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German Pages 796 Year 2014
David Wirmer Vom Denken der Natur zur Natur des Denkens
Scientia Graeco-Arabica herausgegeben von Marwan Rashed
Band 13
De Gruyter
Vom Denken der Natur zur Natur des Denkens Ibn Bāǧǧas Theorie der Potenz als Grundlegung der Psychologie
von
David Wirmer
De Gruyter
ISBN 978-3-11-027196-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-027203-1 e-ISBN (ePub) 978-3-11-038551-9 ISSN 1868-7172 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.
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Vorwort Das vorliegende Buch ist die in Teilen leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Sommer 2010 an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vorgelegt habe und die den Titel trug: »Ibn Bāǧǧas Buch der Seele. Aristotelische Psychologie als Naturwissenschaft und Fundamentalwissenschaft«. Der für den Druck veränderte Titel soll dem zentralen Anliegen dieser Untersuchung stärkeren Ausdruck verleihen. Zwar ist der Ausgangspunkt der Arbeit die Analyse des Buchs der Seele (Kitāb al-nafs) des andalusisch-arabischen Philosophen Ibn Bāǧǧa (gest. 1139), doch ziehlt sie auf mehr ab als auf die Erschließung dieses einen, wenn auch zentralen Textes. Im Zentrum des Interesses steht vielmehr die Rekonstruktion eines systematischen Entwurfs der Naturphilosophie, in dem die Psychologie im aristotelischen Sinne, also die Lehre von der Seele als Form belebter Körper, allererst ihren Platz findet. Die bisher gängige Trennung zwischen bloß kommentierenden naturphilosophischen und »originellen« intellekttheoretischen Schriften hat zu einem verzerrten Bild der Philosophie Ibn Bāǧǧas geführt, und sie hat das Buch der Seele, seine kommentierende, resümierende, erweiternde Aneignung und Ausarbeitung von Aristoteles’ De anima, zu einem Zwitter zwischen diesen Gattungen gestempelt. Denn, bekannt vielfach nur durch die Kritik seines berühmteren Landsmanns Ibn Rušd (Averroes), gilt das Buch der Seele auch als einer der Orte, an denen Ibn Bāǧǧa in »neuplatonischem« Geiste seine »originelle« Lehre von der Erkenntnis des aktiven Intellekts entwickelt. Die vorliegende Studie versucht nun mittels einer das gesamte Œuvre einbeziehenden Analyse des zentralen Begriffs der Potenz beziehungsweise des Vermögens zu zeigen, dass Ibn Bāǧǧa die Psychologie im Sinne des Aristoteles konsequent als Naturwissenschaft konzipiert und auch die Intellektlehre auf naturphilosophische Prinzipien aufbaut. Dabei soll deutlich werden, warum diese Grundlegung der Psychologie zugleich in eine intellekttheoretische Fundierung der Naturphilosophie münden muss. Denn Ibn Bāǧǧas Psychologie deckt auf, dass und wie die naturphilosophischen Prinzipien auf den Intellekt als auf ein übergeordnetes Prinzip bezogen sind. Indem er sie vollendet, begründet der reine Akt des Intellekts die natürlichen Prinzipien und Potenzen. So geht die Erkenntnis den Weg vom Denken der Natur zur Natur des Denkens. Den langen Weg der Entstehung dieses Buches haben viele Förderer, Kollegen und Freunde begleitet, denen ich an dieser Stelle von Herzen danken möchte. Erste Bekanntschaft mit Ibn Bāǧǧa konnte ich im Studienjahr 1998–99 in einem
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Vorwort
Seminar bei Aryeh Leo Motzkin (sel. A.) an der Hebräischen Universität in Jerusalem schließen. Aryeh Motzkin vermittelte uns die aufregende Einsicht, dass wer einen Denker der Vergangenheit verstehen will, sich nicht begnügen darf zu fragen, was er über die philosophische Wahrheit gedacht hat, sondern nach der philosophischen Wahrheit selbst fragen muss. An der Universität Bonn habe ich vor allem bei Ludger Honnefelder gelernt, wie sich diese Idee in präzise Analysen umsetzen lässt, die bei der textimmanenten Durchdringung die übergeordneten systematischen Fragestellungen nicht aus dem Blick verlieren. Seine Seminare haben mich vollends für die Philosophie des Mittelalters begeistert, und ich bin ihm sehr dankbar, dass er mich am Ende des Studiums mit meinem arabischen Thema zur Promotion angenommen hat. Sein unfehlbarer Überblick und sein zugleich methodisch anspruchsvoller und sachlich pragmatischer Rat haben an entscheidenden Stellen immer wieder dafür gesorgt, dass aus einem Projekt ein Produkt werden konnte. Insbesondere in den langen Monaten der Fertigstellung hat er mir geholfen, im gesammelten Material die Linien zu erkennen und sichtbar zu machen. Mein tief empfundener Dank dafür! Aufrichtig danken möchte ich sodann Gerhard Endreß für die Bereitschaft, meine Arbeit von der Seite der arabischen Philosophie zu betreuen, und für die Zeit, die intensive Aufmerksamkeit und den reichen Schatz an Hinweisen und Materialien, die er mir bei mehreren Besuchen in Bochum hat zukommen lassen. Gelernt habe ich von ihm, nicht zuletzt durch seine zahlreichen Schriften, das Handwerkszeug der philosophischen Arabistik zu gebrauchen. Sollte das auf den folgenden Seiten nicht immer uneingeschränkt geschehen sein, so liegt die Verantwortung selbstverständlich allein bei mir. Zu danken habe ich ferner der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir mit einem Promotionsstipendium die Möglichkeit gewährt hat, tief in die Philosophie Ibn Bāǧǧas einzudringen. Für die Gelegenheit, auch wieder herauszufinden, gilt mein besonderer Dank Andreas Speer, der mir die Chance gegeben hat, als Assistent am Thomas-Institut in Köln meine Arbeit in Ruhe zu beenden. Seine bedingungslose Unterstützung und die vielfältigsten Anregungen, die ich der Arbeit mit ihm verdanke, bedeuten mir sehr viel. Die wunderbare Atmosphäre des gemeinsamen Lernens und Disputierens am Thomas-Institut ist ein Schatz, den ich nicht missen möchte. Mein Dank gilt auch den Kollegen am Institut, von denen ich besonders Guy Guldentops und Roland Hissette nennen möchte, die mir immer wieder geduldig mit wertvollem Rat zur Seite gestanden haben. Während der Schlussredaktion der Dissertation schließlich durfte ich drei Monate am Albertus-Magnus-Institut in Bonn verbringen. Den Kollegen dort danke ich sehr herzlich für die Gelegenheit, meine Ergebnisse mit ihnen zu diskutieren und für die liebevolle Anteilnahme am Fortgang der Arbeit. Hannes Möhle verdient meine Dankbarkeit nicht nur für die gastfreundliche Aufnahme am Albertus-Magnus-Institut, sondern auch für den wahren Freundesdienst,
Vorwort
VII
mir den Weg zur Beendigung der Arbeit gewiesen zu haben. In diesen Dank ist ebenso Isabelle Mandrella eingeschlossen. Für weitere Hilfestellungen und Anregungen danke ich Gerrit Bos und Gad Freudenthal. Theo Kobusch und Stefan Wild gebührt mein Dank dafür, als Mitglieder der Promotionskomission aus einer Prüfung ein philosophisches Gespräch gemacht zu haben. Marwan Rashed danke ich ganz herzlich für die bereitwillige Aufnahme der Arbeit in die Reihe Scientia Graeco-Arabica. Die tiefste Dankesschuld ist am wenigsten in Worten abzutragen. Meiner Frau Line für ihren Beistand und ihre Geduld: Danke! Ich widme dieses Buch meinen Eltern, Rita und Thomas, denen ich als geringste Gaben das Interesse für die Natur und für die Geschichte verdanke, die am Ursprung dieser Untersuchung stehen. Köln, im Juni 2014 David Wirmer
Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i. ii.
1
Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ibn Bāǧǧa: Leben und Werk im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontext und Bildungsgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Abhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iii. Das Buch der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlieferung und Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . iv. Leitlinien für eine neue Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild Ibn Bāǧǧas bei seinen andalusischen Nachfolgern . . . . . . . . . Die Fehlinterpretation Alexander Altmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Spaltung von Ibn Bāǧǧas Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsstand zum Buch der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textgattung und Vorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellung im Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . v. Vorgehen ‒ Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 7 7 10 17 20 20 26 28 32 32 33 35 40 42 43 46 48
I.
Ibn Bāǧǧas Aristotelismus und der Status der Psychologie . . . .
59
1. Aristotelische Philosophie im Umfeld Ibn Bāǧǧas . . . . . . . . . . . .
61
1. 2.
3.
ʿAbd al-Raḥmān Ibn Sayyid: Die Rolle der mathematischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abū l-Faḍl Ḥasdai: Anfänge des Aristotelismus . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Abū l-Faḍl Ḥasdai als Schlüsselfigur in Ṣāʿid al-Andalusīs Wissenschaftsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Ṣāʿids Aristotelesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mālik Ibn Wuhaib: Die soziale Lage der Philosophie . . . . . . . . . . .
62 64 64 70 77
Inhaltsverzeichnis
IX
2. Ibn Bāǧǧas Begriff der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.
86 Das Verhältnis von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Von Aristoteles’ »Vortrefflichem« zu Ibn Bāǧǧas »Einsamen« . . . 93 Philosophie als Naturanlage (fiṭra) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Göttlich oder menschlich? Das philosophische Ideal . . . . . . . . . . . 111
3. Aristotelische Psychologie als Fundamentalwissenschaft . . . . . 125 1.
2.
Der Status der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Von Aristoteles zu Themistios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Ibn Bāǧǧa über die Stellung der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Exkurs: Die Ordnung der Wissenschaften bei al-Fārābī . . . . . 1.4. Psychologie als Natur- und Fundamentalwissenschaft . . . . . . Der Gegenstand der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125 125 130 134 138 145
II. Der Begriff der Potenz und die Methode der Psychologie . . . . . 151 4. Der Vermögensbegriff in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. 2.
Aristoteles: Die Seele ist ihre Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ibn Bāǧǧa: Die Psychologie untersucht in einer Vollkommenheitsordnung stehende Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
5. Die Definition der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. 2.
3.
Die Evidenz der Seele als Prinzip des Lebendigen . . . . . . . . . . . . . Im Gefolge Alexanders: Der Weg zur allgemeinen Seelendefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Potenzen als konstitutive Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Einteilung und Zusammensetzung: Die Physik als Richtschnur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Aristoteles’ Verbesserung Platons: Die Seele als Bewegungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die zentrale Rolle der Potenz in drei Problemfeldern der Psychologie: Struktur, Konstitution, Bewegung . . . . . . . . Die Wissenschaftstheorie al-Fārābīs: Welches Wissen von der Seele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Methodische Probleme der Seelendefinition . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Amphibolie und Gattungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. In seiner Stellung veränderter Beweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die Methode der Zusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Die drei Definitionen der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168 175 175 180 184 189 196 196 199 210 216 219
X
Inhaltsverzeichnis
6. Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. 2.
Seele als Form eines organischen Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Seele als erste Entelechie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
III. Potenztheoretische Grundlagen der Psychologie Ibn Bāǧǧas . . 239 7. Bewegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 1. 2.
3. 4.
Bewegung, Potenz und Vollendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ortsbewegung der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Ibn Bāǧǧas kontinuierliche Auslegung von Physik VIII. 4 . . . Exposition des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aristoteles’ Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ibn Bāǧǧas vorläufige Rekonstruktion der aristotelischen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Philoponos’ Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre . . Philoponos’ Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . al-Fārābīs Antwort in seiner Schrift Die veränderlichen Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ibn Bāǧǧas eigene Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Ibn Bāǧǧa und die Natur der Elemente als ihr Bewegungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lösung im Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beweger und Bewegtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akzidentell und doch natürlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsbewegung und Potenz-Akt-Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . Interaktion und Erschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewegung der Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242 250 252 252 257 264 271 271 275 281 290 290 296 299 306 310 319
8. Aktive und passive Potenzen als universelle Erklärungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1.
2.
3. 4.
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Kinetische und ontologische Bestimmung der Potenz . . . . . . 1.2. Typologie der Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Potenz und reiner Akt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Gegen Shlomo Pines’ »Dynamik« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konstitution und Funktion der Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Primäre Potenzen in verschiedenen Perspektiven . . . . . . . . . . 2.2. Die primären Potenzen als solche – drei Aspekte . . . . . . . . . . Ortsbewegung und Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Veränderung und Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329 329 336 346 352 355 355 361 367 379
Inhaltsverzeichnis
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Eine Potenz zur Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Prozess der Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Eine zusammengesetzte mittlere Potenz« . . . . . . . . . . . . . . . . Die ausgewogene Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dynamisierung der Potenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 379 383 388 391 393
9. Seele als Form der Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1. 2. 3. 4.
Alexanders Emergenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sine extrinseco motore? Seele als Ursache und Produkt der Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mischung und die Aufnahme der Form: Integratives Modell materieller und formaler Genese . . . . . . . . . . Die Wesensform und die Ordnung der Potenzen . . . . . . . . . . . . . .
397 407 420 431
10. Der Organismus: Ein System von Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 1. 2. 3. 4.
Ontologie der Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Organe folgen den Potenzen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ekstatische Ontologie der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Seele ist keine »ununterschiedene Gesamtheit« . . . . . . . . . . . .
441 452 456 459
11. »Träger der Seele«: Pneuma und angeborene Wärme als Bindeglied zwischen Physiologie und Psychologie . . . . . . . . . . . 465 1. 2.
3.
4.
Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die physiologische Funktion von angeborener Wärme und Pneuma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Wärme in der unbelebten Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Erzeugung und Erhalt des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Ursprung der angeborenen Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die Differenzierung von Organen und Spezies . . . . . . . . . . . . 2.5. Pneuma und Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6. Pneuma und Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pneuma und »Spiritualität«: Seele und Körper zwischen Distanz und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Der Begriff des »Spirituellen« (rūḥānī) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Das Pneuma: Seelenwagen oder bewegliche Form? . . . . . . . . 3.3. Die angeborene Wärme als »erstes Organ« und die Einheit des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wirken der angeborenen Wärme: Physiologischer Prozess und psychischer Akt . . . . . . . . . . . . . . . . .
465 483 483 486 488 491 494 498 504 505 516 528 533
XII
Inhaltsverzeichnis
12. Seelische Potenzen und ihre Objekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539 1. 2. 3. 4.
Seelenvermögen als aktive und passive Potenzen . . . . . . . . . . . . . . Die Grenzstellung des Nährvermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wirken passiver Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Potenz des Objekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
539 541 550 556
13. Die Notwendigkeit einer unendlichen Potenz: Der aktive Intellekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 1.
2.
Die unendliche Potenz als Ursache der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . 1.1. Unendliche Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Unendliche Potenzen. Die Kosmologie als Vorbild . . . . . . . . . 1.3. Der aktive Intellekt: Separate Substanz und aktive Potenz . . Die unendliche Potenz als Gegenstand der Erkenntnis . . . . . . . . . 2.1. Der aktive Intellekt als Ursache und Vollendung . . . . . . . . . . 2.2. Der aktive Intellekt als Vollendung aller Potenzen . . . . . . . . . 2.3. Die Erkenntnis der unendlichen Potenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
565 565 571 579 585 585 588 595
14. Die Potenzstruktur der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 1. 2. 3.
4.
Die »Mischung« der Intelligibilia und die Rolle der Vorstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intelligibilia als aktive und passive Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaften als Potenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Wissenschaftlicher Habitus als »beweisende Potenz« . . . . . . 3.2. Der Aufbau der wissenschaftlichen Disziplinen . . . . . . . . . . . Die Potenz der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
607 613 621 621 626 634
Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 i. ii.
Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 i. ii. iii. iv. v. vi.
Deutsche Übersetzung des Kitāb al-nafs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der zitierten Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der zitierten Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register der arabischen Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
657 728 750 769 771 778
Einleitung i. Zielsetzung Man schreibt den Ramadan des Jahres 530, Juni 1136; in Sevilla beugen sich zwei Männer über eine Handschrift.1 Der Philosoph Ibn Bāǧǧa und sein Freund und Schüler Ibn al-Imām lesen gemeinsam in Ibn Bāǧǧas eigenhändiger Niederschrift seiner Kommentare oder Bearbeitungen aristotelischer Schriften, die er in den vergangenen Jahren verfasst hat und die der Schüler jetzt aufs sorgfältigste kopiert. Das Buch der Seele, die Behandlung der aristotelischen Psychologie, ist noch nicht dabei.2 Seine Bearbeitung ist zwar bereits begonnen, aber wenigstens das wichtige Kapitel über das »rationale Vermögen«, den Intellekt, fehlt noch.3 Das Thema aber beschäftigt Ibn Bāǧǧa schon länger; oft hat er mit seinem Schüler über den Status des vom Intellekt Erfassten gesprochen: Liegt hier der Ziel- und Schlusspunkt der Erkenntnis? Einer der Texte, welche die beiden jetzt gemeinsam lesen, enthält bereits die Antwort, die der Autor in den nächsten drei Jahren, bis zu seinem plötzlichen Tod in Fes im Ramadan 533, Mai 1139, in vielen kurzen, rasch hingeworfenen Abhandlungen aus immer neuen Blickwinkeln behandeln wird und die schließlich auch im gleichwohl unvollendeten Buch der Seele (Kitāb al-nafs) ihren Niederschlag findet. Es ist ausgerechnet Ibn Bāǧǧas Kommentar zu Aristoteles’ Schrift Über Entstehen und Vergehen (De generatione et corruptione), ein Text, der sich mit der Struktur der Grundbausteine der Natur und ihren Veränderungsprozessen befasst,
1Für die hier in Anschlag gebrachte Chronologie vgl. unten, iii. Das Buch der Seele (Überlieferung und Datierung); sowie Ǧamāl al-Dīn al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, Beirut 1983, 43–46, 102–108, 156–166; für eine Kritik von al-ʿAlawīs Deutung seiner Chronologie siehe den Abschnitt iv. Leitlinien für eine neue Lektüre (Stellung im Gesamtwerk). 2Der Begriff »Psychologie« ist hier stets verwandt als Benennung der Seelenlehre im Sinne des Aristoteles, also als eine philosophische Disziplin, die nicht das »seelische« Erleben zum Gegenstand hat, sondern die Seele als Ursache objektiver Funktionen lebendiger Wesen studiert. 3Vgl. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, in: Ibn Bāǧǧa (Avempace), La conduite de l’isolé et deux autres épîtres, introduction, édition critique du texte arabe, traduction et commentaire par Charles Genequand (Textes et traditions 19), Paris 2010, 183–203, hier 191, 5–9; Rasāʾil Ibn Bāǧǧa al-ilāhīya (al-Dirāsāt wa-l-nuṣūṣ al-falsafīya 1), ed. Māǧid Faḫrī, Beirut 1968, 155–173, hier 162, 13–16; Miguel Asín Palacios, Tratado de Avempace sobre la unión del intelecto con el hombre, in: Al-Andalus 7 (1942), 1–47, hier 14, 23–26.
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der in einem langen Exkurs den Faden bis zur höchsten Erkenntnis verfolgt.4 Hier wird erläutert, dass die Erkenntnis nicht beim Erfassen sinnlich erfahrbarer Dinge endet, sondern vielmehr mit dem »erworbenen Intellekt«, dem Ergreifen der reinen intellektuellen Aktivität als solcher, die Grund jeder möglichen Erkenntnis ist. Der Schüler vermerkt die Abschweifung in seiner Abschrift, offenbar ohne ihre gesamte Tragweite zu erfassen: »Diese Darlegung gehört nicht zur Schrift De generatione et corruptione, sondern es handelt sich um eine besondere Untersuchung der Potenzen.« Tatsächlich knüpfen die erkenntnistheoretischen Ausführungen an den Begriff der Potenz an, der in Ibn Bāǧǧas Auslegung der naturphilosophischen Fragestellungen eine zentrale Funktion erhält. Aus seiner Sicht gehört die Darlegung der Potenzen daher aber gerade zum behandelten Text und, mehr noch, es gibt von ihr eine innere Verbindung zur Frage des Intellekts. In einer Passage, die noch sein großer andalusischer Nachfolger Ibn Rušd (Averroes) in seinem Kommentar der aristotelischen Schrift Über die Seele (De anima) zitieren wird,5 kann Ibn Bāǧǧa daher gegen Ende des Exkurses ausrufen: »Was ist von gewaltigerem Gewinn als diese Erkenntnis, die wir bei unserer Untersuchung der bewegenden und bewegten Potenzen erlangt haben!« Abū Bakr Muḥammad Ibn Yaḥyā Ibn al-Ṣāʾiġ, bekannt als Ibn Bāǧǧa (sprich: Baadscha), ist als »Vorläufer« in die Geschichte der Philosophie eingegangen. Er gilt – mit Recht – als Ahnvater jener philosophischen Strömung in »al-Andalus«, dem muslimischen Spanien, die anschließend bedeutende Philosophen wie Ibn Rušd (1126–1198) und Maimonides (1138–1204) hervorgebracht hat. Geboren im letzten Viertel des 11. Jahrhunderts in Saragossa, gestorben 1139 in Fes, geht Ibn Bāǧǧa den beiden genannten um zwei Generationen vorauf. Als erster in al-Andalus beschäftigt er sich intensiv mit den Schriften des Aristoteles und hinterlässt Kommentare zu einigen der wichtigsten. Es ist aber vielmehr das weit umfangreichere Kommentarwerk Ibn Rušds, das in der Folge das Studium des Aristoteles im Westen prägt, insbesondere in lateinischer und hebräischer Übersetzung, während der arabische Osten in der Nachfolge Ibn Sīnās (980–1037) ganz andere Wege geht.6 Dennoch hat Ibn Bāǧǧa eine tiefe Wirkung auf die
4Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, in: Avempace, Libro de le generación y corrupción (Pensamiento islámico 4), ed. Josep Puig Montada, Madrid 1995, 26–40 [arab.]; für die folgenden Zitate siehe insbesondere 26, Anm. 3 und 38, 9–11. 5Vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum in Aristotelis de Anima Libros (Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem. Versionum latinarum 6, 1), ed. F. Stuart Crawford, Cambridge (Mass.) 1953, 493, 389–398. Zur Korrektur dieser Stelle, an der Ibn Rušd sich, anders als es der lateinische Text suggeriert, auf Ibn Bāǧǧa und nicht auf al-Fārābī bezieht, vgl. David Wirmer, Averroes. Über den Intellekt. Auszüge aus seinen drei Kommentaren zu Aristoteles’ De anima, Arabisch–Lateinisch–Deutsch, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen, Freiburg–Basel–Wien 2008, 34f. 6Zur Entwicklung der Philosophie im Osten der islamischen Welt vgl. etwa Heidrun Eichner, Die Avicenna-Rezeption. Das Phänomen der enzyklopädischen Darstellungen, in: dies.,
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Geschichte der Philosophie ausgeübt, eben indem er in al-Andalus ein Modell der Philosophie aufgriff und weiterprägte, das über sein arabisches Vorbild, den in Bagdad wirkenden al-Fārābī (ca. 870–950) und dessen »Schule«, in der spätantiken Aristotelesauslegung wurzelt. Und zwar ist es Alexander von Aphrodisias, der »aristotelischste« der griechischen Kommentatoren, der hier die Aristoteleslektüre bestimmt.7 Durch den Anstoß, den Ibn Bāǧǧa so der Philosophie in al-Andalus gab, zumal durch seinen tiefgreifenden Einfluss auf Ibn Rušd selbst,8 hat er die Richtung entscheidend mitbestimmt, welche die sich herausbildende europäische Wissenschaft, angeregt von der andalusisch-arabischen Philosophie, ab dem 13. Jahrhundert nahm.9 Dieser beträchtliche indirekte Einfluss forderte jedoch einen Matthias Perkams, Christian Schäfer (Hg.), Kleines Handbuch der islamischen Philosophie, Darmstadt 2013, 50–66; Dimitri Gutas, Avicennas Erbe. Das ›Goldene Zeitalter‹ der arabischen Philosophie (1000–ca. 1350), ebd. 96–112. 7Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī li-bn Bāǧǧa al-Andalusī, ed. Maʿn Ziyāda, Beirut 1978, 103, 18; Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Māǧid Faḫrī, 2. Aufl. Beirut 1991, 92, 2, bezeichnet Alexander als »den besten von allen Leuten in Bezug auf die Theorie«. Ähnlich Ibn Rušd, Maqāla fī luzūm ǧihāt al-natāʾiǧ li-ǧihāt al-muqaddimāt, in: Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm alṭabīʿī li-Abī l-Walīd Ibn Rušd, ed. Ǧamāl al-Dīn al-ʿAlawī, Casablanca 1983, 176–186, hier 186, 16–19. Auch in seinen vielfachen kritischen Bezugnahmen auf Alexander bestätigt Ibn Rušd dessen Vorbildcharakter, und zwar insbesondere wenn er behauptet, bei den Philosophen der Gegenwart besitze nur die Position Alexanders Geltung, vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 433, 145–153: »Et forte opinio attributa Alexandro fuit ficta ab eo solo, et in tempore eius erat inopinabilis et abiecta ab omnibus. Et ideo videmus Themistium dimittentem eam omnino, et fugere eam sicut caventur inopinabilia. Et hoc contrarium est ei quod contingit Modernis; nullus enim est sciens et perfectus apud eos nisi qui est Alexandreus. Et causa in hoc est famositas istius viri, et quia creditur esse vere unus de bonis expositoribus.« Die bestimmende Rolle Alexanders spiegelt sich noch in Ibn Sabʿīns Auflistung der Stellen, an denen Alexander Aristoteles widerspricht, die er im wesentlichen aus Ibn Rušds Schriften exzerpiert; siehe dazu Anna Ayşe Akasoy, Philosophie und Mystik in der späten Almohadenzeit. Die Sizilianischen Fragen des Ibn Sabʿīn (Islamic Philosophy, Theology and Science 59), Leiden–Boston 2006, 189–214. Zum Einfluss Alexanders auf Maimonides vgl. Shlomo Pines, Translator’s Introduction, in: Moses Maimonides, The Guide of the Perplexed, translated with an intoduction and notes by Shlomo Pines, Chicago–London 1963, lvii–cxxxiv, hier lxiv. 8Für einige Beispiele dieses Einflusses vgl. etwa Josep Puig Montada, Ensayo sobre el pensamiento de Avempace y su repercusión en Averroes, in: Anaquel de estudios árabes 7 (1996), 241–261; zur Psychologie und Erkenntnistheorie siehe insbesondere das Nachwort in: Wirmer, Averroes. Über den Intellekt. 9Siehe dazu die prägnante Darstellung bei Ludger Honnefelder, ›Bildung durch Wissenschaft‹: Albertus Magnus oder die Geburt der Universitätsidee aus der Begegnung griechischhebräisch-arabischer Wissenschaft mit christlicher Gelehrsamkeit im lateinischen Westen des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, in: ders., Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee, Berlin 2011, 9–23. Zur Übertragung des spezifisch andalusischen philosophischen Programms (neben dem konkurrierenden avicennischen) vgl. Charles Burnett, The Coherence of the Arabic-Latin Translation Program in Toledo in the Twelfth Century, in: Science in Context 14 (2001), 249–288.
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hohen Preis: Ibn Bāǧǧas Werk kann heute nur mit Schwierigkeiten anders als durch die Brille Ibn Rušds wahrgenommen werden.10 Ibn Rušd vermittelte der Nachwelt das Bild von Ibn Bāǧǧa als einem Denker, der vor allem fieberhaft mit dem erwähnten höchsten Erkenntnisakt, der sogenannten »Konjunktion« (ittiṣāl), beschäftigt war.11 Zwar sind nach der Wiederentdeckung des Autors durch Salomon Munk 184712 und insbesondere nach der durch Miguel Asín Palacios in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnenen Edition seiner Werke13 zahlreiche Aspekte der Schriften Ibn Bāǧǧas studiert worden, keiner jedoch so intensiv wie seine Seelen- und Intellektlehre, die auch nach dem Urteil der gegenwärtigen Forschung als zentrales Stück seines Denkens zu betrachten ist. Umso erstaunlicher ist es daher, dass das Buch der Seele vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit erhalten hat, und das, obgleich gerade dieser Text, vermittelt über seine prägende Wirkung auf Ibn Rušd, auch die westliche Philosophie beeinflusst hat. Sicher verbunden mit der Vernachlässigung des wichtigen Textes ist das Versäumnis der bisherigen Forschung zu klären, welcher Art die Zentralität der Seelenlehre bei Ibn Bāǧǧa genau ist und worauf sie beruht.14 Die hier präsentierte Neuinterpretation der Psychologie Ibn Bāǧǧas stellt nun das Buch der Seele in den Mittelpunkt. Eine deutsche Übersetzung, beruhend auf der in Vorbereitung befindlichen kritischen Neuedition, ist im Anhang beigegeben. Sie macht den Text erstmals in verlässlicher Form zugänglich. Das vorliegende Buch will so eine neue Lektüre von Ibn Bāǧǧas Gesamtwerk anstoßen, und verfolgt dabei zugleich eine – in seinem Titel zusammengefasste – systematische These: Ibn Bāǧǧa konzipiert die Psychologie als eine Wissenschaft, die zwei verschiedene Erkenntnis- und Begründungsordnungen zusammenschließt. 10Vgl. Genequands Bemerkung in: Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, 68, wobei ich Genequands Auffassung, Ibn Bāǧǧa habe einen ganz anderen Begriff der »Konjunktion« besessen als Ibn Rušd, nicht teile; siehe dazu unten, Anm. 143. 11Siehe dazu den Abschnitt »Leitlinien für eine neue Lektüre«, der auch die Übertreibung verdeutlicht, die in dieser Annahme steckt. 12Salomon Munk, »Ibn-Badja«, in: Dictionnaire des sciences philosophiques, par une société de professeurs et de savants, Bd. 13, Paris 1847, 453–457. Eine umfangreichere Fassung hat Munk dann gegeben in: Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1859 [Nachdruck: Paris 1955], 383–410. 13Asín hatte bereits zwischen 1901 und 1902 einen in mehreren Stücken erschienenen biographischen Aufsatz in der Revista de Aragón zu Ibn Bāǧǧa veröffentlicht, hat sich aber erst von 1940 bis 1943 intensiver mit seinem Werk beschäftigt; vgl. dazu seine eigenen Auskünfte in: Miguel Asín Palacios, Avempace botánico, in: Al-Andalus 5 (1940), 255–299, hier 255f. Danach hat er noch weitere Schriften Ibn Bāǧǧas publiziert, das letzte im Folgenden genannte Buch erschien aus dem Nachlaß: Miguel Asín Palacios, Tratado de Avempace sobre la unión del intelecto con el hombre, in: Al-Andalus 7 (1942), 1–47; ders., La Carta de adiós de Avempace, in: Al-Andalus 8 (1943), 1–87; El régimen del solitario por Avempace, edición y traducción de M. Asín Palacios, Madrid 1946. 14Zu einer näheren Erläuterung dieses Befundes siehe unten den Abschnitt »Leitlinien für eine neue Lektüre«.
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Sie legt die »Natur des Denkens« in dem Sinne frei, dass sie das Denken als einen natürlichen Akt mit natürlichen Voraussetzungen erweist. Diese naturwissenschaftliche15 Analyse des Denkens eröffnet sich aber nur, weil gezeigt werden kann, dass das »Denken der Natur« von vornherein auf die intelligiblen, das heißt denkförmigen, Strukturen der natürlichen Welt gerichtet ist. Entschiedener als alle arabischen Philosophen vor ihm knüpft Ibn Bāǧǧa an das hylemorphische Seelenmodell des Aristoteles an: Die Seele ist nicht weniger, aber auch nicht mehr als Form des Körpers. So betreibt Ibn Bāǧǧa die gesamte Psychologie, einschließlich der Intellektlehre, konsequent als Naturwissenschaft, die auf der »Grundlagenforschung« der übrigen naturphilosophischen Disziplinen aufbaut und aus den dort aufgefundenen Prinzipien zu entwickeln ist. Andererseits deckt sie dabei den Intellekt als Ursache und Inbegriff von Formhaftigkeit überhaupt und damit als ein Prinzip anderer Ordnung auf, von dem sich erweist, dass es als Horizont alles Natürlichen und dessen Erkenntnis schon immer vorausgesetzt ist. Diese zwei Wurzeln der Psychologie und die aus ihnen erwachsenden Argumentationsstränge lassen sich am besten anhand zweier Begriffe verfolgen, deren Wichtigkeit im Œuvre Ibn Bāǧǧas öfters bemerkt wurde, die jedoch noch nie zum Gegenstand einer detaillierten Untersuchung gemacht worden sind: »Potenz« (quwwa) und »Intention« (maʿnā).16 Der Begriff der Potenz, den Ibn Bāǧǧa in ganz anderer Weise systematisiert, als es ein wirkmächtiger Forschungsbeitrag Shlomo Pines’ bisher suggeriert,17 zeigt sich als Leit- und Strukturprinzip 15Der Begriff »Naturwissenschaft« ist hier stets im aristotelischen, nicht im modernen Sinne gemeint und entspricht der von Ibn Bāǧǧa häufig verwendeten Formulierung al-ʿilm al-ṭabīʿī. Da die aristotelische Definition von »Natur« als »internes Prinzip der Bewegung« jedoch den Prozesscharakter alles Natürlichen betont und da weiterhin alles Prozesshafte Zusammengesetztsein und Teilbarkeit und so letztlich Materialität impliziert (vgl. dazu Kapitel 7), so beinhaltet Ibn Bāǧǧas Behandlung der Seelenlehre als »Naturwissenschaft« dennoch das, was im modernen Verständnis mit einer solchen Beschreibung verbunden wäre: Die Seelenlehre betrachtet Eigenschaften und Funktionen (einer bestimmten Gruppe) materieller Körper. 16Die Übersetzung von maʿnā als »Intention« stützt sich auf dessen lateinische Lehnübersetzung intentio. Sie scheint mir die einzig angemessene, weil die alternativen Übersetzungen »Sache« und »Bedeutung« nur jeweils einen der im Begriff maʿnā enthaltenen Aspekte – den realen oder den mentalen – ausdrücken. Maʿnā stellt aber gerade die intime Verbindung von beiden dar, die etwa Max Horten, Was bedeutet maʿnan als philosophischer Terminus?, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 64 (1910), 391–396, hier 391, treffend so beschreibt: »›Maʿnā‹ bezeichnet als philosophischer Terminus meistens nicht etwa einen subjektiven Gedanken, sondern eine unkörperliche Realität, die in der objektiven Außenwelt den Dingen wie ein Accidens inhäriert. Vielfach wird auch nur betont, daß es sich um eine besondere, selbständige Realität handele, die in den Dingen besteht und von dem Denkenden durch einen Begriff – maʿnā – gedacht wird.« 17Shlomo Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, in: Mélanges Alexandre Koyré, Bd. 1, Paris 1964, 442–468; siehe dazu Kapitel 7, Abschnitt 3 und Kapitel 8, Abschnitt 1.4. Die überragende Bedeutung des Begriffs der Potenz, weniger für die Psychologie als allgemein für die Philosophie
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Einleitung
der Naturwissenschaft, das dazu dient – wie aus dem obigen Aperçu bereits deutlich wird –, die Psychologie an die Naturwissenschaft anzuschließen, und dessen theoretische Grundlagen tatsächlich maßgeblich im Buch der Seele entwickelt werden. Der Begriff der Intention knüpft an die Analyse natürlicher Prozesse der Übertragung von Formen an, wird aber von Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele und späteren Texten vor allem eingesetzt, um den spezifisch epistemischen Charakter solcher Formen zu beschreiben, die von den Erkenntnisvermögen oder »Potenzen« (quwā al-nafs) aufgenommen und erfasst werden. Erst indem diese Abstraktion der Form bis an ihre Grenze vorangetrieben wird, klärt sich auf, was Form überhaupt ist. Und erst damit erhält auch der Begriff der Potenz, die immer die Potenz zu einer Form ist, seinen tiefsten Sinn. Die vorliegende Studie beschränkt sich dennoch ganz bewusst darauf, die am Potenzbegriff hängenden naturphilosophischen Voraussetzungen und Elemente der Psychologie zu untersuchen; sie behandelt, wie der Untertitel sagt, »Ibn Bāǧǧas Theorie der Potenz als Grundlegung der Psychologie«. Denn es ist diese naturphilosophische Perspektive, die bisher von der epistemologischen – zu deren eigenem Schaden – verdeckt worden ist. Die Verfolgung der im engeren Sinne erkenntnistheoretischen Elemente, die sich an den Intentionsbegriff Ibn Bāǧǧas knüpfen lassen und die ich andernorts nur sehr knapp angedeutet habe,18 bleiben daher einer späteren Publikation vorbehalten. Im Ausblick, der dieses Buch beschließt, sollen die Grundlinien dessen vorgezeichnet werden, was die Rekonstruktion der Psychologie Ibn Bāǧǧas aus dieser zweiten Perspektive zu leisten haben wird. Beide Perspektiven sind jedoch so eng miteinander verschränkt, dass auch aus der Analyse der Potenztheorie bereits deutlich wird, inwiefern die Psychologie bei Ibn Bāǧǧa nicht nur Natur- sondern auch Fundamentalwissenschaft ist.
Ibn Bāǧǧas, ist auch von Puig bereits angemerkt worden, vgl. Ibn Bāǧǧa, Libro de la generación, xvff. Dies hat aber bisher nicht zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Thema geführt. 18David Wirmer, Der Begriff der Intention und seine erkenntnistheoretische Funktion in den De-anima-Kommentaren des Averroes, in: Matthias Lutz-Bachmann [u.a.] (Hg.), Erkenntnis und Wissenschaft. Probleme der Epistemologie in der Philosophie des Mittelalters (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 10), Berlin 2004, 35–67, hier 49–53. Als erster hat M. Blaustein auf die Bedeutung des Intentionsbegriffs bei Ibn Bāǧga hingewiesen und eine Darstellung seiner Herleitung gegeben; siehe dazu unten den Abschnitt »Forschungsstand zum Buch der Seele«.
Ibn Bāǧǧa: Leben und Werk im Überblick
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ii. Ibn Bāǧǧa: Leben und Werk im Überblick Kontext und Bildungsgang Ibn Bāǧǧas Lebens- und Wirkungszeit fällt in eine Epoche der Umbrüche in al-Andalus. In seiner Jugend beherrschten Kleinkönige (mulūk al-ṭawāʾif) die verschiedenen Städte und Regionen des muslimischen Teils Spaniens. Diese während des Zerfalls des umayyadischen Kalifats in Cordoba (seit 399/1009) eingetretene politische Zersplitterung ging mit einer außerordentlichen kulturellen Blüte einher, da die lokalen Höfe danach strebten, den Glanz des Kalifenhofes nachzuahmen.19 In Saragossa, Ibn Bāǧǧas Heimatstadt, herrschten ab etwa 400/1010 lokale arabische Familien, zunächst und bis 430/1039 die Banū Tūǧib, eine Sippe, der Ibn Bāǧǧa angeblich selbst entstammt,20 anschließend die Banū Hūd, die sich dort auch nach der Einnahme von al-Andalus durch die Berberdynastie der Almoraviden bis zum Jahr 503/1110 halten konnten. Die kulturell angeregte Atmosphäre setzte sich unter den Almoraviden fort, insbesondere an den Höfen der regionalen Statthalter des almoravidischen Befehlshabers, der meist in Marrakesch weilte.21 Zu diesem Hofmilieu gehörte auch Ibn Bāǧǧa, zunächst in Saragossa als Vertrauter des Statthalters Ibn Tīfilwīt (gest. 510/1117). Hier tat er, wie viele Anekdoten und überlieferte Fragmente zeigen, sich als Dichter und Liedkompositeur hervor.22 Nach der Eroberung Saragossas durch die Christen 512/1118, hielt sich Ibn Bāǧǧa in verschiedenen Städten Spaniens und des Maghreb auf, vermutlich die meiste Zeit in Granada.23 In dieser Zeit erodierte die Herrschaft der Almoraviden in Nordafrika bereits wieder. Seit etwa 1120 agi-
19Vgl. David Wasserstein, Mulūk al-Ṭawāʾif. 2. In Muslim Spain, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 7, Leiden–New York 1993, 552–554; zu den im Folgenden genannten Daten ders., The Rise and Fall of the Party-Kings: Politics and Society in Islamic Spain 1002–1086, Princeton 1985, 93f. 20Vgl. Douglas Morton Dunlop, Remarks on the Life and Works of Ibn Bājjah (Avempace), in: Proceedings of the XXIInd Congress of Orientalists, Bd. 2, Leiden 1957, 188–196, hier 192. 21Zur Geschichte der Almoraviden vgl. insbesondere den Artikel von H. T. Norris, P. Chalmeta, al-Murābiṭūn, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 7, Leiden–New York 1993, 583–591, und die zwei Bände von Vincent Lagardère, Les Almoravides jusqu’au règne de Yusuf b. Tasfin (1039-1106), Paris 1989; Les Almoravides. Le djihâd andalou (1106-1143), Paris 1998. 22Zur Biographie Ibn Bāǧǧas vgl. neben dem in Anm. 20 genannten Aufsatz: Douglas Morton Dunlop, Ibn Bādjdja, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 3, Leiden 1979, 728f; Joaquín Lomba Fuentes, José Miguel Puerta Vílchez, Ibn Bāǧǧa, Abū Bakr, in: Biblioteca de al-Andalus, Bd. 2, Almería 2009, 624–661; zuvor gedruckt in: Enciclopedia de al-Andalus. Diccionario de autores y obras andalusíes, hg. Jorge Lirola Delgado, José Miguel Puerta Vílchez, Bd. 1, Granada 2002, 624–663. Zur Dichtung Ibn Bāǧǧas vgl. auch al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 136–152. 23Bei einigen Biographen hat er den Beinamen al-Ġarnāṭī; Hinweise darauf, dass er den größten Einfluss in Granada ausgeübt hat, hat Miquel Forcada, Ética e ideología de la ciencia: El médico-filósofo en al-Andalus (siglos X–XII), Almería 2011, 299–303, gesammelt.
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tierte dort der geistige Führer der Almohaden, Ibn Tūmart, und die Bewegung sorgte für eine zunehmende Bedrohung.24 Ibn Bāǧǧa selbst spricht in einer um 1138 verfassten Abhandlung vom »Aufruhr« (tašġīb), dem er offenbar nach Oran ausweichen wollte.25 Er starb jedoch im Ramadan 533/Mai 1139 in Fes. 1147 beendeten die Almohaden – in deren Umfeld dann Ibn Rušd tätig sein sollte – mit der Eroberung von Marrakesch und Sevilla die Herrschaft der Almoraviden. Wie sich in diesem historischen Rahmen die Philosophie beziehungsweise allgemeiner die »Wissenschaften der Alten« (ʿulūm al-awāʾil) entwickelt haben und insbesondere, wie hier Ibn Bāǧǧas kultureller Kontext aussah, soll in Kapitel 1 näher untersucht und dargestellt werden. Wichtig zum allgemeinen Verständnis Ibn Bāǧǧas ist, was aus den erhaltenen Zeugnissen übereinstimmend hervorgeht, nämlich dass erstmals in diesem Kontext neben Medizin, Mathematik, Astronomie und elementarer Logik auch die im engeren Sinne philosophischen Disziplinen, insbesondere Naturphilosophie und Metaphysik, betrieben wurden und dass sich diese Tendenz am deutlichsten in der Person und dem Werk Ibn Bāǧǧas ausspricht.26 Es kann daher kaum erstaunen, dass aus vielen der überlieferten Anekdoten ein großes Selbstbewusstsein, ja eine gewisse Arroganz Ibn Bāǧǧas abzulesen ist. An dem Bonmot Ibn Sabʿīns, der von Ibn Rušd behauptet, er sei in Aristoteles verliebt gewesen, von Ibn Bāǧǧa dagegen, er sei in sich selbst verliebt gewesen, ist vielleicht etwas Wahres daran.27 In einer dieser Anekdoten betritt Ibn Bāǧǧa die Moschee von Granada und wird von den dort sitzenden Schülern eines Grammatikers spöttisch gefragt: »›Was bringt der Gelehrte? Welche Wissenschaften beherrscht er? Was sagt er?‹ Da antwortete ihnen [Ibn Bāǧǧa]: ›Ich bringe zwölftausend Dinar, sie sind hier unter meinem Arm‹ – und er holte zwölf Edelsteine hervor, jeden im Wert von tausend Dinar. ›Was ich beherrsche, das sind zwölf Wissenschaften, und die geringste unter ihnen ist die Wissenschaft der arabischen Sprache, die ihr studiert. Was ich sage ist, dass ihr so seid‹ – und er begann sie zu beschimpfen.«28 Diese Ge24Vgl. Mahmoud Makki, The Political History of al-Andalus (92/711–897/1492), in: Salma Khadra Jayyusi (Hg.), The Legacy of Muslim Spain, Leiden 1992, 3–87. 25Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 203, 9: »Ich werde mich in Oran niederlassen, da dort der Aufruhr geringer ist.« Diese Reise erwähnt auch Ibn Ṭufail, vermutlich auf Grund derselben Textstelle; vgl. Hayy ben Yaqdhân. Roman philosophique d’Ibn Thofaïl, texte arabe avec les variantes des manuscrits et de plusieurs éditions et traduction française, 2e édition revue, augmentée et complètement remaniée par Léon Gauthier, Beirut 1936, 10. Der Text liegt jetzt in verlässlicher deutscher Übersetzung vor: Abū Bakr Ibn Ṭufail, Der Philosoph als Autodidakt. Ḥayy ibn Yaqẓān. Ein philosophischer Inselroman, übersetzt, mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Patric O. Schaerer, Hamburg 2009, hier 7. 26Vergleiche dazu ausführlicher Kapitel 1, insbesondere die dort zitierten Zeugnisse von Sāʿid, Ibn al-Imām und Ibn Ṭufail. 27Ibn Sabʿīn, Budd al-ʿārif, taḥqīq wa-taqdīr Ǧūrǧ Kattūra, Beirut 1978, 143, 3–11. 28Aḥmad Ibn Muḥammad al-Maqqarī, Nafḥ al-ṭīb min ġuṣn al-Andalus al-ratīb, ed. Iḥsān ʿAbbās, Bd. 3, Beirut 1988, 373f.
Ibn Bāǧǧa: Leben und Werk im Überblick
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schichte illustriert neben dem Charakter Ibn Bāǧǧas auch seine soziale Stellung, die deutlich ebenfalls in seinen Beinamen zum Ausdruck kommt –al-Ṣāʾiġ, »der Juwelier«, und Bāǧǧa, das sich wohl vom romanischen Wort für Silber, plata, ableitet.29 Ibn Ṭufail spricht von dem Ibn Bāǧǧa nachgesagten »Drang, Vermögen zu erwerben und zusammenzuraffen«.30 Wie dem auch sei, die Anekdote zeigt Ibn Bāǧǧa als einen unabhängigen Mann, der Wissenschaften wie Preziosen sammelt. Das trifft in etwa auch, was wir sonst über sein Leben und sein Werk wissen, besagt aber noch nichts über die Ernsthaftigkeit seiner Beschäftigung mit diesen Wissenschaften. Ein Selbstzeugnis, das sich in einem Brief Ibn Bāǧǧas an seinen Freund Abū Ǧaʿfar Yūsuf Ibn Ḥasdai findet,31 belegt, dass Ibn Bāǧǧa sich sehr systematisch – und wiederum mit großem Selbstvertrauen – in die verschiedenen Disziplinen einarbeitete: »Was die Kunst der Musik angeht, so habe ich mich ihr gewidmet, bis ich in ihr einen Stand erreicht hatte, mit dem ich selbst zufrieden war. Dann, danach, die Kunst der Astronomie – und ich habe es in ihrer Betrachtung zu der Vollendung gebracht, welche das verlangt, was ich von ihren Prinzipien gefunden habe. Währenddessen habe ich mich überzeugt, dass jeder, der in dieser Kunst als vollkommen erwähnt wird, in ihr nur Unbedeutendes und Weniges erfasst hat, und dies fiel zusammen mit [meiner] Reise nach Sevilla, und zwar nachdem ich meine Betrachtung in ihr vollendet hatte. Alle, die diese Kunst anstreben, sind nämlich in Sevilla ansässig und gehen dorthin als zu ihrer Quelle. Währenddessen war mir das Ziel Abū Naṣr [al-Fārābīs] in Bezug auf die Arten des Beweises, die er aufgezählt hat, nicht klar, und nur das war mir noch aufgegeben geblieben, und ich habe mir vor kurzem darüber Klarheit verschafft. Danach habe ich mich ausschließlich der Naturwissenschaft [al-naẓr al-ṭabīʿī] gewidmet, und ich ziehe ihr keine [andere] Tätigkeit vor. Was die offensichtlichen Dinge in der Physik angeht, so bin ich dabei, es ist schon fertig, und ich habe sie nur deshalb mit einer ausführlichen Inhaltsangabe versehen [faṣaṣtuhū], weil sie die Prinzipien enthält, und alles, was danach kommt, aus ihr folgt […].«32 Am Leitfaden dieses Textes lässt sich zumindest ein partieller Überblick über Ibn Bāǧǧas wissenschaftliche Aktivitäten gewinnen. 29Vgl. Miguel Cruz Hernández, Filosofía hispano musulmana, Bd. 1, Madrid 1957, 340. 30Ibn Ṭufail, Hayy ben Yaqdhân, ed. Gauthier, 10; Ibn Ṭufail, Der Philosoph als Autodidakt, Übersetzung Schaerer, 7. 31Zu ihm siehe ausführlicher Kapitel 1, Abschnitt 2.1. 32Ibn Bāǧǧa, wa-min Kalāmihī mā baʿaṯa bihi li-Abī Ǧaʿfar Yūsuf Ibn Ḥasdai, in: Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 78, 19–79, 8; in Zeile 79, 7 ist die eingeklammerte Passage mit MS Oxford, f. 118v wohl als wa-anā fīhi, qad tamma zu lesen.
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Einleitung
Forschungsfelder Musik. In der Musik genoß Ibn Bāǧǧa bei seinen Zeitgenossen einen überragenden Ruf; er hat sich auf diesem Feld sowohl praktisch als auch theoretisch betätigt, was keineswegs der Regelfall war. Ein Musikhistoriker des 12. Jahrhunderts, Aḥmad al-Tīfāšī berichtet: »Ibn Bāǧǧa, der ausgezeichnetste Experte, erschien und zog sich mehrere Jahre mit begabten Sängerinnen zurück; so verbesserte er [die Genres] des istihlāl und des ʿamal und kombinierte die Lieder der Christen mit denen des Ostens. Auf diese Weise erfand er einen Stil, den es nur in al-Andalus gibt.«33 al-Tīfāšī überliefert zudem einige Lieder Ibn Bāǧǧas, sowie seiner Schüler Ibn Ǧūdī und Ibn al-Ḥimmāra. Ibn Bāǧǧas theoretische Beschäftigung mit der Musik stand offenbar in der Nachfolge al-Fārābīs, dem er als Autorität des Westens an die Seite gestellt wird.34 Eine erhaltene Handschrift von al-Fārābīs Großem Buch der Musik (Kitāb al-mūsiqā al-kabīr), stammt von einem Schüler Ibn Bāǧǧas, der sie aus dem Exemplar seines Meisters abgeschrieben hat.35 Ibn Bāǧǧas eigenes Buch der Musik (Kitāb al-mūsiqā) ist nicht erhalten, nur ein kurzes Fragment unter dem Titel Über die Melodien (Fī l-alḥān), das vermutlich daraus stammt.36 Astronomie. Ibn Bāǧǧas Beschäftigung mit der Astronomie lässt sich wahrscheinlich etwa auf die Zeit um 500/1107 datieren, da er selbst berichtet, in diesem Jahr eine Konjunktion von Mars und Jupiter beobachtet zu haben.37 Aus seinem Selbstzeugnis wird überdeutlich, dass er mit dem Forschungsstand der 33Benjamin M. Liu, James T. Monroe, Ten Hispano-Arabic Strophic Songs in the Modern Oral Tradition. Music and Texts (University of California Publications in Modern Philology 125), Berkley 1989, 42. Siehe dort auch zu den Diskussion, welchen Liedtyp genau Ibn Bāǧǧa erfunden haben soll. 34Vgl. al-Maqqarī, Nafḥ al-ṭīb, ed. ʿAbbās, Bd. 3, 185. 35Die von Moritz Steinschneider, Al-Farabi (Alpharabius). Des arabischen Philosophen Leben und Schriften, St. Petersburg 1869, 80, erwähnte Handschrift befand sich damals im Escorial (Casiri, Bibliotheca, Bd. 1, 347, no. 906). Sie befindet sich heute unter der Signatur Res. 241 in der Nationalbibliothek in Madrid, die ein Digitalisat zur Verfügung stellt, URL: http://bdh.bne. es/bnesearch/detalle/2694637, zuletzt aufgerufen am 25.03.2014. Auf dem Titelblatt, f. 1r, findet sich folgende teils beschädigte Anmerkung: [hāḏa?] al-kitāb bi-ḫaṭṭ al-wazīr Abī l-Ḥasan Ibn Abī Kāmil, nazīl Qurṭuba ḥarasahā Allāh wa-raḥimahū [min …] li-l-ḥak[īm] Abī Bakr Ibn alṢāʾiġ al-maʿrūf bi-bn Bāǧǧa al-Saraqusṭī al-failasūf raḥimahū Allāh, [...] an kaṯīran mā […] Ibn Abī Kāmil al-maʿrūf bi-[…] wa-kāna huwa kaṯara al-luzūm lahū wa-qaraʾa ʿalaihi […] almanṭiq, wa-ntasaḫa min ʿindahū ǧum[la min] aḫbār Abī Naṣr wa-tawālīfihī. 36Ediert in: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 82f; siehe dazu auch Manuela Cortés García, Sobre la música y sus efectos terapéuticos en la Epístola sobre las melodías de Ibn Bāyya, in: Revista de Musicología 19 (1996), 1–23. 37Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, in: Paul Lettinck, Aristotle’s Meteorology and its Reception in the Arab World. With an Edition and Translation of Ibn Suwār’s Treatise on Meteorological Phenomena and Ibn Bājja’s Commentary on the Meteorology, Leiden 1999, 434; laut Julio Samsó,
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mathematischen Astronomie nicht zufrieden war. Derselbe Brief an Ibn Ḥasdai enthält weitere kritische Bemerkungen zu den Astronomen Ibn al-Haiṯam und al-Zarqālī, hauptsächlich in Bezug auf die Bestimmung der Bahnen der Planeten Merkur und Venus. Maimonides gibt an, mit einem Schüler Ibn Bāǧǧas dessen Untersuchung der Frage studiert und den entsprechenden Text – es handelte sich vermutlich um seinen Kommentar zur Meteorologie – kopiert zu haben.38 Aus Maimonides’ Bericht wird klar, dass Ibn Bāǧǧa bemüht war, Ptolemaios’ Einordnung dieser Planeten »unterhalb« der Sonne zu verteidigen gegen rezente Versuche in al-Andalus, aus Ptolemaios’ Prinzipien ihre Stellung »oberhalb« der Sonne abzuleiten. Wichtig für Ibn Bāǧǧas Methode und philosophische Einstellung zur Astronomie ist dabei, dass Maimonides unterstreicht, Ibn Bāǧǧa habe nur gezeigt, dass dies »unwahrscheinlich« (istibʿād) sei, nicht, dass es »unmöglich« (manʿ) sei. Im zitierten Selbstzeugnis spricht Ibn Bāǧǧa ebenso einschränkend davon, dass seine astronomischen Kenntnisse die Vollendung erreicht hätten, »welche das verlangt, was ich von ihren Prinzipien gefunden habe«. An einer anderen Stelle seines Kommentars zur Meteorologie, die sich ebenfalls mit astronomischen Fragen beschäftigt, geht er auf den Mangel sicherer Prinzipien in der Astronomie ganz ausdrücklich ein:39 Wir hätten es gern, so erklärt er, wenn wir für alles eine Darlegung finden könnten, »die alles umfasst, wodurch es existiert«, also sämtliche Ursachen. Dies sei jedoch in vielen Fällen sehr schwierig und vielleicht menschenunmöglich, weil wir nicht über die nötigen Erkenntnisprinzipien (mabādiʾ) verfügten, um solch vollständige Erklärungen zu konstruieren. Insbesondere gelte das für die »oberen Dinge«, also den Himmel, da die zur Gewinnung dieser Prinzipien notwendige Zeit – gemeint ist offenbar die Beobachtungszeit – das Menschenmögliche übertreffe. Gleichwohl sei das kein Grund, die Darlegung überhaupt zu unterlassen, vielmehr müsse man sehen, wie weit man mit den vorhandenen Prinzipien komme. Er setzt dann hinzu, die mathematische Astronomie stelle gegenwärtig mehr Prinzipien zur Verfügung als jemals zuvor.40 Sobre Ibn Bāyya y la astronomía, in: Sharq al-Andalus 10–11 (1993–1994), 669–679, hier 678, handelte es sich vielmehr um eine Konjunktion von Jupiter und Saturn. 38Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn, II. 9, siehe Le guide des égarés. Traité de théologie et de philosophie par Moïse ben Maimoun, ed. Salomon Munk, Bd. 2, Paris 1861, f. 20r; Maimonides, Guide of the Perplexed, übers. Pines, 268f. Man vgl. Ibn Bāǧga, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 444–448; der Text ist lakunär und sicher nicht vollständig erhalten. 39Zum Folgenden vgl. Ibn Bāǧga, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 396, 20–398; statt wuǧūdunā ist laut MS B, f. 113v, in Zeile 398, 8 wa-bi-wuddinā zu lesen. 40Zu Ibn Bāǧǧas Auffassung von sinnlicher Erfahrung (taǧriba), ihrem Zeitbedarf, ihrer Rolle in den Wissenschaften (insbesondere Medizin und Astronomie) und der Möglichkeit kumulativer Erfahrung über mehrere Generationen vgl. Miquel Forcada, Ibn Bājja on Medicine and Medical Experience, in: Arabic Sciences and Philosophy 21 (2011), 111–148, insbesondere126–134 und 139–143. Siehe auch die Edition und spanische Übersetzung des dort zugrunde gelegten Textes (Šarḥ fī l-fuṣūl) in: Forcada, Ética e ideología de la ciencia, 349–393.
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Einleitung
In diesem Sinne erwägt Ibn Bāǧǧa die Möglichkeiten, die Astronomie über den bei Aristoteles erreichten Kenntnisstand hinaus weiterzutreiben, auch wenn er den realen Erfolg dieser Versuche eher negativ beurteilt. Dies zeigt sich beispielhaft an seiner Überlegung, warum bei Aristoteles die Exzentrizität nicht auftaucht, also das Modell einer Kreisumlaufbahn, deren Mittelpunkt nicht mit dem Zentrum des Universums zusammenfällt: »Aristoteles hat das überhaupt nicht erwähnt, weil nach ihm sich der Effekt der Exzentrizität nicht vom Effekt der Bahnneigung unterscheidet und er keinen reinen Effekt davon gefunden hat, unabhängig von der Bewegung der Sonne auf einer geneigten Kreisbahn. Auch wir haben das nicht gefunden und dennoch: Wenn wir das nicht hinzufügen, durch was können wir behaupten die Darlegungen des Aristoteles zu vervollständigen [nutammim]?«41 Maimonides erwähnt auch diese Überlegung Ibn Bāǧǧas und antwortet auf seine vorsichtigen Überlegungen, ob Aristoteles die Exzentrizität wohl überhaupt gekannt habe, dass sie Aristoteles selbstverständlich unbekannt gewesen sei und ihn in große Verwirrung gestürzt hätte.42 Denn, wie Maimonides in Fortführung von Ibn Bāǧǧas Argumentation in dessen Werk Über Astronomie (Fī l-haiʾa) kritisch anmerkt,43 die Exzentrizität wiederspricht den Prinzipien der aristotelischen Naturphilosophie, die ein einheitliches Zentrum für das gesamte Universum fordert. Ibn Bāgga, so Maimonides, habe in Über Astronomie die Existenz von Epizyklen – also die Bewegung des Mittelpunktes der Planetenumlaufbahn auf einer eigenen Umlaufbahn (Deferent) um den Weltmittelpunkt – gerade aus diesem Grund ausdrücklich ausgeschlossen.44
41Ibn Bāǧga, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 398, 18–22, bei Anm. 9 ist die Variante von MS B zu wählen. 42Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn, II. 24, ed. Munk, Bd. 2, 53v–54r. 43Ein Fragment dieses Textes ist überliefert in MS B, f. 210r–211v [arab.=203r–204v westlich]; siehe zu diesem Text den Aufsatz von Yafūt, der auch eine Teiledition enthält: Salīm Yafūt, Ibn Bāǧǧa wa-ʿilm al-falak al-baṭlīmūsī, in: ders. (Hg.), Dirāsāt fī tārīḫ al-ʿulūm wa-libistīmūlūǧīya, Rabat 1996, 65–73. Forcada, Ética e ideología de la ciencia, 247, Anm. 3, hat eine vollständige Edition und kommentierte spanische Übersetzung angekündigt. 44Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn, II. 24, ed. Munk, Bd. 2, 51v–52r. Maimonides schreibt hier »Abū Bakr«, der angesichts des unmittelbar vorangehenden namentlichen Verweises auf »Abū Bakr Ibn al-Ṣāʾiġs« Über Astronomie nur Ibn Bāǧǧa sein kann, zu, er habe behauptet, ein astronomisches System ganz ohne Epizyklen und Exzentrizität gefunden zu haben. Maimonides setzt aber hinzu, er habe das »von seinen Schülern« nicht bestätigt bekommen. Dies erklärt sich vermutlich durch den Bericht al-Biṭrūǧīs, der vielmehr »Abū Bakr Ibn al-Ṭufail«, diese Behauptung zuschreibt; zitiert bei Abdelhamid I. Sabra, The Andalusian Revolt against Ptolemaic Astronomy. Averroes and al-Biṭrūjī, in: Everett Mendelsohn (Hg.), Transformation and Tradition in the Sciences. Essays in Honor of I. Bernard Cohen, Cambridge 1984, 133–153, hier 146f. Maimonides hat also vermutlich die beiden Abū Bakrs verwechselt, vielleicht weil er eine Kopie von al-Biṭrūǧīs Text vorliegen hatte, die statt des ganzen Namens nur die kunya angab.
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Ibn Bāǧǧa hat in diesem Punkt offenbar auch eine Entwicklung durchgemacht, weg von Ptolemaios und hin zu einer strikteren Unterwerfung der Astronomie unter die Prinzipien der Naturphilosophie, denn zumindest in einer Version seines Kommentars zum achten Buch der Physik akzeptiert Ibn Bāǧǧa die Existenz von Epizyklen und findet im aristotelischen Text gar einen Verweis auf diese Theorie.45 In der Schrift Über Astronomie hat er dann offenbar eine weniger harmonisierende Richtung eingeschlagen, welche die aristotelische Physik als Studium der »realen« Struktur der Welt über die Ergebnisse der mathematischen Astronomie stellt, welche lediglich »instrumentelle« Rechenmodelle für die Beschreibung der beobachtbaren Planetenbewegungen entwickelt.46 So zeichnen sich bei Ibn Bāǧǧa die Anfänge einer Bewegung ab, die zwei Generationen später bei al-Biṭrūǧī und bei Ibn Rušd – offenbar auch unter dem Einfluss von Ibn Bāǧǧas Über Astronomie – ihren Höhepunkt erreichte und die als »andalusische Revolte gegen Ptolemaios« bekannt geworden ist.47 Über Ibn Bāǧǧas Betätigungen in anderen mathematischen Disziplinen als der Astronomie, die er in seinem Selbstzeugnis nicht erwähnt, sind wir nur soweit unterrichtet, dass sich sagen lässt, dass er bei einem der herausragenden andalusischen Mathematiker seiner Zeit studiert und sich mindestens bis um 1117 intensiv mit mathematischen Beweisen befasst hat. Aus den wenigen erhaltenen
45Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 218, 6–219, 4; vgl. Paul Lettinck, Aristotle’s Physics and its Reception in the Arabic World. With an Edition of Unpublished Parts of Ibn Bajja’s Commentary of the Physics, Leiden 1994, 625. Lettinck macht darauf aufmerksam, dass bereits Philoponos die Epizyklen an derselben Stelle der Physik erwähnt, die Ibn Bāǧǧa zitiert. Wie jedoch der von ihm übersetzte Auszug aus Philoponos’ Kommentar (576) deutlich macht, behauptet Philoponos im Gegensatz zu Ibn Bāǧǧa, dass Aristoteles keine Epizyklen kennt. Zu Umfang und Charakter dieser Version von Ibn Bāǧǧas Kommentierung von Buch VIII vgl. Lettinck 11f, 34, 635f. 46Zu Ibn Bāǧǧas wissenschaftstheoretischer Einordnung der Astronomie siehe auch Kapitel 14, S. 626–628. Zum »Realismus« und »Instrumentalismus« in der Astronomie des Mittelalters vgl. Gad Freudenthal, ›Instrumentalism‹ and ›Realism‹ as Categories in the History of Astronomy: Duhem vs. Popper, Maimonides vs. Gersonides, in: Centaurus 45 (2003), 227–248. Zu den verschiedenen Haltungen zur Astronomie in der arabischen Tradition siehe auch Abdelhamid I. Sabra, Configuring the Universe: Aporetic, Problem Solving, and Kinematic Modeling as Themes of Arabic Astronomy, in: Perspectives on Science 6 (1998), 288–330. 47Vgl. Sabra, The Andalusian Revolt; Gerhard Endreß, Mathematics and Philosophy in Medieval Islam, in: Jan P. Hogendijk, Abdelhamid I. Sabra (Hg.), The Enterprise of Science in Islam: New Perspectives, Cambridge (Mass.) 2003, 121–176, zu Ibn Bāǧǧa insbesondere 148f. Zu Ibn Rušd siehe insbesondere Juliane Lay, L’Abrégé de l’Almageste: Un inédit d’Averroès en version hébraïque, in: Arabic Sciences and Philosophy 6 (1996), 23–61. Zum Einfluss von Ibn Bāǧǧas Über Astronomie auf Ibn Rušd vgl. Miquel Forcada, La ciencia en Averroes, in: Jorge M. Ayala Martínez (Hg.), Averroes y los averroísmos. Actas del III Congreso nacional de filosofía medieval, Saragossa 1999, 49–102, hier 75f.
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Einleitung
Fragmenten lässt sich auch hier sein entschieden philosophischer Blick auf die Mathematik erschließen.48 Medizin. Ein weiteres Forschungsfeld, das Ibn Bāǧǧa in seinem Selbstzeugnis ebenfalls unerwähnt lässt – vermutlich weil sein Korrespondent, Ibn Ḥasdai, darüber bestens Bescheid wusste – ist das der Medizin.49 Mehrere biographische Notizen bescheinigen Ibn Bāǧǧa ein beträchtliches Ansehen und Erfolg auf diesem Gebiet, die angeblich sogar Grund für seine Ermordung durch einen Gefolgsmann der Sevillaner Arztfamilie Banū Zuhr gewesen sein sollen.50 Von heftige Animositäten zwischen Ibn Bāǧǧa und Abū l-ʿAlāʾ Zuhr ist die Rede, sowie von einem Konkurrenzverhältnis der beiden insbesondere auf dem Gebiet der Pharmakologie (ḥašāʾiš).51 Auf diesem Gebiet hat Ibn Bāǧǧa gemeinsam mit Abū l-Ḥasan Sufyān al-Andalusī, der zur gleichen Zeit wie Ibn Zuhr Hofarzt des almoravidischen Herrschers ʿAlī war,52 ein Werk verfasst, das unter dem Titel Buch der zwei Erfahrungen über die ›Heilmittel‹ des Ibn Wāfid offenbar eine kommentierende Ergänzung von Ibn Wafīds (gest. 1075) klassischem Werk über einfache Heilmittel darstellte und von dem sich nur eine Reihe von Zitaten in der pharmakologischen Schrift Kitāb al-ǧāmiʿ Ibn al-Baiṭārs, eines bedeutenden Pharmakologen des 13. Jahrhunderts erhalten haben.53 Ibn Bāǧǧas erhaltene medizinische Schriften beschäftigen sich ausnahmslos mit den theoretischen Grundlagen der Medizin, es sind vor allem Kommentare beziehungsweise eher kurze Ausarbeitungen zu Werken Galens, darunter Über die Elemente nach Hippokrates (Kitāb al-ustuqussāt), Über die Temperamente (Kitāb al-mizāǧ) und Über die Unterschiede der Fieber (Kitāb al-ḥummayāt).54 48Siehe dazu ausführlicher Kapitel 1, Abschnitt 1. 49Dass Ibn Ḥasdai bereits bei seiner Ankunft in Ägypten aus Andalusien mit Medizin befasst war, lässt sich der biographischen Notiz bei Ibn Abī Usaibiʿa entnehmen; siehe Kapitel 1, Anm. 37. 50Vgl. Dunlop, Remarks on the Life, 194. 51Berichtet von Muḥyī al-Dīn Ibn ʿArabī in al-Futūḥāt al-Makkīya, vgl. die spanische Übersetzung des Auszugs in: Asín, Avempace botánico, 257f. 52Vgl. Maimonides, On Asthma, A Parallel Arabic-English Text edited, translated, and annotated by Gerrit Bos, Provo 2002, 103f. 53Vgl. zu diesem Werk Ana María Cabo González, Aproximación descriptiva del Kitāb alTaŷribatayn de Avempace y Sufyān al-Andalusī, in: Anaquel de estudios árabes 15 (2004), 45–56; dies., Kitāb al-Taŷribatayn de Ibn Bāǧǧa y Sufyān al-Andalusī. Edición árabe y traducción al castellano (primera parte), in: Al-Andalus Magreb 12 (2005), 39–66; Joëlle Ricordel, Ibn Bādjdja y la farmacología, in: E. Burgos [u.a.] (Hg.), Las raíces de la cultura europea. Ensayos en homenaje al profesor Joaquín Lomba, Saragossa 2004, 241–254. 54Manfred Ullmann, Die Medizin im Islam, Leiden–Köln 1970, 38–42 (no. 4, 5, 24). Für eine vollständige Liste und eine Beschreibung von Ibn Bāǧǧas medizinischen Werken siehe Miquel Forcada, Ibn Bājja on Medicine and Medical Experience, in: Arabic Sciences and Philosophy 21 (2011), 111–148, hier 113f; außerdem die Forcada offenbar nicht bekannte Dissertation von Sīdī Wuld Manāh, Maqālāt wa-taʿālīq wa-šurūḥ li-Ibn Bāǧǧa fī l-ṭibb (nuṣūṣ ġair manšūra). Dirāsa
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Logik. Kommen wir nun auf die in Ibn Bāǧǧas Selbstzeugnis erwähnten Disziplinen zurück. Er erwähnt als nächstes die Logik, mit der er sich gleichzeitig zur zuvor genannten Astronomie beschäftigte, und zwar sagt er, dass er sich zuletzt noch al-Fārābīs Unterscheidung verschiedener »Arten des Beweises« klargemacht habe. Diese Äußerung verdeutlicht – und der Blick in seine erhaltenen logischen Schriften bestätigt dies – dass Ibn Bāǧǧa die Logik am Leitfaden von al-Fārābīs Kompendien und Kommentaren zum aristotelischen Organon studiert hat. Die meisten dieser Schriften sind Glossen (taʿālīq) zu al-Fārābī, die den Wortlaut ausgewählter Teile des farabischen Textes kommentieren.55 Diese Beobachtung ist für das Verständnis der Genese und Gestalt von Ibn Bāǧǧas Werken nicht unerheblich, wie sich noch zeigen wird.56 Obgleich sie vereinzelt noch im 14. Jahrhundert gelesen wurden,57 sind Ibn Bāǧǧas logische Schriften bis heute nicht näher untersucht worden, ja nicht einmal die Textlage steht eindeutig fest.58 Vor diesem Hintergrund ist keine noch so summarische Bewertung dieses Teils der Philosophie Ibn Bāǧǧas möglich. Bei der Einzelfrage der »Arten des Beweises«, die Ibn Bāǧǧa hier als schwer verständlich erwähnt, handelt es sich offenbar um die durch al-Fārābī eingeführte Unterscheidung dreier Beweistypen – Existenzbeweis, Ursachenbeweis, absoluter Beweis59 – über die in der Tat große Unsicherheit bestand, wie man auch aus der Abhandlung eines Zeitgenossen Ibn Rušds entnehmen kann.60 Von Bedeutung ist diese Unterscheidung insbesondere deshalb, weil nach Ibn Bāǧǧas wa-taḥqīq, Diss. Rabat, 1993, die Transkriptionen aller erhaltenen medizinischen Werke Ibn Bāǧǧas enthält. 55Vgl. Dimitri Gutas, Aspects of Literary Form and Genre in Arabic Logical Works, in: Charles Burnett (Hg.), Glosses and Commentaries on Aristotelian Logical Texts. The Syriac, Arabic and Medieval Latin Traditions, London 1993, 29–76, hier 54f; Tony Street, Arabic Logic, in: Handbook of the History of Logic, Bd. 1, Amsterdam 2004, 523–596, hier 562. Siehe auch die allerdings eher dürftigen Einblicke in C. M. Eguilaz Alsúa, Los ›tratados de lógica‹ de Ibn Bayyà includos en el manuscrito no 612 de El Escorial, in: Actas de I Congreso Nacional de Filosofia Medieval, Saragossa 1992, 257–260; Josep Puig Montada, Avempace’s Īsāġūǧī, in: Miklós Maróth (Hg.), Problems in Arabic Philosophy, Pilisczaba: The Avicena Institute, 2003, 51–67. 56Vgl. Kapitel 1, Abschnitt 3. 57Nämlich bei Ḥizqiyyah bar Ḥalafta in seinem hebräischen Kommentar zum Tractatus des Petrus Hispanus (1320), vgl. Mauro Zonta, Fonti antiche e medievali della logica ebraica nella Provenza del Trecento, in: Medioevo 23 (1997), 515–594, hier 579–583. Die Zitate aus Ibn Bāǧǧas logischen Schriften, die in diesem Kommentar auftauchen, erlauben auch, einige Texte, deren Zuschreibung bisher nicht sicher war, eindeutig als Werke Ibn Bāǧǧas zu identifizieren. 58Das ist ablesbar etwa an den beträchtlichen Unterschieden in der Texteinteilung zwischen den Editionen von Faḫrī und Dānišpažūh; Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Māǧid Faḫrī, Beirut 1994; al-Manṭiqīyāt li-l-Fārābī, Bd. 3: al-Šurūḥ ʿalā l-nuṣūṣ al manṭiqīya, ed. Muḥammad Taqī Dānišpažūh, Qumm 1989. 59Siehe unten, Kapitel 5, Anm. 123. 60Vgl. Aristotelis Opera cum Averrois Commentariis, Venetiis: apud Junctas, 1562 [Nachdruck Frankfurt a. M. 1962], Bd. I. 2b, ff. 124r–126v.
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Einleitung
Analyse die Bestimmung der Art der Beweise, die in einer jeden Wissenschaft zu leisten ist, eine methodische Vorbedingung für das Gelingen dieser Wissenschaft ist. So hebt er sowohl in seinem Kommentar zur Physik, wie in seinem Kommentar zur Meteorologie hervor, dass die Naturwissenschaft im Wesentlichen auf Ursachenbeweisen (burhān al-sabab) beruht.61 Zwar ergibt sich daraus deutlich genug, dass dieser Ursachenbeweis ein Zeichenbeweis (dalīl) ist, der auf Grundlage gegebener Phänomene auf deren Ursachen schließt, also vom Verursachten auf die Ursache, die genaue Form dieser Beweise bedarf jedoch weiterer Untersuchung. Auch im Buch der Seele befasst sich Ibn Bāǧǧa ausführlich mit der Methode, nach der in dieser Wissenschaft Beweise und Definitionen gewonnen werden, wobei jedoch, wie wir sehen werden, andere Aspekte der Beweistheorie als die genannte Unterscheidung in den Vordergrund treten.62 Physik. Am Ende des zitierten Selbstzeugnisses erzählt Ibn Bāǧǧa seinem Freund, dass er sich nunmehr vorwiegend mit der Naturwissenschaft beschäftige und bereits eine Inhaltsangabe der aristotelischen Physik verfasst habe. Dabei geht es ihm erklärtermaßen um mehr als um den Text der Physik, nämlich um die Prinzipien der gesamten Naturwissenschaft, die in dieser Schrift dargelegt werden. In der Tat sind die erhaltenen Kommentarteile zur Physik das mit Abstand längste von Ibn Bāǧǧas Werken. Neben einer in ihrer literarischen Form mehr oder weniger geschlossene Kommentierung der Bücher I–VII finden sich drei verschiedene Ansätze der Kommentierung von Buch VIII63 und eine Reihe kurzer Textabschnitte zu verschiedenen Themen der gesamten Physik.64 Diese letzteren Texte können als eine Sammlung von Notizen und Vorarbeiten für den Hauptkommentar gedeutet werden;65 sie bewahren also möglicherweise in Teilen die im Selbstzeugnis erwähnte Inhaltsangabe. Über Ausrichtung und Perspektiven der Naturphilosophie Ibn Bāǧǧas braucht an dieser Stelle nicht die Rede zu sein, da sie den Gegenstand dieser Untersuchung bilden. Für den Überblick mag es genügen, seine weiteren Schriften aus diesem Bereich zu nennen: Sein bereits erwähntes Kitāb al-kaun wa-l-fasād behandelt den Stoff von De generatione et corruptione, allerdings keineswegs vollständig und nicht in derselben Reihenfolge wie die aristotelische Vorlage.66 Ähnliches gilt für den ebenfalls bereits genannten Kommentar zur Meteorologie.67 Weiterhin kommentierte Ibn Bāǧǧa in seinem Kitāb al-ḥayawān die Bücher I und 61Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 12–13 und Lettinck, Aristotle’s Physics, 422, 1–2. 62Siehe dazu Kapitel 5. 63Vgl. dazu Kapitel 7, S. 252. 64MS B, ff. 65r–75r11 und MS B, ff. 75r11–78r10; MS O, ff. 187r11–189v7. 65Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 12, 341f, 491, 636. 66Vgl. Ibn Bāǧǧa, Libro de le generación y corrupción, ed. Puig, xxi–xxiii. 67Vgl. Lettinck, Aristotle’s Meteorology, 58.
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II von De partibus animalium sowie De generatione animalium I,68 und im Kitāb al-nabāt das pseudo-aristotelische De plantis.69 Auffälligerweise gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Ibn Bāǧǧa Aristoteles’ De caelo kommentiert hätte, obgleich er mit dessen Inhalt offenbar wohl vertraut war.70 Das gleiche gilt auch für die Parva naturalia und die Metaphysik.71 Zum Komplex der naturphilosophischen Kommentare zählt schließlich auch das Buch der Seele, Kitāb al-nafs, das im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht und daher im Folgenden näher vorzustellen sein wird (Abschnitt iii).
Die Abhandlungen Zuvor jedoch sind noch jene eingangs erwähnten Abhandlungen rund um die Thematik der intellektuellen Erkenntnis zu nennen, mit denen Ibn Bāǧǧa zumeist assoziiert wird, und mit deren Entstehung und Überlieferung das Buch der Seele eng verbunden ist. Die wichtigsten unter diesen Abhandlungen sind zweifellos der sogenannt Abschiedsbrief (Risālat al-wadāʿ) samt eines Postskriptums, betitelt Nachschrift zum Abschiedsbrief (Qaul yatlū risālat al-wadāʿ), sodann die Lebensführung des Einsamen (Tadbīr al-mutawaḥḥid) und die Abhandlung über Die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen (Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān). Im Abschiedsbrief, gerichtet an seinen Schüler Ibn al-Imām, stellt Ibn Bāǧǧa das Ziel dar, zu dem das Einschlagen des Wegs der Philosophie »der Natur nach« führt.72 Er verweist dazu auf eine in al-Fārābīs Schriften nicht anzutreffende Methode, die von Aristoteles im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik angedeutet, aber nur von ihm selbst verstanden worden sei. Tatsächlich stellt Ibn Bāǧǧa den aktiven Intellekt als höchsten Beweger des Menschen dar und sieht das Ziel der Philosophie in der vollständigen Aneignung dieses für alle Menschen identischen, transzendenten Intellekts. Als Leitfaden dient dabei der offenbar vom Adressaten geäußerte Wunsch, Ibn Bāǧǧa wiederzutreffen. Ausgehend von der für ein körperliches Treffen notwendigen Bewegung analysiert Ibn
68Vgl. hierzu die Analyse der Handschriftenüberlieferung und Inhalte in Remke Kruk, Ibn Bājja’s Commentary on Aristotle’s De animalibus, in: Gerhard Endreß (Hg.), The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism, Leiden 1997, 165–179, insbesondere 167. 69Vgl. Kruk, Ibn Bājja’s Commentary, 169–171. Zur Textgeschichte der Vorlage vgl. Henri Huggonard-Roche, Pseudo-Aristote, De plantis, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 499–505. 70Davon zeugen etwa die in der vorliegenden Untersuchung zitierten Texte T 40, T 43, T 44, T 67. Vgl. auch Ibn Bāǧǧa, Libro de le generación y corrupción, ed. Puig, xvi. 71Zu Ibn Bāǧǧas Rezeption der Parva naturalia siehe Kapitel 11, Abschnitt 3.1.; zur Metaphysik Kapitel 14, Abschnitt 4. 72Vgl. den Ausschnitt aus der Einleitung des Abschiedsbriefs in T 6 und die Rekonstruktion einer der zentralen Argumentationslinien in Kapitel 13, Abschnitt 2.2.
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Einleitung
Bāǧǧa die Bedingungen und Ziele menschlicher Bewegungen und Tätigkeiten sowie der in ihnen wirksamen Beweger, um Ibn al-Imām am Ende zu bedeuten, nicht die leibhaftige Begegnung, sondern die überpersonale Identität im reinen Intellekt als höchste Form des Treffens anzustreben. In diesen Rahmen fügen sich verschiedene Überlegungen, die im weiteren Sinne an die Nikomachische Ethik anknüpfen: zu den verschiedenen Erkenntnisformen, die den Menschen in Bewegung versetzen; zur Lust; zu den vier menschlichen Vollendungen – Besitz, Gesundheit, Moral, Erkenntnis. Die kurze Nachschrift geht davon aus, dass im Abschiedsbrief »der erste Beweger im Menschen im allgemeinen« behandelt worden sei, und will nun »seine Existenz im konkreten Menschen« darlegen.73 Dazu mustert Ibn Bāǧǧa alle formalen Momente im Menschen durch, um die einzigartige Stellung des Intellekts zu verdeutlichen.74 Der Text, der im wesentlichen Variationen über bereits im Abschiedsbrief getroffene Aussagen bietet,75 ist besonders deshalb von Bedeutung, weil Ibn Bāǧǧa hier erstmals den Begriff der »spirituellen Form« verwendet, der dann in der Lebensführung des Einsamen, die am Ende der Nachschrift angekündigt wird, eine große Rolle spielt.76 In dieser Lebensführung des Einsamen setzt sich Ibn Bāǧǧa zum Ziel, demjenigen, der, vereinzelt (mufrad), in einem unvollkommenen Staat richtige Ansichten besitzt, einen Weg zu zeigen, wie er durch eine entsprechende Lebensführung »seine beste Existenz erlangt« und die Glückseligkeit (saʿāda) erreicht. Die Schrift gliedert sich in drei Teile ungleichen Umfangs: Der erste führt die titelgebenden Begriffe der Führung (tadbīr) und des Einsamen (mutawaḥḥid) ein. Führung, so Ibn Bāǧǧa, ist die Hinordnung von Handlungen auf ein bestimmtes Ziel, und zwar im höchsten Sinne die Führung eines Staates. Die richtige Staatsführung ist die von Platon in der Politeia erläuterte; in einem solchen tugendhaften Staat entsprechen alle Ansichten der Bürger der Wahrheit. In den realen Staaten der Gegenwart jedoch, die sämtlich unvollkommen sind, haben nur einige wenige die richtigen Ansichten, welche von denen der Mehrheit abweichen. Sie sind es, die Ibn Bāǧǧa als mutawaḥḥid bezeichnet. Dieser kaum übersetzbare Begriff – ein Partizip des fünften Stamms der Wurzel w-ḥ-d, »eins« 73Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, in: Rasāʾil Ibn Bāgga al-ilāhīya, ed. Faḫrī, 147, 1f; vgl. auch unten, S. 547. 74Vgl. etwa T 56. 75Ch. Genequand schließt aus diesem Grunde die Nachschrift aus seiner Edition aus, vgl. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, v. Abgesehen davon, dass diese Entscheidung aus textgeschichtlicher Hinsicht fragwürdig ist, führt die Missachtung der Nachschrift dazu, dass Genequand in der Frage der relativen Chronologie der Abhandlungen auf bloße Probabilitätsgründe zurrückgreift (6–8), obgleich ihm im Verweis der Nachschrift auf die Lebensführung des Einsiedlers als noch zu schreibendem Text (vgl. die folgende Anm.) ein eindeutiger Beweis zur Verfügung gestanden hätte. 76Vgl. T 67 und die Erläuterungen in Kapitel 11, Abschnitt 3.
Ibn Bāǧǧa: Leben und Werk im Überblick
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beziehungsweise »einzig sein« – umfasst bei Ibn Bāǧǧa ein ganzes Bündel von Aspekten, das von der bewusst gewählten Einsamkeit über die Autarkie bis zur Einheit mit sich selbst, zur vollständigen Einheit der Erkenntnis und damit zur Einzigkeit des Erkennenden reicht.77 Der zweite Teil des Textes gibt eine knappe Übersicht über die Akte beziehungsweise Tätigkeiten (afʿāl), die vom Menschen auf Grund der verschiedenen Aspekte seiner Natur ausgehen, um als im eigentlichen Sinne »menschliche Handlungen« jene herauszustellen, die in freier Wahl (iḫtiyār) ausgeführt werden, das heißt auf Grund eines Wollens (irāda), welches auf Überlegung (rawīya) beruht. Die menschliche Handlung wird daher durch eine durch Nachdenken (fikr) gewonnene Ansicht oder Überzeugung bestimmt, während »tierische« Handlungen unmittelbar durch eine Einwirkung (infiʿāl) in der Seele, eine Leidenschaft, ausgelöst werden. Der dritte und bei weitem umfangreichste Teil des Textes befasst sich mit einer detaillierten Analyse der sogenannten »spirituellen Formen«, nämlich jener sinnlich oder intellektuell aufgenommenen Eindrücke, welche das soziale, moralische und erkenntnisbezogene Handeln des Menschen bestimmen. Schon Ibn Rušd bemerkte, dass die Lebensführung des Einsamen unvollendet und in ihrer Absicht schwer verständlich sei.78 Wesentliche Pointe des Textes, die alle Teile zusammenführt, ist aber wohl, dass der Einsame zwar an sämtlichen körperlichen und sinnlichen Aspekten des Lebens teilhat und daher die Formen kennen muss, auf die sie jeweils hingeordnet sind, sie jedoch rigoros der universellen intellektuellen Erkenntnis als eigentlichem Lebensziel unterwerfen muss. Zu der daraus resultierenden gleichsam organischen Einheit der Seele tritt dann zweitens die höhere intellektuelle Einheit, die darin besteht, dass der Mensch, wenn er den Intellekt als die Form des Menschen erkennt, mit diesem vollständig eins wird. Diese am Ende der Lebensführung des Einsamen in recht umständlicher Weise angedeutete Idee wird in Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen weiterverfolgt. Der Text, der beginnt mit einer Untersuchung der verschiedenen Weisen, in denen etwas eins (wāḥid) sein kann, widmet sich vor allem der Bestimmung jener Erkenntnis, die in sich und für alle Erkennenden vollständig eins ist, und findet sie in der Erkenntnis des an sich intelligiblen Intellekts, welche den Erkenntnismodus der »Glückseligen« (suʿadāʾ) ausmachen soll. Diese 77Vgl. die Erörterung des Begriffs bei Makram Abbès, Le statut de la raison pratique chez Avempace, in: Arabic Sciences and Philosophy 21 (2011), 85–109, hier 105–108; Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 40–42; siehe auch Charles Genequand, Loi morale, loi politique: al-Fārābī et Ibn Bāǧǧa, in: Mélanges de l’Université Saint-Joseph 61 (2008), 491–514, besonders 506. Für die Einheit und Einzigartigkeit (tawaḥḥud) der höchsten Erkenntnis vgl. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 201, 9f. 78Kalman P. Bland, The Epistle on the Possibility of Conjunction with the Active Intellect by Ibn Rushd with the Commentary of Moses Narboni, New York 1982, 147, 28–31.
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Einleitung
Glückseligen, wie etwa Aristoteles, gehen eine Verbindung oder »Konjunktion« (ittiṣāl) mit dem Intellekt ein und werden dadurch auch untereinander eins und identisch. Weitere kurze Abhandlungen Ibn Bāǧǧas variieren die skizzierten Gedankengänge. So beschäftigt sich Über das Ziel des Menschen (Fī l-ġāya al-insānīya) mit der Bestimmung des einen höchsten und einheitlichen Ziels menschlichen Handelns, das in Wahrheit kontinuierlich oder unaufhörlich (muttaṣil) ist. Die titellose, als Über Einheit und das Eine (Fī l-waḥda wa-l-wāḥid) bekannte Abhandlung behandelt Fragen der Einheit der Erkenntnisse (maʿqūlāt) und der Erkennenden und knüpft so eindeutig an die Thematik von Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen an.79 Der Traktat Über das Bewegte (Fī l-mutaḥarrik) befasst sich erneut mit dem ersten Beweger im Menschen,80 und die Abhandlung Über die Dinge, durch die man den aktiven Intellekt erkennen kann (Fī l-umūr allatī yumkin bi-hā al-wuqūf ʿalā l-ʿaql al-faʿʿāl), weist vier Fragestellungen in Naturphilosophie und Erkenntnistheorie auf, die zur Annahme der Existenz eines aktiven Intellekts nötigen.
iii. Das Buch der Seele Überlieferung und Datierung Ibn Bāǧǧas Buch der Seele, Kitāb al-nafs, ist in zwei Sammelhandschriften erhalten, die auch die Haupttextzeugen für die Mehrzahl seiner anderen Werke darstellen. Beide sind sozusagen »Werkausgaben«, die beinahe ausschließlich Schriften Ibn Bāǧǧas versammeln. Der Charakter der Werkausgabe trifft insbesondere auf die eine dieser beiden Handschriften zu, die mittelbar auf Ibn Bāǧǧas Schüler Ibn al-Imām zurückgeht und als Vorwort eine von ihm verfasste Lobrede auf Ibn Bāǧǧa enthält, welche ihren Weg auch in den Eintrag zu Ibn Bāǧǧa im biobibliographischen Lexikon des ägyptischen Arztes Ibn Abī Uṣaibiʿa (gest. 668/1270) gefunden hat.81 Ibn Abī Uṣaibiʿa hatte ganz offenbar eine Kopie 79Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya. Nuṣūṣ falsafīya ġair manšūra, ed. Ǧamāl al-Dīn al-ʿAlawi, Beirut 1983, 140–149 (nach MS O, ff. 185v–187r); ʿAbd al-Raḥmān Badawī (Hg.), Rasāʾil falsafīya li-l-Kindī wa-l-Fārābī wa-Ibn Bāǧǧa wa-Ibn ʿAdī, Benghazi 1973, 141–146 (nach MS Ta, ff. 316r– 317r); weitere Handschriften: B, ff. 189r–190v [arab.]; T, ff. 310v25–312rl3. 80Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 135–139 (nach MS O, ff. 184v–185v); Badawī (Hg.), Rasāʾil falsafīya, 137–140 (nach MS Ta, ff. 315v–316r); spanische Übersetzung in: Emilio Tornero, Dos epístolas de Avempace: Sobre el móvil e Sobre la facultad impulsiva, in: AlQanṭara 4 (1983), 5–21, hier 7–11. Weitere Handschriften: B, ff. 188rv [arab.]; T, ff. 310r8–310v25. 81Ibn Abī Uṣaibiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ fī ṭabaqāt al-aṭibbāʾ, ed. August Müller, Bd. 2, Königsberg 1884, 62–64. Ibn al-Imām benutzt hier mehrmals die Bezeichnung »diese Sammlung« (hāḏa l-maǧmūʿ), die auch Ibn Abī Uṣaibiʿa aufgreift.
Das Buch der Seele
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dieser Werkausgabe vorliegen,82 die Ibn al-Imām um 1147 mit nach Ägypten gebracht haben muss, als er beim Zusammenbruch der almoravidischen Herrschaft aus Granada floh und nach Qūṣ auswanderte.83 Aus einigen Details dieser Überlieferung lässt sich, im Vergleich mit den anderen relevanten Handschriften und in Verbindung mit Hinweisen aus den Texten selbst, ein ungefähres Bild von Ibn Bāǧǧas philosophischen Aktivitäten in den letzten drei Jahren seines Lebens gewinnen, zu denen auch die Arbeit am Buch der Seele gehört. Die besagte Handschrift Oxford, Bodleian Library, Pococke 206, im Folgenden kurz O genannt, ist östlicher Herkunft, undatiert und umfasst zwei Teile: O1 und O2. Der ungenannte Kopist, der das gesamte Manuskript offenbar in einem Zug geschrieben hat, greift nämlich auf zwei Vorlagen zurück: im ersten Teil auf eine im Juli 1152 in Qūṣ gemachte Kopie des Exemplars, welches Ibn al-Imām gehörte, die noch zu seinen Lebzeiten und unter seiner Mitwirkung von einem gewissen al-Ḥasan Ibn al-Naḍr, auch bekannt als Ibn al-Adīb, angefertigt wurde (n).84 Dieser erste Teil der Handschrift umfasst Ibn Bāǧǧas Kommentare zur Physik, zur Meteorologie, zu De generatione et corruptione, zu De animalibus und zu De plantis, sowie seine Schrift Über das Wesen des natürlichen Begehrens,85 den Brief an seinen Freund Ibn Ḥasdai, welcher das oben mitgeteilte Selbstzeugnis enthält, und einen kurzen Text über geometrische Beweise. Zwei vom anonymen Kopisten wiedergegebene Kolophone Ibn al-Naḍrs enthüllen, dass »dieser Teil des abgeschriebenen Originals« – nämlich des Exemplars Ibn 82Das folgert bereits Dunlop, Philosophical Predecessors, 110. Auch die von Ibn Abī Uṣaibiʿa gegebene Werkliste stimmt in vielen Details mit derjenigen überein, die uns die auf Ibn alImām zurückreichende Handschriftentradition erhalten hat, weicht in anderen Punkten jedoch auch beträchtlich von ihr ab. Es wäre näher zu untersuchen, ob die Entsprechungen mit der uns in der Handschrift überlieferten Liste Ibn al-Naḍrs, die dieser auf Angaben Ibn al-Imāms gründet, so zu interpretieren sind, dass auch die Vorlage Ibn Abī Uṣaibiʿas auf die Kopie Ibn al-Naḍrs zurückging (oder gar mit ihr identisch war), oder ob er vielmehr das Original Ibn alImāms oder eine andere Kopie davon konsultiert hat. 83So interpretierte bereits Dunlop die Daten, obgleich er offenbar keine Kenntnis von einem expliziten Hinweis auf Ibn al-Imāms Flucht aus Granada hatte, der sich in folgender biographischer Notiz findet: ʿAlī ibn Mūsā Ibn Saʿīd, al-Muġrib fī ḥulā l-maġrib, ḥaqqaqahū wa-ʿallaqa ʿalaihī Šauqī Ḍaif, Bd. 2, Kairo 1964, 116: »Abū l-Ḥasan ʿAlī Ibn al-Imām, Sekretär von Tamīm ibn Yūsuf ibn Tāšifīn, dem Herrscher von Granada. Er wanderte nach seiner Flucht aus Granada aus und reiste nach Ägypten.« 84In der älteren Literatur galt O, auf Grund der Darstellung von Dunlop, Philosophical Predecessors, 110, selbst als die Kopie Ibn al-Naḍrs. Diesen Fehler hat al-ʿAlawī korrigiert, der in seinem Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 43–46, eine ausführliche Analyse der Geschichte dieser Handschrift vornimmt. Die meisten der im Folgenden dargelegten Punkte beruhen auf dieser Analyse al-ʿAlawīs, von der etwa auch Lettinck, Aristotle’s Physics, 677f, und Lomba kurze Zusammenfassungen geben; Ibn Bāyya (Avempace). El régimen del solitario [Tadbīr al-mutawaḥḥid], introducción, traducción y notas de Joaquín Lomba, Madrid 1997, 21f. 85Zu diesem Text siehe unten, S. 98, Anm. 47.
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al-Imāms – bei Gelegenheit jenes eingangs erwähnten Treffens zwischen Ibn al-Imām und Ibn Bāǧǧa im Ramadan 1136 in Sevilla aus Ibn Bāǧǧas Autograph kopiert worden war.86 Diese nicht erhaltene Abschrift Ibn al-Imāms sei mit i bezeichnet. i enthielt wohl – das lässt sich aus Ibn al-Imāms Vorwort entnehmen – zu Beginn eben dieses Vorwort und als ersten Text Ibn Bāǧǧas die Abhandlung Über das Ziel des Menschen, die Ibn al-Imām für diejenige Schrift seines Lehrers hielt, die am besten seine Kompetenzen auch in der sonst nicht behandelten Metaphysik zeigen konnte.87 Ausserdem muss i nach den bezeichneten Texten auch die anderen Ibn al-Imām zugänglichen Schriften Ibn Bāǧǧas enthalten haben, nur dass sie eben nicht zu »diesem Teil«, nämlich dem 1136 kopierten, gehörten. Die Überlieferung dieser anderen Schriften, zu denen auch das Buch der Seele zählt, lässt sich weiter erhellen aus einigen in O wiedergegebenen Aussagen Ibn al-Naḍrs, der, wie gesagt, im direkten Kontakt mit Ibn al-Imām stand. Der Schreiber von O gibt nämlich an zwei Stellen der Handschrift die von Ibn alNaḍr aufgestellte Liste der Werke Ibn Bāǧǧas wieder, »die in die Hand […] Ibn al-Imāms gelangt sind«.88 Diese Liste enthält neben den Werktiteln auch Angaben darüber, wie und in welcher Reihenfolge Ibn al-Imām die ihm brieflich übersandten Texte bekommen hat. Nach Auflistung der bereits genannten Aristoteleskommentare heißt es dort: »Der Abschiedsbrief an den erwähnten Scheich, den Wesir Abū l-Ḥasan; die Schrift Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, die er auch an ihn geschrieben hat; die Darlegung Über das Strebevermögen, die er auch an ihn geschrieben hat, zwischen den beiden erwähnten Schriften; Abschnitte, welche die Darlegung über die Konjunktion des Intellekts mit dem Menschen umfassen; das Buch vom Einsamen; das Buch der Seele, von dem ein kleines Stück fehlt, das der Wesir, wie er erwähnte, verloren hat, nachdem er es erhalten hat; […].«89 86Die beiden relevanten Kolophone sind ediert in Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 87 und 102. 87Rasāʾil Ibn Bāǧǧa al-ilāhīya, ed. Faḫrī, 177, 4–6. Zu Ibn al-Imāms Suche nach Ibn Bāǧǧas metaphysischer Lehre siehe auch Kapitel 14, Abschnitt 4. 88Nur an der zweiten Stelle, f. 120v, nämlich nach der Abschrift des ersten Teils und offenbar dort, wo die Liste auch in der Vorlage von O stand, ist Ibn al-Naḍr als ihr Autor genannt. Der Schreiber von O hat die Liste zudem auf f. 3r, 12–27 an Ibn al-Imāms Vorwort angehängt, ohne Nennung des Autors. Dies letztere ist die von Faḫrī, Rasāʾil Ibn Bāǧǧa al-ilāhīya, 177f gedruckte Version. Ein Vergleich zeigt, dass der Schreiber von O durchaus in den Wortlaut der Liste eingegriffen hat, so hat er nach der Erwähnung Ibn al-Imāms die Eulogie für Verstorbene hinzugefügt, die in der ursprünglichen Liste nicht enthalten ist. Auch Ibn Abī Uṣaibiʿa, der die Liste ebenfalls ohne Autorangabe aufgreift, hat in den Wortlaut eingegriffen und sie offenbar auch mit Informationen aus anderen Quellen erweitert; vgl. oben, Anm. 82. 89MS O, f. 120v, 7–12; in Zeile 9 korrigiere ich den Plural quwā nach f. 3r21 in den Singular quwwa. Außer den vier hier genannten Schriften sind noch zwei weitere Texte als Briefe an
Das Buch der Seele
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Anlass des Abschiedsbriefs war Ibn Bāǧǧas geplante Abreise in den Osten,90 die offenbar nach dem Treffen mit Ibn al-Imām in Sevilla am 15. Ramadan 530/17. Juni 1136 stattgefunden hat. Die letzten drei Jahre seines Lebens bis zum Tod in Fes im Ramadan 533/Mai 1139 scheint Ibn Bāǧǧa also in verschiedenen Städten in Nordafrika verbracht zu haben und von dort müssen die erwähnten Texte nach al-Andalus an Ibn al-Imām geschickt worden sein.91 Das Buch der Seele ist also, ebenso wie die Mehrzahl der Abhandlungen, zwischen 1136 und 1139 entstanden oder doch zumindest weiter bearbeitet worden. Dass 1136 bereits ein als Buch der Seele betitelter Text vorlag, bezeugen zwei Verweise auf ihn in Ibn Bāǧǧas Buch der Pflanzen, das ja zu den in Sevilla kopierten Texten gehört.92 Auch der Abschiedsbrief selbst enthält eine Bezugnahme auf das Buch der Seele, und zwar eine, die sich recht klar einer Passage des gegenwärtig letzten Kapitels, der »Abhandlung über das rationale Vermögen«, zuordnen lässt.93 Zwei weitere Verweise in der Nachschrift zum Abschiedsbrief beziehen sich auf das zweite und
Ibn al-Imām kenntlich, sie enthalten Überlegungen zur Wissenschaftstheorie beziehungsweise zum Begriff »erste Form«; der letztere Text wird in O als letzter Briefwechsel zwischen Ibn Bāǧǧa und seinem Schüler bezeichnet; vgl. »wa-kataba […] ilā l-wazīr Abī l-Ḥasan Ibn alImām«, in: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 88–96; »wa-min qaulihī aiḍan wa-huwa āḫar mā wuǧida min qaul al-ḥakīm fīmā dāra bainahū wa-bain al-wazīr«, ebd., 103–105; spanische Übersetzung: Charif Dandachli Zohbi, Pilar Zaldívar Bouthelier, Sobre la forma primera y la materia primera de Avempace, in: Revista española de filosofía medieval 10 (2003), 107–110. 90Vgl. Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 89, 4–5; siehe auch Genequands Kommentar, S. 205, der Asíns irrige Annahme korrigiert, nicht Ibn Bāǧǧa, sondern Ibn al-Imām sei in den Osten gereist; noch Lomba, Puerta, Ibn Bāyya, 661, halten die Frage für unentschieden. 91Für die Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen ist dies bezeugt, vgl. oben, Anm. 3. 92Asín, Avempace botánico, 271, 26–272, 1: »Wir sagen also, dass jede Pflanze sich ernährt und dass alles, was sich ernährt – wie wir im Buch der Seele geschrieben haben – sich natürlicher Wärme bedient und durch sie die Nahrung umwandelt« (bezieht sich vermutlich auf N II. 19); 272, 10–13: »Daher sagte Aristoteles, dass die Pflanzen drei Vermögen haben und führte die dritte auf das Feuer zurück, weil es der Beweger ist, das Vermögen der Erde dagegen besteht darin, dass sie Materie ist. Es ist bereits dargelegt worden, warum das der Fall ist, in dem, was wir über die Seele geschrieben haben. Denn die Pflanze führt eine einheitliche Tätigkeit aus und muss deshalb der Natur nach zahlenmäßig eine sein; und das ist im Feuchten nicht möglich«; wenn der Verweis sich nicht auf die vier elementaren Potenzen bezieht, sondern nur auf die Frage, warum die Erde für die Einheit des Organismus wichtig ist, dann könnte er auf N III. 30 gemünzt sein, wo Ibn Bāǧǧa darauf hinweist, dass die Erde für den Bestand und die Begrenztheit des Körpers verantwortlich ist. Auch die leichte Veränderlichkeit alles Feuchten erwähnt er (N II. 20). 93Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 114, 16; Faḫrī, 138, 16f; Asín, 36, 18 (vgl. T 81); der Verweis geht offenbar auf N XI. 13, nämlich die Immaterialität des (aktiven) Intellekts, der anders als die Intelligibilia mit seinem Wesen identisch ist. Genequand (S. 245) bezieht den Verweis auf N III. 43–44, aber dort ist nur allgemein von den Eigenschaften der Intention (maʿnā) die Rede, nicht von den spezifischen Eigenschaften des Intellekts als Erkenntnisgegenstandes.
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Einleitung
dritte Kapitel.94 Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass das Buch der Seele 1136 bereits in etwa der Form vorlag, die uns heute erhalten ist.95 Dennoch betrachtete Ibn Bāǧǧa das Werk offensichtlich nicht als vollendet und ließ Ibn al-Imām es nicht wie die anderen Kommentare aristotelischer Schriften aus seinem Autograph kopieren, sondern sandte ihm den Text vermutlich später zu. Dieses Szenario wird nicht nur von der soeben zitierten Auskunft Ibn al-Naḍrs bestätigt, sondern auch von zwei Verweisen in der Abhandlung Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, in denen Ibn Bāǧǧa seinem Schüler die Übersendung des Buchs der Seele in Aussicht stellt. An beiden Stellen bezieht sich Ibn Bāǧǧa auf Überlegungen zur Beschaffenheit aktueller Intelligibilia, die er in der Abhandlung über das rationale Vermögen ausgeführt hat und die sich tatsächlich im letzten Kapitel des uns vorliegenden Buchs der Seele finden. Ibn Bāǧǧa verbindet die Verweise mit dem Versprechen, das Werk zu schicken, »wenn es vollendet ist«.96 In beiden Fällen ist nicht zweifelsfrei festzustellen, ob
94Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 14f: »Wir haben in unserem Buch über die Seele bereits den Grund für die Existenz der natürlichen Formen als Formen in Materie dargelegt.« Ibn Bāǧǧa spielt dabei auf die Diskussion im dritten Kapitel (N III. 14–18) an, die auf die Frage antwortet, warum die Formen nicht ohne Materie sind, wenn doch ihr Zustand als abstrahierte Formen »besser« ist als ihr Zustand als Formen in Materie. Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 14–16 (vgl. T 71); darüber spricht Ibn Bāǧǧa in N II. 13. 95Bereits al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 162, hat auf Grund der besprochenen Verweise gemeint, Ibn Bāǧǧa habe das Buch der Seele zu einem früheren Zeitpunkt, während seiner »naturphilosophischen Phase« verfasst und nur das Kapitel über das rationale Vermögen am Ende seines Lebens wiederaufgenommen. 96Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 189, 5–8; Faḫrī, 160, 18–161, 1; Asín, 13, 11–14: »Denn der Intellekt in Akt ist das Intelligibile in Akt, wie das bereits erklärt worden ist in dem, was andere als ich darüber geschrieben haben, und wie auch ich dargelegt habe im Buch der Seele in ›Das rationale Vermögen‹. Ich habe die Darlegung über den größten Teil dessen bereits vollendet und wenn es vollendet ist, werde ich nicht säumen, es Dir zu schicken, erhabener Wesir […].« Genequand, 191, 5–10; Faḫrī, 162, 13–17; Asín, 14, 23–27: »Was die Betrachtung der Intelligibilia in Akt angeht, ob jedes von ihnen der Zahl nach eines ist, und, wenn das nicht der Fall ist, ob eines von ihnen oder mehr als eines der Zahl nach, so haben wir darüber bereits oft gesprochen, und ich habe es im Buch der Seele dargelegt. Wenn das, was ich darüber gesagt habe, vollendet ist, werde ich es Dir schicken. Mir scheint, ich muss hier vielleicht das Maß darüber sagen, von dem ich weiß, dass es Dir das Vorausgegangene in Erinnerung rufen wird.« In Genequand 191, 7 ist fa-in lam yakun kaḏālika zu streichen; es ist nicht recht erfindlich, warum er diesen von MS A nicht überlieferten Satzteil, den er im Kommentar (364f ) richtig als Dittographie beschreibt, nicht aus dem Editionstext herausgenommen hat. Die erste der beiden Passagen verweist auf N XI. 15 (vgl. auch XI. 6), die zweite auf das Hauptargument des Kapitels, in verschiedenen Varianten ausgeführt in N XI. 11–13 und XI. 18–19. Genequand (364) hat zwar recht, dass die Einheit der Intelligibilia nicht explizit diskutiert wird, aber die genannten Abschnitte geben dennoch eine klare Antwort auf die Sachfrage. Man beachte besonders, dass in B XI. 18 das Verhältnis des aktiven Intellekts zu den sachhaltigen Intelligibilia »Feuer, Pferd, Palme« in Analogie gesetzt wird zum Verhältnis des
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sich diese Absicht nur auf die Abhandlung über das rationale Vermögen bezieht oder auf das gesamte Buch der Seele, aber das letztere ist weitaus wahrscheinlicher, eben weil wir in den Kolophonen von O1 und der Gesamtanlage von O einen deutlichen Hinweis darauf haben, dass das Buch der Seele nicht zu den 1136 kopierten Texten gehörte. Ob Ibn Bāǧǧa das Buch der Seele vor seinem Tod tatsächlich noch abschickt hat oder ob Ibn al-Imām es auf anderem Wege erhalten hat, kann nicht mit völliger Sicherheit gesagt werden, da al-Naḍrs Formulierung, Ibn al-Imām habe »ein Stück davon verloren, nachdem er es erhalten hat«, in dieser Frage keine Entscheidung erlaubt. Wirklich vollendet hat Ibn Bāǧǧa das Buch der Seele jedenfalls nicht. Der in O2 überlieferte Text bricht bereits wenige Absätze nach Beginn des elften und letzten Kapitels ab, das als »Abhandlung über das rationale Vermögen« betitelt ist. Lange Zeit war dieser verstümmelte Text die einzig verfügbare Version des Werkes.97 Die zweite der beiden oben erwähnten Handschriften Berlin, Preußische Staatsbibliothek, Wetzstein I 87 (im folgenden B)98 war nach dem Zweiten Weltkrieg verschollen, wurde jedoch 1988 von G. Endreß in Krakau wiederentdeckt, wo sie, zusammen mit anderen Berliner Handschriften, in der Jagiellonischen Bibliothek aufbewahrt wird.99 Diese Handschrift alltäglichen Akts des Intellekts zu den individuellen Exemplaren, welche er in einem intelligiblen Begriff zusammenfasst. 97Vgl. etwa Alexander Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, in: ders., Studies in Religious Philosophy and Mysticism, London 1969, 73–107, hier 76, Anm. 7, der aus den Verweisen und der Diskussion bei Ibn Rušd bereits schließt, dass der Text ursprünglich umfangreicher war, und die Argumentation zu rekonstruieren versucht. Zu einer Kritik seiner Interpretation siehe unten, Abschnitt iv. 98W. Ahlwardt, Verzeichnis der arabischen Handschriften der königlichen Bibliothek zu Berlin, Bd. 4, Berlin 1892, 369–399 (Katalognummer 5060). Ahlwardt datiert die Handschrift auf das Jahr 670/1271, und diese Datierung ist in der Literatur durchgängig übernommen worden. Tatsächlich jedoch ist die Handschrift noch 60 Jahre älter, sie datiert vom Juli 1210. Das Kolophon auf f. 225r [arab.] lautet: »[…] und zwar am Ende des Muḥarram des Jahres 607 [fī ʿuqb al-muḥarram sana sabʿ wa-sittumiʾa]. Es wurde vollendet von meiner Hand, ʿAbd Allāh ibn Muḥammad ibn Yaḥyā ibn Aṣbaġ al-Anṣārī.« Die Handschrift weist zwei Foliozählungen auf, die offensichtlich beide jünger als der geschriebene Text sind. Die offenbar ältere benutzt »arabische« Zahlen in der Schreibweise, wie sie in der arabischen Welt gebräuchlich ist, die jüngere, an der sich zum Beispiel Lettinck orientiert hat, benutzt die in der westlichen Welt verbreitete Schreibweise. Diese jüngere Zählung ist nach einer falschen Bindung einiger Teile der Handschrift eingefügt worden, wie man aus Lettincks Übersichtstafel zum PhysikKommentar ersehen kann; Lettinck, Aristotle’s Physics, 34. Ich bin daher fast ausschließlich der »arabischen« Zählung gefolgt und gebe zur Erinnerung dieses Umstands bei den Folioangaben stets »[arab.]« an. 99Krakow, Biblioteka Jagiellońska, Ms. Berol. Wetzstein I 87 (zeitweise unter der Inventarnummer 6035). Inzwischen sind in der Jagiellonian Digital Library hochauflösende Bilder der gesamten Handschrift verfügbar. Leider ist das Digitalisat nicht mit einer PURL versehen, ich habe es zuletzt am 18.07.2013 unter URL: http://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/doccontent?id=152706 aufgerufen. Eine Dokumentation der Restaurierung von 2013 findet sich dort unter URL:
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enthält einen vollständigeren Text des letzten Kapitels, in dem sich, wie bereits angedeutet, tatsächlich alle Stellen identifizieren lassen, auf die an anderen Orten angespielt wird. Dennoch ist das Buch der Seele auch in dieser Handschrift nicht vollendet. Der vorhandene Text endet, bevor er zu einem definitiven Schluss gekommen ist, ja, er endet gerade in dem Moment, in dem Ibn Bāǧǧa zu einem neuen Anfang ansetzt, mit den Worten: »Wir sagen also [fa-naqūlu]« (N XI. 26). Man mag sich daher fragen, ob der hier fehlende Schluss derjenige ist, den Ibn Bāǧǧa seinem Schüler ankündigte und den er ihm entweder nicht mehr hat schicken können oder den Ibn al-Imām nach Erhalt verloren hat. Dagegen spricht aber, dass die angekündigten Inhalte im erhaltenen Text der Berliner Handschrift ausgeführt sind. Der Teil des Werkes, den Ibn al-Imām verloren hat, muss also jener sein, um den der Text der Oxforder Handschrift kürzer ist als derjenige des Berliner Manuskripts. Zwar lässt sich die Kopie des Buchs der Seele in O2, anders als die Texte in O1, nicht lückenlos auf das Exemplar Ibn al-Imāms zurückverfolgen, aber es handelt sich doch offensichtlich um die östliche (ägyptische) Überlieferungslinie, die von Ibn al-Imāms Sammlung abhängt.
Vollständigkeit Das Verhältnis der beiden Überlieferungen des Buchs der Seele wirft in mindestens einem Punkt weitere Fragen auf. Der Text endet nämlich in O mit einem kurzen Satz, der sich in B weder an dieser noch an anderer Stelle findet, so dass beide Handschriften den Text – eine Analyse der Universalien – in unterschiedlicher aber jeweils sinnvoller Weise fortzusetzen scheinen (vgl. N XI. 5). Hinzukommt, dass das Explicit in B so gelesen werden könnte, als sei die »Abhandlung über das rationale Vermögen« kein integraler Bestandteil des Buchs der Seele; das Explicit lautet: »Hiermit endet, was vorhanden ist von den Worten Abū Bakrs […], es schließt sich an [yattaṣilu li-] an das, was vorhanden ist, von seiner Abhandlung über das rationale Vermögen aus seinem Buch der Seele.«100 http://jbc.bj.uj.edu.pl/dlibra/doccontent?id=207867&from=PIONIER%20DLF. Zur Geschichte des Handschriftentransfers von Berlin nach Krakau vgl. Zdzisław Pietrzyk, Book Collections from the Former Preussische Staatsbibliothek in the Jagiellonian Library, in: Polish Libraries Today 6 (2006), 81−87. 100MS B, f. 179r [arab.]. Die beiden Zeilen dieses Explicits sind in der Hand des Schreibers der gesamten Handschrift, jedoch doppelt abgesetzt, indem zwischen dem Textende ein Raum von etwa drei Zeilen freigelassen ist und das Explicit in kürzeren und eingerückten Zeilen geschrieben ist. Direkt unter dem Explicit hat eine andere, spätere Hand die Worte »Dem folgt die Darlegung über den Intellekt« (yatluhū al-kalām fī l-ʿaql) hinzugefügt, die sich offenbar auf die Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen beziehen, die auf f. 179v beginnt.
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Es ist deshalb vermutet worden, dass in der Berliner Fassung zwei unterschiedliche Texte zusammengefügt worden seien. Man hat in Hinblick auf die Verweise in der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen sogar angenommen, dass es mehr als eine Fassung des Kapitels über das rationale Vermögen oder mehrere Texte mit diesem Titel gegeben habe, die hier im Nachhinein verbunden worden wären.101 Dies lässt sich aber sowohl auf Grund von textimmanenten wie äußeren Hinweisen widerlegen. Zum ersten bildet der Text der Berliner Handschrift eine sinnvolle Fortsetzung des in beiden Manuskripten enthaltenen Beginns. Ibn Bāǧǧa diskutiert an dieser Stelle verschiedene Typen von Universalbegriffen und erklärt, dass Begriffe wie »Sonne« und »Mond« nur per posterius als Universalien bezeichnet werden können. Der Halbsatz, mit dem die Fassung der Berliner Handschrift hier anschließt, beendet das Argument schlüssig und in Übereinstimmung mit Ibn Bāǧǧas Ausführungen in seinen logischen Schriften, indem er den Grund für diese Einschränkung gibt, nämlich dass diesen Begriffen nur ein materielles Subjekt entspricht, sie also nicht der Definition der Universalien gemäß »von mehrerem ausgesagt« werden.102 Der Halbsatz der Oxforder Version – »Diese Intelligibilia sind entweder ewig oder neu entstanden« – passt dagegen ganz und gar nicht zu dem Text, an den er sich anschließt. Woher immer er stammt, er gehört nicht an diese Stelle.103 Am wahrscheinlichsten ist noch, dass nach dem Verlust des Textes entweder Ibn al-Imām selbst oder jemand anders in der Überlieferungskette versucht hat, die Folge zu rekonstruieren. Zum anderen beziehen sich die Verweise auf das Buch der Seele in Ibn Bāǧǧas Abhandlung Über die Verbindung auf Argumentationen, die in der Berliner Version enthalten sind. Dieser Text bildet also einen integralen Bestandteil des Buches und ist kein nachträglich angefügtes Anhängsel. Das Explicit von B widerspricht zudem der Disposition des Textes in B selbst, denn dort beginnt, ebenso wie in O, die Abhandlung über das rationale Vermögen gleich den anderen Kapiteln mit einer gleich gestalteten Überschrift und in nahtloser Fortsetzung des vorhergehenden Textes. Auch an der vermeintlichen Nahtstelle gibt es keinen Hinweis auf irgendeinen Eingriff in den Text.104 Das Explicit von B bleibt etwas rätselhaft, aber man darf dennoch davon ausgehen, dass der Text, so wie er in B 101So die Editoren der Ausgabe Fes 1999: Ǧamāl Rāšiq, Kitāb al-nafs li-Abī Bakr Ibn Bāǧǧa, in: Dafātir maǧmūʿat al-baḥṯ fī l-falsafa al-islāmīya [=Les cahiers du groupe de recherche sur la philosophie islamique, Fes: Centre des études Ibn Rushd] 2 (1999), 83–209; Muḥammad Alūzād [u.a.], Abū Bakr Ibn Bāǧǧa. Al-Qaul fī l-quwwa al-nāṭiqa, ebd., 211–234, hier 216–218. 102Vgl. Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 42f. 103J. Lomba hat in seiner spanischen Übersetzung nicht nur die Schwierigkeit umgangen, sondern den Text auch ohne jeden Hinweis manipuliert, indem er den Satz aus O nach dem Satz aus B in den laufenden Text von B eingefügt hat, vgl. Ibn Bāǧǧa (Avempace), Libro sobre el alma [Kitāb al-nafs], edición y traducción de Joaquín Lomba, Madrid 2007, 124. 104Vgl. MS B, f. 175r [arab.] und 174r2–3 [arab.].
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erhalten ist, den Umfang des Buchs der Seele widerspiegelt, wie Ibn Bāǧǧa es bei seinem Tode hinterlassen hat.
Aufbau Das Buch der Seele, Kitāb al-nafs, wie es uns heute vorliegt, gliedert sich in elf Kapitel, die jeweils als »Abhandlung« (qaul) betitelt und einem Teilaspekt der Seelenlehre gewidmet sind. Sie behandeln nacheinander die allgemeine Definition der Seele (N I) und dann ihre einzelnen Vermögen: das Nährvermögen (N II), das Wahrnehmungsvermögen und die Wahrnehmung im allgemeinen (N III), die Einzelsinne – Sehsinn (N IV), Hörsinn (N V), Geruchssinn (N VI), Geschmackssinn (N VII) und Tastsinn (N VIII) – sowie das gemeinsame innere Sinnesorgan, zuständig für die Wahrnehmung insgesamt, den sogenannten Gemeinsinn (alḥiss al-muštarak) (N IX), schließlich das Vorstellungsvermögen (N X) und das rationale Vermögen (N XI). Nur in zwei Fällen fehlen die entsprechenden Kapitelüberschriften in den verfügbaren Handschriften (N I und IX), jedoch ist die thematische Zuordnung eindeutig. Die Abfolge der Themen orientiert sich an Aristoteles’ De anima und näherhin an Alexanders von Aphrodisias Schrift Über die Seele, die als strukturelle, methodische und inhaltliche Vorlage des Kitāb alnafs gelten darf.105 Aristoteles’ Diskussion der Ansichten seiner Vorgänger über die Seele, dargelegt in De anima I. 2–5, hat Ibn Bāǧǧa – auch darin Alexander folgend – nicht in seine Betrachtung einbezogen. Er setzt sie ganz bewusst zu Gunsten einer systematischen Behandlung der Seele beiseite.106 Systematisch ist Ibn Bāǧǧas Ansatz auch in den einzelnen Kapiteln, wo er – darin weit über Alexander hinausgehend – stets darum bemüht ist, die jeweiligen Ausgangsvoraussetzungen aufzudecken. So beginnt er etwa die erste allgemeine Betrachtung der Seele mit einer Untersuchung der verschiedenen Körper, um die Analyse der beseelten Körper einzubetten (N I. 1–6). Die Untersuchung des Nährvermögens, welches potentielle in tatsächliche Nahrung umwandelt, leitet er durch eine Betrachtung von Potenz und Möglichkeit ein (N II. 1–10). Das Kapitel über die Wahrnehmung, bei der ja die Form des Wahrgenommenen von der Materie abstrahiert wird, beginnt nicht nur mit einer allgemeinen Analyse der Form-Materie-Beziehung (N III. 1–11), sondern wird auch noch durch einen langen Exkurs unterbrochen, in dem Ibn Bāǧǧa die Entstehung des beseelten Körpers im Kontext natürlicher Veränderungs- und Mischungsvorgänge untersucht, um zu klären, wie das materielle Subjekt der Wahrnehmung zustande 105Siehe dazu die weiteren Ausführungen unten im Abschnitt »Textgattung und Vorlagen« und Kapitel 5, Abschnitt 2. Die Beziehungen zwischen beiden Texten verdienen noch eine genauere Untersuchung. 106Vgl. dazu unten, Kapitel 3, Abschnitt 1.2.
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kommt (N III. 25–39). Im Ergebnis wirken diese nicht immer klar abgegrenzten und häufig nicht explizit begründeten Grundlagenstudien ganz entgegen ihrer eigentlichen Funktion wie unmotivierte Abschweifungen, die gemeinsam mit der gedrängten Schreibweise Ibn Bāǧǧas, welche wichtige Argumente häufig nur andeutet, das Verständnis des Textes erschweren. Die Hintergründe dieses Befundes, der Ibn Bāǧǧas gesamtes Werk betrifft, werden wir in Kapitel 1 näher untersuchen. Dem Buch der Seele fehlt neben der Beendung des Kapitels über das rationale Vermögen augenscheinlich auch ein abschließendes Kapitel über das Strebevermögen, das, ähnlich wie später in Ibn Rušds Kompendium, die Thematik von De anima III. 9–11 hätte behandeln müssen.107 Oder vielmehr wäre dieses Kapitel, Alexanders Vorbild gemäß, der bewusst eine in Komplexität und wohl auch in ontologischer Würdigkeit aufsteigende Ordnung wählt,108 nach der Abhandlung über das Vorstellungsvermögen und vor der krönenden Abhandlung über das rationale Vermögen zu erwarten gewesen. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass Ibn Bāǧǧa wohl an einer solchen Vervollständigung des Buchs der Seele arbeitete. Oben haben wir gelesen, dass Ibn Bāǧǧa seinem Schüler auch eine »Abhandlung über das Strebevermögen« (qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya) geschickt hat, und zwar nach dem Abschiedsbrief, aber vor der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen.109 Da letztere, wie gesehen, die Abhandlung über das rationale Vermögen erst ankündigt, entspräche der Ort dieser Abhandlung über das Strebevermögen wirklich dem Aufbau bei Alexander. Tatsächlich sind uns in O2, in B,110 sowie in drei Handschriften des 17. Jahrhunderts aus der Schule von Isfahan zwei Abhandlungen Ibn Bāǧǧas über das Strebevermögen überliefert.111
107Vgl. erneut Altmann, Ibn Bājja on Man’s Ultimate Felicity, 76, Anm. 7. 108Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora. De anima liber cum mantissa (Supplementum Aristotelicum 2, 1), ed. Ivo Bruns, Berlin 1887, 73, 14–20; zu Alexanders Behandlung des Strebevermögens vgl. Alexandre d’Aphrodise, De l’âme, texte grec introduit, traduit et annoté par M. Bergeron et R. Dufour, Paris 2008, 45–48. 109Vgl. Anm. 89. 110MS O, ff. 129v–133r und 133r–134v; vom zweiten Text ist in dieser Handschrift nur gut die Hälfte des durch die anderen Handschriften bezeugten Textbestandes überliefert, vgl. unten Anm. 114. MS B, ff. 191r–193v und 194r–197r. 111MS Teheran [T], Dānišgāh, Dāniskada-i Ilāhiyyāt, 242B, ff. 312v1–314v14 und 314v15–317r (datiert 1057–1065 H./1647–54); MS Teheran [Th], Kitābḫāna-i Sipāhsālār, 2912, ff. 210r–211v und 211v–213v; MS Taškent [Ta], Uzbekskaja Akademija Nauk, IVRU-1, 2385, ff. 343v–345r und 345v–347r [westliche Blattzählung] (datiert 1075 H./1664). Für die Überlassung von Kopien der Ibn Bāǧǧa betreffenden folia von T danke ich Gerhard Endreß sehr herzlich. Vgl. zu diesen Handschriften (mit einer ausführlichen Beschreibung von T) und der Schule von Isfahan Gerhard Endreß, Philosophische Ein-Band-Bibliotheken aus Isfahan, in: Oriens 36 (2001), 10–58; zur Geschichte der Sammlung in Taškent vgl. Šodmon Vohidov, Aftandil Erkinov, Le fihrist (catalogue) de la bibliothèque de Ṣadr-i Żiyâ’ une image de la vie intellectuelle dans le
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Die Präsenz zweier solcher Abhandlungen, die in allen Handschriften in gleicher Anlage und Ordnung überliefert sind, deutet bereits darauf hin, dass – anders als bei der Abhandlung über das rationale Vermögen – die Integration als eigenes Kapitel in die Gesamtanlage des Buchs der Seele nicht gelungen ist oder gar nicht mit Nachdruck angestrebt wurde. Die erste der beiden Abhandlungen trägt einen Titel, der sich – mit den üblichen Varianten – in allen Handschriften findet und im Original wohl folgendermaßen gelautet haben muss: Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya wa-kaifa hiya wa-li-mā tanziʿ wa-bi-māḏā tanziʿ – Untersuchung des Strebevermögens: Wie es beschaffen ist, was es erstrebt und wodurch es strebt.112 Die Überlieferung der zweiten Abhandlung dagegen lässt deutlich erkennen, dass es sich nicht um eine gesonderte Schrift mit fest umrissenem Thema handelt, sondern vielmehr um eine Ausarbeitung, die sich der Thematik der ersten Abhandlung lose angliedert; in O etwa ist sie beschrieben als »Darlegung über das, was zum Strebe[vermögen] gehört«.113 Keine der beiden Abhandlungen scheint abgeschlossen.114 Die Gründe dafür liegen schon bei oberflächlicher Lektüre auf der Hand: Beginnt die erste Abhandlung erwartungsgemäß mit einer Betrachtung der »Strebensseele«, die in drei unterschiedliche Vermögen unterteilt wird, so wird diese Einteilung bereits nach wenigen Zeilen unterbrochen, um einer grundsätzlichen Untersuchung über die Bewegung natürlicher Körper Platz zu machen. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Bewegung unbelebter natürlicher Körper, um erst gegen Ende des Textes kurz auf die – strebensgelenkte – Ortsbewegung der Lebewesen zurückzukommen.115 Es ist unschwer erkennbar, dass Ibn Bāǧǧa hier derselben Mavarannahr (fin XIXe – début XXe siècles), in: Cahiers d’Asie centrale 7 (1999), 141–173, online publiziert 25.03.2010, zuletzt aufgerufen 19.07.2013, URL: http://asiecentrale.revues.org/574. 112In den einzelnen Handschriften lauten die Titel folgendermaßen: min kalāmihī fī l-baḥṯ ʿan al-nafs al-nuzūʿīya wa-li-mā tanziʿ wa-bi-māḏā tanziʿ (O); min kalām Abī Bakr […] fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya wa-kaifa hiya wa-li-mā yanziʿ wa-kaifa yanziʿ (B); wa-min kalām Abī Bakr […] fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya wa-kaifa hiya wa-li-mā yanziʿ wa-bi-māḏā yanziʿ (T); wa-min kalām Abī Bakr […] fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya wa-kaifa hiya wa-li-mā tanziʿ wa-bi-māḏā tanziʿ (Ta); Th war mir nicht zugänglich. Die Varianten der Titel suggerieren folgende Gruppierung: O [B (T – Ta)]; eine stichprobenartige Kollationierung konnte dieses Verhältnis bestätigen. 113wa-min kalāmihī fī-mā yataʿallaqu bi-l-nuzūʿīya (O); wa-min qaulihī fī l-quwwa alnuzūʿīya (B); wa-min qaulihī aiḍan raḥimahū Llāh fī l-quwwa al-nuzūʿīya (T); wa-min qaulihī raḥimahū Llāh fī l-quwwa al-nuzūʿīya (Ta). 114Der Text beider Abhandlungen ist zweimal ediert, einmal nach Ta in: Badawī (Hg.), Rasāʾil falsafīya, 147–156 und 157–167; dann nach O unter Berücksichtigung der Edition Badawīs in: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 108–120 und 121–134, wobei der in O fehlende Teil (ab 129, 5) aus Badawī übernommen ist. Die zweite Abhandlung liegt auch in spanischer Übersetzung vor, die allerdings recht fehlerhaft ist: Tornero, Dos epístolas, hier 11–21. 115Man kann etwa folgende drei Abschnitte unterscheiden: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 108–109, 2 (Strebevermögen); 109, 3–116, 14 (Elementarbewegung); 116, 15–120 (Bewegungen natürlicher Körper, darunter Lebewesen, in den sechs Weltrichtungen).
