Vom Recht, Rechte zu haben [1. ed.] 9783868549447, 9783868543261


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German Pages 176 [174] Year 2018

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Vom Recht, Rechte zu haben [1. ed.]
 9783868549447, 9783868543261

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Stephanie DeGooyer I Alastair Hunt Lida Maxwell I Samuel Moyn

Vom Recht, Rechte zu haben

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Mit einem Nachwort von Astra Taylor

Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer

Hamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-944-7 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-326-1 © der Originalausgabe 2018 by Stephanie DeGooyer, Alastair Hunt, Lida Maxwell, Samuel Moyn © des Nachwortes 2018 by Astra Taylor Titel der Originalausgabe: »The Right To Have Rights« First published 2018 by Verso (an imprint of New Left Books), London Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

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Inhalt

Einführung

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Das Recht, Rechte zu haben I Stephanie DeGooyer Das Recht, Rechte zu haben I Samuel Moyn

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Das Recht, Rechte zu haben I Lida Maxwell

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Wessen Rechte? I Alastair Hunt Nachwort(e) I Astra Taylor

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Dank 169 Literaturverzeichnis 170 Zu den Autorinnen und Autoren

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Wen immer die Ereignisse aus der alten Dreieinigkeit von Volk–Territorium–Staat herausgeschlagen hatten, blieb heimat- und staatenlos; wer immer einmal die Rechte, die in der Staatsbürgerschaft garantiert waren, verloren hatte, blieb rechtlos.

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Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

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Einführung

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I Von ihrem 27. bis zum 45. Lebensjahr war Hannah Arendt Flüchtling und staatenlos. 1933 verließ sie aus Angst um ihr Leben Hitlerdeutschland und suchte Zuflucht in Paris. Zwei Jahre später wurde das, was sie aufgrund ihrer Erfahrung bereits geahnt hatte, durch die Nürnberger Gesetze bestätigt: Wie alle anderen Juden war sie keine deutsche Staatsbürgerin mehr. Sie war heimatlos. Nach Kriegsausbruch im Herbst 1939 wurde sie im Mai 1940 zusammen mit vielen anderen »feindlichen Ausländern« in einem Lager im südfranzösischen Gurs interniert. Im Chaos nach der Okkupation Frankreichs durch die Deutschen im Jahr 1940 konnte sie aus dem Lager fliehen und schlug sich in den unbesetzten Teil des Landes durch. Auf der Suche nach einem Weg aus Europa wandte sie sich an amerikanische Diplomaten. Doch das US-Außenministerium war nicht erpicht darauf, den Tausenden, die vor den Nazis flohen, Visa zu erteilen. Mit einer Mischung aus schierem Glück, rascher Auffassungsgabe und Unterstützung mehrerer hilfsbereiter Menschen, darunter ein US-Diplomat, der sich über die Anweisungen seiner Regierung hinwegsetzte, konnte sie sich einen Nansen-Pass, ein französisches Ausreisevisum, Transitvisa für Spanien und Portugal und ein amerikanisches Einreisevisum verschaffen. Mit diesen Dokumenten kam sie 1941 in die Vereinigten Staaten, wo ihr als Flüchtling Asyl gewährt wurde. 1951 erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft.1 1

Die beste Informationsquelle über Arendts Leben einschließlich dieser Periode findet sich in: Young-Bruehl, Hannah Arendt.

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Im gleichen Jahr wurde ihr erstes in englischer Sprache geschriebenes Buch veröffentlicht, The Origins of Totalitarianism. Dort reflektiert sie in einem der zentralen Kapitel, was sie aus der Erfahrung als staatenloser Flüchtling darüber gelernt hat, wie ein Mensch Rechte erwerben und verlieren kann. So hatte die Tatsache, dass sie das kriegsgeschüttelte Europa verlassen konnte, nichts mit ihrem Menschsein zu tun oder mit einem Staat, der sich zuständig fühlte: Sie verdankte es den Umständen und dem Zufall. Zwar gesteht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die 1948 als Reaktion auf die vorangegangenen schrecklichen Ereignisse verkündet wurde, jedem Menschen allein wegen seines Menschseins die gleichen Rechte zu, doch wusste Arendt aus eigener Erfahrung, dass Menschen mehr sein müssen als einfach nur Menschen, um Rechte zu haben. Sie müssen Mitglied eines politischen Gemeinwesens sein. Nur als Bürger_innen eines Nationalstaates haben Menschen gesetzlich geschützte Rechte, wie das Wahlrecht, das Recht auf Bildung und Arbeit, auf Gesundheitsversorgung, auf Teilhabe am kulturellen Leben und so weiter. Und so erklärte Arendt, dass es vor den konkreten bürgerlichen, politischen oder sozialen Rechten so etwas geben müsse wie ein »Recht, Rechte zu haben«. Arendt hat über ihre eigene Zeit und ihre eigenen Erfahrungen geschrieben. Im vorliegenden Band hingegen soll deutlich gemacht werden, dass ihre Formulierung »das Recht, Rechte zu haben« eine entscheidende Grundlage für politisches Denken und Handeln auch in unserer Zeit bietet, gerade jetzt, wo sich weltweit immer mehr Menschen keinem politischen Gemeinwesen mehr wirklich zugehörig fühlen können. Am deutlichsten wird die-

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ses Dilemma natürlich an der Gruppe von Flüchtlingen und Migrant_innen, die durch militärische Konflikte oder den Klimawandel gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und in einem anderen Land um Asyl nachzusuchen. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge gab es im Jahr 2015 weltweit mehr als 65,3 Millionen Vertriebene, von denen 21,3 Millionen in ein anderes Land fliehen mussten.2 Wer keine funktionierende Staatsbürgerschaft besitzt, gehört zu den sans papiers, den Millionen undokumentierter Einwanderer_innen, die sich ohne gültigen Aufenthaltstitel im Land aufhalten. Eine kleinere, aber nicht weniger wichtige Gruppe sind die Menschen, die von angeblich zivilisierten Regierungen ohne Gerichtsverfahren unbegrenzt in Haft gehalten werden. Eine dritte Gruppe besteht aus ganz gewöhnlichen arbeitenden Menschen in vielen westlichen Ländern, die zwar die Staatsbürgerschaft des Landes besitzen, in dem sie leben, denen aber durch den Angriff des neoliberalen Marktfundamentalismus auf die öffentlichen Institutionen der Zugang zum gesamten Spektrum der Bürgerrechte erschwert oder verwehrt wird. Die Probleme all dieser Gruppen werden durch den weltweiten Aufstieg der neoliberalen populistischen Bewegungen verschärft, die aus ihren fremdenfeindlichen und heimattümelnden Phrasen Kapital schlagen und erfolgreich nach der politischen Macht greifen – unterstützt ausgerechnet von denen, deren prekäre Lage sie mitverursacht haben. Etliche Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen haben sich bereits auf Arendts Diktum vom »Recht, Rechte zu haben« berufen, um in das aktuelle Ringen im demo2

UNHCR , Global Trends: Forced Displacement in 2015.

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kratischen politischen Leben einzugreifen und ihm Sinn zu verleihen. Die meisten von ihnen behandeln ihre Formulierung jedoch lediglich wie eine etwas poetischere Bezeichnung für »Menschenrechte«. Das mag bei Aktivist_innen verständlich sein, denen es um Unterstützung für ihre Sache geht. Doch selbst Forschende, die sich eingehender mit Arendts Gedanken und dem dahinterstehenden Argument befassen, neigen dazu, das »Recht, Rechte zu haben« auf eine neue, verbesserte Version der Menschenrechte zu reduzieren. Arendt selbst hätte dem wohl kritisch gegenübergestanden. In ihrem Werk ist die Formulierung aus einer Kritik der Menschenrechte heraus entstanden. Sie zielte nicht nur auf die Unzulänglichkeit der institutionellen Mechanismen ab, die die praktische Umsetzung dieser Rechte garantieren sollten, sondern auch auf die Unvollkommenheit der Menschenrechte als ein schlüssiges theoretisches Konzept für ein Fundament demokratischer Politik. Dieser Band will durch die kritische Lektüre und Auslegung der Arendt’schen Formulierung einen Beitrag zum demokratischen Diskurs leisten, wobei das Augenmerk auch auf den unterschwelligen und komplexen Bedeutungen, auf dem Mehrdeutigen und den Potenzialen liegt, die in den vorhandenen Interpretationen dieser Wendung allzu rasch übergangen werden. Ohne die Bedeutung von Kampagnen für die Menschenrechte in Abrede zu stellen, wenden sich die Autor_innen der Beiträge in diesem Band gegen die reflexartige Übernahme ihres Diktums in das Menschenrechtsparadigma. Dazu befassen wir uns mit den Texten, in denen Arendt ihr Konzept eingeführt hat, und mit den Stellen in ihrem Gesamtwerk, in denen wir seinen Widerhall spüren. Dabei

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wollen wir so präzise wie möglich ihre Argumentationsstruktur und die rhetorischen Mittel ihrer Texte, so unwichtig oder nebensächlich sie auch erscheinen mögen, als Symptom für ihr intellektuelles Ringen mit sich selbst erfassen. Zudem halten wir es, anders als ein Großteil der Forschung zu diesem Postulat, für angezeigt, den Blick über das erste »Recht« hinaus zu richten. In den vier Kapiteln dieses Bandes werden alle sprachlichen Elemente der Formulierung beleuchtet: die beiden Substantive (»Recht« und »Rechte«), das Verb »haben« und auch das versteckte Subjekt. So stellt Stephanie DeGooyer im ersten Kapitel kritische Überlegungen dazu an, ob dieses eine »Recht«, Rechte zu haben, überhaupt als eine Form von Grundlage betrachtet werden kann, in Kapitel 2 befasst sich Samuel Moyn mit den im Plural stehenden, häufig vernachlässigten »Rechten«, im dritten Kapitel untersucht Lida Maxwell die Auswirkungen des Infinitivs »zu haben«, und in Kapitel 4 fragt Alastair Hunt nach den implizierten, nicht namentlich genannten Trägern dieses Rechts, Rechte zu haben. Astra Taylor wendet in ihrem Nachwort den Blick über das Diktum hinaus auf die Relevanz der Bedingungen für das, was sie »transnationale Oligarchie« nennt, die deterritorialisierten Kapitalströme, die alle Menschen, auch Staatsbürger_innen, zu Besitz- und Rechtlosen zu machen drohen. II In der Sommerausgabe 1949 der kurzlebigen Zeitschrift der amerikanischen Arbeiterbewegung Modern Review sprach Arendt in dem Artikel The Rights of Man: What Are They? zum ersten Mal von einem »Recht, Rechte zu ha-

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ben«.3 Zwei Jahre später verwendete sie weite Teile dieses Artikels, darunter auch die Passage mit dieser Formulierung, noch einmal in ihrem Werk The Origins of Totalitarism (Kapitel 9: The Decline of the Nation-State and the End of the Rights of Man).4 Den meisten ihrer Leser_innen begegnete das Konzept vom Recht, Rechte zu haben hier zum ersten Mal. In diesem Kapitel befasst sich Arendt ausführlich damit, wie in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg, als in Europa Millionen von Menschen plötzlich in Ländern lebten, deren Staatsbürgerschaft sie nicht besaßen, die Idee der Menschenrechte auf den Prüfstand kam. Diese Menschen ließen sich in zwei zum Teil überlappende Gruppen unterteilen, die nationalen Minderheiten und die Staatenlosen. Die Angehörigen der ersten Gruppe lebten zumeist in den neuen Ländern Ost- und Südeuropas, die durch die Auflösung der großen multi-ethnischen Reiche nach Kriegsende entstanden waren. Dazu gehörten unter anderem die Slowaken in der Tschechoslowakei 3

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Arendt, Rights of Man, S. 24–37, S. 30. Noch im gleichen Jahr erschien in der Ausgabe 4 von Karl Jaspers’ Monatszeitschrift Die Wandlung die deutsche Version des Artikels, allerdings mit einem etwas anderen Titel: »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, S. 754–770. Einen ersten Entwurf dieses Artikels scheint Arendt bereits 1946 verfasst zu haben. In einem Brief an Hermann Broch vom 9. September 1946 kündigte sie an: »Ich habe einen Artikel über Human Rights geschrieben«. Siehe Lützeler (Hg.), Arendt / Broch, Briefwechsel, S. 14. Arendt, The Origins of Totalitarianism, 1951. Im selben Jahr erschien die erste Ausgabe des Buchs in Großbritannien unter dem Titel »The Burden of Our Time«. Die deutsche »Übersetzung« des Werks, »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, erschien erst im Jahr 1955; darin Kapitel 9: »Der Niedergang des Nationalstaates und das Ende der Menschenrechte«.

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(einem Nachfolgestaat der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie) und die Litauer in Polen (zuvor im Deutschen Reich). Im Prinzip waren sie zwar Staatsbürger_innen des Landes, in dem sie lebten, konnten sich aber als Minderheiten in der vorherrschenden nationalen Kultur nicht darauf verlassen, dass die Regierung ihnen denselben rechtlichen Schutz garantierte, den die anderen Bürger_innen genossen. Die Angehörigen der zweiten Gruppe, die »Staatenlosen«, waren weder formal noch praktisch Staatsangehörige eines Landes. Ihnen hatte die Regierung durch eine Denationalisierungsgesetzgebung kollektiv die Staatsbürgerschaft entzogen. Davon waren Menschen aus Spanien und der Türkei, aus Ungarn und aus Deutschland betroffen, darunter auch Hannah Arendt selbst. Die missliche Lage, die Minderheiten und Staatenlose teilten, bestand ihrer Meinung nach darin, dass der formale oder funktionelle Verlust der Staatsbürgerschaft die Angehörigen beider Gruppen zu etwas machte, das sie von Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens unterschied. Nach dem Verlust der Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat blieb ihnen nur noch »das, was macht, daß ein Mensch ein Mensch ist«.5 Wenn dieser Punkt erreicht ist, wenn der Mensch auf das reine Menschsein reduziert ist, dann sollten die Menschenrechte Erleichterung verschaffen. Die von den Vereinten Nationen erarbeiteten Menschenrechte – oder »Rechte des Menschen« (rights of man), wie sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts noch genannt wurden – sind die Rechte, die den Menschen allein durch ihr

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Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 463.

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Menschsein zustehen.6 Diese Vorstellung von Rechten geht, so Arendt, davon aus, »daß Rechte unmittelbar der ›Natur‹ des Menschen entspringen«.7 Bis heute gelten die Menschenrechte als etwas, das jeder und jedem allein deshalb zu eigen ist, weil sie oder er Mensch ist, unabhängig von Nationalität, Geschlecht, Sprache, Religion, ethnischer Zugehörigkeit oder einem anderen Status. Da sie augenscheinlich allein von der Idee der Menschlichkeit an sich garantiert und von keiner irdischen Macht gewährt werden, können sie, so die Theorie, auch von keiner irdischen Macht genommen werden: »Entscheidend bleibt, daß diese Rechte und die mit ihnen verbundene Menschenwürde auch dann gültig und real bleiben müßten, wenn es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gäbe; sie sind unabhängig von der menschlichen Pluralität und müßten auch dann gültig bleiben, wenn ein Mensch aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist.«8 Tatsächlich gelten diese Rechte in den drei historischen Menschenrechtserklärungen – der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als »unveräußerlich«. Wenn alles andere verloren ist, bleiben dem Menschen noch die Menschenrechte als natürliches Geburtsrecht.

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Dies ist die einfachste Definition, die von fast allen wörtlich übernommen wurde. Siehe Donnelly, Concept of Human Rights, S. 1; Lauren, Evolution of International Human Rights, S. 1; Cranston, What Are Human Rights, S. 36. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 464. Ebd.

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Doch die Minderheiten und Staatenlosen, die keine Staatsangehörigkeit besaßen, für die anderen nichts als Menschen waren und in Europa mit extremen Formen von Gewalt konfrontiert wurden, fanden keine Hilfe in den Menschenrechten. Dass sie zwar keine Staatsbürger_innen waren, aber doch Menschen, rettete jedenfalls sechs Millionen Juden nicht davor, von den Nazis getötet zu werden. Ganz im Gegenteil, so unterstreicht Arendt, die Nazis nahmen den Juden erst dann das grundlegendste der sogenannten Menschenrechte, nämlich ihr »Recht auf Leben«, nachdem sie sie mit aller Gründlichkeit auf ihr Nichts-als-Menschsein reduziert und vor den Augen aller Regierungen zu »absoluter Rechtlosigkeit« verdammt hatten.9 »Vor der abstrakten Nacktheit des Menschseins«, stellt sie mit eisiger Schlichtheit fest, »hat die Welt keinerlei Ehrfurcht empfunden.« Das Menschsein wurde (paradoxerweise aus der Sicht der Menschenrechte), für die Juden »ihre größte Gefahr«.10 Wenn das Menschsein eher ein Zeichen für Verletzlichkeit ist als ein Quell des Schutzes, tritt für Arendt die Staatsbürgerschaft ins Bild als das Recht, das die Wahrnehmung der sogenannten Menschenrechte erst ermöglicht. In der Theorie hätte es natürlich umgekehrt sein sollen. Die Ende des achtzehnten Jahrhunderts eben erst gegründeten Republiken Frankreich und Vereinigte Staaten von Amerika zogen ihre Legitimität daraus, dass sie in der Lage waren, den Schutz der natürlichen Rechte sicherzustellen, die allen Menschen von Geburt an zu eigen sind. Die Staatsbürgerschaft war in gewisser Hinsicht lediglich 9 Ebd., S. 461, 460. 10 Ebd., S. 467.

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die konkrete Realisierung dieser abstrakten Rechte. Doch wie Arendt aufzeigt, war es in der Praxis genau umgekehrt. Die sogenannten Rechte des Menschen konnte nur wahrnehmen, wer das Staatsbürgerrecht besaß. Niemand kannte dieses Problem besser als die Angehörigen von Minderheiten und die Staatenlosen im zwanzigsten Jahrhundert. Je mehr diese Gruppen durch Denationalisierungspraktiken auf ihr reines Menschsein reduziert wurden, desto wichtiger wurde für sie ihre Staatsbürgerschaft und desto nachhaltiger forderten sie ihre Wiedereingliederung in eine nationale Gemeinschaft, was aber trotz der Arbeit internationaler Organisationen erfolglos blieb.11 Erst am Ende dieser langen Ausführungen zur Kluft zwischen der Theorie der Menschenrechte und den konkreten Erfahrungen all derjenigen, die tatsächlich auf ihr reines Menschsein reduziert worden waren, gebraucht Arendt zum ersten Mal die Formulierung vom »Recht, Rechte zu haben«. »Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.«12 Nach einer ausführlichen Darstellung der Ungleichheit zwischen Staatsbürger_innen, die ihre Rechte mit einer gewissen Sicherheit wahrnehmen können, und Menschen, 11 Ebd., S. 456. 12 Ebd., S. 462.

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die ihrer Rechte beraubt wurden, zieht Arendt den Schluss, dass es ein Recht gibt, das wirklich notwendig ist und das fehlt, nämlich das Recht, Bürgerin bzw. Bürger eines Nationalstaats oder zumindest Mitglied irgendeines organisierten politischen Gemeinwesens zu sein. Wenn erst dieses Recht auf Staatsangehörigkeit die Wahrnehmung aller bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte ermöglicht, erscheint es einleuchtend, dass Arendt es als das »Recht, Rechte zu haben« bezeichnet. Die herausragende Bedeutung dieses Rechts macht Arendts Weigerung, ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, umso auffälliger. Die »Banalität des Bösen«, der Ausdruck, für den sie weltbekannt wurde, spielte in ihrem 1963 publizierten Buch Eichmann in Jerusalem eine Hauptrolle: Er erscheint sowohl im Untertitel als auch, kursiv gesetzt, im letzten Satz des letzten Kapitels. Hingegen wird das »Recht, Rechte zu haben« in Elemente und Ursprünge eher beiläufig erwähnt. Die Formulierung erscheint nur ein einziges Mal, als eine Möglichkeit unter vielen, dasjenige Recht zu beschreiben, das Menschen ohne Staatsbürgerschaft so schmerzlich fehlt, das sie aber dringend benötigen. Und auch dort, wo Arendt in der deutschen Fassung diese Formulierung leicht abgewandelt ein zweites Mal verwendet (»das Recht auf Rechte«), bleibt die Wendung im Hintergrund, wird keineswegs zur zentralen Stelle des Kapitels.13 Vielmehr untersucht Arendt nach der Einführung ihres Diktums auf den nächsten Seiten des Buches die Misere der Rechtlosigkeit, als Vorbereitung auf den dritten Teil, in dem dann von den voll ausgebildeten totalitären Bewegungen die Rede ist. Das »Recht, Rechte zu haben« 13 Ebd., S. 465.

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flackerte in Arendts Denken nur für einen kurzen Moment auf. Es sollte kein Wendepunkt werden.

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III Etwa fünfzig Jahre lang führte das »Recht, Rechte zu haben« ein Schattendasein, bis sich die Wissenschaft, engagierte Menschen und das breite Publikum dafür zu interessieren begannen.14 Jahrzehntelang wurde dieses Konzept, nachdem es formuliert worden war, weitgehend ignoriert. Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft wurde rasch als wichtiges Buch einer neuen brillanten politischen Theoretikerin gepriesen, doch von den ersten Rezensenten erwähnte keiner das »Recht, Rechte zu haben« oder das Kapitel, in dem die Formulierung auftaucht. Im Gegensatz zu der hitzigen Kontroverse um die »Banalität des Bösen«, die sich gar zu einem Skandal auswuchs, wurde das »Recht, Rechte zu haben« kaum wahrgenommen. Auch Arendt selbst schenkte dieser Formulierung kaum Beachtung. In ihren späteren Schriften kam sie nie darauf zurück, selbst wenn Themen wie Rechte, Staatenlosigkeit, Gewalt oder ziviler Ungehorsam es nahelegten.15 14 Schon 1933 hatte sich eine in die USA ausgewanderte europäische Jüdin zur Grundidee des »Rechts auf Rechte« geäußert: Emma Goldman, der die US-amerikanische Staatsbürgerschaft entzogen und die später wegen ihrer anarchistischen Aktivitäten aus den USA ausgewiesen wurde. Jedoch verwendete sie nicht die exakte Formulierung. Siehe Goldman, A Woman without a Country. 15 Unseres Wissens taucht diese Formulierung nur noch ein einziges Mal an anderer Stelle auf, nämlich im unveröffentlichten Manuskript des Vortrags Statelessness, den Arendt 1955 an der University of California in Berkeley hielt, und selbst da legt das Layout nahe, dass Arendt sie als nachträglichen Gedanken eingeschoben hat: »the right

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Als das »Recht, Rechte zu haben« Ende der 1950er Jahre seinen Weg in die Welt fand, fast ein Jahrzehnt nach der Prägung der Wendung, wurde es wie ein Findelkind behandelt. Der Vorsitzende Richter des US Supreme Court Earl Warren bediente sich dieser Formel 1958 zweimal in einem Votum gegen die Möglichkeit der US-Regierung, einer Person gegen ihren Willen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. In einem abweichenden Votum der Entscheidung Perez gegen Brownell bezeichnete er die Staatsbürgerschaft als »Grundrecht eines jeden Menschen«, denn es sei nichts weniger als das Recht, Rechte zu haben.16 Aus den Gerichtsakten geht hervor, dass Warren die Formulierung von Arendt übernommen hat. (Die Richter des Supreme Court hatten bei ihrer Beratung ein unteres Gericht um Stellungnahme ersucht, das seinerseits einen Artikel im Yale Law Journal von 1955 zitierte. Dort war als Quelle der Formulierung das Buch von Arendt angegeben.)17 Warren selbst hingegen machte die Formulierung in keiner seiner Äußerungen als Zitat kenntlich. So kam es, dass das »Recht, Rechte zu haben« bis in jüngerer Zeit meist ihm zugeschrieben wurde. Eine schnelle Google-Suche bestätigt, dass bis zum Jahr 2000 meistens Richter Warren als Urheber des Diktums genannt wird. In den 1980er Jahren wäre dann das »Recht, Rechte zu haben« beinahe auf breitere Resonanz getroffen. Der postis the right to have / rights, this right is guaranteed by citizenship«, siehe Arendt, Statelessness. 16 United States Supreme Court, Perez v. Brownell. Chief Justice Warren verwendete diese Formulierung im gleichen Jahr in der Entscheidung Trop gegen Dulles ein zweites Mal, siehe ders., Trop v. Dulles. 17 Diesen verschlungenen Weg hat erstmals Stephen J. Whitfield aufgedeckt: Into the Dark, S. 111–112; S. 285, Fn. 47–48.

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marxistische französische Philosoph Claude Lefort verwendete die Formulierung einige Male in seinem Essay »Les droit de l’homme et l’Etat-providence«, ein Essay, der nach sich zog, dass das Konzept der Menschenrechte verstärkt als Grundlage einer radikalen Demokratie betrachtet wurde. Dass Lefort diese Formulierung aufgriff und Arendt als Quelle angab, hätte der Wendung die Chance geboten, in ihrem ursprünglichen Kontext weitere Verbreitung zu finden. Doch Lefort macht die Zuschreibung zu Arendt unter Vorbehalt, denn er erklärt, dass sie die Formulierung in einem anderen Sinn verwendet habe als er.18 Lefort verabsäumt nicht nur, das Werk Arendts zu nennen, aus dem er zitiert, sondern er fügt die Formulierung auch in seine eigene Argumentation zu den Menschenrechten ein und lässt den Zusammenhang außer Acht, in dem Arendt sie eingeführt hat. Und all das zudem eher beiläufig. Es überrascht daher wenig, dass Leforts Essay, so einflussreich er auch gewesen sein mag, das Interesse an Arendts Konzept kaum verstärkt hat. Besondere Ironie erhält dies dadurch, dass Leforts Auslegung des »Rechts auf Rechte« bereits in Elemente und Ursprünge deutlich wird.19 Nachdem es ein halbes Jahrhundert lang im amerikanischen Recht plagiiert, in der französischen politischen Philosophie gekapert und überall sonst übersehen wurde, fand das »Recht, Rechte zu haben« und das ihm zugrunde liegende Denken gegen Ende der 1990er Jahre schließlich 18 Lefort, Democracy and Political Theory, S. 37; vgl. auch S. 40. 19 Auch Jeffrey C. Isaac merkt dies an: Democracy in Dark Times. S. 217, Fn. 32.

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unter Menschenrechtsaktivist_innen und in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen erhebliche Beachtung. Zu den Ersteren, die im Rahmen politischer Auseinandersetzungen auf Arendts Formulierung zurückgriffen, gehörte der französische Staatsbürger Nizar Sassi, der im Jahr 2002 seine Situation als Häftling im Gefängnis des US-Marinestützpunkts Guantánamo Bay wie folgt beschreibt: »Das einzige Recht hier besteht darin, keinerlei Rechte zu haben.« Einige Jahre später, als die Regierung Obama aggressiver gegen Menschen vorging, die keine US-Staatsbürger_innen waren und illegal im Land arbeiteten, hieß es in der Zeitschrift des North American Congress on Latin America, das Nationalstaat-System verweigere Arbeitsmigrant_innen das Recht, Rechte zu haben.20 Als im Mai 2015 die Irinnen und Iren in einem Referendum für die gleichgeschlechtliche Ehe stimmten, feierte ein führender Politiker der italienischen Linken diese Errungenschaft nicht nur als Lehrstunde für sein eigenes traditionell katholisches Land, sondern auch als »Sieg der Schönheit des Rechts, Rechte zu haben«.21 Im Oktober des gleichen Jahres, als Europa von der Realität der größten Migrationswelle und Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg endlich aufgeweckt wurde, startete der Europäische Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen in den sozialen Medien eine Kampagne mit dem Leitgedanken »Flüchtlinge haben das Recht, Rechte zu haben«.22 20 Nevins, A Right to Work for All. 21 Williams, Leftists Push Italy to Follow Ireland on Same-Sex Marriage. 22 European Resettlement Network, Kampagne: #Refugeeshaverights. Die Kampagne wurde am 11. Dezember 2015 mit dem Slogan »Refugees have the right to have rights« eröffnet.

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Während politische Aktivist_innen das Recht, Rechte zu haben vor allem als unkompliziertes Synonym für Menschenrechte betrachten, nimmt die Interpretation in der Wissenschaft eine differenziertere Gestalt an. Als erste nahm die politische Theorie Arendts Wendung auf, doch bald regte sich auch Interesse in ganz unterschiedlichen Fachrichtungen, wie der Soziologie, den Literaturwissenschaften und den Rechtswissenschaften. Die türkischamerikanische politische Theoretikerin Seyla Benhabib hat als erste Wissenschaftlerin auf die Formulierung aufmerksam gemacht. Ihre luzide Interpretation, die sie erstmals in dem 1996 erschienenen Band The Reluctant Modernism of Hannah Arendt äußerte und in verschiedenen Artikeln und Büchern weiter ausführte, wurde zur einflussreichsten Auslegung der Worte Arendts. Benhabib befasst sich im Zusammenhang mit dem »Recht, Rechte zu haben« (wie Stephanie DeGooyer im ersten Kapitel dieses Bandes ausführt) vor allem mit dessen Grundlage. Wie bereits angemerkt, entstand die Formulierung aus der Erkenntnis heraus, dass ein Mensch, um überhaupt Rechte zu haben, anscheinend zuerst ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen haben muss. Und doch betont Arendt mit ihrer Formulierung auch einen möglichen Widerspruch. Denn wie kann jemand, der keinem Gemeinwesen angehört, ein Recht auf Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft geltend machen, wenn eben diese Zugehörigkeit Voraussetzung dafür ist, dass man überhaupt Rechte geltend machen kann? Benhabib erklärt das damit, dass diese Formulierung, also der Begriff »Recht« einmal im Singular und einmal im Plural, die Tatsache verschleiere, dass diese zu zwei unterschiedlichen Ordnungen der Existenz gehören:

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das »Recht« sei ein moralischer Anspruch auf Zugehörigkeit, den jeder Mensch geltend machen könne, während die nachfolgenden »Rechte« juristische Ansprüche bezeichneten, die Staatsbürger_innen vorbehalten seien. Mit dieser Auslegung wird die Widersprüchlichkeit der Formulierung umgangen, doch stellt sich für Benhabib die drängende Frage nach der Grundlage für das erste, das moralische Recht. Sie konstatiert, dass Arendt die Grundlage nicht angibt, auf der der normative Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beruht.23 Dadurch lasse uns Arendt über die normativen Grundlagen des Rechts auf Rechte »im ungewissen«.24 Mit dem Hinweis, dass die einzige Möglichkeit zur Lösung des Problems darin bestehe, »die Pietät bei Textanalysen« hinter sich zu lassen25, postuliert Benhabib, dass das »Recht, Rechte zu haben« von der Kant’schen Vorstellung ausgehe, dass jeder Mensch ein freies, rational handelndes Wesen und somit »Zweck an sich« sei.26 Dieses Recht besitze jeder Mensch allein »aufgrund der Angehörigkeit zur Gattung Mensch«.27 Anders gesagt sei das »Recht, Rechte zu haben« Arendts Version vom traditionellen Konzept der Menschenrechte. Wie oben erwähnt, hatte Hannah Arendt große Bedenken, ob es in der Praxis zur Wahrnehmung der eigenen Rechte ausreiche, ein Mensch zu sein, ohne zugleich die Staatsbürgerschaft eines Nationalstaats zu besitzen. Benhabib hält jedoch Arendts Schlussfolgerung, dass nur die Staatsbürgerschaft eines Nationalstaates den einzelnen 23 24 25 26 27

Siehe Benhabib, Melancholische Denkerin. Ebd., S. 140. Ebd., S. 309. Dies., Rechte der Anderen, S. 64. Dies., Melancholische Denkerin, S. 90.

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Menschen verlässlich Rechte garantieren könne, für voreilig. Denn seit der Veröffentlichung von Elemente und Ursprünge habe der Wandel in der internationalen Politik und Gesetzgebung zur Schaffung eines Forums oberhalb der Ebene des Nationalstaates geführt, in dessen Rahmen die Rechte von Menschen ohne Staatsbürgerschaft zunehmend wirksamer geschützt und durchgesetzt werden können. Hier sind an erster Stelle die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), das Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (1951), der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide 1976) sowie die begleitenden Organe zur Durchsetzung und Überwachung, wie die Hochkommissariate der Vereinten Nationen für Menschenrechte und für Flüchtlinge und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, zu nennen. Benhabib konzediert, dass Nationalstaaten allzu oft agieren, als ob »die exklusive Herrschaft über ein Territorium ein Vorrecht des Souveräns sei, das weder eingeschränkt noch von anderen Normen oder Institutionen relativiert werden dürfe«.28 Zwar sei das Recht aller Menschen, Rechte zu haben, noch keine greifbare Realität, aber doch ein regulatives Ideal, das die mächtigsten Akteur_innen der nationalen und internationalen Politik an den Verhandlungstisch zwinge. Die nationale Souveränität werde also immer häufiger durch internationale Rechtsnormen eingeschränkt. Deren Auslegung wiederum erfolge zunehmend auf universaler Ebene, etwa durch Justizorgane, internationale Nichtregierungsorganisationen 28 Dies., Rechte der Anderen, S. 72.

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wie Human Rights Watch und auch durch ganz normale Bürgerinnen und Bürger. Und die Wechselwirkung dieser hermeneutischen Handlungen aller drei Gruppen von Akteuren könne die Nationalstaaten dazu bewegen, sich der eigenen Gleichgültigkeit, gar Feindseligkeit gegenüber Nicht-Staatsbürger_innen (Staatenlose, Minderheiten, Flüchtlinge und sans papiers) zu stellen. Insgesamt sei zu konstatieren, dass das »Recht, Rechte zu haben« zunehmend in der institutionellen Gesetzgebung verankert werde. »Das Recht, Rechte zu haben, bedeutet heute«, erklärt Benhabib, »daß der universelle Status jedes Menschen unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit anerkannt wird.« Dieses Recht bedeute die Anerkennung des universalen Status des Menschseins und jedes einzelnen Menschen unabhängig von der Nationalität.29 IV Benhabibs Interpretation des »Rechts, Rechte zu haben« hat neuerliches Interesse an diesem Diktum geweckt, insbesondere unter den Akteur_innen im Bereich der Politikwissenschaften und der Menschenrechte. Und das aus gutem Grund. Denn sie nimmt Arendts beiläufige Formulierung weder als rhetorische Vorlage für ein Mantra der Menschenrechtsbewegung noch als akademisches Verwirrspiel, sondern fordert uns dazu heraus, dieses »Recht auf Rechte« als konzeptionelles Instrument zur Analyse der misslichen Lage derjenigen zu sehen, die am Rand der politischen Ge29 Ebd., S. 73; vgl. auch: »dass wir jeden Menschen qua Menschen – und nicht allein in seiner Rolle als Staatsbürger – als Rechtsperson betrachten, die einen Anspruch auf elementare Menschenrechte besitzt«, dies., Menschenrechte und die Kritik, S. 89.

