichen Lebenswelt und der geschichtlich wandelbaren politischen Welt. Weil diese Fragen erst noch gestellt werden müssen, hat die von Heidegger auf den Weg gebrachte Phänomenologie der Welt im Zeitalter des weltweiten Zusammenwachsens aller Kulturen ihre Zukunft noch vor sich.
17 Zu dem auf Herder zurückgehenden Begriff des für die Unterschiede der Kulturen maßgebenden „Klimas" und zum Verständnis des „Elementaren" vgl. v. Vf.: Sky and Earth as Invariants of the Natural Life-world, in: E.W. Orth und Chan-Fai Cheung (Hrsg.): Phänomenologische Forschungen Sonderband 1998: „Phenomenology of Interculturality and Life-world", Freiburg/München.
Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins als Moment der Methodik von „Sein und Zeit" Rainer Thurnher
A. Zum Inhalt Mit den nachstehenden Ausfuhrungen soll das Augenmerk auf ein zumeist wenig beachtetes, im Ganzen des Denkens von „Sein und Zeit" aber nicht unwesentliches methodisches Spezifikum Heideggers gelenkt werden. Um sich in seinen phänomenologischen Vorgaben abzusichern und den Ergebnissen seiner Analysen eine zusätzliche Bestätigung zu verschaffen, rekurriert Heidegger mehrfach auf vorontologische Selbstauslegungen des Daseins, wie sie seiner Ansicht nach in Mythen und Fabeln, im Sichaussprechen des Daseins in der Dichtung, in geläufigen Redewendungen und in einzelnen Wortbildungen der natürlichen Sprache zu finden sind. Die Darstellung und Einordnung dieses Momentes der Methodik von „Sein und Zeit" macht es erforderlich, sich die Grundintention der Fundamentalontologie sowie das Heideggersche Verständnis von Phänomenologie erneut vor Augen zu führen. Daraus ergibt sich die Gliederung dieser Untersuchung in die Abschnitte: Die Wiederholung der Seinsfrage (B), Das Konzept der Fundamentalontologie (C) Die Bedeutung des Vorontologischen (D), Die phänomenologische Methode (E) und Die gelegentlichen Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins (F).
B. Die Wiederholung der Seinsfrage „... daß das Dasein sich seinen Helden wählt - gründet existenzial in der vorlaufenden Entschlossenheit; denn in ihr wird allererst die Wahl gewählt, die für die kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren frei macht."1 - dieser markante Satz hat keineswegs, wie gelegentlich unterstellt wird, eine politische Bedeutung, wie auch mit der Rede vom „Helden" durchaus nicht auf Hegel und seine Apotheose der „Heroen der Weltgeschichte" Bezug genommen ist. Der Satz ist in einen Passus eingebaut, in dem es um das Existenzial der Wiederholung geht. Somit sollte eigentlich deutlich sein, daß darin auf Kierkegaard angespielt wird. 1
SZ S. 385 (= GA 2, S. 509); vgl. ebd. S. 371 (= GA 2, S. 490).
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Mit seinem Konzept der Wiederholung wendet sich Kierkegaard gegen die Rückwärtsgewandtheit der Romantik. Während der Romantiker sich damit zufrieden gibt, sein Ideal in ferner Vorzeit zu erblicken, um es fortan - unter gleichzeitiger Verachtung der Gegenwart - schwärmerisch zu verehren, fordert Kierkegaard die Wiederholbarkeit des Dagewesenen: Wer nicht mit aller Leidenschaftlichkeit bestrebt ist, jenes Überragende, das einst möglich war, wieder Wirklichkeit werden zu lassen, beraubt sich seiner Zukunft und verfehlt sein Menschsein. Für Kierkegaard, den „religiösen Schriftsteller", ist Abraham das Leitbild; er ist der von ihm erwählte „Held des Glaubens".2 Den Glauben Abrahams wieder Wirklichkeit werden zu lassen - freilich unter den besonderen Vorzeichen der gegenwärtigen, reflektierten und im ganzen glaubenslosen Zeit - das ist es, wofür er sich mit aller Leidenschaft, die Mittel seiner literarischen und dialektischen Begabung in genialer Weise ausschöpfend, einsetzt. In bewußtem Gegensatz zu Kierkegaard sieht Heidegger sich als Denker. 3 So mußte auch seine Wahl des „Helden" anders ausfallen. Der Held oder die Helden mußten Philosophen sein; und es sind eben jene, die auf den ersten Seiten von „Sein und Zeit" genannt und zitiert werden: Parmenides, Piaton und Aristoteles, die Wegbereiter des abendländischen Seinsdenkens - Aristoteles im besonderen als Begründer der wissenschaftlichen, systematisch ausgebauten Ontologie. Jedenfalls war die Stelle des Helden längst besetzt, als Heidegger an „Sein und Zeit" arbeitete, wie auch der Titel seiner Bemühungen - er findet sich im selben Zusammenhang ebenfalls genannt - seit Jahren bereits feststand: die Wiederholung der Seinsfrage. Wiederholung im existenzialen Sinne bedeutet jedoch nicht, das Vergangene einfach wiederzubeleben. Und so soll auch mit der Wiederholung der Seinsfrage das einst Gedachte keineswegs durch einen zeitgemäßen Aufguß dem Publikum nahegebracht werden. Nichts lag Heidegger ferner als eine billige Aktualisierung im Sinne etwa eines Neo-Platonismus oder Neo-Aristotelismus. Die Wiederholung als „kämpfende Nachfolge und Treue zum Wiederholbaren" ist vielmehr der „Rückgang in Möglichkeiten des dagewesenen Daseins"4:
2 Zur Selbstkennzeichnung Kierkegaards als „religiöser Schriftsteller" vgl. Sören Kierkegaard, Die Schriften über sich selbst , Gesammelte Werke, hrsg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Köln 1960, 33. Abt.; zur Kennzeichnung Abrahams als „Held des Glaubens" vgl. Furcht und Zittern , a.a.O., 4. Abt., S. 12f. und passim. 3 Glauben und Denken sind - wenigstens nach Heideggers damaliger Sicht der Dinge (und auch darin weiß er sich mit Kierkegaard einig; vgl. Furcht und Zittern , a.a.O. S. 8) - zwei existenzielle Grundhaltungen, zwischen welchen eine Vermittlung nicht möglich ist, so daß man zu wählen hat. Dementsprechend hält Heidegger fest: „Kierkegaard ist kein Denker, sondern ein religiöser Schriftsteller ..., der einzige dem Geschick des Zeitalters gemäße." (GA 5, S. 249; vgl. GA 63, S. 30). Zur Unterscheidung von Denken und Glauben vgl. GA 61, S. 2 und 195ff.; GA 9, S. 66; GA 60, S. 173; Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, hrsg. von H. Tietjen, Tübingen 1989, S. 6. 4 SZ S. 385 (= GA 2, S. 509; Herv. v. Verf.); vgl. ebd. S. 391f, 394f. (= GA 2, S. 517, 521); GA 26, S. 88.
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Die Wiederholung läßt sich, einem entschlossenen Sichentwerfen entspringend, nicht vom „Vergangenen" überreden, um es als das vormals Wirkliche nur wiederkehren zu lassen. Die Wiederholung erwidert vielmehr die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. Die Erwiderung der Möglichkeit im Entschluß ist aber zugleich ... der Widerruf dessen, was im Heute sich als Vergangenheit auswirkt. 5
Es geht in der Wiederholung mithin darum, den Möglichkeitshorizont wiederzugewinnen, der einstens bestand. Zur Wiederholung gehört das Verständnis, weshalb von den anfänglich offenstehenden Möglichkeiten nur ganz bestimmte realisiert wurden. Sie richtet ihr Augenmerk sodann auch darauf, wie im weiteren Verlauf die ursprünglichen Möglichkeiten zunehmend verstellt wurden, da der einmal eingeschlagene Weg in weiteren Filiationen sich von ihnen entfernte und - eben aufgrund dieser sukzessiven Abkehr von den andersartigen Optionen - alsbald für selbstverständlich gehalten und als der einzig gangbare immer wieder ausgeschritten wurde. Im Gegenzug dazu wird in der Wiederholung der geschichtliche Gang Schritt für Schritt zurückverfolgt, um die Abzweigungen, die möglichen Alternativen und die nicht begangenen Pfade hervortreten zu lassen. Die Wiederholung ist so ein Wieder-einholen der Möglichkeiten, die vormals offenstanden, aber nicht ergriffen wurden. Dabei geht es nicht darum, sie sich zu theoretischer Kenntnis zu bringen, sondern sie als zurückgewonnene, den Zukunftshorizont des Daseins fortan mitbestimmende Perspektiven zu begreifen. In ihrem Lichte wird es möglich, das zur Selbstverständlichkeit Gewordene als Verengung und Verstellung wahrzunehmen und zu einem echten Neuanfang im Sinne einer radikalen Verwandlung des Daseins zu gelangen. So ist die Wiederholung in diesem selbst verankert als ein Existenzial, als eine Möglichkeit also, die ergriffen, aber auch ungenutzt gelassen werden kann. Ihre Realisierung ist motiviert durch die Sorge des Daseins um seine Zukünftigkeit. Sie beinhaltet die Bereitschaft, zum Dagewesenen auf Distanz zu gehen, es wahrzunehmen als problematische Verengung, als ein Verfehlen genuiner Möglichkeiten, an deren Wiedergewinnung dem Dasein gelegen ist. So auch in der Wiederholung der Seinsfrage. In den ersten Anfängen der Ontologie bereits ortet Heidegger eine Preisgabe ursprünglicher Möglichkeiten. Parmenides, Piaton und Aristoteles kommen zwar als Vorbilder in Betracht und werden als „Helden" erwählt, weil sie noch in echter Weise von der Rätselhaftigkeit des Seins betroffen und umgetrieben sind. Das „Forschen von Piaton und Aristoteles" wird von der Seinsfrage, die keine beliebige ist, sondern dadurch aufbricht, „daß wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist" 6 , buchstäblich „in Atem gehalten" 7 . Gleichwohl bleibt ihre „höchste Anstrengung des Denkens ... bruchstückhaft" und kommt gewissermaßen nach „ersten Anläufen" 8 auf halbem Wege zum Stehen. Zwei Momente sind es, die dabei die Begrenztheit der antiken Ontologie ausmachen, und die der abendländischen Philosophie in der Folge insgesamt eine als problematisch zu begreifende Ausrichtung geben: einmal ihre 5 6 7 8
SZS. 386 ( = G A 2 , S. 510). SZ S. 4 (= GA 2, S. 6). SZ S. 2 (= GA 2, S. 3); vgl. dazu insbes. GA 26, SS. 18 - 23. SZ S. 2 (= GA 2, S. 3).