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Exkursmethode folgt, die wir bereits an mehreren Kapiteln des Buchs der Seele festgestellt haben, nur dass diese Methode hier völlig aus dem Ruder gelaufen ist, da Ibn Bāǧǧa zur Thematik des Strebevermögens nicht mehr zurückfindet. Darauf darf vermutlich auch der Neuansatz mit einer zweiten Abhandlung zurückgeführt werden. Ibn Bāǧǧa beginnt hier mit einer Untersuchung der Gewohnheit (ʿāda) als einem Phänomen, das dem Menschen auf Grund seiner Strebensseele und als ein Zustand der Strebensseele zukommt und das in Hinblick auf seine Leistung für die Zielbestimmung menschlichen Handelns betrachtet wird. Dies wird abgelöst von der Frage nach der Verursachung von Handeln im Allgemeinen, die erneut auf dem Gebiet natürlicher Bewegungen untersucht wird. Wiederum erst gegen Ende des Textes kommt Ibn Bāǧǧa auf die Bewegung des Beseelten zurück, ohne aber eine eigentliche Bestimmung des Strebevermögens zu leisten.116 Auch die intertextuellen Verweise vermitteln den Eindruck, dass Ibn Bāǧǧa zwar die Absicht hatte, die Behandlung des Strebevermögens in das Buch der Seele einzugliedern, diese Integration aber nicht mehr bewältigt hat. So verweist er in der zweiten der beiden Abhandlungen auf »unsere Abhandlungen über die Seele«, betrachtet den Text also offenbar als nicht zum Buch der Seele gehörig.117 Dagegen bezieht er sich in einem dritten Text, Über das Bewegte (Fī l-mutaḥarrik), der mit den beiden Abhandlungen über das Strebevermögen inhaltlich eng verwandt ist, ausdrücklich auf Aussagen des Buchs der Seele über das Strebevermögen, die sich im uns erhaltenen Text nicht finden.118 Ibn Bāǧǧa nimmt hier also wohl auf ein Kapitel über das Strebevermögen Bezug, das er bereits fertiggestellt hatte oder doch fertigzustellen hoffte. Es liegt nahe, in
116Man kann ungefähr folgende Einteilung treffen: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 121–124, 9 (Gewohnheit); 124, 10–125, 2 (Verursachung von Handlungen); 125, 2–133, 1 (Wirken und Leiden im Verhältnis zur Substanz und zu den anderen Kategorien); 133, 1–134 (Bewegung der Lebewesen). 117Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 131, 7–11: »Ein Beispiel dafür sind die Geschmäcke, die, wenn sie auch keine Arten der Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit sind, doch nicht außerhalb von diesen sind, weil sie Wärme sind, der etwas anderes anhängt, durch das jene Wärme Art einer anderen Gattung wird, so wie das bei der Darlegung über die sich bewegenden Kugeln eintritt, denn ihre Betrachtung ist nicht Gegenstand der Geometrie und nicht leicht zu bewältigen für die geometrische Betrachtung, aber sie fällt unter die geometrische Betrachtung. Wir haben das bereits in unseren Abhandlungen über die Seele dargelegt.« Ibn Bāǧǧa bezieht sich hier auf das Kapitel über den Geruchssinn (N VI. 6), in dem er erklärt, dass Gerüche und Geschmäcke in Gemischen entstehen, wenn diese durch die Einwirkung von Wärme »gekocht« werden. Ohne Wärme können sie sich nicht entfalten. 118Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 135–139, hier 136, 12f: »Es ist bereits in den Abhandlungen, die ich über die Seele geschrieben habe, dargelegt worden, dass der erste Beweger im Lebewesen die Strebensseele ist.«
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den beiden überlieferten Abhandlungen das Rohmaterial für dieses Kapitel zu sehen.
Edition Das Buch der Seele ist zuerst zwischen 1958 und 1960 von Muḥammad al-Maʿṣūmī auf der Basis des Oxforder Manuskripts herausgegeben worden.119 Nach der Wiederentdeckung der Berliner Handschrift, hat 1999 Ǧamāl Rāšiq (Jamal Rachak) eine im Centre des Études Ibn Rushd in Fes entstandene neue Edition auf der Grundlage beider Textzeugen veröffentlicht.120 Daneben sind eine englische Übersetzung al-Maʿṣūmīs121 und eine 2007 erschienene spanische Übersetzung von Joaquín Lomba Fuentes verfügbar, die dieser auf der Basis einer eigenen Kollationierung der Handschriften und unter Berücksichtigung beider Editionen hergestellt hat.122 Bedauerlicherweise bietet keine der genannten Arbeiten einen verlässlichen Text. Was al-Maʿṣūmīs Edition angeht, so ist sie offensichtlich überholt, diejenige von Rachak dagegen entstellt den Text durch Lesefehler und häufige Auslassungen, wovon bereits der Vergleich mit al-Maʿṣūmīs Edition einen Eindruck geben kann. Für die vorliegende Untersuchung der Psychologie Ibn Bāǧǧas lege ich daher einen arabischen Text zu Grunde, der auf einer eigenen Kollationierung der Handschriften beruht, sowie eine dementsprechend angefertigte deutsche Übersetzung, die im Anhang abgedruckt ist. Die neue kritische Edition ist in Vorbereitung.
iv. Leitlinien für eine neue Lektüre Die hier unternommene Studie der Psychologie Ibn Bāǧǧas steht vor einer methodischen Herausforderung, denn sie läuft der bisherigen Lektüre seiner Schriften in einem entscheidenden Punkt zuwider. In der gegenwärtigen Forschungsliteratur herrscht eine Trennung zwischen Ibn Bāǧǧas »bloß« kommentierenden naturphilosophischen und seinen »originellen« intellekttheoretischen Schriften vor, die zum Hindernis werden muss, sobald wir das Buch der Seele und die in
119Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-nafs, ed. Muḥammad Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Damaskus 1960; zuerst veröffentlicht in: Maǧallat al-maǧmaʿ al-ʿilmī al-ʿarabī bi-Dimašq 33 (1958) 96–111; 278–301; 424–442; 609–632; 34 (1959) 112–126; 332–344; 490–506; 634–645; 35 (1960) 114–122. 120Vgl. Anm. 101. 121Muḥammad Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Ibn Bajjah’s ʿIlm al-Nafs, English translation and notes, Karachi 1961 [Nachdruck: Neu-Delhi 1992]. 122Ibn Bāǧǧa, Libro sobre el alma, vgl. Anm. 103; zu Lombas Vorgehen vgl. dort S. 15f.
iv. Leitlinien für eine neue Lektüre
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ihm vertretene Konzeption der Psychologie zum Gegenstand machen. Denn, wie bereits unser erster Blick in Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione angedeutet hat,123 steht das Buch der Seele in enger Verbindung sowohl mit den kommentierenden logischen und naturphilosophischen Schriften als auch mit den Abhandlungen. Die Analyse des Buchs der Seele kann so Ausgangspunkt für ein besseres und tieferes Verständnis von Ibn Bāǧǧas Werk sein, setzt aber umgekehrt eben auch eine adäquate Einschätzung dieses Werkes voraus, aus der ein bestimmtes interpretatorisches Vorgehen zu folgen hat. In einer knappen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand Leitlinien für eine neue Lektüre zu etablieren und so auch das Verfahren dieser Untersuchung zu rechtfertigen, ist daher das wesentliche Ziel der folgenden Bemerkungen.
Das Bild Ibn Bāǧǧas bei seinen andalusischen Nachfolgern Macht bereits die obige Beschreibung des Editionsstands deutlich, dass Ibn Bāǧǧas Psychologie erst am Anfang ihrer Erschließung steht, so wird dies durch den folgenden Blick auf die bisherigen Forschungsarbeiten, die diesen Bereich berühren, vollends offensichtlich. Die moderne Lektüre der philosophischen Schriften Ibn Bāǧǧas ist nämlich in massiver Weise durch das Licht bestimmt worden, in dem ihn seine berühmteren andalusischen Nachfolger Ibn Ṭufail, Maimonides und insbesondere Ibn Rušd haben erscheinen lassen. Diesen prägenden Einfluss im Einzelnen zu beleuchten, wäre eine eigene Studie wert. Hier soll nur eine für unser Thema belangreiche Beobachtung festgehalten werden: Ibn Bāǧǧa wird stets als ein Denker präsentiert, der sich vornehmlich mit einer einzigen Frage befasst hat: Ob es dem Menschen möglich ist, sich mit dem aktiven Intellekt zu verbinden. In der Einleitung des philosophischen Romans Ḥayy Ibn Yaqẓān, verfasst von Ibn Rušds älterem Zeitgenossen Ibn Ṭufail (ca. 1110–1185), wird Ibn Bāǧǧa als hervorragendster der bisherigen Philosophen in al-Andalus vorgestellt, einige seiner Schriften werden genannt, aber er wird auch scharf dafür kritisiert, dass er – wegen seines weltlichen Lebenswandels – seine Werke in unvollendeter und nachlässig geschriebener Form hinterlassen habe.124 Vor allem aber wird Ibn Bāǧǧa hier für das Ziel Ibn Ṭufails instrumentalisiert, einen bestimmten »Zustand« geistiger Erleuchtung anzupreisen, auf den er seinen Leser führen will. Er orientiert sich dabei nach eigenem Bekunden an dem islamischen Theologen und Mystiker al-Ġazālī (1058–1111) und an einer – längst als fiktiv erkannten –
123Siehe oben, Anm. 4. 124Ibn Ṭufail, Hayy ben Yaqdhân, ed. Gauthier, 3–20 (arab.); Ibn Ṭufail, Der Philosoph als Autodidakt, Übersetzung Schaerer, 3–15.
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»orientalischen« Philosophie Ibn Sīnās.125 Ibn Bāǧǧa dient ihm dabei mit Passagen, die Ibn Ṭufail ziemlich willkürlich aus der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen herausnimmt, dazu, eine bloß zweitbeste und vorläufige Stufe der »Schau« (mušāhada) zu vertreten, nämlich eine, die »mittels theoretischer Wissenschaft und rationaler Untersuchung« zu erreichen ist.126 Die Beschäftigung mit diesem Zustand erscheint so als Kern der Philosophie Ibn Bāǧǧas. Auch bei Maimonides (1138–1204) erscheint Ibn Bāǧǧa als mit dem Intellekt befasster Denker. In einer der wenigen Passagen, in der er ihn in seinem Führer der Unschlüssigen namentlich erwähnt, geht es um die Frage der Unsterblichkeit: Auf der Ebene des reinen Intellekts gibt es keine Unterschiede zwischen dem, was von einzelnen Individuen zurückbleibt; »daher sind alle ein einziger, wie Abū Bakr Ibn al-Ṣāʾiġ und andere klar gemacht haben, die sich in die Gefahr begaben, über diese Rätsel zu sprechen.«127 Am deutlichsten und einflussreichsten ist diese Präsentation Ibn Bāǧǧas als Philosoph der »Konjunktion« aber von Ibn Rušd in seinem Großen Kommentar zu De anima vorgetragen worden: »Sagen wir also, dass Ibn Bāǧǧa viel über diese Frage geforscht und sich abgemüht hat zu zeigen, dass diese Verbindung möglich ist, [und zwar] in seinem Schreiben, das er Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen genannt hat, und im Buch der Seele und in vielen anderen Büchern. Es scheint, dass diese Frage seine Überlegung nicht einmal für die Zeit eines Lidschlags losgelassen hat.«128 Es ist daher nur allzu verständlich, dass sich die philosophiegeschichtliche Forschung vornehmlich für Ibn Bāǧǧas Intellektlehre, und zwar insbesondere für seine Aussagen über die Vollendung des menschlichen Intellekts und dessen 125Vgl. dazu Dimitri Gutas, Ibn Tufayl on Ibn Sīnā’s Eastern Philosophy, in: Oriens 34 (1994), 222–241. 126Ibn Ṭufail, Hayy ben Yaqdhân, ed. Gauthier, 5 (arab.); Ibn Ṭufail, Der Philosoph als Autodidakt, Übersetzung Schaerer, 4. Zur Bedeutung des Begriffs mušāhada zwischen Philosophie und Mystik vgl. die Untersuchung zu Ibn Bāǧǧas jüdischem Zeitgenossen aus al-Andalus, Yehudah ha-Levi: Diana Lobel, Between Mysticism and Philosophy. Sufi Language of Religious Experience in Judah ha-Levi’s Kuzari, New York 2000, insbesondere den dritten Teil. Zu Ibn Bāǧǧas Einfluss auf Yehudah ha-Levi vgl. Ehud Krinis, The Arabic Background of the Kuzari, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 21 (2013), 1–56, hier 8–11. 127Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn, I. 74, ed. Munk, f. 121v. Zu Ibn Bāǧǧas Einfluss auf Maimonides’ Intellektlehre vgl. Alexander Altmann, Maimonides on the Intellect and the Scope of Metaphysics, in: ders., Von der mittelalterlichen zur modernen Aufklärung. Studien zur jüdischen Geistesgeschichte, Tübingen 1987, 60–129. 128Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 487, 221–227; Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 249.
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Konjunktion und Verschmelzung mit dem überindividuellen aktiven Intellekt interessiert hat.
Die Fehlinterpretation Alexander Altmanns Die erste und bis heute genaueste, wenn auch inzwischen hoffnungslos überholte Untersuchung hat Alexander Altmann 1965 unter dem Titel »Ibn Bājja on Man’s Ultimate Felicity« veröffentlicht. Die erste Edition und englische Übersetzung von Ibn Bāǧǧas Buch der Seele – einem der Texte also, auf die Ibn Rušd, wie gerade gesehen, seine Vorstellung Ibn Bāǧǧas stützt – war damals zwar bereits erschienen, da sie jedoch die von Ibn Rušd in seinem Kommentar zitierten Aussagen nicht enthielt, ließ Altmann sie weitgehend außer acht.129 Er ging daher in vielen Punkten von dem Referat und der Kritik aus, die Ibn Rušd seinem Vorgänger widmet, ja sogar von deren Nachleben bei Thomas von Aquin.130 Nun sind aber nicht nur Thomas’ erkenntnistheoretische und ontologische Annahmen grundverschieden von denen Ibn Bāǧǧas,131 sondern auch Ibn Rušd verfolgt selbstverständlich eine eigene Agenda. Seine Ausführungen in den betreffenden Passagen des Großen Kommentars bilden den Kulminationspunkt einer langen Absetzungsbewegung von den intellekttheoretischen Annahmen Ibn Bāǧǧas – zur Natur des materiellen Intellekts und seiner Verbindung mit dem aktiven –, denen Ibn Rušd in seiner ersten Auseinandersetzung mit der aristotelischen Psychologie im frühen Kompendium (Muḫtaṣar) zu De anima noch gefolgt war. Diese geistige Auseinandersetzung ist häufig untersucht worden und braucht daher hier nicht nochmals aufgerollt zu werden.132 Wichtig festzuhalten bleibt, dass Ibn Bāǧǧa in dieser Perspektive immer nur als Stichwortgeber für die Psychologie Ibn Rušds erscheint und dass, trotz einiger vorsichtiger Ansätze zu einer gründlicheren Untersuchung der Rezeption von Ibn Bāǧǧas Buch 129Vgl. Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 76 mit Anm. 6f. 130Vgl. Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 75, 95f. 131Vgl. dazu David Wirmer, Avempace – ›ratio de quiditate‹. Thomas Aquinas’s Critique of an Argument for the Natural Knowability of Separate Substances, in: Andreas Speer, Lydia Wegener (Hg.), Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea Mediaevalia 33), Berlin–New York 2006, 569–590; Jozef Matula, Thomas Aquinas and His Criticism of Avempace’s Theory of the Intellect, in: Verbum. Analecta neolatina 6 (2004), 95–108. 132Herbert A. Davidson, Alfarabi, Avicenna, and Averroes, on Intellect. Their Cosmologies, Theories of the Active Intellect, and Theories of Human Intellect, New York–Oxford 1992; Averroès, La béatitude de l’âme, éditions, traductions annotées, études doctrinales et historiques d’un traité d’«Averroès» par Marc Geoffroy et Carlos Steel, Paris 2001; Averroes (Ibn Rushd) of Cordoba, Long Commentary on the De Anima of Aristotle, translated and with introduction and notes by Richard C. Taylor, New Haven–London 2009, mit Verweisen auf die zahlreichen Aufsätze Taylors zum Thema; Wirmer, Averroes. Über den Intellekt.
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der Seele bei Ibn Rušd,133 fast ausschließlich einige Aspekte der Intellekttheorie Beachtung finden.134 Neben Ibn Rušds Referat hat Altmann selbstverständlich auch ausgiebig auf Abhandlungen Ibn Bāǧǧas zurückgegriffen, in denen dieser auf das Thema der intellektuellen Vollendung und der Konjunktion eingeht: Die Lebensführung des Einsamen, den Abschiedsbrief, die Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen und einige weitere kurze Texte. Trotz Altmanns zweifellos sorgfältigem Vorgehen und seiner unbestrittenen Gelehrsamkeit scheint er mit der Mehrzahl seiner Schritte über die Auffassungen Ibn Bāǧǧas in die Irre gegangen zu sein. Da sich die vorliegende Studie nur in geringem Maße mit der Intellekttheorie selbst befasst, kann ich dieses Urteil hier nicht ausführlich rechtfertigen, sondern nur auf einen Punkt hinweisen, bei dem schon aus unseren schwerpunktmäßig naturphilosophischen Untersuchungen deutlich wird, dass Altmann zu schnell geschlossen hat. Das liegt neben seiner beschränkten Textbasis vor allem daran, dass er von vornherein davon überzeugt ist, die »Konjunktion« sei per se eine neuplatonische inspirierte Theorie.135 Das führt ihn dazu, in Ibn Bāǧǧas Ausführungen mehr auf die benutzen Bilder und Texte – das Höhlengleichnis, die Metapher des Spiegels, einen neuplatonisch inspirierten Ḥadīṯ, ein Proklos-Fragment – zu achten als auf die theoretischen Positionen, für die Ibn Bāǧǧa sie einsetzt.136 Dieses sicher unglücklichste Mißverständnis Altmanns besteht in der Annahme, Ibn Bāǧǧa verteidige die These, auf dem Niveau der Verbindung mit dem aktiven Intellekt erkenne der Mensch »reine Intelligibilia«, die gleichsam internalisierten platonischen Ideen entsprechen.137 Tatsächlich werden wir sehen, dass Ibn Bāǧǧas Annahmen über die Natur der Intelligibilia und den aktiven Intellekt eine solche Auffassung unmöglich machen, ja dass er den aktiven Intellekt vielmehr als Prinzip jeder möglichen Erkenntnis begreift, das gerade keinen weiteren Gehalt als den der Erkennbarkeit selbst hat.138 133Alfred Ivry, Averroes’ Short Commentary on Aristotle’s De anima, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 8 (1997), 511–549; Abdelali Elamrani-Jamal, Averroès, de l’Epitomé au Commentaire moyen du De anima, Questions de méthode, in: Carmela Baffioni (Hg.), Averroes and the Aristotelian Heritage, Neapel 2004, 121–136; Muḥammad Alūzād, Ḥuḍūr Ibn Bāǧǧa fī ǧawāmiʿ al-nafs li-Bn Rušd: min al-tamāṯul ilā tadšīn al-infiṣāl, in: Muḥammad Miṣbāḥī (Hg.), al-Ufuq al-kaunī li-fikr Ibn Rušd. Aʿmāl al-nadwa al-duwalīya bi-munāsabat murūr ṯamāniya qurūn ʿalā wafāt Ibn Rušd, Marrākuš, 12–15 dīsambar 1998, Marrakesch 2001, 75–102. Herzlichen Dank an Gerhard Endreß für den Hinweis auf diesen Aufsatz. 134So erneut Averroes, Long Commentary on the De Anima, in Taylors Einleitung, lxxxix– xciii. 135Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 73f. 136Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 84–88, 96–99. Siehe dazu Kapitel 11, Abschnitt 3.1. 137Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 74, 78f, 87f, 95. 138Siehe hierzu neben den folgenden Ausführungen insbesondere Kapitel 13, Abschnitt 2.
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Das von Altmann gezeichnete Bild eines Ibn Bāǧǧa, der zwar von aristotelischen Prämissen ausgeht und maßgeblich von Alexander von Aphrodisias beeinflusst ist, diese jedoch mit neuplatonischen Annahmen und Zielen verbindet, hat die folgende Forschung tief geprägt, ohne seitdem je genauer auf den Prüfstein gestellt worden zu sein. Noch jüngst hat C. D’Ancona dieses Bild in plakativer Weise aufgefrischt.139 Altmann hat so vor allem den Trend verstärkt, hauptsächlich Ibn Bāǧǧas Abhandlungen zu berücksichtigen, die nicht in direkt erkennbarer Weise einem aristotelischen Text folgen und in denen die genannten Motive und Bilder den Eindruck vermitteln, man habe es, wie Altmann das formuliert hatte, mit einer Synthese aus aristotelischen und neuplatonischen Elementen zu tun. Aus den Fängen von Altmanns Fehlinterpretation befreit sich auch Charles Genequand nicht, der jüngst als erster eine ausdrücklich gegen Altmanns Deutung gerichtete Lektüre von Ibn Bāǧǧas Intellekttheorie vorgelegt hat. In der Einleitung zu seiner 2010 erschienenen Edition und Übersetzung einiger Abhandlungen Ibn Bāǧǧas fällt Genequand nämlich ins andere Extrem und leugnet schlichtweg, dass Ibn Bāǧǧa überhaupt von einer »Konjunktion« (ittiṣāl) des Menschen mit dem aktiven Intellekt spreche.140 Genequand hat zwar Altmanns »Neuplatonisierung« (néoplatonisation) des »aristotelischsten aller andalusischen Philosophen« erfasst,141 folgt ihm aber eben in der Annahme, dass die Idee der Konjunktion als solcher nicht anders als neuplatonisch zu verstehen wäre. Genequand weist zu recht darauf hin, dass Ibn Bāǧǧā den Begriff des ittiṣāl in einem viel weiteren Sinne der ›Kontinuität mit‹ und der ›Verbindung zu‹ verwendet, der auch die Verbindung mit wahrnehmbaren materiellen und von diesen abstrahierten intellektuellen Formen einschließt,142 also jene Erkenntnisniveaus, die von der »Konjunktion« im herkömmlichen Verständnis gerade unterschieden werden. Er geht jedoch entschieden zu weit und vor allem gegen den Wortlaut von Ibn Bāǧǧas Texten, wenn er Altmann entgegenhält, ittiṣāl meine bei Ibn Bāǧǧa nie mehr als »den Kontakt zwischen dem menschlichen Intellekt und den Intelligibilia«.143 Richtig ist vielmehr, dass für Ibn Bāǧǧa die Verbindung »mit diesem anderen Intellekt«, das Ergebnis eines kontinuierlichen Abstraktionsprozesses ist, zu dem die sinnliche und intellektuelle Erkenntnis als vorgeordnete Stufen gehören.144 139Cristina D’Ancona, Man’s Conjunction with Intellect: A Neoplatonic Source of Western Muslim Philosophy, in: Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities 8 (2008), 57–89. Siehe dazu meine ausführliche Kritik unten, S. 508f. 140Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 58–82, insbesondere 61–72. 141Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 66. 142Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 62. 143Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 64. 144Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 194, 13–21 (§§ 35f ). Diese Passage ist im Licht von T 81 aus dem Abschiedsbrief zu lesen.
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Genequand kann sich, wie sein Kommentar zu erkennen gibt, Ibn Bāǧǧas »brüsken« Übergang vom Kontakt des Menschen mit dem Intelligibile zum Kontakt mit dem Intellekt nicht erklären und versucht ihn wegzudeuten145 Das liegt daran, dass Genequand, im Gefolge von Altmann, sich nicht von dem Gedanken losmachen kann, Ibn Bāǧǧā vertrete die Ansicht, es gäbe über dem Niveau der Erkenntnis, auf dem intelligible Formen von materiellen Dingen erfasst werden, noch ein Niveau der Einsicht in reine Intelligibilia, die zwar keine Beziehung mehr zu den materiellen Dingen haben, aber dennoch Intelligibilia ›von etwas‹ sind und für die man daher eine Funktion und einen »Platz« suchen muss.146 Altmann hatte sie, wie gesagt, im aktiven Intellekt verortet. Genequand dagegen findet diesen Platz nun im menschlichen Intellekt, indem er die Konjunktion mit dem aktiven Intellekt durch das kontinuierliche Verbleiben des Menschen im reinen Denken ersetzt,147 freilich ohne zu erklären, worin eigentlich der Unterschied zur gewöhnlichen intellektuellen Erkenntnis bestehen soll. Genequand behilft sich hier mit einem matten Verweis auf Aristoteles’ Ideal der intellektuellen Glückseligkeit, um die Frage nach dem spezifischen Inhalt dieses höchsten Erkenntnisniveaus zu umgehen.148
145Vgl. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 371 (Anmerkung zu § 36). 146Vgl. die beiden folgenden widersprüchlichen Beschreibungen von Ibn Bāǧǧas Position (meine Hervorhebungen): »A la fin de cette section de son article, il [=Altmann] relève justement que pour IB les formes intelligibles dans leur manifestation la plus haute, celle du troisième niveau de connaissance, ne sont pas, comme le croyait Platon, des entités subsistant par elles-mêmes, les ›Idées‹, mais des ›intentions‹ (maʿānī). En revanche, la conclusion qu’il en tire, à savoir qu’elles ont leur réalité dans l’Intellect Agent et ne peuvent par conséquent être pensées que par l’union avec celui-ci de l’intellect humain, est complètement arbitraire.« (Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 64); »Mais il existe un second degré d’intelligibilité qui permet d’accéder à l’unité des intelligibles et, par conséquent, des intellects. Cette idée des deux degrés d’intelligibilité est l’aboutissement d’un thème qui court comme un fil rouge à travers l’oeuvre d’lB, en particulier le K. al-nafs. […] La forme vient à l’être dans la matière aussi bien que dans la sensation ou l’imagination; en revanche elle possède dans l’intellect une existence qui lui est propre et non engendrée.« (Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 72). 147Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 78: »C’est bien sur le sens du mot ›conjonction‹ qu’il faut s’entendre: s’il est vrai que l’intellection est cause de la conjonction, ce n’est pas en tant que l’intellect s’unit à une entité distincte, qu’elle soit intérieure ou extérieure à l’homme, mais en tant qu’il intériorise parfaitement des contenus intelligibles dépourvus de tout lien avec la matière. Dans la mesure où il existe pour lB une instance séparée nommée intellect agent, elle ne saurait jouer d’autre rôle que celui que lui attribuait Aristote, à savoir celui de la lumière dans la sensation. En d’autres termes, elle rend possible l’union entre deux termes, l’intellect et l’intelligible, qui possèdent une existence autonome.« Vgl. auch Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 63: »Que l’homme peut penser de manière continue«. 148Vgl. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 80.
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Tatsächlich jedoch sind Ibn Bāǧǧas Überlegungen zum »zweiten Grad der Intelligibilität«, mit denen Genequand sich abmüht,149 so gemeint, dass der aktive Intellekt selbst diesen Grad bildet, der aktive Intellekt selbst also das einzige Intelligibile ist, das auf dieser Stufe erfasst wird. Ibn Bāǧǧā hält mehrfach ausdrücklich fest, dass der (aktive) Intellekt das Wesen aller Intelligibilia ist, also das, was allen sachhaltigen intellektuellen Formen gemeinsam ist.150 Mit Ibn Bāǧǧas eigenen Worten: »Denn es gibt dabei keinen Unterschied zwischen dem Sein des Stuhles und dem Sein des Menschen, insofern sie beide Intelligibilia sind.«151 Die Erkenntnis des aktiven Intellekts als des Wesens aller Intelligibilia ergibt sich daher in der Tat auf dem Wege der Abstraktion von »gewöhnlichen« intellektuellen Erkenntnissen, ergreift dabei aber wirklich den aktiven Intellekt selbst. Es handelt sich mithin bei Ibn Bāǧǧā sehr wohl um eine »Konjunktion« im herkömmlichen Sinne, nur dass der aktive Intellekt, mit dem sich der Mensch hier verbindet, eben nicht neuplatonisch als Reservoir aller intellektuell erkennbaren Formen, sondern als bloßes Prinzip (Ursache) jeder möglichen intellektuellen Erkenntnis verstanden wird. Da Genequands Interpretation nun das schwerwiegendste Missverständnis mit Altmanns klassischer Studie teilt, ist es auch nicht verwunderlich, dass einige Autoren bereits begonnen haben, die beiden gegensätzlichen Thesen zu amalgamieren.152 Darüber hinaus hat Genequand schon durch seine Textaus149Vgl. insbesondere Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 71–76; zur Formulierung siehe den zweiten in Anm. 146 zitierten Auszug. 150Die treffendste Stelle im Buch der Seele ist neben der durch Ibn Rušd bekannten Argumentation in N XI. 11–13 vor allem N XI. 18: »Wenn dies der Fall ist, dann hat das Feuer folglich zwei Wesenheiten […]. Denn das Feuer, das Pferd und die Palme stehen für diesen Intellekt anstelle der Individuen für den Intellekt [in Akt]. Der Intellekt erfasst von ihnen nur das, wodurch sie Intelligibilia werden.« 151Ibn Bāǧǧa, Fī l-waḥda wa-l-wāḥid, MS B, f. 190r24–v3, völlig entstellt in Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 147, 3–12 und Badawī (Hg.), Rasāʾil falsafīya, 145, 13–10: ﻓﺈن اﻟﻔﺤﺺ. ﻻ ﻛﯿﻒ وﺟﻮده اﻟﮭﯿﻮﻻﻧﻲ, ]…[ أو ﻋﻨﺪﻣﺎ ﻧﻔﺤﺺ ﻋﻨﮫ ﻛﯿﻒ وﺟﻮده اﻟﻤﻌﻘﻮل:واﻟﻤﻌﻘﻮل ﯾﻮﺟﺪ ﻣﻮﺿﻮﻋﺎ ﺑﻮﺟﻮه ھﻮ اﻟﻤﻮﺟﻮد ﻟﯿﺲ ﯾﻘﻒ ﺑﻨﺎ, وﻓﺤﺼﻨﺎ ﻋﻦ وﺟﻮده اﻟﻤﻌﻘﻮل, ﯾﻘﻒ ﺑﻨﺎ ﻋﻠﻰ ﺣﺪه, وھﻮ وﺟﻮده ﻓﻲ أﺷﺨﺎﺻﮫ,ﻋﻦ وﺟﻮده اﻟﮭﯿﻮﻻﻧﻲ ﻷﻧﮫ ﻻ ﻓﺮق ﻋﻨﺪ ذﻟﻚ ﺑﯿﻦ وﺟﻮد اﻟﻜﺮﺳﻲ وﺑﯿﻦ وﺟﻮد اﻹﻧﺴﺎن ﻣﻦ ﺣﯿﺚ ھﻤﺎ, ﺑﻞ ﯾﻘﻒ ﺑﻨﺎ ﻋﻠﻰ ﻣﺎ ھﻮ اﻟﻌﻘﻞ ﺑﺎﻟﻔﻌﻞ,ﻋﻠﻰ ﺣﺪه .ﻣﻌﻘﻮﻻن 152Vgl. etwa Richard C. Taylor, Arabic/Islamic Philosophy in Thomas Aquinas’s Conception of the Beatific Vision in IV Sent., D. 49, Q. 2, A.1, in: The Thomist 76 (2012), 509–550, besonders 535, wo er sich für folgende Aussage auf Genequand beruft: »For Ibn Bājja this means that Aristotelian abstraction should be rejected and that a form of Platonism involving the attainment of unity with the Agent Intellect is the only way for the human soul to achieve the fullness of knowledge of intelligible forms«. Sie auch 319f. Eine Spur von Genequands These (ohne Namensnennung) in einer von Altmann geprägten Darstellung findet sich auch bei Joaquín Lomba, Le sens du Kitāb al-nafs dans la pensée et l’oeuvre d’Ibn Bāyya, in: Ishraq 3 (2012), 365–379, hier 374: »Or, ce procès ascendant, bienqu’il soit inspiré en partie du néoplatonisme, il n’a pas le caractère substancialiste selon lequel la conquête de la spiritualité consisterait à
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wahl – das Verharren bei den drei immer gleichen Abhandlungen zur Intellektthematik – lediglich das altgewohnte Bild Ibn Bāǧǧas bestätigt.
Die Spaltung von Ibn Bāǧǧas Werk Zu dieser Konzentration auf die »eigenständigen« Schriften Ibn Bāǧǧas in Abgrenzung von seinen Kommentaren zu Schriften des Aristoteles und al-Fārābīs hat sicher auch das unglückliche Kriterium der »Originalität« beigetragen, die man »bloßen Kommentaren« aberkannte. Diese Haltung kommt hervorragend in den einleitenden Bemerkungen von Miguel Asín Palacios zu seiner Edition von Ibn Bāǧǧas Buch der Pflanzen (Kitāb al-nabāt) zum Ausdruck. Dieser Text war 1940 die erste Edition eines Textes Ibn Bāǧǧas im arabischen Original überhaupt, und zwar gerade eines naturphilosophischen, kommentarähnlichen Textes. Asín schreibt: »Es ist zu einem Topos geworden, die Schriften Ibn Bāǧǧas über Physik und Naturwissenschaften als bloße Kommentare oder Glossen der gleich betitelten aristotelischen Bücher zu betrachten. Tatsächlich handelt es sich um Werke eines viel persönlicheren Charakters, da er in ihnen niemals dem Text des Stagiriten folgt, sondern in völliger Unabhängigkeit die Gegenstände darlegt und die Probleme angeht, indem er einer eigenen Methode und einem eigenen Plan folgt, ohne den Namen des Aristoteles und die Titel seiner Bücher mehr als sporadisch zu erwähnen, neben anderen Autoren und nicht in systematischer und kontinuierlicher Weise, wie es für Kommentare im eigentlichen Sinne charakteristisch ist.«153 Indem er Ibn Bāǧǧa davon frei spricht, »bloße Kommentare« verfasst zu haben, bestätigt Asín gerade das Vorurteil gegen die Form des Kommentars als Genre philosophischer Tätigkeit. Sein Einspruch hat denn auch den von ihm beklagten Topos nicht beseitigen können. Joaquín Lomba Fuentes unterstreicht noch in der Einleitung zu seiner spanischen Übersetzung des Buchs der Seele, das er zwar als originell betrachtet, dennoch aber in die Reihe der Kommentare und den »persönlicheren« Schriften gegenüber stellt, dieses Werk sei deshalb so bedeutend, weil es »den Schlüssel für einige Ausgangspunkte des eigenen Denkens s’installer dans le monde substantiel du pur esprit, partant de la substance inférieure de la matérialité. Chez Ibn Bâyya le procès de conquête de la spiritualité est purement noétique [...] Leur point culminant est l’union de l’Intellect Agent qui est une substance à part. Malgré cela, l’Intellect humain s’y unit gnoséologiquement.« Derselbe Aufsatz Lombas ist offenbar auch erschienen in: Nicole Koulayan, Mansour Sayah (Hg.), Synoptikos. Mélanges offerts à Dominique Urvoy, Toulouse 2011, 113–128 (non vidi); weiter enthält der Band auf S. 129–153, einen Aufsatz von Marc Geoffroy zum Thema: L’Exposition de la Jonction de l’Intellect avec l’homme (ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān) d’Avempace dans le Compendium d’Averroès sur l’âme (Djawāmiʿ ou Mukhtaṣar al-nafs). Présentation et traduction annotée. 153Asín, Avempace botánico, 258f.
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Ibn Bāǧǧas bietet, nun nicht mehr als Kommentator, sondern als Philosoph«.154 Diese Haltung ist aber eine beinahe absurd zu nennende Verkennung der langen Tradition der Philosophie mit den Mitteln des Kommentars,155 in die auch Ibn Bāǧǧa natürlich hineingehört. Für Ibn Bāǧǧas Nachfolger Ibn Rušd, den Commentator par excellence, ist von Gerhard Endreß überzeugend vorgeführt worden, wie bei ihm Interpretation und Wahrheitssuche ineinander gehen.156 Wie dem auch sei, Lomba und andere spanische Arabisten haben jedenfalls den wissenschaftlichen Diskurs über Ibn Bāǧǧa durch ihre zahlreichen Übersetzungen von Ibn Bāǧǧas Traktaten ins Spanische sowie Überblicksdarstellungen und Aufsätze geprägt.157 Inzwischen liegen allerdings fast alle Schriften Ibn Bāǧǧas, auch die Kommentare, zumindest in irgendeiner Form ediert vor. Die größten Anstrengungen zu ihrer Erschließung hat bisher Paul Lettinck in Bezug auf Ibn Bāǧǧas Kommentare zur Physik und zur Meteorologie unternommen.158 Indessen handelt es sich auch hier eher darum, durch Übersetzung, Paraphrase und selektive Bemerkungen einen ersten Zugang zu den Texten zu erlauben. Mehr als erste Vorstudien gibt es auch nicht zu den Kommentaren Ibn Bāǧǧas zu De generatione et corruptione159 und zu De animalibus.160 Die verfügbaren gedruckten Texte sind durchweg sehr fehlerhaft, wie man den Anmerkungen zu den in der vorliegenden Studie übersetzten Texten entnehmen kann, die die Änderungen vermerken, die ich nach Überprüfung der Handschriften vorgenommen habe.
154Ibn Bāǧǧa, Libro sobre el alma, übers. Lomba, 14. 155Vgl. Cristina D’Ancona Costa, Commenting on Aristotle: From Late Antiquity to the Arab Aristotelianism, in: Wilhelm Geerlings, Christian Schulze (Hg.), Der Kommentar in Antike und Mittelalter: Beiträge zu seiner Erforschung, Leiden 2002, 201–251; Carlos Steel, La philosophie médiévale comme expression de son époque, in: Actualité de la pensée médiévale, Recueil d’articles édités par J. Follon et J. McEvoy, Louvain-la-Neuve–Paris 1994, 79–92; Francesco Del Punta, The Genre of Commentaries in the Middle Ages and its Relation to the Nature and Originality of Medieval Thought, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin–New York 1998, 138–151. 156Gerhard Endreß, L’Aristote arabe. Réception, autorité et transformation du Premier Maître, in: Medioevo 23 (1997), 1–42. 157Ich erwähne hier nur zwei rezente Übersetzungen, in denen sich jeweils eine ausführliche Bibliographie findet: Ibn Bāǧǧa, El régimen del solitario, übers. Lomba; Ibn Bāǧǧa, Carta del adiós y otros tratados filosóficos, edición y traducción de Joaquín Lomba, Madrid 2006. 158Lettinck, Aristotle’s Physics; ders., Aristotle’s Meteorology. 159Ibn Bāǧǧa, Libro de la generación, ed. Puig; Heidrun Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, Paderborn [etc.] 2005, enthält auch eine Reihe von Beobachtungen zum Kommentar Ibn Bāǧǧas. 160Kitāb al-ḥayawān li-Abī Bakr Ibn Bāǧǧa ʿalā ḍauʾ maḫṭūṭai Uksfūrd wa-Barlīn, ed. Ǧawād al-ʿAmmāratī, Beirut 2002; Kruk, Ibn Bājja’s Commentary on Aristotle’s De animalibus.
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Forschungsstand zum Buch der Seele Angesichts dieses Befundes sollte es nicht verwundern, dass der gegenwärtige Forschungsstand zu Ibn Bāǧǧas Buch der Seele und allgemeiner zu seiner Psychologie kläglich zu nennen ist. Dabei hat bereits 1986 Michael Blaustein zu Recht angemerkt: »Es ist sicher richtig zu sagen, dass dieser Traktat [=das Buch der Seele] anders etwa als seine ursprüngliche Vorlage, Aristoteles’ De anima, alle anderen Themen der Psychologie demjenigen des Intellekts unterordnet. Doch diese Tatsache selbst legt nahe, dass es klug wäre, wenigstens einen Augenblick bei diesen anderen Themen zu verweilen. Ihre Unterordnung selbst zwingt uns anzuerkennen, dass sie besser als bisher zu erwägen unser Verständnis des zentraleren Themas des Intellekts verbessern wird.«161 Blaustein tut das mit einer beachtenswerten Untersuchung von Ibn Bāǧǧas Überlegungen zur Abstraktion und zum Begriff der Intention,162 die aber bisher kaum Nachahmer gefunden hat. Ein jüngst erschienener Aufsatz zu Ibn Bāǧǧas Begriff eines »Denkvermögens« sollte immerhin erwähnt werden.163 Symptomatisch für den Zustand der Forschungen über Ibn Bāǧǧas Psychologie mag die folgende Aussage zu Ibn Bāǧǧas Begriff der Seele stehen, die in dem ihm gewidmeten Artikel der renommierten Internetpublikation Stanford Encyclopedia of Philosophy zum Buch der Seele anmerkt: »Ibn Bāǧǧa lässt sich nicht stören von Aristoteles’ hylemorphischem Verständnis der Seele, das er vielleicht gekannt hat. Er behauptet, dass alle Philosophen der Übereinstimmung waren, dass die Seele eine Substanz ist, und stellt Platon als die angemessene Quelle dar.«164 Tatsächlich dagegen zitiert und übernimmt Ibn Bāǧǧa die aristotelische Definition der Seele als Form des Körpers (N I. 6, 18) und wendet sie, wie wir sehen werden, im Buch der Seele konsequent an. Nimmt man nun noch hinzu, dass der Urheber dieses vollständigen contre-sens, Josep Puig Montada, selbst als Editor von Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione einen 161Michael Blaustein, Aspects of Ibn Bajja’s Theory of Apprehension, in: S. Pines, Y. Yovel (Hg.), Maimonides and Philosophy, Dordrecht 1986, 202–212, hier 202. 162Siehe allerdings meine kritischen Anmerkungen zu Blausteins Rede von einer »image theory of apprehension« in: Wirmer, Der Begriff der Intention, 52f, 66f. Außerdem ist anzumerken, dass Blausteins Studie auf der lückenhaften ersten Edition des Buchs der Seele beruht und schon von daher der Ergänzung und Verbesserung bedarf. 163Jamal Rachak, La noétique d’Ibn Bajja : statut de la faculté cogitative, in: Anales del Seminario de Historia de la Filosofia 26 (2009), 81–95. 164Josep Puig Montada, »Ibn Bajja«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2012 Edition), hg. Edward N. Zalta, URL: http://plato.stanford.edu/archives/spr2012/entries/ibnbajja/ (zuletzt aufgerufen: 26.02.2014): »Avempace is not disturbed by Aristotle’s hylemorphic view of the soul which he may have known. He affirms that all philosophers agreed that the soul is a substance and portrays Plato as the adequate source.« Die von Puig als Beleg herangezogene Stelle (vgl. N. I. 19) ist eindeutig darin, dass es sich um eine Erklärung des platonischen Seelenbegriffs und gerade nicht um dessen Übernahme handelt.
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Text bearbeitet hat, in dem die Vergänglichkeit der Seele in klaren Worten ausgedrückt ist,165 und dass dies derselbe Verfasser ist, dem man den Artikel zu Ibn Bāǧǧa im Cambridge Companion to Arabic Philosophy anvertraut hat,166 dann dürfte es nicht übertrieben sein zu sagen, dass Ibn Bāǧǧas Psychologie ein nahezu unbestelltes Feld ist. In diesem Sinne darf man schließlich noch Lombas Charakterisierung der Seelenlehre Ibn Bāǧǧas anführen, die er in seiner kurzen Einführung zur spanischen Übersetzung des Buchs der Seele und etwas ausführlicher in einem zeitgleich erschienenen Aufsatz gibt: Ibn Bāǧǧas Aussagen zum Status der Psychologie zitierend, die, wie wir bereits angedeutet haben, erkennbar die Einführungsworte von De anima aufgreifen, übersieht er nicht nur diese Herkunft, sondern rückt ganz im Gegenteil die dort in der Folge Alexanders und Themistios’ erwähnte Erkenntnis der eigenen Seele reflexhaft in die Nähe einer sokratischen Sorge um die eigenen Seele, die er dann mit den bereits erwähnten Thesen über die neuplatonischen Tendenzen in Ibn Bāǧǧas »persönlichen« Werken verbindet.167 Es scheint daher gerechtfertigt, einen radikalen Schnitt zu machen und mit einer neuen Lektüre von Ibn Bāǧǧas Buch der Seele und damit auch seiner Psychologie zu beginnen.
Textgattung und Vorlagen Hierbei sind die Frage nach dem Textgenre, dem das Buch der Seele zuzurechnen ist, und die Frage nach seinen Vorlagen nicht unerheblich, und auch in diesem Punkt gilt es, bestehende Vorannahmen zu beseitigen. Ist das Buch der Seele ein Kommentar zu De anima? Die Beantwortung dieser Frage hängt offensichtlich ganz davon ab, was man unter einem Kommentar versteht.168 Es ist jedenfalls kein Kommentar in dem Sinne, dass ganze Textabschnitte oder einzelne Lemmata mit einem Literalkommentar versehen würden.
165Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 28, 1–6. Zwar ist dort von »Lebewesenseelen« (nufūs ḥayawānīya) im Unterschied zum Intellekt die Rede, aber der Kontext zeigt klar, dass mit letzterem der transzendente aktive Intellekt und nicht ein individueller menschlicher Intellekt gemeint ist. 166Josef Puig Montada, Philosophy in Andalusia: Ibn Bājja and Ibn Ṭufayl, in: Peter Adamson, Richard C. Taylor (Hg.), The Cambridge Companion to Arabic Philosophy, Cambridge 2005, 155–179. 167Die vorstehende Zusammenfassung folgt Ibn Bāǧǧa, Libro sobre el alma, übers. Lomba, 14; die Darstellung in Joaquín Lomba Fuentes, La ciencia del alma en Ibn Bāǧǧa (Avempace), in: Veritas 52, 3 (2007), 79–90, ist insgesamt vorsichtiger und enger am Text, aber auch dort wird das Buch der Seele weitgehend im Blick auf die angeblich reiferen Aussagen in der Lebensführung des Einsamen zu den hierarchischen Niveaus spiritueller Formen usw. gelesen. 168Zu Kommentarformen in der arabischen Philosophie vgl. Gutas, Aspects of Literary Form.
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Der Abstand zum überlieferten Text von De anima ist bei aller inhaltlichen Nähe so groß, dass es etwa unmöglich ist zu sagen, welche Übersetzung Ibn Bāǧǧa benutzt hat. Zur Lebenszeit Ibn Bāǧǧas waren wohl drei arabische Übersetzung des Textes greifbar, eine erhaltene ältere, eine unvollständige Übersetzung Isḥāq Ibn Ḥunains und eine durch Ibn Zurʿa revidierte und ergänzte Fassung dieser letzteren.169 Obgleich es auf Grund des Prestiges der Übersetzungen Isḥāqs, des von Ibn Bāǧǧa durchweg verwendeten durch die Übersetzungen der Ḥunainschule geprägten Vokabulars und auf Grund der Tatsache, dass Ibn Rušds Kommentare das Vorhandensein dieser Texte in al-Andalus dokumentieren, wahrscheinlich ist, dass er eine vollständige und annähernd getreue Übersetzung besaß, kann über die genaue Qualität seiner Vorlage nichts gesagt werden. Sicher ist dagegen, dass aus der Abwesenheit bestimmter Aussagen des Aristoteles in Ibn Bāǧǧas Buch der Seele nicht geschlossen werden darf, dass sie ihm unbekannt waren. So findet man zum Beispiel in seinem Kommentar zur Meteorologie einen ziemlich präzisen Verweis auf ein in De anima behandeltes Thema, das dagegen im Buch der Seele überhaupt keine Erwähnung findet.170 Feststehen dürfte auch, dass die verbreitete Annahme, Ibn Bāǧǧa hätten überhaupt nur Paraphrasen und Kompendien der aristotelischen Schriften vorgelegen, wohl unhaltbar ist. Dies nicht zuletzt deshalb, weil jede Spur solcher »abstracts« fehlt, was verwunderlich wäre, wenn man mit den Vertretern dieser These davon ausginge dass sie soviel populärer waren als die aristotelischen Texte selbst.171 Ausschließen kann man auch, dass Ibn Bāǧǧa, wie Lomba 169Für ausführlichere Angaben und eine Diskussion der Forschungsliteratur siehe: Abdelali Elamrani-Jamal, De anima. Tradition arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 346–358, zur Textüberliferung insbesondere 346–351. Vgl. auch die Bemerkungen in Averroes, Long Commentary on the De Anima, übers. Taylor, lxxvi–lxxix, und Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 314f. 170Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 477, mit Aristoteles, De anima. III. 4, 429b10–22 und III. 7, 431b12–16. 171Marc Geoffroy, La formazione della cultura filosofica dell’Occidente musulmano, in: Cristina D’Ancona (Hg.), Storia della filosofia nell’Islam medievale, Bd. 2, Turin 2005, 723–782, hier 700 behauptet: »Ibn Bāǧǧa kannte sicher den größten Teil des aristotelischen Werkes in indirekter Weise.« Dieser den Abschnitt »La biblioteca di Ibn Bāǧǧa« einleitende Satz ist mit einer Anmerkung (67) versehen, die darauf hinweist, die Darstellung beruhe zum Teil auf Faḫrīs Übersicht über Ibn Bāǧǧas Quellen in: Rasāʾil Ibn Bāǧǧa, ed. Faḫrī, 18–23. Woher immer Geoffroy die Auffassung einer bloß indirekten Aristotelesrezeption übernommen haben mag, sie findet sich jedenfalls nicht bei Faḫrī. Puig vermutet (Libro de la generación, xxiii) in ähnlicher Weise, dieser habe nur eine Kurzfassung des aristotelischen Textes gekannt, denn die Diskrepanzen zwischen Aristoteles und Ibn Bāǧǧa erscheinen ihm nur so erklärlich. Weiterhin behauptet Puig, Lettinck hätte bereits bezüglich der Physik die These aufgestellt, Ibn Bāǧǧa habe nur ein arabisches Resümee benutzt. Er verweist dabei auf Lettinck, Aristotle’s Physics, 32, wo sich allerdings nur ein Schema findet, das Ibn Bāǧǧas Kommentar mit einem »Yaḥyā abstract« in Zusammenhang bringt. Aus Lettincks Einleitung (1–13) wird dagegen klar, dass damit
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meint,172 eine neuplatonisierende Version von De anima gelesen hat. Der einzige Text, der dafür in Frage kommt, das vermutlich von Ibn al-Biṭrīq stammende Kompendium aus dem Kindī-Kreis, das sich stark auf Philoponos’ stützt, vertritt Thesen, die von Ibn Bāǧǧa eindeutig abgelehnt werden, zum Beispiel die Wiedererinnerungslehre.173 Weitere Quellen, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele benutzt und in wenigen Fällen zitiert hat, sind die arabischen Übersetzungen von Themistios’ De animaParaphrase174 (N VIII. 6) und Alexanders von Aphrodisias eigener aber durchaus kommentarähnlicher Schrift Über die Seele (N I. 17, VI. 2).175 Insbesondere Alexander hat nicht nur Ibn Bāǧǧas Begriff der Seele, sondern auch sein Vorgehen im Buch der Seele stark beeinflusst. Themistios’ Einfluss ist in vielen Einzelheiten zu spüren, die jeweils in den Anmerkungen dieser Studie nachgewiesen sind. Dass er das Vorbild für eine grundsätzliche erkenntnistheoretische Überlegung Ibn Bāǧǧas gebildet hat, habe ich an anderer Stelle nachgewiesen.176 Mit einem Wort, die Form, die Ibn Bāǧǧa seiner Auseinandersetzung mit der aristotelischen Seelenlehre gegeben hat, ist allein seiner bewussten Entscheilediglich eine Zusammenfassung des Kommentars von Johannes Philoponus (Yaḥyā al-Naḥwī) gemeint ist, die in Verbindung mit Qusṭās Übersetzung von Physik I–IV steht. Lettinck führt nämlich Ibn Bāǧǧas Kenntnis einiger Theorien des Philoponos auf dieses »abstract« zurück. Er meint zudem, zeigen zu können, dass einige wörtliche Zitate aus der Physik darauf hinweisen, dass Ibn Bāǧǧa nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich die Physik-Übersetzung von Isḥāq (die einzige uns erhaltene) benutzt hat (vgl. insbesondere Lettinck, 12f ). Der Physik-Kommentar bietet daher keinen Anhaltspunkt für Puigs These. Ebensowenig tut dies übrigens der Kommentar zu De generatione et corruptione, wie H. Eichner kürzlich gegen Puig festgestellt hat: Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 11 und 33f. 172Ibn Bāǧǧa, Libro sobre el alma, übers. Lomba, 13. 173N IX. 4, X. 16; vgl. Rüdiger Arnzen, Aristoteles’ De anima. Eine verlorene spätantike Paraphrase in arabischer und persischer Überlieferung. Arabischer Text nebst Kommentar, Quellengeschichtlichen Studien und Glossaren, Leiden–New York–Köln 1998, 311-313; siehe auch Gerhard Endreß, The Circle of al-Kindī, in: Gerhard Endreß, Remke Kruk (Hg.), The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism, Leiden 1997, 43–76, hier 70–74. 174Themistios, De anima Paraphrase, in: An Arabic Translation of Themistius Commentary on Aristoteles De anima, ed. M. C. Lyons, Thetford 1973; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis (Commentaria in Aristotelem Graeca 5, 3), ed. Ricardus Heinze, Berlin 1899; vgl. auch die englische Übersetzung: Themistius, On Aristotle On the Soul, translated by Robert B. Todd, London 1996. 175Zu Alexander und seiner arabischen Rezeption vgl. die folgende Literatur: Richard Goulet, Maroun Aouad, Alexandros d’Aphrodisias, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 1, Paris 1989, 125–139; Silvia Fazzo, Alexandros d’Aphrodisias, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 61–70; R. W. Sharples, Alexander of Aphrodisias: Scholasticism and Innovation, in: H. Temporini, W. Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II. 36. 1, Berlin 1987, 1176–1243. In diesen Artikeln finden sich ausführliche Verweise auf die sehr umfangreiche speziellere Forschungsliteratur. 176Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 395ff.
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dung zuzuschreiben. Muḥammad Maʿṣūmī, der erste Editor des Texts, hat zu Recht bemerkt, dass Ibn Bāǧǧa auf diese Schrift immer als Kitāb al-nafs verweist, während er in anderen Fällen zuweilen das Wort šarḥ, »Kommentar«, benutzt.177 Aber was besagt das, da die Beschreibung, die Maʿṣūmī von der Unabhängigkeit der Schrift gibt, sich nicht von derjenigen unterscheidet, die Asín auf alle »Kommentare« Ibn Bāǧǧas bezieht? Dies legt viel eher den Schluss nahe, dass eine klare Unterscheidung zwischen kommentierenden und unabhängigen Schriften für Ibn Bāǧǧa so nicht haltbar ist. Üblicherweise wird etwa darauf verwiesen, dass Ibn Bāǧǧa im Bereich der Logik »nur« Glossen zu al-Fārābīs Schriften zum Organon verfasst habe und »nicht vorgegeben habe, ein unabhängiger Logiker zu sein«.178 Eine Einschätzung, die Ibn Bāǧǧas Bemühen völlig inadäquat ist, denn seine Glossen streben nicht nur eine Klärung von Problemen an, die durch al-Fārābīs Darlegungen sei es nicht beseitigt, sei es gar erst aufgeworfen worden sind, sondern er stellt alFārābīs Ansatz auch mehrfach dem aristotelischen gegenüber und erläutert die unterschiedlichen Perspektiven.179 Dies genügt freilich nicht, um seine Glossen zu systematischen Untersuchungen umzuwidmen, zeigt jedoch, dass bei der Beurteilung Vorsicht geboten ist: Textform und Textzustand dürfen nicht voreilig zu einem Verdikt über den konzeptuellen Entwurf führen. Auch eine systematische Perspektive, selbst wenn sie nicht im Detail ausgeführt ist, stellt eine begriffliche Leistung dar und kann das Ganze der philosophischen Reflexionen bestimmen. Im ersten Kapitel dieser Studie wird sich zeigen, dass Ibn Bāǧǧas Werk in der Geschichte der aristotelischen Philosophie in al-Andalus genau diesen Schritt bedeutet: von einer bloßen Glossierung der Texte in Form von Lesenotizen hin zu umfangreichen Digressionen und freien Auseinandersetzungen mit den im Text behandelten Sachproblemen.180
Stellung im Gesamtwerk Nun ist der beschriebene Trend einer Konzentration auf die »unabhängigen« Schriften allerdings durch Ǧamāl al-Dīn al-ʿAlawī gestützt worden, der in seiner Studie Die Schriften Ibn Bāǧǧas (Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa) von 1983 den an sich begrüßenswerten Versuch gemacht hat, eine relative Chronologie der Werke zu erstellen. Problematisch ist jedoch, dass al-ʿAlawī die von ihm hergestellte – im übrigen nur ungenügend belegte und nicht bis ins Letzte durchgeführte – 177Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-nafs, al-Maʿṣūmī, 2 mit Anm. 7. 178Puig, Philosophy in Andalusia, 157. 179Vgl. etwa die ausführliche Diskussion von Aristoteles’ und al-Fārābīs Definition des Universalen (kullī) in: Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 43–46. 180Siehe unten, Kapitel 1, Abschnitt 3.
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Reihenfolge als Entwicklungsphasen deutet,181 von denen die letztere angeblich durch »ein neues philosophisches Projekt« (mašrūʿ falsafī ǧadīd) – das des »vereinzelten Menschen« (al-insān al-mutawaḥḥid) – gekennzeichnet ist und als einzige die Bezeichnung »bāǧǧisch« (bāǧǧawīya) verdient.182 Mit anderen Worten: Nur die bekannten Traktate Ibn Bāǧǧas spiegeln das wieder, was seine Philosophie im Wesen ausmacht. Beglaubigt wird al-ʿAlawīs Ansatz scheinbar durch das Selbstzeugnis Ibn Bāǧǧas, das wir oben vorgestellt haben. Das Dokument ist ohne Zweifel sehr wertvoll und kann wichtige Hinweise zum Studium Ibn Bāǧǧas geben, alʿAlawīs Deutung ist jedoch voreilig und oberflächlich. Die Fakten ermöglichten, so al-ʿAlawī, unter Ibn Bāǧǧas Schriften eine Reihenfolge herzustellen, bei der zeitliche und inhaltliche Ordnung zusammenkämen; sie erlaubten darüber hinaus die Unterscheidung von Epochen »im Denken Ibn Bāǧǧas«. Daraus ergebe sich ein notwendiges Instrument zur Lektüre von Ibn Bāǧǧas »Œuvre« (matn), das »die Erkenntnis seiner letzten Absichten« erlaube, »ohne seine erste Phase zu vernachlässigen, die dies vorbereitet hat«.183 Damit meint er, wie er später zu verstehen gibt, die Verwertung »der wichtigsten Fakten der aristotelischen Naturphilosophie, besonders der aristotelisch-peripatetischen Psychologie«.184 Letztlich wie in der oben referierten Deutung Lombas betrachtet al-ʿAlawī das Buch der Seele daher als Übergangsstufe zur eigentlichen Philosophie Ibn Bāǧǧas. Die Übereinstimmung von chronologischer und sachlicher Ordnung, die alʿAlawī als eine biographische Besonderheit Ibn Bāǧǧas deutet, ist aber weder ungewöhnlich noch unter dem Gesichtspunkt der »Entwicklung« besonders bedeutsam, sondern sie zeigt vielmehr nur an, dass Ibn Bāǧǧa bei seinem Studium einem klassischen Curriculum der mathematischen, logischen und Naturwissenschaften gefolgt ist, wie es durch Einleitungs- und Einteilungsschriften alFārābīs vermittelt und verbreitet worden war – auch dies geht aus der in Teil I folgenden Untersuchung hervor. Die genannte Ordnung gilt zunächst überhaupt nur für Ibn Bāǧǧas Studium, denn allein darüber berichtet er uns, nicht für seine Schriften. Es ist zwar gut möglich, ja wahrscheinlich, dass Ibn Bāǧǧas Werke, die
181Puig, Philosophy in Andalusia, 157, schreibt, man könne die These al-ʿAlawīs »für den Zweck der Analyse von Ibn Bāǧǧas Denken akzeptieren«. Die in dieser Formulierung anklingende Distanzierung wird jedoch nicht weiter erklärt. Es ist auch nicht zu erkennen, wie eine Interpretation, die Puig zu recht als eine »entwicklungsgeschichtliche Darstellung seines Denkens« (a developmental account of his thought) bezeichnet, für die Analyse hilfreich sein kann, wenn er als Ansatz verfehlt oder zumindest ungenügend ist. 182al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 163. Darin folgt ihm auch Ǧamāl Rāšiq in seinem jüngst erschienen Aufsatz, der neues Material zur internen und externen Chronologie sammelt: Ǧamāl Rāšiq, Muḥawala fī l-tartīb al-krūnūlūǧī li-muʾallafāt Ibn Bāǧǧa al-Andalusī, in: Revista del Instituto Egipcio de Estudios Islámicos en Madrid 38 (2010), 3–44, hier 43. 183al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 156. 184al-ʿAlawī, Muʾallafāt Ibn Bāǧǧa, 163.
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sich mit den von ihm genannten Wissenschaften befassen, im selben Zeitraum entstanden sind. Dies sagt jedoch über eine eventuelle Entwicklung seines Denkens noch nichts aus. Die Korrektur von al-ʿAlawīs Fehlinterpretation muss einen größeren Einfluss auf die Deutung von Ibn Bāǧǧas Philosophie haben, als es vielleicht zunächst den Anschein haben mag. Wenn Ibn Bāǧǧa nämlich bereits in seinem Studium einem am aristotelischen Korpus orientierten Plan gefolgt ist, so setzt das bereits eine bewusste Organisation der Wissenschaften und eine gezielte und systematische Aneignung voraus, die eine Vorentscheidung über den philosophischen Entwurf trifft, beziehungsweise einen solchen Entwurf bereits widerspiegelt. Und es ist dieser Begriff der Philosophie – das wird in Kapitel 2 deutlich werden – den Ibn Bāǧǧa auch und gerade in seinen scheinbar so persönlichen Schriften vertritt. Die hier vorgelegten Untersuchung verzichtet daher, abgesehen von den im Einzelfall notwendigen Kontextualisierungen, völlig darauf, sich an chronologischen Gesichtspunkten oder Beurteilungen des Textgenres zu orientieren. Statt dessen stehen systematische Fragestellungen im Mittelpunkt, die vom Buch der Seele ausgehen und zu deren Klärung alle relevanten Texte Ibn Bāǧǧas herangezogen werden. Dabei gehe ich, gestützt auf das Prinzip hermeneutischer Billigkeit, von einer generellen Kohärenz und Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Werken Ibn Bāǧǧas aus. Ibn Bāǧǧas Schriften werden hier deshalb auch nicht im Sinne einer fortlaufenden Interpretation ganzer Werke gelesen, sondern vielmehr in einer systematischen Befragung des gesamten Korpus, die sich jeweils auf die Detailanalyse einzelner Textabschnitte stützt. Für die Berechtigung dieser Methode kann dann allein die gelingende Analyse einstehen.
v. Vorgehen – Inhaltsübersicht Zwei Zugänge zum eingangs beschriebenen Themenkomplex liegen nahe: Die These von der »Zentralität« der Seelenlehre bei Ibn Bāǧǧa lässt sich aus historischem und systematischem Winkel in den Blick nehmen. I. Teil: Obgleich nicht als eine historische These in Bezug auf die Entwicklung der arabischen Philosophie oder auch nur in Bezug auf die arabische Philosophie in al-Andalus gemeint, kann man das Psychologiekonzept Ibn Bāǧǧas doch gleichwohl philosophiehistorisch verorten. Auf einen historischen Vergleich spezifisch psychologischer Theoriestücke muss zwar hier mangels geeigneter Vorarbeiten verzichtet werden, doch zumindest die Aufklärung des Begriffs von Philosophie, wie er in Ibn Bāǧǧas Umfeld und schließlich in seinem eigenen Werk hervortritt, bildet einen Hintergrund, der zum Verständnis der systematischen Konzeption seiner Psychologie unabdingbar ist. Und zwar gilt dies insbesondere deshalb, weil zwei verbreitete Ansichten Ibn Bāǧǧa einerseits als Begründer
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des Aristotelismus in al-Andalus und andererseits als in der Psychologie stark neuplatonisch geprägten Philosophen präsentieren. Die hier vorgeschlagene Lektüre Ibn Bāǧǧas sieht ihn dagegen als Vertreter eines von al-Fārābī geprägten Aristotelismus, der, orientiert am zehnten Buch der Nikomachischen Ethik, ein philosophisches Modell entwirft, das eine Konzentration auf das Thema der intellektuellen Vollendung durch Wissenschaft erlaubt, ohne darum gleich »neuplatonisch« oder »mystisch« zu sein. Die Wurzeln dieses Aristotelismus in al-Andalus (Kapitel 1) und die ihm von Ibn Bāǧǧa verliehene Form (Kapitel 2) zu untersuchen, wird uns daher zunächst beschäftigen. Daran schließt sich in Kapitel 3 der Versuch an, den hartnäckigen Eindruck, Ibn Bāǧǧas Psychologie sei neuplatonisch geprägt, zu zerstreuen und zugleich zu erklären. Ibn Bāǧǧa bietet nämlich eine aristotelische Rekonstruktion des platonischen Motivs der Selbsterkenntnis, welche den zentralen Status der Seelenlehre beibehält, deren Form und Inhalt jedoch aus aristotelischen Quellen neu bestimmt. Die Verdeutlichung dieses Verhältnisses führt zugleich an die benannte systematische Perspektive heran: Ibn Bāǧǧa konzipiert im Rahmen des von ihm übernommenen aristotelischen Modells der philosophischen Wissenschaften die Psychologie als eine strikt naturphilosophische Disziplin, der dennoch eine Grundlegungsfunktion für alle übrigen Wissenschaften, ja für jede Erkenntnis zukommt. Die Vorstellung dieser These orientiert sich zweckgemäß an der Interpretation jener Textstellen – im Buch der Seele und außerhalb seiner –, an denen Ibn Bāǧǧa selbst den Status der Psychologie als zentraler, ja höchster Wissenschaft eindeutig vertritt und begründet. Er stützt sich dabei insbesondere auf die Einführungsworte in Aristoteles’ De anima, die er – noch über die amplifizierende Präsentation in der Kommentartradition hinaus – ausweitet und verstärkt. II. Teil: Den Ausgangspunkt des systematischen Hauptteils der vorliegenden Studie bildet eine vorläufige Klärung des von Ibn Bāǧǧa vertretenen Seelenmodells, das Seele als Vermögen oder Potenz oder vielmehr als ein gegliedertes System von verschiedenen Potenzen fasst. Der zweite Teil, der die Kapitel 4, 5 und 6 umfasst, thematisiert daher die naturphilosophischen und spezifisch psychologischen Implikationen, die sich aus der Konzeption der Seele als Potenz ergeben. Die Seele ist für Ibn Bāǧǧa wesentlich Potenz und damit vergleichbar mit einfacheren natürlichen Potenzen. Sie bildet aber einen spezifischen Typ von Potenz, der durch zwei Kernmerkmale gekennzeichnet ist, die sich aus der allgemeinen Seelendefinition ergeben: Die seelische Potenz ist erstens Form eines organischen Körpers und zweitens erste Entelechie. Dies eröffnet zwei Perspektiven, deren erste den näheren Gegenstand dieser Arbeit bildet, während die zweite, die sich spezifischer auf die Struktur seelischer Aktivitäten bezieht, eine eigene Studie erfordert. Die erste Perspektive betrifft die interne Struktur des belebten Körpers, dem die seelische Potenz zugeordnet
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wird, und konzentriert sich, wie soeben ausgeführt, auf Ibn Bāǧǧas Begriff der Potenz. Hier ist zu zeigen, dass Ibn Bāǧǧa in konsequenter Anwendung des aristotelischen Hylemorphismus sowohl die Kontinuität der beseelten Wesen mit der unbelebten Natur herausarbeitet als auch auf dieser Grundlage die Möglichkeit spezifisch seelischer Potenzen nachweist, ja zuletzt des Intellekts als eines die Seele und den Bereich der Potenz überhaupt transzendierenden Momentes. Die zweite Perspektive richtet sich auf den die Seelenpotenz als erste Entelechie übersteigenden Akt als letzte Entelechie. Dieser Akt und diese Vollendung sind abhängig vom Objekt jeder Seelenpotenz – der Intention. Als notwendige Ergänzung zu Ibn Bāǧǧas Theorie der Potenzen wird daher die geplante zweite Studie Ibn Bāǧǧas Intentionstheorie zum Gegenstand zu machen haben. Erste Grundlinien sollen im Ausblick (S. 644–654) vorgezeichnet werden. Das Potenzmodell der Seele wird in folgenden Schritten beleuchtet: Zunächst ist überhaupt zu zeigen, dass Ibn Bāǧǧa, ebenso wie Aristoteles, von einer Identität zwischen der einen Seele und den vielen Seelenpotenzen ausgeht. Er macht es der Psychologie zur Aufgabe, eine Anzahl distinkter Potenzen zu untersuchen, die in einer Vollkommenheitsordnung stehen (Kapitel 4). Anschließend wird der epistemische Standpunkt erörtert, von welchem aus die Seele in den Blick genommen werden kann. Diese Überlegungen laufen zusammen in der Frage nach der angemessenen Definition der Seele. Laut Ibn Bāǧǧa ist die Existenz der Seele evident und bedarf keines Beweises. Diese Evidenz leitet sich jedoch nicht aus einer vermeintlichen introspektiven Selbstgegebenheit ab, sondern ist in Analogie zur Evidenz der Natur als Bewegungsprinzip und damit eben als Potenz zu verstehen. Dieser Analogie liegt eine Kontinuität zugrunde, die Ibn Bāǧǧa in Anlehnung an die Interpretation der aristotelischen Psychologie durch Alexander von Aphrodisias denkt. Er versteht die Seele als eine einfacheren physischen Potenzen übergeordnete Potenz, die sich aus der Zusammensetzung des Organismus ergibt, welche die scala naturae abbildet. Zum Verständnis der wissenschaftstheoretischen Bedingungen, denen, dieser Stufenfolge von Potenzen gemäß, die allgemeine Definition der Seele zu verstehen ist, orientiert sich Ibn Bāǧǧa an al-Fārābī (Kapitel 5). Ibn Bāǧǧa macht dementsprechend anhand der aristotelischen Seelendefinition die Organizität des beformten Körpers zum Kriterium für spezifisch seelische Potenzen. Daraus ergibt sich die systematische Notwendigkeit, die in Kapitel 10 und 11 weiter analysiert wird, den von Aristoteles theoretisch begründeten Hylemorphismus im Detail durchzuführen. Die Seele als Potenz wird weiter durch das zweite Hauptmoment der aristotelischen Seelendefinition, nämlich ihre Bestimmung als »erste Entelechie«, charakterisiert. Ibn Bāǧǧa nimmt diesen Punkt so auf, dass er die seelischen Potenzen gegenüber den verschiedenen Lebenstätigkeiten als Akten abgrenzt. Damit wird die Seele als Seele auf den Aspekt der Potentialität beschränkt und gleichzeitig erwiesen, dass sie
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wesentlich auf die ihren Akt mitbestimmenden Objekte bezogen ist. Die Seele lässt sich daher prinzipiell als Offenheit für eine sie übersteigende Aktualität deuten. Als Ergebnis der Analyse der Seelendefinition ist, unter Berücksichtigung von Überlegungen, die Ibn Bāǧǧa zur Einordnung einzelner Seelenvermögen anstellt, festzuhalten, dass er die Seele als ein gegliedertes System von Potenzen darstellt (Kapitel 6). III. Teil: Das siebte und die folgenden Kapitel werden den Potenzbegriff selbst untersuchen und so im dritten Teil die sich aus den verschiedenen Bereichen der Naturphilosophie ergebenden potenztheoretischen Grundlagen der Psychologie Ibn Bāǧǧas darlegen. Diese Kapitel setzen sich mit der ontologischen und der »dynamischen« Perspektive auf den Potenzbegriff auseinander. Beide Aspekte treffen sich in der bei Aristoteles den Bereich der Natur charakterisierenden Veränderung. Natürliche und seelische Potenzen haben sich bei Ibn Bāǧǧa als Ursprünge von Veränderung erwiesen, die gerade aus dieser ihre Evidenz beziehen (vgl. Kapitel 5, Abschnitt 1). Insofern im gegebenen aristotelischen Kontext die Ortsbewegung das Grundschema von Veränderung darstellt, wird die Frage nach dem genannten Zusammenhang zunächst anhand von Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung untersucht (Kapitel 7). Die aristotelische Definition der Veränderung baut auf dem Begriff des in Potenz Seienden auf und bezieht es auf den Akt oder die Vollendung. Eine Untersuchung von Ibn Bāǧǧas Rezeption dieser Grundannahme legt die Grundlage für die folgenden Detailuntersuchungen (Abschnitt 1). Bis in die gegenwärtige Forschung hinein stößt die Deutung der aristotelischen Erklärung der Ortsbewegung unbelebter Naturkörper auf Schwierigkeiten. Umstritten ist dabei vor allem, inwiefern die Natur dieser Körper hier – nach den Worten des Aristoteles – »passives Prinzip der Bewegung« ist, und ob es darüber hinaus ein aktives Prinzip der Bewegung gibt. Ibn Bāǧǧas Interpretation macht ganz im Sinne des sich auf Alexander stützenden Konzepts eines kontinuierlichen Aufbaus der Natur (vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2.4.) die Natur der unbelebten Körper als Beweger stark, ohne auf Aristoteles’ ontologische Einordnung der Ortsbewegung zu verzichten. Ihre Wurzel bleibt die Potentialität in Hinblick auf den Akt, nämlich den Akt des natürlichen Wo-Seins. Damit kann gegen Shlomo Pines gezeigt werden, dass Ibn Bāǧǧa gerade keine »Dynamik« im Sinne eines unaristotelischen Kraftbegriffs entwickelt hat (Abschnitt 2). Die in den beiden vorhergehenden Kapiteln aufgewiesene ontologische Fundierung von Ibn Bāǧǧas Potenzbegriff wird bestätigt durch den Blick auf Wechselwirkungen und Fremdbewegung. Bewegung selbst ist als aktive Potenz zu bestimmen, sodass die genannten Bewegungen als Aufeinandertreffen widerstreitender aktiver Potenzen beschrieben werden können. Dies ermöglicht es, die betreffenden Potenzen in einem beschränkten Rahmen als intensive Größen zu verstehen und Phänomene wie Erschöpfung zu erklären (Abschnitt 3).
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Damit gelingt es Ibn Bāǧǧa, die Ortsbewegung belebter und unbelebter Körper in ein umfassendes Modell zu integrieren. Die Ortsbewegung der Lebewesen kann so einerseits als Mechanik verschiedener Einzelkörper analysiert werden, die mit ihren Bewegungen als aktiven Potenzen aufeinander einwirken und zusammen eine komplexe Bewegung verursachen. Damit ergibt sich andererseits das Erfordernis einer organisierenden und Einheit stiftenden aktiven Potenz. Diese Potenz ist in Ibn Bāǧǧas Modell das Strebevermögen, das in ähnlicher Weise auf ein Ziel hin bestimmt werden muss, wie das bewegte Unbelebte durch seine Form und Vollendung auf ein natürliches Wo hin bestimmt ist. Diese Bestimmung des Strebevermögens erfolgt durch die von den Erkenntnisvermögen aufgenommenen Formen der angezielten Objekte, sodass letztlich auch im Bereich beseelter Körper Ortsbewegung durch vollständige Unterordnung der Potenz unter den Akt erklärt wird (Abschnitt 4). Das achte Kapitel verfolgt den in den Untersuchungen des siebten Kapitels erstmals auftauchenden Begriff einer »aktiven Potenz« – und als deren Gegenstück die »passive Potenz« – weiter. Denn obgleich sich gezeigt hat, dass Ibn Bāǧǧa im Bereich der natürlichen Ortsbewegung den dynamischen Aspekt des Potenzbegriffs vollständig unter dessen ontologischen Aspekt subsumiert, ist gleichzeitig klar geworden, dass diese Vorgehensweise bereits bei gewaltsamen und komplexen Bewegungen unbelebter Körper, erst recht jedoch bei den Bewegungen beseelter Körper nicht ausreicht, und dass die »aktive Potenz« anderen Bedingungen unterliegt als die bloße Potentialität. Dabei kann gezeigt werden, dass Ibn Bāǧǧa alle weiteren natürlichen Entstehungs- und Veränderungsprozesse durch das Wechselspiel aktiver und passiver Potenzen erklärt, deren Verhalten auch als Ursache der Entstehung neuer, komplexer Potenzen identifiziert wird. Zunächst wird ausgehend von einem breit angelegten Querschnitt durch Ibn Bāǧǧas philosophisches Werk belegt, dass er einen sehr systematisch konzipierten und überraschend konstant verwendeten Potenzbegriff besitzt. Im Unterschied zu Aristoteles entwickelt Ibn Bāǧǧa den Begriff der Potenz auch terminologisch aus dessen ontologischem Verständnis als Potentialität heraus und dehnt ihn über die passive Potenz so auf die aktive aus, dass dabei nicht bloß ein begriffstheoretischer Zusammenhang, sondern eine reale Eigenschaft zum Kriterium wird, die aktiven und passiven Potenzen gleichermaßen zukommt: das Angewiesensein auf ein anderes, um zur Aktualität zu gelangen (Abschnitt 1). Die naturphilosophische Anwendung dieses Potenzbegriffs lässt sich nun beginnend bei Ibn Bāǧǧas Überlegungen zu den primären Potenzen der vier sogenannten Elemente – warm, kalt, feucht, trocken – verfolgen. Diesen Potenzen der einfachsten natürlichen Körper kommt hier deshalb zentrale Bedeutung zu, weil sie in alle komplexeren, aus den Elementen zusammengesetzten Körper, so auch in den beseelten Körper, eingehen (vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2.3. und Kapitel 6, Abschnitt 3.1.). Ibn Bāǧǧa gebraucht die genannten Potenzen dement-
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sprechend auch als architektonisches Gerüst, um die Perspektiven der einzelnen naturphilosophischen Disziplinen zu unterscheiden: De caelo betrachtet sie als Eigenschaften der einfachen Körper; De generatione als »Organe der Elemente«, nämlich insofern sie als tatsächlich aktive und passive Potenzen deren Wechselwirkungen bestimmen; die Meteorologie als Potenzen der Homoiomere; und De partibus animalium als Potenzen, die in beseelten Körpern wirksam sind (Abschnitt 2). Neben den aktiven und passiven Potenzen kommt den einfachen Körpern ein zweites Set von Potenzen zu, nämlich schwer und leicht, die als Prinzipien der natürlichen Ortsbewegung ausgemacht worden waren (vgl. Kapitel 7, Abschnitt 2.). Ibn Bāǧǧa stellt die Frage, wie beide Gruppen von Potenzen sich zueinander verhalten und behauptet die Abhängigkeit der aktiven und passiven von schwer und leicht, die er als Formen der einfachen Körper deutet. Das findet seinen Grund darin, dass die aktiven und passiven nur miteinander reagieren, wenn durch Ortsbewegung der einfachen Körper ein physischer Kontakt zwischen ihnen hergestellt worden ist. Insofern die einfachen Körper jedoch »Elemente« von Welt sind, ist dieser interaktive Aspekt immer mitgedacht, ja, nur in ihrem kosmologischen Kontext entstehen überhaupt erst die Bedingungen, unter denen die einfachen Körper Potenzen zur Ortsbewegung besitzen. Damit ist in letzter Analyse kein absoluter Vorrang einer Gruppe von Potenzen gegeben, und die aktiven und passiven müssen je nach Kontext als akzidentelle oder formale Eigenschaften betrachtet werden (Abschnitt 3). Die Betrachtung von Ibn Bāǧǧas Analyse der Vorgänge elementarer Umwandlung und Mischung zeigt, dass er sie nach seiner allgemeinen Potenztheorie konzipiert: Die »kinetischen« aktiven und passiven Potenzen in ihrer Wechselwirkung sind Ausdruck der Potenz-Akt-Spannung jeweils in Bezug auf bestimmte Veränderungsprozesse, wobei die passiven zwar in Zusammenhang mit der Materie als reiner Potentialität und die aktiven in Zusammenhang mit dem Seinsakt stehen, mit ihnen jedoch nicht zusammenfallen. Indem Ibn Bāǧǧa die aristotelische Mischungslehre mit Hilfe der Potenztheorie liest und die Mischung als Mischung von Potenzen denkt, erreicht er innerhalb des PotenzAkt-Schemas eine beschränkte »Dynamisierung« des Potenzbegriffs; die Potenzen werden zu intensiven Größen. So lässt sich erklären, dass unterschiedlich »starke« Potenzen einander verdrängen und so Umwandlungen bewirken, während annähernd gleichstarke Potenzen sich mischen, für die Entstehung einer neuen Potenz sorgen und damit die Aufnahme einer neuen komplexeren Form (Form eines Homoiomers) ermöglichen. Wo die Potenzen und die resultierende Mischung besonders ausgewogen sind, kann der gegenseitige Widerstand nur durch ein weiteres Prinzip überwunden werden, das die Mischung leitet, die Seele (Abschnitt 4). Damit ergibt sich zwangsläufig die Frage, die mit dem Kern des Untersuchungsziels der vorliegenden Arbeit – den naturphilosophischen Grundlagen
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der Psychologie – zusammenfällt und in den Kapiteln 9, 10 und 11 aus drei verschiedenen Blickwinkeln behandelt wird: Was genau ist das Verhältnis der natürlichen und der seelischen Potenzen? Der erste Gesichtspunkt betrifft Ibn Bāǧǧas Konzept der Seele als Form des gemischten Körpers, von dem zunächst gezeigt wird, das Ibn Bāǧǧa es in Anlehnung an Überlegungen Alexanders entwickelt. In Übereinstimmung mit rezenter Forschung lässt sich der von Alexander und Ibn Bāǧǧa beschriebene Prozess des Entstehens neuer Potenzen bei der Zusammensetzung immer komplexerer Körper als eine Theorie der Emergenz rekonstruieren. Laut Ibn Bāǧǧa muss die Seele als eine Potenz eigener Art bereits bei der Entstehung des Körpers als organischen Körpers den Mischungsprozess leiten, da die natürlichen Potenzen von alleine nicht dazu in der Lage sind. Die einfacheren Potenzen werden, genauso wie bei jeder anderen Mischung, von der Seele überformt und (in Potenz) in sich »aufgehoben«. Gleichzeitig werden die seelischen Potenzen aus der Mischung erklärt, und die Aufnahme der Seelenform wird auf den Mischungsvorgang zurückgeführt. Wie eine sorgfältige Analyse von Abschnitten des Buchs der Seele ergibt, haben diese gegenläufigen Aussagen ihren Grund in einer bisher weitgehend übersehenen, aber mindestens bis auf Alexander zurückgehenden Theorie, die substantiales Entstehen als Ergebnis von Eigenschaftsveränderungen beschreibt und damit zwei bei Aristoteles unvermittelt nebeneinander stehende Erklärungen des Entstehens in ein umfassendes Modell integriert. Als entscheidend erweist sich in den durch Mischung entstehenden Körpern die Zielordnung unter den Potenzen, die dazu führt, dass die jeweils höchste Potenz als Form und Wesen des Körpers und damit als Ursache der untergeordneten Potenzen fungiert. Das heißt, dass die Seele als emergente Form Ursache der Mischung von Potenzen wird, obgleich die Mischung sie überhaupt erst hervorbringt. In organischen (wie anorganischen) Homoiomeren ist die aus der Mischung resultierende Potenz substantiell identisch mit und nur begrifflich unterschieden von der Potenz, die als Wesen die Funktion oder den Akt des Körpers bestimmt. Die Seele als Form des organischen Körpers, der sich aus einer Unzahl von Homoiomeren zusammensetzt, muss dagegen real von der Potenz der Mischung verschieden sein (Kapitel 9). Daraus ergibt sich die weiterführende Frage, wie die Seele als Gesamtform die Einheit des organischen Körpers herstellen kann und wie sie als »Form der Mischung« hylemorphisch verankert sein kann, ohne zur Form bloß eines Teils des Körpers zu werden. Dies lässt sich durch die Verfolgung der zwei anderen Perspektiven auf das Verhältnis der seelischen zu den natürlichen Potenzen klären. Diese Problematik von Einheit und Vielheit der seelischen Potenzen wird zuerst anknüpfend an das Konzept des organischen Körpers bearbeitet. Es lässt sich bei Ibn Bāǧǧa eine Ontologie der Organe aufdecken, die deren wesentlich abhängiges Sein in den Blick nimmt, abhängig nämlich von den seelischen Potenzen, denen sie dienen und vom Organismus als ganzem. Damit ist eine Schwierigkeit
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thematisiert, die in der gegenwärtigen Aristotelesforschung besonders intensiv diskutiert wird, und zwar ob das anhand von Artefakten und unbelebten Körpern eingeführte hylemorphische Modell, das die Unabhängigkeit von Materie und Form vorauszusetzen scheint, auf das Lebendige überhaupt anwendbar ist. Ibn Bāǧǧas Analyse zeigt, wie die Organe als Teile zugleich bestimmt und unbestimmt sein können, sie besitzen nämlich Potenzen, die sie einerseits bestimmen, andererseits aber zum Teil eines Ganzen machen. Diese Potenzen lassen sich sowohl als natürliche wie als seelische bestimmen. Es ist in ihrer Abhängigkeit von der jeweiligen seelischen Potenz, dass die Organe vom Ganzen des beseelten Körpers abhängig sind, in dem diese Potenzen in einer festen Funktionsordnung stehen. Hier geschieht aber letztlich nichts anderes als bei der Mischung, wo die Potenzen der Elemente weder völlig vernichtet wurden, noch in Akt anwesend waren, sondern vielmehr durch Hervorbringung einer zusammengesetzten Potenz »aufgehoben« wurden (vgl. Kapitel 8, Abschnitt 4.). Die Ontologie der Organe zeigt zweitens, dass die Organizität des lebendigen Körpers die materielle Kehrseite der formalen Bestimmung der Seele als erste Entelechie ist, also als Potenz. Insofern Organe nur durch die seelische Potenz existieren, der sie dienen, haben sie ihren Zweck und ihr Sein also wesentlich außer sich. Diese Eigenschaften spiegeln sich bei der Seele wieder, die durch ihren Akt überstiegen wird. Man kann daher bei Ibn Bāǧǧa von einer »ekstatischen« Ontologie des Seelischen sprechen: Seelische Potenzen sind wesentlich immer schon bezogen auf die Objekte (Intentionen), die sie im Akt über sich hinausführen. Die Seele ist daher notwendig Form eines organischen Körpers, weil sie nur so einen über sie hinausgehenden Akt realisieren kann, ohne dass das Beseelte sich wesentlich verändert (Kapitel 10). Mit der dargelegten funktionalen Ordnung, die immer eine Rangordnung ist, ist ein wichtiges Erklärungsmoment gegeben: Es gibt »frühere« und »spätere«, vorgeordnete und nachgeordnete Organe mit entsprechenden vor- und nachgeordneten Potenzen. Aber eine solche Ordnung ist eben stets in beide Richtungen zu lesen, sie vereint nicht nur, sie differenziert auch. Die Einheit der Seele und des Organismus bedarf daher einer weiteren Erklärung, die sich in Ibn Bāǧǧas Theorie der angeborenen Wärme und des angeborenen Pneumas findet. Eine detaillierte Rekonstruktion dieser zumeist nur unscharf als allgegenwärtige aristotelisch-galenische Theorie behandelten Konzeption aus den Texten Ibn Bāǧǧas zeigt, dass er sie als physiologische Erklärung liest, die sich nahtlos in die hylemorphische Perspektive auf Körper und Seele einfügt. Dabei nimmt er erfolgreich die bei Aristoteles nicht immer klar zutage tretende Systematik in ganz ähnlicher Weise auf, wie sie auch von neueren Interpretationen gedeutet wird. Bei Ibn Bāǧǧa erklärt die Theorie der angeborenen Wärme erstens, wie ein Körper sich überhaupt mittels Organen statt als ganzer bewegen kann, wie Beseelung des Ganzen und Differenzierung der Potenzen sich vertragen. Die Wärme – beziehungsweise das Pneuma als deren Träger – dient nämlich als
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Einleitung
»Organ der Organe« und »Träger der Seele«, also als Einheit stiftendes Moment des gegliederten Systems der Potenzen. Die Präsenz der Potenz der Wärme in allen Teilen des Körpers und die funktionale Ordnung zwischen ihr als erstem und den übrigen Organen macht eine Einheit möglich, in der sich Teil und Ganzes wechselseitig bedingen. Zweitens erklärt die Theorie der angeborenen Wärme, wie der psycho-physische Übergang von der ersten zur letzten Entelechie funktioniert. Die Differenz zwischen der Wärme des einzelnen Organs und der mit dem Herzen als Zentralorgan verbundenen angeborenen Wärme gibt dem Übergang eines seelischen Vermögens von der Potenz zum Akt eine physiologische Grundlage (Kapitel 11). Nach Klärung der naturphilosophischen Voraussetzungen der Psychologie Ibn Bāǧǧas befassen sich die drei letzten Kapitel mit Ibn Bāǧǧas spezifisch psychologischer Anwendung der Potenztheorie. Dabei wird schließlich auch der reine Akt des Intellekts als notwendiger absoluter Bezugspunkt aller natürlichen und seelischen Potenzen enthüllt. Zunächst wird dazu verfolgt, wie Ibn Bāǧǧas die seelischen Potenzen nach dem naturphilosophisch eingeführten Schema komplementärer aktiver und passiver Potenzen konzipiert. Er nutzt dieses Modell einerseits, um die Wechselwirkungen der verschiedenen seelischen Vermögen aufeinander zu beschreiben. Andererseits dient es ihm dazu, die Interaktion dieser seelischen Vermögen mit ihren Gegenständen, insbesondere der Nahrung und den Erkenntnisobjekten, zu erklären. Dabei zeigt sich weiterhin, dass Ibn Bāǧǧa die Hierarchie der Erkenntnisvermögen – Wahrnehmung, Vorstellung und Ratio – in ähnlicher Weise als Emergenz neuer Potenzen bei der »Mischung« einfacherer Potenzen versteht, wie sie sich in der Zusammensetzung natürlicher Körper gezeigt hat. Es ist hier die »Mischung« der Potenzen der Seele und des Erkenntnisobjekts, die eine höhere seelische Potenz hervorbringt. Die Eigenschaften der Objekte, die hierbei als aktive Potenzen auf die Seele wirken, haben diese Wirksamkeit zum großen Teil überhaupt nur in Bezug auf die Seele. Naturphilosophie und Psychologie sind daher nicht klar zu scheiden, sondern spielen ineinander hinüber. Dies aber nicht nur in einer Richtung, denn nicht nur muss Wahrnehmung als Fall einer Interaktion zwischen aktiver und passiver Potenz verstanden werden, sondern auch die dem Objekt zugeschriebene aktive Potenz, die eine durchaus physische ist, erklärt sich nur aus dem Horizont der Psychologie (Kapitel 12). Insofern sich also die Emergenz neuer Potenzen im Bereich der Erkenntnis selbst fortsetzt, ist nach dem Abschluss dieses Prozesses zu fragen. Ibn Bāǧǧa zeigt nun einen Bruch zwischen Wahrnehmung und Vorstellung einerseits und begrifflicher Erkenntnis andererseits auf. Die Abstraktion von Formen, die als Prozess einer Affizierung von den materiellen Dingen analysiert werden konnte, reicht nur bis zur Bildung von Vorstellungen, die direkt auf die vorgestellten Dinge bezogen bleiben. Sie kann dagegen den Übergang von individuellen zu universalen Formen nicht allein erklären. Wir denken aber tatsächlich in uni-
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versalen Begriffen, die eine Art »intensiver Unendlichkeit« besitzen, insofern sie von den potentiell unendlichen Dingen derselben Spezies ausgesagt werden können. Ibn Bāǧǧa schließt daraus, in Anlehnung an den aristotelischen Beweis eines immateriellen Bewegers, der die Himmelskörper mit einer unendlichen Potenz bewegt, auf den aktiven Intellekt als unendliche Potenz und Ursache begrifflicher Erkenntnis. Die aus dem intellektuellen Erkenntnisakt, an dem das rationale Vermögen des Menschen und der aktive Intellekt als Potenzen beteiligt sind, resultierenden Intelligibilia sind nun aber, insofern sie hinter der Identität von Substanz und Akt zurückbleiben, die den aktiven Intellekt als reinen Akt auszeichnet, immer noch in Potenz. Ibn Bāǧǧa bemüht sich daher zu zeigen, dass diese Intelligibilia ihrerseits eine Potenz bilden, den aktiven Intellekt selbst zu erkennen und in diesem Akt mit ihm identisch zu werden. Der aktive Intellekt schließt damit die Hierarchie der natürlichen und seelischen Potenzen ab. Er bildet den notwendigen letzten Bezugspunkt aller aktiven und passiven Potenzen, die ihre »dynamische« Wirkung nur entfalten, insofern sie in die »ontologische« Spannung zwischen reiner Potenz (Materie) und reinem Akt (Intellekt) eingelassen sind (Kapitel 13). In den zwei dargestellten Schritten intellektueller Erkenntnis, nämlich erstens des Erfassens von Intelligibilia und zweitens des Erfassens des Intellekts, besteht aber insofern noch eine potenztheoretische Schwierigkeit als Ibn Bāǧǧa, um die Aufnahme intensiv unendlicher Formen zu erklären und also das empfangende rationale Vermögen als »immateriell« vom Körper abzulösen, dieses Vermögen mit den Vorstellungen identifiziert. Die Vorstellungen müssten daher als aktive Potenz auf das rationale Vermögen als passive Potenz wirken, während sie doch dieses Vermögen selbst sein sollen. Ein analoges Problem besteht dann zwischen dem Intellekt in Akt, der laut Ibn Bāǧǧa nichts anderes ist als die aufgenommenen Intelligibilia, und dem »erworbenen Intellekt«, das heißt dem aktiven Intellekt, insofern er als erkannter im Menschen anwesend ist. Die Intelligibilia sollen diesen Zustand aktiv herbeiführen, dienen aber andererseits als das, was den aktiven Intellekt aufnimmt. Ibn Bāǧǧa behauptet tatsächlich jeweils sowohl das eine wie das andere. Indem wir den Andeutungen einiger Texte folgen, kann gezeigt werden, dass er beide Erkenntnisakte wiederum nach dem Modell der Mischung von Potenzen denkt, bei dem ja ebenfalls die aktiven Potenzen der Komponenten mitwirken, andererseits aber aufnehmendes Subjekt für die neu hinzukommende Form sind. In der Tat beschreibt Ibn Bāǧǧa die Wissenschaft als Bewegung auf ein rational angestrebtes Ziel, in der die verschiedenen Intelligibilia gleichsam als aktive Potenzen fungieren. Schließlich denkt er auch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen als Potenzen zueinander, wobei die Psychologie einerseits eine Potenz zur Erkenntnis des ersten Prinzips erwirbt, oder andererseits mit dem Intellekt selbst den reinen Akt erfasst (Kapitel 14).
I. Ibn Bāǧǧas Aristotelismus und der Status der Psychologie
1. Kapitel: Aristotelische Philosophie im Umfeld Ibn Bāǧǧas Ibn Bāǧǧa wird häufig als Gründer der aristotelischen Schule im arabischen Spanien, ja als Begründer der Philosophie in al-Andalus überhaupt bezeichnet.1 Solche Aussagen sind, wenngleich nicht völlig unbegründet, doch übertrieben. Was man mit Recht sagen kann, ist, dass Ibn Bāǧǧa der erste andalusische Denker ist, der in nennenswertem Umfang mit philosophischen Schriften, die in der aristotelischen Tradition stehen, an die Öffentlichkeit getreten ist.2 Diese Einschränkung entspringt nicht bloß dem Bemühen um historische Exaktheit, sie ist vielmehr in zweierlei Hinsicht unabdingbar, um zu einer angemessenen Einschätzung des Werkes Ibn Bāǧǧas selbst zu kommen. Denn weil erstens Ibn Bāǧǧa eben nicht der Begründer der Philosophie im muslimischen Spanien ist, sondern vielmehr in einem Kontext philosophiert, in dem bereits verschiedene philosophische Entwürfe kursieren, verschiedene Modelle verfolgt werden, ergibt sich die Bedeutung der Gestalt seines Denkens zwangsläufig auch aus ihrem Verhältnis zu diesen geistigen Bewegungen der Zeit.3 Dazu gehört dann zweitens auch die Frage nach möglichen Wurzeln von Ibn Bāǧǧas Aristotelismus; die Idee Ibn Bāǧǧas als Schulgründer ist zu hinterfragen. Dies macht schon der Blick in die Folgezeit deutlich, denn die beiden bedeutendsten muslimischen Denker der folgenden Generation, Ibn Ṭufail und Ibn Rušd, waren eben, obgleich von seinen Schriften beeinflusst, gerade keine Schüler oder Schülerschüler Ibn Bāǧǧas. Der einzige bedeutende andalusische Philosoph, der in einem (indirekten) Schülerverhältnis zu Ibn Bāǧǧa stand, ist Maimonides.4
1Vgl. Pines, Translator’s Introduction, ciii. 2Vgl. Matteo Di Giovanni, Motifs of Andalusian Philosophy in the Pre-Almohad Age, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 22 (2011), 209–234. 3Vgl. jetzt das materialreiche Buch von Miquel Forcada, Ética e ideología de la ciencia, dem es aber nicht um eine Detailanalyse des andalusischen Aristotelismus geht, sondern eher um eine großflächige Gesamtaufnahme der wissenschaftlichen Betätigung in al-Andalus; diese Studie löst die ältere populärwissenschaftliche Darstellung von Joaquín Lomba Fuentes, La filosofía islamica en Zaragoza, 2. Aufl. Saragossa 1991, ab. 4Maimonides, Dalālat al-ḥāʾirīn, II. 9 und 24 (der Schüler Ibn Bāǧǧas ist nicht namentlich genannt). Ob ähnliches für Ibn ʿAqnīn gilt, der sich, was Ibn Bāǧǧas Schriften angeht, gut informiert zeigt, müsste noch überprüft werden. Zur Wirkung Ibn Bāǧǧas und möglichen Einflusslinien ins Umfeld von Ibn Rušd vgl. Forcada, Ética e ideología de la ciencia, 299–307.
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Ibn Bāǧǧa war also, vor Ibn Rušd, zwar der bedeutendste Vertreter aristotelischer Philosophie in al-Andalus, aber auch als solcher sicherlich Teil einer weiteren – wenngleich sich kaum schriftlich manifestierenden – Strömung. In diesem Kapitel soll daher im Ausgang von Hinweisen auf Ibn Bāǧǧas »Lehrer« zunächst ein ungefähres Bild dieser aristotelischen Bewegung gezeichnet werden, bevor anschließend Ibn Bāǧǧas Philosophieverständnis beleuchtet wird.
1. ʿAbd al-Raḥmān Ibn Sayyid: Die Rolle der mathematischen Disziplinen Der einzige Denker, der ohne Zweifel als Lehrer Ibn Bāǧǧas bezeichnet werden kann, da uns Ibn Bāǧǧa selbst in diesem Sinne über ihn Auskunft gibt, ist der Mathematiker Abū Zaid ʿAbd al-Raḥmān ibn ʿAbd Allah Ibn Sayyid aus Valencia. Da über die Biographie Ibn Sayyids so gut wie nichts bekannt ist und anscheinend keine seiner Arbeiten erhalten ist, lässt sich nicht genau nachvollziehen, wann, unter welchen Umständen und für wie lange Ibn Bāǧǧa mit ihm in Kontakt stand. Unsere wichtigste Quelle für die intellektuelle Landschaft in al-Andalus zur Zeit von Ibn Bāǧǧas Geburt ist die berühmte Wissenschaftsgeschichte, Ṭabaqāt al-umam, die im Jahre 460/1068 von Ṣāʿid al-Andalusī verfasst worden ist.5 Ṣāʿid al-Andalusī nennt Ibn Sayyid als einen der besten jungen Mathematiker und hebt vor allem seine Meisterschaft in der Geometrie hervor.6 Auf Grund weiterer Zeugnisse über die mathematischen Probleme, mit denen Ibn Sayyid sich beschäftigte, bewertet R. Rashed seine Kenntnisse als überlegen jenen des alMuʾtaman Ibn Hūd, Prinz und nachmals König Saragossas (reg. 1081–1085), dessen mathematisches Kompendium Kitāb al-istikmāl einen großen Ruf genoss.7 Ibn Bāǧǧa bestätigt in einem Brief auf Nachfrage seines Schülers Ibn al-Imām, dass er selbst von Ibn Sayyid geometrische Beweise gelernt und teilweise ver-
5Kitāb ṭabaqāt al-umam ou Les catégories des nations par Abou Qāsim ibn Ṣāʿid l-Andalous, publié avec notes et tables par Louis Cheikho, Beirut 1912; Aḥmad Ibn Ṣāʿid al-Andalusī, Historia de las ciencias o Libro de las categorías de las naciones, traducción, notas y índices de Eloísa Llavero Ruíz, Madrid 2001. 6Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 75. Die zweite Erwähnung Ibn alSayyids findet sich nicht in Cheikhos Edition wohl aber offenbar in derjenigen von Ḥayyāt Bū ʿAlwān, Beirut 1985, 180–181, auf der die Übersetzung von Eloísa Llavero Ruiz beruht; vgl. Aḥmad Ibn Ṣāʿid al-Andalusī, Historia de las ciencias, übers. Llavero Ruíz, 155. Leider konnte ich bisher kein Exemplar dieser Edition einsehen. 7Roshdi Rashed, Les mathématiques infinitésimales du IXe au XIe siècle. Fondateurs et commentateurs, Bd. 1, London 1996, 975–978. Eine vereinzelte Zuschreibung des Kitāb al-istikmāl an Ibn al-Sayyid selbst wird von Rashed als wenig wahrscheinlich abgelehnt.
ʿAbd al-Raḥmān Ibn Sayyid: Die Rolle der mathematischen Disziplinen
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vollständigt und abgewandelt habe, die dieser an keiner Stelle niedergeschrieben hatte.8 Der Nachhall eines Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler findet sich in einem bisher unbeachteten Fragment Ibn Bāǧǧas, wo es um Beweise geht, die in einer Wissenschaft zulässig sind oder nicht.9 Hier bringt Ibn Bāǧǧa als Beispiel einen Beweis, den er offenbar mit Ibn Sayyid studiert hatte und der Folgerungen über die Längenverhältnisse der Seiten eines Dreieckes mittels einer »Bewegung« der Seiten aufeinander anstellte. Ibn Bāǧǧa merkt dazu an, das erzielte Ergebnis sei zwar richtig, stelle aber in dieser Wissenschaft keinen Beweis dar, da die Bewegung nicht zu ihren »abstrahierten Gegenständen« (mauḍūʿātihā al-muntaziʿa) gehöre. Auf seinen »Einwand gegen das, was Ibn Sayyid zur Erklärung dieser Figur zu sagen pflegte«, habe dieser geantwortet, indem er auf das Verhalten eines Hundes verwiesen habe, welches die Richtigkeit der entsprechenden Folgerung impliziert.10 Ibn Bāǧǧa deutet diese Antwort so, dass das Verhältnis nicht durch einen Beweis belegt worden sei, sondern vielmehr »der Naturanlage nach gewusst werde« (yuʿlam bi-l-fiṭra), sodass sich sogar irrationale Tiere seiner bewusst seien. Dieser kleine Einblick in die Beziehung der beiden Denker bestätigt einerseits aufs nachdrücklichste das bereits angenommene Lehrer-Schüler-Verhältnis, zeigt aber andererseits auch, wo bereits zu diesem Zeitpunkt Ibn Bāǧǧas Interessen im Unterschied zu denen Ibn Sayyids lagen. Zeitlich kann man die Schülerschaft wohl zwischen 1087 und 1096 ansetzen, wenn man eine Stelle in Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik berücksichtigt, an der er wiederum geometrische Beweise erwähnt, die Ibn Sayyid »in den achziger Jahren des vierten Jahrhunderts« erbracht habe.11
8Ibn Bāǧǧa, Kataba ilā l-wazīr Abī l-Ḥasan Ibn al-Imām, in: Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 88, 3–12; übersetzt in Douglas Morton Dunlop, Philosophical Predecessors and Contemporaries of Ibn Bajjah, in: Islamic Quarterly 2 (1955), 100–116 hier 110f. Daneben ediert al-ʿAlawī, 84–87 das Fragment einer kurzen Abhandlung Ibn Bāǧǧas, die ausführlicher auf die Überlegungen Ibn Sayyids eingeht. Für eine mathematikgeschichtliche Auswertung dieser Zeugnisse über Ibn Sayyid siehe Ahmed Djebbar, Las matematicas en al-Andalus a través de las actividades de tres sabios del siglo XI, in: El legado científico andalusí, Madrid 1992, 23–35. 9Vgl. zum folgenden MS B, f. 217v–218r [arab.]. Die Transkription dieser Passage bei Muḥammad Taqī Dānišpažūh (Hg.), al-Manṭiqīyāt li-l-Fārābī, Bd. 3: al-Šurūḥ ʿalā l-nuṣūṣ almanṭiqīya, Qumm 1989, 396, 20–397, 9 ist unbrauchbar; zum Beispiel ist dort Ibn Sayyid als Ibn Sīnā gelesen und al-kalb (der Hund) als al-ṭibb (die Medizin). Eine genaue Rekonstruktion muss hier aber unterbleiben, da der schwer zu entziffernde Text die zusätzliche Schwierigkeit der darin nur eben angerissenen mathematischen Voraussetzungen bietet. Die Analyse durch einen Fachmann wäre wünschenswert, besonders da die im MS B gesammelten Fragmente noch weitere mathematische Überlegungen enthalten, die in den Kontext der zwei durch al-ʿAlawī herausgegebenen Textstücke gehören könnten und möglicherweise erlauben würden, einen vollständigeren Text wiederherzustellen. 10Ibn Sayyid spielt dabei mit dem Doppelsinn von ḍilʿ, nämlich »Seite« und »Rippe«. 11Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 128, 15–17; ed. Faḫrī, 108, 10–12.
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Aristotelische Philosophie im Umfeld Ibn Bāǧǧas
Die berichtete Anekdote macht augenscheinlich, dass Ibn Bāǧǧa die Mathematik mit einem Auge auf wissenschaftstheoretische Fragen studiert hat, und dass er dabei von einer aristotelischen Bestimmung des Gegenstandes der Mathematik ausging, nämlich dass diese »von Bewegung Abgetrenntes« untersucht.12 Darüber hinaus war ihm daran gelegen, die Praxis des Mathematikers mit erkenntnistheoretischen Kategorien aristotelischer Provenienz zu erfassen: Wenn ein wahrer Satz nicht durch einen Beweis erfasst wird, so gehört er möglicherweise zu den intuitiv erfassten Grundsätzen, auf die sich Beweise überhaupt erst gründen können.13 In diesem philosophisch geprägten Interesse an der Mathematik nähert sich Ibn Bāǧǧa eher dem erwähnten al-Muʾtaman Ibn Hūd, in dessen Königreich Saragossa er ja einen beträchtlichen Teil seines Lebens verbracht und wo er sicher – worauf vielfach hingewiesen worden ist14 – vom kulturellen Ambiente des Hofes profitiert hat. Ṣāʿid al-Andalusī betont nämlich, dass Ibn Hūd sich darin von den anderen Mathematikern unterschied, dass er sich auch für Logik, Naturwissenschaft und Metaphysik interessierte (ʿināya).15
2. Abū l-Faḍl Ḥasdai: Anfänge des Aristotelismus 2.1. Abū l-Faḍl Ḥasdai als Schlüsselfigur in Ṣāʿid al-Andalusīs Wissenschaftsgeschichte Während Ṣāʿid eine ganze Reihe von Logikern anführt, unter ihnen auch Ibn Ḥazm,16 der wahrscheinlich einer seiner Lehrer war17 beschreibt er das Interesse an Naturwissenschaft und Metaphysik in al-Andalus als äußerst gering. Neben Ibn Hūd, über dessen diesbezügliche Studien wir nichts weiter hören und einem als Ibn al-Nabbāš bekannten Arzt aus Almería, der ebenfalls nicht weiter hervorgehoben wird, kennt Ṣāʿid nur »Abū l-Faḍl Ibn Ḥasdai al-Isrāʾīlī«, einen weiteren Saragossaner, der sich diesem Studienzweig gewidmet hat. Die Kon-
12Vgl. Aristoteles, Metaphysik, VI. 1. 13Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 3. 14Miquel Forcada, Ibn Bājja and the Classification of the Sciences in al-Andalus, in: Arabic Sciences and Philosophy 16 (2006), 287–307, hier 295. 15Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 75, 12–14; vgl. auch Rashed, Les mathématiques. 16Vgl. Anwar G. Chejne, Ibn Ḥazm of Cordova on Logic, in: Journal of the American Oriental Society 104 (1984), 57–72; zu Ibn Ḥazm als Rezipient der Bagdader Logiktradition vgl. jetzt Joep Lameer, Ibn Ḥazm’s Logical Pedigree, in: Camilla Adang, Maribel Fierro, Sabine Schmidtke (Hg.), Ibn Ḥazm of Cordoba: The Life and Works of a Controversial Thinker, Leiden 2013, 417–428; Lameers Vermutung, der als Abū Bakr genannte Überlieferer von Ibn Ḥazms Selbstzeugnis sei Ibn Bāǧǧa, bleibt zu überprüfen. 17Vgl. Aḥmad Ibn Ṣāʿid al-Andalusī, Historia de las ciencias, übers. Llavero Ruíz, 13.
Abū l-Faḍl Ḥasdai: Anfänge des Aristotelismus
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zentration solch seltener Kenntnisse in Saragossa mag zwar in gewissem Maße nur den beschränkten Blick Ṣāʿids darstellen,18 also nichts über andere Zentren in al-Andalus aussagen, aber das Zeugnis über Saragossa ist deshalb nicht weniger verlässlich. Die kulturelle und insbesondere philosophische Tradition Saragossas ist mehrfach ausführlich dargestellt worden, wobei aber das philosophische »Milieu«, dem Ibn Bāǧǧa zuzurechnen ist, nicht wirklich präzise gefasst worden ist.19 So wird etwa über den markanten Einfluss des »Rationalismus« eines Abū Bakr al-Rāzī gesprochen, dessen Werk die Medizin in al-Andalus (und Saragossa) dominierte.20 Dabei muss man feststellen, dass Ibn Bāǧǧa, der doch ein Kompendium von al-Rāzīs medizinischem Hauptwerk verfaßt haben soll, al-Rāzī in seinen philosophischen Schriften niemals nennt. Gleiches gilt für die über Saragossa in al-Andalus eingeführten Schriften der Lauteren Brüder. Dagegen stellt Ṣāʿids Bericht über Abū l-Faḍl einen unschätzbaren Hinweis auf das philosophische Ambiente dar, dem Ibn Bāǧǧa entstammt, das ihn geprägt und dem er schließlich zum Durchbruch verholfen hat.21 Während die philosophischen Quellen der Ṭabaqāt al-umam sicherlich noch einer genaueren Untersuchung bedürfen, so hat die bisherige Forschung doch bereits nachdrücklich herausgearbeitet, dass sich in Abū l-Faḍl für Ṣāʿid das wissenschaftliche Programm manifestiert, das er mit seiner Schrift befördern will.22 Ṣāʿid war mit Abū l-Faḍl befreundet, und von allen Persönlichkeiten in seinem Umkreis, die Kontakt zur Philosophie hatten, einschließlich seiner Lehrer Ibn Ḥazm und Ibn al-Waqqašī, kommt er sicherlich am ehesten in Frage, wenn man nach dem Ursprung von Ṣāʿids dezidierter Stellungnahme für Aristoteles und al-Fārābī fragt. Ibn Ḥazm besaß offenbar eine breite philosophische Bildung, aber es gibt keine Anzeichen dafür, ja es widerspricht den Grundvoraussetzungen seines Denkens, dass er der aristotelischen Naturphilosophie Legitimität und Bedeutung zuge18So urteilt D. Wasserstein in Bezug auf Ṣāʿids Darstellung der jüdischen Denker Andalusiens, siehe David J. Wasserstein, The Muslims and the Golden Age of the Jews in al-Andalus, in: Israel Oriental Studies 17 (1997), 179–196. 19Dies ist auch der einzige Einwand, den man gegen Dunlops sonst so unschätzbare Studie über Ibn Bāǧǧas »Vorgänger« machen muss, denn aus den von ihm gesammelten Biographien wird gerade noch nicht klar, ob diese tatsächlich mit den seinen verwandte Studien betrieben; vgl. Dunlop, Philosophical Predecessors, 116. 20Vgl. Lomba, La filosofía islamica en Zaragoza, 142–145. 21Dieser Hinweis ist inzwischen aufgenommen worden, vgl. Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 295f. In einigen Details komme ich jedoch zu einer anderen Bewertung. Die Einstellung zu Aristoteles und zu al-Fārābī, die ich für entscheidend halte, wird von Forcada nicht berücksichtigt. Die von ihm zitierte Passage zur Stellung der Psychologie aus dem Buch der Seele wird nicht analysiert. 22Vgl. Marie Geneviève Balty-Guesdon, Al-Andalus et l’héritage grec d’après les Ṭabaqāt al-umam de Ṣāʿid al-Andalusī, in: Ahmad Hasnaoui (Hg.), Perspectives arabes et médiévales sur la tradition scientifique et philosophique grecque, Leuven 1997, 331–342, hier 336f und 341; Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 292–294.
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sprochen hätte. Ein Teil der Kritik Ṣāʿids an der Philosophie al-Rāzīs23 mag auf Ibn Ḥazm zurückgehen, aber kaum die Lobpreisung des Aristoteles als »Haupt der Philosophen« und Gipfel wissenschaftlicher Vollendung, die Ṣāʿid damit verbindet.24 Die Art von Philosophie, für die Ibn al-Waqqašī stand, lässt sich aus dem Werk seines Schülers Abū Ṣalt aus Denia (1068–1134) und demjenigen seines Koautoren Ibn al-Sīd al-Baṭalyausī (1052–1127) entnehmen: Sie beschränkte sich auf eine summarische Aneignung der aristotelischen Logik und einen eher literarischen als systematischen Umgang mit philosophischen Quellen verschiedenster Couleur. Man darf daher sicher das philosophische Programm Ṣāʿids in seinen entscheidenden Zügen Abū l-Faḍl und dessen Umfeld in Saragossa zurechnen. Abū l-Faḍl Ḥasdai ibn Yūsuf Ibn Ḥasdai kam aus einer jüdischen Familie, die sich sowohl als Gelehrte und Ärzte wie durch ihren Dienst bei verschiedenen muslimischen Herrschern der Halbinsel auszeichneten.25 Sein Großvater, Ḥisdai Ibn Isḥāq, bekannt als Ḥisdai Ibn Šaprut (ca. 915–970) war als Arzt und Steuerverwalter in den Diensten des Umayyaden Kalifen ʿAbd al-Raḥmān III.26 Sein hauptsächlicher Förderer aber scheint der Kronprinz und spätere Kalif al-Ḥakam II alMustanṣir (reg. 350/961–366/976) gewesen zu sein, der als erster in al-Andalus die nichtislamischen Wissenschaften in nennenswertem Umfang gefördert und entsprechende Bücher aus dem Osten importiert hat.27 Dies wird übrigens auch von Ibn Bāǧǧas Schüler Ibn al-Imām als Beginn des Studiums der Philosophie in al-Andalus dargestellt.28 Ḥisdai Ibn Šaprut war an der Fruchtbarmachung des östlichen Erbes aktiv beteiligt und scheint auf jüdischem Gebiet eine Politik der geistigen Entwicklung und gleichzeitigen Abnabelung von den östlichen Zentren betrieben zu haben, die sich nahtlos in diejenige seines Patrons einfügte.29
23Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 96–97 und 125. 24Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 97. 25Obgleich die verwandtschaftlichen Beziehungen den bio-bibliographischen Quellen häufig nicht eindeutig zu entnehmen sind, bietet sich eigentlich keine Alternative zu den im folgenden angenommenen. Dass Abū l-Faḍl ein Enkel Ḥisdai Ibn Šapruts sei, wird auch angenommen von Wasserstein, The Rise and Fall, 211. Dies und das Vater-Sohn Verhältnis zwischen Abū l-Faḍl und Abū l-Ǧaʿfar nimmt auch Dunlop, Philosophical Predecessors, 112 an. 26Vgl. Eliyahu Ashtor, Ḥisdai (Ḥasdai) Ibn Shaprut, in: Encyclopedia Judaica, 2. Aufl., Detroit 2007, Bd. 9, 145–146. 27Prominent dargestellt wiederum von Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 65f. Siehe auch David Wasserstein, The Library of al-Ḥakam II al-Mustanṣir and the Culture of Islamic Spain, in: Manuscripts of the Middle East 5 (1990–91), 99–105. 28Übersetzung bei Dunlop, Philosophical Predecessors, 100. 29Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 88f. Vgl. Wasserstein, The Muslims and the Golden Age, 193–194; ähnlich Balty-Guesdon, Al-Andalus et l’héritage grec, 334. Zum größeren Kontext des jüdischen Beitrags zur Überlieferung der Philosophie in al-Andalus und zur beispielhaften Rolle von Abū l-Faḍl Ḥasdai in diesem Zusammenhang vgl. jetzt Sarah Stroumsa, Thinkers of »This Peninsula«. Towards an Integrative Approach to the Study of
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Einer seiner Söhne, Yūsuf Ibn Ḥisdai (aktiv um 1044), heute vor allem als hebräischer Dichter bekannt,30 fungierte als Verwalter unter der Herrscherfamilie der Banū Razīn in al-Sahla (Albarracín),31 könnte aber später nach Saragossa gekommen sein, denn sein Sohn Abū l-Faḍl Ḥasdai lebte dort bereits in sehr jungen Jahren, wo sich Ṣāʿid al-Andalusī mit ihm befreundete. Ṣāʿid schreibt, dass Abū l-Faḍl, als er ihn im Jahre 458/1066 verließ, das reife Mannesalter noch nicht erreicht hatte.32 Auch Abū l-Faḍl Ḥasdai übernahm später eine Stellung am Hofe, nämlich als Wezir dreier Generationen der Banū Hūd, der bereits genannten Taifakönige von Saragossa, und zwar Aḥmad I al-Muqtadir (1046–1081), al-Muʾtaman und alMustaʿīn.33 Er gehörte also in der Jugend Ibn Bāǧǧas zu den wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten Saragossas. Laut dem Bericht eines arabischen Biographen, der durch den Widerspruch eines späteren jüdischen Autoren eher bestätigt als widerlegt wird, konvertierte Abū l-Faḍl Ḥasdai zum Islam.34 Dies könnte auch erklären, warum der vom Biographen ibn Abī Uṣaibiʿa ganz offenbar als sein Sohn genannte Abū Ǧaʿfar Yūsuf ibn Aḥmad Ibn Ḥasdai, das zusätzliche Element »Ibn Aḥmad« im Namen führt: ein Name, den sein Vater nach der Konversion angenommen haben mag.35 In der handschriftlichen Überlieferung des oben erwähnten Briefes Ibn Bāǧǧas wird er jedenfalls nur als »Abū Ǧaʿfar Yūsuf Ibn Ḥasdai« bezeichnet.36 Abū Ǧaʿfar war zwischen 515/1121 und 519/1125 am Aufbau eines astronomischen Obervatoriums in Kairo unter der Ägide des Fatimidenwezirs al-Maʾmūn beteiligt und folgte, nach der überlieferten Liste seiPhilosophy in al-Andalus, in: David M. Freidenreich, Miriam Goldstein (Hg.), Beyond Religious Bounders. Interaction and Intellectual Exchange in the Medieval Islamic World, Philadelphia 2011, 44–53 und 176–181, insbesondere 51f. 30Zu ihm und seinem an Šemuʾel ha-Nagid adressierten Gedicht Širah yetumah, vgl. Heinrich Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 6, Leipzig 1871, 47f und Note 3, II mit Gründen für die Datierung. 31Ibn Saʿīd, al-Muġrib fī ḥulā al-maġrib, ed. Ḍaif, Bd. 2, 441 (No. 627). Zu diesen Taifaherrschern vgl. David J. Wasserstein, Razīn, Banū, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 8, Leiden–New York 1995, 478–479. 32Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 90. 33Vgl. Eliyahu Ashtor, Angel Sáenz-Badillos, Ḥisdai Ibn Ḥisdai, Abu al-Faḍl, in: Encyclopedia Judaica, 2. Aufl., Detroit 2007, Bd. 9, 145. 34Abū l-Ḥasan ʿAlī Ibn Bassām, al-Ḏaḫīra fī maḥāsin ahl al-ǧazīra, ed. Iḥsān ʿAbbās, Beirut 1979, IV, Teil 1, 197–198. Zur Debatte um die Echtheit dieser Konversion vgl. Ashtor, SáenzBadillos, Ḥisdai Ibn Ḥisdai; Wassestein, The Rise and Fall, 211–212. 35Ibn Abī Uṣaibiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ, ed. Müller, Bd. 2, 50–51. Ein Enkel Abū l-Faḍls wird Abū Ǧaʿfar kaum sein, da er spätestens um 515/1121–519/1125 in Ägypten aktiv ist. Er dürfte wie sein Freund Ibn Bāǧǧa um 1070 geboren sein. 36Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 77. Es ist nicht nur »probable«, wie Dunlop, Philosophical Predecessors, 112 schreibt, dass Ibn Bāǧǧa diesen Brief nach Ägypten geschickt hat, sondern wird von Ibn Abī Uṣaibiʿa in der Liste der Werke Ibn Bāǧǧas ausdrücklich angegeben, vgl. ed. Müller, Bd. 2, 64, 8.
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ner Werke zu urteilen, auch der Familientradition, sich mit Medizin und Philosophie (Logik) zu beschäftigen.37 Ibn Bāǧǧas enge Freundschaft mit diesem Mann – Abū Ǧaʿfar soll ihm immer wieder aus Kairo geschrieben haben38 – stellt ihn endgültig in unmittelbaren Zusammenhang mit dem philosophischen Milieu in Saragossa, dessen Galionsfigur Abū l-Faḍl Ḥasdai war. Die erste Erwähnung Abū l-Faḍls in den Ṭabaqāt al-umām findet sich in dem Kapitel, das Ṣāʿid den Wissenschaften unter den Arabern (d.h. Muslimen) in alAndalus widmet, und zwar wird er dort als Quelle zitiert, nämlich bezüglich des Gelehrten al-Kirmānī, der für die Philosophiegeschichte von al-Andalus insofern bedeutsam ist, als er von einer Reise in den Orient die Schriften der sogenannten Lauteren Brüder mitgebracht haben soll. Er hatte sich bei seiner Rückkehr ausgerechnet in Saragossa niedergelassen, wo er 458/1066 verstarb. Ṣāʿid zitiert zunächst die preisenden Worte eines Schülers al-Kirmānīs, um dann hinzuzufügen: »[…] aber er wusste nicht Bescheid in der mathematischen Astronomie und in der Kunst der Logik. Das hat mir Abū l-Faḍl Ḥasdai ibn Yūsuf Ibn Ḥasdai der Israelit über ihn berichtet, er war wohlvertraut mit ihm, und sein Rang in Bezug auf die theoretischen Wissenschaften [al-ʿulūm al-naẓarīya] ist ein Rang, mit dem niemand Schritt hält in al-Andalus. Abū l-Ḥakam [al-Kirmānī] starb […].«39 Trotz verschiedener anderslautender Übersetzungen dürfte vom Kontext her eindeutig sein, dass sich das von Ṣāʿid hier ausgesprochene Urteil (»und sein Rang…«) nur auf Abū l-Faḍl und nicht auf al-Kirmānī beziehen kann. Damit wird im Text also auch ganz ausdrücklich gesagt, was in der strukturellen Analyse der Ṭabaqāt herausgearbeitet worden ist, nämlich dass Abū l-Faḍl als letzter in diesem Werk genannte Philosoph und insofern seine Studien dem dort präsentierten Modell der Entwicklung der Wissenschaften entsprechen, welche sich an den Büchern des Aristoteles orientiert, ein Ideal repräsentiert. Abū l-Faḍl steht für die Gegenwart und – seine Jugend wird betont – die Zukunft der Wissenschaften in al-Andalus. Außerdem, so hat man argumentiert, symbolisiert er mit dem interkonfessionellen Milieu, dem er angehört, die Universalität der Wissenschaften, auf die es Ṣāʿid ankommt. Diese erste programmatische Erwähnung Abū l-Faḍls ist aber für uns noch in anderer Hinsicht von Interesse, nämlich weil sie verdeutlicht, dass die Lauteren 37Zu seiner Tätigkeit in Kairo siehe ausführlicher Dunlop, Philosophical Predecessors, 111–112. Der von Ibn Abī Uṣaibiʿa genannte Kommentar zum ersten Kapitel von Hippokrates Aphorismen (vgl. ed. Müller, Bd. 2, 51, 28f: »Kommentar zum ersten Buch von Hippokrates’ Aphorismen [in Form von] Glossen, die in seiner [eigenen] Handschrift existieren und die er geschrieben hat, als er aus al-Andalus in Alexandrien ankam«) könnte aber eventuell auch der in MS B überlieferte Kommentar Ibn Bāǧǧas zu genau diesem Textstück sein. 38Ibn Abī Uṣaibiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ, ed. Müller, Bd. 2, 51, 18. 39Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 71, 6–9; die von Cheikho in Anm. 3 zitierte Variante bei Ibn Abī Uṣaibiʿa sollte akzeptiert werden, denn dieser schrieb und lebte nicht in al-Andalus, so dass die Hinzufügung von »bei uns« für ihn sinnlos gewesen wäre.