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meinschaft oder sogar außerhalb davon leben. Gleichzeitig nutzt sie die Formulierung dazu, den Einschluss der Ausgeschlossenen zu fordern und nach juristischen und politischen Transformationsprozessen zu suchen, mit deren Hilfe jede Wiederholung einer solchen Exklusion vermieden werden kann. Dass sie sich in ihren Ausführungen über das »Recht, Rechte zu haben« des Vokabulars der parlamentarischen Politik, des Völkerrechts und des öffentlichen politischen Diskurses bedient, eröffnet die Möglichkeit, dass die Macht der politischen, juristischen und kulturellen Institutionen reale Auswirkungen zeigen. Gleichwohl lässt Benhabibs Interpretation des »Rechts auf Rechte« viele Fragen unbeantwortet, ja ungestellt. In den folgenden Kapiteln sollen diese Fragen gestellt und durchdacht werden, mit dem Ziel, alternative Perspektiven dieses Diktums herauszuarbeiten. Dies geschieht in dem Glauben, dass uns eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem »Recht auf Rechte« dazu zwingt, Abstand von unserem eigenen Verständnis der Worte Arendts zu nehmen und das zu erfassen, was sie tatsächlich niedergeschrieben hat. Es geht nicht darum, das »Recht auf Rechte« an seine rechtmäßige Besitzerin zurückzugeben oder eine Interpretation vorzulegen, die Arendt als Autorin autorisieren würde. Ganz im Gegenteil, die folgenden Beiträge wollen das Knäuel von Bedeutungen, das Arendt höchstwahrscheinlich selbst nicht im Detail bewusst war, entwirren und den einzelnen gedanklichen Fäden in Richtungen folgen, die sie selbst wohl noch gar nicht im Blick hatte. Dabei ist Achtsamkeit geboten, inwieweit sich das »Recht auf Rechte« dagegen wehrt, als Formulierung mit einer oder mehreren spezifischen Bedeutungen verstanden zu werden. In der Tat ließe sich Benhabibs Misstrauen

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gegenüber der »Pietät« vor Textanalysen auch als Versuch auslegen, den Ambiguitäten der Arendt’schen Formulierung aus dem Weg zu gehen. Im ersten Kapitel wendet sich Stephanie DeGooyer direkt dem ersten Teil der Formulierung zu. Dieses erste Recht gilt allenthalben als normative Grundlage der bürgerlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte, die im zweiten Teil des Diktums angesprochen werden; es gilt als ein performatives Recht. Dabei wird jedoch die Sorge außer Acht gelassen, die sich in der Wiederholung des Begriffs »Recht(e)« manifestiert – einer Sorge, der Arendt eine Stimme verleiht, sowohl in ihrer historischen Darstellung des vollständigen Verlusts der empirischen Rechte, die die staatenlosen Minderheiten im Gefolge der beiden Weltkriege erlitten, als auch in ihrer praktischen (wenn nicht philosophischen) Auseinandersetzung mit dem konservativen Gedankengut Edmund Burkes. DeGooyer nimmt die Temporalität von Arendts Argumentation (dass das »Recht auf Rechte« nur dann greife, wenn die Menschenrechte bereits verloren seien) ernst und stellt deshalb die Frage, ob es richtig ist, dass wir diesem ersten Recht grundlegende Bedeutung beimessen. Wir müssen uns heute, mehr denn je, kritische Gedanken über den Gesamtzusammenhang machen, in den Arendt das »Recht, Rechte zu haben« stellt, anstatt ihre Formulierung als unanfechtbaren Lehrsatz oder als Lösung herauszufiltern. In Kapitel 2 reflektiert Samuel Moyn darüber, in welchem Ausmaß sich Arendt der Pluralisierung, der Verwirklichung und der Erweiterung des Bürger_innen-Seins verpflichtet fühlt, auf die der Plural Rechte hinzuweisen scheint. Arendt bot in ihrer politischen Theorie hier keine endgültige Vision von citizenship. Sie ließ in der Politik be-

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kanntlich die soziale Frage völlig außer Acht und war eine scharfe Kritikerin der Wohlfahrtsprojekte, die ihre Epoche prägten. Wir müssten heute, so Moyn, auf Arendts Theorie der Voraussetzungen für eine umfassende inkludierende Staatsbürgerschaft zurückgreifen, die Rechte erst möglich mache. Dies zu tun, ohne auf ihre Skepsis gegenüber der Vorstellung von einer mit enstprechenden Rechten versehenen Staatsbürgerschaft zu verweisen, würde jedoch ihrem Denken nicht gerecht. Wenn Arendts Interesse nicht nur dem Recht auf A-priori-Einbeziehung ins Gemeinwesen galt, sondern mehr noch der Pluralisierung der Rechte, mit denen ihr Diktum endet, dann ging es ihr nicht um die normative Wahrheit der Werte. Es erscheint vielversprechender, anderswo zu suchen, auf der Ebene der institutionellen Strukturen zum Schutz der Pluralität, wie sie auch durch die nationalen und internationalen Rechtssysteme angestrebt werden. Wenn in Arendts Analyse Rechte erst dann auftauchen, wenn sie bereits verloren sind, fragt Lida Maxwell in Kapitel 3, wie können wir dann verstehen, was es bedeutet, sie zu »haben«? Dass Rechte eine Art individueller Besitz sind, ist wohl die entscheidende Grundlage des modernen Rechtekonzepts und hat sicher mit dazu geführt, dass die marxistische Tradition den Rechtediskurs genauso entschieden ablehnt wie ihn die liberale Tradition schätzt. Unter Verweis auf Arendts kritische Haltung gegenüber diesem Diskurs legt Maxwell dar, dass Arendt ein neues Verständnis dafür biete, was es heißt, Rechte »zu haben«. Dabei sei »haben« nicht im Sinn von »besitzen« zu verstehen, sondern als laufendes, kollektives Projekt zur Schaffung eines Gemeinwesens. Das sei, wie Maxwell einräumt, insofern ein positiveres Rechtekonzept, als es die Gemein-

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schaftsbildung in den Mittelpunkt stelle, gleichzeitig aber sei es auch ambivalenter, fragiler und ohne moralische Gewissheit oder Zielsetzung. Während es in den ersten drei Kapiteln dieses Bandes jeweils um eines der drei Wörter geht, aus denen Arendts Formulierung vom »Recht, Rechte zu haben« zusammengesetzt ist, steht im vierten Kapitel das auffällige Fehlen der Benennung des Rechteinhabers bzw. der Rechteinhaberin im Vordergrund. Im Gegensatz zu der praktisch universellen Annahme, dass die Subjekte des Gedankens vom »Recht, Rechte zu haben« selbstverständlich Menschen sind, mahnt Alastair Hunt mit der fehlenden Benennung dieses Agens zur Vorsicht vor der in den Menschenrechten so tief verankerten Annahme, dass nur menschliche Wesen Rechtsträger sein können. Dazu zieht er Arendts kaum beachtete Kritik an den Menschenrechten als biopolitische Fantasie heran – und ihre Präsentation des »Rechts, Rechte zu haben« als Grundlage für die kritische Infragestellung der etablierten Annahmen darüber, wer als Rechteträger/in gelten kann. Eine gründliche Prüfung beider Thesen zeigt, so seine Argumentation, dass das Menschsein weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kennzeichen für Träger des »Rechts, Rechte zu haben« ist. Vielmehr biete das »Recht, Rechte zu haben« nach seiner Befreiung aus den Fängen des Humanismus einen Weg zur Neuausrichtung des Projekts einer radikalen Demokratie, aus der Erkenntnis heraus, dass wahre Pluralität als Voraussetzung für das politische Miteinander auch die nicht-menschlichen Lebewesen einschließt, mit denen wir ja bereits zusammenleben.

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Das Recht, Rechte zu haben I Stephanie DeGooyer

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Wer ein Recht besitzt, hat Anspruch auf bestimmte materielle oder immaterielle Dinge, zum Beispiel auf Gesundheitsversorgung, eine Unterkunft, einen Anwalt oder auf das Recht, zu schweigen. Worauf rekurrierte also Hannah Arendt, als sie von einem »Recht, Rechte zu haben« sprach? Dies, so stellt sich schnell heraus, ist eine äußerst irritierende Frage. Das erste »Recht« scheint weniger ein einklagbares Recht zu sein als vielmehr ein Mittel, durch das man ein Recht erlangen kann – eine Art »Superrecht« oder, wie Frank Michelman es nennt, ein Recht auf Erwerb (acquisition right).1 Warum sollte Arendt, die dem humanistischen Gesamtrahmen der Menschenrechte bekanntlich kritisch gegenüberstand, den Gedanken eines solchen Rechts befördern? Im Spätherbst 1949, inmitten der Feierlichkeiten um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die soeben von den wenige Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen proklamiert worden war, betont Arendt, dass die Menschenrechte denjenigen, die den institutionellen Schutz eines Nationalstaates verloren haben, keinen besonderen Schutz böten.2 Zwar erforderten die Menschenrechte allem Anschein nach keine spezifische Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen, wie etwa eine Staats1 2

Michelman, Parsing, S. 201. Allerdings ist nicht sicher, ob Arendt die endgültige Version der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte je konsultiert hat. Wie Christoph Menke anmerkt, verweist sie auf eine »Bill of the Rights of the United Nations« und, in einer Fußnote, auf die »Entwürfe der UN -Kommission«, siehe Arendt, Einziges Menschenrecht, S. 769.

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bürgerschaft, doch seien sie in der Praxis wertlos, wenn nicht ein Land diesen Schutz gewährleiste, was in der Nachkriegszeit Millionen von Flüchtlingen und Staatenlosen hätten feststellen müssen. Wenn also die Menschenrechte mehr sein sollten als Staatsbürgerrechte, dann sei als Bedingung für ihre Wahrnehmung ein weiteres Recht erforderlich, in ihren Worten das »Recht, Rechte zu haben«: »Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben – und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird –, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen.«3 Dieses »Recht, Rechte zu haben« zeichnet sich durch zwei besondere Merkmale aus. Es ist ein ergänzendes Recht, und, hintergründiger noch, es ist ein verlorenes Recht. Es ist ein Recht, das den generellen Rahmen für die Menschenrechte absteckt (und daher nicht mit diesen identisch ist), aber es ist zugleich ein Recht, das erst dann existiert, wenn es bereits verschwunden ist, also wenn Millionen Menschen auftauchen, die es verloren haben. Das ist das zweifache Paradox des Rechts, Rechte zu haben: Es ist eine Voraussetzung für die Menschenrechte, aber es wird »erst dann« sichtbar, wenn die Menschenrechte bereits versagt haben. Ich würde es deshalb ein a-posteriori-Recht nennen, das erst in Erscheinung tritt,

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Dies., Elemente und Ursprünge, S. 462 (Hervorhebung DeGooyer).

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wenn die Möglichkeit seines Erscheinens nicht mehr gegeben ist.4 In welchem Sinne kann man nun dieses erste Recht in der Formulierung »Recht, Rechte zu haben« unabhängig von den Rechten betrachten, die ausschließlich Staatsbürger_innen von Nationalstaaten vorbehalten sind? Ist die Verdoppelung dieses Begriffs lediglich eine Wiederholung oder gar Verstärkung der tautologischen Beziehung zwischen Bürgerrechten und universellen Rechten, wie sie Arendt in ihren Ausführungen zu den Menschenrechten beschreibt? Oder schlägt sie das »Recht, Rechte zu haben« als Ausweg aus der konzeptionellen Sackgasse zwischen Menschen- und Bürgerrrechten vor, indem das erste »Recht« ihrer Wendung eine neue Vision von Rechten und politischer Ordnung bietet? Wie kann sie von einem Recht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen für Millionen Staatenlose sprechen, ohne zugleich eine metaphysische Grundlage aller Rechte zu behaupten, also genau jene Art von Recht, das sie in ihrer Analyse der Menschenrechte so heftig kritisiert hat? Zahlreiche wissenschaftliche Anstrengungen wurden unternommen, um diese Inkonsistenzen aufzulösen.5 Ich möchte mich im Folgenden weniger den philosophischen 4

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Zum »Paradox des Besitzes«, dem Gedanken, dass ein Mensch in der Regel nur dann den Besitz von Rechten geltend macht, wenn er sie zu verlieren droht oder bereits verloren hat, meint Donnelly, es sei nur dann sinnvoll und angemessen, über Rechte zu sprechen, wenn sie strittig seien (Donnelly, Concept of Human Rights, S. 13). An anderer Stelle erklärt er, dass Rechte erst dann konkret genutzt und thematisiert würden, wenn ihre Inanspruchnahme infrage gestellt, bedroht oder verweigert werde (ders., Universal Human Rights, S. 8). Siehe insbesondere Menke, Aporien der Menschenrechte, S. 131–147.

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Dilemmata zuwenden, die der Gedanke des »Rechts, Rechte zu haben« darstellt, sondern untersuchen, welche Funktion ihm im Rahmen des neunten Kapitels von Elemente und Ursprünge zukommt. Hier verwendet Arendt die Formulierung zum zweiten und letzten Mal überhaupt. Das erste Mal tauchte der Gedanke in einem Aufsatz für die Zeitschrift Modern Review auf, wo sie das »Recht, Rechte zu haben« als ein Recht beschreibt, das wiederhergestellt werden könne. In Elemente und Ursprünge hingegen lässt sie Skepsis daran erkennen, dass der Schaden durch den Zerfall der Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg durch irgendein Recht wiedergutgemacht werden könnte. Die theoretische Aporie des »Rechts, Rechte zu haben« realisiert sich im Elend des staatenlosen Flüchtlings, dessen Situation deutlich macht, dass überall dort, wo er in seine Notlage hineingezwungen wurde, dem bloßen Recht auf andere Rechte wenig oder gar kein Gewicht zukommt. Staatsangehörige von Nationalstaaten sehen im Privileg des »Rechts, Rechte zu haben« etwas Selbstverständliches, aber wem die Staatsbürgerschaft entzogen wurde, der weiß, dass ein solches Recht nicht ausreicht, um den Verlust auszugleichen. Ein genauer Blick auf das »Recht, Rechte zu haben« bei seinem letzten Auftauchen in Arendts Werk zwingt uns meines Erachtens, manche Lesarten dieses Gedankens als eine moralische Grundlage oder anarchische Kraft zu überdenken. Es drängt mich, diesen Gedanken, dessen Bedeutung auf den ersten Blick so einleuchtend erschien, doch etwas näher zu beleuchten. Ich möchte auch aufzeigen, dass Arendt nicht ganz so weit geht wie Edmund Burke, der mit konservativem Zynismus dieses Paradoxon als Beweis dafür nimmt, dass jenseits des Staatbürger-

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rechts eines Landes kein universales Menschenrecht existieren kann. Meine These ist, dass das »Recht, Rechte zu haben«, auch wenn es sich in der Praxis nicht als kohärentes Modell für revolutionäre Veränderungen erwiesen hat, für Arendt doch ein wirksames historisch-diagnostisches Instrument ist, ein Mittel dafür, die Enteignungen und Entrechtungen, die unvermeidliche Begleiterscheinungen des Aufstiegs der Menschenrechte sind, näher ins Blickfeld zu rücken.

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I Es lassen sich im Wesentlichen zwei dominierende kritische Lesarten des »Rechts, Rechte zu haben« ausmachen. Die erste könnte man als normative Auslegung bezeichnen. Vertreten und bekannt gemacht durch die Politikwissenschaftlerin Seyla Benhabib, sieht sie das zuerst genannte »Recht« im Singular als moralische (und weniger als juristische) Grundlage für die Möglichkeit von Menschenrechten. Es besagt, dass wir einklagbare Rechte besitzen sollten, zum Beispiel ein Recht auf Wasser oder auf Gesundheitsversorgung, und dass dieses Recht für alle Menschen gilt. Die zweite Lesart, vertreten von Theoretiker_innen wie Judith Butler, versteht das »Recht, Rechte zu haben« als performatives Recht und fokussiert auf die fundamentale Unbegründetheit dieses ersten Rechts, auf seine fehlende autoritative oder juristische Grundlage, um als Katalysator für die Erfindung neuer Rechte zu agieren. Der Rekurs auf ein »Recht, Rechte zu haben« erfolgt zum Beispiel dann, wenn sich Körperschaften zusammensetzen und eine ausgrenzende hegemoniale Praktik infrage stellen. Benhabib ist die wichtigste Verfechterin der normativen Auslegung. Sie sieht im ersten Recht in Arendts Ge-

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danken einen moralischen Anspruch im Kant’schen Sinne des regulativen Ideals. Er fuße auf der Prämisse, dass wir »jeden Menschen qua Menschen – und nicht allein in seiner Rolle als Staatsbürger – als Rechtsperson betrachten, die einen Anspruch auf elementare Menschenrechte besitzt«.6 Benhabib konzediert, dass Arendt in ihren Schriften keine explizite philosophische Begründung einer normativen Grundlage für ihre politische Philosophie liefert, erklärt aber gleichwohl, Arendts Position sei in einem »anthropologischen Universalismus« der Gleichheit der menschlichen Bedingtheit verwurzelt.7 Das »Recht, Rechte zu haben« gründe auf der Idee von der grundsätzlichen Humanität: »Der Begriff ›Recht‹ [im ersten Satzteil] zielt auf die gesamte Menschheit und bindet uns an die Erkenntnis, daß jeder einzelne jeder Gruppe von Menschen zugehörig ist.«8 In Benhabibs Auslegung des Arendt’schen Gedankens scheint jedoch einiges uneindeutig zu bleiben. Wer beansprucht das »Recht, Rechte zu haben«, und wer erkennt diesen Anspruch an? Zur Beantwortung dieser Frage rekurriert Benhabib auf die philosophische Sprache der Dekonstruktion und erklärt: »[…] hier bleibt zunächst offen, an wen sich das Recht, als Träger von Rechten anerkannt zu werden, eigentlich richtet, d. h., wen es verpflichtet.«9 Obwohl in ihrer Darstellung der Adressat des Rechtsanspruchs unklar bleibt, schreibt Benhabib die Macht der Realisierung und Durchsetzung der moralischen Grund6 7 8 9

Benhabib, Menschenrechte und die Kritik, S. 89. Dies., Melancholische Denkerin, S. 304. Dies., Rechte der Anderen, S. 63. Ebd.

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lage des »Rechts, Rechte zu haben« an anderer Stelle internationalen Institutionen sowie nationalen und transnationalen juristischen Organen zu und nennt dies in Hommage an Jacques Derrida »demokratische Iteration«10. Im Zeitverlauf und durch Wiederholung würden nationale und internationale Institutionen zunehmend einzelnen Menschen Rechte garantieren. Diese Progression erscheint bei Benhabib jedoch etwas konstruiert. Derrida beschreibt mit »Iteration« einen Prozess der Bedeutungsverschiebung eines Wortes oder Zitats, ohne dieser Entwicklung einen positiven oder einen negativen Wert zuzuordnen, da in der Wiederholung niemals dieselbe Bedeutung reproduziert wird.11 Benhabibs Vorgehen muss hingegen als affirmative Dekonstruktion aufgefasst werden. Sie glaubt, dass bestimmte, mehrdeutig konzipierte kosmopolitische Gremien (»staatliche Körperschaften des Rechts« und »informelle Öffentlichkeiten der Zivilgesellschaft und der Medien«) zunehmend im Interesse von Staatenlosen und Flüchtlingen agieren und existierende Institutionen, vor allem rechtlicher Art, ethische Ziele verfolgen werden. Benhabib ist, vorsichtig ausgedrückt, eine Optimistin.12 In ihrer Auslegung des »Rechts, Rechte zu haben« 10 Ebd., S. 175. 11 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, S. 325–351. Siehe auch DeGooyer, Democracy, S. 93–110. 12 Aufschluss über Benhabibs Auslegung von Arendts Politikverständnis liefert ein Unterkapitel in Melancholische Denkerin mit der vielsagenden Überschrift »Arendts politische Theorie und ihre fehlenden normativen Grundlagen«. Sie sieht in Arendts Werk einen »melancholischen Zug« und »Skepsis« gegenüber den Menschenrechten, bezweifelt aber zugleich, dass die Einordnung in den politischen Existenzialismus für Arendt »wünschenswert wäre«. Diese Be-

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werden die beiden Nomen fein säuberlich getrennt. Dem Singular »Recht« und dem Plural »Rechte« werden unterschiedliche Existenzebenen zugeordnet: dem Singular Recht ein moralischer Anspruch, der in der Natur des Menschen gründet, und dem Plural Rechte einklagbare Ansprüche von Staatsbürger_innen. Die Wortwiederholung wird somit lediglich als rhetorische Girlande verwendet, um die Formulierungen »Recht, einer politischen Gemeinschaft zuzugehören«, »Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören« oder »Recht der Menschen auf Staatsbürgerschaft« auszuschmücken. Benhabib präsentiert das »Recht, Rechte zu haben« als unanfechtbaren souveränen Anspruch, den alle Menschen bereits haben und der nur noch in einen Rahmen rechtlicher Institutionen eingebettet werden muss. Sie enthüllt eine implizite normative Grundlage, die dem Recht eine – wenn nicht juristische, dann zumindest moralische – Funktion verleiht. Mit dieser Lesart bleiben wir im Arendt’schen Paradox gefangen. In ihrem Bestreben, das Recht auf citizenship mit der Qualität des Menschseins zu verknüpfen, verankert Benhabib dieses Recht nun in exakt der Form, von der Arendt nicht nur aufgezeigt hat, dass sie gar keine Rechte generieren kann, sondern die sie auch als monströmerkung zu wünschenswerten Einordnungen ist bezeichnend für Benhabibs Schwanken zwischen Positionen, die sich tatsächlich in Arendts Werk belegen lassen, und solchen, die Benhabib gerne bei Arendt erkennen würde. So sieht Benhabib in der Abstraktionsebene, auf der Arendt die Menschheit in Vita activa behandelt, eine implizite »ethische Geste«. Da all dies jedoch nicht theoretisch expliziert werde, sondern implizit bleibe, gelangt Benhabib zu dem Schluss, dass Arendts Werk einer Überarbeitung bedürfe, wenn es in einem normativen Rahmen verstanden werden solle.

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ses Umgehen der Pluralität, der Grundlage politischen Handelns kritisiert. Für Arendt sind Appelle an die menschliche Natur als Grundlage für Rechte eine naive oder ideologische Vermeidung der schwierigen Aufgabe, herauszufinden, wie ein Zusammenleben nach den Regeln der Gerechtigkeit funktionieren könnte. Die zweite vorherrschende Lesart des »Rechts, Rechte zu haben« wählt gerade die Schwäche der Formulierung, ihren Mangel an Autorität, zum Ort (oder Nicht-Ort) des politisch Möglichen. Es sei die Unbegründetheit der Formulierung, so Étienne Balibar, die die Schaffung neuer Rechte ermögliche. Arendt finde einen paradoxen Grundsatz der Anarchie – der Nicht-Macht beziehungsweise der Kontingenz der Autorität – mitten ins Zentrum der arch¯e oder der Autorität des Politischen zu platzieren.13 Anders formuliert ist das »Recht, Rechte zu haben« ein performatives Recht, das allein dadurch entsteht, dass es geäußert wird. Die in den 1950er Jahren von J. L. Austin entwickelte Theorie der Performativität beschreibt die Macht der Sprache, durch eine sprachliche Äußerung eine Handlung zu vollziehen und so neue Wirkungen oder eine neue Situation herbeizuführen. Klassische Beispiele performativer Äußerungen sind etwa »Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau« oder »Ich taufe hiermit das Schiff …« Performativität bietet sich an, wenn man im Zusammenhang mit dem »Recht, Rechte zu haben« über das Problem der Autorität nachdenken will. Damit wird nicht nur erfasst, was die Äußerung »das Recht, Rechte zu haben« bewirkt (nämlich in einer Gemeinschaft ein Recht zu schaffen, wo zuvor keines war), sondern damit erschließt sich 13 Balibar, Equaliberty, S. 168.

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auch, warum Arendt der Erklärung seiner Existenz so wenig Raum gewidmet hat. So sieht es zum Beispiel Judith Butler: »Arendt macht nur durch ihre Behauptung das Recht geltend, Rechte zu haben, und es gibt keinerlei Grundlage für diese Behauptung außerhalb ihrer selbst.«14 Allein durch die Äußerung am Ende des Kapitels lässt sie die Formulierung Realität werden. Zwar habe ich keine grundsätzlichen Einwände gegen die performativen Auslegungen des »Rechts, Rechte zu haben«, doch erscheinen sie mir ebenso wie die normativen Lesarten allzu affirmativ. Auch eine performative Betonung der Unbegründetheit neuer Rechte muss der vollen Bedeutung der Schwäche dieser Formulierung in Arendts Analyse Rechnung tragen. Die Ausübung des Rechts auf Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft erfordert ein Publikum: ein existierendes Gemeinwesen, das diesen Anspruch anerkennt und bestätigt. Wenn dieses Publikum fehlt, ist die Einforderung eines Rechts inkohärent, ist sie nichts als ein Geräusch, eine Handlung, die ins Leere läuft. Natürlich kann die Forderung geäußert werden (und sie wurde es überall auf der Welt auch unzählige Male, in den unterschiedlichsten Konstellationen von Anspruchsteller_innen), doch um Erfolg zu zeitigen, muss sie mehr sein als nur eine immer wieder vorgebrachte Forderung: Sie muss von einer externen Macht anerkannt sein, zum Beispiel von einem Nationalstaat. Ein Beispiel: Im Jahr 2014 verklagten Bewohner von Detroit die Stadtverwaltung, die Tausenden von säumigen Kunden das Wasser abgestellt hatte. Der Richter lehnte die Klage mit der Begründung ab, Wasser sei zwar ein lebensnotwendiges Gut, 14 Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie, S. 68.

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doch gebe es kein einklagbares Recht darauf. Die Bewohner_innen riefen die Vereinten Nationen an und und forderten die Durchsetzung des Rechts auf Wasser als Menschenrecht.15 Arendt würde die streitbare Aussagekraft dieses Anspruchs auf ein Menschenrecht zweifellos anerkennen. Doch das Vorgehen der Bewohner_innen traf zwar in der Öffentlichkeit auf breite Unterstützung, reichte aber nicht aus, um in den US-amerikanischen Gesetzen ein Recht auf Wasser zu verankern. Die Anrufung der Menschenrechte in diesem Fall zeigt einmal mehr, wie es um die Einklagbarkeit von Rechten im staatsbürgerlichnationalen Kontext bestellt ist. Die Vereinten Nationen konnten Empfehlungen aussprechen und eine »Sondierungsmission« entsenden, aber dass Anspruch auf ein Recht auf Wasser besteht, konnten sie nicht bestätigen. Die Ausübung eines Rechts kann also bewirken, dass etwas geschieht – aber auch umgekehrt, dass etwas nicht geschieht. Ein Staat kann ein Asylersuchen ablehnen oder auf die nächsthöhere Instanz verweisen, auch ohne die Betroffenen je anzuhören.16 Michelman nennt dieses Erfordernis einer bestätigenden Gemeinschaft das »selbstreferenzielle Dilemma« des Rechts, Rechte zu haben; und Thomas Keenan bezeichnet es als »traurige Tatsache«.17 Damit ein Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer Gemein15 Eromosele, United Nations: Detroit Water Shutoffs Violate Human Rights. 16 Siehe Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie. 17 Michelman, Parsing, S. 206. Thomas Keenan verweist darauf, dass auch die Regeln, Kontexte und Möglichkeiten keineswegs in Stein gemeißelt sind, und formuliert als eine Grundfrage der Politik, wie es zu solchen Veränderungen kommt und wer sie herbeiführt (siehe Keenan, Drift, S. 99–100).

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schaft anerkannt wird, muss der Mensch bereits Teil einer Gemeinschaft sein. Das Recht auf Inklusion setzt Inklusion voraus. Trotz ihres Strebens nach einem emanzipatorischen Ergebnis kümmert sich keine der beiden Lesarten des »Rechts, Rechte zu haben« hinreichend um die rekursive Logik, derzufolge die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen Voraussetzung für die Wahrnehmung der Menschenrechte sein muss. Dieses Dilemma macht es schwer, die politische Subjektivierung der Rechtlosen in Arendts Darstellung zu erkennen. Keinem Gemeinwesen anzugehören, so ihre These, bedeutet Rechtlosigkeit. Einen performativen Anspruch auf Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu erheben, erfordert indes die Ausübung eines Rechts, das nicht im Gesetz verankert ist. Das größte Problem bei der normativen wie der performativen Lesart des »Rechts, Rechte zu haben« besteht somit darin, die Unsicherheit in Arendts Gedanken zu vermeiden, wie Rechtlose einen Anspruch auf Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen geltend machen können, aus dem sie willentlich ausgeschlossen wurden. Es gibt keine Garantie, dass einer performativen Einforderung von Rechten stattgegeben wird, vor allem wenn die Gemeinschaft, in die die Anspruchsteller_innen Einlass begehren, für den Verlust ebendieser Rechte verantwortlich ist. Arendt wusste das aus eigener Erfahrung nur allzu gut, war ihr doch durch die Nürnberger Gesetze, die alle Staatsangehörigen »fremden Blutes« zu Bürger_innen zweiter Klasse ohne politische Rechte machten, die Staatsbürgerschaft entzogen worden. Nach ihrer Flucht aus einem französischen Internierungslager bemühte sie sich nicht etwa darum, zurück nach Deutschland zu gelangen und dort ihr »Recht,

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Rechte zu haben« einzufordern, sondern sie rettete sich mit einem gefälschten Visum nach Amerika. Das Land ihrer Geburt, die Gemeinschaft, auf deren Zugehörigkeit sie ein Anrecht hatte, war zugleich das Land, das aktiv danach strebte, sie und andere Juden aus ebendieser Gemeinschaft auszuschließen und fernzuhalten. Das Problem der Rechtlosen liegt nach Arendt also nicht nur darin, dass sie keiner Gemeinschaft angehören, sondern vielmehr darin, dass ihnen die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zwangsweise vom Staat entzogen wurde, der sein Recht auf Ausweisung durch Entziehung der Staatsbürgerschaft ausgeübt hat.18 Ehe sie das »Recht, Rechte zu haben« überhaupt artikuliert, führt Arendt ihrer Leserschaft vor Augen, wie schwierig es für Staatenlose ist, wieder Zugang zu einer Gemeinschaft zu erhalten, wenn sie das Recht auf Zugehörigkeit zu ihr verloren haben. Bei der Aktualisierung ihres zuerst in der Modern Review veröffentlichten Artikels in Elemente und Ursprünge legt sie ausführlich dar, wie Lösungsversuche wie Repatriierung oder Einbürgerung scheitern, wenn ein Staat nicht zur Aufnahme von Staatenlosen bereit ist oder wenn die schiere Menge an Anträgen auf Einbürgerung das Gegenteil bewirkt, Panik vor einem weiteren Zustrom von als Fremde wahrgenommenen Menschen auslöst und weitere Ausbürgerungsgesetze zur Folge hat. Staatenlose haben nur eine Alternative: eine »anerkannte Ausnahme« zu werden. Dies kann auf zweierlei Weise erfolgen. Entweder man begeht eine Straftat, um wenigstens ein Miminum an gesetzlichem Schutz zu erlangen (»Wenn immer ein kleiner Einbruch den legalen Status eines Menschen ver18 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 460–461.

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bessert, und sei es auch nur vorübergehend, kann man eigentlich sicher sein, daß man es mit einem Entzug der Menschenrechte zu tun hat.«).19 Oder ein anonymer Staatenloser schafft es irgendwie, ein anerkanntes Genie zu werden: »Daß die Chancen, zu überleben, sich für den berühmten Flüchtling unendlich verbessern, hat die Geschichte der letzten dreißig Jahre in zahllosen Fällen bewiesen; schließlich hat ein Hund mit Halsband und Namen eine bessere Chance als ein Straßenhund, der nichts ist als ein Hund überhaupt.«20 Beide Optionen sind jedoch Schlupflöcher, die den Rechtlosen keine zufriedenstellende oder gar revolutionäre Lösung für ihre desolate Lage bieten, sondern im Gegenteil ihre Hoffnungslosigkeit verstärken. Arendt bietet nicht nur keinen Einblick in ihre Analyse (abgesehen von den genannten Schlupflöchern und Ausnahmen), die das rekursive Dilemma des »Rechts, Rechte zu haben« durchbrechen könnten, sie scheint auch selbst kein Vertrauen in ihre Formulierung zu setzen, auch wenn sie sie gegen Ende des neunten Kapitels zweimal ausspricht. Ein Vergleich mit dem ersten Auftauchen des Gedankens in ihrem Beitrag für Modern Review aus dem Jahr 1949 (also zwei Jahre vor der Veröffentlichung von The Origins of Totalitarianism) zeigt, dass Arendt dem Thema Menschenrechte schon 1951 sehr skeptisch gegenüberstand. In ihrem ersten Beitrag hatte sie das »Recht, Rechte zu haben« als das »eine Menschenrecht« vorgestellt, als das eine Recht, das wir brauchen, ehe wir alle anderen haben

19 Ebd., S. 448. 20 Ebd., S. 449.

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können.21 Mit Zuversicht spricht sie davon, dass dieses Recht »aufs neue sinnvoll werden [kann], wenn [es] im Lichte gegenwärtiger Erfahrungen und Umstände formuliert wird«.22 Abschließend erklärt sie, dass sich dieses eine Menschenrecht nur »durch gegenseitige Vereinbarung und Garantie realisieren kann«, durch die Gemeinschaft der Nationen. Diese erste Äußerung des Gedankens hallt in Benhabibs Idee der »demokratischen Iteration« wider und macht den Glauben daran deutlich, dass kosmopolitische Organe zusammenarbeiten können oder zumindest könnten, um ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem polititischen Gemeinwesen zu befördern. In Elemente und Ursprünge hingegen ist alle Selbstsicherheit der Aussage verschwunden. Das »Recht, Rechte zu haben« ist weder eine pragmatisches Vorgabe für politisches Handeln, noch bietet es ein emanzipatorisches Argument für die Beseitigung der Rechtlosigkeit. Es ist nicht mehr nur das »eine« Menschenrecht; jetzt ist es das Recht, das immer schon verloren ist und das die Menschheit nicht zurückfordern kann.23 II Die Fokussierung des »Rechts, Rechte zu haben« auf ein verlorenes Recht in Elemente und Ursprünge ist nicht die einzige Umstellung, die Arendt vornimmt. In Einziges 21 Dies., Einziges Menschenrecht, S. 769. 22 Ebd., S. 766. 23 In den »Concluding Remarks« der ersten Ausgabe von Origins formuliert Arendt im Zusammenhang mit dem »Recht, Rechte zu haben« einen positiven Anspruch. Doch in der überarbeiteten Version sowie in der deutschen Ausgabe sind diese »abschließenden Bemerkungen« nicht mehr enthalten.

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Menschenrecht äußert sie diesen Gedanken im Anschluss an eine Diskussion der Thesen Edmund Burkes, dem sie sich bei ihrer Analyse der Naturrechte zuwendet. Dass der konservative Philosoph sich des »Rechts, Rechte zu haben« nicht bewusst gewesen sei, so ihre Argumentation, schwäche seine Kritik der Naturrechte als »metaphysische Abstraktion«, wie er in Betrachtungen über die Französische Revolution ausführte.24 »Gründlicher noch als Burke haben wir erfahren müssen, daß alle Rechte sich nur innerhalb eines gegebenen politischen Gemeinwesens realisieren […]. Aber wir wissen auch, daß es noch ein anderes Recht geben muß außer jenen sogenannten ›unveränderlichen‹ Menschenrechten – die eigentlich doch nur Staatsbürgerrechte sind und sich nach historischen und anderen Umständen ändern – ein Recht, das nicht ›aus der Nation‹ entspringt.«25 In Elemente und Ursprünge dagegen bringt sie ihre Kritik an Burke zum Ende des neunten Kapitels an, also erst nachdem sie das »Recht, Rechte zu haben« postuliert hat. Wie später noch gezeigt wird, ist diese Umstellung durchaus von Bedeutung. In Betrachtungen argumentiert Burke, dass der in der Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 so hochgelobte »Naturmensch« in der Geschichte keinen Platz habe. Die Menschenrechte seien »Abstraktionen«, nichts als Wortwolken im Vergleich zu den ererbten Ansprüchen, die einem Menschen auf der Grundlage seines Blutes und seiner Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen mitgegeben werden. Nichts in der Geschichte bestätige die Idee eines Naturzustands, in dem der »Na24 Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. 25 Arendt, Einziges Menschenrecht, S. 766.

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turmensch« jenseits der Konventionen und Traditionen der bürgerlichen Gesellschaft leben könne. Nationale Rechte – bei Burke die »Rechte eines Engländers« – seien die einzigen einklagbaren Rechtsansprüche, die dem Individuum eine zuverlässige Grundlage für Schutz und Sicherheit böten.26 Überraschenderweise positioniert sich Arendt in Übereinstimmung mit Burke. Für sie ist der zentrale Begriff der französischen Deklaration weniger der »Mensch« als vielmehr der »Bürger«. Diese Deklaration der Rechte des Menschen, die für alle Personen unabhängig von Staatsangehörigkeit, Klasse oder Glauben gelten sollten, wurde exakt zu der Zeit erlassen, als sich die Französische Republik etablierte. »Die Vertreter des französischen Volkes«, so beginnt die Deklaration, »[…] haben […] beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen in einer feierlichen Erklärung darzulegen.« Arendt misst der Tatsache, dass gerade die Franzosen die natürlichen Rechte aller Menschen erkennen und »darlegen«, große Bedeutung bei. Diese Deklaration sei eine zweifache Erklärung, denn sie stelle sowohl auf den »Menschen« in seinem natürlichen Zustand ab als auch auf den »Bürger« als Mitglied des französischen Volkes. Doch seien Mensch und Bürger keine gleichberechtigten Konstituenten. Der Verweis auf den Naturmenschen sei lediglich ein Präludium. Der Mensch, so Arendt, hatte sich »kaum als ein von allen Autoritäten gelöstes […], völlig isoliertes Wesen etabliert […], das seine ihm eigentümliche Würde, die neue Menschenwürde, nur in sich selbst vorfand, ohne jeden Bezug zu einer anderen, höheren und 26 Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution.

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umgreifenden Ordnung, als er aus dieser Isolierung auch schon wieder verschwand und sich in das Glied eines Volkes verwandelte.«27 Aus der Rückschau bestätigt sie Burkes Auffassungen zur Revolution. Im Prinzip sollten die Rechte des Menschen nicht auf irgendeine andere Art von Recht zurückzuführen sein und somit auch nicht der Autorität des Nationalstaates unterliegen. Doch die politische Praxis und die Geschichte hätten kein Mittel geboten, die natürlichen Rechte des Individuums vom Recht des »Volkes« auf nationale Emanzipation zu lösen. Im neunzehnten Jahrhundert waren die Menschenrechte nach Arendts Lesart zu einer Art Stiefkind im politischen Denken geworden, das nur herangezogen wurde, wenn Individuen vor der Staatsmacht geschützt werden mussten und sich keine anderen Handlungsmöglichkeiten mehr boten. Schockierend deutlich wurde die Betonung der nationalen Interessen im Zusammenhang mit den Menschenrechten in den Zwischenkriegsjahren, als etwa 50 Millionen Menschen durch Massendenaturalisierung zu Staatenlosen, zu Flüchtlingen oder zu Angehörigen von Minderheiten wurden. Das erschreckende Phänomen verbreiteter Staatenlosigkeit war für Arendt eine Bestätigung dafür, dass die Menschenrechte keine primären Rechte oder Naturrechte sind, sondern eine »Art zusätzlichen Ausnahmerechts für die Unterdrückten«28 – das heißt Rechte für diejenigen, die die bürgerlichen und sozialen Rechte einer bestimmten Gemeinschaft verloren haben. Just in dem Augenblick, in dem die Menschen ihre Men27 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 454. 28 Ebd., S. 453.