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einseitige Orientierung am innerweltlich Seienden und zum anderen ihre Fixierung auf die Anschauung. Piaton und Aristoteles, so fuhrt Heidegger aus, orientieren sich in ihrem Bemühen um die thematische Hebung der grundlegenden Seinsbestimmungen primär an den Naturdingen und Gebrauchsdingen. Alle übrigen Regionen des Seienden werden von ihnen im Lichte der so gewonnenen ontologischen Grundbegriffe, d.h. in Analogie zum innerweltlich Seienden, gesehen und ausgelegt.9 Die Folge ist, daß der ursprüngliche Reichtum an Seinsverfassungen nicht in den Blick kommt. Statt dessen bildet sich ein einheitlicher, nivellierter Seinsbegriff aus, der zur Deutung sämtlicher Phänomenbestände herangezogen wird. Dies zieht in vielfacher Hinsicht Verstellungen, verkehrte Auffassungen und künstliche Konstrukte, die für die Sachen selbst einstehen sollen, nach sich. Weder die einzelnen Regionen des Seienden als solche, noch ihr Zusammenhang, ihre wahren Fundierungsverhältnisse, sind so angemessen zu begreifen. Am schwersten wiegt in dieser Hinsicht die Verstellung des Daseinsphänomens. Die antike Ontologie ist, wie Heidegger ausführt, blind für die Strukturganzheit der menschlichen Existenz als Sorge und In-der-Welt-sein, so daß auch das Weltphänomen als solches übersprungen 10 und in seiner Bedeutung nicht erkannt wird. Zu dieser besonderen Ausrichtung der antiken Ontologie hat, wie erwähnt, auch der Primat der Anschauung beigetragen. Bei Parmenides bereits, wie in der Folge bei Piaton und Aristoteles, werden das Xeysw und das voeTv als der primäre Bezug des Menschen zur Wirklichkeit angesehen.11 Der sprachliche Aufweis und die Anschauung - die sinnliche ebenso wie die (meist in Analogie zu ihr gedachte) geistige - sind die Vollzugsweisen, durch die der Mensch in ein commercium mit dem Seienden tritt und sich Kunde von ihm verschafft. Dieser primäre Bezug des Menschen zu allem Seienden hat - auch das ist in diesem Ansatz bereits keimhaft angelegt - den Charakter der bildlichen Stellvertretung, der repraesentatio im vorstellenden Erkennen. Übersehen wird damit, daß der Mensch zu einzelnem Seienden wie auch zum Seienden im Ganzen vor allem thematischen Erkennen bereits in viel ursprünglicheren Bezügen steht, und daß diese Bezüge dem Menschen durchaus nicht verborgen, sondern durchsichtig sind - wenngleich zumeist unthematisch und in mannigfachen Formen sowie in Graden des Mehr oder Weniger. Zu diesen ursprünglicheren Bezügen gehört die Befindlichkeit ebenso wie der sorgende Umgang und die Sprache als ganze, die nicht auf den Aussagesatz zu reduzieren ist. Befindlichkeit, Verstehen und Rede sind jedoch die konstitutiven Modi des In-Seins, d. h. der Gelichtetheit des Daseins als In-der-Welt-sein. Somit hat sich die antike Ontologie auch von da her den Zugang zum Daseinsphänomen verbaut. Wo die ursprünglichen Phänomene in dieser Weise verstellt sind, kommt es zu verkehrten, problematischen Begriffsbildungen, zu verzwungenen, mehr 9 Vgl. dazu SZ S. 15 f , 22, 206, 225 (= GA 2, S. 20f, 29f, 273f., 298); GA 24, S. 30, 171. 10 Vgl. SZ S. 95 - 99 (= GA 2, S. 127 - 132). 11 Vgl. SZ S. 25f., 138, 171 (= GA 2, S. 34f.,184, 227); GA 21, S. 56f, 123, 191 193,415.
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oder weniger künstlichen Konstruktionen, um die Phänomene doch noch in irgendeiner Weise zu „retten". Dem Erklärungsbedarf, der entsteht, wo ein irregeleiteter Blick die genuinen Zusammenhänge nicht mehr zu sehen vermag, wird begegnet mit mehr oder weniger monströsen Theoriebildungen. Scheinfragen entstehen, die ein zähes Eigenleben entwickeln. Sie bannen und behexen gleichsam alles philosophische Interesse und absorbieren es dahingehend und dermaßen, daß ihm der Sinn für das Beunruhigende der Seinsfrage zuletzt abhanden kommt. Die Seinsfrage ist, wie Heidegger feststellt, „heute in Vergessenheit gekommen"12. Dieser Befund macht es notwendig, sie zu wiederholen. An Parmenides, Piaton und Aristoteles muß wieder angeknüpft werden, was ihr Empfinden für die Rätselhaftigkeit und die Dringlichkeit der Seinsfrage betrifft. Zugleich aber muß der Widerruf erfolgen, indem aufgezeigt wird, wie diese Denker durch eine bestimmte Vor-struktur 13 ihres Verstehens sich den Zugang zu den Phänomenen verbaut haben - und zwar nicht zu beliebigen Phänomenen, sondern gerade zu jenem Phänomenkomplex, dessen Hebung am ehesten Licht und Orientierung in die vielschichtige Problematik des Seins zu bringen vermag. Dergestalt wird die Möglichkeit, von der die Ontologie sich in ihren ersten Anfängen abgekehrt hat, wieder eingeholt und aufgeschlossen als jene Dimension - oder, um mit Heidegger zu sprechen: als jene „Gegnet" - durch die ein andersanfängliches Denken nunmehr seinen Weg zu spuren und zu bauen hat; einen Weg, der, wie sich herausstellen sollte, auch Kehren miteinschloß. Der erste Abschnitt dieses Denkweges steht dabei im Zeichen der Fundamentalontologie. 14
C. Das Konzept der Fundamentalontologie Heidegger übernimmt von den Begründern der abendländischen Ontologie die Leitfrage als Frage nach dem Sein des Seienden. Während diese jedoch, wie erwähnt, sich in der Herausarbeitung der ontologischen Grundstrukturen vor12
SZ S. 2 (= GA 2, S. 3). Die Vorstruktur des Verstehens umfaßt, wie Heidegger in § 32 von „Sein und Zeit" ausführt, Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff. In allen drei Hinsichten - sie machen in ihrer Gesamtheit die hermeneutische Situation aus [vgl. SZ S. 232; (= GA 2, S. 308); GA 20, S. 414f.] - ist die antike Ontologie durch vorgreifende Festlegungen charakterisiert und in ihrem Horizont wie auch in ihren Fragemöglichkeiten eingeengt: was die Vorhabe betrifft durch den Primat des innerweltlichen Seienden als Paradigma der Seinsauslegung; was die Vorsicht betrifft durch den Vorrang von Anschauung und Theorie vor anderen Weisen der (vortheoretischen, vorthematischen) Erschlossenheit wie etwa Umsicht, Rücksicht oder Durchsichtigkeit, zu welcher wesentlich auch die Befindlichkeit gehört; was den Vorgriff betrifft durch den Primat des apophantischen Logos und eine auf alle drei Momente der Vorstruktur sich gründende spezifische Begrifflichkeit. 14 Vgl. dazu die grundlegenden und richtungweisenden Untersuchungen von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens , Frankfurt/M. 1990, Heideggers „ Grundprobleme der Phänomenologie" . Zur „Zweiten Hälfte" von „Sein und Zeit", Frankfurt/M. 1991 und Wege ins Ereignis. Zu Heideggers „Beiträgen zur Philosophie" , Frankfurt/M. 1994. 13
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nehmlich am innerweltlich Seienden orientierten, so daß in der Folge ein Durchschnittsbegriff von Sein sich herausbildete im Sinne der bloßen Vorhandenheit, kommt es Heidegger darauf an, im Gegenzug dazu die vielfältigen Regionen des Seienden zu berücksichtigen und deren je spezifische Seinsverfassung zur Geltung zu bringen. Sein erstes Anliegen ist es, „uns überhaupt das Problem einer Mannigfaltigkeit von Weisen des Seins, über die Einzigkeit des nur Vorhandenen hinaus, näher zu bringen" 15 und den Blick dafür zu schärfen, daß es neben der Vorhandenheit als der Seinsweise des bloß (zufällig oder durch wissenschaftliche Objektivierung) Vorfindlichen eine Vielfalt von weiteren Seinsverfassungen zu berücksichtigen gilt, wie etwa die Zuhandenheit als die Seinsweise der Gebrauchsdinge (des Zeugs), die Existenz als die Seinsweise des menschlichen Daseins, Leben als die Seinsweise der Tiere, Bestand als die Seinsweise der mathematischen Entitäten; daß weiters die Frage zu stellen ist nach dem Sein der Sprache, des Mythos, der Kunst, des „Heiligen" und des „Übermächtigen" (des daiiioviov, des Göttlichen). Überall haben wir es hier mit genuinen, nicht aufeinander rückführbaren Seinsverfassungen zu tun, deren unverfälschte Vorgabe und thematische Hebung dem andersanfänglichen Denken als Aufgabe zufällt. Sie bleibt aber weder die einzige noch die eigentlich ins Zentrum führende. Der Blick nämlich auf die Mannigfaltigkeit der Seinsverfassungen macht es notwendig, die Leitfrage durch die der herkömmlichen Ontologie in dieser Weise noch nicht zugängliche Grundfrage 16 zu ergänzen: durch die Frage nach dem Sinn des Seins. Das Problem der regionalen Mannigfaltigkeit des Seins aber schließt in sich, gerade wenn es universell gestellt wird, die Frage nach der Einheit dieses allgemeinen Titels „Sein", nach der Weise der Abwandlung der allgemeinen Bedeutung „Sein" zu den verschiedenen regionalen Bedeutungen. Das ist das Problem der „Einheit der Seinsidee" und ihrer regionalen Abwandlungen. 17 Es geht also darum, den Horizont aufzusuchen, von dem her ein Verstehen des Seins sowohl in seinem inneren Reichtum, im Gefüge seiner Abwandlungen, wie auch in seiner Einheit als Sein überhaupt ermöglicht wird. Was ist es letztlich, „was die ganze Unterscheidung des Seinsunterschiedes dirigiert" 18 ? Sollte uns jenes transzendentale Moment ganz verborgen bleiben, das es erlaubt, im alltäglichen sorgenden Umgang von einem Seienden zum anderen überzugehen? Worin gründet die Verstehbarkeit von dergleichen wie Sein? Was ist der Sinn von Sein? Mit dieser Grundfrage erst wird deutlich, daß die Frage nach der Seinsweise des menschlichen Daseins nicht einfach auf derselben Ebene liegt wie die Frage nach den Seinsverfassungen der übrigen Regionen. Konnte unter dem Aspekt der Leitfrage noch der Eindruck entstehen, wir hätten es mit einer Man15
GA 24, S. 171. Zur Unterscheidung von Leitfrage und Grundfrage vgl. insbes. GA 31, S. 32 ff. und 113 ff. 17 GA 26, S. 192. 18 GA 20, S. 158. 16