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Brüder in dem für Ibn Bāǧǧa prägenden Kreis sicherlich bekannt, aber – wenn man das negative Urteil über ihren Verbreiter bedenkt – offenbar nicht sehr geschätzt waren. Nachdem Abū l-Faḍl im Kapitel über die muslimischen Gelehrten aus al-Andalus ein zweites Mal genannt wird, wie bereits erwähnt, um ihn zu den sehr wenigen Individuen zu zählen, die sich mit Naturwissenschaft und Metaphysik befassen, wird er schließlich am Ende des Buches unter den jüdischen Gelehrten näher vorgestellt.40 Ṣāʿid hebt hervor, dass er die Wissenschaften ihren Stufen gemäß studiert und in systematischer Form erworben habe. Seine Errungenschaften werden dann aufgezählt, sie umfassen Arabische Philologie, Poesie und Rhetorik (also das Trivium), Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik (Quadrivium), schließlich die Logik und den Beginn der Naturphilosophie. Ṣāʿid schreibt, dass Abū l-Faḍl diese damit begann, »das Buch der Physik [al-kiyān] des Aristoteles zu hören [samiʿa]« und dass er bei seinem Weggang dabei war, in die Geheimnisse von De caelo vorzudringen. Wenn er Zeit habe, sich weiter zu entwickeln, so Ṣāʿid, werde er die Philosophie vollständig beherrschen. Es kann nicht genug hervorgehoben werden, wie genau dieser Bericht dem oben genannten autobiographischen Zeugnis Ibn Bāǧǧas entspricht. Damit wird noch einmal bestätigt, dass das besagte Dokument eine zumindest in Saragossa im Kreis der Ibn Ḥasdais etablierte Studienordnung widerspiegelt. Es zeichnet keine Entwicklung des Denkens Ibn Bāǧǧas nach, wie al-ʿAlawī meinte,41 sondern zeigt vielmehr, dass dieser einem Lehrplan folgt, der bereits eine grundlegende Entscheidung über die Grundlinien der von ihm betriebenen Philosophie enthält. Über den Kontext, in dem solch ein Studienprogramm verfolgt werden konnte, macht der Text, wie man schon hervorgehoben hat, eine Andeutung, indem er davon spricht, Abū l-Faḍl habe die Physik »gehört«, also nicht durch selbständiges Lesen sich angeeignet, sondern mit einem Lehrer durchgenommen.42 Diese Aussage, die angesichts des jugendlichen Alters Abū l-Faḍls durchaus wahrscheinlich klingt, muss dennoch überraschen, wenn man an Ṣāʿids Behauptung denkt, dass außer den genannten drei Personen sich niemand in al-Andalus mit Naturphilosophie und Metaphysik beschäftige. Wenn Abū l-Faḍl einen in der aristotelischen Philosophie fortgeschrittenen Lehrer hatte, musste das Ṣāʿid nicht bekannt sein? Hatte Ṣāʿid nicht jedes Interesse daran, eine solche Persönlichkeit zu erwähnen, ja hervorzuheben? Bedenkt man die vorstehenden Beobachtungen zu den Ṭabaqāt, dann kann daran kein ernsthafter Zweifel bestehen. Ich halte es daher keineswegs für ausgemacht, dass Abū l-Faḍl die phi40Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 90, 1–10. 41Vgl. den Abschnitt iv in der Einleitung. 42Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 295; die Wortwahl mag aber ein Reflex des Titels Samʿ al-kiyān sein.
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losophischen Studien, die ihm zugeschrieben werden, mit einer größeren Zahl an Gelehrten teilte.43 Wie immer man diese Frage aber auch entscheidet, Ibn Bāǧǧa jedenfalls hat an eine bestehende Tradition angeknüpft, an eine Tradition allerdings, die so marginal war, dass Ṣāʿids Zeugnis über Abū l-Faḍl den einzigen greifbaren Hinweis auf sie darstellt.
2.2. Ṣāʿids Aristotelesbild Die Studienordnung selbst, zusammengenommen mit anderen Passagen der Ṭabaqāt, lässt – auch darauf hat man schon hingewiesen – Rückschlüsse auf al-Fārābī als prägende Figur dieser philosophischen Richtung zu. Allerdings ist dieser Einfluss genauer zu betrachten, denn al-Fārābi ist ganz zweifellos der bedeutendste arabische Philosoph, dessen Schriften zur Zeit Ṣāʿids und auch noch zur Zeit Ibn Bāǧǧas in al-Andalus verfügbar sind, so dass das Faktum des Einflusses als solches nicht viel besagt. Entscheidend ist vielmehr, dass das von al-Fārābī präsentierte philosophische Modell mit einem Ausschließlichkeitsanspruch ausgestattet wird, der divergierende Modelle ausschließt. Ṣāʿid hat, freilich neben anderen, Schriften al-Fārābīs als Quellen für seine Darstellung der Geschichte der griechischen Philosophie benutzt,44 vor allem aber hat er wohl seine systematische Einteilung und Anordnung der Wissenschaften al-Fārābīs Iḥsāʾ al-ʿulūm (De scientiis) entlehnt.45 In seinem al-Fārābī gewidmeten Eintrag wird dieses Werk pflichtschuldigst genannt und als »unentbehrlich« zur »Anleitung« im Studium der Wissenschaften hervorgehoben.46 Die Konzentration auf das Studium mehr als auf die Systematik der Wissenschaften im engeren Sinne, wie sie bei einem Text der ṭabaqāt-Gattung naheliegt, macht erklärlich, warum Ṣāʿid gleichwohl anders als al-Fārābī die mathematischen Disziplinen vor der Logik einordnet. Im übrigen spiegelt diese »didaktische« Perspektive die Realität der Mathematik allemal besser wider als die wissenschaftstheoretische Perspektive: Der doppelte Ort der Mathematik im Wissenschaftskanon, nämlich als Teil der artes liberales einerseits und als Teil der theoretischen Wissenschaften andererseits, verlangt nach einer Entscheidung, die Ṣāʿid wissenschaftssoziologisch trifft, die aber auch gut mit der verbreiteten philosophischen Einschätzung der Mathematik als »Übungswissenschaften« 43So Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 295: »In such an environment, it is hard to see Ibn Ḥasdāy’s training as an exception rather than the rule. It seems to have been an example of a system that was relatively common among the minority (quite a large minority in Saragossa) of the followers of the sciences of the ancients.« 44Vgl. Forcada, Ibn Bājja and the Classification, Anm. 16. 45Balty-Guesdon, Al-Andalus et l’héritage grec, 339f; Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 293. 46Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 53, 12–14.
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(riyāḍīyāt) zusammenstimmt. Die genannte Abweichung von al-Fārābī sollte deshalb nicht als bedeutsam betrachtet werden.47 Von herausragender Bedeutung ist dagegen, dass Ṣāʿid Inhalt, Identität und Abgrenzung der Wissenschaften allein aus der durch al-Fārābī vermittelten aristotelischen Tradition bezieht. Weit mehr Raum als für die kurze Notiz über al-Fārābīs Iḥsāʾ al-ʿulūm gibt Ṣāʿid einer Schrift, die er als »Buch über die Ziele der Philosophie Platons und Aristoteles« beschreibt und die unschwer als die dreiteilige Abhandlung Erlangung der Glückseligkeit, Philosophie Platons, Philosophie des Aristoteles zu erkennen ist, welche als Gesamtwerk auch unter dem Namen Die zwei Philosophien umlief.48 Gerhard Endreß hat in der Philosophie al-Fārābīs einen »Wendepunkt« gesehen in Bezug auf die Einstellung der arabischen Philosophie zu Platon und Aristoteles, eine Wende, die einhergeht mit dem Abschied vom philosophischen Nachbuchstabieren von Offenbarungsinhalten und der Zuwendung zu einer entschieden erkenntnistheoretisch orientierten Betonung der Methode.49 Wenn die Schrift, an der Endreß diesen Wechsel vorgeführt hat – Über die Harmonie der Ansichten der beiden Weisen –, möglicherweise nicht authentisch, sondern vielleicht ein Werk aus al-Fārābīs Schule ist,50 so bestätigt die sicherlich echte Trilogie Die zwei Philosophien diese Analyse aufs Nachdrücklichste.51 Allein durch die Anordnung der drei Teile wird Platon hier vor allem als Vorläufer des Aristoteles, Aristoteles selbst dagegen als Vollender der Philosophie präsentiert.
47Wie etwa bei Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 294; Di Giovanni, Motifs of Andalusian Philosophy, 219f. Der von ihm anschließend zitierte Text Ibn Bāǧǧas folgt, wie Forcada auch bemerken muss (302f ) einer ganz anderen Anordnung, und auch hier ist fraglich, ob die Unterschiede gegenüber diversen Texten al-Fārābīs tatsächlich von Bedeutung sind. 48Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 54, 14–54, 2. Forcada, Ibn Bājja and the Classification, identifiziert ausgerechnet diesen von Ṣāʿid prominent behandelten Text nicht, obgleich er den Taḥṣīl im Zusammenhang mit Ibn Bāǧǧa mehrfach nennt. Auch Llavero Ruíz (Aḥmad Ibn Ṣāʿid al-Andalusī, Historia de las ciencias, übers. Llavero Ruíz, 126f ) hat nicht erkannt, um welchen Text es sich handelt. 49Gerhard Endreß, La Concordance entre Platon et Aristote, l’Aristote arabe et l’émancipation de la philosophie en Islam médiéval, in: B. Mojsisch, O. Pluta (Hg.), Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam–Philadelphia 1991, 237–257. 50Vgl. Marwan Rashed, On the Authorship of the Treatise on the Harmonization of the Opinions of the Two Sages Attributed to al-Fārābī, in: Arabic Sciences and Philosophy 19 (2009), 43–82. 51Dagegen macht Philippe Vallat, Farabi et l’école d’Alexandrie. Des prémisses de la connaissance à la philosophie politique (Études musulmanes 38), Paris 2004, insbesondere auch gegen Endreß’ These, den Versuch, gerade an der Philosophie des Aristoteles zu zeigen, dass al-Fārābīs Position in allen entscheidenden Punkten diejenige des alexandrinischen Neuplatonismus ist. Für eine kurze Kritik seiner Interpretation vgl. meine Rezension in: Philosophisches Jahrbuch 114 (2007), 443–449. Eine ausführliche Rechtfertigung der hier vertretenen Einschätzung wird an anderer Stelle erfolgen müssen. Die im Folgenden gemachten Andeutungen einiger für unser Thema relevanter Fragen mögen als Anhaltspunkt dienen.
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Dies tritt auch in Ṣāʿids Darstellung hervor, der in seiner insgesamt recht ausführlichen Inhaltsangabe den platonischen Teil mit einem einzigen dürren Satz bedenkt. Woran das liegt, zeigt sich sehr rasch, wenn man betrachtet wofür Ṣāʿid dieses Werk al-Fārābīs preist. So sagt er, es sei »von größter Hilfe zum Erlernen des Wegs der Theorie und zum Vertrautmachen mit der Weise des Studiums«. Der beschrittene Weg ist nun aber genau der Weg des Aristoteles, seine Stationen sind durch die aristotelischen Schriften markiert. Wenn al-Fārābī laut Ṣāʿid das Ziel Platons bekannt macht und seine Bücher nennt, so trägt das eben zum beabsichtigten »Erlernen des Wegs der Theorie« kaum etwas bei. Dies nur auf die angebliche Unverfügbarkeit der platonischen Schriften zurückzuführen,52 greift sicher zu kurz, wie das Beispiel Ibn Bāǧǧas auf dem uns hier beschäftigenden Feld der Psychologie zeigt. Ibn Bāǧǧa hat offenbar den Phaidon in einer recht textnahen Bearbeitung gekannt und nennt dieses Werk immer wieder. Dabei zeigt er zwar keine grundsätzliche Ablehnung, sieht Platons Schrift aber deutlich als von der aristotelischen Psychologie korrigiert und übertroffen an.53 Von den Beweisen für die Unsterblichkeit der Seele, deren kompendienhafte Darstellung durch Georgios Thaumatourgos sich im Arabischen großer Beliebtheit erfreute und dort teils unter dem Namen des Aristoteles überliefert wurde,54 fehlt bei Ibn Bāǧǧa jede Spur. Er nimmt lediglich den Aspekt der »Erkenntnismoral« auf, die im Sinne der Sorge um die eigene Seele das Streben nach dem Intelligiblen als Aneignung des eigenen Wesens predigt. In der Analyse der Erkenntnis aber und in der Bestimmung des Wesens der Seele spricht sich Ibn Bāǧǧa eindeutig gegen die Lehre des Phaidon aus (vgl. N X. 16). Betrachtet man nun Ṣāʿids Darstellung der Erlangung der Glückseligkeit einerseits und der Philosophie des Aristoteles andererseits, so macht diese augenfällig, dass der erste Text, in dem al-Fārābī in eigenem Namen spricht und die Philosophie als solche präsentiert, strukturell mit dem zweiten genau übereinstimmt. Vom ersten sagt Ṣāʿid: »Er hat darin Kenntnis gegeben von den Geheimnissen der Wissenschaften und ihren Erträgen Wissenschaft für Wissenschaft und hat die Art ihres stufenweisen Aufstiegs [tadarruǧ] Stück für Stück von einer zur anderen erklärt.«55 Im Prolog (muqaddima) dann der Philosophie des Aristoteles, so Ṣāʿid, macht al-Fārābī dessen »stufenweisen Aufstieg [tadarruǧ] zu seiner 52Vgl. Vallat, Farabi et l’école d’Alexandrie, insbesondere 77ff: »Farabi avait de Platon une connaissance relativement limitée«. 53Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2.3. 54Vgl. Helmut Gätje, Studien zur Überlieferung der aristotelischen Psychologie im Islam, Heidelberg 1971, 54–62 und Edition 95–129. 55Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 53, 16f. Der Titel Taḥṣīl al-saʿāda wird von Ṣāʿid nicht genannt, aber das folgende ṯumma, das jeweils die Darstellung der beiden weiteren Teile einleitet, macht deutlich, dass ihm der Text in der gleichen Form vorlag, wie wir ihn heute kennen. Das gilt auch für das Ende der Philosophie des Aristoteles, deren Vollständigkeit umstritten ist; Ṣāʿid erklärt nämlich ausdrücklich (53, 19f ) : »[…] bis die Darlegung
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Philosophie« bekannt und erläutert Aristoteles’ Ziele in seinen logischen und naturphilosophischen Werken »Buch für Buch« bis zur Herleitung der Metaphysik aus der Naturphilosophie.56 Die Philosophie im absoluten Sinne ist also identisch mit der Philosophie des Aristoteles, und insbesondere entspricht ihre Struktur der Aufteilung der Bücher des Aristoteles. Bei dieser Struktur handelt es sich – und dieser wichtige Aspekt fehlte in Iḥṣāʾ al-ʿulūm – nicht um eine bloße Aufteilung des Stoffes oder um jeweils eigenständige Forschungsbereiche, sondern es besteht eine organische Ordnung der Disziplinen. Der Erkenntnisgang schreitet von unten nach oben, von der Logik zur Metaphysik fort, und die jeweils übergeordnete Wissenschaft geht durch »Herleitung« oder »Aufzeigung« (istidlāl) aus der untergeordneten hervor. Wir werden in der Folge sehen, dass die Stellung, die al-Fārābī der Psychologie in diesem Gang der Erkenntnis zuweist, sich prägend für Ibn Bāǧǧas Behandlung dieser Frage erweist.57 Die Schriften des Aristoteles, geordnet und organisiert nach der von al-Fārābī übermittelten und mitgeprägten Weise, das ist es, was in dem hier gesuchten Milieu in Saragossa als Philosophie gilt. Entsprechend gestaltet sich die Einstellung zu Aristoteles selbst, wie sie sich aus Ṣāʿids Ausführungen im Kapitel über die Griechen ablesen lässt; und diese Einstellung bestimmt wiederum die Art, in der jetzt, in der Zeit nach Aristoteles, Philosophie zu betreiben ist.58 Aristoteles wird als Lieblingsschüler Platons eingeführt, von ihm habe er den Übernamen »der Intellekt« erhalten. Aus den folgenden Worten geht dann unzweideutig hervor, dass Aristoteles seinen Lehrer übertroffen hat – und nicht nur ihn: »Bei Aristoteles gelangte die Philosophie der Griechen ans Ende, er ist die Besiegelung ihrer Weisen [ḫātima ḥukamāʾihā] und der Herr ihrer Gelehrten. Er ist der erste, der die Kunst des Beweises geläutert hat von den übrigen logischen Künsten […].«59 Aristoteles wird hier innerhalb der Philosophie dieselbe Stellung zugesprochen, die der Islam Muḥammad zugedenkt: So wie Muḥammad »das Siegel der Propheten« (ḫātim al-anbiyāʾ), also der letzte und höchste der Propheten ist, so ist Aristoteles derjenige, der die Philosophie vollendet hat und nach dem Philosophie nicht mehr mittels eines neuen Ansatzes, sondern nur noch in seiner Nachfolge auf dem von ihm etablierten Weg betrieben werden in der Version, die uns erreicht hat, zum Anfang der Metaphysik und der auf sie ausgehenden Beweisführung [istidlāl] der Naturphilosophie gelangt.« 56Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 53, 17f. 57Vgl. Kapitel 3, insbesondere Abschnitt 1.3. 58Zu einigen der Quellen Ṣāʿids vgl. Dimitri Gutas, The Spurious and the Authentic in the Arabic Lives of Aristotle, in: Jill Kraye, W. F. Ryan, C. B. Schmitt (Hg.), Pseudo-Aristotle in the Middle Ages. The Theology and other Texts, London 1986, 15–36, insbesondere 24 und 28. 59Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 24, 6–8. In der Formulierung »Philosophie der Griechen« liegt keine Einschränkung, denn, wie Ṣāʿid zuvor gesagt hat, gehören die Griechen zu »den großartigsten Leuten der Wissenschaft« (aǧall ahl al-ʿilm), da sie alle Disziplinen der Weisheit in der richtigen Weise betrieben haben, vgl. Cheikho, 20, 18–21, 2.
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kann. Diese Schlüsselstellung besitzt Aristoteles vor allem deshalb, weil er die Methode des Beweises, das heißt die strenge, auf notwendige Wahrheit abzielende Wissenschaft, deutlich von den übrigen Modi geordneter Rede unterschieden hat. Die Bedeutung dieser Leistung wird sofort deutlich, wenn man einen Blick in al-Fārābīs Erlangung der Glückseligkeit wirft. Dort wird gleich zu Beginn der Darstellung der »theoretischen Tugenden«, das heißt der Philosophie, als Hauptstolperstein die herrschende Unkenntnis genannt über die Unterschiede zwischen den diversen Methoden; denn nur durch eine wird die »gewisse Wahrheit« erkannt, durch andere dagegen nur Überzeugung oder ein Abbild der Wahrheit erreicht.60 Indem Aristoteles als Läuterer der rechten Methode der Wissenschaft begriffen wird, ist damit klar gesagt, dass jede nichtaristotelische Philosophie gesicherte und ungesicherte Kenntnisse vermengt und daher die Wahrheit grundsätzlich verfehlt. Nachdem Ṣāʿid Aristoteles als letzten und größten von fünf griechischen Weisen genannt hat,61 wendet er sich den übrigen, insbesondere den nach ihm aufgetretenen Denkern zu. Die zuvor dargestellten fünf zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle »Disziplinen der Philosophie« betrieben haben,62 während Ṣāʿid in der Folge die vielen darstellt, die nur »in einem Teil der Wissenschaften der Philosophie bekannt sind und sich mit einem von ihren Teilen beschäftigt haben«, zum Beispiel Hippokrates und Euklid.63 Zuvor aber – nach einer ganz knappen Erwähnung weiterer Vorgänger und Zeitgenossen des Aristoteles – nennt Ṣāʿid eine Gruppe oder Gemeinschaft (ǧamāʿa): »Es gab nach Aristoteles eine Gruppe [von Leuten], die seinen Weg ergriffen und seine Schriften kommentierten [šaraḥū]. Die größten unter ihnen sind Themistios, Alexander von Aphrodisias und Porphyrios. Diese drei kennen am besten die Schriften des Philosophen und sind am vorzüglichsten in den Schriften der Philosophie.«64 Dreierlei ist hier bemerkenswert. Erstens, Philosophie in der Nachfolge des Aristoteles ist die Angelegenheit einer Gemeinschaft, die durch den geteilten Rahmen der aristotelischen Schriften zusammenhält. Die Kontinuität dieser Tradition deutet Ṣāʿid an, indem er in unmittelbarer Folge der soeben zitierten Beschreibung, also noch bevor er sich den griechischen Ärzten, Mathematikern und Astronomen zuwendet, auf Qusṭā Ibn Lūqā (Constabulus) verweist, der zu »diesen späteren griechischen Philosophen« gehörte und ein Zeitgenosse al60al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, in: al-Fārābī, al-Aḥmāl al-falsafīya, Bd. 1, ed. Ǧaʿfar Āl Yāsīn, Beirut 1992, 119–197, hier 120f; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, translated, with an introduction by Muhsin Mahdi, revised edition, Ithaca (NY) 1969, 13f (§ 3). 61Die fünf größten griechischen Philosophen sind Empedokles, Pythagoras, Sokrates, Platon und Aristoteles, vgl. Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 21, 3–4. 62Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 27, 5. 63Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 27, 19. 64Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 27, 9–11.
Abū l-Faḍl Ḥasdai: Anfänge des Aristotelismus
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Kindīs war.65 Zweitens, die Art und Weise, in der man dem Wege des Aristoteles folgt, besteht darin, seine Schriften zu kommentieren. Drittens, Themistios, Alexander und Porphyrios werden in einem Atemzug dafür gepriesen, dass sie die Schriften des Philosophen, also die aristotelischen, am besten kennen und dass sie die besten philosophischen Schriften verfassen. Das heißt (in Fortführung der zweiten Bemerkung), dass die Beschäftigung mit Aristoteles als dem Philosophen par excellence und das Philosophieren selbst gleichgesetzt werden. Dieses wissenschaftliche Programm wird ganz am Ende des Kapitels über die Griechen noch einmal in eindrucksvoller Weise bestätigt und ausgebaut. Zuvor hat Ṣāʿid im Anschluss an die Vorstellung einzelner Gelehrter mittels eines Auszugs aus al-Fārābīs Schrift Über das, was man vor Beginn des Studiums der Philosophie wissen muss die philosophischen Schulen der Griechen dargestellt.66 Unter diesen hebt er nun als die zwei bedeutendsten die pythagoreische einerseits und diejenige Platons und Aristoteles’ – mit al-Fārābī gemeinsam als »Peripatetiker« (al-mašāʾūn) bezeichnet – hervor. Daran knüpft Ṣāʿid mit einem aus al-Masʿūdīs Tanbīh bezogenen Aristoteleszitat und dessen ebenfalls von al-Masʿūdī stammender Interpretation an.67 Zwar ist diese Wahl nicht unbedingt glücklich, die Übernahme leistet aber, was offenbar ihr prinzipieller Zweck an dieser Stelle zu sein scheint, nämlich eine auf Aristoteles zulaufende Wende in der Philosophie anzuzeigen. Laut al-Masʿūdī wandten sich Sokrates, Platon und Aristoteles von der »ersten Naturphilosophie« [al-falsafa al-ūlā al-ṭabīʿīya], die er mit Pythagoras assoziiert, hin zur politischen Philosophie, wofür er ein Wort des Aristoteles aus De partibus animalium zitiert, das allerdings in seinem Kontext gerade eine partielle Kritik des Sokrates darstellt, der zwar durch die Wendung von der Materie zum Wesen einen Fortschritt gemacht, gleichzeitig aber die Naturphilosophie zugunsten der politischen Wissenschaft vernachlässigt habe.68 Wie dem auch sei, es ist eindeutig, dass sowohl al-Masʿūdī als auch Ṣāʿid hier vor allem an eine Verbesserung der Philosophie denken, die mit Sokrates beginnt und bei Aristoteles kulminiert, während sich der Pythagoreismus damit erledigt hat, so dass dessen gegenwärtige Anhänger nur als fehlgeleitet beurteilt werden können. Nicht die Naturphilosophie als solche, sondern, wie es Ṣāʿid in der Folge nochmals wiederholt, »die alte Naturphilosophie« (al-falsafa al-
65Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 27, 11–18. 66Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 31, 14–32, 14; vgl. Alfārābī’s Philosophische Abhandlungen, aus Londoner, Leidener und Berliner Handschriften herausgegeben von Friedrich Dieterici, Leiden 1890, 49, 14–50, 15. 67Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 32, 15–33, 4; vgl. al-Masʿūdī, alTanbīh wa-l-išrāf (Bibliotheca geographorum araborum 8), ed. M. Jan de Goeje, Leiden 1894, 116, 12–117, 1; Maçoudi, Le livre de l’avertissement et de la révision, traduction de Bernard Carra de Vaux, Paris 1897, 163f. 68Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, I. 1, 642a24–31.
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ṭabīʿīya al-qadīma) wird abgelehnt.69 Diese Idee des Fortschritts und der Vollendung der Philosophie aufnehmend und steigernd fügt Ṣāʿid nun einen letzten, mit »Ṣāʿid sagt« (qāla Ṣāʿid) eingeleiteten Absatz hinzu, dessen Bedeutung nicht nur durch seine Schlussstellung betont wird, sondern auch dadurch, dass er die übliche Ordnung der Darstellung durchbricht, und zwar sowohl in chronologischer Hinsicht wie in Bezug auf die »nationale« Einteilung. Ṣāʿid greift nämlich vor auf den auch später noch präsentierten muslimischen Philosophen Abū Bakr Muḥammad Ibn Zakarīyā al-Rāzī, den er hier zugleich als Anhänger des Pythagoreismus und als Kritiker des Aristoteles anführt.70 Beide Aspekte hängen laut Ṣāʿid zusammen, insofern al-Rāzī von Aristoteles abweicht, weil er ihm vorwirft, sich von der Lehre seines Lehrers Platon und seiner übrigen Vorgänger entfernt und dadurch die Philosophie verdorben zu haben. Dem hält Ṣāʿid nun entgegen, dass al-Rāzī, hätte Gott ihn rechtgeleitet, im Gegenteil »Aristoteles so beschrieben hätte, dass er die Ansichten der Philosophie geklärt, die Lehren der Weisen gesiebt, ihre Schlacken entfernt, ihre Verfälschung ausgeschieden, ihr Mark gereinigt und ihr Bestes ausgewählt hat. Er hat davon das mit Überzeugung angenommen, was ein gesunder Verstand notwendig macht, was kritische Einsicht meint und woran gute Seelen glauben. Er wurde zum Führer [imām] der Weisen und Inbegriff [ǧāmiʿ] der Tugenden der Gelehrten. ›Es ist nicht verwerflich, dass Gott die Welt in einem einzigen versammelt hat.‹«71 Dieses Aristoteleslob ähnelt in erstaunlicher Weise den berühmt gewordenen Äußerungen Ibn Rušds, die allgemein als Ausdruck seiner spezifischen Einstellung und Art, als Commentator Philosophie zu machen, betrachtet werden.72 Insbesondere lässt der von Ṣāʿid zuletzt zitierte Vers an Ibn Rušds Auffassung des Aristoteles als regula in natura denken.73 Dieser Vergleich deutet darauf hin, dass der philosophische Kontext, in dem man Ibn Bāǧǧa zu sehen hat, bereits 69Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 33, 6. 70Hierzu und zum Folgenden Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 33, 6–17. In der Verbindung al-Rāzīs mit Pythagoras folgt Ṣāʿid wohl wiederum al-Masʿūdī, alTanbīh wa-l-išrāf, ed. de Goeje, 122 und 162; Maçoudi, Le livre de l’avertissement, übers. Carra de Vaux, 171 und 223. Zur ersten dieser Stellen, an der Yaḥyā Ibn ʿAdī in Verbindung mit alRāzī gebracht wird, siehe Dominique Urvoy, Abū Bakr al-Rāzī and Yaḥyā ibn ʿAdī, in: Peter Adamson (Hg.), In the Age of al-Fārābī: Arabic Philosophy in the Fourth/Tenth Century, London–Turin 2008, 63–70. 71Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 33, 13–17 mit den Verbesserungen im Apparat 101 und 122. Den Autor des zitierten Verses konnte ich nicht ermitteln. 72Sowohl für eine Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen wie für ihre Deutung siehe Endreß, ›If God will grant me life‹. Averroes the Philosopher: Studies on the History of His Development, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 15 (2004), 227–254. Gegen die dort vertretene Entwicklungsthese habe ich in Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 304ff argumentiert. Diese Argumente dürften durch den hier erbrachten Nachweis einer extrem aristoteleszentrierten Tradition in al-Andalus gestärkt werden. 73Vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 433, 142–145.
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wesentliche Charakterzüge dessen besaß, was bisher vor allem als Eigenart Ibn Rušds betrachtet worden ist. Dies soll im zweiten Kapitel durch eine Analyse von Ibn Bāǧǧas eigener Haltung untermauert werden, soweit sie sich in seinen Schriften manifestiert. Wichtig aber bleibt dabei – übrigens auch zum Verständnis Ibn Rušds –, dass Ibn Bāǧǧa lediglich ein Programm umsetzt, dass schon vor ihm konzipiert worden war.
3. Mālik Ibn Wuhaib: Die soziale Lage der Philosophie Die vorstehende Beleuchtung eines gewissen philosophischen Milieus in Saragossa zur Zeit Ibn Bāǧǧas hat zwar reiche Auskünfte über ein recht präzises philosophisches Programm geliefert, das sich an al-Fārābī und dem »reinen« Aristoteles orientiert, sie konnte aber keine Versuche zur Umsetzung dieses Programms aufdecken. Der entworfene Aristotelismus blieb ausschließlich rezeptiv. Es wäre sicher zu gewagt, eine Erklärung dafür anzubieten, warum dies der Fall war und warum Ibn Bāǧǧa keine Zeitgenossen von gleichem philosophischem Rang besaß, mit denen er in ein Gespräch, eine Diskussion hätte eintreten können. Wohl aber lassen sich einige charakteristische Züge der erkennbaren philosophischen Versuche benennen, die manches über die sozialen Bedingungen und das geistige Umfeld besagen, in denen auch Ibn Bāǧǧas Philosophie zu situieren ist. Dazu können wir bei einem weiteren Förderer Ibn Bāǧǧas anknüpfen: Abū ʿAbd-Allah Mālik ibn Yaḥyā Ibn Wuhaib (Sevilla 453/1061–Marrakesch 525/1130).74 In Mālik Ibn Wuhaib tritt uns wieder, wie schon bei Abū l-Faḍl Ḥasdai, die Gestalt eines Höflings entgegen, diesmal unter der neuen Macht in al-Andalus und dem Maghreb, den Almoraviden. Von Sevilla als »Gefährte und Freund« an den Hof des almoravidischen Herrschers ʿAlī ibn Yūsuf Ibn Tāšifīn in Marrakesch gerufen, ist Ibn Wuhaib am besten dafür bekannt, dass er mit dem in Marrakesch eingetroffenen Führer der Almohadenbewegung, dem »Mahdi« Ibn Tūmart, disputiert und daraufhin seine Hinrichtung empfohlen hat. Von allen versammelten Rechtsgelehrten habe er als einziger die Reden Ibn Tūmarts verstanden und seine umstürzlerischen Absichten durchschaut. Obgleich ʿAlī ibn Yūsuf seinem Rat nicht folgte, lässt das Ereignis die Vertrauensstellung erkennen, die Mālik besessen haben muss. Diese Position ermöglichte es ihm offenbar, schützend seine Hand über jemanden wie Ibn Bāǧǧa zu halten, der auf Grund seiner philo74Vgl. zu seinen Lebensdaten und zur weiteren Darstellung Dunlop, Philosophical Predecessors, 100–104; Delfina Serrano Ruano, Miquel Forcada, Ibn Wuhayb, Mālik, in: Jorge Lirola Delgado (Hg.), Biblioteca de al-Andalus, Bd. 5, Almería 2007, 603–608. Für die Aussage von Puig, Philosophy in Andalusia, 156, Mālik sei der »main teacher« Ibn Bāǧǧas gewesen, fehlt jede verlässliche Grundlage; Puig gibt auch keinen Beleg an.
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sophischen Studien als »Ketzer« (zindīq) beschimpft und bei den Machthabern angeschwärzt wurde. Ibn Wuhaib selbst teilte die wissenschaftlichen Interessen, versuchte jedoch – wie mehrere Quellen berichten – sie zu verbergen, um seiner Stellung nicht zu schaden und sein Leben zu schützen.75 Ibn Bāǧǧas Schüler, Ibn al-Imām, schreibt in seinem Vorwort zur Sammlung der Werke Ibn Bāǧǧas einige Zeilen über Mālik, den er neben seinem Lehrer als einzigen betrachtet, der »die Wege der Betrachtung in diesen Wissenschaften eingeschlagen« hat, diesen Weg jedoch anders als Ibn Bāǧǧa aufgegeben und sich den religiösen Wissenschaften (al-ʿulūm al-šarʿīya) zugewandt habe. Ibn alImām erwähnt, dass Mālik nur ein Buch über »die Anfänge der Vernunftwissenschaft« (awāʾil al-ṣināʿa al-ḏihnīya), also der Logik, geschrieben und sonst keine philosophischen Werke hinterlassen habe. Dafür nennt er zwei Ursachen: Mālik Ibn Wuhaib habe es aufgegeben sich »öffentlich« (ẓāhiran) mit den Wissenschaften zu befassen, ja sogar davon zu reden, weil er ihretwegen Anschlägen auf sein Leben ausgesetzt gewesen sei. Außerdem habe er es in allen Wissensbereichen auf »Sieg« abgesehen gehabt. Wie immer man diese zweite Begründung genau zu verstehen hat, sie scheint nur die Persönlichkeit Ibn Wuhaibs zu betreffen, ebenso wie verwandte Aussagen, ihm sei mehr am Wissen als am Überliefern gelegen gewesen.76 Die erste Begründung dagegen ist von größerer Tragweite und für den Kontext von Ibn Bāǧǧas Werk von Bedeutung. Insgesamt lassen sich aus den hier knapp zusammengefassten Nachrichten über Mālik Ibn Wuhaib drei Aspekte herausheben, die zum Verständnis Ibn Bāǧǧas beitragen. Neben den Anfeindungen der Philosophie sind dies das höfische Milieu und das Steckenbleiben bei der Logik. Greifen wir diesen letzten Punkt zuerst auf. In seiner Einleitung zu Ḥayy Ibn Yaqẓān beschreibt Ibn Ṭufail die Entwicklung der Philosophie in al-Andalus als dreistufig: Einem anfänglichen, ausschließlich der Mathematik gewidmeten Interesse folgte eine Generation, die sich durch einige Kenntnis der Logik auszeichnete, die jedoch nicht zur »wahren Vollendung« gelangte. Auf sie folgte schließlich die Generation Ibn Bāǧǧas, für die allerdings Ibn Ṭufail auch niemand anderen nennt als eben Ibn Bāǧǧa selbst.77 So tendenziös Ibn Ṭufails Einleitung bekanntermaßen ist, in dieser Beschreibung decken sich seine Aussagen mit den schon von Ṣāʿid al-Andalusī festgehaltenen Beobachtungen. Mālik Ibn Wuhaib scheint einen typischen Gelehrten der »zweiten Generation« darzustellen. Seine Beschäftigung mit mathematischen Disziplinen ist belegt; eine Kopie von Ptolemäus’ Almagest mit Randglossen Ibn Wuhaibs war noch Jahrzehnte 75Vgl. dazu und zum Folgenden den Bericht Ibn al-Imāms in: Rasāʾil Ibn Bāǧǧa, ed. Faḫrī, 176, 2–8. 76Vgl. erneut Dunlop, Philosophical Predecessors. 77Ibn Ṭufail, Hayy ben Yaqdhân, ed. Gauthier, 12; Ibn Ṭufail, Der Philosoph als Autodidakt, Übersetzung Schaerer, 9.
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später offenbar in der Bibliothek der Almohaden zu finden.78 Welcher Art von Logik befleißigte sich nun solch ein Rechtsgelehrter und Mathematiker mit philosophischen Ambitionen? Ein Beleg dafür, der unter den von Dunlop gesammelten Zeugnisse über Mālik noch fehlt, findet sich in einer logischen Abhandlung Ibn Rušds.79 Dort geht es um eine Detailfrage aus al-Fārābīs Kitāb al-burhān, seiner Bearbeitung der Zweiten Analytiken also. Ibn Rušd zitiert Ibn Bāǧǧas Glossen zu al-Fārābī, die die Vermutung äußern, der Text sei an dieser Stelle korrupt, und einen Verbesserungsvorschlag machen. Dann fügt Ibn Rušd hinzu, er habe eine ähnliche Verbesserung auch gesehen »in einem Buch, das mit dem Buch Abū ʿAbd-Allah Mālik Ibn Wuhaibs kollationiert war [muqābil bi-] und zusammen mit ihm, und zwar [ist das], wie man annimmt, das Buch seines Gefährten [ṣāḥibihī], der als ›al-Farāʾ‹ bekannt ist«.80 Ibn Rušd, so darf vermutet werden, hat diese annotierte Kopie von al-Fārābīs Kitāb al-burhān ebenfalls in der Bibliothek der Almohaden gefunden, in der ein Teil von Māliks Nachlass gelandet zu sein scheint. Man kann also davon ausgehen, dass Māliks Beschäftigung mit der Logik sich in zweifacher Weise niedergeschlagen hat: Einmal im Verfassen einer Art von Kompendium über die »Anfänge« dieser Disziplin, so wie es uns Ibn al-Imām berichtet, und zum anderen im aufmerksamen Studium der logischen Schriften al-Fārābīs, bei dem er den Text mit klärenden Randglossen versieht, wie wir es von seiner Lektüre des Almagest wissen. Ausgehend von Ibn Rušds Zeugnis, das die Orientierung an al-Fārābī belegt, lassen sich unsere plausiblen Vermutungen noch weiter treiben: Es steht zu vermuten, dass Māliks logische Abhandlung dem gleichen Genre zuzurechnen ist wie einige andere logische Kompendien, die gleichzeitig und auch später in al-Andalus verfasst wurden, nämlich eine zusammenfassende Bearbeitung von al-Fārābīs Schriften zum Organon, und zwar der Serie von Kompendien, 78Die Information stammt von al-Marrākušī. Ausdrücklich nennt al-Marrākušī die Bibliothek der Almohaden nur für eines der Werke Māliks, das er persönlich gesehen haben will, nämlich eine Qurāḍat al-ḏahab fī ḏikr liʾām al-ʿarab genannte Sammlung von Anekdoten. Es liegt jedoch nahe, dass auch die direkt im Anschluss genannten Bücher in der Handschrift Ibn Wuhaibs, nämlich das pseudo-ptolemäische Kitāb al-ṯamara (Centiloquium) und der Almagest, sich in dieser Bibliothek befanden. 79Ibn Rušd, Min Kitāb al-burhān li-Abī Naṣr, in: Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm al-ṭabīʿī, ed. al-ʿAlawī, 215–219, hier 215f; französische Übersetzung von Stéphane Diebler in: Ali Benmakhlouf, Présentation des opuscules d’Averroès, in: Philosophie 77 (2003), 3–11, hier 8. 80Ibn Rušd, Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm al-ṭabīʿī, ed. al-ʿAlawī, 216, 4–5. Diebler übersetzt diesen Passus vollständig anders (»un livre qui répond au livre d’Abū ʿAbdallah Malik Ibn Wuhayb et qui l’accompagne, un livre dont l’auteur, à ce qu’on dit, est la personne connue sous le nom d’al-Farāʾ [L’Onagre]«), weil er die beiden oben arabisch angegebenen Ausdrücke in einem anderen Sinn nimmt, der mir aber dem Kontext nicht angemessen erscheint, denn das »Buch«, um das es geht, ist offenbar eine Kopie des Textes al-Fārābīs, um dessen Wortlaut es Ibn Rušd ja zu tun ist.
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die als »Großes Kompendium« (al-muḫtaṣar al-kabīr) bekannt waren, nicht seiner großen Literalkommentare. Als besonders rudimentären Versuch einer solchen Bearbeitung kann man zunächst die kurze Abhandlung Taqwīm al-ḏihn von Māliks (und Ibn Bāǧǧas) Zeitgenossen Abū l-Ṣalt Umayya ibn ʿAbd al-ʿAzīz (460/1067–529/1134) aus Denia nennen, einem Schüler des oben bereits erwähnten al-Waqqašī.81 Aber auch Ibn Rušds frühes Kompendium der Logik, al-Ḍarūrī fī l-manṭiq, stellt noch eine vor allem resümierende Adaptation von al-Fārābī dar.82 Und selbst Ibn Rušds Schüler, Abū l-Ḥaǧǧāǧ Yūsuf ibn Aḥmad Ibn Ṭumlūs (gest. 620/1223), stützt sich in seinem recht umfangreichen Madḫal li-ṣināʿat almanṭiq (Einführung in die Kunst der Logik) wiederum vornehmlich auf al-Fārābī.83 Alle diese Texte gehen in die Richtung einer vereinfachenden Erschließung der Logik als Handwerkszeug und nicht die einer philosophischen Untersuchung, sie bieten daher kaum einen Ansatzpunkt für weitergehende Studien. Damit zeigt sich dann aber auch, warum diese Art der Rezeption al-Fārābīs mit einem Steckenbleiben bei der Logik verbunden war. Ibn Bāǧǧas Umgang mit der Logik al-Fārābīs, wie er in seinen erhaltenen logischen Schriften sichtbar wird, ist teilweise ebenfalls vom Impetus des Resümierens bestimmt, vor allem aber muss er als Verlängerung und Steigerung dessen gesehen werden, was sich in Mālik Ibn Wuhaibs Glossierung ankündigt und was bei Ibn Rušd in seinen späteren logischen Schriften in eine Zuwendung zum Text des Aristoteles und in eine Vielzahl von Diskussionen konkreter Problemfälle in der Kommentartradition, insbesondere bei al-Fārābī, einmündet. Tatsächlich ist es kaum möglich, Ibn Bāǧǧas logische Schriften einem bestimmten Genre zuzuordnen, da in ihnen darstellende Passagen und längere Überlegungen zu Detailfragen abwechseln mit Erläuterungen einzelner Ausdrücke oder Propositionen der Schriften al-Fārābīs. Diese werden teils textimmanent geklärt, teils systematisch erläutert, manchmal aber auch mit dem aristotelischen Originaltext verglichen und auf ihren Beitrag befragt. Vielfach werden andere Schriften al-Fārābīs als die jeweils »kommentierte« herangezogen, darunter auch seine
81Abū l-Ṣalt al-Dānī, Rectificación de la mente. Tratado de lógica, ed. A. Gonzalez-Palencia, Madrid 1915; zu ihm Samuel Miklos Stern, Abū ’l-Ṣalt Umayya, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 1, Leiden–London 1960, 149. In seiner Präsentation orientiert sich Abū l-Ṣalt, wie er im Vorwort erklärt, an einer ähnlichen medizinischen Schrift mit dem Titel Taqwīm alṣiḥḥa, die wohl als das gleichnamige Werk Ibn Buṭlāns identifiziert werden muss. 82Vgl. Charles E. Butterworth, Twelve Treatises in Search of a Title. Averroes’ Short Commentaries on Aristotle’s Logic, in: Alain de Libera, Abdelali Elamrani-Jamal, Alain Galonnier (Hg.), Langages et philosophie. Hommage à Jean Jolivet, Paris 1997, 99–108. 83Vgl. Introducción al arte de la lógica por Abentomlús de Alcira, texto árabe y traducción española por Miguel Asín, Madrid 1916, xxvi; Abdelali Elamrani-Jamal, Eléments nouveaux pour l’étude de l’Introduction à l’art de la logique d’Ibn Ṭumlūs (m.620H/1223), in: A. Hasnaoui, A. Elamrani-Jamal, M. Aouad (Hg.), Perspectives arabes et médiévales sur la tradition scientifique et philosophique grecque, Louvain–Paris 1997, 465–483, hier 479–481.
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Literalkommentare. Diese Texte Ibn Bāǧǧas, deren einziges nennenswertes Strukturelement die Lemmata der zugrundeliegenden Schriften al-Fārābīs sind, von denen sie sich aber oft genug weit entfernen, machen insgesamt den Eindruck von außer Kontrolle geratenen Glossen, die auf halbem Wege zwischen Kompendium, Literalkommentar und eigenständiger Abhandlung stehen.84 Damit haben sie wesentliche Züge mit Ibn Bāǧǧas naturphilosophischen Schriften gemeinsam, die – wie die Erörterung des Forschungsstandes in der Einleitung gezeigt hat – ebenfalls Philosophie im Modus proteiformer Kommentare betreiben. Mit Hilfe von Ibn Rušds Zeugnis, das sicher nicht zufällig die Anmerkungen Ibn Bāǧǧas und diejenigen Ibn Wuhaibs zusammenstellt, sind wir nun auf den Ursprung dieser Schreibweise gestoßen und damit gleichzeitig auf den Ausgangspunkt Ibn Bāǧǧas bei der zu seiner Zeit bestehenden Tradition wie auch auf den »Fortschritt«, den er dieser gegenüber macht: Wo die Glossierung bei Mālik Ibn Wuhaib wohl nur dem eigenen Verständnis der Texte dient, das sich dann in einem letztlich »unfruchtbaren« Kompendium niederschlägt, ufert sie bei Ibn Bāǧǧa zu Schriften aus, die ihrer formalen Struktur nach zwar unbefriedigend bleiben, denen es aber gelingt, systematische Fragen zu isolieren und weiterzuentwickeln. Die Gestalt Mālik Ibn Wuhaibs ist zweitens charakteristisch für den höfischen Kontext, in dem auch Ibn Bāǧǧa anzusiedeln ist. Während Mālik offenbar ein Vertrauter des almoravidischen Herrschers ʿAlī ibn Yūsuf Ibn Tāšifīn selbst war, wird Ibn Bāǧǧa in den biographischen Quellen als wazīr zweier almoravidischer Statthalter genannt, zunächst des Abū Bakr ibn Ibrahīm al-Ṣahrawī Ibn Tīfilwīt in Saragossa und später des Yaḥyā ibn Yūsuf Ibn Tāšifīn, eines Bruders des Herrschers, angeblich »im Maghreb«.85 Ebenso gehörte Ibn Bāǧǧas Schüler Ibn al-Imām in diesen Kreis, er diente, wie wir bereits gehört haben, um 1136 als Gouverneur und Steuereintreiber in Sevilla und war wazīr eines weiteren Bruder des Emirs, Tamīm ibn Yūsuf Ibn Tāšifīn.86 Was die Funktionen eines solchen »Wezirs« waren, ist im Einzelfall kaum auszumachen, denn grundsätzlich bezeichnete dieser Titel im islamischen Westen kein Amt, sondern nur eine hohe soziale Stellung im Umkreis des Herrschers und den Empfang einer materiellen Förderung.87 In diesem Sinne müssen wohl auch die Nachrichten über Ibn Bāǧǧa gedeutet werden, von dem – anders als von seinem Schüler – keine konkreten 84Hierzu kann gegenwärtig nur auf die Edition der Texte verwiesen werden, die bisher kaum studiert worden sind, vor allem nicht in Hinsicht auf ihr Genre; für einige Bemerkungen siehe aber Puig, Philosophy in Andalusia; ders., Avempace’s Īsāġūǧī. 85Vgl. Dunlop, Remarks on the Life and Works of Ibn Bājjah, 191–194. 86Vgl. die Einleitung, Anm. 83; siehe auch Muḥammad Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Ibn AlImām, the Disciple of Ibn Bājjah, in: Islamic Quarterly 5 (1959), 102–108. 87Vgl. Lawrence I. Conrad, An Andalusian Physician at the Court of the Muwaḥḥids: Some Notes on the Public Career of Ibn Ṭufayl, in: al-Qanṭara 16 (1995), 3–13, hier 6–8 und insbesondere 7: »[…] in the West, the term wazīr denoted a dignity or rank rather than an adminis-
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Verwaltungstätigkeiten bekannt sind. Zahlreiche, an das missverstandene »Wezirat« Ibn Bāǧǧas geknüpfte Spekulationen sind damit hinfällig.88 Dafür tritt der soziale Kontext des Hofmilieus um so deutlicher hervor. An dieser Stelle ist ein abermaliger Rückblick auf Abū l-Faḍl Ḥasdai von Interesse, der unter den Banū Hūd in Saragossa gleichfalls eng an den Hof gebunden war. Während Ṣāʿid al-Andalusī ihn in seiner Jugend als philosophischen Hoffnungsträger wahrgenommen hat, zeigt das spätere öffentliche Bild Abū l-Faḍl nur als Höfling, der sich als geistreicher Briefsteller und Poet auszeichnet und damit vor allem dem Prestige seines Herrschers dient.89 Auch Ibn Bāǧǧa scheint schon unter den Hudiden in diesen Kreis gehört zu haben.90 Besonders aber sind die zahlreichen Geschichten, die ihn im Gefolge Ibn Tīfilwīts zeigen, in diesem Sinne aufzufassen: Er tritt dort stets als Dichter und Komponist oder gar Vortragender von Liedern auf. Auch wird er als Verfasser eines Klagegedichts nach dem Tode Ibn Tīfilwīts genannt, das nicht zuletzt dazu gedient haben dürfte, sich einem neuen Förderer aus der Herrschaftsschicht anzuempfehlen. In diesem Umfeld kam der Philosophie nur als Teil der höheren Kultur ein Platz zu, ohne dass sie je in den Vordergrund hätte treten können. Ein treffendes Beispiel dafür ist sicherlich die öffentliche Diskussion zwischen Ibn Bāǧǧa und al-Baṭalyausī, die ihren Ausgangspunkt von der strittigen grammatikalischen Analyse einiger Verse nahm und in der al-Baṭalyausī versuchte, die Zuständigkeit der arabischen Grammatik gegen den Versuch Ibn Bāǧǧas zu verteidigen, die Frage mit logischer Begrifflichkeit zu lösen und, wie al-Baṭalyausī ihm vorwarf, »die Logik in die Grammatik einzuführen«. Ibn Bāǧǧa gewann in den Augen der Anwesenden den Disput, und al-Baṭalyausī war so gekränkt, dass er nicht nur seine Sicht der Dinge schriftlich darlegte, sondern sich in mehreren Briefen bei hochgestellten Persönlichkeiten über das arrogante Auftreten Ibn Bāǧǧas beschwerte.91 Dies ist die Ebene, auf der philosophische Kenntnisse ein etwas breiteres Interesse weckten, während die Philosophie selbst eine mehr geduldete als ernsthaft geförderte Privatsache blieb. Ibn Sīd al-Baṭalyausī ist ein treffendes Beispiel für das Denken eines Gelehrten, der auch in seinem eigenen Verständnis und Schreiben die Philosophie so trative function. One’s designation as a wazīr meant elevation to a high position in the social hierarchy of the imperial entourage and the award of a specified official stipend.« 88Zum Beispiel zu seinem Alter bei Dunlop, Remarks on the Life and Works of Ibn Bājjah, 194f; häufig im Zusammenhang mit seiner politischen Philosophie. 89Vgl. dazu Salomon Munk, Notice sur Abou’l-Walid Merwan Ibn-Djana’h et sur quelques autres grammairiens hébreux, Paris 1851, 206–214. 90Vgl. Dunlop, Remarks on the Life and Works of Ibn Bājjah, 193, Anm. 4. 91Vgl. Abdelali Elamrani-Jamal, Les rapports de la logique et de la grammaire d’après le Kitāb al-Masāʾil d’Al-Baṭalyūsī, in: Arabica 26 (1979), 76–89; Ḥussain Muʾnis, Sabʿ waṯāʾiq ǧadīda ʿan daulat al-murābiṭīn wa-ayāmihim fī l-Andalus, in: Revista del Instituto Egipcio de Estudios Islámicos en Madrid 2 (1954), 55–84, hier 78–84.
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als Verlängerung der ādāb, der »humanitates«, begriff.92 Sein thematisch breitgefächertes Werk in den Bereichen unter anderem der Grammatik, der Lexikographie, Literatur, des ḥadīṯ und des fiqh enthält nur wenig originär Philosophisches. So sind in einer größeren Sammlung von kurzen Abhandlungen meist philologischen Inhalts nur einige wenige eingestreut, die philosophienahe Themen behandeln.93 Diese Texte verraten zwar eine gewisse Kenntnis logischer und anderer Schriften al-Fārābīs und auch eine deutliche Wertschätzung für ihn. Das aber kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass al-Baṭalyausīs Interesse an ihnen recht oberflächlich und in der Themenwahl eher zufällig blieb. In seinem einzigen im engeren Sinne philosophischen Werk, Kitāb al-ḥadāʾiq – Buch der Einfriedungen, das uns unten noch ein wenig weiter beschäftigen wird, insofern es einen raren Vergleichspunkt für psychologische Doktrinen in al-Andalus zur Zeit Ibn Bāǧǧas bietet, lehnt sich al-Baṭalyausī dann vor allem an al-Ġazālī und die Schriften der Lauteren Brüder an.94 Man kann hier vielleicht am zutreffendsten mit einem Begriff des 18. Jahrhunderts von »Populärphilosophie« sprechen. Der unverbindliche Umgang, der hier mit der Philosophie gepflegt wird, lässt sich gut an einer kurzen Abhandlung zeigen, in der al-Baṭalyausī al-Waqqašī gegen den Verdacht der Irreligiosität verteidigt.95 Er adoptiert zu diesem Zweck al-Fārābīs These, dass die Philosophie ( falsafa) und das Religionsgesetzt (šarīʿa) sich nicht ihrem Ziel nach unterscheiden, sondern nur dadurch, dass die Philosophie die Methode des Beweises verwendet, das Religionsgesetz dagegen mittels Überzeugung und Vorstellung operiert. Dies scheint zunächst eine eindeutige Stellungnahme für die Vorrangstellung der Philosophie zu sein. Die weiteren Äußerungen al-Baṭalyausīs zeigen dann aber, dass er diese Position anders als al-
92Zu ihm vgl. Delfina Serrano, Ibn al-Sīd al-Baṭalyawsī (444/1052–521/1127): De los reinos de taifas a la época almorávide a través de la biografía de un ulema polifacético, in: Al-Qanṭara 23 (2002), 53–92. 93Vgl. Emilio Tornero Poveda, Cuestiones filosóficas del Kitāb al-Masāʾil de Ibn al-Sīd de Badajoz, in: Al-Qanṭara 5 (1984), 15–32, hier 15–17. 94Vgl. Miguel Asín Palacios, Ibn al-Sid de Badajoz y su »Libro de los Cercos« (»Kitāb alḤadāʾiq«), in: Al-Andalus 5 (1940), 45–154, hier 59f. Mauro Zonta, Influence of Arabic and Islamic Philosophy on Judaic Thought, in: Edward N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2011 Edition), URL: http://plato.stanford.edu/archives/spr2011/entries/ arabic-islamic-judaic/ (zuletzt aufgerufen 09.04.14) bezeichnet das Werk als Kompendium der Schriften der Lauteren Brüder. Siehe jetzt auch die neue kritische Edition und Studie von Ayala Eliyahu, Ibn al-Sid al-Batalyawsi and His Place in Medieval Muslim and Jewish Thought. Including an Edition and a Translation of Kitāb al-Dawāʾir al-Wahmiyya Known as Kitāb alḤadāʾiq, Diss. Jerusalem 2010 [Hebräisch]. 95Arabischer Text und spanische Übersetzung in Miguel Asín Palacios, La tésis de la necesidad de la revelación en el Islam y en la Escolástica, in: Al-Andalus 3 (1935), 345–389, hier 380–389; Französische Übersetzung in: Abdelali Elamrani-Jamal, Ibn al-Sîd al-Batalyûsî et l’enseignement d’al-Fârâbî, in : Bulletin d’études orientales 48 (1996), 154–165. Vgl. zu diesem Text ausführlicher das folgende Kapitel.
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Aristotelische Philosophie im Umfeld Ibn Bāǧǧas
Fārābī so versteht, dass das Religionsgesetz durch den Propheten in einer Weise etabliert wird (unter anderem durch Wunder), die den Beweis übertrifft und seiner nicht bedarf. Er fasst daher das Religionsgesetz als auch den Philosophen bindendes auf, während al-Fārābī den (wahren) Philosophen gerade als Urheber des Religionsgesetzes sieht. Die vorgebrachte Behauptung, jeder Philosoph sei ein Ketzer (zindīq), kann al-Baṭalyausī nur entkräften, indem er die Befolgung der šarīʿa dort zum Merkmal eines wahren Philosophen macht, wo al-Fārābī nur vom tugendhaften Handeln spricht und davon, dass der Philosoph als Staatsmann und Gesetzgeber mittels der Religion andere zu lenken und zu leiten hat. Indem al-Baṭalyausī schließlich al-Waqqašī gerechtfertigt sieht, insofern er zwar der Lehre der Muʿtazila (!) anhing, aber sich in seinem Handeln keiner Übertretung des Religionsgesetz schuldig machte, gibt er vollends zu erkennen, wie undeutlich bei ihm die Grenzen zwischen den verschiedenen geistigen Strömungen sind und vor allem, dass er die Philosophie als intellektuelle Privatsache ohne nennenswerte gesellschaftliche Bedeutung versteht. Mit der zuletzt angesprochenen Problematik sind wir beim dritten und letzten Punkt angekommen, der uns aus den Berichten über Mālik Ibn Wuhaib entgegentritt: die verbreitete, extrem feindliche Einstellung gegenüber der Philosophie in al-Andalus, die diese in ihrer Wirkung und wohl auch in ihrer Entwicklung empfindlich getroffen hat. Es ist schwierig, diesen Punkt angemessen zu behandeln, ohne einerseits in verbreitete philosophiehistorische Klischees zu verfallen und andererseits die beträchtlichen realen Gefahren zu ignorieren. Ich beschränke mich daher darauf, auf eine rezente Studie zu verweisen, die vorführt, dass Philosophie und andere als abweichend empfundene Strömungen zwar keiner systematischen Verfolgung, aber wohl einer diffusen Bedrohung ausgesetzt waren.96 Mālik Ibn Wuhaibs Selbstzensur fällt durchaus in den Rahmen der Vermeidungsstrategien, die diese Anfeindungen auch in anderen Fällen hervorgerufen haben.97 Ohne, wie gesagt, den Punkt überzubewerten können dieses und die folgenden Zeugnisse doch nicht als belanglos für Ibn Bāǧǧa angesehen werden. Wir wissen nämlich nicht nur aus biographischen Quellen, dass Ibn Bāǧǧa wiederholt als zindīq (»Ketzer«) angefeindet und deshalb sogar inhaftiert worden ist, wie oben schon erwähnt wurde, sondern wir haben zu Beginn des Abschiedsbriefes auch sein eigenes Zeugnis dafür, dass er auf dem Wege der Philosophie »der Gefahr ausgesetzt« war.98 Außerdem darf erwähnt werden, dass ein ansonsten wenig bekannter Schüler Ibn Bāǧǧas, Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn 96Maribel Fierro, Religious Dissension in al-Andalus: Ways of Exclusion and Inclusion, in: Al-Qanṭara 22 (2001), 463–487. 97Vgl. Fierro, Religious Dissension, 476. 98Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 89, 7–10; ed. Faḫrī, 113, 4–6; ed. Asín, 15, 6–8: »Ich habe Dir bereits an anderer Stelle den Weg bekannt gemacht, den zu beschreiten ich überzeugt bin. Dies ist der Weg, den Du – Gott stärke Dich – bereits zum Teil gegangen bist; und meine ihm folgende Lebensweise [sīra] ist bekannt. Ich bin auf ihm der Gefahr ausgesetzt
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ʿAbd al-Raḥmān Ibn Ǧūdī (gest. 530/1135),99 auf Grund seiner Philosophiestudien berüchtigt war und fliehen musste, als deswegen seine Rechtgläubigkeit in Frage stand. Er fand Zuflucht bei einer Räuberbande.100 Zusammenfassend kann man festhalten, dass die an der Figur Mālik Ibn Wuhaibs sichtbar werdende Lage der Philosophie im konkreten Umfeld Ibn Bāǧǧas mit den Stichwörtern sozialer und ideologischer Marginalität beschrieben werden kann. Einerseits bilden die Höfe der Taifa-Könige und anschließend der almoravidischen Herrscher und Statthalter mit ihrem kulturell gesättigten Milieu zwar den Nährboden für die Beschäftigung mit der Philosophie, andererseits konnte diese hier keinen eigenständigen Platz erobern, sondern blieb in ihren Anfängen stecken oder verblieb auf dem Niveau einer Populärphilosophie. Ibn Bāǧǧa und nach ihm Ibn Rušd sind die großen Ausnahmen in al-Andalus (während bei Ibn Ṭufail die Philosophie gleichfalls literarisch ruhiggestellt ist). Bei Ibn Bāǧǧa ist an der Gestalt seiner erhaltenen Texte noch die Mühe erkennbar, mit der die auf sich gestellte, lernende und glossierende Aneignung des philosophischen Erbes in eine explizite, öffentliche und nicht mehr nur rhapsodische, sondern systematisch entwickelte Form übergeht.
[wa-anā mutaʿarriḍ fīha li-l-ḫaṭar].« Während die biographischen Berichte in der Forschungsliteratur stets genannt werden, ist dieses Selbstzeugnis meist nicht beachtet worden. 99Zu einem biographischen Zeugnis, das ihn als sehr jungen Mann und Schüler Ibn Bāǧǧas zeigt vgl. Dunlop, Philosophical Predecessors, 112f. 100Vgl. Maribel Fierro, La religión, in: Historia de España Menéndez Pidal, Bd. 8, 2: El retroceso territorial de al-Andalus. Almorávides y Almohades, siglos XI al XIII, ed. María Jesús Viguera Molíns, Madrid 1998, 435–546, hier 471 mit Anm. 134 (die Quelle ist Ṣaʿīd al-Marrākušīs Muġrib). Diese Information ist bisher in der Ibn Bāǧǧa betreffenden Literatur nicht berücksichtigt worden.
2. Kapitel: Ibn Bāǧǧas Begriff der Philosophie Während wir im vorangegangenen Kapitel Möglichkeiten und Bedingungen der Philosophie in al-Andalus zur Zeit Ibn Bāǧǧas mit Hilfe »äußerer« Zeugnisse beleuchtet haben, müsste nun die von ihm auf diesem Feld getroffene Entscheidung für eine bestimmte Grundrichtung und für gewisse Methoden eigentlich anhand seiner eigenen Äußerungen und Überlegungen zu entsprechenden Fragen untersucht werden. Ein solcher Versuch steht jedoch vor der großen Schwierigkeit, dass Reflexionen dieser Art in Ibn Bāǧǧas Werk fast vollständig abwesend sind. So sucht man etwa vergebens nach Stellungnahmen, in denen Ibn Bāǧǧa sein eigenes Denken »falschen« Formen der Philosophie gegenüberstellte. Etwas Vergleichbares zu Ibn Sīnās Polemik gegen die Schule von Bagdad oder Ibn Rušds scharfe Kritik an Ibn Sīnā und Ibn Bāǧǧa selbst findet sich nicht.1 Der einzige zeitgenössische, ja der einzige arabische Philosoph, der kritisiert wird, ist al-Ġazālī, aber er wird von Ibn Bāǧǧa auch eher als Vertreter eines ganz anderen geistigen Projekts wahrgenommen, nämlich als Mystiker. Selbst anonyme Gegner tauchen kaum auf, wenn man von unspezifischen Hinweisen auf »die Anhänger der Seelenwanderungslehre« (ahl al-tanāsuḫ) absieht.2 Dieses Schweigen darf freilich nicht ohne weiteres als Zeichen dafür betrachtet werden, dass Ibn Bāǧǧa mit anderen Positionen und Personen nicht bekannt war. So wissen wir im Falle al-Baṭalyausīs, dass Ibn Bāǧǧa ihn persönlich kennengelernt hat, doch erwähnt er weder ihn noch die psychologischen und intellekttheoretischen Theorien seines Kitāb al-ḥadāʾiq jemals. Mit Ausnahme al-Fārābīs, der und dessen Schriften von Ibn Bāǧǧa ausgiebig genannt werden, 1Vgl. Amos Bertolacci, The »Andalusian Revolt Against Avicenna’s Metaphysics«: Averroes’ Criticism of Avicenna in the Long Commentary on the Metaphysics, bisher unveröffentlichter Vortrag aus Averroès, l’averroïsme, l’antiaverroïsme, XIVe symposium annuel de la SIEPM, Genf, 4.–6. Oktober 2006. Der Beitrag wird erscheinen in den Akten der Tagung: From Cordoba to Cologne: Transformation and Translation, Transmission and Edition of Averroes’s Works, Köln, 25.–28.10.2011; H. V. B. Brown, Avicenna and the Christian Philosophers in Baghdad, in: Samuel Miklos Stern, Albert Hourani, Vivian Brown (Hg.), Islamic Philosophy and the Classical Tradition, Essays presented by his friends and pupils to Richard Walzer on his seventieth birthday, Oxford 1972, 35–48; siehe auch Dimitri Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition. Introduction to Reading Avicenna’s Philosophical Works, Leiden 1988, 60–72. 2Zu al-Ġazālī vgl. Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 138, 10–139, 8; Faḫrī, 55, 8–56, 2; Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 96, 17–97, 14; Faḫrī, 121, 5–122, 2; Asín, 21, 22–22, 13. Zu den Anhängern der Seelenwanderungslehre vgl. etwa Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 200, 12f; Faḫrī, 170, 16; Asín, 21, 8.
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und zwar positiv selbst dort, wo er meint, selbst ein besseres Verständnis der Frage erreicht zu haben,3 glänzen alle anderen älteren und zeitgenössischen arabischen Philosophen durch Abwesenheit. Etwas Ähnliches hat man seit langem für al-Fārābī festgestellt, der seinen Vorgänger al-Kindī systematisch übergeht.4 Man darf hier sicher von einer Taktik des Verschweigens sprechen, die auch von Ibn Bāǧǧa und später von Ibn Rušd übernommen wird. Das insgesamt negative Urteil über al-Kindī in den Ṭabaqāt al-umam verdeutlicht,5 dass der Tatbestand nicht anders aufgefasst werden kann denn als schärfste Kritik: ›Dieses Denken ist so verfehlt, dass man es vernachlässigen kann; es hat nichts mit der Philosophie zu tun.‹ Kurz, bei aller Urteilsfreudigkeit, die Ibn Bāǧǧa sonst an den Tag legt (etwa wenn es darum geht, die Versuche arabischer Astronomen zu kritisieren)6, eine kontroverse Bestimmung seines philosophischen Standpunktes unterlässt er; ebenso übrigens wie eine positive Darlegung seiner Vorstellung davon, was es heißt, zu philosophieren. Der Interpret hat daher die schwierige Aufgabe, aus seiner eigenen Beschreibung von Ibn Bāǧǧas Vorgehensweise, aus ausgewählten methodischen und inhaltlichen Bemerkungen, sowie nicht zuletzt daraus, was Ibn Bāǧǧa nicht tut und nicht erwähnt, ein Bild zusammenzusetzen, das aber mehr als eine bloße Konstruktion sein soll. Beim gegenwärtigen Forschungsstand, sowohl zu Ibn Bāǧǧa selbst wie auch zur intellektuellen Kultur in alAndalus kann hier gegenwärtig nicht mehr als eine vorläufige Skizze erwartet werden, die es jedoch immerhin möglich machen dürfte, sich von summarischen und subjektiven Zuordnungen freizumachen, etwa solchen, die Ibn Bāǧǧa wegen einzelner und vereinzelt betrachteter doktrineller Elemente oder umgekehrt auf Grund eines nicht belegten und prinzipiell auch unbelegbaren »Gesamteindrucks« bescheinigen, einem starken neuplatonischen Einfluss zu unterliegen. Die vorstehenden externen Beobachtungen dürften dabei helfen, den Realitätsgehalt der nun folgenden Darstellung zu sichern und zu belegen.
1. Das Verhältnis von Theorie und Praxis Zum Ausgangspunkt mögen hier Aussagen dienen, an denen sich Ibn Bāǧǧas Auffassung vom Status der Philosophie überhaupt klären läßt. Die Frage nach dem Status hat einen doppelten Sinn, sie kann epistemologisch und sie kann 3Vgl. Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 89, 19–21; Faḫrī, 114, 4–6; Asín, 15, 16–19. 4Vgl. Peter Adamson, Al-Kindi, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2008 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL: http://plato.stanford.edu/archives/fall2008/entries/al-kindi/: »authors like al-Farabi and Averroes hardly mention al-Kindi by name (al-Farabi never does so, and Averroes does so only to criticize his pharmacological theory).« 5Ṣāʿid al-Andalusī, Kitāb ṭabaqāt al-umam, ed. Cheikho, 51, 7–52, 17. 6Vgl. Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 77f; Samsó, Sobre Ibn Bāyya y la astronomía.
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politisch verstanden werden. Es dürfte nicht verwundern, dass beide Aspekte für Ibn Bāǧǧa aufs engste miteinander verbunden sind – er reiht sich damit in eine breite antike und mittelalterliche Tradition ein.7 Es ist aber zunächst schon als bedeutend festzuhalten, dass Ibn Bāǧǧa die Philosophie überhaupt als einen »Weg« (sabīl) und eine »Lebensweise« (sīra) betrachtet und dass er, wir haben es soeben gesehen, sie als seine Lebensweise bezeichnet.8 Bereits damit wird der Philosophie mehr als nur eine intellektuell autonome Stellung eingeräumt, es wird ihr nämlich zugestanden, dass sie allein eine eigene Art der Lebensführung begründen kann. So ist das Verhältnis von Religion und Philosophie zwar noch nicht genau geklärt, es ist aber deutlich, dass die Philosophie die auch lebenspraktisch orientierende Größe ist, und eben nicht die Religion. Insofern ist die geäußerte Vermutung, der in Abaelards Dialogus auftretende Philosoph, der seinen äußeren Kennzeichen nach ein Muslim, seinem Auftreten nach aber eben ein Philosoph im antiken Sinne ist, sei nach Gerüchten über Ibn Bāǧǧa modelliert, zumindest strukturell treffend, auch wenn sie historisch auf schwachen Füßen steht.9 Ibn Bāǧǧas Verständnis vom Status der Philosophie speist sich einerseits aus dem politischen Platonismus al-Fārābīs und andererseits aus einer eigenständigen Lektüre der Nikomachischen Ethik, die Ibn Bāǧǧa dazu führt, al-Fārābīs Thesen noch einmal zuzuspitzen.10 Wie wichtig gerade auch dieser aristotelische Anteil an Ibn Bāǧǧas praktischer Philosophie ist, der erst in jüngster Zeit überhaupt wahrgenommen wurde,11 werden die folgenden Beobachtungen verdeutlichen. Unser Ausgangspunkt ist eine Passage in Ibn Bāǧǧas Abschiedsbrief, in der er eine Aussage al-Fārābīs aus dessen Ausgewählten Aphorismen interpretiert: [T 1] »Deshalb sagt Abū Naṣr [al-Fārābī]: ›Nimm an, dass ein Mensch alles weiß, was in den Büchern des Aristoteles steht, aber nichts von dem tut, was in ihnen steht, während ein anderer handelt, aber nichts weiß. Dann ist der 7Vgl. dazu Vallat, Farabi et l’école d’Alexandrie, insbesondere Kapitel 5 und 9. 8Siehe oben, Kapitel 1, Anm. 98. Die Philosophie ist an dieser Stelle zwar nicht namentlich genannt, aber der Kontext des Abschiedsbriefes lässt keine andere Interpretation zu. Die im Folgenden zitierten Passagen werden das bestätigen. 9Vgl. Jean Jolivet, Abélard et le philosophe (occident et islam au XIIe siècle), in: Revue de l’histoire des religions 164 (1963), 181–189. 10Zur Einreihung al-Fārābīs in den politischen Platonismus vgl. die überzeugenden Ausführungen in Dominic J. O’Meara, Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003, 185–198. 11Vgl. Makram Abbès, Gouvernement de soi et gouvernement des autres chez Avempace, in: Studia islamica 100–101 (2005), 113–160; ders., Le statut de la raison pratique chez Avempace; Jules Janssens, Ibn Bājja and Aristotle’s Political Thought, in: Vasileios Syros (Hg.), Well Begun is Only Half Done: Tracing Aristotle’s Political Ideas in Medieval Arabic, Syriac, Byzantine, and Jewish Sources, Tempe 2011, 73–95, der sich 89f auch kurz zu Ibn Bāǧǧas hier kommentierter Auslegung von al-Fārābī äußert.
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handelnde Unwissende besser als der unterlassende Wissende.‹ Auf Grund dieser und ähnlicher Aussagen meint man, die Tugenden seien das Letztziel. Tatsächlich aber behauptet diese Aussage das Gegenteil von dem, was angenommen wird. Denn so verhält sich die Vorbereitung zum Letztziel.«12 Ibn Bāǧǧas Stellungnahme wird besonders sprechend, wenn wir sie zugleich mit derjenigen Ibn Sīd al-Baṭalyausīs vergleichen, die oben bereits angesprochen wurde, und die sich auf eine der von Ibn Bāǧǧa genannten »ähnlichen Aussagen« al-Fārābīs bezieht, auch wenn al-Baṭalyausī sie Aristoteles in den Mund legt: [Z 1] »Das Ziel besteht nicht darin, dass wir nur wissen; vielmehr besteht das Ziel darin, dass wir wissen und handeln und gut, tugendhaft und gesetzestreu sind.«13 Dieses Zitat stammt, wie nachgewiesen worden ist, aus al-Fārābīs Kompendium der Topik, Kitāb al-ǧadal,14 aber der gesamte Kontext von al-Baṭalyausīs Argumentation ist al-Fārābīs Unterscheidung des wahren und des falschen Philosophen in der Erlangung der Glückseligkeit (Taḥṣīl al-saʿāda).15 Auf die Wichtigkeit dieser Schrift für das philosophische Milieu in Saragossa, aus dem Ibn Bāǧǧa stammt, ist oben hingewiesen worden. al-Fārābī erklärt dort, dass die Philosophie im eigentlichen Sinne zwar die theoretischen Wissenschaften sind, durch die intelligible Gehalte mittels evidenter Beweise gewusst werden, dass diese aber »mangelhafte Philosophie« sind, falls sie isoliert bleiben und falls derjenige, der sie besitzt, nicht in der Lage ist, sie zum Nutzen anderer einzusetzen. Es gibt keinen Unterschied zwischen
12Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 110, 6–11; Faḫrī, 134, 11–15; Asín, 33, 2–6. 13Ibn Sīd al-Baṭalyausī, Masʾala [ fī l-Waqqašī], in: Asín, La tésis de la necesidad de la revelación, 380–383, hier 382, 25–27. 14al-Fārābī, Kitāb al-ǧadal, in: al-Manṭiq ʿind al-Fārābī, ed. Rafīq al-ʿAǧam, Bd. 3, Beirut 1986, 13–107, hier 69. Vgl. Abdelali Elamrani-Jamal, Ibn al-Sīd al-Batalyūsī et l’enseignement d’alFārābī, in: Bulletin d’études orientales 48 (1996), 154–165, hier 160 mit Anm. 17. Ein bedeutender Eingriff al-Baṭalyausīs in al-Fārābīs ursprüngliche Aussage, der von Elamrani-Jamal nicht als solcher kenntlich gemacht ist, besteht darin, dass die von al-Fārābī nur auf »die praktische Kunst« (al-ṣināʿa al-ʿamalīya) bezogene Bestimmung auf die gesamte Philosophie angewendet wird. 15Elamrani-Jamal, Ibn al-Sīd al-Baṭalyūsī, 160 mit Anm. 16, zitiert den Taḥṣīl al-saʿāda bereits als mögliche Quelle einer einzelnen Aussage al-Baṭalyausīs, nämlich der Nachahmungsrelation der Religion gegenüber der Philosophie. Aber der Einfluss genau dieses Textes ist noch viel bedeutender, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden. Die Unterscheidung zwischen wahrem und falschem Philosoph findet sich bei al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 190, 8–196, 2; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 47–49 (§ 59–62); und bei Ibn Sīd al-Baṭalyausī, Masʾala [ fī l-Waqqašī], ed. Asín, 382, 16–20 und 383, 4–8.
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dem vollkommenen Philosophen und dem ersten Herrscher.16 Auf dieser Grundlage stellt al-Fārābī der wahren Philosophie die »verkrüppelte« Philosophie gegenüber, deren verschiedene Formen gemeinsam haben, dass derjenige, der sich zum Erwerb der theoretischen Wissenschaften anschickt, nicht die natürlichen Begabungen und Voraussetzungen zum Philosophen besitzt. Neben den intellektuellen Voraussetzungen gehören dazu gerade auch eine intakte Moral, gezügelte Begierden und »dass er eine richtige Überzeugung besitzt von den Ansichten [ārāʾ] der Religion [milla], in die er hineingeboren wurde, und dass er an den tugendhaften Handlungen festhält, die in seiner Religion [Gültigkeit besitzen], und dass er gegen alle oder [doch zumindest] die meisten von ihnen nicht verstößt«.17 Anschließend erklärt al-Fārābī, warum diese Bedingungen so wichtig sind: Ein philosophischer Hochstapler (muzawwir), der von Natur aus nicht zu den theoretischen Wissenschaften geeignet ist, wird, was er davon gelernt hat, schnell wieder verlieren. Ebenso wird ein eitler (bahraǧ) Philosoph, der zwar die Wissenschaft erworben hat, sich aber nicht an die allgemein anerkannten Tugenden seiner Religion hält, die Wissenschaft mit der Zeit aufgeben, weil die Leidenschaften, denen er sich hingibt, ihn davon abziehen. Gleiches sagt al-Fārābī allerdings nicht vom falschen (bāṭil) Philosophen, dessen Fehler allein darin besteht, dass er zwar die theoretischen Wissenschaften, nicht jedoch die Vollendung besitzt, diese auch bei anderen hervorzubringen.18 Der von Ibn Bāǧǧa paraphrasierte Abschnitt aus den Ausgewählten Aphorismen fügt sich nahtlos in diese Lehre ein und erklärt dabei zugleich genauer, warum der Religion diese Bedeutung selbst für den Philosophen zukommt. alFārābīs Argumentation an dieser Stelle gründet auf der Unterscheidung zwischen dem »was der allen gemeinsamen Vorannahme nach gut ist« (bādiʾ al-raʾy al-muštarak ʿind al-ǧamīʿ) und dem was »in Wahrheit« (fī l-ḥaqīqa) oder »nach überprüfter Annahme« (raʾy qad tuʿuqqiba) gut ist; und sie gründet weiter auf der angenommenen Verbindung zwischen beiden.19 Die Philosophie bestehe 16al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 180, 12–183, 12; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 42f (§§ Ende 51–Anfang 54). Dazu, dass die theoretische Wissenschaft die Kernbedeutung von »Philosophie« ist, vgl. auch § 57; zur Definition der »Theorie« § 2. 17al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 191, 7–193, 4, Zitat 192, 11–13; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 48 (§ 60). 18al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 193, 5–195, 2; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 48f (§ 61). 19Es handelt sich um den Aphorismus 93 in der Zählung Dunlops: al-Fārābī, Fuṣūl al-Madanī. Aphorisms of the Statesman, edited with an English translation, introduction, and notes by D. M. Dunlop, New York 1961, arab. 169f, engl. 76f; Aphorismus 98 in: al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa, ed. Fauzī Mitrī Naǧǧār, Beirut 1971, 100f, der diesen und einige weitere als Zusatz beurteilt, die in der ursprünglichen Fassung nicht enthalten gewesen seien (vgl. Naǧǧār, 16 und 100, Anm. 17). Tatsächlich weist Naǧǧārs editorische Einleitung aber aus, dass Aphorismus 93 neben der von Dunlop benutzten Handschrift Chester Beatty 3714 in mindestens einer weiteren auftaucht (Istanbul, Millet Library, Faiḍ Allah Efendi 1279, vgl. Naǧǧār, 17). Insofern eine wirk-
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nämlich, so al-Fārābī, sowohl der Vorannahme als auch der Wahrheit nach darin, »dass der Mensch die theoretischen Wissenschaften erwirbt und dass alle seine Handlungen im Einklang sind mit dem, was der gemeinsamen Vorannahme nach und der Wahrheit nach gut ist«. Nun behauptet al-Fārābī auf Grund dieser doppelten Zielsetzung, dass von zweien derjenige, der alles wisse, was »die Schriften des Aristoteles« enthalten – und zwar in Naturwissenschaft, Logik, Metaphysik, Politik und Mathematik –, dessen Handlungen aber nicht mit der allen gemeinsamen Vorannahme übereinstimmen, weiter davon entfernt ist, ein Philosoph zu sein, als ein anderer, dem dieses Wissen fehlt, dessen Handlungen aber der Vorannahme konform sind. Dies wird damit begründet, dass es eher in der Macht des Unwissenden steht, sich das Wissen anzueignen, als in der Macht des Wissenden, sich der Handlungsweisen zu befleißigen. Und zwar ist das deshalb der Fall, weil der nonkonforme Theoretiker durch »seine festverwurzelte Gewohnheit« daran gehindert wird, der allen gemeinsamen Vorannahme nach zu handeln, und damit aller Wahrscheinlichkeit nach (aḥrā an) auch daran gehindert wird, das in Wahrheit Gute zu tun. Dagegen hindert den konformen Unwissenden nichts daran, sich die theoretischen Wissenschaften und die wahrhaft guten Handlungen anzueignen. Denn, so al-Fārābī, es entspricht der Vorannahme selbst, dass eine überprüfte Annahme besser ist, und sie verlangt daher eher, dass man das in Wahrheit Gute tut als dass man der unüberprüften Vorannahme folgt. Mit anderen Worten, die herrschende Meinung über richtiges Handeln bedarf zwar der Überprüfung und ist nicht identisch mit der Wahrheit über richtiges Handeln, aber sie steht mit ihr doch in so engem Zusammenhang, dass sie eine Disposition dazu vermitteln kann. Die bloße Theorie dagegen ist nicht in der Lage, diese Disposition zu wahrhaft richtigem Handeln zu schaffen. Ibn Bāǧǧas Darstellung macht diesen Zusammenhang ausdrücklich, insofern er verkürzend davon spricht, dass der Wissende »nichts von dem tut, was in ihnen [= den Büchern des Aristoteles] steht« (T 1). Das heißt, das in Wahrheit Gute, das der Wissende unterlässt, indem er seine Handlungen nicht der Vorannahme anpasst, ist das Gute, das aus der theoretischen Reflexion selbst folgt. Auf unseren Ausgangspunkt zurückkommend heißt das, dass laut al-Fārābī die Befolgung der Regeln der Religionsgemeinschaft für den Philosophen deshalb verbindlich ist, weil sie ihn überhaupt erst in die Lage versetzt, der philosophischen Ethik zu folgen. Damit erhält die Religion bei al-Fārābī eine durchaus ambivalente Stellung, insofern zwar ihre Notwendigkeit behauptet, ihr jedoch zugleich das letzte Wort entzogen wird. Außerdem fehlt es in den beiden betrachteten Texten nicht an Hinweisen, dass erstens ein sicherer Erwerb der Theorie auch möglich ist, liche, textkritische Studie dieser Schrift al-Fārābīs fehlt und Ibn Bāǧǧas Bezugnahme eindeutig genug ausfällt, halte ich es gegenwärtig für die überzeugendste Annahme, dass Ibn Bāǧǧa eine mehr oder minder vollständige Version der Ausgewählten Aphorismen vorlag und dass dieser Abschnitt integraler Bestandteil des Textes ist.
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wenn die Fähigkeit zur gesetzgeberischen Umsetzung der Erkenntnis fehlt (der »falsche« Philosoph), sowie dass Konformität beileibe nicht mit allen, sondern nur mit den meisten Regeln der Religionsgemeinschaft notwendig ist, dass das Verhältnis also tatsächlich ein instrumentelles ist.20 Man kann nun sehen, dass Ibn Bāǧǧa und al-Baṭalyausī al-Fārābīs Position in entgegengesetzte Richtungen entwickeln. Während al-Baṭalyausī die Verpflichtung des Philosophen betont, sich dem Religionsgesetz zu unterwerfen, und dabei alle Einschränkungen, besonders aber den vorläufigen und relativen Status des Religionsgesetzes fallen lässt, tendiert Ibn Bāǧǧa dazu, die bei alFārābī gegebene doppelte Verbindung von Theorie und Praxis aufzulösen. Denn während für al-Fārābī das richtige Handeln sowohl Voraussetzung wie Folge des Erwerbs theoretischer Erkenntnis ist, macht Ibn Bāǧǧa es zur bloßen »Vorbereitung« (tauṭiʾa). In dieser weiteren Entwertung des Praktischen manifestiert sich Ibn Bāǧǧas radikalisierenden Lektüre der Nikomachischen Ethik: Denn seine (später von Maimonides prominent aufgenommene) hierarchische Anordnung von vier Vollendungen, innerhalb derer die moralischen Tugenden lediglich als Ermöglichungsgrund der intellektuellen Vollendung erscheinen, orientiert sich zwar auf Schritt und Tritt an Aussagen und Einteilungen des Aristoteles, weicht von diesem aber gerade darin ab, dass der Modus der Ordnung umgedeutet wird.21 Während Aristoteles Güter unterscheidet, die trotz ihrer Einordnung in eine Werthierarchie von einander unabhängige Güter bleiben, übersteigert Ibn Bāǧǧa den von Aristoteles angewandten Maßstab der Autarkie – die er übereinstimmend mit diesem im vollen Sinne nur der Tätigkeit des Intellekts zuerkennt – so dass aus der Güterordnung eine transitive Aufstiegsbewegung zur Theorie wird. Der in der politischen Tätigkeit gipfelnde Bereich moralischer Tugenden ist daher bei Ibn Bāǧǧa weniger der zweitbeste Entwurf eines gelingenden Lebens als vielmehr ein untergeordneter Bereich des Lebens, der, wenn er sich verselbständigt, seinen wesentlichen Zweck gerade verfehlt. So wird al-Fārābīs politischer Platonismus verwandelt, indem ihm die zweite Hälfte der Bewegung zwischen Praxis und Theorie amputiert wird. Statt nämlich von der Theorie den Bogen zurück zur Praxis zu schlagen, macht sich Ibn Bāǧǧa die bei Aristoteles unbezweifelbare absolute Vorrangstellung der Theorie zu nutze, um die Bewegung als eine einfache Aufstiegsbewegung beim Erreichen theoretischer Vollendung anzuhalten. Dass dagegen die Güterhierarchie überhaupt als Vollendungsbewegung begriffen wird, verdankt sich wiederum dem durch al-Fārābī vermittelten platonischen Element, dass darin radikalisierend auf die aristotelische Ethik wirkt. Man muss bei Ibn Bāǧǧa also einen rigorosen 20Zur genannten Einschränkung vgl. erneut Anm. 17 und al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa, ed. Naǧǧār, 100, 16. 21Vgl. dazu und zum Folgenden die ausgezeichnete Darstellung bei Alexander Altmann, Maimonides’ ›Four Perfections‹, in: Israel Oriental Studies 2 (1972), 335–355.
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Intellektualismus feststellen, der dadurch entsteht, dass die entsprechenden Momente in der platonischen politischen Theorie und der aristotelischen Ethik sich unter Ibn Bāǧǧas Hand gegenseitig verstärken.
2. Von Aristoteles’ »Vortrefflichem« zu Ibn Bāǧǧas »Einsamen« Mit dieser Erkenntnis eröffnet sich auch die Möglichkeit einer differenzierten Antwort auf die eifrig debattierte Frage, ob Ibn Bāǧǧas berühmte Theorie des »Einsamen« oder »Einsiedlers« (mutawaḥḥid) aus der Linie der islamischen politischen Philosophie ausschert, die vor ihm bei al-Fārābī und nach ihm bei Ibn Rušd lautet, dass die Vollendung des Philosophen nur im vollkommenen, nämlich im Philosophenstaat möglich ist.22 Man kann nämlich einerseits feststellen, dass Ibn Bāǧǧa die Herauslösung des Philosophen aus dem Kontext politischen Handelns als durch die realen Umstände erzwungene Maßnahme begreift, die er selbst als »Amputation« beschreibt.23 Richtig ist auch, dass er sich dafür auf einen bedingten Dispens des Philosophen von der Politik berufen kann, den vor ihm bereits Platon selbst ausgesprochen hat,24 und weiterhin dass er den Solitär als Keim eines möglichen Philosophenstaates begreift.25 Andererseits muss man beobachten, dass Ibn Bāǧǧa der gelegentlichen Behauptung, die intellektuelle Vollendung sei nur im vollkommenen Staat möglich, in seinen Ausführungen keinerlei Substanz verleiht, ja dass sie dem Projekt der Lebensführung des Einsamen widerspricht.26 Denn Ibn Bāǧǧa lässt gerade keine Zweifel daran erkennen, dass der Solitär die höchste Erkenntnis erreichen kann (vgl. T 3). Möglich wird diese Zuversicht aber dadurch, dass Ibn Bāǧǧa die Theorie im Sinne des zehnten Buchs der Nikomachischen Ethik als vollständig autonome Tätigkeit begreift, die zur Praxis nur eine einseitige und bedingte Beziehung hat, der letztlich bereits dann Genüge getan ist, wenn es dem Solitär gelingt, innere und äußere 22Für eine starke Differenz hat Erwin I. J. Rosenthal, Politische Gedanken bei Ibn Bāǧǧa, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 81 (1937), 153–168 und 185–186, argumentiert; vgl. auch ders., The Place of Politics in the Philosophy of Ibn Bajja, in: Islamic Culture 25 (1951), 187–211; ders., Ibn Bājja: Individualist Deviation, in: Political Thought in Medieval Islam, Cambridge 21962, 158–174. Für einen neueren Beitrag in Rosenthals Geiste siehe Michael Kochin, Weeds: Cultivating the Imagination in Medieval Arabic Philosophy, in: Journal of the History of Ideas 60 (1999), 399–416. Die Gegenposition vertreten Oliver Leaman, Ibn Bājja on Society and Philosophy, in: Islam 57 (1980), 109–119; Maribel Fierro, Spiritual Alienation and Political Activism: The Ġurabāʾ in al-Andalus During the Sixth/Twelfth Century, in: Arabica 47 (2000), 230–260, hier 248–253. 23Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 125, 10–16; Faḫrī, 41, 17–21. 24Platon, Politeia, 520b. 25Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 164, 5–8; Faḫrī, 80, 3–6. 26Dies trotz der von Ibn Bāǧǧa ausgesprochenen Einschränkung, vgl. Ibn Bāǧǧa, Tadbīr almutawaḥḥid, ed. Genequand, 127, 13–18; Faḫrī, 43, 15–19.
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Behinderungen seiner intellektuellen Betätigung aus dem Weg zu räumen. Es besteht daher bei Ibn Bāǧǧa eine wohl nicht endgültig aufzulösende Spannung zwischen dem Philosophenstaatsmodell, an dem er formal festhält und das er nur unter dem Eindruck der politischen Realität zurückstellt, und dem radikalen Intellektualismus, dem er sich in diesem Zusammenhang verschreibt. Denn die Eigendynamik dieses Intellektualismus führt ihn zu einer Theorie, für die eine Individualethik völlig ausreicht. Ohne einseitige Abhängigkeitsbehauptungen aufzustellen kann man doch bemerken, dass dieses Verständnis von Philosophie hervorragend dem geistig-sozialen Milieu Ibn Bāǧǧas entspricht, das oben analysiert worden ist. Sowohl die religiöse Indifferenz, die aus Ṣāʿids Präsentation der Wissenschaften spricht, wie der elitäre Hofkontext, der das Studium der philosophischen Texte ermöglichte oder gar beförderte, ohne ihm je eine gesellschaftlich relevante Stellung zu geben, passen zu Ibn Bāǧǧas erklärter Ansprache einiger weniger »Brüder«27 oder, wie er den Philosophen in der Lebensführung des Einsamen nennt, des »vereinzelten Unkrauts« (al-nābit al-mufrad).28 Diese und ähnliche Adressierungen finden sich zwar nur in den Abhandlungen Ibn Bāǧǧas, nicht in seinen Kommentaren, aber letztere bestätigen den hergestellten Zusammenhang schon dadurch, dass sie ihrer ganzen Anlage und literarischen Form nach jede Breitenwirkung ausschließen. Weder lassen sie eine »Veröffentlichungsabsicht« erkennen, noch zeigen sie Spuren einer systematischen Lehrtätigkeit. Höchstens waren sie geeignet für ein »intellektuelles Treffen« (liqāʾ ʿaqlī) mit einem Gleichgesinnten, wie Ibn Bāǧǧa es am Ende des Abschiedsbriefs erwähnt.29 Tatsächlich hat er ja, wie wir zu Beginn der Einleitung gesehen haben, bei Gelegenheit eines solchen Treffens seine Kommentare von Ibn al-Imām abschreiben lassen. Mit anderen Worten, Ibn Bāǧǧas spezifische Ausprägung des philosophischen Intellektualismus ist das Spiegelbild der Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Anspruch und der politischen Wirklichkeit der Philosophie zu seiner Zeit. In diesem Sinne darf man sicher auch seine Verknüpfung weiterer aristotelischer Motive mit dem Modell des Philosophenstaats verstehen, das dabei gleichsam nur als eine den abstrakten »Natur«- und Idealzustand beschreibende Kulisse dient. Das persönlichste und emphatischste Bekenntnis Ibn Bāǧǧas zur Philosophie findet sich nämlich bemerkenswerterweise im Kontext einer Beschreibung 27Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 90, 14; Faḫrī, 115, 1; Asín, 16, 13. 28Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 127, 18f; Faḫrī, Rasāʾil Ibn Bāǧǧa, 43, 19. Vgl. in diesem Sinne auch die Ausführungen von Sarah Stroumsa, Philosopher-King or Philosopher-Courtier? Theory and Reality in the Falasifa’s Place in Islamic Society, in: Cristina de la Puente (Hg.), Identidades Marginales (Estudios onomásticos-biográficos de al-Andalus 13), Madrid 2003, 433–459, hier 450–452, die auch die starke Präsenz isolationistischer Motive in der gesamten Tradition von Platon bis al-Fārābī hervorhebt. 29Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 118, 22–119, 3; Faḫrī, 142, 17–143, 3; Asín, 39, 25–40, 3.
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der Ziele, welche »die Leute der heute bestehenden Lebensweisen« [ahl al-siyar al-mauǧūda al-yaum] verfolgen. Er stellt zunächst zwei Ziele fest, erstens »das, was die Leute einer jeden Schule [maḏhab] für gottgefällig halten« und zweitens ein aus Wohlstand und Ehre gemischtes Ziel. Konsequente Anhänger des erstens Ziels seien in den meisten Gesellschaften äußerst selten, denn häufig werde dieses Ziel aufgegeben, wenn das zweite auch ohne gottgefällige Handlungen erreichbar sei.30 Diese Feststellung ermöglicht Ibn Bāǧǧa ein wenig später auch eine ebenso knappe wie hellsichtige Analyse des gesellschaftlichen Ansehens der Philosophie: Wer die Wissenschaft der Ehre wegen studiert, sucht sie nicht als Ziel, sondern nur aus akzidentellen Gründen und er wird sie deshalb fallen lassen, sobald sie ihm kein Ansehen mehr verschafft. »Das ist die Ursache dafür, dass die meisten Leute die Weisheit [ḥikma] meiden, da sie glauben, dass sie zu den heidnischen Lebensweisen [al-siyar al-ǧāhilīya] gehört.«31 Mit anderen Worten, beide prinzipielle Ziele der zeitgenössischen Gesellschaft wirken zusammen bei der Marginalisierung der Philosophie: Es gibt kaum ein ernsthaftes Interesse für die Philosophie, sondern sie ist allenfalls Teil eines nach Ansehen haschenden Verhaltens. Das durch Philosophie zu erlangende Ansehen ist aber gering, weil sie als vorislamisch und heidnisch gilt, das heißt, weil sie nach Ansicht der herrschenden »Schule« nicht gottgefällig ist. Ironischerweise gelingt es der religiösen Meinungsführerschaft damit, die Philosophie zu unterdrücken, obgleich die religiöse Observanz der Menschen selbst der Aufrichtigkeit und des Ernstes entbehrt. Man könnte Ibn Bāǧǧas Überlegung so wiedergeben: Es gibt ein Vorurteil gegen die Philosophie, das deshalb nicht durchbrochen wird, weil alle nur an materiellen Vorteilen interessiert sind und sich daher problemlos mit der herrschenden Ideologie arrangieren. Kommen wir jedoch auf Ibn Bāǧǧas Beobachtung der hauptsächlichen Ziele seiner Zeitgenossen zurück. Nachdem er nämlich die beiden genannten inhaltlichen Ziele erläutert hat, fügt er an, dass diese von einem weiteren Ziel übertroffen werden, das häufig gar von den anderen ablenkt: die Lust (laḏḏa).32 Es gebe nun eine Vielzahl von Lüsten und während sich zwar alle Menschen einig seien, die sinnliche Lust als schändlich zu beurteilen, gingen die Meinungen über die anderen Lüste, zum Beispiel die Lust an Macht und Ehre, auseinander. Was eine Gruppe verurteilt, das preist eine andere, und umgekehrt.33 Das Studium der Philosophie führt Ibn Bāǧǧa nun als eine lustbringende Tätigkeit unter anderen ein:
30Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 95, 3–11; Faḫrī, 119, 15–22; Asín, 20, 11–19. 31Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 98, 17–99, 1, Zitat 98, 20–99,1; Faḫrī, 123, 6–10; Asín, 23, 10–14. 32Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 95, 11f; Faḫrī, 120, 1f; Asín, 20, 20f. 33Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 95, 15–19; Faḫrī, 120, 4–8; Asín, 20, 23–21, 1; vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, X. 5, 1176a3–12.
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»Das Genießen der Wissenschaften bei denen, die von Natur aus wissenschaftlich sind [ʿulūmī bi-l-ṭabʿ], gehört auch dazu.«34 Als Motiv für die Zuwendung zur Philosophie gilt also zunächst die kontingente, rein empirisch festgestellte Tatsache, dass diese Tätigkeit bestimmten Menschen das größte Vergnügen bereitet und sie sie deshalb als gut beurteilen. In diesem Sinne legt Ibn Bāǧǧa dann auch ein Bekenntnis ab, in das er den angesprochenen Ibn al-Imām und einige nicht näher bezeichnete »Gefährten« (aṣḥābunā) hineinzieht. [T 2] »Die wissenschaftliche Lust [al-laḏḏa al-ʿilmīya] fällt unter diese Art, und zwar bemächtigt sie sich zuweilen einiger Leute so sehr, dass sie zu ihrem [alleinigen] Ziel wird. Es gibt verschiedene Arten, darunter [den Wunsch] nach einer einzigen Wissenschaft oder nach mehreren oder nach der Wissenschaft überhaupt [al-ʿilm bi-l-iṭlāq], wie sie auch sei und welche Wissenschaft es auch sei, [nämlich] wenn die Philosophie [al-falsafa] schon vollkommen oder nahe an der Vollkommenheit ist. Es ist klar, dass es verschiedene Arten von Wissenschaft gibt, von denen einige den anderen dem Rang nach vorhergehen. Sie suchen deshalb den Genuss des Edelsten und das ist ihr Lebensziel, nur dass die notwendigen äußerlichen Dinge sie behindern, so dass sie eine gemischte Bewegung ausführen.35 Aber das gehört zu den notwendigen Bedingungen der philosophischen Beschäftigung [al-tafalsuf]. Zu dieser Art gehöre ich, gehörst Du und der Rest unserer Gefährten in ihrer je eigenen Weise – wenn Du Dich an sie erinnerst, wirst Du sie erkennen – ohne dass uns etwas bewegt als diese Lust allein. So bewegt uns zur Wissenschaft die Heftigkeit des Begehrens [tašawwuq] danach, und wir kennen wegen des Rangs unserer Tätigkeit über der Tätigkeit der restlichen Arten nichts besseres als das Eingeständnis der Leute, dass die Wissenschaft das vorzüglichste der menschlichen Dinge [afḍal al-ašyāʾ al-insānīya] ist, und das Eingeständnis der edlen unter ihnen, dass die wahre Wissenschaft die Gnade ist und der [höchste] Rang, gleichgültig, ob sie nützlich ist oder schädlich oder was wir sonst in den Worten der Vorväter [al-salaf] über die Wissenschaft finden.«36 Die Einführung des Motivs der Lust erweist sich als ein geschickter Schachzug, um aus einem gesellschaftlichen Kontext heraus, in dem die Philosophie allenfalls ein beargwöhntes Privatvergnügen ist, ein Modell zu vertreten, das sie als »vorzüglichstes der menschlichen Dinge« preist. Denn die Lust an der 34Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 95, 19f; Faḫrī, 120, 8f; Asín, 21, 1f. 35Gemeint ist wohl, dass die äußeren Notwendigkeiten sie dazu zwingen, zuweilen Handlungen auszuführen, die diesen Notwendigkeiten, nicht der Wissenschaft Rechnung tragen. Ihre Bewegung auf die Wissenschaft zu ist daher nicht stetig, sondern mit fremden Zielen »gemischt«. 36Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 95, 23–96, 11 (lies in 97, 7 al-ʿilm statt al-ʿamal; gleicher Fehler bei Faḫrī); Faḫrī, 120, 12–23; Asín, 21, 5–17.
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Wissenschaft und das Begehren nach ihr können zunächst einmal für sich beanspruchen, was die übrigen Lüste auch vorzuweisen haben, nämlich, dass kein Konsens darüber besteht, ob sie gut oder schlecht sind. Die Autorität der Tradition, der »Vorväter«, kann daher weitgehend ignoriert werden. Von diesem Standpunkt aus kann Ibn Bāǧǧa nun über die genaue Rolle der Lust reflektieren – und er widmet dieser Überlegung weite Passagen des Abschiedsbriefs –, um zu zeigen, dass die Lust nicht etwa das wesentliche Ziel der Philosophie, die Wissenschaft also kein beliebiger Weg zur Lust ist, sondern vielmehr die intrinsisch wertvollste Tätigkeit, die von der höchsten Lust lediglich begleitet wird. Ibn Bāǧǧa orientiert sich hier erkennbar an den Ausführungen der Nikomachischen Ethik (VII. 12–15; X. 1–5) zur Lust.37 In der Ethik tritt die Lust darum an zentraler Stelle auf, weil zu bestimmen – und in der Folge dann auch einzuüben – ist, woran wir jeweils Lust und Unlust empfinden sollen.38 Denn die Lust und ihr Gegenstück, die Unlust oder der Schmerz, gehören zu den Grundtatsachen des menschlichen – und nicht allein des menschlichen – Lebens. Überall wo Wahrnehmung – die geringste Form der Erkenntnis39 – anzutreffen ist, da findet sich auch Lust und Unlust, die wiederum Begehren oder Flucht nach sich ziehen. Das Lust und Schmerz Auslösende sind so die primitiven Formen des Guten und Schlechten.40 Gut ist formal stets das, was erstrebt wird, oder, anders ausgedrückt, man erstrebt stets ein (wirkliches oder vermeintliches) Gut.41 So sagt auch Ibn Bāǧǧa im Abschiedsbrief, dass es lächerlich wäre zu fragen, warum man Lust empfinden wolle. In allen »menschlichen Dingen« betrachten wir die Auskunft, dass es Lust bereitet, als nicht weiter hintergehbare Antwort auf die Frage, warum wir etwas tun.42 Das daraus resultierende Relativismusproblem lässt sich beseitigen, wenn man erkennt, dass die Lust kein unabhängiges Ziel, sondern vielmehr Begleiter des Erreichens einer jeden Vollendung ist. Damit ergibt sich eine Rangordnung 37Die genauere Analyse dieser Theorie der Lust und ihrer textuellen Bezüge bleibt einer gesonderten Studie vorbehalten. Die bisher einzige Untersuchung von Ibn Bāǧǧas Ausführungen zur Lust findet sich unter der Überschrift »Teoría del placer de Ibn Bāyya. Deleite estético contemplativo« in: J. M. Puerta Vílchez, Historia del pensamiento estético árabe. Al-Andalus y la estética árabe clásica, Madrid 1997, 630–635. Diese Darstellung hat zwei wesentliche Schwächen: Erstens versäumt sie es, die Theorie aus dem Kontext der Nikomachischen Ethik heraus zu lesen, an der Ibn Bāǧǧa sich in so eindeutiger Weise orientiert. Zweitens werden Ibn Bāǧǧas Überlegungen, dem Thema der Studie entsprechend, unter dem Gesichtspunkt der Ästhetik behandelt. Da erscheint dann die höchste Erkenntnis als eine »estética superior« (631), was einer Umkehrung von Ibn Bāǧǧas Perspektive gleichkommt. 38Aristoteles, Nikomachische Ethik, II. 3[2], 1104b3ff. 39Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 19, 99b32–100a1. 40Aristoteles, De anima, II. 2, 413b23f; II. 3, 414b1–6; III. 7, 431a8–14; III. 11, 433b31–434a3. 41Aristoteles, Nikomachische Ethik, I. 1, 1094a1–3; vgl. auch X. 2–3 und De anima, III. 10, 433b8–10. 42Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 99, 17–100, 4; Faḫrī, 124, 4–12; Asín, 24, 3–11.
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unter den Lüsten, die der bereits erwähnten Rangordnung unter den Vollendungen entspricht: Die intellektuelle Tätigkeit gewährt die höchste und dauerhafteste Lust, weil sie frei von gegensätzlichen Strebungen und Begierden ist und weil die Tätigkeit selbst die beständigste ist.43 Dauerhafte Lust, Begleiter einer dauerhaften Tätigkeit, wird nur in der Wissenschaft erreicht, weil die Allgemeinbegriffe (kullīyāt), die dort Gegenstand der Erkenntnis sind, unveränderlich sind. Eine wahrhaft ewige Lust erreicht man durch die höchste Erkenntnis, die Erkenntnis des Intellekts. Durch diesen Erkenntnisakt, in dem Erkennendes und Erkanntes identisch sind, entsteht der sogenannte »erworbene Intellekt«, der keiner materiellen Grundlage mehr bedarf.44 Es stellt sich mithin heraus, dass die scheinbar zufällige Lust an der Wissenschaft tatsächlich Zeichen für eine natürliche Ausrichtung auf das Ziel ist, welches in Wahrheit und von Natur aus das höchste Ziel darstellt. Diejenigen, die »der Natur nach wissenschaftlich« sind, erweisen sich als natürliche Elite, die selbst dort, wo die Erziehung zur Wissenschaft nicht stattfindet, das richtige Ziel wählen.45 Diese Konzeption, die man als Aufnahme des aristotelischen Ideals des »Vortrefflichen« (σπουδαῖος) sehen kann, findet ihren Niederschlag in der Vorstellung von den Philosophen als »Unkräutern« (nawābit) in den unvollkommenen Staaten, weil sie wahre Ansichten haben, die dort nicht vorkommen, und deshalb Kräutern gleichen, »die von selbst zwischen der Saat aufsprießen [nābit]«. Sie realisieren damit, was Ziel des vollkommenen Staates sein müsste,46 und können so grundsätzlich Keimzelle eines vollkommenen Staates sein. Erkenntnistheoretisches Pendant dieser Vorstellung ist die Annahme eines »natürlichen Begehrens« nach Erkenntnis, auf das sich Ibn Bāǧǧa vielerorts beruft, ja, dem er eine eigene Abhandlung widmet. Er geht davon aus, dass die ersten einfachen Intelligibilia, die durch Abstraktion von den Sinneseindrücken entstehen, ein Begehren nach wissenschaftlicher Erkenntnis auslösen, das erst mit Erreichen der höchsten Erkenntnis gestillt wird.47 43Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 100, 4–9; Faḫrī, 124, 12–16; Asín, 24, 12–16; Aristoteles, Nikomachische Ethik, I. 8[9], 1099a7–25; X. 5, 1176a24–29; X. 7, 1177a19–27; sowie VII. 14[15], 1154b15–31. 44Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 116, 21–117, 13; Faḫrī, 140, 19–141, 11; Asín, 38, 9–23. 45Siehe dazu auch al-Fārābīs Überlegung in der Erlangung der Glückseligkeit, die initiale Ausbildung des vollendeten Menschen, die im Regelfalle nur durch Erziehung erfolge, könne nur erklärt werden, wenn man annimmt, dass bei gewissen Individuen die natürlichen Eigenschaften bereits nahezu mit den angestrebten Vollendungen übereinstimmen; vgl. al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 160, 10–164, 11; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 32–34 (§§ 35–37). 46Vgl. Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 126, 9–17; Faḫrī, 42, 13–19. 47Vgl. T 51, T 86, N XI. 23–24. Siehe zu diesem Thema auch David Wirmer, Das natürliche Begehren des einsamen Philosophen. Bildung durch Wissenschaft bei Ibn Bāǧǧa und Ibn Ṭufail, in: Ludger Honnefelder (Hg.), Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee.
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Man sieht hier, wie oben angedeutet, wiederum das Ineinandergreifen der aristotelischen Individualethik und der platonisch-farabianischen Leitidee des Philosophenstaats. Die hierbei von Ibn Bāǧǧa zugrundegelegten Annahmen lassen sich noch deutlicher herausarbeiten, wenn man von zwei Aussagen des zitierten »Bekenntnisses« (T 2) ausgeht: der Bestimmung der Philosophie als »vorzüglichstes der menschlichen Dinge« und dem Verweis auf äußerliche Dinge als »notwendige Bedingungen der philosophischen Beschäftigung«. Was menschlich ist, bestimmt Ibn Bāǧǧa in der Lebensführung des Einsamen mit Aristoteles48 anhand der scala naturae durch das Vermögen, das allein dem Menschen im Unterschied zu allen anderen Seienden zukommt – die Vernunft.49 Das heißt jedoch nicht, dass allein die Handlungen der Vernunft, also das Denken, menschlich seien, es bedeutet lediglich, dass nur die Handlungen aus Vernunft menschlich sind. Menschliches Handeln definiert sich daher als durch iḫtiyār (=προαίρεσις) gelenktes Handeln, denn iḫtiyār – das mit »Freiheit« nur sehr ungenau wiedergegeben wäre50 – ist »auf Grund von Überlegung entstehender Wille«.51 Mit Ausnahme der Aspekte seiner Natur, die er mit allen materiellen Körpern und mit den einfachsten Lebensformen teilt (zum Beispiel Schwere und Ernährung) und die der »Willenswahl« und der Überlegung daher notwendig entgehen, sind die Handlungen des Menschen nur dann wahrhaft menschlich, wenn sie durch Überlegung gelenkt sind, während sie als »tierisch« zu klassifizieren sind, wenn sie unmittelbar aus der Affektation (infiʿāl=πάϑος) der sinnlichen Vermögen hervorgehen. Die Überlegung (rawīya=βούλευσις) dagegen ist stets eine auf ein Ziel hin gerichtete Reflexion, und Ibn Bāǧǧa kann daher sagen, dass jede Handlung, die nicht auf ein außerhalb ihrer liegendes Ziel ausgerichtet ist, tierisch ist. Nun gilt allerdings die Bedingung, eine Handlung müsse der Überlegung unterliegen, um menschlich zu sein, nicht für die Tätigkeiten der Vernunft selber: Begriff (taṣawwur) und Urteil (taṣdīq) sind notwendig, die Wahrheit verlangt Zustimmung. Das Denken (fikra) kennt mithin zwei Anwendungen, die Überlegung, die sich auf zu Tuendes richtet, und das
Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft, Berlin 2011, 206–240 und 482–486. 48Vgl. dazu Heinz Happ, Die Scala naturae und die Schichtung des Seelischen bei Aristoteles, in: R. Stiehl, H. E. Stier (Hg.), Beiträge zur Alten Geschichte und deren Nachleben, Bd. 1, Berlin 1969, 220–244. 49Die folgende Darstellung bezieht sich, soweit nicht anders angegeben, auf Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 128, 10–131, 22 und 142, 3–143, 17; Faḫrī, 45–48 und 58, 14–60, 4. 50So, beziehungsweise mit »freier Wahl«, übersetzen Asín, El régimen del solitario por Avempace, 65–67; Lomba, El régimen del solitario, 106ff; Campanini und Illuminati: Avempace, Il regime del solitario, testo arabe a fronte, a cura di Massimo Campanini e Augusto Illuminati, Mailand 2002, 105ff. 51Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI. 2, 1139a22–35.
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beweisende Denken, das sich auf die Erkenntnis der Wahrheit richtet. Die Überlegung sorgt für die gute Ordnung (intiẓām) der Tätigkeiten, die vom tierischen, das heißt sinnlichen Teil der Seele ausgehen, so dass das eigentlich Menschliche an ihnen nicht diese Tätigkeiten selbst sind, sondern ihre Ordnung – die Hinordnung auf die theoretische Vernunft. Wenn Ibn Bāǧǧa daher im Abschiedsbrief alles menschliche Handeln nur insofern als sinnvoll beurteilt, als es dem Letztziel dient, das in der Vollendung des Intellekts zum reinen Intellekt besteht,52 dann spricht daraus nur liminal, aber gerade nicht generell eine Entwertung anderer Bereiche des Lebens. Er übernimmt schlicht Aristoteles’ Unterscheidung zwischen dem Leben nach dem Intellekt, das eher göttlich als menschlich ist, und dem bloß menschlichen Leben.53 Selbst der wahre Philosoph jedoch, den Ibn Bāǧǧa einen »göttlichen, tugendhaften Menschen« nennt, hat an allen Arten menschlicher Tätigkeiten teil, ja er führt sie alle in der vortrefflichsten Weise aus, die möglich ist, gerade weil er eine Vollendung besitzt, die über sie hinausgeht. Mehrfach gebraucht Ibn Bāǧǧa das Bild vom Frommen und vom Heuchler, die beide das gleiche Gebet verrichten, der erste jedoch, um Gott zu gefallen, der letztere, um seinen Mitmenschen als Frommer zu erscheinen. Es ist allein das Ziel, das ein und derselben Handlung Wert oder Unwert verleiht. So teilt auch derjenige, der sein Leben auf die Erkenntnis ausrichtet, alle anderen menschlichen Tätigkeiten, nur dass er sie allein darum verrichtet, weil sie zur Erlangung von Erkenntnis notwendig sind und insofern sie zu ihr führen.54 So erfüllt der Philosoph, wie bereits angedeutet, das Ideal des »Vortrefflichen« (σπουδαῖος), der sich dadurch auszeichnet, dass er das an sich Gute zu seinem Gut macht und dadurch in allen seinen Handlungen zum Maß und Vorbild wird.55 Nur für ihn sind die niederen Vollendungen wie Gesundheit und materielle Güter wirklich gut, während sie bei anderen – mangels der richtigen »Orientierung« – geradezu ins Gegenteil umschlagen können.56 52Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 113, 3–5 (man folge der Lesart von B und verbessere in Zeile 3 zu mā lam yakun ġāya quṣwā und streiche in Zeile 4 das mā); Faḫrī, 137, 5–8; Asín 35, 11–14: »Der Handelnde ist nicht seinem Wesen nach edel, solange er nicht das Letztziel ist, so dass seine Tätigkeit seine Substanz ist, wie das vom Intellekt gesagt worden ist. Und durch all jene vollendet er sich nicht, sodass er nur existiert, um zu dienen; jene unterscheiden sich untereinander [noch einmal] hinsichtlich des Adels und der Vollendung.« 53Aristoteles, Nikomachische Ethik, X. 7–8. 54Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 118, 13–17; Faḫrī, 142, 10–13; Asín, 39, 18–21; Ibn Bāǧǧa, Fī l-ġāya l-insānīya, ed. Faḫrī, 103, 23–104, 5. 55Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, III. 6, 1113a25–34; X. 5, 1176a15ff. 56Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. 1[2], 1129b3–6; vgl. auch Eudemische Ethik, VIII. 3, 1248b26–34, dort: »Denn die stark umworbenen und in der Geltung am höchsten stehenden Güter, Ansehen, Reichtum, körperliche Vorzüge, Glück-Haben und Macht – das sind zwar natürliche Güter, aber sie haben die Eigentümlichkeit, für manche auch schädlich sein zu können, je nach deren (seelischer) Grundverfassung. Denn weder der Unverständige noch der Ungerechte oder der Zuchtlose kann vom Gebrauch dieser (Güter) einen Nutzen haben, wie
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Ibn Bāǧǧa nennt den Philosophen dann auch gerade deshalb göttlich, weil er alle seine Handlungen auf die Tätigkeit seines Intellekts hinordnet, dem sie ja von Natur aus untergeordnet sind, nicht etwa deshalb, weil er sie hinter sich lassen würde.57 Von neuplatonisch inspirierter »Entmaterialisierung« kann hier, anders als behauptet worden ist,58 keine Rede sein. Erst in der Vollendung der Philosophie, hört die Teilhabe am Menschlichen auf: [T 3] »Wenn er das Letztziel erreicht – und zwar besteht das darin, dass er die einfachen, substantiellen Intellekte erkennt, die in der Metaphysik, in De anima und in De sensu et sensato erwähnt werden – dann wird er dadurch einer jener Intellekte, und es ist zutreffend, von ihm zu sagen, dass er rein göttlich [ilāhī faqaṭ] ist; es verschwinden bei ihm die vergänglichen körperlichen Attribute und die edlen geistigen Attribute, und er ist eines einfachen göttlichen Attributs würdig.«59
auch der Kranke nicht aus der Nahrung des Gesunden […]« (Übersetzung: Dirlmeier). Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 131, 8–13; Faḫrī, 48, 7–11: »Deshalb ist auch derjenige, dessen tierische Seele stärker ist als seine rationale Seele, sodass er sich auf Grund seiner widersprechenden Begierde immer gegen seine Überzeugung auflehnt, ein Mensch demgegenüber [selbst] die anderen Tiere besser sind. Wie schön sagt man von ihm, dass er ein Tier ist, aber das Denken eines Menschen besitzt, wodurch er diese [tierische] Tätigkeit verbessern kann. Deshalb ist sein Denken ein weiteres Übel, das zu seiner Schlechtigkeit noch hinzukommt, so wie die gute Nahrung im kranken Körper wie Hippokrates [Aphorismen, l. 1, sect. 2, aphor. 10] sagt: ›Je mehr du den elenden Körper nährst, desto schlechter wird er.‹« Vgl. auch Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ (T 1 und die Folge), ed. Genequand, 110, 6–111, 1; Faḫrī, 134, 11–135, 4; Asín, 33, 2–16. 57Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 130, 19–131, 7 und 163, 15–23; Faḫrī, 47, 18–48, 5 und 79, 11–18. 58Joaquín Lomba, Lectura de la ética griega por el pensamiento de Ibn Bāŷŷa, in: Al-Qanṭara 14 (1993), 3–46, hier 20–28. 59Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 163, 23–126, 5; Faḫrī, 79, 18–80, 2; Asín, 61, 14–62, 5 (arab.), 100f (span.). In Zeile 61, 18 liest Asín auṣāf al-ḫassīya, Faḫrī 80, 2 dagegen auṣāf al-ḥissīya; ich nehme auf Grund des Hebräischen ( )תארי הגשמותauṣāf al-ǧismīya an; (jetzt bestätigt durch MS Taschkent laut Genequand: al-ǧusmānīya). Vgl. Ibn Bāǧǧa, Vom Verhalten des Einsiedlers, nach Mose Narbonis Auszug auf Grund mehrerer Handschriften herausgegeben von David Herzog (Qoveṣ ʿal yad 11), Berlin 1896, 14, 24f. Man lese zu unserem Zitat die folgende Anmerkung aus einer hebräischen Handschrift (a.a.O., Anm. 13): »Eine gute Einteilung. Siehe, wenn er sich der körperlichen Form zuwendet, ist er durch sie bloß Mensch, durch die individuelle spirituelle [Form] ist er ein edler Mensch, und durch die universelle spirituelle Form, die das Ziel ist, ist er göttlich und noch Mensch, bis er sich der absolut spirituellen [Form] zuwendet […?], nämlich der separaten Form, und dann wird er kein Mensch mehr sein, sondern ein einfacher, abgetrennter Intellekt. Aber davon ist hier nicht die Rede, denn wir sprechen nur vom Verhalten des Einsiedlers, während er Mensch ist, wie im folgenden [ich lese הבאstatt ]הכא Kommentar erklärt wird.« Meine Hervorhebungen. Zum vermutlichen Autor der Anmerkung vgl. David Wirmer, Le Grand Commentaire d’Averroès au De anima et ses lecteurs juifs, in: Arabic Sciences and Philosophy 17 (2007), 135–158, hier 151–156.
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Daher macht Ibn Bāǧǧa später, in seiner Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, einen deutlichen Unterschied zwischen den »Theoretikern« (al-naẓarīyūn) und den »Glückseligen« (al-suʿadāʾ).60 Die Ausrichtung des ganzen Lebens auf den Intellekt, die Ibn Bāǧǧa in erkennbarer Anlehnung an das zehnte Buch der Nikomachischen Ethik als imitatio Dei begreift – wir werden noch darauf zurückkommen –, kennt also zwei deutlich unterschiedene Etappen. Die letzte, die dann tatsächlich einen radikalen Wandel bedeutet, wird aber allein durch die Erkenntnisbewegung erreicht und nicht durch andere Praktiken, seien sie nun sozial oder antisozial. Für die gesellschaftliche Stellung des Philosophen ist daher nur die erste Etappe relevant, die sich, wie bereits erwähnt, durch Autarkie auszeichnet: Während alle anderen äußeren, körperlichen und geistigen Vollendungen des Menschen auf anderes und andere bezogen und damit von diesen abhängig sind, ist die intellektuelle Vollendung selbstgenügsam.61 Das impliziert eine natürliche Hierarchie unter den Menschen, wie Ibn Bāǧǧa unter Berufung auf das aristotelische Beispiel vom Zügelmacher und Reiter und sicher gestützt auf al-Fārābīs Ausführungen zum Thema,62 erklärt: Jeder, der nicht nach der dem Menschen eigentümlichen, also der intellektuellen, Vollendung strebt, dient mit seinen Vollendungen letztlich anderen, nicht sich selbst; der Philosoph allein bedarf keines
60Etwa Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 198, 12–15; Faḫrī, 168, 21–169, 1; Asín, 19, 25–28. 61Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 111, 5–9; Faḫrī, 135, 9–12; Asín, 33, 21–34, 2 (arab.), 75 (span.). Siehe auch Genequand, 113, 8–10; Faḫrī, 137, 10–12; Asín, 35, 17–19 (arab.), 78 (span.): »Es ist klar, dass dieser Intellekt überhaupt nicht dazu bestimmt ist, dass der Mensch damit jemals irgendeiner Sache in irgendeiner Art und Weise dient, vielmehr ist er nur dazu bestimmt, dass sich das vollende, von dem wir zuvor gesagt haben, dass es in Wahrheit der erste Beweger [im Menschen] ist.« Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, I. 7[5], 1097b6–21; X. 7, 1177a27–b1. 62Aristoteles, Nikomachische Ethik, I. 1, 1094a6–18. Aristoteles hierarchisiert zwar nominell nur die Tätigkeiten, nicht diejenigen, die sie ausüben, aber die weiteren Ausführungen in I. 2[1] lassen diese Übertragung durchaus zu. In der Politik I. 5 (natürlicher Sklavenstand) wird diese Folgerung dann explizit gezogen. al-Fārābīs Theorie scheint sich daran zu inspirieren, auch wenn die Politik selbst nicht in arabischer Übersetzung vorlag; vgl. Rémi Brague, Note sur la traduction arabe de la Politique d’Aristote. Derechef, qu’elle n’existe pas, in: Pierre Aubenque (Hg.), Aristote politique, Paris 1993, 423–433. Bei al-Fārābī lese man besonders einen Abschnitt aus der Schrift Aphorismen über den Staatsmann (die Ibn Bāǧǧa, wie wir oben gesehen haben, kannte), wo dasselbe Beispiel gebraucht wird: al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa, ed. Naǧǧār, 67–70 (§ 60 = Dunlop, § 56). Außerdem: Alfarabi on the Perfect State. Abū Naṣr al-Fārābī’s Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila, a revised text with introduction translation and commentary by Richard Walzer, Oxford 1985, V, 15, 4–8, besonders § 7 (240, 6–9): »[T]he art of the ruler in the excellent city of necessity cannot be a serving art at all and cannot be ruled by any other art, but his art must be an art towards the aim of which all the other arts tend, and for which they strive in all the actions of the excellent city.«
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anderen als sich selbst.63 Wenn die Philosophie so als die beste menschliche Tätigkeit etabliert werden kann, dann hat das unmittelbar Konsequenzen für die gesellschaftliche Stellung des Philosophen oder zumindest für die gesellschaftliche Stellung, deren er sich für würdig erachtet – erachten muss.64 Insofern der Philosoph die Tätigkeit ausübt, der alle anderen Tätigkeiten naturgemäß dienen und der sie daher untergeordnet sind, ist der Philosoph der natürliche Führer. Die gesellschaftliche Stellung bestimmt sich nach dem Ziel, das man seinem Leben gibt. Ibn Bāǧǧa fasst dieses ethisch-politische Prinzip folgendermaßen zusammen: [T 4] »Diese Ziele unterscheiden sich auf Grund der verschiedenen Naturen der menschlichen Individuen. So gibt es Menschen, die nur für das Schuhmacherhandwerk geeignet sind, und solche, die für anderes geeignet sind. Die Ziele – wie an vielen Stellen erklärt worden ist – dienen einander und sie laufen alle auf ein einziges Ziel hinaus. Das menschliche Ziel ist also eines, es ist führend, und jedes andere Ziel ist dienend. Der von Natur aus führende Mensch ist mithin derjenige, der auf dieses Ziel hin eingerichtet ist. Wer nicht auf dieses Ziel hin eingerichtet ist, der ist von Natur aus geführt. Es gibt daher von Natur aus geführte Menschen und solche, denen von Natur aus die Führung zukommt; und es gibt Leute, die Leute führen und die [ihrerseits] von anderen geführt werden. Es ist bereits an vielen Stellen erklärt worden, dass dieses Ziel ewig ist, weder entsteht noch vergeht und dass es entweder die Intelligibilia oder eines von ihnen ist.«65 Hier zeigt sich, warum das Modell des Philosophenstaats seine Funktion als Leitidee behält: Es entspricht einer natürlichen Ordnung, die der Philosoph verkörpert. Die Lust an den Wissenschaften, die Ibn Bāǧǧa bei sich selbst und einigen wenigen Gleichgesinnten feststellt, ist Unterpfand dieser natürlichen Ordnung, deren Verwirklichung dem Einzelnen wie dem Staat aufgegeben ist. Der Idealstaat kann daher durchaus als Messlatte für die realen Verhältnisse dienen. So wie dieser nämlich durch sein oberstes Ziel, die Philosophie, organisiert und zusammengehalten wird, so sind alle übrigen, unvollkommenen Staaten dadurch charakterisiert, dass in ihnen Dinge als Zweck aufgerichtet werden, die im Idealstaat bloße Mittel sind.66 Wie im Individuum so im Staat kommt das Übel daher von einer Inversion von Zweck und Mittel. Fast alle bekannten Staaten – und
63Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 116, 1–17; Faḫrī, 140, 1–14; Asín, 37, 17–38, 5 (arab.), 82f (span.). 64Vgl. Sokrates’ Vorschlag seines »Strafmaßes« in: Platon, Apologie, 36d–e. 65Ibn Bāǧǧa, Fī l-ġāya l-insānīya, ed. Faḫrī, 101, 6–13 (=T 4). 66Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 145, 23–146, 6; Faḫrī, 62, 7–11; Asín, 37, 9–15 (arab.), 71 (span.).