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schenrechte am dringendsten benötigten, weil ihnen alle anderen Rechtsansprüche entzogen und sie auf den Status des Naturmenschen reduziert wurden, trat das völlige Fehlen einer Autorität zutage, auf die sich diese Rechte stützen konnten. Ihr Interesse an der »pragmatischen Richtigkeit«29 von Burkes Kritik an den Rechten des Menschen mag Arendt wie eine Rechtspositivistin erscheinen lassen, die die Gesetze in der Form hochhält, in der sie im Lauf der Geschichte erlassen oder praktiziert wurden. Doch sosehr Arendt Burke auch Dank schuldet für ihre Überlegungen zum »Recht, Rechte zu haben«, und auch wenn sie in Bezug auf die praktischen Grenzen der Menschenrechte zu einer ähnlichen Schlussfolgerung wie er gelangt und seine Schlussfolgerung in Kapitel 9 von Elemente und Ursprünge zum Teil übernimmt, so denkt sie doch in eine andere, der seinen entgegengesetzte Richtung und steuert auf ein anderes Ergebnis zu. Wie die Politikwissenschaftlerin Ayten Gündo˘gdu ausführt, widerstrebt ihr das Argument Burkes, die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft sei etwas Selbstverständliches.30 Burke zufolge haben historisch gewachsene positive Rechte immer schon die Menschenrechte überflüssig gemacht. Diese seien Unsinn, unnötig für Menschen, die bereits durch die Gesetze und Traditionen ihres Heimatlandes geschützt sind. Burke stellt die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft über das Naturrecht und sieht weder ein »Nirgendwo« noch ein bloßes Existieren außerhalb eines nationalen Kontextes. Doch Arendt nimmt Burkes selbstsichere Bekräftigung 29 Ebd., S. 466. 30 Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights, S. 41.

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der Zeitlosigkeit des Nationalstaats zum Anlass, über die Sinnlosigkeit der Menschenrechte vor dem Hintergrund einer völlig neuen Erscheinung nachzudenken: der Massenstaatenlosigkeit.31 Die Flüchtlingskrise nach dem Ersten Weltkrieg machte ihr bewusst, dass Menschen tatsächlich in einem Nirgendwo existieren können, dass sie aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossen und in Abstraktionen verwandelt werden können. Während Arendt also mit Burke über die Notwendigkeit juristischer und politischer Institutionen zum Schutz von Rechten einer Meinung ist, zeigt sie durch ihre Fokussierung auf Massenmigration und Staatenlosigkeit in der Zwischenkriegszeit klar auf, dass das Fehlen des Schutzes durch eine soziale Ordnung durchaus möglich und historisch belegt ist. Das ist ein grundlegender Unterschied. Während Burkes Kritik an den Menschenrechten auf seinem aristokratischen, anti-egalitären Politikverständnis gründet, ist Arendts Kritik (und das damit verknüpfte Geschichtsverständnis) Teil ihrer Suche nach Möglichkeiten für die Rechtlosen. Für Burke sind die Menschenrechte ein unnötiges Beiwerk. Arendt hingegen sieht darin etwas Erhaltenswertes. Sie verschiebt die Problematik der Men31 Zu diesem Punkt zitiert Arendt in einer Fußnote John Hope Simpson, demzufolge nach dem Ersten Weltkrieg das Problem der Staatenlosigkeit in den Vordergrund getreten sei. Davor habe es in einigen Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, Bestimmungen zur Rücknahme der Einbürgerung gegeben, wenn die eingebürgerte Person keine echte Verbundenheit mit ihrer neuen Heimat mehr zeige. Solche Menschen seien staatenlos geworden. Während des Krieges hätten sich die wichtigsten europäischen Länder gezwungen gesehen, ihre Staatsbürgerschaftsgesetze um Bestimmungen zum Widerruf der Einbürgerung zu ergänzen.Vgl. Simpson, The Refugee Problem, S. 231.

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schenrechte weg von der Einschätzung als nichtig (bloße »metaphysische Abstraktionen« in Burkes Duktus) hin zur Frage ihrer Unzulänglichkeit und der Notwendigkeit ihrer Ergänzung durch den Nationalstaat. Mit dieser Einstufung der Menschenrechte als ergänzende und nicht als reduntante Rechte (die identisch mit den Bürgerrechten und deshalb nutzlos sind) befasst sich Arendt, zum zweiten Mal in Elemente und Ursprünge, mit der Möglichkeit eines Rechts, das nicht auf staatlichen Gesetzen gründet.32 Bei diesem zweiten Bezug auf das »Recht, Rechte zu haben« stellt sie klar, dass dieses Recht nicht mit den Menschenrechten verwechselt werden darf und dass: »[…] das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, von der Menschheit selbst garantiert werden müßte. Und ob dies möglich ist, ist durchaus nicht ausgemacht. Denn entgegen allen noch so gutwilligen humanitären Versuchen, neue Erklärungen der Menschenrechte von internationalen Körperschaften zu erlangen, muß man begreifen, daß das internationale Recht mit diesem Gedanken seine gegenwärtige Sphäre überschreitet, nämlich die Sphäre zwischenstaatlicher Abkommen und Verträge; und eine Sphäre, die über den Nationen stünde, gibt es vorläufig nicht.«33 Wie Burke vertritt auch Arendt die Ansicht, dass die wichtigste Funktion der Institutionen in der Wahrung von Rechten besteht. Die Menschheit als Ganzes ist keine 32 Das steht im Kontrast zu dem Artikel in der Modern Review, wo die Formulierung nur einmal verwendet wird. 33 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 465.

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brauchbare Grundlage für Rechte, deren Wahrung vom Schutz durch einen Nationalstaat abhängt. Doch anders als Burke argumentiert Arendt aus der Sicht eines Menschen, der den Verfall des Nationalstaats miterlebt hat, eines Systems, das während der Französischen Revolution, als Burke seine Abhandlung verfasste, noch in den Kinderschuhen steckte. Arendt gibt sich nicht mit der Vorstellung zufrieden, dass einzelne Nationalstaaten die zwangsläufigen Protektorate von Rechten sind; sie sieht Rechtlosigkeit als ein Symptom für den Zerfall des Nationalstaatsystems und für den Niedergang hin zum Imperialismus. Sie sieht darin ein tödliches Symptom. Arendts Auslegung von Burke in Elemente und Ursprünge ist insofern wichtig, als sich hier ihr Bestreben zeigt, ein Recht zu wahren, das sie weder in einem positiven oder transzendentalen Sinn konkretisieren kann noch jenseits des Nationalstaats durch die Menschheit als Ganzes geschützt sieht. Sie bietet keine alternative Menschenrechtsautorität an, verfällt aber auch nicht in zynische Resignation. Das »Recht, Rechte zu haben« ist ihre erste und letzte Abwehrlinie gegen Burkes Konservatismus. Nur so kann sie ein Abgleiten in die zynische Bewertung der Menschenrechte als »heuchlerischer oder schwachsinniger« Idealismus verhindern.34 Und doch verschiebt sie in Elemente und Ursprünge ihre Auseinandersetzung mit Burke ans Ende des Kapitels, nachdem sie vom »Recht, Rechte zu haben« gesprochen hat. In ihrem Essay in der Modern Review ist das »Recht, Rechte zu haben« eine Trumpfkarte, in Elemente und Ursprünge steht es für eine aussichtslose Sache. Dennoch bleibt es die eine Stelle im 34 Ebd., S. 426.

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Arendt’schen Denken, wo sie in der Lage ist, sich Burkes Schlussfolgerungen zu widersetzen, auch wenn sie sie nicht widerlegen kann. Ich habe auf die zeitliche Einordnung des Arendt’schen Narrativs (dass das »Recht, Rechte zu haben« erst nach seinem Verlust sichtbar wird) und die Umstellung ihrer Auseinandersetzung mit Burke hingewiesen, weil es mir wichtig erscheint, wie sie die Rolle der menschlichen Gemeinschaft beim Verlust eines Rechts erklärt, das den Menschen allein aufgrund ihrer Existenz zustehen soll. Bei ihrer Analyse der Rechte des Menschen zeigt sie sich weniger an der anarchischen oder performativen Wirkung eines Rechts ohne Grundlage interessiert (jedenfalls weniger als anderswo, insbesondere in ihrem Werk Über die Revolution) als an der Geschichte des Verlustes dieses Rechts in der zivilisierten Gesellschaft. Wenn wir geringere Betonung auf das erste Recht in Arendts Gedanken legen, gelangen wir zu einem besseren Verständnis der historischen Analyse, von der ihr Denken geprägt ist. Durch die Einstufung des »Rechts, Rechte zu haben« als ein bereits verlorenes Recht richtet sie die Aufmerksamkeit auf die Kräfte, die diesen Verlust verursacht haben. Arendt verwendet mehr Zeit auf die Beschreibung einer unbeachtet gebliebenen Flüchtlingskrise als auf die Formulierung einer Theorie für eine Lösung. Das »Recht, Rechte zu haben« hilft ihr zu verstehen, inwieweit diese Krise durch einen Verlust an territorialen Bindungen hervorgerufen wurde und inwiefern dieser Verlust in direktem Zusammenhang mit dem Zerfall des Systems der Nationalstaaten steht. In Elemente und Ursprünge ist das »Recht, Rechte zu haben« kein Ausweg aus Burkes Sackgasse, sondern viel-

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mehr ein Mittel zur Diagnose der Rechtlosigkeit und der völlig neuen Machtkonstellationen des zwanzigsten Jahrhunderts. Beide Probleme können weder national noch international gelöst werden. Arendt erkennt an, dass die Menschenrechte ein erstrebenswertes Ziel sind, gelangt aber zu dem pragmatischen Schluss, dass die Idee eines über den Nationen stehenden Rechts gegenwärtig nicht existiert. Sie ist zutiefst skeptisch ob der Idee, dass das internationale Recht und internationale Institutionen wie der Völkerbund eine ausreichende Grundlage für das Recht, Rechte zu haben bieten können. Denn Fragen der Emigration, der Staatsbürgerschaft und der Einbürgerung sind Souveränitätsrechte der Nationalstaaten.35 Sie ist absolut überzeugt, dass Nationalstaaten, die sich in aller Entschlossenheit dem Projekt der nationalen Homogenität verschrieben haben, weder für die internationalen Angelegenheiten neue Regeln entwickeln noch den Rest der Welt zur Einhaltung irgendwelcher Regeln verpflichten können. So weist sie auf die internationalen Vereinbarungen hin, die es paradoxerweise den Nationen erschwerten, das Asylrecht auszuüben, weil sie dadurch der Souveränität der anderen Staaten mehr Respekt zollen mussten.36 Ihre Beschreibung der Gegenseitigkeitsmechanismen, mit denen Rechte geschaffen werden und verloren gehen, die aber stärker auf die Souveränität der einzelnen Nationalstaaten als auf die Solidarität zwischen ihnen abstellen, unterstreicht eher die Fragilität des Nationalstaatsystems als seine Stärke als Protektorat von Rechten.

35 Ebd. S. 441. 36 Ebd.

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Noch ungewisser erscheint in Arendts Analyse die Möglichkeit, dass ein Nationalstaat die Prinzipien der Rechtsgleichheit wiederherstellen könnte, wenn sie einmal zusammengebrochen sind. Einige Wissenschaftler_innen sehen in Arendts Aussage, unser politisches Leben gründe auf der Annahme, dass wir durch Organisation Gleichheit schaffen können, ein Zeichen für ihre Hoffnung auf eine internationale Lösung für die Menschenrechtsproblematik. Denn der Mensch könne nur mit seinesgleichen eine gemeinsame Welt errichten, in ihr agieren und sie verändern. Doch Arendt bemüht sich entschieden darum, diese Annahme des gemeinsamen Aufbaus einer gemeinsamen Welt ins Wanken zu bringen. Das wird aus der unmittelbar folgenden, weniger optimistischen Aussage deutlich, wo sie von dem dunklen Hintergrund des rätselhaft Gegebenen spricht, gebildet von unveränderbarer und einzigartiger Natur, der in die politische Sphäre als fremdes Element eindringe, das uns mit seinen allzu deutlich erkennbaren Unterschieden an die Grenzen menschlichen Handelns gemahne.37 Für Arendt sind die Menschheit und die menschliche Kunstfertigkeit – »jene großartige Fähigkeit, eine gemeinsame Welt zu errichten« – die eigentliche Quelle der Rechtlosigkeit. Ehe sie sich zu diesem Thema in völliges Schweigen hüllt, erklärt Arendt, es sei »durchaus nicht ausgemacht«, dass die Menschheit und die menschlichen Institutionen jemals ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen garantieren können.

37 Ebd., S. 468, S. 469.

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III »Die entscheidenden Ereignisse unserer Zeit werden von denen, die sich dem Glauben an einen unvermeidbaren Untergang verschrieben haben, nicht weniger effektiv vergessen, als von jenen, die sich einem leichtfertigen Optimismus hingegeben haben.« Hannah Arendt, Vorwort zur ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism

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Am ehesten lässt sich das »Recht, Rechte zu haben« vielleicht verstehen, wenn man es sich so vorstellt wie Wladimir in Samuel Becketts Warten auf Godot (ein Schauspiel, das – nicht zufällig – im selben Jahr geschrieben wurde wie The Origins of Totalitarianism), als ein Recht, das aktiv verloren wurde: ESTRAGON : Haben wir keine Rechte mehr? […] WLADIMIR : Du würdest mich zum Lachen bringen, wenn ich es wagen könnte. ESTRAGON : Wir haben sie verloren? WLADIMIR : (klar und deutlich) Wir haben sie verschleudert. Schweigen. Sie bleiben bewegungslos mit schlaff herunterhängenden Armen und eingeknickten Knien stehen. ESTRAGON : (schwach) Wir sind doch nicht gebunden? (Pause.) He! –38 Wie Wladimir hier nahelegt, markiert das »Recht, Rechte zu haben« einen Verlust oder, wie es bei Arendt wiederholt heißt, einen »Zerfall«. Im Nachkriegs-Europa wurde das »Recht, Rechte zu haben« für Millionen Menschen eher 38 Beckett, Warten auf Godot, S. 21.

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ein Recht, das aufgehoben wurde, und nicht ein Recht, das zur Korrektur fehlender bürgerlicher und politischer Rechte geltend gemacht werden könnte. (Um zu verstehen, was Arendt mit »Zerfall« des Systems der Nationalstaaten meinte, sei an Nazi-Deutschland erinnert, wo man die Juden bewusst zu Propagandazwecken vertrieb, damit den Nachbarländern ihr Status als »Abschaum« deutlich wurde.) Das »Recht, Rechte zu haben« ist in gewisser Hinsicht eher ein Gedankenexperiment als eine Lösung für ein Problem. Es bietet die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was logischerweise notwendig ist, damit Politik entsteht. Wie der von Thomas Hobbes und John Locke formulierte Begriff des Naturzustands, der hypothetischen Bedingungen, unter denen die Menschen vor dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft gelebt haben mögen, steht das »Recht, Rechte zu haben« für die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, ehe so etwas wie zivile Rechte möglich werden können. Doch anders als der Naturzustand, der eine fiktionale Herkunftsgeschichte für die politischen Strukturen der modernen Gesellschaft liefert, bezieht sich das »Recht, Rechte zu haben« nicht auf einen politischen Vertrag oder Pakt. Es ist unklar, ob oder wie ein solches Recht überhaupt zustande kommen kann. Die klassischen Theorien des Naturzustands beschreiben eine Zeit, in der die Menschen sich aus einem unorganisierten Zustand zu funktionierenden Bürger_innen beziehungsweise zu Subjekten eines Gemeinwesens entwickelten. Arendt erzählt die Geschichte allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Nach ihrer Darstellung wurden Millionen von Menschen durch die homogenisierenden Impulse der Nationalstaaten in

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eine »merkwürdige Art von Naturzustand39« zurückgeworfen. Warum nennt sie diesen Zustand »merkwürdig«? Sie begründet das mit der »neuen globalen Organisation der Welt«40. Das Elend der Rechtlosigkeit ist nicht das Ergebnis der Barbarei eines einzelnen Nationalstaats, sondern einer immer globaleren, organisierteren Menschheit, einer »ausschließlich von Menschen gebildeten Welt«41. In Elemente und Ursprünge macht Arendt am Ende von Kapitel 9 recht deutlich, dass wir nicht sicher davon ausgehen können, dass die Menschheit ein Garant für die Menschenrechte ist, denn gerade die zivilisierte Menschheit hat den Zustand der Rechtlosigkeit geschaffen: »Es ist, als ob eine globale, durchgängig verwebte zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produzierte, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren.«42 Nach Arendts Schlussfolgerung spricht nichts dafür, dass das Problem der Rechtlosigkeit gelöst oder zumindest gelindert werden kann. Ihre Feststellung, dass die Anzahl der Staatenlosen in Europa kontinuierlich zunehme, hat angesichts der Meldungen, dass im Zuge der globalen Flüchtlingskrise die Zahl der Staatenlosen in der Nachkriegszeit überschritten wurde, nichts an Aktualität eingebüßt. Auch verweist sie auf die »Neuheit« des Instruments des Entzugs der Staatsbürgerschaft und unterstreicht seine 39 40 41 42

Arendt, Einziges Menschenrecht, S. 763. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 462. Dies., Einziges Menschenrecht, S. 763. Dies., Elemente und Ursprünge, S. 470.

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Dauerhaftigkeit und das Fehlen von Gegenmitteln. Staatenlose können, so ihr Argument, wenn sie einmal aus der organisierten Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, niemals wieder in ein normales Dasein zurückgeführt werden.43 In der Tat scheint es für den Staat im Zusammenhang mit dem »Recht, Rechte zu haben« nur eine produktive oder generative Handlung zu geben: die aktive und willentliche Ausweisung seiner unerwünschten Mitglieder im Namen eines nationalen Projekts. Für Arendt ist das »Recht, Rechte zu haben« weder eine moralische Vorschrift noch ein Beschleuniger der Emanzipation, auch wenn sich viele ihrer Leserinnen und Leser für eine dieser Auslegungen entschieden haben. Arendt will wohl nicht so sehr eine idealistische Vorstellung darüber befördern, wie in Zukunft ein solches Recht geschaffen und geltend gemacht werden könnte, sondern ihr zentrales Anliegen scheint mir hier zu sein, auf die gewaltsame Geschichte aufmerksam zu machen, wie die Menschheit selbst dieses Recht nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegeben hat. Diese Interpretation hat zugegebenermaßen etwas Zynisches, vergleichbar mit Jacques Rancières Kritik an Arendt.44 Er führt ihre Feststellung der Rechtlosigkeit mit Giorgio Agambens Konzept des »nackten Lebens« zusammen, indem er beide Gedanken als Narrative eines Lebens jenseits politischer Disruptionen betrachtet. Rancière zufolge legt Arendt eine Anomalie ohne Lösung offen, was in vielerlei Hinsicht überzeugt (zweimal spricht sie von der Rechtlosigkeit als einer permanenten Institution). Doch Arendts unergründlicher Hin43 Vgl. dies., Origins, S. 277. 44 Rancière, Wer ist das Subjekt, S. 474–490.

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weis auf die Begrenztheit menschlichen Handelns eröffnet auch eine Möglichkeit, eine Erkenntnis vielleicht, dass Nationalstaaten ebenso wie Menschen in diesen merkwürdigen Naturzustand geworfen sind und dass dieses gemeinsame Chaos uns die Gelegenheit geben kann, uns neu zu organisieren. Arendt erinnert uns jedenfalls daran, dass jedes organisierte Gemeinwesen und der Anspruch auf Teilhabe daran nicht in einem Recht begründet ist, sondern eher im unkalkulierbaren Zufall. Die Anrufung des Rechts, Rechte zu haben bleibt oft ungehört; ebenso gut könnte sie aber auch – wie in der Vergangenheit geschehen – Wirkung entfalten. Arendts Einlassungen bieten keine Lösungsvorschläge, vertreten aber auch keinen Weltuntergangsdeterminismus. »Wieviel wir auch aus der Vergangenheit lernen mögen, sie wird uns nicht lehren, die Zukunft zu lesen«, betont sie in ihrem Vorwort zu Teil II von Elemente und Ursprünge.45 Diese Unkalkulierbarkeit bringt vielleicht einen Schimmer von Hoffnung in Arendts Analyse. Konkreter kommt diese Hoffnung durch ihren Glauben an Amerika zum Ausdruck, das »in jedem Neuankömmling den zukünftigen Bürger begrüßt.«46 Doch angesichts der Tatsache, wie Amerika heute Neuankömmlinge begrüßt – man denke nur an das vom Präsidenten in Teilen durchgesetzte Einreiseverbot, die Erschwerung der Visaerteilung für Hochqualifizierte und die angekündigte »Mauer« an der mexikanischen Grenze –, dürften wir mehr Grund zur Hoffnungslosigkeit haben als Arendt.

45 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 216. 46 Ebd. S. 441, Fn 23.

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So ist die heutige Situation zumindest von einer ähnlichen Dringlichkeit geprägt wie diejenige, die Arendt zur Untersuchung der Schwächen humanistischer Fantasien veranlasste. So wie sie erkannte, dass man Totalitarismus und Rechtlosigkeit aus einer größeren, vernetzten Perspektive begreifen muss, können wir es uns nicht länger leisten, ein dickes, verworrenes Knäuel an geschichtlichem Unverständnis durch glatte oder singuläre Narrative des demokratischen Wandels oder Zerfalls (der Arabische Frühling bzw. die US-Wahlen 2016) zu ersetzen. Wir täten sicher besser daran, Arendts historisch motivierte Analyse auf das einundzwanzigste Jahrhundert auszuweiten, in dem die Verbreitung der Rechtlosigkeit nicht nur Europa vergiftet, sondern auch die sogenannte letzte Hoffnung vernichtet hat, vielleicht die einzige Hoffnung in Arendts Analyse.

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Das Recht, Rechte zu haben I Samuel Moyn

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Im zweiten Teil der Formulierung »das Recht, Rechte zu haben« verschiebt sich die Betonung vom Singular zum Plural, vom Anspruch zur Erfüllung, vom elementaren Versuch der Einbeziehung hin zur stabilen citizenship.1 Hannah Arendts berühmtes Postulat wird oft und zu Recht als Notwendigkeit verstanden, die außerhalb der Gemeinschaft von Mitbürgern und Mitbürgerinnen Stehenden einzubeziehen und so vor dem Zustand des »nackten Lebens« zu bewahren. Doch zeigt der Plural »Rechte« auch, wie wichtig Arendt die Erfüllung und Erweiterung der Bürgerrechte war. Sie hätte dieses Recht auch als Recht auf Mitbürgerschaft oder zumindest als Recht auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen bezeichnen können. Doch das tat sie nicht – sie nannte es das »Recht, Rechte zu haben«. Gleichwohl ist Vorsicht geboten. In ihrer politischen Theorie hat sie ansonsten nie eine endgültige Vorstellung von einer Staatsbürgerschaft präsentiert, in der die Rechte im Mittelpunkt stehen. Auch war sie bekannt – wenn nicht gar berüchtigt – dafür, die soziale Frage aus der Politik auszuklammern, womit sie sich ihren Ruf als beißende Kritikerin der Wohlfahrtsprojekte sicherte, von denen ihre Zeit so stark geprägt war. Ein Teil meines Beitrags wird denn auch darauf abstellen, dass bei Arendt (wie bei allen großen Denker_innen) ein einziges Wort oft für das gesamte Werk steht.

1

Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 462.

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In unserer Zeit gilt es, Arendts Theorie der Voraussetzungen für eine inklusive Mitgliedschaft im Gemeinwesen, aus der dann der Anspruch auf Rechte erwächst, neu zu denken. Doch das ist redlicherweise nur möglich, wenn man im Blick behält, dass sie dem Gedanken an eine mit entsprechenden Rechten versehene Staatsbürgerschaft zugleich enthusiastisch und skeptisch gegenüberstand. Der führende Rechtstheoretiker Frank Michelman bescheinigt Arendt, mit dem Gedanken vom »Recht, Rechte zu haben« eine Art transzendentales Argument geliefert zu haben, um auf jeden Fall dem Vorwurf des Zirkelschlusses zu entgehen. Ihre Untersuchung der Voraussetzungen für die Trägerschaft von anderen Rechten habe sie zu einem früheren, abstrakten Recht auf Zugehörigkeit geführt. Das Besondere an ihrem Standpunkt sei indes, dass sie nicht auf die politische Inklusion als Voraussetzung für einen Anspruch auf Rechte abstellte, sondern diese Inklusion in Beziehung setzte zur Notwendigkeit kollektiven Handelns bei der Errichtung einer gemeinsamen Welt.2 Dass Arendt diese Voraussetzung der politischen Inklusion als ein Recht formulierte, mag nebensächlich, vielleicht auch der Achtung vor dem Thema geschuldet sein, zumal sie Wert auf die Feststellung legte, dass dieses Recht in der zu erwartenden Weltordnung nirgendwo garantiert würde und dass deshalb auch Projekte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu kurz gegriffen und allenfalls als gefälliges Bündel normativer Bekräftigungen zu betrachten seien. Es sei sinnlos, umfangreiche Ansprüche für Menschen ohne Bürgerrechte aufzulisten; das 2

Michelman, Parsing, S. 200–208.

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sei vergleichbar damit, einem Verhungernden die genaue Speisenfolge eines mehrgängigen Menüs in aller Ausführlichkeit zu beschreiben. Soweit mir bekannt ist, hat Arendt diesen Standpunkt nie verlassen und in ihren Schriften, die sie in den dreißig Jahren nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verfasste, kein einziges Mal mehr Bezug darauf genommen. Dass Arendt ihr Postulat vom »Recht, Rechte zu haben« nie wieder aufgriff, lässt vermuten, dass sie der Einstufung der politischen Inklusion als Recht auch kein sehr großes Vertrauen schenkte. Zwar trägt der Aufsatz, in dem sie diesen Gedanken zum ersten Mal äußert, in der deutschen Fassung den Titel »Es gibt nur ein einziges Menschenrecht«, doch geht aus dem Archivmaterial hervor, dass Arendts Freund Dolf Sternberger diesen Titel vorschlug, damit es dynamischer klinge. (Sternberger gab die Zeitschrift Die Wandlung heraus, in der der Aufsatz erschien.)3 Eine spätere Äußerung in Eichmann in Jerusalem, die gelegentlich als Hinweis auf ihre wachsende Begeisterung für globale Institutionen, internationale Gesetze und Menschenrechte herangezogen wird, zeigt jedoch, dass sie nicht allen Menschen, deren Leben bedroht war, das Recht auf Überleben zugestand; und Adolf Eichmanns Schuld war nach ihrer Meinung in dem Versuch begründet, durch die Schaffung eines Rechts »zu entscheiden, wer die Erde bewohnen soll und wer nicht.«4 Natürlich ist die Tatsache, dass Arendt die Bedeutung des 3

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Sternberger an Arendt, 13. September 1949, Library of Congress, Hannah Arendt Papers. Zur Zeitschrift Die Wandlung siehe Forner, German Intellectuals. Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 329.

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Menschseins nicht in den Rang eines Rechts erhob, genau wie ihr Gedanke, dass die Nationalsozialisten ihren Hass ausgelebt hatten, als wäre es ihr Recht, eher ein Hinweis auf ihr geringes theoretisches Engagement bei diesem Thema. Doch passt die rhetorische Struktur gut zu ihrem gesamten politischen Ansatz. Ihr Gedanke scheint lediglich eine polemische Reaktion auf das vorübergehende Erstarken des Rechtsgedankens in den späten 1940er Jahren zu sein: Wenn Menschenrechte eine Rolle spielen, dann nur wegen des wichtigsten Rechts, das zuallererst kommt. Und nirgendwo anders in ihrem Werk gibt es Hinweise darauf, dass sie politische Inklusion oder gar Inklusion in die Menschheit als Recht konzipiert hätte.5 Deshalb ist es wesentlich interessanter, den Blick auf den zweiten Teil ihres berühmten Postulats zu richten. Gibt die Pluralisierung »Rechte« mehr Aufschluss? Das wäre nur denkbar, wenn man den erdrückenden Beweisen gegen die These Rechnung trägt, dass Arendts Bekenntnis zu einem Konzept des politischen Lebens als »gemeinsames Handeln« die Form einer Politik der Rechte annehmen könne. In ihrem berühmten Gedanken tritt sie keineswegs dafür ein, dass wir nach Erfüllung der Zu5

Vergleiche Benhabib, Völkerrecht und menschliche Pluralität, S. 283–316. Wie Mira Siegelberg ausführt, forderte Arendt 1955 in Berkeley ein international anerkanntes Recht auf Staatsbürgerschaft, sprach den Regierungen aber das Recht auf Entzug der Staatsangehörigkeit ab. Auch zur Zeit von Eichmann in Jerusalem beharrte sie darauf, Staaten das Recht auf Entzug der Staatsbürgerschaft und das Recht zu töten abzusprechen, artikulierte aber nicht mehr ausdrücklich das Recht auf Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen – obwohl der »Anspruch auf Staatsbürgerschaft« in Artikel 15 Satz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben ist (Siegelberg, Hannah Arendt, Statelessness, and the State).

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gehörigkeitsvoraussetzungen streben sollen, damit daraus Rechte erwachsen – jedenfalls nicht auf den ersten Blick erkennbar. In Elemente und Ursprünge des Totalitarismus legte Arendt ihr Verständnis von einer Politik der Rechte im Kontext des Übergangs zur Säkularisierung dar. In Über die Revolution spricht sie über die Rolle der Religion im Diskurs der Gründung Amerikas, als billige sie Carl Schmitts Darstellung Amerikas, derzufolge Politik dort ganz offen als göttlichen Ursprungs verkündet werde. Nach Schmitts Politischer Theologie bestehe das Großartige der Gründung Amerikas darin, dass die religiöse Grundstruktur der Souveränität Gottes über die Herrschaft des Volkes nicht verschleiert werde.6 In ihrem früheren Werk Elemente und Ursprünge führte Arendt aus, dass der Versuch der Moderne, moralische Normen unabhängig von religiöser Metaphysik zu etablieren, Auswirkungen zeitigte, deren sich die Verfechter der Menschenrechte nicht wirklich bewusst waren: »Darüber hinaus kommt der Proklamierung der Menschenrechte noch ein anderer, geschichtlich sehr wesentlicher Sinn zu. Die Menschen der Neuzeit hatten ihre gesellschaftliche und ihre geistige Heimat verloren: Sie waren des Standes, in den sie geboren wurden, durch die Fluktuierungen der Klassengesellschaft nicht mehr sicher, und es gab mit der zunehmenden Säkularisierung der Welt keine Garantie mehr, daß sie wenigstens außerhalb der politisch-säkularen Sphäre 6

»In Amerika wird das zu dem vernünftig-pragmatischen Glauben, daß die Stimme des Volkes Gottes Stimme sei.«, Schmitt, Politische Theologie, S. 53.

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als Christen und vor Gott alle gleich seien. Der politische Körper mußte nun selbst die Garantien schaffen, die bisher von außenpolitischen Mächten getragen worden waren. Was weder die gesellschaftlichen noch die geistigen noch die religiösen Mächte mehr zu bieten imstande waren, sollte jetzt vom Staat direkt geleistet und in Verfassungen verankert werden.«7 Schon hier also sah Arendt das Thema Rechte und Rechtsetzung als einen Säkularisierungsversuch, mit dem die Lücke, die die Religion hinterlassen hatte, geschlossen werden sollte. Zur Zeit von Über die Revolution sah sie den Rechtediskurs als wichtigstes Zugeständnis der Amerikaner_innen an die Religion, um das vererbte »Problem des Absoluten« und die Notwendigkeit einer Autoritätsquelle, wie sie klassischerweise die Religion bot, in Einklang zu bringen. Auf der anderen Seite des Atlantiks, so schrieb sie, erschien Maximilien Robespierres Kult eines Höchsten Wesens weitaus weniger lächerlich, wenn man die ebenso große Empfänglichkeit der Amerikaner_innen für das »Bedürfnis nach einem göttlichen Prinzip, einer transzendenten Sanktion für den politischen Bereich«8 berücksichtigte. Dieses Bedürfnis, so Arendt weiter, gründe darin, dass Amerika (wie Europa) vom Christentum nicht nur einen allgemein religiösen Hintergrund geerbt hatte, sondern auch einen Wandel im Konzept der Legitimität der Instanz, die Gesetze schafft. Die Autorität des Gesetzes sei mit ihrer Quelle verknüpft worden: im Zeitraum zwischen 7 8

Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 453. Zu den Überlegungen in diesem Abschnitt siehe auch Moyn, Secularization Theory. Arendt, Revolution, S. 239–240.

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der Antike und der Moderne habe der Monotheismus zu einem umfassenden Wandel dieses Konzepts geführt und ein auf Geboten basierendes Modell unausweichlich gemacht. Die positivistischen Rechtstheorien – zu denen laut Arendt auch die Naturrechtstheorien gehören, die stets auf eine göttliche Autoritätsquelle gründen, egal wie deistisch sie geäußert werden – seien offen oder verdeckt religiös bis ins Mark. Die Unmöglichkeit, in Kategorien des Rechts zu denken, ohne eine übermenschliche Quelle (wie vorsintflutlich oder verdeckt auch immer) mitzudenken, habe fast unweigerlich zum Fortbestehen der Religion führen müssen. Diese Mutation liefere einen weiteren Grund, auch die Entwicklung Amerikas vor dem Hintergrund der langen Jahrhunderte zu sehen, »in welchen es einen autonomen weltlichen Bereich nicht gab und alles Politische von der Sanktion der Religion und der Kirche abhing, die weltlichen Gesetze also lediglich als der nur-weltliche Ausdruck göttlichoffenbarter Gebote erschienen«.9 Diese genealogische Verquickung der Konzepte des Rechts und der Rechtmäßigkeit mit der Religion bedeutete, dass auch die Amerikaner_innen in ihrer Bemühung, eine neue Staatsform zu finden, »das Gesetz über die Menschen« hätten stellen müssen, wie auch Rousseau es sah, um die Verbindlichkeit der daraus abgeleiteten Rechte sicherzustellen; Rousseaus Schlussfolgerung il faudrait des dieux – es bedarf der Götter –, damit das Gesetz gesetzmäßig ist, habe also voll und ganz auch auf den amerikanischen Schauplatz zugetroffen.10 9 Ebd., S. 244. 10 Ebd., S. 238.

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Arendt war deshalb nicht überrascht, dass die amerikanische Bezugnahme auf unveräußerliche Rechte als ein zwingendes, übergeordnetes Gesetz nach wie vor theologisch oder krypto-theologisch begründet wurde, auch wenn man nicht immer oder nicht explizit auf den göttlichen Ursprung der proklamierten Absolutheiten rekurrierte: »So kam es, daß das Absolutheitsproblem sich geistig hier ebenso störend wie anderswo geltend machte, obwohl keine der zahlreichen Institutionen und Verfassungen des Landes sich tatsächlich aus dem Absolutismus entwickelt hatte; entscheidend für das Selbstverständnis Amerikas blieb, daß der traditionelle Begriff des Gesetzes einfach übernommen wurde. […] und für Gebote und Verbote bedarf es einer Gottheit, des Gottes, der die Natur geschaffen hat, wenn man sich naturrechtlich orientierte, oder einer göttlich geleiteten Vernunft, wenn man ›rationalistisch‹ dachte.«11 Dies war der wahre Grund, warum die Amerikaner_innen ihre Revolution auf diejenigen Rechte gründeten, die »die Gesetze der Natur und des Gottes der Natur« (der zentrale Gedanke in der Unabhängigkeitserklärung) allen Menschen einräumten. Letztendlich sah Arendt Rechte nur als notwendige rhetorische Mittel an, die das wahrhaft Neue der Gründung Amerikas verbargen. »Die Aufklärer des achtzehnten Jahrhunderts«, schrieb sie, setzten sich »auf irgendeine Weise immer wieder für die Religion und religiöse Institutionen ein […], und dies in genau dem Moment, als sie 11 Ebd., S. 252.