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nigfaltigkeit gleichrangiger Seinsweisen zu tun, so tritt mit dem Übergang zur Grundfrage die Besonderheit des Daseins hervor, daß es allein unter allem Seienden durch ein Verstehen des Seins sich auszeichnet. Das Dasein allein verfügt über ein Seinsverständnis. Diese These bedarf der Erläuterung. Im Unterschied zu allem übrigen Seienden ist dem Dasein sein Sein nicht einfach vorgegeben, sondern aufgegeben. Da es dem Dasein „in seinem Sein um dieses Sein selbst geht" 19 , muß ihm zunächst ein Verstehen seines eigenen Seins zukommen. Wäre es sich selbst in seiner Existenzialität nicht mehr oder weniger durchsichtig, so vermöchte es nicht zu existieren. Zu dieser Erschlossenheit des eigenen Seins gehört aber des weiteren auch eine Vertrautheit mit dem Sein alles dessen, worauf das Dasein im Vollzug seiner Existenz bezogen und angewiesen ist. Um sich im ganzen des Seienden zurechtzufinden, muß das Dasein mit der je spezifischen Seinsweise dessen vertraut sein, womit es zu tun und zu schaffen hat, worauf es sich einstellen muß, womit es zu rechnen hat und worauf es bauen kann. 20 Das Dasein ist nicht zu denken ohne dieses universale Seinsverständnis, das ihm als einzigem unter allem Seienden zukommt. Dies ist der Grund, weshalb der Analytik der Existenz eine Priorität vor der Hebung der übrigen Seinsweisen zukommt. Eine Hebung und thematische Erfassung der einzelnen Seinscharaktere alles nicht-daseinsmäßig Seienden ist letztlich nur zu erreichen im Durchgang durch eine möglichst umfassende Erhellung der Existenz. Die Ontologie wird so im Zuge der Wiederholung auf ihren Ursprung zurückgeführt. Sie wird unter Zugrundelegung der Existenzialanalyse zur Fundamentalontologie , wobei Heidegger in der ekstatischhorizontalen Struktur der daseinsmäßigen Zeitlichkeit den "Sinn von Sein" meint aufweisen zu können. Die Zeitlichkeit der Existenz als in Zukunft und Gewesenheit „gehaltene" Gegenwart, welche Anwesenheit (Sein von Seiendem) ermöglicht, ist in sich derart gegliedert und abwandelbar, daß die einzelnen Seinscharaktere von ihr her sich sollten „generisch differenzieren" 21 lassen. Wir finden im Denken von „Sein und Zeit" aber auch den Anspruch erhoben, vom Dasein und seiner existenzial-zeitlichen Verfaßtheit her die Geschichte der bisherigen Ontologie verständlich zu machen. Auch hier zeigt sich einmal mehr der innere Zusammenhang zwischen Heideggers Grundbewegung 19
SZS. 1 2 ( = G A 2, S. 16). Vgl. GA 24, S. 14: „Verstünden wir nicht, wenngleich zunächst roh und unbegrifflich, was Wirklichkeit besagt, dann bliebe uns Wirkliches verborgen. Verstünden wir nicht, was Realität bedeutet, dann bliebe Reales unzugänglich. Verstünden wir nicht, was Leben und Lebendigkeit besagt, dann vermöchten wir uns nicht zu Lebendigem zu verhalten. Verstünden wir nicht, was Existenz und Existenzialität besagt, dann vermöchten wir selbst nicht als Dasein zu existieren. Verstünden wir nicht, was Bestand und Beständigkeit bedeutet, dann blieben uns bestehende geometrische Beziehungen und Zahlverhältnisse verschlossen. Wir müssen Wirklichkeit, Realität, Lebendigkeit, Existenzialität, Beständigkeit verstehen, um uns positiv zu bestimmtem Wirklichen, Realen, Lebendigen, Existierenden, Bestehenden verhalten zu können. Wir müssen Sein verstehen, damit wir an eine seiende Welt ausgeliefert sein können, um in ihr zu existieren und unser eigenes Dasein selbst sein zu können." Vgl. auch GA 24, S. 21, 397f.; GA 3, S. 227; GA 26, S. 170; GA 24, S. 21; GA 31, S. 42. 21 SZ S. 403 (= GA 2, S. 533); vgl. GA 24, S. 24. 20
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der Wiederholung und dem „ersten Ausarbeitungsweg" der transzendental-horizontal gerichteten Seinsfrage in der Fundamental-ontologie.22 Gehört es insgesamt zum Existenzial der Wiederholung, sich nicht von der eigenen Gewesenheit abzukehren, sondern sie in kritisch gerichteter Bekümmerung einzuholen und sie als durchsichtig gewordene zu einem bestimmenden Motiv der iLeravoia zu machen, so meint Heidegger nunmehr mit seinem Ansatz „die spezifische Seinsart der bisherigen Ontologie, die Geschicke ihres Fragens, Findens und Versagens als daseinsmäßig Notwendiges zur Einsicht" 23 bringen zu können. In der dem Dasein innewohnenden Tendenz, sich mit sich selbst nicht auseinandersetzen zu wollen, sich abzukehren von der Unheimlichkeit und dem Lastcharakter der Existenz, wie sie in der Befindlichkeit der Angst sich zeigen - in dieser Tendenz zur Flucht und zum Ausrücken vor dem eigenen Selbst sieht Heidegger den tieferen Grund, weshalb auch die Philosophie das Dasein nicht zum Thema gemacht hat. Sich von sich selbst abkehrend verfällt das Dasein an die Welt und ihre Besorgbarkeiten. Dergestalt von der Welt benommen ist es primär dem innerweltlich Seienden zugewandt. So war es auch für die Ontologie im ersten Anfang naheliegend, diese Einstellung zu übernehmen und primär am innerweltlich Seienden sich zu orientieren. Zum Ausrücken vor sich selbst und zum Verfallen gehört auch die Neugier, das Sich-Verlegen auf das bloße Sehen und Betrachten. 24 So entspricht auch der Primat der Theoria und der Noesis in der Philosophie dem „Zunächst und Zumeist" der durchschnittlichen Existenz. Die Unterscheidung von Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit, die Gegenüberstellung der Existenzweisen des Verfallens und der vorlaufenden Entschlossenheit, wie sie für die gesamte Anlage von „Sein und Zeit" charakteristisch ist, hat nicht so sehr den Sinn eines ontisch-existenziellen Appells, als vielmehr die aufgezeigte Bedeutung, den transzendentalen Horizont freizulegen, von dem her sich das Seinsverständnis explizieren läßt, und zwar sowohl in seiner inneren Möglichkeit wie auch in seiner geschichtlichen Bewegtheit, in seiner Tendenz zum Abfall in eine bloß vage und durchschnittliche Auffassung. Die Seins Vergessenheit, das Überspringen des Daseins- und des Weltphänomens sind so gesehen nichts Zufälliges. Sie lassen sich zurückführen auf die existenziale Verfaßtheit des Daseins und die daraus resultierende Bewegtheit der Existenz. „Sein und Zeit" ist somit kein Werk des Existenzialismus. Es will überhaupt nicht als ein Werk gelesen werden, sondern erschließt sich nur dem, der es als die Manifestation eines zeitweiligen, sachgegründeten, aber nicht
22 Zur überzeugenden und erhellenden Kennzeichnung der Fundamentalontologie als eines ersten Ausarbeitungswegs der Seinsfrage in der transzendental-horizontalen Blickbahn in Abhebung vom seinsgeschichtlichen Denken vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Weg und Methode , a.a.O., S. 11 und passim, Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie ", a.a.O., S. 56 - 62, sowie Wege ins Ereignis, a.a.O., S. 6 und passim. Zur Motivation des Überganges zum zweiten Ausarbeitungsweg vgl. die Arbeit des Autors: Wandlungen der Seinsfrage. Zur Krisis im Denken Heideggers nach „Sein und Zeit", Tübingen (Attempto), 1997. 23 SZ S. 19 (= GA 2, S. 26); vgl. weiters GA 20, S. 179, 182, 185. 24 Vgl. SZ S. 170 (= GA 2, S. 226f.); GA 21, S. 56.
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endgültigen, sondern über sich hinausweisenden Stadiums im Ausarbeitungsweg der Seinsfrage begreift.
D. Die Bedeutung des Vorontologischen Doch kommen wir zurück zum Seinsverständnis, das zum Dasein in unabtrennbarer Weise gehört. Wichtig ist es hier zu sehen, daß dieses primäre Seinsverständnis, in dem wir uns immer schon bewegen, vorontologischen Charakter hat. Das Seinsverständnis ist nicht grundsätzlich abhängig davon, ob der Mensch darauf eigens achtet und sich ihm philosophierend zuwendet. Das im Existieren selbst angelegte Seinsverständnis geht jeder ontologischen Bemühung voraus und muß daher als vorontologisches Seinsverständnis gefaßt werden. Dieses implizite, vorontologische Seinsverständnis nun kann in Relation gesetzt werden einerseits zum Seinsverständnis der ontologischen Tradition des Abendlandes seit Piaton und Aristoteles, andererseits zu demjenigen expliziten Seinsverständnis, welches Heidegger mit seiner Wiederholung der Seinsfrage intendiert. Dann ergibt sich - freilich schon unter dem Gesichtspunkt und im Lichte der Fundamentalontologie - folgendes Bild: Das Seinsverständnis der abendländischen Tradition hat sich als undifferenziert erwiesen. Die leitende Seinsidee ist die der Vorhandenheit, wodurch die Mannigfaltigkeit der Seinsweisen ebenso verstellt wird wie das Daseins- und das Weltphänomen. Demgegenüber erweist sich das „natürliche", vortheoretische Seinsverständnis in gewisser Weise als ursprünglicher. Es hat, wenn man so will, eine größere „Nähe" zu den Phänomenen. Das Dasein könnte mit sich selbst und mit allem anderen Seienden nicht zurande kommen, wäre es nicht - in vortheoretischer Weise - vertraut mit den Seinscharakteren der einzelnen Regionen. Zweifellos spielt auch hier die Tendenz zum Verfallen herein, und je mehr das philosophisch zunächst unverbildete Dasein genötigt wird, eine „Vorstellung" vom Sein auszubilden, umso eher wächst die Gefahr, daß diese - nicht zuletzt auch unter dem Einfluß philosophischer Theoreme - relativ undifferenziert ausfällt. Aber im ursprünglichen Bezug zum eigenen Selbst und zu den Sachen zeigt sich doch eine Differenziertheit und Treffsicherheit des Umgehens mit... und des Eingehens auf...; das will heißen: wir haben es hier mit einem „Wissen" zu tun, das zwar unthematisch, dafür aber phänomengerecht und in diesem Sinne „wahr" ist. So „oszilliert" also das vorontologische Seinsverständnis gewissermaßen zwischen einer verhältnismäßig akkuraten Differenziertheit im faktischen Umgang und einer gewissen Indifferenz in der durchschnittlichen Auffassung vom Sein. Heidegger kann daher sagen: „Das vorontologische Seinsverständnis umgreift zwar alles Seiende, das im Dasein wesenhaft erschlossen ist, das Seinsverständnis hat sich aber noch nicht entsprechend den verschiedenen Seinsmodi artikuliert." 25 Und: „ Das Seinsverständnis ist indifferent, aber jederzeit differenzierbar." 26 Eben hier setzt die Fundamentalontologie 25 26
SZ S. 200 f. (= GA 2, S. 266). GA 24, S. 250.