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diejenigen seiner Zeit nennt Ibn Bāǧǧa ganz ausdrücklich – zählen zu den unvollkommenen, setzen sich falsche Ziele.67 Entsprechende Missachtung erfährt die Philosophie; sie wird nicht als Vollendung wahrgenommen, eher im Gegenteil. Ibn Bāǧǧas philosophisches Ideal führt ihn jedoch nicht nur zur Kritik an den bestehenden Gesellschaften, sondern auch zu einer prinzipiellen Infragestellung ihrer Eliten. Im Idealstaat, so erklärt er, gibt es weder Ärzte noch Richter. Er bedarf keiner Richter, weil seine Bürger tugendhaft handeln und daher in Liebe verbunden sind,68 und keiner Ärzte, weil das rechte Handeln der Bürger auch die richtige Ernährung einschließt – auch dies ist eine Frage des rechten Ziels – und sie somit die meisten Krankheiten vermeiden; was die übrigen Erkrankungen angeht, so kann man darauf vertrauen, dass die gesunde Natur sich selbst heilt. Ebenso jedoch wie der Philosophenstaat dieser Wiederhersteller der guten Ordnung entbehren kann, haben die anderen Staatsformen – je mangelhafter desto mehr – Bedarf an ihnen. Je weiter ein Staat daher vom Idealstaat entfernt ist, desto höheres Ansehen genießen in ihm die Richter und Ärzte.69 Diese Überlegung, in allen Untersuchungen zu Ibn Bāǧǧas politischer Philosophie getreulich wiedergegeben, ist, soweit ich weiß, noch nie als eine politische Aussage wahrgenommen worden, dabei stellt sie einen Frontalangriff gegen zwei Eliten der zeitgenössischen arabischen Gesellschaft dar: die Rechtsgelehrten als religiöse Elite und die Ärzte als weltliche Elite. Ibn Bāǧǧa gibt ihnen zu verstehen, dass ihre Stellung eine usurpierte ist; sie kommt eigentlich den Philosophen zu. Eine weitere wichtige Gruppe der Gesellschaft, gegen die Ibn Bāǧǧa sein philosophisches Ideal in Stellung bringt, sind die Sufis. Gegen sie pocht er auf die Pflicht und die Kompetenz des Philosophen, das eigene Leben zu »führen«, statt sich in den göttlichen Ratschluss zu ergeben.70 So kann man feststellen, dass Ibn Bāǧǧa seine philosophischen Einzelgänger wohl ausdrücklich mit einem sufischen Begriff als »Fremde« (ġurabāʾ) bezeichnet, die zwar in ihrer Heimat und unter den Menschen leben, aber, was ihre Ansichten und ihr Denken betrifft,
67Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 127, 1–7 und 147, 18–148, 5; Faḫrī, 43, 4–9 und 64, 3–10; Asín, 11, 3–6 und 39, 17–40, 9 (arab.), 42 und 74 (span.). 68Zwischen den Bürgern besteht wechselseitige Liebe, Liebe, die sich auf die geteilten Überzeugungen und den gegenseitigen Nutzen gründet. Diesen Charakterzug des Musterstaates schöpft Ibn Bāǧǧa offenbar aus al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa, ed. Naǧǧār, 70–73 (§§ 61f = Dunlop, §§ 57f ), demzufolge aus Liebe Gerechtigkeit folgt, die darin besteht, dass jeder erhält, was ihm zusteht. 69Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 124, 18–125, 10; Faḫrī, 41, 3–17; Asín, 8, 6–9, 5 (arab.), 38f (span.). 70Vgl. zu diesem Punkt Emilio Tornero Poveda, La filosofía andalusí frente al sufismo, in: Al-Qanṭara 17 (1996), 3–17, hier 8f.
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eine andere – geistige – Heimat gefunden haben.71 Dennoch übt er scharfe Kritik an der Vorstellung, die sich die Mystiker vom Ziel des menschlichen Lebens und dem zu ihm führenden Weg machen. Statt auf Erkenntnis setzen sie auf völlige Tatenlosigkeit und Versenkung in Gott. Aber auf ihre mystischen Erfahrungen, so kritisiert er, lässt sich kein Staat gründen, noch ermöglichen sie die Entwicklung der Wissenschaften und damit des besten Teils im Menschen.72 Beide Dinge gehen also Hand in Hand. Der Philosoph mag zwar in der gegenwärtigen Gesellschaft ein Außenseiter sein, wie ihn die Sufis beschreiben, aber nicht etwa deshalb, weil die Philosophie eine spirituelle Privatsache wäre. Die Vernunft ist grundsätzlich öffentlich, weil sie in jeder Hinsicht allgemein ist.
3. Philosophie als Naturanlage (fiṭra) Dies schließt nun keineswegs aus, dass Ibn Bāǧǧa die Philosophen als kleine elitäre Gruppe sieht, wie es der zuletzt zitierte Text ja auch deutlich zeigt. Aus der Konzeption der natürlichen Ordnung der menschlichen Fähigkeiten und Tätigkeiten ergibt sich als Gegenstück zur Kritik an den gesellschaftlichen Eliten nämlich auch ein Selbstbild des Philosophen. Dies ist wichtig in Hinblick auf den oben analysierten Entwicklungsstand und die soziale Stellung der Philosophie zur Zeit Ibn Bāǧǧas. Nimmt man noch einmal al-Baṭalyausī zum Vergleich, so versteht dieser die Philosophen lediglich als intelligente Muslime und liest auch al-Fārābī so. Bei Ibn Bāǧǧa dagegen kommt in seiner Aneignung der politischen Philosophie al-Fārābīs deutlich das Bild eines »Intellektuellen« zum Vorschein. Die Frage, ob man im Sinne J. Le Goffs tatsächlich von einem Intellektuellen sprechen kann, der ein Bewusstsein seiner Stellung, seiner Eigenart hat, ist von D. Urvoy in Bezug auf Ibn Rušd diskutiert worden, also erst für die nächste oder eher übernächste Generation der Philosophie in al-Andalus.73 Auf der Suche nach einer Selbstbezeichnung des arabischen Intellektuellen hat Urvoy etwa den Begriff erwogen, mit dem Ibn Rušd in der Entscheidenden Abhandlung (Faṣl almaqāl) die Philosophen bezeichnet: ahl al-burhān, »Leute des Beweises«. Hier wird die Philosophie als einzig wahre Gotteserkenntnis begriffen und definiert
71Steven Harvey interpretiert die Verwendung von sufischen Begriffen – Anleihen bei einer Bewegung, die weit populärer war als die Philosophie – als Propagandatrick; vgl. Steven Harvey, The Place of the Philosopher in the City According to Ibn Bājjah, in: Ch. E. Butterworth (Hg.), The Political Aspects of Islamic Philosophy. Essays in Honor of Muhsin Mahdi, Cambridge 1992, 199–233, hier 222–224. 72Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 139, 1–8; Faḫrī, 55, 17–56, 2; Asín, 27, 11–28, 1 (arab.), 59f (span.). 73Dominique Urvoy, Averroès. Les ambitions d’un intellectuel musulman, Paris 1998, hier 14–16.
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das Verhalten einer sozialen Gruppe, einschließlich des Verhältnisses zur Offenbarung.74 Anders als Urvoy scheint mir die Tatsache, dass dieser und andere für die Selbstbezeichnung in Frage kommende Begriffe bereits mit einem religiösen Sinn belegt waren, nicht ein Zeichen für das Scheitern dieser Selbstbestimmung zu sein. Viel eher weist es darauf hin, mit welchem Selbstbewusstsein traditionellen religiösen Begriffen ein neuer, rationalistischer Sinn unterlegt wurde. Dies gilt auch für einen von Ibn Bāǧǧa bevorzugten Begriff, der sich übrigens auch später bei Ibn Rušd noch im gleichen Sinne findet,75 und der hervorragend untermauert, was in Ibn Bāǧǧas berühmten Metaphern des »Einsamen« (mutawaḥḥid) und des »Unkrauts« (nābit) angedeutet ist. Es handelt sich um den Begriff der fiṭra – etwa als »Naturanlage« zu übersetzen –, beziehungsweise der fiṭra fāʾiqa, der »exzellenten Naturanlage«.76 Nach einem berühmten Prophetenwort hat Gott alle Menschen mit einer fiṭra, einer natürlichen Anlage, ihn zu erkennen, geschaffen, während es die Eltern sind, die sie zu Anhängern einer bestimmten Religion machen. Der natürliche Glaube wird von den Theologen dann selbstverständlich mit dem Islam identifiziert.77 Auch al-Ġazālī etwa, der in seinem Einfluss überragende religiöse Denker, setzt diese Überlieferung in seiner Autobiographie ein, um für seinen Erkenntnisweg – den mystischen – die Wiedergewinnung der ursprünglichen fiṭra in Anspruch zu nehmen.78
74Vgl. etwa Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl. With its Appendix (Ḍamīma) and an Extract from Kitāb al-kashf ʿan manāhiǧ al-adilla, Arabic text edited by George F. Hourani, Leiden 1959, 23, 3–13; Averroès, Le livre du discours décisif, intro. par Alain de Libera, trad. inédite, notes et dossier par Marc Geoffroy, Paris 1996, § 37; zum Hintergrund §§ 16 und 28. 75Ibn Rušd gebraucht fiṭra fāʾiqa in gleicher Bedeutung wie Ibn Bāǧǧa etwa ebenfalls im Kitāb faṣl al-maqāl, ed. Hourani, 28, 4–9; übers. Geoffroy, § 46. 76Zur Geschichte des fiṭra Begriffs vgl. Frank Griffel, Al-Ghazālī’s Use of »Original Human Disposition« (Fiṭra) and Its Background in the Teachings of al-Fārābī and Avicenna, in: The Muslim World 102 (2012), 1–32; Camilla Adang, Islam as the Inborn Religion of Mankind: The Concept of Fiṭra in the Works of Ibn Ḥazm, in: al-Qanṭara 21 (2000), 391–408; siehe auch René Lévy, La fiṭra dans l’oeuvre philosophique de Maimonide, in: Revue des études juives 159 (2000), 405–424. 77Vgl. D. B. Macdonald, Fiṭra, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 2, Leiden 1965, 931f. 78al-Ġazālī, al-Munqiḏ min al-ḍalāl, ed. Ǧamīl Ṣalība, Kāmil ʿAyyād, 7. Aufl. Beirut 1967, 63. Der Begriff der fiṭra wird noch einmal zu Beginn des Kapitels »Die Wahrheit der Prophetie und ihre Notwendigkeit für die Geschöpfe« aufgegriffen (Ṣalība, 110ff). Die fiṭra wird dort als ursprünglich leer von den Erkenntnissen der »göttlichen Welten« beschrieben. Sinne und Intellekt (ʿaql) werden dann zwar als Erkenntnisquellen eingeführt, werden aber der Prophetie (nubūwwa) als höchster und sicherster Erkenntnis untergeordnet. Deren Eigenschaften können wahrhaft nur durch mystisches »Schmecken« (ḏauq) erfasst werden. Griffel, Al-Ghazālī’s Use, insbesondere 5 und 30, argumentiert dafür, dass al-Ġazālī keine einfache Gleichsetzung von Islam und fiṭra vornimmt, sondern vielmehr in Anlehnung an Ibn Sīnā die natürliche Ausstattung mit (wahren) primären Intelligibilia und Urteilen so bezeichnet. Gleichwohl stellt
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Indem Ibn Bāǧǧa diesen traditionellen Begriff nun als Veranlagung zum wissenschaftlichen Denken deutet, beansprucht auch er die wahre Gotteserkenntnis für die Philosophie und definiert gleichzeitig das Kriterium für die natürlichsoziale Elite, der er sich zurechnet. So spricht Ibn Bāǧǧa im Abschiedsbrief seinen Schüler Ibn al-Imām und alle diejenigen an, die »diese Art der fiṭra haben«. Er erklärt ihnen, wie sie einander »treffen« können, wenn sie denn dieselbe Idee über das Ziel der Philosophie teilen, die Ibn Bāǧǧa in diesem Schreiben darzulegen sich anschickt.79 Ibn Bāǧǧa denkt dabei nicht an ein persönliches Treffen, wie aus dem Schlusswort der Abhandlung hervorgeht, sondern an die Einheit des Intellekts, die sich beim Erreichen der höchsten Erkenntnis, der Erkenntnis des Intellekts, einstellt.80 Ibn Bāǧǧa bezeichnet alle, die sich auf diesem Weg befinden, dem Weg der »theoretischen Wissenschaft« (ʿilm naẓarī), als Brüder. Sie sind Brüder über die Zeit hinweg, weil der aktive Intellekt, der Punkt ihrer Identifizierung, auf den sie bereits als Wissenschaft Treibende immer schon bezogen sind, ewig ist. Eine besondere fiṭra, eben die fiṭra fāʾiqa, gilt Ibn Bāǧǧa daher als Voraussetzung dafür, dass jemand den Weg der Philosophie erfolgreich beschreiten und bis zum Ende gehen kann.81 Hintergrund dieser Theorie ist der folgende: Ibn Bāǧǧa kennt, ähnlich wie al-Fārābī und vermutlich entlehnt aus dessen Bearbeitung des aristotelischen Organons, die fiṭra als Anlage zum Denken, die im Besitz der Kategorien als Grundstruktur der Erkenntnis besteht.82 Und zwar meint er eine enge Verbindung zum Islam her (30): »Relying on one’s fiṭra creates room for what is true Islam.« 79Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 89, 1–90, 16, besonders 90, 9–16, sowie 118, 12–119, 11; Faḫrī, 113, 1–115, 3, besonders 114, 18–115, 3, sowie 142, 9–143, 9; Asín, 15, 1–16, 15, besonders 16, 10–15, sowie 39, 21–40, 10 (arab.), 41–44 und 86f (span.). 80Hierzu und zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 118, 12–119, 11; Faḫrī, 142, 9–143, 9; Asín, 39, 21–40, 10. 81Ibn Bāǧǧa spricht so von fiṭra fāʾiqa in Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 191, 10–14; Faḫrī, 162, 18–21; Asín, 14, 28–15, 3. Er sagt dort: Wenn jedes Intelligibile für alle Menschen identisch wäre, dann würde die überlegene Begabung nur mehr Erkenntnis, nicht aber qualitativ höherwertige (eine höhere Einheit erreichende) Erkenntnis erbringen. Dies muss so verstanden werden, dass die exzellente Naturanlage oder »überlegene Begabung«, wie man auch sagen könnte, nach Ibn Bāǧǧas Theorie einen quantitativen und einen qualitativen Vorteil bietet: Einen quantitativen direkt, weil sie die Erzielung von mehr Erkenntnissen in geringerer Zeit ermöglicht, einen qualitativen indirekt, weil die Erkenntnis des einzigen für alle schlechthin identischen Intelligibile, des aktiven Intellekts, nur durch Vollendung der Wissenschaft möglich ist. 82Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 80, 19–81, 4: »Als Aristoteles das tat, gelangte er zu einer Anzahl von zehn Intentionen. Er schloss darunter alle allgemein bekannten (mašhūra), von der Naturanlage her (bi-l-fiṭra), ohne Denken (fikr) und Überlegen (rawīya) erkannten Intentionen ein. Er beabsichtigte dabei die Aufzählung der zehn Intentionen und machte deshalb die Universalien, die sich auf Wahrnehmbares stützen, aber deren Gestütztsein auf sie nur durch Denken erkannt wird, nicht zum Teil davon, weil sie nur durch es erkannt
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das näherhin die einfachen Begriffe, die durch die im Lichte von Kapitel II. 19 der Zweiten Analytiken interpretierte intellektuelle Abstraktion gewonnen werden und die als »erste Intelligibilia«, »erste Erkenntnisse« und »Prinzipien der Wissenschaften« bezeichnet werden können. Als Ursprung dieser Intelligibilia kann gleichermaßen die fiṭra gelten wie der aktive Intellekt, wobei das erste die natürliche, nicht auf intellektueller Anstrengung oder gar wissenschaftlichem Folgern beruhende Aufnahmebereitschaft betont, das zweite das reine intellektuelle Prinzip, das Bedingung der Möglichkeit für jede solche allgemeingültige Erkenntnis ist und daher als »Geber der Kategorien« erscheint.83 Nach al-Fārābīs und Ibn Bāǧǧas Überzeugung teilen alle gesunden Menschen diese intellektuelle Grundausstattung,84 die al-Fārābī daher auch als fiṭra werden. Er beabsichtigte in dieser Kunst, nämlich der Logik, die Regeln [qawānīn] für alle Arten des Denkens anzugeben, sowohl die früheren als auch die späteren. Daher verwendete er hier die Intention ›Kategorien‹ so, wie sie allgemein bekannt ist, auch wenn sie in Wirklichkeit nicht so sind, weil man nur durch Denken erkennt, ob sie in Wirklichkeit so sind wie nach allgemeiner Annahme.« (Ich habe »Kategorien« übersetzt statt »Intelligibilia«, wie es im Text steht [81, 2]. Die beiden Begriffe unterscheiden sich im Arabischen nur durch einen Buchstaben, sind also leicht zu verwechseln, und von Intelligibilia ist weder vorher noch nachher im Text die Rede.) 83Vgl. Alfarabi, Risalat fi’l-ʿaql, texte arabe intégral en partie inédit, établi par Maurice Bouyges (Bibliotheca arabica scholasticorum 8, 1), Beirut 1938, 8, 5–9, 3; Abū Naṣr al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya al-mulaqqab bi-mabādīʾ al-mauǧūdāt, ed. Fauzī Mitrī Naǧǧār, Beirut 1998, 74, 13–16. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 37, 13–38, 6; T 80. Der von Philippe Vallat, Farabi et l’école d’Alexandrie, 367 vorgetragenen These, das Konzept der fiṭra stelle das einheitsstiftende Moment zwischen den stoisch-empirischen Elementen der Erkenntnistheorie al-Fārābīs und der in sie aufgenommenen (neu-)platonischen Immanenztheorie dar, kann ich nicht zustimmen. Laut Vallat (210, 235–237, 281) hebt die fiṭra als vom stoischen Logos geprägte Natur den Widerspruch zwischen Empirie und Immanenz (Wiedererinnerung) beziehungsweise emanativer Eingebung auf: Natur und aktiver Intellekt enthalten denselben Logos. Den Beweis, dass al-Fārābī weder angeborene Ideen noch Erkenntnis durch Emanation annimmt, will ich an anderer Stelle führen. Als zwei einschlägige Texte seien genannt: AlFārābī’s Philosophy of Aristotle (Falsafat Arisṭūṭālīs), Arabic text, edited with an introduction and notes by Muhsin Mahdi, Beirut 1961, 127, 17–128, 2; al-Fārābī, Kitāb al-burhān wa-kitāb šarāʾiṭ al-yaqīn, ed. Māǧid Faḫrī, Beirut 1987, 24, 6–15. 84Bei Ibn Bāǧǧa siehe insbesondere Fī l-waḥda wa-l-wāḥid, in: Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 145, 2–14: »Wir sagen, dass die ersten Intelligibilia, die uns die Natur mitgibt, ohne dass wir uns darum bemühen und es beabsichtigen [gemäß Konjektur al-ʿAlawīs, 145, Anm. 58] und sogar ohne nachzudenken, die ersten Prinzipien des Denkens und Überlegens sind. Durch sie wird der Körper, in dem sie existieren, in eindeutiger Weise schlechthin [alʿAlawī, 145, Anm. 60; ebenso MS B, f. 183r; MS Teheran, f. 311v] Mensch genannt. Es sind die Kategorien. Dasjenige Lebewesen, in dem sie nicht vorhanden sind, sei es, dass sie der Potenz nach in ihm sind und er der Natur nach so beschaffen ist, wie das soeben geborene Kind, sei es akzidentell wie bei einem von den Typen der Schwachsinnigen. Keiner von jenen beiden ist nämlich schlechthin ein Mensch. […] Die Kategorien sind Begriffe für Dinge, die in sinnlich wahrnehmbaren Körpern existieren, und jede von ihnen ist eine von der Materie abstrahierte Form.« Eine genauere Analyse von Ibn Bāǧǧas Theorie des Ursprungs der Kategorien sowie
Philosophie als Naturanlage (fiṭra)
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muštaraka, als »gemeinsame Naturanlage« bezeichnet. Sie ist zu unterscheiden von weiteren fiṭar, die in der Veranlagung zur Aufnahme weiterer Intelligibilia bestehen, welche zu theoretischem Denken befähigen. In diesem Zusammenhang fällt auch der Begriff »fiṭar […] fāʾiqa«.85 In diesem Sinne steht bei Ibn Sīnā der Begriff der fiṭra dann für die Fähigkeit zur Intuition (ḥads), eine Fähigkeit die er auch »Geistesschärfe« (ḏakāʾ) nennt.86 Nach Ibn Sīnās Theorie in seinen Reifewerken besteht die Intuition in einem schnellen oder sogar spontanen, augenblicklichen Erwerb der Erkenntnisse in geordneter Form, samt Mittelbegriffen, und zwar durch einen Kontakt des habituellen Intellekts mit dem aktiven Intellekt, der enger ist als der Kontakt bei Menschen, die ein weniger gut ausgebildetes Vermögen haben. Während diese intellekttheoretische Erklärung sich nur aus dem Rahmen von Ibn Sīnās Epistemologie ergibt,87 hat D. Gutas das genannte formale Verständnis von Intuition – für das er keine Vorbilder bei griechischen Denkern fand – als selbständige Ent-
des vorliegenden Textes wird in die geplante Studie der Erkenntnistheorie Ibn Bāǧǧas eingehen. 85al-Fārābī trifft diese Unterscheidung im Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 74, 13–76, 16, und er stellt die fiṭar dort als äußerst vielgestaltig vor, sie variieren in vielerlei Hinsicht: (1) In Bezug auf die Seinsgattung aus der sie Intelligibilia aufzunehmen bereit sind. (2) In Bezug auf die Menge der Intelligibilia, die sie aufzunehmen bereit sind. (3) In Bezug auf die Fähigkeit (quwwa, qudra), Dinge abzuleiten, zu erschließen (istinbāṭ). (4) In Bezug auf die Schnelligkeit der Ableitung. (5) In Bezug auf die Fähigkeit, einen anderen das zu lehren, was man bereits erschlossen hat. Zum Schluss warnt al-Fārābī davor, die fiṭar als einen Automatismus zu betrachten. Sie machen demjenigen, der sie besitzt, lediglich die betreffenden Tätigkeiten leichter, sie müssen jedoch geübt und kultiviert werden, um sich zu entfalten, sonst verderben selbst »sehr große überlegene Begabungen« (fiṭar ʿaẓīma fāʾiqa). 86Siehe zum Folgenden: Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, 159–176. Gutas sagt (170): »fiṭra is precisely the term Avicenna used to describe Intuition in theological terminology«. Das ist insofern zu berichtigen als die fiṭra nicht der Intuition selbst entspricht, sondern der Befähigung dazu; das machen weitere Stellen im Kitāb al-šifāʾ, Sektion Burhān (=Analytica posteriora) deutlich, an denen fiṭra eindeutig im Sinne eines Vermögens gebraucht ist (Ibn Sīnā, al-Šifāʾ. al-Manṭiq 5: al-Burhān, ed. Abū l-ʿAlā ʿAffīfī, Kairo 1956, 215, 1–2: ﻛﺬﻟﻚ ﺻﺤﺔ اﻟﻨﻔﺲ وھﻲ أن ﺗﻜﻮن ﻋﻠﻰ ﻓﻄﺮﺗﮭﺎ اﻷوﻟﻰ وﻣﺰاﺟﮭﺎ ﻣﺜﻼ اﻷﺻﻠﻲ- ﺻﺤﺔ أوﻟﻰ:)ﻋﻠﻰ وﺟﮭﯿﻦ. So sieht es im übrigen auch Marmura, auf dessen Artikel sich Gutas in Anm. 61 beruft. Vgl. Michael E. Marmura, Ghazali’s Attitude to the Secular Sciences and Logic, in: George F. Hourani (Hg.), Essays on Islamic Philosophy and Science, Albany 1975, 100–111, hier 110, Anm. 20: »the mental power for grasping by itself the middle term is referred to as natural intelligence (al-fiṭra).« 87Dies zeigt auch, dass die von al-ʿAlawī als Pseudo-Ibn Bāǧǧa erkannten Texte, tatsächlich einen anderen Begriff von fiṭra fāʾiqa vertreten als er in den authentischen Schriften vorkommt; vgl. etwa Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 157, 12–158, 2. Hier wird nämlich, ebenso wie bei Ibn Sīnā, die fiṭra fāʾiqa mit der Emanation von Erkenntnissen verbunden. Andererseits weichen diese Texte von Ibn Sīnā ebenso wie von Ibn Bāǧǧa ab, wenn sie den Erkenntnisgewinn nicht nur vom Lernvorgang, sondern zu Gunsten einer praktischen Prophetennachfolge von der syllogistischen Struktur überhaupt ablösen.
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wicklung Ibn Sīnās im direkten Rückgriff auf zwei Aristotelestexte gedeutet.88 In Kapitel I. 34 der Zweiten Analytiken (89b10f ) beschreibt Aristoteles das schnelle Begreifen, ἀγχίνοια, als Sicherheit im Treffen, ἐυστοχία, des Mittelbegriffs innerhalb kürzester Zeit. In Kapitel VI. 10 der Nikomachischen Ethik (1142a31–b6) unterscheidet er das praktische Überlegen von anderen geistigen Tätigkeiten und Fähigkeiten und erklärt in diesem Rahmen, die ἀγχίνοια sei eine Form der ἐυστοχία und die ἐυστοχία suche nicht nach Gründen und bedürfe keiner Zeit, worin sie sich deutlich vom Überlegen unterscheide. Eine bisher übersehene Äußerung Ibn Bāǧǧas zeigt nun aber, dass Ibn Sīnās Verständnis der Intuition und deren Verknüpfung mit dem Begriff der fiṭra offenbar auf die arabische Übersetzung von Themistios’ Paraphrase der Ersten Analytiken zurückgeht, der sie bereits in der genannten Weise systematisiert und damit zum Gemeingut der arabischen Aristoteliker gemacht zu haben scheint.89 Ibn Bāǧǧa beschreibt nämlich, unter Berufung auf diesen Text die fiṭra fāʾiqa als habituelles Vorhandensein des beweisenden Vermögens (quwwa burhānīya), ohne dass dieses eigens erworben werden müsste. Insofern Wissenschaft von Aristoteles im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik als Habitus des Beweisens beschrieben wird – Ibn Bāǧǧa verweist auf diesen Text –,90 und insofern das Aufstellen von Beweisen auch ihm zufolge im Auffinden der Mittelbegriffe besteht,91 muss seine Charakterisierung der fiṭra fāʾiqa ganz ähnlich wie bei Ibn Sīnā als Vermögen verstanden werden, das ohne besondere Vorbereitung und Ausbildung die Mittelbegriffe auffindet und Beweise aufstellt. Die »exzellente Naturanlage«, die laut Ibn Bāǧǧa den Philosophen auszeichnet, besteht also darin, dass er nicht nur die primären Begriffe, sondern auch die durch wissenschaftliches Denken abgeleiteten ohne Mühe erwirbt.
88Gutas, Avicenna and the Aristotelian Tradition, 166–170. 89Ibn Bāǧǧa, Kataba ilā l-wazīr Abī l-Ḥasan Ibn al-Imām, in: Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawi, 90, 8–16, dort (8–11): »Überlegung [rawīya] und beweisendes Denken [ fikra burhānīya] sind in jedem Menschen, der keinen Schaden hat; er besitzt ein Vermögen, sie zu empfangen. Was aber die Existenz dieses beweisenden Vermögens [quwwa burhānīya] als Habitus [malaka] angeht, so kommt sie dem Menschen nur durch Aneignung [iktisāb] zu. Manchmal findet sie sich bei einigen Menschen der Natur nach [bi-l-ṭabʿ], gemäß dem was Themistios in den Analytica priora [al-Qiyās] über diejenigen sagt, die überlegene Begabungen [ fiṭar fāʾiqa] haben.« Themistios’ Paraphrase ist weder auf Griechisch noch in ihrer arabischen Übersetzung erhalten, vgl. Henri Huggonnard-Roche, Organon – Tradition syriaque et arabe. 3: Les Premiers Analytiques, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 1, Paris 1989, 516–520, hier 518. Geringe hebräische Fragmente sind erhalten, vgl. Thémistius, Paraphrase de la Métaphysique d’Aristote (Livre Lambda), Traduit de l’hébreu et de l’arabe, introduction, notes et indices par Rémi Brague, Paris 1999, 12, Anm. 6. 90Siehe dazu Kapitel 14, Abschnitt 3.1. 91Vgl. etwa im selben Text, Ibn Bāǧǧa, Kataba ilā l-wazīr Abī l-Ḥasan Ibn al-Imām, ed. alʿAlawī, 92, 8f.
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Der Habitus des Beweisens kann erworben werden, manche Menschen aber besitzen ihn von Natur aus; und diese sind es, die besonders zur Philosophie bestimmt sind. Bei anderen dagegen fehlt dieses Vermögen mehr oder weniger. Ibn Bāǧǧa berichtet im Abschiedsbrief, dass er persönlich einen gewissen David aus Britannien getroffen habe, der vom Zweifel und Begehren nach Wissen getrieben durch die verschiedenen Religionsgemeinschaften (milal) irrte, jedoch die Wahrheit verfehlte, weil es ihm genau am »Beweisvermögen« (quwwa burhānīya) mangelte.92 Der »antireligiöse« Oberton dieser Geschichte erweist sich beim näheren Hinsehen als eng verbunden mit der Annahme einer besonderen philosophischen Begabung: Die Wahrheit ist nicht in dieser eher als in jener Religion zu finden, sondern allein in der Wissenschaft und darum nur durch diejenigen, die »von Natur aus wissenschaftlich sind«.93
4. Göttlich oder menschlich? Das philosophische Ideal Die oben gesammelten Überlegungen sollten ausreichen, um deutlich zu machen, dass traditionelle religiöse Formulierungen an den wenigen Stellen, wo sie in Ibn Bāǧǧas Abhandlungen auftauchen, allenfalls metaphorische Umschreibungen philosophischer Theorien sein können und nicht, wie es mehrfach geschehen ist, als Darstellung alternativer oder ergänzender »übernatürlicher« Erkenntniswege missverstanden werden dürfen. Dies kann hier beispielhaft an der bereits erwähnten Idee der intellektuellen Vollendung als einer imitatio Dei gezeigt werden. Damit kommen wir vom durch die fiṭra bestimmten Beginn des Wegs der Erkenntnis erneut zu ihrem Ziel, das ebenso wie jener auf den aktiven Intellekt bezogen ist. Wir wollen dazu einen berühmten Text vom Ende des Abschiedsbriefs betrachten.
92Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 97, 22–98, 3; Faḫrī, 122, 9–12; Asín, 22, 21–24 (arab.), 56 (span.): »Du kennst vielleicht von dir selbst die Kraft dieses Begehrens und sein Ausmaß und erinnerst dich an jenen Dāwūd aus dem Land Briṭānīya, der in den Religionsgemeinschaften umherirrte und dessen Begehren so groß war. Denke daran, wie bei unserem Treffen mit ihm in Murcia seine Augen voller Tränen waren, und an das, was sich an jenem Tage zeigte von der Stärke seines Verlangens. Weil ihm aber das Beweisvermögen mangelte, verfehlte er die Wahrheit.« Asín, 56, Anm. 2, korrigiert die Angabe der Herkunft Davids ﺑﺮطﺎﻧﯿﺔ zu ﺑﺮﺑﻄﺎﻧﯿﺔ, das er Barbuṭāniyya liest und als »Barbotana«, eine Region im Norden von Aragon, identifiziert. Es gibt keinen Grund für diese Emendation, denn Briṭānīya – in identischer Schreibweise – als Name für die britischen Inseln (und die Bretagne) war bekannt; es taucht etwa in Ibn Ḫaldūns Taʾrīḫ mehrfach auf. Im Übrigen schreibt auch der hebräische Übersetzer, vgl. Maurice Ruben Hayoun, Ibn Bāǧǧa u-Mošeh Narboni: Iggeret ha-peṭirah, in: Daʿat 25 (1990), 23–125, hier 112, 14, Briṭaniyā ()בריטנייא. Könnte es sich bei der erwähnten Person um David von Dinant handeln? 93Siehe oben, Anm. 34.
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[T 5] »Unsere rechtschaffenen Vorväter sagen, dass es zwei Typen von Möglichkeit gibt – einen natürlichen Typ und einen göttlichen. Der natürliche ist derjenige, der durch die Wissenschaft erfasst wird94 und den der Mensch von sich aus erkennen kann. Der göttliche Typ dagegen wird nur mit göttlichem Beistand erfasst. Deshalb hat Gott die Boten ausgesandt und die Propheten dazu bestimmt, uns – die Menschensippe – über die göttlichen Möglichkeiten in Kenntnis zu setzen. Er – groß ist sein Name – hatte es nämlich auf die Vervollständigung der großartigsten seiner Gaben bei den Menschen abgesehen: der Wissenschaft [al-ʿilm]. So rufen die religiösen Gesetze [šarāʾiʿ] zur Wissenschaft auf, und in unserem göttlichen Gesetz [šarīʿatunā al-ilāhīya] gehört zu dem was darauf hinweist sein Wort – groß ist sein Name – im geoffenbarten Buch: ›Die in der Wissenschaft Beschlagenen sagen: Wir glauben daran; alles ist von unserem Herrn‹,95 das heißt, die göttlichen Möglichkeiten. Und sein Wort – Er ist mächtig und erhaben: ›Es fürchten Gott von seinen Knechten nur die Weisen.‹96 Denn wer Gott mit wahrem Wissen erkennt, der weiß, dass das größte Unglück sein Zorn ist und die Entfernung von Ihm, während das größte Glück [al-saʿāda] das Ausmaß seines Wohlgefallens und die Nähe zu Ihm ist. Nun ist der Mensch Ihm nur durch die Erkenntnis seines Wesens97 nahe, und daher wurde von ihm – Gott segne ihn und schenke ihm Heil – überliefert: ›Gott schuf den Intellekt und sprach zu ihm «tritt vor!», und er trat vor. Dann sprach Er zu ihm «kehr um!», und er kehrte um. Und Er sprach: «Bei meiner Macht und Erhabenheit, Ich habe keine Kreatur geschaffen, die Mir lieber wäre als du.»‹ Der Intellekt ist also das Seiende, das Gott – Er ist mäch94mudrak. Altmann liest offenbar – was auch möglich wäre – mudrik, und übersetzt entsprechend aktivisch »which perceives«; vgl. Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 89. Sowohl Asín als auch die mittelalterliche hebräische Übersetzung bevorzugen aber – zu Recht, so meine ich – das Passiv. Siehe Hayoun, Ibn Bāǧǧa u-Mošeh Narboni: Iggeret ha-peṭirah, 121, 30 ()אשר יושג. Ebenso Shem Tov ben Joseph Ibn Falaquera, Moreh ha-Moreh, critical edition, introduction and commentary by Yair Shiffmann, Jerusalem 2001, 328, 62 ()המושג. Die Formulierung »den der Mensch von sich aus erkennen kann« (yaqdiru… ʿalā l-wuqūf ʿalaihi) ist unzweideutig. Es ist daher klar, dass der Möglichkeitstyp zunächst Gegenstand und nicht Subjekt der Erkenntnis ist. 95Koran, Sure 3, Vers 7. Der volle Vers lautet: »Er ist es, der dir das Buch geoffenbart, unter dessen Versen manche deutlich klar sind, andere aber unklar. Diejenigen, in deren Herzen Verderbtheit ist, folgen den Unklaren unter ihnen, Verführung verfolgend und Deutung erstrebend, aber niemand außer Gott kennt ihre Deutung. Die in der Erkenntnis Festen aber sagen: Wir glauben daran, alles ist von unsrem Herrn. Jedoch nur Leute verständigen Herzens denken so.« (Übersetzung: Goldschmidt). 96Koran, Sure 35, Vers 28. Der volle Vers lautet: »Und auch Mensch und Tier und Vieh, verschieden sind sie an Farbe. So, und doch fürchten Gott nur seiner Diener Weisen. Wahrlich, Gott ist allgewaltig und vergebungsreich.« (Übersetzung: Goldschmidt). 97Diese Formulierung weist die gleiche Ambiguität auf wie das Arabische. Die Parallelstelle am Ende des vorliegenden Textes macht aber deutlich, dass es sich um das Wesen des Menschen, nicht um das Wesen Gottes handeln muss.
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tig und erhaben – am meisten liebt. Wenn daher der Mensch dieser Intellekt selbst wird, so dass zwischen beiden in keiner Art und Weise ein Unterschied besteht, dann wird dieser Mensch das Geschöpf, das Er am meisten liebt. Entsprechend dem Maß seiner Nähe zu ihm kommt er Gott nahe und hat Gott Wohlgefallen an ihm. Dies aber tritt nur durch die Wissenschaft ein, denn die Wissenschaft bringt Gott nahe und die Unwissenheit entfernt von Ihm. Die edelste aller Wissenschaften ist diese Wissenschaft, über die wir gesprochen haben, und ihre erhabenste Stufe ist diese Stufe, nämlich dass der Mensch sein Wesen begreift, sodass98 er diesen Intellekt begreift, über den wir zuvor gesprochen haben.«99 Diese Zeilen werden zumeist missverstanden, und zwar in zweierlei durchaus widersprüchlicher Weise. Zum einen gelten sie als Beleg dafür, dass die höchste Erkenntnis, von der Ibn Bāǧǧa spricht, die Erkenntnis des reinen Intellekts, nicht in der »Möglichkeit« des Menschen, sondern in derjenigen Gottes stehe. Aus eigener Kraft könne der Mensch nur das Niveau diskursiver, wissenschaftlicher Erkenntnis erreichen; das Erfassen des separaten Intellekts selbst sei eine Gabe Gottes.100 So präsentiert auch Ibn Rušd in seinem großen Kommentar zu De anima die Position Ibn Bāǧǧas,101 diese aber – möglicherweise absichtlich – ver-
98ḥattā. Asín und Lomba (Ibn Bāŷŷa, Carta del adiós) übersetzen – sie verwechseln den Gebrauch von ḥattā mit Subjunktiv mit demjenigen mit Perfekt – »bis dass« (hasta el punto de que), aber in diesem Falle müsste man dreierlei unterscheiden: (1) die edelste Wissenschaft, nämlich die im Abschiedsbrief behandelte; (2) deren erhabenste Stufe, nämlich die Selbsterkenntnis; (3) die Erkenntnis des aktiven Intellekts. Da jedoch die Selbsterkenntnis, wie aus dem Text klar hervorgeht, mit der Erkenntnis des aktiven Intellekts identisch ist, verbietet sich diese Deutung. Auch Ibn Falaquera, Moreh ha-Moreh, ed. Shiffman, 328, 76f versteht die Stelle im hier vorgeschlagenen Sinne, er übersetzt: »dass der Mensch durch das Begreifen dieses Intellekts sich selbst begreift« ()שיציר האדם עצמו בציור אותו השכל. 99Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 117, 14–118, 11; Faḫrī, 141, 11–142, 7; Asín, 38, 24–39, 14 (arab.), 84f (span.). Falaquera hat einen großen Teil dieses Textes in seinem Kommentar zum Führer der Unschlüssigen zitiert, wobei er selbst aus dem Arabischen ins Hebräische übersetzt. Der hier zitierte Abschnitt findet sich – mit mehreren Auslassungen, insbesondere der Koranzitate und des Ḥadīṯ – in: Falaquera, Moreh ha-Moreh, ed. Shiffman, 328, 61–65 und 71–77. 100So meinen Pedro Roche Arnas, Qué es filosofía para Avempace?, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Mediaevalia 26), Berlin 1998, 856–862, hier 861; Lomba, Lectura de la ética griega, 15 (stellvertretend für die umfangreiche Literatur des Verfassers zu Ibn Bāǧǧa); Leaman, Ibn Bajja on Society and Philosophy, 119. 101Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 494, 426–430: »Et Avempeche videtur ambigere in hoc loco. Dixit enim in epistola quam vocavit Expeditionis quod possibilitas est duobus modis: naturalis, et divina; idest quod intellectio istius intellectus est de possibilitate divina, non de possibilitate nature. In epistola autem Continuationis […].«
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zerrend, wie A. de Libera bereits bemerkt hat.102 Das Zeugnis des Ibn Rušd war, wenn auch vielleicht nicht der einzige Ursprung dieser Lektüre, doch sicherlich eine willkommene Bestätigung, die eine genauere Betrachtung überflüssig zu machen schien. A. Altmanns einflussreiche Studie jedenfalls folgt ausdrücklich Ibn Rušds Lesart.103 Die zweite irrtümliche Auslegung sieht im vorliegenden Text einen Ausdruck der Auffassung, dass rationale Erkenntnis und religiöse Frömmigkeit alternative Wege zum gleichen Ziel sind.104 Religion und Wissenschaft wären nach diesen Interpretationen also entweder konkurrierende Erkenntniswege, oder aber die religiöse Offenbarung wäre der Wissenschaft überlegen, würde ein höheres Niveau eröffnen als die rein menschliche intellektuelle Betätigung. Überprüfen wir diese Behauptungen. Zuallererst übersehen beide Deutungen, dass die natürlichen und göttlichen Möglichkeiten, von denen im Text die Rede ist, nicht Erkenntnisweisen beschreiben, sondern dass sie ganz ausdrücklich Gegenstand der Erkenntnis sind: Was natürlicher Weise möglich ist, kann man mit Hilfe der Wissenschaft erfassen, was Gott möglich ist, erfährt man nur aus der göttlichen Offenbarung. Freilich setzt Ibn Bāǧǧa hinzu, dass die Offenbarung die Wissenschaft »vervollständigt«, ihr also etwas hinzufügt, was die Wissenschaft nicht erreicht. Was ist das aber?
102De Libera urteilt auf Grund eines Vergleiches der in der vorstehenden Anmerkung zitierten Worte Ibn Rušds mit der vorliegenden Textstelle im Abschiedsbrief folgendermaßen, siehe Averroès, L’intelligence et la pensée, Grand commentaire du De anima, livre III (429a 10–435b 25), Trad., introd. et notes par Alain de Libera, Paris 1998, 385: »A la vérité, rien ne permet de dire, d’après le contexte, qu’Ibn Bāǧǧa parle effectivement de deux sciences d’ordre différent, car il s’agit toujours de la même perfection de l’intellect humain, dont on dit qu’elle peut s’acquérir soit par la voie de la recherche philosophique, soit par la voie de la révélation. […] L’argument religieux fonctionne ici seulement comme la confirmation que la recherche par l’homme de la perfection intellectuelle est bien voulue par Dieu, conforme à la nature des choses. Il est curieux qu’Averroès l’ait vu autrement. On aurait même le droit de soupçonner là, de sa part, un brin de mauvaise foi.« 103Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 89f. Seine Schlussfolgerung: »It is clear from the above passage that in the Letter of Farewell Ibn Bājja regards the ultimate stage as a result not of man’s ›spontaneous effort‹ but as a gift from God.« Der weitere Traktat, den er (ebd. 90) zur Bestätigung heranzieht, stammt mit ziemlicher Sicherheit nicht von Ibn Bāǧǧa. Die Frage »Is the ultimate stage [of intellection] a natural perfection or divine gift?«, der Altmann einen ganzen Abschnitt (ebd. 88–93) widmet, wird von ihm nicht endgültig beantwortet, aber durch die angestellten Überlegungen dennoch im Sinne der zweiten Alternative entschieden. Ausdrücklich erklärt Altmann die letzte Stufe der Erkenntnis für ein »mystical experience« (ebd. 93). 104So de Libera, vgl. Anm. 102; Joaquín Lomba Fuentes, La búsqueda del fundamento en Avempace, in: Anuario filosófio 30 (1997), 593–607, hier 606. Lomba gibt keine Belegstelle für seine Behauptung an, aber da er den vorliegenden Text zuvor (ebd. 604f ) mehrfach zitiert und da dieser seit Altmanns »Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity« ein locus classicus ist, darf man annehmen, dass er sich darauf bezieht.
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Bevor man dieser Frage nachgeht, ist es nötig, einige wichtige Beobachtungen festzuhalten. Erstens, der Begriff »Wissenschaft« (ʿilm), der auch im folgenden Koranzitat auftaucht, wird aus philosophischer Sichtweise definiert. Nicht nur gehört die Textpassage einem philosophischen Traktat an, in dem auf Schritt und Tritt von ʿilm im philosophischen Sinne gesprochen wird, im Abschnitt selbst wird die Wissenschaft eindeutig in den Bereich menschlicher Selbstmächtigkeit eingeordnet. Es ist mithin die Philosophie, die die Bedeutung des religiösen Vokabulars bestimmt, nicht umgekehrt. Zweitens, die Wissenschaft, eben diejenige, die durch die Offenbarung vervollständigt werden zu müssen scheint, wird als die großartigste Gabe Gottes an den Menschen bezeichnet. Das, was in der Macht des Menschen steht, was ihm also von Natur aus möglich ist, das ist eine Gabe Gottes. Was sind dann die Gaben Gottes anderes als Natur? Was schließlich ist die Offenbarung, wenn dies die großartigste Gabe ist? Drittens, die Wissenschaft taucht in Ibn Bāǧǧas Überlegungen an zwei Stellen auf: Sie wird eingeführt als das, was die natürlichen Möglichkeiten erkennt, wird dann aber zum Gegenstand sowohl des wissenschaftlichen als auch des religiösen Diskurses. Sie befindet sich also einerseits in einer Selbstbeziehung, die ihr gestattet sich selbst zu bestimmen und ihre Möglichkeiten selbst zu untersuchen. Andererseits kann sie, insofern man sie als eine Gabe Gottes betrachtet, in den Worten der Offenbarung wiedergefunden werden. Von der Wissenschaft wird also in doppelter Perspektive gesprochen, was aber erfährt man über die göttlichen Möglichkeiten? Zunächst scheinbar gar nichts. Ibn Bāǧǧa sagt lediglich, dass es göttliche Möglichkeiten gibt, die durch die Wissenschaft nicht erkannt werden können und dass sie im geoffenbarten Gesetz bekannt gemacht werden. Die Verse, die er aus dem Gesetz zitiert, sprechen aber wiederum nur von der Wissenschaft: Sie rufen zur Wissenschaft auf. Mehr noch, beide Verse haben gemein, dass die Wissenschaft in ihnen zur Bedingung wahrer Gottesfurcht gemacht wird. Der erste Vers besagt zusammen mit der von Ibn Bāǧǧa hinzugefügten Erklärung sogar, dass nur diejenigen, welche die Wissenschaft gemeistert haben, die – jenseits der Wissenschaft liegenden – göttlichen Möglichkeiten anerkennen.105 Nun bedarf es keiner großen Anstren105Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 90, Anm. 50 merkt an, dass Ibn Bāǧǧa diesen Koranvers anders auslegt als Ibn Rušd in seinem Faṣl al-maqāl (Decisive Treatise). Es lohnt sich, das ein wenig zu präzisieren, da der Vers 3,7 bei Ibn Rušd eine ganz entscheidende Rolle spielt. Der Vers lässt zwei einander diametral entgegengesetzte Auslegungen zu, die seit Beginn der islamischen exegetischen Tradition bezeugt sind. Alles hängt davon ab, ob man einen Sinneinschnitt nach Allāh oder nach wa-l-rāsiḫūn fī l-ʿilm macht. Demnach lautet die Übersetzung entweder: »…niemand kennt ihre Deutung außer Gott. Und die in der Erkenntnis Festen sagen…« oder »…niemand kennt ihre Bedeutung außer Gott und den in der Erkenntnis Festen. Sie sagen…«. Diese letztere Interpretation nehmen alle diejenigen für sich in Anspruch, die im Korantext ein nicht buchstabengetreues Bedeutungsniveau erschließen wollen. Vgl. dazu Stefan Wild, The Self-Referentiality of the Qurʾān: Sūra 3:7 as an Exegetical Challenge,
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gung, um zu sehen, dass genau dieses Aufrufen zur Wissenschaft ein Moment bildet, durch welches die Offenbarung die Wissenschaft vervollständigt. Die Wissenschaft selbst kann nicht anders für sich werben als durch ihren Vollzug. Das setzt jedoch bereits voraus, dass man bereit ist, sich auf die Wissenschaft einzulassen. Was aber, wie wir gesehen haben, keine Selbstverständlichkeit ist. al-Fārābī weist in der Tat in den hier mehrfach zitierten und von Ibn Bāǧǧa nachweislich rezipierten Schriften der Religion nicht nur für das Handeln, sondern auch für die Erkenntnis die Rolle zu, auf die Philosophie vorzubereiten, beziehungsweise ihr durch Nachahmung zu dienen. Obgleich Ibn Bāǧǧa dies an keiner Stelle seines überlieferten Werkes so ausdrücklich sagt und die Frage nähere Erörterung verdient, ist es gerade angesichts des hier zitierten Textes die plausibelste Annahme, dass er sich dieser Position anschließt.106 Nun hat all dies wie gesagt noch nichts mit den eigentlich angekündigten göttlichen Möglichkeiten zu tun, die nur durch göttlichen Beistand erkennbar sein sollen, insofern es ja bisher lediglich um die als »natürlich« gekennzeichnete Wissenschaft ging. Wenn hier also überhaupt eine göttliche Möglichkeit zur Sprache kommt, dann sicherlich erst mit dem Ḥadīṯ (einem überlieferten Prophetenwort) über den Intellekt. Es ist dabei nicht mehr von Wissenschaft, sondern von Selbsterkenntnis die Rede, die in der Erkenntnis dieses Intellekts bestehen soll. Zugleich aber wird diese Erkenntnis als erhabenste Stufe der er-
in: Jane Dammen McAuliffe, Barry D. Walfish, Joseph W. Goering (Hg.), With Reverence for the Word. Mediaeval Scriptural Exegesis in Judaism, Christianity, and Islam, Oxford 2003, 422–436. Ibn Rušd setzt die zweite Interpretation ein, um zu zeigen, dass »die in der Wissenschaft Beschlagenen« (und nur diese), das Recht und die Pflicht haben, die mehrdeutigen Koranverse (mutašābihāt) – und das sind dann alle die der natürlichen Vernunft widersprechen – in Übereinstimmung mit dieser zu interpretieren; vgl. Ibn Rušd, Kitāb faṣl al-maqāl, ed. Hourani, 15, 1–5 und 17, 4–18, 3; übers. Geoffroy, §§ 23 und 28, siehe dort auch Anm. 57. Ibn Bāǧǧa scheint die erste Interpretation zu bevorzugen, da er sein Zitat mit wa-l-rāsiḫūn fī l-ʿilm beginnen lässt. Man kann daraus jedoch nicht schließen, dass er eine weniger rationalistische Position bezieht als Ibn Rušd. Offenbar identifiziert er die mutašābihāt mit seiner »göttlichen Möglichkeit«, die muḥkamāt, die »deutlichen Verse«, dagegen mit der »natürlichen Möglichkeit«. Der Vers, so wie er in Ibn Bāǧǧas Text eingebettet ist, besagt aber gleichfalls, dass nur »die in der Wissenschaft Beschlagenen« Zugang zu den göttlichen Möglichkeiten haben, denn nur so ist es zu verstehen, dass Ibn Bāǧǧa diesen Vers gleichzeitig als Beleg dafür anbringt, dass der Koran zur Wissenschaft aufruft. Die sich ergebende Spannung zwischen dem offenbarten Text als Aufruf zur Wissenschaft und als jenseits der Wissenschaft liegende Vervollständigung der Wissenschaft wird durch diesen Koranvers verstärkt. Das zeigt nur einmal mehr, dass Ibn Bāǧǧa hier in keiner Weise von einem religiösen Standpunkt aus spricht; er hat einfach zwei Verse ausgewählt, welche die Überlegenheit des wissenschaftlich Gebildeten zu bestätigen scheinen. 106Vgl. in diesem Sinne Leaman, Ibn Bajja on Society and Philosophy, 112. Ausdrücklich nennt aber auch Ibn Bāǧǧa die Rhetorik als Fähigkeit »von dem zu überzeugen, was die Weisheit abgeleitet hat« (Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 112, 17–19; Faḫrī, 136, 19–21; Asín, 35, 5f ). Zwischen Rhetorik und Religion stellt nun al-Fārābī bekanntermaßen die engste Verbindung her; vgl. dazu oben den Abschnitt 1.
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habensten Wissenschaft bezeichnet und damit nahtlos an die Wissenschaft angeschlossen. Es ist klar zu erkennen, dass wir es hier mit dem zu tun haben, was wir oben als zweite und letzte Etappe der Ausrichtung des Menschen auf den Intellekt kennenlernen konnten, durch die der Mensch »rein göttlich« wird (vgl. T 3). Bereits dort konnten wir feststellen, dass dieses Ziel durch einen Erkenntnisfortschritt erreicht wird, und nicht umsonst waren im dort zitierten Text Titel aristotelischer Bücher angegeben, um auf die Identität des gemeinten Intellekts hinzuweisen. Wollte man nun der Interpretation Altmanns folgen und annehmen, die Erkenntnis des Intellekts erreiche der Mensch nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Gnade, weil sie hier als »göttliche Möglichkeit« präsentiert werde, so müsste man auch konsequent weiterlesen und behaupten, dass sie als göttliche Möglichkeit auch nur mit göttlichem Beistand erfasst werden könne, sprich, nur durch den zitierten Ḥadīṯ und ähnliche religiöse Texte. Diese Konsequenz macht aber vollends deutlich, wie unhaltbar die vorgeschlagene Deutung ist, denn tatsächlich bemüht sich nicht zuletzt der Abschiedsbrief selbst, aber eben auch das Buch der Seele und viele weitere Texte Ibn Bāǧǧas zu zeigen, dass und wie die Erkenntnis des Intellekts möglich ist, nämlich durch Abstraktion. Auch das steht präzise bei Ibn Rušd, an dessen kritischer Darstellung Altmann sich doch orientiert. Dies wird aber auch im in Frage stehenden Text vorausgesetzt, da die Erkenntnis des Intellekts wie gesagt in die Wissenschaft eingeordnet wird, wenn auch als deren Erfüllung, und eben nicht ihr gegenübergestellt wird. Und nochmals: Ibn Bāǧǧas Deutung seines ersten Koranzitats macht das Glauben an die göttlichen Möglichkeiten vom Besitz der Wissenschaft abhängig. Das ist nur dann zu verstehen, wenn er dabei an die wissenschaftlichen Beweise für die Möglichkeit der Erkenntnis des Intellekts denkt, von denen wir soeben gesprochen haben. Ist dann die Rede von göttlichen Möglichkeiten aber nicht völlig inhaltsleer? Zumindest muss sie einen anderen Sinn haben als sich dem ersten Augenschein offenbart. Um eine bloß missglückte Verbeugung vor islamischen Vorstellungen handelt es sich aber auch nicht, denn in der Verbindung des Intellekts mit dem Menschen nennt Ibn Bāǧǧa den Intellekt erneut »Lohn und Gnadengeschenk Gottes« (ṯawāb Allāh wa-niʿmatuhū), welches »alle Potenzen der Seele« (maǧmūʿ quwā l-nafs) erhalten, wenn es Gott gefällt. Was wiederum dann der Fall ist, wenn der Mensch tut, was gottgefällig ist.107 Diese Redeweise, die auch in dieser Abhandlung isoliert zwischen ansonsten rein philosophischen Ausführungen steht, klärt sich endlich, wenn man eine weitere Vergleichsstelle aus der Lebensführung des 107Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 190, 17–22; Faḫrī, 162, 4–7; Asín, 14, 14–18. Warum hier in der Folge wieder davon gesprochen wird, dass das Religionsgesetz die Wissenschaft vervollständigt, indem es Nuancen dieses Vorgangs bekannt macht, die sich dem Denken (fikra) nicht erschließen, wäre im Zusammenhang mit Ibn Bāǧǧas Ansichten über Prophetie zu klären, was hier jedoch unterbleiben muss.
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Einsamen heranzieht.108 Dort erklärt Ibn Bāǧǧa, dass Gesundheit (ṣiḥḥa), »Spiritualität« (rūḥānīya) und weiteres, was er erst im Zusammenhang mit dem rationalen Vermögen (!) nennen will, »göttliche Gaben« sind (mawāhib… ilahīya), an denen der Mensch keinen Anteil hat, das heißt, deren Ursache (sabab) anders etwa als von Besitztümern nicht der Mensch ist. Gleichzeitig jedoch schreibt Ibn Bāǧǧa eigentümlicherweise, dass nur derjenige, dessen Trieb tugendhaft ist, gesund wird und nur derjenige, dessen moralischer Charakter tugendhaft ist, »spirituell«. Die Tugendhaftigkeit besteht aber im einen wie im anderen Fall darin, dass er die Tätigkeiten (afʿāl) ausführt, durch die wesentlich (bi-l-ḏāt) die Gesundheit beziehungsweise die Spiritualität erlangt wird. Wenn hier kein handfester Widerspruch vorliegt, dann kann das nur so verstanden werden, dass zwar die Vollendung, die sich einstellt, nicht vom Menschen »verursacht«, nicht von ihm »gemacht« ist, dass er sie aber sehr wohl auf Grund eines Wesenszusammenhanges erhält, der zwischen seinen Handlungen und diesen Vollendungen besteht. »Göttliche Gaben« – und zu ihnen gehört offenbar auch die Erkenntnis des Intellekts, durch die sich »alle Potenzen der Seele« vollenden – sind also mitnichten willkürlich und in für den Menschen nicht nachvollziehbarer Weise verteilte übernatürliche Geschenke, sondern wesentliche Folge menschlichen Handelns, ohne allerdings ihrer Substanz nach Menschenwerk zu sein. Wie oben vermutet, ist also alles Natürliche eine Gabe Gottes, und die Wissenschaft, die in der zitierten Passage des Abschiedsbriefs so bezeichnet wird, ist dies nur deshalb in anderem Sinne als die Erkenntnis des Intellekts, weil sie eine durch den Menschen zu vollziehende Tätigkeit bleibt, letztere dagegen die Vollendung dieser Tätigkeit darstellt. Damit ist nun auch gesagt, dass die häufig zu lesende Beurteilung der Intellekttheorie Ibn Bāǧǧas als »rationale Mystik« jeder Grundlage entbehrt.109 Es handelt sich bei der höchsten Erkenntnis eben nicht um ein »geheimnisvolles« (μυστικός) Erlebnis des Göttlichen, sondern um eine erklär- und begründbare, der wissenschaftlichen Erkenntnis »wesentlich« folgende Vollendung.
108Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 153, 18–154, 15; Faḫrī, 69, 19–70, 15. 109Angebliche mystische Tendenzen wollen erkennen: Asín, La Carta de adiós, 5f; Cruz, Historia de la filosofia española, 345f; Māǧid Faḫrī, Three Varieties of Mysticism in Islam, in: International Journal for Philosophy of Religion 2 (1971), 193–207, hier 199ff; Joaquín Lomba, Considerationes sobre el tema del amor en Avempace, in: La Ciudad del Dios 208 (1995), 397– 413, hier 409; ders. La búsqueda del fundamento en Avempace, 605f. Ibn Bāǧǧas Rationalismus betonen: Munk, Mélanges, 409f; Tornero, La filosofía andalusí frente al sufismo, 4–9; Puerta, Historia del pensamiento estético árabe, 142f. Mit dem Begriff einer »rationalen Mystik« behelfen sich Philip Merlan, Monopsychism, Mysticism and Metaconsciousness. Problems of the Soul in the Neoaristotelian and Neoplatonic Traditions, Den Haag 1963, 20f; S. S. Hawi, Ibn Ṭufayl’s Appraisal of his Predecessors and the Influence of these on his Thought, in: Islamic Studies 13 (1974), 135–177, hier 108ff. Vgl. neuerdings auch Lomba in: Ibn Bāŷŷa, Libro sobre el alma, 13: »mística intelectual«.
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Dass das Göttliche hier nichts anderes als der Gipfelpunkt des Natürlichen ist, zeigt sich endgültig, wenn man Ibn Bāǧǧas Gründen für die Verwendung des zitierten Ḥadīṯ nachforscht. Bereits in der ersten Ausgabe des Abschiedsbriefs hat der Herausgeber, M. Asín, angemerkt, dass I. Goldziher den neuplatonischen Ursprung dieses Ḥadīṯ gezeigt habe.110 Diese sicherlich fundierte Einschätzung reicht jedoch für die Analyse von Ibn Bāǧǧas Text nicht aus, denn es ist nicht genug, auf die Quelle der von ihm zitierten religiösen Überlieferung zu verweisen, entscheidend ist vielmehr, wozu er selbst dieses Element einsetzt. Goldziher sieht den wichtigsten neuplatonischen Gehalt in der Idee, dass der Weltintellekt die erste aus dem göttlichen Wesen emanierende geistige Substanz sei. Diese Idee ist aber in der von Ibn Bāǧǧa zitierten Fassung völlig zurückgedrängt.111 Altmann versteht die Aufforderungen an den Intellekt, hervorzutreten und umzukehren, als Anspielungen auf das Ausfließen und auf sich selbst Zurückkommen des plotinischen Intellekts. Ibn Bāǧǧa, so meint er, hätte diesen Gedanken mit der Konzeption des auf sich selbst Zurückkommenden und sich selbst Erkennenden Intellekts verbunden, die auf Proklos zurückgeht und Ibn Bāǧǧa durch eine Alexander von Aphrodisias zugeschriebene Abhandlung bekannt war.112 Sicher, die Selbsterkenntnis spielt in Ibn Bāǧǧas Text, wie gezeigt, eine zentrale Rolle, aber von einer Doppelbewegung des Ausfließens und Zurückkehrens ist nicht die Rede. Ibn Bāǧǧa setzt den Ḥadīṯ, gleichgültig welche Ideen dieser für andere islamische Denker ausgedrückt haben mag, vielmehr dafür ein, mit Mitteln der islamischen Tradition eine Passage aus Aristoteles’ Nikomachischer Ethik zu imitieren, die sich gleichfalls religiöser Sprache bedient, um die Vorzüge der Vernunfttätigkeit zu preisen. Aristoteles schreibt: »Wer aber denkend tätig ist und den Intellekt in sich pflegt, mag sich nicht nur an der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden…«113 Vier 110Ignaz Goldziher, Neuplatonische und gnostische Elemente im Ḥadīṯ, in: Zeitschrift für Assyriologie 22 (1908), 317–344, besonders 318–324. 111Goldziher zeigt, dass die offenbar ursprüngliche Form des Ḥadīṯ mit den Worten »als erstes schuf Gott den Intellekt« beginnt und in dieser Form zum Beispiel von al-Ġazālī zitiert wurde, jedoch starken Widerspruch erntete, weil sie mit der islamischen Schöpfungslehre nicht übereinstimmt. Von manchen wurde daher eine neutralere Version akzeptiert, die mit »als Gott den Intellekt schuf« beginnt. Ibn Bāǧǧa hat, wie man sieht, keine dieser Versionen aufgenommen, sondern beginnt: »Gott schuf den Intellekt«. Die Betonung der Erstheit des Intellekts zielt darauf ab, dass der Intellekt als erstes aus Gott emaniert, und sie ist folglich eng mit der Emanationslehre verbunden, die man bei Ibn Bāǧǧa nie antrifft. Im Gegensatz zu dem, was Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 99, behauptet, bezieht sich daher Ibn Bāǧǧa in keinem Falle auf al-Ġazālīs Auslegung des Ḥadīṯ. Übrigens weichen bereits die von beiden Denkern zitierten Versionen voneinander ab. 112Altmann, Ibn Bajja on Man’s Ultimate Felicity, 98f. 113Aristoteles, Nikomachische Ethik, X. 8[9], 1179a22–32, die Folge lautet: »Denn wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgendwelche Sorge
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zentrale Gedanken sind diesem Text und demjenigen Ibn Bāǧǧas gemeinsam und zeigen, dass er im Geiste der Nikomachischen Ethik schreibt. An erster Stelle ist zu nennen, dass beide den Intellekt als das Gott Liebste bezeichnen.114 Die weitaus häufigere Version des Ḥadīṯ, diejenige, die von al-Ġazālī zitiert und von Goldziher wiedergegeben wird, bezeichnet aber den Intellekt nicht als liebstes sondern als edelstes Geschöpf. Ibn Bāǧǧa hat also mit einiger Sicherheit die Fassung, die er wiedergibt, sehr bewusst gewählt. Dass der Intellekt das edelste Geschöpf sei, korrespondiert nämlich durchaus dem Tenor seines Textes, aber die Version, für die er sich entscheidet, stimmt am besten mit den Worten der Nikomachischen Ethik überein. Das zweite und dritte gemeinsame Moment besteht darin, dass Ibn Bāǧǧa wie Aristoteles darauf dringt, dass der Mensch sich dem Intellekt als dem Besten in ihm zuwendet und dass er gerade durch diese Wendung zu seinem eigenen Wesen Gott nahe kommt. Wichtig und bemerkenswert ist nämlich, dass Ibn Bāǧǧa Gott ausdrücklich nur zum mittelbaren Ziel der höchsten Erkenntnis macht, die wesentlich reflexiven Charakter hat. Ziel des Menschen ist die Selbsterkenntnis, die im Ergreifen des Intellekts besteht, der sein eigentliches Wesen bildet. Diese Selbstwerdung vollzieht sich mit dem Mittel der Wissenschaft, die zu dem gehört, was dem Menschen von Natur aus möglich ist, die man im gleichen Sinne aber auch als göttliche Gabe bezeichnen kann. So wird viertens schließlich in beiden Texten klargemacht, dass der Weise, der Philosoph, derjenige, der theoretische Erkenntnis erlangt hat, diese Gottesnähe erreicht. Freilich spricht Aristoteles von intellektueller Erkenntnis und nicht von einer Erkenntnis des Intellekts. Da beginnt die Deutung Ibn Bāǧǧas. Die Glückseligkeit (al-saʿāda), die durch wissenschaftliche Erkenntnis erreicht wird und die in der Erkenntnis des eigenen Selbst als Intellekt besteht, ist ganz unzweideutig eine philosophische Glückseligkeit. Das überragende Vorbild diehaben, muss man ja vernünftigerweise annehmen, dass sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben – und das ist der Intellekt –, und dass sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln. Es ist aber unverkennbar, dass dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das so ist, so muss er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glücklichste.« (Übersetzung: Eugen Rolfes/Günther Bien, an einigen Stellen von mir angepasst). 114Aristoteles’ ϑεοφιλέστατος findet sich in Ibn Bāǧǧas aḥabb ilaiyya adäquat ausgedrückt. Allerdings ist in den erhaltenen Zeugnissen der arabischen Übersetzung des Textes ϑεοφιλέστατος aktivisch gedeutet, als »großer Liebhaber Gottes«, muḥibban li-Llah ǧiddan, beziehungsweise אוהב האל מאד, siehe: The Arabic Version of the Nicomachean Ethics, edited by Anna A. Akasoy and Alexander Fidora, with an introd. and annotated transl. by Douglas M. Dunlop (Aristoteles Semitico-Latinus 17), Leiden–Boston 2005, 569, 9; Averroes’ Middle Commentary on Aristotle’s Nicomachean Ethics in the Hebrew Version of Samuel ben Judah, critical edition with an introduction, notes and a glossary by Lawrence V. Berman, Jerusalem 1999, 345, 562.
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ses Glücksideals findet Ibn Bāǧǧa in der aristotelischen Ethik. Dass er das ganz bewusst tut, gibt er im übrigen selbst deutlich zu verstehen. In der Einleitung desselben Abschiedsbriefs beruft sich Ibn Bāǧǧa auf das zehnte Buch der Nikomachischen Ethik – in der arabischen Fassung ist es das elfte115 –, um das Ziel der von ihm gewählten Lebensweise zu beschreiben. [T 6] »Wichtiger als dies und in größerem Maße verpflichtend für mich, sowie angenehmer und wünschenswerter für mich als das ist es, Dir das Großartigste der Dinge bekannt zu machen, die ich erfasst habe, nämlich die Eigenschaft des Ziels zu dem die Natur [ṭabʿ]116 durch Beschreiten [dieses Wegs] gelangt. Ich habe es bereits beschrieben und meine Vorgänger haben es ausführlich beschrieben. Einer derjenigen, die es beschrieben und wiederholt darüber gesprochen haben, ist Abū Naṣr [al-Fārābī] – seine Bedeutung in dieser Wissenschaft ist bekannt. Aber ich habe in all seinen Büchern, die nach al-Andalus gelangt sind, nicht diese Methode [naḥw] gefunden, die ich erfasst habe; Dir wird aus meiner Darlegung darüber klarwerden, dass diese Methode der Betrachtung [naḥw al-naẓr] nur mir klar geworden ist. Ich habe gefunden, dass Aristoteles im elften Buch der Ethik bereits darüber spricht, nur ist das sehr umrisshaft, man kann, indem man sich darauf beschränkt, davon nicht dieses Maß erfassen. […] Dir wird – Gott stärke Dich –, wenn Du es erkannt hast, das Ausmaß seines Nutzens klar werden und dass ihm in Bezug auf den Nutzen für beide Leben nichts gleichkommt.«117 Ibn Bāǧǧa spricht hier von nichts geringerem als dem »Großartigsten«, was er erkannt – und allein erkannt – hat, und es sollte sich daher lohnen, seine Worte genau zu bedenken. Er redet vom Ziel der Philosophie. Dieses soll bekannt und von vielen Philosophen, besonders aber von al-Fārābī, behandelt worden sein. Wofür Ibn Bāǧǧa jedoch alleinige Anerkennung beansprucht, das ist eine gewisse »Methode« der Betrachtung – vermutlich der Betrachtung dieses Ziels. Für sie will er kein Vorbild bei al-Fārābī und nur eine sehr allgemeine Andeutung im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik gefunden haben. Diese Methode soll schließlich den höchsten Nutzen für dieses und das jenseitige Leben besitzen.
115Für eine aktuelle Zusammenfassung des Forschungsstandes vgl. Mauro Zonta, Les éthiques. Tradition syriaque et arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 191–198, besonders 193f. Danach ist das siebte Buch der elf Bücher umfassenden arabischen Übersetzung vermutlich eine Bearbeitung von Porphyrios’ Kommentar zu den Büchern I bis VI. 116Dies macht noch einmal deutlich, dass die in dieser Abhandlung beschriebene Vollendung des Menschen eine natürliche Vollendung ist, die nicht vom Eingreifen göttlicher Gnade abhängt. 117Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 89, 16–90, 3; Faḫrī, 114, 2–11; Asín, 15, 14–16, 2.
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Man hat an dieser Stelle wie selbstverständlich auf Nikomachische Ethik X. 7 verwiesen, wo Aristoteles vom Leben der Theorie als Glückseligkeit des Menschen spreche.118 Dieser recht allgemein bleibende Verweis ist zwar nicht falsch, übersieht jedoch, dass Ibn Bāǧǧa bei Aristoteles nur eine umrisshafte Beschreibung dessen gefunden haben will, was er selbst erkannt zu haben meint, und dass er bei Aristoteles etwas entdeckt hat, das er bei al-Fārābī nicht entdeckt hat. Nun wäre es schon sehr merkwürdig von Ibn Bāǧǧa, zu behaupten, dass Aristoteles den βίος ϑεωρητικός als höchstes Ziel und höchstes Glück des Menschen lediglich in Buch zehn vage andeutet, da Aristoteles ihn doch dort recht ausführlich begründet und vom ersten Buch an vorbereitet (besonders 1097b22ff). Genauso merkwürdig wäre es, vorzugeben, diese Lehre in al-Fārābīs Schriften nicht gesehen zu haben. Ich schlage daher folgende Interpretation vor: Das Ziel der Philosophie, welches al-Fārābī, aber nicht nur er, so ausführlich beschreibt und welches daher allgemein bekannt sein sollte, ist die Vollendung des Intellekts, wie sie im Anschluss an De anima III. 4–7 gedacht worden ist.119 Dies ist selbstverständlich im Einklang mit dem βίος ϑεωρητικός der Nikomachischen Ethik, und es bleibt also wahr zu sagen, dass es das in der Aristotelischen Ethik entfaltete philosophische Ideal ist, auf das Ibn Bāǧǧa hier anspielt. Der konkrete Verweis auf den aristotelischen Text wird aber die Methode meinen, mit der die höchste Erkenntnis erreicht werden kann, die sowohl in De anima als in der Nikomachischen Ethik kaum mehr als angedeutet wird. Hier kann man nun in Nikomachische Ethik X. 7 eine Bemerkung finden, die in der Tat gut mit den Überlegungen Ibn Bāǧǧas zusammenstimmt, die soeben besprochen worden sind. Aristoteles weist nämlich das Ansinnen zurück, man solle als Mensch sich auf Menschliches und als Sterblicher auf Sterbliches beschränken und diesem nachstreben. Ganz im Gegenteil, so sagt er, müssen wir uns bemühen, unsterblich zu sein und unser Leben nach dem Besten auszurichten, was in uns ist – nach der Vernunft.120 »Ja, man darf sagen: dieses Göttliche in uns ist unser wahres Selbst, wenn anders es unser vornehmster und bester Teil ist.«121 Hier klingt genau das an, was wir von Ibn Bāǧǧa schon gehört haben: Dass wir den Intellekt als unser Wesen erkennen müssen und dadurch mit ihm identisch und unsterblich werden. Diese Idee, dass wir den ewigen Intellekt in uns finden, 118Asín, La Carta de adiós, 43, Anm. 1; D. M. Dunlop, Observations on the Medieval Arabic Version of Aristotle’s Nicomachean Ethics, in: Oriente e occidente nel medioevo, Rom 1971, 229–249, hier 241f. 119Vgl. etwa al-Fārābī, Risāla fī l-ʿaql, ed. Bouyges, 31, 4–6: » […] bis sich der erworbene Intellekt einstellt, wobei die Substanz des Menschen oder der Mensch, insofern er sich durch ihn substantialisiert hat, zu etwas wird, was dem aktiven Intellekt am nächsten steht, und dies ist die letzte Glückseligkeit und das andere Leben.« 120Aristoteles, Nikomachische Ethik X. 7, 1177b31ff. 121Aristoteles, Nikomachische Ethik X. 7, 1178a2f.
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durch eine Reflexion über unseren Intellekt, ist nun aber tatsächlich abwesend bei al-Fārābī. Sie stellt ein eigentümliches Element von Ibn Bāǧǧas Erkenntnislehre dar.122 Ibn Bāǧǧa entwickelt bewusst eine eigene Theorie, und er entwickelt sie bewusst in Anknüpfung an das philosophische Ideal der Nikomachischen Ethik, und zwar in so enger Anknüpfung, dass er meint, eine von Aristoteles dort angedeutete Methode, die höchste Verwirklichung dieses philosophischen Lebens zu erreichen, als einziger verstanden, entwickelt und erklärt zu haben. Die Rolle, die Ibn Bāǧǧa demgegenüber dem platonischen Erbe zuweist, ist denkbar gering und beschränkt sich darauf, im Sinne des sokratischen Motivs der Sorge um die eigene Seele123 – auf das letztlich wohl auch Aristoteles an den hier besprochenen Stellen der Ethik zurückgeht – eine Theorie paränetisch zu unterstützen, die sich systematisch und argumentativ allein aus Aristoteles speist. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist Ibn Bāǧǧas Verwendung des Phaidon, von dem er offenbar eine relativ textnahe Version besaß.124 In einer nach dem Abschiedsbrief entstandenen Abhandlung unterstreicht er seine Aussage, die Seele sei »erster Beweger« des Menschen, der Leib nur die Gesamtheit der Organe, mit einem recht wörtlichen Zitat aus der Schlusspassage des Phaidon: Der zurückbleibende Leib des Sokrates sei nicht Sokrates, sondern der wahre Sokrates gehe davon.125 Nun will Ibn Bāǧǧa damit keineswegs auf individuelle Unsterblichkeit der menschlichen Seele hinaus, denn er beruft sich direkt im Anschluss auf seinen Abschiedsbrief, in dem gezeigt worden sei, dass das Gute »in seiner Seele« und unsterblich sei. Er denkt also auch hier an den reinen Intellekt, der zwar in der Seele aber nicht die Seele ist. So geht es auch im Buch der Seele, wo Platon zusammen mit »den Peripatetikern« als Autorität dafür auftreten darf, dass das Intelligible besser sei als das Sinnliche (N III. 15), während
122Siehe dazu Kapitel 13, Abschnitt 2. 123Lomba, Lectura de la ética griega, 30–33 in Bezug auf Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 104, 6–11 (lies in Zeile 6 übereinstimmend mit MS B, f. 202v15 [arab.] und den anderen Editionen li-nafsihī statt bi-nafsihī); Faḫrī, 128, 8–13; Asín, 27, 5–28, 3 (arab.), 65 (span.). Es gibt allerdings einen wesentlichen Unterschied zur sokratischen Position, den Lomba nicht berücksichtigt: Statt mit der Unsterblichkeit der individuellen Seele ist das Motiv bei Ibn Bāǧǧa mit der Idee verknüpft, dass der überpersönliche aktive Intellekt das eigentliche Wesen des Menschen ist. 124Für die Verfügbarkeit einer oder gar mehrerer solcher Versionen sprechen auch die aus anderen Quellen gesammelten Zeugnisse, vgl. Dimitri Gutas, Platon – Tradition arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 5a, Paris 2012, 845–863, hier 854f. 125Ibn Bāǧǧa, Fī l-mutaḥarrik, in: Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 138–139, insbesondere 138, 7–13. Eine genauere Übersetzung und Analyse muss hier ausbleiben, da zunächst der mangelhafte Text zu verbessern wäre. Es handelt sich hier um eine Wiedergabe von Phaidon, 115d–e. Diese Passage war in einer arabischen Übersetzung erhalten, die nachweislich zumindest eine textnahe Version des letzten Teils der Schrift (107c–118a) enthielt. Vgl. dazu J. Ch. Bürgel, A New Arabic Quotation From Plato’s Phaido and its Relation to a Persian Version of the Phaido, in: Actas do IVo Congresso de estudios árabes e islámicos, Coimbra–Lissabon 1968, 281–290.
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etwa die Wiedererinnerungslehre mit mehrfacher ausdrücklicher Bezugnahme auf den Phaidon kritisiert wird (vgl. N IX. 4, X. 16). Ibn Bāǧǧas Begriff der Philosophie ist mithin derjenige einer Selbstvollendung durch Wissenschaft. Die »Konjunktion« mit dem aktiven Intellekt ist als deren Gipfelpunkt Teil der Wissenschaft. Der Überstieg, der hier stattfindet, ist nicht ein Grenzübertritt in eine transzendente intelligible Welt, sondern vielmehr der Übergang von der wissenschaftlichen Erkenntnis zu deren »transzendentalem« Prinzip.
3. Kapitel: Aristotelische Psychologie als Fundamentalwissenschaft 1. Der Status der Psychologie 1.1. Von Aristoteles zu Themistios Aristoteles eröffnet seine Schrift De anima, durch die er die philosophische Disziplin der Psychologie überhaupt begründet, mit einer kurzen Positionsbestimmung, die halbwegs zwischen wissenschaftstheoretischer Einordnung und protreptischer Vorrede anzusiedeln ist.1 Die Forschung über die Seele gehöre »zu den ersten« Erkenntnissen. Und zwar sei sie in zwei Hinsichten, die über den Rang einer Wissenschaft entscheiden, unter den »schönsten« und »wertvollsten«, nämlich sowohl was ihre Genauigkeit als auch was die »Güte« und »Wunderbarkeit« ihres Gegenstandes angehe. Er fügt noch hinzu, dieses Studium trage zur Erkenntnis jeglicher Wahrheit viel bei, am meisten jedoch zum Studium der Natur, weil die Seele das »Prinzip« der Lebewesen sei. Mit diesen knappen Hinweisen auf die Gründe für den großen Wert der Psychologie lässt er es jedoch bewenden; sie haben in der Auslegungstradition denn auch ganz unterschiedliche Deutungen erfahren. Das Hauptaugenmerk legt Aristoteles hier am Anfang (De anima, I. 1) vielmehr auf die Bestimmung der allgemeinen Zielsetzung der Psychologie, die in ihr zu klärenden Fragen und die dabei zu befolgende Methode. Nach einer dialektischen Durchmusterung der Aussagen seiner Vorgänger über die Seele (I. 2–5) kommt er dann im zweiten Buch zu einer ersten umrisshaften Definition der Seele (II. 1–2), der er schließlich Einzeluntersuchungen der »Vermögen« oder »Potenzen« der Seele – Ernährung, Wahrnehmung, Vorstellung, Intellekt und Bewegung – folgen lässt. Sieht man sich nun Ibn Bāǧǧas Aufnahme und Ausdeutung der Anfangsworte von De anima in seinem Buch der Seele an, bei der er so deutlich wie an keiner anderen Stelle seines Werks auf den Status der Psychologie eingeht, dann fällt zuallererst ins Auge, dass dies nicht etwa am Beginn des ersten Kapitels oder gar in einer Einleitung geschieht, sondern erst nachdem Ibn Bāǧǧa im Rückbezug auf die Ergebnisse der aristotelischen Physik die allgemeine Definition der Seele bereits eingeführt hat. Erst nachdem also die Seele als erste Entelechie eines na1Aristoteles, De anima, I. 1, 402a1–7.
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türlichen, organischen Körpers bestimmt worden ist (N I. 6), geht Ibn Bāǧǧa auf Wert und Stellung der Psychologie ein (N I. 7–8), deren Priorität er aufs nachdrücklichste betont. Dann wendet auch er sich Fragen der Methode zu.2 Diese erste Beobachtung ist bezeichnend für Ibn Bāǧǧas Konzeption der »Wissenschaft von der Seele« (al-ʿilm bi-l-nafs, N I. 7), deren Analyse diese Studie gewidmet ist. Denn so sehr Ibn Bāǧǧas Auslegung die Aussage des Aristoteles steigert und zuspitzt, so dass die Psychologie tatsächlich wenn nicht als höchste Wissenschaft so doch als unhintergehbare Prinzipienwissenschaft erscheint, die gleichzeitig den Anfang der Erkenntnis erschließt und ihren zumindest vorläufigen Höhepunkt bildet, so richtig ist doch auch, dass er dies erst im Ausgang von einem vorgängig naturphilosophisch erschlossenen Begriff der Seele tut. Die Untersuchung der Frage, in welchem Sinne Ibn Bāǧǧa die Psychologie als Fundamentalwissenschaft versteht, ist daher notwendig auch zur Einordnung und Bewertung dieser naturphilosophischen Grundlage. Der dritte Teil der vorliegenden Untersuchung konzentriert sich auf die naturphilosophischen Grundlagen der Psychologie und leuchtet damit genau den Bereich näher aus, den Ibn Bāǧǧa zur Voraussetzung der Psychologie als Prinzipienwissenschaft macht. Nur wenn eine erste Einsicht in die hier gemeinte Priorität der Wissenschaft von der Seele besteht, kann jedoch ein Verständnis für die Bedingungsverhältnisse zwischen den naturwissenschaftlichen und den fundamentalwissenschaftlichen Aspekten der Psychologie erreicht werden. Denn vor diesem Hintergrund werden dann im Verlauf der Untersuchung diejenigen naturphilosophischen Momente sichtbar werden, die nach einer Ergänzung und Grundlegung verlangen und an sie heranführen. Ibn Bāǧǧas Aussagen zur wissenschaftstheoretischen Stellung der Seelenlehre reihen sich, wie erwähnt, in die lange Auslegungstradition von De anima ein; ihre Besonderheit wird sich daher durch einen Blick in die Interpretationsgeschichte am klarsten zeigen. Aristoteles’ Einleitungsworte wiesen der Psychologie ganz offenbar eine besondere Stellung im System der Wissenschaften an, blieben jedoch relativ unbestimmt in Hinsicht auf die Frage, wie diese Stellung genau zu definieren ist. Die Kommentatoren haben sich bemüht, darauf eine Antwort zu finden. Von den beiden griechischen Exegeten, deren Auslegung von De anima Ibn Bāǧǧa in arabischer Sprache zur Verfügung stand – Alexander und Themistios – scheint der erstere die Lobrede auf die Psychologie mit einiger Skepsis betrachtet zu haben. Wenn man dem Bericht des neuplatonischen Interpreten Philoponos vertrauen kann, dann hat Alexander in seinem Literalkommentar zu dem Werk, der im griechischen Original verloren ist und wohl niemals ins Arabische übertragen wurde, selbst die Echtheit dieser Passage bezweifelt. Von den Satzteilen, die er anerkannte, hat er eine Auslegung gegeben, die offenbar 2Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 3.
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darauf abgestellt war, die Psychologie nicht mit dem Anspruch der Metaphysik, erste Wissenschaft zu sein, in Konflikt zu bringen.3 Ein Blick in Alexanders eigene Abhandlung Über die Seele, die aber, wie bereits gesagt, ebenfalls die Züge eines Kommentars trägt und die derjenige Text war, der Ibn Bāǧǧa vorlag, scheint das Zeugnis des Philoponos zu bestätigen: Alexander geht auf die von Aristoteles angesprochene Stellung der Psychologie überhaupt nicht ein, sondern er beruft sich lediglich auf den Spruch des delphischen Orakels – »Erkenne dich selbst!« –, dem er einen recht schlichten Sinn gibt: Selbsterkenntnis ist notwendig, damit wir unser Leben der Natur gemäß führen können; wir müssen daher die Seele erforschen, die uns zu dem macht, was wir sind, die das Prinzip unserer Natur ist.4 Das Hauptaugenmerk Alexanders gilt dann der Annäherung an eine Bestimmung der Seele über die Betrachtung des beseelten Körpers, und zwar indem er dessen Konstitution durch den Rückgang auf naturphilosophische Grundprinzipien erklärt. Wie ich zeigen werde,5 folgt Ibn Bāǧǧa in seinem Argumentationsaufbau genau dieser Strategie Alexanders, was sich eben auch dadurch bemerkbar macht, dass er die Hinführung auf die Seelendefinition den hier untersuchten wissenschaftstheoretischen Überlegungen voranstellt. Alexanders Berufung auf das delphische Orakel ist vermutlich nicht unschuldig gewählt, sondern gegen eine Auslegung desselben Spruches gerichtet, die zumindest im späteren Neuplatonismus sehr populär war und sich dann auch in den Aristoteleskommentaren niederschlug. Danach hat die Selbsterkenntnis nicht die hauptsächlich ethische Relevanz, die ihr Alexander zuspricht, sondern sie hat metaphysische Tragweite: Wer sich selbst erkennt, erkennt alles andere.6 Dies ist in neuplatonischer Perspektive deshalb der Fall, weil die unsterbliche Seele der intelligiblen Welt entstammt, zu der sie durch Selbsterkenntnis zurückkehrt, wodurch sich ihr einerseits die ihr gleichartigen Ideen erschließen, 3Ioannis Philoponi in Aristotelis de anima libros commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca 15), ed. Michael Hayduck, Berlin 1897, 24, 7–20. Vgl. Aristotle, De Anima, with translation, introduction and notes by R. D. Hicks, Cambridge 1907 [Nachdruck: Hildesheim 1990], 173. 4Alexandri Aphrodisiensis De anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 1, 4–2, 4. 5Kapitel 5, Abschnitt 2. 6H. J. Blumenthal, Aristotle and Neoplatonism in Late Antiquity. Interpretations of the De anima, London 1996, 3f. Verschiedene Interpretationstraditionen des delphischen Spruches untersucht Alexander Altmann, The Delphic Maxim in Medieval Islam and Judaism, in: ders., Biblical and Other Studies, Cambridge (Mass.) 1963, 136–232; nachgedruckt in: ders., Studies in Religious Philosophy and Mysticism, London 1969, 1–40. Ich zitiere im folgenden diesen Nachdruck. Altmann unterscheidet drei Motive: Erstens, die Seele besitzt eine Ähnlichkeit mit Gott. Zweitens, der Mensch ist ein Mikrokosmos und spiegelt die Struktur der Welt (des Makrokosmos) wieder. Drittens, die Seele steigt durch Hinwendung zu sich selbst zum Intellekt auf. Altmann bezeichnet allein die letzte Deutung des delphischen Spruches als neuplatonische (28), aber die anderen Motive scheinen dort auch eine Rolle zu spielen.
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die Ursachen der niederen Dinge sind, und wodurch sie andererseits Zugang zu den über ihr stehenden Hypostasen, ja zum Einen, Gott, erhält. In der ersten Rezeption der aristotelischen Psychologie im arabischen Raum, wie sie sich in der De anima-Paraphrase niederschlägt, die dem Zirkel um al-Kindī entstammt, wird genau diese Auffassung der Seelenlehre vertreten.7 Unter dem beschriebenen Gesichtspunkt enthält die Psychologie als Selbsterkenntnis bereits die ganze Philosophie und ist das Thema der Selbsterkenntnis mithin eigentlicher Beginn der Philosophie. Entsprechend findet sich bei neuplatonisch orientierten arabischen Autoren ein Philosophiebegriff, der an die Vorstellung anknüpft, im Menschen als Mikrokosmos spiegele sich das Ganze, der Makrokosmos, und dieser werde durch ihn erkannt. So bestimmt Isaak Israeli (geb. 850), sich auf al-Kindī stützend, in seinem Buch der Definitionen die Philosophie als Selbsterkenntnis des Menschen.8 Dieses Modell mit seiner Grundidee, der Mensch sei Erkenntnisprinzip, hat dann zum Beispiel auch die Anthropologie lateinischer Autoren des 13. Jahrhundert stark beeinflusst.9 Von dieser Konzeption der Seelenlehre muss Themistios’ Auslegung der Anfangsworte von De anima nachdrücklich unterschieden werden, obgleich auch er, anders als Alexander, der Psychologie eine Schlüsselstellung zuweist. Ohne ihr einen genau bestimmten Rang in einer Hierarchie von Wissenschaften zu geben, erklärt er, dass sie einerseits in Bezug auf die Genauigkeit hervorragt, weil sie auch den anderen Wissenschaften Genauigkeit verleiht, und dass sie andererseits in Bezug auf Wunderbarkeit hervorsticht, weil die Seele Prinzip entweder der gesamten oder doch zumindest der belebten Natur ist. Was den von Aristoteles angesprochenen Beitrag zur Erkenntnis der gesamten Wahrheit angeht, so bezeichnet Themistios die Psychologie als Startpunkt, der uns für alle anderen Wissenschaften ausrüstet, indem sie uns deren Grundlagen gibt. Dies sei näherhin für die praktische Philosophie der Fall, weil man nicht leicht die Tugenden und Vollendungen der Seele bestimmen könne, ohne ihr Wesen zu kennen, und für die Betrachtung der Natur, für welche die Seele Bewegungsprinzip sei. Themistios rundet diese Überlegungen mit der sentenzhaften Bemerkung ab, wenn die Seele sich selbst erkenne, könne man ihr auch in Bezug auf anderes vertrauen, andernfalls dagegen sei ihr Wissen unsicher.10
7Vgl. Arnzen, Aristoteles’ De Anima, 194–197, die Anmerkung 361f und 126. 8Alexander Altmann, Samuel M. Stern, Isaac Israeli, a Neo-Platonic Philosopher of the Early Tenth Century, Oxford 1958, 27; zur Quellenanalyse siehe dort 202ff. 9Vgl. Theodor W. Köhler, Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert. Die Erkenntnisbemühungen um den Menschen im zeitgenössischen Verständnis (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 71), Leiden 2000, 443–458 und 487ff. 10Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 1, 11–2, 6; Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 15f.
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Die Psychologie erschließt, in dieser Weise begriffen, nicht die gesamte mögliche Erkenntnis, sondern die Grundlagen und Bedingungen möglicher Erkenntnis. Die platonische und die aristotelische Konzeption der Seelenlehre scheinen sich nämlich insofern grundsätzlich zu unterscheiden, als jene sich auf das »wissenschaftsliebende Wesen« (φιλοσοφία) der Seele richtet, diese dagegen auf die Wissenschaft, welche die Seele zu ihrem Gegenstand macht. Anders als Platon versucht Aristoteles nicht, die Seele aus dem Wesen der Wissenschaft heraus zu verstehen.11 Wenn dies richtig ist, dann zeigt Themistios auf, inwiefern Aristoteles’ auf die wissenschaftliche Erklärung der Seele ausgerichtete Psychologie dennoch Grundlegungsfunktion haben kann.12 In der Scientia de anima der lateinischen Scholastik ist die von Themistios begründete Zentralstellung der Psychologie zunächst mit einigem Enthusiasmus aufgegriffen worden, dann aber eindeutig gescheitert.13 Dies hat seine Ursache darin, dass die von Themistios der Seelenlehre zugesprochene Gewissheit im Sinne des Albertus Magnus als eine primäre Evidenz missverstanden wurde, zu der die Seele als sich selbst präsente und durchsichtige unmittelbaren Zugang hat. Dem wurde der zutiefst empirische Charakter der aristotelischen Psychologie entgegengestellt: Die Seele selbst erkennt nur mittels Wahrnehmung, und die Wissenschaft von der Seele beruht auf den Erkenntnissen der anderen Wissenschaften, nicht umgekehrt. Es handelt sich hier aber tatsächlich um ein Missverständnis, denn Themistios geht mit Aristoteles gerade nicht in platonischer Manier von einem epistemologisch privilegierten Zugang zu uns selbst, zur Seele, aus, sondern von der epistemologischen Priorität der Erkenntnis der Seele für die Sicherung der Angemessenheit der Erkenntnis. Das beinhaltet eine Unterscheidung zwischen Erkenntnis erster und zweiter Ordnung.14 Es ist nicht widersprüchlich, die Psy11Gerburg Treusch-Dieter, Metamorphose und Struktur. Die Seele bei Platon und Aristoteles, in: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005, 15–42, hier 29. Vgl. Platon, Politeia, 611d–e. 12Entgegen der Einschätzung von Treusch-Dieter, Metamorphose und Struktur, 29: »Weder die Wissenschaft noch ihr mögliches Wissen stehen dabei in Frage, sondern die Verfahren, die hinsichtlich dieses obersten Gegenstandes anzuwenden sind.« 13Sven K. Knebel, Scientia de Anima: Die Seele in der Scholastik, in: Gerd Jüttemann, Michael Sonntag, Christoph Wulf (Hg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Göttingen 2005, 123–141, hier 125–129. 14Der Averroist Johannes de Janduno hat dies genau erfasst. Gegen den von ihm selbst erhobenen Einwand, die Seelenlehre könne die Ursachen der Erkenntnisprinzipien nicht aufzeigen, weil diese eben als Prinzipien nicht weiter zu beweisen seien, beruft er sich auf Averroes’ Unterscheidung von zwei »Subjekten« der intellektuellen Erkenntnis: dem materiellen Intellekt als Subjekt, in dem die Begriffe und eben auch die Erkenntnisprinzipien sind, und »das wodurch sie notwendig sind« (per quid sunt necessaria) und sie Dinge außerhalb der Seele repräsentieren. In dieser letzteren Hinsicht, nämlich was ihren Gehalt angeht, haben sie keine weitere Ursache, in ersterer Hinsicht jedoch sind der aktive Intellekt und die Vorstellungen im
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chologie auf den Grundlagen der Naturphilosophie zu entfalten und sie dennoch als Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis zu betrachten. Denn insofern die Gewinnung der Prinzipien unserer Erkenntnis psychologische Voraussetzungen hat, nämlich Wahrnehmung und Intellekt – wie Aristoteles in den Zweiten Analytiken (II. 19) erläutert –, diese beiden als Seelenfunktionen aber in der Psychologie behandelt werden, ist es wahr, dass eine sichere Interpretation dessen, was wir wissen, nur auf der Grundlage der philosophischen Psychologie zu leisten ist.
1.2. Ibn Bāǧǧa über die Stellung der Psychologie Genau in diese interpretatorische Linie fügt sich nun auch Ibn Bāǧǧa ein, der sich erkennbar an Themistios anlehnt, aber über ihn hinaus einige Momente genauer entwickelt. [N I. 7–8] »[a] Jedes Wissen [ʿilm] ist – gemäß dem, was Aristoteles sagt – schön und gut, nur dass einiges edler ist als anderes. Die Stufen der Ehrwürdigkeit der Wissenschaften sind bereits an vielen Stellen aufgezählt worden. [b] Die Wissenschaft von der Seele geht allen anderen Naturwissenschaften und mathematischen Wissenschaften nach allen Arten der Ehrwürdigkeit voran. [c] Außerdem ist jede Wissenschaft angewiesen auf die Wissenschaft von der Seele, da wir die Prinzipien der Wissenschaften nicht erfassen können, wenn wir die Seele nicht erfassen und nicht anhand ihrer Definition wissen, was sie ist – gemäß dem, was bereits an anderen Stellen erklärt worden ist. [d] Außerdem gehört es zu den Dingen, die allgemein bekannt sind, dass derjenige, dem man nicht zutraut, dass er den Zustand seiner Seele kennt, noch weniger wert ist, dass man ihm Wissen über den Zustand von etwas anderem als ihm [selbst] zutraut. Wenn wir daher den Zustand unserer Seelen nicht kennen und [nicht wissen], was sie sind, und uns nicht verständlich ist, was über sie gesagt wurde, ob es der Wahrheit gemäß gesprochen ist oder nicht, und wir uns darauf verlassen, dann sollten wir besser nicht auf das vertrauen, was wir von den anderen Dingen verstanden haben. [e] Außerdem lässt die Wissenschaft von der Seele den Forscher ein Vermögen [quwwa] gewinnen, die Prämissen zu erfassen, ohne die die Naturwissenschaft nicht vollendet ist. [f] Was die politische Weisheit angeht, so kann man über sie nicht in geordneter Weise reden, bevor man Kenntnis in Angelegenheit der Seele hat. Vorstellungsvermögen ihre Ursachen. In Bezug auf die Bedingungen ihrer Möglichkeit kann die Psychologie die Erkenntnisprinzipien also sehr wohl begründen. Vgl. Quaestiones Johannis de Janduno super tres libros de anima Aristotelis, Venedig 1480, f. 9r.
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[g] Eine Wissenschaft ist nun entweder edler durch [ihre] Zuverlässigkeit, indem nämlich ihre Aussagen absolut gewiss [yaqīnīya] sind, oder durch die Ehrwürdigkeit [ihres] Gegenstandes und seine Wunderbarkeit, wie das bei der Wissenschaft von den Bewegungen der Sterne der Fall ist. Die Wissenschaft der Seele vereint beide Eigenschaften zugleich in sich. [h] Die Wissenschaft der Seele ist am würdigsten, die ranghöchste aller Wissenschaften zu sein, mit Ausnahme der Wissenschaft vom ersten Prinzip [al-mabdaʾ alawwal]. Es scheint, dass diese auf andere Weise Wissenschaft ist, verschieden von den übrigen Wissenschaften, entsprechend seiner Verschiedenheit von den auf Grund seiner Seienden. [i] Aber auch die Wissenschaft vom ersten Prinzip ist nicht möglich, wenn nicht die Wissenschaft von der Seele und vom Intellekt vorhergeht, sonst würde sie auf unvollkommene Weise gewusst. Die vollkommenste Weise, in der das erste Prinzip gewusst wird, ist diejenige Wissenschaft, in der man das Vermögen [quwwa] gebraucht, welches die Wissenschaft der Seele erzielt.« Der Hintergrund, vor dem Ibn Bāǧǧa seine Überlegungen zum Status der Psychologie anstellt, ist die Annahme, dass Wissen oder Wissenschaft (ʿilm) an sich wertvoll ist, dass jedoch einige Wissenschaften andere übertreffen (a). Das Kriterium dafür ist die »Ehrwürdigkeit«, die er anschließend mit Aristoteles in zwei Aspekte unterteilt: die Zuverlässigkeit, also die methodisch-formale Hinsicht, und die Wunderbarkeit des Gegenstandes, das heißt in Hinblick auf ihren Inhalt (g). Dabei folgt Ibn Bāǧǧa Themistios, der die beiden Aspekte durch den Unterschied zwischen Geometrie und Astronomie also zwischen zwei mathematischen Disziplinen erläutert. Die Geometrie ist in ihren Beweisen sicherer, die Astronomie besticht dafür durch ihren faszinierenden Gegenstand, ist jedoch weniger präzis, weil sie sich meistens der »Annäherung« (taqrīb) bedient.15 An dieser Stelle erwähnt Ibn Bāǧǧa zwar nur die »Wissenschaft von den Bewegungen der Sterne«, aber in seinem Kommentar zu Aristoteles’ zoologischen Schriften nutzt er die Astronomie in ganz ähnlicher Weise als ein Paradigma von Wissenschaft, dem er dort dann auch Arithmetik und Geometrie als anderes Paradigma gegenüberstellt. Die letzteren Disziplinen gehen von einem oder wenigen Prinzipien aus, von denen sie Folgerungen mit Notwendigkeit ableiten; die Astronomie dagegen geht von empirischen Beobachtungen der Phänomene aus, deren Ursachen sie dann aufzufinden versucht.16 Ibn Bāǧǧa fasst hier das Kriterium der Zuverlässigkeit oder Genauigkeit dementsprechend mit dem Begriff der Gewissheit (yaqīn) zusammen, unter dem die arabische Philosophie 15Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 1, 11–17; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 1, 10–2, 2. Ich folge der arabischen Übersetzung, ohne Abweichungen gegenüber dem Griechischen in jedem Einzelfall anzugeben. 16Siehe dazu Kapitel 14, Abschnitt 3.
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spätestens seit al-Fārābī ein Wissen versteht, dass alle Bedingungen einer apodiktischen Wissenschaft erfüllt.17 Die Ehrwürdigkeit der Psychologie beruht nun laut Ibn Bāǧǧa, immer noch Themistios folgend, sowohl auf ihrer Form wie auf ihrem Gegenstand (g).18 Ibn Bāǧǧas Verständnis von der Psychologie und ähnlich auch von der Physik als »gewissen« Wissenschaften hat eine direkte Auswirkung auf seine Art, diese Disziplinen zu betreiben und die ihnen zugrunde liegenden aristotelischen Texte zu lesen: Er klammert all jene dialektischen Passagen aus, in denen Aristoteles in Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern seine Begriffe entwickelt, also etwa De anima I. 2–5. Als nicht apodiktisch gehören sie nach Ibn Bāǧǧas Auffassung nicht zum wesentlichen Bestand der jeweiligen Wissenschaft.19 Mit dieser Einschätzung, das sei nur am Rande bemerkt, hat er offenbar Ibn Rušd in seiner ersten Beschäftigung mit dem Werk des Aristoteles stark beeinflusst, denn auch er bemüht sich in seinen Kompendien nur um die »beweisförmigen« Aussagen des jeweils kommentierten aristotelischen Textes.20 Nichts an den vorstehenden Überlegungen deutet darauf hin, dass die Psychologie eine umfassende, andere Wissenschaften in irgendeiner Weise beinhaltende Wissenschaft wäre; ja, dies scheint auch für keine andere Wissenschaft zu gelten, einschließlich der Metaphysik. Diese fasst Ibn Bāǧǧa hier als »Wissenschaft vom ersten Prinzip«, also eindeutig als Theologik, nicht als Ontologie (h). Sie soll zwar ebenso wie ihr Gegenstand – das höchste Seiende, das Ursache aller anderen Seienden ist – die übrigen Wissenschaften übertreffen, aber Ibn Bāǧǧa behauptet gerade nur, dass sie »verschieden« (mubāyin) sind, nicht aber, dass die übrigen Wissenschaften so aus der Metaphysik hervorgingen wie die übrigen Seienden aus dem ersten Prinzip. Diese Feststellung stimmt zusammen mit Ibn Bāǧǧas kurzer Darstellung der »syllogistischen Wissenschaften«, die er in seine Glossen zu al-Fārābīs Bearbeitung der Isagoge einflicht. Dort bestimmt er die Philosophie insgesamt und im Anschluss Metaphysik und Physik folgendermaßen: [T 7] »Die Philosophie ist eine Kunst, welche die Seienden umfasst, insofern sie mit gewissem Wissen [ʿilm yaqīnī] gewusst werden. Ihre Teile entsprechen den Teilen der Seienden. Dazu gehört die Göttliche Wissenschaft [al-ʿilm al -ilāhī], die jene Seienden umfasst, welche die letzten Ursachen für alle sind und die weder Körper noch in Körpern sind. Dazu gehört weiter die Naturwissenschaft [al-ʿilm al-ṭabīʿī], und das ist eine theoretische Kunst, 17Vgl. dazu Deborah L. Black, Knowledge (ʿilm) and Certitude (yaqīn) in al-Fārābī’s Epistemology, in: Arabic Sciences and Philosophy 16 (2006), 11–45. 18Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 1, 17–19. 19Vgl. N XI. 3; Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 16, 8–17, 16. 20Vgl. Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 310.
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durch die gewisses Wissen über die natürlichen Körper und über [ihre] wesentlichen Akzidenzien erlangt wird. Sie umfasst die Seienden, deren Existenz überhaupt nicht vom Willen des Menschen abhängt, und zwar sind das die aus Form und Materie zusammengesetzten Körper sowie die Akzidenzien, die ihnen von Seiten der Form und der Materie zukommen.«21 Die Philosophie ist hier zwar als Einheit gedacht, die aber lediglich über den Gegenstandsbereich und den formalen Anspruch an das angestrebte Wissen gebildet wird: Die Philosophie strebt nach apodiktischem Wissen über alles Seiende. Die Philosophie teilt sich jedoch in Einzelwissenschaften, die jeweils einen bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamtbereich des Seienden betrachten – die Metaphysik die unkörperlichen Seienden, die höchste Ursachen aller übrigen Seienden sind, die Physik die aus Form und Materie zusammengesetzten Körper, und so fort. Die ursächlichen und damit hierarchischen Beziehungen zwischen den Seinsbereichen führen gerade nicht zu ebensolchen Verhältnissen zwischen den betreffenden Wissenschaften. Allenfalls drückt sich diese Hierarchie in der »Ehrwürdigkeit« der Wissenschaften aus, wie wir zuvor im Buch der Seele gelesen haben. »Die Stufen der Ehrwürdigkeit der Wissenschaften sind bereits an vielen Stellen aufgezählt worden« (a), sagt Ibn Bāǧǧa, wobei er sich, soweit das feststellbar ist, wohl nicht auf einen eigenen Text bezieht, denn außer den zuletzt zitierten Glossen ist von ihm kein Text erhalten, der sich allgemeiner zur relativen Stellung der Einzelwissenschaften äußern würde. Der wahrscheinlichste Bezugspunkt ist wiederum al-Fārābīs Erlangung der Glückseligkeit, wo sich auch die Definition der Philosophie findet, die wir soeben wiedergegeben haben.22
21Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 27, 10–15 (mit größeren Auslassungen); Dānišpažūh, al-Manṭiqīyāt li-l-Fārābī, 17, 12–20. Eine englische Übersetzung des gesamten Abschnitts zur Wissenschaftseinteilung bei Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 298–303, dort auch mit Hinweisen auf Texte al-Fārābīs, die Ibn Bāǧǧa hier herangezogen hat. Im einzelnen muss hier aber vieles noch genauer untersucht werden. Das von Forcada in Anm. 38 »konjizierte« laisa steht tatsächlich in Dānišpazuh, 17, 18. Ich habe (mauǧūdāt) konjiziert, wo bei Dānišpazuh, 17, 16 »muʾaṯṯarāt« (Verursachtes) steht. 22Darauf weist Forcada, Ibn Bājja and the Classification, 302 mit Anm. 43 zu Recht hin. Er nennt al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 184, 11–14; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 44 (§ 55), wo die Philosophie der Religion gegenübergestellt und definiert wird. In der Substanz findet sich die gleiche Definition aber schon in ganz prominenter Stellung am Anfang der Abhandlung (Yāsīn, 119, 5–7; übers. Mahdi, 13 [§ 2]), wenn sie dort nominell auch eine Definition der »theoretischen Tugenden« ist.
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1.3. Exkurs: Die Ordnung der Wissenschaften bei al-Fārābī Es lohnt sich, bevor wir Ibn Bāǧǧas weitere Aussagen zur Psychologie im Buch der Seele analysieren, zu beobachten, welche Stellung al-Fārābī der Seelenlehre in seiner Schrift zuweist. Denn, wie sich zeigen wird, sind Ibn Bāǧǧas Überlegungen durch diesen Text ebenso mitbestimmt wie durch die oben betrachteten Ausführungen Alexanders und Themistios’. Der erste Teil der Erlangung der Glückseligkeit behandelt die Rolle der »theoretischen Tugenden«, nämlich der Wissenschaften, für die Erlangung irdischer und jenseitiger Glückseligkeit (saʿāda).23 Das Ziel der Wissenschaften besteht wie gesagt darin, »dass sie die Seienden und das, was sie umfassen, intelligibel (maʿqūla) und gewiss machen«. Sie gehen dabei von primärem Wissen aus.24 Voraussetzung für ihre Verwirklichung ist, dass die natürliche Begabung für die Wissenschaft durch eine Kunst – die leicht als die Logik zu identifizieren ist – entwickelt wird und man mit ihrer Hilfe lernt, die Methode, welche zu Gewissheit (yaqīn) führt, von denen zu unterscheiden, die nur zu bloßer Meinung führen.25 Bevor al-Fārābī sich den das Seiende untersuchenden Wissenschaften im Einzelnen zuwendet, erläutert er diese Methode. Er unterscheidet die primären Erkenntnisse über eine Gattung von Seienden in solche, die nur »Prinzipien der Unterrichtung« (mabādiʾ al-taʿlīm) sind von solchen, die zugleich auch »Seinsprinzipien« (mabādiʾ al-wuǧūd) der untersuchten Seienden, das heißt ihre Ursachen, sind. Mit den ersten lassen sich nur Existenzbeweise, mit den anderen Ursachenbeweise aufstellen.26 Als nächstes werden die Seinsprinzipien als die vier Ursachen erklärt. Einige Gattungen von Seienden besitzen alle vier, andere nur bis zu drei; das »äußerste Prinzip für das Sein der übrigen Seienden« hat selbst kein weiteres Seinsprinzip mehr, es besitzt Prinzipien lediglich in Hinsicht auf unsere Erkenntnis.27 23al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 119, 1–5; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 13 (§ 1). Eine nochmals stark geraffte, aber in allen wesentlichen Punkten entsprechende Darstellung von al-Fārābīs philosophischem Programm findet sich auch in seinen Ausgewählten Aphorismen (vgl. al-Fārābī, Fuṣūl muntazaʿa, ed. Naǧǧār, 95, 14–99, 2 [§ 94]; Alfarabi, Aphorisms of the Statesman, ed. Dunlop, § 89, der allerdings diesen Abschnitt für eine spätere Hinzufügung hält, vgl. ebd. 92), einem Werk das Ibn Bāǧǧa nachweislich gelesen hat. Wir können also voraussetzen, dass Ibn Bāǧǧa mit der im folgenden dargestellten philosophischen Programmatik vertraut war. 24al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 119, 5–120, 6; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 13 (§ 2). 25al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 120, 7–123, 1; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 13–15 (§ 3–4). 26al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 123, 2–124, 2; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 15 (§ 5). 27al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 124, 3–12; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 15f (§ 6).
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Das Vorgehen in jeder Wissenschaft sollte nun darin bestehen, die Existenz all dessen, was unter die betreffende Gattung fällt, gewiss zu machen und anschließend alle in dieser Gattung vorliegenden Seinsprinzipien zu erforschen, und zwar nicht nur die direkten Prinzipien, sondern auch deren Prinzipien bis hinauf zum höchsten Prinzip der betreffenden Gattung. Dieses kann durchaus nochmals ein Prinzip besitzen, welches außerhalb der Gattung und damit auch außerhalb der Reichweite dieser Wissenschaft liegt.28 Es gibt nun Seinsgattungen, in denen die Prinzipien der Unterrichtung mit den Seinsprinzipien identisch sind, und die betreffende Wissenschaft kann daher immer zugleich das Weshalb und das Dass erkennen. Wenn die Seinsprinzipien jedoch anfänglich unbekannter, die Prinzipien der Unterrichtung aber »später« sind, ist folgende Methode geboten: »Man gelangt nur zur Kenntnis der Seinsprinzipien, wenn man mit den Prinzipien der Unterrichtung beginnt und sie so angeordnet werden, dass die Konklusion notwendig folgt. Dann ist die entstehende Konklusion selbst das Prinzip der Existenz der Dinge, die zusammengefügt und angeordnet worden waren.«29 Auf dieselbe Weise geht man weiter bis zum höchsten Prinzip. Auf jeder Stufe wird man, wenn man ein Prinzip über aus ihm folgende Dinge erschlossen hat, dieses Prinzip auch als Prämisse zur Erkenntnis anderer aus ihm folgender Dinge gebrauchen. Auf diese Weise dient jedes Prinzip in einem Existenzbeweis zur Entdeckung des höheren Prinzips und in einem Ursachenbeweis zur Ableitung aller sonst noch aus ihm folgenden Dinge.30 Wenig später, über die Naturwissenschaft sprechend, wiederholt al-Fārābī die Darstellung dieser zunächst ganz abstrakt präsentierten Methode, indem er sie zur geeigneten Methode der Naturwissenschaft erklärt.31 Sich nun den verschiedenen Wissenschaften selbst zuwendend, erklärt al-Fārābī, dass man zunächst mit der Mathematik als dem für den Menschen Leichteren beginnt. In dieser Wissenschaft fällt das einzige in dieser Gattung vorhandene Seinsprinzip, das formale, mit den Prinzipien der Unterrichtung zusammen. Allerdings haben die mathematischen Disziplinen von der Arithmetik 28al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 124, 13–125, 12; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 16 (§ 7). 29al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 125, 12–127, 6, Zitat 126, 8–11; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 16f (§ 8). Man darf aus dieser Erläuterung nicht schließen, dass al-Fārābī Ursachenbeweise, so wie er sie in seinem Buch vom Beweis in Abgrenzung zu absoluten Beweisen versteht (vgl. Kapitel 5, Abschnitt 3.3.), hier ausschließt. Er scheint sich lediglich enger an der aristotelischen Einteilung zu orientieren. Seine eigenen Ursachenbeweise wären unter die weitgefasste Rubrik der Existenzbeweise einzuordnen. Die folgenden Ausführungen zeigen ja, dass er die mögliche Umkehr der Schlussrichtung nach induktiv gewonnenen Ergebnissen durchaus berücksichtigt. 30al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 127, 7–129, 2; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 17f (§ 9). 31al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 135, 4–136, 10; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 21 (§ 15).
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bis zur Mechanik unterschiedlich starken Bezug zur Materie, insofern das Messbare nur durch zunehmende Berücksichtigung der Materie intellektuell erfasst werden kann.32 Es gibt insofern einen gewissen Übergang zwischen Mathematik und Naturwissenschaft, die alle vier Prinzipien berücksichtigt, die eben dadurch »natürliche Prinzipien« sind. Letztlich handelt es sich aber doch um einen Neuansatz.33 Die Naturwissenschaft, so al-Fārābī, betrachtet die Gattung der Körper (und das bedeutet zugleich des Wahrnehmbaren), dazu gehören die Himmelskörper und alle irdischen Seienden von den Elementen bis zum Menschen, die zusammen die »Welt« (ʿālam) und das in der Welt Enthaltene bilden. Die Naturwissenschaft strebt danach, das Sein und alle seine Ursachen bis hinauf zum höchsten körperlichen Prinzip zu erkennen.34 Nachdem er diesen Rahmen abgesteckt hat, deutet al-Fārābī nacheinander auf zwei Forschungsbereiche der Naturwissenschaft hin, in denen die natürlichen Prinzipien auf meta-physische (baʿd al-tabīʿīyāt) Prinzipien verweisen. Zum einen ist das bei der Betrachtung der Himmelskörper der Fall, deren Prinzipien liegen in der Seinsordnung jenseits der natürlichen.35 Zum anderen bei der Untersuchung der Prinzipien lebendiger Wesen, seelischer Prinzipien also, insofern man bei der Untersuchung des rationalen Wesens nämlich auf den Intellekt und das Intelligible stößt.36 Hier drängen sich zwei Anmerkungen zum Geist dieses philosophischen Unternehmens auf. Erstens, al-Fārābī bedeutet ausdrücklich, dass die Seelen- beziehungsweise Intellektlehre zum selben Ergebnis führt wie die Betrachtung der Himmelskörper. Es handelt sich in beiden Fällen um eine »Mitte« (wasaṭ) zwischen zwei Wissenschaften, der Naturwissenschaft und der Metaphysik; ebenso wie al-Fārābī zuvor den Gegenstand der Disziplinen angewandter Mathematik als Mitte oder »Grenzbereich« (mutāḫim) zwischen dem bloß formalen und dem natürlichen Seienden bestimmt hatte.37 Die beiden genannten Wissenschaften haben mithin die Funktion einer metaphysischen Propädeutik. Zweitens, die Physik der Himmelskörper und die Seelenlehre scheinen dennoch nicht den gleichen Stellenwert zu haben, denn während von der ersteren nur gesagt wird,
32al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 129, 3–133, 12; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 18–20 (§ 10–12). 33al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 132, 10–134, 6; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 20 (§§ 12–13). 34al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 134, 7–135, 3; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 20f (§ 14). 35al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 136, 10–137, 3; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 21f (§ 16). 36al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 137, 4–138, 8; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 22 (§ 17). 37al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 133, 9; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 20 (§ 12).
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dass sie unkörperliche Prinzipien erreicht, wird das Wesen dieser Prinzipien erst durch die Seelenlehre zugänglich, insofern al-Fārābī sagt, dass man in ihr »Kenntnis vom Intellekt nimmt« (fa-yuṭṭaliʿu ḥainaʾiḏan ʿalā l-ʿaql).38 In der an die Erlangung der Glückseligkeit anknüpfenden Philosophie des Aristoteles stellt al-Fārābī es entsprechend so dar, dass die Frage nach der genauen Beschaffenheit des Bewegers der Himmelskörper erst geklärt wird, nachdem Aristoteles aus der Psychologie des Menschen die Existenz eines abgetrennten Intellekts – des aktiven Intellekts – abgeleitet hat.39 Die Seelenlehre stellt aber nicht nur den Übergang zur Metaphysik dar, sondern auch zur politischen Philosophie, auf die al-Fārābī noch vor jener zu sprechen kommt. Insofern in der Seelenlehre nämlich auch die Zweckursache der Seele und des Intellekts untersucht wird, werden in ihr auch klar: »die Ziele und die äußerste Vollendung, die zu erreichen, der Mensch gemacht wurde« und für deren Verwirklichung die praktische Philosophie zu sorgen hat.40 Hat der Forscher in der Metaphysik Einsicht ins erste Prinzip oder »Gott« genommen, so ist er laut al-Fārābī auf dem Gipfelpunkt der Erkenntnis angekommen und kann von dort aus in umgekehrter Reihenfolge zu den von diesem Prinzip verursachten Seienden herabsteigen, was al-Fārābī als »göttliche Betrachtung der Seienden« bezeichnet, bei der aus dem ersten Prinzip notwendige Eigenschaften der Seienden abgeleitet werden.41 Diese Blickumkehr entspricht nun aber genau jener Emanationsmetaphysik, die in al-Fārābīs bekannten Ansichten der Bewohner des Musterstaates (Mabādiʾ arāʾ ahl al-madīna al-fāḍila) präsentiert wird und die in seinem De scientiis (Iḥṣāʾ al-ʿulūm) den Abschluss des zuvor in durchaus aristotelischem Zuschnitt präsentierten Inhalts der Metaphysik bildet. Sodass al-Fārābī offenbar zwei Zweige der Metaphysik unterscheidet: einen, der in Verlängerung der Naturphilosophie das erste Prinzip aufdeckt, und einen zweiten, der von diesem Prinzip aus deduktiv verfährt und mithin die Gestalt einer Einheitswissenschaft haben muss. Die Stufen der Ehrwürdigkeit der Wissenschaften, die hier von al-Fārābī präsentiert werden, gehorchen nun – bis auf diesen letzten Perspektiven- und Methodenwechsel – den aristotelischen Erwägungen in Bezug auf die Über- und 38al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 137, 8f; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 22 (§ 17). 39al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 130, 4–8 und vgl. auch 129, 2–8; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 129 (§ 99), auch 127f (§ 98). 40al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 138, 2–8 und 138, 8–140, 3; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 22f (§ 17–18). 41al-Fārābī, Taḥṣīl al-saʿāda, ed. Yāsīn, 140, 4–141, 8, Zitat 141, 6; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 23f (§ 19). Diese Umkehrung der Erkenntnisrichtung ist in der Forschungsliteratur kaum je wahrgenommen worden. Ein positives Gegenbeispiel ist Hatem Zghal, Métaphysique et science politique. Les intelligibles volontaires dans le Taḥṣīl al-saʿāda d’al-Fārābī, in: Arabic Sciences and Philosophy 8 (1998), 169–194, hier 174.
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Unterordnung grundsätzlich autonomer Wissenschaften.42 In diesem Kontext sind Ibn Bāǧǧas wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Stellung der Psychologie zu lesen. Die Emanationsmetaphysik, ja auch nur den Begriff der Emanation selbst, hat er an keiner Stelle des doch recht umfangreichen überlieferten Werks erwähnt, so dass man davon ausgehen muss, dass er sich bewusst gegen die Verfolgung dieser zweiten Hälfte des von al-Fārābī entworfenen philosophischen Programms entschieden hat.
1.4. Psychologie als Natur- und Fundamentalwissenschaft Von hier aus bekommen nun Ibn Bāǧǧas knappe Verhältnisbestimmungen zwischen der Psychologie und den übrigen Wissenschaften (N I. 7–8) ein deutliches Relief. Zunächst einmal erklärt er, die Wissenschaft von der Seele übertreffe die Mathematik und sämtliche anderen Naturwissenschaften in Hinblick auf »alle Arten der Ehrwürdigkeit« (b), soll heißen sowohl in Bezug auf die Gewissheit wie in Bezug auf den Gegenstand. Warum unter den philosophischen Disziplinen, die alle auf Gewissheit zielen, die Psychologie besonders gewiss sein soll, erklärt Ibn Bāǧǧa nicht. Themistios hatte die Genauigkeit daran festgemacht, dass die Psychologie auch den anderen Wissenschaften Genauigkeit verleiht, ein Gedanke, der sicher auch in Ibn Bāǧǧas folgenden Ausführungen wieder auftaucht, der aber eher das aristotelische Motiv des »Beitrags zur Wahrheit« in den anderen Wissenschaften weiterverfolgt. Vielleicht muss man hier eher daran denken, dass die Psychologie mit Seele und Intellekt Formen behandelt, die an sich ein höheres Maß an Erkennbarkeit besitzen als etwa die in De generatione behandelten Elementarformen. Ebensowenig expliziert Ibn Bāǧǧa die Ehrwürdigkeit des Gegenstandes im engeren Sinne, aber der Vergleich mit der Astronomie (g) gewinnt vor dem Hintergrund der hier referierten Überlegungen al-Fārābīs deutlich an Aussagekraft: die Psychologie behandelt mit dem Intellekt eine abgetrennte Form, so wie sie eben auch als Ursache der Himmelsbewegung auftreten. Schon Themistios hatte ja den Intellekt als besonders bewunderungswürdigen Gegenstand der Psychologie erwähnt. Beide Vorzüge der Psychologie gehen in Ibn Bāǧǧas Darstellung aber letztlich auf in der einen Frage, was die Leistung der Psychologie für die übrigen Wissenschaften ist. Und es war genau dieser Aspekt der Zusammenhänge und Übergänge zwischen den Wissenschaften, der bei al-Fārābī im Vordergrund stand. Entsprechend finden wir in Ibn Bāǧǧas Text zwei Typen von Leistungen der Psychologie: einmal ihre inhaltlichen Verbindungen mit anderen Wissenschaften (e, f, h, i) und zum anderen eine grundsätzliche Erkenntnis sichernde Rolle, welche die Wissenschaft von der Seele denn auch gegenüber allen ande42Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, I. 13.
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ren Wissenschaften gleichermaßen besitzt (c, d). Dass das Verhältnis zur Mathematik nicht im einzelnen geklärt wird und dass die Logik hier überhaupt keine Erwähnung findet, liegt also sicherlich daran, dass die Psychologie dort wohl in formaler, aber nicht in inhaltlicher Perspektive wichtig ist. Wir können hier der Vollständigkeit halber darauf hinweisen, dass die Mathematik aus Ibn Bāǧǧas Sicht, da sie bloß abstrahierte Quantitäten von Körpern studiert, einen geringeren Realitätsgehalt als die Naturwissenschaften hat und epistemisch als »Übungswissenschaft« für diese fungiert.43 Was die Logik angeht, so bestimmt Ibn Bāǧǧa sie in den bereits oben zitierten Glossen zu al-Fārābīs Bearbeitung der Isagoge einerseits auch als Organon der Philosophie, bestimmt sie aber andererseits – dadurch von al-Fārābī deutlich abweichend – als Teil der Philosophie. Die Logik beschäftigt sich laut Ibn Bāǧǧa mit »allen Begleiteigenschaften [lawāḥiq], die den Seienden im Geiste des Menschen zukommen, während er jedes einzelne dieser Seienden betrachtet«. Insofern die Kenntnis dieser Begleiteigenschaften zur Erkenntnis der Wahrheit über die Seienden beiträgt, ist die Logik bloß ein Werkzeug. Insofern die Begleiteigenschaften jedoch selbst Seiende sind, stellt die Logik die »Erkenntnis einer Art von Seienden« dar und tritt als solche gleichberechtigt neben die anderen Disziplinen, die jeweils einen bestimmten Seinsbereich studieren.44 Es ist einleuchtend, dass die Logik als Wissenschaft bestimmte formale Aspekte von Erkenntnissen zu untersuchen hätte und darum auf eine vorhergehende Klärung des Erkenntnisprozesses und der Seele als dessen zugrunde liegendem Subjekt angewiesen wäre. Tatsächlich verweist Ibn Bāǧǧa auch zuweilen etwa darauf, dass der Ursprung der Kategorien als primäre Erkenntnisse und Grundlage jeder weiteren Erkenntnis in der Seelenlehre zu studieren sei.45 Am Ende des Buchs der Seele (N XI. 20ff) führt Ibn Bāǧǧa gar ein breites Spektrum an logischen Themen an, die anknüpfend an die Erkenntnis des Intellekts als Erkenntnisprinzip zu untersuchen sind. Insgesamt jedoch muss man sicherlich sagen, dass Ibn Bāǧǧa zwar mit bemerkenswerter Konsequenz und entgegen der sonst von ihm verfolgten Tradition al-Fārābīs eine systematische Stelle für die Logik vorsieht, diese aber ebensowenig füllt wie andere arabische Denker. In der Praxis ging die Logik denn doch ganz in der Kommentierung des aristotelischen Organons und der Analyse von Schlüssen der Einzelwissenschaften auf. Mit dieser mangelnden Verwirklichung ist es sicher zu erklären, dass Ibn Bāǧǧa die Logik in unserem Text aus dem Buch der Seele (N I. 7–8) nicht eigens erwähnt. Bleiben drei inhaltliche Zusammenhänge zu verdeutlichen, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele ausdrücklich hervorhebt; zunächst mit der Naturwissenschaft. Man gewinnt, so Ibn Bāǧǧa, durch die »Wissenschaft von der Seele« ein Ver43Siehe dazu ein wenig ausführlicher Kapitel 14, Abschnitt 3.2. 44Vgl. Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 28, 15f. 45Siehe T 80.