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den weltlichen Bereich endgültig von dem Einfluß der Kirchen emanzipiert und Politik und Religion ein für allemal voneinander getrennt hatten.«12 Paradoxerweise war das zu Kolonialzeiten praktizierte Vorgehen, Pakte abzuschließen (wobei die Protestant_innen in der Regel ihr religiöses Engagement offener zeigten als die späteren Revolutionär_innen), ein Modell genau der Art »gemeinsamen Handelns«, wie es Arendt als modernes Wiederaufleben klassischer Politik so schätzte. Sie war überzeugt, dass der offene oder verhüllte religiöse Ursprung »die Erklärung von Menschenrechten oder die Garantie der bürgerlichen Rechte« als »Ziel und Inhalt der Revolution« schlicht unbrauchbar machte, denn sie lenkten von den wahren Errungenschaften der Amerikanischen Revolution ab. Rechte blieben lediglich als rhetorische Notwendigkeit bestehen – also als das, wofür sich die Gründerväter und -mütter Amerikas auf dem Gipfel ihrer säkularen Ambitionen einsetzten, was sie dann aber tatsächlich nicht durch die Deklaration von Rechten, sondern durch das Abschließen von Pakten in die Tat umsetzten. Für Arendt waren Rechte die spezifisch amerikanische Form der politischen Theologie. Sie lieferten weder den Inhalt noch die Substanz dessen, was Arendt an politischem Handeln so wichtig war.13 Auch wenn Arendt also in ihrem Gedanken vom »Recht, Rechte zu haben« die Versprechungen der Staatsbürgerschaft pluralisierte, stellte sie doch klar, dass diese Rechte als wahre oder wertvollste Zielsetzungen politischen Handelns in ihrer politischen Theorie keine große Bedeu12 Ebd., S. 240. 13 Ebd., S. 193; vgl. auch S 266.

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tung hatten. In Zeiten der fortdauernden Dominanz der Religion waren diese Rechte für die amerikanischen Revolutionär_innen eher eine Maskierung des wahrhaft radikalen Inhalts ihrer politischen Absichten – auch vor sich selbst. Zu diesem wesentlichen Sachverhalt fügt sich ein weiterer: Sehr umstritten war Arendts Haltung, mit der sie das »soziale« Element aus den ureigensten Belangen der Politik ausklammerte – also nicht nur das, was heute gemeinhin als der zentrale Inhalt der Politik gilt, sondern zugleich die innovativsten Teile des Menschenrechtskatalogs, wie er nach dem Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen wurde. Damit sind natürlich die wirtschaftlichen und sozialen Rechte gemeint, jene grundlegenden Ansprüche auf einen menschenwürdigen Arbeitsplatz, auf soziale Unterstützung derer, die zum Arbeiten zu jung, zu alt oder zu krank sind, sowie auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnraum. Die einvernehmliche Aufnahme dieser Rechte in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere in diesem Zeitraum verabredete Übereinkommen spiegelte den Zenith des Wohlfahrtsdenkens im nordatlantischen Raum wider. Und diese neuen Rechte wurden dann auch zu dem, was sich die meisten Menschen (in kapitalistischen wie in kommunistischen Ländern) von der von Arendt so hoch geschätzten Staatsbürgerschaft erwarteten.14 Arendt vertrat hingegen den Standpunkt, dass die Werte des Lebens der Staatsbürgerschaft abträglich seien, ganz als wäre die Verwaltung des biologisch Notwendigen 14 Für einen historischen Abriss der wirtschaftlichen und sozialen Rechte als Teil der Menschenrechte siehe Moyn, Not Enough.

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nicht die Voraussetzung, sondern vielmehr ein Hindernis für die Schaffung politischer Freiheit. »Die Gesellschaft«, warnte sie, »ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens willens und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen.«15 Ihren Kritiker_innen gegenüber führte sie nicht weiter aus, ob sie den Wohlfahrtsstaat für eine verständliche Reaktion auf die Entbehrung und das Elend hielt, die so viele Menschen am politischen Handeln hinderten. Doch es ist interessanter zu beobachten, wie sehr sie mit ihren Befürchtungen von wohlfahrtsorientierter Bürokratisierung und Instrumentalisierung in die Nähe der im Kalten Krieg üblichen liberalen Kritik an der Sozialisierung des Gemeinwesens geriet. Dieser Aspekt ist von zentraler Bedeutung für eine Interpretation dessen, was die Pluralisierung der Rechte für sie möglicherweise bedeutete (sofern sie überhaupt dafür eintrat). Wenn sie neue Rechte forderte, dann sicherlich keine wirtschaftlichen und sozialen. Im zwanzigsten Jahrhundert wurden nicht nur im nordatlantischen Raum, sondern letztlich auch darüber hinaus das modulare System des bürgerschaftlichen Raums und damit die Voraussetzungen des Bürger-Seins radikal neu definiert in Richtung Wohlfahrtsstaat. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird dies denn auch »das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal« genannt. Arendt war sich dessen wohl 15 Arendt, Vita activa, S. 47.

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bewusst, und wenn sie darauf eingegangen wäre, hätte sie der Tatsache Rechnung tragen müssen, dass es hier als wesentliche Neuerung darum ging, eine Vorlage bzw. ein Modell für die Sozialisierung von citizenship zu schaffen, nicht aber für eine Internationalisierung der Rechte, die in der Allgemeinen Erklärung nur wolkig versprochen und auch nie wirklich antizipiert wurde. Als Arendt 1975 starb, stand die Welt an der Schwelle zu einer spektakulären, unerwarteten Internationalisierung der Rechte, denn die bis dato zumeist auf die einzelnen Länder begrenzten Versprechungen wurden nun zu einem globalen Projekt, auch wenn die einst zentralen sozialen Rechte dabei zunächst einmal verloren gingen. Amnesty International begründete die Menschenrechtsbewegung und erhielt dafür zwei Jahre nach Arendts Tod den Friedensnobelpreis – doch jahrzehntelang konzentrierte sich die Organisation ausschließlich auf die politischen und bürgerlichen Freiheiten. Amnesty International war das Sinnbild einer internationalen Rechtebewegung, die sich jahrelang nicht für die wirtschaftlichen und sozialen Freiheiten interessierte, obwohl diese die Hälfte der Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ausmachen, dem Grundlagendokument der Aktivist_innen. Im Übrigen zeigt die Rezeption der wenigen Passagen von Elemente und Ursprünge, in denen vom Recht, Rechte zu haben, die Rede ist (und die, wie die anfänglichen Auseinandersetzungen um das Buch belegen, jahrzehntelang ignoriert wurden), auf faszinierende Weise auf, wie unzeitgemäß und vorausschauend zugleich Arendt war. Sie formulierte ihre Gedanken zum »Recht, Rechte zu haben« als Kritik an der Internationalisierung der Rechte, während die meisten Menschen nur ihre Vergemeinschaftung anstrebten, und

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wurde nicht beachtet. Heute werden ihre Gedanken in einem radikal anderen Kontext wahrgenommen: Viele Menschen hoffen auf die Internationalisierung von Rechten – allerdings hat ihr Projekt in einer Epoche Fahrt aufgenommen, die von einer Krise der sozialen Bürgerschaft geprägt ist.16 Soweit ich weiß, hat Arendt die wirtschaftlichen und sozialen Rechte nie als Kategorie erwähnt, weder in ihren Anmerkungen zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch anderswo. Doch ihre vom Kalten Krieg geprägte liberale oder vielleicht eher konservativ-liberale Kritik an der Fokussierung der Französischen Revolution auf die soziale Frage (in deren Rahmen die sozialen Rechte auf öffentliche Fürsorge und ein staatliches Bildungswesen zum ersten Mal auftauchten) lässt kaum Zweifel aufkommen, wie sie sich dazu geäußert hätte. Schließlich erfolgte die erste dokumentierte Kanonisierung der wirtschaftlichen Rechte (Anspruch auf öffentliche Fürsorge und Bildung) in der Verfassung der Ersten Französischen Republik von 1793, mit der eine Schreckensherrschaft begründet wurde, der Arendt nicht hätte ablehnender gegenüberstehen können. Wie Friedrich Hayek, Leo Strauss, Jacob Talmon und andere war Arendt strikt gegen die unweigerlich bevormundende, wenn nicht totalitäre Natur einer jeglichen Staatsform, deren Ziel darin besteht, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen oder zumindest das strukturelle Elend zu lindern: ein solcher Staat müsse übermächtig und invasiv sein, um diese Aufgaben schultern zu können. Darüber hinaus hätte die Tatsache, dass die jakobinische Politik weit über das Ziel hinaus16 Moyn, Last Utopia.

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ging, den Menschen das Überleben zu sichern, und tatsächlich Verteilungsgerechtigkeit anstrebte, um die Bürger_innen einander gleichzustellen, Arendts Verachtung noch gesteigert. Sie träumte von einer Politik unter Gleichen, aber sie meinte die Gleichheit der Akteur_innen und nicht des Einkommens oder des Vermögens.17 Wie ihre Zeitgenoss_innen während des Kalten Krieges fürchtete sie, dass Rechte als Rezepte für Hedonismus oder gar Konsumdenken hergenommen und die Bürger_innen zur individuellen Suche nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse antreiben würden, und wie Strauss oder Talmon bemerkte sie, dass bereits Jean-Jacques Rousseau die unheilvollen wohlfahrtsorientierten Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts vorweggenommen hatte. Die Massen »hatten sich hinreißen lassen von der Idee der Menschenrechte«, schrieb Talmon in seiner kongenialen Kritik der totalitären Demokratie, »erbittert durch Hungersnot und Knappheit forderten sie verwirrt und leidenschaftlich, die Revolution solle ihre Versprechungen erfüllen, das heißt, sie solle sie glücklich machen.« Und natürlich dachte er dabei in erster Linie an die wirtschaftlichen Rechte und an die Forderung des kommunistischen französischen Revolutionärs Gracchus Babeuf nach gleichmäßiger Verteilung der Güter, sowie an die Gefahren, die das für privaten Besitz und freies Unternehmertum darstellte.18 17 Zum jakobinischen Radikalismus siehe z. B. Gross, Fair Shares for All. 18 Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, S. 137; vgl. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Kap. 6. Gracchus Babeuf, der große »kommunistische« Erbe der Jakobiner, traf in der liberalistischen Zeit des Kalten Krieges auf entschiedene Ablehnung, auch wenn Arendt ihn, soviel ich weiß, nie erwähnte.

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Arendts Werk lässt keinen Zweifel daran, dass sie die für den Kalten Krieg typische Kritik am »Ideal des Glücks« teilte, das sie und andere mit Forderungen nach sozioökonomischer Wohlfahrt gleichsetzten. In Vita activa stellt sie das Glücksideal an den Pranger, weil es in der utilitaristischen Ethik das Ziel des Vermeidens von Schmerz etabliert habe und zur Inthronisierung des »Eigeninteresses« als höchstes vorstellbares Gut führe.19 In Revolution verknüpft sie die Glücksformel direkt mit dem falschen Köder der Rechte, als sie über die Instabilität des Konzepts »Glück« spricht und auf Thomas Jefferson als Autor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eingeht. Er sei sich nicht im Klaren darüber gewesen, welche Art von Glück er meinte, als er das Streben danach »unter die unabdingbaren Menschenrechte aufnahm«. Möglicherweise habe er in seinem Dokument einen vagen Bezug zum Konzept des »öffentlichen Glücks« im Sinne von politischem Handeln herstellen wollen. Damit räumt Arendt ein, der Gedanke hätte nicht unbedingt die »privatisierenden« Folgen haben müssen, die sie und auch andere fürchteten. Doch letztlich habe er einer großen Zahl von Programmen den Weg bereitet, die alle auf das »private Wohlergehen« abstellten. Schließlich brauche ein Volk, dem das Glücklichsein nicht gelinge, wohl einen beschützenden Staat, der ihm durch soziale Programme zum Glück verhelfe. Aufgrund von Jeffersons Mehrdeutigkeit sei »die große Frage, was nun eigentlich der Endzweck des Staates ist: Freiheit oder Wohlstand, […] nie endgültig entschieden worden«. Eine Nation, der es auf den Wohlstand ankomme, müsse nicht unbedingt frei sein, wäh19 Arendt, Vita activa, Kap. 43.

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rend ein freier Staat nicht notwendigerweise Sorge für das Wohlergehen oder den Wohlstand tragen müsse. Und der Terror, der sich in Frankreich schon kurz nach der Revolution eingestellt habe, habe deutlich gezeigt, dass der Köder des »Glücks« die Bedeutung der »Freiheit« schnell überlagern könne: »Denn das Ideal des Überflusses und des endlosen, sich dauernd steigernden konsumierenden Reichtums ist der Traum vom Schlaraffenland, den jeder Hungrige träumt […]. ›Erst muß es möglich sein auch armen Leuten, / Vom großen Brotlaib sich ihr Teil zu schneiden‹ (Brecht): das bleibt wahr, früher kann von Freiheit nicht die Rede sein; aber es ist ebenso wahr, daß von Freiheit nicht mehr die Rede ist, wenn die reichgewordenen ›armen‹ Leute entschlossen für nichts anderes leben als für die Befriedigung ihrer nun ins Gigantische gestiegenen Bedürfnisse, das heißt, wenn sie auch im Reichtum den Idealen der Armut verhaftet bleiben.«20 Die Pluralisierung der Rechte, das Erbe der Französischen Revolution, die ihren Höhepunkt in den wohlfahrtsorientierten Bestimmungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erreichte, scheint somit nicht der richtige Ansatzpunkt für Überlegungen dafür zu sein, was Arendt an den Rechten geschätzt haben könnte, die das »Recht, Rechte zu haben« möglich machen. Nach dem Ende des Kalten Krieges wandten sich die Menschenrechtsverteidiger – nun auf länderübergreifender Ebene – den wirtschaftlichen und sozialen Rechten zu, mit einiger Verspätung und in einer Zeit, als der von 20 Dies., Revolution, S. 164, 163, 176, 179–180.

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Arendt so gescholtene Wohlfahrtsstaat seine Anziehungskraft verlor und durch neoliberale Kräfte von innen und die »Globalisierung« von außen ausgehöhlt wurde. Wenn Arendt schon der Internationalisierung von Rechten skeptisch gegenüberstand, wäre ihr Zorn angesichts der Internationalisierung der wirtschaftlichen Rechte sicherlich noch gestiegen, denn sie hätte es als Signal für den Aufstieg des Sozialen zu neuen Ebenen gedeutet. In der Tat könnte sich ihre kritische Haltung zur Internationalisierung von Rechten heute in einer Weise mit ihrem Unwillen gegen die soziale Frage verbinden, wie sie es nicht vorhersehen konnte und deshalb auch nie formuliert hat.21 Der nach dem Zweiten Weltkrieg zu beobachtende Konsens zu sozioökonomischen Rechten auf nationaler Ebene und seine heutige Zugkraft bei der Einführung international anzuwendender Normen verstärkt noch den Eindruck, dass Arendt die Pluralisierung der Rechte strikt abgelehnt hätte, wenn daraus die Dominanz solcher Werte hervorgegangen wäre. Und doch hat sie am Ende ihrer Formulierung diese Pluralisierung vorgenommen, und das hat größere Bedeutung als ihre abschätzige Bewertung der Rechte als Zeichen für eine unvollständige Säkularisierung oder eine übertriebene Sozialisierung. Zum Abschluss sei kurz überlegt, ob sich die von uns vorgenommene Fokussierung auf das »Recht, Rechte zu haben« im Rahmen des Arendt’schen Denkgebäudes überhaupt rechtfertigen lässt. 21 Als Beispiel für einen Versuch, Arendts Vernachlässigung der von Menschenrechtsaktivist_innen heute so hoch geschätzten wirtschaftlichen und sozialen Rechte zu hinterfragen und weiterzudenken, siehe Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights, Kap. 2.

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Denn es hat sich gezeigt, dass ihre Formulierung des Rechts, Rechte zu haben, als ein Recht wohl ein zufälliges Artefakt ihrer antizipierten Leserschaft an der relevanten Stelle ihres Textes ist. Außerdem scheint ihre Aussage, dass der Anspruch auf Rechte aus jenem vorherigen Recht erwächst, ebenfalls ein eher unbedeutender Gedanke gewesen zu sein oder gar im Widerspruch zu anderen Aspekten ihrer Überlegungen zu stehen. Wenn es nicht so gewesen sein sollte, dürfte die Last der Einschränkungen und Einwände so schwer wiegen, dass der Satz doch insgesamt eher verwirrend oder störend wirkt. Aber gibt es nicht etwas anderes, das diesen Gedanken letztlich klarstellt und definiert? Arendt war eine Verfechterin der »Pluralität« als Voraussetzung und Ergebnis einer Politik, die diesen Namen wirklich verdient. Und sie war eine Apologetin des sich daraus zwingend ergebenden pluralistischen Handelns, das gemeinhin die Form der engagierten Rede annimmt. Und schließlich war es für sie unabdingbar, dass pluralistisches Handeln, wie immer »agonistisch« oder widerstreitend es sein mag, niemals gewalttätig werden darf. Man muss anerkennen, dass alle drei Merkmale des Arendt’schen Politikverständnisses mit vielen Impulsen, die die Menschenrechtspolitik in ihren verschiedenen Phasen vorantrieben, durchaus in Einklang stehen. Sie mag eine ganze Reihe von theoretischen Gründen dafür gehabt haben, sich einer Neuformulierung ihrer politischen Theorie im Sinne von Rechtsnormen zu widersetzen, und ganz sicherlich war sie nicht auf die Art von Institutionalisierung fixiert, wie sie sich in jüngerer Zeit etabliert hat in Form von schriftlich niedergelegten Verfassungen und richterlichen Überprüfungen, von Informationspolitik (öffentliche Bloßstellung) und internationalen

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Übereinkommen, von Steuerungsformen der Regionalentwicklung (regional governance, besonders in Europa) und so weiter.22 Die Vorstellung, Arendt könne derlei kurzfristige Ansätze zur politischen Mobilisierung für sinnvoll gehalten haben, erscheint so absurd, dass daraus wohl eher ihre mögliche Anziehungskraft als Lösung (oder gar Obsession) für spätere Beobachter_innen deutlich wird. In Revolution preist sie Verfassungen als Garanten der Freiheit und nicht als Schritt zur justiziellen Kontrolle der Demokratie. Aber das heißt nicht, dass es keine Überschneidungen mit den tieferen Beweggründen für die aktuelle Menschenrechtspolitik gäbe. Die Vorstellung, Arendt könne sie rechtfertigen, beinhaltet allzu viele intellektuelle Trugschlüsse. Das soll aber nicht heißen, dass nicht eines Tages bei der Schaffung eines institutionellen Rahmens für pluralistisches und gewaltfreies Sprechen und Handeln doch auf Staatsführungstechniken zurückgegriffen werden könnte oder sollte, die gegenwärtig untrennbar mit den Menschenrechten assoziiert werden. Dass es möglich ist, eine Vision »republikanischer Menschenrechte« zu entwerfen, die sich auf die Institutionalisierung abstrakter Vorstellungen konzentriert, heißt natürlich nicht, dass Arendt selbst das jemals getan hätte. Doch es scheint, als wäre dies die Form, in der man sich aus Arendt’scher Perspektive so etwas wie Rechtspolitik vorstellen könnte, ungeachtet ihrer eigenen Kritik daran.23 22 »[…] den eigentlichen Inhalt der Verfassung, der die Garantie der bürgerlichen Rechte ja nur in Nachträgen, den sogenannten Amendments, angehängt war, die aber selbst ein ganz neues Machtsystem etablierte« (Arendt, Revolution, S. 191). 23 Vgl. Ivison, Republican Human Rights, S. 31–47.

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Somit besteht Grund zu der Annahme, dass Arendt nicht nur am Recht einer frühen Inklusion interessiert war, sondern mehr noch an den pluralisierten Rechten – und dies trotz ihrer Funktion als religiöse Stützen aus einer früheren Epoche und trotz der unheilvollen Sozialisierung dieser Rechte, die sie miterlebte. Doch dabei ging es ihr nicht um die normative Wahrheit der Werte in einer langen Liste namentlich aufgeführter Rechte. Es erscheint lohnender, anderswo zu suchen, etwa auf der Ebene institutioneller Systeme zum Schutz der Pluralität. Eine Methode (aber keinesfalls die einzige), diesen Schutz zu bieten, ist die Schaffung von nationalen und internationalen Rechtsrahmen. Zumindest könnten die staatlichen Lenkungsformen, die das Handeln und die freie Rede schützen und zugleich deren Gewaltfreiheit sicherstellen müssen, eine Antwort auf Arendts Forderung nach einer Wiederbelebung des politischen Handelns sein, auch wenn sie diese Forderung nicht in die formale Sprache des Rechts kleidete. Wenn diese Überlegungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, dann decken sich Arendts Zielsetzungen paradoxerweise gerade nicht mit dem internationalen Aspekt der gegenwärtigen Menschenrechtspolitik, sondern am ehesten noch mit dem zögerlichen Versuch, Experimente auf der institutionellen Ebene durchzuführen.24 Dann müssten sich allerdings die Apologeten einer Arendt’schen Vorstellung von Rechten auch mit den auf internationaler Ebene angestellten Überlegungen zu den politischen Strukturen befassen, die Handeln erst möglich machen. Bei der Entwicklung experimenteller Strukturen 24 Vgl. auch Benhabib, Völkerrecht und menschliche Pluralität, S. 283–316.

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zur Ausübung von Freiheit dürften sie nicht an Dogmen festhalten, vor allem wenn ein bestimmter Ansatz keinen Erfolg zu versprechen scheint.25 Daraus könnte auch eine Politik der sozialen und wirtschaftlichen Rechte erwachsen, die nach der Herauslösung aus der zynischen Hedonismuskritik des Kalten Krieges den Schwerpunkt auf die institutionellen Voraussetzungen für ein politisches Handeln legt, bei dem es, wie Arendt widerwillig einräumte, auf jeden Fall auch um die Sicherung des Existenzminimums geht. Abschließend lässt sich feststellen, dass Arendts Formulierung vom »Recht, Rechte zu haben« bei aller Resonanz keine bleibende Bedeutung beschieden war. Der Gedanke fand in ihrem eigenen Werk kaum Widerhall, und er widersprach auch vielen der Kritikpunkte, die sie am Wert des Rechtediskurses äußerte. Doch wenn die Formulierung vom Recht, Rechte zu haben auf die Notwendigkeit einer institutionalisierten Politik des Handelns abzielt, mag ihr auch in Zukunft eine gewisse nachhaltige Funktion zukommen.

25 Zu den Grenzen der internationalen Menschenrechte als juristisches Projekt, das kaum institutionelle Experimente duldet, siehe Posner, Twilight of Human Rights Law.

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Das Recht, Rechte zu haben I Lida Maxwell

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Nach Donald Trumps Amtseinführung am 20. Januar 2017 verfügte die neue US-Regierung sogleich per Dekret eine Einreisesperre für die Bürgerinnen und Bürger von sieben (vorwiegend muslimischen) Staaten. Im ganzen Land kam es vor allem an den Flughäfen zu Protesten gegen dieses Einreiseverbot. Als Reaktion auf die Maßnahmen der US-Einwanderungs- und Zollbehörde und der Verkehrssicherheitsbehörde, deren Beamte Reisende mit legalem Visum und Green Card in Haft nahmen oder ihnen die Einreise verweigerten, versammelten sich in den Flughafenterminals viele Protestierende und forderten in Sprechchören »Lasst sie rein! Lasst sie rein!«. Durch Trumps Einreiseverbot wurden nicht nur einzelne Rechte beeinträchtigt (wie Beschneidung der Redefreiheit, Verhaftung von Reisenden und Anklageerhebung ohne ordnungsgemäßes Verfahren), es stellte bestimmte Menschen außerhalb jedweden Rechtsrahmens. Auch wenn Bürger_innen dieser sieben Staaten eine Green Card oder ein Arbeitsvisum besaßen oder wenn sie ordnungsgemäß ein Reisevisum beantragt und erhalten hatten, wurde ihr rechtlicher Status plötzlich fraglich. Bei diesen Flughafenprotesten gegen das Einreiseverbot, so darf man annehmen, besannen sich viele Menschen auf das Recht, Rechte zu haben, und setzten sich dafür ein – dafür, um es in Arendts Worten zu sagen, »in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird«.1 Vor 1

Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 462.

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dem Hintergrund der Krise der Staatenlosigkeit in den 1940er Jahren formulierte sie es so: »Etwas viel Grundlegenderes als die in der Staatsbürgerschaft gesicherte Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz also steht auf dem Spiel, wenn die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in die man hineingeboren ist, nicht mehr selbstverständlich und die Nichtzugehörigkeit zu ihr nicht mehr eine Sache der Wahl ist oder, wenn Menschen in die Situation gebracht werden, wo ihnen, falls sie sich nicht entschließen, Verbrecher zu werden, dauernd Dinge zustoßen, die ganz unabhängig davon sind, was sie tun oder unterlassen.«2 In dieser Lage, so Arendt weiter, werden Segnungen und Verderben zufällig verteilt, ohne jeden Zusammenhang damit, was man tut, getan hat oder tun könnte. In einer Situation, in der die Erlaubnis, in den Vereinigten Staaten zu leben, zu arbeiten und zu reisen nicht mehr vom rechtmäßig erworbenen Status abhing, sondern vom Gutdünken eines voreingenommenen Präsidenten und vom Ermessen der Einwanderungsbeamt_innen am Flughafen, riefen die Protestierenden nach gerichtlicher Klärung, behördlichem Eingreifen und anderen politischen Maßnahmen, damit die Vereinigten Staaten zu einem Ort werden, an dem sich das Leben aller Menschen nicht in einem Rahmen von »Mildtätigkeit«, sondern von »Rechten« abspielt. Ich beginne mit dem Beispiel der Proteste gegen das Einreiseverbot, weil diese eines der aktuellsten Beispiele für das Phänomen sind, das Arendt in Elemente und Ursprünge beschreibt: dass wir uns des »Rechts, Rechte zu 2

Ebd.

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haben«, erst dann bewusst werden, wenn es gerade für viele Menschen verloren geht. Wir werden uns also dieses Rechts, Rechte zu haben, nicht durch die rationale oder philosophische Abwägung moralischer Normen bewusst, sondern vielmehr durch die konkrete, politische Erfahrung einer neuen Form von Unterdrückung, die uns Rechte genommen hat, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie hatten. Wenn wir uns des Rechts, Rechte zu haben, dadurch bewusst werden, dass wir sehen, wie andere Menschen ihre Rechte verlieren (so bei den Flughafen-Protesten), wie ist dann zu verstehen, was es bedeutet, Rechte »zu haben«? Wenn Arendts Aussage zutrifft, dass »das, was wir heute als ein ›Recht‹ zu betrachten gelernt haben, eher als ein allgemeines Kennzeichen des Menschseins angesehen«3 wurde, ist es dann hilfreich oder richtig, diese Rechte als einen selbstverständlichen Besitz zu betrachten, der uns allein wegen unseres Menschseins zusteht? Jetzt, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, neigen wir jedenfalls dazu, das genauso zu sehen. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel steht in der Unabhängigkeitserklärung, dem Gründungsdokument der Nation, der Grundsatz, dass »alle Menschen gleich geboren und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind« und dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Doch wie Arendt in ihrer Darstellung der Amerikanischen Revolution betont, wird in der Unabhängigkeitserklärung nicht nur unterstrichen, dass wir diese Rechte haben, sondern auch, dass wir sie für

3

Ebd., S. 462.

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naturgegeben und für »klar an sich halten«.4 Die Unabhängigkeitserklärung versieht die unterstellte Selbstverständlichkeit dieses Besitzes mit einer demokratischen politischen Grundlage; und nur weil wir diese Wahrheiten für selbstverständlich halten, können sie für unser ganzes Volk zu etwas Selbstverständlichem werden. Bedeutet das, dass wir Rechte wirklich nur deshalb »haben«, weil wir einer Nation angehören, die sie in ihren Institutionen und Gesetzen garantiert? Im Folgenden möchte ich darlegen, dass uns Arendts Diskussion des Rechts, Rechte zu haben, im Kontext der Staatenlosigkeit in Europa Anfang der 1920er Jahre gute Gründe liefert, jedwedem Anspruch, Rechte zu »besitzen« oder zu »haben«, stets mit Misstrauen zu begegnen, sei es, weil wir die Möglichkeit »haben« als etwas naturgegeben mit dem Menschsein Verknüpftes sehen oder als etwas, das den Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Nation oder einem Volk zufällt. Arendt bietet stattdessen eine andere Vorstellung von Rechte »haben« an: nicht im Sinn von »besitzen«, sondern in der Weise, in der wir sagen, wir »haben« eine Verabredung, eine Feier oder eine Konferenz. Rechte »haben« bedeutet hier eher die Teilhabe an der Schaffung, Organisation und Aufrechterhaltung (durch Proteste, Gesetze, gemeinsame Aktivitäten oder den Aufbau von Institutionen) einer gemeinsamen politischen Welt, in der allen die Möglichkeit offensteht, Rechte zu fordern und wahrzunehmen. Wenn man Arendts 4

Zum grundsätzlichen Spannungsverhältnis in Arendts Bewertung der Unabhängigkeitserklärung mit Blick auf Jeffersons Formulierung »We hold these truths to be self-evident« siehe Honig, Political Theory.

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Vorstellung von Rechte »haben« zugrunde legt, als Mitwirkung an der Errichtung einer gemeinsamen Welt, in der jede und jeder Rechte einfordern kann, dann erscheinen die Flughafenproteste nicht als restauratives Projekt, das heißt, als Versuch, die Regierung zur Respektierung von Rechten zu bewegen, die die Menschen bereits besitzen, sondern vielmehr als laufendes Projekt der Schaffung einer Welt, in der alle berechtigt sind, Ansprüche auf Rechte geltend zu machen. Dieses politische Konzept von Rechten bietet moralisch weniger Trost und Sicherheit als die Vorstellung vom naturgegebenen Besitz von Rechten. Denn hier erscheinen Rechte nicht als unantastbares Eigentum, sondern vielmehr als immer nur unvollkommen umgesetzte, fragile politische Errungenschaften. Arendt legt jedoch dar, dass die moralische Sicherheit, die mit der Vorstellung von Rechten als naturgegebenem Besitz einhergeht, uns möglicherweise für die Realität blind macht. Eine eher politisch orientierte Vorstellung von Rechten hingegen motiviert uns dazu, die Realität derjenigen, die ihre vermeintlich für das Menschsein konstituierenden Rechte zu verlieren drohen, in den Blick zu nehmen und ihr politisch besser gerecht zu werden. Angesichts der Zukunftsorientiertheit und zeitlichen Unbegrenztheit, der Arendts Formulierung vom Recht, Rechte zu haben innewohnt, denke ich nicht, dass es Arendt darum geht, Rechte einzufordern, die wir als Individuen bereits besitzen und die lediglich von den vorhandenen Institutionen respektiert werden müssen. Vielmehr verlangt sie von uns, solche Rechtsansprüche als Teil eines politischen Projekts zur Schaffung einer Welt zu betrachten, in der es allen Menschen offensteht, Rechte einzufordern.

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Naturrechtskonzepte und nationalstaatliche Rechtskonzepte Wie Stephanie DeGooyer dargestellt hat, war die steigende Zahl staatenloser Menschen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg ein Zeichen für eine neue Art von Rechteverlust. Das war insofern neu und anders, als diese Staatenlosen nicht nur bestimmte Rechte verloren hatten (Gleichheit vor dem Recht, Freiheit usw.), sondern vor allem auch ihren Status als Rechte tragende Individuen, die einen legitimen Anspruch auf Rechte haben.5 Während wir die Menschenrechte tendenziell als natürlichen Besitz aufgrund unseres Menschseins betrachten, erklärt Arendt, dass die Lage der Staatenlosen diese allgemeine Vorstellung als Illusion widerlegt: »Sobald alle anderen gesellschaftlichen und politischen Qualitäten verloren waren, entsprang dem bloßen Menschsein keinerlei Recht mehr«, und stellt fest: »Vor der abstrakten Nacktheit des Menschseins hat die Welt keinerlei Ehrfurcht empfunden.«6 Der vermeintlich naturgegebene Status, ein Rechte tragendes Individuum zu sein, erweist sich seit jeher als abhängig von der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft eines National5

6

Sie schreibt: »Wie immer [die Menschenrechte] einst definiert wurden (als Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück in der amerikanischen oder als Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit, Recht auf Eigentum und nationale Souveränität wie in der französischen Fassung) […], die reale Situation derjenigen, die im 20. Jahrhundert der Menschenrechte in der Tat beraubt worden sind, ist mit ihnen nicht zu fassen, und zwar deshalb nicht, weil kein Verlust partikularer Rechte unbedingt den Zustand absoluter Rechtlosigkeit nach sich zieht, in dem allein von einem Verlust der Menschenrechte mit Sinn gesprochen werden kann«, Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 460. Ebd., S. 466.

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staates, dessen Staatsbürgerschaft der oder die Betroffene besitzt. Eine Reaktion auf diese neue Form von Unterdrückung besteht darin, nachdrücklicher für den natürlichen Besitz von Rechten zu argumentieren, das heißt, sich auf die Vorstellung von Rechten als naturgegebener Besitz zu berufen und damit die Forderung zu legitimieren, dass diese Rechte auch Staatenlosen zustehen müssen. So erklärt Seyla Benhabib (siehe dazu auch DeGooyer) zum Beispiel, dass der Singular »Recht« den moralischen Imperativ umfasse, alle Menschen als Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft und Träger von »Rechten« anzuerkennen.7 Doch Arendts Analyse der Lage Staatenloser in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg legt nahe, dass wir das Problem der Rechtlosigkeit wohl eher schlechter als besser angehen können, wenn wir daran festhalten, Rechte als etwas Naturgegebenes zu definieren. Denn im Laufe der Geschichte seien stets Völker und insbesondere Nationalstaaten die Garanten von Rechten gewesen, woraus sich ergebe, dass Rechte nicht naturgegeben seien, sondern politische Artefakte. Ayten Gündo˘gdu sieht Rechte ebenfalls als politische Praktiken, genauer: als politische Errungenschaften, die auf breiter Unterstützung, auf Handeln und auf Forderungen gründen.8 Hinter der Vorstellung von naturgegebenen Rechten steht nur der vage moralische Imperativ, dass irgendjemand oder irgendetwas Rechte garantieren sollte, nicht aber die Forde7 8

Benhabib, Rechte der Anderen, S. 63. Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights, S. 182. Zu Rechten als politische und kollektive Praxis des claims-making siehe Zivi, Making Rights Claims.

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rung an uns, darüber nachzudenken, wie mit politischem Handeln und dem Aufbau von Institutionen das Problem der Rechtlosigkeit am besten angegangen werden kann. Außerdem führt diese Konzeption von Rechten zu einem verzerrten Bild des Selbst: als naturgegeben frei und gleich. Naturrechtstheoretiker stellen Gleichheit als Teil des »Gegebenen« dar, als wesentlicher Teil eines jeden von uns, der uns auch dann zu eigen wäre, wenn wir ganz alleine dastünden, ohne politische Organisation. In einem vorpolitischen Naturzustand sind wir aus ihrer Sicht gleicher und freier, als wir es in einer politischen Gesellschaft sind. Locke etwa beschreibt den Naturzustand als einen »Zustand völliger Freiheit« und einen »Zustand der Gleichheit«9. Laut Arendt nehmen die Naturrechtstheoretiker deshalb an, dass »diese Rechte und die mit ihnen verbundene Menschenwürde auch dann gültig und real bleiben müßten, wenn es nur einen einzigen Menschen auf der Welt gäbe«, und sie »müßten auch dann gültig bleiben, wenn ein Mensch aus der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen ist«.10 Das Problem mit der Vorstellung vom naturgegeben intakten freien und gleichen Selbst besteht darin, zu verstehen, warum beziehungsweise wie Menschen, die nicht mehr Teil eines Gemeinwesens sind, eine besondere Art von Entrechtung erfahren: Sie werden einer Gleichheit beraubt, die sie eigentlich nur im Zusammenhang eines Gemeinwesens besitzen können. Und wenn wir das Selbst als mit naturgegebenen Rechten ausgestattet sehen, versuchen wir, unsere Rechte vor allem dadurch sicherzustellen, dass wir unser Selbst vor den ande9 Locke, Zweite Abhandlung über die Regierung, Kapitel 2, S. 4. 10 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 464.

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ren schützen oder es unverwundbar machen, anstatt uns zu öffnen und uns den Risiken und Unwägbarkeiten bei politischem Handeln und beim Aufbau von Institutionen auszusetzen, die unerlässlich sind zur Schaffung und Bewahrung des Status Rechte tragender Menschen. Arendt scheint, wie auch DeGooyer feststellt, mit ihrer Kritik an der Idee von Rechten als naturgegebener Besitz in die Nähe von Edmund Burke zu rücken, dem konservativen irischen Denker des späten achtzehnten Jahrhunderts. So sagt sie zum Beispiel, die Rechtlosigkeit staatenloser Menschen mute wie eine verspätete ironische Bestätigung für Burkes Behauptung an, dass »Menschenrechte nichts sind als eine sinnlose ›Abstraktion‹« und dass es besser sei, sich Rechte als etwas Vererbtes und »aus der Nation« Entspringendes vorzustellen, und nicht als etwas Unveräußerliches.11 Doch auch wenn Arendt anerkennt, dass an der »pragmatischen Richtigkeit der Burkeschen Argumente« bei der Darstellung der staatenlosen Menschen »kein Zweifel« besteht, so stellt sie doch fest, dass ethnische oder nationale Minderheiten (wie Juden, Afroamerikaner, Palästinenser in Israel und Muslime in den europäischen Nationalstaaten) durch die von den Nationalstaaten vorgenommene Ausrichtung der Rechte an der Staatsangehörigkeit immer mit Misstrauen beäugt werden und dass ihr Status (als Staatsbürger_innen und damit als Rechte tragende Menschen) immer unsicher bleiben wird. Burkes Konzeption der an die Nation gebundenen Rechte klammert also das Problem aus, dass der Nationalstaat zwar die Rechte seiner Bürgerinnen und Bürger wahren, aber auch eine Klasse rechtloser Individuen 11 Ebd., S. 466.