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an. Ihr geht es darum, die im vorontologischen Seinsverständnis immerhin angelegte Differenziertheit explizit zu machen. Hat sich das vorontologische Seinsverständnis als differenzierter erwiesen als die Seinsauffassung der philosophischen Tradition, so zielt Heidegger nunmehr mit seinen Bemühungen auf ein im höchsten Maße differenziertes Seinsverständnis ab, das zudem in dieser seiner Differenziertheit zugleich explizit gemacht und als solches „auf den Begriff gebracht" werden soll. In diesem Sinne ist die Fundamentalontologie für Heidegger „nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses."27 Von da her erschließt sich auch ein weiteres Dictum Heideggers - ein Dictum, das für die in der vorliegenden Arbeit zu behandelnde Thematik von grundlegender Bedeutung ist. Wenn Heidegger sagt: „Dasein ist ihm selbst ontisch „am nächsten", ontologisch am fernsten, aber vorontologisch doch nicht fremd" 28 , so besagt dies: der herkömmlichen Ontologie mußte das Daseinsphänomen verschlossen bleiben. Der Vorhandenheitsontologie entzieht sich das Dasein als In-der-Welt-Sein. Da aber das Dasein sich selbst ontisch „am nächsten" ist, insofern es im sorgenden Vollzug es selbst ja unmittelbar ist und zu sein hat, kann das Dasein sich vorontologisch nicht gänzlich fremd sein. Vorontologisch ist das Dasein sich selbst erschlossen und in seinem Sein, d. h. in den Momenten und Bezügen seiner Existenz, durchsichtig. Diese vorphilosophische „Belehrtheit" des Daseins über sich selbst muß auch ihren Niederschlag gefunden haben. Und sie hat in der Tat sich manifestiert in Sagen, in Fabeln und Mythen, in den Werken der Dichtung, in einzelnen Wortbildungen der natürlichen Sprache und in gängigen Redewendungen. Ein Denken, das sich insofern als „radikal" bezeichnet, als es das Dasein und sein vorontologisches Seinsverständnis zur Grundlage macht, muß daher zwangsläufig auf solche Spuren der vortheoretischen Selbstdurchsichtigkeit des Daseins achten und ihnen entscheidende „ Winke " entnehmen. Da das Dasein sich in der vorontologischen Selbstauslegung „doch nicht fremd" und immerhin „näher" ist als in der herkömmlichen philosophischen Selbstauslegung, muß eine als „Wiederholung" sich verstehende Philosophie sich Unterstützung erhoffen von dem, was an vortheoretischer Einsicht in diesen Bereichen sich darbietet. Zur phänomenologischen Methode von „Sein und Zeit" gehört als ein wesentliches Moment daher der Rekurs auf die vorontologische Selbstauslegung menschlicher Existenz.
£. Die phänomenologische Methode Da die Ontologie, wie sie durch Piaton und Aristoteles grundgelegt wurde und in der Folge sich weiterentwickelt hat, letztlich auf einer Verfehlung der für ihre Problematik zentralen Phänomenbestände beruht, bleibt es der Fundamentalontologie versagt, sich methodisch am bisherigen Philosophieren zu orientieren. In der Wiederholung der Seinsfrage selbst jedoch liegt die Anwei27 28
SZ S. 15 (= GA 2, S. 20); vgl. GA Bd. 31, S. 44; Bd. 24, S. 398 f. SZ S. 16 (= GA 2, S. 22); vgl. ebd. S. 15 (= GA 2, S. 21).
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sung, eben diese verstellten Phänomenbestände zurückzugewinnen. Nur aus der strengen Bindung an die „Sachen selbst" vermag sie ihren kritischen Anspruch zu rechtfertigen und in den bislang in dieser Weise noch nicht thematisierten Zusammenhängen die Orientierung zu bewahren. Die Methode der Fundamentalontologie kann für Heidegger daher nur die der Phänomenologie sein. Verfällt Heidegger damit aber nicht doch wieder darauf, sich am Vorgegebenen zu orientieren, indem er die phänomenologische Methode einfach von seinem Lehrer Husserl übernimmt? Indes: auch hier erfolgt die Übernahme in kritisch gerichteter Weise. Zwar liegt in der von Husserl ausgegebenen Parole „Zu den Sachen selbst!" ein entscheidender Aufbruch; aber auch Husserl und seine Schüler vermochten nur einen Teil der Phänomene, auf die es hier ankommt, zu heben. Husserls Beachtung des Weltphänomens und der kategorialen Anschauung oder Schelers Analysen der Befindlichkeit beispielsweise bieten wichtige Einblicke und stellen die Leistungskraft der Phänomenologie unter Beweis. Das Ganze jedoch bleibt ohne die entscheidende Direktion. Es erweist sich zudem als eingebaut in einen theoretischen und begrifflichen Rahmen, der nicht so sehr durch die Phänomene selbst nahegelegt als vielmehr aus den Vorgaben der Tradition stillschweigend übernommen wurde. So liegt für Heidegger in der Phänomenologie ein bei weitem noch nicht ausgeschöpftes Potential an Möglichkeiten. 29 Diese gilt es zu nutzen. Von zentraler Bedeutung für Heideggers Methodenverständnis ist dabei sein Aufweis des inneren Zusammenhangs von Phänomenologie und Ontologie. Um diesen deutlich zu machen, expliziert Heidegger den „Vorbegriff der Phänomenologie" in der Weise, daß er auf die Sinnkomponenten des Begriffs „Phänomenologie" eingeht. Das Xeyeiv wird dabei näher bestimmt als oLTTocpaiveoüai und dieses als aufweisendes Sehenlassen, als ein Zum-Erscheinen-bringen des in Frage Stehenden von ihm selbst her. Als grundlegendes Bedeutungsmoment von cpaivoiievov wird - in Abhebung von den abgeleiteten Bestimmungen als Schein, Erscheinung, Anschein usw. - das Sich-von-ihmselbst-her-zeigen aufgewiesen. Somit verweisen die Sinnkomponenten des Begriffs der Phänomenologie aufeinander und bedeuten in ihrer Einheit jedes aufweisende Sehenlassen des sich von ihm selbst her Zeigenden. Indes ist nicht alles, was sich von ihm selbst her zeigt, schon ein Phänomen im philosophischen und damit im genuin phänomenologischen Sinne. Heidegger nimmt daher eine Differenzierung vor, indem er den „phänomenologischen Phänomenbegriff 4 vom „vulgären" abhebt.30 Was sich gewöhnlich zeigt und somit Phänomen im vulgären Sinne ist, ist das Seiende, das Ontische. Seine Beschreibung ist noch nicht Philosophie. Diese bemüht sich vielmehr um die Hebung dessen, was sich „zunächst und zumeist gerade nicht zeigt" 31 , was am 29 Vgl. SZ S. 38 (= GA 2, S. 51 f.): „ ... ihr [sc. der Phänomenologie] Wesentliches liegt nicht darin, als philosophische „Richtung" wirklich zu sein. Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit. Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit."; vgl. dazu die vorangehenden kritischen Bemerkungen ebd. S. 36 f. (= GA 2, S. 49). 30 Vgl. SZ S. 35 (=GA 2, S. 47). 31 Ebd.
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Phänomen jedoch als ein Vorgängiges und Mitgängiges zur Abhebung gebracht werden kann. Dieses genuin phänomenologische Phänomen aber ist das Sein des Seienden und - in Bezug auf die menschliche Existenz - das Verstehen dieses Seins im Dasein. Somit sind Phänomenologie und (Fundamental-)Ontologie austauschbare Begriffe; und: sie bezeichnen die Philosophie insgesamt, da nach dem wiederholenden Rückgang auf die Fundamentalsphäre des Seinsverständnisses alles weitere philosophische Fragen von diesem Grund her neu zu entfalten ist. So sind „Ontologie und Phänomenologie ... nicht zwei verschiedene Disziplinen neben anderen zur Philosophie gehörigen. Die beiden Titel charakterisieren die Philosophie selbst nach Gegenstand und Behandlungsart." 32 Um der Maxime der Phänomenologie zu genügen, um also „die Sachen selbst" wirklich zu erreichen und ihnen in der thematischen Hebung gerecht zu werden, genügt es nicht, sich ihnen einfach zuzuwenden, auf sie aufmerksam zu sein und das in solcher Aufmerksamkeit Gegenwärtige schlicht zu beschreiben. Würde man so vorgehen, liefe man vermutlich Gefahr, die Irrtümer und Verfehlungen der bisherigen philosophisch-ontologischen Tradition nochmals zu begehen. Unsere Weise des Herangehens an die Dinge, unser Vorverständnis derselben und die Sprache, die wir zu ihrer Beschreibung verwenden, sind in höherem Maße, als gemeinhin vermutet wird, durch die Tradition des abendländischen Denkens geprägt und belastet. Ein naives Handhaben der Phänomenologie würde daher unbemerkt den Verstellungen, von welchen oben die Rede war, erneut zum Opfer fallen. Phänomenologisches Denken kann nur dann zum Ziel gelangen, wenn es sich kritisch macht gegenüber der Tradition und gegenüber den im Dasein selbst angelegten Tendenzen, die in der Tradition sich ausgewirkt haben. Heidegger fordert und praktiziert daher als ein integrales Moment des phänomenologischen Philosophierens die Destruktion der Ontologie. Im Durchgang durch den kritischen Abbau der Verdeckungen und Verdeckungstendenzen innerhalb der philosophischen Überlieferung hat die Phänomenologie sich einen freien Blick erst zu erarbeiten.. Man könnte nun meinen, daß dieses Verfahren der Destruktion der Ontologie durch den Abbau der überlieferten Vorurteile zu einem von Vorurteilen gänzlich freien Herangehen an die „Sachen selbst" führt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Dem Existenzial des Verstehens entsprechend muß auch der Phänomenologe hermeneutisch verfahren. Nur auf der Basis entsprechender Vorgaben, nur wenn ein möglichst erhellendes Vorverständnis ins Spiel gebracht wird, ist es dem Phänomen möglich, sich in all seinen Aspekten zu entfalten und in seinem vollen Wesensreichtum hervorzutreten. Das Phänomen kann sich von ihm selbst her nur zeigen, wenn es hermeneutisch erschlossen wird: „Der Xoyoç der Phänomenologie des Daseins hat den Charakter des egiAyvevetv, durch das dem zum Dasein selbst gehörigen Seinsverständnis der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden." 33 Es bedeutet dies, daß die Phänomenologie nicht einfach rezeptiv verfahren kann. Sie ist nicht bloße Wiedergabe eines unmittelbar Geschauten, so daß 32 33
SZ S. 38 (= GA 2, S. 51). SZ S. 37 (= GA 2, S. 50).
Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung
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es auch für den Phänomenologen eine mögliche „Unschuld des Erkennens" nicht gibt. In allem Erkennen und so auch im phänomenologischen ist ein konstruktives Moment 34 nicht zu umgehen. Der Denker, dem dies klar geworden ist, wird sich daher auch der Verantwortung dafür, was er an die Phänomene heran- und in sie hineinzutragen gezwungen ist, bewußt sein. Es geht nicht darum, nicht zu konstruieren, sondern darum, möglichst angemessen die Vorgaben zu gestalten. Ob ein Vorverständnis tatsächlich erhellend war, ob es in der Lage war, die Phänomene zu fordern und zur Entfaltung zu bringen, kann sich nur in der Durchführung, d.h. ex post, nach dem Zurücklegen einer Strecke Weges zeigen.35 Während des Vorgehens selbst kann es keine absolute Sicherheit und keinen letzten Anhalt geben. Wer so zu verfahren gezwungen ist, wird daher wenigstens nach indirekten Bestätigungen und nach ungefähren Anhaltspunkten Ausschau halten. Und so verfährt Heidegger in der Tat, indem er im Zuge seiner Phänomenologie des Daseins seine Auslegungen immer wieder damit vergleicht, wie in der jeweiligen Hinsicht das Dasein selbst sich in vorontologischer Weise ausgelegt und verstanden hat. Es gehört zur Methodik Heideggers, sich von Fall zu Fall durch den Rekurs auf die vortheoretische Selbstauslegung des Daseins gewissermaßen abzusichern. Die Bestätigung, daß das Dasein von je her auch vorontologisch die Phänomene in dieser Weise aufgefaßt hat, gibt Heidegger jeweils eine gewisse Sicherheit in seinen - gemessen an den herkömmlichen Auffassungen des Menschseins - oft ungewohnten Deutungen einzelner Momente der Existenz.