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mögen oder eine Potenz, bestimmte Prämissen (muqaddimāt) zu erfassen, die allein die Vollendung der Naturwissenschaft ermöglichen (e). Das heißt ganz grob gesprochen zunächst, dass die Psychologie Voraussetzungen aufdeckt, die den Abschluss der Naturphilosophie ermöglichen. Genauer gesprochen kann es dabei nicht um die Seele selbst als Prinzip des Lebendigen gehen, denn erstens begreift Ibn Bāǧǧa, wie wir in Kapitel 5 (Abschnitt 1) ausführlich darlegen werden, die Existenz der Seele im Sinne eines – dann in der Psychologie näher zu bestimmenden – Lebens- und Bewegungsprinzips als selbstevident. Zweitens ist hier davon die Rede, dass die Wissenschaft von der Seele allererst eine Potenz also eine Bereitschaft zur Erkenntnis dieser Prämissen bereitstellt, sie aber nicht bereits selbst behandelt. Eine vorausschauender Vergleich mit den folgenden Bemerkungen zu Psychologie und Metaphysik, wo eine ähnliche »Potenz« genannt wird, diesmal aber in Bezug auf »die Wissenschaft von der Seele und vom Intellekt« (i), legt nahe, dass die »Wissenschaft von der Seele« die Entdeckung der Prämisse des abgetrennten Intellekts und seiner Funktion für die Natur einleitet. Blickt man hier wiederum in al-Fārābīs Philosophie des Aristoteles, so zeigt sich, dass sich diese Funktion nicht auf den Bereich der menschlichen Erkenntnis beschränkt, sondern darüber hinaus die Struktur der gesamten Natur betrifft, insofern der aktive Intellekt von al-Fārābī als »Geber der Formen« gedacht wird.46 Diese Lehre wird auch von Ibn Bāǧǧa an zahlreichen Stellen seines Werkes aufgegriffen.47 In diesem Sinne sind also die übrigen Teildisziplinen der Naturphilosophie auch inhaltlich auf die Ergebnisse der Psychologie angewiesen. Ibn Bāǧǧa klärt damit die bei Themistios noch etwas im Vagen bleibende Behauptung, die Seele sei wohl nicht nur Prinzip der Pflanzen und Lebewesen, sondern Prinzip jeder Bewegung. Während die Erkenntnis der Seele als Bewegungsprinzip nämlich zu den übrigen Teilen der Naturphilosophie gerade nichts beiträgt, ist andererseits nicht klar, weshalb die Seele Ursprung jeder Bewegung sein sollte – es sei denn, man legt die platonische Vorstellung einer Weltseele zugrunde. Ibn Bāǧǧas Verweis auf zusätzliche Prämissen, die eine vollkommenere Erkenntnis der (bewegten) Natur ermöglichen, wirkt hier berichtigend und klärend. An zweiter Stelle geht Ibn Bāǧǧa auf die Politik ein, die, wie er sagt, ohne die Kenntnis der Seele nicht in geordneter Weise betrieben werden kann (e). Wieso dies der Fall ist, haben wir bei al-Fārābī und auch bereits bei Themistios gesehen: Die Wissenschaft von der Seele führt zur Erkenntnis der spezifischen Vollendung des Menschen, die eben in wissenschaftlicher, also intellektueller Erkenntnis besteht. Und es ist gerade die Aufgabe der Politik (welche auch die Ethik mitumfasst), die Mittel und Wege zur Verwirklichung dieser Vollendung 46Vgl. al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 129, 9–130, 4; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 128f (§ 99). 47In Erwartung einer genaueren Studie sei zunächst nur auf N II. 22 und 24 verwiesen.
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zu behandeln. Wie Ibn Bāǧǧa das tut, konnten wir bereits bei der vorstehenden Untersuchung seines allgemeinen Philosophieverständnisses beobachten. Ibn Bāǧǧa ist jedoch bemüht, diese freilich über eine bloße »Anwendung« hinausgehende Verbindung zwischen Seelenlehre und Politik im Buch der Seele weitgehend zurückzudrängen, insofern, wie er feststellt, die Psychologie eben nicht nur als Vorbereitung der politischen Philosophie studiert werden soll, »sondern vielmehr weil das Wissen von jeder einzelnen der Seelen ein Teil der Naturwissenschaft ist« (N I. 16). Gerade darin lag laut Ibn Bāǧǧa der Fehler von Aristoteles’ Vorgängern – wobei er sicherlich im wesentlichen Sokrates und Platon im Blick hat –, dass sie sich nur für die menschliche Seele und für diese nur in Hinblick auf die Politik interessierten.48 Ibn Bāǧǧa verteidigt also die Autonomie der Psychologie, die sie nur als Zweig der Naturphilosophie besitzen kann, denn nur in dieser Hinsicht studiert sie einen eigenen wohlabgegrenzten Bereich des Seienden, der aber eben nicht nur die menschliche Seele, sondern auch die Seele als Prinzip der Pflanzen und der übrigen Lebewesen umfasst. Einmal mehr ist damit klar, dass Ibn Bāǧǧas Wissenschaftsmodell nicht das einer Einheitswissenschaft, sondern das eines geordneten Ganzen autonomer Wissenschaften ist. Abschließend geht Ibn Bāǧǧa auf die inhaltliche Beziehung zwischen Psychologie und Metaphysik ein. Dass er dies deutlich ausführlicher tut als für die anderen Wissenschaften, liegt sicher auch daran, dass Themistios, obwohl er doch behauptet, die Psychologie gebe Grundsätze »für alle Teile der Philosophie«, die Metaphysik gerade nicht erwähnt.49 Zwar findet sich ein solcher Zusammenhang in neuplatonischen Kommentaren aufgezeigt, etwa wenn Philoponos erklärt, die Psychologie trage auch etwas zur Theologie bei, weil sie zeige, dass der abgetrennte Intellekt in uns unsterblich ist. Allerdings schiebt er sogleich nach, dass diese Betrachtung im eigentlichen Sinne gerade nicht Teil der Psychologie als Naturwissenschaft sondern der Theologie sei.50 Dies entspricht, wie wir sogleich sehen werden, jedoch nicht Ibn Bāǧǧas Vorstellung, der die Erkenntnis des Intellekts eindeutig als integralen Bestandteil der Psychologie begreift. Ibn Bāǧǧas Ausführungen zur Metaphysik lassen sich in zwei Abschnitte untergliedern: Der erste (h) stellt die radikale Differenz fest, die zwischen dem ersten Prinzip als Ursache aller Seiender und diesen Seienden besteht. Diese ontologische Differenz führt dazu, dass die Wissenschaft vom ersten Prinzip die Psychologie übertrifft und dieser damit nur der Status einer zweithöchsten Wissenschaft zukommt. Der zweite Abschnitt (i) verdeutlicht dagegen, dass die Wissenschaft vom ersten Prinzip als übergeordnete Wissenschaft, was den Erkenntnisgang angeht, tatsächlich von der Psychologie abhängig ist. Hier ist, wie oben bereits angedeutet, wieder von einer Potenz die Rede, die in der »Wissen48Siehe dazu Weiteres in Kapitel 5, Abschnitt 1. 49Vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 1, 28. 50Vgl. Ioannis Philoponi in Aristotelis de anima libros commentaria, ed. Hayduck, 25, 8–16.
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schaft von der Seele und vom Intellekt« erworben wird und ohne die das erste Prinzip nicht in vollkommener Weise erkannt werden kann. Insofern Ibn Bāǧǧa gleichzeitig andeutet, dass dies der »vollkommenste« Zugang zum ersten Prinzip ist, wird deutlich, dass daneben ein anderer, aber minderwertiger Zugang denkbar ist. All diese auf den ersten Blick vielleicht etwas schemenhaft anmutenden Aussagen ergeben einen guten Sinn, wenn man sie vor dem Hintergrund des oben vorgestellten philosophischen Programms al-Fārābīs liest. Als zwei Zugänge zum ersten Prinzip präsentieren sich dann die Himmelsphysik einerseits und die Intellektlehre andererseits, wobei die Intellektlehre sich als überlegen erweist, weil sie den Weg nicht nur zur Existenz des ersten Prinzips ebnet, sondern die Intellektualität als dessen Wesen erschließt. Man könnte zwar einwenden, dass die Psychologie, indem sie den Intellekt betrachtet, diesen nicht als Potenz erwirbt, sondern als ein Vermögen betrachtet, das wir bereits besitzen. Eine naheliegende Antwort lautete, dass wir den Intellekt als Erkenntnisvermögen zu jeder Wissenschaft und nicht spezifisch zur Metaphysik brauchen, dass die Metaphysik aber einen Einblick in die Natur des Intellekts erfordert. Eine tiefergehende Antwort, welche die erstere gleichwohl bestehen lässt, müsste dagegen berücksichtigen, dass laut Ibn Bāǧǧas Intellekttheorie der Intellekt als »Vermögen« sehr wohl erst durch das wissenschaftliche Denken erworben wird und dass der Abschluss dieses Prozesses genau dort stattfindet, wo wir den Intellekt selbst zum Gegenstand unserer Erkenntnis machen.51 In dem oben diskutierten Auszug aus dem Abschiedsbrief (T 5) konnten wir sehen, dass Ibn Bāǧǧa in dieser Erkenntnis des aktiven Intellekts, die er als Selbsterkenntnis begreift, nämlich als Erkenntnis dessen, was uns wesentlich ausmacht, die höchste Form des Wissens und die größte Nähe zu Gott sieht. Er hatte dort von der »edelsten aller Wissenschaften« gesprochen. Eine Bemerkung in der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen bestätigt dies. In diesem Text geht es eben um die »Verbindung« oder »Konjunktion« mit dem aktiven Intellekt, die sich durch dessen Erkenntnis einstellen soll. Ibn Bāǧǧa verweist in diesem Zusammenhang auch auf sein Buch der Seele und genauer auf dessen letztes Kapitel zum rationalen Vermögen, dessen baldige Übersendung er seinem Schüler in Aussicht stellt. Dies, so Ibn Bāǧǧa, sieht er als seine Verpflichtung an, »weil dies die erhabenste der Wissenschaften ist, was ihre Gewichtigkeit (qadr) angeht, diejenige, welche am weitesten zielt und deren Erreichung am edelsten ist, und weil die übrigen Wissenschaften wegen dieser Wissenschaft existieren«.52 Mit anderen Worten, die Wissenschaft von der Seele ist die höchste Wissenschaft, weil sie zur Erkenntnis des aktiven Intellekts als höchster dem Menschen möglicher Erkenntnis führt. Wir müssen mithin fest51Vgl. dazu Kapitel 2, Abschnitt 4 und Kapitel 13, Abschnitt 2. 52Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l -insān, ed. Genequand, 189, 10–12; Faḫrī, 161, 3f; Asín, 13, 16f.
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stellen, dass sich aus der konsequenten Durchführung des im ersten Kapitels des Buchs der Seele entworfenen Modells der Psychologie als Wissenschaft, die eine Scharnierstelle zwischen Naturphilosophie und Metaphysik bildet, im letzten Kapitel desselben Werkes eine Theorie des Intellekts herausbildet, die geeignet ist, der Metaphysik als höchster Wissenschaft Konkurrenz zu machen.53 Was den Vorrang der Psychologie auf Grund ihrer Erkenntnis sichernden Rolle angeht, so erklärt Ibn Bāǧǧa, das Erfassen der »Prinzipien der Wissenschaften« (mabādiʾ al-ʿulūm) sei nur möglich, wenn wir definitorisches Wissen von der Seele besitzen (c). Damit dehnt er erstens Themistios’ Behauptung, die Kenntnis der Seele liefere Grundsätze (ἀξιολόγοι, uṣūl qawīya) für alle Teile der Philosophie,54 von der inhaltlichen auf die formale Seite aus; und zweitens erhöht er den Anspruch an das dazu erforderte Wissen von der Seele, indem er mit der das Wesen bestimmenden Definition auf das höchste mögliche Wissen zielt. Ibn Bāǧǧa verknüpft dann, die Elemente von Themistios’ Ausführungen weiter neu anordnend, den Gedanken, die Kenntnis der Seele sei Ursache der Genauigkeit für andere Wissensbereiche, direkt mit der Ermahnung bezüglich der allgemeinen Zuverlässigkeit unseres Wissens: Nur wer den Zustand (ḥāl) und das Wesen seiner Seele kenne, der könne auf das vertrauen, was er von anderen Dingen verstanden habe (d).55 Ibn Bāǧǧa greift also ebenso wie Alexander, Themistios und die Neuplatoniker das Thema der Selbsterkenntnis ganz explizit auf, verknüpft es jedoch nicht mit der inhaltlichen Seite der Wissenschaft von der Seele, sondern mit der Form jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis. Dass nämlich die Prinzipien der Wissenschaften nur mittels der Definition der Seele zu erkennen seien, kann ganz offenbar nicht so verstanden werden, dass die Psychologie etwa vor der Physik zu studieren wäre, um deren Anfangsgründe bereitzustellen. Denn diese Deutung steht im diametralen Gegensatz zu Ibn Bāǧǧas erklärter Absicht, die Wissenschaft von der Seele als Teil der Naturwissenschaft zu betreiben und aus naturphilosophisch begründeten Elementen aufzubauen. Zum Beispiel setzt er Begriffe wie Materie, Form und Bewegung, Potenz und Akt und so weiter als zumindest provisorisch geklärt voraus (vgl. N I. 1ff; II. 1ff). Ebensowenig kann Ibn Bāǧǧa im neuplatonischen Sinne meinen, erst die Einsicht ins Wesen der Seele als der höheren Realität eröffne die Einsicht ins Wesen der Natur und deren Erkenntnis, denn es ist, wie gesagt, überdeutlich, dass Ibn Bāǧǧa das genannte definitorische Wissen von der Seele überhaupt nur mittels der Naturphilosophie und damit unter Bezug auf den beseelten Körper für erreichbar hält. Die von ihm angesprochenen »Prinzipien der Wissenschaften« können daher nur die primären Begriffe und Sätze als Grundlage jeder möglichen Erkenntnis 53Vgl. den »Ausblick« am Ende dieses Buches. 54Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 1, 28. 55Vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima Paraphrasis, ed. Heinze, 1, 19f und 2, 5f.
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meinen, so wie wir es in Beziehung auf Themistios oben bereits angedeutet haben. Damit ist die Psychologie nicht eine Vorbedingung für das Studium anderer Wissenschaften, sondern vielmehr der Ort, an dem deren Erkenntnisanspruch überprüft und begründet wird. Inwiefern muss dazu die »Definition« (ḥadd) der Seele bekannt sein? Es kann damit nicht die allgemeine, umrisshafte Seelendefinition gemeint sein, die Ibn Bāǧǧa im vorhergehenden Abschnitt auf naturphilosophischen Grundlagen aufbauend hergeleitet hat (N I. 6), denn von dieser hatte er dort zugleich klargemacht, dass sie äquivok ist. Vielmehr steht hier die von Ibn Bāǧǧa im weiteren Verlauf entwickelte und in Kapitel 5 näher untersuchte Überlegung im Hintergrund, dass die spezifische Definition eines jeden Seelenvermögens nur über dessen Tätigkeit erfolgen kann, die als Zweckursache die allgemeine Definition präzisiert und vollendet.56 Definitorisches Wissen von der Seele setzt also voraus, dass man Wahrnehmung, Vorstellung und Denken als Tätigkeiten des sinnlichen und rationalen Teils der Seele geklärt hat. Allein auf diesem Wege können wir daher wissen, was es denn genau ist, was wir wissen, wenn wir die »Prinzipien der Wissenschaften« besitzen und zur Ableitung weiterer Erkenntnisse verwenden. Genau das und nichts anderes meint bei Ibn Bāǧǧa, »den Zustand seiner Seele« zu kennen (d). Ibn Bāǧǧa gibt also deutlich zu verstehen, dass die Psychologie als Selbsterkenntnis kein primärer Startpunkt für wissenschaftliche Erkenntnis ist, sondern dass sie vielmehr untersucht, was es bedeutet, wissenschaftliche Erkenntnis zu haben. Ibn Bāǧǧas Bestimmung des Status der Psychologie kann nun folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Wissenschaft von der Seele ist ein Teil der Naturwissenschaft, und zwar ist sie, weil die Seele das Prinzip der komplexesten natürlichen Körper darstellt, der höchste Teil der Naturwissenschaft. Das hat zur Folge, dass die Psychologie die Ergebnisse aller übrigen naturphilosophischen Disziplinen voraussetzt. Insofern sie auf dieser Grundlage aber die Tätigkeit intellektueller Erkenntnis untersucht und den aktiven Intellekt als deren Ursache nachweist, wird die Psychologie in mehrerer Hinsicht zur Fundamentalwissenschaft: Erstens legt sie die Prämissen der Ethik fest, insofern sie die intellektuelle Erkenntnis und insbesondere die Erkenntnis des Intellekts als natürliches Ziel des Menschen erweist. Zweitens eröffnet sie die Möglichkeit, Metaphysik als Wissenschaft vom ersten Prinzip zu treiben, weil nur durch sie die Existenz reiner Intellekte als die Natur überschreitender Prinzipien erkannt werden kann. Drittens vollendet sie die Naturwissenschaft, weil sie mit dem aktiven Intellekt die höchste Formursache natürlicher Formen aufdeckt. Viertens deckt sie Struktur und Bedingungen des Denkens auf und klärt damit die Grundlage jeder Erkenntnis. Fünftens schließlich weist sie nach, dass und wie die Erkenntnis der Struktur des Denkens in die direkte Erkenntnis des Intellekts, der Ursache des 56Siehe Kapitel 5, Abschnitt 3.5.
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Denkens, mündet; damit verwirklicht sie das Ziel des Menschen und vollendet seine Selbsterkenntnis. Ibn Bāǧǧa hat so in Anknüpfung einerseits an Themistios und andererseits an al-Fārābī eine fundamentale Neubestimmung des erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Orts der Psychologie geleistet, deren Bedeutung und Originalität auch der Sache nach bereits bemerkt worden sind, nur dass man sie Ibn Rušd zugeschrieben hat.57 Tatsächlich jedoch nimmt Ibn Rušd in seiner Kommentierung der Anfangsworte von De anima in seinem Großen Kommentar lediglich zentrale Gedanken Ibn Bāǧǧas auf. So bestimmt er den Nutzen der Psychologie für die anderen Wissenschaften in dreifacher Hinsicht: Erstens ist sie, insofern die Seele Prinzip der Lebewesen ist, die edelste Naturwissenschaft, weil sie die edelsten natürlichen Körper untersucht. Zweitens gibt sie vielen Wissenschaften viele Prinzipien. Averroes nennt die praktische Philosophie, der sie die Kenntnis des dem Menschen als Menschen zukommenden Endziels erschließt, und die Metaphysik, der sie »das Wesen ihres Gegenstandes« (substantiam sui subiecti), seine intellektuelle Natur, offenbart. Drittens gibt sie Sicherheit in Bezug auf die ersten Prinzipien der Erkenntnis, da sie deren erste Ursachen erkennen lässt.58 Wenn es anschließend diejenigen lateinischen Philosophen, die sich am engsten an Averroes anschließen, sind, die gegen den allgemeinen Tenor der Kritik an Themistios’ missverstandener Position die fundierende Leistung der Psychologie besonders stark gemacht haben,59 dann handelt es sich letztlich nur um den schwachen Nachhall einer von Ibn Bāǧǧa fulminant begonnenen Bewegung.
2. Der Gegenstand der Psychologie Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, wie bei Ibn Bāǧǧa aus der naturwissenschaftlichen Disziplin der Psychologie eine Fundamentalwissenschaft 57Richard C. Taylor, Averroes on Psychology and the Principles of Metaphysics, in: Journal of the History of Philosophy 36 (1998), 507–523. Taylor geht nur auf Themistios als Quelle ein, übersieht aber al-Fārābī und Ibn Bāǧǧa. In den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Ibn Rušds Kommentar verweist Taylor merkwürdigerweise zwar auf Ibn Rušds Zusammenfassung von Ibn Bāǧǧas Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, aber nicht auf Ibn Bāǧǧa selbst; vgl. Averroes, Long Commentary on the De Anima, übers. Taylor, 3, Anm. 11. Taylor sagt in seinem Aufsatz ausdrücklich nur, dass hier der Zusammenhang von Physik, Metaphysik und Psychologie in Ibn Rušds eigener Philosophie klar werde, er macht jedoch auch deutlich, dass damit eine Lücke in Aristoteles’ Theorie gefüllt wird (siehe besonders 522). Die Rolle der Psychologie für die Erforschung der Erkenntnisprinzipien im allgemeinen wird von Taylor nicht eingehend thematisiert. 58Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 4, 18–5, 37. 59Knebel, Scientia de Anima, 128f; Quaestiones Johannis de Janduno super tres libros de anima Aristotelis, f. 8v.
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werden kann, ohne dass sie mit Annahmen operiert, die einer Naturwissenschaft nicht zustehen. Ja mehr noch, es hat sich gezeigt, dass für Ibn Bāǧǧas Verständnis die Bedeutung der Psychologie gerade daraus entspringt, dass sie die die Natur übersteigenden Prinzipien auf dem Wege der Naturwissenschaft aufweist. Aus diesem Grunde kann auch eine gründliche Analyse der Epistemologie Ibn Bāǧǧas nur auf der Basis einer vorhergehenden Untersuchung der naturphilosophischen Grundlagen der Psychologie erfolgen. Eine solche Untersuchung wird mit dieser Arbeit vorgelegt. Was sind nun die naturphilosophischen Grundlagen von Ibn Bāǧǧas Psychologie, und wie sind sie zu untersuchen? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich anhand einiger kurzer Passagen aus dem Buch der Seele und dem Buch der Lebewesen klären. Wir haben gesehen, dass Ibn Bāǧǧa es als Aufgabe der Wissenschaft von der Seele betrachtet, eine vollständige Definition der Seele zu geben, und wir haben angedeutet, dass dieses Ziel über eine Betrachtung der spezifischen Tätigkeiten oder Akte der Seele zu erreichen ist. Aristoteles selbst bezeichnet es als sein Ziel, zuerst Natur und Wesen der Seele und anschließend ihre wesentlichen Eigenschaften zu untersuchen, wobei von diesen Eigenschaften einige der Seele eigentümlich sein sollen, während andere auf Grund der Seele auch den Lebewesen zukommen.60 Damit wendet er auf die Psychologie eine Regel an, die er in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen ausdrücklich für jede Wissenschaft aufgestellt hat: zuerst sei der Gegenstandsbereich zu definieren und anschließend die Eigenschaften zu beweisen, die dem Gegenstand notwendig zukommen, ohne schon in der Definition enthalten zu sein.61 Ibn Bāǧǧa übernimmt die Beschreibung dieser zwei Aufgaben im Buch der Seele mit derselben Allgemeinheit (N I. 9), hat also genau erkannt, dass es um die Anwendung eines Grundmusters geht. An die Unterscheidung von eigentümlichen und gemeinsamen Eigenschaften der Seele und des beseelten Körpers knüpft sich sodann die Frage nach der Abtrennbarkeit der Seele: Wenn, so folgert Aristoteles, der Seele eine ihrer Tätigkeiten oder Affizierungen eigentümlich ist, also nicht vom Körper geteilt wird, was am wahrscheinlichsten beim Denken der Fall ist, dann kann die Seele sich abtrennen.62 Ibn Bāǧǧa referiert auch diese Überlegung (N I. 12), indem er zugleich darauf hinweist, dass Aristoteles die Frage der Abtrennbarkeit deshalb bereits zu Beginn angesprochen habe, weil die Wissenschaft von der Seele häufig nur aus diesem Interesse heraus betrieben werde, sprich, um die Unsterblichkeit der Seele zu erweisen. Es ist klar, dass Ibn Bāǧǧa diese Zuspitzung ablehnt, und
60Aristoteles, De anima, I. 1, 402a7–10; vgl. auch 402b16–403a2. 61Vgl. etwa Aristoteles, Metaphysik, VI. 1, 1025b7–13. 62Aristoteles, De anima I. 1, 403a3–12.
Der Gegenstand der Psychologie
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so bemerkt er, durch diese Frage werde »die Schwierigkeit dieses Teils der Naturwissenschaft vermehrt«. Die Perspektive, die er einzunehmen gedenkt, macht er gleich im nächsten Absatz (N I. 13) deutlich, indem er fragt, ob Ausgangspunkt der Betrachtung der Seele (1) der Körper sein solle, in dem die Seele vorhanden ist, oder (2) diejenigen ihrer Eigenschaften, die ihren Ursprung im Körper haben wie Gesundheit und Krankheit, oder aber (3) die Akte, die ihren Ursprung in der Seele haben wie Emotionen. Ibn Bāǧǧa beantwortet die Frage hier nicht; statt dessen stellt er fest, dass die Seele, wenn sie gar nicht abgetrennt ist, alle Tätigkeiten, die ihr zugeschrieben werden, mit dem Körper gemeinsam hat und dass sich lediglich zwischen solchen Akten unterscheiden lässt, die wegen der Seele und durch sie geschehen, und solchen, die ihr wegen des Körpers und durch ihn zukommen.63 Mit anderen Worten, die drei angesprochenen Bereiche lassen sich nicht trennen, sondern sie zeugen alle drei davon, dass die Seele nur zusammen mit dem Körper betrachtet werden kann. Dass Ibn Bāǧǧa die Abtrennbarkeit des Intellekts nicht ausschließt, sondern für in der Psychologie aufzeigbar hält, das haben wir ja schon gesehen. Er geht aber offenbar davon aus, dass die primäre Evidenz, von der man auszugehen hat, die unauflösliche Verbindung von Körper und Seele ist. Welche Aufgabe in diesem Feld nun der Psychologie und dem Buch der Seele im Einzelnen zufällt, das hat Ibn Bāǧǧa im Buch der Lebewesen, seinem Kommentar zu De partibus animalium, präzisiert, wo er die gleiche Unterteilung anwendet wie hier: [T 8] »Und er [= Aristoteles] gab der Erörterung über die Eigenschaften [der Lebewesen] insgesamt drei Arten: Er erörterte die Seele und ihre Teile und Potenzen in der Schrift De anima und erörterte die Eigenschaften und die Potenzen der Seele, wie das Gedächtnis und die Erinnerung und den Traum, und die Eigenschaften des Körpers, insofern er beseelt ist, wie den Schlaf und das Wachen, die Jugend und das Alter, in der Schrift De sensu et sensato, und er widmete der Gesundheit und der Krankheit und den Ortsbewegungen der Lebewesen zwei Bücher.«64 Die drei hier unterschiedenen Bereiche umfassen (1) die Seele, ihre Teile und Potenzen, (2) die Eigenschaften und Potenzen der Seele, also, wie es zuvor hieß,
63Der Ursprung dieser Unterscheidung, wenn sie denn nicht von Ibn Bāǧǧa selbst stammt, wäre weiter zu untersuchen. Bei Aristoteles jedenfalls findet sie sich so nicht, auch nicht in den als Einleitung zu den Parva naturalia dienenden ersten Sätzen von De sensu (436a1–b3), die hier bei Ibn Bāǧǧa wohl mitschwingen. Dort wird von allen zu untersuchenden Phänomenen gesagt, dass sie ihren Ursprung sowohl in der Seele wie im Körper haben. 64Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 76, 13–17.
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Aristotelische Psychologie als Fundamentalwissenschaft
diejenigen, die »auf Grund der Seele und durch sie« (N I. 13) bestehen, und (3) die Eigenschaften des beseelten Körpers.65 Von dieser dritten Gruppe ist es offenbar sowohl richtig zu sagen, dass sie dem Körper zukommen, insofern er beseelt ist, als auch, dass sie der Seele »wegen des Körpers und durch ihn« zukommen. Das ist angesichts der aufgelisteten Phänomene durchaus plausibel, denn man wird etwa sagen können, dass das Alter physiologisch bedingt ist; gleichzeitig aber gilt, dass nur beseelte Körper altern. Für den zweiten Bereich besteht dann genau das umgekehrte Verhältnis. Ibn Bāǧǧa nun weist nur den ersten Bereich De anima als Thema zu. Worin unterscheidet sich dieser aber von den folgenden beiden, die in De sensu et sensato (Kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs, unter diesem Titel liefen die Parva naturalia im Arabischen) und einigen folgenden Schriften zu behandeln wären?66 Wie insbesondere unterscheiden sich die dort erwähnten Potenzen oder Vermögen von den im zweiten Bereich erwähnten Potenzen? Die Antwort liegt darin, dass die in De anima untersuchten Potenzen »Teile« der Seele meinen, während die Potenz der Erinnerung ebenso wie das Träumen Eigenschaften der Seele oder eben von Teilen der Seele – hier des Wahrnehmungsvermögens – sind. Ibn Bāǧǧa unterscheidet mithin zwischen Potenzen erster und zweiter Ordnung, also solchen, die direkt Teil der Seele sind, und anderen, die dies nur mittelbar sind. Wir werden diesen Punkt in Kapitel 6, Abschnitt 1, noch genauer untersuchen. Hier ist zweierlei wichtig: Erstens, der Hauptgegenstand der Psychologie, so wie sie im Buch der Seele betrieben wird, sind die primären »Bestandteile« der Seele, die als Potenzen (quwā) zu verstehen sind (vgl. N I. 11). Zweitens, diese Potenzen können dort zwar zum Gegenstand einer Wissenschaft gemacht werden, Ibn Bāǧǧa geht jedoch, wie seine Formulierung im Kommentar zu De partibus animalium beweist, davon aus, dass diese Potenzen »Eigenschaften« (lawāḥiq) von Lebewesen sind. Unmittelbar vor der hier zitierten Passage erklärt er in Bezug auf die biologischen Schriften, Aristoteles habe dort »die Eigenschaften der Teile« der Lebewesen (lawāḥiq aǧzāʾihī) untersucht.67 Auch die Körperteile und ihre Eigenschaften können also zum Gegenstand einer Wissenschaft gemacht werden, wobei gleichzeitig deutlich ist, dass es sich ebenso wie bei der anschlie65Die Unterscheidung der beiden letzten Bereiche wird bereits bei al-Fārābī gemacht, vgl. alFārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 115, 16–116, 4; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 117. 66Zu den Parva naturalia siehe Carla Di Martino, Parva Naturalia. Tradition arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 375–378. 67Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 76, 11–13: »Und darum gab Aristoteles der Wissenschaft der Lebewesen vier Teile in diesem Buch: [1] über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ihrer Teile, [2] über ihre Eigenschaften, insofern sie Glieder haben, [3] über die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ihrer homoiomeren und [4] anhomoiomeren Teile. Und er gab der Erörterung über ihre Eigenschaften insgesamt drei Arten […].« Es schließt sich hier also unmittelbar der oben zitierte Text T 8 an.
Der Gegenstand der Psychologie
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ßend genannten Psychologie nur um eine Teilwissenschaft handeln kann. Ibn Bāǧǧa spricht hier von der »Wissenschaft der Lebewesen« (ʿilm al-ḥayawān) und fasst darunter offenbar sowohl die »in diesem Buch« erläuterte Physiologie wie die drei oben bereits näher betrachteten Bereiche. Aus der Perspektive einer umfassenden Wissenschaft des Lebendigen also können »Biologie« und Psychologie immer nur Teile und Eigenschaften des Lebewesens studieren, das allein als substantielles Seiendes Gegenstand von Wissenschaft im vollen Sinne sein kann. Gleichzeitig haben wir mit diesen Überlegungen ein ausgezeichnetes Kriterium in die Hand bekommen, um die Trennlinie zwischen der Psychologie und den naturphilosophischen Grundlagen der Psychologie zu ziehen, die wir untersuchen wollen. Die Psychologie nämlich hat es vornehmlich mit den Potenzen der Seele zu tun, und zwar in Bezug auf die Akte, die aus diesen Potenzen hervorgehen und die dem Lebewesen auf Grund der seelischen Potenzen zukommen. Hier geht es, wie aus dieser Beschreibung deutlich wird, offenbar um das spezifisch Seelische, da das Lebewesen nur mittelbar betroffen ist. Betrachten wir die seelischen Potenzen dagegen, insofern sie »Eigenschaften« von Lebewesen, also von einem Typ natürlicher Körper, sind, dann thematisieren wir damit genau das, was bei der Untersuchung des spezifisch Seelischen immer schon vorausgesetzt werden muss. Das heißt, die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung wird darin bestehen, den von Ibn Bāǧǧa gemachten und dargestellten Voraussetzungen nachzugehen, die sich mit dem Begriff einer seelischen Potenz als Potenz eines natürlichen, belebten Körpers verbinden. Dies beinhaltet dann gerade auch, zu klären, was natürliche Potenzen überhaupt sind, also bereits die Potenzen unbelebter Körper. Hier darf erneut auf den zu Beginn der Einleitung genannten Exkurs in Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione verwiesen werden, wo Ibn Bāǧǧa selbst ausdrücklich feststellt, dass von den dort untersuchten Potenzen ein gerader Weg bis zur Erkenntnis des Intellekts, also der die Psychologie zugleich abschließenden und übersteigenden Erkenntnis, führt.
II. Der Begriff der Potenz und die Methode der Psychologie In diesem zweiten Teil wollen wir uns um eine vorläufige Aufklärung dessen bemühen, was Ibn Bāǧǧa in der Psychologie unter einem Vermögen oder einer »Potenz« (quwwa) versteht, indem wir das erste Kapitel des Buchs der Seele zugrunde legen, das sich mit der Definition der »Seele« (nafs) befasst. Das vierte Kapitel betrachtet zunächst grundsätzlich die Verwendung des Begriffs der Potenz in der Psychologie und das Verhältnis der Seele zu ihren Vermögen. Das fünfte Kapitel nimmt die verschiedenen von Ibn Bāǧǧa angestellten Überlegungen im Zusammenhang mit der Seelendefinition genauer in den Blick, und zwar wird zunächst gefragt, was der epistemische Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit der Seele ist (5.1., vgl. N I. 16); dann wird Ibn Bāǧǧas Heranführung an die allgemeine Seelendefinition des Aristoteles mit ihren Quellen untersucht (5.2., vgl. N I. 1–5); sodann die Überlegungen zu den wissenschaftstheoretischen Bedingungen der Seelendefinition und ihre Quellen bei al-Fārābī (5.3, vgl. N I. 9ff). Das sechste Kapitel schließlich ist den Implikationen der allgemeinen Seelendefinition gewidmet, beziehungsweise den Folgen, die Ibn Bāǧǧa aus ihr zieht (vgl. N I. 6, 18).
4. Kapitel: Der Vermögensbegriff in der Psychologie
1. Aristoteles: Die Seele ist ihre Vermögen Wenigstens bis zur Kritik des 19. Jahrhunderts an der sogenannten »Vermögenspsychologie« gehörte die Bestimmung und Untersuchung der Vermögen der Seele zum Kernbestand philosophischer Psychologie, zumeist ohne dass der Frage, was denn ein Vermögen überhaupt ist und was der Begriff des Vermögens genau leistet, ausdrücklich nachgegangen worden wäre. Die Kritik bringt dann vor, dass das Vermögen, zwischen das Wesen der Seele und die psychischen Tätigkeiten eingezwängt, jeder Realität ermangelt – ein »leerer Begriff«.1 Die Rede von Vermögen, so Nietzsches bissige Kritik an Kant, erklärt ebensoviel wie Molières Arzt, der die einschläfernde Wirkung des Opiums auf dessen »virtus dormitiva« zurückführt.2 Diese Infragestellung des Vermögensbegriffs weist auf zweierlei hin, das bei der Untersuchung der Psychologie Ibn Bāǧǧas berücksichtigt werden muss, für den wie für alle im Rahmen der aristotelischen Psychologie über die Seele nachdenkenden Philosophen, der Begriff des Vermögens zu den Grundbegriffen gehört. Einerseits zeigt sich nämlich, dass es keine unschuldige Verwendung des Begriffes gibt, die sich auf ein ursprüngliches Phänomen und das mit diesem einhergehende vorphilosophische Verständnis stützen könnte. Die Notwendigkeit und Aufgabe des Vermögensbegriffs bedürfen selbst der Ausweisung. Andererseits verdeutlicht die Kritik, dass hinter dem Begriff des Vermögens eine philosophische Grundstruktur steht, die weiter ist als die Psychologie und deshalb auch eine über sie hinausreichende Begründung verlangt. Wird diese Grundstruktur nicht mehr verstanden oder geteilt oder aber bewusst angegriffen, dann kann 1W. Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, vom Standpunkte des Realismus und nach genetischer Methode, Cöthen 1894, I, 4, 16: »Eine bloße Möglichkeit ist das Vermögen nicht, denn Möglichkeiten bewirken nichts. Die wirkliche Veränderung ist es auch nicht, denn diese geht erst aus ihm hervor. Wohl aber soll es der wirkliche Grund der Möglichkeit sein. Ein Wesen ist das Vermögen nicht, denn das Wesen ist die Seele, ein wirkliches Geschehen ist es auch nicht, denn das ist der psychische Vorgang. Wohl aber soll es etwas sein zwischen dem Wesen und dessen Tätigkeiten – ist damit nicht schon die völlige Leerheit des Begriffes selbst eingestanden?« 2Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 11, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, ed. Karl Schlechta, München 1955, Bd. 2, 575f.
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Der Vermögensbegriff in der Psychologie
freilich auch der Gebrauch von »Vermögen« in der Psychologie nicht mehr auf Zustimmung und Verständnis rechnen. Was genau jeweils mit einem Vermögen gemeint ist, so zeigt sich hiermit, ist nicht nur von fundamentaler Bedeutung für die Psychologie selbst und die ihr anhängenden erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Fragen, sondern stellt die Psychologie auch in einen bestimmten gesamtphilosophischen Zusammenhang, bringt sie in Verbindung mit grundlegenden »metaphysischen« Entscheidungen. Der vielleicht auffälligste Zug von Aristoteles’ Verwendung des Vermögensbegriffs in De anima ist die Abwesenheit einer jeden näheren Bestimmung dessen, was hier mit Vermögen (δύναμις) gemeint ist. Das soll nicht heißen, dass nicht klar wäre, wovon die Rede ist, wenn Aristoteles hier von Vermögen spricht, sondern lediglich, dass er den Gebrauch dieses Begriffes nicht rechtfertigt und seine philosophischen Implikationen nicht ausdrücklich entfaltet. Dass der unvoreingenommene Leser dennoch ein recht präzises Bild davon erhält, was für Aristoteles ein seelisches Vermögen ist, liegt nicht nur an der Sinnfälligkeit der diskutierten Phänomene und der alltagssprachlichen Vertrautheit mit der Redeweise, dass jemand etwas vermag oder ein Vermögen zu etwas hat, sondern auch daran, dass implizit oder zumindest nebenbei Vorannahmen und Voraussetzungen vermittelt werden, die auf ein einfaches und in sich stimmiges Modell verweisen. Unternimmt man jedoch den Versuch einer genauen Analyse, so ergeben sich auch bestimmte Probleme, die so leicht nicht behoben werden können. Zu diesen impliziten Voraussetzungen, die zu erhärten nicht unverfänglich ist, gehört an zentraler Stelle die Gleichsetzung von Seelenteil und Seelenvermögen, ja von Seele und Vermögen, denn diese macht es möglich, das über die eine und das andere Gesagte auf beide zu beziehen. Die Schrift De anima wird dadurch thematisch eine Schrift über δυνάμεις.3 Im Katalog der Fragen, die in Bezug auf die Seele zu beantworten sind, aufgestellt in De anima I. 1, taucht der Begriff des Vermögens überhaupt nicht auf. Dort ist lediglich von »Teilen« der Seele die Rede. Unter Voraussetzung der Einheit der Seele, also unter der Voraussetzung, dass jedes Beseelte nur eine Seele hat, nicht mehrere Seelen sondern höchstens mehrere Seelenteile, wird gefragt, ob man die Seele als ganze oder ihre Teile zuerst untersuchen müsse (402b9–10). Diese Frage beantwortet Aristoteles im Laufe von De anima durch sein Vorgehen so, dass er zwar zunächst nach dem »gemeinsamsten Begriff« (κοινότατος λόγος) von Seele sucht (DA II. 1), diesen jedoch anschließend als in seiner Erklärungsleistung zu beschränkt (DA II. 2) und als zu unspezifisch (DA II. 3) beurteilt. Als »angemessenste Bestimmung« (λόγος… οἰκειότατος) der Seele erscheint 3Diese Feststellung trifft eine Vorentscheidung in der Frage, ob die Seele als Disposition oder als Aktivität aufzufassen ist. Vgl. zu dieser Frage Johannes Hübner, Die Aristotelische Konzeption der Seele als Aktivität in de Anima II 1, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 81 (1999), 1–32, und unten, Kapitel 6, Abschnitt 2.
Aristoteles: Die Seele ist ihre Vermögen
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dann die Bestimmung jedes einzelnen – Vermögens.4 Während im unmittelbaren Kontext dieser programmatischen Erklärung der Begriff des Vermögens selbst nicht fällt, sondern nur etwa vom Wahrnehmungsfähigen (αἰσθητικόν) die Rede ist, ist dieses, zusammen mit anderen, zu Beginn des Kapitels als »Vermögen der Seele« eingeführt worden (vgl. 414a29–32). Eine zweite Frage geht auf die Unterscheidung der Seelenteile von einander (402b10–11). Aristoteles’ Antwort setzt auch hier wieder den Begriff des Vermögens bereits voraus. So spricht er von Weisen des Lebens, als deren einfachste und grundlegende er die Ernährung einstuft. Von den Pflanzen kann man deshalb sagen, dass sie leben, weil sie »eine solche δύναμις und ein solches Prinzip [ἀρχή] haben« (413a25–27), das dann wenig später auch als »Vermögen der Seele« bezeichnet wird. Die Seele wird anschließend gleichzeitig als das Prinzip dieser Vermögen und als durch sie bestimmt (ὥρισται) beschrieben, bevor die Frage, ob es sich dabei jeweils um Seele oder einen Teil von Seele handelt, explizit wieder aufgegriffen wird (413b11–14). Die Antwort erfolgt mit Hilfe der von Aristoteles auch sonst verwendeten Unterscheidung zwischen dem nur begrifflich (λόγῳ) und dem auch räumlich (τόπῳ) Geschiedenen: Die Beobachtung zeigt, dass die Seele weder in Bezug auf die einzelnen Teile des Körpers lokalisierbar ist, sondern vielmehr im ganzen Körper aktuell eine einzige ist, noch die einzelnen Vermögen räumlich voneinander ablösbar sind. Dabei ist nur für den Intellekt – hier übrigens mit dem »theoretischen Vermögen« gleichgesetzt – eventuell eine Ausnahme zu machen. Die anderen Teile der Seele sind räumlich nicht getrennt, wohl aber begrifflich. Dies wird mit der an einem Beispiel durchgeführten Überlegung begründet, dass die Vermögen verschieden sein müssen, wenn die ihnen entsprechenden Tätigkeiten verschieden sind (413b14–31).5 Auf demselben Zusammenhang zwischen Vermögen und Tätigkeiten gründet auch die folgende suggestive Frage, ob man zuerst die Teile der Seele oder ihre Tätigkeiten (ἔργα) untersuchen müsse und, aus demselben Grunde, die Gegenstände (ἀντικείμενα) vor den Tätigkeiten (402b11–16). Dies wird später, in beinahe ungewöhnlich deutlicher Weise, bestätigt: Gegenstände und Aktivitäten (ἐνέργειαι) sind zuerst zu betrachten, weil sie »dem Begriffe nach« (κατὰ τὸν λόγον) primär sind (De anima, II. 4, 415a16–22). Es ist verschiedentlich bemerkt worden,6 dass Aristoteles sich mit diesem indirekten Zugang zu den Vermögen wohl an eine Stelle der platonischen Politeia (477c–d) anlehnt oder zumindest 4Aristoteles, De anima, II. 3, 415a12–13. 5Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 46, 1–3; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 59, 10–13, ersetzt das aristotelische Beispiel durch diesen allgemein formulierten Grundsatz, wobei δυνάμεις (quwā) und ἔργα (afʿāl) in Beziehung gesetzt werden. 6Deborah K. W. Modrak, Aristotle: The Power of Perception, Chicago–London 1987, 29f; Richard Sorabji, Necessity, Cause, and Blame. Perspectives on Aristotle’s Theory, Ithaca 1980, 171, Anm. 54.
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Der Vermögensbegriff in der Psychologie
derselben Überlegung folgt, nämlich, dass ein Vermögen nicht wie andere Dinge über seine Eigenschaften erkannt werden kann, etwa Farbe und Gestalt, sondern lediglich durch das, »worauf es bezogen ist und was es bewirkt«. Nach der Identität oder Verschiedenheit dieser beiden Aspekte, dessen worauf sie hingeordnet (τεταγμένη) sind und dessen, was sie bewirken, ist auch die Identität oder Verschiedenheit der Vermögen zu beurteilen. In diesem Sinne legen die De-animaKommentare von Alexander, Themistios, Philoponos und Pseudo(?)-Simplikios denn auch übereinstimmend die aristotelische Methode aus, wenn sie erklären, die Tätigkeiten und Gegenstände seien uns besser bekannt als die Vermögen, von denen sie ausgehen, und, entsprechend eines universellen methodischen Erkenntnisprinzips, müsse die Erkenntnis vom Erkennbareren zum weniger Erkennbaren fortschreiten.7 Themistios bringt den Gedanken am deutlichsten zum Ausdruck, wenn er sagt, die Gegenstände seien deshalb unmittelbar erkennbar, weil sie ja wahrnehmbar seien, die Tätigkeiten und mehr noch die Vermögen müssten dagegen durch rationales Erschließen (λόγῳ, bi-l-qiyās) allein erjagt werden.8 Mit der Feststellung dieser Priorität der Gegenstände und Tätigkeiten in der Erkenntnisordnung ist noch nichts darüber gesagt, ob die erkenntnistheoretische Priorität auch in einer wesensmäßigen oder ontologischen Priorität gründet, wie die Kommentatoren durchweg annehmen und wie es Aristoteles’ eigene grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von δύναμις und ἐνέργεια in Metaphysik IX. 8 nahelegen, wenn nicht gar zwingend vorschreiben. Lassen wir diese Frage jedoch zunächst auf sich beruhen und versuchen zusammenzufassen, was sich aus den vorstehenden Beobachtungen über Aristoteles’ Begriff des Vermögens in der Psychologie erschließen lässt. Zum einen hat sich gezeigt, dass Aristoteles keinen Unterschied zwischen den »Teilen« der Seele und den Vermögen der Seele macht. Die Fragen nach den Teilen werden mit Auskünften über die Vermögen beantwortet. Die spätere Tradition hat jedoch einen solchen Unterschied eingeführt, indem man der von Aristoteles vorgenommenen Unterscheidung zwischen einer bloß begrifflichen Trennung, die bejaht wird, und einer räumlichen Trennung, die verneint wird, ein festes terminologisches Gewand verlieh. So erweitert und erklärt Themistios die Frage nach der Teilbarkeit der Seele, indem er einen Unterschied zwischen Teilen und Vermögen einführt: Teile unterscheiden sich auch dem Substrat nach, 7Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 32, 23–27 und 33, 5–10; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 49, 16–20 und 49, 23–28; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 66, 14–67, 2 und 67, 4–9; Ioannis Philoponi in Aristotelis de anima libros commentaria, ed. Hayduck, 264, 11–15 und 264, 24–27; Simplicii in libros Aristotelis de anima commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca 11), ed. Michael Hayduck, Berlin 1882, 109, 24–30. 8Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 49, 31–34; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 67, 12–15.
Aristoteles: Die Seele ist ihre Vermögen
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Vermögen dagegen nur durch ihre verschiedenen Aktivitäten. Dieses begriffliche Instrumentarium dient dann dazu, den Unterschied der aristotelischen Konzeption gegenüber der stoischen und platonischen zu benennen.9 Weiterhin unterscheidet Aristoteles nicht zwischen Seele und Vermögen. Es sind die Vermögen, die Aristoteles untersuchen will, um einen angemessenen Begriff von Seele zu erlangen. Mehr noch, aus dem Kontext dieser Äußerung geht hervor, dass damit das Wissen über das Wesen der Seele angestrebt ist, welches in De anima I. 1 als Grundlage für jede weitere Erkenntnis von etwaigen Eigenschaften benannt worden war.10 In die gleiche Richtung deutet auch, dass Aristoteles Nährseele und Nährvermögen gleichsetzt.11 Ferner deutet die Passage, in der die Seele gleichzeitig als Prinzip der Vermögen und als durch diese bestimmt bezeichnet wird, während im selben Atemzug die Frage gestellt wird, ob diese Vermögen Seele oder Teile der Seele sind (413b11–14), folgendes Verhältnis an: Die Seele ist in gewisser Weise das Ensemble der Vermögen,12 während sie andererseits, sofern sie eine Einheit bildet, auch als Prinzip der Vermögen beschrieben werden kann. Diese Einheit der Seele ist nur begrifflich aufzulösen, insofern aus der Vielheit der Tätigkeiten auf eine Vielheit der Vermögen geschlossen werden kann, die der Erkenntnis so nur indirekt zugänglich sind. Dieser Rückgang von den Tätigkeiten auf die Vermögen ist deshalb möglich, weil die Vermögen als ἀρχή der Tätigkeiten, als ihr Prinzip aufgefasst werden,13 also in der einen oder anderen Weise als ihre Ursache. Was dies genau bedeutet, bleibt noch zu bestimmen. Trotz der Vorläufigkeit der vorstehenden Beobachtungen kann an dieser Stelle ein wichtiger Punkt festgehalten werden: Für Aristoteles stellen das Studium der Seele und die Untersuchung der seelischen Vermögen nicht zwei getrennte – und seien es komplementäre – Unternehmungen dar, sondern die Untersuchung der Seele besteht wesentlich in der Untersuchung eines bestimmten Ensembles von Vermögen. Eine Differenz zwischen dem Wesen der Seele und den Vermögen der Seele besteht nicht. Damit wird erstens eine genaue Bestimmung des in der Psychologie mit Vermögen Gemeinten vollständig unverzichtbar. Zweitens ist die Identität der Seele mit ihren Vermögen insofern hervorhebenswert, als manche späteren Denker, die sich bewusst in die Tradition der aristotelischen
9Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 3, 7–15. Implizit scheint auch Aristoteles in seiner Kritik an der platonischen Konzeption des Begehrens eine solche Unterscheidung anzuwenden, vgl. Aristoteles, De anima, III. 10, 433a31–b2. 10Siehe dazu, im unmittelbaren Anschluss an Aristoteles, De anima, II. 3, 415a12–13, die Stelle II. 4, 415a14–17 und vgl. mit I. 1, 402b16–403a2. 11Aristoteles, De anima, II. 4, 415a23–25 und vgl. De generatione animalium, II. 4, 740b29–37. 12Zu diesem Ergebnis kommt auch Sorabji, Necessity, Cause, and Blame, 166. 13Für die Paarung von δύναμις mit ἀρχή siehe neben der oben bereits zitierten Stelle 413a25–27 auch Aristoteles, De anima, II. 4, 416b17–18.
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Der Vermögensbegriff in der Psychologie
Psychologie stellen, diese Identität aufzuheben versucht haben. Ibn Sīnā und Thomas von Aquin sind zwei Beispiele für diese Tendenz.14
2. Ibn Bāǧǧa: Die Psychologie untersucht in einer Vollkommenheitsordnung stehende Potenzen Wie führt Ibn Bāǧǧa in seinem Buch der Seele den Begriff des Vermögens ein? Ja tut er dies überhaupt? Die vorstehenden Beobachtungen am aristotelischen Text, der Ibn Bāǧǧas Psychologie zugrunde liegt, haben gezeigt, dass dort ein komplexes Verständnis von seelischen Vermögen unausgesprochen vorausgesetzt wird, ein Verständnis, dessen ganzer Gehalt und dessen volle Implikationen hier noch kaum berührt worden sind. Noch vor der ersten Annäherung an den Text Ibn Bāǧǧas ist der Übergang vom griechischen Vorbild zu seinem arabischen Nachfolger aber der geeignete Ort für eine wichtige terminologische Anmerkung: Im Versuch, uns an unsere Fragestellung und an den psychologischen Vermögensbegriff heranzutasten, haben wir in absichtlicher Naivität so gesprochen, als könnten wir uns bei dieser Untersuchung an das deutsche »Vermögen« halten und dürften die aristotelische δύναμις und was immer ihr im Arabischen Ibn Bāǧǧas entsprechen mag als in diesem Ausdruck aufgefangen ansehen. Dies ist freilich nicht der Fall. Um den weiteren Ausführungen nicht vorzugreifen, sei nur an das Selbstverständlichste erinnert: Der Begriff der δύναμις gehört in Verbindung mit seinem komplementären Gegenstück – ἐνέργεια – zu den Grundbegriffen der aristotelischen Philosophie, die als Begriffe, welche die höchsten (Seins- und Begriffs-) Gattungen übersteigen, nicht weiter definierbar oder ableitbar sind. Es sind Verhältnisbegriffe, die in verschiedenen Seinsbereichen in diesen je angepaßter Weise einerseits das bezeichnen, »was noch nicht (im jeweils angezielten Sinn) wirklich ist«, und andererseits das, was diese Wirklichkeit erreicht hat.15 Δύναμις in dieser Bedeutung wird gewöhnlich im Deutschen mit »Möglichkeit« übersetzt. Ohne hier eine Vorentscheidung darüber zu treffen, ob diese und andere Bedeutungen des laut Aristoteles in vielfältiger Weise ausgesagten Begriffs der δύναμις16 eine strukturierte Einheit oder ein äquivokes Nebeneinander bilden, 14Vgl. Meryem Sebti, Avicenne. L’âme humaine, Paris 2000, 36–50; Édouard-Henri Wéber, La personne humaine au XIIIe siècle. L’avènement chez les maîtres Parisiens de l’acception moderne de l’homme (Bibliothèque thomiste 46), Paris 1991, stellt die wechselnde Position des Thomas in dieser Frage dar. 15Vgl. Klaus Jacobi, Möglichkeit, in: Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Christoph Wild (Hg.), Handbuch Philosophischer Grundbegriffe, München 1973, Bd. 2, 930–947, hier 938f. 16Aristoteles, Metaphysik, V. 12, 1019b32–33.
Die Psychologie untersucht in einer Vollkommenheitsordnung stehende Potenzen 159
muss man feststellen, dass weder »Möglichkeit« noch »Vermögen« semantisch weit genug sind, um genau diese Frage offenzuhalten. Zunächst offenhalten und anschließend zu klären versuchen muss man sie aber, wenn man der aristotelischen Psychologie beziehungsweise der in ihrem konzeptuellen Rahmen entwickelten Psychologie Ibn Bāǧǧas gerecht werden will, die gar nicht anders kann als den Begriff der seelischen δύναμις mit – und sei es selbst negativem – Bezug auf den bei Aristoteles dominanten ontologischen Sinn von δύναμις zu lesen. Dies gilt um so mehr, als das Arabische Wort quwwa (Plural: quwā) die gleiche semantische Ausdehnung hat wie griechisch δύναμις und in den arabischen Aristotelesübersetzungen unausweichlich für alle Verwendungen dieses Wortes eingesetzt wird.17 Um also diese terminologische Einheitlichkeit angemessen einzufangen, wird es sich nicht vermeiden lassen, im Folgenden so gut wie ausschließlich das schwerfällige lateinische Fremdwort »Potenz« zu gebrauchen, das hinreichend unscharf ist, um alle hier relevanten Aspekte unter sich zu begreifen. Ibn Bāǧǧa bemüht sich zu Beginn des zweiten Kapitels seines Buchs der Seele recht ausführlich um eine Klärung des Begriffs der Potenz (N II. 1–8), nachdem er im vorausgehenden Einleitungskapitel, das die Definition der Seele behandelt, vom Potenzbegriff zwar Gebrauch gemacht, ihn jedoch weder erläutert noch in irgendeiner Weise die Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hat. Dies heißt, wie wir sogleich sehen werden, nicht, dass der Potenzbegriff für die Definition der Seele unwichtig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Aber wie bereits bei Aristoteles kommt hier der Umstand zum Tragen, dass ein bestimmtes Verständnis von Potenz als Grundlage vorausgesetzt ist. Ibn Bāǧǧas Vorgehen zeigt deutlich, dass er diese Grundlage für selbstverständlich und ihre Darlegung allenfalls für eine exegetische Aufgabe hält. Seine wiederkehrenden Bemühungen um die Klärung des Potenzbegriffes und seine Systematisierung, ja selbst die im Verlauf dieser Untersuchung herauszuhebenden Abweichungen von Aristoteles widersprechen dem insofern nicht, als sie offenbar jeweilige Bezugnahmen auf eine basale und umfassende Begriffs- und Wirklichkeitsstruktur sind, die in jedem einzelnen Kontext neu und in spezifischer Weise in Anschlag gebracht werden muss, dabei aber immer nur teilweise sichtbar wird. So erklärt sich, dass wir bei Ibn Bāǧǧa einerseits eine systematische Potenztheorie ans Licht heben, andererseits aber keine Zeichen einer bewussten (auch ihrer Originalität bewussten) Entwicklung dieser Theorie feststellen können. Die in Ibn Bāǧǧas Verständnis der aristotelischen Seelendefinition verborgenen Annahmen über die Natur seelischer Vermögen aufzuzeigen, wird Aufgabe des folgenden Kapitels sein. An dieser Stelle geht es zunächst nur darum, für diese Überlegungen den Grund zu legen und zu sehen, ob wir die anhand des 17Erst in den Ableitungen geht das Arabische andere Wege; so entspricht τὸ δυνατόν, also ›dem Möglichen‹, das Adjektiv einer anderen Wortwurzel: al-mumkin.
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aristotelischen De anima-Textes getroffenen Feststellungen über das Verhältnis von Seele und Seelenvermögen als geteilte Grundlage auch bei Ibn Bāǧǧa voraussetzen dürfen. Dass dies in der Tat der Fall ist, kann, ähnlich wie bei Aristoteles, an dem im ersten Kapitel des Buchs der Seele entworfenen Forschungsprogramm verdeutlicht werden. Die Komposition dieses ersten Kapitels und damit die Gliederung dieses Fragenkatalogs werden – um das Wenigste zu sagen – verunklart, dadurch dass Ibn Bāǧǧa, der mit Bedacht auf die Bearbeitung des Stoffes von De anima I. 2–5 verzichtet,18 die Themen der Kapitel I. 1 und II. 1–3 in einer Abhandlung zusammenbringt, also die einleitenden Beobachtungen und Fragestellungen mit der allgemeinen Definition der Seele und deren weiterer Erläuterung vereinigt. Ibn Bāǧǧa versteht die aristotelischen Fragen nach den Teilen der Seele und der Einheitlichkeit des Seelenbegriffs19 auf dem Hintergrund eines in allen Wissenschaften gültigen Untersuchungsschemas, demzufolge sich an die Frage nach dem Wesen jeweils die Frage nach der Einheit des Untersuchungsgegenstandes anzuschließen hat. Dieses Wissen vollende nämlich, so erklärt er hier, die Wesenserkenntnis.20 Er rekonstruiert sodann die Frage mit dem von Themistios angeboten Lektüreraster und unterscheidet die Möglichkeit vieler Seelenteile von derjenigen einer Mehrzahl von Potenzen, also die räumliche von der funktionalen Teilung. Insgesamt deutet er vier Varianten mit zunehmender Einheit an: Die Seele könne, entweder (1) nicht eins sein oder aber, wenn sie eins ist, könne sie (2) viele Teile haben, (3) viele Potenzen haben oder aber (4) nur eine Potenz besitzen. Alle diese Positionen, so fährt Ibn Bāǧǧa dann fort, seien von Vorgängern des Aristoteles tatsächlich vertreten worden.21 Damit kennzeichnet er die genannten zugleich als überholt und unzutreffend. »Einige« meinten, »Seele« sei ein mehr18Siehe Kapitel 3, Abschnitt 1.2. 19Die von Aristoteles in De anima I. 1, 402b1–16 aufgeworfenen Fragen sind in ihrer Anordnung nicht leicht zu durchschauen, insofern er zwischen den Themen der Teilbarkeit der Seele und der Einheitlichkeit des Seelenbegriffs hin und her wechselt. Dies ist freilich durch einen inneren Zusammenhang dieser Fragen begründet, aber die genauen Beziehungen der einzelnen Teilfragen bedürften einer gesonderten Analyse. 20N I. 11. Diese Aussage ist verwandt, aber nicht identisch mit derjenigen des Themistios, der zu den Überlegungen von De anima I. 1, 402b1–16 bemerkt, sie seien nützlich und notwendig für die Erfassung des Wesens der Seele, vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 5, 1–3. Außerdem korrigiert Ibn Bāǧǧa gewissermaßen Alexanders Darstellung, der die Überlegungen zu den Seelenteilen an die Ausführungen zum Wesen der Seele anschließen will (Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 27, 1–3). Dass es sich dabei jedoch nur um eine abweichende Darstellung, nicht um die Einführung einer Differenz zwischen Wesen und Potenz handelt, dürfte aus den folgenden Analysen mehr als klar werden. 21Wörtlich spricht Ibn Bāǧǧa nur von »den Vorgängern« (man taqaddama), aber diese und ähnliche Formulierungen meinen bei ihm stets die Vorgänger des Aristoteles. Deshalb kann auch die erste von ihm hier genannte These, trotz ihrer begrifflichen Verwandtschaft mit der
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deutiger Name, der eine Vielzahl unterschiedlicher Dinge bezeichne. Eine solche Ansicht erwähnt Themistios, der unter Berufung auf Platon die anonyme Auffassung zurückweist, ein Lebewesen könne mehrere Seelen für seine verschiedenen Lebensfunktionen besitzen.22 Andere hielten dafür, die Seele bilde zwar eine Einheit, setze sich jedoch aus Teilen zusammen. Das wiederum lässt sich auf zweierlei Weisen verstehen, und beide Modelle haben ihre Anhänger gefunden: Demokrit und andere Atomisten betrachteten die Seele als eine Substanz, die in vielen Einzelteilen vorliegt. Offenbar spricht Ibn Bāǧǧa hiermit ein gemeinsames Merkmal all der von Aristoteles dargestellten und kritisierten Theorien an, welche die Seele mit einem bestimmten Element identifizieren.23 Platon und Galen dagegen nennt er als Vertreter der zweiten Variante der Teilbarkeit der Seele. Sie nahmen an, dass die Seele unterschiedliche Teile hat, die mit jeweils anderen Subjekten, nämlich mit verschiedenen Körperteilen assoziiert sind. Für Platons Lehre verweist Ibn Bāǧǧa auf den Timaios, was er vermutlich wiederum von Themistios übernommen hat.24 Dass Galen der gleichen Auffassung war, konnte er nicht nur seinem ins Arabische übersetzten Kompendium des Timaios entnehmen, sondern zum Beispiel auch seiner einflussreichen Schrift Dass die Kräfte der Seele den Mischungen des Körpers folgen,25 ganz zu schweigen von alFārābīs Kritik an Galen in seinen biologischen Abhandlungen.26 Damit sind die letzten beiden Möglichkeiten noch offen, die Seele könnte eine oder mehrere Potenzen haben,27 die wohlgemerkt beide Varianten der Einheit von Ibn Bāǧǧa später selbst verfochtenen (N I. 18) – beide zählen die Seele zu den »amphibolischen Bezeichnungen« – nicht mit dieser übereinstimmen. 22Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 4, 12–17. Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, ad locum gibt als möglichen Bezug Platon, Theaitetos, 184d1–2 an. 23Vgl. Aristoteles, De anima, I. 2, zu Demokrit besonders 403b31–404a9. Auch an die ihm durch Alexander bekannte Pneumalehre der Stoa mag Ibn Bāǧǧa dabei denken; vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 17, 15–20, 26. Im gleichen Zusammenhang wird auch die Theorie, eines der Elemente sei Seele, diskutiert. Beides sind Varianten, die implizieren, dass die Seele ein Körper ist. 24Vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 37, 2–6 und Platon, Timaios, 69a–70e. 25Vgl. Galeni Compendium Timaei Platonis (Corpus Platonicum Medii Aevi. Plato Arabus 1), edd. Paul Kraus, Richard Walzer, London 1951, 23, 5–24, 9 (arab.); Hans Hinrich Biesterfeldt, Galens Traktat ›Daß die Kräfte der Seele den Mischungen des Körpers folgen‹ in arabischer Übersetzung (Abhandlungen für die Kunde des Morgenlandes 40, 4), Wiesbaden 1973, 12, 15–13, 2 (arab.). 26Siehe dazu Rasāʾil falsafīya li-l-Kindī wa-l-Fārābī wa-Ibn Bāǧǧa wa-Ibn ʿAdī, ed. Badawī, 38–107 passim. 27Die Theorie einer einzigen Potenz wird von Ibn Bāǧǧa nicht wieder erwähnt. Bezeugt gefunden hat er sie wohl bei Alexander, dessen Themenführung er hier wie gesehen (vgl. Anm. 20) kritisch folgt. Alexander schreibt »Demokrit und anderen« die These zu, die Seele habe eine einzige Potenz, und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebewesen kä-
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der Seele darstellen. Klar ist außerdem bereits, dass die Frage überhaupt das Wesen der Seele betrifft und Potenzen von Ibn Bāǧǧa nicht etwa als Eigenschaften der Seele gedacht werden. Dies wird durch einen Abschnitt am Ende des Kapitels bestätigt, der die Frage der Seelenteile oder Vermögen zugleich mit der Definition der Seele wieder aufgreift (N I. 18): Die Seele sei Entelechie eines natürlichen und organischen Körpers, und »dies schließt jede Seele ein und jede ihrer Potenzen, ob sie nun Potenzen hat oder Teile«. Sieht man einmal davon ab, dass Ibn Bāǧǧa hier die Möglichkeit von Seelenteilen, die doch implizit längst ausgeschieden ist, scheinbar offen lässt – die Mühe einer expliziten Entscheidung macht er sich an keiner Stelle –, sieht man also von dieser durch den gesamten Text widerlegten Inkonsequenz ab, so macht die zitierte Feststellung überdeutlich, dass auch Ibn Bāǧǧa die Potenzen der Seele mit dem Wesen der Seele identifiziert, denn er behauptet, dass die Seelendefinition auf alle seelischen Potenzen anwendbar ist. Allerdings bekräftigt er die schon zuvor gemachte Aussage (N I. 6), der Begriff der Seele sei äquivok oder genauer »amphibolisch« (yuqālu bi-l-taškīk), er bezeichne keine einheitliche Natur.28 Dass dies so ist, macht Ibn Bāǧǧa deutlich, indem er nun seinerseits das aristotelische Prinzip anwendet, nach dem die Potenzen von den ihnen entsprechenden Tätigkeiten aus zu klären sind. Die Potenzen können nicht gleichartig sein, weil die Tätigkeiten der Lebewesen so verschieden sind, wie Ernährung, Wahrnehmung, Bewegung, Vorstellung und rationales Denken es eben sind. Wie nun diese Tätigkeiten untereinander in Verhältnissen des Früher oder Später stehen oder analog zueinander sind, so gilt dies auch von den Potenzen, und entsprechend wird »Seele« per prius, per posterius und per analogiam ausgesagt. Dieses Ergebnis greift Ibn Bāǧǧa, das Kapitel abschließend (N I. 20), dann noch einmal auf. Hier begründet er nämlich ausdrücklich den von Aristoteles beschrittenen Untersuchungsgang und damit auch sein eigenes Vorgehen: »da einige Seelen der Natur nach früher sind, andere später« begann Aristoteles mit der frühesten, die Ibn Bāǧǧa als die »Nährseele« (nafs ġāḏīya) beziehungsweise als das »Nährvermögen« (quwwa ġāḏīya) identifiziert. Daran ist zunächst bemerkenswert, dass Ibn Bāǧǧa gleichberechtigt von »Seelen« und »Potenzen« spricht und auch einzelne Potenzen bald als solche bald als Seele bezeichnet; auch die Formulierung »Potenz der Seele« findet Verwendung. Damit ist einerseits unterstrichen, dass, in Übereinstimmung mit Aristoteles, die Seele mit ihren Vermögen gleichgesetzt wird, andererseits wird deutlich gemacht, dass der Untersuchungsgegenstand Seele gerade aus diesem Grunde kein einheitlicher ist, so dass in einem
men nur dadurch zustande, dass dieser Potenz bestimmte Organe zur Verfügung stehen oder eben nicht; vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 27, 4–28, 2. 28Siehe dazu ausführlich Kapitel 5, Abschnitt 3.2.
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gewissen Sinne eben von einer Pluralität von Seelen (anfus) gesprochen werden kann, deren Untersuchung man in sinnvoller Weise ordnen muss. Diese Ordnung des Früher und Später wird von Ibn Bāǧǧa als eine geradezu an der Natur ablesbare hingestellt, die Seelen sind früher oder später »der Natur nach« (bi-l-ṭabʿ). Was das bedeutet, wird nur en passant angedeutet, wenn die Rangordnung von Vorstellung und Wahrnehmung, die zuvor (N I. 18) noch als analog bezeichnet worden waren, nun zu Gunsten der Vorstellung als »spätester« Seele entschieden wird, indem Ibn Bāǧǧa darauf verweist, dass es Lebewesen gibt, die keine oder nur eine unvollständig entwickelte Vorstellung haben. In das allgemeine Prinzip zurückübersetzt, aus dem diese Begründung hervorgeht, heißt das: Eine Potenz ist »früher« als eine andere, wenn sie ohne diese auftreten kann, die andere jedoch nicht ohne sie. Dieses Schichtungsgesetz braucht bei Ibn Bāǧǧa deshalb keine ausführlichere Erläuterung, weil es zu den Grundvoraussetzungen der aristotelischen Psychologie gehört, die auch von Aristoteles nur illustriert und nicht begründet werden – gerade in der Passage von De anima (II. 3), die ganz offensichtlich die Vorlage von Ibn Bāǧǧas Abschnitt bildet.29 Als lediglich deskriptives Prinzip, das beobachtbare Abhängigkeiten benennt, ist das auch zunächst völlig unverfänglich. Es regiert dann bei Aristoteles ausdrücklich das weitere Vorgehen – und darauf beruft Ibn Bāǧǧa sich hier ja –, insofern eine vom »früheren« zum »späteren« fortschreitende Behandlung der einzelnen Vermögen, wie bereits gesehen, die angemessenste (οἰκειότατος) Bestimmung der Seele ist.30 Allerdings bleibt Ibn Bāǧǧa nicht bei einer bloß beschreibenden Ordnung stehen, ebenso wenig übrigens wie Aristoteles letztlich, jedoch deutlicher in seinen Annahmen. Damit erhält die Abfolge der Potenzen, die gleichzeitig Leitfaden und Inhaltsbestimmung der Untersuchung der Seele ist, bei ihm jedoch eine zusätzliche Orientierung. Diese Weichenstellung gilt es hier zu beobachten, bevor die einleitenden Bemerkungen zum Abschluss gebracht werden. Die an dieser Stelle von Ibn Bāǧǧa ebenfalls vorgenommenen Einordnung des rationalen Vermögens lässt diese Orientierung deutlich werden. Von ihm sagt er nämlich, nachdem er bereits die Vorstellung als letzte Seele eingestuft hat, es sei »wenn es denn Seele ist, der Natur nach das späteste, so wie das Vollkommene der Natur nach später ist als das Unvollkommene« (N I. 20). Ob das rationale Vermögen Seele ist, darüber hat Ibn Bāǧǧa im Zusammenhang mit der von ihm als äquivok bezeichneten Seelendefinition bereits eine Andeutung gemacht, indem er feststellte, die rationale Seele werde in stärkerer Äquivokation »Seele« genannt als die übrigen (N I. 6). Aus seinen späteren Ausführungen wird deutlich, dass er sie wohl als »Vermögen der Seele« jedoch nicht als Seele im strikten Sinne begreift (N IX. 6–7, XI. 1). Was damit aber gemeint ist, kann erst die Analyse 29Siehe Aristoteles, De anima, II. 3, 414b33–415a13; vgl. auch II. 2, 413b1–2. 30Aristoteles, De anima, II. 3, 415a12–13.
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von Ibn Bāǧǧas Definition der Seele erschließen. Hier ist vor allem der Unterschied zwischen Ibn Bāǧǧas und Aristoteles’ Einordnung der Vernunft und ihre Begründung bedeutsam. Aristoteles sagt vom »rationalen Überlegen und Nachdenken« (λoγισμὸς καὶ διάνοια) – und nicht etwa wie Ibn Bāǧǧa von der Vorstellung –, es sei das »letzte und seltenste« (τελευταῖον δὲ καὶ ἐλάχιστα) Vermögen. Daneben erwähnt er den »theoretischen Intellekt«, der in einer anderen Darlegung zu behandeln sei, der also gewissermaßen aus den an dieser Stelle besprochenen Seelenvermögen ausgenommen wird. Ibn Bāǧǧa dagegen macht keinen Unterschied zwischen rationalem Vermögen und Intellekt, er erwähnt den letzteren überhaupt nicht, dafür geht die Sonderstellung auf das rationale Vermögen über, das nun zumindest teilweise aus der hier aufgestellten Ordnung herausfällt. Man kann also davon ausgehen, dass Ibn Bāǧǧas rationales Vermögen Aristoteles’ διάνοια und νοῦς umfasst. Wichtiger aber als diese Verschiebung ist an dieser Stelle die Deutung der Sonderstellung des rationalen Vermögens. Wo Aristoteles es τελευταῖον nennt, da hat er, wie die Verbindung mit ἐλάχιστα zeigt, eine wertneutrale Reihenfolge im Sinn. Daran hält sich etwa auch Themistios, der lediglich weiter hervorhebt, was Aristoteles hier aufzuzeigen versucht, nämlich dass das rationale Vermögen als das komplexeste die anderen potentiell enthält, er paraphrasiert daher die betreffende Passage so: Das rationale Vermögen sei »das letzte in der Erzeugung und das erste in der Potenz«.31 Ibn Bāǧǧa dagegen sieht das rationale Vermögen als ein solches an, das auf Grund seiner größeren Vollkommenheit später ist. Diese Deutung ist wohl einerseits durch die arabische De anima Übersetzung vorbereitet, die τελευταῖον als Vollständigkeit oder Vollendung (wahrscheinlich tamām) liest.32 Andererseits und wichtiger noch konnte Ibn Bāǧǧa bei Alexander eine konsequente Vollkommenheitshierarchie der Vermögen finden – wie übrigens auch ein Vorbild für die Verschmelzung von theoretischem Intellekt und rationalem Vermögen. Alexander äußert sich zu Verhältnis und Rangordnung der seelischen Potenzen in zwei Zusammenhängen, die hier bei Ibn Bāǧǧa dann auch prompt zusammen31Themistii in libros Aristotelis de anima Paraphrasis, ed. Heinze, 49, 3; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 66, 1–2. Themistios behält auch die Abgrenzung gegenüber dem theoretischen Intellekt bei, von dem er sagt, er sei wohl »weder ein Vermögen noch einer der vorgenannten Teile der Seele, sondern eine andere Substanz, die als Besseres in etwas Schlechteres hineinkommt« (Heinze 49, 9–10; Lyons 66, 7–8). 32Isḥāq Ibn Ḥunains Übersetzung, soweit sie sich aus ihrer lateinischen und hebräischen Wiedergabe erschließen lässt, überträgt τελευταῖον ebenso wie τέλειον. Vgl. Gerrit Bos, Aristotle’s De anima Translated into Hebrew by Zeraḥyah Ben Isaac Ben Shealtiel Ḥen. A Critical Edition with an Introduction and Index, Leiden 1994, 80: אמנם השלמת הענין ואחריתו הוא מה שלו ;מחשבה והבדלהAverrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 177, 2–4: »Complementum autem et finis est illud quod habet cognitionem et distinctionem.«
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fließen: einmal in Verbindung mit der Frage der Gültigkeit und Aussagekraft der allgemeinen Seelendefinition und zum anderen in seiner Behandlung der Frage nach den »Teilen« der Seele.33 Kern seiner Darlegungen ist dabei eine Aufladung des Schichtungsprinzips mit der Idee der Vollendung,34 die gleich eine doppelte Funktion hat, insofern dabei sowohl an einen intransitiven Zustand gedacht ist, der mit anderen verglichen werden kann, als auch an ein transitives Verhältnis, das bestimmte Niveaus so zueinander in Beziehung setzt, dass eines das andere »vollendet«. Der erste Sinn tritt in den Vordergrund, wenn Alexander die Reichweite der allgemeinen Seelendefinition bestimmt. Für δυνάμεις, die sich nach früher und später, unvollkommener und vollkommener unterscheiden, kann es keine ganz klare und allgemeine Definition geben. Die Natur einer Sache kommt zwar am besten im Vollkommensten zum Ausdruck, doch wenn die Definition alle Fälle umfassen soll, dann muss sie vereinfachen und sich an dem orientieren, was allen gemeinsam ist. Aus diesem Grund kann ein wirkliches Verständnis des Wesens der Seele nur aus getrennten Untersuchungen der einzelnen Potenzen hervorgehen.35 Diese Potenzen oder Seelen sind nun zunächst einmal jede an sich eine Vollendung, insofern sie als Form Vollendung für eine Pflanze oder ein Lebewesen sind, bevor sie nach vollkommener und unvollkommener geordnet werden.36 Woran bemisst sich aber dann überhaupt ihre größere oder geringere Vollkommenheit? Alexander macht dazu zwei verschiedene aber eng miteinander zusammenhängende Angaben, die jede in ihrer Weise den transitiven Sinn von Vollendung zur Geltung bringen. Zum einen sagt er, dass jede vollkommenere Seele den Potenzen der unvollkommeneren weitere Potenzen hinzufügt;37 das Verhältnis ist also additiv bestimmt. Zum anderen verweist er darauf, dass die Potenzen eine der anderen dienen, also in einer Mittel-Zweck-Relation stehen. Diese Relation ist nicht etwa eine gegenseitige, in beide Richtungen lesbare, sondern entsprechend dem Schichtungsprinzip eine eindeutig ausgerichtete. Die Ordnung der Potenzen muss, wenn es nicht unendlich viele geben soll, in einer vollkommensten münden, der alle anderen dienen.38 Das Schichtungsprinzip muss mit Alexander also als eine teleologisch bestimmte Vollendungsordnung verstanden werden. An deren Spitze steht das rationale Vermögen, von dem 33Es handelt sich um die folgenden Abschnitte: Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 18–17, 8 und 28, 3–31, 6; die Betrachtung der »Teile« der Seele beginnt 27, 1. 34Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 28, 21–25. 35Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 18–17, 8; 28, 14–29, 1; 30, 17–20. 36Siehe dazu etwa Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 10, 7–14. 37Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 20–17, 1. 38Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 28, 8–13; vgl. auch 75, 24–30.
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Alexander ausdrücklich sagt, dass es auch das intellektuelle, zu theoretischer Wissenschaft befähigende Vermögen umfasst. Es ist sowohl deshalb das vollkommenste, weil es an sich am edelsten ist, als auch deshalb, weil es alle anderen Potenzen umfasst. Die Einheit der Seele wird dann durch dieses höchste Vermögen eben deshalb begründet, weil es von den anderen abhängt, diese daher notwendig beinhaltet und ihnen eine größere Vollendung hinzufügt.39 Wenn Ibn Bāǧǧa also das rationale Vermögen »der Natur nach das späteste« nennt, »so wie das Vollkommene der Natur nach später ist als das Unvollkommene«, dann impliziert das eine alle Potenzen betreffende Ordnung, die durch Abhängigkeit einerseits (»der Natur nach später«) und durch eine teleologische Ausrichtung andererseits definiert wird. Diese letztere findet an späteren Stellen (N III. 20 und 23) einen noch deutlicheren Ausdruck, wo Ibn Bāǧǧa ebenso wie Alexander erklärt, alle Vermögen seien »um des rationalen willen da«, und zwar deshalb weil gilt, dass seine Tätigkeit nicht ohne die der anderen Vermögen möglich wäre. Dieses rationale Vermögen, das, wie wir gesehen haben, auch Aristoteles’ theoretischen Intellekt in sich aufgenommen hat, wird von Ibn Bāǧǧa also konsequent in die Reihe der seelischen Potenzen eingebunden. Andererseits – und auch das machen Alexanders Überlegungen verständlicher – befindet er, dass es mit einem stärkeren Grad von Äquivokation Seele genannt wird, insofern es von der basalsten Potenz am weitesten entfernt ist. Für die Untersuchung der Seele mittels einer Analyse der seelischen Potenzen ist also mit dem Stichwort der Vollendung zwar ein allgemeiner Rahmen angegeben, aber wie diese Beziehung zwischen den Potenzen sich tatsächlich ausbuchstabiert, bleibt im ersten Kapitel des Buchs der Seele zwangsläufig offen. Erst mit einem genauen Verständnis von der Natur einer seelischen Potenz überhaupt (Kapitel 10), kann diese Frage erneut angegangen werden (Kapitel 12). So steht denn an dieser Stelle die Äquivozität des Seelenbegriffes im Vordergrund, welche die Hinwendung zu den einzelnen Potenzen leitet. Es gibt keine einzige Natur, die alle Seelen umfasst, sagt Ibn Bāǧǧa mit Themistios.40 Er schlägt deshalb vor, und auch darin folgt er Themistios,41 die allgemeine Seelendefinition durch Hinzufügung der jeweiligen Tätigkeit zu präzisieren, zu der eine jede seelische Potenz die Grundlage bildet (N I. 6): »Daher müssen wir unterscheiden und sagen, dass die Nährseele die Entelechie des sich nährenden organischen Körpers ist, die sensible die Entelechie des wahrnehmenden organischen Körpers und die vorstellende die Entelechie des vorstellenden organi-
39Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 29, 22–30, 6. Zur Einheit der Seele vgl. auch 30, 26–31, 6. 40N I. 18; vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 48, 36–49, 2; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 65, 13–17. 41Vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 48, 7–14; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 63, 18–64, 7.
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schen Körpers.« Die individuellen Analysen der Potenzen setzen jedoch damit ein adäquates Verständnis der allgemeinen Seelendefinition jeweils voraus. Was diese für das Konzept der seelischen Potenz beinhaltet, soll das nächste Kapitel klären.
5. Kapitel: Die Definition der Seele
1. Die Evidenz der Seele als Prinzip des Lebendigen Wie kann man eine Definition der Seele unternehmen? Ibn Bāǧǧa macht sich ausführlich Gedanken darüber, welche Methode dabei zu verwenden und welcher Typ von Definition dabei anzustreben ist. Ebenso wie Aristoteles selbst stellt er diese Überlegungen erst an, nachdem er bereits seine erste allgemeine Definition der Seele gewonnen hat.1 Dies erklärt sich insofern, als die methodischen Überlegungen gleichzeitig den Status dieser ersten Definition reflektieren und dazu dienen, zu bestimmen, wie von dort ausgehend eine genauere Definition der Seele zu erreichen ist. Ibn Bāǧǧas auf Aristoteles gestützte Lösung dieser Frage ist bereits im vorhergehenden Kapitel umrisshaft deutlich geworden: Alle seelischen Potenzen müssen einzeln untersucht werden; nur so kann eine präzise und vollständige Erkenntnis »der Seele« gewonnen werden. Ibn Bāǧǧa wird die hier geforderte Methode, wenn er dazu kommt, sie zu analysieren, als Methode der »Zusammensetzung« (tarkīb) identifizieren. Diese Methode hat, wie er bemerkt, eine wichtige Voraussetzung – man muss bereits wissen, dass dasjenige, was man definieren will, überhaupt existiert (N I. 16). Wie wissen wir aber, wenn wir von »Seele« sprechen, dass es etwas gibt, das so bezeichnet werden kann, dass es sich nicht um einen leeren Namen handelt? Wenn wir, dem skizzierten Plan gemäß, Nährseele, Wahrnehmungsseele, beziehungsweise Nährpotenz, Wahrnehmungspotenz und so fort besprechen, korrespondiert diesen Begriffen etwas in der Realität? Dies ist eine Frage, die Aristoteles nicht stellt und die von Ibn Bāǧǧas wohlüberlegten und systematisch aufgeklärten Vorgehen zeugt, insofern er sich Rechenschaft über die gemachten Voraussetzungen gibt. Was er betreibt ist also keine aristotelische Psychologie im Sinne einer bloßen (und sei es kreativen) Interpretation der Seelenlehre des Aristoteles, sondern eine aus den Prinzipien der aristotelischen Philosophie kohärent entwickelte Psychologie. So antwortet er auch auf die Frage nach der Existenz von Seele, indem er auf solche fundamentalen Prinzipien zurückgeht. Die Seele, so sagt er, gehört zu den Dingen, deren Existenz »offensichtlich« (ẓāhira) ist oder, wörtlicher noch, »erscheinlich« 1N I. 10ff (Seelendefinition in N I. 6); Aristoteles, De anima, II. 2–3 (nach Seelendefinition in II. 1).
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(N I. 16). Nur jemand, der nicht zwischen dem zu unterscheiden wisse, was »an sich erkannt« (maʿlūm bi-nafsihī) und was »durch anderes erkannt« (maʿlūm biġairihī) werde – also zwischen Erkenntnisprinzipien und abgeleiteten Erkenntnissen –, könne fordern, die Existenz der Seele zu beweisen. Das sei ebenso, als verlange man einen Beweis für die Existenz der Natur (ṭabīʿa). Dass ein Pferd oder ein Mensch eine Seele habe, gehöre aber zu den »primären Erkenntnissen« (al-maʿlūmāt al-uwal). Dies ist nicht etwa ein ideologisches Bekenntnis, welches verbreitete Annahmen und Überzeugungen mit natürlicher Evidenz verwechselt, noch appelliert es an eine vermeintlich unmittelbare Selbstpräsenz der Seele in der Introspektion, wie sie etwa Avicenna in seinem berühmten Gleichnis vom »fliegenden Menschen« beansprucht.2 Worauf Ibn Bāǧǧa zielt, wird an seiner – für ihn sicherlich unübersehbaren – Anspielung auf einen Abschnitt der Physik deutlich. Zu Beginn des zweiten Buches, im Rahmen der Klärung des Begriffs der Natur (φύσις), sagt Aristoteles dort über die Natur genau das, was Ibn Bāǧǧa hier für die Seele behauptet, nämlich »dass es Natur gibt, nachweisen zu wollen, ist lächerlich; es ist nämlich offensichtlich [φανερόν], dass viele der Seienden so beschaffen sind. Das Offensichtliche durch Nichtoffensichtliches nachzuweisen, ist [die Tat] eines, der nicht zwischen dem aus sich und dem nicht aus sich Bekannten unterscheiden kann.«3 Auch in seinem Kommentar zur Physik besteht Ibn Bāǧǧa an zentraler Stelle auf der sauberen Unterscheidung zwischen evidenten Prinzipien und solchen, die des Nachweises bedürfen – er nimmt sie in seine knappe Einleitung zu Buch I auf.4 Welche Form der Evidenz hier gemeint ist, wird klar, wenn man sich die vorhergehende Bestimmung der Natur und die sie illustrierenden Beispiele und Vergleiche ansieht. Aristoteles verweist auf den augenscheinlichen Unterschied (φαίνεται διαφέροντα) zwischen Natürlichem und Künstlichem, wobei er einen breiten Bereich des Natürlichen absteckt von den Tieren und ihren Teilen über die Pflanzen bis zu den Elementen. Das Natürliche zeichne sich nämlich dadurch aus, dass es »in sich selbst ein Prinzip der Veränderung und des Bestehenbleibens« habe.5 Die Berufung auf ein »Prinzip« (ἀρχή) könnte erneut stutzig machen, doch ist damit hier tatsächlich nicht mehr gemeint als der einfache Wortsinn enthält: ein Anfang, ein Beginn. Das Natürliche ist also das, was Veränderung (und deren Gegenteil) von sich aus anfangen kann. Der Begriff der Veränderung (κίνησις) ist dabei ein sehr weiter, er umfasst, wie Aristoteles ausdrücklich präzisiert, Ortsbewegung, Wachstum und Schwinden sowie Eigenschaftsveränderung 2Vgl. Michael E. Marmura, Avicenna’s ›Flying Man‹ in Context, in: The Monist 69 (1986), 383–395. 3Aristoteles, Physik, II. 1, 193a3–6. 4Siehe unten, Anm. 40. 5Aristoteles, Physik, II. 1, 192b8–14.
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und sicherlich auch Entstehen und Vergehen.6 Die Berufung auf die Evidenz von Natur ist damit letztlich identisch mit dem Verweis auf die sinnliche Evidenz von Veränderung, die er wieder und wieder betont. Nur Ignorieren der Wahrnehmung und ein kranker Geist können zu einem anderen Ergebnis führen.7 Nun verändern sich freilich auch künstliche Dinge, und Aristoteles ist also genötigt, die Gegenüberstellung des Natürlichen und Künstlichen weiter auszufeilen. Das Artefakt unterliegt nämlich der Veränderung, insofern es aus einem natürlichen Stoff wie Erde oder Holz hergestellt ist, was ihm aber fehlt ist ein ihm innewohnender »Drang« (ὁρμή) zur Veränderung.8 Um das an dem von Aristoteles wenig später zitierten Beispiel Antiphons zu erläutern, so kann man sagen, dass aus einem in die Erde eingegrabenen hölzernen Bett allenfalls ein Spross und damit mehr Holz wachsen könnte, nicht aber ein Bett. Zum einen hat es die »Kraft« (δύναμις), zum anderen nicht.9 Wir stoßen hier also unweigerlich wieder auf die Potenz, die wir zunächst als einen dem Natürlichen innewohnenden Drang zur Veränderung verstehen können. Diese Potenz zeigt sich nicht unmittelbar, sondern ergibt sich im Rückschluss aus dem beobachteten Veränderungsverhalten. Das Natürliche hat nun ein solches Veränderungsprinzip (die Natur) »primär, an sich und nicht akzidentell«, das Künstliche dagegen akzidentell, weil sich das eine als das verändert, was es ist, zum Beispiel Holz, das Bett dagegen auf Grund einer Beschaffenheit, die ihm nur akzidentell, primär jedoch etwas anderem, nämlich dem Holz, zukommt.10 So ist es zu verstehen, dass Aristoteles sogleich hervorhebt, alles Natürliche sei »Substanz« oder »Wesenheit« (οὐσία),11 das heißt, es habe eine ihm eigentümliche und durch es selbst festgelegte Weise zu sein und sich zu verändern, während das Bett etwa nur eine durch Kunst und »willkürliche Setzung« (νόμος) hervorgerufenes Arrangement aufweist. Natur ist also, so können wir zusammenfassen, deshalb evident, weil es etwas gibt, das ein Verhalten an den Tag legt, das es als Natürliches deutlich von anderem, durch menschliche Kunstanwendung Hervorgebrachten, unterscheidet. Natur kann, wenn wir theoretische Zurückhaltung üben wollen, einfach als Name für das verstanden werden, was Ursprung (und also Prinzip) dieses bestimmten Veränderungsverhaltens ist, und sie ist als solche ein Drang oder eine Potenz, die dem Künstlichen sichtbar abgeht.12 6Aristoteles, Physik, II. 1, 192b14–15. Zum engeren und weiteren Begriff von κίνησις siehe unten, Kapitel 7, Abschnitt 1. 7Siehe etwa Aristoteles, Physik, I. 2, 185a12–14 und VIII. 3, 253a32–253b6. 8Aristoteles, Physik, II. 1, 192b16–20. 9Aristoteles, Physik, II. 1, 193a12–14 und vgl. 193b8–11. 10Aristoteles, Physik, II. 1, 192b20–23 und 193a14–17. 11Aristoteles, Physik, II. 1, 192b33. 12In seiner Kritik der aristotelischen These von der Evidenz der Natur, die das passende Gegenstück zu Ibn Bāǧǧas Position bildet, ob dieser sie nun gekannt hat oder nicht, greift al-Rāzī geschickt genau diesen Übergang von den Tätigkeiten zur Natur (tabīʿa) als dem Ursprung der
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Ibn Bāǧǧa hat diesen Punkt, wiederum in deutlicher Anlehnung an Physik II. 1, in seinem Buch der Lebewesen ausführlich behandelt.13 Er folgt dabei den zahlreichen Vergleichen zwischen Natur und Kunst, die Aristoteles in De animalibus I. 1 Tätigkeiten an. So resümiert er die Position der aristotelischen Philosophen: »Diejenigen Philosophen, die wir gesehen haben, meinen, dass der Nachweis für ihre Existenz ihre Tätigkeiten sind und ihre in der Welt ausgebreiteten Potenzen, die die Tätigkeiten verursachen.« Und in seiner Kritik schreibt al-Rāzī: »Nur für die beobachteten Dinge und die intelligiblen Prinzipien des Beweises bedarf es keines Nachweises, aber die Natur ist nicht wahrnehmbar und das Wissen von ihr ist nicht a priori im Intellekt. Was ihren Nachweis mittels der Potenzen angeht, die sie postulieren, so muss man ihnen sagen: ›Warum schließt ihr aus, dass Gott – er ist mächtig und erhaben – es ist, der durch sein Wesen der Verursacher der Potenzen der übrigen Tätigkeiten und der Naturen der Dinge ist?‹« (Maqāla fī mā baʿd al-ṭabīʿa, in: Abi Bakr Mohammadi Filii Zachariae Raghensis (Razis) Opera Philosophica fragmentaque quae supersunt, collegit et edidit Paulus Kraus, Kairo 1939, 116–134, hier 116, Zeile 4–5 und 14–18.) Dieser Angriff zeigt jedoch auch eine deutlich Schwäche, indem er nämlich Gott an die Stelle der Natur setzen will und daher ganz deutlich einen bestimmten Begriff einer autonomen und personalisierten Natur verfolgt, der in der ursprünglichen These gar nicht vorausgesetzt ist. Außerdem zeigt die Erwiderung, dass wir nicht umhin können, den sinnlich beobachteten Tätigkeiten eine Ursache zuzuschreiben. Bei dieser Zuschreibung geht nun aber al-Rāzī mit seinem Appell an Gott viel weiter von dem durch Wahrnehmung Gesicherten ab, als Aristoteles selbst, der zunächst einmal nur irgendein Prinzip der Veränderung postuliert, dessen genaue Beschaffenheit zu untersuchen bleibt. Es ist wahr, dass Aristoteles weitergehend für die Natur als Prinzip Autonomie beansprucht (und das gerade ist der eigentliche Stein des Anstoßes für al-Rāzī), aber diese (zumindest relative) Autonomie wird ja durch den Vergleich mit Künstlichem auch sinnlich ausgewiesen. 13Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 79, 1–17: »Die Kunst nun ist die hergestellte Form abstrahiert von der Materie, und sie ist von ihrer Materie abstrahiert. Die künstlichen Formen haben, obgleich sie in ihren Materien existieren, keine Potenz, das zu bewegen, worin sie sind, noch etwas anderes als dies zu bewegen. Dies ist der Unterschied zwischen den künstlichen und den natürlichen Formen. Denn in den natürlichen Formen sind Potenzen, mit denen sie die Körper bewegen und durch die sich die Körper auch so bewegen, dass sie [ihrerseits] bewegen. So wird durch die Form des Menschen der Mensch bewegt, und er bewegt durch sie das Menstruationsblut, sodass ein Mensch entsteht. Das aber liegt nicht in der Potenz des Bettes, denn das Bett bewegt sich [yataḥarraku=MS O, f. 92r] niemals dadurch, dass es Bett ist. Auch das Holz bewegt sich nicht durch eine Potenz in ihm dazu, ein Bett zu werden, noch bewegt es sich durch eine Potenz, die ihm das Bett verleiht, damit es ein Bett wird, noch bewegt sich das Holz durch eine Potenz, die eine andere Sache ihm verleiht, sondern es wird nur solange bewegt wie sein Beweger existiert und [es] berührt [mulābisan=MS B, f. 131v (arab)]. Dieser Beweger ist Kunst und nicht Natur. Die Wirkursache [fāʿil] der künstlichen Formen ist daher vollkommener als die Wirkursache eines Teils der natürlichen Dinge, da sie ja Intellekt ist. Aber die natürlichen Formen sind um vieles edler und vollkommener [=MS O] als die künstlichen Formen, da sie ja in ihrer geringeren Existenzweise [wuǧūduhā alanqiṣ=MS B] die Potenz besitzen, in Ewigkeit zu bleiben. Diese [dagegen] besitzen nicht diese Potenz, ihre geringere Existenzweise zu erlangen, bis sie die vollkommenere Existenzweise [al-wuǧūd al-akmal] erhalten haben, und daher sind sie [selbst] in ihrer vollkommeneren Existenzweise nicht frei von Materie. Was die natürlichen Formen angeht, so liegt in ihrer geringeren Existenzweise [nichts] zu ihrer vollkommeneren Existenzweise, sondern sie begnügen sich mit dieser Existenz.« Vgl. auch N III. 6.
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anstellt, um die Bedeutung der (Wirk- und Zweckursache einschließenden14) Form gegenüber der Materie herauszustellen und zu verdeutlichen.15 Während Aristoteles sich hier aber weitgehend darauf beschränkt, Übereinstimmungen der Natur mit der Kunst auszuschlachten,16 hält es Ibn Bāǧǧa offenbar für sehr wichtig, zu erläutern, dass die Rolle und Bedeutung einer natürlichen Form weit über die einer künstlichen hinausgeht. Die Kunst sei »die hergestellte Form abstrahiert von der Materie«, so sagt Ibn Bāǧǧa, eine Formulierung des Aristoteles beinahe wörtlich übernehmend und zum Ausgangspunkt seiner eigenen Argumentation machend.17 Er bemüht sich nämlich im Folgenden zu zeigen, dass die Natur keine abgetrennte, sondern vielmehr eine immanente Form ist. Diesen Unterschied erläutert Ibn Bāǧǧa im Geiste und mit dem Beispiel der oben analysierten Passage aus der Physik: Künstliche Formen haben, im Unterschied zu natürlichen, keine Potenz, dem durch ihnen geformten Ding eine ihm eigentümliche Bewegung zu geben, noch verleihen sie ihm die Fähigkeit, anderes in Bewegung zu setzen. So hat das Bett keine Potenz, durch die es sich als Bett bewegt, noch entsteht das Bett aus seinem Material, dem Holz, durch irgendeine immanente und selbst nicht durch eine ihm von außen verliehene Potenz. Ganz im Gegenteil bleibt die Kunst als Beweger und Hersteller immer außerhalb, und die für die Herstellung des Bettes notwendige Veränderung findet daher nur solange statt, wie die Kunst (mittels der Werkzeuge des Handwerkers18) das Artefakt »berührt«. Damit tritt der wesentliche Unterschied zwischen Kunst und Natur hervor, der erst in vollem Sinne verständlich macht, warum die Kunst anfangs als abstrahierte oder abgetrennte (muǧarrada) Form bezeichnet worden war. Die Kunst als Wirkursache der künstlichen Formen und der durch sie geformten Artefakte ist Intellekt, im Intellekt nämlich ist die Form abgetrennt von der Materie. Die Kunst scheint deshalb edler zu sein als die Natur. Gerade das aber will Ibn Bāǧǧa widerlegen. Er besteht deshalb darauf, dass die natürlichen Formen »edler und vollkommener« sind als die künstlichen, und er begründet das damit, dass sie in ihrer »geringeren Existenzweise« die Potenz für ein ewiges Bestehen besitzen. Der Begriff der »geringeren Existenzweise« (wuǧūd anqiṣ) und der dieser gegenüberstehenden »vollkommeneren« (wuǧūd akmal) oder »besten Existenzweise« (wuǧūd afḍal), der von Ibn Bāǧǧa hier als eingeführter terminus technicus gebraucht wird, kann mit Hilfe einer Passage des Buchs der Seele (N III. 14–16) entschlüsselt werden, die im Zusammenhang mit der Darstellung sei-
14Aristoteles, De partibus animalium, I. 1, 641a27f. 15Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, I. 1, 639b12–19; 640b26–29; 641a7–18; 641b11–14. 16Der größere Anspruch der Natur auf das Merkmal der Zweckgerichtetheit wird beiläufig erwähnt, Aristoteles, De partibus animalium, I. 1, 639b19–21. 17Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, I. 1, 640a32f. 18Vgl. N I. 2.
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ner Erkenntnistheorie eine nähere Analyse verdient. Hier genügt es, auf das Ergebnis der Untersuchung zu verweisen: Mit der »geringeren« ist die sinnlich wahrnehmbare Existenz eines materiellen Seienden gemeint, mit der »vollkommeneren« seine Existenz als Erkanntes, als Intelligibile. Wenn Ibn Bāǧǧa im Buch der Lebewesen behauptet, das Natürliche besitze in seiner geringeren Existenzweise die Potenz, ewig erhalten zu bleiben, dann ist damit also dieselbe Potenz gemeint, welche das Natürliche vor dem Künstlichen auszeichnet und es zu eigener Bewegung (sowohl im passiven wie im aktiven Sinne) befähigt. Denn die Form des Menschen, das ist Ibn Bāǧǧas Beispiel, setzt den Menschen selbst in Bewegung und versetzt ihn in die Lage, einen anderen Menschen zu zeugen, während dem Bett diese Potenz abgeht. Es ist mithin genau die Natur als Bewegungs- oder Veränderungsprinzip, welche dem Natürlichen den »Adel« und die »Vollkommenheit« ewiger Existenz verleiht – einer Ewigkeit durch Fortpflanzung freilich, die der Art, nicht dem Individuum zukommt.19 Die künstlichen Formen dagegen, erklärt Ibn Bāǧǧa weiter, »besitzen nicht diese Potenz, ihre geringere Existenzweise zu erlangen, bis sie die vollkommenere Existenzweise erhalten haben« und sie sind daher – im Gegenteil zum zunächst bekundeten Anschein – auch in ihrer vollkommeneren Existenzweise als gedachte Formen nicht völlig frei von Materie und so eben doch nicht wirklich abstrahiert oder abgetrennt. Das ist so zu verstehen, dass die künstlichen Formen, im Gegensatz zu den natürlichen, erst vom Handwerker gedacht werden müssen, bevor er sie in Materie verwirklichen kann. Die materielle Existenz der künstlichen Formen ist deshalb von der intelligiblen abhängig und diese wiederum ist je schon auf die materielle Existenz ausgerichtet. Im Unterschied von der wissenschaftlichen Betrachtung der Natur ist eine herstellende Kunst also weniger in der Lage, sich von der Begrenzung materieller und individueller Bedingungen zu lösen – ein Punkt, auf den wir bei Ibn Bāǧǧa häufig stoßen werden. Hier dagegen ist noch nicht die Wissenschaft von der Natur, sondern die Natur selbst sein und unser Thema. So begnügt er sich denn auch festzustellen, dass in der geringeren also materiellen Existenz der Formen nichts liegt, was auf ihre vollkommenere intellektuelle Existenz hinführt. Die Natur, heißt das, hat einen vom Intellekt unabhängigen Status, sie ist eine autonome Sphäre, die nicht nur in Hinblick auf ein eventuelles Erkanntwerden besteht, sondern die gerade als dem Materiellen immanentes und als solches hinter dem Intellekt zurückbleibendes Prinzip die Auszeichnung einer Perpetuierung ihrer Existenz besitzt. Das Konzept sich in bestimmten Veränderungen manifestierender Potenzen steht damit im Mittelpunkt von Ibn Bāǧǧas Rezeption der aristotelischen Idee einer autonomen Natur, die er auf die Seele ausdehnt. Die Seele ist evident als Potenz, die Prinzip einer bestimmten Gruppe von Veränderungen ist. Wenn also nicht die Existenz einer bereits in einer bestimmten Weise verstandenen Seele 19Vgl. dazu Aristoteles, De anima, II. 4, 415a26–415b7.
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evident ist, sondern lediglich, dass wie alle natürlichen Dinge offensichtlich eine Natur, eine natürliche Beschaffenheit haben, so auch jedes Lebewesen evidenterweise eine Lebewesennatur, nämlich eine Seele hat, dann ist Ibn Bāǧǧas erste Voraussetzung für das Gelingen der Definitionsmethode der Zusammensetzung erfüllt: Es gibt mit den evidenterweise existierenden Seelen eine sichere Untersuchungsgrundlage, um die verschiedenen einzelnen Seelenpotenzen studieren und aus ihnen ein Gesamtbild zusammensetzen zu können. Damit ergibt sich für Ibn Bāǧǧa jedoch eine zweite wichtige Voraussetzung. Die Methode der Zusammensetzung wird erst dann »kohärent« (yaltaʾimu), liefert erst dann ein adäquates und vollständiges Bild, wenn alle Varianten des Untersuchungsgegenstandes untersucht werden, in diesem Fall alles, was Seele genannt wird (N I. 16). Auf andere Weise nämlich kann man, wie schon Aristoteles in den Zweiten Analytiken deutlich gemacht hat, nicht garantieren, dass das Definiendum tatsächlich einheitlich und allgemeingültig bestimmt wird.20 Nur die Berücksichtigung aller Seelen kann daher sicherstellen, dass die ursprüngliche Intuition oder Evidenz bewahrheitet und in einen wissenschaftlichen Begriff überführt wird und dass nicht etwa eine ursprüngliche und unüberwindliche Äquivokation übersehen wurde. Ibn Bāǧǧa verspricht daher, ebenso wie es Aristoteles in De anima fordert,21 im Folgenden die Seelen aller Lebewesen (und Pflanzen22) zu betrachten. Ibn Bāǧǧa zeigt weiterhin (N I. 16), dass er sich der Konsequenzen dieses Ansatzes und seiner Besonderheit deutlich bewusst ist. Indem er sich zwei Bemerkungen des Aristoteles aus De anima und De partibus animalium zum Vorbild nimmt, die über Forschungsperspektive der Vorgänger – hier bezüglich der Seele, dort bezüglich der Form – sprechen,23 behauptet Ibn Bāǧǧa, und das sicherlich zu recht, niemand habe vor Aristoteles den bezeichneten Weg eingeschlagen. Denn seine Vorgänger hätten nur die menschliche Seele und diese nur aus »politischem«, also praktischem Interesse studiert. Diese Einstellung dürfte Ibn Bāǧǧa nicht nur indirekt aus den doxographischen Berichten über die sokratisch-platonische Betrachtung der Seele bekannt gewesen sein, sondern auch aus den Traktaten psychologischen Inhalts seiner zeitgenössischen Umgebung, gegen deren neuplatonisch-weisheitsliterarische Ausrichtung sich seine aristotelische Wissenschaft radikal absetzt. Ibn Bāǧǧa hält also dagegen, dass »das Wissen von jeder einzelnen der Seelen ein Teil der Naturwissenschaft ist«. Nur aus dieser naturwissenschaftlichen Betrachtung heraus hat sich Seele als eine
20Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 13, 97b6–25. 21Aristoteles, De anima, I. 1, 402b1–5; vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 3, 20–23. 22Siehe zu der von Ibn Bāǧǧa in N I. 16 gemachten Einschränkung in Bezug auf die Pflanzen die Ausführungen unten, Kapitel 12, Abschnitt 2. 23Aristoteles, De anima, I. 1, 402b3–5 und De partibus animalium I. 1, 642a29–31.
Im Gefolge Alexanders: Der Weg zur allgemeinen Seelendefinition
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evidente Realität gezeigt und nur in diesem Rahmen kann sie daher adäquat behandelt werden.
2. Im Gefolge Alexanders: Der Weg zur allgemeinen Seelendefinition 2.1. Potenzen als konstitutive Prinzipien Angesichts der soeben besprochenen und von Ibn Bāǧǧa ausdrücklich reflektierten Bedingungen einer wissenschaftlichen Behandlung der Seele verwundert dann nicht mehr die zunächst sonderbar und beinahe zufällig wirkende Eröffnung des Buchs der Seele: »Unter den Körpern gibt es natürliche und künstliche…« (N I. 1). Hier beginnt eine Einteilung der Körper und der diesen jeweils eigentümlichen Arten der Bewegung und Veränderung, durch die die Seele letztlich als Veränderungsprinzip einer ganz bestimmten Klasse von Körpern ausgewiesen werden soll. Die Methode der Einteilung liegt bereits Aristoteles’ Vorgehen in seiner Entwicklung der allgemeinen Seelendefinition in De anima II. 1 zugrunde, an die Ibn Bāǧǧa hier anknüpft. Er komplettiert sie jedoch, indem er sich eng an Alexanders Vorgehensweise in dessen ihrerseits an De anima II. 1 anknüpfenden Seelenschrift anlehnt, die an den Beginn nicht die Einteilung, sondern umgekehrt die Konstitution, die Zusammensetzung der Körper stellt.24 Dieses Verfahren – später auch von Averroes übernommen25 – hat vor allem 24Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 25–17, 8. Im Einzelnen sind folgende parallele Schritte zu unterscheiden: (1) Einführung von Materie und Form anhand der Gegenüberstellung mit Artefakten [IB I.1–2; Bruns, 2, 25–3, 21 (weitere Vergleiche mit der Kunst passim in der gesamten Passage); siehe insbesondere auch das gemeinsame Beispiel der Festigkeit oder Dichte als Form von Mineralien: IB I. 1 (tamāsuk) und Bruns, 3, 18f (σύστασίς τε καὶ πῆξις)]; (2) Die Komposition natürlicher Körper von der den Elementen zugrunde liegenden gänzlich ungeformten Materie aus zu immer komplexeren Körpern mit komplexeren Formen [IB I. 1 und zusätzlich I. 17; Bruns, 3, 21–6, 20 und 7, 21–8, 25]; (3) Form als Vollendung, die die Tätigkeit der Körper bestimmt [IB I. 3; Bruns, 6, 21–7, 21]; (4) Das Bewegungsprinzip in natürlichen Körpern, belebten und unbelebten [IB I. 5–6; Bruns, 5, 4–6, 6 und 8, 25–9, 12]; (5) Definition der Seele als Form (Entelechie) eines organischen Körpers und Aufzeigen der Diversität der Seelenvermögen und Äquivozität des Seelenbegriffs [IB I. 6; Bruns, 9, 12–11, 13 und 15, 26–17, 8]; (6) Der Exkurs bei Alexander zur Frage der Zuordnung von Körper und Seele zu den Prinzipien Materie und Form (11, 14–15, 26) ist von Ibn Bāǧǧa als Exkurs erkannt worden, und er verweist ausdrücklich darauf, dass diese Frage bei Alexander ausführlich untersucht und geklärt worden sei und er sie deshalb übergehen wolle (I. 17). Die systematischen Gemeinsamkeiten sowie weitere Parallelen werden im Folgenden ausführlich dargelegt. 25Ibn Rušd, Muḫtaṣar kitāb al-nafs, ediert als: Talḫīṣ [sic] kitāb al-nafs li-Abī Walīd Ibn Rušd wa-arbaʿ rasāʾil, ed. Aḥmad Fuʾād al-Ahwānī, Kairo 1950, 3–14. Ibn Rušds Vorgehen kann hier nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt werden, dazu sei auf Abdelali Elamrani-Jamal, Averroès, de l’Épitomé au Commentaire Moyen, 122–126 verwiesen. Elamrani-Jamal hat allerdings Ibn
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einen Sinn: die Psychologie in die Naturwissenschaft einzubinden. Die jüngste Forschung zu Alexander hat ausgezeichnet herausgearbeitet, dass dessen innovative Systematisierung und Ausgestaltung der aristotelischen Elementarphysik und »Chemie« gerade deshalb ihren präzisesten und ausführlichsten Ausdruck in seiner Seelenschrift gefunden hat, weil das Hauptmotiv für ihre Entwicklung in der Rechtfertigung der Psychologie von De anima zu suchen ist und in der »Erarbeitung einer mit den Prinzipien der aristotelischen Physik übereinstimmenden Ontologie der Seele«.26 Allerdings ist noch nicht hinreichend herausgestellt worden, welche entscheidende Rolle bei diesen Bestrebungen das Konzept der Potenz spielt. Gegen eine platonisch inspirierte Psychologie, welche die Seele, »ihre Potenzen und Tätigkeiten«, für göttlicher und »über jede körperliche Potenz erhaben« hält, als dass sie als etwas dem Körper Zugehöriges verstanden werden könnte,27 gegen diesen Dualismus – der so gleich als ein Dualismus nicht miteinander in Zusammenhang zu bringender Potenzen formuliert ist – setzt Alexander einen konsequenten Parallelismus von Materie und Form. Wie aristotelisch oder unaristotelisch Alexanders Formulierung dieses engen Entsprechungsverhältnisses ist, darüber bestehen spätestens seit dem Mittelalter Meinungsverschiedenheiten,28 die auch die neuere Forschung noch nicht vollständig ausgeräumt hat. Tatsache ist jedenfalls, dass Alexanders Verständnis eines strengen und bis auf das Niveau beseelter Körper fortgeführten Hylemorphismus eine schmale aber deutliche Rušds Anlehnung an Alexander und Ibn Bāǧǧa (die er in anderen Punkten durchaus andeutet, vgl. 128, Anm. 19) nicht gesehen. Zusätzlich zu der oben, in Anm. 133 zur Einleitung genannten Literatur, dazu hier einige Hinweise: Ibn Rušd übernimmt nach Ibn Bāǧǧas Vorbild insofern die Argumentationsstrategie Alexanders, als er, wie aus seinen Eröffnungsworten hervorgeht, die Wissenschaft von der Seele (ʿilm al-nafs) mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft (ʿilm ṭabīʿī) übereinstimmend entwickeln will und dazu »von dem, was in dieser Wissenschaft erklärt worden ist, das vorausschicken, was einem Fundament (aṣl mauḍūʿ) zum Verständnis der Substanz (ǧauhar) der Seele entspricht« (3). Ibn Rušds Heranführung an die belebten Körper von den Prinzipien der Naturwissenschaft her (3–8, komplett mit Angaben der betreffenden aristotelischen Bücher) ist dabei gleichzeitig systematischer als auch theoretisch und argumentativ ärmer als sowohl Alexanders als auch Ibn Bāǧǧas Darlegung. Ibn Rušds knappe Einführung der Seelendefinition (12) weist große Ähnlichkeit mit Ibn Bāǧǧas (N I. 3 und I. 6) auf, ist aber wiederum schablonenhafter als diese. In einer bis in den Wortlaut an Ibn Bāǧǧa (N I. 12) erinnernden Wendung führt Ibn Rušd die Frage nach der Abtrennbarkeit der Seele ein (8), die er jedoch, anders als Ibn Bāǧǧa, ausführlich diskutiert (8–11, vgl. dazu auch meine Anmerkungen in: Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 331). Ein autonomer Rückgriff Ibn Rušds auf Alexander ist ebenfalls zu beobachten, so wenn er wie dieser das Verhältnis der Seelenvermögen zueinander mit dem Verhältnis der diversen Eigenschaften eines Apfels vergleicht (8; vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 30, 26–31, 6). 26Valérie Cordonier, Matière, qualités, mélange. La physique élémentaire d’Aristote chez Galien et Alexandre d’Aphrodise, in: Quaestio 7 (2007), 79–103, hier 81. 27Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 10–25. 28Vgl. dazu Kapitel 9, Abschnitt 1.
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Spur in der Philosophie des Mittelalters hinterlassen hat, zu deren wichtigsten Fortsetzern, wie in dieser Studie noch zu zeigen sein wird, Ibn Bāǧǧa und Averroes gehören. Eine Passage aus dem Hauptwerk eines durch Averroes’ Werke geformten jüdischen Aristotelikers des 14. Jahrhunderts, Lewi ben Geršoms Kriege Gottes (Milḥamot ha-šem), mag beispielhaft für die genannte Theorie stehen. [Z 2] »Denn das Verhältnis der Materie zur Materie entspricht dem Verhältnis der Form zur Form. Es ist deshalb notwendig, dass wie alle [körperlichen] Mischungen in Hinsicht auf Ordnung und Rang von der unvollkommenen zur vollkommenen Existenzweise fortschreiten, so auch alle jene Formen in Hinsicht auf Ordnung und Rang von der unvollkommenen zur vollkommenen Existenzweise fortschreiten.«29 Es ist diese analoge Zusammensetzung natürlicher Körper, die Alexander im ersten Teil seiner Abhandlung über die Seele entwickelt,30 wobei jede Form eines zusammengesetzten Körpers als eine die Formen ihrer materiellen Bestandteile unter sich begreifende »Form der Formen« gedacht wird.31 Diese in ihren Grundzügen in der Forschungsliteratur mehrfach dargestellte Theorie, beruht auf einer in ihrem Ausmaß und ihrer Bedeutung bisher nicht erkannten Zentralstellung des Potenzbegriffs, die hier nur an einem kurzen Auszug verdeutlicht werden mag: [Z 3] »Wie wäre es da nicht gerechtfertigt zu sagen, dass auch die aus all diesen [einfachen Körpern] auf Grund der erzeugten Mischung und Temperierung entstandenen [zusammengesetzten] Körper sich den Formen und bewegenden Potenzen nach größtmöglich unterscheiden? Deswegen unterscheiden sich wahrlich auch die Bäume und alle Pflanzen als natürliche Seiende und zusammengesetzte Körper gegenüber den einfachen Körpern in Bezug auf die bewegenden Potenzen in sehr deutlicher Weise. Die einen haben nämlich ein einziges und einfaches Prinzip der Bewegung in sich, während von diesen ein jedes in sich auch das Prinzip hat, sich zu ernähren und sich durch Wachstum in alle Richtungen zu bewegen.«32
29Lewi ben Geršom, Sefer milḥamot ha-šem, Riva di Trento 1560, f. 15va (Buch I, Kapitel 12): כי יחס החומר אל החומר הוא יחס הצורה אל הצורה ולזה מה שיחויב שכמו שהמזגים כלם נמשכים בסדור והדרגה מהמציאות החסר אל המציאות השלם כן הצורות האלו כלן נמשכות בסדור והדרגה מהמציאות החסר אל המציאות השלם. 30In knapper Form wird diese Analogie etwa in Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 11, 11–13 formuliert. 31Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 8, 5–13. Ausführlicher dazu Kapitel 9. 32Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 8, 22–9, 3.
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Alexanders Argumentation geht ganz deutlich auf Aristoteles’ Überlegungen in De anima II. 4 zurück, wo dieser gegen Empedokles die Annahme verteidigt, dass nur die Seele und nicht die Eigenbewegungen der Elemente das Wachstum der Pflanzen erklären könne, denn nur die Seele kann Ursache für eine Bewegung in entgegengesetzte Richtungen sein, ohne dass der wachsende Körper zerfällt. Gleichzeitig wird das Feuer als »Mitursache« (συναίτιον) des Wachstums aufgefasst.33 In dieser gänzlich ohne den Begriff der Potenz auskommenden Erklärung wird zwar die spezifische Leistung der Seele expliziert, es wird jedoch nicht klar, in welchem Verhältnis die Elemente und die elementaren Bewegungen (insbesondere des Feuers) zur Seele und zur Ernährung stehen. Alexanders Einführung des Begriffs der »bewegenden Potenz« (κινητικὴ δύναμις) erlaubt, die hier betrachteten verschiedenen Bewegungsprinzipien in einen kontinuierlichen Zusammenhang zu bringen und gleichzeitig durch Verweis auf eine Ebenendifferenz zu unterscheiden. Die »bewegende Potenz«, die als »Prinzip der Bewegung« mit der jeweiligen Form des Seienden korreliert oder – dafür ließe sich argumentieren – gar gleichgesetzt wird, ermöglicht es, die verschiedenen Seinsbereiche zu vergleichen und in Beziehungen der Inhärenz oder Superposition zu setzten. In Ibn Bāǧǧas Herleitung der allgemeinen Seelendefinition (N I. 1–6) ist trotz der im Folgenden aufzuzeigenden strukturellen und inhaltlichen Parallelen mit Alexanders Schrift der Begriff der Potenz virtuell abwesend; Einteilung und Zusammensetzung der natürlichen Körper werden ohne dieses zentrale Konzept vorgestellt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Ibn Bāǧǧas Theorie an dieser Stelle ohne die Potenz auskäme oder dass er gar den Kern von Alexanders Thesen verkannt hätte. Vielmehr handelt es sich um eine gerechtfertigte, wenn nicht methodisch beabsichtigte Zurückhaltung am Anfang des Buchs der Seele, das – wie mehrfach erwähnt – den Begriff der Potenz zu Beginn des zweiten Kapitels mit ausgreifenden Überlegungen explizit einführt. So ist denn die Potenz bei der Gewinnung der Seelendefinition auch nicht tatsächlich abwesend, sondern Ibn Bāǧǧas Ausführungen skizzieren vielmehr ein äußeres Gerüst, dessen Leerstellen durch den im Laufe der Schrift und in anderen Kommentaren und Abhandlungen explizierten Potenzbegriff auszufüllen sind. In der hier zu leistenden Lektüre bezeichnen diese Aussparungen eine Reihe der Fragen und Problemfelder, auf denen Ibn Bāǧǧa den Begriff der Potenz in der Psychologie in Anschlag bringt. Dies lässt sich beispielhaft belegen an seinen Bemerkungen, die ebenso wie die gerade betrachteten Alexanders die genannten Überlegungen aus De anima II. 4 aufgreifen. Ibn Bāǧǧa bemerkt zur Bewegung beseelter Körper im Unterschied zur Bewegung unbeseelter natürlicher Körper zu ihren »natürlichen Orten«, beispielsweise des durch die Schwere nach unten bewegten Steins:
33Aristoteles, De anima, II. 4, 415b28–416a18.
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[N I. 5] »Bei den beseelten [Körpern] ist das nicht so. Das Bewegte besitzt nämlich eine Form, durch die es eine bestimmte Tätigkeit [fiʿl] hat, und der Beweger bewegt es häufig mit einer Bewegung, die seiner natürlichen Bewegung entgegengesetzt ist – wie etwa das Hochheben der Hand und das Hochspringen –, und dadurch bewegt sich der Körper und bewegt sich nach oben. Daher bewegt die Seele mittels eines Organs [āla], nämlich der angeborenen Wärme [al-ḥārr al-ġarīzī] oder dessen, was ihr entspricht.« Auffällig ist die Verknüpfung einer Form mit einer bestimmten Aktivität; ein Körperglied wie etwa die Hand oder auch der ganze Körper kann einerseits als natürlicher Körper wie andere betrachtet werden, dem damit auch die entsprechenden Aktivitäten zukommen, etwa durch die Schwere eine natürliche Bewegung nach unten auszuführen.34 Dem kann die Seele als »Beweger« entgegentreten, sie kann den Körper entgegen dieser »natürlichen Bewegung« auch nach oben bewegen. Dabei dient die angeborene Wärme der Seele als Organ, als Werkzeug, womit Ibn Bāǧǧa auch die von Aristoteles behauptete, aber, zumindest an dieser Stelle, nicht erklärte mitursächliche Funktion des Feuers in seine Erklärung einbindet. Die Seele erscheint damit als integrative Form, die sich verschiedener elementarer Potenzen bedient. Dass Ibn Bāǧǧa hier tatsächlich ein Zusammenspiel verschiedener Potenzen im Auge hat, das zeigt eine parallele Erklärung aus seinem Abschiedsbrief: [T 9] »Daher ist es nicht möglich, dass die natürlichen Formen aus mehr als einer der einander entgegengesetzten Potenzen [quwā] zusammengesetzt sind, wie das in der Seele möglich ist. So bewegt sich zum Beispiel die Leichtigkeit nur nach oben, während die Seele zu einander entgegengesetzten Orten bewegt, obgleich sie eine ist, und der Körper bewegt sich durch sie zu einander entgegengesetzten Orten.«35 Deutlicher noch als bei Alexander werden hier die Formen mit den Potenzen gleichgesetzt und wird die Seele als eine aus einer Vielzahl von Potenzen zusammengesetzte Form behandelt. In dieser Diversität der Potenzen und Bewegungen liegt wie bereits bei Alexander die Besonderheit der Seele, die diese gegenüber einfachen natürlichen Formen auszeichnet.
34Diese notwendige Teilhabe an den untergeordneten Seinsniveaus und ihren Aktivitäten hat Ibn Bāǧǧa am deutlichsten in der Lebensführung des Einsamen formuliert, siehe Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 128, 10–129, 7; Faḫrī, 45, 1–46, 6. 35Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 15–148, 3.
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2.2. Einteilung und Zusammensetzung: Die Physik als Richtschnur Orientiert durch dieses markante und systematisch zentrale Beispiel können wir nun Ibn Bāǧǧas Hinführung auf die allgemeine Seelendefinition – anhand von Einteilung der Körper und Zusammensetzung des beseelten Körpers – als an Alexander ausgerichtete Rahmenstruktur lesen, die eine bestimmte Theorie der Potenzen voraussetzt und durch diese ausgefüllt zu werden verlangt. Wir hatten gesagt, dass diese Argumentationsstruktur ihren Ausgang nimmt von Aristoteles’ Gebrauch der Methode der Einteilung am Beginn von De anima II. 1, die von Alexander in eine Methode der Zusammensetzung umgewidmet wird. Hier sei deshalb zunächst auf die wichtigsten Strukturmomente und den Ursprung der in diesen Ausführungen zusammentreffenden Theorieelemente hingewiesen, bevor in einem weiteren Schritt die von Ibn Bāǧǧa gezeichneten Zusammenhänge auf solche Problemfelder hin abgefragt werden, welche mit Hilfe der Theorie der Potenzen zu klären sind. Aristoteles braucht in De anima II. 1, also am eigentlichen Anfang der systematischen Untersuchung, nur wenige Schritte, um zu seiner ersten Definition der Seele zu gelangen.36 Er erinnert kurz an die drei möglichen Auffassungsweisen von Substanz oder Wesen (οὐσία), nämlich Materie, Form und das aus beiden Zusammengesetzte, liefert – dieses Letztere im Sinn – eine lückenhafte Gliederung der Substanzen, indem er die natürlichen Körper als hervorragende Vertreter der Gattung benennt und in lebendige und nicht lebendige unterscheidet, um dann den Körper als Zugrundeliegendes und Materie eines Lebendigen, die Seele dagegen als Form und Ursprung des Lebendigseins zu identifizieren und auf diese Weise zu definieren. Aristoteles bedient sich also zweier Einteilungen, aus deren Verbindung miteinander er einen ersten Begriff der Seele gewinnt:37 Substanz
Materie
Form
erste Entelechie
Substanzen
Ganzes
körperliche
(zweite Entelechie)
lebendige
natürliche
(unkörperliche)
(künstliche)
nicht lebendige
36Vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 412a6–21. 37In Klammern habe ich diejenigen Termini gesetzt, die in Aristoteles’ Ausführungen nur implizit angedeutet sind.
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Aristoteles hat ein zentrales Argument und er macht eine wesentliche Voraussetzung. Die Voraussetzung besagt, dass Lebendigsein und Beseeltsein identisch sind. Das Argument lautet, dass Leben als Attribut oder Eigenschaft einer bestimmten Klasse von Körpern nicht Substanz im Sinne des Substrates oder des aus Substrat und Form zusammengesetzten Ganzen sein kann. Verbindet man diese beiden Annahmen miteinander und stützt sich dabei auf die erschöpfenden Einteilungen der Substanz – in formaler Hinsicht einerseits und in inhaltlicher andererseits – dann ergibt sich in einem doppelten Ausschlussverfahren, dass Seele die Form lebendiger Körper sein muss. Diesem Ergebnis lässt Aristoteles zwei weitere Überlegungen folgen, indem er erstens die weitere Einteilung der Form in »erste Entelechie« und (per Implikation) »zweite Entelechie« in Anschlag bringt, die als Unterscheidung des Habitus (Beispiel: Wissen) von der aktuellen Tätigkeit (Beispiel: theoretisches Betrachten) erklärt wird. Das Beispiel der Lebendigkeit des Schlafenden und als solchen Untätigen gibt den Ausschlag für Seele als erste Entelechie. Im letzten Schritt wird der dieser Seelenform korrespondierende Körper als organischer identifiziert, wobei dieser Schritt von Aristoteles nicht explizit begründet wird. Jedoch dazu später. Alexanders Argumentationsziel in der ersten, der Darstellung und Verteidigung der aristotelischen Seelendefinition gewidmeten Partie seiner Schrift ist, wie bereits beschrieben, die Zurückweisung derjenigen Position, welche die Seele für zu edel hält, um Form eines Körpers sein zu können. Zu diesem Zweck muss er zeigen, dass der Körper der Seele »würdig« ist, er muss die oben schon umrissene Analogie herausarbeiten. Daher erklärt sich Alexanders Strategie, die zweite Einteilung zu komplettieren – insbesondere die lebendigen und nicht-lebendigen natürlichen Körper lassen sich ja weiter unterscheiden – und die so vervollständigte Einteilung dann von unten aufzuzäumen, indem er die entstandenen Unterteilungen als ebenso viele Niveaus des Seienden behandelt, die durch Anwendung der Materie-Form-Unterscheidung (erste Einteilung) als aufeinander aufbauend begriffen werden können. Er inkorporiert in seine Exposition damit zugleich das in De anima II. 3 erläuterte Schichtenmodell der seelischen Potenzen, die sich zueinander verhalten sollen wie mehr und weniger komplexe geometrische Figuren, bei denen die jeweils komplexeren die einfacheren in sich enthalten.38 Dieses Schichtenmodell dehnt er auf die unbelebte Natur aus, die damit zum innersten oder untersten Anfangspunkt der Konstitution des belebten Seienden wird. So nimmt die Heranführung an die allgemeine Seelendefinition das in den biologischen Schriften enthaltene Material zur schrittweisen Zusammensetzung belebter Körper auf. Weitere Aspekte von Alexanders Vorgehen lassen sich ebenfalls erklären, wenn man De anima II. 1 als Vorlage seiner Argumentation erkannt hat. So 38Siehe im Detail den Abschnitt 3 dieses Kapitels.