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schaffen kann, so Arendt: »Es ist, als ob eine globale, durchgängig verwebte zivilisatorische Welt Barbaren aus sich selbst heraus produzierte, indem sie in einem inneren Zersetzungsprozeß ungezählte Millionen von Menschen in Lebensumstände stößt, die essentiell die gleichen sind wie die wilder Volksstämme oder außerhalb aller Zivilisation lebender Barbaren.«12

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Rechte »haben« Arendts Kritik an der Vorstellung von Rechten entweder als naturgegebener Besitz oder als nationales Erbe weist auf eine positivere Auffassung davon hin, was es bedeutet, Rechte zu »haben«. Da wir Menschen uns und andere erst im Rahmen einer bestimmten kollektiven Organisationsform als Träger_innen von Rechten verstehen können, soll uns die Formulierung »Rechte zu haben« dabei helfen, eine politische Welt zu erschaffen und zu bewahren, in der jeder Mensch Rechte einfordern kann. Anders ausgedrückt: Wir »haben« Rechte, wie wir eine Versammlung »haben« können: indem wir dazu beitragen, einen kollektiven Raum der Gleichheit zu errichten und zu erhalten. Zu diesem Projekt Rechte »zu haben« gehört zum Beispiel das Engagement bei Protestbewegungen und Gesetzgebungsvorhaben, beim Aufbau von Institutionen und bei der Gründung von Vereinigungen, die zur Errichtung einer Welt beitragen, in der alle sich Gehör verschaffen und ihre Rechte einfordern können. Ich möchte hier drei Möglichkeiten vorstellen, was es bedeuten kann, Rechte »zu haben« und sich für eine Politik der Rechte im Sinne eines auf Gleichheit zielenden kontinuierlichen politischen 12 Ebd., S. 470.

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Handelns zu engagieren: a) Rechte sind nicht individueller Besitz, sondern eher kollektive Errungenschaften; b) Rechte sind nicht von Natur aus perfekt, sondern ambivalente Errungenschaften; und c) Rechte sind begrenzte und fragile Errungenschaften. Abschließend möchte ich aufzeigen, dass die Arendt’sche Idee von Rechten als begrenzte, ambivalente Errungenschaften nah bei den gegenwärtigen Expert_innen liegt, nach deren Ansicht Rechte für eine imperiale und gesellschaftlich homogenisierende Politik stehen. Ich denke jedoch, dass ihre Kritik an der Vorstellung von Rechten als Besitz dazu beitragen kann, die aktuelle Rechtepolitik als ambivalenten Teil eines umfassenderen Projekts zu begreifen: das der Errichtung einer politischen Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt und ohne Furcht ihren Anspruch auf Rechte geltend machen können. Arendts Schilderung von Menschen, die keine Rechte geltend machen können, weil sie nicht mehr Teil eines Gemeinwesens sind, lässt uns Rechte eher als kollektive Errungenschaften oder als Bestandteile einer nationalen Identität verstehen und weniger als individuellen Besitz. Aus dieser Perspektive geht es beim Ringen um einen legalen Status und Grundrechte für die Rechtlosen – Flüchtlinge, Staatenlose und Arbeiter_innen ohne gültige Papiere – nicht in erster Linie um moralischen Zuspruch, sondern vor allem auch um politisches Handeln und den Aufbau von Institutionen. Das moralische Verständnis von Rechten als naturgegebener Besitz führt zu zwei Problemen: Zum einen fehlt ein klarer, notwendiger Zusammenhang mit politischem Handeln, und zum anderen wird bei der moralischen Forderung, die Rechte von Menschen zu respektieren, die diese Rechte bereits besitzen, oft

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die Situation der Rechtlosen außer Acht gelassen. Man denke nur an die gegenwärtige Praxis der Trump-Regierung, Personen ohne ordnungsgemäße Papiere bei der Einreise von Beamten der Immigrations- und Zollbehörde verhaften zu lassen: Aus der moralischen Verpflichtung, auch die Rechte dieser Menschen zu respektieren, ergibt sich für die Behörden lediglich die Verpflichtung, sicherzustellen, dass die Betroffenen nicht ohne triftigen Grund in Haft genommen werden, dass sie sich einen Anwalt nehmen, Besuch erhalten und Rechtsmittel gegen ihre Inhaftierung einlegen können. Dieser moralische Imperativ verlangt also nicht nach einer Welt, in der Menschen ohne Papiere als gleichberechtigte Anspruchsteller_innen auftreten können, sondern verpflichtet nur die Behörden dazu, keine Übergriffe zu begehen. Demgegenüber würde politisches Handeln im Namen des Rechts, Rechte zu haben, nach institutionellen und rechtlichen Veränderungen verlangen (wie einer Reform des Einwanderungssystems, der Beendigung der Inhaftierungspraxis oder der Abschaffung der Immigrations- und Zollbehörde), sodass eine Welt entstünde, in der auch Menschen ohne Papiere ohne Angst öffentlich ihre Rechte einfordern könnten. Doch Arendt, die uns auffordert, Rechte nicht als naturgegebenen Besitz zu betrachten, sondern als kollektive Errungenschaften, schlägt zugleich auch vor, Rechte als ambivalente kollektive Errungenschaften zu sehen, da sie historisch im Rahmen des Nationalstaats erreicht wurden. Durch den Nationalstaat werden einige Menschen zu Träger_innen von Rechten, doch wie Bonnie Honig darlegt, führt die Verknüpfung der Staatsangehörigkeit mit dem Status des Rechtsträgers zugleich dazu, dass andere in eine

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prekäre Lage geraten und sogar den Status als Rechtsträgerin verlieren.13 Arendt verlangt also mit ihrer Darstellung der Rechte von uns, selbst die Verwirklichung von Rechten kritisch zu sehen. Wir müssen uns zum Beispiel die folgende Frage stellen: Zu welchen Ausgrenzungen könnte die Schaffung des Status eines Rechtsträgers für Menschen ohne Papiere führen? Und selbst wenn wir unsere Gesetze und Institutionen so verändern, dass dieser Personenkreis einbezogen wird, wäre dieser Status dann nicht noch immer mit einem gewissen Grad an Prekarität verbunden, dem wir Beachtung schenken müssen? Was müssten wir politisch noch tun, um Gleichheit zu einer gelebten Realität zu machen? Arendts Darstellung der Rechte legt also nahe, sie als stets fragile und begrenzte Errungenschaften zu sehen. Ihre Fragilität besteht schon allein darin, dass ihr Fortbestehen von Faktoren abhängt, die sich unserer individuellen Kontrolle entziehen: von politischen Institutionen und von Gesetzen, von gesellschaftlichen und politischen Normen sowie von anderen politischen Akteur_innen. Während uns nach Ansicht der Naturrechtstheoretiker allein durch unsere Existenz Rechte zustehen, vertritt Arendt den Standpunkt, dass Rechte erst kraft einer kollektiven Organisation entstehen, die sich darum bemüht, allen ihren 13 Arendt und Honig weisen auch darauf hin, dass in der Moderne der Status des Rechtsträgers bzw. der Rechtsträgerin selbst für Einheimische prekär sein kann. Wie Bonnie Honig in ihrer Diskussion des Rechts, Rechte zu haben ausführt, benötigen wir Rechte, weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass uns das politische Gemeinwesen, dem wir angehören, würde- und respektvoll behandelt; aber genau auf dieses Gemeinwesen sind wir angewiesen, um Rechte zu haben (Honig, Kosmopolitismus und Demokratie, S, 91–110).

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Mitgliedern den gleichen Status zu verleihen. So gesehen erscheint klar, dass die Einforderung von Rechten nicht das Projekt eines einzelnen Individuums sein kann, sondern dass wir nur dann dazu in der Lage sind, wenn wir eine bestimmte Form von politischer Organisation aufrechterhalten. Doch noch aus einem anderen Grund sind Rechte fragil und begrenzt: In ihrer abstrakten und künstlichen Homogenität stehen sie in einem Spannungsverhältnis zur menschlichen Vielfalt und Verschiedenheit. »Gleiche werden wir als Glieder eine Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren«,14 schreibt Arendt, und in Konflikt dazu sieht sie »den dunklen Hintergrund des rätselhaft Gegebenen« und »die unendliche, natürliche Differenziertheit«.15 Für Arendt ist die Begrenztheit von Rechten wichtig, die Tatsache, dass sie uns niemals zu völlig Gleichen oder zu einer homogenen Masse machen können, denn sie befürchtet, dass es zu politischer Unterdrückung und Gewalt kommen kann, weil es kaum gelingen wird, mithilfe von Rechten Gleichberechtigung qua Gleichheit zu schaffen: »Je höher entwickelt eine Zivilisation ist, je vollständiger die von ihr geschaffene Welt zur menschlichen Heimat geworden ist, je mehr die Menschen sich in diesem ›künstlichen‹, von menschlichen Künsten entworfenen Gebilde zu Hause fühlen, desto empfindlicher werden sie gegenüber allem, was sie nicht produziert oder nicht verändert haben, desto geneigter, alles als barbarisch zu betrachten, was, wie die Erde 14 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 468. 15 Ebd., S. 469.

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und das Leben selbst, auf geheimnisvolle, nie zu enträtselnde Art einfach gegeben ist.«16 Laut Arendt kann allein das Gefühl, dass wir die Macht haben, ein System der Gleichheit und Freiheit zu schaffen – was wir auch politische Hybris nennen könnten –, in uns Ressentiments gegenüber denjenigen wecken, die anscheinend nicht zu unserer Vorstellung davon passen, wie ein freier und gleicher Mensch aussieht.17 Mit anderen Worten: Politische Hybris kann die politischen Akteur_innen dazu bringen, nach Sündenböcken zu suchen und die Schuld für soziale und politische Probleme marginalisierten Bevölkerungsgruppen anzulasten, die anders zu sein scheinen als die Mehrheit, anstatt sich mit kollektivem Handeln für die Verbesserung der Lebensverhältnisse aller einzusetzen. So machen manche Amerikaner_innen die Immigrant_innen für die wirtschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit im Land verantwort-

16 Ebd., S. 468. 17 Ayten Gündo˘gdu sieht diese Gefahr auch auf der Ebene der internationalen Menschenrechtsinstitutionen. In ihrem neuesten Werk Rightlessness in an Age of Rights erklärt sie, während es die trügerische Stabilität des nationalstaatlichen Systems gewesen sei, die die Misere der Staatenlosen zu einer Anomalie gemacht habe, berge doch der beispiellose Aufstieg des internationalen Menschenrechtsrahmens auch die Gefahr, dass die Probleme der Asylsuchenden, Flüchtlinge und papierlosen Einwanderer als »unglückliche Ausnahmen« von universellen Normen betrachtet würden, die die Rechte allmählich von der Staatsbürgerschaft ablösen. Anders gesagt: Unser Bewusstsein, genug Macht zu haben, um ein internationales System von Rechten zu schaffen und in Betrieb zu setzen, mache uns blind für die unvermeidliche Ausgrenzung, die dieses System auf Dauer verursacht, und es könne Ressentiments gegenüber denjenigen hervorrufen, die nicht dazu passen.

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lich, anstatt über alle Unterschiede hinweg politische Koalitionen zu schmieden und eine gleichere und gerechtere Gesellschaft für uns alle zu schaffen. Für Arendt ist die Vergegenwärtigung der Begrenztheit von Rechten wohl eher ein Lackmustest für politische Hybris, und sie ermuntert die Bürger_innen, auf Ungerechtigkeiten nicht mit dem Ruf nach Sündenböcken zu reagieren, sondern politisch zu handeln. Während Arendts Sorge über die Versuchung zur politischen Hybris in der Menschenrechtspolitik ganz auf die Lage der rechtlosen, staatenlosen und verfolgten Volksgruppen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg abstellte, rückt sie durch ihre Beschreibung der Rechte als eine sehr unterschiedlichen Menschen auferlegte Homogenisierung an die Seite der zeitgenössischen Denkerinnen und Denker, denen zufolge die Politik der Rechte ein Instrument der Herrschenden darstellt und Unterschiede verwischen kann. Vordenker_innen der postkolonialen Theorie und Dritte-Welt-Theoretiker_innen zum Beispiel kritisieren die Übertragung des westlichen Menschenrechtsdiskurses auf nicht westliche Zusammenhänge als Handeln von oben, bei dem nicht westliche Konzepte von Freiheit und Menschenwürde verzerrt und zerstört würden.18 In einem ganz anderen Zusammenhang kritisierten die Vertreter der Queer Theory das Ringen um ein Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe als homogenisierende Politik, die alternative Formen gleichgeschlechtlicher Intimität, Familie

18 Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich, siehe zum Beispiel Mahmood, The Politics of Piety, und Mutua, Human Rights in Africa S. 17–39.

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und Sozialität marginalisiere und unmöglich mache.19 Andere Forschende wie Wendy Brown erklären, dass jede Politik der Rechte stets auch eine homogenisierende, normierende Wirkung auf Politiken des Widerstands ausübe, die andernfalls einen Nährboden für alternative Lebensund Beziehungsformen und eine andere Politikgestaltung bieten könnten.20 In der Zusammenschau dieser Meinungen kann uns ein Arendt’sches Konzept von Rechten als kollektive, ambivalente und begrenzte Errungenschaften ohne Besitzcharakter nicht nur eine sinnvolle Perspektive auf die Einwanderungs- / Migrationspolitik eröffnen, sondern auch eine neue Sicht auf die Politik der Rechte insgesamt. Es lenkt die Aufmerksamkeit weg von der meist gestellten Frage, ob Ansprüche auf Rechte zu mehr Freiheit führen oder zu Normierung und dauernder Unterdrückung, und richtet den Blick auf die Frage, welche Art von politischer Welt eine Forderung nach Rechten bewirken will oder soll. Erscheint zum Beispiel die Einforderung eines Rechts als elitärer Anspruch zur Rechtfertigung eines Krieges, oder ist es eine politische Forderung marginalisierter Menschen und ihrer Verbündeten nach institutionellen Reformen, die für mehr Gleichheit sorgen und mehr Menschen in die Lage versetzen sollen, ihre Ansprüche geltend zu machen? Rechtsansprüche erscheinen, wenn sie nicht als Besitz, sondern als Teil politischer Projekte zur Erschaffung bestimmter politischer Welten gesehen werden, weder als 19 Siehe zum Beispiel Warner, The Trouble with Normal; Edelman, No Future; Ahmed, The Promise of Happiness, und Marso, Marriage, S. 145–153. 20 Brown, States of Injury.

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das wichtigste Vorhaben einer Politik der Gleichberechtigung noch einfach als eine Form imperialer Unterdrückung, sondern eher als eine von vielen Komponenten im breit gefächerten Repertoire der politischen Bemühungen um Gleichberechtigung – und zwar eine Komponente, die, ebenso wie andere politische Praktiken, mit der Gleichberechtigung in einem Spannungsverhältnis stehen und zugleich dabei helfen kann, sie zu erreichen. Wir betrachten die Politik der Rechte oft als universalistische Politik, die auf einem Grundsatz basiert, den wir als universell, als für alle gültig ansehen. Die Politik der Menschenrechte wird auch deshalb so geschätzt, weil der Gedanke, dass wir alle von Natur aus die gleichen Rechte besitzen, die Möglichkeit zu Einschätzungen bietet, die über Kulturen, Ideologien und politische Regime hinweg gültig sind. Doch Arendt zeigt mit ihrer Kritik an der Vorstellung von Rechten als naturgegebener Besitz auf, dass die Idee des Rechtsuniversalismus ein gefährlicher Mythos ist, der eine homogenisierende imperiale Politik verstärkt und uns gestattet, die Realität der Rechtlosigkeit zu ignorieren und uns in eine zwar beruhigende, aber illusorische moralische Gewissheit zu flüchten. Doch wie Gündo˘gdu anmerkt, geht Arendt nicht einfach hin und ersetzt die moralische Gewissheit eines naturgegebenen Besitzes durch Rechtsnihilismus.21 Wie ich darlegen wollte, ebnet ihre Kritik an der Vorstellung von Rechten als Besitz vielmehr den Weg für eine alternative Konzeption davon, was es bedeutet, Rechte zu »haben«: nämlich die, eine politische Welt zu schaffen und zu organisieren, in der jeder Mensch Rechte einfordern kann. Das 21 Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights, S. 32.

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ist keine universalistische Politik, denn sie präjudiziert nicht, dass uns allen etwas gemeinsam ist oder sein sollte und dass ein moralischer Anspruch für alle Situationen zu gelten hat. Vielmehr deutet dieses alternative Rechtekonzept auf eine offene Zukunft22, auf den nie verklingenden Aufruf, eine Welt zu schaffen, in der jedes menschliche (und vielleicht auch andere) Wesen, das dies will oder muss, legitime Rechtsansprüche stellen kann. Dieser Denkansatz bedeutet nicht, dass wir alle Rechtsansprüche, die als naturgegeben geltend gemacht werden, von vornherein ablehnen, aber vielleicht, dass wir sie anders wahrnehmen sollten, als eine andere Art von Aufruf: nicht als Aufforderung an Einzelne, die Anerkennung von Rechten einzufordern, die sie bereits besitzen, sondern als Auftrag an uns alle, uns für eine Zukunft einzusetzen, in der jedes Individuum als gleichberechtigter Rechteträger gehört und behandelt wird.

22 Eine ähnliche Ansicht vertritt Bonnie Honig in ihrem Beitrag: Dead Rights, Live Futures, S. 792–805.

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Wessen Rechte? I Alastair Hunt »Die Menschenrechte […], wenn sie überhaupt neu definiert werden – als Recht, niemals abhängig zu sein von einer angeborenen Menschenwürde […], die nicht nur nicht existiert, sondern der letzte und möglicherweise arroganteste Mythos ist, den wir in unserer langen Geschichte erfunden haben.« Hannah Arendt, Origins 1

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»Vielleicht muss ich das akzeptieren lernen. Von ganz unten anzufangen. Mit nichts. Nicht mit nichts als. Mit nichts. Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde.« »Wie ein Hund.« »Ja, wie ein Hund.« J. M. Coetzee, Schande 2

Das »Recht, Rechte zu haben« impliziert, dass es Menschen gibt, die dieses Recht besitzen. Wer aber sind sie? Arendt schweigt sich in ihrer Formulierung hier auffallend aus. Sie sagt, worauf seine Träger_innen ein Anrecht haben, doch im Gegensatz zu Komposita wie »Menschenrechte«, »Frauenrechte« oder sogar »Tierrechte« werden hier die Träger_innen selbst nicht benannt. Doch praktisch die gesamte Leserschaft Arendts tut so, als könnten die in Rede stehenden Rechtssubjekte gar nichts anderes sein als Menschen. Diese Überzeugung 1

2

Die »Concluding Remarks« finden sich nur in der ersten Ausgabe von Origins, nicht in der deutschen Fassung Elemente und Ursprünge. Deutsche Übersetzung: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Über den Totalitarismus, S. 30. Coetzee, Schande, S. 266.

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kommt in der verbreiteten, in unterschiedliche Formen gekleideten Auslegung dieses Rechts als aktualisierte Version der Menschenrechte zum Ausdruck. Einer Lesart zufolge ist das Menschsein die unverzichtbare Grundlage des Rechts, Rechte zu haben.3 Nach einer anderen Interpretation ist das Menschsein die performative Wirkung des Rechts, Rechte zu haben.4 Einig sind sich aber alle, dass das Recht, Rechte zu haben, ein Menschenrecht in dem Sinne ist, dass es zu menschlichen Wesen gehört.5 Nicht jeder mag der Argumentation von Seyla Benhabib, der einflussreichsten Leserin von Hannah Arendt, folgen, doch bringt sie diesen Gedanken klar auf den Punkt mit ihrer Aussage, Arendt plädiere »für die Anerkennung des Rechts, Rechte zu haben, allein aufgrund der Angehörigkeit zur Gattung Mensch«.6 Bei eingehender Lektüre von Arendts Werk stellt sich uns jedoch die Frage, ob die Annahme, dass nur Menschen die Träger_innen des Rechts, Rechte zu haben, sein können, wirklich begründet ist. Natürlich konstatiert Arendt selbst, dass das Recht, Rechte zu haben, eine Möglichkeit bietet, das Konzept der Menschenrechte »aufs 3 4 5

6

Siehe Benhabib, Melancholische Denkerin; dies., Rechte der Anderen. Siehe Butler / Spivak, Sprache, Politik; Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie; Balibar, Equaliberty; ders., Bürger Europas. Einzig Werner Hamacher zieht in Erwägung, dass das »Recht, Rechte zu haben« möglicherweise auch nicht menschlichen Wesen zusteht, wenn er sagt, dieses Recht gelte somit für alle, die in der Vergangenheit de jure von den Bürger- und Menschenrechten ausgeschlossen waren, weil sie nicht als menschliche Wesen, sondern vielmehr als Tiere oder als Maschinen (wörtlich oder metaphorisch), als hilfreich fürs Leben oder als lebensbedrohlich angesehen wurden (Hamacher, Four-and-a-Half. S. 354). Benhabib, Melancholische Denkerin, S. 90.

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neue sinnvoll werden« zu lassen. Doch sollten uns bislang übersehene Elemente in ihren Schriften zur Vorsicht mahnen, einem solchen Postulat allzu viel Gewicht beizumessen. Im Folgenden möchte ich den Blick auf zwei dieser Elemente richten. Das erste ist ihre Kritik an den Menschenrechten als biopolitische Fantasie. Das zweite ist ihre Darstellung des Rechts, Rechte zu haben, als Grundlage für eine kritische Hinterfragung allgemein anerkannter Annahmen darüber, wer als Träger_innen dieser Rechte zu gelten hat. Wenn man diese beiden Aspekte im Blick behält, bekommt die Weigerung, dem Gedanken an ein »Recht, Rechte zu haben« ein Subjekt und damit einen Namen zu geben, eine überraschende Bedeutung: Sie ist ein Zeichen dafür, dass Bedenken bestehen, die in den Menschenrechten so manifest gewordene Annahme zu wiederholen, die Träger_innen von Rechten seien allein in der Gattung Mensch auszumachen. Das Recht, Rechte zu haben, ist keineswegs eine Neuauflage der Menschenrechte, sondern es stellt uns einmal mehr vor die Frage, wer die Subjekte der Politik sind, und fordert uns dazu auf, ganz neu über eine möglichst gerechte Form eines demokratischen politischen Gemeinwesens nachzudenken. Die Menschenrechte als biopolitische Fantasie Der Gedanke vom »Recht, Rechte zu haben« taucht im Kontext einer kritischen Bestandsaufnahme dessen auf, was Arendt die »Aporien der Menschenrechte« nennt. Doch die Sprengkraft dieser Bestandsaufnahme wird noch immer nicht richtig verstanden. Ihre Kritik zielt in erster Linie auf die kühne Vermutung, der Status als Rechtsträger sei ein direkter Ausdruck der menschlichen Natur. Diese Annahme manifestiert sich bereits in der allenthal-

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ben wiederholten Definition der Menschenrechte als diejenigen Rechte, die Menschen allein aufgrund ihres Menschseins besitzen.7 Und sie ist, so Arendt, in der naturalistischen Sprache der großen Erklärungen der Menschenrechte unmissverständlich.8 »Alle Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten«, heißt es in Artikel 1 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die zu Beginn der Französischen Revolution im Jahr 1789 verabschiedet wurde.9 Die Geburt als Mensch zur einzigen Voraussetzung für den Besitz der Menschenrechte zu erklären, so Arendt, hieße also, dass solche Rechte »unmittelbar der ›Natur‹ des Menschen entspringen« oder sich daraus »ableiten lassen«.10 Mit anderen Worten folgt aus der Darstellung der Menschenrechte als Diese Definition wird fast überall mehr oder weniger wörtlich wiederholt: siehe Donnelly, Concept of Human Rights. S. 1; Lauren, Evolution of International Human Rights, S. 1; Cranston, What Are Human Rights, S. 36. Arendt variiert dahingehend, dass Menschenrechte »einzig der bloßen Tatsache des Menschseins entspringen« (Arendt, Einziges Menschenrecht, S. 756). 8 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 464. Weitere kritische Anmerkungen zur Rolle der Geburt im Rechtediskurs finden sich u. a. in: dies., Einziges Menschenrecht, S. 766; dies., Revolution, S. 36; dies., Wahrheit und Politik, S. 327–370. 9 In der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten tritt an die Stelle des Substantivs »Geburt« das Verb »erschaffen«: »daß alle Menschen gleich erschaffen wurden«. Bei der Ausformulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 einigte man sich indes auf den Gedanken der »Geburt«: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Morsink erläutert hierzu, die meisten Delegierten hätten zum Ausdruck bringen wollten, dass diese Rechte zu einem Menschen gehörten und dies durch die Formulierung »geboren« hinreichend erfüllt sei. Siehe Morsink, Universal Declaration, S. 293. 10 Arendt, Elemente und Ursprünge S. 464. 7

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Geburtsrecht, dass der Status als Rechtssubjekt nicht etwa das Produkt menschlichen Handelns ist (einschließlich des Handelns, das gemeinhin als Sprache bezeichnet wird), sondern dass er allen Exemplaren der Gattung sozusagen mitgegeben ist – dass also, wie DeGooyer und Maxwell in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt haben, diese Rechte naturgegeben sind. Nach dieser Logik lässt sich jeder ausformulierte Anspruch auf Zugehörigkeit zur Gattung Mensch (wie der Slogan »I AM A MAN « – im Jahr 1968 auf zahlreichen Transparenten schwarzer US-Bürgerrechtler) metaphorisch als Anspruch auf den Status als Rechtssubjekt verstehen. Arendt steht dieser hohen Einschätzung des intrinsischen politischen Wertes der menschlichen Natur illusionslos und kritisch gegenüber, hält sie gar für Fantasterei. Denn selbst wenn so etwas wie eine menschliche »Natur« existiere und auch zu identifizieren sei (und sie meldet an beiden Annahmen erhebliche Bedenken an)11, dann sei diese Natur aus sich selbst heraus kaum imstande, Menschen in Rechtssubjekte zu verwandeln. Wie alle Aspekte des »bloße[n] Geschenk[s] menschlicher Existenz« enthalte auch die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch keine intrinsische politische Bedeutung, die verstanden oder missverstanden werden könnte.12 Der Status des Rechtssubjekts entspringe nicht der menschlichen Natur, sondern 11 Arendt bringt ihre Skepsis zur Natur des Menschen dezidiert in Vita Activa (S. 16–17) zum Ausdruck; in Elemente und Ursprünge wird ihre Haltung dadurch hinreichend klar, dass sie den Begriff Natur fast durchgehend in Anführungszeichen setzt (siehe z. B. S. 464ff.). 12 Arendt beschreibt dieses »bloße Geschenk menschlicher Existenz« als das, was uns auf mysteriöse Weise gegeben ist (Einziges Menschenrecht, S. 764).

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sei vielmehr das Produkt »künstliche[r] Konventionen«13, sei also »durch eine vom Prinzip der Gerechtigkeit geleitete menschliche Organisation produziert«14. Sie lehnt die Grundlogik der Menschenrechte rundheraus ab: »Gleichheit ist nicht gegeben, und als Gleiche nur sind wir das Produkt menschlichen Handelns. Gleiche werden wir als Glieder einer Gruppe, in der wir uns kraft unserer eigenen Entscheidung gleiche Rechte gegenseitig garantieren.«15 Kurzum, die Menschenrechte basieren ihrer Meinung nach auf dem Wunsch, der Tatsache zu entfliehen, dass eben nicht die menschliche Natur allein für uns entscheidet, wer Rechtssubjekt sein kann. Doch Arendt begnügt sich nicht damit, den Gedanken, das Menschsein besitze einen intrinsischen politischen Wert, als pure Fantasie zu kritisieren. Wenn Fantasie, dann sei diese keineswegs neu und von einer Art, der zu misstrauen man bereits gelernt habe. Der Gedanke der Menschenrechte sei eine Wiederholung der biopolitischen Logik des Rassismus. Ehe Arendt das »Recht, Rechte zu haben« in Kapitel 9 ihres Werks Elemente und Ursprünge einführt, erläutert sie in den Kapiteln 6–8 das Aufkommen des Rassismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert als ideologische Waffe des 13 Dies., Revolution, S. 36. 14 Dies., Einziges Menschenrecht, S. 764. 15 Dies., Elemente und Ursprünge, S. 468. Hier sei angemerkt, dass Arendt in ihren gelegentlichen Verweisen auf die naturgegebene Ungleichheit der Menschen (ebd., S. 377, S. 469; Revolution, S. 36) keineswegs meint, dass die Menschen »ungleich an Rechten« geboren seien. 1955 erläuterte sie in einem unveröffentlichten Vortrag an der University of California in Berkeley, dass nur Nazis und wahrscheinlich alle ideologischen Rassisten auf der Ungleichheit der Menschen bei der Geburt beharrten (Arendt, Statelessness, S. 3).

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europäischen Imperialismus in Kontinentaleuropa und in Afrika. Der Rassismus basiere auf der Verschmelzung zweier Gedanken aus einer älteren Tradition, die sie auch als »Rassetheorien« bezeichnet. Der erste Gedanke stelle darauf ab, dass die Gruppierung von Menschen zu einem Volk nicht nur aufgrund der gleichen Sprache oder der Teilnahme an einem gemeinsamen politischen Projekt erfolgen könne, sondern auch anhand von bestimmten körperlichen Gemeinsamkeiten.16 Der zweite Gedanke besagt, dass Menschen mit einer bestimmten natürlichen Konstitution zugleich auch einen inhärenten sozialen oder politischen Status besäßen.17 Wenn die »organische Geschichtsauffassung« und der Glaube an die »angeborene Persönlichkeit« oder an naturgegebene Privilegien miteinander verbunden würden, könne die resultierende Ideologie des Rassismus in vielen politischen Agenden als Instrument dienen.18 Insbesondere könne sie die Mehrheit der Menschen auf der Welt in sogenannte minderwertige Rassen verwandeln – eine Metamorphose, die darauf abziele, »die natürlichen Qualitäten [dieser Menschen, A. H.] zu be- und verurteilen«.19 Doch habe der Rassismus durchaus auch eine inkludierende Funktion, wie begrenzt 16 Arendt führt weiter aus, dass die »gemeinsame Herkunft« eines Volkes ursprünglich mit einer gemeinsamen Sprache und Kultur (also keineswegs mit einer Rasse) begründet und erst nach 1814 um den Gedanken der »Blutsbande« erweitert worden sei (Elemente und Ursprünge, S. 278, S. 284). 17 Grundlage dieses Gedankens war der romantische Fokus auf der »angeborene[n] Persönlichkeit« und »rassisch bestimmte[n] natürliche[n] Aristokratie« (ebd., S. 289), auf Konzepten also, mit denen man sich gegen den Geburtsadel richtete (ebd., S. 72). 18 Ebd., S. 279, S. 282. 19 Ebd., S. 276.

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auch immer, denn er dehne das traditionell der Aristokratie vorbehaltene Gefühl der Privilegiertheit auf Menschen aller Klassen aus und schaffe dadurch eine sogenannte überlegene Rasse. Besonders in England und Deutschland sei das »Spiel mit Rassenvorstellungen« dem Bedürfnis entsprungen, »Maßstäbe aristokratischer Lebensführung allen Klassen der Nation zu vermitteln«.20 Während der Stolz auf eine aristokratische Herkunft in der Regel auch mit realen politischen Privilegien verbunden ist, wird der Stolz auf Zugehörigkeit zu einer »höheren Rasse« qua Geburt häufig von denjenigen empfunden, die in der politischen Realität eher am Rande stehen. Dennoch trumpfte der Rassismus damit auf, dass eine »Gabe der Natur den Titel verleiht, den die politische Wirklichkeit versagt hat«.21 An Überzeugung gewann die politische Fantasie des Rassenkonzepts durch den Taschenspielertrick, dass die zugrunde liegende Fiktion verborgen blieb und die Über- bzw. Unterlegenheit einer Rasse als naturgegebene Tatsache präsentiert wurde. Endlich einmal wird die Position der Menschen in einer politischen Hierarchie als von der Geburt abhängig wahrgenommen und ist nicht auf menschliches Handeln zurückzuführen.22 Was hat das mit den Menschenrechten zu tun?

20 Ebd., S. 301. An anderer Stelle erklärt sie, dass Burke das Prinzip dieser Privilegien auf das ganze Volk (der Engländer) ausgedehnt habe (ebd., S. 293). 21 Ebd., S. 283. 22 Ebd. Im Gegensatz dazu gründet der Comte de Boulainvilliers seine Theorie der Überlegenheit der Franken über die Gallier auf eine »geschichtliche Tat, die Eroberung, und nicht auf irgendeine physische Tatsache« (ebd., S. 274).

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Betrachtet man Arendts kritische Bestandsaufnahme der Menschenrechte im Lichte ihrer Genealogie des Rassismus, lässt sich schwerlich übersehen, dass die Menschenrechte in einem wichtigen Aspekt der Rassenideologie sehr ähnlich sind. Arendt selbst äußert diesen Gedanken in Kapitel 9 von Ursprünge und Elemente in ihrer Beschreibung der Opfer der rassenideologisch begründeten Sklaverei: »Das grundsätzliche Verbrechen der Sklaverei [bestand nicht darin], daß Sklaven die Freiheit verloren (was auch unter anderen Umständen eintreten kann), sondern darin, daß ein System geschaffen wurde, in dem ein Kampf für Freiheit unmöglich wurde, und eine Institution, in der man den Verlust der Freiheit als ein naturgegebenes Faktum verstand, so daß es erscheinen konnte, als wären Menschen entweder als Freie oder als Sklaven geboren.«23 Arendts Formulierung ist wohlüberlegt. Mit ihrer Aussage, dass nicht einmal die Institution der Sklaverei verhindert, dass manche Menschen frei »geboren« sind, übernimmt sie die zentralen Begriffe des ersten Artikels der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Menschenrechte und Rassismus postulieren also gleichermaßen, dass die Geburt in eine bestimmte natürliche Gruppe den Status eines Individuums als Rechtssubjekt festlegt. Für den Fall, dass dies zu subtil erscheint, leuchtet sie den Gedanken in der deutschen Version noch einmal klar aus: »Daß man in der Formulierung der Menschenrechte gerade auch die Freiheit für ein ›angeborenes Recht‹ 23 Ebd., S. 463.

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erklärte, ist nur der letzte Rest dieser Theorie; die angeborene Freiheit wurde nun auf jedermann, selbst auf die Sklaven erstreckt, und man übersah, daß beides, Freiheit wie Unfreiheit, ein Produkt menschlichen Handelns ist und mit der ›Natur‹ gar nichts zu tun hat.«24 Wenn sich die Verfechter der Menschenrechte und des Rassismus überhaupt in etwas einig sind, dann darin, dass ihre Positionen diametral entgegengesetzt sind. Die Ersteren wollen gleiche Rechte für alle Menschen, die Letzteren wollen das dezidiert nicht. Diese Opposition kommt in den vier von der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) zwischen 1950 und 1967 veröffentlichten Stellungnahmen zur Rassenfrage besonders deutlich zum Vorschein. Dort wird die Gattung Mensch in Begrifflichkeiten gefasst, die es ermöglichen sollen, frühere Definitionen zu widerlegen, mit denen vor und während des Zweiten Weltkriegs offen rassistische Regierungspolitiken legitimiert wurden. Und doch hilft uns Arendt zu erkennen, dass auch nach Ersetzung des Modells, das dem Rassismus Vorschub leistete, durch das Modell von der Gattung Mensch, das die Menschenrechte beförderte, noch immer die Annahme im Raum steht, dass unsere biologische Beschaffenheit die Grundlage für das politische Gemeinwesen liefere. Es gibt nur ein einziges Postulat der Rassenideologie, das dem Konzept der Menschenrechte nicht widerspricht, nämlich die Behauptung, dass die Natur der Menschen eine Metapher für ihren politischen Status sei. Natürlich wird in den Menschenrechten der rassistische Grundgedanke, dass ein Mensch qua Ge24 Ebd., S. 463.