F. Die gelegentlichen Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins Somit kommen wir in unseren Ausführungen zur eigentlichen Thematik. Dabei gilt es, in einem ersten Schritt das zur Darstellung zu bringen, was Heidegger selbst zu diesem seinem Vorgehen da und dort bemerkt oder ausgeführt hat. In einem zweiten Schritt kann sodann untersucht werden, wie Heideggers Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung des Daseins im einzelnen aussehen. Daraus ergibt sich zugleich die Gliederung dieses Abschnittes. Die existenziale Analytik, so hält Heidegger fest, „vermag, wie jede ontologische Interpretation überhaupt, nur vordem schon erschlossenes Seiendes auf sein Sein gleichsam abzuhören." 36 Heidegger spricht damit den hermeneutischen Zirkel an, von dem, wie in jedem Verstehen, so auch in der hermeneutischen Phänomenologie auszugehen ist. Die „merkwürdige „Rück- oder Vorbezogenheit"37, die allem Verstehen eigentümlich ist, charakterisiert auch das Vorgehen des Ontologen. Er muß in seiner ontologischen Deutung einzelner 34 35 36 37
Vgl. dazu insbes. GA 21, S. 33; GA 24, S. 29 f. Vgl. GA 3, S. 233. SZ S. 139 (= GA 2, S. 186). SZS. 8 ( = GA 2, S. 11).
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Phänomenbestände und in seiner begrifflichen Hebung des Seins in konstruktiver Weise etwas vorgeben. Der Denker muß dergleichen wie eine „Kundgabe" wagen. Dabei muß er aber darauf achten, wie die Phänomene von ihnen selbst her sich zeigen. Im besonderen gilt dies für das Dasein, das von sich aus über Möglichkeiten einer expliziten, verbalen Bekundung verfügt, und das von je her in spontaner Weise sich darüber ausgesprochen hat, „wie ihm ist". Mit Bezug darauf merkt Heidegger daher an, die existenziale Analytik ... wird sich an die ausgezeichneten und weittragendsten Erschließungs-möglichkeiten des Daseins halten, um von ihnen den Aufschluß dieses Seienden entgegenzunehmen.38
Auch wenn infolge der Verfehlung des Daseinsphänomens durch die traditionelle Ontologie („das Dasein ist sich ... ontologisch am fernsten") dem Dasein „der eigentliche Sinn von Sein und die Grundstrukturen seines eigenen Seins kundgegeben werden" 39 müssen, so doch nicht in der Weise, daß der Denker dabei auf sich gestellt wäre und autonom zu verfahren hätte. Er bleibt in seinen konstruktiven Vorgriffen vielmehr auf vorgängige Selbstbekundungen des Daseins bezogen und angewiesen. Der Denker muß dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen. Sie [sc. die Daseinsanalyse] geht in diesem Erschließen nur mit, um den phänomenologischen Gehalt des Erschlossenen existenzial in den Begriff zu heben.40
In den Manifestationen einer vortheoretischen Selbstauslegung des Daseins liegt eine „theoretisch unverbogene Daseinsauslegung"41 hinsichtlich einzelner Existenzialien, also hinsichtlich einzelner Struktur- und Bewegtheitsmomente des Daseins, bereits vor. Der Denker kann mithin, wenn man so will, auf „ Vorleistungen " zurückgreifen , die insofern für ihn von besonderer Bedeutung sind, als sie eben nicht dem Traditionsstrang des abendländischen Philosophierens entstammen und daher mit dessen problematischen Einschlägen nicht belastet sind . Hier ist anzumerken, daß das, was die Zeugnisse einer vorontologischen Selbstauslegung des Daseins an ,,phänomenologische[m] Gehalt" 42 erkennen lassen, ursprünglich keineswegs Bestandstück einer philosophischen Theoriebildung war. Da es gänzlich andersartigen Kontexten zugehört, entbehrt es naturgemäß einer klaren begrifflichen Fassung und theoretischen Einordnung. Dies ist jedoch für den methodischen Stellenwert, der ihm im Ganzen der Daseinsanalytik zukommen soll, alles andere als ein Nachteil. Erst durch die Heterogenität des Kontextes erhält die Übereinstimmung von vorontologischer und philosophisch-phänomenologischer Daseinsauslegung ihr Gewicht als bestätigende Instanz, wie auch die dem vorontologischen Sich-Aussprechen des Daseins eigene Spontaneität dessen Unmittelbarkeit und Unverfälschtheit zu gewährleisten vermag. In diesem Sinne hält Heidegger fest: 38 39 40 41 42
SZS. 139f.(=GA 2, S. 186). SZ S. 37 (= GA 2, S. 50). SZS. 140 ( = G A 2, S. 186). SZS. 119f. (= G A 2, S. 160). SZ S. 140 (= GA 2, S. 186).
Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung
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Zwar hat das alltägliche Dasein keinen scharfen, wissenschaftlichen Begriff [von den existenzialen Bestimmungsmomenten] ..., wie überhaupt das nächste Sich-Aussprechen als nächstes unbestimmt ist und nie eindeutig fixierte Begriffe hat. Das widerstreitet jedoch nicht der Möglichkeit, daß das Dasein im Verständnis seiner sicher geht.43
Auf eben diese Sicherheit, mit der in der vor- und außerphilosophischen Selbstauslegung das phänomenologisch Entscheidende getroffen wurde, kommt es an. Sie ist ausschlaggebend dafür, daß die Daseinsauslegung daraus zunächst Anregungen und Hinweise für ihre hermeneutischen Vorgaben, am Ende aber auch eine nicht unwesentliche Bestätigung der in ihren Analysen zutage geforderten Befunde zu entnehmen vermag. Die begriffliche Fassung und theoretische Einordnung indes steuert die Daseinsanalyse selbst bei, wie es auch durch deren Optik erst möglich wurde, die jeweiligen Selbstzeugnisse des Daseins als solche zu entdecken und in ihrem phänomenologischen Gehalt zu würdigen. Einen weiteren, nicht unwesentlichen Punkt gilt es dabei zu beachten. Wie eingangs erörtert, sieht Heidegger im Primat der theoretischen Einstellung einen wesentlichen Grund dafür, weshalb das Daseinsphänomen in seiner Gesamtheit als sorgendes In-der-Welt-sein der philosophischen Tradition seit Piaton notwendigerweise entgehen mußte. Heidegger war es, der als erster mit Nachdruck darauf aufmerksam gemacht hat, daß die bloße Betrachtung von etwas, die bisher mit der größten Selbstverständlichkeit als die primäre Zugangsart zu allem Seienden gegolten hat, als durchaus fragwürdig anzusehen ist. Sie ist problematisch, weil das bloße Hinsehen, die beugia, eine Einstellung verkörpert, die das Dasein nur einnehmen kann, wenn es sich zuvor aus anderen Bezügen zum Seienden, wie etwa dem praktisch-besorgenden Umgang gelöst hat. Nun sind aber gerade diese Bezüge nach Heidegger die ursprünglicheren, in welchen wir in gewisser Weise „den Sachen selbst" näher sind als in der distanzierten Betrachtung. Und diese ursprünglicheren, der Betrachtung vorausliegenden Bezüge sind keineswegs blind, sondern „sichtig"; sie sind von eigenen Weisen der Sicht durchsetzt und getragen, wie etwa der Umsicht (im Hinblick auf das gehandhabte Zeug), der Rücksicht (im Hinblick auf das Mitdasein) und der Durchsichtigkeit (im Hinblick auf die eigene Existenz). Bezüglich des Daseins hat die theoretische Einstellung den Charakter der Rückwendung auf sich selbst. Sie erfolgt in der intentio obliqua als Reflexion. Heidegger macht dagegen geltend: „Der primäre Bezug zum Dasein ist nicht die Betrachtung, sondern das „es sein". 44 Will der Phänomenologe diesem „es sein" gerecht werden, die Existenz also in der Gesamtheit ihrer Bezüge und ihrem spezifischen Geschehenscharakter thematisch machen, so muß er sich allem voran von „einer künstlichen Selbsterfassung des Daseins"45, wie sie die reflektierende Betrachtung darstellt, frei machen. Für ihn gilt es,
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GA 19, S. 66. Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, hrsg. von H. Tietjen, Tübingen 1989, S. 14. 45 SZ S. 185 (= GA 2, S. 246). 44
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Rainer Thurnher sich vielmehr phänomenologisch gerade in den Zug und den Zugzusammenhang des alltäglichen Umganges mit den Dingen, der unauffällig genug ist, zu versetzen und nun das darin Begegnende phänomenal festzuhalten. Gerade diese Unauffälligkeit des Verhaltens und des entsprechenden Dahabens von Welt muß gewonnen werden ,.." 46
Mit diesen Worten bezeichnet Heidegger sehr präzise eben das, was die eigentliche denkerische Innovation von „Sein und Zeit" ausmacht; den Schritt, der an sich so nahe liegt, der indes von der philosophischen Tradition her gesehen einen qualitativen Sprung bedeutet hat: die philosophische Betrachtung dem „Zug- und Zugzusammenhang" des Daseins selbst zu unterstellen, es in seinem Zunächst und Zumeist aufzudecken, um von diesem ausgehend47 sich auf die Eigentlichkeit des Daseins verweisen zu lassen, weiters die dem (vortheoretischen) Dasein eigenen Weisen der Sicht, wie sie oben angesprochen wurden, zur Geltung zu bringen, wobei insbesondere die Befindlichkeiten in ihrer Erschließungsfunktion zu berücksichtigen waren, und - nicht zuletzt - bei alledem darauf zu achten, daß das Dasein in eben diesem „es sein" sich immer schon ausgesprochen hat und ausspricht: in Märchen, Mythen und Fabeln, in der Dichtung, in gebräuchlichen Redewendungen und den Wortbildungen der natürlichen Sprache. Dazu nun im Detail. Nachdem Heidegger in „Sein und Zeit" die existenzialen Momente des Entwurfs, der Geworfenheit und des Verfallens im einzelnen herausgearbeitet und in ihrem Zusammenhang mit der Welt, deren bedeutungsmäßiger Gliederung sowie den Weisen des In-Seins wie Befindlichkeit, Verstehen und Rede deutlich gemacht hat, geht er dazu über, nach der Strukturganzheit zu suchen, die all diese Momente in ihrer Gleichursprünglichkeit umfassen soll. Im Durchgang durch die Analyse der Angst, die - als Grundbefindlichkeit gefaßt und ausgelegt - in dieser Hinsicht die „Möglichkeit eines ausgezeichneteten Erschließens"48 abgibt, offenbart sich diese Strukturganzheit als das einheitliche Gefüge von „Sich-vorweg-sein - im-schon-Sein-in... - als Sein-bei..."49 resp. „Sich-vorweg - schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)"50. Wird diese Kennzeichnung nicht als bloße Formel genommen, sondern im Rückblick auf die phänomenologische Detailanalyse der einzelnen existenzialen Momente, die darin befaßt sind, gedacht, so befremdet es nicht, daß Heidegger damit den Anspruch verbindet, das Sein des Daseins aufgewiesen zu haben. Mit Rücksicht auf die entscheidenden Befunde, daß das Dasein sich im umsichtigen Besorgen die Bedeutsamkeiten seiner Welt erschließt, daß dieses Besorgen im Hinblick auf das Mitsein immer zugleich als Fürsorge bestimmt ist und bei alledem das Dasein als ein Seiendes zu denken ist, „dem es in seinem Sein um dieses Sein selbst geht" 51 , faßt Heidegger die aufgewiesene Strukturganzheit terminologisch als Sorge. In dem Titel des § 41 „Das Sein des Daseins als die Sorge" finden wir mithin das Ergebnis des ge46 47 48 49 50 51
GA 20 S. 254. Vgl. SZ S. 16f., 43 f., 185 (= GA 2, S. 23, 58f., 245 f.). SZ S. 190f. (= GA 2, S. 253); vgl. ebd. S. 182 (= GA 2, S. 242). SZS. 196 (= GA 2, S. 260). SZ S. 192 (= GA 2, S. 256). SZS. 12 (= GA 2, S. 16).