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bietet es die zweite Einteilung an, künstliche Körper, also Artefakte, gleichzeitig als Modell für und Gegenbild von natürlichen Körpern zu benutzen. Zusammen mit der zentralen Materie-Form-Distinktion der ersten Einteilung, die einer näheren Erläuterung bedarf, macht dieser Umstand klar, warum Alexander für seine Ausführungen auf den Anfang der Physik zurückgreift. Wir haben ja bereits in Abschnitt 1 gesehen, dass Aristoteles dort die Kunst als Gegenfolie zur Ausweisung der Natur verwendet. Alexander folgt sowohl darin Aristoteles wie er andererseits auch dessen Strategie übernimmt – und gar programmatisch hervorhebt –, Materie und Form als natürliche Prinzipien anhand von Artefakten zu verdeutlichen. Nicht zuletzt wird sein Rückgriff auf die Physik aber auch dadurch begründet, dass, wie die vorstehenden Überlegungen gezeigt haben, die Elementarphysik zu den unmittelbaren Voraussetzungen der Seelenlehre gehört. Der von Alexander ausgewertete Zusammenhang mit den Überlegungen der Physik macht dann seinerseits wieder deutlich, warum er in seinen Ausführungen die Seele sogleich auch als Prinzip der Bewegung und als Vollendung des Körpers behandelt – zwei Aspekte, die dort allgemein der Natur im Sinne der Form zugesprochen worden waren. Er kann auf diese Weise ein weiteres Element der allgemeinen Bestimmung der Seele einbinden, dem Aristoteles einen Teil von De anima II. 4 gewidmet hatte. Der in der oben skizzierten Argumentation angesprochene Zusammenhang zwischen Seele und Leben wird damit als Spezialfall des Zusammenhanges von Form und Aktivität (Bewegung) erkennbar. Wie gesagt, diese Theorien können hier nur vorgezeichnet werden, insofern sie Ibn Bāǧǧas von Alexander übernommene Gedankenführung am Beginn des Buchs der Seele erläutern, während ihre endgültige Rechtfertigung sich erst aus den naturphilosophischen Überlegungen ergibt, denen diese Studie gewidmet ist. Indessen können die beiden letzten Punkte – der explizite Rückgang auf die Physik und die Behandlung der Seele als Bewegungsprinzip – anhand Ibn Bāǧǧas eigener Ausführungen noch verdeutlicht werden. Ersteres lässt sich am besten mit den Eröffnungssätzen des Buchs der Seele illustrieren: [N I. 1] »Unter den Körpern gibt es natürliche und künstliche. […] Aristoteles hat bereits in seinen Büchern, die er über die Gemeinsamkeiten der natürlichen Dinge verfasst hat, gezeigt, dass sie alle aus Form und Materie zusammengesetzt sind.« Neben den vier namentlichen Verweisen auf die Physik, die innerhalb dieses ersten Kapitels auftauchen, nennt Ibn Bāǧǧa sie hier, gleich zu Beginn, in einer eigentümlichen Formulierung, die er offenbar nur Themistios’ Paraphrase entnommen haben kann. Themistios verweist am Beginn des dritten Abschnitts seiner Schrift, der sich auf De anima II. 1 bezieht – also auf dieselbe Passage,
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an die Alexander und Ibn Bāǧǧa anknüpfen –, für eine vollständigere Behandlung von Materie, Form und Kompositum auf »die [Schriften] Über die Prinzipien der ganzen Natur«.39 Ibn Bāǧǧas Übernahme dieser Formulierung, »über die Gemeinsamkeiten der natürlichen Dinge«, ist um so auffälliger, als er das erste Buch der Physik wenige Zeilen später unter dem üblichen Titel erwähnt (al-samāʿ al-ṭabīʿī, d. i. φυσικὴ ἀκρόασις). Hat er hier nur mechanisch zitiert und mit dem Titel gar nichts anzufangen gewusst? Diese Annahme verbietet sich nicht nur wegen seines bereits vorgeführten souveränen Umgangs mit den aristotelischen Quellen, insbesondere der Physik, sondern auch weil er selbst in seinem Kommentar zur Physik das Ziel dieses Werkes in der »Darlegung der ersten Prinzipien« sieht, also in genau dem, was die Bezeichnung des Themistios aussagt.40 Ibn Bāǧǧa übernimmt sie vielmehr, um den grundlegenden Charakter seiner Ausführungen und ihre Einbettung in eine allgemeine Theorie der Natur zu unterstreichen. Ebenso steht es mit den weiteren Verweisen auf die Physik, welche Ergebnisse der dortigen Untersuchungen für die Psychologie in Anspruch nehmen – sei es das Konzept der ersten Materie als Substrat aller natürlichen Formen (N I. 1), seien es allgemeine Grundsätze der Bewegungstheorie (N I. 2, I. 19). Diese Verweise, die keine direkte Parallele bei Alexander haben, besonders aber seine Anleihe bei Themistios zeigen, wie Ibn Bāǧǧa sich hier von Beginn an seiner Quellen bedient, um eine Psychologie zu entwerfen,
39Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 39, 6: ἐν τοῖς περὶ τῶν ἀρχῶν τῆς ὅλης φύσεως. Den gleichen Ausdruck verwendet Themistius auch 41, 29f bezogen auf Physik, II. 1; vgl. Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 169, Anm. 17. Die arabische Version (An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 43, 1f und 49, 2f ) hat »fī mabādīʾ al-ṭabīʿa bi-asrihā«, Ibn Bāǧǧa dagegen: »fī l-umūr al-ʿāmma li-l-umūr al-ṭabīʿīya«; diese Abweichung im Wortlaut erklärt sich vermutlich daraus, dass Ibn Bāǧǧa nur sinngemäß, vielleicht aus dem Gedächtnis, zitiert. Die Schwierigkeiten der Kommentatoren des griechischen Textes an dieser Stelle, die gemeinte Schrift als die Physik zu identifizieren (vgl. Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 168, Anm. 1), kommen wohl daher, dass sie nur nach wörtlichen Entsprechungen für die Unterscheidung der Substanz in Materie, Form und Zusammengesetztes gesucht haben. Dem Sinngehalt nach dagegen ist in Physik, I und II, besonders aber in I. 7 alles vorhanden; siehe etwa: I. 7, 190b9–20. Auch Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis de anima libros, ed. Crawford, 130, 26 verweist auf Physik I: »ut dictum est in primo Phisicorum«. 40Siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 14, 21–15, 4: »Das Ziel dieser Schrift besteht in der Aufzählung der ersten Prinzipien [al-mabādīʾ al-uwal]. Mit »Aufzählung« meine ich, dass man sie darlegt durch das, was ihnen eigentümlich ist. Bei denjenigen unter ihnen, die offensichtlich existieren [ẓāhir al-wuǧūd], beschränkt man sich darauf, und die erläuternde Darlegung des Namens dient als [wörtlich: wird zur] Definition. Bei denjenigen, deren Existenz unklar ist, wird diese untersucht. Und es ist nicht so, wie einige Leute meinen, dass diese Schrift von der Bewegung handelt; das haben wir bereits im Buch der Bewegung gesagt.« Auch al-Fārābī, El catálogo de las ciencias por Al-Farabi, ed. Angel Gonzalez Palencia, Madrid 1950, 83 lässt die Physik von den Prinzipien aller natürlichen Seienden handeln.
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die er, sicherlich anhand dieser Quellen, aber doch selbstständig gedacht und durchdrungen hat.
2.3. Aristoteles’ Verbesserung Platons: Die Seele als Bewegungsprinzip Was die Identifikation der Seele als Form und Bewegungsprinzip angeht, so zählt Ibn Bāǧǧa sie sichtbar zu den naturphilosophischen Voraussetzungen. Dass die Seele Form und eben nicht Materie ist, wurde, wie gesehen, von Aristoteles eigens begründet. Alexander widmet dieser Frage gar einen ausführlichen Exkurs,41 der sich sicherlich der starken Präsenz stoischer Seelentheorien zu seiner Zeit verdankt. Ibn Bāǧǧa dagegen verweist am Ende des Kapitels (N I. 17) lediglich auf Alexanders Darlegungen – übrigens die einzige namentliche Referenz auf Alexanders Seelenschrift –, vertraut ansonsten aber »der Betrachtung seiner Seele [oder: seiner selbst]« (bi-naẓar nafsihī). Wie die obigen Bemerkungen zur Evidenz der Seele zeigen, dürfte Ibn Bāǧǧa damit nicht eine introspektive Selbstvergewisserung gemeint haben, sondern wiederum auf die sinnliche Evidenz verweisen, für die die eigene Person das nächste Objekt darstellt. Sicher, diese Evidenz ergibt sich nur, wenn man das mit Materie und Form Gemeinte erläutert und durch Vergleiche illustriert hat. So geht Aristoteles in Physik II. 1 vor, um zu zeigen, dass mehr die das »Was-es-ist« bestimmende Form als die Materie Natur ist, da entsprechend letzterer etwas nur »potentiell« etwas Bestimmtes ist.42 Ibn Bāǧǧa ist so sicherlich Recht zu geben, dass die Identifizierung der Seele als Form einhergeht mit der Explikation von Materie und Form als Prinzipien, wie er sie im Vergleich mit den Artefakten unternimmt, und damit unablösbar von ihrer evidenten Existenz, die sie, wie gesehen (Abschnitt 1), eben als Bewegungsprinzip besitzt. Auf nichts anderem beruht schließlich auch Aristoteles’ oben referiertes Argument, das letztlich nur eine Erläuterung der Intuition darstellt, dass die Seele Prinzip des Lebendigseins von Körpern ist – eine Seinsweise, die sich in einem spezifischen Set von »Bewegungen« äußert. Ibn Bāǧǧa selbst bringt die unmittelbare Verknüpfung dieser Begriffe in einer Passage seines PhysikKommentars hervorragend zum Ausdruck, wo er mit Aristoteles darauf besteht, die Bewegung als ein primäres Phänomen zu begreifen, statt Folgerungen über sie aus metaphysischen Erwägungen über »die Welt« als ganze abzuleiten: [T 10] »Die Bewegung folgt dem, was ›der Natur nach‹ ist, und die Natur ist durch sie gleichsam lebendig, denn die Bewegung ist das deutlichste, eigentümlichste und der Sinneswahrnehmung am meisten erkennbare Zeichen 41Aristoteles, De anima, II. 1, 412a16–21; Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 11, 14–15, 26. 42Aristoteles, Physik, II. 1, 193a28–193b8.
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des Lebens. Deshalb wollen diejenigen, die vorgeben, dass die Toten lebendig sind, dass an ihnen irgendeine Bewegung erscheint.«43 Die Identifizierung von Natur und Seele als Formen und Bewegungsprinzipien gehört in diesem Sinne zu den naturphilosophischen Voraussetzungen der Psychologie, die auch in der Physik als entsprechender Grundlagenwissenschaft nur expliziert, aber nicht abgeleitet oder bewiesen werden können. Ibn Bāǧǧa zeigt sich außerdem bewusst, dass diese Erkenntnis bereits durch Platon erreicht worden ist; lediglich in der weiteren Deutung der Seele als Bewegungsprinzip stellt Aristoteles’ Psychologie einen Fortschritt gegenüber der platonischen dar. Ibn Bāǧǧa schreibt Platon folgende Überlegungen zum Wesen der Seele zu, die interessanter Weise von der ersten der beiden aristotelischen Einteilungen der Substanz und dem auf ihr aufbauenden Argument ausgehen (N I. 19):44 Platon war sich klar darüber, dass die Seele Substanz ist, Substanz jedoch sowohl die Form wie die Materie (in diesem Fall der Körper) meinen kann. Er war sich aber weiterhin klar, dass die Seele unmöglich als Körper bestimmt werden kann.45 Er suchte nun nach einer eigentümlichen, das heißt spezifischen, Definition der Seele. Diese Definition musste daher auch die Formen der Himmelskörper umfassen, weil er auch sie als Seelen betrachtete,46 und er musste folglich das Merkmal auffinden, das diese mit den Seelen der Lebewesen teilen. Als solches Merkmal schied die Wahrnehmung aus, weil nur die Lebewesen Wahrnehmung besitzen.47 Er fand das gemeinsame Merkmal statt dessen in der 43Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 151, 16–152, 2. Die Beschreibung der Bewegung als »Leben« der Naturdinge stammt von Aristoteles selbst, Aristoteles, Physik, VIII. 1, 250b11–15. 44Die Überlegungen, die Ibn Bāǧǧa Platon zuschreibt, hat er offenbar aus Aristoteles’ Darstellung und Kritik der Seelenlehre des Timaios (Aristoteles, De anima, I. 3, 406b26–407b11) sowie besonders aus Themistios’ Paraphrase dieser Diskussion zusammengestellt. Er folgt dabei nicht der eigentlichen Argumentation in De anima, sondern entnimmt ihr lediglich einzelne Informationen, die er dann zu einem vermeintlichen Gedankengang Platons verbindet. Zu den Quellen der einzelnen Elemente vgl. die folgenden Anmerkungen. 45Themistios liefert diesen Hinweis, indem er, um Platon in gewissem Maße zu verteidigen, bemerkt, dieser lasse in vielen seiner Dialoge erkennen, dass er die Seele nicht für einen Körper hält, wie es die Beschreibung der Seele als Kreis im Timaios nahelegt, vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 19, 21–25. 46Sowohl Aristoteles’ als auch Themistios’ Referat lässt klar erkennen, dass Platon eine Verbindung zwischen den Himmelskörpern und der Seele herstellt: Die Seele wird entsprechend der Zahl der Himmelskörper geteilt und lenkt so die Himmelsbewegungen, vgl. Aristoteles, De anima, I. 3, 406b30–407a2; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 20, 8–18. 47Aristoteles berichtet, Platon wolle die »Seele« des Alls nicht so verstanden wissen wie die wahrnehmende oder begehrende Seele, sondern wie den Intellekt, vgl. Aristoteles, De anima, I. 3, 407a2–5. Themistios gibt das so wieder, dass die Seele des Alls rational sei wie der Intellekt
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Bewegung und definierte die Seele als »etwas, das sich selbst bewegt«,48 weil er glaubte, das nichts etwas anderes bewegen könne, ohne sich selbst zu bewegen.49 Diese Annahme sei aber bereits in der Physik untersucht und – so dürfen wir hinzufügen – zurückgewiesen worden. Dieser Verweis geht wohl zurück auf Aristoteles’ eigene Bemerkung, er habe davon »früher« gesprochen.50 Themistios in seiner Paraphrase präsentiert dann auch ein ausführliches Resümee der entsprechenden Argumentation in Physik VIII. 5.51 Ibn Bāǧǧa dagegen verweist auf das siebte Buch der Physik, und zwar nicht irrtümlich, sondern weil er offenbar an seine eigenen Ausführungen zum Thema denkt, die sich tatsächlich im Kommentar zu Buch VII befinden.52 Er
und keines der anderen Vermögen, wie Wahrnehmung, benötige, vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 20, 20–23. 48Im Hintergrund dieser Formulierung steht eine Besonderheit der arabischen De-animaÜbersetzung des Isḥāq; im Gegensatz zu der anonymen, die uns erhalten ist, drückte sie das griechische τὸ αὑτὸ κινοῦν oder τὸ κινοῦν ἑαυτὸ, das Sich-selbst-Bewegende, offenbar als »etwas [šaiʾ], das sich selbst bewegt« aus, so jedenfalls muss man aus den Lemmata in Ibn Rušds Großem Kommentar schließen; vgl. Aristoteles, De anima, I. 2, 404a21 und I. 3, 406a1 mit Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 30, 6 »quod anima est aliquid movens se« und 47, 4 »dicunt animam esse aliquod movens se« und mit den abweichenden Formulierungen in Arisṭūṭālīs, Fī l-nafs, al-ārāʾ al-ṭabīʿīya al-mansūb ilā Flūṭarḫus, al-ḥiss wa-lmaḥsūs li-Ibn Rušd, al-nabāt al-mansūb ilā Arisṭūṭālīs, ed. ʿAbd al-Raḥmān Badawī, Kairo 1954, 8, 20f; 13, 2. Ibn Bāǧǧa hält die Bestimmung der Seele als ein »Etwas« für erklärungsbedürftig, offenbar weil sie als Widerspruch zu der Versicherung verstanden werden könnte, Platon betrachte die Seele nicht als Körper. Er erläutert daher, »etwas« müsse hier als »Seiendes« verstanden werden. 49Dies ist einer der Hauptkritikpunkte des Aristoteles an den Lehren mehrerer seiner Vorgänger, nämlich dass sie den Fehlschluss begehen, die Seele müsse sich selbst bewegen, weil nur das selbst in Bewegung Befindliche anderes bewegen könne; vgl. Aristoteles, De anima, I. 2, 403b29–31; 404a20f; I. 3, 405b31–406a2. Diese Auffassung wird dann ausdrücklich auch Platon zugeschrieben, vgl. Aristoteles, De anima, I. 3, 406b26–28. 50Aristoteles, De anima, I. 3, 406a3f. 51Vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 14, 33–15, 17. 52Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 110, 2–111, 12 (korrigiert anhand von MS B, f. 33v [arab.]): »Es folgt also notwendig bei jedem Bewegten, dass man am Ende zu einem Beweger gelangt, den nichts anderes bewegt. Und wenn es einen gewissen ersten Beweger gibt, der nicht dadurch bewegt, dass er von etwas anderem bewegt wird, dann ist dies ein Selbsbewegtes. Bis hierher gelangte die Untersuchung [al-naẓar] bei Platon, und deshalb hat er die Seele als ›etwas, das sich selbst bewegt‹ beschrieben. Nur dass aus dieser Darlegung nicht folgt, dass so etwas wie das von überhaupt nichts anderem bewegt wird, sondern es folgt daraus nur, dass kein ihm äußerlicher Beweger es bewegt; das folgt daraus nur in gewisser Weise. Hier ist notwendigerweise der Ort, um sich zu fragen, ob jeder Beweger notwendigerweise außerhalb des Bewegten ist oder nicht. Wenn der Beweger immer außerhalb des Bewegten wäre, dann wäre das sich selbst Bewegende zugleich und in derselben Hinsicht Beweger und Bewegtes. Wenn aber von der Kunst künstliche Körper erzeugt werden, die ihren Beweger in sich haben, wie etwa die Maschinen [al-mankānāt (?)] und was ihnen gleicht, was hinderte dann die Natur daran, etwas Ähnliches herzustellen. Denn bei den Maschinen und den künst-
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führt dort aus, dass bereits Platon zu der Erkenntnis gelangt sei, dass die Kette der Beweger, durch die etwas in Bewegung versetzt wird, nicht unendlich sein könne; man müsse daher schließlich zu einem Beweger kommen, der nicht von etwas anderem bewegt werde, sondern selbstbewegt (mutaḥarrik bi-ḏātihī) sei. Nun sei Platon jedoch vorschnell bei diesem Ergebnis stehengeblieben und habe die Seele als »etwas, das sich selbst bewegt« beschrieben. Damit sei er jedoch über das durch seine Argumentation Bewiesene hinausgegangen, aus der nämlich lediglich folge, dass der genannte Beweger nicht »von einem ihm äußerlichen Beweger bewegt wird«, nicht aber, dass er »von überhaupt nichts anderem bewegt wird«. Zum Abschluss seiner Untersuchung kommt Ibn Bāǧǧa dann nochmals auf Platon zurück und erklärt, Aristoteles sei auf Grund der von ihm soeben präsentierten Überlegungen zu dem Schluss gekommen, dass schlechthin alles, was sich bewegt, durch etwas anderes bewegt werde. Dadurch sei der Beweis des ersten Bewegers vervollkommnet worden, und Aristoteles habe so die vollendungsbedürftige Erkenntnis Platons tatsächlich vollendet.53 Die Seele ist von Platon also zu Recht als Beweger erkannt, jedoch als Selbstbeweger missverstanden worden. Damit hat er einerseits außer Acht gelassen, dass die Seele zwar nicht durch äußeren Anstoß, wohl aber das Beseelte durch andere Einwirkungen bewegt wird. Andererseits hat er mit der Selbstbewegung
lichen Dingen, deren Beweger verborgen ist, erscheint es der Wahrnehmung, dass sie sich von selbst bewegen, und so erzeugen sie Staunen. Außerdem, wenn Beweger und Bewegtes zusammenfielen, dann würde sich das aus ihnen gebildete Ganze bewegen. Und vielfach, wenn uns der Beweger eines Bewegten verborgen ist, besonders bei dem, was die Wahrnehmung nicht vollkommen erfasst, glaubt man [auch], dass das Ganze sich selbst bewegt. Dann, wenn wir die Betrachtung vertiefen, finden wir so etwas wie das [auch] in der Natur. Manchmal beherrscht etwa ein Kranker die Kunst der Medizin und heilt sich selbst. Dieser bewegt sich selbst; der Beweger ist die Kunst der Medizin, und das Bewegte ist dasjenige, was die Gesundheit empfängt. Wenn [beispielsweise] Galen sich selbst von seinem Leiden geheilt hat, so waren in Galen zwei Dinge: Eines von beiden empfängt die Gesundheit, und das ist das Bewegte, während die Medizin der Beweger ist. Diese beiden trennen sich manchmal von einander, denn das eine kommt dem anderen nicht wesentlich zu. Wenn eines dem anderen wesentlich zukäme und ihm mit Notwendigkeit folgte, dann würde etwas, das ein solches Prinzip besitzt, sich selbst bewegen und der tatsächliche Zustand [al-amr] dieses Bewegten wäre uns verborgen. Aus diesen Gründen müssen wir über das Selbstbewegte zweifeln und eine Untersuchung darüber anstellen.« 53Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 117, 5–10 (korrigiert anhand von MS B, f. 35v [arab.]): »Da Aristoteles diese Dinge betrachtet hatte, fand er, dass unsere Aussage ›Alles was aufhört sich zu bewegen durch das Aufhören von etwas anderem, wird von etwas anderem bewegt‹ [d. i. Aristoteles, Physik, VII. 1, 242a36f ] an sich klar und offensichtlich ist. Dann betrachtete er sie [d. i. diese Dinge (?)] aus diesen Perspektiven [und] vollendete das, wovor Platon stehen geblieben war, legte sie nieder und folgerte, dass absolut jedes Bewegte von etwas anderem bewegt wird. Dann vervollkommnete er den Beweis der Existenz des ersten Bewegers, indem er die Hinsicht darlegte, der entsprechend die unmögliche Annahme folgt. So war das, was Platon erkannt hatte, vollendungsfähig [qābilan li-l-tamām], und Aristoteles hat es vollendet.«
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eine selbstwidersprüchliche Konzeption gebildet, die noch dazu die Möglichkeit verbaut, auf die Existenz eines ersten (und unbewegten) Bewegers zu schließen. Platons Begriff der Seele wird so einerseits der Einwirkung der umgebenden Natur auf das Beseelte nicht gerecht und usurpiert andererseits die Position, die eigentlich dem ersten Bewegungsprinzip des ganzen Kosmos zukommt. Somit zeigt sich, dass die Rolle des Bewegers, die der Seele als Form zukommt und der Ibn Bāǧǧa eine naturphilosophische Selbstverständlichkeit zuschreibt, einer genauen Explizierung bedarf. Am Beginn des Buchs der Seele wird dieser Zusammenhang, in deutlicher Anlehnung an Alexander, zuerst nur thetisch gesetzt. Alexander erklärt, dass etwas nur auf Grund seiner Form das ist, was es ist; dass dieses Es-selbst-Werden (die Entstehung) erst bei vollständiger Verwirklichung der Form abgeschlossen ist und die Form daher auch die Vollendung des Seienden darstellt; dass schließlich jede Form und so auch die Seele dem Körper, dessen Form sie ist, die ihm eigentümlichen Bewegungen verleiht, ohne selbst bewegt zu werden.54 Ibn Bāǧǧa nimmt diese Grundsätze in denkbar knapper Form auf und verknüpft sie, darin wohl Themistius folgend, mit dem Begriff der Entelechie (N I. 3): Alle Formen sind »Vollendungen [kamālāt] der Körper, in denen sie sind« und zwar nicht »bloße Vollendungen«, sondern »fest eingewurzelte« (mutamakkina), nämlich solche, die den Rang eines Habitus (malaka) haben und als solche die Bezeichnung »Entelechie« (istikmāl) erhalten.55 Alle Entelechien, das wird implizit klar, bewegen die Seienden, deren Entelechien sie sind. Ibn Bāǧǧa sagt nämlich, dass sie dies auf unterschiedliche Weise tun: Die einen bewegen, ohne sich selbst zu bewegen, die anderen nur insofern sie selbst Einwirkungen erleiden. Ohne dass Ibn Bāǧǧa dies sagt und selbst ohne dass er den Zusammenhang nachträglich erwähnt, wird damit bereits der wenige Absätze später (N I. 5) an54Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 6, 21–29; 6, 29–7, 8; 22, 5–12. 55Diese Charakterisierung der Entelechie als Habitus darf nicht bereits im Sinne der Definition der Seele als erste Entelechie gelesen werden. Vielmehr will Ibn Bāǧǧa hier ja jede Form und Entelechie beschreiben. Als solche dürfte die Erklärung auf die arabische Version von Themistios’ Paraphrase zurückgehen, die den als istikmāl übersetzten Term intalāḫīyā folgendermaßen glossiert: »Seine Bezeichnung ›Entelechie‹ bedeutet in griechischer Sprache nichts anderes als den Habitus der Vollendung [malakat al-kamāl] von der Naturbeschaffenheit [ḫilqa]«, An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 43, 15–44, 1 und vgl. ed. Heinze, 39, 19f. Diese Beschreibung der Entelechie als Habitus hat Ibn Bāǧǧa weiterhin verbunden mit der den Kategorien (8, 8b26–9a13) entnommenen Gegenüberstellung von Habitus (malaka) und Zustand (ḥāl), deren ersterer eine dauerhafte Beschaffenheit, zweiterer eine vorrübergehende bezeichnen. Ibn Bāǧǧas Terminologie macht deutlich, dass er diese Unterscheidung mit der Hilfe von al-Fārābīs Paraphrase der Kategorien gelesen hat, denn nur dort und nicht in der arabischen Übersetzung der Kategorien wird der Habitus als mutamakkin, »fest eingewurzelt«, bezeichnet; vgl. D. M. Dunlop, Al-Fārābī’s Paraphrase of the Categories of Aristotle [erster Teil], in: The Islamic Quarterly 4, 4 (1958), 168–197, hier 176, 20–23.
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gesprochene Unterschied zwischen der Bewegung beseelter und unbeseelter Körper benannt: Die einen sind passive Prinzipien der Bewegung, die anderen unterliegen nicht – jedenfalls nicht im gleichen Sinne – fremden Einwirkungen. Damit ist aber die einfache Identität von Form und Beweger aufgebrochen. Gleichzeitig tragen sie, wie gegen Platon gezeigt, einen Bezug auf ein »transzendentes« erstes Prinzip in sich. Es zeigt sich mithin, dass die Formen als Vollendungen und Beweger eine in jedem Falle genau zu bestimmende Zwischenstellung zwischen (bloß äußerlicher) Fremdbewegung und (unmöglicher) Selbstbewegung haben. Sie sind weder äußerlich herbeigeführte »Zustände«, noch absolut existierende Prinzipien, sondern immer »Entelechien für die Körper, welche der Möglichkeit nach Entelechien besitzen« (N I. 3). Die Seele als Bewegungsprinzip ist also eine in gewisser Weise wohl evidente Voraussetzung der Psychologie, die genaue Modalität dieser Bewegungsverursachung bleibt aber zu bestimmen. Die so zu entwickelnde Kinetik geht – das macht die Verknüpfung mit dem im Herzen der Seelendefinition stehenden Begriff der Entelechie deutlich – in die Erkenntnis der Seele selbst ein.
2.4. Die zentrale Rolle der Potenz in drei Problemfeldern der Psychologie: Struktur, Konstitution, Bewegung Die Kinetik und, wie zuvor gesehen, die Theorie von Materie und Form als Konstitutionsprinzipien sowie die Theorie der Zusammensetzung von Körpern (von der man noch sehen wird, dass sie auf den beiden anderen aufbaut), bilden also die Strukturmomente, die Ibn Bāǧǧa von Alexander übernimmt, um die aristotelische Definition der Seele zu fundieren. Sie alle verankern die Psychologie fest in der Naturphilosophie. Bei allen dreien wird sich bei näherem Hinsehen zeigen, dass diese Kontinuität durch den zentralen Begriff der Potenz hergestellt wird. Im Einzelnen leuchten in Ibn Bāǧǧas Heranführung an die Seelendefinition drei mit dem Potenzbegriff verbundene Problemfelder auf. (a) An erster Stelle ist der Vorgang der Zusammensetzung zu nennen, den Alexander vom Ausgangspunkt der aristotelischen Einteilung der Substanz in Materie und Form beschreibt. Die Einführung von Materie und Form als Konstituentien aller veränderlichen Dinge, erläutert anhand von Stoff und Gestalt durch menschlichen Willen geschaffener Artefakte,56 führt Ibn Bāǧǧa zunächst zur Isolierung dieser Prinzipien und damit zur ersten, ungeformten Materie und zu den ersten, sie zur Grundlage habenden, einfachen Formen, aus deren Zusammentreten die einfachen Körper hervorgehen – die vier Elemente. Aus diesen 56Ibn Bāǧǧas Erwähnung des Willens lässt eine enge Verwandtschaft mit jener Stelle erkennen, an der Aristoteles die Form eines Bettes exemplarisch als auf »willkürlicher Setzung und Kunst« beruhend charakterisiert (siehe oben, Abschnitt 1).
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können anschließend wesentlich verschiedene Körper nur hervorgehen, wenn ein neues Kompositionsprinzip hinzukommt: die Mischung. Dabei treten die bereits geformten einfachen Körper zu neuen Körpern zusammen (N I. 1). An dieser Stelle bricht Ibn Bāǧǧa die von Alexander bis zur Konstitution belebter Körper nahtlos fortgesetzte Erzählung vorläufig ab und schiebt an späterer Stelle nur noch nach, die Körper von Lebewesen seien nicht solche »homoiomeren« (mutašābih al-aǧzāʾ), das heißt durch Mischung erzeugten »gleichteiligen« Körper, sondern solche, deren »Teile getrennt sind durch ihre jeweiligen Enden, die aufeinander stoßen, sei es durch Aneinanderhaften (iltiḥām), sei es durch ein Gelenk (mafṣil), nämlich wenn sich einer von beiden im anderen bewegt, denn dies gilt allgemein bei allen Lebewesen (N I. 17)«. Es sind damit hier nicht mehr benannt als die drei Stufen der Zusammensetzung, die Aristoteles und mit ihm Ibn Bāǧǧa in De partibus animalium unterscheiden.57 Dagegen bleibt die mit dieser Zusammensetzung einhergehende Erzeugung jeweils neuer Potenzen, auf die es Alexander besonders ankommt, noch ausgeblendet. Am Begriff der Potenz hängt aber nicht nur die Rechtfertigung der Seele als einer in einem bestimmten zusammengesetzten Körper fundierte und in ihm ihren Gegenpart findende Form und Potenz, wie sie oben angedeutet worden ist. Nein, auch die verschiedenen Prozesse der Zusammensetzung selbst bedürfen einer Erklärung mittels des Potenzbegriffs. Als Prozesse erfordern sie nämlich ein dynamisches Prinzip, das aufzuklären ist, wenn man, über die von Ibn Bāǧǧa hier bloß summarisch referierte Tatsache der Zusammensetzung hinaus, die Konstitutionsgründe des beseelten Körpers durchschauen will. Als Andeutung der hier zu berücksichtigenden aristotelischen Lehrstücke sei nochmals auf den bereits genannten Passus aus De partibus animalium verwiesen, wo die primären Qualitäten warm, kalt, feucht, trocken als Anfang jeder Zusammensetzung benannt werden, und zwar gerade als δυνάμεις. Selbst wenn es richtig wäre, wie etwa Peck argumentiert,58 dass δύναμις hier als ein »voraristotelischer terminus technicus« gebraucht ist und den Sinn von στοιχεῖον, »Element«, trägt, also als eine konkrete Substanz verstanden ist, so bliebe dennoch die peripatetische Tradition zu berücksichtigen, in die Ibn Bāǧǧa sich einreiht und die er mitformt, und die Stellen wie diese nicht anders als in der Perspektive eines kohärenten aristotelischen Potenzbegriffs lesen kann. Potenzen kommen 57Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646a12–24; Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 87, 1–4: »Es gibt drei Arten von Zusammensetzung [tarkīb]: erstens die Zusammensetzung der Elemente, und zwar aus der Form und der ersten Materie; zweitens die Zusammensetzung aus den Elementen, nämlich in den Homoiomeren; und drittens die Zusammensetzung aus diesen, und das sind die Glieder bei dem, was Glieder hat, und die Teile der Pflanzen, wie etwa die Hand und das Bein und was ihnen gleicht.« 58A. L. Peck in: Aristotle, Parts of Animals, with an English translation by A. L. Peck (Loeb Classical Library 323), Cambridge (Mass.)–London 1998 [Reprint der revidierten Ausgabe von 1961], 106, Anm. b und »Introduction«, 30f.
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demnach in Ibn Bāǧǧas Psychologie sowohl als Ursachen wie als Ergebnis der Konstitution des beseelten Körpers in den Blick. Dieser Thematik wenden wir uns insbesondere in den Kapiteln 8 (Abschnitt 2) und 9 zu. (b) Ein zweiter Themenbereich, der in Ibn Bāǧǧas einleitenden Ausführungen (N I. 1–4) eine große Rolle spielt, ist die Kunst (ṣināʿa) als positives Modell und differenter Hintergrund der Natur (ṭabīʿa). Diese führt uns letztlich auf den potenztheoretischen Zusammenhang von Natur und Intellekt. Vorbild Ibn Bāǧǧas ist hier zunächst wieder Alexander, der am Anfang seiner Abhandlung über die Seele behauptet, man könne die Richtigkeit des Materie-Form-Konzepts für natürliche Körper am ehesten in Analogie zum Verhältnis von Material und Gestalt bei künstlichen Gegenständen einsehen.59 Alexander orientiert sich dabei offenbar wiederum an einer Stelle aus der Physik, wie sich aus einem Zitat ableiten lässt, denn er erinnert daran, dass es, umgekehrt als in seiner Herleitung, die Kunst sei, welche die Natur nachahmt.60 Diese Feststellung lässt sich auf folgende Überlegung des Aristoteles in Physik II. 2 zurückführen: Wenn die Kunst die Natur nachahmt und wenn eine Kunst über Materie und Form Bescheid wissen muss, dann hat auch die Naturwissenschaft Materie und Formen der natürlichen Dinge zu erforschen.61 Dieser Analogieschluss ist eindeutig einer, der vom Geringeren auf das Höhere schließt,62 und so ist denn auch bei Alexander die Abgrenzung des Natürlichen gegenüber dem Künstlichen, wenn auch verstreut, ebenso präsent wie die Erläuterung des Natürlichen mittels des Künstlichen.63 Bei Ibn Bāǧǧa sind beide Momente in konzentrierterer und gleichwohl ausführlicherer Form zusammengebracht als bei Alexander. Die konzeptuelle Vorbildrolle der Kunst für die Materie-Form-Struktur (N I. 1) ist bei ihm der Ausgangspunkt, der in den folgenden Überlegungen eine schrittweise Unterscheidung notwendig macht, die jeweils das Eigentümliche natürlicher Körper, insbesondere das Eigentümliche der Bewegung natürlicher Körper und der Natur als Bewegungsprinzip herausarbeiten hilft (N I. 2, 4). Dabei geht Ibn Bāǧǧa allerdings nicht auf die von uns in
59Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 25–3, 21. 60Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 3, 15f. 61Aristoteles, Physik, II. 2, 194a21–27. Zu dieser Vorgehensweise des Aristoteles siehe auch Metaphysik, VII. 3, 1029a3–5: »Ich nenne aber Materie zum Beispiel das Erz, Form die Gestalt des Bildes und das aus beiden [Zusammengesetzte], die Bildsäule, das konkrete Ganze.« Am deutlichsten ist die Tatsache und die Problematik der Entwicklung des Materie-Form-Schemas anhand von Artefakten wohl in der von J. L. Ackrill angestoßenen Diskussion um die aristotelische Seelendefinition zutage getreten (vgl. J. L. Ackrill, Aristotle’s Definitions of psychê, in: Proceedings of the Aristotelian Society 73 (1972–73), 119–133, hier 132f ). Zu diesem Thema siehe unten, Kapitel 10. 62Vgl. auch Aristoteles, Physik, II. 8, 199a12–20. 63Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 10–15; 3, 15f; 4, 27–5, 4; 6, 2–5.
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Abschnitt 1 festgestellte Verbindung von Natur und Potenz ein, sondern siedelt den Unterschied zwischen Künstlichem und Natürlichem im Modus der jeweiligen Beziehung von Beweger und Bewegtem an. Wie sich sogleich zeigen wird, führt aber auch dieser Weg zurück zum Begriff der Potenz. In ihrer Bestimmung als Kunstprodukte scheinen Ibn Bāǧǧa diejenigen Artefakte Zweifelsfälle darzustellen, bei denen nicht nur der Ausgangsstoff aus der Natur genommen wird, die aber im übrigen durch eine Kunst und mittels ebenfalls künstlich hergestellter Werkzeuge produziert werden – sein Beispiel: ein Stuhl –, sondern die außerdem auch auf der Verwendung natürlicher Körper als Werkzeuge beruhen (N I. 2). Glas etwa entsteht aus Quarzsand, der mittels Feuer zu einer transparenten Masse geschmolzen wird. Ibn Bāǧǧa hat dieses Beispiel bereits in seinem Kommentar zur Physik besprochen,64 und die Unterscheidung solcher Mitteldinge scheint sein ganz und gar eigener Beitrag zur Diskussion zu sein.65 Er hält dort fest, dass diese Produkte von den Einwirkungen her, die sie bei ihrer Herstellung erfahren, wohl unter die Naturdinge fallen, dass sie aber von ihren Eigenschaften her, die auf der Quantität und Zusammensetzung (ihrer Ausgangsstoffe) beruhen, als Kunstprodukte gekennzeichnet sind. Hier dagegen wählt Ibn Bāǧǧa einen viel grundlegenderen Ansatzpunkt, indem er auf das achte Buch der Physik zurückgreift und sich Aristoteles’ Beweis für die Notwendigkeit eines ersten Selbstbewegten als Beginn jeder Bewegungskette zunutze macht.66 Darüber hinaus stützt er sich auf die Unterscheidung verschiedener Modi wesentlicher Bewegung, nämlich des »aus sich selbst« (ὑφ᾽ ἑαυτοῦ) und des »durch anderes« (ὑπ᾽ ἄλλου) Bewegten,67 die er mit der später getroffenen Unterscheidung der unmittelbaren und mittelbaren Bewegung durch ein anderes verknüpft.68 Eine Kunst ist nun Ursache von Veränderun-
64Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 232, 5–8. 65Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 161. 66Aristoteles, Physik, VIII. 5, 256a4–21. 67Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b12f. 68Der erste Teil der durch Ibn Bāǧǧa hier vorgenommenen Modi des Bewegens korrespondiert Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b7–13, nämlich (1) »akzidentell« – (2) »wesentlich«; (2a) »aus sich selbst« – (2b) »durch anderes«. Der zweite Teil der Einteilung stützt sich auf Physik, VIII. 5, 256a4–6: (2bα) vom (anderen) Beweger selbst – (2bβ) vom anderen Beweger, der seinerseits bewegt wird; (2bβ’) »das erste am letzten« – (2bβ’’) »durch Vermittlung von mehr als einem«. Ibn Bāǧǧa nennt hier explizit (1), (2), (2bα), (2bβ’), (2bβ’’). Man vergleiche für die Terminologie Ibn Bāǧǧa (IB) und »Aristoteles Arabus (AA)« (=Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain maʿa ṣurūḥ Ibn al-Samḥ wa-Ibn ʿAdī wa-Mattā Ibn Yūnus wa-Abī l-Faraǧ Ibn al-Ṭayyib, 2 Bde, ed. ʿAbd al-Raḥmān Badawī, Kairo 1964–65, 834 und 845), die an dieser Stelle von Ibn Bāǧǧa nicht genannten Begriffe sind seinem Kommentar zur Physik entnommen (IBP, ed. Ziyāda, 166–168 und 173f ): (1) bi-l-ʿaraḍ (IB)/bi-ṭarīq al-ʿaraḍ (IBP) – bi-ṭarīq al-ʿaraḍ (AA); (2) bi-l-ḏāt (IB) – bi-l-ḏāt (AA), beziehungsweise der Plural bi-ḏawātihā (AA, IBP); (2a) bi-nafsihī (IB, IBP) – min tilqāʾihī (IBP) – min tilqāʾihī (AA); (2b) min ġairihī/ʿan šaiʾ ḫāriǧ ʿanhū (IBP) – min ġairihā (AA); (2bα) bi-nafsihī (IBP) – min qibali nafsihī (AA); (2bβ)
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gen, die sie nicht selbst, sondern mittels körperlicher Werkzeuge auslöst, und für diese Fälle hat Aristoteles gezeigt, dass es entscheidend auf das erste Bewegende ankommt, weil dieses auch unabhängig vom jeweiligen Werkzeug oder Hilfsmittel Bewegung verursachen kann, während jenes von ihm abhängig ist. Aufgrund dieses Prioritätsverhältnisses kann Ibn Bāǧǧa jetzt entscheiden, dass all das künstlich ist, dessen erster Beweger Kunst ist, ganz gleich mit welchen Hilfsmitteln es produziert wird, während alles Bewegte, in dem der erste Beweger Natur ist, natürlich ist. Zu dieser fundamentalen Differenz treten weitere hinzu, die eher beiläufig erwähnt werden, aber nicht weniger wichtig sind. Zum einen, und das hebt übrigens auch Alexander hervor, sind die künstlichen Formen nur hinzutretende Eigenschaften (lawāḥiq), also keine substantiellen Formen.69 Zum anderen ist die Kunst als Beweger nicht dauerhaft mit dem Artefakt verbunden, sondern nur solange sie es herstellt; hält sie an, dann hört auch die Veränderung des Artefakts auf. Auch daran zeigt sich, dass die Kunst keine substantielle Form darstellt. Jedoch haben nicht in allen Fällen die Artefakte ihren Beweger räumlich außer sich; Ibn Bāǧǧa verweist auf »Räderwerke und Apparate« (N I. 4). Auch in komplexen natürlichen Körpern muss man aber zwischen Beweger und Bewegtem unterscheiden, sind diese also vielleicht genauso zu denken wie technische Apparate – l’homme machine? Es ist daher näher zu bestimmen, in welchem Sinne der Beweger von solchen Artefakten »äußerlich« ist. Ibn Bāǧǧa antwortet, er sei dem Bewegten nur »akzidentell verbunden«, das aber sei beim Natürlichen nicht der Fall. »Akzidentell verbunden« heißt: Die Position des Bewegers im Bewegten ist für die erzeugte Bewegung nicht wesentlich. In seinem Kommentar zur Physik erklärt Ibn Bāǧǧa, dass die Maschinen ihren Beweger »verbergen« und dadurch Staunen auslösen, weil man den Eindruck gewinnt, sie bewegten sich »von selbst« (min qibalihā).70 Dieser Eindruck täuscht dann offenbar deshalb, weil die Einheit von Beweger und Bewegtem nicht die ist, die vorgegaukelt wird. Der natürliche Körper, so sagt es Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele, ist aus Beweger und Bewegtem zusammengesetzt, sie bilden also eine Einheit, und zwar, wie wir bereits wissen, eine Form-Materie-Einheit, während im Artefakt nur eine akzidentelle Verbindung von einander äußerlich bleibenden Teilen vorliegt. Hiermit hat sich das anfängliche Vorbildverhältnis umgekehrt: Der Hylemorbi-ġairihī (IBP) – min qibali… ġairihī (AA); (2bβ’) und (2bβ’’) bi-tawassuṭ šaiʾ āḫar imma wāḥid wa-imma akṯar min wāḥid (IB) – al-awwal min baʿd al-aḫīr wa-imma… bi-tawassuṭ akṯar min wāhid (AA). Aus der Aufstellung wird deutlich, dass Ibn Bāǧǧa an dieser Stelle (2a) und (2bα) ineinander schiebt. 69Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 4, 27–5, 4; 6, 2–5. Ibn Bāǧǧa will davon eventuell Artefakte wie Glas ausnehmen, er bezieht die Beschreibung als lawāḥiq nur auf »einige Arten der Kunst«. 70Siehe den Text aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik, oben in Anm. 52.
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phismus, für den die Kunst das Modell abgegeben hat, ist im eigentlichen Sinne nur auf die Natur anwendbar. Mit diesen Klarstellungen verlässt Ibn Bāǧǧa das Thema der Differenz von Kunst und Natur, jedoch nicht ohne zuvor noch die Möglichkeit anzudeuten, dass es im Bereich der Natur Veränderungen geben könnte, die, zumindest in gewisser Weise, nach dem Modell künstlicher Prozesse ablaufen (N I. 4). Was hier gemeint ist wird erst klar, wo Ibn Bāǧǧa im Verlauf des zweiten Kapitels auf die Zeugung zu sprechen kommt und dabei erneut die Kunst als Erklärungsmodell ins Spiel bringt (N II. 23). Was die Zeugung in die Nähe eines künstlichen Herstellungsvorganges rückt, das ist die Tatsache, dass der Erzeuger dem erzeugten Körper äußerlich bleibt. Wie die Kunst scheint die bei der Erzeugung wirkende Potenz zudem intellektuell und nicht körperlich zu sein. Sie erzeugt nämlich nicht unmittelbar ein sich Gleiches, sondern verbindet sich mit »einem gewissen Körper«, der als Instrument fungiert – gedacht ist an den Samen – und durch den sie auf die Materie einwirkt. Sie verhält sich zu dem gezeugten Körper daher wie die Kunst zum Kunstprodukt.71 Damit tritt die berüchtigte mittelalterliche Theorie des Intellekts als Formgeber auf den Plan, denn bei der Zeugung wird ja die Form übermittelt. Von Wichtigkeit im Zusammenhang der Untersuchung der Potenz ist die Tatsache, dass das intellektuelle Prinzip, welches hier die Entstehung des natürlichen, beseelten Körpers verursacht, ebenfalls als eine Potenz gedeutet wird. Obgleich der Beweger hier wie im Falle der Kunst vom Bewegten getrennt ist – und das aus demselben Grunde, insofern beide Mal Intellekt der Beweger ist – erscheint dieser als natürliche Potenz. Man kann sich, die Rezeptionsgeschichte und ihre Motive erst einmal ausklammernd, fragen, ob dem zuvor beschriebenen Potenzcharakter der Natur als Bewegungsprinzip und dieser intellektuellen Potenz überhaupt mehr als der Name gemeinsam sein kann. Indessen fällt auf, dass der von Ibn Bāǧǧa genannte »aktuelle Intellekt« tatsächlich in einer wichtigen Hinsicht mehr der Natur als dem in der Kunst operierenden menschlichen Intellekt gleicht: Der Intellekt gibt nämlich dem Erzeugten mit der Artform eine Potenz, durch die sich dieses selbst entwickelt und erhält, sowie ihm eigentümliche Tätigkeiten ausführt. Gerade dies war aber bei der Kunst nicht der Fall, und so geht das intellektuelle Prinzip in einer Weise in das Naturding ein, die kein Artefakt erreicht. [N II. 23] »Diese Potenz ist nicht in einem Körper, sondern sie ist ein aktueller Intellekt […]. Das Nährvermögen aber ist eine Potenz in einem Körper, denn es ist materiell. Wenn diese Potenz [d. i. der Intellekt] daher auf die für sie geeignete Materie einwirkt und sie erzeugt, dadurch, dass sie in ihr diese Art selbst entstehen lässt, dann übt jene Form [d. i. das Nährvermögen] diese Art der Bewegung aus.« 71Vgl. Aristoteles, De generatione animalium, II. 4, 740b25–29.
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Ibn Bāǧǧa denkt so eine Kontinuität der natürlichen Potenzen mit dem Intellekt, die in beide Richtungen lesbar ist. Einerseits zeigt sich der Intellekt aus einer Betrachtung natürlicher Prozesse, wird also naturphilosophisch begründet. Andererseits verweisen die natürlichen Potenzen in ihrem Ungenügen, bestimmte Prozesse zu erklären, immer bereits auf den Intellekt als sie fortsetzendes und zugleich übersteigendes Prinzip. Auch der Zusammenhang von Natur und Logos muss also über den Begriff der Potenz hergestellt werden. Wir werden diesen Punkt ausführlich in Kapitel 5 behandeln. (c) Als dritter Themenbereich, den Ibn Bāǧǧa zur Heranführung an die allgemeine Seelendefinition anspricht (N I. 5–6), ist schließlich die Bewegungstheorie zu nennen. Ibn Bāǧǧa referiert dort in gedrängter Form die Erklärung der natürlichen Ortsbewegung unbelebter natürlicher Körper, die Aristoteles in Physik VIII. 4 gegeben hat. Demnach ist das Prinzip der Bewegung, das ein unbelebter natürlicher Körper besitzt, kein aktives, sondern ein passives.72 Die Wirklichkeit eines Dinges besteht darin, dass es sich an seinem »natürlichen Ort« befindet, also das Leichte oben und das Schwere unten.73 Befindet es sich dagegen an einem anderen Ort, dann ist es in einem Zustand der Potentialität, wobei diese Potentialität so zu verstehen ist wie die des Wissenden, der sein Wissen nur im Augenblick nicht anwendet, nicht wie die Potentialität dessen, der Wissen erst noch zu erwerben hat. Ein Ding befindet sich aber nur dann an einem anderen als seinem natürlichen Ort, wenn es an diesem erzeugt worden ist oder durch ein Hindernis an ihm festgehalten wird. Dementsprechend ist der Beweger, das Aktive, welches ursächlich für die Bewegung des Dinges ist, entweder das, was dieses Ding erzeugt, oder das, was das Hindernis beseitigt, sodass es an seinen natürlichen Ort gelangen kann.74 Betrachtet man vor diesem Hintergrund Ibn Bāǧǧas Darlegung (N I. 5), so zeigt sich, dass er zwar Aristoteles Theorie der natürlichen Orte übernimmt, dieser jedoch eine entscheidende Wendung gibt, indem er zur Erklärung ihrer Bewegung nicht nur auf die Potenz zum natürlichen Ort verweist, sondern auch auf die »Schwere« als Natur und Beweger. Das fügt sich sichtbar in die von Alexander gezeichnete kontinuierliche Entwicklungslinie natürlicher Körper ein, die ihm und in seinem Gefolge Ibn Bāǧǧa ja, wie gesehen, dazu dient, die Natur der Seele als Form des Körpers dadurch plausibel zu machen, dass sie in eine Reihe mit den Formen unbelebter Körper gestellt wird. Wenn es aber, wie oben geschildert, einen bruchlosen Übergang von Stufe zu Stufe geben soll, derart dass jede Form eines Komplexen die untergeordneten Formen in sich begreift und die verschiedenen aus ihnen resultierenden Bewegungen bündelt und lenkt, dann darf es keinen wesentlichen Unterschied zwischen diesen Bewegungen geben. 72Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b29–31. 73Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b11–13. Der Begriff selbst fällt nur Physik, VIII. 3, 253b34. 74Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b13–256a3.
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Es ist deshalb wahrscheinlich, dass das von Ibn Bāǧǧa hier entwickelte Modell seine Anregungen aus Alexanders Seelenschrift bezieht. Indem Alexander zu zeigen versucht, dass die Seele als Ursache der Bewegung des Beseelten doch selbst unbewegt ist, beruft er sich auf den Unterschied zwischen einem äußeren Beweger und einem Habitus, also einer Form und Entelechie.75 Alle körperlichen Formen sind von dieser Art; die Schwere zum Beispiel ist Ursache der Abwärtsbewegung von Erde, ohne dass die Schwere sich selbst bewegt. Das gleiche gilt dann von der Seele.76 Schon zuvor hat Alexander an einem anderen Beispiel die Bewegung der Elemente erläutert: Das Feuer besitzt durch das aus seiner Form resultierende Wesen die Leichtigkeit als Ursache seiner Aufwärtsbewegung. Die Leichtigkeit wird dann auch selbst als Form des Feuers bezeichnet und als Potenz beschrieben, die den (einfachen) Körper bewegt, nicht jedoch sich selbst, eben weil sie nur δύναμις und Form dieses Körpers und nichts unabhängig von ihm Bestehendes ist.77 Ibn Bāǧǧa macht ohne Zweifel Gebrauch von dieser Deutung der Potenz und Natur des unbelebten natürlichen Gegenstandes und wir werden also im Detail zu klären haben, wie er die natürlichen Bewegungen erklärt und ob es ihm gelingt, eine Theorie zu bilden, die es ermöglicht, dieselben naturphilosophischen Prinzipien auch auf die Seele und die Bewegung des Lebendigen anzuwenden. Dieser Fragestellung ist das siebte Kapitel gewidmet.
3. Die Wissenschaftstheorie al-Fārābīs: Welches Wissen von der Seele? 3.1. Methodische Probleme der Seelendefinition In den bisherigen Ausführungen war bereits mehrfach davon die Rede, dass Ibn Bāǧǧa den Begriff der Seele als »äquivok« bezeichnet, und wir haben auch festgestellt, dass diese Annahme entscheidend sowohl für seine Auffassung von Gegenstand und Methode der Psychologie wie insbesondere für den in unserer Untersuchung im Mittelpunkt stehenden Begriff seelischer Potenzen ist. Zum einen konnten wir sehen, dass auf Grund der Äquivokation des Seelenbegriffs das Studium der Seele in Einzelstudien seelischer Potenzen zerfällt. Eine Einheit erhalten diese Studien, insofern Ibn Bāǧǧa die Potenzen anhand des aristotelischen Schichtungsprinzips als von Natur aus geordnete Reihe begreift, die gleichzeitig mit Alexander als Vollkommenheitsordnung gedeutet wird. Zum anderen hat sich gezeigt, dass die Evidenz der Seele als Bewegungsprinzip für Ibn Bāǧǧa nur dann ein geeigneter Ausgangspunkt für die Wissenschaft von der Seele ist, 75Alexandri Aphrodisiensis De anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 21, 22–22, 5. 76Alexandri Aphrodisiensis De anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 22, 5–12. 77Alexandri Aphrodisiensis De anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 5, 10–18.
Die Wissenschaftstheorie al-Fārābīs: Welches Wissen von der Seele?
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wenn sich diese Evidenz an allem als »Seele« Bezeichneten gewinnen lässt, denn die auf Grund der genannten Zersplitterung notwendige Forschungsmethode der »Zusammensetzung« fordert gerade, dass Gewissheit darüber besteht, dass der Forschungsgegenstand existiert und eine eindeutige Identität besitzt. Diese konzentrierte Zusammenstellung macht nun nachdrücklich deutlich, wie problematisch eigentlich die Beurteilung des Seelenbegriffs als äquivok ist, stellt sie doch die Einheit der psychologischen Wissenschaft infrage. Wäre »Seele« nämlich schlechthin äquivok, dann wäre es ausgeschlossen, sie zu definieren und zum Gegenstand einer einzigen Wissenschaft zu machen. Der genaue Sinn, in dem »Seele« »äquivok« ist, bleibt also zu bestimmen. Nun haben wir die inhaltliche, sich aus der Reihung der Potenzen ergebende Lösung dieser Problematik ja hier gerade noch einmal angedeutet, und die Präzisierung dieser Lösung erfolgt durch die vorliegende Untersuchung als ganze, insofern sie genau den Begriff der Potenz und das Verhältnis der verschiedenen Potenzen zueinander betrachtet. Die Problematik erfordert aber darüber hinaus eine formale Lösung, denn davon hängt es eben ab, ob sich Ibn Bāǧǧas Modell der Psychologie und sein Vorgehen methodisch rechtfertigen lässt. Nun widmet sich Ibn Bāǧǧa selbst – wie gesagt nach Herleitung der allgemeinen Seelendefinition – recht ausführlich der Reflexion über die geeignete Methode zur Definition der Seele, und es sind diese Überlegungen, die wir im gegenwärtigen Abschnitt analysieren wollen. Dabei zeigt sich – wie oben Alexander in Bezug auf die naturphilosophische Anlage – hier im wissenschaftstheoretischen Bereich al-Fārābī als Leitstern Ibn Bāǧǧas. Der gemeinsame Bezugspunkt all dieser wissenschaftstheoretischen Reflexionen ist der Begriff der Definition deshalb, weil Ibn Bāǧǧa ausdrücklich definitorisches Wissen von der Seele anstrebt, da die Definition die höchste Form von Wissen ist, insofern sie das »Was-es-ist«, also das Wesen, einer Sache bekanntmacht (N I. 9). Es versteht sich, dass Ibn Bāǧǧa dabei nach der »vollkommenste[n] der Definitionen« strebt (N I. 10). Ein systematischer Blick auf die genannte Problematik und Ibn Bāǧǧas methodische »Antwort« ergibt sich am ehesten, wenn man zunächst einmal die – scheinbaren – Widersprüche in seinen Aussagen über die Definition der Seele hervorkehrt. (1) Der erste Punkt betrifft noch einmal genauer die Äquivozität des Seelenbegriffs. Ibn Bāǧǧa hält nämlich trotz der behaupteten Äquivozität der aristotelischen Seelendefinition (N I. 6) daran fest, dass diese Definition auf alle Seelen zutrifft; er behauptet im einzelnen (N I. 18): (a) dass der Begriff der Seele »äquivok« ist, (b) dass er in »mehrdeutiger« (amphibolischer) Weise ausgesagt wird, (c) dass es keine einheitliche Natur gibt, die alle Seelen umfasst, und (d) dass deshalb keine Definition in einheitlicher Weise auf all das zutreffen kann, was »Seele« genannt wird. Und dennoch ist es für ihn offenbar nicht bedeutungslos, dass die gegebene allgemeine Seelendefinition – »erste Entelechie eines natürlichen, organischen Körpers« – auf alle Seelenvermögen
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Die Definition der Seele
zutrifft. Man kann sich dem Verständnis dieser Aussagen über die Unterscheidung der anscheinend synonymen Charakterisierungen der Uneindeutigkeit des Begriffs »Seele« – »äquivok« (muttafiq, bi-štirāk) und »mehrdeutig« (mušakkik, bi-taškīk) – annähern, denn sie sind keineswegs gleichbedeutend, sondern bringen tatsächlich einen bedeutenden begrifflichen Unterschied zum Ausdruck. Das lässt sich deshalb unzweifelhaft feststellen, weil Ibn Bāǧǧa an anderer Stelle bemerkt (N I. 15): »Wenn die Seele nämlich in Äquivokation ausgesagt wird, dann wird sie davon in der amphibolischen [=mehrdeutigen] Art ausgesagt.« Daraus lässt sich schließen, dass die »Amphibolie« eine Unterart der Äquivokation ist und dass sie offenbar eine Bedeutungsdifferenz bezeichnen soll, die nicht der totalen Differenz der Äquivokation im strikten Sinne entspricht.78 Diesem Begriff der Amphibolie ist also nachzuspüren und seine genaue Bedeutung ist aufzuklären. Weitere allzu offensichtliche Widersprüche in Ibn Bāǧǧas Aussagen über die Definition der Seele betreffen die folgenden Punkte: (2) Zunächst wird die vollkommenste Art der Definition, die für die Seele erreicht werden soll, als diejenige bezeichnet, bei deren Herleitung ein absoluter Beweis verwendet wird und die die Form eines »in seiner Stellung veränderten Beweises« annimmt (N I. 10). Anschließend aber erklärt Ibn Bāǧǧa, dass der Beweis zur Gewinnung der Seelendefinition nicht taugt, und zwar gerade weil sie äquivok ist. Stattdessen wird nun die Methode der »Zusammensetzung« empfohlen (N I. 15). (3) Zusammen mit dem Beweis schließt Ibn Bāǧǧa auch die »Einteilung« als Definitionsmethode für die Seele aus (N I. 15). Dennoch bemerkt er wenig später mit Blick auf die aristotelische Seelendefinition (N I. 18): »Wenn wir die Einteilung anwenden, die wir zuvor dargelegt haben, so folgt daraus, dass die Seele Entelechie eines natürlichen, organischen Körpers ist.« Und in der Tat konnten wir in Abschnitt 2 feststellen, dass er sich hier ebenso wie Aristoteles der Dihairesis bedient, ja diese Dihairesis als durch Platon entwickelte und durch Aristoteles vollendete Bestimmung der Seele darstellt. (4) Die Einteilung soll laut Ibn Bāǧǧa unter anderem deshalb nicht möglich sein, weil die Gattung, in die die Seele einzuordnen ist, unbekannt ist (N I. 15). Dennoch behauptet er, der erste Schritt zum Auffinden der Seelendefinition bestünde in der Bestimmung der Gattung (N I. 14). Indem wir die vier hier benannten Konzepte – Amphibolie, in seiner Stellung veränderter Beweis, Zusammensetzung und Gattung – klären, wird sich zeigen, wie Ibn Bāǧǧa anhand wissenschaftstheoretischer Überlegungen al-Fārābīs feststellt, welches Wissen die Psychologie angemessenerweise von der Seele erbringt und wie.
78Vgl. in diesem Sinne auch N II. 9.
Die Wissenschaftstheorie al-Fārābīs: Welches Wissen von der Seele?
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3.2. Amphibolie und Gattungsbegriff Insbesondere in Zusammenhang mit der Aufdeckung der Vorgeschichte der sogenannten »Analogie des Seins«,79 wie sie in der Philosophie des lateinischen Mittelalters auftaucht, hat sich gezeigt, dass die arabische Philosophie, in Anlehnung an die spätantiken Kommentare zu den Kategorien, die von Aristoteles summarisch behandelte Namensgleichheit (Homonymie) ausdifferenziert hat.80 Vor allem al-Fārābī als einflussreichster arabischer Logiker hat hier mit seiner Unterscheidung einer »mittleren« (mutawassiṭa) Klasse von Bezeichnungen zwischen strikter Univokation (mā yuqālu bi-tawāṭuʾ) und der Äquivokation im Sinne bloßer Namensgleichheit einen entscheidenden Beitrag geleistet.81 Die von al-Fārābī verwendete Terminologie und auch die genaue Gruppierung der verschiedenen Typen von Namensgleichheit variiert zwar in seinen Schriften beträchtlich, aber zumindest an einer Stellen verwendet er die Bezeichnung bil-taškīk – wörtlich: »in mehrdeutiger Weise« – für diese mittlere Klasse.82 Nach Wolfson übersetzen dieser Ausdruck und weitere von derselben Wortwurzel das griechische ἀμφίβολος.83 Am ausführlichsten behandelt al-Fārābī die verschiedenen Bezeichnungsverhältnisse in seinem Kompendium zu Perihermeneias, Kitāb al-ʿibāra.84 Obgleich al-Fārābī dort den Ausdruck »amphibolisch« nicht verwendet, führt Ibn Bāǧǧa ihn in seinem Kommentar zu dieser Schrift ein, wenn er al-Fārābīs Ausführungen zusammenfasst.85 Er tut dies, indem er al-Fārābīs eher nebeneinander stehende Bestimmungen der verschiedenen Bezeichnungstypen in einen hierarchischen Baum einordnet:
79Vgl. insbesondere Alain de Libera, Les sources gréco-arabes de la théorie médiévale de l’analogie de l’être, in: Les études philosophiques 3–4 (1989), 319–345. 80Aristoteles, Kategorien, 1, 1a1–15. 81H. A. Wolfson, The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy and Maimonides, in: ders., Studies in the History of Philosophy and Religion, Bd. 1, ed. I. Twersky, Cambridge (Mass.) 1973 [Erstveröffentlichung 1938], 455–477; Vallat, Alfarabi et l’école d’Alexandrie, 347– 365: »Appendice: L’analogie de l’être«, insbesondere 347–351. 82al-Fārābī, Fī aġrāḍ mā baʿd al-ṭabīʿa, in: Alfārābī’s Philosophische Abhandlungen, ed. Dieterici, 37, 6–8. 83Wolfson, The Amphibolous Terms, insbesondere 169–172. 84al-Fārābī, Kitāb fī l-manṭiq. al-ʿIbāra, ed. Muḥammad Salīm Sālim, Beirut 1976, 19, 4–25, 3. 85Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 148, 19–150, 2; Dānišpažūh, al-Manṭiqīyāt li-l-Fārābī, 167, 24–169, 5.
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Die Definition der Seele Äquivoke Bezeichnungen (al-asmāʾ al-muštaraka)
Äquivoke Bezeichnungen im engeren Sinne
bezeichnen eine Intention (taštarik bi-maʿnā)
(al-ism al-muštarak fī l-ḥaqīqa)
bezeichnen ein gemeinsames Akzidenz
bezeichnen das Wesen im weiteren/engeren Sinne
(taštariku bi-maʿnā… yadullu ʿalā ʿaraḍ)
(bi-ʿumūm wa-ḫuṣūṣ)
Metapher
feststehende Bezeichnung
(al-ism al-mustaʿār)
(al-ism al-ṯābit al-muštarak)
übertragene Bezeichnung (manqūl)
primär für Mehreres eingesetzte Bezeichnung = Amphibola (al-asmāʾ al-mušakkika)
Wie man der vorstehenden Skizze entnehmen kann, tauchen die Amphibola auf der fünften Ebene dieses porphyrianischen Baumes auf, sodass sie also durch ebenso viele Differenzierungen hindurchgehen, die jede etwas zu ihrer Bestimmung beitragen: (1) Die äquivoken Bezeichnungen im weiteren Sinne, mit denen der Baum beginnt, bestimmt Ibn Bāǧǧa in Abgrenzung von univoken Bezeichnungen (gleicher Name, dieselbe Intention) und Synoymen (al-asmāʾ al-mutarādifa: verschiedene Namen, dieselbe Intention). Hier ist die Bezeichnung dieselbe, während der bezeichnete Sachgehalt, die »Intention« (maʿnā), verschieden ist und dementsprechend auch die Definition.86 (2) Nun können die verschiedenen Intentionen entweder jeder Gemeinsamkeit entbehren, dann handelt es sich um äquivoke Bezeichnungen im engeren Sinne, oder aber die 86Anders als die aristotelische Tradition spricht al-Fārābī nicht von Dingen, die in Bezug auf die Benennung übereinstimmen oder von einander abweichen, sondern umgekehrt von Ausdrücken, die in ihrer Bezeichnung übereinstimmen oder von einander abweichen; vgl. AlFarabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De Interpretatione, translated with an introduction and notes by F. W. Zimmermann, London–Oxford 1981, 228, Anm. 3.
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verschiedenen Intentionen haben doch eine (gewisse) Intention gemeinsam. Die Amphibola fallen in diese letztere Klasse. (3) Sie wird weiter unterschieden, insofern die gemeinsame Intention die Bezeichneten mehr oder weniger »konstituieren« (yuqawwim) kann, also ihr »Wesen« (ḏāt) betrifft, oder aber sich nur auf ein Akzidenz (ʿaraḍ) der Bezeichneten bezieht. Im ersteren Fall hat man es mit Bezeichnungen zu tun, die einen weiteren und einen engeren Sinn haben und die offenbar deshalb nicht univok sind, weil sie, obgleich sie ein Wesen betreffen, von den verschiedenen Bezeichneten mehr oder weniger zutreffen, wie es das Beispiel des Namens »äquivoke Bezeichnung« selbst demonstriert. Die Amphibola nun gehören in die zweite Gruppe, wo die gemeinsame Intention nur ein Akzidenz der Bezeichneten ist. In diesem Zusammenhang trifft Ibn Bāǧǧa die wohl interessanteste Bestimmung innerhalb dieser Einteilung: [T 11] »Es hat eine Intention gemeinsam, wobei das, was sie bezeichnet, nicht zum Wesen jedes einzelnen dessen gehört, wovon es ausgesagt wird, vielmehr bezeichnet es nur irgendein Akzidenz, und es bezeichnet von jedem einzelnen das Wesen, welches dieses Akzidenz nicht konstituiert. Dieser Name bezeichnet also zwei Intentionen: das Wesen jedes einzelnen und eine gemeinsame Intention.«87 Die Amphibola gehören also zu jenen Bezeichnungen, die zwar auf das Wesen des Bezeichneten zielen, dieses aber unter Bezug auf ein Akzidenz, welches das Bezeichnete mit anderem teilt. Die weiteren Einteilungen betreffen nun vor allem das Zustandekommen der Namensgleichheit.88 (4) Und zwar kann innerhalb der zuletzt beschriebenen Gruppe die äquivoke Bezeichnung entweder auf einer vorübergehenden Entlehnung beruhen, dann handelt es sich um eine Metapher, oder sie kann feststehen. (5) Wenn sie feststeht, dann lässt sich wiederum unterscheiden zwischen Fällen, in denen primär ein Bezeichnetes den entsprechenden Namen besaß und dieser dann sekundär auf anderes übertragen wurde, und zwischen solchen Fällen, in denen bei der hypothetischen Institution (waḍʿ) der Sprache bereits die gleiche Bezeichnung gewählt wurde »wegen ihrer Gemeinsamkeit in Bezug auf dieses Akzidenz«. Diese letztere Gruppe bilden die Amphibola, bei denen also vorausgesetzt wird, dass die gemeinsame Intention doch so wichtig ist, dass sie zu einer bewusst gesetzten Namensgleichheit geführt hat.
87Taʿālīq Ibn Bāǧǧa ʿalā manṭiq al-Fārābī, ed. Faḫrī, 149, 11–14. 88Die Sprachentwicklung als Unterscheidungsmerkmal für Homonyme von übertragenen Bezeichnungen hat al-Fārābī eingeführt; vgl. Al-Farabi’s Commentary and Short Treatise on Aristotle’s De Interpretatione, übers. Zimmermann, 228f.
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Das wird besonders deutlich, wenn man sich die Beispiele ansieht, die Ibn Bāǧǧa anführt. Er erklärt nämlich, dass die Amphibola sich häufig »übertreffen in Bezug auf Nähe und Ferne dessen, was sie gemeinsam haben, zu ihrem Wesen« (tatafāḍalu bi-qurb mā taštariku fīhi fī ḏawātihā wa-buʿdihī), und bringt als Beispiele nicht nur etwa das Nützliche und Schädliche, sondern auch »seiend« (mauǧūd) und »eines« (wāḥid), die von allen zehn Kategorien ausgesagt werden. Dabei wiederholt Ibn Bāǧǧa nochmals, dass ihnen ein Akzidenz gemeinsam ist, während ihr Wesen unterschiedlich konstituiert werde. Aus al-Fārābīs Darstellung kann man hinzufügen, dass die Weise, in der sich die unterschiedlichen Bezeichneten hier übertreffen, als »Rangordnung« (tartīb) und »Analogie« (tanāsub) zu verstehen ist.89 In einer weiteren kurzen Kommentarschrift zu al-Fārābīs Kitāb al-ʿibāra, die wohl aus dem Umfeld Ibn Bāǧǧas stammt, ist die entsprechende Aussage folgendermaßen kommentiert: [T 12] »Er hat gesagt: ›Das gehört unter den äquivoken Bezeichnungen zu denen, die nach Rangordnung und Analogie ausgesagt werden.‹ Dies ist die amphibolische Bezeichnung [al-ism al-mušakkik], sie wird in Wahrheit von Mehrerem ausgesagt und bezeichnet eine einzige Intention, die ihnen gemeinsam ist, nur dass sie einander in bezug auf diese Intention übertreffen, so dass einige von ihnen dieser Bezeichnung würdiger sind als andere, entsprechend ihres Vorzugs in Bezug auf die Intention.«90 Es ist nun einigermaßen erstaunlich, dass zwischen den verschiedenen Gattungen des Seienden nicht mehr als eine Kommunität des Akzidenz bestehen soll, dass Substanz und Qualität etwa nur akzidentell Seiende sein sollen. Und ebenso auf die Seele bezogen, dass der Begriff »Seele« nur ein akzidentelles Moment an den verschiedenen Vermögen bezeichnet, denn das würde bedeuten, dass die verschiedenen in der Psychologie zusammengefassten Untersuchungen nur eine akzidentelle Einheit und somit eben keine einheitliche Wissenschaft bilden. Man muss daher die wiederholten Hinweise darauf, dass das Wesen mitbezeichnet
89Vgl. al-Fārābī, Kitāb al-manṭiq. al-ʿIbāra, ed. Sālim, 24, 13–25, 3. 90Kitāb Bārī armīniyās wa-huwa al-ʿibāra, überliefert zusammen mit den logischen Abhandlungen Ibn Bāǧǧas in MS Madrid, Escorial, arab. 612, ff. 120r–124v und von Dānišpažūh, alManṭiqīyāt li-l-Fārābī, 191–204, Ibn Bāǧǧa zugeschrieben (Zitat 203, 4–7). Laut dem Inhaltsverzeichnis auf f. 6r stammt dieser Text jedoch von einem gewissen »al-Ǧurǧānī«, den Gutas, Aspects of Literary Form, 54, Anm. 135, als den persischen Arzt Zain al-Dīn al-Ǧurǧānī (gest. 531/1136) identifiziert. Da solche logischen Werke Zain al-Dīns sonst nicht bezeugt sind, erscheint es jedoch viel wahrscheinlicher, dass ihr Autor der in al-Andalus lebende Abū l-Futūḥ Ṯābit ibn Muḥammad al-Ǧurǧānī (gest. 431/1039) ist, den Ibn Ḥazm zu seinen Lehrern in Logik zählt und dessen Schülerschaft bei Ibn al-Samḥ, also in der Bagdad-Schule, er bezeugt; vgl. zu ihm Lameer, Ibn Ḥazm’s Logical Pedigree, 424f.
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wird und dass das Akzidenz dem Wesen mehr oder weniger nah sein kann, unterstreichen. Ein kurzer Auszug aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik hilft hier weiter, denn nicht nur wird dort ein direkter Bezug zur Definition hergestellt, sondern es tauchen auch genau die gleichen Beispiele des »Mehrfachen« (al-kaṯīr) und des »Doppelten« (al-ḍiʿf ) auf, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele verwendet, um die Amphibolie des Begriffes »Seele« zu veranschaulichen (N I. 6). Ibn Bāǧǧa kommt auf die verschiedenen Typen der Äquivokation zu sprechen und stellt dem schlechthin Äquivoken Folgendes gegenüber: [T 13] »Oder sie haben die meisten Teile der Definition gemeinsam und unterscheiden sich in Bezug auf einen ihrer Teile, welcher Teil es auch immer sei. Und manchmal gibt es noch eine andere Weise, nämlich dass zwei Intentionen mit einem einzigen Namen bezeichnet werden, während ihre Definitionen aus [mehreren] Intentionen zusammengesetzt sind, die mit einem einzigen Wort bezeichnet werden, wie das beim Mehrfachen und beim Doppelten und ähnlichem geschieht. Sie gehören zu den mittleren Bezeichnungen, und zwar werden sie als äquivoke Begriffe bezeichnet.«91 Beide Unterklassen sind von uns hier von Interesse. Die erste bezeugt nämlich, dass die Verhältnisse zwischen den äquivok Bezeichneten unter Umständen auch so aussehen können, dass ihre Definition teilweise, wenn auch eben nicht vollständig übereinstimmt. Mehr als eine akzidentelle Gemeinsamkeit liegt hier eine Teilübereinstimmung der Wesenseigenschaften vor. Ob dies auch für die zweite Unterklasse gilt, ist nicht vollends deutlich, liegt aber zumindest nahe. Ihre Beschreibung nämlich muss wohl folgendermaßen gedeutet werden: Will man das Mehrfache und Doppelte definieren, so zeigt sich, dass sie aus mehreren Intentionen zusammengesetzt sind, denn was »mehrfach« oder »doppelt« jeweils bedeutet, hängt ab von dem Bereich, indem sie jeweils angewandt werden (Quantität oder Qualität zum Beispiel), und es hängt ab vom Bezugspunkt, denn es handelt sich um bestimmte Relationen. All dies hätte in die Definition einer genauen Spezies von Doppeltem oder Mehrfachen einzugehen, wobei gleichzeitig unbestreitbar ist, dass sie unabhängig von diesen Spezifikationen etwas wesentlich Gemeinsames meinen, dass sich rein formal (nämlich mathematisch) als
91Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 134, 8–12; in Zeile 11 ist mit MS B, f. 39v [arab.], Zeile 7 al-ḍiʿf statt al-ḍaʿīf zu lesen. Dies dürfte im übrigen schon deshalb gewiss sein, weil Ibn Bāǧǧa damit lediglich das von Aristoteles, Physik VII. 4, 248b12–15, selbst benutzte Beispiel aufnimmt. Obgleich beide Handschriften al-muštaraka aqwāluhā lesen, sind wahrscheinlich hier die Amphibola, also al-mušakkika aqwāluhā gemeint, denn es geht ja gerade um die Unterteilung der äquivoken Bezeichnungen und die äquivoken im engeren Sinne sind ja augenscheinlich nicht gemeint.
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Multiplikation ausdrücken lässt. Auch hier wäre also eine Teilübereinstimmung der Definition gegeben. Dementsprechend lässt sich nun Ibn Bāǧǧas Verwendung dieses Beispiels zur Erläuterung der Äquivokation des Seelenbegriffs und dessen Klassifizierung als amphibolisch so interpretieren: Ibn Bāǧǧa nennt nicht nur den Begriff »Seele« amphibolisch, sondern er präzisiert auch, dass die Bestandteile der Seelendefinition, nämlich die Begriffe der Entelechie, des Körpers und des Organs ebenfalls amphibolisch sind (N I. 6). Ja, er nimmt es damit so genau, dass er hinzufügt, die Bestimmung »natürlich« trage nichts zur Eindeutigkeit bei, weil sie nur ein klärendes Synonym sei (N I. 18) – und zwar offenbar zu »organisch«, um klarzustellen, dass nicht ein technisches »Organ« (Werkzeug) gemeint sei, sondern tatsächlich ein Organ im biologischen Sinne. »Seele« und »Entelechie« sind also offenbar ebenso Verhältnisbegriffe wie »Doppeltes« und »Mehrfaches«, die je einen anderen Sinn annehmen, je nachdem für welchen Körper, für welche Organe sie Form sind. Indem Ibn Bāǧǧa nun fordert, die einzelnen Seelentypen oder Vermögen durch solche Variationen der allgemeinen Seelendefinition zu bestimmen, in denen der allgemeine Ausdruck »Seele« jeweils durch den spezifischen Seelentyp, der allgemeine Ausdruck »organischer Körper« jeweils durch die spezifische körperliche Organisationsform ersetzt wird, muss er näherhin auf folgende Ähnlichkeit abzielen: Das Doppelte oder das Vielfache ist je etwas anderes, abhängig davon, auf welches Einfache es sich bezieht. Ebenso ist die Seele je etwas anderes, abhängig davon, zu welchem Körper und zu welchen Organen sie als Form gehört. Der Begriff der Seele bezeichnet keine einheitliche Natur, und keine Definition trifft in einheitlicher Weise auf alles »Seele« Genannte zu (N I. 18). Dasselbe gilt vom Doppelten und Vielfachen; das Doppelte von x ist nicht das gleiche wie das Doppelte von y, zwei Bücher und vier Stühle haben nichts miteinander gemein, sicherlich keine gemeinsame Natur und keine einheitliche Definition. Dennoch gibt es hier ein Element der Gemeinsamkeit, das uns bedeutend genug erscheint, um beide ein Doppeltes zu nennen, die Funktion der Verdopplung nämlich, die aus einem Buch zwei und aus zwei Stühlen vier macht. Gleichwohl wäre es unsinnig zu behaupten, der Begriff des Doppelten sei eindeutig, univok, und werde gleichbedeutend von allem Doppelten ausgesagt. Das Doppelte stellt keine einheitliche Gattung dar, welche die verschiedenen Fälle von Dopplung als Spezies unter sich enthielte, aber es ist doch nicht soweit äquivok, dass eine Rede von »dem Doppelten« unabhängig von den einzelnen Fällen von Dopplung sinnlos oder auch nur überflüssig wäre. Das gleiche muss dann von der Seele gelten: Der Begriff »Seele« ist kein Gattungsbegriff, aber er sagt doch in bedeutungsvoller Weise etwas Gemeinsames von den verschiedenen Vermögen aus. Der von al-Fārābī und Ibn Bāǧǧa ausdrücklich angesprochene Begriff des Seienden macht nochmals deutlich, dass man mit der Frage nach der Art der Äquivokation des Seelenbegriffs den Kernbereich der aristotelischen Ontologie berührt. Indessen sind die beiden Fälle doch verschieden. H. J. Krämer hat ge-
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zeigt, dass Aristoteles in Auseinandersetzung mit aber auch in Anknüpfung an Gedankengut der Akademie verschiedene Beziehungsgefüge beschreibt, die sich der Univozität einer Gattung entziehen, ohne doch Fälle bloßer Namensgleichheit darzustellen.92 Er unterscheidet drei Typen solcher Beziehungen, erstens die Analogie, zweitens die πρός-ἕν-Relation und drittens die ἐφεξῆς-Relation. Gemeinsam ist allen diesen Typen, dass die Glieder nicht gleichgeordnet sind wie die Spezies in der ihnen übergeordneten Gattung, sondern in einem Verhältnis von früher und später stehen. Bei den Kategorien des Seins nun liegt eine πρόςἕν-Relation vor, sie erhalten ihre Einheit dadurch, dass neun Kategorien auf die erste, die Kategorie der Substanz, bezogen sind und sich von dieser her bestimmen. Die ἐφεξῆς-Relation dagegen ist eine Reihenstruktur, bei der die einzelnen Glieder in eine festgefügte Ordnung eingelassen sind.93 Eines der klassischen Beispiele für dieses Verhältnis ist nun aber gerade dasjenige der verschiedenen Seelenvermögen, wie Aristoteles es in De anima II. 3 im Vergleich mit der Reihe geometrischer Figuren – Dreieck, Viereck, u.s.w. – diskutiert.94 Bereits in der Einleitung hatte Aristoteles die Frage aufgeworfen, ob der Begriff der Seele einer sei wie der Gattungsbegriff Lebewesen, oder ob der Begriff jeder Seele ein anderer sei wie die Begriffe einzelner Lebewesen – Pferd, Mensch, Hund, Gott – während das Lebewesen im allgemeinen »entweder nichts oder später ist«.95 Eine einleuchtende Erklärung der Stelle gibt Alexander in einer Quaestio, so wie er sie nach eigenem Bekunden auch in seinem (verlorenen) Kommentar zu De anima vorgetragen hat: Die übergeordnete Frage ist, ob es einen gemeinsamen, generischen Begriff von der Seele gibt oder nur einzelne Begriffe von den verschiedenen Arten von Seele. Der Vergleich mit dem Begriff des Lebewesens drückt aus, dass »Seele« nur ein gemeinsamer Name ist, keine reale Gemeinsamkeit. Wäre »Lebewesen« nämlich nicht die Gattung von Pferd, Hund, Mensch und Gott, dann hätten sie jeweils einen eigenen Begriff, und »Lebewesen«, von ihnen allen ausgesagt, würde keine eigentümliche Natur bezeichnen, sondern wäre äquivok, oder allenfalls würde es zu den Dingen gehören, die in mehrfacher Bedeutung ausgesagt werden und bei denen ein früher-später-Verhältnis besteht. Denn in diesen Fällen wird zwar eine bestimmte Natur bezeichnet, die aber in allen so bezeichneten Gegenständen in einem je anderen Zustand vorliegt. In diesem Sinne wäre der allgemeine Begriff später. Genau dies trifft, wie Aristoteles – in De anima II. 3 – zeigen wird, auf die Seele und ihren allgemeinen Begriff zu.96 92H. J. Krämer, Zur geschichtlichen Stellung der aristotelischen Metaphysik, in: Kant Studien 58 (1967), 313–354, hierin besonders der zweite Teil zur Ontologie, 337–354. 93Beide sind unterschieden in: Aristoteles, Metaphysik, IV. 2, 1005a10f. 94Aristoteles, De anima, II. 3, 414b20–33. 95Aristoteles, De anima, I. 1, 402b5–9. 96Alexander of Aphrodisias, Quaestiones 1.1–2.15, translated by R. W. Sharples, Ithaca 1992, 50–55 (Quaestio 1.11). Ähnlich Simplicii in libros Aristotelis de anima commentaria, ed. Hay-
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Aristoteles sagt dort das Folgende: Der Begriff der Seele ist in derselben Weise einer wie der Begriff der Figur. Wie es keine Figur neben dem Dreieck und den folgenden Figuren (τά ἐφεξῆς) gibt, so auch keine Seele neben den genannten Seelenvermögen. Ein Begriff, der auf alle Figuren anwendbar sein soll, kann nicht der eigentümliche (ἴδιος) Begriff einer besonderen Figur sein; ebenso bei den Seelen. »Daher ist es lächerlich – bei diesen, wie auch bei anderen Dingen – den gemeinsamen Begriff zu suchen, der von keinem der Seienden der eigentümliche Begriff sein soll, noch nach der entsprechenden und unteilbaren Art, den sobeschaffenen vernachlässigend.«97 Soviel zur Beschränktheit des allgemeinen Begriffs. Mit den folgenden Worten gibt Aristoteles dann sowohl ihre Ursache an als auch den Zusammenhang, der dennoch zwischen den einzelnen Seelen besteht: Es ist beim Nachfolgenden (ἐφεξῆς) immer der Fall, dass das Frühere in ihm der Möglichkeit nach enthalten ist, etwa im Viereck das Dreieck und im Wahrnehmungsvermögen das Nährvermögen. Daher muss man die Seelen der Pflanze, des Tiers und des Menschen im Einzelnen untersuchen.98 Die genaue Deutung dieser Passage ist umstritten.99 Ich halte die Erklärung von A. C. Lloyd für die beste, weil sie den Text konsequent in Hinblick auf die angestrebte Unterscheidung des allgemeinen Seelenbegriffs von einem gewöhnlichen Gattungsbegriff deutet.100 Demnach sagt Aristoteles, dass die Einzelseeduck, 13, 1–24. Themistios (Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 3, 31–4, 11) hebt in seiner Paraphrase ganz das Universalienproblem in den Vordergrund, ohne auf den Unterschied zwischen dem im Fall des Seelenbegriffs vorliegenden Begriffsgefüge und dem Gattungsbegriff einzugehen. In deutlicher Abhängigkeit von Themistios geht so auch Ibn Rušd vor; vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 12, 21–43 (I. c. 8). In Behandlung des Vergleichs des Seelenbegriffs mit dem Begriff der Figur nimmt aber dann auch Themistios auf das früher-später-Verhältnis Bezug, ob er die Erklärung selbständig entwickelt oder sich an Alexanders Quaestio, seine Seelenschrift oder seinen De anima-Kommentar anlehnt, braucht hier nicht geklärt zu werden. Sharples’ Behauptung (50, Anm. 126), dass Themistios keine Spur von Alexanders (erstem) Argument erkennen lässt, trifft jedenfalls nur die Paraphrase von De anima, I. 1. Inhaltlich bietet er aber De anima, II. 3, 48, 7ff die gleiche Erklärung. 97Aristoteles, De anima, II. 3, 414b20–28; Zitat 25–28, meine Übersetzung. 98Aristoteles, De anima, II. 3, 414b28–33. 99Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen von den griechischen Kommentatoren vorgeschlagenen Lösungen erhält man bei Aristote, Traité de l’âme, traduit et annoté par G. Rodier, Paris 1900, Bd. 2, 218–220. Eine rezente Arbeit zum Thema, die auch die Positionen der modernen Interpreten berücksichtigt, ist Martin Achard, Épistémologie et pratique de la science chez Aristote. Les Seconds Analytiques et la définition de l’âme dans le De anima, Paris 2004, insbesondere Kapitel 3, 151–182. Seine eigene Lösung ist aber nicht vollständig überzeugend, weil sie Aristoteles’ Argumentationsstrategie teilweise ignoriert, die eindeutig beinhaltet, dass die generelle Definition von Seele und Figur verschieden ist von derjenigen »gewöhnlicher« Genera. 100A. C. Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, in: Phronesis 7 (1962), 67–90, hier 72–75. In der Feststellung der genannten Zielrichtung der Argumentation sind sich die Kommentatoren weitgehend einig; siehe aber die von Achard, Épistémologie et pratique, doku-
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len, weil sie in einer ἐφεξῆς-Relation zueinander stehen, keinen gemeinsamen Gattungsbegriff haben können, denn in diesen Fällen gibt es keinen solchen gemeinsamen Begriff neben den eigentümlichen Begriffen der einzelnen Glieder. Ein möglicher allgemeiner Begriff, wie Aristoteles ihn in De anima II. 1 aufgestellt hat, ist deshalb kein eigentümlicher, kein vollbestimmter Begriff. Es wäre lächerlich, nur diesen allgemeinen Begriff zu suchen, der von nichts, nicht einmal von der hier ja nicht vorhandenen Gattung, der eigentümliche Begriff ist, ohne nach den eigentümlichen Begriffen der verschiedenen Seelen zu forschen. Weil sich die Seelenvermögen beziehungsweise Seelen in einer solchen Ordnung zueinander befinden, wie Aristoteles im Anschluss mehr an Beispielen als theoretisch erläutert, dass das jeweils höhere Vermögen die niederen voraussetzt und der Möglichkeit nach enthält, nicht jedoch umgekehrt,101 deshalb bilden sie genau so eine ἐφεξῆς -Relation, ermangeln der Gattung und sind jede einzeln zu untersuchen. Warum aber schließt eine solche Relation das Vorhandensein eines Gattungsbegriffs aus? Aristoteles erklärt das nicht.102 Die bereits referierte Erklärung, die Ibn Bāǧǧa bei Alexander lesen konnte, nämlich dass Dinge, die sich in der beschriebenen Ordnung (τάξις) zueinander befinden, keine ganz klare und allgemeine Definition haben können, weil die Natur einer Sache am besten im Vollkommensten zum Ausdruck komme, dann jedoch nicht auf die geringeren Perfektionsgrade passe103 – diese Erklärung ist, wie Lloyd bemerkt, unbefriedigend, weil aus der metaphysischen Tatsache der Vollkommenheitsordnung, nicht zwingend auf die Unmöglichkeit eines Gattungsbegriffs geschlossen werden kann.104 Man denke nur daran, dass Tier und Mensch nach Aristoteles unterschiedliche Vollkommenheitsstufen besetzen und dennoch beide unter die Gattung Lebewesen fallen; der Gattungsbegriff enthält ja niemals spezifische Charakteristika der unter ihn fallenden Arten. Und obgleich Ibn Bāǧǧa, wie wir gesehen haben, die von Alexander hervorgehobene Vollkommenheitsordnung unter den Vermögen mit Nachdruck übernimmt, sieht er darin keineswegs einen Grund für eine prädikative Hierachie, als wäre das rationale Vermögen mehr Seele als die niederen. Wie Kapitel 6 zeigen wird, ist eher das Gegenteil der Fall. Ibn Bāǧǧa beschreibt die Amphibolie des Seelenbegriffs vielmehr so, dass es nicht möglich sei, mit der allgemeinen »Definition in einer einzigen Weise [bi-naḥw wāḥid] alles abzudecken, von dem die Seele ausgesagt wird«, weil die Vermögen nicht »gleichartig« oder, genauer, nicht »von der gleichen Gattung«
mentierten Gegenstimmen von Thomas von Aquin und De Corte, sowie seine eigene (vgl. die vorhergehende Anmerkung). 101Aristoteles, De anima, II. 3, 415a1–13. 102Vgl. Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, 76. 103Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 18–17, 8; 28, 13–20. 104Vgl. Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, 79.
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[mutaǧānisa] sind (N I. 18). Die Betonung liegt also darauf, dass die allgemeine Definition auf die einzelnen Vermögen in je anderer Weise zutrifft, aber nicht mehr oder weniger. In seiner Begründung, warum die Definition der Seele nicht durch Einteilung oder Beweis gewonnen werden könne, wird Ibn Bāǧǧa noch deutlicher (N I. 15): Es ist unmöglich, irgendeinem Seelentyp Priorität über die anderen zu geben, so dass man ihn zum Modell nehmen und die an ihm gewonnene Definition auf die übrigen Typen übertragen könnte. Ibn Bāǧǧa erklärt, die Begriffe einiger Seelentypen seien »zusammengesetzt aus Dingen, die einander nicht wesentlich zukommen«, und er behauptet, die von den Philosophen vor Aristoteles getroffenen Bestimmungen seien Begriffe, die »einander weder widersprechen, noch unzertrennlich miteinander zusammenhängen«. Das bedeutet mit anderen Worten, dass (zumindest einige) Seelen durch die Kombination mehrerer Merkmale definiert werden müssen, die untereinander keinen – jedenfalls keinen logischen – Zusammenhang besitzen. Dass die allgemeine Definition nicht alle Seelen in gleicher Weise trifft, muss mit dieser Varianz zu tun haben. Alexander hat hierzu in seiner oben zitierten Quaestio eine sehr treffende Beobachtung festgehalten. Wie oben dargestellt, macht er darauf aufmerksam, dass die gewisse Natur, welche die Seelen gemeinsam haben, anders als eine Gattungsnatur nicht in allen Seelen in derselben Weise vorliegt. Das ist auch die Erklärung, die Simplikios in viel ausführlicherer Form zur Deutung des FigurenGleichnisses vorträgt: Der gemeinsame Begriff bleibt nicht konstant, sondern geht in differenzierter Weise in die Begriffe der Spezies ein.105 Themistios deutet das Gleiche an, wenn er sagt, dass Dinge, die sich in einem Früher-späterVerhältnis befinden, keine gemeinsame Gattung haben und »keine einheitliche Natur, die alle in gleicher Weise durchdringt« – eine Aussage, die Ibn Bāǧǧa, wie gesehen, beinahe wörtlich aufnimmt (N I. 18). Ihre Definitionen geben daher keine generische Natur an, sondern bestehen eher in einer vollständigen Auflistung der Einzelfälle.106 Aus welchem Grund aber geht die Quasigattung der ἐφεξῆς-Relation immer in modifizierter Weise in ihre »Spezies« ein, sodass sie nicht univok ausgesagt werden kann? Lloyd macht überzeugend deutlich, dass die Differenzen, die die Quasigattung spezifizieren, jeweils nur für die unmittelbar vorgeordnete »Gattung« (genus proximum), nicht aber für die übergeordnete »Gattung« angemessen sind. Im Fall der Seele, wie bei allen ἐφεξῆς-Relationen, bilden die einzelnen Seelenarten selbst schon so etwas wie ein Gattungsgefüge, so dass die Differenz, die jedes höhere Seelenvermögen bestimmt, angemessenerweise nur auf das ihr vorhergehende Vermögen angewendet werden kann, nicht jedoch auf den 105Simplicii in libros Aristotelis de anima commentaria, ed. Hayduck, 81, 14–82, 10; 106, 33– 107, 35. Vgl. auch Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, 79. 106Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 48, 7–18 (Zitat 9f ).
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allgemeinen Begriff der Seele.107 Um dies noch weiter zu verdeutlichen: Lautet die Definition der Seele »Entelechie eines natürlichen, organischen Körpers«, dann könnte sie wohl durch Angabe der Differenz »der sich ernährt« angemessen spezifiziert werden, nicht aber durch die Differenz »der Wahrnehmung besitzt«, denn Wahrnehmung setzt Ernährung voraus, die Nährseele ist potentiell in der Wahrnehmungsseele enthalten, bildet gleichsam ihre Materie oder ihre Gattung. »Der Wahrnehmung besitzt« differenziert daher die »Entelechie des natürlichen, sich ernährenden, organischen Körpers« in die der wahrnehmenden Körper (Tiere) und der nicht wahrnehmenden (Pflanzen), die allgemeine Seelendefinition dagegen differenziert es nicht. Ist das auch Ibn Bāǧǧas Auffassung? Der Vergleich mit dem Doppelten und Mehrfachen könnte in der Tat auch so gedeutet werden, wie ihn Aristoteles an einer anderen Stelle seines Werkes einsetzt, nämlich dass beide Begriffe selbst in einer ἐφεξῆς-Relation stehen: Das Doppelte ist die erste Art in der Reihe des Mehrfachen und zugleich in allen anderen Arten der Multiplikation virtuell enthalten. Hebt man daher das Doppelte auf, so hebt man alle Arten des Mehrfachen auf. Es gibt keine Gattung des Mehrfachen unabhängig von den einzelnen Typen der Multiplikation, insbesondere von der basalsten.108 Hatte Ibn Bāǧǧa diese Parallele zu den Seelenvermögen im Sinn? Das ist denkbar, aber keineswegs wahrscheinlich, da er sich bei der Wahl des Beispiel eher aus der von ihm selbst kommentierten Stelle der Physik bedient, wo das Beispiel diese Konnotation nicht besitzt. Dafür deutet seine oben angeführte Aussage, die Begriffe einiger Seelen seien »zusammengesetzt aus Dingen, die einander nicht wesentlich zukommen«, in unsere Richtung. Es gibt keinen wesentlichen, sondern nur einen faktischen Zusammenhang zwischen Ernährung und Wahrnehmung, zwischen Wahrnehmung und Denken. Dass das eine Voraussetzung für das andere ist, gehört zu den kontingenten Tatsachen der Natur, die man nur feststellen kann, wie auch Ibn Bāǧǧa es gelegentlich tut: »Diese Art von Existenz in der Materie kann unmöglich in Akt existieren, bevor [das Seiende] in bestimmten Zuständen der Ernährung ist« (N III. 20). Auch bei Aristoteles bleibt das Warum der Ordnung der Seelenvermögen in ihrer ἐφεξῆς-Relation in De anima II. 3 (und später) unbeantwortet.109 Dies ist aber gleichbedeutend mit der Einsicht, dass die Ausbestimmung der Seelenvermögen nicht direkt auf die allgemeine Seelendefinition zurückgreifen kann, sondern jeweils zu der des vorgeordneten Vermögens hinzutreten muss. Dem widerspricht auch nicht, dass Ibn Bāǧǧa als Definition
107Vgl. Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, 78f, 81; siehe auch Kraemer, Zur geschichtlichen Stellung der aristotelischen Metaphysik, 343. 108Vgl. Aristoteles, Eudemische Ethik I. 8, 1218a1–8. Dieser Text war nicht ins Arabische übersetzt. Zur Auslegung dieser Passage siehe Lloyd, Genus, species and ordered series in Aristotle, 70. 109Vgl. Aristoteles, De anima II. 3, 414b33–415a1.
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der wahrnehmungsfähigen Seele vorschlägt: »Entelechie des wahrnehmenden organischen Körpers« – also ohne Erwähnung der Ernährung. Denn anders als Alexander und Themistios nennt Ibn Bāǧǧa nicht nur die allgemeine Seelendefinition äquivok, sondern auch die Begriffe »Körper« und »Organ«, aus denen sie zusammengesetzt sind. Und die Bestimmung dessen, was ein wahrnehmender organischer Körper ist, wird dann auch der Ort sein festzustellen, dass dies auch einer ist, der sich ernährt. »›Seele‹ wird also per prius, per posterius und analog ausgesagt« (N I. 18). Was das für Ibn Bāǧǧa logisch bedeutet, ist nunmehr klar: Die allgemeine Seelendefinition ist nicht mehr als der Anfang einer Definition. Eine spezifische Definition eines Vermögens kann nur gewonnen werden, wenn die (kontingente) natürliche Ordnung der Vermögen beachtet wird und zuvor die niederen Vermögen untersucht werden. Daher stellt er am Ende der ersten Abhandlung des Buchs der Seele fest, dass das Nährvermögen das »älteste der Vermögen der Seele« (N I. 20) und daher der notwendige Anfangspunkt der Untersuchung ist.
3.3. In seiner Stellung veränderter Beweis Was sind nun die Anforderungen, welche die vollständige und präzise Seelendefinition zu erfüllen hat? Ibn Bāǧǧa entfaltet sie ausführlich (N I. 10), und zwar so ausführlich, dass man zunächst den Eindruck gewinnen könnte, es handele sich um einen mit der Seelenthematik kaum noch verbundenen Exkurs in die Definitionstheorie. Schaut man jedoch näher hin, dann gibt es sogar einen konkreten Anknüpfungspunkt für Ibn Bāǧǧas Erläuterungen im Text von De anima. Nach Darstellung der allgemeinen Seelendefinition in Kapitel II. 1 kommt Aristoteles nämlich zu Beginn von II. 2, wo er ausdrücklich einen Neuansatz zur Untersuchung der Seele machen will, auf die angemessene Definition zu sprechen.110 Diese sollte nicht nur das Dass (τό ὅτι), sondern auch die Ursache (αἰτία) angeben. Als Beispiel führt er eine mathematische Definition an: »Quadratur« kann in unzulänglicher Weise so definiert werden, dass man nur angibt, sie bestehe darin, ein flächengleiches Quadrat zu einem gegebenen ungleichseitigen Rechteck zu finden. Von dieser Definition sagt Aristoteles, sie sei nur eine »Konklusion«. Dem steht die Definition gegenüber, die die Ursache angibt, nämlich diejenige, die sagt, wie die Quadratur durchgeführt wird: Man sucht ein Mittel (zwischen den beiden Seiten des Rechtecks). Dass sich Ibn Bāǧǧa auf diese Textpassage bezieht, wird deutlich, wenn man auf zwei Stichworte aus seinen Ausführungen sieht. Er spricht erstens von den Ursachen, die in der Definition angegeben werden sollen, und er erwähnt zweitens (ablehnend) eine Definition, die »Konklusion eines Beweises« ist. 110Aristoteles, De anima II. 2, 413a13–20.
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Was hier gemeint ist, ist nicht ohne weiteres deutlich. Bei Themistios etwa konnte Ibn Bāǧǧa nur eine Paraphrase der Äußerungen des Aristoteles ohne jede nähere Erklärung lesen.111 Auch wenn moderne Interpreten ohne Umschweife die von Aristoteles gemeinten Definitionstypen identifizieren,112 so wird doch kontrovers diskutiert, auf welche der von Aristoteles gegebenen Definitionen der Seele sie zu beziehen sind und was die Textpassage für das Argumentationsgefüge von De anima bedeutet.113 Die von Ibn Bāǧǧa gezogenen Schlussfolgerungen lassen sich aus zwei Abschnitten der ersten Abhandlung des Buchs der Seele ablesen. Der erste (N I. 10) resümiert, wie gesagt, die definitionstheoretischen Grundlagen; der zweite (N I. 14) gibt an, welche Funktionen die verschiedenen Definitionstypen bei der angestrebten vollständigen Definition haben. Im ersten Schritt unterscheidet Ibn Bāǧǧa mehrere Bedeutungen von »Definition«, wobei es ihm darum geht, die Definition (ḥadd) im strengen Sinne von der bloßen »Beschreibung« (rasm) – die hier allerdings nicht ausdrücklich beim Namen genannt wird – zu unterscheiden.114 Das generische Merkmal der verschiedenen »Definitionen« ist, dass es sich um »Bedeutungen« (maʿānī) handelt, deren Anwendungsbereich sich mit der Sache deckt, die also auf alle Dinge einer Art und nur auf diese zutreffen, wie Ibn Bāǧǧa mit einer wörtlich von al-Fārābī entlehnten Formulierung sagt.115 Insofern erfüllen sie alle die Anforderung einer Definition, eine Sache eindeutig zu bestimmen. Dennoch sind sie nicht gleichwertig, denn Definition im eigentlichen Sinne ist nur diejenige, deren Bestandteile Dinge sind, »die eine Sache konstituieren«. Die Rede von der Konstitution ist al-Fārābīs Standardausdruck für die in der Definition angegebenen Wesensbestandteile: Jede mittlere Gattung (und jede Art) wird durch die jeweils unmittelbar vorhergehende Differenz »konstituiert«, durch die folgende differenziert.116 Die Definition gibt Kenntnis vom Wesen der Sache durch das, was sie konstituiert, die Beschreibung dagegen grenzt die Sache von anderen ab durch Dinge, die sie nicht konstituieren, wie etwa den Menschen durch das Proprium »lachend«.117 111Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 44, 1–8. 112Vgl. Aristoteles, De anima, ed. Hicks, Anm. ad 413a14. 113Vgl. Achard, Épistémologie et pratique, Kapitel 2, insbesondere 85ff. 114In seiner Bearbeitung der Zweiten Analytiken bezeichnet al-Fārābī die Beschreibung als »Definition per posterius«, vgl. al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 51, 7–9. 115D. M. Dunlop, Al-Fārābī’s Introductory ›Risālah‹ on Logic, in: The Islamic Quarterly 3 (1957), 224–235, hier 229, 15–25; siehe besonders die Wendung kāna musāwiyan fī l-ḥaml linauʿ mā (Zeile 16f, 20) und die Variante yanʿakisān fī l-ḥaml ʿalā l-nauʿ (Zeile 23). Wie dunkel der Text ohne den Hintergrund der farabianischen Logik bleibt, zeigt die fehlerhafte Übersetzung Maʿṣūmīs, Ibn Bajjah’s ʿIlm al-Nafs, 19: »Definition per prius et posterius is said of meanings all of which are equivocal in their existence and are equally predicated of an object [...]« 116D. M. Dunlop, Al-Fārābī’s Eisagoge, in: The Islamic Quarterly 3 (1956), 117–138, hier 123, 6–20 (§ 10). 117Dunlop, Al-Fārābī’s Eisagoge, 127, 6–20 (§ 18). Vgl. auch D. M. Dunlop, Al-Fārābī’s Introductory Sections on Logic, in: The Islamic Quarterly 2 (1955), 264–282, hier 274, 1–11.
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Die Definition der Seele
Im nächsten Schritt identifiziert Ibn Bāǧǧa nun das, was die definierte Sache konstituiert, als ihre Ursachen,118 und zwar unter ausdrücklichem Bezug auf die vier von Aristoteles unterschiedenen Ursachentypen. Dies entspricht zum einen der in seinem Physik-Kommentar gegebenen Definition der Ursachen: »Bei jeder Sache nun, deren Existenz nur zustande kommt durch die Präsenz eines Dinges dem Wesen nach, da ist dieses Ding die Ursache [sabab] für diese Sache.«119 Zum anderen entspricht es einer präzisen Textstelle in den Zweiten Analytiken, wo Aristoteles im Kontext seiner Überlegungen zur Definition ebenfalls auf die vier Ursachen zu sprechen kommt. Und zwar nimmt er in Kapitel II. 11 die am Beginn des zweiten Buches angestellten Überlegungen zum Wesen des Wissens wieder auf.120 Dabei kommen hier zwei Überlegungen zusammen, die dann auch bereits den Zusammenhang von Definition und Beweis deutlich machen. Zum einen hat Aristoteles nämlich zwei Dinge grundsätzlich unterschieden: das Wissen davon, dass eine Sache besteht oder sich so und so verhält, und das Wissen, warum dies so ist. Beide kommen darin überein, dass sie durch Auffinden des Mittelbegriffs erzielt werden. Dass sich etwas in gewisser Weise verhält, wissen wir, wenn wir wissen, ob es einen Mittelbegriff gibt, der erlaubt auf es zu schließen. Warum es sich so verhält, wissen wir, wenn wir wissen, was dieser Mittelbegriff ist.121 Es ist einleuchtend, dass das zweite Wissen das erste beinhaltet, nicht aber umgekehrt.122 al-Fārābī hat diesen Zusammenhang reformuliert, indem er drei Typen von Beweisen unterschied: den Existenzbeweis, den Ursachenbeweis und den »absoluten Beweis«, der die beiden anderen in sich vereint.123 Der in unserer Passage des Buchs der Seele genannte »absolute Beweis« meint also genau so einen Beweis, bei dem durch Angabe der Ursache im Mittelbegriff Wesen und Existenz der diskutierten Sache zugleich klar werden. Zum anderen kommt hier ins Spiel, was Aristoteles’ Leitfrage für den Großteil des zweiten Buchs der Zweiten Analytiken bildet, nämlich ob Definition und Beweis identisch sind, ob also die Wesenserkenntnis beweisbar ist.124 Der Grund für diese Fragestellung liegt in der zu Beginn des Werkes getroffenen Feststel-
118Zu den von Ibn Bāǧǧa genannten Kriterien für die gesuchten Ursachen – »nah«, »eigentümlich« und »aktuell« – vgl. Alfarabi’s Book of Letters (Kitāb al-ḥurūf). Commentary on Aristotle’s Metaphysics, Arabic Text, edited with introduction and notes by Muhsin Mahdi, Beirut 1969, 169, 2–15 (§ 168); al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 28f. 119Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 24, 14f; die Kernformulierung »deren Existenz nur zustande kommt durch die Präsenz eines Dinges dem Wesen nach« lautet arabisch lā yaltaʾimu wuǧūduhū illā bi-ḥuḍūr amr bi-l-ḏāt. 120Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 11, 94a20–24. 121Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 1–2, 89b23–90a1. 122Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 8, 93a16–20. 123al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 25, 10–26, 14. 124Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 2–3, 89a35–90b3.
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lung, dass nicht alles Wissen bewiesen werden kann, sondern dass es vielmehr erste Annahmen und Grundsätze gibt, auf denen alles weitere Wissen aufbauen muss.125 Definitionen nun sind solche ersten Ausgangspunkte.126 Aristoteles zeigt aber, dass sich der Unterschied zwischen dem voraussetzungslos Angenommenen und dem Bewiesenen auch auf Definitionen ausdehnen lässt. Wenn sich Definitionen auch nicht im strikten Sinne beweisen lassen, so können durch Beweis oder andere Methoden Begriffsbestimmungen doch geklärt werden. Das, was von seiner Ursache nicht verschieden ist, dessen Begriff kann nicht weiter aufgeklärt werden, während anderes durch Angabe seiner Ursache bestimmt werden kann.127 Es gibt daher einerseits unvermittelte und primäre Definitionen und andererseits solche, die »auf andere Weise« gewonnen werden128 oder, in Ibn Bāǧǧas Worten in dem uns vorliegenden Text, »gegebene« und »abgeleitete«. Nachdem Aristoteles gezeigt hat, dass Definition und Beweisschluss weder identisch sind, noch Definitionen sich beweisen lassen, bleibt die Frage offen, worin sich dann eine wahre Definition von einer mehr oder minder beliebigen Worterklärung unterscheidet.129 Aristoteles’ Antwort lautet, dass eine Definition, wenn sie nicht im erläuterten Sinne primär und voraussetzungslos ist, zwar nicht bewiesen aber durch einen Beweis aufgezeigt werden kann. Dabei geht er wieder von dem Gedanken aus, dass die Definitionsfrage »Was ist...?« sich auf das gleiche Ziel richtet wie die Suche nach dem Mittelbegriff eines Beweises, denn der Mittelbegriff gibt die Ursache an, warum etwas ist, wie es ist. So ist die Frage, was Donner ist und warum es donnert, wesentlich die gleiche. Auf die erste lässt sich antworten ›Donner ist Auslöschung von Feuer in einer Wolke‹, auf die zweite ›Es donnert, weil das Feuer in der Wolke ausgelöscht wird‹.130 Beide Überlegungen vereinigen sich also in der Betrachtung der Funktion des Mittelbegriffs – im Hinblick auf den Inhalt macht sich an ihm das Wissen von Tatsachen oder Gründen fest, im Hinblick auf die Form der Unterschied von Definition und Beweis. Vor diesem Hintergrund versucht Aristoteles, verschieden aussagekräftige Definitionen ebenso zu unterscheiden, wie er zuvor zwischen Wissen-dass und Wissen-warum unterschieden hat. Insgesamt präsentiert er drei mögliche Typen von Definition: »Somit ist also ›Begriffsbestimmung‹ einmal: Erklärungsrede des ›was es ist‹ ohne Beweisführung, ein andermal: Schluß auf das ›was es ist‹, in der Wortabwandlung unterschieden vom Beweis, und ein drittes Mal: Schlußsatz des auf das ›was es ist‹ zielenden Beweises.«131 Hier haben wir also die Definition als »in seiner Stellung veränderten Beweis«, der Ibn 125Aristoteles, Zweite Analytiken, I. 2–3. 126Aristoteles, Zweite Analytiken, I. 2, 72a14–24. 127Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 8, 93a3–9. 128Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 9. 129Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 7. 130Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 2, 90a14–34; II. 8, Beispiel 93b3–9. 131Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 10, 94a11–14 (Übers. Zekl), vgl. 93b29–94a10.
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Die Definition der Seele
Bāǧǧa die Definition als »Konklusion eines Beweises« gegenüberstellt. In prägnanter Weise sind diese Zusammenhänge wiederum in al-Fārābīs Bearbeitung der Zweiten Analytiken dargestellt: [Z 4] »Die vollständigen Teile der Definition, die durch eine Aussage bezeichnet werden und die mit dem Definierten äquivalent sind, können manchmal jeder einzeln für sich als Definition für das Definierte genommen werden. Der spätere von diesen beiden Teilen wird als Definition bezeichnet, die Konklusion eines Beweises ist, und der frühere von beiden wird als Definition bezeichnet, die Prinzip eines Beweises ist. Beide zusammen werden als Definition bezeichnet, die ein in seiner Stellung veränderter Beweis ist. Dies ist die vollkommenste Definition, denn es gibt keinen Unterschied zwischen dieser Definition und dem Beweis außer in der Reihenfolge seiner Teile. Wenn dies nun so ist, dann ist es möglich, wenn die Sache durch einen absoluten Beweis bewiesen wurde, dass die Teile des Beweises selbst als Teile der Definition genommen werden.«132 Mit den »vollständigen Teilen« der Definition meint al-Fārābī – eine spätere Parallelstelle bestätigt das – Gattung und Differenz.133 Um beim Beispiel des Donners zu bleiben, das auch al-Fārābī in leicht abgewandelter Form bemüht, würde das bedeuten, dass die der Konklusion ähnliche Definition »Getöse in den Wolken« lautet, die einer Prämisse und genauer dem Mittelterm ähnliche Definition hieße »Getöse durch Auslöschung des Feuers« und die beweisähnliche Definition schließlich »Getöse in den Wolken durch Auslöschung des Feuers«. Unter dem Gesichtspunkt von Gattung und Differenz würde die Gattung der in Wolken auftretenden Geräusche durch Angabe einer Differenz, welche die Ursache jener Geräusche bezeichnet, näherhin als Donner bestimmt. Es dürfte klar sein, dass dieses Beispiel dem von Aristoteles in De anima gewählten der »Quadratur« vollständig parallel liegt. Gesucht ist mithin in (oder besser: ab) De anima II. 2 eine Definition der Seele, die deren Ursache angibt. Da die Seele, das hält Ibn Bāǧǧa für offensichtlich, nicht zu den Dingen gehört, deren Definitionen gegeben sind, da sie also kein absoluter, von sich her einsichtiger und nicht weiter erklärbarer Anfangspunkt ist, kann ihre Definition geklärt werden, indem ihre Ursachen wie in einem Beweis angegeben werden. Es ist genau solches Wissen, das sagt Ibn Bāǧǧa in der Abhandlung über das rationale Vermögen ausdrücklich, auf das jede Wissenschaft abzielt: »Daher ist die Angabe der Ursachen Voraussetzung für sicheres Wissen, und deshalb wird darüber gesagt, dass es Wissen von der Existenz des Dinges und der Ursache seiner Existenz ist. Wenn man alle theoretischen Wis132al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 47, 7–13 und ff. 133al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 49, 6–9.
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senschaften betrachtet, stellt man fest, dass sie nur um der Definition willen betrieben werden. Es ist einleuchtend, dass die Definition aus den Ursachen des Definierten besteht« (N XI. 10). Was besagt das nun aber über den Status der allgemeinen Seelendefinition und den Zusammenhang der Einzelstudien seelischer Vermögen? Ibn Bāǧǧa gibt einen wertvollen Hinweis in einem der folgenden Abschnitte des ersten Kapitels (N I. 14), wo er das Verhältnis von Gattung und Differenz als Bestandteile der Definition erläutert. Die Gattung könne als »Konklusion eines Beweise«, die Differenz als »Prinzip eines Beweises« aufgefasst werden, also ebenso wie al-Fārābī sie in dem oben zitierten Text über den Zusammenhang von Beweis und Definition beschrieben hat. Der Anlass dieser Überlegung besteht aber darin, dass Ibn Bāǧǧa eine Aussage aus De anima I. 1 aufnehmend erklärt, Voraussetzung für das Auffinden der gesuchte Definition der Seele sei die vorgängige Bestimmung ihrer Gattung.134 Ist die Gattung gefunden, dann kann sie durch Hinzufügen der Differenz zu einer vollständigen Definition werden, da sie diese in Potenz enthält. Gattung und Differenz verhalten sich zueinander wie Materie und Form.135 Andererseits kann die Differenz für die gesamte Definition stehen, weil sie die Gattung gleichsam als einen Teil enthält. Aus der Perspektive, in der die Teile der Definition Konklusion und Mittelbegriff des Beweises entsprechen, ist »jedes von beiden potentiell die Definition in anderen Weisen«, nämlich offenbar insofern sie einander ergänzen.136 Der Sinn dieser Ausführungen liegt offenbar in Folgendem: Ibn Bāǧǧa begründet die Notwendigkeit der allgemeinen – gattungsmäßigen – Definition der Seele, die er zuvor mit Aristoteles gegeben hat. Dass er diese Definition als verlässlich, als für die folgenden Ausführungen nötige und als von allen seelischen Vermögen zutreffende, also als Quasi-Gattung fungierende ansieht, beweist die Art, in der er am Ende des Kapitels auf sie zurückkommt (N I. 18). Als »Gattung« gibt sie einen Teil der Definition an, und zwar je nachdem, aus welchem Winkel man die Sache betrachten will, entweder die »Materie«, dann ist im folgenden als Differenz die »Form« aufzufinden, oder aber sie gibt als »Konklusion eines
134Vgl. Aristoteles, De anima, I. 1, 402a23–b1. 135Aristoteles, Metaphysik, VII. 12, besonders 1038a3–9; X. 8, 1058a6–8; vgl. auch Porphyrii Isagoge et in Aristotelis Categorias commentarium (Commentaria in Aristotelem Graeca 4, 1), ed. Adolf Busse, Berlin 1887, 1, 11 und 15. 136Ibn Bāǧǧas Verweis auf al-Fārābīs Kitāb al-ḥurūf in diesem Zusammenhang ist wohl so zu deuten: Er unterscheidet zwei mögliche Betrachtungsweisen: Was leisten Gattung und Differenz wenn sie einzeln für das ganze definiendum stehen, und was leistet jede von ihnen, wenn sie als Gattung und Konklusion gemeinsam das definiendum bezeichnen? Die letztere Betrachtungsweise nimmt man ein, wenn man Gattung und Differenz in der oben besprochenen Weise in logischer Hinsicht als Konklusion und Prämisse eines Beweises oder in ontologischer Hinsicht als Bestandteile des Definierten ansieht; vgl. dazu Alfarabi’s Book of Letters, ed. Mahdi, 185, 17–186, 4 (§ 187); vgl. auch 182f (§ 184).
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Beweises« nur das Dass der Seele an, während nun die Ursache oder Ursachen hinzuzufügen sind. Dies kann man in zweierlei Hinsicht verstehen: Einmal, dass die Untersuchungen der Vermögen sich zur allgemeinen Seelendefinition verhalten wie Angabe der Gattung und Angabe der Differenz. Zum anderen kann man dieses Verhältnis im Lichte der zuvor besprochenen Amphibolie des Seelenbegriffes genauer noch auf die Beziehung der einzelnen Vermögen zueinander beziehen – und damit natürlich auch auf die Untersuchungen dieser Vermögen.
3.4. Die Methode der Zusammensetzung Die Methode der Zusammensetzung (tarkīb) zur Aufstellung einer Definition erwähnt Ibn Bāǧǧa bereits in dem Abschnitt, den wir soeben ausführlich untersucht haben (N I. 10). Sie tritt dort neben der Einteilung (taqsīm), also der Dihairese, als eine von zwei alternativen Methoden auf. Die Definition, »bei deren Herleitung der absolute Beweis benutzt wird«, wird anschließend genannt, ohne dass ihr Verhältnis zu den beiden Methodenalternativen genannt wäre. Wenige Absätze später, wo er die Methoden direkt thematisiert, nennt Ibn Bāǧǧa Einteilung, Beweis und Zusammensetzung als drei Methoden zur Gewinnung der Definition nebeneinander (N I. 15). Dieser Unterschied ist nicht bedeutungslos, denn er rührt daher, dass Ibn Bāǧǧa zwei bei Aristoteles und al-Fārābī an unterschiedlichen Orten stehende Methodenüberlegungen miteinander verbindet. Ging es zunächst, wie unsere Darstellung gezeigt hat, um den Beweis nur insofern, als er als Modell für die Vollständigkeit der Definition fungiert, so ist an dieser zweiten Stelle der Beweis als Mittel der Auffindung der Definition gemeint. Diese Rolle kann der Beweis spielen, ohne aber die Definition selbst beweisen zu können, wie Aristoteles in den Zweiten Analytiken gezeigt hat. Ibn Bāǧǧa benennt den Unterschied in seinem Kommentar zur Meteorologie: [T 14] »Die Definitionen werden, wie in der Analytik gesagt worden ist, entweder auf dem Wege der Einteilung [taqsīm] oder auf dem Wege der Eingrenzung [taḥdīd] oder auf dem Wege des Beweises [burhān] gebildet. Und dieser Weg ist ein anderer als der Weg des Xenokrates, denn dieser [letztere] Weg besteht darin, dass die Existenz eines Prädikates für ein Subjekt mittels einer anderen Sache klargemacht wird.«137 Ibn Bāǧǧa nimmt damit eine durch al-Fārābī verbreitete Methodenklassifikation auf, die dieser im dritten Abschnitt seines Kitāb al-burhān einführt, in dem er »die Definitionen und ihre Arten« behandelt und die sich aus Aristoteles’ Ar137Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 414, 3–7. Lettinck liest fälschlicherweise statt »Xenokrates« (Ksānuqrātīs) »wie Sokrates« (ka-Sāʾuqrātīs).
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gumentation gegen alle Versuche speist, Definitionen zu beweisen. Xenokrates habe versucht durch Beweis zu belegen, dass etwas die Definition von etwas ist. Platon habe die Einteilung verwendet und Aristoteles die Methode der Zusammensetzung erwähnt.138 Die Zuschreibung der Methode der Einteilung zu Platon bedarf kaum einer Begründung, insofern Aristoteles selbst sich in den Zweiten Analytiken ausdrücklich und ausgiebig mit den entsprechenden platonischen Überlegungen auseinandersetzt, wobei er wiederum herausarbeitet, dass die Dihairese zwar zum Auffinden, nicht aber zum Beweisen von Definitionen taugt.139 Was Xenokrates angeht, so beruht al-Fārābīs Identifikation offenbar auf dem Umstand, dass Aristoteles in seinen Ausführungen einen von Xenokrates versuchten Beweis als Beispiel benutzt, nämlich die Bestimmung der Seele als Ursache des Lebens durch den Satz, die Seele sei eine selbstbewegte Zahl, zu beweisen. Beweise dieser Art misslingen, so Aristoteles, weil jeder Beweis als Mittelbegriff eine weitere Definition voraussetzt, die dann ebenfalls zu beweisen wäre.140 Die Identifikation der Methode mit Xenokrates findet sich so schon bei Philoponos.141 Nun aber die in unserem Zusammenhang wichtigste Methode, die Ibn Bāǧǧa als für die Definition der Seele geeignete auswählt und die laut al-Fārābī von Aristoteles selbst eingeführt worden ist, die Zusammensetzung, was hat es mit ihr auf sich? al-Fārābīs Darstellung dieser Methode im Kitāb al-burhān stützt sich auf Kapitel II. 13 der Zweiten Analytiken, genauer auf die Passage 97b7–25. Schon in der Paraphrase des Themistios ist hier von der σύνθεσις als einer von der Dihairese klar abgegrenzten Methode die Rede.142 al-Fārābī beschreibt die Methode des tarkīb ausführlich als Prozess des Sammelns und Aussortierens von Prädikaten. Zuerst betrachtet man alle individuellen Fälle der angenommenen Einheit, die es zu definieren gilt, und legt eine Sammlung von Wesensaussagen an, die sich über diese Individuen machen lassen. Danach stellt man zwischen diesen Wesensprädikaten einen Vergleich an und greift sich die »Gattungen« heraus und streicht dann davon immer das Allgemeinere weg, bis man schließlich das »Eigentümlichste«, also die engste und genaueste Charakterisierung, in der
138al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 52, 13–16. 139Vgl. dazu etwa Marguerite Deslauriers, Plato and Aristotle on Division and Definition, in: Ancient Philosophy 10 (1990), 203–219. 140Aristoteles, Zweite Analytiken, II. 4; das Beispiel findet sich 91a35–b1. Die gleiche Lehre erwähnt Aristoteles auch De anima, I. 4, 408b32–409a30. Als Vertreter dieser Lehre benennt Themistios den Xenokrates, vgl. Themistii Analyticorum posteriorum paraphrasis (Commentaria in Aristotelem Graeca 5, 1), ed. Maximilian Wallies, Berlin 1900, 43, 1–3. 141Ioannis Philoponi in Aristotelis Analytica posteriora commentaria cum Anonymo in librum II (Commentaria in Aristotelem Graeca 13, 3), ed. Maximilian Wallies, Berlin 1909, 347, 33–348, 16. 142Vgl. Themistii Analyticorum posteriorum paraphrasis, ed. Wallies, 56f; zu Synthese versus Dihairese siehe 57, 14–16 und ff.
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Hand hat.143 Nun sortiert man von den übrigen Wesensprädikaten alle aus, die allgemeiner sind als die erzielte Gattung oder äquivalent mit ihr und folglich für die Definition nichts Neues erbringen, und streicht ebenfalls die Prädikate weg, die nur einzelnen Individuen zukommen. Die übrigbleibenden Prädikate fügt man schließlich in der Reihenfolge ihres Allgemeinheitsgrads der Gattung hinzu und erhält so die gewünschte Definition.144 Ibn Bāǧǧa ersetzt in al-Fārābīs Darstellung der drei Methoden zum Aufweis der Definition die als vollständig unbrauchbar beurteilte des Xenokrates durch den von Aristoteles aufgezeigten möglichen Zusammenhang zwischen Definition und Beweis und erhält so ein neues Set von »drei gangbaren Wegen zur Gewinnung der Definition« (N I. 15). Was veranlasst Ibn Bāǧǧa nun zu der Annahme, die Zusammensetzung sei für die Seelendefinition die richtige Methode? Dafür gibt es zunächst einmal wieder einen direkten Anknüpfungspunkt in De anima. Aristoteles erläutert ganz zu Beginn, dass die Wesenserkenntnis einer Sache und mithin auch die der Seele besonders schwierig ist, weil es hierfür offenbar keine einheitliche Methode gibt, anders als für die Eigenschaften, die man alle durch Beweis nachweisen kann.145 Man muss daher zunächst einmal überlegen, welche Methode für einen bestimmten Sachbereich geeignet ist. Als zu erwägende Möglichkeiten erwähnt Aristoteles Beweis, Einteilung und »eine andere Methode«.146 Sieht man sich dann Themistios’ Kommentar zu dieser Stelle an, so begegnet man einigen uns nun wohlbekannten neuen Details. Anders als Aristoteles erwähnt Themistios eine Methode der σύνθεσις, mehr noch, er verknüpft sie ausdrücklich mit dem Namen des Aristoteles, während er die Dihairese mit Platon assoziiert. Als weitere Alternative führt er einen nicht weiter spezifizierten »anderen Beweis« an.147 Obgleich auch Themistios die in De anima hier gestellte Frage nicht explizit beantwortet, scheint er Ibn Bāǧǧa damit doch den entscheidenden Hinweis geliefert zu haben.