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burt in eine bestimmte Rasse auch bestimmte Rechte genießt, in das umfassendere Postulat gekleidet, dass der Mensch qua Geburt in eine Gattung bestimmte Rechte genießt – eine Gattung, die im Übrigen gelegentlich noch immer als die »menschliche Rasse« bezeichnet wird. Doch wie beim Rassismus wird auch bei den Menschenrechten der politische Status als direkter Ausdruck der menschlichen Natur verstanden.25 Ja, die Schärfe des Gegensatzes

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25 Freilich gilt die menschliche Natur, die in den Menschenrechten ihren Ausdruck finden soll, herkömmlicherweise eher als metaphysisch denn als physisch. Doch lässt sich hinter der Art von Subjektivität, wie sie in fundamentalistischen Modellen der Menschenrechte suggeriert wird, unschwer die Biologie ausmachen. In einigen Fällen, wenn die menschliche Natur, der Rechte zugeschrieben werden, in dezidiert biologischen Kategorien erfasst wird, springt dies besonders ins Auge. Ein Beispiel dafür ist die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte aus dem Jahr 1998 oder auch die Selbstverständlichkeit, mit der sich die US-amerikanischen Abtreibungsgegner_innen der Menschenrechtsrhetorik bedienen. Selbst dort, wo die Merkmale der menschlichen Natur, die den Menschen angeblich ihre Rechte verleihen, als nicht biologisch wahrgenommen werden, lassen sie sich nahtlos durch die Zugehörigkeit zur Gattung Homo Sapiens ersetzen und können durch diese ersetzt werden. Denn Menschenrechtstheoretiker_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen qualifizieren einen Menschen nicht allein anhand des Verstandes oder der Sprache (unabhängig von der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch) als Träger von Rechten. Sie zeigen hingegen kaum Interesse daran, dass auch bei Tieren Verstand oder Sprache zu erkennen sind, bestehen aber darauf, dass auch Menschen ohne Eigenschaften wie Verstand oder Sprache Rechte haben, eben weil sie der Gattung Mensch angehören. Kurzum, rechtebegründende Eigenschaften werden ausschließlich Exemplaren der Gattung Mensch zugeschrieben, und die Zugehörigkeit zu dieser Spezies wird zum Substitut dieser Eigenschaften gemacht. So oder so wird das metaphysische Konzept der Menschenrechte nach wie vor durch die Biologie geformt.

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zwischen Menschenrechten und Rassismus lässt sich als Auswirkung der zugrunde liegenden Übereinkunft lesen, dass die Natur selbst entscheidet, welche Individuen als legitime Rechtssubjekte zu gelten haben.26 Arendt verstarb zwar im selben Jahr, in dem Michel Foucault den Begriff der Biopolitik verwendete, um Machtstrukturen zu bezeichnen, die auf das biologische Leben als Objekt und als Ziel abstellen. Dennoch wird sie heute zunehmend als die erste Theoretikerin der Biopolitik anerkannt.27 Ein Grund dafür ist ihre Beschäftigung mit der wachsenden Vorherrschaft des biologischen Lebens in den modernen Gesellschaften.28 Ein anderer Auch Étienne Balibar verweist auf die paradoxe Nähe des Konzepts der Menschenrechte zu den naturalistischen Theorien des Rechts von Nationen und sogar von Rassen (siehe Balibar, Equaliberty, S. 318, 319, Fn15). 26 Die Tragweite dieses Versuchs, der Realität zu entfliehen, wird im letzten Satz des 1964 verabschiedeten UNESCO-Vorschlags zu den biologischen Aspekten der Rasse deutlich. Der Aufruf an die Wissenschaftler_innen, zu verhindern, dass die Ergebnisse ihrer Forschungen einseitig verwendet werden und zwar so, dass sie nicht wissenschaftlichen Zielen dienen, ist selbst ein Beispiel dafür, dass die Wissenschaft für nicht wissenschaftliche, hier: politische Zwecke genutzt wird (UNESCO Proposal, S. 4). 27 Campbell und Size bringen das mit der These auf den Punkt, Arendts Schriften über Leben und Politik seien de facto »biopolitisch«, Campbell / Size, Biopolitics, S. 23. 28 Dieses Thema taucht in Vita activa und in Revolution auf. In letzterem Werk findet sich zum Beispiel ihr berüchtigtes Argument, dass während der Französischen Revolution das politische Projekt der Gründung eines republikanischen Gemeinwesens durch die soziale Aufgabe überlagert wurde, die verarmte, von ihren biologischen Bedürfnissen getriebene Menge zu versorgen (Revolution, S. 60–134). Dies entspricht jedoch nicht ihrer Vorstellung von der Beziehung zwischen Leben und Politik in Bezug auf die Menschenrechte. Sie

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Grund ist ihre Erkenntnis, dass Rassismus und Menschenrechte sich die grundlegende Logik teilen, eine biopolitische. Hier ließe sich allerdings ein Einwand vorbringen: In Arendts biopolitischem Modell der Menschenrechte bleibt außer Acht, dass zwar die Ideologie des Rassismus in der Gesellschaft eine große destruktive Macht ausübt, die Menschenrechte aber dennoch für fast alle Menschen erstrebenswert sind und bleiben. Führt uns nicht Arendt selbst sowohl die entscheidende Rolle des Rassismus in der Politik vor Augen als auch das Scheitern aller Appelle an die Menschenrechte zur Verhinderung von politischer Gewalt? Dieses Argument löst sich in Luft aus, wenn wir uns über zwei Sachverhalte im Klaren sind. Zum einen rückt das praktische Unvermögen, die Menschenrechte für alle Menschen festzuschreiben, diese näher an den Rassismus und nicht weiter weg von ihm. Schließlich ist der Rassismus, wie Arendt selbst darlegt, auch eine inklusive Ideologie, weil er die Sphäre der Privilegien auf alle Mitglieder der überlegenen Rasse ausdehnt, und zwar unabhängig von jeder Klassenzugehörigkeit. Entgegen seinen eigenen Wunschvorstellungen schafft es der Rassismus indes nicht, allen weißhäutigen Menschen durch ihre Zugehörigkeit zur weißen Rasse auf wundersame Weise zu einer politisch privilegierten Position zu verhelfen. Arendt unterstreicht dies in ihrer bissigen Beschreibung der Buren im Südafrika des neunzehnten Jahrbetont lediglich, anders als die biologischen Grundbedürfnisse dränge sich der Gedanke, Menschen seien von Natur aus Rechtssubjekte, niemandem auf.

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hunderts (in Kapitel 7 von Elemente und Ursprünge) als unbewusste Verkörperung einer eingebürgerten Rasse, in der sie ein Zeichen für die rassische Minderwertigkeit der einheimischen Afrikaner sahen.29 Eine ähnliche Aporie sei bei den Menschenrechten zu beobachten. Denn schon der Versuch, die Menschen von Natur aus als Rechtssubjekte wahrzunehmen, ende ungewollt in der Leugnung ihrer Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen, das doch die zentrale Voraussetzung für die Trägerschaft von Rechten ist. Auf ebendiese Aporie rekurriert Giorgio Agamben mit seinem auf Arendts Analyse aufbauenden Argument, dass das menschliche Leben, wie es sich bei der Geburt zeigt (und das – auch ohne Staatsbürgerschaft – als Quelle der Menschenrechte gilt), nichts ist als das »nackte Leben« derjenigen, die nur insoweit etwas Politisches haben, als sie aus dem politischen Leben ausgeschlossen sind.30 Arendts Modell der Menschenrechte deckt sich also mit ihrer bitteren Erkenntnis, dass diese Rechte keineswegs eine unverzichtbare Tatsache mit einer unaufhaltsamen Kraft sind. Wenn überhaupt, dann zeigt ihre biopolitische Bestandsaufnahme der Menschenrechte, wie wirkungslos die Fiktion, biologischen Fakten einen inhärenten politischen Wert zuzuschreiben, in der Praxis ist. Als zweiter und wichtigerer Sachverhalt ist zu konstatieren, dass die Menschenrechte (ähnlich dem Rassismus) willkürlich begrenzen, wer Trägerin bzw. Träger von Rech29 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 317–321. 30 Agamben, Homo sacer, S. 135–145. Eine solche Aporie erklärt auch, warum Arendts Porträt des Menschen, dem Rechte allein aufgrund seiner Natur zugeschrieben werden, auf seltsame Weise ihrer Beschreibung derjenigen ähnelt, die zwangsweise aus dem politischen Gemeinwesen ausgeschlossen sind.

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ten sein kann. Der Rassismus als ausgrenzende Ideologie bedarf keiner näheren Begründung. Zwar vermochte er es nicht, Einzelnen als Angehörige der sogenannten überlegenen Rasse eine Reihe von Rechten zu gewährleisten, doch er war sehr erfolgreich dabei, alle Menschen, die nicht mit heller Hautfarbe zur Welt kamen, zutiefst zu erniedrigen. Die ausgrenzende Kraft der Menschenrechte ist wesentlich schwerer zu erkennen. Denn auf den ersten Blick erscheint diese Idee, genau wie der Rassismus, ein Modell der Inklusion zu sein, denn der Status des Rechtssubjekts wird hier explizit nicht nur den Mitgliedern einer bestimmten Rasse zuerkannt, sondern ausnahmslos allen Mitgliedern der Gattung Mensch. Doch die verborgene Ausgrenzungswirkung der Menschenrechte rückt ins Blickfeld, sobald wir akzeptieren, dass die Aussage, alle Menschen »sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten«, impliziert, dass sich dies nur auf Menschen bezieht. So ähnlich wie der Rassismus kategorisch all jene als Rechtssubjekte ausschließt, die das Pech haben, in eine sogenannte minderwertige Rasse hineingeboren zu sein, schließen die Menschenrechte kategorisch all jene als Rechtssubjekte aus, die das Pech haben, einer nicht menschlichen Spezies anzugehören. In einem Rahmen, in dem Menschsein als Metapher für die Rechtsträgerschaft steht, ist das Nicht-Menschsein folglich eine Metapher für das, was Arendt »absolute Rechtlosigkeit« nennt.31 Es mag den Menschenrechten 31 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 461. An sich impliziert der Gedanke der Menschenrechte nicht notwendigerweise, dass nicht menschliche Wesen keine Rechte haben. Wenn Menschen Rechte besitzen allein aufgrund dessen, was sie sind, dann kann man auch nicht menschlichen Wesen Rechte, ja sogar gleiche Rechte einräumen, weil sie das sind, was sie sind. Diese Einschätzung findet sich

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nicht wirklich gelingen, alle Menschen mit Rechten auszustatten, so Agamben, doch Tieren irgendwelche Rechte zuzusprechen, wird durch sie nicht einmal versucht. Während Rassist_innen alles daran setzen, die Minderwertigkeit von Menschen anderer Rassen zu begründen, verwenden Menschenrechtsverteidiger_innen kaum Zeit darauf, die naturgegebene Untauglichkeit von Tieren als Rechtssubjekte zu begründen.32 Doch die Tatsache, dass die Rechtlosigkeit von Tieren eher unterstellt als behauptet oder gar argumentativ vertreten wird, lässt sich auch als Zeichen für besonders großes Selbstbewusstsein seitens der Menschenrechtsverteidiger_innen werten, da sie annehmen, dass einfach niemand anderes mehr als Rechtssubjekt infrage kommt. Anders gesagt ist die Überzeugung, dass Tiere keine Rechtsträger sein können, im Menschenrechtsdiskurs so tief verwurzelt, dass dies wiederum selbst ausgeklammert wird. Wir können also Tiere von der Möglichkeit eines Anspruchs auf Gerechtigkeit ausschließen und dabei vergessen, dass wir diesen Ausschluss herbeigeführt haben – und nicht die Natur. Als wichtigste Erkenntnis aus Arendts biopolitischer Analyse der Menschenrechte möchte ich mitnehmen, dass die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch nicht dafür herangezogen werden kann zu definieren, wer Träger des Rechts, Rechte zu haben, ist. Es erscheint unsinnig, ihre Vorstellung, dass das Menschsein Menschenrechte verim wissenschaftlichen und juristischen Menschenrechtsdiskurs und auch bei den Aktivist_innen praktisch überhaupt nicht. 32 Im Namen der Verteidigung der Menschenrechte wird bisweilen explizit auf die Untauglichkeit von Tieren als Rechtsträger abgestellt. Beispiele finden sich in Ferry, New Ecological Order; Smith, A Rat Is a Pig; Kateb, Human Dignity.

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leiht, als biopolitische Fantasie zu kritisieren und quasi im gleichen Atemzug das Menschsein als Ursprung des Rechts, Rechte zu haben, zu postulieren. Denn Arendt formuliert recht klar, dass dieses Recht nicht als naturgegebener Bestandteil der Natur des Menschen gelten kann. Es ist für sie das »Recht, niemals abhängig zu sein von einer angeborenen Menschenwürde, die […] de facto nicht nur nicht exististiert, sondern der letzte und möglicherweise arroganteste Mythos ist, den wir in unserer langen Geschichte erfunden haben«.33 Die Erkenntnis, dass das Recht, Rechte zu haben, nicht nur eine Funktion der menschlichen Natur ist, ist insofern bedeutsam, als sie nicht nur der gängigen Ansicht von Arendts Leserinnen und Lesern widerspricht, Menschen seien naturgemäß Träger dieses Rechts, sondern auch den Blick darauf lenkt, wie mit dieser Annahme die grundlegende Arroganz des Rassismus wiederholt wird. Doch Arendts Darstellung der Menschenrechte als Form der Biopolitik führt uns nur bis zu einem bestimmten Punkt und nicht weiter. Die Frage, wer Träger des Rechts, Rechte zu haben, sein kann, bleibt weiter unbeantwortet. Auch wenn wir festgestellt haben, dass ein Mensch zu sein allein nicht ausreicht, um zum Rechtssubjekt zu werden, bleibt herauszuarbeiten, ob irgendetwas in Arendts Werk darauf hindeutet, dass das Menschsein ein notwendi33 Arendt, Origins, S. 439, deutsche Fassung: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Über den Totalitarismus, S. 30. Vgl. auch: Das Recht, Rechte zu haben, »ist in den Kategorien des achtzehnten Jahrhunderts nicht zu fassen, weil sie annehmen, daß Rechte unmittelbar der ›Natur‹ des Menschen entspringen« (Elemente und Ursprünge, S. 464). Vgl. auch dies., Einziges Menschenrecht, S. 766.

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ges Merkmal potenzieller Träger des Rechts, Rechte zu haben, ist. Positiv formuliert: Legt uns das Recht, Rechte zu haben, nahe, auch außerhalb der Gattung Mensch nach möglichen Rechtsträgern zu suchen? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns von Ahrendts Kritik der Menschenrechte abwenden und ihre Ausführungen zum Recht, Rechte zu haben, genauer untersuchen.

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Das Recht der Rechtlosen In der langen Geschichte der Jurisprudenz stellt das »Recht, Rechte zu haben« eine echte Innovation dar. Eine Möglichkeit, sich diesem Novum zu nähern, besteht im Vergleich mit den beiden traditionelleren Formen von Rechten, mit denen es gelegentlich verwechselt wird: den »Menschenrechten« und den »Bürgerrechten«. Die Menschenrechte sind, um die bereits zitierte Standard-Definition zu wiederholen, diejenigen Rechte, die alle Menschen allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Gattung Mensch besitzen. Wie bereits ausgeführt, steht Arendt dem Gedanken, dass die Natur des Menschseins inhärente Rechte birgt, äußerst skeptisch gegenüber. Diese Kritik äußerte in weiten Teilen auch der bekannte Gegner der Französischen Revolution Edmund Burke, der schon im achtzehnten Jahrhundert die Menschenrechte als theoretische Abstraktion abtat. Den »Rechten des Menschen« setzte er die »Rechte eines Engländers« entgegen, die er als Besitz der Menschen dieses Königreichs beschrieb und nicht als Besitz der gesamten Menschheit.34 Burkes Erkenntnis ist in Arendts Worten, dass »alle Rechte sich nur 34 Burke, zit. n. Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 292–293; siehe auch S. 466.

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innerhalb eines gegebenen politischen Gemeinwesens realisieren, daß sie von unseren Mitmenschen und von einer stillschweigenden Garantie abhängen, die die Mitglieder eines Gemeinwesens einander geben«.35 Aus diesem Grund attestiert sie ihm für seine Präferenz der Bürgerrechte gegenüber den Menschenrechten »pragmatische Richtigkeit«.36 Arendt erkennt aber auch die Schwachstelle in Burkes Analyse, denn er geht davon aus, dass jedes potenzielle Mitglied eines politischen Gemeinwesens dies auch tatsächlich schon ist. Dabei lässt er diejenigen außer Acht, die (aus welchen Gründen auch immer) entweder nie Mitglied eines solchen Gemeinwesens waren oder diesen Status verloren haben. Hier kommt das Recht, Rechte zu haben, ins Spiel. Denn dabei handelt es sich nicht um eines der zahlreichen bürgerlichen, politischen oder sozialen Rechte derjenigen, die bereits Mitglieder eines politischen Gemeinwesens sind. Es ist vielmehr ein Recht für diejenigen, die keinem solchen Gemeinwesen angehören. Das soll allerdings nicht heißen, dass ein Individuum in den Genuss dieses Rechts kommen kann, ohne Mitglied eines Gemeinwesens zu werden. Denn das Recht, Rechte zu haben, eröffnet seinen Träger_innen den Zugang zu einer politischen Gemeinschaft, die ihnen wiederum Zugang zu einer ganzen Reihe weiterer bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte gewähren kann. Allerdings ergibt sich aus dem Besitz dieses einen Rechts nicht notwendigerweise sofort ein Anspruch auf spezifische Rechte. Selbst Sklaven stand das Recht, 35 Arendt, Einziges Menschenrecht, S. 766. 36 Dies., Elemente und Ursprünge, S. 466.

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Rechte zu haben, nach Arendts Ansicht zu, weil sie ja »immer noch in den Rahmen des Menschseins einbezogen« blieben.37 Man mag diesem Argument zustimmen oder nicht, als Tatsache bleibt, dass die Zuerkennung spezifischer Rechte für die Mitglieder einer Gemeinschaft durch die politischen Instanzen ebendieser Gemeinschaft erfolgt. Die Anerkennung des Rechts, Rechte zu haben, kann »aus sich selbst heraus weder Freiheit noch Gerechtigkeit erreichen, denn diese sind Gegenstand des Tageskampfes aller Bürger; sie kann nur die Teilnahme aller Menschen an dem Kampf sicherstellen.«38 Und dennoch, die Bedeutung des Rechts auf Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen liegt darin, dass es als einziges denjenigen aus ihrer misslichen Lage heraushelfen kann, die nicht Mitglied eines solchen politischen Gemeinwesens sind. Denn es unterstellt weder, dass die Natur Rechte verleiht, noch bindet es sich ausschließlich an diejenigen, die bereits Mitglied einer politischen Gemeinschaft sind. Als Recht auf Erwerb der Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen ermöglicht es den Menschen, in eine Position zu gelangen, in der sie ihren Anspruch auf weitere konkrete Rechte geltend machen können. Somit ist das Recht, Rechte zu haben, weder ein Bürgerrecht noch ein Recht von Menschen ohne Bindung an politische Institutionen, sondern das Recht für Nicht-Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, Mitglieder ebendieser Gemeinschaft zu werden, in der sie dann Anspruch auf Rechte haben.

37 Ebd., S. 463. 38 Dies., Origins S. 439, deutsche Fassung: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Über den Totalitarismus, S. 30.

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Die Bedeutung dieses Rechts, Rechte zu haben, wird uns klarer, wenn wir die Situation der Rechtlosigkeit, zu deren Bewältigung es konzipiert war, genauer ins Blickfeld rücken. Allzu viele Menschen mussten mehr Erfahrungen mit dem Entzug von Rechten machen, als ihnen lieb gewesen sein konnte. Arendt musste selbst erleben, wie in den Zwischenkriegsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die sie sich in Elemente und Ursprünge konzentrierte, zahlreiche Gruppen ihre Rechte verloren, nämlich die »des enteigneten Bürgertums, […] der Arbeitslosen oder der Kleinrentner, die ihre soziale Position und ihre Arbeit und ihren Lebensunterhalt und ihren Besitz verloren hatten«.39 Doch wie die meisten, die ihre Rechte verlieren, so Arendt weiter, sind solche Menschen in der Regel Mitglieder eines konkreten politischen Gemeinwesens. Das ist entscheidend. Denn kraft dieser Zugehörigkeit bleibt der Rechteverlust auf bestimmte bürgerliche, politische oder gesellschaftliche Rechte begrenzt. Sie führt dieses Argument sehr präzise aus: »Der Soldat ist seines Rechtes auf Leben im Kriege so beraubt wie der Verbrecher seines Rechtes auf Freiheit, solange er seine Strafe verbüßt, und alle Bürger büßen in einer nationalen Notlage ihr Recht auf Streben nach Glück ein.« Doch »niemand wird behaupten können, daß in irgendeinem dieser Fälle ein Verlust der Menschenrechte vorläge«.40 Zwar mögen sie als Mitglieder eines gegebenen Gemeinwesens bestimmte Rechte verlieren, doch eine Reihe anderer behalten sie. Zudem können sie sich an die Polizei, die Gerichte, sogar an die rechtsetzenden Organe wenden, um gegen diesen Verlust vorzu39 Dies., Elemente und Ursprünge, S. 424. 40 Ebd., S. 460.

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gehen. Dies alles schmälert nicht den Schmerz oder die Ungerechtigkeit, die der Verlust hervorruft. Doch bleibt die Tatsache, dass die Mitglieder einer politischen Gemeinschaft, die eines oder mehrere Rechte verlieren, andere behalten.41 Weitaus gravierender ist nach Arendt der Verlust für diejenigen, deren Recht auf Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen infrage gestellt wird, denn der Verlust als Mitglied dieses Gemeinwesens geht einher mit Verlust des Status, der die Voraussetzung für Rechte jedweder Art ist. Arendt nennt diese Menschen die »Rechtlosen«42 und erklärt ihre missliche Lage wie folgt: Es sei nicht ganz korrekt, zu sagen, dass jemand, der »zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört«, damit auch »des Rechtes auf Leben, auf Freiheit, auf Streben nach Glück […] beraubt ist«. Denn diese Formeln stünden »in gar keiner Be41 Dass Menschen, die formal einem politischen Gemeinwesen angehören, trotzdem systematisch an der Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert werden, mag als Ausnahme erscheinen. Doch Arendt trägt bei der Formulierung ihres sehr differenzierten Standpunkts diesem Sachverhalt Rechnung. In Kapitel 9 von Elemente und Ursprünge geht sie auf »nationale Minderheiten« in den aus der Donaumonarchie und dem Zarenreich neu entstandenen Ländern ein, die zwar de jure Staatsbürger waren, de facto aber nicht, weil die für die Sicherstellung ihrer formellen Rechte zuständigen Institutionen funktionell unbrauchbar waren. Somers legt in Genealogies of Citizenship dar, dass auch heute zahlreiche Bürgerinnen und Bürger verschiedener Nationalstaaten damit leben müssen, nur auf dem Papier Rechte zu haben, weil ihnen in Zeiten des neoliberalen Kapitalismus eine echte Teilhabe als rechtstragende Mitglieder des politischen Gemeinwesens wegen der eigenen prekären sozioökonomischen Lage verwehrt wird. Afroamerikaner können ein Lied davon singen. 42 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 452, 457, 458, 459, 460, 467, 468, 469; dies., Einziges Menschenrecht, S. 759.

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ziehung zu seiner Situation, weil sie entworfen wurden, um Rechte innerhalb gegebener Gemeinschaften sicherzustellen«.43 Es wäre präziser zu sagen, dass aus der politischen Gemeinschaft ausgeschlossenen Menschen schlichtweg der Status als Rechtsträger entzogen wird. Solche Menschen sind nicht nur ungleich vor dem Gesetz, sondern sie sind »wirklich rechtlos« geworden.44 Es geht nicht nur um den »Entzug bestimmter Rechte«, auf die ein Staatsbürger Anrecht hat.45 Die Situation dieser Menschen lässt sich nicht nur mit dem Verlust von Rechten umschreiben, sondern es geht um »fundamentale«, »absolute« und »komplette« Rechtlosigkeit.46 Kurzum, sie haben ihren Status als »Rechtssubjekt« verloren. Wie dieser Verlust konkret aussehen kann, beschreibt Arendt sehr eindringlich in ihrem Beitrag, in dem sie das Recht, Rechte zu haben, zum ersten Mal erwähnt. Die vollständige Ausgrenzung aus dem politischen Gemeinwesen stelle »nur eine ständige Versuchung für Mörder dar und bedroht uns obendrein mit einer Abstumpfung unseres Gewissens. Denn es könnte geschehen, daß es uns – ähnlich jenem neuen Typ von Mördern – gar nicht mehr recht ins Bewußtsein dringt, daß überhaupt ein Mensch ermordet worden ist, wenn er praktisch vorher bereits aufgehört hat zu existieren.«47 Als Darstellung der 43 44 45 46 47

Dies., Elemente und Ursprünge, S. 460. Ebd. Ebd., S. 459. Ebd., S. 460–461. Dies., Einziges Menschenrecht, S. 765. Dieser Textteil wurde in der überarbeiteten Version, aus der dann Kapitel 9 von Origins entstand, gestrichen. In der ersten Ausgabe der amerikanischen Fassung stand er noch in den »Concluding Remarks« (S. 433–434), 1968 wurde

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Gefahren, die ein Ausschluss aus dem Gemeinwesen nach sich zieht, ist die Textstelle provokant, ja ungeheuerlich. Denn sie unterstellt, dass die Ausgrenzung nicht nur für die Betroffenen recht unangenehm ist, sondern zudem ihren potenziellen Mördern die Schuldgefühle nimmt. Zwar begreifen die Mörder in diesem Szenario, dass jemand getötet wurde, aber sie sehen in diesem Jemand kein Individuum mit einem Recht auf Leben und halten ihre Tat deshalb nicht für einen Mord.48 Allgemeiner formuliert heißt dies, dass die Rechtlosen ihrem Gegenüber womöglich gar nicht als Opfer einer Rechtsverletzung erscheinen, da dann aber in der revidierten Ausgabe der komplette Abschnitt entfernt. Dass dieser Textteil in Kapitel 9 von Origins nicht mehr zu finden ist, scheint aus zwei Gründen ein Versehen zu sein. An einer Stelle erklärt Arendt: »Die Existenz solch einer Kategorie von Menschen birgt für die zivilisierte Welt eine zweifache Gefahr« (Elemente und Ursprünge S. 470), doch ist in der amerikanischen Version Origins dann nur noch von einer Gefahr die Rede (S. 302). Zweitens findet sich dieser Abschnitt sehr wohl in der deutschen Fassung Elemente und Ursprünge, wenn auch stark verkürzt (S. 470). Da es hier um das Thema Verschwinden geht, erscheint die Streichung dieses Textteils plausibel. Die gesamte Passage ist im Zusammenhang mit ihrer Beschreibung der Geisteshaltung der europäischen Imperialisten zu verstehen, die es ihnen gestattete, Afrikaner zu ermorden, ohne sich eines Verbrechens bewusst zu werden: »Man mordete keinen Menschen, wenn man einen Eingeborenen erschlug« (Elemente und Ursprünge, S. 315). Ebenfalls wichtig ist in diesem Zusammenhang ihre Anmerkung über Eichmann, »daß dieser neue Verbrechertypus […] unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewußt zu werden« (Eichmann in Jerusalem, S. 326). 48 Bestätigt wird diese Interpretation durch die folgende Aussage Arendts: »Wenn man sie mordet, ist es, als sei niemandem ein Unrecht oder auch nur ein Leid geschehen« (Elemente und Ursprünge, S. 470).

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sie überhaupt keine Rechte besitzen, die verletzt werden könnten.49 Die aus dem Gemeinwesen Ausgeschlossenen

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49 Dieser Gedankengang erklärt auch eine andere ungeheuerliche These Arendts: »Denn das Unglück des Rechtlosen liegt nicht darin, daß er […] gar nicht unterdrückt wird, ja dessen Unglück man dadurch definieren könnte, daß niemand ihn auch nur zu unterdrücken wünscht« (Elemente und Ursprünge, S. 460). Jacques Rancière kritisiert diese Aussage wegen ihres »verächtlichen« Tons und kontert, es gebe »eine Situation und einen Status ›jenseits von Unterdrückung‹«, und es habe tatsächlich Personen gegeben, »die diese Menschen unterdrücken wollten, und Gesetze, die diese Unterdrückung ermöglichten« (Rancière, Subjekt der Menschenrechte, S. 477). Indes beachtet Rancière nicht, dass Arendt den Begriff oppression (»Unterdrückung«) in einem spezifischen Sinn verwendet, den sie in einem vorhergehenden Kapitel des Werkes darlegt. Zwischen den englischen Imperialisten und den Afrikanern gab es »eine so absolute Scheidung der Interessen von Regierenden und Regierten […], daß sie noch nicht einmal in Widerstreit treten konnten«. Und weiter: »Daran gemessen nehmen sich Ausbeutung, Ausraubung [oppression] und Korruption wie Schutzengel der Menschenwürde aus, denn Ausbeuter und Ausgebeuteter, Räuber und Ausgeraubter [oppressor and oppressed], Bestecher und Bestochener leben jedenfalls noch in derselben Welt, haben die gleichen Ziele, kämpfen um den Besitz derselben Dinge« (Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 343; Origins, S. 212). Hier steht der Begriff oppression für eine soziale Beziehung, die voraussetzt, dass die Beteiligten zwar keineswegs die gleichen Rechte haben, aber doch in einer gemeinsamen Welt leben, wodurch die Auseinandersetzung erst ermöglicht wird. Wenn nun also Arendt sagt, dass niemand die Rechtlosen »auch nur zu unterdrücken wünscht«, so heißt das keineswegs, dass sie diese Menschen geringschätzt oder blind für die Gewalt ist, denen sie ausgesetzt sind. Vielmehr spricht daraus ein Verständnis, dass die Rechtlosen in den Augen derer, die sie ausgeschlossen haben, eben nicht in einer Welt leben, in der eine Auseinandersetzung um den Besitz bestimmter Rechte möglich ist. Man kann nur diejenigen unterdrücken, die überhaupt in der Lage sind, Rechte zu beanspruchen (wie zähneknirschend auch immer man sich das eingestehen mag). Doch wer

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machen es uns leicht, mit uns selbst weiterzuleben, auch wenn wir um ihr Elend wissen.50 Unsere Fähigkeit, mit uns selbst weiterzuleben, ist nicht auf individuelle Hartherzigkeit zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Wirkung, die der Umstand dieser Nicht-Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft auf unser Gewissen ausübt. Wer qua Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft Rechte hat, ist selbst auch Opfer einer bestimmten phänomenologischen Gewalt, die die eigene Wahrnehmung als Rechtssubjekt beeinflusst. Die Rechtlosen sind für sie schlicht aus der Realität als Rechtssubjekt gelöscht.51 die Rechtlosen ausschließt, schreibt ihnen die Fähigkeit, Rechte zu haben, gar nicht erst zu. 50 Hier scheint Arendt das Konzept des Gewissens zu antizipieren, wie sie es in ihrem berühmten Kapitel »Zwei in Einem« darstellt: »Denkend sind wir nicht nur Einer, sondern Zwei in Einem«. Dort beschreibt sie, wie Menschen ohne Gewissen »mit sich selbst leben« können, gerade weil sie »gar nicht recht lebendig« sind (Arendt, Leben des Geistes, S. 189). 51 In Revolution erläutert Arendt die hier wirkende phänomenologische Operation eindrücklich am Beispiel der Sklaverei in den Anfängen der Vereinigten Staaten. Die Finsternis, in der die Sklaven lebten, sei »noch um einige Grade schwärzer als die Finsternis der Armut und des Elends. Nicht der arme Mann, wie [John] Adams meinte, sondern der schwarze Sklave war schlechterdings ›unsichtbar‹, wurde immer und von allen übersehen« (S. 90). Mochte der Handlungsspielraum armer Weißer auch auf die Wahl reicherer politischer Akteure beschränkt sein, die sich dann (zumindest im Prinzip) für ihre Interessen einsetzten, so galten die schwarzen Sklaven schlicht nicht als Subjekte mit Wünschen oder Interessen, ganz zu schweigen von Meinungen, die politisch vertreten werden konnten. Der Bezug zur Sklaverei ist nicht so unmotiviert, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. In ihrer Beschreibung der Tragödie der Rechtlosen in Kapitel 9 von Elemente und Ursprünge ging Arendt bereits auf die grundlegende Vergleichbarkeit des Status von Skla-

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Durch ihre Unsichtbarkeit wird es für die Rechtlosen besonders schwer, ihr Recht, Rechte zu haben, einzufordern. Im Grunde ist das nie einfach, denn Rechte können zwar, wie Arendt in ihrer Kritik an den Menschenrechten darlegt, im Besitz einzelner Menschen sein, aber sie stehen immer auch in Beziehung zu anderen Menschen: Damit jemand auch nur ein einziges Recht für sich beanspruchen kann, müssen andere, in ein politisches Gemeinwesen eingebundene Menschen dieses Recht anerkennen, respektieren und durchsetzen.52 Um das Recht auf Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zu erwerben, reicht es also nicht aus zu glauben, man habe dieses Recht, auch die jeweilige Gemeinschaft muss das glauben. Wer hingegen bereits Mitglied eines politischen Gemeinwesens ist und ein bestimmtes bürgerliches, politisches oder gesellschaftliches Recht einfordert, tut dies als ein Individuum, das bereits grundsätzlich als Rechtsträger anerkannt ist. Wenn hingegen aus politischen Gemeinwesen Ausgeschlossene das Recht auf Mitgliedschaft in einer bestimmten Gemeinschaft einfordern, gilt ihre Möglichkeit, überhaupt Rechtsträger zu sein, nicht nur nicht als selbstverständlich, sondern sie steht ja gerade zur Debatte. Denn diese Ausgegrenzten sind in den Auven und Staatenlosen ein (S. 463). Eines sollte ich noch anfügen: Arendt glaubt nicht, dass phänomenologische Gewalt bewirken kann, dass Menschen vollständig oder für immer aus dem Gemeinwesen verschwinden. Diese Erkenntnis schlug sich im Fall der Schwarzen in den Vereinigten Staaten bereits in ihrer Eingliederung in das republikanische Staatswesen des Landes nach dem Sezessionskrieg nieder, deren Defizite sie in Ziviler Ungehorsam diskutiert (S. 283–321). 52 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 451–452, S. 468.

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gen der jeweiligen politischen Gemeinschaft eben keine Rechtssubjekte. Wer also aus dieser Position heraus das Recht, Rechte zu haben, einfordert, tut das aus einer höchst prekären Position heraus. Denn die Gemeinschaft, an die die Einforderung dieses Rechts gerichtet ist, hat ein solches Vorbringen womöglich gar nicht auf dem politischen Radar. Es mag ihr merkwürdig anmuten, vielleicht sogar unverständlich sein. Und man kann verstehen, warum. Wenn die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft die Voraussetzung dafür ist, dass man überhaupt Rechte hat, wie kann dann das Recht auf Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft von jemandem eingeklagt werden, der nicht bereits dazugehört? Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg. Der Anspruch der Rechtlosen auf das Recht, Rechte zu haben, muss vor dem Hintergrund der Annahme artikuliert werden, dass die Betreffenden keine Rechtssubjekte sind. Oft wird argumentiert, nach Arendts Prämisse sei die Durchsetzung des Rechts, Rechte zu haben, für die Rechtlosen nicht nur schwierig, sondern unmöglich. In seinem vielbeachteten Beitrag Wer ist das Subjekt der Menschenrechte? legte Jacques Rancière 2004 eine maßgebliche Version dieser These vor. Arendt begreife die fundamentale Rechtlosigkeit als einen Zustand, der politisch weder erklärt noch bestritten werden könne. Die Wurzel des Problems liege im strikten Gegensatz zwischen der öffentlichen Sphäre der Politik und der privaten Sphäre des nackten Lebens, in das die Rechtlosen geworfen seien. Rancière sieht hier eine »Falle« und attestiert Arendt, den Menschenrechten einen »Riegel« vorgeschoben zu haben. Die einzigen Rechte, die es für die Rechtlosen gebe, seien die leeren Rechte derjeni-

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gen, die keine Rechte haben, die schiere Verhöhnung des Rechts.53 Einige Jahre vor der Veröffentlichung von Rancières Aufsatz war Bonnie Honig in ihrer brillanten Interpretation von Arendts Formulierung diesem Argument zuvorgekommen: Zwar bestehe Arendt auf der Notwendigkeit, die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem beizubehalten, doch könnten die Prämissen, durch die es zulässig wurde, bestimmte Menschen auf die Sphäre des Privaten zu beschränken, jederzeit zum Gegenstand politischer Debatten werden. Der Schlüssel liege hier in Arendts Verständnis von Politik als performativem Handeln. Das ermögliche es, die Ausgrenzung von Menschen aus dem öffentlichen Bereich nicht als ontologisch gegeben, sondern vielmehr als Folgen des Handelns Einzelner und der gesellschaftlichen Institutionen zu betrachten. Gerade der Anschein des ontologisch Gegebenen bei der Ausgrenzung von Menschen aus der Sphäre des Öffent53 Rancière, Wer ist das Subjekt der Menschenrechte?, S. 480–481. Dass Rancière den alten Vorwurf wieder aufgreift, Arendt errichte eine unüberwindbare Mauer zwischen dem Politischen und dem Privaten und schließe damit bestimmte Gruppen von der Teilhabe an der Gestaltung der öffentlichen Belange aus, ist möglicherweise der Dominanz einer konservativen Auslegung Arendts in der französischen Philosophie der 1980er Jahre geschuldet. Siehe Schaap, Enacting the Right, S. 22–45. Doch drängt sich bei Rancières Behauptung eines strikten unversöhnlichen Gegensatzes zwischen der öffentlichen Sphäre der Politik und der privaten Sphäre des nackten Lebens der Gedanke auf, dass er damit selbst eine Mauer zu errichten sucht zwischen Arendts Meinung, wie die Rechtlosen ihre Rechte einfordern, und seinem eigenen Standpunkt. Dass er jeden Verweis auf das »Recht, Rechte zu haben« unterlässt, scheint diesen Gedanken noch plausibler zu machen.