Rückgriffe auf die vorontologische Selbstauslegung
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samten ersten Abschnitts von „Sein und Zeit" zusammengefaßt. Gleichwohl endet der erste Abschnitt damit noch keineswegs. Denn es gilt u.a., für dieses vorläufige Ergebnis noch eine Bestätigung und Bekräftigung beizubringen. Heidegger will „zeigen, daß das ontologisch „Neue" dieser Interpretation ontisch recht alt ist" 52 , und auf diese Weise auch dem möglichen Einwand, seine Deutung sei gewaltsam und forciert, vorbeugen, indem er festhält: „Die Explikation des Seins des Daseins als Sorge zwängt dieses nicht unter eine erdachte Idee, sondern bringt nur existenzial zu Begriff, was ontisch-existenziell schon erschlossen ist." 53 Dieser Nachweis geschieht im § 42, in dem Heidegger die Cura-Fabel des Hyginus im vollen Wortlaut wiedergibt, paraphrasiert und interpretiert. Heidegger will auf diese Weise „ein vorontologisches Zeugnis" 54 , einen „vorontologischen Beleg für die existenzial-ontologische Interpretation des Daseins als Sorge" 55 beibringen, der nicht zuletzt zeigen soll, daß die Auslegung der menschlichen Existenz als Sorge älter und ursprünglicher ist als die traditionelle, der Vorhandenheitsontologie und dem Primat der Theoria entsprechende Kennzeichnung des Menschen als animal rationale. So weist Heidegger eigens darauf hin, daß es sich hier um einen Beleg handelt, in dem „sich das Dasein über sich selbst... „ursprünglich", nicht bestimmt durch theoretische Interpretationen und ohne Absicht auf solche" 56 ausspricht. Es läßt sich aus den auf die Cura-Fabel bezogenen Aussagen zudem im Detail belegen, was wir zuvor im allgemeinen über Heideggers Rückgriffe auf vorontologische Selbstauslegungen des Daseins gesagt haben: Daß Heidegger ihnen einerseits Anweisungen für das konstruktive Moment 57 seiner Auslegung entnimmt, daß er sie andererseits als Bestätigung des in seiner phänomenologischen Interpretation zutage geforderten Befundes 58 heranzieht, und daß er zudem den Anspruch erhebt, mit seiner ontologischen Interpretation die vorontologische Selbstauslegung des Daseins als solche erkannt und „auf den Begriff gebracht" 59 zu haben. Im Zusammenhang mit seiner Auslegung der Cura-Fabel weist Heidegger 52
SZ S. 196 (= GA 2, S. 260). Ebd.; vgl. SZ S. 182 f. (= GA 2, S. 243): „Trotzdem möchte auch schon der ontische Ansatz der hier versuchten ontologischen Interpretation des Daseins qua Sorge als gesucht und theoretisch ausgedacht erscheinen; von der Gewaltsamkeit ganz zu schweigen, die man darin erblicken könnte, daß die überlieferte und bewährte Definition des Menschen ausgeschaltet bleibt. Daher bedarf es einer vorontologischen Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge. Sie liegt in dem Nachweis, daß sich das Dasein schon früh, so es sich über sich selbst aussprach, als Sorge (cura), obzwar nur vorontologisch, ausgelegt hat." 54 SZ S. 197 ( = G A 2, S. 261). 55 SZ S. 197, Anm. (= GA 2, S. 262, Anm.) 56 SZ S. 197 (= GA 2, S. 261). 57 Vgl. SZ S. 197 (= GA 2, 261 f.): „Das im Dasein liegende Seinsverständnis spricht sich vorontologisch aus. Das im folgenden angeführte Zeugnis soll deutlich machen, daß die existenziale Interpretation keine Erfindung ist, sondern als ontologische „Konstruktion" ihren Boden und mit diesem ihre elementaren Vorzeichnungen hat." 58 Vgl. SZ S. 183 (= GA 2, S. 243): „Daher bedarf es einer vorontologischen Bewährung der existenzialen Interpretation des Daseins als Sorge. Sie liegt in dem Nachweis, daß sich das Dasein früh schon ... als Sorge (cura), obzwar nur vorontologisch, ausgelegt hat." 53
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auch auf Herders Gedicht „Das Kind der Sorge" hin. Dies fuhrt uns zum nächsten Punkt. Daß Heidegger die Dichtung in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in sein Philosophieren mit einbezogen hat, gehört zu den auffallendsten Eigenheiten seines Denkens. Bei äußerer Betrachtung mußte daraus der Eindruck entstehen, Heidegger differenziere nicht in der rechten Weise zwischen Dichten und Denken. Er behandle die Dichter als Künder philosophischer oder gar prophetischer Wahrheiten, während zugleich seine eigene Sprache sich der dichterischen Diktion, sein Denken mithin der poetischen Unverbindlichkeit annähere. So ist denn auch die Kennzeichnung Heideggers - des späteren insbesondere als „Dichterphilosoph" häufig anzutreffen. Daß dahinter eine höchst fragwürdige und oberflächliche Auffassung steht, und zwar nicht nur des Heideggerschen Denkens, sondern auch des Wesens der dichterischen Aussage, sollte man nicht übersehen. Gerade Heidegger war es, der sich diesbezüglich von jahrhundertelang gehegten Vorurteilen und einem auf das Ästhetische beschränkten Zugang zur Dichtung freizumachen vermochte. Für ihn ist die Dichtung nicht Fiktion oder bloßer Ausdruck von höchst privaten und somit zufälligen Gefühls- und Gemütszuständen eines „lyrischen Subjekts". Vielmehr wohnt den Zeugnissen der Dichtung eine Verbindlichkeit und Allgemeinheit in dem Maße inne, als sie Zeugnisse vorontologischer Selbstbekundung eines (je geschichtlichen) Daseins sind. Die Berufung zum Dichter geht in der Regel damit einher, sich gedrungen zu sehen, sein In-der-Welt-sein in einer kompromißlosen, von Abmilderungen und Täuschungen sich freihaltenden Weise auszustehen und zum Austrag zu bringen. Dies gilt auch und insbesondere für die zeitlich-geschichtliche Prägung des Daseins.60 Den in solchem Austrag beschlossenen Erfahrungen sieht sich der Dichter in ungeschützter und intensiver Weise ausgesetzt. Die Notwendigkeit, sich seine Erfahrungen zur Klarheit zu bringen und das Bedürfnis, andere daran teilnehmen zu lassen, gibt erst Anlaß und Ursache ab für das eigene Verhältnis, das der Dichter zur Sprache unterhält. 61 Was gemeinhin als das Dichterische gilt, nämlich das sprachlich Hochstehende der dichterischen Aussage, ist somit nur die eine Seite, die nicht zu denken ist ohne die Tiefe und den Gegenhalt im Dasein. Sieht man die Dinge in dieser Weise, so befremdet es nicht, wenn Heidegger im Zuge seiner Daseinsanalyse62, mehr aber noch in sei59 Vgl. SZ S. 196 (= GA 2, S. 261): „Die Explikation des Seins des Daseins als Sorge ... bringt uns existenzial zu Begriff, was ontisch-existenziell [sc. in der Cura-Fabel] schon erschlossen ist." und SZ S. 200 (= GA 2, S. 265): „Die ontologische Interpretation des Daseins hat die vorontologische Selbstauslegung dieses Seienden als „Sorge" auf den existenzialen Begriff der Sorge gebracht." 60 Dem entspricht, daß dem Dichter gemeinhin eine gewisse Autorität zugebilligt wird in der Deutung der Zeichen der Zeit. Der Dichter wird nicht selten als der Seismograph bezeichnet, der sich Ankündigendes frühzeitig und in verstärkter Weise wahrnimmt. 61 Vgl. dazu insbes. GA 20, S. 375. 62 Hingewiesen sei hier vor allem auf Heideggers (über die Daseinsanalyse von „Sein und Zeit" freilich bereits hinausweisende) Daseinsauslegung im Rekurs auf das Chaorlied aus Sophokles" „Antigone" in der Vorlesung „Einführung in die Metaphysik" von
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nem seinsgeschichtlichen Denken Werke der Dichtung heranzieht, ihnen eine gewisse Autorität zubilligt und eine Zwiesprache zwischen Dichten und Denken eröffnet. Das Werk der Dichtung als Zeugnis des Daseins zu nehmen, das sich darin ausspricht, heißt aber keineswegs, es in eine Ansammlung philosophischer Aussagen zu verwandeln. Das eigentümliche der Dichtung ginge dabei verloren und somit auch der besondere Anreiz für die Philosophie, im dichterischen Wort ein Komplement zu suchen. Besteht doch der Wert des dichterischen Zeugnisses für das Denken darin, daß das Dasein in ihm sich in unmittelbarer, vortheoretischer Weise ausspricht. Die Verbindlichkeit des dichterischen Wortes ist von anderer Art als die Aussage der Philosophie in ihrer begrifflichen Strenge, wie der Dichter auch die Verpflichtung nicht kennt, seine Aussagen in die Form eines kohärenten Argumentationszusammenhanges zu bringen oder sie kritisch gegen andere Positionen abzusetzen. Es ergibt sich, daß im Dichten und im Denken dasselbe zur Sprache kommt, nämlich das Dasein; die Form aber und der Zusammenhang, in dem es zur Sprache kommt, in abgründiger Weise verschieden sind. Dichter und Denker wohnen, so gesehen, „nahe auf getrenntesten Bergen", wobei für die Zwiesprache zwischen Dichten und Denken, wie wir sie bei Heidegger finden, die angesprochene Trennung nicht minder bedeutsam ist als die Nähe.63 Auch Redewendungen, die uns aus dem alltäglichen Sich-Aussprechen des Daseins geläufig sind, finden wir bei Heidegger vielfach herangezogen, um seine phänomenologischen Analysen zu stützen. Heidegger verweist dabei auf das methodische Vorgehen des Aristoteles, der aus der Art und Weise, wie gemeinhin von einer Sache gesprochen wird, ebenfalls Aufschlüsse hinsichtlich der ontologischen Verfaßtheit derselben entnommen hat: Im Sprechen spielt sich vorwiegend das In-der-Welt-sein des Menschen ab. Das wußte schon Aristoteles. In dem, wie das Dasein in seiner Welt über die Weise des Umgangs mit der Welt spricht, ist mitgegeben eine Selbstauslegung des Daseins. Es sagt aus, als was das Dasein sich jeweilig versteht ... Im Miteinandersprechen, in dem, was man so herumspricht, liegt jeweils die Selbstauslegung ..." 64
So wie das Sprechen im Alltag ein durchschnittliches ist, begegnet uns in den gängigen Redensarten die durchschnittliche Selbstauslegung des Daseins, die Selbstbekundung des Daseins in der Weise des „Man". Das Sich-erfahren wie das Über-sich-sprechen, die Selbstauslegung, ist ... eine bestimmte, ausgezeichnete Weise, in der das Dasein sich selbst jeweils hat. Durch1934, GA 40, S. 155 - 187; vgl. aber auch den Rekurs auf Knut Hamsun und die damit im Zusammenhang stehenden Ausführungen, ebd. S. 28 f. 63 Vgl. GA 9, S. 312; GA 39, S. 52; GA 12, S. 184. Zum Verhältnis von Dichten und Denken in der Weiterführung aus der seinsgeschichtlichen Perspektive vgl. FriedrichWilhelm von Herrmann, Nachbarschaft von Dichten und Denken als Wesensnähe und Wesensdifferenz , In: Denken und Dichten bei Martin Heidegger. Privatdruck als Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft 1988, S. 37 - 63, jetzt auch in: Wege ins Ereignis, a.a.O., S. 223 - 245; Susanne Ziegler, Zum Verhältnis von Dichten und Denken bei Heidegger , Tübingen (Attempto) 1998. 64 Der Begriff der Zeit. Vortrag vor der Marburger Theologenschaft, hrsg. von H. Tietjen, Tübingen 1989, S. 13; vgl. GA 20, S. 343, 418.