143Die Unterscheidung von Prädikaten, die Gattungen sind, und solchen, die es nicht sind, beruht wohl auf dem Dihairesismodell: Eine übergeordnete Gattung kann sinnvoll nur durch solche Differenzen weiter eingeteilt werden, die mit der übergeordneten Gattung in einem wesensmäßigen Zusammenhang stehen. So sollte zum Beispiel das Geflügelte nicht danach eingeteilt werden, ob es Füße besitzt oder nicht, sondern ob die Flügel gefiedert sind oder nicht; vgl. al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 55, 4–7. In diesem Sinne lassen sich dann freilich Gattungsmerkmale von anderen durchaus auch wesentlichen Merkmalen unterscheiden, aber zur Auswahl der geeigneten Prädikate hat man daran nur dann einen Leitfaden, wenn man einen bestimmten Gesichtspunkt der Einteilung bereits voraussetzt. 144al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 55, 14–56, 1. 145Aristoteles, De anima, I. 1, 402a10–18. 146Aristoteles, De anima, I. 1, 402a18–20. 147Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 2, 18–21.
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Ibn Bāǧǧas systematische Argumentation die geeignete Methode betreffend bringt keine positiven Gründe für die Zusammensetzung, sondern wählt diese durch Eliminierung der anderen Alternativen aus (N I. 15). Dabei ist sein Argument, die Einteilung komme nicht in Frage, weil die Gattung der Seele nicht bekannt sei, da zum Beispiel darüber gestritten werde, ob sie ein Körper sei oder nicht, wohl nicht sehr ernst zu nehmen. Einige Absätze später (N I. 17) hält er es nämlich für durchaus beweisbar und von Alexander bewiesen, dass die Seele Form und nicht Körper ist. Ganz zu schweigen davon, dass dies, wie oben bereits erwähnt, in der von Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles benutzten Einteilung zum Aufweis der allgemeinen Seelendefinition vorausgesetzt worden ist. Der eigentliche Grund für Ibn Bāǧǧas Ablehnung sowohl der Einteilung wie auch des Beweises ist offenkundig die von ihm an dieser Stelle breit ausgeführte Äquivozität des Seelenbegriffs, die wir oben analysiert haben. Beweis und Einteilung können höchstens einen einzelnen Begriff klären helfen, nicht aber eine gesamte ἐφεξῆςRelation auf einmal. Hier scheint nur die beschriebene Zusammensetzung, die die verschiedenen Prädikate sichtet und sortiert, geeignet zu sein.
3.5. Die drei Definitionen der Seele Damit bahnt sich eine Lösung der Widersprüche an, die wir zu Beginn dieser Untersuchung von Ibn Bāǧǧas wissenschaftstheoretischen Reflexionen auf die Seelendefinition genannt haben. Es scheint nämlich alles dafür zu sprechen, dass Ibn Bāǧǧa in der Tat nicht eine, sondern drei Seelendefinitionen diskutiert: erstens, die allgemeine Seelendefinition, die er zunächst referiert hat (N I. 6); zweitens, die je spezifischen Definitionen der einzelnen Seelenvermögen oder Seelentypen, wie sie durch die ἐφεξῆς-Struktur nötig werden (N I. 10); und schließlich so etwas wie die Gesamtdefinition der Seele, die sich ergibt, wenn (für die höheren Seelentypen) mehrere Bestimmungen zusammentreten müssen, »die einander nicht wesentlich zukommen« (N I. 15). Der Widerspruch, dass Ibn Bāǧǧa zuerst die angezielte Definition der Seele als die bestimmt, die ein »in seiner Stellung veränderter Beweis« ist (N I. 10), und dann erklärt, der Weg des Beweises stünde nicht offen (N I. 15), lässt sich nun so auflösen, dass in der ersten Passage von der spezifischen Definition der einzelnen seelischen Vermögen die Rede ist, in der zweiten dagegen von der Gesamtdefinition der Seele. Dem scheint allerdings folgende Äußerung Ibn Bāǧǧas in diesem Zusammenhang entgegen zu stehen: »Wenn es also bei einem von den Begriffen möglich ist, dass er eingeteilt wird und der Beweis für ihn gesucht wird – und wir glauben nicht, dass das der Fall ist […]« (N I. 15). Nimmt man diese Aussage jedoch uneingeschränkt an, dann gibt es schlechterdings keinen Weg, sie mit der zuvor geforderten Verwendung der »absoluten Demonstration« in Übereinstimmung zu bringen. Es erscheint daher am plausibelsten anzuneh-
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men, dass Ibn Bāǧǧa, insofern er hier über die Gesamtdefinition nachdenkt, die Schwierigkeit mit im Blick hat, dass für alle Seelen mit Ausnahme der niedrigsten, der Beweis einer Ursache – nämlich der Ursache des jeweils höchsten Vermögens – noch kein Beweis der in ihm enthaltenen niederen Vermögen ist. Der Beweis liefert daher auch nicht die gesamte spezifische Definition, sondern lediglich die jeweils letzte spezifische Differenz in der ἐφεξῆς-Reihe. Dass Ibn Bāǧǧa eine solche Kombination beider Methoden vorschwebt, ist auch deshalb wahrscheinlich, weil in al-Fārābīs Kitāb al-burhān, das Ibn Bāǧǧa hier, wie gesehen, beständig herangezogen hat, eine solche Möglichkeit ausdrücklich dargestellt wird.148 Ebenso aufgehoben wird der scheinbare Widerspruch, dass die Einteilung benutzt (vgl. N I. 18), aber als untauglich beurteilt wird (N I. 15). Benutzt wird sie nämlich für die allgemeine, gattungsmäßige Definition der Seele, ausgeschlossen dagegen als Methode für die Gesamtdefinition. Diese Gesamtdefinition wird durch Zusammensetzung erreicht, wobei, wie explizit erläutert (N I. 14), die gattungsmäßige Definition – als Gattung – und die spezifischen Definitionen – als Differenzen – jeweils ihren Beitrag leisten. Damit bleibt nur noch eine Frage zu beantworten, und zwar, was es denn für Ibn Bāǧǧa heißen soll, die Ursache eines Seelenvermögens anzugeben, ja gar zu beweisen. Eine Forderung Ibn Bāǧǧas, die, wie erinnerlich, gut im Text von De anima begründet ist. Ibn Bāǧǧa kommt zwar auf diese von ihm formulierte Forderung nicht ausdrücklich zurück, aber sein tatsächliches Vorgehen korrespondiert so exakt mit einer expliziten Antwort, die man einmal mehr in al-Fārābīs Kitāb al-burhān lesen kann, dass kaum ein Zweifel an seiner Antwort bestehen dürfte. al-Fārābī schreibt: [Z 5] »Bei den Definitionen, als deren Teile Dinge genommen werden, die außerhalb des Definierten sind, sind jene äußerlichen Dinge von dreierlei Art, entweder Zwecke der Sache, oder Wirkende für sie, oder etwas, in dem das Definierte ist. Wenn es sich fügt bei einer Sache, dass in ihrer Definition ein
148al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 57, 5–13: »Es ist klar, dass man die Methode der Zusammensetzung, da man bei ihr ja von den Individuen ausgeht, nur bei demjenigen verwenden kann, dessen Prädikate offensichtlich existieren und die außerdem Prädikate nach Weise des ›was es ist‹ sind. Außerdem, wenn mit der Zusammensetzung von gewissen Arten aus begonnen wird und wir die Definition der Gattung erfassen wollen, die jenen Arten gemein ist, dann ist das nur möglich, wenn die Prädikate jener Arten nach der Weise des ›was es ist‹ uns vorher bekannt sind, sei es durch einen Beweis, sei es ohne Beweis. Aus diesem Grunde ist auch diese Methode nicht ausreichend für alles, was es zum Definieren braucht, denn sie zeigt uns nicht ihrem Wesen nach die Reihenfolge der Teile der Definition, noch dass ihre Teile vom Definierten nach Weise des ›was es ist‹ prädiziert werden, noch irgendetwas anderes, sie erleichtert uns nur das Erfassen der Prädikate der Sache, insbesondere bei den Individuen und den Arten, die den Individuen nahe sind.«
Die Wissenschaftstheorie al-Fārābīs: Welches Wissen von der Seele?
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Teil, der ihren Zweck bezeichnet, und ein Teil, der das bezeichnet, worin die Sache ist, zusammenkommen, dann ist das, was den Zweck bezeichnet, in dieser Definition Prinzip eines Beweises, und der andere Teil ist Konklusion eines Beweises. Ein Beispiel dafür ist die Definition der Seele, nämlich dass sie die Entelechie eines natürlichen organischen Körpers ist, von der die Perzeption und die Tätigkeiten, die von der Perzeption abhängen, herrühren. Diese beiden Teile nämlich – ich meine unsere Aussage »natürlicher organischer Körper« und unsere Aussage »von der die Perzeption und die Tätigkeiten, die von der Perzeption abhängen, herrühren« – sind zwei Sachen außerhalb der Seele. Nur bezeichnet unsere Aussage »natürlicher organischer Körper« das, worin die Seele ist, während der andere Teil den Zweck der Seele bezeichnet. Daher wird dieser Teil zum Prinzip eines Beweise gemacht und der andere zur Konklusion eines Beweises.«149 Die Wahrnehmung und die von ihr abhängigen Tätigkeiten, also Vorstellung und Denken aber auch Begehren und Bewegung, sind Zweckursachen der Seele – und gleiches ließe sich bereits von der Ernährung sagen. Anders als das »Auslöschen des Feuers«, das Ursache des Donners und mit diesem identisch ist, sind sie nicht mit der zu definierenden Seele identisch, sondern sie sind die Tätigkeiten, für welche die Seele da ist, die sie bewirkt. al-Fārābī sagt daher, sie seien »außerhalb des Definierten«. Das mindert jedoch ihren Wert als Ursachen und damit als Bestandteile einer vollständigen Definition in keiner Weise. Jetzt wird verständlich, warum Aristoteles nach der besprochenen theoretischen Vorbemerkung in De anima II. 2 sich scheinbar übergangslos dem Begriff des Lebens zuwendet. Beseeltes, sagt er, unterscheidet sich von Unbeseeltem durch das Leben, und Leben wird in mehrfacher Bedeutung verstanden als Vernunft, Wahrnehmung, Ortsbewegung und Stillstehen, Ernährung, Schwinden und Wachstum.150 Dieser Übergang ist äußerst folgerichtig, weil er unmittelbar der Forderung nachkommt, nun auch die Ursache der Seele anzugeben. In der ersten, umrisshaften Seelendefinition war die Zweckursache der Seele nur allgemein als »Leben« – »der in Möglichkeit Leben hat« – angegeben worden.151 Wenn nun die Bedeutungen von »Leben« spezifiziert werden, dann wird damit auch die Ursache der Seele spezifiziert und ihre Definition zu einer genauen Definition ausgebaut.
149al-Fārābī, Kitāb al-burhān, ed. Faḫrī, 48, 1–9. 150Aristoteles, De anima, II. 2, 413a20–25. 151Zum Zusammenhang von Seele und Leben bei Ibn Bāǧǧa vgl. N I. 6 und Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 103, 1f: »Da Leben die Existenz der Seele im Körper ist, ist die Bedeutung von ›Lebendigsein des Körpers‹, dass er eine Seele besitzt, gleich ob sie aktiv ist oder nicht aktiv ist wie beim Schlafenden.«
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Die Definition der Seele
»Für jetzt sei nur soviel gesagt, dass die Seele Prinzip der genannten [Phänomene] ist und durch diese [Vermögen] bestimmt wird: Nähr-, Wahrnehmungs-, Denkvermögen und Bewegung.«152 Die Seele ist Ursache der Lebensfunktionen und diese sind als Zwecke Ursachen für sie. Deshalb kann weitere Erkenntnis über die Seele nur durch Untersuchung der einzelnen von ihr erfüllten Funktionen gewonnen werden. In diesem Zusammenhang steht auch Aristoteles’ nachdrückliches Beharren darauf, dass die Wirklichkeiten (ἐνέργειαι) und Tätigkeiten (πράξεις) gegenüber den Seelenvermögen (δυνάμεις) begrifflich primär sind und zuerst untersucht werden müssen.153 Die Seelenvermögen selbst sind nur Potenzen und damit nicht an sich bestimmbar, sondern nur durch die Funktionen, die sie erfüllen, und daher ist der Begriff der Seele genauso vielfältig wie die Lebensaktivitäten, welche die Seele ermöglicht. Genau diese nach früher und später geordnete Erforschung der einzelnen Potenzen auf Grund ihrer Ungleichartigkeit ist aber auch Ibn Bāǧǧas Folgerung aus seinen Überlegungen zur Definition am Ende des ersten Kapitels des Buchs der Seele (N I. 18, 20).
152Aristoteles, De anima, II. 2, 413b11–13. 153Aristoteles, De anima, I. 1, 402b11–16; II. 4, 415a16–22.
6. Kapitel. Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen 1. Seele als Form eines organischen Körpers Was leistet nun die allgemeine Seelendefinition konkret für die Bestimmung der einzelnen seelischen Vermögen und insbesondere für den Begriff eines Vermögens, einer solchen Potenz überhaupt? Ibn Bāǧǧa präpariert aus der Definition »erste Entelechie eines natürlichen und organischen Körpers« zwei Momente heraus, die sich nicht auf den ersten Blick nahelegen, die aber weitreichende Folgen für seine Psychologie haben. Diese zwei Momente sollen hier beleuchtet werden, und zwar zuerst die Kennzeichnung des beseelten Körpers als »organisch«. Wir haben bereits gesehen, dass das Merkmal des Organischen in der Perspektive, die Ibn Bāǧǧa von Alexander übernimmt, nämlich in Bezug auf die Verschränkung der Komplexität des Körpers mit der hierarchischen Form- oder Potenzenordnung eine wichtige Rolle spielt.1 Organische Körper sind komplexe Körper und entsprechen als solche der Seele als einem Komplex aus einfacheren Potenzen. Der hauptsächliche Sinn des von Aristoteles angegebenen Merkmals »organisch« liegt so für Alexander in der Betonung der streng hylemorphischen Entsprechung von Körper und Seele: Je einfacher der Körper, desto »einfacher« die Seele, je »organischer« (ὀργανικώτερον) der Körper, desto »vollkommener« (τελειοτέρα) die Seele.2 Die Betonung liegt darauf, dass ein organischer Körper eine Vielzahl von Gliedern hat und daher eine Vielzahl verschiedener Tätigkeiten ausführen kann.3 Dieses Motiv nimmt Ibn Bāǧǧa auf (N I. 5) und fasst es als Abgrenzung der Seele von der Natur – eine Unterscheidung, für die er sich terminologisch auch auf Themistios’ De anima-Paraphrase stützen konnte.4 1Siehe oben, Kapitel 5, Abschnitt 2. 2Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 10, 26–11, 5. 3Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 11–16. Vgl. auch Bruns, 27, 4–28, 2, wo Alexander gegen die Demokrit zugeschriebene These argumentiert, die Seele habe nur eine einzige Potenz, die nur durch ihre diversen Organe unterschiedlich wirke. 4Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 35, 33f; 41, 40–42, 2; 44, 35–45,18; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 35, 1; 49, 14–50, 1; 56, 15–58, 7; vgl. Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 167, Anm. 29; 170, Anm. 8. Themistios kritisiert die stoische Verwendung der beiden Begriffe, durch die den Pflanzen nur
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Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen
[N I. 6] »Von den Formen gibt es zwei Arten, eine von beiden ist Entelechie für einen natürlichen Körper, wobei der Beweger mit dem Bewegten nicht dem Wesen nach verbunden ist. Dies ist das, was sich ohne Organ, sondern vielmehr als Ganzes bewegt. Und es gibt die Entelechie eines natürlichen Körpers, der sich mittels Organen bewegt. Die erste wird Natur im engeren Sinne [al-ṭabīʿa bi-ḫuṣūṣ] genannt, die zweite wird als Seele [nafs] bezeichnet.« Neben der Einfachheit oder Komplexität der durch Seele und Natur verursachten Bewegungen kommt hier noch ein anderer Gesichtspunkt hinzu: Der (aktive) Beweger natürlicher Körper ist nicht mit dem Bewegten verbunden, er befindet sich außerhalb; der natürliche Körper erfährt die Bewegung nur passiv. Die Seele dagegen ist im bewegten Körper und bewegt diesen aktiv. In diesem Sinne unterscheidet schon Alexander Natur und Seele in seinem Kommentar zur Metaphysik, und es ist durchaus möglich, dass Ibn Bāǧǧa entsprechende Aussagen Alexanders auch in dessen Kommentar zur Physik gefunden hat, den er besaß.5 Im zehnten Kapitel werden wir diesem Unterschied weiter nachgehen, denn an ihm wird erst eigentlich klar, warum die unbelebten Naturkörper nur eine einfache Bewegung haben und Organe für komplexe Bewegungen nötig sind und was dies mit der Art von Potenz zu tun hat, die »Natur« und Seele jeweils sind. Hier können wir uns darauf beschränken zu beobachten, wie Ibn Bāǧǧa das Organische zum Merkmal von und Kriterium für die Seele erhebt. Er tut dies in deutlicher Weise in seinem Kommentar zur Physik, und zwar direkt im Zusammenhang mit der Einführung des Begriffs der Natur (ṭabīʿa). »Natur« bestimmt er mit Aristoteles allgemein als »Ursache [sabab]« – beziehungsweise »Prinzip« (mabdaʾ) – »der Bewegung und Ruhe für das, in dem sie ist«. Dabei weist Ibn Bāǧǧa ausdrücklich darauf hin, dass die »Bewegung« (ḥaraka) im Sinne der Ortsbewegung hier nur als paradigamtischer Fall steht, die Natur grundsätzlicher aber als »Prinzip der Veränderung« (mabdaʾ al-taġayyur) zu bezeichnen ist.6 Auch die im Buch der Seele genannte einfache beziehungsweise komplexe Ortsbewegung (N I. 5), sollte daher nur als Beispiel, nicht als Gesamtsinn der Unterscheidung aufgefasst werden. Der Physik-Kommentar nun lässt der allgemeinen Bestimmung der Natur eine längere Anmerkung folgen, Natur, nicht Seele zugesprochen wird, aber die terminologische Unterscheidung als solche erscheint bei ihm als eine Selbstverständlichkeit. Sie wird auch von al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 113, 14–20 und 115, 8–15; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 115–117 (§§ 74, 76), explizit behandelt. 5Vgl. Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca 1), ed. Michael Hayduck, Berlin 1891, 390, 25–35. Zu Ibn Bāǧǧas Kenntnis von Alexanders Physik-Kommentar, siehe Ibn Bāǧǧa, wa-min Kalāmihī mā baʿaṯa bihi li-Abī Ǧaʿfar Yūsuf Ibn Ḥasdai, ed. al-ʿAlawī, 81, 1. 6Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 22, 4–16. Vgl. Aristoteles, Physik, II. 1, 192b20–24.
Seele als Form eines organischen Körpers
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dass »Natur im engeren Sinne« (al-ṭabīʿa ʿalā l-ḫuṣūṣ) von der Seele zu unterscheiden sei, sodass Natur im allgemeinen Sinne der Gattungsbegriff für Seele und Natur im spezifischen Sinne sei.7 Die Einführung einer solchen Einteilung an dieser Stelle, die in der erhaltenen Kommentarliteratur recht isoliert steht,8 dient Ibn Bāǧǧa dazu, den Gegenstandsbereich der Physik abzugrenzen. So sagt er nämlich am Ende seines kurzen Exkurses, wo er zuletzt die Bewegungsweise der Lebewesen und der Himmelskörper verglichen hat: »Aber die Darlegung der Erklärung dessen gehört in einen anderen Teil der theoretischen Wissenschaft als diesen.« Die Physik hat es mit der Natur im engeren Sinne zu tun, während die Himmelskörper sei es in De caelo, sei es in der Metaphysik untersucht werden, und die Seele eben in De anima. Die Gegenüberstellung mit den Himmelskörpern ist für uns hier besonders interessant, weil Ibn Bāǧǧa in seiner Antwort auf die selbst gestellte Frage, ob das sie bewegende Prinzip eher Natur oder eher Seele ist, die Kennzeichen der beiden letzteren präzisiert. Diese Unterscheidungsmerkmale lassen sich wie folgt zusammenstellen: (1) Seele ist nur in zusammengesetzten Körpern, nicht in einfachen. (2) Die Seele bewegt mittels Organen, die Natur ohne. (3) Die von der Seele hervorgerufenen Bewegungen des Körpers können seiner »natürlichen« Tendenz entgegengesetzt sein (vgl. N I. 5). (4) Die Seele verursacht eine Vielzahl verschiedener Bewegungen, die Natur nur eine. (5) Die Natur ist mit dem Körper teilbar, die Seele nicht. Alle diese Merkmale laufen in der Organizität des beseelten Körpers zusammen, das letzte, bei dem dies vielleicht nicht unmittelbar offenkundig ist, deshalb, weil der organische Körper sich in seiner Zusammensetzung von den Homoiomeren unterscheidet (vgl. N I. 17), bei denen jeder Teil die gleichen Eigenschaften besitzt, so dass die Elemente der Zusammensetzung ihre »seelischen« Eigenschaften hier nur in der Zusammensetzung und nicht einzeln besitzen. Die Organizität dient mithin dazu, einen bestimmten Bereich von natürlichen Seienden zu identifizieren, deren Prinzip oder Form – Seele – in der Psychologie studiert wird. In dem Gebrauch, den Ibn Bāǧǧa an vielen Stellen des Buchs der Seele von dem Merkmal »organisch« macht, bekommt diese Indentifikation nun jedoch noch eine weitere Konnotation, insofern sie ihm nicht nur dazu dient, die Seele nach »unten« gegenüber der Natur abzugrenzen, sondern auch nach »oben«, etwa gegenüber dem Intellekt. Das Organische wird somit zum Kriterium zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Vermögen, die zur Seele gehören. Anders als Aristoteles und die griechischen Kommentatoren, die ihm 7Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 23, 14–24, 13. 8Wie Lettinck, Aristotle’s Physics, 163 zeigt, macht nur Ibn Sīnā die gleiche Unterscheidung, allerdings nur en passant und ohne nähere Erläuterung. Die Ähnlichkeit beider Äußerungen ist zu gering, als dass daraus eine Bekanntschaft Ibn Bāǧǧas mit Ibn Sīnās Werk geschlossen werden könnte.
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Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen
bekannt waren, bemüht Ibn Bāǧǧa sich, an allen entscheidenden Etappen auf die allgemeine Definition zurückkommend, zu zeigen, was bei Aristoteles höchstens implizit mitgedacht ist, nämlich dass das jeweils behandelte Vermögen mittels Organen tätig wird, so Form eines organischen Körpers ist und daher mit Recht als Seele bezeichnet wird. Dies geschieht für das Nährvermögen (N II. 11), das Wahrnehmungsvermögen (N III. 48) – und zwar sowohl für das Verhältnis der Einzelsinne zu ihren Organen (N IV. 2, V. 1)9 wie für das Vermögen in seiner Einheit, den sogenannten »Gemeinsinn« (N IX. 6) – und schließlich für das Vorstellungsvermögen (N X. 10). Das rationale Vermögen, das – wie es auch Aristoteles vom menschlichen Intellekt sagt – kein Organ hat, wird von Ibn Bāǧǧa in entsprechender Weise nicht als Seele, sondern als »ein Vermögen [quwwa] der Seele« bestimmt (N I. 6, IX. 6–7, XI. 1). Sehen wir uns einige dieser Punkte näher an. Gleich der Fall des ersten, des Nährvermögens, ist systematisch interessant. Ibn Bāǧǧa erläutert zunächst, dass der Blick auf die Nahrung und den ernährten Körper zeigt, dass das, wovon sich der Körper ernährt, zum Beispiel das Fleisch für das Raubtier, vom ernährten Körper in etwas umgewandelt werden muss, was ihn erst eigentlich unmittelbar ernähren kann, weil es ihm gleicht (vgl. N II. 18), zum Beispiel Blut. Das Ernährte, das Lebewesen, muss also eine Potenz besitzen, die eine solche Umwandlung bewirkt (N II. 10). Ibn Bāǧǧa fährt nun fort und stellt zweierlei fest: Erstens, eine Potenz, die solche Leistungen für den Körper erbringt, ist eine Vollendung (kamāl). Zweitens, die Ernährung geschieht mittels Organen. Dies begründet er nicht nur theoretisch (vgl. N II. 18–19), sondern – das zeigt auch der Fortgang des Textes – dafür reicht offenbar das Zeugnis der Wahrnehmung. Beide Punkte zusammennehmend kann Ibn Bāǧǧa nun schließen: »Da nun die Ernährung nur mittels Organen geschieht […], so ist das Nährvermögen Seele«, nämlich eben Vollendung oder Entelechie eines organischen Körpers. Man sieht also, dass das Kriterium der allgemeinen Seelendefinition dazu dient, festzustellen, dass das Nährvermögen Seele ist. Aus der beobachtbaren Tätigkeit der Ernährung und der weiteren beobachtbaren Tatsache, dass dieser Vorgang sich mittels Organen vollzieht, kann die Existenz (und gleichzeitig das Wesen) einer Potenz erschlossen werden, die als Seele zu klassifizieren ist. Damit aber nicht genug, denn Ibn Bāǧǧa diskutiert direkt im Anschluss an dieses Ergebnis einen Grenzfall, der die Identifizierung als Seele in Frage stellen könnte. An Trüffeln, einfachen Pilzen also, lassen sich keine Organe wahrnehmen, sie erscheinen homoiomer. Dennoch scheinen sie sich zu ernähren, jedenfalls kann man an ihnen eine Zunahme beobachten. Die Frage, die Ibn Bāǧǧa nun formuliert lautet, »ob ihre Potenz Seele ist oder nicht« (N II. 10); dahinter steht 9Auch Aristoteles betrachtet die einzelnen Vermögen als Entelechien ihrer Organe, vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 413a5f; De partibus animalium, II. 1, 646b10–27 und II. 10, 656a1–3. Ausführlicher dazu Kapitel 10.
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jedoch wohl die viel schwerwiegendere Frage, ob das Beispiel der Trüffel nicht zeigt, dass Ernährung auch ohne Organe erfolgen kann und also die Potenz zu ihr nicht der Seele zugerechnet werden sollte. Ibn Bāǧǧa begegnet dem Problem, indem er an der allgemeinen Seelendefinition festhält und schlicht sagt, dass die Potenz der Trüffeln, wenn sie denn ohne Organe wirkt, nicht im eigentlichen Sinne Seele sein kann. Damit ergibt sich aber natürlich die Folgefrage, wie es zu erklären ist, dass im Fall der Trüffel der vorher aufgestellte Schluss versagt. Ibn Bāǧǧa begegnet dem, indem auf den aristotelischen Grundsatz verweist, dass die Natur stets nur durch Mitteldinge von Gattung zu Gattung übergeht.10 Die Trüffel stehen zwischen Stein, also unbelebter Natur, und Pflanze, ebenso wie der Meerschwamm zwischen Planze und Tier. Es muss also, heißt das, eine Übergangsstufe zwischen natürlichen Potenzen und seelischen Vermögen geben, und eine solche zeigt sich eben bei den Trüffeln. Die allgemeine Seelendefinition funktioniert also sehr wohl als Abgrenzungskriterium. Ibn Bāǧǧas Anwendung der Seelendefinition und des Kriteriums des Organischen auf das Wahrnehmungsvermögen ist in anderer Hinsicht interessant, nämlich insofern das Vermögen wahrzunehmen in unterschiedlichen Sinnen präsent ist und durch ein zentrales Vermögen, den sogenannten »Gemeinsinn« (al-ḥiss al-muštarak), gebündelt wird. Da die Theorie der Wahrnehmung und die an ihr hängende Sinnesphysiologie nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind, werfen wir hier nur einen Blick auf diese Zusammenhänge, insofern sie uns etwas über Ibn Bāǧǧas Auffassung von der Beschaffenheit seelischer Potenzen und ihrer Beziehungen zueinander verraten.11 Jeder Sinn ist ein Vermögen, das seinen Sitz in einem bestimmten Organ hat und deshalb Seele ist. So sagt Ibn Bāǧǧa: »Das Sehvermögen nun ist die erste Entelechie des Auges, es ist nämlich die Sehseele« (N IV. 2), und: »Das Hörvermögen ist die Entelechie des Hörorgans« (N V. 1). Insofern diese Potenzen jeweils Einwirkungen von ganz bestimmten Eigenschaften der Dinge erleiden, die ihnen als »primäre« oder »eigentümliche« Sensibilia zugeordnet sind, zum Beispiel die 10Dieses Grundprinzip seiner Biologie trägt Aristoteles an verschiedenen Stellen vor: Historia animalium, VII. 1, 588b4–28; De partibus animalium, IV. 5, 681a12–29. In De generatione animalium, II. 1, 733a32–b16 gibt Aristoteles das unterschiedliche Maß an natürlicher Wärme als Ursache für die Unterschiede zwischen den Gattungen an. Vgl. dazu auch Gad Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance. Heat and Pneuma, Form and Soul, Oxford 1995, 58–60. Was den Meerschwamm angeht, so sieht Aristoteles ihn zuweilen näher bei den Pflanzen (Historia animalium, VII. 1: 588b21; PA IV. 5: 681a17), zuweilen näher bei den Lebewesen (HA I. 1: 487b9; V. 16: 548b10–15). In Ibn Bāǧǧas Werk wird das zitierte aristotelische Prinzip mehrfach angeführt (N X. 15; Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 181, 15–20; ed. Faḫrī, 95, 11–15; Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 7–12; Fī l-nabāt, ed. Asín, arab. 271, 11–25, span. 289f ) und jeweils mit Beispielen belegt, jedoch an keiner Stelle als Prinzip begründet oder untersucht. 11Es sei nur angemerkt, dass Ibn Bāǧǧa sich, was die Konzeption des Gemeinsinns angeht, wesentlich auf Alexander von Aphrodisias stützt, wie einige der folgenden Anmerkungen dokumentieren werden.
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Farbe dem Sehvermögen (N V. 3), so hat jede dieser Potenzen einen ganz bestimmten Tätigkeitsbereich, der mit dem keiner anderen Potenz austauschbar ist (N III. 24). Die Sinnesorgane sind in ihrer körperlichen Zusammensetzung genau auf ihre Objekte und also auf die ihnen innewohnenden Vermögen abgestimmt.12 Es gibt jedoch mehrere Gründe, die zeigen, dass diese einzelnen Vermögen miteinander zusammenhängen müssen. Zum einen gibt es Wahrnehmbares, die sogenannten »gemeinsamen Sensibilia« (maḥsūsāt muštaraka) wie etwa Größen und Formen, die auf die Sinnesorgane der Einzelsinne nicht einwirken und verbunden mit deren primären Sinneseindrücken dennoch aufgenommen werden (N III. 50f ),13 und zwar zudem nicht nur von einem, sondern von mehreren Sinnen, denen sie also »gemeinsam« sind (N IX. 2). Zum anderen ist es möglich, die von den Einzelsinnen jeweils wahrgenommenen Eigenschaften als verschieden zu unterscheiden, was voraussetzt, dass das Wahrnehmende eines ist.14 Diesen einen Gemeinsinn erklärt sich Ibn Bāǧǧa nun mit Hilfe eines Vergleichs, den er von Alexander übernimmt: Er ist gleichzeitig einer und viele wie der Mittelpunkt eines Kreises.15 Wie verhalten sich nun die Einzelvermögen und das Gesamtvermögen zueinander und zu den Organen? Zunächst einmal sagt Ibn Bāǧǧa, wenn er im neunten Kapitel des Buchs der Seele auf den Gemeinsinn zu sprechen kommt, dieser sei das Vermögen, dessen Existenz »bereits in dem dargelegt worden [ist], was wir über die Sinneswahrnehmung im Allgemeinen geschrieben haben« (N IX. 1), also in Kapitel drei. Dort hatte er gefragt, wie ein Körper entstehen könne, der die Potenz besitze wahrzunehmen (N III. 29), und dann erläutert (N III. 30ff), dass dazu eine ganz besondere Art der Mischung notwendig sei.16 Als Form dieser Mischung, die folglich als Organ der Wahrnehmung zu betrachten ist, bestimmt Ibn Bāǧǧa dann das »perzipierende Vermögen«, das er dementsprechend als Seele beurteilt (N III. 48): »Dieses Vermögen ist Seele. Sie besitzt Existenz in einem beseelten Körper, und sie ist eine Form in der Mischung des Beseelten.« Für die Bestimmung des seelischen Vermögens als Entelechie eines organischen Körpers stellt dieses Nebeneinander der verschiedenen Sinnesorgane und der »Mischung« als einheitlichem Organ allerdings eine Schwierigkeit dar. Ibn Bāǧǧa behebt sie, indem er erklärt, »dass diese Sinne alle Vermögen eines einzigen Wahrnehmungsfähigen sind, welches das erste ist, nämlich dasjenige, was Gemeinsinn genannt wird« (N IX. 1). Mit anderen Worten, es gibt letztlich nur ein Wahrnehmungsvermögen, dem die Sinne, die als Vermögen Entelechien ihrer jeweiligen Organe sind, als Vermögen untergeordnet sind. Und zwar »ver12Vgl. etwa N IV. 3, V. 3, VIII. 4. 13Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 65, 10–21. 14N IX. 2; vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 60, 19–61, 3. 15N IX. 1; vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 63, 6–25. 16Vgl. dazu die Kapitel 8 und 9.
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mischt« sich der Gemeinsinn je nachdem mit einem Sinnesorgan und wird so zum Einzelsinn (N IX. 1, 6), beziehungsweise trennt sich von ihm: »Wenn sich das Vermögen nämlich vom Sinnesorgan absondert, dann ist es der Gemeinsinn« (N III. 51). Die Physiologie, die ein solches Verhältnis der entsprechenden Vermögen möglich macht, wie auch der dahinter stehende Begriff des Organischen verlangen freilich weitere Aufklärung, die in den Kapiteln 10 und 11 geleistet werden soll.17 In Bezug auf die hiesige Fragestellung können wir festhalten, dass Ibn Bāǧǧa das Kriterium der Organizität auch auf den verwickelten Fall des vielgestaltigen Wahrnehmungsvermögens bewusst und konsequent anwendet und einen Weg findet, nach ihm sowohl die Einzelsinne als auch den Gemeinsinn als Seele zu bestimmen. Für den Begriff der seelischen Potenz insgesamt bedeutet das, dass unter ihn Vermögen unterschiedlicher Ordnung fallen. Im übrigen gilt das bereits innerhalb auf den ersten Blick einheitlicher Vermögen, beispielsweise eines einzelnen Wahrnehmungsvermögens. So bemerkt Ibn Bāǧǧa etwa, dass die Farbe als primärer Gegenstand des Sehvermögens, die sich durch den primären Gegensatz weiß/schwarz bestimmt, Subjekt für weitere Eigenschaften wie den Glanz ist; ähnlich der Laut für schrill/weich und hoch/tief und die primären Qualitäten warm/kalt und feucht/trocken für alle tastbaren Eigenschaften. Da nun die Potenzen »den Seienden in der Ordnung ihrer Existenz« folgen, so korrespondiert dem eine ebenso geordnete Struktur auf Seiten des Wahrnehmungsvermögens: »ein einziger Sinn […], dem viele Potenzen folgen« (N VIII. 3). Diese Schichtung der Potenzen wird auch noch in zwei weiteren Fällen deutlich, in denen Ibn Bāǧǧa ähnliche, aber distinkte Nachordnungsverhältnisse beschreibt. Im ersten Fall handelt es sich um das Erinnerungsvermögen: [N IX. 5] »Aristoteles hat das Vermögen des Sicherinnerns bereits dargelegt in der zweiten [Abhandlung] seiner Schrift De sensu. Es ist klar, dass es kein primäres Vermögen [quwwa ūlā] ist, sondern ein Anhang [lāḥiqa] vieler Vermögen, nämlich des Denkvermögens, des Vorstellungs[vermögens] und des Gemeinsinns. Daher wird es nicht zu den Typen der primären Vermögen der Seele gerechnet und ist nicht Seele. Das sechste Vermögen [dagegen], nämlich das nährende, und die fünf, nämlich die Sinne, bei denen ist von der Sache her klar, dass sie Seelen sind, da sie die Entelechien von Körpern sind.« Die von Ibn Bāǧǧa hier eingeführte Unterscheidung zwischen primären und sekundären Vermögen stützt sich wiederum eindeutig auf das Merkmal der Organizität. Seele im primären Sinne ist nur das Vermögen, das direkt Entelechie des 17In Bezug auf den ersten Punkt entspricht Ibn Bāǧǧas Modell ganz demjenigen, das auch Alexander andeutet, vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 39, 18–40, 3.
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organischen Körpers oder eines seiner selbst organisch strukturierten Teile ist.18 Das Erinnerungsvermögen, das nur in Abhängigkeit von der früheren Aktivität anderer Vermögen tätig wird (N IX. 3), kann damit das Kriterium der unmittelbaren Beformung des organischen Körpers nicht erfüllen, es ist ein »Anhang« dieser anderen Vermögen. Ein seelisches Vermögen kann sich also nicht nur wie das Wahrnehmungsvermögen untergliedern, es kann auch seinerseits zum Träger oder Subjekt weiterer Vermögen werden. Dies gilt auch für unseren zweiten Fall: das Wachstums- und das Zeugungsvermögen. [N II. 25] »Diese Potenz [=das Zeugungsvermögen] ist gleichsam die Form für jene und ist gleichsam der Endpunkt der Bewegung der Wachstums[potenz], deshalb ist sie nur aktiv, wenn jene sich der Vollendung ihrer Bewegungsausübung genähert hat. Die nährende [Potenz] ist gleichsam die Materie für diese, die Wachstums[potenz] sozusagen das Mittel und diese sozusagen das Ziel. Wir finden am Nähr[vermögen] keine vollkommenere Potenz als diese.« Das Nährvermögen wird also gar zum Träger von zwei weiteren Vermögen, wobei zwischen ihnen ein konsekutives Materie-Form-Verhältnis besteht. Diese Überformung gründet darin, dass das Wachstumsvermögen das Ergebnis der organischen Tätigkeit des Nährvermögens, nämlich die Nahrung, zum Wachstum als einer von der Ernährung (der bloßen Erhaltung) verschiedenen Tätigkeit gebraucht (N II. 21). Andererseits dient es, insofern das Wachstum den Organismus zur Geschlechtsreife bringt, dem Zeugungsvermögen als Grundlage, welches das Wachstumsvermögen als Nachnutzer der Nahrung ablöst (N II. 24 und 25). Insofern damit jedes dieser Vermögen direkt auf die Tätigkeit der Organe, Körpersubstanz zu produzieren, zurückgreift, ist es nach seinem hier untersuchten Kriterium nur folgerichtig, dass er auch die nachgeordneten als »Seele« bezeichnet (vgl. N II. 21). Neben der Ausdifferenzierung und Gliederung der seelischen Vermögen dient Ibn Bāǧǧa die Frage, ob die betreffende Potenz Form eines organischen Körpers ist, wie bereits angedeutet auch zur Abgrenzung nach oben. Auch hier gibt es wieder, wie unten zwischen natürlichen und seelischen Potenzen, einen Übergangsfall, nämlich das Vorstellungsvermögen, und diese Symmetrie unterstreicht einmal mehr, wie systematisch das Ibn Bāǧǧas Psychologie zugrunde liegende Potenzenmodell ist. Die Position des Vorstellungsvermögens (al-quwwa al-mutaḫayyila) erscheint im Buch der Seele von Anfang an ambivalent. Zuerst sagt Ibn Bāǧǧa nämlich, »Seele« werde nicht nur per prius und per posterius ausgesagt, wegen der Ordnung der Tätigkeiten und Vermögen, sonder auch »analog« (bi-tanāsub), weil 18So erklärt Ibn Bāǧǧa auch in der Nachschrift zum Abschiedsbrief, vgl. T 67.
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Wahrnehmung und Vorstellung »im gleichen Verhältnis zueinander stehen« (N I. 18). Wenig später erklärt er dann: »die späteste von allen [ist] die vorstellende Seele«, »denn die Wahrnehmung geht ihr vorher« (N I. 20). Dieses Vorhergehen macht sich daran fest, dass einige Lebewesen existieren – also wieder ein Übergangsfall – die zwar die Wahrnehmung aber keine oder nur eine rudimentäre Vorstellung besitzen. Diese Ambivalenz findet sich bereits bei Aristoteles und den griechischen Kommentatoren. Zwar wird bei Aristoteles mindestens implizit klar, dass die Vorstellung in der Wahrnehmung wurzelt und ihr nachgeordnet ist, und Alexander sagt das auch ausdrücklich,19 aber es bleibt ungewiss, wie weit beide Vermögen tatsächlich voneinander zu trennen sind. Teils scheint die Wahrnehmung Vorstellung notwendigerweise nach sich zu ziehen,20 teils wird die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs in Frage gestellt,21 und an wieder anderen Stellen wird wie bei Ibn Bāǧǧa die Existenz von Lebewesen ohne Vorstellung behauptet.22 In der dem Vorstellungsvermögen gewidmeten Abhandlung des Buchs der Seele beschreibt Ibn Bāǧǧa dann ausführlich sowohl dessen Abhängigkeit vom Wahrnehmungsvermögen, da es von den Wahrnehmungen überhaupt erst in Bewegung versetzt wird (N X. 2, 4, 6, 8), wie auch andersherum, dass es teilweise unabhängig vom Wahrnehmungsvermögen tätig wird (N X. 8) und sogar auf es zurückwirkt (N X. 3). Insbesondere was die Bewegung und das Strebeverhalten der nichtrationalen Lebewesen angeht, fungiert es als höchstes und lenkendes Vermögen des gesamten Organismus.23 Dementsprechend lautet Ibn Bāǧǧas Schlussfolgerung (N X. 10): »Es ist also klar, dass das Vorstellungsvermögen Vollendung für einen natürlichen organischen Körper ist, und es ist folglich Seele.« Dabei ist jedoch noch nicht die eigentümliche Leistung des Vorstellungsvermögens berücksichtigt. Diese besteht darin, wie Ibn Bāǧǧa erläutert, dass sie die vom Wahrnehmungsvermögen geleistete Abstraktion fortsetzt und auf ein neues Niveau hebt. Die Tätigkeit des Vorstellungsvermögens ist damit weiter von der Materie entfernt (N X. 10–11). Daraus folgt aber für Ibn Bāǧǧa, dass seine Beziehung zum organischen Körper auch anders beschrieben werden kann, nämlich wie er es bereits zuvor in der Abhandlung über den Gemeinsinn dargestellt hat: [N IX. 7] »Wenn das Lebewesen ein weiteres Vermögen [als den Gemeinsinn] besitzt, das überhaupt nicht Form eines Körpers ist, dann wäre jenes keine 19Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 29, 16–18. 20Aristoteles, De anima, II. 2, 413b22f. 21Aristoteles, De anima, II. 3, 414b15f. 22Aristoteles, De anima, II. 3, 415a10f; III. 3, 428a9–11, Aristoteles nennt dort wie Ibn Bāǧǧa Würmer als Beispiel; so auch Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 90, 8; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 158, 2. 23N X. 9; für eine ausführlichere Darstellung siehe Kapitel 12.
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Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen
Seele, außer in einer Art von Äquivokation. Sei es zum Beispiel, dass ein Vermögen wie eine Form für den Gemeinsinn ist und der Gemeinsinn gleichsam seine Materie, dann ist dies auch eine Form für die Materie des Gemeinsinns, aber keine primäre. Daher ist dieses Vermögen ein Vermögen, das in der Mitte steht zwischen der Seele und den Vermögen, die keine Seelen sind, und das an jedem von ihnen teilhat. […] Dieses Vermögen ist das Vorstellungsvermögen.« Dass das Vorstellungsvermögen nur in einem sekundären Sinne Seele ist, nämlich nur sekundär Form eines organischen Körpers, liegt hier nun nicht etwa darin begründet, dass es, wie dargestellt, nur auf Basis des Ertrags eines anderen Vermögens tätig sein kann – das galt ja auch für das Verhältnis von Nährund Wachstumsvermögen –, sondern darin, dass es in den Wahrnehmungen gar kein rein körperliches Objekt mehr hat. Es bedarf dann auch selbst keines rein körperlichen Organs mehr, sondern bedient sich eines anderen Vermögens als Organ. Das Vorstellungsvermögen ist ein Mittelding oder, wie Ibn Bāǧǧa an anderer Stelle in Anlehnung an eine eher beiläufige Bemerkung des Themistios sagt, ein »Grenzgebiet« oder ein »Niemandsland« (μεϑόριον, tuḫūm) zwischen den Vermögen, die Seele im engeren Sinne sind, und den Vermögen, die keine Seele sind.24 [N X. 15] »Das Vorstellungsvermögen ist wie ein Grenzgebiet zwischen den Seienden, die so beschaffen sind, dass sie sich von der Materie abtrennen, und den materiellen, und das von jedem einen Teil nimmt, dem entsprechend wie die Natur ihrer Beschaffenheit nach immer handelt, denn sie geht nicht ohne Mittelding von einer Gattung zur anderen über.« Das Vermögen, das nicht mehr Seele ist, sondern nur noch »ein Vermögen der Seele«, ist dann, wie oben bereits erwähnt, das »rationale Vermögen« (al-quwwa al-nāṭiqa, N I. 6; XI. 1). Es ist nicht mehr Form des organischen Körpers, sondern wiederholt in Bezug auf das Vorstellungsvermögen das Verhältnis, welches zwischen letzterem und dem Wahrnehmungsvermögen besteht (vgl. N X. 11, 15). Im Rahmen der in Kapitel 12 und 13 angestellten Untersuchung, wie die von Ibn Bāǧǧa mit Alexander angenommene Hierarchie immer höherer und komplexerer Potenzen zum Abschluss kommt, wird sich auch die Beschaffenheit des rationalen Vermögens noch genauer klären. Hier aber kann man bereits festhalten, dass Ibn Bāǧǧas Behauptung, das rationale Vermögen sei nicht Seele, sondern ein Vermögen der Seele, jedenfalls nicht die Identität der Seele mit ihren Vermögen in Frage stellt, von der wir in Kapitel 4 ausgegangen sind. Selbst das 24Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 88, 29; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 154, 14.
Seele als Form eines organischen Körpers
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Vermögen zu denken, löst sich nicht aus der hylemorphischen Struktur und vom organischen Körper, es rückt von ihm nur durch Vermittlungsstufen ab. Man hat die Seele selbst mit Ibn Bāǧǧa also als eine in sich strukturierte Gesamtheit25 von Vermögen zu denken, bei der die primären Vermögen ihrerseits Grundlage für weitere Vermögen sein können, auf die wiederum andere Vermögen aufbauen. Die Seele selbst erhält eine quasi-hylemorphische Struktur. Dieses transitive Materie-Form-Verhältnis endet, wie sich zeigen wird, an der Spitze mit dem aktiven Intellekt. Am unteren Ende dagegen grenzt es an natürliche Potenzen, die noch keine Seele sind, und zwar dies nicht nur im Vergleich mit einfacheren Spezies, wie wir es oben anhand der Trüffeln gesehen haben, sondern auch im organischen Körper selbst. So erläutert Ibn Bāǧǧa, dass das Nährvermögen, gerade weil es einen organischen also vielfältigen Körper ernährt, nicht nur ein »führendes« Nährvermögen braucht, das Nahrung dem beseelten Körper überhaupt assimiliert, sondern auch »dienende, partikuläre, die in den einzelnen Gliedern sind« und die diese Funktion für das jeweilige konkrete Organ übernehmen (N II. 18). Man kann leicht sehen, dass nach derselben Logik partikuläre Potenzen nicht nur für die belebten Homoiomere Fleisch und Knochen nötig sind, sondern auch für die einfacheren Bestandteile, aus denen sie sich zusammensetzen. Und in der Tat: Ibn Bāǧǧa stellt einen Bezug zu den Potenzen der Elemente her (N II. 18). Für die Analyse der Seelenvermögen als Potenzen zeigt diese erste anhand der allgemeinen Seelendefinition gewonnene Präzisierung mithin, dass zumindest die primären seelischen Vermögen in engem Zusammenhang mit den organischen Strukturen bestimmt werden müssen, deren Formen sie sind. Diese Vermögen sind somit die spezifischen Potenzen organisch strukturierter Körper, und sie sind damit in Abgrenzung von, aber dadurch auch im Zusammenhang mit den Potenzen einfacher strukturierter Körper zu sehen und zu erklären. Die höheren Seelenvermögen wie Vorstellung und rationales Denken, aber auch die in anderer Hinsicht sekundären Vermögen wie die Erinnerung, können nur aufbauend auf und im Ausgang von diesen »biologischen« Vermögen bestimmt werden.
25Zur Gesamtheit der Vermögen vgl. auch Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 182, 12–15; Faḫrī, 96, 4–6: »Wir sagen, dass im Menschen viele Dinge sind und dass er nur durch ihre Gesamtheit Mensch ist: In ihm ist das Nährvermögen, […]; in ihm ist das Wahrnehmungsvermögen, das Vorstellungsvermögen und das Erinnerungsvermögen, […]; und in ihm ist das rationale Vermögen, dieses ist das ihm eigentümliche.«
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Allgemeine Seelendefinition und Bestimmung seelischer Potenzen
2. Seele als erste Entelechie Die zweite Präzisierung des Seelenbegriffs betrifft das zweite zentrale Merkmal der Seelendefinition, die Tatsache, dass die Seele erste Entelechie und nicht schon zweite oder letzte Entelechie ist. Ibn Bāǧǧa beschreibt das zunächst nur, Aristoteles folgend, anhand des Beispiels von bloß besessener und wirklich ausgeübter Wissenschaft.26 Im Verlaufe des Buchs der Seele wird jedoch klar, dass Ibn Bāǧǧa darin in der Tat eine so entscheidende Bestimmung sieht, dass sie geeignet ist, »Seele« weiter einzugrenzen. So wie er den Begriff der Seele einerseits gegen die Natur abgegrenzt hat, schränkt er ihn auf der anderen Seite auf die nicht aktuell tätige Wesensform des Lebendigen ein: [N IV. 2] »Das Sehvermögen [quwwat al-baṣar] nun ist die erste Entelechie des Auges, es ist nämlich die Sehseele [al-nafs al-bāṣira], und wenn es sieht, dann wird es Sehen [baṣar], und das ist sein Name, insofern es in letzter Vollendung ist. Ebenso ist es mit den übrigen [Potenzen], wenn sie sich abgesondert haben und nur Potenz sind, dann sind sie Seele. Daher sagt man vom Embryo und vom Schlafenden, dass er eine Seele besitzt. Wenn sie aber ihre Funktionen erfüllen, dann sind sie Sinneswahrnehmung. Die Potenz, die Sehen wird, ist in Potenz die sichtbaren [Dinge].« Mit anderen Worten, »Seele« sind die Vermögen oder Potenzen nur als Potenzen, nicht insofern sie tätig sind. Unsere Beobachtungen in Kapitel 4 bestätigend bedeutet dies, dass Ibn Bāǧǧa die Seele nicht nur de facto mit den seelischen Potenzen gleichsetzt, sondern dass er den Begriff der Seele bewusst auf die Potenzen als Potenzen beschränkt und den ihnen jeweils korrespondierenden Akt, die Tätigkeiten des Lebendigen, davon ausnimmt. Wenn man einer jüngeren kritischen Anmerkung glaubt, dann ist dies allerdings nicht mehr als die mindestens bis auf Alexander zurückgehende traditionelle Interpretation, von der kaum ein Kommentator abweicht.27 In der Deutlichkeit der Abgrenzung der Seele von den Tätigkeiten geht Ibn Bāǧǧa allerdings einen Schritt weiter, auch wenn seine Begriffsbildung nicht ohne – viel zurückhaltender formulierte – Vorbilder bei Themistios und Aristoteles selbst ist;28 sie macht in dieser entschiedenen Beschränkung der Seele das spezifisch Neue der belebten Natur besonders deutlich.
26N I. 6; Aristoteles, De anima, II. 1, 412a9–11 und 21–28. 27Vgl. Hübner, Die Aristotelische Konzeption der Seele, mit reichen Literaturangaben. 28Vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 412b27–413a1, wo das Sehen »Entelechie« und »das Sehvermögen und die Potenz des Organs […] Seele« gennant wird. Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 43, 17f; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 53, 5f; Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 61: »So while the soul is both the entelechies, and more so the first, the body is the substrate.«
Seele als erste Entelechie
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Phänomenologisch geht es Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles darum, die Tatsache einzufangen, dass auch der Schlafende lebt oder, allgemeiner gesagt, dass auch das untätige Lebendige lebt.29 Diese Beobachtung bleibt jedoch noch weitgehend an der Oberfläche, beziehungsweise sie dient nur dazu, eine grundsätzlichere Eigenart des Beseelten deutlich zu machen. Denn nicht nur werden bei dieser diachronen Deutung der Potenznatur der Seele die Pflanzen beziehungsweise das sie allein auszeichnende Nährvermögen zum Problem, das immer tätig ist, so lange der Organismus lebt,30 sondern auch der Schlaf besteht nicht wirklich in einer völligen Untätigkeit des Lebewesens.31 Nicht nur ist das Nährvermögen weiter tätig, ja gar Ursache des Schlafs, wie sich an anderer Stelle zeigen wird,32 sondern das Vorstellungsvermögen wird sogar besonders aktiv, nämlich im Traum (N X. 8). »Der Schlaf besteht darin,« wie Ibn Bāǧǧa sagt, »dass der Gemeinsinn sich bloß in Potenz befindet« (N X. 8). Das paradigmatische Beispiel des Schlafs zeigt also in der Tat nicht mehr als dass seelische Potenzen prinzipiell inaktiv sein können oder genauer, dass es phänomenale Anhaltspunkte für die begriffliche Unterscheidung von Potenz (Seele) und Tätigkeit gibt. In der Tat gibt es bei den griechischen Kommentatoren Überlegungen, die diese grundsätzliche Bedeutung des Merkmals der »ersten Entelechie« für das Verständnis des Beseelten deutlich machen. Sie knüpfen sich zwar eher an Aristoteles’ Formulierung an, die Seele sei Vollendung eines Körpers, »der in Möglichkeit Leben hat«,33 aber wie bereits Alexander notiert, ist diese Bestimmung äquivalent mit derjenigen als erste Entelechie.34 Themistios also erläutert, dass die in dieser Formulierung genannte Potenz eine solche ist, die weiter besteht, selbst während sie realisiert wird, wie etwa das, was geht, gehen kann, auch während es geht, so hat allgemeiner das Lebendige, während es lebt, gleichzeitig die Potenz zu leben.35 Eine solche Potenz besitzt aber, wie bereits Aristoteles sagt – und darauf spielt Themistios hier an –, nur das »Bewegungsfähige«.36 Dass damit auch bei Aristoteles nur die Bewegungen des Beseelten gemeint sein können, wird sich in Kapitel 7 zeigen, wo wir sehen werden, dass Aristoteles 29Aristoteles, De anima, II. 1, 412a22–28. 30Zu Ibn Bāǧǧas Behandlung dieser Frage siehe Kapitel 12. 31Darauf weist auch Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 3–8; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 47, 12–16 hin. 32Siehe unten, Kapitel 11. 33Vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 412a19–21 und 412a27f, dort gleichzeitig mit »erste Entelechie«. 34Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 17f. 35Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 42, 27–34; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 51, 12–52, 1; Vgl. Themistius, On Aristotle On the Soul, übers. Todd, 60; seinen Anmerkungen zur Stelle (169, Anm. 26 und 27) sind die Hinweise auf die im Folgenden genannten Texte entnommen; siehe auch Aristoteles, De anima, ed. Hicks, 311f. 36Vgl. Aristoteles, De interpretatione, 13, 23a3–11.
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(und Ibn Bāǧǧa) die Bewegungspotenz des Unbelebten auf äußere Bedingungen zurückführt, so dass sie tatsächlich mit ihrer Realisierung im gewissen Sinne aufhört, als Potenz zu existieren. Nur seelische Potenzen bestehen also als Potenzen zusammen mit dem ihnen korrespondierenden Akt fort. Alexander nun hat in einer kurzen Quaestio, die sich mit derselben Formulierung des Aristoteles beschäftigt, in diesem Sinne einen Unterschied zwischen Seele und Leben gemacht: Die Seele wird als Potenz (des Körpers) zu leben definiert, das Leben im eigentlichen Sinne ist Akt, und zwar die verschiedenen Lebenstätigkeiten, die dem beseelten Körper zukommen.37 Systematisch reicht das Konzept der ersten Entelechie also tiefer als das von Ibn Bāǧǧa angeführte Beispiel des Schlafenden. Es bestimmt den wesentlichen Unterschied des Lebendigen vom Unbelebten: Seele ist eine solche Potenz, die als erste Entelechie oder Vollendung (eines in bestimmter Weise beschaffenen Körpers) auf einen Akt als zweite Vollendung bezogen ist. Und das macht Ibn Bāǧǧa in der oben zitierten Passage (N IV. 2) übrigens auch unzweifelhaft deutlich. Die Organizität des lebendigen Körpers ist – das wird im Verlauf der weiteren Untersuchung noch klar werden – nur die materielle Kehrseite dieser formalen Bestimmung.38 Wichtig ist hier zunächst vor allem, dass für Ibn Bāǧǧa Seele nur die Potenz zu den Tätigkeiten ist, die wir als seelische zu bezeichnen gewohnt sind. Die Tätigkeit selbst geht über diese Potenz hinaus und ist schon nicht mehr Seele. Sie ist, heißt das, abhängig von einem anderen, das in noch näher zu bestimmender Weise, Bedingung, Ursache oder Mitursache des Übergangs von Seele zu Tätigkeit ist, nämlich dem jeweiligen »Gegenstand« des Vermögens in der das Beseelte umgebenden Welt. »Die Potenz, die Sehen wird, ist in Potenz die sichtbaren [Dinge]« – hat Ibn Bāǧǧa gesagt (N IV. 2). Das heißt, die Bezogenheit der Seele als Potenz auf den Akt, ist zugleich ein Bezogensein auf Objekte. Insofern diese Relationalität der Seele durch den Akt nicht erfüllt und überwunden wird, sondern wie gerade gesehen in ihm erhalten bleibt, handelt es sich um eine wesensmäßige Offenheit der Seele hin auf den Gegenstand, mit dem sie sich im sie transzendierenden Akt identifiziert. Wir werden noch Gelegenheit haben, auf diesen Wesenszug der Seele einzugehen, allerdings nur insofern nach den naturphilosophischen – hier: organischen – Grundlagen dieser Relationalität zu fragen ist. Prinzipiell ist damit dagegen der Punkt erreicht, welcher Ibn Bāǧǧas erkenntnistheoretische Durchführung der aristotelischen Psychologie bestimmt.39 Um Ibn Bāǧǧas Überlegungen zur gesuchten vollständigen Definition der Seele (Kapitel 5.3.) noch einmal aufzunehmen, kann man festhalten, dass wenn die Seele auch nur über ihre Tätigkeiten als ihre Zielursachen abschließend be37Alexander of Aphrodisias, Quaestiones, 2.8, übers. Sharples, 104f. 38Siehe Kapitel 10. 39Vgl. den »Ausblick« am Ende des Buches.
Seele als erste Entelechie
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stimmt werden kann, diese Zielursachen doch die Seele selbst, zumindest in einem ganz spezifischen Sinne, übersteigen. Eine Bestimmung der Seele in ihrer engsten Bedeutung ist eine Bestimmung ihrer Potenzen als Potenzen und das setzt in einem ersten Schritt die generische Bestimmung natürlicher Potenzen überhaupt voraus, der wir uns in den folgenden Kapiteln nun zuwenden wollen.
III. Potenztheoretische Grundlagen der Psychologie Ibn Bāǧǧas
7. Kapitel. Bewegungstheorie Ibn Bāǧǧas Verständnis der Psychologie als einer Naturwissenschaft, die sich auf die Prinzipien gründen muss, welche in den übrigen Naturwissenschaften aufgezeigt wurden, führt ihn dazu, nach Kontinuität und einheitlichen Modellen auch für die Erklärung der Bewegung »natürlicher« Körper einerseits und belebter Körper andererseits zu suchen. Dies zeigt sich nicht nur im Buch der Seele, wo der Vergleich zwischen diesen Bewegungstypen, wie wir gesehen haben, bereits bei der Einführung der Seelendefinition eine zentrale Rolle spielt (N I. 5–6), sondern ebenso im Kommentar zur Physik, wo Ibn Bāǧǧa immer wieder mit einer Ausführlichkeit auf die Bewegung der Lebewesen eingeht, die in Aristoteles’ Schrift keine Parallele hat.1 Nicht zuletzt widmet sich Ibn Bāǧǧa dieser Problematik dann in zwei nach dem Buch der Seele entstandenen Abhandlungen, die das Strebevermögen behandeln, dabei aber grundlegend mit ausführlichen Erklärungen von Bewegung überhaupt ansetzen – und sich weitgehend darin erschöpfen, bevor sie unvollendet abbrechen. Vermutlich waren diese Texte zur Vervollständigung des Buchs der Seele gedacht, das dann wie De anima selbst mit einer Behandlung der Bewegung geendet hätte.2 Aristoteles stellt seine allgemeinen Überlegungen zur Bewegung in der Physik fast ausschließlich anhand der Bewegung einfacher »natürlicher« Körper an, während die Analyse der Bewegung der Lebewesen in De anima III. 9ff zwar einige der dort entwickelten Grundsätze aufnimmt, aber keine Kontinuität zu den »natürlichen« Bewegungen herstellt. Ein engerer Zusammenhang wird in De motu animalium wohl angedeutet, dieser Text war den Arabern jedoch unbekannt, und Ibn Bāǧǧa musste mithin einen eigenen Weg finden, um eine einheitliche Erklärung natürlicher Bewegung im weiteren Sinne, also belebter und unbelebter, zu entwickeln. Drei Merkmale an den beiden Bewegungstypen stellten für solch ein vereinheitlichtes Bewegungskonzept eine besondere Herausforderung dar:3 (1) Die natürliche Bewegung der einfachen Körper wird von Aristoteles an mehreren 1Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 125–127; 136–141; 181–183; 186–189; 205f u.Ðö. Bei Aristoteles vgl. Physik, VIII. 2, 253a2–21; VIII. 6, 259a27–b20 und einige Bemerkungen in VIII. 4. 2Vgl. die Einleitung, Abschnitt iii zur Vollständigkeit der erhaltenen Fassung des Buchs der Seele. 3Belege zu den hier zusammengefassten Aussagen werden unten im Rahmen der ausführlichen Diskussion gegeben.
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Bewegungstheorie
Stellen in seinen Schriften auf einen externen Beweger zurückgeführt, während die Seele als Beweger der Lebewesen ein internes Prinzip ist. Hinzu kommt für den ersten Bewegungstyp die Schwierigkeit, dass auch Aristoteles’ Bestimmung der Natur als internes Prinzip der Bewegung in Physik II. 1 in Widerspruch oder zumindest in Spannung zur erwähnten externalistischen Erklärung der »natürlichen« Bewegung in Physik VIII steht. (2) In Aristoteles’ Erklärung der Bewegung einfacher Körper spielt das Konzept des »natürlichen Ortes« eine entscheidende Rolle. Der natürliche Ort ist als Zielpunkt jeder natürlichen – im Unterschied zu einer erzwungenen – Bewegung eine Art der Vollendung für den bewegten Körper. Bei der Behandlung der Bewegung der Lebewesen spielt dann dieser vormals zentrale Begriff plötzlich keine Rolle mehr, ohne dass unmittelbar einsichtig wäre, warum er dort wesentlich, hier aber verzichtbar sein sollte. (3) Aristoteles scheidet zwar streng zwischen gewaltsamen und natürlichen Bewegungen, dennoch lassen sich gewaltsame Bewegungen aus der Deutung der natürlichen nicht vollkommen heraushalten. So kommen natürliche Bewegungen einfacher Körper zu ihren natürlichen Orten etwa nur dann zustande, wenn eine gewaltsame Bewegung sie zuvor von ebendiesen Orten entfernt hat. Bei den Bewegungen der Lebewesen stellen gar die natürlichen Bewegungen selbst, zumindest unter einem bestimmten Gesichtspunkt, gewaltsame Bewegungen dar, etwa wenn der Körper oder ein Körperglied entgegen seiner natürlichen Tendenz hochgehoben wird. Eine genaue Analyse von Ibn Bāǧǧas Auseinandersetzung mit den genannten aristotelischen Theorien zeigt, dass er diese Anomalien mit Hilfe des Begriffs der Potenz erklärt, und letzteren so bestimmt und differenziert, dass sich die verschiedensten Bewegungstypen und Bewegungsabläufe auf gemeinsame Prinzipien zurückführen lassen. Dabei zeigt sich zudem gegen die von Shlomo Pines wirkmächtig geäußerte These, dass Ibn Bāǧǧa zumindest im Bereich der in diesem Kapitel ausführlicher betrachteten Ortsbewegung die Potenz nicht als eine aktive bewegende Kraft deutet, sondern wesentlich als Potentialität in Bezug auf eine Aktualität. Abschnitt 1 untersucht die allgemeine Definition der Bewegung, in der der Begriff der Potenz eine prominente Rolle spielt. Daran schließen sich zunächst eine Untersuchung der natürlichen Ortsbewegung unbelebter Körper (Abschnitt 2), darauf der gewaltsamen oder Fremdbewegung (Abschnitt 3) und schließlich der Ortsbewegung der Lebewesen (Abschnitt 4).
1. Bewegung, Potenz und Vollendung Als Grundlage für dieses und die folgenden Kapitel müssen wir in diesem Abschnitt zunächst einige aristotelische Theoriestücke in Erinnerung rufen, welche die Potenz und die Bewegung betreffen, bevor wir uns in den folgenden
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Abschnitten Fragestellungen zuwenden, bei denen Ibn Bāǧǧa mit Hilfe einer systematischen Verwendung des Begriffs der Potenz Probleme löst, welche die aristotelische(n) Erklärung(en) der Bewegung dem Interpreten stellen. Wir wollen dies aber tun, indem wir diese Theoriestücke anhand von Texten Ibn Bāǧǧas aufnehmen, also so, wie er sie sich angeeignet hat. Dabei gehen wir von einer Passage seines Buchs der Seele aus, und zwar aus jenem Abschnitt zu Beginn des Kapitels über das Nährvermögen, in dem Ibn Bāǧǧa den Begriff der Potenz allererst einführt. Die Potenz oder Potentialität wird dort zuerst als Eigentümlichkeit der vergänglichen und veränderlichen Seienden vorgestellt, als Seinkönnen, das zwischen dem Sein und dem Nichtsein anzusiedeln ist (N II. 1).4 Im Anschluss wendet Ibn Bāǧǧa sich der Veränderung selbst zu, denn Veränderung (taġayyur) ist eben der Vorgang, durch den etwas Potentielles aktuell wird. [N II. 4] »Die Potenz geht – wie an vielen Stellen erklärt worden ist – dem Akt voraus, und der Akt teilt sich in die zehn Kategorien; und was in Potenz ist, das wird nichts in Akt, bis notwendigerweise eine Veränderung geschieht, wie dies im achten [Buch der Physik] erklärt worden ist. Die Veränderung kommt vor bei der Substanz, bei der Quantität, der Qualität und beim Wo; die Potenzen dieser vier [Kategorien] sind die Potenzen, in denen das Bewegte bewegt wird. Die Potenzen, durch die sich das Bewegte bewegt, werden passive und sich verändernde Potenzen genannt; und die Potenzen zu diesen sind {sich} verändernde Potenzen. Unter den übrigen Kategorien gibt es keine, außer der Kategorie des Wirkens, bei denen die Vollendung ihrer passiven Potenzen Veränderung ist, sondern sie kommt von einer Veränderung und geschieht daher in einem Augenblick.« Ibn Bāǧǧa beruft sich hier auf das achte Buch der Physik, was vermutlich damit zu erklären ist, dass er für die vorhergehenden Überlegungen hauptsächlich diesen Text benutzt hat (vgl. N II. 1, 3). Die ausführlicheren Bestimmungen der Veränderung und Bewegung – beide Termini werden von Ibn Bāǧǧa ebenso wie von Aristoteles häufig synonym verwandt (μεταβολή/taġayyur, κίνησις/ḥaraka) – und die Differenzierung der Arten der Bewegung finden sich jedoch in den Bü4In seinem Kommentar zur Physik schreibt Ibn Bāǧǧa im Rahmen seiner Erläuterung der Definition der Bewegung das Folgende (Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 29, 18–30, 2): »Und er begann mit der Untersuchung der Bewegung, was sie ist und was ihre Potenzen sind. Aus dem, was wir darüber sagen, wird klar, dass sie eine Vollendung ist, und die genaue Erklärung ist die folgende: Jeder seiende Körper ist entweder in Vollendung und in Akt oder in Potenz und in Möglichkeit, und dies [letztere] ist der Fall bei dem, was Mangel ist, wobei aber seine Existenz möglich ist. Diese Möglichkeit wird Potenz genannt. Und die Sache ist, wenn sie völlig in Potenz ist, in Akt nichts von dem, was diese Sache in Potenz ist. Und wenn sie völlig in Akt ist, dann ist diese Sache überhaupt nicht in Potenz, noch ist in ihr einer von den Teilen der Potenz.«
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Bewegungstheorie
chern drei, fünf und sieben, deren Ergebnis in acht nur nochmals aufgegriffen wird. Das hält Ibn Bāǧǧa in seinem Physik-Kommentar übrigens ebenso wie Aristoteles.5 Veränderung ist der Übergang von der Potenz zum Akt, doch »der Akt teilt sich in die zehn Kategorien«, so sagt Ibn Bāǧǧa, das heißt, aktuelles Sein wird nach den zehn Kategorien ausgesagt, die Aristoteles in seinem gleichnamigen Werk eingeführt hat.6 Es wären prinzipiell also zehn verschiedene Typen von Veränderung denkbar.7 Tatsächlich, so Ibn Bāǧǧa, finden jedoch nur in den vier Kategorien der Substanz, der Quantität, der Qualität und des Ortes Veränderungen statt. Durch diese Aussage wird sogleich klar, dass er hier an Veränderung in einem allgemeinen Sinne denkt, der das Entstehen und Vergehen, die Bildung und den Verfall von Substanzen, mit einschließt, die Aristoteles nicht als Veränderung beziehungsweise Bewegung im engeren Sinne gelten lässt.8 Ein solcher Ansatz ist durchaus berechtigt, und er wird von Aristoteles im dritten Buch der Physik auch geteilt.9 Aristoteles bestimmt dort die Veränderung als »Verwirklichung [ἐντελέχεια] des In-Potenz-Seienden, insofern es ein solches ist«.10 Dieses »insofern es ein solches ist«, also insofern es in Potenz ist, will besagen, dass Veränderung nicht der Endzustand des Veränderten ist, sondern der Prozess, durch den dieser Zustand erreicht wird. Solange dieser Prozess sich vollzieht, ist immer noch Potentialität vorhanden, die noch nicht vollständig zur Aktualität gebracht worden ist.11 Veränderung wird daher auch als eine »unvollendete Vollendung« (ἐντελέχεια bzw. ἐνέργεια ἀτελής) bezeichnet.12 Ibn Bāǧǧa betont diese ontologische Einordnung der Veränderung an zahlreichen Stellen seines Werkes, und zwar hebt er insbesondere zweierlei hervor: einmal, dass die Veränderung eine Weise zu sein, man möchte sagen ein Seinsstatus ist, und zum zweiten, dass sie ein verminderter Seinsstatus ist. So beginnt Ibn Bāǧǧa seine Darlegung der Bewegung in der Kommentierung von Buch III der Physik folgendermaßen: [T 15] »Wir haben bereits gesagt, dass es zwei Typen von Existenz [wuǧūd] gibt, eine von beiden ist die Vollendung [kamāl], die andere die Bewegung 5Relevante Stellen in Buch VIII sind: Aristoteles, Physik, VIII. 1, 251a8–17; VIII. 5, 257b6–9. MS B, f. 73a18–74a14, in: Lettinck, Aristotle’s Physics, 735–738. 6Aristoteles, Kategorien, 4, 1b25–27. 7Vgl. Aristoteles, Physik, III. 1, 200b26–28; 201a8f; V. 1, 225b5–9; Metaphysik, XI. 9, 1065b14; XI. 12, 1068a8–10. 8Aristoteles, Physik, V. 2. Ebenso Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 51, 1f. 9Siehe besonders Aristoteles, Physik, III. 1, 200b33f; 201a14f. 10Aristoteles, Physik, III. 1, 201a10f; 201a27–29; 201b4f. 11Aristoteles, Physik, III. 1, 201a15–21; 201a29–b15; III. 2, 201b27–33. Ebenso Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 31, 3–12. 12Aristoteles, Physik, III. 2, 201b31f; VIII. 5, 257b8f.
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[ḥaraka] und sie ist unvollkommener als die Existenz in Akt. Sie steht in der Mitte zwischen der Existenz in Potenz und der Existenz in Vollendung und nimmt von jeder einen Teil.«13 War die Potenz, etwas zu werden, bereits als Mitte zwischen Sein und Nichtsein erschienen, so ist die Bewegung die Mitte zwischen Potenz und Akt, wobei der Akt als Vollendung verstanden ist. Dementsprechend hat die Bewegung an der Bestimmung als Vollendung teil, und Ibn Bāǧǧa kann etwa sagen, dass sie »die erste Vollendung« (al-kamāl al-awwal) ist,14 ja dass sie eine der zwei Spezies der Vollendung ist.15 Ibn Bāǧǧa begründet das an letzterer Stelle damit, dass »die Existenz im Allgemeinen das Erhalten von Vollendung [iʿṭāʾ kamāl] ist«. Etwas kann also auf zwei Weisen sein, entweder weil es in Vollendung da ist oder weil es auf dem Weg zu dieser Vollendung ist. Dies bringt Ibn Bāǧǧa im Kommentar zur Physik auch in Bezug auf die vier Kategorien heraus, von denen wir gesagt haben, dass nur in ihnen Veränderung stattfindet.16 Nach der oben zitierten Einführung stellt er nämlich zunächst fest, dass die Ziele (ġāyāt) der Bewegungen die »Formen« (ṣuwar) sind. Form und Materie bilden die Ursachen aller entstehenden und vergehenden Seienden, aber sie sollen hier, so sagt Ibn Bāǧǧa, nur in Bezug auf die »Existenz« betrachtet werden, die »Veränderung« (taġayyur) genannt wird. Für die Behandlung der Materie als solche verweist er kurz zurück auf seine früheren Aussagen, die an Physik I. 7–9 anknüpfen.17 Die Form als erste Ursache dagegen könne man nicht im Rahmen einer einzigen Darlegung (qaul wāḥid) behandeln, da sie selbst nicht eine sei, sondern deren Bestimmung für jede der vier Kategorien jeweils einzeln gegeben werden müsse. Dies bedeutet, dass Ibn Bāǧǧa die Form als die höhere und letzte Vollendung begreift, die je nach Blickwinkel als Ursache des Seins des Seienden oder selbst als dessen höhere Seinsweise beschrieben werden kann. Die Veränderung im Bereich jeder der vier Kategorien, also die Bewegung hin auf die jeweilige Form, erscheint dann als geringere Seinsweise, Ibn Bāǧǧa spricht im Folgenden von der »ersten Existenz« (al-wuǧūd al-awwal). Die erste Existenz der Substanz ist das Entstehen (kaun), diejenige der Quantität das Wachsen (numūw). Etwas anders, so Ibn Bāǧǧa, verhalten sich Veränderung und Sein in den Kategorien der Qualität und des Wo zueinander, denn die Veränderung in der Qualität, die »Eigenschaftsänderung« (istiḥāla), verläuft nicht zwischen Gegensätzen, die ein Zunehmen und Abnehmen des Seins bedeuten, wie etwa Entstehen und Vergehen in der Substanz; vielmehr ist keines der Extreme, 13Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 28, 19–21. 14Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 474, 12f. 15Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 470, 8f. 16Zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 28, 21–29, 10. 17Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 17, 16–20, 14.
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Bewegungstheorie
zwischen denen die Eigenschaftsänderung sich abspielt, »würdiger zu sein als das andere«. Die Bewegung in der Kategorie des Wo, die Ortsbewegung (nuqla), ist sogar von noch geringerer Auswirkung auf das Sein des Seienden. Zwischen diesen »Formen« und der ihnen jeweils korrespondierenden Potenz finden also Veränderungen statt oder, wie Ibn Bāǧǧa in dem oben zitierten Auszug aus dem Buch der Seele gesagt hatte, sie finden in diesen Potenzen statt, denn dies sind »passive« oder »sich verändernde« Potenzen, deren erste gemeinsame Ursache, wie soeben erwähnt, die Materie ist. Ihnen korrespondieren, laut Ibn Bāǧǧa, nun andere Potenzen, die diese Veränderungen bewirken, die wir hier aber außer Betracht lassen wollen, da diesem für Ibn Bāǧǧa durchaus zentralen Paar der passiven und aktiven Potenzen in Kapitel 8 eine eigene Untersuchung gewidmet ist. Folgen wir daher nach dieser Bestimmung der Veränderung oder Bewegung im weiteren Sinne den von Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles vorgenommenen Differenzierungen. Im fünften Buch der Physik wird das Entstehen und Vergehen auf Grund zweier Kriterien von den anderen Arten der Veränderung unterschieden. Zum einen ist Veränderung im engeren Sinne immer ›ein Wandel aus einem Zugrundeliegenden in ein Zugrundeliegendes‹, während Entstehen ein Wandel aus Nicht-Zugrundeliegendem in Zugrundeliegendes ist und das Vergehen umgekehrt.18 Ibn Bāǧǧa erklärt das so, dass bei der Veränderung die Identität des sich Verändernden gewahrt bleibt, dieses sich also nur in seinen Akzidenzien verändert, während bei der Entstehung ein völlig neues Seiendes erzeugt wird.19 Als zweiten Unterscheidungsgrund beziehungsweise als Erläuterung des ersten führt Aristoteles an, dass die Substanz keinen Gegensatz hat,20 denn Veränderung im engeren Sinne, also aus einem Zugrundeliegenden, hat er als Veränderung aus einem Gegensatz oder einem Zwischenzustand bestimmt.21 Man könnte nun einwenden, dass das Entstehen sehr wohl eine Veränderung aus dem Gegensatz darstellt, nämlich aus der Privation, die Aristoteles ja ausdrücklich als Gegensatz anerkennt. Bei ihm ist nicht unmittelbar einsichtig, warum der Übergang von der Privation zur Form nicht die gesuchte Veränderung aus dem Gegensatz ist. Ibn Bāǧǧa wird hier schon in seiner Kommentierung des dritten Buches deutlicher. Er sagt, dass es Veränderungen nur in den Kategorien geben könne, in denen ein Mittelzustand zwischen den Gegensätzen möglich sei. Diese Bedingung entnimmt er aus der Bestimmung der Veränderung als »Wirklichkeit des In-Potenz-Seienden, insofern es ein solches ist«, denn sie kann
18Aristoteles, Physik, V. 1, 224b35–225b5. 19Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 48, 13–49, 8; 50, 7–13. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 44, 8–45, 13. 20Aristoteles, Physik, V. 2, 225b10f. Vgl. dazu auch Kategorien, 5, 3b24–27. 21Aristoteles, Physik, V. 1, 225b1–4.
Bewegung, Potenz und Vollendung
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ja, wie gesagt, nur auf Zustände zutreffen, in denen schon erreichte Aktualität und noch vorhandene Potentialität zusammenkommen.22 Es lohnt sich, bei diesem Punkt noch ein wenig zu verweilen, denn er wird sich als sehr bedeutsam für Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung erweisen. Ibn Bāǧǧa wählt geschickt eine Reihe von Beispielen, um zu zeigen, dass nur in Bereichen, die ein Weniger und Mehr, ein Stärker und Schwächer zulassen, eine »dritte Seinsweise« (wuǧūd ṯāliṯ) zwischen »den ersten beiden Seinsweisen« möglich ist, die an beiden teilhat. Zwischen Oben und Unten ist das möglich, nicht aber zwischen Vaterschaft und Sohnschaft. Dieses Dazwischensein der Bewegung drückt sich darin aus, dass das sich in Bewegung Befindliche an jedem Punkt seiner Bewegung seinerseits als Extrem des verbleibenden Gegensatzes betrachtet werden kann und eine Potenz zu diesem »Rest« (al-bāqī) hat. In der Bewegung liegen daher, so formuliert es Ibn Bāǧǧa, eine »kontinuierliche Potenz« (al-quwwa… muttaṣila) und eine »kontinuierliche Existenz« vor. Als Existenzweise ist die Bewegung daher weder »vollendet« (muḥaṣṣal) noch in Potenz. Aber – und hier kommt wieder die oben besprochene Klassifizierung als Vollendung zum tragen – die Bewegung ist als Bewegung durch die Existenz bestimmt, nicht durch die Potenz. Zusammenfassend können wir damit sagen, dass Ibn Bāǧǧa die Bewegung im engeren Sinne als die Seinsweise bestimmt, die ein Seiendes besitzt, wenn es sich durch ein Kontinuum von Zuständen hindurch auf dem Weg von der Potenz zum Akt beziehungsweise zur Vollendung befindet. Hier ließe sich bezüglich der »Veränderung« in der Substanz erneut nachfragen: Aristoteles führt doch das Formen eines Erzklumpens zu einer Statue und das Bauen eines Hauses, Formwerdungsprozesse also, als Beispiele für Veränderung an,23 und dabei findet sehr wohl ein schrittweiser, über Mittelzustände verlaufender Übergang vom Mangel einer Form (Privation) zur Form statt. Am Beispiel des Hausbaus wird jedoch auch deutlich, dass hier zwei grundsätzlich verschiedene Betrachtungsweisen möglich sind. Aristoteles merkt nämlich an, dass man zwischen zwei »Wirklichkeiten« des Baubaren zu unterscheiden habe: dem Bauen einerseits und dem Haus andererseits. Nur das Bauen ist »Wirklichkeit des In-Potenz-Seienden, insofern es ein solches ist«. Eben diese Überlegung zieht Ibn Bāǧǧa – vermutlich gestützt auf den Physik-Kommentar des Philoponos24 – heran, um zu zeigen, dass die Form nicht die in der Definition der Veränderung gemeinte Wirklichkeit (kamāl) ist, sondern Veränderung eine andere Art der Wirklichkeit darstellt.25 Man muss daraus entnehmen, dass Veränderung in der Substanz in einer Hinsicht zwar möglich ist, nämlich insofern der Prozess und nicht der ange22Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 30, 3–31, 2. 23Aristoteles, Physik, III. 1, 201a29–31; 201b5–15. 24Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 186f, 199f, 211. 25Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 31, 9–12.
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strebte Zustand gemeint ist, dass das Entstehen eines Seienden jedoch keine Veränderung ist. Der Unterschied lässt sich verdeutlichen, wenn man das Beispiel des Hausbaus mit Aristoteles’ Aussage in den Kategorien konfrontiert, dass die Substanz kein Mehr und Minder zulässt. Etwas kann zwar mehr oder weniger schwarz und weiß sein, nicht aber mehr oder weniger Mensch.26 Bei einer Veränderung von Schwarz zu Weiß sind die Mittelzustände jeweils Farben, die Schwarz und Weiß gleichgeordnet sind, jede für sich kann genauso gut Akzidenz eines gefärbten Seienden sein wie die andere. Das Gleiche könnte man vom Bauen sagen: Jeder Bauzustand ist ein Zustand des Baubaren. Jedoch ist nicht jeder Bauzustand ein Haus, auch nicht ein vermindertes Haus. Die Substanz in Hinsicht auf ihre substantielle Form ist entweder wirklich oder nicht, sie kennt keine Annäherungen und keinen Gegensatz im Sinne eines entgegengesetzten Extrems auf einer gradierten Skala. Wie steht es nun mit den übrigen der zehn Kategorien? Ein Seiendes kann schließlich auch in Bezug auf die anderen Kategorien unterschiedliche Zustände annehmen. Ibn Bāǧǧa erklärt in der oben zitierten Passage seines Buchs der Seele, dass dies nicht durch Veränderung geschieht, sondern »von Veränderung kommt« (yakūnu ʿan taġayyur) oder, wie er im Physik-Kommentar sagt,27 »der Veränderung folgt« (tābiʿ li-taġayyur) und daher kein zeitlicher Vorgang ist, sondern sich in einem Augenblick vollzieht – eine Konzeption, die sich im Verlauf dieser Studie noch als sehr wichtig für die von Ibn Bāǧǧa dargelegten naturphilosophischen Grundlagen der Psychologie erweisen wird. Was ist der Grund dafür, dass in den Kategorien der Relation, der Zeit, der Lage, des Habitus, des Wirkens und des Leidens keine Veränderung möglich ist? Aristoteles gibt in Buch V Gründe dafür an, dass eine Veränderung in der Relation und im Wirken und Leiden unmöglich sind, die Ibn Bāǧǧa übernimmt.28 In der Relation gibt es keine wesentliche Veränderung, weil die Veränderung eines der Relationstermini ausreicht, um die Relation zu verändern, ohne dass sich der zweite Terminus verändert hat, seine Veränderung wäre daher nur eine akzidentelle. Veränderung im Wirken und Leiden scheiden aus, weil dies gleichbedeutend mit der Veränderung der Veränderung wäre und in einen unendlichen Regress führen müsste. Anders gesagt, Wirken und Leiden sind selbst das, was sich bei einer Veränderung vollzieht, in der ja ein Veränderndes auf ein Zuveränderndes einwirkt, sie können nicht selbst nochmals Gegenstand der Veränderung sein. Ibn Bāǧǧa fügt dem auch noch Erläuterungen für die übrigen Kategorien hinzu. So ist in der Zeit und in der Lage deshalb keine Veränderung möglich, weil es in ihnen keine Gegensätze gibt. Im übrigen wäre eine Verände26Aristoteles, Kategorien 5, 3b32–4a9. 27Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 92, 5; 106, 1–3. 28Aristoteles, Physik, V. 2, 225b11–16. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 51, 9f und 51, 13–52, 2.
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rung der Lage, wie Ibn Bāǧǧa bemerkt, einfach eine Ortsveränderung.29 Und für die Zeit könnte man hinzusetzen, dass jede Veränderung notwendig in der Zeit stattfindet30 und dass daher eine Veränderung der Zeit in den gleichen unendlichen Regress führen müsste wie eine Veränderung des Wirkens und Leidens. Was die Kategorie des Habitus angeht, so behandelt Ibn Bāǧǧa sie zunächst parallel mit der Substanz. Der Habitus ist – ebenso wie die Form – eine Vollendung und kann daher höchstens untergehen, nicht aber sich verändern.31 Weiteren Aufschluss geben die Überlegungen in Buch VII, in denen gezeigt wird, dass sowohl körperliche als auch seelische Habitus keine sich verändernden Eigenschaften sind, sondern dass sie unter das Relationale fallen. Sie bestehen in einem Verhältnis entweder zu etwas Äußerem oder in sich selbst und sie verändern sich folglich nicht selbst, sondern beruhen auf den Eigenschaftsänderungen von anderem, zum Beispiel der Teile des Körpers oder des wahrnehmenden Teils der Seele.32 Hier liegt sicher eine der Quellen für Ibn Bāǧǧas Aussage, dass Veränderungen in Bezug auf andere als die vier genannten Kategorien zustande kommen, indem sie einer Veränderung »folgen«. Er kann sich zudem auf den Physik-Kommentar des Philoponos stützen, der seinerseits unter Berufung auf Themistios explizit erklärt, dass eine Relation sich zu einer anderen Relation wandelt, wenn sich einer der Relationstermini verändert, zum Beispiel eine Ortsveränderung durchführt und dadurch ein rechts-links-Verhältnis umkehrt. Dieses Umschlagen der Relation und die Verwirklichung der jeweiligen Potenz zu dieser Relation, erfolgt daher nicht Schritt für Schritt, sondern augenblicklich (ἀχρόνως) und ist mithin keine Veränderung.33 Inwiefern sich dies auf die Wandlungen in den übrigen Kategorien übertragen lässt, sagt Ibn Bāǧǧa nicht, es liegt jedoch einigermaßen nahe. Zur Relation und zum Habitus kann man in jedem Falle noch die Lage hinzunehmen, die Aristoteles selbst schon als eine Relation bestimmt.34 Bleiben Zeit, Leiden und Wirken. Alle diese Momente finden sich, wie gesagt, in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur Veränderung, und es ist daher nicht unvernünftig zu sagen, sie folgten der Veränderung. Dass ihre »Veränderung« augenblicklich eintritt, ist schon dadurch gesichert, dass jede gegenteilige Annahme wieder in den unendlichen Regress zurückfallen würde, der das Eintreten des Eintretens eines Zeitpunkts, das Bewirken des Bewirkens des Wirkens und so weiter erforderlich macht. 29Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 51, 11–13. 30Aristoteles, Physik, VI. 6, 236b19. 31Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 50, 12–51, 2. 32Aristoteles, Physik, VII. 3, 246a10–248a9; Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 122, 14–127, 4. 33Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 200; Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 92, 2–6; 126, 1–7. 34Vgl. Aristoteles, Kategorien, 7, 6b2f; 9, 11b9f.
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Bewegungstheorie
Damit haben wir unseren Überblick über die grundsätzlichen Annahmen abgeschlossen, die Ibn Bāǧǧa im Zusammenhang mit der aristotelischen Definition der Bewegung übernimmt. Die Potenz hat sich hier als Ermöglichungsgrund der Bewegung gezeigt, zugleich aber als das, was in der Bewegung beständig überwunden, nämlich zum Akt geführt wird. Alle Arten der Veränderung sind durch diese Potenz-Akt-Spannung charakterisiert, die sich in der Bewegung noch einmal sozusagen »potenziert« wiederholt, da die Bewegung sowohl Potenz als Akt ist oder, wie Ibn Bāǧǧa sagt, an beidem Anteil hat. Bewegung ist damit für Ibn Bāǧǧa das Auf-dem-Weg-Sein zur Vollendung. Der Begriff der Potenz, so wie er sich in diesem Kontext zeigt, ist nicht der Begriff einer Kraft oder Wirkmächtigkeit sondern der Potentialität in Bezug auf eine Eigenschaft oder »Form«.
2. Die Ortsbewegung der Elemente Angesichts der Priorität der Ortsbewegung unter allen Bewegungstypen und ihrer grundlegenden Bedeutung für die anderen Arten der Bewegung und Veränderung35 ist es erstaunlich, wie umstritten Aristoteles’ Analyse der einfachsten Ortsbewegung, der Ortsbewegung der Elemente, geblieben ist. Dies gilt für die moderne philosophiegeschichtliche Forschung ebenso wie für die antiken und mittelalterlichen Kommentatoren.36 Der Text, in dem sich Aristoteles maßgebliche mit der natürlichen Ortsbewegung befasst, ist ohne Zweifel das vierte Kapitel von Buch VIII der Physik, in dem die Bewegung der Elemente mit einiger Ausführlichkeit diskutiert wird und auf das sich alle Interpreten in der einen oder anderen Weise beziehen. Die Herausforderung, die sich Aristoteles hier stellt und die seine Lehre mithin für den Interpreten bietet, ist die folgende: Auf der einen Seite muss die Analyse der Elementarbewegung als einer natürlichen Bewegung mit der aristotelischen Definition der Natur als eines internen Prinzips der Bewegung übereinstimmen.
35Vgl. etwa Aristoteles, Physik, VIII. 7, 260b2–7. 36Zu ersterer vgl. István M. Bodnár, Movers and Elemental Motions in Aristotle, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 15 (1997), 81–117, der eine kritische Bewertung älterer und neuerer Interpretationen vornimmt. Zur Scholastik vgl. Anneliese Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft. Die Struktur der materiellen Substanz, das Problem der Gravitation, die Mathematik der Formlatituden, 2. Aufl., Rom 1952; Shlomo Pines, Omne quod movetur necesse est ab aliquo moveri: A Refutation of Galen by Alexander of Aphrodisias and the Theory of Motion, in: Isis 52 (1961), 21–54; James A. Weisheipl, The Principle Omne quod movetur ab alio movetur in Medieval Physics, in: Isis 56 (1965), 26–45; ders., The Spect[e]r of Motor Coniunctus in Medieval Physics, in: A. Maierù, A. Paravicini Bagliani (Hg.), Studi sul XIV secolo in memoria di Anneliese Maier, Rom 1981, 81–104 [wiederabgedruckt in: William E. Carroll (Hg.), Nature and Motion in the Middle Ages. Essays by James A. Weisheipl, Washington 1985, 99–120]; Helen S. Lang, Aristotle’s Physics and Its Medieval Varieties, New York 1992.
Die Ortsbewegung der Elemente
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Das Natürliche ist ja durch dieses Prinzip vom Künstlichen geschieden.37 Auf der anderen Seite enthält das achte Buch der Physik eine sorgsam konstruierte Argumentation für die Notwendigkeit eines ersten unbewegten Bewegers als erster Ursache aller Bewegung im Kosmos. Dabei wird die Bewegung der Elemente in Kapitel VIII. 4 gerade deshalb verhandelt, weil es auf den ersten Blick so scheint, als bewegten sich die Elemente, ohne »von etwas« (ὑπὸ τίνος) bewegt zu werden.38 Demgegenüber versucht Aristoteles nachzuweisen, dass sie eines externen Bewegers bedürfen, da sie sonst als unabhängig sich Bewegende den angestrebten Beweis durchkreuzen würden. Alles Bewegte muss »von etwas (anderem)« bewegt werden.39 Es besteht also bei Aristoteles zumindest eine Spannung, wenn nicht ein Widerspruch zwischen der physikalischen und der kosmologischen Erklärung oder, wie R. Sorabji es pointiert ausgedrückt hat, zwischen »Natur und Gott«.40 Gleichgültig wie diese Spannung bei Aristoteles selbst zu deuten oder aufzulösen ist – sei es, dass man eine doktrinale Entwicklung und Schwerpunktverlagerung annimmt,41 sei es, dass man an ein aporetisches Nebeneinander mehrerer Theorien denkt,42 sei es schließlich, dass man eine tiefere Übereinstimmung und Gesamttheorie rekonstruiert43 –, klar ist, dass für die mittelalterlichen Kommentatoren, Ibn Bāǧǧa unter ihnen, nur der letztere Erklärungsversuch in Frage kam. Für sie bekam die Frage jedoch dadurch eine zusätzliche Komplexität, dass der Kommentator Philoponos in einer gegen die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt gerichteten Schrift auch die von Aristoteles vorgebrachte These bestritten hatte, dass jedes Bewegte von etwas bewegt werden muss, und dass er dabei genau die Elementarbewegung zum Beispiel genommen hatte. Genauer, Philoponos bestritt die These, dass jeder Bewegung die Potenz zu dieser Bewegung vorausgehen muss. In der Nachfolge einer heute verlorenen Schrift al37Vgl. Aristoteles, Physik, II. 1, 192b8–23 und oben Kapitel 5, Abschnitte 1 und 2. 38Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a4f. 39Vgl. Aristoteles, Physik, VIII. 4, 256a2f. 40Richard Sorabji, Matter, Space, and Motion, London 1988, darin ch. 13: »Nature and God: two explanations of motion in Aristotle«. 41So etwa Gustav Adolf Seeck, Leicht – schwer und der Unbewegte Beweger, in: Ingemar Düring (Hg.), Naturphilosophie bei Aristoteles und Theophrast. Verhandlungen des 4. Symposium Aristotelicum veranstaltet in Göteborg, August 1966, Heidelberg 1969, 210–216; wiederabgedruckt in: Gustav Adolf Seeck (Hg.), Die Naturphilosophie des Aristoteles (Wege der Forschung 225), Darmstadt 1975, 391–399. Ich zitiere im Folgenden die letztere Ausgabe. 42So etwa Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, 143; Ingrid CraemerRuegenberg, Die Naturphilosophie des Aristoteles, Freiburg–München 1980, 126: »Aristoteles löst dieses Problem recht kläglich, bzw. gar nicht.« 43So etwa Sorabji, Matter, Space, and Motion, 224–226; Bodnár, Movers and Elemental Motions in Aristotle, 83: »I shall concentrate on how the motions of the sublunary elements could be dependent on external movers while at the same time they are manifestations of the natures these elements possess.«
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Bewegungstheorie
Fārābīs, al-Mauǧūdāt al-mutaġayyira,44 hat sich auch Ibn Bāǧǧa mit dieser Kritik auseinandergesetzt und so auch mit der Frage, inwiefern das Unbelebte ein Prinzip seiner Bewegung ist und eine Potenz zu dieser Bewegung besitzt. Aristoteles nennt zum Abschluss seiner Untersuchung in Physik VIII. 4 nur »das Erzeugende und leicht oder schwer Machende« sowie das Hindernisaufhebende als die Momente, »von« denen die Elemente als von einem aktiven Beweger bewegt werden; wobei das Hindernisaufhebende bloß als akzidenteller Beweger gelten kann und damit sicherlich nicht zum Kern der Analyse der natürlichen Ortsbewegung gehört. Diese Erklärung der Bewegung der Elemente stellt die Interpreten vor erhebliche Schwierigkeiten, insofern die angeführten Bewegungsursachen, wie einer von ihnen mit bewusstem Understatement schreibt, »nicht unbestreitbar offensichtliche Kandidaten für das Erzeugen der Elementenbewegung sind«. Vielmehr erscheinen das Erzeugende und das Hindernisaufhebende als »sehr wenig vielversprechende Beweger«.45 Das Problem, das sich den Interpreten von jeher gestellt hat, lag also darin, den eigentlichen Beweger zu identifizieren und zu bestimmen, in welcher Weise er die Bewegung bewirkt. Die verschiedenen vorgebrachten Vorschläge können hier nicht aufgenommen und diskutiert werden, aber die im Folgenden rekonstruierte Lösung Ibn Bāǧǧas wird sich als eine überzeugende Deutung erweisen, die auch für Aristoteles selbst mindestens ernsthaft zu erwägen ist.
2.1. Ibn Bāǧǧas kontinuierliche Auslegung von Physik VIII. 4 Exposition des Problems Um uns mit der aristotelischen Erklärung der Elementarbewegung und ihren Schwierigkeiten bekannt zu machen und gleichzeitig den Rahmen zu studieren, in den sich die potenztheoretischen Erwägungen Ibn Bāǧǧas einfügen, werden wir zunächst diejenige Version seines Kommentars zu Buch VIII untersuchen, die am engsten dem aristotelischen Text folgt. Diese Ausführungen lassen sich eindeutig als Kommentar oder Paraphrase des Kapitels VIII. 4 der Physik lesen. 44Einen Versuch der Rekonstruktion dieser Schrift oder vielmehr ihres doktrinalen Hintergrundes hat jüngst Marwan Rashed, Alfarabi’s Lost Treatise On Changing Beings and the Possibility of a Demonstration of the Eternity of the World, in: Arabic Sciences and Philsophy 18 (2008), 19–58, gemacht. Eine auf die vorliegende Fragestellung bezogene Rekonstruktion unternehme ich in Abschnitt 2.2. 45Bodnár, Movers and Elemental Motion in Aristotle, 88: »Interestingly enough, the discussion of the motion of the elements is able to bring up only very unpromising movers […]« und »First, as the causes Aristotle comes up with in this chapter are not incontestably obvious candidates for effecting elemental motion, Aristotle will have a story to tell concerning why and how the generator of the elements can have the requisite causal efficacy.«
Die Ortsbewegung der Elemente
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Als solche ist diese Erklärung auch kaum originell, sie unterstreicht vielmehr nur bestimmte Aussagen des Aristoteles, während andere eher in den Hintergrund treten. Um ein vollständiges Bild zu bekommen, werden wir daher den Kommentar und seine Vorlage parallel lesen. Aristoteles beginnt seine Untersuchung mit einer Klassifizierung der bewegenden und bewegten Dinge anhand von drei Merkmalspaaren, die jeweils einander ausschließende Bewegungsweisen kennzeichnen: (1) wesentliche oder akzidentelle Bewegung, (2) Bewegung »von selbst« oder »durch etwas anderes«, (3) Bewegung »der Natur nach« oder »durch Gewalteinwirkung« beziehungsweise »gegen die Natur«.46 Mit der ersten Differenz, die bereits zu Beginn von Buch V eingeführt worden war, werden als »wesentlich« die Bewegungen ausgesondert, die nicht dadurch zustande kommen, dass der betrachtete Gegenstand an etwas vorkommt, das bewegt oder bewegt wird, noch dadurch, dass ein Teil von ihm bewegt oder bewegt wird. Für die sich daraus ergebenden vier Typen akzidenteller Bewegungen lassen sich mit Ibn Bāǧǧa die folgenden Beispiele geben: (a) Der Musiker, der heilt, tut das nur akzidentell, insofern der heilende Arzt akzidentell auch Musiker ist (=kommt am Bewegenden vor).47 (b) Eine Menge Dinare bewegt etwas, so dass der einzelne Dinar akzidentell auch bewegt (=ist Teil eines Bewegenden). (c) Der Grammatiker, der gesundet, wird akzidentell gesund, weil der für die Gesundheit Aufnahmefähige zufällig Grammatiker ist (=kommt am Bewegten vor). (d) Der Teil eines Steins fällt akzidentell, wenn der ganze Stein fällt (=ist Teil eines Bewegten).48 Daneben deuten Ibn Bāǧǧas Ausführungen einen 46Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b7–14. 47Dieses Beispiel findet sich so nicht bei Ibn Bāǧǧa, vielmehr lässt es sich bilden, wenn man sein an dieser Stelle ungenaues und asymmetrisches Beispiel anhand der anderen Punkte und mit Hilfe seines Kommentars zu Buch V abwandelt. Die entsprechende Passage aus Buch V lautet folgendermaßen (Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 46, 5–47, 5; auf Zeile 46, 6 lies mit Lettinck yamšī wa-l-ṭabīb yusaḫḫin statt šaiʾ wa-l-ṭast šaiʾ): »›Bewegtes‹ wird auf drei Weisen ausgesagt: [1] Das akzidentell Bewegte, etwa wenn wir sagen: ›Der Musiker geht‹ und ›Der Arzt erwärmt‹. [2] Zweitens das in einem seiner Teile Bewegte, etwa wenn wir über jemanden, dessen Auge gesund geworden ist, sagen, dass der Kranke gesund geworden ist, weil sein Auge gesund geworden ist. [3] Und das wesentlich Bewegte, etwa wenn wir sagen: ›Der Stein sinkt‹ und ›Der Dampf steigt auf‹. Und zwar ist das so, weil die Unterteilungen [aqsām] der Bewegung so zahlreich sind wie die Unterteilungen des Seins, denn die Bewegung ist einer der Typen des Seins, und das Sein insgesamt wird in dieser Weise eingeteilt. Denn etwas ist manchmal etwas akzidentell, etwa wenn wir sagen: ›Der Musiker ist Arzt.‹ Denn der Musiker, insofern er Musiker ist, ist kein Arzt. Und die Medizin ist nicht im Subjekt der Musik wegen der Musik, denn beide sind ein Zustand dessen, was wesentlich existiert.« 48Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 166, 17–167, 10 (in 166, 18 ist mit Lettinck, Aristotle’s Physics, 761 nach marīḍ einzufügen wa-ka-l-ināʾ yusaḫḫin al-māʾ, wa-baʿḍuhā bi-lḏāt fa-inna l-ṭabīb yubarriʾ al-marīḍ; in 167, 1 ist mit MS B, f. 58r22, al-ṣanǧa [=al-sanǧa] statt al-ṣiḥḥa zu lesen): »Das besondere passende Prinzip für diese Spezies der Wissenschaft ist das, was er gesetzt hat, nämlich dass der Beweger und das Bewegte teils akzidentell sind, etwa wenn der Rauch den Kranken heilt und das Gefäß das Wasser erwärmt, teils wesentlich, etwa
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weiteren Typ akzidenteller Bewegung an, nämlich dass etwas nur Mittel der Bewegung ist – wie das Gefäß, das das Wasser erhitzt – beziehungsweise sich in einem Bewegenden oder Bewegten befindet.49 Insofern alle akzidentellen Bewegungen auf wesentliche Bewegungen zurückführbar sind, geht es Aristoteles im Folgenden dann nur um die wesentlichen Bewegungen, und nur auf sie werden die anderen beiden Merkmalspaare (2) und (3) angewandt.50 Als ersten Fall beschreibt Aristoteles die Lebewesen, die sich »von selbst« oder – wie die arabische Übersetzung am besten wiederzugeben ist – »spontan« (min tilqāʾihī) bewegen. Sie bewegen sich damit auch »der Natur nach«, weil sie »das Prinzip der Bewegung in sich haben«, und von solchem sagt man gerade, dass es sich »der Natur nach« bewegt; dies war, wie erinnerlich, in Buch II definitorisch festgehalten worden.51 Die spontane Bewegung, das wird damit klar, ist immer eine natürliche Bewegung.52 Allerdings präzisiert Aristoteles sofort, dass damit nur die Bewegung des Lebewesens »als Ganzen« korrekt beschrieben ist, denn der Körper allein kann sowohl »der Natur nach« als auch »gegen die Natur« bewegt werden. Aristoteles bemerkt dazu ein wenig kryptisch, es mache ja einen Unterschied, welcher Form der Bewegung der Körper unterliege und aus welchem Element er bestehe.53 Er spielt damit offenbar auf die Möglichkeit an, dass das Lebewesen auf Grund seines Körpers, also seiner Materie, durch äußere Einwirkung bewegt wird. Diese Einwirkung ist aber – mindestens – von den beiden genannten Bedingungen wenn der Arzt den Kranken heilt und das Warme das Wasser erwärmt. Ebenso verhält sich das, was in Bezug auf den Ort bewegt, etwa wenn Dinare das Gewichtstück [auf der Waage] bewegen. Dann ist die Menge der wesentliche Beweger, während der einzelne Dinar es nur akzidentell bewegt, insofern er ein Teil des Bewegers ist. Ebenso ist das Bewegte in verschiedenen Weisen akzidentell. Eine von ihnen besteht zum Beispiel darin, dass wir sagen: ›Der Grammatiker gesundet‹, während wesentlich ist, dass der für die Gesundheit Aufnahmefähige gesundet. Die andere [Weise] ist diejenige, die Aristoteles am Anfang des fünften [Buchs] beschrieben hat, nämlich, dass etwas bewegt wird, insofern es ein Teil von etwas ist. Ein Beispiel dafür ist, dass dieser Stein sinkt und dann dieser konkrete Teil sinkt; und dieser Körper bewegt sich, und dann bewegt sich der Punkt, der in ihm ist. So sei das wesentlich Bewegte das, was in keiner dieser Weisen [bewegt] ist, und was wesentlich bewegt wird, nicht indem es in einem Bewegten existiert. Ebenso das Bewegende, was selbst bewegt, nicht indem es in einem Bewegenden ist.« 49Das genannte Beispiel, das im oben in den Anmerkungen zitierten Text an die Stelle von Typ (a) tritt, bezeichnet deutlich ein Instrument der Bewegung und nicht etwas, das »an einem Beweger« auftritt. Zu dieser Art akzidenteller Bewegung gehört auch der von Aristoteles oft zitierte Fall, dass jemand sich dadurch bewegt, dass er sich in einem bewegten Schiff befindet. Fälle dieser Art sind auch in den beiden letzten Sätzen des zitierten Textes gemeint oder zumindest inbegriffen. 50Vgl. Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b12–14. 51Vgl. Aristoteles, Physik, II. 1, 192b35–193a1. 52Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b14–17. 53Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b17–20.
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abhängig: So kann etwa die Wachstumsbewegung nicht von außen induziert werden, wohl aber die Ortsbewegung durch Druck und Zug. Aristoteles nennt explizit den Fall, dass die Körperglieder entgegen ihren »Anlagen und Bewegungsweisen« bewegt werden.54 Weiterhin hängt die Bewegung von der Materialität ab, insofern der Körper des Lebewesens etwa nur deshalb verbrennen kann, weil er zum Teil aus dem Element Erde besteht. Mit diesen Präzisierungen ist bereits klar geworden, dass die als Ganze »spontan« oder »von selbst« bewegten Lebewesen weiter analysiert werden müssen. Es sei nicht unklar, ob sie »von etwas« bewegt würden, sondern nur, was in ihnen das Bewegende und was das Bewegte sei. Aristoteles vergleicht sie mit Schiffen und anderen Artefakten, an denen Beweger und Bewegtes getrennt sind. Der Eindruck der Selbstbewegung entsteht also nur für das undifferenziert betrachtete Ganze.55 Insofern Aristoteles bereits Ganzes und Körper einander gegenübergestellt hat, ist offensichtlich, dass er als Beweger die Seele im Auge hat. Aber die Details der Bewegung der Lebewesen, werden eigens zu untersuchen sein, und so sei hier nur hervorgehoben, dass Aristoteles die Leitfrage dieses Kapitels, nämlich ob alles, was sich bewegt, von etwas anderem bewegt wird, in Bezug auf die »spontan« bewegten Lebewesen für relativ leicht mit Ja beantwortbar hält. Nach dem »von selbst« Bewegten geht Aristoteles auf das »von anderem« Bewegte ein. Hier sind »der Natur nach« und »gegen die Natur« Bewegtes zu unterscheiden. Beim »gegen die Natur« Bewegten sei besonders offenbar, dass es von anderem bewegt werde, etwa wenn Erde nach oben und Feuer nach unten bewegt wird.56 Fraglich sei dagegen der Fall dessen, was »von anderem« aber »der Natur nach« bewegt wird.57 Bei diesem Bewegungstyp handelt es sich, wie Aristoteles auch deutlich zum Ausdruck bringt, zunächst um eine durch Kombination der Merkmalspaare (2) und (3) »gesetzte« (ἐθήκαμεν) Untergruppe. Zu zeigen, dass diese Menge tatsächlich Elemente enthält – nämlich eben die vier Elemente und die aus ihnen bestehenden unbelebten Körper –, das ist der Lösungsansatz, den Aristoteles im Weiteren verfolgt, um zu zeigen, dass auch deren Bewegungen »von etwas« (anderem) hervorgerufen werden. Die Frage sei nämlich, ob diese von ihm allgemein als Leichtes und Schweres beschriebenen Dinge, die »gewaltsam« zu entgegengesetzten Orten bewegt werden, dann, wenn sie sich zu ihren »natürlichen« (οἰκείους) Orten bewegen, auch »von etwas« bewegt werden.58
54Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b23–24. 55Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b27–33. 56Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b20–22; 254b24–27. 57Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b33–255a1. 58Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a1–5.
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Ibn Bāǧǧas Kommentar trägt zu dem hier nachgezeichneten Problemaufriss eine interessante methodische Präzisierung bei. Er macht sich nämlich Gedanken über den Stellenwert der von uns zunächst vorsichtig als »Merkmalspaare« beschriebenen Einteilungen des Bewegten und überlegt, inwiefern sie als »Differenzen« (fuṣūl) des Bewegten dienen können. Zunächst hält er fest, dass »Bewegtes« als äquivoke Bezeichnung per prius von der wesentlichen Bewegung ausgesagt wird und per posterius zunächst von der Bewegung in einem Teil, dann von der Bewegung durch Enthaltensein in einem Bewegten. Er macht weiter ausdrücklich, dass die wesentliche Bewegung durch Verneinung der beiden letzteren Fälle eingeführt worden ist – »unsere Aussage ›das Bewegte, das keines von diesen beiden ist‹« – dass damit aber nur eine einschränkende Beschreibung durch gleichbedeutende Bestimmungen gegeben worden ist, keine Einteilung der Bewegung durch Differenzen, etwa so wie wenn die äquivoke Bezeichnung Hund durch die Hinzufügung von »bellend« präzisiert wird.59 Das bedeutet, wenn man das Beispiel und die Bemerkungen ausbuchstabiert, dass nur die wesentliche Bewegung im Vollsinne Bewegung ist; es gibt keine Gattung der Bewegung, welche die Typen der akzidentellen Bewegung mit umfassen würde, sowenig es eine Gattung des Hundes gibt, die den Hundsstern und den Seehund mit umfasst. Im nächsten Schritt erklärt Ibn Bāǧǧa, nach dieser Aussonderung der gesuchten Bedeutung von »bewegt« habe Aristoteles mit den Merkmalen (3) »der Natur nach« beziehungsweise »außerhalb seiner Natur«/»gewaltsam« und (2) »von einem Äußeren« beziehungsweise »spontan« dann tatsächlich »wesentliche Differenzen« des Bewegten eingeführt; Differenzen zudem, die untereinander jeweils »entgegengesetzt« sind. Dennoch, so erläutert er weiter, verhielten sich diese zwei Differenzenpaare nicht so zueinander, wie es für eine definitionstaugliche Einteilung notwendig wäre, denn jedes von beiden taucht unter dem anderen auf.60 Dies lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man sich klarmacht, dass das »von anderem« Bewegte sowohl das gegen wie einen Teil des mit der Natur Bewegten umfassen soll und dass das »der Natur nach« Bewegte sowohl das »von selbst« wie einen Teil des »von anderem« Bewegten einschließen soll. Es handele sich denn auch nicht um eine echte Einteilung, sagt Ibn Bāǧǧa, sondern um eine die Aristoteles nur benutze, um einige Typen des Bewegten zu unterscheiden, denn sie könne dies für einige »aber nicht für alle und nicht der Sache nach« leisten.61 Klar unterscheidbar sind, das zeigt die obige Gegenüber-
59Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 167, 17–168, 5. In Zeile 167, 17 ist mit MS B, f. 58v (arab.) taqsīm statt yaqsimu zu lesen. Dagegen ist in Zeile 168, 4 die von Lettinck, Aristotle’s Physics, 761 adoptierte Lesart des MS B, li-anna, zu verwerfen und Ziyādas lā anna wiederherzustellen. 60Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 168, 6–16. 61Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 168, 17–20.
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stellung, das »gewaltsam« und das »von selbst« Bewegte, offen bleiben dagegen das »der Natur nach« und das »von anderem« Bewegte, die noch nicht eindeutig bestimmt sind. Es ist also möglich, dass es weitere Typen der natürlichen Bewegung und der Bewegung »von anderem« gibt, unter anderem auch solches, auf das beide Merkmale zutreffen. In jedem Fall hat Ibn Bāǧǧa damit deutlich gemacht, dass für ihn die Erklärung der Elementarbewegung mehr leisten muss als eine Verknüpfung dieser Merkmale, denn die hat eben nur einen beschränkten heuristischen Wert, der diesen Bewegungstyp noch nicht »der Sache nach« beschreibt. Aristoteles Fragestellung fasst er so zusammen: »Was das angeht, was der Natur nach von etwas ihm Äußeren bewegt wird, so gehört das zu dem, was verborgen ist und worüber Zweifel bestehen, denn über das Feuer und die Erde bestehen Zweifel, ob sie von etwas ihnen Äußeren bewegt werden, wenn sie sich zu ihren natürlichen Orten [mawāḍiʿ ṭabīʿīya] bewegen, oder nicht.«62 Dies ist, mit anderen Worten, die Frage, ob die Klasse des »der Natur nach« und »von etwas ihm Äußeren« Bewegten gefüllt ist oder nicht, wobei Ibn Bāǧǧa ebenso wie Aristoteles hier die Lösung antizipiert, dass genau dies die Art ist, in der sich das Schwere und Leichte bewegt.
Aristoteles’ Erklärung Aristoteles beginnt seine Antwort, indem er den Unterschied dieser unbelebten Körper von den Lebewesen bekräftigt: Das Schwere und Leichte kann sich nicht »von selbst« bewegen, denn dies ist dem Beseelten eigentümlich. Er verdeutlicht das mit zwei untereinander verbundenen Aspekten der Bewegung des Beseelten, die diesen Körpern fehlen. Zum einen ist die Fähigkeit, sich »von selbst« zu bewegen, verbunden mit der Fähigkeit, von selbst zum Stillstand zu bringen (ἱστάναι). Zum anderen beschränkt sich die Bewegung des »von selbst« Bewegten nicht auf eine einzige Bewegung, sondern es kann etwa auch die entgegengesetzte Bewegung ausführen (dafür ist das Stillstehenkönnen Voraussetzung). Beide Bedingungen treffen jedoch auf das Schwere und Leichte klarerweise nicht zu.63 Weiter zeigt sich, dass sie sich unmöglich »von selbst« bewegen können, weil sie zusammenhängend und zu einer Einheit verwachsen sind; so kann kein Teil auf den anderen einwirken. Nur wo Beweger und Bewegtes getrennt sind, etwa wenn etwas Beseeltes sie anstößt, kommen sie zur Bewegung. Sie müssen deshalb »von etwas« bewegt werden.64
62Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 169, 5–8. Mit MS B, f. 58v (arab.), ist in Zeile 169, 6 mi-mā statt mā zu lesen und in Zeile 169, 7 nach šaiʾ das Wort ḫāriǧ zu ergänzen. 63Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a5–11. 64Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a12–19.
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Dieser von Aristoteles praktizierten Aussonderung des Gegenstands der Untersuchung, die unter anderem eben eine Abgrenzung gegenüber der Bewegung der Lebewesen beinhaltet, steht Ibn Bāǧǧas an Alexander geschultes Streben nach einer größeren systematischen Einheitlichkeit und Durchsichtigkeit entgegen, das ihn dazu führt, stets die Grundstruktur im Blick zu behalten, welche die Bewegungen der unbelebten und der belebten Natur vergleichbar macht.65 So fällt Ibn Bāǧǧas Unterscheidung weniger eindeutig aus, sie öffnet bereits wieder Verbindungstüren. Und zwar unterscheidet Ibn Bāǧǧa innerhalb dessen, was »von etwas ihm Äußeren« bewegt wird, solches dem dies primär (awwalan) und anderes, dem dies sekundär (ṯānīyan) zukommt. Er macht damit die zumindest an dieser Stelle als absolute Gegenüberstellung gedachte Unterscheidung zwischen dem, was »von etwas ihm Äußeren« bewegt wird, und dem, was »von etwas« bewegt wird, »was in ihm selbst [fī ḏātihī] ist«, zu einer Gradation. Die Lebewesen werden zwar nicht primär aber sekundär von außen bewegt. Dem Unbelebten und den Lebewesen treten die Himmelskörpern (al-aǧrām al-mustadīra) an die Seite, die »weder primär noch sekundär« von etwas ihnen Äußeren bewegt werden und als solche erst noch eines gesonderten Beweises bedürfen. Die Lebewesen erhalten damit eine Mittelstellung, insofern man zwar im Vergleich zum Unbelebten von ihnen sagen kann, dass sie nicht von etwas ihnen Äußeren bewegt werden, nicht jedoch schlechthin. Ibn Bāǧǧa präzisiert demnach die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes so, dass es Aristoteles hier nur um das wesentlich Bewegte und primär nicht von etwas ihm Äußerlichen Bewegte gehe.66 Bereits zuvor, in den einleitenden Bemerkungen zu verschiedenen Arten wesentlicher und akzidenteller Bewegung hatte er Aristoteles’ Feststellung aus Physik VIII. 2 aufgegriffen, dass man überhaupt nur in Bezug auf die Ortsbewegung bei Lebewesen davon spricht, dass sie sich selbst bewegen. Diese Selbstbewegung hat er dabei umsichtig so bestimmt, dass das Lebewesen »zum Verursachen von Bewegung keines anderen bedarf«.67 65Siehe oben, Kapitel 5, Abschnitt 2. 66Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 169, 1–4 und 7–12: »Was sich der Natur nach bewegt tut dies entweder auf Grund von etwas ihm Äußeren oder auf Grund von etwas, was in ihm selbst ist und nicht außerhalb seiner. Was nun von etwas ihm Äußeren bewegt wird, das bewegt das Äußere entweder primär oder sekundär. Aber das, was von etwas in ihm selbst und niemals von etwas ihm Äußeren bewegt wird, wird durch diesen Gegensatz nicht eingeteilt. […] Ebenso werden die Lebewesen von etwas ihnen Äußerem bewegt, allerdings nicht primär. Dasjenige, was sich weder primär noch sekundär auf Grund eines ihm Äußeren bewegt, das bedarf eines Beweises, und zwar sind das die Himmelskörper. Aristoteles macht in dieser Darlegung in diesem Sinne das wesentlich Bewegte zum Gegenstand, was nicht primär auf Grund von etwas ihm Äußeren bewegt wird. Deshalb bilden die Lebewesen und die Himmelskörper, über die wir am Ende dieser Darlegung sprechen werden, gewissermaßen eine einzige Gattung.« 67Aristoteles, Physik, VIII. 2, 253a14–15; Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 167, 10–12: »Vom wesentlich Bewegten [bewegt sich] einiges spontan, nämlich das was zum
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Gleich im Anschluss an die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes geht Ibn Bāǧǧa auf die von Aristoteles im Verlauf der Untersuchung angestellte Überlegung ein, dass die Elemente nicht selbstbewegt sein können, weil sie auch nicht in der Lage sind, sich selbst zum Stillstand zu bringen. Er verknüpft also beide Passagen des aristotelischen Textes, die vom Unterschied zwischen Elementen und Lebewesen handeln, direkt miteinander. In beiden Fällen, sagt Ibn Bāǧǧa, handelt es sich um Bewegungen »der Natur nach«, jedoch führen die Elemente nur »eine einzige Bewegung« aus (yataḥarraku ḥaraka wāḥida), während die sich spontan bewegenden Lebewesen auch spontan ruhen können. Sie haben daher »ein Prinzip der Bewegung und der Ruhe in sich« ( fīhi mabdaʾ al-ḥaraka wa-l-sukūn).68 Allerdings erklärt er nicht weiter, wie sich die verschiedenen Prinzipien unterscheiden. In den übrigen Texten zum Thema geht er auf diese Formulierung des Aristoteles nicht ein, was dafür sprechen könnte, dass er den Unterschied eben nicht so stark betonen möchte. Vielmehr werden wir sehen, dass er dort, wo er im Rahmen der Analyse menschlichen Verhaltens auf diese Differenz zu sprechen kommt, dennoch wieder die strukturellen Parallelen zur Bewegung der Naturkörper herausarbeitet.69 Es sei also »bekannt« (maʿrūf ), fährt Ibn Bāǧǧa fort, dass das Lebewesen »von etwas« bewegt werde, dafür einen Beweis (burhān) zu fordern, sei die Tat eines, der nicht zu unterscheiden wisse zwischen den Dingen, deren Kenntnis man voraussetzen müsse, und denjenigen, deren Kenntnis man nicht voraussetzen könne.70 Ibn Bāǧǧa nimmt hier folglich die gleiche Haltung wie im Buch der Seele ein, die wir oben untersucht haben, nämlich dass die Seele als Bewegungsprinzip des Belebten Evidenz besitzt und ihre Existenz für alle weiteren Betrachtungen vorausgesetzt werden kann und muss. Diese Überlegung dient hier dazu, die aristotelische Aussage zu erläutern, bei den Lebewesen sei nicht unklar, ob sie von etwas bewegt werden, sondern nur, was bei ihnen bewegend und was bewegt sei (254b28–30). Bei den Lebewesen müsse nur der Beweger vom Bewegten unterschieden werden, gibt Ibn Bāǧǧa das wieder, während der äußere Beweger der »natürlichen Körper« der Untersuchung bedürfe. Damit bestünden bei Mineralien und Lebewesen genau spiegelbildliche Probleme: Die Existenz des Bewegers der Lebewesen sei offensichtlich, während der »Anschluss« (tašāfuʿ)71 der Bewegung[en] bei ihnen unklar sei. Umgekehrt sei »die natürliche BeweVerursachen von Bewegung keines anderen bedarf, wie die Arten der Lebewesen. Und diese Art der Bewegung existiert nur bei den Lebewesen und nur bei den Ortsbewegungen allein.« 68Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 169, 14–17. 69Siehe unten, Abschnitt 4. 70Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 169, 18–20. 71In Isḥāqs Übersetzung der Physik übersetzt al-šāfiʿ τὸ ἐχόμενον (»anschließend«), nämlich das, was nicht nur eine Reihe bildet, sondern darüber hinaus mit dem vorausgehenden und folgenden Glied der Reihe in Berührung steht; vgl. Physik, V. 3, 227a6; Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 544.
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gung« der Mineralien nicht offensichtlich, während der Anschluss der Bewegungen bei ihnen klar sei, insbesondere dann, wenn sie sich bewegen, wenn ein Hindernis verschwindet.72 Das ist wohl so zu verstehen, dass zwar bei den Mineralien nicht klar ist, was ihr Beweger ist, dass man jedoch immer direkt erkennt, warum sie sich jeweils bewegen oder nicht bewegen, das heißt, die Kenntnis ihres Bewegers reicht zum Verständnis ihrer Bewegung völlig aus. Dagegen ist bei den Lebewesen die Seele als Beweger bekannt, aber der genaue Mechanismus der Bewegung bedarf der Untersuchung, denn es ist nicht klar, wieso und wie Momente der Bewegung und des Stillstands aneinander anschließen und sich in eine kohärente Beschreibung der Aktivität des Lebewesens fügen. Ibn Bāǧǧa stellt dementsprechend die von Aristoteles gemachte Unterscheidung zwischen der Bewegung des Belebten und des Unbelebten abschließend unter den Gegensatz von Wahl (iḫtiyār) und Notwendigkeit (ḍarūra) als zwei Zweige des auf natürliche Weise Bewegten (al-mutaḥarrik ṭabʿan), indem er erklärt, dass Bewegung auf Grund von Zwang nur in äquivoker Weise als notwendig bezeichnet werden kann. Die Ursache dieser Naturnotwendigkeit, mit der sich etwa die Erde nach unten bewegt, die ist also aufzuklären.73 Aristoteles präsentiert den ersten Lösungsschritt, indem er die Betrachtung in mehreren Hinsichten ausweitet: Einmal weist er auf den Parallelismus von Beweger und Bewegtem hin. Auch für den Beweger muss der Unterschied zwischen Bewegung »der Natur nach« und »gegen die Natur« gelten. Zweitens stützt sich Aristoteles auf den Parallelismus zwischen allen »Bewegungen« im weiten Sinne, also neben der Ortsbewegung etwa auch qualitative und quantitative Veränderungen. Dies erlaubt ihm am Beispiel des potentiell Warmen, das von einem aktuell Warmen, aktuell warm gemacht wird, darauf hinzuweisen, dass bei jeder natürlichen »Bewegung« eine Potenz des Bewegten aktualisiert wird, so dass man sagen kann, dass es das Prinzip dessen in sich selbst hat und nicht auf akzidentelle Weise. Dabei ist die »Bewegung« dem in der jeweiligen Weise Bewegten insofern zuzurechnen und nicht akzidentell, als ein jedes qualitativ irgendwie beschaffen ist und irgendeine Quantität besitzt oder annimmt. Nur welche Quantität, Qualität und so weiter jedes hat, das kommt ihm akzidentell und nicht an sich zu.74 Ibn Bāǧǧa beginnt seine Erklärung, indem er diese Vorüberlegungen überspringt und direkt auf die Kernpassage des gesamten Textes (255a28ff) eingeht, nämlich die folgende Überlegung zum Potentiellen, aus der heraus Aristoteles seine Lösung entwickelt. Ebensowenig geht er auf den anschließenden Neuansatz der Frage explizit ein; vielmehr nimmt er aus den abschließenden Darlegun72Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 169, 20–170, 4; in Zeile 170, 4 ist laut MS B, f. 59r und MS O, f. 48r ʿinda nach lā siyamā zu ergänzen. 73Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 170, 4–9. 74Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a19–30.