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lichen könne, so Honigs geistreicher Vorschlag, als Anregung verstanden werden, unsere Prämissen zu hinterfragen, anzuzweifeln und auch zu ändern, um die Möglichkeit der Gerechtigkeit auszuloten. Es gehe nicht darum, dass alles politisch ist, sondern vielmehr darum, dass nichts ontologisch vor der Politisierung geschützt ist, dass nichts zwangsläufig oder naturbedingt oder ontologisch nicht-politisch ist.54 Da die Trennlinie zwischen Privatem und Öffentlichem in etwa auch den Unterschied zwischen rechtlosen Individuen und Rechtssubjekten markiert, scheint mir Honig zum Verständnis dafür beizutragen, dass der Ausschluss von Individuen aus dem politischen Gemeinwesen für Arendt grundsätzlich immer politisch anfechtbar ist. Setzen wir einmal voraus, dass die Prämissen, auf die sich ein solcher Akt der Ausgrenzung stützt, nicht etwas Gegebenes sind, sondern das Resultat menschlichen Handelns und damit konstitutiv anfecht- und wandelbar. Schon allein die Formulierung vom »Recht, Rechte zu haben« lädt dazu ein, die Ausgrenzung bestimmter Menschen aus dem politischen Gemeinwesen infrage zu stellen. Denn sie bedeutet nichts anderes als ein Recht, das diejenigen beanspruchen, die nach herrschender Meinung keine Rechte haben, und zwar das Recht auf Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft, in der sie dann Rechte besitzen. Wer dieses Recht einfordert, kann nicht automatisch auf Unterstützung durch die Institutionen der entsprechenden Gemeinschaft zählen, sondern muss sogar damit rechnen, von der dominanten Kultur der Gemeinschaft entschieden in Frage gestellt zu werden. Das zeigt jedoch 54 Honig, Political Theory, S. 121–122.

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nur umso deutlicher, dass das Recht, Rechte zu haben, aktiv eingeklagt werden muss, und zwar ungeachtet der Realität, in der die Rechte der Einfordernden nicht anerkannt werden. In diesem Sinne ist das Recht, Rechte zu haben, dem etablierten Recht vorgelagert, denn es wird im Vorgriff auf noch zu erlassende Gesetze und Normen eingefordert, die es dann legitimieren.55 Die Erhebung dieses Anspruchs zieht zugleich die existierenden Gesetze und Normen in Zweifel, die regeln, wer Mitglied eines gegebenen politischen Körpers ist und wer nicht. Sie ist geradezu eine Aufforderung, die scheinbar so feststehenden Gesetze und Normen noch einmal zu hinterfragen. Eines der zentralen Merkmale des »Rechts, Rechte zu haben« scheint mir zu sein, dass es die politischen Gemeinschaften zum Nachdenken bringt, ob tatsächlich alle als Mitglieder einbezogen sind, die einen legitimen Anspruch auf Zugehörigkeit haben. Es verlangt also von uns, dort nach Kandidat_innen für die Mitgliedschaft suchen, wo wir sie am wenigsten erwarten, auch unter denen, die glaubwürdigen Beobachter_innen zufolge nicht den Anschein erwecken, als könnten sie Mitglieder unserer Gemeinschaften werden.56 Kurzum, mit der Positionierung des »Rechts, Rechte zu haben« als Recht für diejenigen, die nicht dazu55 Dieser Punkt wird von Arendts aufmerksamsten Leserinnen und Lesern sehr wohl verstanden. Siehe Honig, Democracy and the Foreigner, S. 61; Butler, Anmerkungen zu einer performativen Theorie, S. 109; Balibar, Equaliberty, S. 171–172; Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights. 56 Honig sieht es ähnlich, wenn sie Arendts Gedanken als wiederholte polemische und politische Aufforderung bezeichnet, nach einer Politik zu streben, die das von Minderheiten, Staatenlosen, Machtlosen und Glücklosen erfahrene Paradox zum Ausdruck bringt und es angeht (Honig, Kosmopolitismus und Demokratie, S. 91–110).

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gehören, lässt Arendt die jenseits der Grenzen des politischen Gemeinwesens Stehenden nun gerade nicht im Stich. Sie stellt sie ins Zentrum der Politik. Für Arendt (und praktisch für ihre gesamte Leserschaft) wird die zentripetale Kraft der Idee von einem Recht, Rechte zu haben, nirgendwo dringender benötigt als bei denjenigen, die sie als am tiefsten in der vollständigen Rechtlosigkeit versunken ausmacht, nämlich den Geflüchteten. Flüchtlinge, darunter auch Arendt selbst, tauchten in Europa erstmals nach dem Ersten Weltkrieg in großer Zahl auf. Millionen von Menschen, die nicht mehr damit rechnen konnten, dass ihre Regierung ihnen die Rechte sicherte, die Staatsbürger normalerweise besitzen, verließen ihre Heimat und suchten Zuflucht in einem anderen Land. Oft waren diese Flüchtlinge auch staatenlos, hatten also im Rahmen von Ausbürgerungen und Gesetzen zum Entzug der Staatsbürgerschaft, wie sie zahlreiche Regierungen europaweit anwendeten, jede offizielle Staatsangehörigkeit verloren.57 Diese Staatenlosen waren jedoch nur die extremsten Beispiele für Menschen, die (unabhängig von ihrem formalen Rechtsstatus) in das Flüchtlingsdasein gestoßen wurden; da sie keine Regierung mehr hatten, die gewillt und in der Lage war, ihre Rechte durchzusetzen, waren sie nun völlig rechtlos. Ein praktisches Beispiel dafür, dass Flüchtlinge nicht als Rechtssubjekte gelten, lieferten die Nationalsozialisten, als sie ihre ideologische Prämisse, derzufolge Juden (die einen erheblichen Anteil an den Flüchtlingen ausmachten) überhaupt keine Rechte hatten, in die Tat umsetzten. Doch auch die Regierungen anderer Nationalstaaten be57 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 436–440.

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kräftigten die Rechtlosigkeit der Flüchtlinge, indem sie wenig taten, um die Gefahr abzuwenden, in der sie sich befanden. Das Elend der Flüchtlinge war also nicht nur, dass sie aus ihrem Heimatland verstoßen wurden, sondern auch, dass sie in keinem anderen Land willkommen waren. In Arendts Worten lag ihr Unglück zum einen im »Verlust der Heimat« und zum anderen in der »Unmöglichkeit, eine neue zu finden«.58 Die gegenwärtige weltweite Flüchtlingskrise, die noch größer ist als die von Arendt und von Millionen anderen Menschen erlebte, lässt nicht allzu viel Hoffnung aufkommen, dass die Nationalstaaten gemeinsam eine wirksame Lösung für das Problem der radikalen Ausgrenzung von Geflüchteten finden. Das »Recht, Rechte zu haben« bietet sich jedoch als Grundelement für die dazu erforderliche tiefgreifende Umgestaltung unserer politischen Gemeinschaften an. Der Gedanke Arendts sollte nicht nur als theoretische Geste verstanden werden, sondern auch als aktiver Eingriff zur Verbesserung der Lage der Flüchtlinge, indem man den Blick auf die Voraussetzungen richtet, die ihren Ausschluss aus dem politischen Gemeinwesen ermöglichen, und sie kritisch hinterfragt. Zu diesen Voraussetzungen gehört an erster Stelle das von den Nationalstaaten beanspruchte souveräne Recht, zu bestimmen, wer ihre Staatsbürger_innen und dauerhaft Aufenthaltsberechtigten sind. Dieses Recht wird gewöhnlich mit den folgenden Worten umschrieben: »Wir haben das Recht, zu entscheiden, mit wem wir leben wollen.«59 Das arrogante 58 Ebd., S. 457. 59 So formulierte die ungarische Regierung ihren Standpunkt im Vorfeld des landesweiten Referendums von 2016 über die von der Euro-

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Bestehen auf der Absolutheit dieses Rechts seitens der Nationalstaaten veranlasst Arendt, ein Gegen-Recht zu postulieren: das Recht von Nicht-Staatsbürger_innen auf Mitgliedschaft in einem funktionierenden politischen Gemeinwesen. Der Erwerb dieses Rechts wiegt umso schwerer, wenn man berücksichtigt, dass das von den Nationalstaaten beanspruchte Recht, zu bestimmen, wer als Rechtssubjekt anerkannt wird und wer nicht, in seiner konkreten Ausgestaltung häufig dem Einfluss von Ideologien unterworfen ist, die nach einer ethnisch und häufig auch rassisch homogenen Nation streben.60 Kurzum, das Recht, Rechte zu haben, macht es möglich, bestimmte Prämissen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft infrage zu stellen, deren scheinbare Etabliertheit vergessen macht, dass auch sie irgendwann aufgestellt wurden und durchaus revidiert werden können. Und wir müssen alles Erdenkliche tun, um das Arendts Wendung zugrunde liegende Denken zu mobilisieren, und fordern, dass alle päischen Union beschlossene Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten nach festen Quoten. Zwar ist Ungarn sicher ein Extrembeispiel für das offene Ausleben xenophobischer und rassistischer Einstellungen, die der nationalistischen Haltung zugrunde liegen, doch zeigt sich hier die in praktisch allen Ländern zu findende Denkweise. 60 Nach Arendts Ansicht haben der Nationalismus und der Rassismus so viel Druck auf die rechtlichen Institutionen des Staates ausgeübt, dass dieser seine traditionelle Aufgabe, »derzufolge die höchste Funktion des Staates der gesetzliche Schutz aller Einwohner des Territoriums ist, ohne Rücksicht auf deren nationale Zugehörigkeit«, aufgab und stattdessen verlangte, »daß nur diejenigen als vollgültige Bürger in den Staatsverband aufgenommen werden sollten, die durch Abstammung und Geburt dem […] Körper der Nation zugehörten« (Elemente und Ursprünge, S. 370; vgl. auch S. 433–434).

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Menschen, die sich in einer Situation der Rechtlosigkeit befinden, insbesondere Flüchtlinge, ihren Platz in politischen Gemeinwesen finden, die so umgestaltet sind, dass nicht durch die Politik wieder rechtlose Menschen geschaffen werden können. Man möchte meinen, mit der Ausweitung der Anerkennung als Rechtssubjekt auf alle Menschen sei die Zentripetalkraft des Arendt’schen Gedankens erschöpft. Doch die ausdrücklich inklusive Geste des Rechts, Rechte zu haben, insbesondere im Hinblick auf Arendts Kritik an den Menschenrechten als artverwandt mit einer so offensichtlich ausgrenzenden Ideologie wie dem Rassismus, lässt die Frage plausibel erscheinen, ob es unter den Bewohner_innen der Erde nicht noch weitere Träger des Rechts, Rechte zu haben, gibt, die nicht zur Gattung Homo sapiens zählen. An der Schnittstelle zwischen politischer Theorie und Zoologie findet bereits ein lebhafter wissenschaftlicher Diskurs statt, in dessen Rahmen etliche Prämissen zur Frage, wer als zoon politikon zu gelten hat, neu verhandelt werden.61 Ausgangspunkt dieser Debatte ist zwar die Annahme, dass Tiere Mitgeschöpfe sind und moralische Ansprüche an uns haben (ein Argument, das so häufig vorgebracht wurde, dass ich dem nichts mehr hinzuzufügen habe), der Schwerpunkt liegt hier aber weniger auf moralischen, sondern auf politischen Fragestellungen.62 Unter 61 Wichtige Beiträge zu dieser Diskussion liefern Donaldson / Kymlicka, Zoopolis; Garner / O’Sullivan, Animal Rights; Garner, Theory of Justice for Animals; Cochrane, Animals and Political Theory. 62 Ein breites Spektrum an Argumenten zu moralischen und juristischen Fragestellungen findet sich u. a. bei Sunstein / Nussbaum, Animal Rights. Besonders relevant ist hier für uns Cora Diamonds Beitrag Fleisch essen und Menschen essen (S. 432–456). Ihre Kritik an

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anderem wird erörtert, ob es nicht zumindest einige Tiere gibt, die einen legitimen Anspruch auf die Möglichkeit der Gerechtigkeit haben, die durch Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen entsteht. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Annahme, dass nur Menschen Subjekte des Rechts, Rechte zu haben, sein können, stellt sich genau diese Frage: Gibt es nicht auch Lebewesen, die keine Menschen sind, aber sehr wohl Träger des Rechts, Rechte zu haben? Natürlich mag allein der Gedanke, dass Tiere Anspruch auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen haben könnten, unsinnig erscheinen. Und sicherlich würde sich Arendt, Humanistin par ecxellence, deren einzige direkte Gegenüberstellung von Mensch und Tier von schwarzem Humor gekennzeichnet ist, sehr gegen ein solches Ansinnen sträuben.63 Doch wir müssen uns nur an Arendts Darstellung der Auswirkungen fundamentaler Rechtlosigkeit auf diejenigen erinnern, die Mitglieder politischer Gemeinwesen sind, um zu erkennen, dass jegliche Ungläubigkeit oder Apathie, die uns beim Gedanken an die Rechtsträgerschaft von Tieren überkommen mag, vielleicht schon die erste phänomenologische Folge der fundamentalen Rechtlosigkeit ist, in die wir alle Lebewesen stoßen. Das heißt, unser Unverständnis und unser (durchaus ehrlicher) Widerstand gegen die Vorstellung, dass Tiere politische Ansprüche gegen uns geltend machen der traditionell biologischen Grundlage der Auseinandersetzung um Tierrechte und ihr Ansatz zu einem Verständnis von Tieren als Mitgeschöpfe erinnert an Arendts Kritik an den Menschenrechten als Biopolitik und ihr Bekenntnis zum Recht, Rechte zu haben. 63 Arendt, Origins, S. 430, deutsche Fassung: Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Über den Totalitarismus, S. 17.

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könnten, mag aus genau demselben Stoff sein wie die aus biopolitischen Fantasiegebilden wie dem Rassismus entspringende Taubheit und Blindheit gegenüber den Rechtlosen. Wenn wir aber geltend machen wollen, dass die zentripetale, inklusive Kraft des Gedankens an ein »Recht, Rechte zu haben« an der Grenze der Spezies Homo sapiens haltmacht, dann müssen wir schon begründen, warum diese Grenze weniger willkürlich sein soll als die durch nationalistisches oder rassistisches Denken errichteten Schranken. Denn die Aussage, das Recht, Rechte zu haben, stehe allen zu, die nicht zu einem politischen Gemeinwesen gehören, ist nicht identisch mit der Aussage, dieses Recht gehöre allen Menschen. Unsere Aversion gegenüber dem Gedanken, Tiere als Träger des Rechts, Rechte zu haben, anzuerkennen, ist vielleicht noch keine Garantie dafür, dass wir es hier mit einer Geltendmachung dieses Rechts wie bei jedem anderen zu tun haben, aber zumindest ein Hinweis darauf, dass es so sein könnte. Es lässt sich sogar die These aufstellen, dass viele Tiere als paradigmatisches Beispiel für diejenigen stehen, die in völlige Rechtlosigkeit versunken sind. Arendt selbst widmet sich nicht explizit diesem Thema. Doch sie illustriert die Erfahrung der Ausgrenzung aus dem politischen Gemeinwesen häufig mit Tiervergleichen. Man denke nur an Aussagen wie die, dass die »sentimental humanitäre Sprache« verschiedener Vereine zum Schutz der Menschenrechte sich »oft nur um ein Geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied«, oder dass sich die Chancen für einen berühmten Flüchtling unendlich verbessern, so wie »ein Hund mit Halsband und Namen eine bessere Chance hat als ein Straßenhund, der nichts ist als ein Hund überhaupt«, oder dass die »Bewe-

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gungsfreiheit« eines Flüchtlings sich auf kein Aufenthaltsrecht gründet und deshalb »mit der Hasenfreiheit zu Zeiten der Jagd eine verzweifelte Ähnlichkeit« hat.64 Die erklärte Funktion dieser Tiermetaphorik, die Misere der aus dem politischen Gemeinwesen ausgeschlossenen Menschen zu illustrieren, kann nur unter Arendts eigener stillschweigenden Annahme gelingen, dass das Elend der Rechtlosigkeit seinen exemplarischen Ausdruck in genau der Situation findet, die den Tieren durch unser politisches Gemeinwesen aufgezwungen wird.65 Domestizierte Tiere etwa können durchaus unter uns ja gelegentlich sogar mit uns leben, doch keines von ihnen genießt den rechtlichen Status, den Menschen als Bürger_innen eines Nationalstaates besitzen. Folglich wird Tieren in keinem Land der Erde auch nur ein einziges Recht zuerkannt. Zwar erlegen die Tierschutzgesetze und -verordnungen den Menschen minimale Beschränkungen bei der Behandlung von Tieren auf, doch findet sich darin nicht ausdrücklich die Verpflichtung, die Rechte der Tiere zu respektieren. Jacques Derrida formuliert das sehr prägnant: »Man kann ein Tier quälen, man kann es leiden lassen; niemals wird man jedoch im eigentlichen Sinne behaupten, dass es sich um ein Subjekt handelt, dem man Schaden zugefügt hat, um das Opfer einer Gewalttat, eines gewaltsamen Todes, einer Vergewaltigung oder eines Raubs, eines Meineids.«66 64 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 453, S. 449, S. 461. 65 Auch der Name des größten informellen Flüchtlingscamps in Westeuropa, des »Dschungels von Calais«, spricht hier Bände. 66 Derrida, Gesetzeskraft, S. 37. Gary Francione merkt in Animals, Property, and the Law an, dass im Rahmen derjenigen Gesetze, die die meisten Tiere betreffen, das einzige ihnen zugestandene »Recht« in

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Tiere sind nicht nur vor dem Gesetz nicht gleich, sie befinden sich schlicht außerhalb des Gesetzesrahmens, denn sie haben nicht etwa weniger Rechte als die menschlichen Mitglieder politischer Gemeinschaften, sondern überhaupt keine. Zurück zum Kern unserer Frage: Ich kann in Arendts Schriften keine zwingenden Gründe erkennen, warum nicht auch Tiere, zumindestens einige von ihnen, als Träger des Rechts, Rechte zu haben, anerkannt werden können. Ehe den Leserinnen und Lesern nun Szenarien à la Planet der Affen vors innere Auge treten, sei nochmals klargestellt: ein Postulat, das Tieren das Recht auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen zuschreibt, enthält keinerlei inhaltliche Aussage zu den spezifischen Rechten, die ihnen als Mitglieder zustünden. Hier geht es einzig darum, ob Tiere Träger eines Rechts auf Mitgliedschaft in einem politischen Gemeinwesen sein können, in dessen Rahmen sie dann konkrete Rechte besitzen könnten, wie immer diese aussehen mögen. Klar scheint jedenfalls, dass die Nicht-Zugehörigkeit zur Gattung Mensch kein legitimer Grund dafür sein kann, Tiere von der Trägerschaft des Rechts, Rechte zu haben, auszuschließen. Denn dieses Recht ist, wie alle Rechte, kein inhärentes Merkmal menschlicher Wesen, sondern vielmehr das Resultat des performativen Akts, ein Recht einzufordern, und der Institutionen, die für die Gewährung der Staatsbürgerschaft zuständig sind. Man mag einwenden, dass der Anforderung besteht, dass relativ wichtige Interessen (wie das, nicht getötet zu werden) gegen weniger wichtige Interessen der Besitzer_innen abzuwägen sind (wie das auf finanziellen Gewinn). Und es erscheint doch sehr fragwürdig, ob das wirklich ein Recht ist.

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Tiere weder die Handlung des Einforderns vollziehen noch aktiv zur Schaffung eines politischen Gemeinwesens beitragen können, da ihnen die menschlichen Fähigkeiten der Sprache und des Handelns fehlen.67 Doch hat Tobin Siebers bereits dargelegt, warum das Fehlen von gemeinhin als Standard anerkannten sprachlichen Fähigkeiten nicht als Grund dafür herangezogen werden kann, Menschen mit einer Behinderung dieses Recht abzusprechen.68 Genauso wenig scheint es nachvollziehbar, warum die Unfähigkeit, menschliche Sprache zu produzieren, einen legitimen Grund liefern sollte, Tieren dieses Recht zu verwehren.69 Während Arendt also offenbar das Recht, 67 Hier sei angefügt, dass selbst diese Prämisse von politischen Denkern auf den Prüfstand gestellt wird, die sich mit der Frage der Tierrechte befassen. Siehe insbesondere Donaldson / Kymlicka, Zoopolis, S. 229–269. 68 Siebers, Disability. Insgesamt scheint mir bei diesem Einwand eine Verwechslung zweier Akteure vorzuliegen: Es gibt einen die Handlung des Einforderns Vollziehenden auf der einen und einen Träger dieser Rechte auf der anderen Seite, beziehungsweise es gibt denjenigen, der zum Entstehen einer politischen Vereinbarung beiträgt, und denjenigen, der kraft einer solchen Vereinbarung Mitglied der politischen Körperschaft ist. Frank I. Michelman beschreibt die beiden Sachverhalte als den Prozess der Herstellung des Rechts, Rechte zu haben, und den Prozess der Verteilung dieser Rechte (Michelman, Parsing, S. 200–208). Eine elaboriertere Version dieses Einwands liefern Étienne Balibar (Equaliberty, S. 173) und Anne Phillips (Politics of the Human, S. 70, 79), denen zufolge die performative Logik, durch die die Herstellung des Rechts, Rechte zu haben, seine Struktur erhält, unmittelbare Manifestation der menschlichen Fähigkeiten ist. Diese These gründet allerdings auf einem reduktiven Modell der Performativität, bei der alles unberücksichtigt bleibt, was Derrida und de Man zum Thema beigetragen haben. 69 Aus diesem Grund ist auch der Verfechter der Tiergerechtigkeit Cary Wolfe etwas vorschnell mit seiner Bemerkung, für Arendt könnten

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Rechte zu haben, auf alle Mitglieder der Gattung Mensch, aber eben nur auf diese, angewandt wissen wollte, stellen Tiere doch ein Musterbeispiel für Individuen dar, die das Recht besitzen, das alle anderen Rechte möglich macht.

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Nicht-Menschenrechte In diesem Kapitel wurden Denkversuche zu folgender Fragestellung unternommen: Wer sind die Subjekte des Rechts, Rechte zu haben? Der gedankliche Weg hat uns an einen Ort geführt, den wohl wenige erwartet hätten, an einen Ort, der vielen Arendtianern und Verfechter_innen einer radikalen demokratischen Politik befremdlich vorkommen mag. Dieser Weg erscheint jedoch nachvollziehbarer, wenn man den Arendtschen Gedanken vom »Recht, Rechte zu haben« als Teil ihrer neuen, originellen Version des bekannten Narrativs der politischen Theorie über die Bildung von politischen Gemeinwesen aus dem Naturzustand heraus betrachtet. In Elemente und Ursprünge des Totalitarismus sieht Arendt in diesem Naturzustand (traditionell angenommen als der Zustand, in dem die Menschen vor der Errichtung politischer Gemeinschaften lebten) eine Möglichkeit, den Zustand zu beschreiben, in dem sich Menschen befinden, die aus einem politischen Gemeinwesen ausgeschlossen sind: »Innerhalb der zivilisierten Welt, in der wir normalerweise leben und die sich in unserem Jahrhundert über die ganze Erde erstreckt hat, ist der Naturzustand, Individuen nur dann das Recht, Rechte zu haben, besitzen, wenn sie über die menschlichen Fähigkeiten der Sprache und des Sprechens verfügen (Wolfe, Before the Law, S. 7).

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der vormals von wilden Völkerschaften repräsentiert wurde, in den Staaten- und Rechtlosen verkörpert, die, indem sie aus allen menschlichen Gemeinschaften herausgeschleudert wurden, auf ihre naturhafte Gegebenheit und nur auf sie zurückgeworfen sind.«70 Während die politischen Theoretiker der frühen Neuzeit im Allgemeinen einräumten, dass der Naturzustand eine Fiktion ist, wusste Arendt, dass er in unserer Zeit für Millionen von Menschen nur allzu real ist. Ihre Analyse des Elends der völligen Rechtlosigkeit hat indes die gleiche Funktion wie für jene früheren politischen Denker der Naturzustand; sie diente als Plattform, um über die Prinzipien nachzudenken, auf deren Grundlage politische Gemeinwesen gebildet werden sollten, und dabei auch die Möglichkeit der Schaffung anderer Gemeinwesen als der gegenwärtig existierenden in Betracht zu ziehen. In den »Concluding Remarks« der ersten Auflage von The Origins of Totalitarianism erklärt sie offen, dass die Probleme der Rechtlosigkeit nur im Rahmen einer umfassenden, ja revolutionären Umgestaltung unserer politischen Gemeinwesen zu lösen sind: »Nur ein bewußt geplanter Anfang der Geschichte, nur ein bewußt vererbtes neues politisches Gemeinwesen, wird schließlich in der Lage sein, jene wieder zu integrieren, die in immer größerer Zahl aus der Menschheit vertrieben wurden und von den Bedingungen, unter denen Menschen bisher gelebt haben, abgeschnitten sind.«71 Mit ihrem Gedanken vom Recht, 70 Arendt, Elemente und Ursprünge. S. 469. 71 Dies., Origins, S. 436, vgl. auch S. 439, deutsche Fassung: HannahArendt-Institut für Totalitarismusforschung, Über den Totalitarismus, S. 30.

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Rechte zu haben, als dem allerersten Recht, das die aus der politischen Gemeinschaft Ausgeschlossenen benötigen, hat Arendt einen fundamentalen politischen Grundsatz artikuliert, der die Basis dieser radikalen Transformation unserer Gemeinwesen bilden sollte.72 Uns bleibt die Beantwortung der Frage überlassen, welche Individuen ein Recht auf die Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft haben sollen, in der sie dann weitere Rechte besitzen können. Ich habe in meinem Beitrag keine Gründe dafür geliefert, warum Tiere in das fortlaufende demokratische Projekt einbezogen werden sollten. Mit der Fokussierung auf die formalen Dimensionen der Trägerschaft des Rechts, Rechte zu haben, weise ich lediglich darauf hin, dass es möglich wäre. Doch könnte Arendts Weigerung, das Subjekt in ihrem Gedanken des »Rechts, Rechte zu haben« zu benennen, nicht auch die Basis für ein radikaldemokratisches politisches Projekt bieten, das sich nicht auf die kategorische Ausgrenzung derjenigen Geschöpfe gründet, mit denen wir die Erde teilen – ob wir es wollen oder nicht?

72 Das Recht, Rechte zu haben, ist das »neue Gesetz auf Erden«, das Arendt im Vorwort zu Elemente und Ursprünge fordert (S. 14).

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Nachwort(e) I Astra Taylor

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Zwei Formen der Rechtlosigkeit Bei den Olympischen Spielen von Rio im Jahr 2016 trat erstmals ein Team aus Flüchtlingen als eigene Mannschaft an. Zehn staatenlose Athletinnen und Athleten – Männer und Frauen, die aus der Demokratischen Republik Kongo, dem Südsudan, aus Syrien und Äthiopien hatten fliehen müssen – nahmen neben Tausenden anderen, die ihre Herkunftsländer repräsentierten, an den Sportwettkämpfen teil. »Da sie zu keinem Nationalteam gehören, hinter keiner Flagge marschieren können, keine Nationalhymne für sie gespielt werden kann«, sagte Thomas Bach, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees in einer Presseerklärung, »werden diese Flüchtlinge bei den Olympischen Spielen mit der Olympischen Flagge und der Olympischen Hymne willkommen geheißen. Das wird ein Symbol der Hoffnung sein für alle Flüchtlinge in der Welt. Nun wird das Bewusstsein für das Ausmaß der Krise weltweit geschärft.«1 Unmittelbar vor Beginn der Spiele wünschte Papst Franziskus dem Flüchtlingsteam in einem persönlichen Brief viel Erfolg. Ihr Mut und ihre Kraft sollten in den Wettkämpfen einen »Schrei nach Brüderlichkeit [solidarity] und Frieden« vernehmen lassen.2 Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen ist nahezu ein Prozent der Bevölkerung unseres Planeten – 65,3 Millionen Menschen – ent1 2

International Olympic Committee, Refugee Olympic Team to Shine Spotlight on Worldwide Refugee Crisis. Saul, Pope Francis Writes Letter to Refugee Olympic Team.

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weder »asylsuchend, binnenvertrieben oder Flüchtling«.3 Doch selbst diese erschütternde Zahl gibt das gesamte Ausmaß der heutigen Mobilität nicht wirklich wieder: Fast 250 Millionen Menschen sind internationale Migrant_innen und leben außerhalb der Grenzen ihres Herkunftslandes. (In der Folge wird ständig darum gerungen, eine klare Abgrenzung zwischen »legitimen« Asylsuchenden und »opportunistischen« Wirtschaftsmigrant_innen auf der Suche nach einem besseren Leben zu ziehen; dabei ist eine solche Unterscheidung nur schwer aufrechtzuerhalten, denn Armut mag zwar weniger spektakulär mit Gewalt und anderen Formen der Verfolgung verbunden, kann letztlich aber genauso tödlich sein.)4 Die nahezu globale Begeisterung für die Flüchtlings-Olympionik_innen stellt ein Extrem der bipolaren Reaktion unserer Kultur auf die zunehmende Präsenz von Menschen im Exil dar. Die Presse berichtete ausführlich über die einzelnen Mitglieder des Flüchtlingsteams: wie sie einem Bürgerkrieg entkommen waren, Familie und Freunde verloren hatten, fast im Mittelmeer ertrunken wären und welche Widrig3 4

UNHCR , Flucht und Vertreibung 2015 drastisch gestiegen.

Didier Fassin widmet sich diesem Thema wortgewandt in seinem Essay Vom Rechtsanspruch zum Gunsterweis (S. 62–78). Ich selbst schrieb in meinem Essay Our Friends Who Live Across the Sea: »Dieser Wandel vollzog sich keineswegs spontan. Nach dem Zweiten Weltkrieg brauchte man Arbeitskräfte zum Wiederaufbau der europäischen Staaten, die bald darauf zu Akteur_innen des Kalten Kriegs wurden, so dass verschiedene Bevölkerungsgruppen in Westeuropa willkommen waren, zuerst wegen ihrer Arbeitskraft, später wegen ihrer symbolischen prodemokratischen bzw. antikommunistischen Bedeutung. Heute hingegen steigt die Arbeitslosigkeit, und die Angst vor der ›Roten Gefahr‹ wurde durch die Islamophobie abgelöst.«

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keiten sie hatten überwinden müssen, damit ihr Traum in Erfüllung ging. In den Schlagzeilen war vom »Herz und Seele« der Spiele die Rede, von einem »Anlass zur Freude« und von »Hoffnungsträgern«. Oft aber bricht sich in der Mainstream-Berichterstattung über die Flüchtlingskrise das andere Extrem Bahn: vom öffentlichen Rundfunk bis hin zur Website Breitbart werden vertriebene Bevölkerungsgruppen häufig klischeehaft als Bedrohung der eigenen Existenzgrundlage und des sozialen Zusammenhalts dargestellt, als potenzielle Terroristen, Vergewaltiger oder Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Rechte Politiker im In- und Ausland verwenden diese bigotten Darstellungen dazu, wirtschaftlich und sozial an den Rand gedrängte Wähler_innen mit hetzerischen, einwandererfeindlichen Parolen und dem Versprechen, man werde Mauern bauen und die Grenzen schließen, in ihren Bann zu ziehen. Was immer die Gründe für Entwurzelung sein mögen, heute gibt es mehr Vertriebene als nach dem Ersten Weltkrieg, als die Saat für Hannah Arendts Werk Elemente und Ursprünge des Totalitarismus gepflanzt wurde. Doch nicht nur die Flüchtlingskrise und die verstärkte Beachtung, die heute den verschiedenen Migrationsmustern geschenkt wird, machen Arendts Analyse aufs Neue relevant und diese Sammlung von Essays zeitgerecht. Auch ihre Überlegungen zum Imperialismus und zum Unterschied zwischen Staat und Nation werfen ein neues Licht auf die politische Dynamik, die in den USA wie in Europa das Geschehen zu beherrschen scheint: das Ringen zwischen dem kosmopolitisch-neoliberalen Kapitalismus und seinem ethno-nationalistischen Antagonisten, die beide nicht getrennt von dem jüngsten Zustrom an Flüchtlingen und Migrant_innen gesehen werden können. Wie Arendt wohl

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wusste, sind der Imperialismus, also das ungezügelte Streben nach Macht und Profit, und der Nativismus, die Erhebung des Ethnos über den Demos, zwei Seiten derselben Medaille, die gegenwärtig in einer vernichtenden Umarmung über unseren Planeten rollt. Betrachtet man das Wiedererstarken des Nativismus und das Aufkommen des Neoliberalismus durch die Linse von Arendts Hauptwerk, springen zwei neuartige Formen der Rechtlosigkeit ins Auge, deren Verknüpfungen sich nicht unmittelbar erschließen: die Rechtlosigkeit der Staatenlosen beziehungsweise der Menschen, die physisch vertrieben wurden, auf der einen Seite und die Rechtlosigkeit von Bürger_innen, von Individuen, die finanziell enteignet werden, weil ihnen eine aufsteigende globale Oligarchie ihre Grundrechte nimmt, auf der anderen. Unsere Zeit ist durch ein Paradox mit zwei Dimensionen gekennzeichnet: Heute gibt es transnationale und internationale Gesetze, Übereinkommen und Gerichte sowie Organisationen zum Schutz der grundlegenden Menschenrechte, und doch werden mehr Menschen als je zuvor durch Krieg und Elend vertrieben und so de facto zu Rechtlosen; und während es internationale und transnationale Gesetze, Übereinkommen, Gerichte und Organisationen gibt, die die Geld- und Handelspolitik bestimmen, finden sich doch immer mehr Menschen als Ausgeschlossene wieder, auch wenn sie in ihrem Heimatland leben und volle Bürgerrechte genießen; der Demos ist im supranationalen, von Technokrat_innen und Partikularinteressen dominierten Raum seines Rechts, Rechte zu haben, beraubt. Transnationale Institutionen, wie zum Beispiel die Welthandelsorganisation, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank, sowie der wachsende Einfluss

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multinationaler Konzerne (gerade im Finanzsektor) sorgen dafür, dass sich die Zentren der Macht immer weiter von den Menschen entfernen und dass es immer schwieriger wird, sie zur Verantwortung zu ziehen. »Das eigentliche Ziel imperialistischer Politik war die Ausdehnung des politischen Machtbereichs ohne eine ihr entsprechende politische Neugründung«5, schrieb Arendt, und in vielerlei Hinsicht ist das der transnationalen Elite von heute gelungen. Wie Arendt feststellte und Stephanie DeGooyer in ihren Ausführungen hervorhebt, wird das Recht, Rechte zu haben, nur ex post anerkannt, nachdem es bereits entzogen wurde. Heute befinden wir uns in einer vergleichbaren Situation, dafür spricht die Existenz von 250 Millionen Flüchtlingen und Migrant_innen und die zunehmende Verdrossenheit großer Teile der Bevölkerung der USA und Europas über entrückte Eliten und Regierungsstrukturen ohne Rechenschaftspflicht – eine populistische Strömung mit rechts- und linksgerichteten Varianten und einem Potenzial, das uns entweder weiter dem Ruin entgegen- oder auf einen Weg der Solidarität und einer möglichen Rettung führen kann. Vor diesem Hintergrund muss der Gedanke vom »Recht, Rechte zu haben« neu gelesen und gedacht werden. Damit er auch heute seine volle Wirkung entfalten kann, dürfen wir den Blick nicht nur auf die aktuelle Flüchtlingskrise richten, sondern müssen auch die zunehmende Enteignung und Entrechtung von Menschen unter dem Diktat einer transnationalen Oligarchie einbeziehen. 5

Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 234.