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Rainer Thurnher schnittlich ist die Auslegung des Daseins von der Alltäglichkeit beherrscht, von dem, was man über das Dasein und das menschliche Leben überlieferter Weise meint, vom Man, von der Tradition. 65
Man könnte versucht sein, daraus den Schluß zu ziehen, die Selbstbekundungen des Daseins in seiner Verfallenheit an das „Man" müßten philosophisch unergiebig sein, da das Abgleiten in die Durchschnittlichkeit mannigfache Weisen der Verstellung und Verschließung nach sich zieht. Das „Man" ist das Dasein im Modus der Unwahrheit. Im Verfallen bildet das Dasein ein undifferenziertes, nivelliertes Seinsverständnis aus, das zu verkehrten Auffassungen der Phänomene und Phänomenzusammenhänge fuhrt usf. Es ist indes zu beachten, daß die Daseinsmodi des Man und der Eigentlichkeit nicht voneinander zu trennen sind, daß der „Absturz" in das Man zu verstehen ist als „flüchtige" Abkehr von der Unheimlichkeit der Geworfenheit und des Sich-Überantwortetseins, der das Dasein in seiner Eigentlichkeit sich zu stellen hätte.66 So gewiß also das „Man" auf die Eigentlichkeit, der es sich entzieht, verweist, so sicher vermag eine umsichtige phänomenologische Interpretation aus der Art und Weise, wie das Dasein sich durchschnittlicherweise ausspricht, Aufschlüsse zu entnehmen über die Verfaßtheit des Daseins insgesamt, d. h. in seinen Modi der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit. Heidegger demonstriert dies etwa an der Art und Weise, wie gemeinhin über den Tod gesprochen wird. In der Redeweise „man stirbt am Ende auch einmal" 67 wird nach Heidegger manifest, wie das „Man" sich das Todesphänomen zurechtlegt, nämlich als ein Ereignis, das erst am Ende des Lebens eintritt und das primär die anderen trifft, so daß das Man-selbst vom Tod unberührt zu bleiben scheint. Mit dieser „flüchtigen" Redeweise vom Tod bekundet aber das Dasein, daß es den Tod in seinem Möglichkeitscharakter sehr wohl verstanden hat. In der Gewißheit seines „Daß" und der gleichzeitigen Ungewißheit des „Wann" ist der Tod ein das Dasein in jedem Augenblick bestimmendes Existenzial. Wie in einem fotographischen Negativ ist daher in der durchschnittlichen Rede vom Tod dessen eigentliche existenziale Bedeutung ablesbar. Auch in seiner Deutung des Angstphänomens rekurriert Heidegger auf Äußerungen, die gemeinhin gemacht werden, wenn es darum geht, das in der Angst einem Widerfahrene zum Ausdruck zu bringen. In der Äußerung „es ist (bzw. es wird) einem unheimlich" 68 - nämlich im Augenblick der Angst - bekundet sich das Schwinden des alltäglichen Vertrautseins mit den Bedeutsamkeiten der Welt. In der Angst entzieht sich die Welt, wobei die Weltlichkeit der Welt - also das Welten der Welt, das ansonsten unauffällig bleibt - eigens Beachtung findet: daß die Welt mit ihren Bedeutsamkeitsbezügen uns gemeinhin Halt und Geborgenheit gibt; damit aber auch die Bahnen der Alltäglichkeit uns vorzeichnet und auf diese Weise uns andere Möglichkeiten als die durchschnittlichen entzieht und vorenthält. Heidegger nennt dies das Benommensein des Daseins durch die Welt. Auf dieses und auf die durchschnittliche Vertraut65 66 67 68
Ebd. S. 14. Vgl. SZ S. 184 f. (= GA 2, S. 245 f.) Vgl. SZ S. 255 - 259 (= GA 2, S. 339 - 344); GA 20, S. 435. Vgl. SZ S. 188 ff. (= GA 2, S. 250 ff.); GA 20, S. 400; GA 9, S. 111.
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heit mit der Welt und ihren Bedeutsamkeitsbezügen wird in der Rede von der Unheimlichkeit, die in der Angst sich ereignet, Bezug genommen. Wird jemand nach dem „Wovor" oder nach dem „Worum" der Angst befragt, so lautet die Antwort gewöhnlich: „es war eigentlich nichts". Diese Redeweise69 gibt nach Heidegger den phänomenalen Gehalt ebenfalls sehr präzise wieder. Denn in der Angst ängstet sich das Dasein - im Unterschied zur Furcht - nicht vor diesem oder jenem innerweltlichen Geschehen oder Gegenstand, wie es auch nicht um irgendwelche innerweltlichen Gegebenheiten oder Möglichkeiten bangt. Da das durchschnittliche Dasein aber zumeist in selbstvergessener Weise auf die Welt und das in ihrem Horizont zu Besorgende bezogen ist, ist seine Auskunft „es war im Grunde nichts" absolut zutreffend. Existenzial verstanden deutet sie daraufhin, daß dem Dasein in und mit der Angst etwas gänzlich anderes nahegeht und zu schaffen macht. Das „Wovor" und das „Worum" der Angst ist das Seinkönnen bzw. das In-der-Welt-sein-Können des Daseins selbst. Insofern das Dasein in seiner Durchschnittlichkeit sich damit nicht auseinandersetzt, geht ihm die Möglichkeit ab, das, womit es sich konfrontiert sieht, in einem positiven Sinne zu fassen und zu artikulieren. Es faßt in der Antwort „es war im Grunde nichts" nur das Negative des es Bedrängenden: den Entzug aller welthaften Gehalte, das Nichts. Auch in einzelnen Wortbildungen der natürlichen Sprache - und damit kommen wir zum letzten Punkt unserer Ausführungen - sind nach Heidegger vorontologische Selbstauslegungen des Daseins enthalten. Da die Wörter im alltäglichen Sprachgebrauch indes in einer verflachten, die genuine Bedeutung mannigfach überlagernden Weise verwendet werden, kann zu den phänomenologischen Gehalten, die zu der Wortprägung Anlaß gegeben haben, nur vorgedrungen werden, wenn - möglichst im Durchgang durch die einzelnen Sinnverschiebungen - das Etymon als Ursprungsbedeutung hervortritt. Wir sind somit auf das geführt worden, was als das „Etymologisieren" Heideggers, als sein „etymologisierendes Denken" gemeinhin bekannt ist. Diese Kennzeichnungen sind jedoch wenig hilfreich. Sie bleiben an der Oberfläche, wohingegen der hier entwickelte theoretische Rahmen es uns erlaubt, die Intention dieser für Heideggers Denken so charakteristischen methodischen Eigenheit von ihren daseinsmäßigen Voraussetzungen her zu verstehen. Hier gilt es zugleich einem verbreiteten Mißverständnis entgegenzutreten. Es wurde Heidegger vorgehalten, bei diesem Verfahren, das er über Gebühr strapaziere, von einem naiven Sprachrealismus auszugehen.70 In Analogie zur Hamannschen Theorie einer geoffenbarten Ursprache werde angenommen, bestimmte Sprachen, so insbesondere das Griechische und das Deutsche, vermöchten kraft höheren Ursprungs uns das Wesen der Dinge zu erschließen. Diese Deutung hat indes mit der Sicht der Sprache, wie sie in „Sein und Zeit" dargelegt ist - und auf eben diese muß man sich beziehen, wenn in diesem Punkt ein Verständnis erreicht werden soll - nicht das mindeste zu tun. Den ge69
Vgl. SZ S. 187 (= GA 2, S. 248f.); GA 20, S. 401 - 406; GA 9, S. 112. Vgl. dazu Robert Minder, Heidegger und Hebel oder die Sprache von Meßkirch, in: Dichter in der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1966, S. 213f., 220, 260. 70
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wachsenen Sprachen liegt nach Heidegger, sowohl was ihren Ursprung als auch was ihre je und je sich vollziehende Erneuerung in bedachten und hohen Weisen des Sprechens betrifft, das Bemühen zugrunde, im Ringen um das rechte Wort der daseinsmäßigen Erschlossenheit der Phänomene und des Phänomenganzen gerecht zu werden. Die Sprache ist ein vom Dasein nicht abtrennbares Phänomen, so wie umgekehrt das Dasein nicht gedacht werden kann ohne den für seine Erschlossenheit konstitutiven Bezug zur Sprache: Weil für das Sein des Da, d.h. Befindlichkeit und Verstehen, die Rede konstitutiv ist, Dasein aber besagt: In-der-Welt-sein, hat das Dasein als redendes In-Sein sich schon ausgesprochen. Das Dasein hat Sprache.71 Es gilt also, die Sprache als ein Daseinsphänomen zu begreifen, was auch bedeutet, daß einzelne Momente der Existenzialität das Sprachwesen im Innersten bestimmen, wie etwa die Endlichkeit 72 und Geschichtlichkeit, die Modi des Verfallens, des Verstellens und der Unwahrheit, aber eben auch die Möglichkeiten der Entbergung, des Zugänglichmachens und Offenhaltens genuiner Augenblicke der Durchsichtigkeit des befindlich-verstehenden In-der-Welt-seins. 73 Somit steht hinter Heideggers Rekursen auf die Ursprungsbedeutung keineswegs eine unreflektierte oder absichtlich verschleierte Sprachmetaphysik, wie er auch keineswegs den Anspruch erhebt, damit "zum Wesen der Dinge" vorzudringen. Sein Anliegen ist weit bescheidener. Es geht ihm darum, die vorontologische Selbstauslegung des Daseins, die in einzelnen Wortprägungen zum Ausdruck kommt, wiederzugewinnen . Dazu genügt es, von der Annahme auszugehen, daß bei der anfänglichen Wortbildung auf das Sich-von-ihmselbst-her-Zeigende am Dasein, auf die existenzialen Bestimmungsmomente und Strukturzusammenhänge eher Rücksicht genommen wurde als beim späteren, gewohnheitsmäßigen und quasimechanischen Wortgebrauch. Heideggers Vorgehen ist also von der Annahme getragen, daß im Ganzen der historisch gewachsenen Sprachen gewissermaßen Einschlüsse genuiner phänomenologischer Gehalte konserviert sind, die mit Hilfe der Etymologie zugänglich gemacht und erneut zur Einsicht gebracht werden 74 können, um sie für das Anliegen der Fundamentalontologie nutzbar zu machen. Ein erstes Beispiel dafür bietet die Analyse des In-seins in „Sein und Zeit". Heidegger 75 weist darauf hin, daß das Wort „sein" in den Abwandlungen „ich bin", „du bist" - in jenen Formen also, die ausschließlich von daseinsmäßigem 71