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Erst dann lassen sich die Zusammenhänge zwischen den humanitären und den finanziellen Katastrophen, zwischen der Explosion der Zahl von Asylsuchenden und der wirtschaftlichen Ungleichheit, die unsere Epoche bestimmen, besser verstehen. Vielleicht kann uns dieses Konzept auch dabei helfen, die Macht wieder an den Demos zurückzugeben, denn es hält uns vor Augen, dass wir, egal welche politischen Identitäten und Gemeinschaften wir schaffen wollen, die Grenzen erweitern und die soziale Inklusion vertiefen müssen. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Erweiterung und Beschneidung von Rechten Die Tragödie des Rechtlosen besteht nach Arendt darin, dass er »zu keiner irgendwie gearteten Gemeinschaft gehört«.6 Diese Tragödie scheint ein unlösbares Vexierspiel zu sein (wie können Menschen, die außerhalb jeglicher Gemeinschaft stehen, Zugang finden, wie können Rechtlose ihre Rechte durchsetzen?), und doch wurde das Recht auf Rechte schon viele Male erfolgreich errungen. Denn Rechte sind schließlich nicht etwas, was man entweder besitzt oder nicht (sie können, wie wir alle wissen, auch verletzt und beschnitten werden). Es sind Forderungen, mit denen wir etwas erwirken und verändern wollen, es sind rechtliche und moralische Instrumente, mit denen wir die Realität formen können. (Rechte können auch in eine neue Form gegossen werden, sie können, »reformiert«, umgewälzt und ganz neu erfunden werden.) Und sie erfordern nicht nur Denken, sondern auch Handeln, müssen nicht nur individuell erklärt, sondern auch gemeinsam, kooperativ durchgesetzt werden. Ein kurzer 6

Ebd., S. 460.

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Blick in die Geschichte zeigt, dass Rechte nur selten gegeben werden, in der Regel muss man sie sich nehmen, und häufig gegen erbitterten Widerstand. Im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gelang es verschiedenen unterdrückten Gruppen, sich Einlass in ein politisches Gemeinwesen zu verschaffen, das sie kategorisch ausgeschlossen hatte. Sklaven, freie schwarze Bürger_innen, Indigene, Frauen und Behinderte mussten alle um die Anerkennung als Mitglieder der mit Rechten ausgestatteten Gemeinschaft ringen. (Nicht menschliche Wesen könnten, so Alaistair Hunt, die nächsten sein, wenn menschliche Verbündete ihnen Unterstützung leisten.) Dieses Einfordern von Rechten gelang über politische Mobilisierung, über freiwillige Zusammenschlüsse und mit den Techniken des zivilen Ungehorsams, für den sich Arendt so eloquent aussprach. Wir verdanken es den dynamischen, zum Streit bereiten sozialen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts, dass wir heute mehr Rechte haben als unsere Vorgänger_innen, zumindest nach dem Buchstaben des Gesetzes, und das ist ohne jeden Zweifel ermutigend. Außerdem hat die Welt, seit Hannah Arendt das »Recht, Rechte zu haben« formulierte, einen bemerkenswerten Wandel erfahren, zum einen durch die Verbreitung von »Menschen«-Rechten der verschiedensten Art (bürgerlich, politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell) und durch die damit einhergehende Entwicklung supranationaler Durchsetzungsmechanismen (ein Prozess der internationalen Institutionalisierung, der auch den Schutz der Persönlichkeitsrechte und das Recht beinhaltet, um Asyl nachzusuchen – nicht aber, und das ist entscheidend, das Recht darauf, dass dem Asylbegehren stattgegeben wird).

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Natürlich sind die Ergebnisse nicht perfekt – das Recht auf Rechte stellt leider nicht sicher, dass nicht trotzdem Rechte verletzt oder systematisch ignoriert werden. So wird in der westlichen Hemisphäre zwar die Sprache der universellen Rechte gesprochen, doch ist Exklusion gängige Praxis, insbesondere für diejenigen, die Vertreibung erleiden mussten. Asylsuchende müssen Überprüfungsprozeduren über sich ergehen lassen, als wäre der Flüchtlingsstatus kein rechtmäßiger Anspruch, sondern ein Privileg; sie werden als Unerwünschte behandelt, die ein liberales System nur ausnutzen (und nicht als Opfer mit einem echten Anspruch auf internationalen Schutz). Auch Migrant_innen, egal welches Elend sie zum Aufbruch ins Unbekannte getrieben hat, wird vorgeworfen, den Einheimischen die Jobs wegzunehmen und sich eh schon begrenzte Sozialleistungen zu erschnorren, obschon Einwanderer erwiesenermaßen die produktiven Ressourcen einer Gesellschaft steigern, besonders an Orten mit alternder Bevölkerungsstruktur und einem Mangel an jungen Arbeitskräften.7 Wenn wir tatsächlich, wie manche Wissenschaftler_innen behaupten, in einer »Epoche der Rechte« leben, dann doch eher in der Theorie als in der Praxis. Die Rechtlosigkeit im umfassenderen Arendt’schen Sinn – als Situation, in der die fragilen Rechte, die Menschen formell besitzen, effektiv annulliert werden – bleibt weiter bestehen.8 Wir stehen heute vor der Überlegung, wie wir auf dem Fortschritt aufbauen können, der durch den uner7 8

DeSilver, Drew, Refugee Surge Brings Youth to an Aging Europe. Siehe hierzu unbedingt Gündo˘gdu, Rightlessness in an Age of Rights, S. 94.

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müdlichen Einsatz von Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen erzielt wurde, und wie wir die schönen Worte, die in juristischen Texten dahinwelken, zum Leben erwecken und in die Tat umsetzen können. Das Ringen um Rechte ist nicht mehr so einfach wie es einmal war. Zwar heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948, dass alle Menschen »frei und gleich an Würde und Rechten geboren« sind, doch verharren nach wie vor Millionen in einem schrecklichen Schwebezustand, gefangen zwischen Ländern und Staatsangehörigkeiten, angewiesen auf die Barmherzigkeit fremder Regierungen und gemeinnütziger Einrichtungen und auf die spontane Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen. Den zahllosen Menschen in den Flüchtlingslagern in Jordanien, der Türkei, Kenia, Nepal, Griechenland und anderswo helfen die komplexen internationalen juristischen Strukturen, die ihnen die Zugehörigkeit zur umfassenden Gemeinschaft der Menschheit sichern sollen, im Alltag wenig bis gar nichts. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hilft dem ecuadorianischen Teenager und der sich illegal aufhaltenden philippinischen Mutter wenig, die in Texas oder New York in Sicherheit und ohne Angst vor Abschiebung leben wollen, genauso wenig wie dem Sudanesen oder der afghanischen Familie, denen in Frankreich oder Ungarn kein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, die aber keine Heimat haben, in die sie zurückkehren könnten. Allzu oft sind Rechte nichts als leere Worthülsen. Doch dramatische Hinweise auf die riesige Kluft zwischen den angeblichen Rechten und der harten Realität können eine Grundlage für wirksame Aktionen bilden, eindrucksvoll belegt durch die Kampagnen zur Reformie-

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rung der Einwanderungsgesetze wie No One Is Illegal, Sans Papiers, the Dreamers oder das Sanctuary City Movement, die als Reaktion auf Präsident Trumps opportunistische Verunglimpfung von syrischen Flüchtlingen und Einwanderern aus dem Nahen Osten und aus Mexiko entstanden. Aber wie steht es um die zunehmende Rechtlosigkeit von Staatsbürger_innen, von Menschen also, die – ausgestattet mit Geburtsurkunde und Pass – sicher innerhalb der Grenzen ihres Nationalstaates leben? Vor der Beantwortung dieser Frage müssen wir Rechtlosigkeit als etwas Subtileres als den Entzug der Staatsbürgerschaft begreifen, als einen deutlichen, eindringlichen Fingerzeig, dass hart erkämpfte Rechte allzu leicht ausgehöhlt und ignoriert werden können, besonders unter Bedingungen der extremen Ungleichheit. Während die Flüchtlingsströme nach Europa Arendts Interesse an den Erfahrungen staatenloser Menschen neue Relevanz verliehen haben, erscheint die prekäre Situation von Staatsbürger_innen weniger dramatisch, denn eine solche Enteignung erfolgt nicht durch offene Brutalität oder Ausweisung, sondern auf bürokratischem und ökonomischem Weg. Man denke nur an das Recht, das in einem demokratischen System als das wichtigste Grundrecht gilt, das Wahlrecht. In den USA wurde 1965 ein neues Wahlrechtsgesetz eingeführt, um den offen rassistischen und brutalen Methoden ein Ende zu setzen, mit denen schwarze Staatsbürger_innen seit dem Ende des Sezessionskriegs von den Wahlurnen ferngehalten wurden: Wahlsteuern, Lese- und Rechtschreibtests sowie offene Schikanen bis hin zum Lynchmord. Heute ist das Wahlrecht durch technokratischere »rassenneutrale« Instrumente bedroht, etwa durch die Einführung neuer

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Gesetze, denen zufolge Wahlberechtigte ein Ausweisdokument (voter ID) vorlegen müssen, durch umständliche Registrierungsverfahren oder durch eine Neustrukturierung der Wahlkreise. Afroamerikaner, Latinos und Menschen mit geringem Einkommen werden nun nicht mehr durch Polizeihunde oder Wasserwerfer abgeschreckt, sondern mittels Tabellenkalkulation diskriminiert. Schlimmer noch, die Unterhöhlung des Wahlrechts setzt sich weiter fort durch ständige Lockerungen der Grenzen für Wahlkampfspenden und die Entscheidungen des USamerikanischen Obersten Gerichtshofes, der in zwei Urteilen befand, entsprechende Beschränkungen seien als unzulässiger Eingriff in das Recht auf freie Meinungsäußerung gemäß dem ersten Verfassungszusatz zu werten (Buckley gegen Valeo, Citizens United gegen Federal Election Commission). Wenig erstaunlich ist deshalb die unlängst getroffene Feststellung führender Sozialwissenschaftler_innen, dass ganz normale Bürgerinnen und Bürger so gut wie keinen Einfluss auf die Regierungspolitik nehmen können, im Gegensatz zu finanziell gut ausgestatteten Lobbygruppen, die in aller Regel einen Weg finden, ihre Interessen durchzusetzen. In den USA hat heute jeder Staatsbürger und jede Staatsbürgerin das Recht, zu wählen und am Wahlprozess teilzunehmen – nur haben einige dieses Recht mehr als andere. So drängt sich die Frage auf, ob man nicht unterscheiden sollte zwischen dem schlichten »Recht, Rechte zu haben« und dem »Recht, Rechte wirklich zu besitzen«. Nach Arendt kommt es dann zum Verlust aller Rechte, »wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, daß seine Meinungen Ge-

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wicht haben und seine Handlungen von Belang sind«,9 und genau dieser Standort wird ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern infolge der unablässigen Konzentration von Reichtum und Macht verwehrt: Wir werden zu einer Art von Vertriebenen, weil wir nach und nach politisch ohnmächtig und überflüssig gemacht werden (allerdings ist dieser Prozess noch längst nicht abgeschlossen und kann noch aufgehalten werden). Man denke des Weiteren an die Aushöhlung unserer staatsbürgerlichen Rechte durch internationale Handelsabkommen, wie etwa die (immerhin unlängst gescheiterten) Versuche, die Transpazifische Partnerschaft TPP und das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP zu installieren. Das sind nur die jüngsten Beispiele für eine Tendenz, solche Übereinkommen ohne Beteiligung der Öffentlichkeit auszuhandeln und über »beschleunigte Verfahren« durchzuwinken, sodass die langwierigen demokratischen Verfahren umgangen werden können, die wenigstens ein Mindestmaß an öffentlicher Kontrolle und Aufsicht sicherstellen würden. Wie andere Abkommen zielten auch diese beiden darauf ab, Investoren mit exorbitanter Macht auszustatten und durch Investor-Staat-Streitbeilegungsverfahren (Investor-State Dispute Settlement ISDS) zu ermöglichen, dass ausländische Unternehmen einen Staat, in dem sie investiert haben, wegen entgangener Gewinne verklagen können. Gegenwärtig haben etwa 10 Prozent der ausländischen Investoren ein solches ISDS-Verfahren gegen Entscheidungen der US-Regierung angestrengt. Dieses Instrument ist mächtig genug, um durch unverfrorene Angriffe der Großkonzerne die demokratische 9

Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 461–462.

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Souveränität auszuhebeln: Als die deutsche Regierung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima eine Beschleunigung des Atomausstiegs beschloss, verklagte der schwedische Konzern Vattenfall Deutschland wegen Verletzung des Energiecharta-Vertrags. Auch der kanadische Energiekonzern Transcanada griff auf ISDS zurück und verklagte die US-Regierung wegen Verletzung der Grundsätze der Nordamerikanischen Freihandelszone NAFTA auf 15 Milliarden Dollar Schadensersatz, weil Präsident Obama nach jahrelangen massiven Bürgerprotesten das Projekt der quer durch die USA geplanten Öl-Pipeline Keystone XL aufgekündigt hatte. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, untergraben solche Klageverfahren auch noch die Rechtsstaatlichkeit, denn diese »Schiedsgerichte« sind mit Firmenanwälten besetzt, aber für die Zeche müssen letztendlich die Steuerzahler_innen aufkommen. Wenn man Arendts Terminologie und ihre analytischen Kategorien übernimmt, tritt die zunehmende Rechtlosigkeit der Bürgerinnen und Bürger noch deutlicher zum Vorschein. Im Vorwort zum zweiten Teil von Elemente und Ursprünge merkt sie an, dass mit dem Abklingen der Feindseligkeiten des Kalten Krieges nun wieder der Vorläufer des Totalitarismus, der Imperialismus, auf der Bildfläche erschien, allerdings »unter stark veränderten Bedingungen und Umständen« und »in ungeheuer vergrößertem Maßstab«. Ein halbes Jahrhundert danach lesen sich diese kurzen Bemerkungen so vorausschauend, wie Arendt selbst es nie hätte ahnen können. Der Imperialismus, schrieb sie damals, sei »der Sündenfall« der Räuberei und würde nicht für immer genügen, »um den Akkumulationsmotor weiterlaufen zu

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lassen«.10 In unserer neoliberalen Epoche ist die schlichte Räuberei, Antriebsmotor der gegenwärtigen Vermögenskonzentration, auf rätselhafte Weise zu einer Wirtschaftskriminalität mutiert, bei der Netzwerke und Systeme manipuliert werden, auf die normale Bürger_innen gar keinen Zugriff haben; zu einer Art von Diebstahl, wie er in Handelsgerichten geplant und von Kredit-RatingAgenturen durchgeführt wird, die sich mit Vorliebe auf neutralen Sachverstand berufen; zu jener Art von Raub, bei dem durch marktfreundliche Lobbyarbeit in Regierungen und Parlamenten den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit entzogen wird, ihre auf dem Papier bestehenden Rechte tatsächlich wahrzunehmen, und bei dem öffentliche Güter ausgebeutet werden. Der Imperialismus, so Arendt, wurde »vielfach als das letzte Stadium des Kapitalismus bezeichnet; er ist jedenfalls das erste (und vielleicht zugleich auch das letzte) Stadium der politischen Herrschaft der Bourgeoisie gewesen«.11 Der neo-marxistische Geograf David Harvey bezeichnet das Aufkommen des Neoliberalismus als drittes Stadium des Imperialismus: In seinem Werk Der neue Imperialismus beleuchtet er die grundlegend veränderten Rahmenbedingungen und Umstände, die unsere heutige Zeit prägen; er rekurriert auf Arendt, wenn er den Imperialismus als eine »unabsehbar fortschreitende Besitzakkumulation« beschreibt, die eine politische Struktur mit unbegrenzter Macht benötige.12 Sein Buch, das im Original im Jahr 2003 erschien, auf dem Höhepunkt der als Re10 Ebd., S. 210, 211, 255. 11 Ebd., S. 240. 12 Harvey, Der neue Imperialismus, S. 40.

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aktion auf den 11. September 2001 zu verstehenden katastrophalen militärischen Interventionen in Afghanistan und im Irak, gründet auf Arendts Denken und verknüpft dabei die ausländischen Kriegseinsätze mit den Finanztrends dieser Zeit – die sich im Nachgang der Bankenkrise von 2008 nur weiter verstärkt haben. Auch schon zur Jahrtausendwende spielte die Konjunkturschwäche für das US-amerikanische Abenteurertum durchaus eine Rolle, denn hier verzahnte sich eine neokonservative Außenpolitik mit einer neoliberalen Ausrichtung an der innenpolitischen Front. Harveys Werk liefert die Eckpunkte für eine Verknüpfung der systematischen Entmachtung nicht nur der amerikanischen Arbeiterklasse mit der militärischen Destabilisierung des Nahen Ostens, durch die die aktuelle Flüchtlingskrise zwar nicht alleine verursacht, aber doch erheblich verstärkt wurde – vor allem in Europa, wo mehr als eine Million Menschen Zuflucht vor den katastrophalen Auswirkungen des Krieges gegen den Terror gesucht haben. So sind wir alle auf unterschiedliche Weise Opfer einer Erscheinung geworden, die Harvey »Akkumulation durch Enteignung« nennt – Formen des Plünderns aus Profitgier, die neben den traditionellen kapitalistischen Praktiken der Ausbeutung der Arbeitskraft und der Aneignung des Mehrwerts existieren. Arendt beharrte darauf, dass der Imperialismus immer und unwiderruflich mit der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Konflikt stehe, egal wo: »Der Begriff einer unbegrenzten Ausdehnung, die allein eine unbegrenzte Akkumulation von Kapital erzeugen kann und eine ziellose Akkumulation von Macht wirklich zustande bringt, steht selbst schon in Widerspruch zu der möglichen Neugründung politi-

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scher Körper, die vor dem Imperialismus immer auf die militärische Eroberung gefolgt war. Ist der imperialistische Prozeß der Ausdehnung erst einmal losgelassen, so können politische Gemeinschaften sich ihm nur als hinderlich erweisen und von ihm zerstört werden, und dies gilt für die Institutionen des Mutterlandes genau so wie für die der Kolonialvölker. Denn jede politische Struktur und Organisation, gleich welcher Art, entwickelt von sich her eine Kraft des Beständigen, die es den Menschen erlaubt, sich in ihnen einzurichten, und die, unabhängig von den Gesinnungen der in ihr wohnenden Menschen, sich der ständigen Transformation alles Bestehenden in den Weg stellen muß. Daher müssen alle politischen Körper als zeitweilige und überwindbare Hindernisse erscheinen, wenn man sie eingebettet glaubt in einen ewigen Strom des immer größer werdenden Machtprozesses.«13 Diese provokante Einschätzung hat nichts an Aktualität verloren. Der Neoliberalismus gründet auf politischen Kräften, die Arendt nicht vorhersehen konnte, denn als sie ihre Kritik formulierte, wurden seine Fundamente erst gelegt. Um die gegenwärtige Struktur des Kapitalismus zu verstehen, hilft ein Blick in die Mitte des letzten Jahrhunderts, nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Um ihre hegemonialen Ansprüche durchzusetzen, positionierten sich die Vereinigten Staaten damals im Zentrum wichtiger Militärbündnisse und finanzieller Vereinbarungen, darunter das Abkommen von Bretton-Woods, mit dem ein System fester Wechselkurse eingeführt wurde. Der Wendepunkt für den Neoliberalismus kam in Form eines US-amerika13 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 239.

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nischen Zahlungsbilanzdefizits, das die kapitalistischen Gewinne auffraß und zur Aufhebung des Goldstandards führte, der Grundlage des Bretton-Wood-Systems. Um aus dieser Krise herauszukommen und gleichzeitig den globalen Hegemonieanspruch aufrechtzuerhalten, forcierten die Vereinigten Staaten ihre Rolle als Zentrum des globalen Finanzsektors und nutzten zur Wahrung ihrer internationalen Interessen die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation, die »offene« Märkte und Austeritätsmaßnahmen gegenüber Schuldnerländern durchsetzen und damit deren soziale und politische Prioritäten bestimmen konnten, ohne auf den Willen der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen.14 Bis heute agieren diese und die mit ihnen verbundenen Institutionen mehrheitlich hinter verschlossenen Türen, ohne öffentliche Partizipation oder Kontrolle. Diese neuen politischen Organe sind nicht repräsentativ und niemandem rechenschaftspflichtig. In den 1970er Jahren entwickelten sich die von Harvey als »Akkumulation durch Enteignung« bezeichneten Techniken immer mehr zu den zentralen Mechanismen der kapitalistischen Akkumulation. Als Reaktion auf stagnierende Profite wurden sie in den USA und anderen In14 Zwar ist die Verbindung wohl eher zufällig als kausal, doch sind sowohl der Neoliberalismus als auch die Menschenrechte Auswüchse der Nachkriegszeit, und interessanterweise nahmen beide erst in den 1970er Jahren richtig Fahrt auf. Beide gründeten auf einem Fundament des Skeptizismus, wenn nicht gar offener Feindseligkeit gegenüber dem Kollektivismus. An anderer Stelle in diesem Band stellt Samuel Moyn die These auf, dass der Menschenrechtsdiskurs zum Teil auch als utopische, aber doch marktfreundliche Alternative zu Sozialismus und Kommunismus benutzt wurde.

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dustriestaaten auch nach innen gelenkt, gegen die eigenen Bürgerinnen und Bürger. Akkumulation durch Enteignung hat unabhängig davon, ob sie nach innen oder nach außen gerichtet ist, meist die folgenden Formen: Aneignung von Volksvermögen (einschließlich natürlicher Ressourcen wie Wasser, Bodenschätze und Funkfrequenzen), Privatisierung (Umwandlung von gemeinsam genutztem, kollektivem und öffentlichem Besitz in private Vermögenswerte) und Finanzialisierung, darunter die Staatsverschuldung und das Kreditsystem (bei dem der Zugang zu Krediten einen Ausgleich schafft für sinkende Löhne und die Fremdfinanzierung dessen, was eigentlich universelle öffentliche Güter sein sollten, wie Wohnraum oder Bildung). Für den hier gewählten Schwerpunkt ist entscheidend, dass diese Prozesse der Aneignung, Privatisierung und Finanzialisierung im Namen des orthodoxen Neoliberalismus mit einem massiven Verlust gemeinsam erkämpfter Rechte einhergehen – dem Recht auf Rente, auf angemessenen Lebensstandard, auf Gesundheitsversorgung, auf Bildung und auf eine saubere Umwelt, auf Arbeits- und Verbraucherschutz und auf Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Grundlegende demokratische Werte wie Gleichberechtigung und Rechtsstaatlichkeit sind von marktbedingter Ausgrenzung bedroht. Drastischer formuliert: Die Menschen verlieren immer mehr den Status als Bürgerin bzw. Bürger mit Rechten und mutieren zu verschuldeten und meist übergangenen Untertanen, während eine wohlhabende Minderheit die Macht des Staates nutzt, um das eigene Vermögen zu mehren.

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Soziale Rechte und der Staat Heute spüren immer mehr Menschen instinktiv, dass sie betrogen werden. Die Wut auf die Eliten – Politiker_innen, Banker_innen, Lobbyisten und die Medien – hat in jüngster Zeit populistische Revolten von rechts wie von links geschürt. So gab es im US-Wahlkampf 2016 wunderliche Koalitionen, in denen progressive und konservative Rebellen Seite an Seite gegen die Transpazifische Partnerschaft kämpften; während Präsident Obama auf der Webseite des Weißen Hauses ein Factsheet veröffentlichte, demzufolge dieses Handelsabkommen die Menschenrechte befördern würde, malten Donald Trump und Bernie Sanders das Abkommen wie den Teufel an die Wand, wenn auch in sehr unterschiedlichen Farben. Und doch wendet sich, wenig überraschend, die legitime Wut nicht nur nach oben, gegen die herrschenden Klassen, sondern zugleich auch nach unten, auf diejenigen, denen es am schlechtesten geht und die am schutzbedürftigsten sind. Wie so oft in der Geschichte erfasst Fremdenfeindlichkeit auch heute das gesamte Spektrum der rechtspopulistischen Strömungen. Der »Trumpismus« in den Vereinigten Staaten, die Brexit-Bewegung im Vereinigten Königreich und das Erstarken neonazistischer Parteien in ganz Europa (wie die »Goldene Morgenröte« in Griechenland) haben rassistische Anfeindungen salonfähig gemacht und Geflüchtete, Migrant_innen und ganz generell Menschen mit anderer Hautfarbe zum Sündenbock gemacht, um das Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Anhänger_innen zu festigen. Die Politik, die aus der neoliberalen wirtschaftlichen Doktrin resultiert (Steuersenkungen für die Reichen, Abbau des Sozialsystems, unsichere Arbeitsverhältnisse), verstärkt das Gefühl des Mangels und der Unsicherheit

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und gießt damit Öl ins Feuer der nationalistischen Strömungen. Diese Politik, die den Ethnos über den Demos erhebt, ist ein Symptom des Niedergangs der Demokratie, der Erosion der Rechtsstaatlichkeit und der Aushöhlung des Staates. Arendt ging es immer um die Trennung von Staat und Nation, wie unmöglich es auch sein mag, diese beiden Konzepte wirklich voneinander zu trennen. (Historisch betrachtet konnten die Menschen als Volk, als Ethnos, nur innerhalb der Grenzen der Nation diejenigen Rechte einfordern, die sie zu Bürger_innen, zum Demos machten.) Bei ihren Überlegungen zum »Recht, Rechte zu haben« sprach Arendt aus gutem Grund nicht von der Nationslosigkeit, sondern von der Staatenlosigkeit. Und auch wenn es widersinnig erschien, musste sie doch feststellen, dass sich die Menschen umso verzweifelter an ihre Staatsbürgerschaft klammerten, wenn sie den Schutz und die Rechte, die sie einst daraus hatten ableiten können, bereits verloren hatten, das heißt wenn sie aus dem Staat ausgeschlossen waren.15 Gilt dasselbe nicht auch mit Blick auf die heutigen nationalistischen Populisten? Die Festigkeit ihrer patriotischen Überzeugungen (die Fahnen, die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, die geradezu hysterische Angst vor »fremden Eindringlingen«) ist im Grunde ein Zeichen ihrer Enteignung und Entmündigung, ihrer tatsächlichen Rechtlosigkeit unter den neoliberalen Bedingungen. (Selbst wenn sie glauben, ihre Stimme für eine bessere Gesundheitsversorgung abgegeben zu haben, sehen sie sich in der Praxis mit Kostensteigerungen und Leistungsdeckelung konfrontiert.) Zu15 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 467.

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gleich sind die Oligarchen und Financiers, die heute mit dem größten politischen Einfluss ausgestattet sind, Kosmopoliten im krassesten Sinne des Wortes: keinem Land gegenüber loyal und nur dem Gebot der Profitmaximierung verpflichtet. Wo bleiben da wir Linken, die wir diesen Teufelskreis aus kosmopolitischem Neoliberalismus und seinem identitären, xenophoben Alter ego durchbrechen wollen? Eines ist klar: Wenn der Nationalismus eine Manifestation der Rechtlosigkeit im neoliberalen Kapitalismus ist, dann braucht es zur Einforderung von Rechten – ja sogar des Rechts, Rechte zu haben – mehr als nur die Stärkung des Staates, sondern einen grundlegenden Wandel, der dem Neoliberalismus ein Ende setzen und einen demokratischen Sozialismus neuerfinden müsste, für eine neue Generation und eine umfassend vernetzte, multikulturelle Welt. Die politischen Erfolge von Syriza in Griechenland oder Podemos in Spanien (wie steinig der konkrete Prozess des Regierens für diese auch sein mag) und die erstaunliche Anziehungskraft von Politikern wie Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie Sanders in den USA zeigen, dass es sich hier nicht um eine abstrakte Position handelt, sondern um ein durchaus erfolgreiches Programm, den einzigen Weg, der die Linke aus einem halben Jahrhundert voller Mutlosigkeit und Niederlagen herausführen kann. Arendt selbst hätte diesen Weg wohl weder für überzeugend noch für wünschenswert gehalten. Wie mehrfach angemerkt, auch von Samuel Moyn in diesem Band, stand sie den wirtschaftlichen und sozialen Rechten sehr skeptisch gegenüber. Erfolglos versuchte sie das, was sie die sozialen Rechte nennt, überzeugend von ihren politischen

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Gegenstücken zu trennen, wobei die Ersteren nach ihrer Einschätzung auf den Bereich der Notwendigkeit beschränkt sein sollten, während es bei den Letzteren um das Thema Freiheit geht. Zugleich folgte sie Marx in der Beobachtung eines grundsätzlichen Gegensatzes »zwischen einer Staatsform, die auf der Gleichberechtigung beruhte, und einer Gesellschaft, in der die von Geburt gegebene Ungleichheit der Lebensumstände in Klassen sich verfestigte«.16 Damit zeigte sie einen noch heute schwelenden Konflikt auf, nämlich die Vortäuschung des Egalitarismus bei gleichzeitig anhaltender Ungleichheit, was zur Verstärkung der Atomisierung, der Unzufriedenheit und des Unmuts beiträgt, der den heutigen rechten Rebellen Nahrung liefert. Freiheit brauche keinen Reichtum, so ihr Credo. Wichtig seien Sicherheit und ein Platz, der vor öffentlichen Ansprüchen geschützt ist. Der öffentliche Bereich müsse gegen die privaten Interessen abgeschirmt sein, die immer brutaler und aggressiver in ihn eingedrungen sind.17 Arendt konnte die Bedeutung der wirtschaftlichen Gleichberechtigung für die Aufrechterhaltung der von ihr so gepriesenen politischen Gerechtigkeit nicht ganz von der Hand weisen und öffnete selbst eine Hintertür für die Anerkennung des Vorrangs der sozialen Rechte vor den politischen. Ereignisse aus jüngster Zeit machen deutlich, dass das Recht, Rechte zu haben, auf den sozialen Rechten gründen muss – das Recht auf wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung dürfte wichtiger sein als das auf Mitgliedschaft in einem politischen Ge16 Ebd., S. 41. 17 Dies., Public Rights and Private Interests S. 108.

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meinwesen, denn wenn Ungleichheit herrscht, sind (wie wir gegenwärtig sehen) die staatsbürgerlichen Rechte bedeutungslos. Aber wenn wir den Bereich der theoretischen Abstraktion verlassen und auf den Boden der Tatsachen zurückkehren, zeigt sich, dass unsere Probleme keineswegs gelöst sind. Wie können reale Menschen unter so ungastlichen Bedingungen ihr Recht, Rechte zu haben, einfordern? Heute haben multinationale Einrichtungen (juristische Personen) ihr Recht, Rechte zu haben, auf globaler Ebene durchgesetzt – doch natürlichen Personen, Flüchtlingen und Staatsbürger_innen gleichermaßen, wird es verwehrt. Die Lösung liegt allein im gemeinsamen Handeln, im gemeinsamen Reagieren auf die besonderen Herausforderungen unserer Zeit. Wenn wir wahre Freiheit und politische Teilhabe anstreben, müssen wir als Erstes den Dualismus des Rechts, Rechte zu haben, erkennen, müssen sehen, dass es unmöglich ist, die Staatsbürgerschaft von den Grundsätzen der wirtschaftlichen und sozialen Gleichberechtigung zu trennen, wenn sie einen Sinn haben soll. Zweitens müssen wir uns, wenn wir eine Unterscheidung zwischen Nation und Staat treffen, neue Wege erschließen, um zu Einheit und zu einer gemeinsamen Identität zu gelangen und dem alten sozialistischen Traum, den Chauvinismus durch internationale Solidarität abzulösen, ein Stück weit näher zu kommen. Sodann dürfen wir Rechte nicht nur als individuelle Schutzmechanismen gegen den Missbrauch staatlicher Macht sehen, sondern auch als Instrumente, um an den Staat und seine Repräsentant_innen proaktive und progressive Forderungen zu richten (wie Ausweitung der sozialen Rechte und

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Leistungsansprüche), womit wir zugleich unser Konzept von der Freiheit des Menschen und unsere Möglichkeit, diese Freiheit tatsächlich wahrzunehmen, weiterentwickeln können. Und schließlich müssen wir es schaffen, kollektive Macht aufzubauen, damit unsere Deklaration von Rechtsansprüchen weder ignoriert noch zum Verstummen gebracht werden kann. Insbesondere müssen wir neue Institutionen und Modelle entwerfen (Arendt würde vielleicht sagen, wir bräuchten freiwillige Zusammenschlüsse und neue Ansätze für zivilen Ungehorsam), um den Kampf gegen die »Akkumulation durch Enteignung«, gegen Aneignung, Privatisierung und Finanzialisierung zu führen. Als Vorbild könnten die Gewerkschaften dienen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Arbeiterschaft zu stärken, den Bossen die Stirn zu bieten und der Aneignung des Mehrwerts durch das Kapital Einhalt zu gebieten. Solche Experimente gibt es bereits, sie reichen von Desinvestitions-Bewegungen bis zu Schuldenstreiks und mehr. Dabei gilt es, das Globale mit dem Lokalen zu verbinden, der transnationalen Macht der Oligarchie zu folgen und sie dort offenzulegen, wo sie in unseren Alltag eingreift: durch Korruption bei lokalen Wahlen und die Umweltverschmutzung in unserer unmittelbaren Umgebung, durch maßlose Zinsforderungen von Gläubigern und überbewertete Hypotheken, durch das Fehlen von Arbeitsplätzen und von gesellschaftlichem Engagement der Unternehmen. So ließe sich verhindern, dass diejenigen, denen die Rechte verwehrt werden, gegen die anderen ausgespielt werden, und so ließe sich zugleich die Wut ein Stück weit in der Hierarchie nach oben leiten: Ohne Zweifel gefährden die acht Männer, die genauso viel besitzen wie die halbe Menschheit, unser kol-

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lektives Wohlbefinden wesentlich stärker als 65 Millionen Vertriebene.18 Auf nationaler wie internationaler Ebene wird der öffentliche Bereich heute zugunsten privater Geschäftsinteressen gekapert und pervertiert. Mit den deterritorialisierten Rechtsstrukturen und den globalen Kapitalströmen hält die Demokratie nicht mehr Schritt – und Arendt scheint anzudeuten, dass sie es vielleicht auch gar nicht kann. Da drängt sich eine Frage auf: Inwieweit sind die Bürger_innen an Vereinbarungen gebunden, denen sie nicht zugestimmt haben? In ihrem Essay Ziviler Ungehorsam schreibt Arendt: »Die moralische Pflicht des Staatsbürgers zum Gehorsam gegen die Gesetze wird traditionell aus der Annahme abgeleitet, daß er ihnen zugestimmt habe oder sein eigener Gesetzgeber gewesen sei; daß unter der Herrschaft des Gesetzes die Menschen keinem fremden Willen untertan seien, sondern nur sich selbst gehorchten […].«19 Hier scheint sich ein Silberstreifen am Horizont abzuzeichnen: Die fortwährende Enteignung des Demos, die Weigerung der Eliten, uns an der Gestaltung der Regeln teilhaben zu lassen, die unser Leben bestimmen, rechtfertigt nicht nur die Nichtbefolgung dieser Regeln, sondern entschiedenen Widerstand. Widerstand ist der erste Schritt auf dem Weg zur Einforderung unseres Rechts, Rechte zu haben.

18 Mullany, World’s 8 Richest Have as Much Wealth as Bottom Half, Oxfam Says. 19 Arendt, Ziviler Ungehorsam, S. 143–144.

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Dank

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Dieses Buch entstand – seinem Inhalt angemessen – von Anfang an als Gemeinschaftsprojekt. Die Willamette University und die Portland State University unterstützten uns mit großzügigen finanziellen Mitteln. Das Team vom Verso Verlag trug sehr zur Bewältigung der unerwarteten Herausforderungen bei, die im Verlauf des Projekts auftauchten. Annie Godfrey Larmon und Allison Hobgood lektorierten die Einleitung mit scharfem und zugleich großzügigem Blick. Wir danken Bonnie Honig für ihre wertvollen Ratschläge in der zentralen Erarbeitungsphase und Neil Saccamano für seine zahlreichen Anregungen. Und auch wenn sein Text schlussendlich keinen Eingang in die gedruckte Fassung des Buches fand, schulden wir Werner Hamacher Dank für seinen großartigen Beitrag und widmen dieses Buch seinem Andenken.

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Literaturverzeichnis

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Zu den Autorinnen und Autoren Stephanie DeGooyer ist Assistant Professor am Institut für Anglistik an der Willamette University, USA. Alastair Hunt ist Associate Professor am Institut für Anglistik an der Portland State University, USA. Lida Maxwell ist Associate Professor an der Fakultät für Politische Wissenschaften am Trinity College, USA. Das Weitergeben und Kopieren dieses Dokuments ist nicht zulässig.

Samuel Moyn ist Professor für Recht und Geschichte an der Yale University, USA. Astra Taylor ist kanadisch-amerikanische DokumentarFilmemacherin, Autorin, Aktivistin und Musikerin, sie lehrte Soziologie u. a. an der University of Georgia, USA.

Zu der Übersetzerin und dem Übersetzer Edith Nerke und Jürgen Bauer sind seit über 30 Jahren ein freiberufliches Übersetzerteam. Sie übersetzen Belletristik, Sachbuch (Zeitgeschichte, Konfliktforschung u. a.) sowie Gebrauchstexte für z. B. die Europäische Kommission und Amnesty International.

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