SZ S. 165 ( = G A 2, S. 219). Ausdrücklich hält Heidegger fest, „daß die Sprache etwas ist, was zum Wesen der Endlichkeit des Menschen gehört. Einen Gott sich sprechend zu denken ist der absolute Widersinn." (GA 29/30, S. 364). 73 Vgl. dazu insbes. GA 20, S. 373 - 375, 360f, 370; GA 27, S. 79; SZ S. 167, 220, 21 ( = G A 2, S. 222f., 291, 29). 74 Dies eben macht es möglich, „ i m Anhalt an die frühe Wortbedeutung ... den Sachbereich zu erblicken, in den das Wort hineinspricht [und so] ... diesen Wesensbereich als denjenigen zu bedenken, innerhalb dessen sich die durch das Wort genannte Sache bewegt." (Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 48 f.) 75 Vgl. SZ S. 54 (= GA 2, S. 73); GA 20, S. 213; GA 40, S. 76ff.; Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 146f. 72
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Seienden ausgesagt werden können - etymologisch mit „bei" und „buan" (wohnen) zusammenhängt, so daß es in diesen Abwandlungen, „d. h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei..., vertraut sein mit..." zu ergänzen: den Bedeutsamkeitsbezügen der Welt. Ebenso sind die Worte „in" und „an" nicht als Bezeichnungen abstrakter räumlicher Beziehungen zu verstehen. Sie bedeuten ihrem ursprünglichen Gehalt nach „innanwohnen", also „sich aufhalten" bzw. „ich bin gewohnt, vertraut mit, pflege etwas". Auf diese Weise versucht Heidegger anhand der Sprache, d. h. im Rekurs auf die im alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr gegenwärtige Ursprungsbedeutung dieser Worte das Existenzial des In-Seins zu explizieren und als vorphilosophische Grunderfahrung einsichtig zu machen. In seinen Ausführungen über das Mitsein, die auf die Analysen der existenzialen Räumlichkeit des Daseins unmittelbar folgen, zieht Heidegger die Beobachtung Wilhelm von Humboldts heran, daß in einigen Sprachen „das „ich" durch „hier", das „Du" durch „da", das „Er" durch „dort"" 7 6 wiedergegeben und somit zwischen Personalpronomina und Ortsadverbien nicht differenziert wird. Es ist nach Heidegger müßig, sich die Frage zu stellen, ob die pronominale oder die adverbiale Bedeutung hierbei die ursprünglichere ist, da gerade die undifferenzierte Einheit der beiden Aspekte den phänomenologisch-existenzialen Befund genau wiedergibt. Es wird uns aus dieser Wortverwendung deutlich, „daß die [darin enthaltene] theoretisch unverbogene Daseinsauslegung dieses umittelbar in seinem räumlichen, d. h. entfernend-ausrichtenden „Sein bei" der besorgten Welt sieht." 77 Im Ich-hier ist das Ich in der Zentriertheit der entfernend-ausrichtenden Bezüge ebenso präzise getroffen, wie im Du-da und Er-dort dem Umstand Rechnung getragen ist, daß „das Mitdasein der Anderen ... vielfach aus dem innerweltlich Zuhandenen [und dessen platzmäßiger Ausgerichtetheit; Zus. R. Th.] her" 78 begegnet. Das bekannteste Beispiel für Heideggers Verfahren, anhand einzelner Etymologien existenziale Phänomene zu explizieren, ist natürlich sein im Zusammenhang mit der Hebung und Auslegung des ursprünglichen, existenzialen Wahrheitsphänomens getätigter Rekurs auf die griechische Kennzeichnung der Wahrheit als 'A-Arfieia. Zusammengesetzt aus AtjSt? und dem a-privativum soll sie zum Ausdruck bringen, daß die Gelichtetheit des In-der-Welt-seins, das Inder-Wahrheit-sein, infolge des Verfallens des Daseins zugleich ein In-der-Unwahrheit-sein bedeutet, und weiters: daß die Griechen vor aller philosophischontologischen Theoriebildung das Gewinnen von Wahrheit bereits als einen „Raub" 79 verstanden haben, als ein Abringen des ursprünglich Gesehenen, im Gegenzug nämlich gegen die in der Verfaßtheit des Daseins selbst angelegten verstellenden Tendenzen. Was zunächst als eine willkürliche und gewaltsame Deutung des Wahrheitsphänomens erscheint, nämlich die Kennzeichnung der Wahrheit als Ent-deckendsein, 76
SZ S. 119 (= GA 2, S. 159); vgl. GA 20, S. 343, 349. SZ S.120 (= GA 2, S. 160). Ebd. 79 SZ S. 222 (= GA 2, S. 294); vgl. ebd. S. 225 (= GA 2, S. 298); GA 26, S. 159, 281; GA 29/30, S. 44 f.; GA 21, S. 131; GA 27, S. 79; GA 34, 13 f f , GA 19, S. 15 ff. 77 78
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enthält nur die notwendige Interpretation dessen, was die älteste Tradition der antiken Philosophie ursprünglich ahnte und vorphänomenologisch auch verstand. [...] Die Übersetzung durch das Wort „Wahrheit" und erst recht die terminologischen Begriffsbestimmungen dieses Ausdrucks verdecken den Sinn dessen, was die Griechen als vorphilosophisches Verständnis dem terminologischen Gebrauch von akfötia „selbstverständlich" zugrunde legten.80
Eben weil „das Dasein sich selbst ontisch am nächsten, ontologisch am fernsten, vorontologisch aber doch nicht fremd ist", kann, wie es im Zusammenhang der Erörterung des griechischen Wahrheitsbegriffes einmal mehr geschieht, der allgemeine Gedanke formuliert werden, daß „sich in solchem Sichaussprechen des Daseins ... ein ursprüngliches Seinsverständnis seiner selbst an[kündigt], das, wenngleich nur vorontologische Verstehen dessen,"81 was im Zuge der Daseinsanalyse jeweils auf den Begriff gebracht und aus dem weiteren Zusammenhang der Fundamentalontologie erst in vollem Umfang verstanden werden kann. Und eben weil die Fundamentalontologie - als Wiederholung der Seinsfrage - sich der übermächtigen philosophisch-ontologischen Tradition zu entwinden gezwungen ist, kommt den verschiedenen Möglichkeiten des Rückgriffs auf die vorphilosophische Selbstauslegung des Daseins, wie wir sie hier herauszuarbeiten versucht haben, eine zentrale methodische Bedeutung zu.
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SZS. 219 (= GA 2, S. 291). SZ S. 222 (= GA 2, S. 294).
II. SEINSVERLASSENHEIT, T E C H N I K U N D D I E M A C H T DES SEINS
Mastery of Being and Coercive Force of Machination in Heidegger's Beiträge zur Philosophie and Besinnung Parvis Emad Two major works of Heidegger, Beiträge zur Philosophie {Vom Ereignis) [Contributions to Philosophy (From Enowning)] and Besinnung [Mindfulness], published in 1989 and 1997 respectively, present a thinking as "revolutionary" as Sein und Zeit [Being and Time ] when it appeared in 1927. Generally speaking, these works entail directives for thinking that come from and lead to being's self-showing and manifesting. But whereas in Sein und Zeit these directives come from and lead to a transcendental-horizonal disclosure of being, the directives entailed in Beiträge zur Philosophie and Besinnung come from and lead to the disclosure of being's historically self-transforming conferments. 1 The circle these conferments traverse in coming from and leading to their disclosure is given only to thinking-mindfulness. One of the decisive yields of being's historical conferments in both Beiträge zur Philosophie and Besinnung is the insight into the mastery of being {Herrschaft des Seins) and the coercive force (Gewalt ) of machination (Machenschaft) i. It will be the aim of this essay to follow through with that insight, in order to elucidate Heidegger's understanding of the mastery of being and the coercive force of machination. However, before we address that insight, we must highlight the background against which being's historically self-transforming conferments come to the fore. We find this background in the domain of showing and manifesting, i. e. The domain wherein hermeneutic phenomenology, as it unfolds in Sein und Zeit, Beiträge zur Philosophie and Besinnung, is at home. Beginning from within that domain, we realize that the measure for assessing the achievements of hermeneutic phenomenology, as reflected in these works, does not exist outside but within these works themselves. This means that these works carry their own measure within themselves, because in these works "what is manifest" and "its" interpretation ("what-shows-itself-in-itself, the manifest"/... das Sich-an1 The word translated here as conferment is Wurf actually "throw." For more on this as well as the English renditions of other key words of Heidegger's Beiträge zur Philosophie , such as Seyn, Sein, Ereignis, Entwurf etc. cf. Parvis Emad and Kenneth Maly "Translators' Foreword" to Contributions to Philosophy {From Enowning ), Indiana Univsersity Press, 1999. Throughout this essay we shall use the word being as a rendition of Seyn and Sein.
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ihm-selbst-zeigende, das Offenbare, and interpretation / laying out / eq^vevstv2) cannot be distinguished from each other. And this means that, since the two components in the designation hermeneutic phenomenology, i. e. kq^vevtiv (laying out, Auslegung ) and (phenomenon / das Sich Zeigende ), are inevitably indistinguishable within the onefold or Xoyoq of this phenomenology, the measure appropriate to these works is none other than that onefold itself. Accordingly, elucidation of the insight into the mastery of being and the coercive force of machination originates from within that onefold, i. e. Within the deciding articulation of being's foremost and historically self-transforming conferment that Heidegger calls machination. However, before we attend to this deciding articulation, it is necessary to take a brief look at the earlier and later shapings of hermeneutic phenomenology. In Sein und Zeit thinking's engagement with "what-shows-itself- in-itself, the manifest"- thinking as "laying out"- is such as to project-open (