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gen des Kapitels VIII. 4 nur einzelne Momente auf. Wir werden daher zunächst dem aristotelischen Text folgen und dann Ibn Bāǧǧas »Kommentar« analysieren. Aristoteles erläutert im nächsten Schritt, der sich aus drei Unterschritten zusammensetzt, die soeben erwähnte der Bewegung zugrundeliegende Potenz weiter, die »vielfach ausgesagt« werde. Dadurch soll, so sagt er, gezeigt werden, warum nicht klar ist, »von was« Feuer und Erde bewegt werden. Der erste Teilschritt untersucht die verschiedenen Typen der Potenz an Aristoteles’ Standardbeispiel des Wissens: Wer lernt aktualisiert eine Potenz zum Wissen, bleibt aber noch immer in einem zweiten Zustand der Potenz, solange er nicht aktuell denkt. Er wird allerdings, wenn er diesen Zustand erreicht hat, immer dann aktuell denken, wenn er nicht durch irgend etwas daran gehindert wird. Dieses Modell wird im zweiten Teilschritt auf Veränderungen von Unbelebtem angewendet: Kaltes ist zunächst potentiell warm; wird diese Potenz aktualisiert, dann wird es zu Feuer, und es setzt dann anderes in Brand, solange es nicht daran gehindert wird. Schließlich wird im letzten Teilschritt gezeigt, wie sich dies auf die Eigenschaften schwer und leicht auswirkt beziehungsweise übertragen lässt: Leichtes entsteht aus Schwerem, das potentiell (im ersten Sinne) leicht war, zum Beispiel Luft aus Wasser. Wenn nichts es behindert, wird es sofort aktuell sein. Die Aktualität des Leichten ist es nun jedoch, ein bestimmtes Wo zu haben, nämlich oben zu sein. Befindet es sich jedoch am entgegengesetzten Ort, dann ist es an dieser Aktualität gehindert.75 Es bleiben hier die von Aristoteles beabsichtigten, aber nicht ausgesprochenen Folgerungen zu ziehen: Der Beweger der Elemente bleibt deshalb verborgen, weil wir zumeist nur den Übergang von der zweiten Potenz zur Aktualität beobachten. Hier tritt der Beweger, welcher der Erzeuger des Elements ist, bereits nicht mehr in Erscheinung. Einen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Potenz gibt es aber überhaupt nur dann, wenn das erzeugte Element sich an einem seinem natürlichen Ort entgegengesetzten Ort befindet, also dort erzeugt beziehungsweise durch Fremdeinwirkung dorthin verbracht wurde. Die Ortsbewegung der Elemente ist dann ihr Übergang von der zweiten Potenz in die vollständige Aktualität ihres Wo. Dieser Übergang findet »sofort« (εὐθύς) statt, wenn sie nicht aufgehalten werden, so wie der Wissenschaftler sich sofort der Betrachtung widmet, wenn er nicht gehindert wird. Somit kann der falsche Eindruck entstehen, dass das Element diesen Übergang »von selbst« bewirkt. Dies geklärt, wendet sich Aristoteles einer weiteren Frage zu, nämlich »warum« (διὰ τί) sich das Leichte und Schwere zu ihrem eigenen Ort hinbewegen.76 Dass damit gegenüber dem zuvor verfolgten »von was« (ὑπὸ τίνος) der Bewegung eine neue Untersuchung eröffnet wird, meinen, soweit ich sehe, alle Interpreten. Allerdings handelt es sich offenbar um eine ergänzende und keine 75Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a30–255b13. 76Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b13–15.
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gänzlich neue Überlegung, wie allein daraus schon deutlich wird, dass wesentliche Stücke der unmittelbar vorhergehenden Argumentation hier wiederholt werden. Aristoteles’ Antwort selbst fällt sehr knapp aus, die weiteren, teils wie gesagt wiederholenden Überlegungen haben eher den Charakter von unterstützenden Erläuterungen. Die »Ursache« der natürlichen Ortsbewegung sei, so sagt Aristoteles, dass das Wo »naturgegeben« (πέφυκέν, annahā maṭbūʿa ʿalā…) ist. Das bedeute es nämlich gerade, leicht oder schwer zu sein: Das Leichte ist durch das Oben, das Schwere durch das Unten bestimmt.77 Die Ursache der Bewegung ist also offenbar die Natur des Leichten und Schweren oder zumindest ein Aspekt dieser Natur. Dieser Aspekt ist das natürliche Wo dieser Körper, anders gesagt ihr »natürlicher Ort«. Dies wird weiter präzisiert, indem die bereits erläuterten unterschiedlichen Sinne von »potentiell leicht« und »potentiell schwer« wieder aufgegriffen werden. Wasser ist potentiell leicht in einem anderen Sinne als Luft, denn Wasser ist es nur, insofern es zu Luft werden kann, die Luft selbst ist es dann, wenn sie durch ein Hindernis »nicht oben ist«. Sobald aber dieses Hindernis aufgehoben wird, wird sie aktiv beziehungsweise aktuell (ἐνεργεῖ, faʿala fiʿlahū) und »steigt immer höher«, so wie es beim Übergang zum Akt auch in anderen Typen von Veränderung oder »Bewegung« geschieht.78 Potentiell leicht oder schwer (im zweiten Sinne) ist also all das, was seinen natürlichen Ort noch nicht eingenommen hat, das heißt – wenn man die letzten beiden Argumentationsschritte zusammen nimmt –, all das, was den Wo- oder Orts-Aspekt seiner Natur noch nicht aktualisiert hat. Die Aktualisierung stellt sich ein, sobald sie nicht durch ein Hindernis äußerlich aufgehalten wird. Diese Aktualisierung ist offenbar prozesshaft, wie der Komparativ »immer höher« (ἀεὶ ἀνωτέρω, abadan aʿlā) andeutet, das bedeutet, sie realisiert sich in der Zeit, nicht von einem Augenblick auf den anderen. Insofern diese Überlegungen die nicht unwichtige Rolle des Hindernisses beziehungsweise dessen, der das Hindernis aufhebt, gezeigt haben, erläutert 77Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b15–17. Dies macht auch die Arabische Übersetzung klar, wenn dort auch das διωρισμένον nicht im Sinne der Wesensbestimmung, sondern der räumlichen »Trennung« der Elemente verstanden ist (Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 840): »Ich meine das Sichzurückziehen [inḥiyāz] jenes oben und das Sichzurückziehen dieses unten.« Die arabisch-lateinische Übersetzung des Michael Scotus gibt das mit illud ubitari inferius et istud superius wieder; vgl. die editio princeps Aristoteles, Physica [mit dem Kommentar des Averroes], Padua: Laurentius Canozius, ca. 1472/75, f. [202ra], URL: http://dare.uni-koeln.de/dare-cgi/permalinks.pas?darepurl=scana-BOOK-DARE-I-DE-LEJUB-Ed.vet.1472.3-0405_641006,rev-6231. 78Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b17–24. Nach Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 841, scheint die arabische Übersetzung an dieser Stelle eine Textlücke aufzuweisen, die aber offenbar nur durch einen Schreiberfehler auf Grund von Homoioteleuton entstanden ist, denn die arabisch-lateinische Übersetzung des Michael Scotus (siehe Anm. 77) enthält die fraglichen Wörter. So ist in Zeile 841, 2 nach yaʿūqahū zu ergänzen: quin sit superius. sed si illud impedimentum aufertur.
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Aristoteles im Anschluss dessen Bedeutung etwas genauer. Vom Hindernisaufhebenden, zum Beispiel demjenigen, der einen Stützpfeiler wegzieht, so dass etwas fällt, oder der einen Stein von einem (luftgefüllten) Schlauch im Wasser wegnimmt, so dass dieser aufsteigt, – von diesem Hindernisaufhebenden kann man einerseits sagen, dass es bewegt, andererseits nicht. Es bewegt nämlich nur akzidentell. Aristoteles vergleicht es mit der Wand, von der ein gegen sie geworfener Ball zurückspringt.79 Es ist ja wesentlich der Werfende, der den Ball bewegt, aber akzidentell bestimmt die Wand die Bewegung des Balls nach dem Aufprall. Überträgt man dieses Beispiel auf die verschiedenen Faktoren der natürlichen Ortsbewegung, die dargestellt worden sind, so ist neben dem mit der Wand verglichenen Hindernisaufhebenden dem Erzeuger des leichten oder schweren Körpers und seinem naturgegebenen Ort ein Platz anzuweisen. Der Erzeuger wird offenbar dem Werfenden entsprechen, während die Rolle des naturgegebenen Orts im Gleichnis keine Entsprechung findet, weil der Ball als Artefakt keine solche natürliche Bestimmung hat. Das Zusammenspiel der drei Faktoren kann daher offensichtlich noch genauer bestimmt werden. Dies wird auch in der Schlussbewertung des Kapitels deutlich, wo nur »das Erzeugende und leicht oder schwer Machende« einerseits und das Hindernisaufhebende andererseits als Beweger des Leichten und Schweren genannt werden.80 Wie dem auch sei, Aristoteles stellt jedenfalls zum Abschluss dieses Kapitels fest, es habe sich in der Tat gezeigt, dass die schweren und leichten Körper »nicht selbst sich selbst« bewegen. Sie haben zwar ein »Prinzip der Bewegung«, aber nicht ein Prinzip »des Bewegens und Wirkens, sondern des Erleidens«.81 Dies ist ganz offensichtlich in Hinblick auf das gesagt, was wir den Orts-Aspekt der Natur des Leichten und Schweren genannt haben oder, allgemeiner, seine Natur schlechthin. So versteht etwa auch Simplikios in seinem Physik-Kommentar diese Passage, die er zur Verdeutlichung der Bestimmung der Natur in Buch II heranzieht, wo Aristoteles Natur als »Prinzip und Ursache der Bewegung und des Ruhens« definiert und dabei für »Bewegung« den Infinitiv Medium oder Passiv κινεῖσθαι (Sichbewegen oder Bewegtwerden) benutzt.82 Aristoteles geht es darum, so Simplikios, klarzumachen, dass die Natur – im Unterschied zur Seele – kein Bewegung bewirkendes Prinzip ist. Deshalb auch muss er im achten Buch klären, was die Elemente bewegt.83 79Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b24–29. 80Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b35–256a2. 81Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b29–31. 82Aristoteles, Physik, II. 1, 192b21f. 83Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, ed. Hermann Diels (Commentaria in Aristotelem Graeca 9), Berlin 1882, 287, 26–288, 10; Simplicius, On Aristotle’s Physics 2, translated by Barrie Fleet, Ithaca (NY) 1997, 42–43. Diese interpretatorische Feststellung beinhaltet für Simplikios die platonisch inspirierte Unterordnung einer rein passiven
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Die Naturanlage, einen bestimmten Ort einzunehmen, hat demnach nur eine passive Funktion für die natürliche Ortsbewegung der Elemente. Damit ergibt sich die Frage nach der exakten Bedeutung dieses Prinzips der Passivität, das als etwas Unerhörtes erscheinen kann,84 und es wird die Suche nach dem entsprechenden aktiven Moment eröffnet, die, wie anfangs gesagt, in der philosophiegeschichtlichen Forschung eine recht große Rolle gespielt hat. Es kann also in der Tat so aussehen, als seien an diesem Punkt viele wesentliche Fragen noch offen. Aristoteles aber schließt die Betrachtung ab, indem er für alle anfangs unterschiedenen Typen des wesentlich Bewegten erklärt, es habe gezeigt werden können, dass sie jeweils »von etwas« und zwar »von etwas anderem« bewegt würden. Damit stehe fest: »Alles, was sich bewegt, wird von etwas bewegt.«85
Ibn Bāǧǧas vorläufige Rekonstruktion der aristotelischen Lösung Kommen wir nun zu Ibn Bāǧǧas Bearbeitung der aristotelischen Erklärung, die sich, wie bereits gesagt, auf die Passage des Textes konzentriert, in der Aristoteles die spezifische Potenz beleuchtet, die das naturhaft Bewegte besitzt. Das der Natur nach Bewegte, so erklärt Ibn Bāǧǧa, besitzt, bevor es sich bewegt, eine Potenz (quwwa) zur Bewegung. Nun werde »Potenz« aber äquivok ausgesagt, paraphrasiert er Aristoteles (255a30–32), und der Beweger bleibe genau deshalb verborgen, weil nicht zwischen den verschiedenen Bedeutungen unterschieden werde und die verschiedenen Typen der Potenz verborgen seien.86 Genau dieser Fehler, berichtet Ibn Bāǧǧa, sei Philoponos unterlaufen, er setze einen Typ der Potenz anstelle eines anderen und widerspreche daher der Annahme des Aristoteles, dass die Potenz dem Akt der Zeit nach vorausgeht.87 Was für Aristoteles also ein rein begriffsimmanentes Problem war, hat sich für Ibn Bāǧǧa in den Gegenstand einer realen philosophischen Debatte verwandelt, so dass für ihn, Aristoteles’ Erklärung der Elementarbewegung zu erläutern, auch bedeutet, die Kritik des Philoponos zurückzuweisen. Dies tritt vor allem in den beiden anderen Versionen seines Kommentars zu Buch VIII in den Vordergrund, während er sich hier damit begnügt, Philoponos’ Kritik zu erwähnen, ohne bei seiner Darlegung der Potenzen auf diese näher einzugehen. Auch wir können die UnNatur unter Seele und Gott als aktive Kräfte (vgl. 288, 17ff und insbesondere 288, 27–30; Fleet, 43–44), muss dies aber deswegen noch nicht für uns beinhalten. 84So etwa Hans Günter Zekl, siehe: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur. Zweiter Halbband: Bücher V(Ε)–VIII(Θ), übersetzt, mit einer Einl. und mit Anm. hg. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1988, 286, Anm. 60. 85Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b31–256a4. 86Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 170, 9–11; in Zeile 170, 11 ist mit MS B, f. 59r wa-ḫafiyat statt wa-ḥasaba zu lesen. 87Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 170, 12–14.
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tersuchung dieser Debatte also zunächst beiseite lassen und sie vielmehr der anschließenden Analyse der weiteren Texte voranstellen. Ibn Bāǧǧa bemüht sich also, die verschiedenen Bedeutungen von »Potenz« zu differenzieren, während er am Ende dieser Bemühungen von Aristoteles sagt, dieser habe sich »in dieser Schrift«, also in der Physik, darauf beschränkt, ihre Bedeutungen »in ihren Subjekten anzugeben; deshalb verweist er auf ein Subjekt von den Typen ihrer Subjekte«.88 Dies ist wohl so zu verstehen, dass Aristoteles nicht die Potenzen selbst untersucht hat, sondern stets Dinge, die in der einen oder anderen Weise »in Potenz« sind, während Ibn Bāǧǧa die Potenzen direkt thematisiert. Er tut das hier, indem er erklärt, dass »jeder Potenz die Privation der Existenz in Akt folgt« (fa-l-quwwa bi-l-ǧumla yalzamuhā ʿadam al-wuǧūd bi-l-fiʿl) und dass die Privation der Existenz »mit fernen und nahen Potenzen verbunden« sei (yuqtarin bi-quwā baʿīda wa-qarība).89 Dies wird sodann mit Beispielen illustriert, von denen eines Aristoteles’ Beispiel des Wissenschaftlers ist. Bevor wir uns diesen jedoch zuwenden, muss hervorgehoben werden, dass Ibn Bāǧǧa, indem er den Begriff der Privation (στέρησις) hinzuzieht, den Aristoteles an dieser Stelle nicht gebraucht, das von Aristoteles verwendete zweipolige Potenz-Akt-Modell zum dreipoligen Modell Potenz-Privation-Akt erweitert. Dieses hatte in Physik I zur Analyse der Prozessualität der Natur und zur Einführung des Konzepts der Materie gedient. Ibn Bāǧǧa grenzt mithin hier Potenz von Privation ab, was ihm wiederum ermöglicht zu betonen, dass die Privation, also das Fehlen des Aktes, mit verschiedenen Potenzen verbunden sein kann, die er als »ferne« und »nahe« bezeichnet. Ibn Bāǧǧa illustriert diese fernen und nahen Potenzen mit drei Beispielen: der Sichtbarkeit der Luft, der Kühlung durch Schnee und dem Wissen. Das erste Beispiel ist in beiden Handschriften durch Lakunen entstellt, ist aber dennoch hier interessant, weil es aus dem Rahmen der typischen physikalischen Beispiele fällt. Soweit es sich rekonstruieren lässt, stellt Ibn Bāǧǧa folgende Überlegung an: Die Luft ist nicht sichtbar, wenn kein Licht anwesend ist, sie ist jedoch ebensowenig sichtbar, »wenn sie mit dem Seh[vermögen] verbunden ist« (muttaṣil bi-l-baṣar), das soll wohl heißen, wenn das Licht die notwendige Verbindung hergestellt hat. Sichtbar wird die Luft etwa nur dann, wenn sie im Wasser Blasen oder Schaum bildet. Dies lässt sich nun so analysieren, dass die dunkle Luft »potentiell sichtbar« ist und die Privation in ihr – wohl die Privation der Sichtbarkeit – mit einer weiteren Privation verbunden ist, nämlich der Privation des Lichtes. Wenn diese Privation sich nun zu Licht wandelt, »dann ist es möglich, 88Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 171, 13–15. 89Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 170, 14f. Die beiden hier verwandten Verben meinen Unterschiedliches: yalzamu (folgen) meint eine logisch notwendige Verbindung von Potenz mit Privation des Aktes, yuqtarin (verbunden sein) meint ein reales Verknüpftsein und zusammen Vorliegen.
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dass sie sichtbar wird«.90 Die Unterscheidung zweier Privationen ermöglicht es Ibn Bāǧǧa hier also, auch zwei Potenzen zu unterscheiden: Von dunkler Luft zu sagen, dass sie potentiell sichtbar ist, bedeutet demnach anderes als von erleuchteter Luft zu sagen, dass es »möglich« (=Potenz) ist, sie zu sehen, weil im ersten Fall zwei Privationen zu beseitigen bleiben, im zweiten nur eine. Das zweite Beispiel betrachtet den Unterschied zwischen Schnee und Dampf, die »potentiell kühlend« sind. Der Schnee muss sich, um zu kühlen, nicht selbst verändern, es muss dazu nur etwas anwesend sein, das in einem solchen Zustand ist, dass es vom Schnee gekühlt werden kann. Der Dampf dagegen muss sich zuerst in Schnee verwandeln, und dann kann er kühlen.91 Das dritte Beispiel vergleicht den schlafenden Geometer mit dem Schüler. Beide sind »Geometer in Potenz« (muhandis bi-l-quwwa), jedoch ist die Potenz des Lernenden Unwissenheit (ǧahl) oder zumindest verbunden mit Unwissenheit. Die Potenz desjenigen, der schläft oder der von seinem Wissen (ʿilm) abgelenkt ist, die ist ganz im Gegenteil weder Unwissen noch mit Unwissen verbunden, der Betreffende befindet sich in einem dem Unwissen »entgegengesetzten Zustand« (ḥāl muqābila).92 Ibn Bāǧǧas Schlussfolgerung, die man wohl als Ergebnis aller drei Beispiele lesen muss, lautet: »Mit der entfernten Potenz kann also mehr als eine Privation verbunden sein, während mit der nahen nur eine Privation verbunden ist.«93 Man kann also die angeführten Prozesse des Sichtbarwerdens, des Kühlens und des Wissenschafttreibens als Prozesse der Aktualisierung jeweils einer Eigenschaft beschreiben und kann dann sagen, dass zu dieser Eigenschaft eine ferne oder bereits eine nahe Potenz besteht, dabei ist aber zu berücksichtigen, dass mit der fernen Potentialität mehr Privationen als nur die Privation der jeweiligen Eigenschaft verbunden sind, nämlich Privationen solcher Merkmale, die das Betreffende überhaupt erst in die Lage versetzen, die Eigenschaft haben zu können. Ibn Bāǧǧa hebt also an Aristoteles’ Darlegung die Zwei- oder Mehrstufigkeit solcher Prozesse hervor, besonders das zweite Beispiel deutet auch an, dass dabei nur für das Erreichen der ersten Stufe eine Veränderung der Sache selbst notwendig ist. Dagegen bleibt der von Aristoteles herausgestellte Gedanke ausgeklammert, dass der Übergang zur vollständigen Aktualität sofort erfolgt, wenn nichts hindert. Ibn Bāǧǧa scheint vielmehr darauf zu bestehen, 90Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 170, 15–171, 3; mit MS B, f. 59r und MS O, f. 48r sind folgende Korrekturen vorzunehmen: In Zeile 171, 1 ist nach al-hawāʾ einzufügen al-muẓlim; in Zeile 171, 2 ist statt ḍauʾ zu lesen al-ḍauʾ. Dem allaḏī in Zeile 171, 2 entspricht in MS B eine Lakune. 91Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 171, 3–6; in Zeile 171, 5 ist laut beider Handschriften nach allatī einzufügen bi-hā. 92Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 171, 6–12. 93Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 171, 12f; in Zeile 171, 13 ist mit MS B, f. 59v innamā statt mā zu lesen.
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dass in jedem Fall für den Übergang zur Aktualität noch einmal bestimmte Bedingungen zu erfüllen und anzugeben sind. Dies versucht er dann für das »der Natur nach Bewegte« zu tun, indem er verschiedene denkbare Fälle ihres Übergangs zur Bewegung unterscheidet. Er lässt dabei die soeben entwickelte Unterscheidung verschiedener Bedeutungen der Potenz fast völlig fallen, zieht sie jedenfalls nicht ausdrücklich zur Lösung der beschriebenen Fälle heran. Dies steht im auffälligen Kontrast zu seiner anfänglichen Feststellung, nur durch diese Unterscheidung der Potenzen lasse sich das Problem lösen und der Beweger der Elemente identifizieren. Zwar scheint Ibn Bāǧǧa häufig vorauszusetzen, dass der Leser die Implikationen seiner Erklärungen selbst ausbuchstabieren kann und mit dem aristotelischen Text vertraut ist, hier liegt aber doch eher eine unabgeschlossene Behandlung des Themas vor, besonders da Ibn Bāǧǧa in den anderen Versionen des Kommentars soviel ausführlicher auf genau diesen Punkt eingeht. Man kann deshalb mit Grund vermuten, dass dieser Text früher als die beiden anderen Versionen entstanden ist. Das der Natur nach und notwendig Bewegte, bewegt sich nur zu einem einzigen, seinem natürlichen Ort (al-makān al-ṭabīʿī lahū), und zwar tut es das unter der Bedingung, sich (a) an einem anderen als diesem natürlichen Ort zu befinden und (b) nicht behindert zu werden.94 Die Ursache dafür, dass es an einem anderen als seinem natürlichen Ort existiert, muss außerhalb seiner liegen (sababuhū ḫāriǧ ʿanhū). Wie diese Lage zustande kommt, dafür sieht Ibn Bāǧǧa zwei Hauptmöglichkeiten, deren zweite wiederum zwei Unteroptionen aufweist: (1) Das Bewegte existiert zunächst an seinem natürlichen Ort, wird aber durch etwas, das Gewalt auf es ausübt (das Zwingende: qāsir, qāhir) an einen anderen Ort verbracht, etwa wenn ein Stein hochgeworfen wird. Der Beweger dieser ersten Bewegung ist das Zwingende. »Wenn die Potenz des Zwingenden von ihm ablässt, dann kehrt es zu dem zurück, was in seiner Natur liegt [mā fī ṭabʿihī].« Folglich ist bei ihm das Zwingende, das außerhalb seiner liegt, »das Prinzip der Bewegung«. Für diesen Fall, so resümiert Ibn Bāǧǧa, ergibt sich also gar kein Zweifel darüber, was der Beweger der natürlichen Bewegung ist. (2) Der natürliche Körper entsteht aus einem anderen Körper, zum Beispiel Leichtes aus Schwerem. Darunter fallen folgende Vorkommnisse: (2a) Entweder bei der Vollendung der Erzeugung des Bewegten oder hinterher tritt ein Hindernis ein; verschwindet dieses, so bewegt sich das Erzeugte zu seinem natürlichen Ort. Zum Beispiel entstehen Hagel und Regentropfen in den Wolken, und erst wenn die Erzeugung der Wolken vollendet ist, lassen sie nach und nach fallen, was nach und nach entstanden ist. 94Dazu und zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 171, 15– 172, 11; mit MS B, f. 59v [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: Zeile 171, 15 wa-lmutaḥarrik statt wa-l-muḥarrik; Zeile 172, 4 ḏālika statt ḏā.
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(2b) Oder es gibt überhaupt kein Hindernis wie etwa bei Dunst und Rauch, die aus schweren Körpern erzeugt werden und im gleichen Maße aufzusteigen beginnen, wie sie erzeugt werden (ʿindamā yabdaʾān bi-l-takawwun yabdaʾān bi-l-ṣuʿūd).95 Ibn Bāǧǧa verweist denjenigen, der eine detailliertere Darlegung (tafṣīl al-qaul) dessen wünscht, auf al-Fārābīs Schrift Die veränderlichen Seienden (al-Mauǧūdāt al-mutaġayyira), über die wir im Zusammenhang mit der Widerlegung des Philoponos noch näheres hören werden.96 Ibn Bāǧǧa selber aber macht sich daran, den Beweger in den beiden offenen Fällen zu identifizieren, zunächst (2b) dann (2a), wogegen ich hier die Reihenfolge der vorangegangenen Aufzählung einhalten möchte, da der letztgenannte Fall sich tatsächlich als der wichtigste herausstellt. Bei derjenigen Bewegung nun, bei der ein Hindernis vorliegt, ist dasjenige, was das Hindernis beseitigt (muzīl al-ʿāʾiq), das »Prinzip der Bewegung«, was man hier, ebenso wie oben unter (1) selbstredend nicht als internes Prinzip missverstehen darf. Ibn Bāǧǧa nennt hier auch die aristotelischen Beispiele (vgl. 255b24–26): dasjenige, was die Säule unter einem Bau wegzieht oder den Stein von einem luftgefüllten Schlauch im Wasser aufhebt. Beweger ist das Hindernisaufhebende allerdings auch nur »in gewisser Weise«; auch das hatte Aristoteles bereits festgestellt.97 Vom letzten Fall schließlich sagt Ibn Bāǧǧa, er sei »das Prinzip vom Zwang« (al-mabdaʾ min al-qasr), nämlich »die rein natürliche Bewegung« (al-taḥarruk al-ṭabīʿī al-maḥḍ).98 Das ließe sich auf zwei Weisen deuten. Entweder meint Ibn Bāǧǧa, dass es hier nur einen »Anfang« (mabdaʾ) von Zwang, also das geringste mögliche Maß an gewaltsamem (d.h. äußerem) Einfluss gibt. Oder aber er will sagen, dass diese rein natürliche Bewegung die Grundlage der anderen beiden Fälle bildet, also der Prozess, der in (1) und (2a) nur mehr oder minder gewaltsam abgewandelt wird. Beide Deutungen schließen sich übrigens nicht gegenseitig aus, denn wir werden später sehen, dass für Ibn Bāǧǧa jede natürliche Bewegung allein auf Grund der Tatsache, dass sie in einem Medium stattfindet, gewaltsamen Einwirkungen ausgesetzt ist. Wo hier nun der Beweger zu finden ist, erklärt Ibn Bāǧǧa folgendermaßen: 95Einen ähnlichen kontinuierlichen Parallelismus von Entstehen und Aktualität sieht Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele zwischen der Mischung des Körpers und der Aufnahme der Seelenform in ihm, vgl. N III. 37. 96Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 172, 11–13 [= T 19]. 97Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 172, 20–173, 1; in Zeile 173, 1 ist mit MS B, f. 60r [arab.] al-muḥarrik statt al-maḥmūl zu lesen. Vgl. auch Ziyāda 173, 11. 98Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 172, 14; vgl. dazu und zum Folgenden die dürftigen Bemerkungen von Josep Puig, Zur Bewegungsdefinition im VIII. Buch der Physik, in: Jan A. Aertsen, Gerhard Endreß (Hg.), Averroes and the Aristotelian Tradition. Sources, Constitution and Reception of the Philosophy of Ibn Rushd (1126–1198), Leiden 1999, 145–160, hier 153–154, der sich darauf beschränkt, diese Stelle »rätselhaft« zu finden.
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[T 16] »Es ist klar, dass die Potenz des ›oben‹ [quwwat al-ʿālī] im Schweren ist, jedoch verbunden mit der Potenz des Subjekts des Ortes ›oben‹ [quwwat mauḍūʿ maudiʿ al-ʿālī], welches das Feuer und die Luft ist. Das Erzeugende, welches das Öl zu Feuer macht, das ist der Beweger für diesen natürlichen Körper in der natürlichen Weise [ʿalā l-maǧrā al-ṭabīʿī]. Das Zwingende dagegen ist außerhalb des Natürlichen, wenn auch einigen der natürlichen Körper Arten des Zwanges folgen; jedoch geschieht das ›der Natur nach‹ [bi-l-ṭabʿ], nicht etwa, dass sie ›natürlich‹ [ṭabīʿīya] für sie wären. Diese beiden Weisen hat Aristoteles bereits im zweiten [Buch] dieser Schrift dargelegt.«99 Ibn Bāǧǧa folgt Aristoteles in seiner Identifizierung des »Erzeugenden« als Beweger. Er erklärt, dass das Schwere eine Potenz zum Obensein besitzt, jedoch nur insofern als es potentiell Feuer oder Luft also etwas Leichtes ist. Es besitzt die Potenz also nicht schlechthin, sondern nur mittelbar insofern es sich substantiell verändern und ein Subjekt dieser Potenz zum Obensein werden kann. In gewisser, allerdings sehr unbestimmter Weise nimmt Ibn Bāǧǧa so seine vorherigen Überlegungen zu verschiedenen Typen der Potenz wieder auf: Es gibt hier offensichtlich das, was er zuvor eine ferne und eine nahe Potenz genannt hat. Das Erzeugende ist offensichtlich das, was den Übergang von der fernen zur nahen Potenz bewerkstelligt. Jedoch hatten die oben diskutierten Beispiele eher ergeben, dass auch für den Übergang von der nahen Potenz zum Akt nochmals Bedingungen zu erfüllen sind – Ibn Bāǧǧa hatte den von Aristoteles betonten Punkt der Unmittelbarkeit (ἐυϑύς) übergangen – und diese Bedingungen werden hier gerade nicht spezifiziert. Den Eindruck, dass eine vollständige Lösung des Problems noch nicht erreicht wurde, geben auch die abschließenden Bemerkungen Ibn Bāǧǧas. »Wie nun dieses aber Beweger ist,« sagt er, »und wie diese Bewegung erfolgt, das gehört zu dem, worüber Zweifel bestehen. Das ist ähnlich wie der beschriebene Zweifel bezüglich der Dinge, die sich selbst bewegen, warum sie sich zuweilen bewegen und zuweilen ruhen.«100 Aristoteles habe diese Frage im Zusammenhang mit den verschiedenen Typen unbewegter Beweger behandelt, und Ibn Bāǧǧa will sie klären, nachdem er die Lage des sich spontan Bewegenden festgestellt hat.101 Zuletzt resümiert Ibn Bāǧǧa, man könne drei Typen des Bewegten unterscheiden, das gewaltsam Bewegte, das der Natur nach Bewegte und das spontan Bewegte.
99Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 172, 15–19; mit MS B, f. 59v [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: Zeile 172, 15 lies mauḍūʿ maudiʿ statt mauḍiʿ; Zeile 172, 19 lies al-ṯānīya statt al-ṯāmina. 100Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 173, 1–4. 101Hierzu und zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 173, 4–17.
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Bezüglich des der Natur nach Bewegten wiederholt er, der Beweger sei hier »das Erzeugende und Herstellende und das Hindernisaufhebende«, das Hindernisaufhebende allerdings nur in gewisser Weise: [T 17] »Und mit Recht wurde das behauptet, denn der Beweger muss notwendigerweise verschieden sein [yubāyinu] vom Bewegten, und das ist etwas, das bei den Elementen nicht möglich ist, da sie einfach und homoiomer sind. Es ist bereits klar, dass alles, was keine Seele besitzt, nicht bewegt sondern vielmehr bewegt wird und erleidet [mutaḥarrik munfaʿil]. Es bewegt nur, wenn der Beweger mit ihm verbunden ist. Wir werden später erklären, wie es sich damit verhält und warum das so ist.«102 Es ist bemerkenswert, dass sich die Feststellungen eines weiteren Klärungsbedarfs, die wir hier angeführt haben, nominell nur auf das Hindernisaufhebende beziehen. Die Frage »Wie nun dieses Beweger ist…« knüpft nämlich ebenfalls unmittelbar an die Besprechung des Hindernisaufhebenden an, die wir oben im Zusammenhang mit Fall (2b) referiert haben. Die von Ibn Bāǧǧa aufgeworfenen Fragen sind aber genereller. Denn die Frage, warum etwas sich zuweilen bewegt, zuweilen nicht, wäre mit dem Verweis auf Hindernis und Hindernisaufhebendes doch einfach zu beantworten, wenn man nur erst einmal wüsste, warum sich das Betreffende überhaupt bewegt. So hatte Ibn Bāǧǧa schon zuvor gesagt, dass der Anschluss der Bewegungen in diesem Falle eindeutig sei. Auch der Unterschied zwischen Beweger und Bewegtem muss sich auf das Erzeugende ebenso beziehen wie auf das Hindernisaufhebende; beide sind äußere Beweger, die das Element braucht, weil es in sich einfach ist und den Unterschied zwischen Beweger und Bewegtem nicht in sich selbst tragen kann, wie das bei beseelten Körpern der Fall ist. Ibn Bāǧǧa paraphrasiert hier offensichtlich die aristotelische Feststellung, die natürlichen Körper besäßen ein passives Prinzip der Bewegung, und bezieht sie, sicher zurecht, auf die Notwendigkeit, einen äußeren Beweger zu identifizieren. Dies erklärt aber eben noch nicht genau, welcher Art diese Einwirkung ist, und folglich vor allem, warum solch ein Körper ein passives Prinzip der Bewegung besitzt und was das genau ist.
102Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 173, 12–15; in Zeile 173, 12 sind mit MS B, f. 60r [arab.] folgende Änderungen vorzunehmen: yaǧibu vor ḍarūratan und yubāyinu statt yuḥarriku.
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2.2. Philoponos’ Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre Philoponos’ Kritik Um Ibn Bāǧǧas weitere Entwicklung der Erklärung der Elementarbewegung angemessen beschreiben zu können, müssen an dieser Stelle zwei Texte in den Blick genommen werden, die Ibn Bāǧǧa in der soeben besprochenen ersten Version seines Kommentars nur kurz erwähnt hat: Philoponos’ »Schrift« (kitābuhū), in der dieser die aristotelische Annahme kritisiert haben soll, dass jedem Akt (fiʿl) die Potenz (quwwa) zeitlich vorausgeht, und al-Fārābīs Buch Die veränderlichen Seienden (al-Mauǧūdāt al-mutaġayyira), in dem dieser, wie oben berichtet, zwischen den verschiedenen Fälle unterschieden hätte, in denen etwas von seinem natürlichen Ort entfernt sein kann. Diese Unterscheidungen gehören, wie man im Folgenden sehen wird, offenbar in den Kontext einer Replik auf Philoponos’, die al-Fārābī in der genannten Schrift unternommen haben soll. »Haben soll«, denn der Text ist verloren, ebenso wie die betreffende Schrift des Philoponos – sein Traktat Über die Ewigkeit der Welt gegen Aristoteles. Nun gibt es inzwischen eine reichhaltige Literatur zu Philoponos’ Kritik an der aristotelischen Naturphilosophie und Kosmologie, und es erübrigt sich daher, dieser hier in ihren Details nachzugehen.103 Vielmehr brauchen wir nur das eine Argument zu erhellen und in seinen Kontext zu stellen, mit dem Ibn Bāǧǧa sich an dieser Stelle befasst. Etwas länger müssen wir uns dagegen bei al-Fārābī aufhalten, denn wie angemerkt worden ist, fällt es schwer in den indirekten Zeugnissen über Die veränderlichen Seienden, zu denen auch Ibn Bāǧǧas Auseinandersetzung in seinen Kommentaren zu Buch VIII zählt, zwischen dem berichteten Inhalt und den eigenen Überlegungen der berichtenden Autoren zu unterscheiden.104 Das bedeutet jedoch, dass zunächst unklar ist, welche Ideen bezüglich der für unsere Untersuchung zentralen Frage nach der Potenz von Ibn Bāǧǧa selbst stammen und welche er von al-Fārābī übernommen hat. Es geht in der folgenden Analyse der Debatte, auf die Ibn Bāǧǧa Bezug nimmt, daher vor
103Vgl. etwa Richard Sorabji (Hg.), Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, Ithaca 1987. 104So Puig, Zur Bewegungsdefinition im VIII. Buch der Physik, 151 und vgl. 152, 156. Puigs Aufsatz hat einige der hier bereits besprochenen und noch zu besprechenden Stellen aus Ibn Bāǧǧas Kommentar schon behandelt. Ibn Bāǧǧas Kommentar ist gleichfalls benutzt in: Josep Puig Montada, Averroes and Aquinas on Physics VIII 1: A Search for the Roots of Dissent, in: Simo Knuuttila [u.a.] (Hg.), Knowledge and the Sciences in Medieval Philosophy. Proceedings of the Eigth International Congress of Medieval Philosophy (S.I.E.P.M.), Helsinki 24–29 August 1987, Helsinki 1990, Bd. 2, 307–313. Lettinck, Aristotle’s Physics, 638 fasst Ibn Bāǧǧas Erwiderung auf Philoponos zusammen, ohne sich die Frage zu stellen, wieviel davon al-Fārābī zugeschrieben werden kann. Er erwähnt, dass Ibn Bāǧǧa al-Fārābī als seine Quelle nennt, und er behauptet – vermutlich zu unrecht – »Ibn Bājja was acquainted with the Contra Aristotelem of Philoponos«.
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allem darum, die besondere Perspektive und Fragestellung Ibn Bāǧǧas herauszuarbeiten. Philoponos’ Gegen Aristoteles ist die zweite Schrift des alexandrinischen Kommentators, welche die Lehre von der Ewigkeit der Welt angreift.105 Philoponos, als Schüler des Ammonios in der spätantiken philosophischen Schultradition gebildet, wendet sich zuerst um das Jahr 529, also im Zusammenhang mit der Schließung der Schule in Athen oder zumindest im Zusammenhang mit der unter Kaiser Iustinian schärfer werdenden christlich-heidnischen Auseinandersetzung, der sich dieses Ereignis verdankt, in einer wohl recht plötzlichen Kehre gegen fundamentale Annahmen der heidnischen Philosophen der Antike.106 Die erste Schrift Über die Ewigkeit der Welt gegen Proklos – auch sie hat in der arabischen Tradition Niederschlag gefunden – greift Proklos’ Erläuterungen der Weltenstehungslehre in Platons Timaios an.107 In Gegen Aristoteles wendet sich Philoponos dann gegen zentrale Kapitel der aristotelischen Naturphilosophie, besonders aus De caelo und der Physik. Später entstehen weitere Schriften zur philosophischen Verteidigung der christlichen Lehre von der Weltschöpfung aus dem Nichts, von denen zumindest eine (auf Griechisch verlorene) Abhandlung ebenfalls ins Arabische übersetzt worden ist.108 Untersuchungen, insbesondere von Herbert Davidson haben gezeigt, dass ein Großteil der im Kalām und in der arabischen Philosophie verhandelten Beweise für die Weltschöpfung auf Philoponos zurückgeführt werden können.109 Nur die Schrift Gegen Aristoteles hat auf Ibn Bāǧǧa gewirkt und das wohl auch nur vermittelt über al-Fārābīs Erwiderung. In dem ursprünglich mindestens acht Bücher umfassenden Werk, von dem den Arabern nur die sechs ersten Bücher bekannt waren, hatte sich Philoponos solche Thesen der aristotelischen Naturphilosophie herausgegriffen, welche die Ewigkeit der Welt begründen sollten 105Zur Chronologie sowie für einen allgemeinen Überblick vgl. Richard Sorabji, John Philoponus, in: Sorabji, Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, 1–40. 106Zur doktrinalen Entwicklung des Philoponos und den Gründen für seine christliche Kehre vgl. Koenraad Verrycken, The Development of Philoponus’ Thought and Its Chronology, in: Richard Sorabji (Hg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, Ithaca 1990, 233–274, dort 258–263 zu Philoponos’ »volte-face« und den arabischen Zeugnissen, die deren Ehrlichkeit in Zweifel stellen. Dieser Punkt wird unten noch kurz zu berühren sein. 107Vgl. Ahmed Hasnaoui, Alexandre d’Aphrodise vs. Jean Philopon: Notes sur quelques traités ›perdus‹ en grec, conservé en arabe, in: Arabic Sciences and Philosophy 4 (1994), 53–109. 108Shlomo Pines, An Arabic Summary of a Lost Work of John Philoponus, in: Israel Oriental Studies 2 (1972), 294–326; G. Troupeau, Un épitomé arabe du De contingentia mundi de Jean Philopon, in: É. Lucchesi, H. D. Saffrey (Hg.), Mémorial André-Jean Festugière. Antiquité païenne et chrétienne, Genf 1984, 77–88. 109Herbert A. Davidson, John Philoponus as a Source of Medieval Islamic and Jewish Proofs of Creation, in: Journal of the American Oriental Society 89 (1969), 357–391; ders., Proofs for Eternity, Creation and the Existence of God in Medieval Islamic and Jewish Philosophy, New York 1987, besonders 86–116.
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oder welche mit der These von der Ewigkeit der Welt eng verbunden waren. Aus den in Simplikios’ Kommentaren zu De caelo und zur Physik enthaltenen Fragmenten lässt sich schließen, dass die ersten fünf Bücher vornehmlich solchen Überlegungen aus De caelo I gewidmet waren, mit denen Aristoteles die radikale Verschiedenheit des Himmels und der himmlischen Bewegung von der Welt der vier Elemente begründen wollte. Das sechste Buch war demgegenüber gegen den Versuch des Aristoteles in Physik VIII. 1 gerichtet, die Ewigkeit der Bewegung zu beweisen.110 al-Fārābī hat den Angriff des Philoponos in mindestens zwei Schriften zurückgewiesen. Die eine, ein kurzer Traktat mit dem Titel Erwiderung auf Johannes den Grammatiker (Kitāb al-radd ʿalā Yaḥyā al-Naḥwī fīmā radda bihī ʿalā Arisṭūṭālīs) befasst sich mit einigen der von Philoponos vorgebrachten Einwände bezüglich De caelo.111 Ibn Rušd zitiert aus dieser Schrift,112 es ist also möglich, dass sie auch zur Zeit Ibn Bāǧǧas schon in al-Andalus verfügbar war, aber Spuren ihrer Benutzung konnten bisher bei Ibn Bāǧǧa nicht festgestellt werden. In Die veränderlichen Seienden hat sich al-Fārābī dagegen wohl ausführlicher mit Philoponos’ Argumenten gegen die aristotelische Bewegungslehre aus der Physik beschäftigt. Auf Grund von Zitaten in diversen Schriften Ibn Rušds konnte festgestellt werden, dass er dabei mindestens drei von Philoponos vorgebrachte Thesen im Visier hatte: (1) Der von Aristoteles in Anspruch genommene Grundsatz, nach dem jeder Bewegung die Möglichkeit zu dieser Bewegung vorausgeht und damit eine Bewegung, die diese Möglichkeit hervorgebracht hat, ist nicht allgemein gültig. (2) Gott ist in der Lage, aus Nichts etwas hervorzubringen, die Potenz dazu liegt allein in Gott als Wirkendem. (3) Aus der aristotelischen Konzeption einer unendlichen Zeit ergeben sich Probleme.113 Nur der erste Punkt
110Zum Aufbau und Inhalt von Gegen Aristoteles siehe Christian Wildberg, Prolegomena to the Study of Philoponus’ contra Aristotelem, in: Sorabji (Hg.), Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, 197–209; vgl. auch Davidson, John Philoponus as a Source, 357–359. Die Fragmente von Gegen Aristoteles sind übersetzt in: Christian Wildberg (Hg.), Philoponus against Aristotle on the Eternity of the World, London 1987. Ein arabisches Fragment ist in Abū Sulaimān al-Siǧistānīs Ṣiwān al-ḥikma erhalten geblieben, siehe: Joel L. Kraemer, A Lost Passage from Philoponus’ Contra Aristotelem in Arabic Translation, in: Journal of the American Oriental Society 85 (1965), 318–327. 111Dies ist der Titel, den Ibn Abī Uṣaibiʿa überliefert, vgl. Steinschneider, Al-Farabi, 216. Muhsin Mahdi hat den Text ediert, übersetzt und kommentiert: Muhsin Mahdi, The Arabic Text of Alfarabi’s Against John the Grammarian, in: Sami A. Hanna (Hg.), Medieval and Middle Eastern Studies in Honor of Aziz Suryal Atiya, Leiden 1972, 268–84; ders., Alfarabi against Philoponus, in: Journal of Near Eastern Studies 26 (1967), 233–260. 112Ibn Rušd, Commentarium magnum de caelo, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 5, f. 4vb, Zeile 12–26 (»Iohannes Grammaticus secundum quod narravit Alfarabius in contradicendo propositioni«); bezieht sich auf §§ 14–15 von al-Fārābīs Text, Kitāb al-radd ʿalā Yaḥyā al-Naḥwī, in der Edition Mahdis, The Arabic Text of Alfarabi’s Against John the Grammarian, 279f. 113Vgl. Davidson, John Philoponus as a Source, 359–360.
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ist hier für uns von Interesse, denn nur mit ihm beschäftigt sich Ibn Bāǧǧa. Es ist bisher noch nicht versucht worden, al-Fārābīs Argumentation in Bezug auf diesen Punkt anhand der überlieferten Zitate und Referate zu rekonstruieren. Genau dies muss an dieser Stelle geschehen, um anschließend Ibn Bāǧǧas Beitrag freilegen zu können. Dazu müssen die Hinweise Ibn Rušds ausgewertet und mit den Äußerungen Ibn Bāǧǧas verglichen werden, und die Parallelstellen in Ibn Bāǧǧas Texten müssen gegeneinander abgewogen und in ihrem jeweiligen Kontext situiert werden. Zuvor jedoch ist es nötig, sich der Argumentationen bei Aristoteles und Philoponos zu vergewissern, auf die alle übrigen Autoren sich beziehen. Als Ausgangspunkt mag dabei Ibn Bāǧǧas aus al-Fārābī geschöpftes Resümee von Philoponos’ Kritik dienen: [T 18] »Wir sagen also: Yaḥyā al-Naḥwī will die Auffassung [raʾy] des Aristoteles kritisieren, bezüglich dessen, was wir gesagt haben über die zeitliche Priorität [taqaddum] der Potenz gegenüber dem Akt, damit in Bezug auf die erste Kreisbewegung dasselbe folgen möge, was [seiner Meinung nach] bezüglich der entstehenden [Bewegung] folgt. Nehmen wir etwa an, dass Feuer unten erzeugt wurde und dass im Augenblick seiner Vollendung kein Hindernis besteht, so wird es im Augenblick seiner Vollendung nach oben bewegt. Es ist offensichtlich, dass in der Materie des Feuers, etwa im Öl, nicht die Potenz des Oben [quwwat al-fauq] besteht, vielmehr kommt dem der Natur nach das Unten zu, so dass also die Bewegung existiert, ohne dass ihr die Potenz der Zeit nach vorhergeht. Wenn dies aber so ist, dann folgt nicht notwendig, dass jeder Bewegung ihre Potenz der Zeit nach vorhergeht, vielmehr existieren sie manchmal gleichzeitig.«114 Es geht mithin, wie Ibn Bāǧǧa richtig verstanden hat, um eine Argumentation, die zwei miteinander zusammenhängende Ziele verfolgt: Anhand einer der aristotelischen Erklärung widersprechenden Analyse der Elementarbewegung soll die Allgemeingültigkeit des aristotelischen Satzes von der zeitlichen Priorität der Potenz vor dem Akt bestritten werden. Dieses Ergebnis soll anschließend auf die Aristoteles als ewig geltende Bewegung des Himmels übertragen werden, um zu zeigen, dass nichts prinzipiell dagegen spricht, dass auch diese Bewegung einen Anfang in der Zeit hat. Philoponos widerspricht mit dieser Argumentation der
114Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 180, 6–12; mit MS B, f. 61v [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: in Zeile 180, 7 liest B qulnāhu min taqaddum faḥṣ statt qālahū min taqaddum, das Wort faḥṣ trägt möglicherweise ein Löschzeichen, auf jeden Fall gebietet aber der Sinn, es zu unterdrücken; Zeile 180, 7 al-fiʿl statt li-l-fiʿl; Zeile 180, 8 fa-nunzil anna statt fa-qāla fa-inna; Zeile 180, 9 ḥīn statt ḥāl; taḥarrakat statt tuḥarraku[?]; Zeile 180, 10 al-fauq statt li-l-fauq.
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aristotelischen Annahme der Ewigkeit der Bewegung also in doppelter Hinsicht, nämlich einmal in Bezug auf die als solche ewige Bewegung des Himmels und andererseits in Bezug auf die unendliche Folge begrenzter Bewegungen. Diese doppelte Perspektive entspricht der aristotelischen Argumentation in Physik VIII. 1. Er stellt sich dort die Frage, ob Bewegung einmal entstanden ist, oder ob es sie immer gegeben hat,115 und er betont, dass die Beantwortung dieser Frage, nicht nur einen Beitrag zur Theorie der Natur leistet, sondern auch zur Untersuchung des ersten Prinzips.116 Es geht also gleichzeitig um die Logik von natürlichen Bewegungsprozessen und um die Begründung der vom ersten Prinzip verursachten ewigen Bewegung, welche die Ursache dieser natürlichen Bewegungsprozesse ist. In seiner Antwort geht Aristoteles von der Bewegungsdefinition aus Physik III aus: »Bewegung ist die Aktualität des Beweglichen als Beweglichen.« Daraus folgert er, dass die Dinge, die sich bewegen, notwendig vorliegen müssen und dass, wenn sie sich bewegen, es ihnen zuvor »möglich« (τὸ δυνατὸν) sein muss, sich zu bewegen; etwas muss etwa brennbar sein, bevor es verbrennt.117 Auf dieser Grundlage kann dann gefolgert werden, dass sie entweder durch eine vorhergehende Veränderung oder Bewegung in den Möglichkeitszustand gekommen sind, oder, wenn man dies ablehnt, so ist man mit dem Dilemma konfrontiert, einerseits behaupten zu müssen, sie hätten in diesem Möglichkeitszustand schon immer bestanden, und andererseits eine weitere Bewegung als Ursache dafür angeben zu müssen, dass sie sich genau im Augenblick ihrer Bewegung und nicht schon zuvor bewegt haben. Folglich geht jeder Bewegung eine Bewegung vorher.118 Dieser Überlegung folgen weitere ergänzende Argumente, aber grundsätzlich ist damit bereits das Ergebnis erreicht, dass Bewegung in dem beschriebenen Sinne einer ewigen Abfolge von Bewegungen ewig ist.
al-Fārābīs Antwort in seiner Schrift Die veränderlichen Seienden In Kenntnis der beiden gegnerischen Positionen können wir uns nun den Zeugnissen von al-Fārābīs Die veränderlichen Seienden zuwenden, wobei die bei Ibn Rušd zu findenden Hinweise besonderes Gewicht haben, weil er, anders als Ibn Bāǧǧa, al-Fārābī in einigen Punkten ausdrücklich widerspricht, so dass seine Aussagen als Kontrollgröße dienen können. Dafür muss man sich jedoch zunächst Ibn Rušds eigene Agenda klar machen: Er hat in der ersten Version seiner Epitome der Physik und noch in einer ersten Fassung seines Großen Kommen115Aristoteles, Physik, VIII. 1, 250b11–13. 116Aristoteles, Physik, VIII. 1, 251a5–8. 117Aristoteles, Physik, VIII. 1, 251a8–17. 118Aristoteles, Physik, VIII. 1, 251a17–28.
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tars, deren Spuren im revidierten Text weiterhin sichtbar sind, eine andere Auffassung vertreten als im Mittleren Kommentar zur Physik und den beiden soeben genannten revidierten Versionen von Epitome und Großem Kommentar. Der Streitpunkt ist dabei nichts weniger als Ziel und Gegenstand von Aristoteles’ Argumentation im achten Buch der Physik. Während Ibn Rušd zuerst der Auffassung war, dass es dort um Bewegung im allgemeinen geht, wollte er später nur noch die Himmelsbewegung als Gegenstand sehen.119 Er führt nun al-Fārābīs Interpretation der aristotelischen Bewegungslehre überall dort an, wo er sich von dieser zuvor von ihm selbst geteilten Deutung abgrenzen will. Der Kern seiner Einwände ließe sich so formulieren, dass al-Fārābī und der ihm folgende Ibn Bāǧǧa (Ibn Sīnā wird auch erwähnt) Aristoteles auf einem falschen Feld gegen Philoponos verteidigen, indem sie seine Prämissen über Absicht, Gehalt und Tragweite der aristotelischen Argumentation akzeptieren. al-Fārābī habe daher versucht, Aristoteles’ Darlegung im Sinne dieser hypothetischen Absicht zu vervollständigen, statt seine wirkliche Absicht herauszufinden. Insofern wir es hier also stets nur mit fragmentarischen Einblicken in einen Teil von al-Fārābīs Argumentation in Die veränderlichen Seienden zu tun haben, sollen im folgenden die sicher feststellbaren Bestandteile auch als einzelne Punkte zusammengetragen werden, wovon eine wahrscheinliche Rekonstruktion des Arguments säuberlich zu trennen ist, die in dieser Arbeit auch nur einen beschränkten Platz hat. (1) In Aristoteles’ Beweis geht es um Bewegung als »Gattung« also darum zu zeigen, dass jeder beliebigen Bewegung eine Bewegung vorhergeht.120 Diese von Ibn Rušd al-Fārābī zugeschriebene Position findet sich bei Ibn Bāǧǧa in ähnlicher Formulierung, ohne dass dabei al-Fārābī als Quelle genannt wäre.121 Man muss daher auch in der Folge damit rechnen, dass vieles, was bei Ibn Bāǧǧa rein sachbezogen vorgebracht wird, aus al-Fārābī geschöpft ist. 119Siehe hierzu David Wirmer, Metaphysik und Intellektlehre. Philosophische Hauptthemen des Ibn Rušd (Averroes), in: Heidrun Eichner, Matthias Perkams, Christian Schäfer (Hg.), Islamische Philosophie im Mittelalter. Ein Handbuch, Darmstadt 2013, 340–364, hier 349–353; vgl. auch Josep Puig Montada, Les stades de la philosophie naturelle d’Averroès, in: Arabic Sciences and Philosophy 7 (1997), 115–137, hier 131–136; Lettinck, Aristotle’s Physics, 658–660. 120Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 1, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 154rb16–23: »Dico quod haec expositio quam modo dixi est que intelligitur primo aspectu et hoc intellexit Alfarabius secundum quod dixit in libro suo de entibus transmutabilibus, et hoc idem intellexit Avicenna et Avempace Hispanus, scilicet quod intentio Aristotelis in primo istius tractatus est declarare quod ante omnem motum est motus et ante omnem transmutationem transmutatio et quod motus non deficiet secundum genus.« 121Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 193, 24–194, 3: »Deshalb hat Aristoteles gesagt: ›Ich möchte wissen, ob die Bewegung neu entsteht, nachdem sie nicht da war, und ob sie vergeht, so dass sich zugleich überhaupt nichts mehr bewegt?‹ [=250b11–12] Was er hier mit ›Bewegung‹ meinte ist die Gattung [al-ǧins], gleich ob sie in einem einzigen Subjekt ist oder in mehr als einem.«
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(2) Die Existenz einer ersten, in sich ewigen, kontinuierlichen Bewegung, nämlich der Himmelsbewegung, lässt sich anschließend auf der Basis der erwiesenen Ewigkeit der Gattung der Bewegung zeigen.122 Dies ist der zentrale Punkt, an dem Ibn Rušd al-Fārābī und Ibn Bāǧǧa die Gefolgschaft aufkündigt. Denn nach Ibn Bāǧǧa folgt die Existenz einer in sich unendlichen Bewegung daraus, dass der infinite Regress abgeschnitten werden muss, der bei der ewigen Bewegungsabfolge endlicher Bewegungen entsteht.123 Sie wird also abgeleitet aus dem Nachweis, dass jeder Bewegung eine Bewegung vorhergehen muss. Ibn Rušd dagegen erklärt, dass »al-Fārābī und andere« hier nicht richtig schließen: Die Bewegungsabfolge ist nicht in sich ewig, sondern wird dies nur auf Grund der ewigen ersten Bewegung, die ihre letzte Ursache ist.124 Die Ewigkeit der ersten Bewegung muss daher aus ihrer Erstheit abgeleitet werden.125 (3) Aristoteles führt nun nach al-Fārābī die Definition der Bewegung an, um zu zeigen, dass jeder Bewegung eine Bewegung vorhergeht.126 Die Kontinuität der Bewegung folgt also notwendig aus der Begriffsbestimmung der Bewegung selbst.127
122In direkter Fortsetzung der in Anm. 120 zitierten Stelle heißt es, f. 154rb23–26: »ut procedat ex hoc ad declarandum motum esse primum et aeternum qui continet omnia aut unum aut plures. Et in hac declaratione est difficultas.« 123Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 198, 21–199, 3. 124Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 1, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 154rb50–61: »[…] non quia induxit definitionem motus ad declarandum quod ante omnem motum est motus sicut credidit Alfarabius et alii. Perscrutatio enim quam hic intendit est universalis toti mundo et non est verum secundum Aristotelem ut ante motum continentem totum sit motus aut ante transmutationem quae est prima transmutatio sit transmutatio. Falsa igitur fuit haec existimatio illorum. Haec enim est particularis et est verum de motibus particularibus quos continet motus universalis secundum quod hoc sequitur motum universalem, non quia hoc existit in eis primo et essentialiter quantum hoc apud ipsum impossibile est ut apparebit post.« 125Dies kann er deshalb tun, weil er davon ausgeht, dass die Existenz eines ersten Selbstbewegten bereits in Physik VII bewiesen worden ist, so dass er nun nur noch die Art von dessen Bewegung zu untersuchen hat. So erklärt er etwa in seiner Abhandlung über Physik VII und VIII, Maqāla ʿalā l-maqāla al-sābiʿa wa-l-ṯāmina min al-samāʿ al-ṭabīʿī, in: Maqālāt fī l-manṭiq wa-l-ʿilm al-ṭabīʿī li-Abī l-Walīd Ibn Rušd, ed. al-ʿAlawī, 229, 19–230, 6. Ibn Bāǧǧa geht demgegenüber davon aus, dass in Physik VII nur die Existenz von ersten Bewegern relativ auf eine Bewegungsart gezeigt worden ist, vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 107, 10–108, 4. 126Vgl. die Texte in den vorhergehenden Anmerkungen. 127Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 23, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 164ra16–20: »Et cum ita sit, sicut narravimus, bene apparet quod illud quod dixit Alfarabius in principio sui libri de entibus transmutabilibus, scilicet quod de definitione motus in universali apparet continuatio, est sermo non verus.«
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(4) Aus der Definition der Bewegung folgt nämlich, dass die Potenz dem Akt der Zeit nach vorhergeht.128 (5) Es ist demnach notwendig zu zeigen, dass der genannte Grundsatz tatsächlich für jede Art von Bewegung gilt, und al-Fārābī hat daher versucht, eine erschöpfende Aufstellung aller Fälle zu bieten, in denen einer Bewegung eine andere vorhergeht.129 Der Grund für diese Vorgehen ist, jedenfalls nach Ibn Rušds Deutung, der Versuch, dem Einwand des Philoponos’ zu begegnen, dass aus der Annahme, jeder Bewegung gehe wesentlich eine Bewegung vorher, die nach Aristoteles unmögliche Annahme eines aktuell Unendlichen folgt. Es wäre al-Fārābī demnach darauf angekommen festzustellen, in welcher Weise die Annahme zutreffen kann, da von dieser Annahme ja der Beweis der Ewigkeit der Himmelsbewegung abhängt.130 (6) Diese Aufgliederung der Abfolge von Bewegungen in verschiedener Hinsicht muss äußerst kleinteilig und umfangreich gewesen sein. So erfah128Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 4, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 155va10–15: »Dico secundum hanc expositionem intellexit Alpharabius et alii hoc capitulum, scilicet quod induxit definitionem motus ad declarandum potentiam esse ante actum. Et hoc non est proprium motui secundum quod est motus, sed est proprium novo facto secundum quod est novum factum, scilicet ut potentia et posse novi.« 129Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 1, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 154rb26–31: »Et ideo intendit Alfarabius in suo libro de entibus transmutabilibus complere sermonem de hoc, in quo perscrutatus est secundum quot modos potest imaginari ante omnem transmutationem esse transmutationem et quid potest esse verum de hoc et quid non, quapropter involuta est sua perscrutatio in hoc.« 130Ibn Rušd, Ǧawāmiʿ kitāb al-samāʿ al-ṭabīʿī, in: Abū l-Walīd Ibn Rušd, al-Ǧawāmiʿ fī l-falsafa: Kitāb al-samāʿ al-ṭabīʿī/Epitome in Physicorum libros (CCAA: Series arabica, Vol. 20, a), ed. Josep Puig, Madrid 1983, 134, 4–135, 8 (zweite Version): »Platon und die Mutakallimūn, die ihm folgen von den Leuten unserer Religion und der christlichen Religion und alle, die die Schöpfung der Welt behaupten, haben sich eingebildet, dass das [lies: fīmā], was akzidentell ist, wesentlich ist. Sie haben geleugnet, dass hier vor [jeder] Bewegung eine Bewegung existiert bis ins Unendliche, und sie haben die Existenz einer der Zeit nach ersten Bewegung behauptet. […] Am meisten hat derjenige den Zweifel an Aristoteles notwendig gemacht, der gesagt hat, seine Absicht an dieser Stelle sei nur zu erklären, dass vor jeder Bewegung eine Bewegung ist und dass er die Definition der Bewegung nur dazu gegeben hat, wie Abū Naṣr sich das über ihn eingebildet hat in seinem Buch Über die veränderlichen Seienden und andere, die nach ihm kamen wie Ibn Sīnā und Abū Bakr Ibn al-Ṣāʾiġ [Ibn Bāǧǧa]. Und vor ihnen hat sich das schon Yaḥyā al-Naḥwī eingebildet und hat begonnen, Aristoteles zu widerlegen, weil er angenommen hätte, dass dem Wesen nach vor jeder Bewegung eine Bewegung ist. Diesbezüglich hat die Philosophen unter den Leuten unserer Religion ein Zweifel getroffen, und zwar war Abū Naṣr gezwungen, darüber seine Die veränderlichen Seienden genannte Abhandlung zu verfassen. Er wollte dort untersuchen, auf welche Weise es möglich ist, dass es vor der Bewegung eine Bewegung gibt und das, wo das unmöglich ist, vom Notwendigen unterscheiden [lies: yubayyinu]. Und zwar deshalb, weil er meinte, dass, wenn es hier keine notwendige Weise gibt [lies: in lam yakun], es vergeblich gewesen wäre, auf die Definition der Bewegung zurückzugreifen, denn er glaubte, dass Aristoteles die Definition der Bewegung nur deshalb angeführt habe, um zu erklären, dass vor jeder Bewegung eine Bewegung ist. Aber all das ist keine korrekte Auffassung.«
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ren wir etwa aus einer Darstellung Ibn Rušds, dass al-Fārābī die Abfolge in Bezug auf den Beweger und das Bewegte getrennt untersucht hat. Seine Methode zur Überprüfung des Grundsatzes scheint darin bestanden zu haben, (a) alle denkbaren Weisen des Vorhergehens einer Bewegung vor der anderen aufzulisten, (b) zu entscheiden, welche möglich sind, und (c) festzustellen, welche unter den möglichen notwendig ist.131 (7) Dazu hat er aufgeschlüsselt, in welchem Subjekt jeweils die Potenz zu der entsprechenden Bewegung vorliegt. Dies lässt sich jedenfalls dann schließen, wenn man zwei von Ibn Rušd zunächst im eigenen Namen vorgetragene Überlegungen, die er später als Auslegung al-Fārābīs charakterisiert, tatsächlich in ihrer Struktur al-Fārābī zuschreiben darf. Die Anhaltspunkte dafür sind aber stark, insofern sich diese minutiösen Einteilungen ausgezeichnet in das unter Punkt (6) genannte Vorgehen einfügen. Demnach hätte al-Fārābī mindestens folgende Fälle unterschieden: I. Das Bewegte, worin die Potenz zur Bewegung ist, gehört einer anderen Spezies an als das, worin die tatsächliche Bewegung ist. i. Die Bewegungen des Entstehens und Vergehens. ii. Die Ortsbewegungen der einfachen Körper. II. Das Bewegte, worin die Potenz zur Bewegung ist, ist dasselbe wie dasjenige, das sich aktuell bewegt. Die Bewegung folgt nicht notwendig aus der Substanz des Bewegten. i. Alle Bewegungen, die nach einer Ruhe eintreten, zum Beispiel die Bewegung des Lebewesens nach dem Schlaf.132 131Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 9, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 157ra30–47: »Et oportet nos perscrutari in hoc loco quid intendit per hunc sermonem, utrum intendit quod motus secundum genus semper fuit, aut intendit hoc esse motum aeternum unum in specie. Est enim in hoc aliqua difficultas, quantum si intendit declarare quod motus non deficit secundum genus in aliqua hora, existimatur quod impossibile est ipsum continuari secundum genus secundum quemcumque modum fuerit positus. Sed sunt positiones impossibiles et possibiles quaedam. Et hoc quod est possibile est illud quod necessario sequitur ex istis propositionibus quas posuit hic, scilicet potentiam praecedere actum secundum tempus. Et secundum hoc est illud quod intendit de hac intentione diminutum, et ideo videmus Alfarabium in suo libro de entibus transmutabilibus niti enumerare modos in quibus possibile est motum praecedere motum et hoc in motore et in moto, deinde declarasse quis possibilis et quis impossibilis et quod possibilis est necessarius secundum definitionem motus.« Vgl. auch Ibn Rušd, Maqāla ʿalā l-maqāla al-sābiʿa wa-l-ṯāmina min al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. al-ʿAlawī, 232, 11–14. 132Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VIII c. 4, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, Bd. 4, f. 155ra45–56 (am Ende dieses commentum steht die in Anm. 128 zitierte Passage, aus der hervorgeht, dass die vorangegangenen Ausführungen al-Fārābī folgen): »[...] necesse est ut mobiles sint ante motum in unoquoque generum motuum et cum res mobiles fuerint ante motum tunc potentia ad motum erit ante motum. Et intelligendum est ex hoc quod motum est prius tempore motu duobus modis. [I] Quorum unus est ut motum in quo est potentia sit alterius speciei moti in quo est ipse motus. [II] Secundus est ut illud mobile
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ii.
Bewegungen in Qualität und Quantität? – Das lässt sich vermuten, wenn Ibn Rušd es auch nicht ausdrücklich sagt. (8) In diesem Rahmen hat al-Fārābī Philoponos’ Argument bezüglich der Ortsbewegung der Elemente (Fall I.ii) in der Weise zurückgewiesen, dass er gezeigt hat, dass Philoponos nicht zwischen natürlicher und gewaltsamer Potenz unterscheidet. Philoponos nimmt an, dass die Potenz zur Bewegung hier mit dem Bewegten selbst verbunden ist, und dass sie in ihm nur dadurch besteht, dass es von etwas anderem gewaltsam an der Bewegung gehindert wird. Er hat übersehen, dass eine natürliche Potenz in dem vorhergeht, woraus das Bewegte entsteht. Dies ist primär eine Potenz, diese Art von Seiendes zu werden, vermittelt darüber aber auch eine Potenz zu der diesem Seienden eigentümlichen Bewegung. Die von al-Fārābī vorgeschlagene Lösung für diesen Teil des Angriffs des Philoponos besteht mithin darin, an der aristotelischen Erklärung der Elementarbewegung den notwendigen Übergang von der ersten zur zweiten Potenz durch die Erzeugung des Elements hervorzuheben. Den oben von Ibn Bāǧǧa referierten Einwand des Philoponos, dass dasjenige, woraus das Element erzeugt wird, aber eine ganz andere Bewegungspotenz besitzt, hat al-Fārābī offenbar damit erwidert, dass die Potenz zum entsprechenden Wo »vermittelt« (bi-tawassuṭ) in ihm ist. Er hat – diese von Ibn Rušd gebrauchte Wendung wird von Ibn Bāǧǧa eindeutig auf al-Fārābī zurückgeführt – erklärt, dass unter den wesentlichen Attributen eine Rangfolge besteht (ʿalā tartīb), so dass etwa mit der Potenz des Holzes Feuer zu werden mittelbar auch die Potenz oben zu sein verbunden ist, weil das Oben eine wesentliche Eigenschaft des Feuers bildet. Ibn Bāǧǧa hat das in seiner bereits betrachteten Interpretation von Physik VIII. 4 so wiedergegeben,
in quo est potentia ad motum sit motum in actu, scilicet quod motum in potentia est idem numero cum moto in actu. Primus autem modus invenitur in duobus, scilicet [I.i] in motu generationis et corruptionis et [I.ii] in motibus translationis que est corporum simplicium.« Ibn Rušd, Ǧawāmiʿ kitāb al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Puig, 131, 10–132, 17 (erste Version): »Wenn dies so ist, dann geht notwendig die Potenz der Bewegung der Bewegung zeitlich voraus, und die Potenz jedes einzelnen von ihnen geht diesem Teil vorher. Diese Priorität, von der folgt, dass die Potenz der Bewegung sie gegenüber der Bewegung besitzt, die existiert auf zwei Weisen: [II] Entweder so, dass jene Potenz im Bewegten vor seiner Bewegung existiert, wenn jene Bewegung nicht in der Definition des Subjekts der Bewegung auftaucht und seinem Wesen [? ǧauhar] nicht notwendig folgt, zum Beispiel bewegt sich das Lebewesen nach dem Schlaf; und allgemein ist dies die Bewegung, die nach Ruhe entsteht. [I] Oder jene Potenz existiert vorher in dem Körper, aus dem dieses Bewegte entsteht, wenn sie seinem Wesen folgt [lies: tābiʿa] wie etwa [I.ii] das Holz, wenn es zu Feuer wird, sich nach oben bewegt, denn diese Potenz, die einer solchen Bewegung vorhergeht, die ist notwendig im Holz etwa und in anderem, aus dem Feuer entstehen kann. Allgemein, entsprechend der Potenz zur Existenz des Feuers, gibt es dort die Potenz zu dessen Bewegung, wenn das auch gemäß einer Reihenfolge [ʿalā tartīb] in ihnen ist, ich meine, dass die Potenz der Bewegung nur vermittels der Potenz ihres Feuerseins in ihnen existiert.«
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dass »die Potenz des ›oben‹ im Schweren ist, jedoch verbunden mit der Potenz des Subjekts des Ortes ›oben‹, welches das Feuer und die Luft ist.«133 Im gleichen Sinne hat er auch gesagt, dass mit der fernen Potenz mehrere Privationen verbunden sein können. Indessen ist diese Rede von den Privationen offenbar Ibn Bāǧǧas eigene Zutat, es findet sich davon kein Nachklang bei Ibn Rušd. Ibn Bāǧǧa verfolgt also mit dieser Ersetzung der zweipoligen Potenz-Akt-Struktur durch die dreipolige Struktur Potenz-Akt-Privation eigene Absichten, die noch zu erhellen bleiben.
Ibn Bāǧǧas eigene Frage Dies macht noch einmal deutlich, wie wichtig es ist, Ibn Bāǧǧas eigene Argumentationsziele und Interessen herauszupräparieren. Soeben ist nämlich deutlich geworden, dass die von ihm vorgestellte Lösung, die wir oben untersucht haben, substantiell mit al-Fārābīs Lösung übereinstimmt und lediglich eine Reformulierung davon darstellt. Dies macht auch Ibn Bāǧǧa selber deutlich, wenn er in seinen zahlreichen Texten zum Thema immer wieder betont, al-Fārābī habe die Frage »ausreichend« (mā fīhi kifāya u.ä.) behandelt und man möge sie von dort übernehmen. Hier eine Sammlung von Stellen, an denen Ibn Bāǧǧa sich in diesem Sinne äußert: [T 19, aus der oben analysierten »ersten« Version des Kommentars zu Physik VIII] »Es ist bereits in Die veränderlichen Seienden dargelegt worden, wie sich das verhält [d. i. wie die ›rein natürliche Bewegung‹ erfolgt]. Derjenige, der eine detaillierte Darlegung dessen wünscht, möge sie aus dieser Darlegung entnehmen. Das ausreichende Maß für das, was wir dabei sind zu tun, ist das, was wir gesetzt haben.«134 [T 20, weitere Version des Kommentars zu Physik VIII] »Die Potenz, von der Yaḥyā al-Naḥwī gemeint hat, dass sie der Bewegung der Zeit nach nicht vorausgeht, sondern zugleich mit der Existenz des Subjekts existiert, das ist die gewaltsame Potenz [al-quwwa bi-l-qasr]. Abū Naṣr [al-Fārābī] hat ihn in der Schrift Die veränderlichen Seienden bereits in ausreichender Weise kritisiert.«135 [T 21, Über die Intentionen des siebten und achten (Buchs der Physik)] »Was nun Yaḥyā al-Naḥwī in der Kritik an Aristoteles gesagt hat, das ist, nach dem was 133Vgl. Anm. 99. 134Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 172, 11–13. 135Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 194, 21–195, 3; nach MS B, f. 43r [arab.], ist in Zeile 194, 21 bin ʿAdī zu streichen.
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Abū Naṣr [al-Fārābī] sagt, ein ungeheuerlicher Fehler oder eine schändliche Irreführung. Abū Naṣr hat in seiner Kritik bereits genug darüber gesagt. Wir wollen darüber auf dem Wege der Beschreibung [rasm] sprechen, denn in seiner Kritik gibt es Dinge, die wir in dem, was wir beabsichtigen, verwenden werden.«136 [T 22, Über die Strebensseele] »Abū Naṣr [al-Fārābī] hat in seinem Buch über Die veränderlichen Seienden bereits erklärt, wie dasjenige, was durch die natürliche Potenz unten ist, unten in Akt wird und wie es durch die Bewegung seines Bewegers bewegt wird. Man möge also die Kenntnis dessen von dort nehmen.«137 Man muss auf Grund dieser Aussagen den Eindruck haben, Ibn Bāǧǧa würde sich, was die Erklärung der Elementarbewegung angeht, auf mehr oder weniger ausführliche Resümees oder Adaptationen der Argumentation al-Fārābīs in Die veränderlichen Seienden beschränken. Jedoch haben wir gesehen, dass Ibn Bāǧǧa in der bereits untersuchten Version seines Kommentars, aus der T 19 stammt, trotz der Benutzung al-Fārābīs mit offenen Fragen endet. Der letzte Ausschnitt, T 22, kommt gar aus einem Text, der gerade nicht in den unmittelbaren Kontext der Kommentierung der Physik sondern in die Psychologie gehört, und in dem Ibn Bāǧǧa dennoch und wohl am ausführlichsten die Elementarbewegung untersucht. Wozu die ausführliche Behandlung in diesem Zusammenhang, wenn al-Fārābī schon alles Nötige gesagt hat? T 21, ein Ausschnitt aus der einzigen Version des Physikkommentars, die genauer und explizit auf Philoponos und al-Fārābī eingeht, macht vollends deutlich, dass Ibn Bāǧǧa zwar die Erklärung al-Fārābīs übernimmt, dass seine Zielsetzung sich jedoch nicht vollständig mit derjenigen al-Fārābīs deckt, er benutzt vielmehr al-Fārābīs Kritik, um anhand ihrer ein eigenes Ziel zu verfolgen (fīmā naqṣiduhū). Die Rede in Text T 19 über das, »was wir dabei sind zu tun« (fīmā naḥnu bi-sabīlihī), spricht eine ähnliche Sprache, wenn dort die endgültige Klärung auch vertagt wird und mit der Erklärung der Bewegung der Lebewesen und den verschiedenen Typen unbewegter Beweger verknüpft wird – einem Punkt den diese Version allerdings niemals erreicht, weil sie zuvor abbricht. Wie also verfahren, wenn Ibn Bāǧǧa nicht kenntlich macht, wo die Übernahme der Erklärung al-Fārābīs endet und seine eigene Untersuchung beginnt? Ich werde versuchen zu zeigen, dass sich auch ohne eindeutige Äußerungen in diesem Sinne zumindest in zwei Texten Ibn Bāǧǧas originäre Fragestellung zum Vorschein bringen lässt. Damit dies aber umso deutlicher hervortritt, ist 136Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 180, 3–6; nach MS B, f. 61v [arab.], ist in Zeile 180, 6 munāqaḍatihī statt al-rasm zu lesen. 137Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 110, 10f.
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zuallererst die soeben erstellte Teilrekonstruktion von Die veränderlichen Seienden einzusetzen. Anhand ihrer lassen sich einige Beobachtungen zu al-Fārābīs Vorgehen und Zielsetzung machen, die mit dem Befund in Ibn Bāǧǧas Texten konfrontiert werden können. Auffällig ist zunächst, dass das Thema der Elementarbewegung, das einzige wofür Ibn Bāǧǧa al-Fārābīs Abhandlung wiederholt zitiert, tatsächlich nur einen Teil von einer umfassenderen Argumentation darstellt. Wie unter (1) erwähnt, lässt sich al-Fārābīs Einfluss jedoch nicht nur dort ausmachen, wo Ibn Bāǧǧa ihn ausdrücklich nennt, sondern auch an anderen Stellen in der Interpretation von Buch VIII der Physik. Wenn er lapidar bemerkt, Aristoteles meine mit »Bewegung« am Anfang von Buch VIII »die Gattung«, dann kann er offenbar nur deshalb weitere Erläuterungen unterlassen, weil er sich auf al-Fārābīs Abhandlung stützt und deren Lösung übernimmt. Ähnlich verhält es sich auch mit den Punkten (3) und (4), also der Funktion der Bewegungsdefinition für die aristotelische Argumentation; Ibn Bāǧǧa trägt sie in eigenem Namen vor: [T 23] »Folglich ist jede Bewegung notwendigerweise nach einer Bewegung. Das wird aus dem klar, was ich sagen werde, und zwar, dass es zu dem gehört, worüber kein Zweifel besteht, dass allem, was sich bewegt, möglich ist, sich zu bewegen [mumkin an yataḥarrika], und dass das, dem es nicht möglich ist, sich zu bewegen, niemals bewegt sein wird. Daraus folgt, dass es den Dinge, die sich bewegen, vor der Bewegung möglich ist, sich zu bewegen. Außerdem, wenn wir die Bewegung definieren als ›Vollendung dessen, was disponiert ist, etwas zu sein, insofern es dazu disponiert ist, dies zu sein‹ und als ›Vollendung dessen, was in Potenz etwas ist, insofern es in Potenz dieses ist‹, dann folgt daraus notwendig, dass eine Sache etwas in Potenz ist, bevor sie sich bewegt. Die Potenz geht also notwendig der Bewegung der Zeit nach voraus. Wenn nämlich das Bewegte vor der Bewegung existiert, dann folgt notwendig, dass es ihm möglich ist, sich zu bewegen, und zwar dann, wenn es in Potenz das ist, wozu es sich bewegt.«138
138Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 194, 13–20; die beiden hier zitierten Bewegungsdefinitionen entsprechen den aristotelischen in Physik, VIII. 1, 251a9f und III. 1, 201a10f, die sprachlichen Entsprechungen mit Isḥāqs Übersetzung (Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, Bd. 2, 804; Bd. 1, 171) sind deutlich, aber nicht vollständig. Vgl. auch Ibn Bāǧǧas ähnliche Ausführungen in Ziyāda 179, 7–13: »Die Bewegung ist nun ›die Vollendung dessen, was in Potenz ist, insofern es in Potenz ein solches ist‹. Es wurde bereits in der Darlegung über die Definition der Bewegung gesagt, wie sich das verhält. Das Bewegte ist dasjenige, dem diese Vollendung zukommt, und das Bewegtwerden [taḥarruk] ist diese Vollendung selbst. Da nun die Bewegung Vollendung einer Potenz ist, so geht ihr das, was in Potenz ist, voraus. Dies wird auch aus dem klar, was ich sagen werde, nämlich dass es unter den Dingen solche gibt, die sich bewegen, und solche, die sich nicht bewegen, etwa weil sie sich überhaupt nicht bewegen können, wie man das über den Punkt sagt, und
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Hat man dank des Vergleichs mit Ibn Rušds Berichten in dieser Weise einige stillschweigende Übernahmen aufgedeckt, dann scheint das Problem, nicht zwischen Ibn Bāǧǧas eigenständigen Überlegungen und von al-Fārābī adoptierten Lösungen unterscheiden zu können, sich eher zu verschärfen. Indessen muss man aber fragen, warum Ibn Bāǧǧa ausgerechnet in Bezug auf die Erklärung der Elementarbewegung vom Verfahren der stillschweigenden Übernahme abweicht, und zwar, wie die Texte T 19–22 gezeigt haben, unfehlbar jedes Mal, wenn das Thema zur Verhandlung kommt? Bei Ibn Rušd hatte sich gezeigt, dass er erst beginnt, al-Fārābī als seine Quelle zu nennen, nachdem er seine Auffassung geändert hat und sich von ihm abgrenzen will. Ibn Bāǧǧa macht zwar im Gegenteil deutlich, dass er die Erklärung al-Fārābīs übernimmt, doch bestünde zu solchen Verlautbarungen gar kein Anlass, wenn Ibn Bāǧǧa nicht das, »was wir dabei sind zu tun«, in irgendeiner Weise von al-Fārābīs Argumentation unterscheiden wollte. al-Fārābīs Interpretation aristotelischer Positionen, die er kennt und der er immer wieder folgt, wird für Ibn Bāǧǧa explizit nur an einer Stelle zum Anknüpfungspunkt. Diese Stelle betrifft die Unterscheidung verschiedener Potenzen. Wir haben bereits gesehen, dass Ibn Bāǧǧa in der ersten Version seines Kommentars zu Buch VIII sein Vorgehen ausdrücklich von demjenigen des Aristoteles insofern unterscheidet, als er weniger Subjekte, die in Potenz sind, betrachtet und vielmehr die Potenzen selbst. Kommt diese Konzentration auf die an der Elementarbewegung beteiligten Potenzen aus al-Fārābīs Abhandlung? In gewisser Weise auf jeden Fall: Ibn Bāǧǧas Bemerkungen (vgl. etwa T 20) zeigen ebenso wie Ibn Rušds Zeugnisse, dass al-Fārābīs genaue Benennung der verschiedenen Potenzen sein Hauptinstrument zur Bekämpfung dieses Kritikpunktes des Philoponos gewesen ist. Wie weit reicht jedoch sein Interesse am Konzept der Potenz, steht es oder nicht vielmehr die Bewegung im Mittelpunkt der Argumentation? Die Informationen, die wir über die Abhandlung gewonnen haben, geben hierzu uneinheitliche Hinweise. Ibn Rušd sagt teils (3), nach al-Fārābī habe Aristoteles die Definition der Bewegung dazu gedient zu zeigen, dass jeder Bewegung eine Bewegung vorhergeht, teils (4) sagt er, es sei darum gegangen, die zeitliche Priorität der Potenz vor dem Akt zu zeigen. Man gewinnt aber doch den Eindruck, gerade wenn man Ibn Bāǧǧas Ausführungen (T 23) hinzunimmt, dass das Letztere Mittel zum Nachweis des Ersteren war. Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen über die von al-Fārābī vorgenommenen Unterscheidungen und Einteilungen, diese konzentrieren sich bald auf die Bewegung (5–6), bald auf die Potenz (7). Berücksiches ist klar, dass sich das nicht bewegt, dem es nicht möglich ist, sich zu bewegen [yumkin an yataḥarrika]. Die Möglichkeit [imkān] und die Potenz [quwwa] sind hier gleichsam Synonyme [ka-l-mutarādifīn].« Puigs Behauptung, Zur Bewegungsdefinition im VIII. Buch der Physik, 155, Anm. 36, Ibn Bāǧǧa verwende in diesem Text imkān und quwwa unterschiedlich, ist also eindeutig falsch.
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tigt man jedoch die Argumentationsstrategie der gesamten Abhandlung, dann erscheint die Unterscheidung verschiedener Potenzen eindeutig im Dienst der Thesen über die Bewegung gestanden zu haben. Auf der anderen Seite geht aus Ibn Bāǧǧas Referat von Absicht und Argumentation des Philoponos (T 18) eindeutig hervor, dass dieser seine Kritik auf das aristotelische Konzept der Potenz richtet: Er will letztlich die aristotelische Potentialität, die notwendig an einem vor dem betreffenden Akt bereits existierenden Subjekt vorliegt, durch eine Potenz-Kraft ersetzen, die dem geschaffenen Subjekt bei seiner Entstehung verliehen wird; und dies soll sowohl für die natürlichen Seienden wie für den Himmel und damit die Welt als Ganzes gelten. Man hat in Bezug auf Philoponos’ bereits die zentrale Rolle seiner impetus-Theorie betont. Er versucht, eine einheitliche Dynamik auf der Grundlage »eingeprägter Kräfte« (impressed force) aufzubauen, wofür die theologischen Erwägungen, die Gott als Urheber des Seins und eben auch der jedem Seienden eigentümlichen »Kräfte« sehen, eine notwendige Grundlage bilden.139 Diese Absicht und dieser Potenzbegriff sind in Gegen Aristoteles zumindest implizit schon anwesend. Das wird auch durch die These deutlich, die al-Fārābī in Die veränderlichen Seienden zumindest gestreift hat und welche die »Potenz« zur Weltschöpfung Gott zuschreibt.140 Gegen dieses Modell müssen die von al-Fārābī bezeugten Untersuchungen, welche Potenz (zur Bewegung) vor der Bewegung jeweils besteht und in welchem Subjekt sie vorliegt (7–8), als Bekräftigung des aristotelischen Verständnisses der Potenz als bloße Potentialität gelesen werden. Wir haben in Kapitel 6 bereits gesehen, dass Ibn Bāǧǧa seinen Potenzbegriff genau in diesem Sinne von der ontologischen Konzeption der Potentialität aus entwickelt. alFārābīs Ausführungen zu diesem Punkt müssen ihn also besonders interessiert haben. Dies schließt aber in keiner Weise aus, dass al-Fārābīs Argumentation in der Gesamtanlage eher auf eine Bekräftigung der aristotelischen These von der Ewigkeit der Bewegung als auf den Potenzbegriff ausgerichtet war. Einen weiteren Hinweis in diese Richtung gibt auch der Titel der Abhandlung, Die veränderlichen Seienden, al-Mauǧūdāt al-mutaġayyira, wo mutaġayyira ein auf taġayyur (d. i. μεταβολή) bezogenes Adjektiv ist. Im Zentrum stehen hier also die Prozesse der Veränderung, und zwar insofern sie stets von vorhergehenden Veränderungen abhängig sind. Die »veränderlichen Seienden« sind solche Seienden, die in letzter Instanz von der ewigen Himmelsbewegung abhängig sind. Man kann Rückschlüsse auf al-Fārābīs Perspektive in dieser Abhandlung erhalten, wenn man sich ansieht, wie er die »veränderlichen Seienden« und die Elementarbewegung in anderen Schriften behandelt. Ein gutes Beispiel ist al-Fārābīs Politisches Regime, ein Traktat, der auch den Titel Die Prinzipien der Seienden trägt und ausgehend von den höchsten Prinzi139Sorabji, John Philoponus, besonders 9f. 140Siehe oben, S. 273.
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pien den Aufbau der Welt beschreibt. Dieser Text nimmt folglich die umgekehrte Perspektive ein als diejenige, welche Die veränderlichen Seienden durch Philoponos’ Schluss von der Natur auf den Kosmos einzunehmen wohl gezwungen waren. Die Dinge der Natur werden hier durchgehend als mauǧūdāt mumkina also als »mögliche Seiende« beschrieben.141 Diese Seienden nehmen ihren Ausgang von der ersten Materie, welche in Potenz alle sublunaren Substanzen ist und »sich dazu bewegt, dass die Substanzen in Akt zustandekommen«; jedoch »ist es ihnen nicht möglich, dass sie sich von selbst [min tilqāʾi anfusihā] zu ihren Vollendungen aufmachen und hinstreben, sondern [nur] durch einen äußeren Beweger«.142 Diese Beweger sind die Himmelskörper (und der aktive Intellekt), die durch ihre Kreisbewegung um die Erde verschiedene Wirkungen entfalten: Durch die »Potenz des ersten Himmels« (quwwat al-samāʾ al-ūlā), die allen gemeinsam ist, führen sie die Bewegung des ersten Himmels aus und erzeugen dabei die erste Materie selbst. Auf Grund weiterer »Potenzen«, durch die sie sich unterscheiden, rufen sie viele verschiedene, einander entgegengesetzte Formen in der Materie hervor.143 ›Möglich‹ sind diese Seienden auf Grund der Materie, die sich gleichgültig gegenüber allen entgegengesetzten Formen verhält und, da sie sie nicht gleichzeitig aufnehmen kann, dies nacheinander tut.144 Die kosmische Gerechtigkeit (al-ʿadl) gebietet, dass alle Seienden in dieser Weise verwirklicht werden.145 Die möglichen Seienden sind nun, »weil ihnen nur die erste Materie gegeben wurde«, nicht in der Lage, ihre Existenz selbst zu erreichen, zu bewahren oder zu verlieren, sondern sie brauchen dazu wiederum die Himmelskörper als äußere Beweger, die aber nicht immer direkt wirken, sondern vielfach dadurch, dass sie den Seienden Potenzen geben, sich oder anderes zu bewegen.146 al-Fārābī zählt eine Vielzahl solcher Potenzen auf, zu denen auch die gehört, anderem die gleiche Form zu geben, die sie selbst haben.147 Da die möglichen Seienden diese Potenzen »von je her« (min awwal al-amr) haben, können diese dann gar mit den Einwirkungen der Himmelskörper konkurrieren.148 An allen »möglichen Körpern« (aǧsām mumkina) muss man zwischen erster und letzter Vollendung (kamāl awwal/aḫīr) unterscheiden; die letzte Vollendung ist ein Seinszustand, in dem »auf Grund von ihnen das besteht, was auf Grund von ihnen zu bestehen bestimmt ist, ohne Hindernis von ihnen selbst«, während die erste Vollendung ein Seinszustand ist, in dem »nicht […] auf Grund von 141al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 56, 13 et passim. 142al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 54, 12–18. 143al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 54, 18–56, 4; 62, 11f. 144al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 56, 5–57, 18. 145al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 59, 13–16, 2; 63, 13–15; vgl. zu dieser Konzeption al-Fārābī, Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila, ed. Walzer, 379f. 146al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 60, 3–16; 62, 11–16. 147al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 60, 17–61, 17. 148al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 64, 11–14.
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ihnen das besteht, was auf Grund von ihnen zu bestehen bestimmt ist, ohne dass sie eine Einwirkung erleiden hin auf eine bessere Existenz als diejenige, die ihnen jetzt zukommt«. Wenn etwas sich in letzter Vollendung befindet und so beschaffen ist, dass von ihm eine Tätigkeit ( fiʿl) ausgeht, dann tritt diese Tätigkeit »sofort« (min sāʿatihī bi-lā zamān) ein, es sei denn es gibt ein äußeres Hindernis, etwa wie wenn die Sonne durch eine Mauer gehindert wird, etwas zu erleuchten.149 Die Besonderheit der möglichen Körper im Unterschied zu den Himmelskörpern ist es, dass sie zuweilen in letzter, zuweilen aber nur in erster Vollendung sind, und zwar aus zwei Gründen: »Denn vom Schreiber geht keine Tätigkeit aus, entweder weil er schläft oder mit etwas anderem beschäftigt ist oder weil die Teile des Schreibens ihm in diesem Augenblick nicht in den Sinn kommen, oder aber weil, während dies alles im vollendeten Zustand ist, er eine Behinderung von außen hat.« Obgleich nun diese Seienden eigentlich ebenso wie die Himmelskörper bestimmt sind, sich in letzter Vollendung zu befinden, kann der Zustand der ersten Vollendung ihnen auch natürlich sein: »Etwas befindet sich der Natur nach, nicht durch Gewalt in erster Vollendung dazu, dass auf Grund ihrer die letzte Vollendung zustande kommt, entweder weil sie ein Weg (ṭarīq) zu ihr ist, oder weil sie [der Sache] hilft.« Ein Beispiel für letzteres ist etwa der Schlaf, welcher dem von der Tätigkeit erschöpften (al-kalāl ʿan alfiʿl) Lebewesen »die Potenz zur Tätigkeit« (al-quwwa ʿalā l-fiʿl) zurückgibt.150 Ein weiteres Zeichen der Mangelhaftigkeit dieser Seienden besteht schließlich darin, dass sie nicht vollendet sind, ohne dass ihnen weitere Seinszustände zukommen, die nicht in ihrer »Substanz« (ǧauhar) liegen, sondern den übrigen Kategorien angehören, etwa Größe, Gestalt und Ort (auḍāʿ).151 Dieser Ausschnitt aus den Prinzipien der Seienden, der einen Einblick in die für die unbelebten Körper relevanten Aussagen dieses Textes gibt, ist in verschiedenen Hinsichten bemerkenswert. Zwar handelt es sich augenscheinlich um einen »populären« Text, der nicht aus der Perspektive philosophischen Begründens sondern derjenigen ontologischer Begründung verfasst ist. Dennoch bemüht sich dieser Text wie auch al-Fārābīs Musterstaat ja gerade darum, ein vollständiges philosophisches Weltbild zu vermitteln, das die Ordnung des gesamten Kosmos von Gott bis zum menschlichen Staatswesen aus ersten Prinzipien schlüssig ableitet. Drei für unsere Frage wichtige Beobachtungen sind festzuhalten: Erstens, die »möglichen Seienden« werden wesentlich als abhängige Seiende bestimmt. Grund dieser Abhängigkeit ist auf der einen Seite ihre Materie, auf der anderen Seite der Einfluss der Bewegungen der Himmelskörper. Zweitens, eine bedingte Selbständigkeit erhalten diese Seienden durch – ihnen allerdings von den Himmelskörpern verliehene – »Potenzen«. Der offensicht149al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 65, 1–11. 150al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 65, 15–66, 8. 151al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 66, 9–12.
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lich zentrale Potenzbegriff changiert zwischen der Potentialität der Materie und dem zumeist aktiven Sinne bei den diversen Potenzen der Körper. An manchen Stellen lässt al-Fārābīs Verwendung des Begriffes beinahe an Philoponos’ »eingeprägte Kraft« denken. Drittens, bei der Erklärung der Tätigkeiten der möglichen Seienden wird der Begriff der Potenz dagegen gerade nicht eingesetzt, hier arbeitet al-Fārābī lieber mit dem Instrumentarium von erster und letzter Entelechie. Kommen wir schließlich zum für uns zentralen Punkt der Elementarbewegung. Hier springt sofort ins Auge, dass al-Fārābī, obgleich er sorgsam alle uns bekannten theoretischen Voraussetzungen ausbreitet, auf die Elementarbewegung selbst explizit gar nicht eingeht. Er hat an einem Aristoteles’ Geometergleichnis verwandten Beispiel den Unterschied erster und letzter Vollendung erläutert und auch hervorgehoben, dass das Vollendete, wo es nicht gehindert wird, sofort zur Tätigkeit übergeht. Er hat zwischen Natur und Zwang als Ursachen für den Zustand der ersten Vollendung unterschieden, und selbst von dem Übergang zwischen ihnen als »Weg« gesprochen. Und er hat schließlich den Ort als Aspekt der Vollendung der möglichen Seienden erwähnt. Dass die Erklärung der Elementarbewegung dann ausbleibt, ist umso erstaunlicher als alFārābī in Betrachtungen, die wir der Übersichtlichkeit halber hier übersprungen haben, ausdrücklich die Konstitution aller möglichen Seienden durch stufenweisen Aufbau aus den Elementen betont.152 Zudem böte sich hier einmal mehr die Gelegenheit, die Abhängigkeit der möglichen Seienden von einander und damit letztlich von den Himmelskörpern zu betonen. Dass dieser Schritt ausbleibt, zeigt recht deutlich, dass der Aspekt der Bewegung für al-Fārābīs Charakterisierung der »möglichen« Seienden, die dies gerade sind, weil sie »veränderlich« sind, keine zentrale Rolle spielt. Außerdem zeigt er kein Interesse an einer Systematisierung des Potenzbegriffs zu diesem Zwecke. Dieses Ergebnis könnte auf Grund des genannten »populären« Charakters der herangezogenen Schrift bezweifelt werden, es wird jedoch aufs beste bestätigt von einem Text, der eine eindeutig aristotelische und naturphilosophische Perspektive einnimmt, al-Fārābīs Philosophie des Aristoteles. Hier wird recht umfangreich der Inhalt der Physik paraphrasiert. Die Passage, die sich auf das achte Buch bezieht, beginnt folgendermaßen: [Z 6] »Dann hat er unter anderem untersucht, was der zeitlich aufeinanderfolgenden Bewegung auf Grund des Wesens [māhīya] der Bewegung an Unendlichkeit zukommt. Dann hat er viele Grundsätze bezüglich der Körper angegeben, die aus ihrer Bewegung und den sie bewegenden Prinzipien folgen. Es folgt, dass die bewegten Körper, die hier bei uns sind, von anderen Körpern bewegt werden, die ihnen benachbart sind und sie berühren, und jene 152Vgl. al-Fārābī, Kitāb al-siyāsa al-madanīya, ed. Naǧǧār, 58, 1–14; 62, 11–63, 8.
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auch von anderen, die ihnen benachbart sind und sie berühren, und jene auch von anderen, die ihnen benachbart sind und sie berühren. Sie sind in ihren Stellungen, wenn sie einander bewegen, neben einander oder berühren sich und folgen einander. Aber dies geht zahlenmäßig nicht ins Unendliche. Und nachdem er im Vorangegangenen angegeben hat, auf wie viele Weisen der natürliche Körper durch seine Natur einen anderen Körper bewegt, [hat er angegeben], dass der letzte Körper, der das bewegt, was ihm folgt an Bewegtem, sich auch bewegt, aber nur mit einer Ortsbewegung und keiner anderen; und seine Ortsbewegung ist nicht gerade, sondern er bewegt sich mit einer Kreisbewegung […].«153 Diese Ausführungen zu Physik VIII, die, verglichen mit anderen Teilen des Werkes, überhaupt sehr knapp ausfallen, sind ganz auf einen Nachweis der Beschaffenheit der Himmelsbewegung konzentriert. Ihre Ursächlichkeit für alle Bewegungen »hier bei uns« wird betont. Der erste Satz trägt die uns von Ibn Rušds Bericht über Die veränderlichen Seienden bekannte These vor, dass die Ewigkeit der Bewegung aus dem Wesen der Bewegung selbst – und damit aus ihrer Definition – folgt. Weiter erfahren wir nichts zur Bewegung der natürlichen Körper, und trotz oder vielmehr gerade wegen dieser Fokussierung der Argumentation wird deutlich, dass al-Fārābī kaum an der eigentümlichen Bewegung der Elemente und den dieser zugrunde liegenden Potenzen interessiert ist, sondern hauptsächlich an den kosmologischen Zusammenhängen. Als letzter Beleg für al-Fārābīs Umgang mit diesem Thema, mag ein kurzes Zitat aus dem Musterstaat dienen, wiederum, wie zuvor in den Prinzipien der Seienden, aus dem Abschnitt, in welchem die Welt unterhalb des Himmels beschrieben wird: [Z 7] »In den Elementen und jedem einzelnen von den übrigen [ähnlichen Körpern] entstehen Potenzen, durch die sie sich von selbst [min tilqāʾi anfusihā] zu den Dingen bewegen, deren Existenz für sie oder durch sie vorgesehen ist, ohne einen Beweger von außen; und Potenzen, durch die sie aufeinander wirken; und Potenzen, durch die sie voneinander Einwirkung aufnehmen.«154 In diesem am Ende seines Lebens und seiner philosophischen Laufbahn entstandenen Text,155 der, wie sich fast zu sagen erübrigt, keine Darlegung der Elementarbewegung enthält, geht al-Fārābī in dieser Frage so sorglos vor, dass er 153al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 96, 6–18; die der Physik gewidmete Passage umfasst 90, 6–97, 15. In Mahdis Übersetzung, Alfarabi’s Philosophy of Plato and Aristotle, 102 steht irrtümlich »and this succession is infinite in number«. 154al-Fārābī, Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila, ed. Walzer, 136, 12–138, 1. 155Vgl. Walzers Einleitung, in: Al-Farabi on the Perfect State, 1.
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den Elementen eine Potenz zur Selbstbewegung zuschreibt. Wie diese Potenz der Elemente wirken soll, ist nirgends erklärt, und der mögliche Widerspruch zur Abhängigkeit der irdischen von den himmlischen Bewegungen wird nicht thematisiert. Diese Einblicke in al-Fārābīs philosophische Auseinandersetzung mit den Themen von Physik VIII machen die Grenzen seiner Analyse der Elementarbewegung deutlich. Sie machen es überdies wahrscheinlich, dass sich Die veränderlichen Seienden, der Text, auf den Ibn Bāǧǧa sich stützt, eine auf die Bekräftigung des aristotelischen Standpunktes gerichtete Darlegung enthielt, die, anders als es Ibn Rušds wiederholte Vorwürfe suggerieren, vermutlich nicht die Absicht hatten, Aristoteles’ angeblich ungenügende Ausführungen zu ergänzen, sondern eher sie durch Zusammenstellung von aristotelischen Lehrstücken zu erläutern. Die Ausführungen zur Priorität der Potenz in verschiedenen Veränderungsprozessen (Punkt 8) sind wohl in diesem Rahmen zu sehen, werden dadurch aber für Ibn Bāǧǧa nicht weniger Interesse besessen haben. Ein offenbarer Unterschied zwischen Ibn Bāǧǧa und al-Fārābī hat sich indes bereits gezeigt, die Auszüge aus den Prinzipien der Seienden haben das nochmals deutlich gemacht. Denn während al-Fārābīs Erklärung sich offenbar mit der Beobachtung des Aristoteles begnügt, dass das Vollendete sofort zur Tätigkeit übergeht, wenn es nicht behindert wird, war bei Ibn Bāǧǧa zu sehen, dass er hier eine Stelle offen lässt. In seinen Beispielen wurde deutlich, dass für den Übergang zum Akt nochmals Bedingungen zu erfüllen sind, und seine »erste« Auseinandersetzung mit dem Thema endete mit der offenen Frage: »wie entsteht diese Bewegung?« (kaifa kānat hāḏihī l-ḥaraka).156 Die von al-Fārābī im Musterstaat evozierte aber nicht behandelte Potenz, durch die sich das Element bewegt, sie ist es, die Ibn Bāǧǧa beschäftigt.
2.3. Ibn Bāǧǧa und die Natur der Elemente als ihr Bewegungsprinzip Die Lösung im Entwurf Nachdem wir in den beiden vorangegangenen Abschnitten zunächst Ibn Bāǧǧas mit offenen Fragen endende Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Text beleuchtet und anschließend seine besondere Fragestellung aus der Auseinandersetzung mit der Kommentartradition herauspräpariert haben, können wir uns seiner definitiven Erklärung der Elementarbewegung nun in systematischerer Weise widmen. Dabei kann jedoch wiederum ein Text als Leitfaden dienen, nämlich die bereits mehrfach erwähnte Abhandlung über die Strebensseele, in der Ibn Bāǧǧa also weitgehend losgelöst von der aristotelischen Vorlage und 156Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 173, 2.
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anderen Vorgängertexten die ihm wichtig erscheinenden Momente zur Erklärung natürlicher Ortsbewegungen zusammenträgt. Wir werden diesem Text in groben Zügen folgen, dabei die Darlegung aber durch relevante Aussagen insbesondere aus den Kommentaren zur Physik, aber auch aus dem Buch der Seele ergänzen.157 Bereits nach wenigen einleitenden Bemerkungen zum Strebevermögen beginnt Ibn Bāǧǧa die uns hier interessierenden Ausführungen mit einem ausdrücklichen Rückgriff auf das achte Buch der Physik, dessen Lehre zur Elementarbewegung er in der uns bereits bekannten Weise resümiert: Im Unterschied zu den Lebewesen wird ein Stein nicht durch einen in seinem Wesen befindlichen Beweger bewegt, sondern von außen und durch Zwang. Seinem Wesen nach ist der Stein nämlich unten und bewegt sich dann überhaupt nicht. Seine Bewegung nach unten entsteht nur, wenn er zunächst nach oben gezwungen und dieser Zwang dann aufgehoben wird, mit anderen Worten nur dann, wenn er lediglich in Potenz unten ist. Diese Potenz kann auf zwei Weisen bestehen, entweder natürlich, nämlich insofern der betreffende Gegenstand aktuell gar nicht irden (und schwer) ist und nur »auf Grund der gemeinsamen ersten Materie« die Potenz dazu besitzt. Zum anderen auf zwanghafte Weise, nämlich, wie gesagt, wenn das bereits aktuell als Stein Existierende oben festgehalten wird.158 Hier bricht nun Ibn Bāǧǧa seine Darstellung ab und empfiehlt, man möge die Erklärung, wie das der natürlichen Potenz nach unten Befindliche in Akt nach unten gelange, aus al-Fārābīs Die veränderlichen Seienden entnehmen (vgl. T 22). Dennoch fügt er einige weitere Bemerkungen hinzu, verkündet aber bald erneut: »Dies möge das Prinzip sein für das, was wir sagen wollen, und zwar sagen wir […]«159 Der folgende Absatz wirft dann eine neue Frage auf: [T 24] »Im achten [Buch der Physik] ist bereits erklärt worden, dass dasjenige, was das Zwingende beseitigt, in gewisser Weise ein Beweger ist, denn der Stein wird nur durch das Hindernisaufhebende und die Schwere bewegt und beide sind Beweger, jedoch Prinzip der Bewegung ist, wie dort erklärt wurde, nur das Hindernisaufhebende, und dann kommt dem Stein zu, was ihm zukommen muss. Die Schwere nämlich ist ihrer Natur nach kein Beweger, denn wenn sie ihrer Natur nach ein Beweger wäre, dann hätte sie etwas der Natur nach Bewegtes, während das von ihr Bewegte nur mit Gewalt [bewegt wird].
157Ich benutze im Folgenden die Ausgabe Ibn Bāǧǧa, Rasāʾil falsafīya, ed. al-ʿAlawī, 108–20, wo immer nötig berichtigt durch MS B, ff. 191r–193v [arab.]. 158Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 109, 3–110, 9, insbesondere 109, 16–110, 9. al-ʿAlawīs Eingriff in den Text in Zeile 110, 4 ist zu streichen. Die zweite Alternative beginnt ganz offensichtlich in Zeile 110, 8 mit wa-qad. 159Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 111, 3f.
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Hieraus wird klar, was Aristoteles im achten [Buch der Physik] gesagt hat, nämlich dass alle Mineralien nicht wirken sondern Einwirkung erleiden. Wie also die Schwere den Stein bewegt, darüber wollen wir sprechen.«160 Ibn Bāǧǧa fragt sich also, welche Rolle der Natur der unbelebten Körper bei ihrer Bewegung zukommt. Auf der Grundlage der Erklärung der Elementarbewegung im achten Buch der Physik, die er sich mit Hilfe von al-Fārābī verdeutlicht hat, ist klar, dass die Natur nicht als Beweger im eigentlichen Sinn in Frage kommt, denn der Stein aus seinem Beispiel wird nur gewaltsam bewegt, da er nur durch Gewaltanwendung von seinem natürlichen Ort entfernt werden kann. Wenn die Schwere ihrer Natur nach bewegen würde, dann müsste der Stein seiner Natur nach bewegt sein, also Bewegung wie ein Lebewesen besitzen. Tatsächlich hat Aristoteles aber deutlich gemacht, dass das Unbelebte lediglich bewegt wird. Dennoch wird es ja offenbar auf Grund seiner Natur bewegt, und es ist also zu erklären, wie das geschieht. Diese Fragestellung passt, das wird hier noch einmal ganz offensichtlich, nicht in den Rahmen der Argumentation in Die veränderlichen Seienden, die aus gutem Grund am externen nicht am intrinsischen Bewegungsprinzip der Elemente interessiert ist. Es ist, wie sich in Abschnitt 2.2. herausgestellt hat, Ibn Bāǧǧas genuines Forschungsinteresse. In der Präsentation seiner Antwort geht Ibn Bāǧǧa völlig methodisch vor, ohne allerdings seine Argumentationsstrategie zu begründen oder zu erläutern. Wir müssen ihm daher zunächst einmal geduldig folgen. Im ersten Schritt bestimmt Ibn Bāǧǧa das Verhältnis der ersten an sich formlosen Materie zu den zehn Kategorien. Die Materie ist als solche nur in Potenz seiend, und zwar ist sie in Potenz eine der Kategorien, da das Seiende sich in diese Kategorien unterteilt. Allerdings gibt es einen grundlegenden Unterschied zwischen der ersten Kategorie, der Substanz (ǧauhar), und den restlichen neun Kategorien, den Akzidenzien (aʿrāḍ), denn letztere können nicht ohne die Substanz existieren. In der Materie muss daher zuerst die Substanz realisiert werden. »Die entstehende und vergehende Substanz besteht durch dieses Substrat, welches die erste Materie ist, und durch eine andere Intention [maʿnā], durch die es seiend ist, und das ist die Form.« Dieser so existierenden materiellen Substanz kommen nun zwar auf Grund der Materie viele Akzidenzien zu, die aber können erst entstehen, wenn in der Materie »eine der Arten der Substanz« vorliegt. Die Materie ist »an sich« (min ḥaiṯu mā hiya) – wenn man hier von einem »an sich« überhaupt sprechen kann – in Potenz eine Substanz; aber sie ist nur insofern in Potenz eines der Akzidenzien, als sie eine gewisse Substanz ist. Ebenso, wenn sie in Akt eine 160Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 111, 6–11; nach MS B, f. 191v [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: 111, 8 muzīl al-ʿāʾiq wa-l-ṯiql statt bi-zawāl al-ʿāʾiq; 111, 9 letztes Wort mutaḥarrik statt muḥarrik; 111, 11 ist kulluhā nach alǧamādāt einzufügen.
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Substanz ist, dann ist sie dies wesentlich, ist aber die verschiedenen Akzidenzien nur insofern sie diese Substanz ist.161 In einem zweiten, ergänzenden Schritt bemüht sich Ibn Bāǧǧa, diese Begründungsverhältnisse noch zu präzisieren.162 Er operiert dabei zunächst mit Variablen, die er auch in den folgenden Argumentationsschritten benutzt, die wir hier aber der Übersichtlichkeit halber zumindest teilweise bereits jetzt auflösen wollen. Die Grundmomente, von denen er im Anschluss an das zuvor Gesagte ausgeht, sind: H, das etwas in Potenz ist, also die Materie (hayūlā); und Ḥ, nämlich das, was die Materie in Potenz ist, also die Form;163 dazu kommen die akzidentellen Momente K, L, M. Die (nicht explizit gemachte) Frage, die Ibn Bāǧǧa hier zu beantworten sucht, lautet, was die Gründe für das Vorliegen der Akzidenzien in der Materie sind. Gleichzeitig beantwortet er einen Einwand, nämlich ob nicht die Materie nur insofern in Potenz eine Substanz sei, als sie in Akt eine andere Substanz sei. Insofern die Akzidenzien, wie gesagt, von der Substanz abhängen, trägt auch diese Frage dazu bei, die Gründe für das Vorliegen der Akzidenzien zu klären. Ibn Bāǧǧa erläutert nun, dass die Akzidenzien K, L, M der Form in der Materie in einer bestimmten Reihenfolge oder Ordnung (tartīb) folgen. Die Materie ist daher in Potenz zunächst die Form und dann K, L, M. Wird sie in Akt zu der Form, dann wird sie auch zu K, L, M. Diese Akzidenzien tragen also nichts dazu bei, dass die Form in der Materie existiert, aber umgekehrt ist die Form eine der Ursachen (asbāb) dafür, dass zum Beispiel K in der Materie vorliegt. Der Umstand, dass die Materie, während sie in Potenz die Form Ḥ ist, eine andere, entgegengesetzte Form von gleicher Gattung hat, ist für die beschriebenen Verhältnisse nicht wesentlich; die entgegengesetzte Artform ist in keiner Weise Ursache für die Form Ḥ. Derselbe Umstand macht aber sichtbar, dass die Form zu ihrer Existenz in der Materie sehr wohl noch einer weiteren Ursache bedarf, nämlich eines »Bewegers« (muḥarrik). Weil die eine Materie nicht zwei gegensätzliche Formen zugleich aufnehmen kann, sondern immer nur eine, braucht es etwas, dass die jeweilige Form erzeugt (kaun) und die andere verdrängt. Hier sehen wir mithin die Rolle des Erzeugers für die Ortsbewegung angedeutet: Er ist Beweger, insofern er die Artform bewirkt. Aber Ibn Bāǧǧa geht darauf nicht 161Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 111, 12–112, 12; in Zeile 112, 12 ist mit MS B, f. 192r [arab.] bi-annahā statt fa-innahā zu lesen. 162Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 112, 13–113, 13. Dabei sind mit MS B, f. 192r [arab.] folgende Änderungen vorzunehmen: Zeile 113, 3–4 fa-yalzamu… A ist zu ersetzen durch fa-yalzamu Ḥ K M L; Zeile 113, 5 lies fa-Ḥ iḏan laisa; Zeile 113, 6 streiche hiya und ersetze asbāb… Y durch asbābihā K fī H Ḥ. 163Vgl. dazu auch Ibn Bāǧǧas explizite Auflösung der Variable in: Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 116, 9f. Vermutlich kürzt Ḥ hier ḥaǧar ab, den Stein aus Text T 24.
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ein, sondern sagt vielmehr ausdrücklich, dieses Wirkende gehöre nicht zu seinem Gegenstand. Es geht ihm ja, wie erinnerlich, um die Rolle der Natur, also der Artform, für die Ortsbewegung. Und der Ortsbewegung wendet Ibn Bāǧǧa sich nun in einem dritten Schritt genauer zu, indem er das Akzidenz K als ein Akzidenz der Kategorie des Ortes oder genauer des Wo (ain) benennt, und zwar meint er damit, wie ein späterer Rückverweis zeigt, »ein natürliches und wesentliches Akzidenz« (ʿaraḍ ṭabīʿī ḏātī),164 sprich das natürliche Wo (den natürlichen Ort) des betreffenden Seienden. K kann nun entweder, wie zuvor beschrieben, von der Form abhängig sein, weil es durch sie Bestand (qiwām) hat, und kommt der Form dann »auf natürliche Weise« (ʿalā l-maǧrā al-ṭabīʿī) zu, oder es ist im Gegenteil gegen die Natur der Form, dann liegt es auf Grund von Zwang vor, nämlich durch ein Hindernis. Und zwar ist das deshalb der Fall, weil erstens die Substanz notwendigerweise ein Wo-Akzidenz besitzt. Die verschiedenen Wo-Attribute sind aber zweitens innerhalb derselben Gattung einander entgegengesetzt, so dass der Anwesenheit des einen die Abwesenheit des anderen notwendig folgt (yalzamuhū al-takāfuʾ ḍarūratan). Drittens sind die beiden Gegensätze für die zugrundeliegende Substanz nicht gleichberechtigt wie Sitzen und Stehen für einen Menschen. Daraus folgt das bereits benannte Entweder-Oder: Das Wo-Akzidenz ist von der vorangehenden Existenz entweder der Form oder eines Hindernisses abhängig.165 Im vierten und letzten Argumentationsschritt führt Ibn Bāǧǧa nun endlich die Bewegung ein.166 Er erklärt nämlich, wie K verschwinden beziehungsweise sich in seinen Gegensatz ändern kann. Wenn K von der Form abhängig ist, verschwindet es, sobald die Form verschwindet, und zwar entweder »auf einen Schlag« (dufʿatan) oder »Stück für Stück« (šaiʾan fa-šaiʾan) in genauer Entsprechung zum Verschwinden der Form. Ist K dagegen von einem Hindernis abhängig, dann gilt das Gleiche in Bezug auf das Verschwinden des Hindernisses. Ob dieser Vorgang ein plötzliches Umschlagen oder ein schrittweiser Übergang ist, entscheidet sich daran, wie K sich zu seinem Gegensatz (ḍidd ) – von Ibn Bāǧǧa
164Vgl. dazu Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 114, 11. 165Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 113, 14–114, 8. 166Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 114, 9–115, 11; ab Zeile 115, 3 lese ich den Text mit MS B, f. 192v [arab.] folgendermaßen: wa-in kāna bainahumā ausāṭ fa-bayyin anna Ḥ huwa bi-l-quwwa L fa-qad yumkin an yataḥarrika li-anna kullu mutaḥarrik fa-huwa bi-l-quwwa ḏālika allaḍī ilaihi yataḥarraku. fa-fīhi al-mutaḥarrik wa-li-anna mā huwa bi-l-quwwa H huwa bi-l-fiʿl K, fa-K munqasim, fa-iḏan yaǧibu ḍarūratan an yakūna fī H L, wa-yuḥtāǧu wuǧūd šaiʾ āḫar yuwaǧǧibu ḏālika, ka-mā qulnā, wa-huwa imma Q wa-imma Ḥ, lakinahū laisa Q, fa-huwa Ḥ. fa-Ḥ huwa allaḏī yūǧabu lahū an yakūna fīhi K wa-bihī yastaʾahilu H K. fa-li-ḏālika yalzamu ḍarūratan an yakūna K fī H fī l-ān, lakina limmā kāna L wa-K mutaḍāddain munqasimain, lam yumkin ḏālika fī l-ān, wa-kāna fī zamān. fa-li-ḏālika wuǧida ǧuzʾan baʿda ǧuzʾ ʿalā ttiṣāl dūna an yakūna fī aḥad al-aǧzāʾ abyan, wa-hāḏa huwa al-ḥaraka. fa-iḏan Ḥ huwa al-muḥarrik lahū ʿalā hāḏa l-waǧh.
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etwas verwirrend wieder als L benannt – verhält. Wenn es zwischen K und L keinen Mittelzustand (wasaṭ) gibt, dann erfolgt der Wechsel schlagartig. Gibt es dagegen Mittelzustände, dann kann die Form (beziehungsweise die durch die Form bestimmte Substanz) sich bewegen, denn wenn ihr K zukommt, dann besitzt sie L in Potenz, und jedes Bewegte ist in Potenz das, woraufhin es sich bewegt. Das Bewegte ist hier die Materie der Substanz, die ja, wie oben gesehen, Substrat aller Akzidenzien ist. Auf Grund der Mittelzustände ist K (und dann selbstverständlich auch sein Gegenteil L) »teilbar« (munqasim). Liegt nun L in Akt vor, während der Materie auf Grund der Form notwendig K zukommt, dann müsste sich de iure »augenblicklich« (fī l-ān) K einstellen. Da dies aber wegen der dazwischen liegenden Mittelzustände nicht möglich ist, tritt K vielmehr »in der Zeit« (fī zamān) ein, und zwar »Teil für Teil in kontinuierlicher Weise, ohne in einem der Teile deutlicher zu sein, und das ist gerade die Bewegung«. Die Form ist also, so Ibn Bāǧǧas Schlussfolgerung, in dieser Weise ein Beweger; sie ist, wie er einige Absätze später, deutlicher sagt, die Natur im engeren Sinne, nämlich diejenige der natürlichen Körper, die eine der entgegengesetzten Bewegungen ausführen.167 Von Ibn Bāǧǧas technischer Ausdrucksweise Abstand nehmend, können wir sein Ergebnis nun so resümieren: Die Form und Natur eines unbelebten Naturdings, zum Beispiel die eingangs genannte Schwere des Steins, bewegt diesen dadurch, dass sie Ursache seiner wesentlichen Akzidenzien ist, die ihm im natürlichen Zustand zukommen. Dazu gehört auch das Akzidenz des Wo. Befindet sich der Stein jedoch nicht an seinem natürlichen Wo, dann kann es dieses Wo nur durch eine in der Zeit verlaufende Bewegung erreichen, weil es zwischen seinem natürlichen Wo und dessen Gegenteil Mittelzustände oder hier besser Mittelpunkte gibt, die er nur nach und nach durchqueren kann. Die Form ist also, ganz wie Ibn Bāǧǧa zuvor gesagt hatte (T 24), »ihrer Natur nach kein Beweger«, denn aus ihr folgt nicht die Bewegung sondern das natürliche Wo. Dass dieses sich unter Umständen nur durch eine Bewegung realisieren kann, liegt nicht an der Schwere qua Schwere, sondern an umfassenderen kosmologischen Bedingungen wie oben/unten als Extremen des Universums.168 Soweit Ibn Bāǧǧas Erklärung, die nicht nur hinreichend verständlich macht, wieso es überhaupt zur Ortsbewegung der Elemente kommt und inwiefern neben dem Erzeuger (demjenigen, das die Form in der Materie zur Existenz bringt) und dem Hindernisaufhebenden die Natur oder Form des Elements selbst eine Ursache dieser Bewegung ist, ohne wesentlich als Beweger zu fungieren. Insbesondere ist hervorzuheben, dass Ibn Bāǧǧas Rückgriff auf die grundlegenden Merkmale der Bewegung, nämlich dass sie zwischen Gegensätzen verläuft, die 167Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 116, 9f. Zur Natur im engeren Sinne siehe Kapitel 6, Abschnitt 1. 168Zu den Gegensätzen siehe ausführlicher Kapitel 8, Abschnitt 3.
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Mittelzustände kennen,169 deutlich macht, wieso die natürliche Ortsbewegung anders als die Bewegung der Projektile auf die Mithilfe des Mediums oder einen anderen »motor coniunctus« verzichten kann. Er hat damit nämlich verdeutlicht, dass nicht zu erklären ist, wie die Bewegung andauern kann, sondern warum sie überhaupt dauert, statt instantan zu sein.
Beweger und Bewegtes Indessen sind damit noch nicht alle Fragen geklärt, denn wenn die Form auch nur in gewisser Weise »Beweger« für das Element ist, dann müssen sich am Element wie am Lebewesen bewegendes und bewegtes Moment unterscheiden lassen. Dies ist es, was Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele in der Tat sehr deutlich behauptet, und dabei tritt auch der Begriff der Potenz, der die obigen Ausführungen begleitet hat, eindeutig in den Vordergrund. [N I. 5] »Die natürlichen Körper bewegen sich nur zu ihren Orten, die ihnen von Natur aus zukommen, wenn sie sich an Orten befinden, die wider [ihre] Natur sind; in diesem Falle existiert in ihnen die Potenz [quwwa] zu dem, was von Natur aus ist. Daher haben sie ihre Bewegungen, die sie besitzen, nur auf eine von den Weisen des Akzidentellen [bi-naḥw min anḥāʾ mā bi-l-ʿaraḍ], denn ihre Existenz an widernatürlichen Orten liegt nur an einem Hindernis, das sie aufhält; und wenn das Hindernis verschwindet, gelangen sie zu dem, was ihnen von Natur aus zukommt. Daher dachte man, dass bei diesen der Beweger das Bewegte ist, doch das ist nicht so. Der Stein bewegt sich nämlich insofern er in Potenz unten ist, und er bewegt, insofern er schwer ist. Das Bewegte in ihm ist die Potenz für das Unten, während der Beweger die Schwere ist. Daher bewegt er sich mit einer einzigen Art von Bewegung durch die Natur, die in ihm ist. Und im Bewegten existiert nichts, was dem Beweger entgegengesetzt ist, da ja das Bewegte nur eine Potenz ist.« Folgendes scheint mir hier wichtig: (1) Ibn Bāǧǧa lehnt es ab, die unbelebten Körper als Selbstbeweger im platonischen Sinne zu betrachten. Daraus folgt die Notwendigkeit, zwischen Beweger und Bewegtem zu unterscheiden. (2) Er identifiziert als Beweger des Steins die Schwere, als Bewegtes die Potenz, unten zu sein. (3) Diese Potenz ist als bloße Potentialität verstanden, sie stellt der Schwere daher kein Hindernis entgegen. (4) Das Vorhandensein dieser Potentialität im Stein ist für den Stein jedoch akzidentell, weil es sich nur durch ein äußeres Hindernis ergibt, das den Stein an einem widernatürlichen Ort (oben) festhält.
169Siehe oben, Abschnitt 1.
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Die Bewegung, die in der Beseitigung dieser Potentialität resultiert, ist daher selbst nur akzidentell für den Stein. (5) Es scheint Ibn Bāǧǧa allerdings wichtig zu sein, dass man richtig versteht, in welchem von mehreren möglichen Sinnen man diese Bewegung als für den Stein »akzidentell« bezeichnen kann. Es ist in der Tat wichtig, gerade auch zum Verständnis der von Ibn Bāǧǧa hier ins Spiel gebrachten Potenz, richtig zu fassen, in wiefern die Ortsbewegung für die Elementarkörper akzidentell sein kann. In der modernen Debatte um die richtige Auslegung der aristotelischen Theorie der Elementarbewegung hat dieser Punkt ebenfalls eine Rolle gespielt. Eine Interpretation lautet nämlich unisono mit dem, was wir eben von Ibn Bāǧǧa gehört haben, dass Aristoteles’ Äußerungen belegen, dass die Aktualität der Elemente nicht in einer Bewegung besteht, sondern darin, irgendwo zu sein, nämlich oben oder unten. Das heißt, obgleich die Bewegung hin auf den natürlichen Ort eine natürliche Bewegung ist, ist sie dies nur, insofern sie auf die Aktualität des Oben oder Unten abzielt.170 Die Bedingung dafür, dass es überhaupt zu einer natürlichen Bewegung des Elements kommt, bestehe also darin, dass die natürlich Aktualität (das Wo) des Elements nicht realisiert ist, sei es dadurch, dass es an einem Ort erzeugt wurde, der nicht sein natürlicher Ort ist, sei es, dass es durch gewaltsame Einwirkung von diesem natürlichen Ort entfernt wurde. Die Potentialität, die das Element zu dieser Bewegung besitzt und die Voraussetzung für sie ist, rührt mithin nicht von der Natur des Elements selbst her, ist keine intrinsische Potentialität, sondern ist dieser Natur akzidentell. Dies, so die Vermutung, sei auch der Grund dafür, dass Aristoteles die Natur als passives Prinzip bestimmt.171 Dem wird aber entgegengehalten, eine Bewegung, die ihren Grund nicht mehr in einem internen Prinzip der Bewegung findet – sondern akzidentell auf Grund eines Prinzips, an einem bestimmten Ort zu ruhen, zustande kommt –, würde den aristotelischen Naturbegriff entleeren, denn die Natur, einschließlich derjenigen der unbelebten Elementarkörper, sei als Prinzip der Bewegung definiert.172 Ist dieser Einwand treffend? Aus den soeben betrachteten Erklärungen Ibn Bāǧǧas geht hervor, dass nicht die Bewegung sondern das Wo es ist, das ein InAkt-Sein der Elemente darstellt. Eine Passage seines Physik-Kommentars bringt das noch prägnanter zum Ausdruck. Dort stellt er es als notwendige Grundlage
170Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255b11–13; Sheldon M. Cohen, Aristotle on Elemental Motion, in: Phronesis 39 (1994), 150–159, hier 158f. 171Cohen, Aristotle on Elemental Motion, 157–159. 172Bodnár, Movers and Elemental Motion in Aristotle, 93. Bodnár reagiert auf eine in der Tat problematische Folgerung Cohens, nämlich: Wenn die Natur nicht wesentlich bewege, so deshalb, weil sie eigentlich nur ein Prinzip der Ruhe (am natürlichen Ort) sei. Dies widerspricht, darin hat Bodnár recht, der aristotelischen Bestimmung der Natur. Er geht jedoch zu weit, wenn er auf Grund dessen auch die Charakterisierung dieser Bewegung als »akzidentell« für unvertretbar hält.
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der richtigen Erfassung der Ursachen der Elementarbewegung dar, dass man sich das Verhältnis der Bewegung zum Ziel der Bewegung verdeutlicht. Die Bewegung ist nämlich der »Weg« (al-ṭarīq) zum »Wohin« der Bewegung (allaḏī ilaihī yataḥarraku), sie ist das, wodurch das Ziel für das Bewegte »erzeugt wird« (takawwun). Dadurch ergibt sich zwischen Ziel und Bewegung das folgende Abhängigkeitsverhältnis: Das Bewegte (A) ist potententiell in Bewegung (B) und dadurch ist es ihm möglich das Ziel (C) zu erreichen. Wenn es A nicht möglich ist, sich zu bewegen, dann ist es ihm auch nicht möglich C zu erreichen. Umgekehrt, wenn A potentiell C ist, dann muss es auch die Potenz zu B, zur Bewegung, besitzen. Denn »B ist As Potenz zu C und von C«, das heißt, die Bewegung ist die Potenz des Bewegten zum Ziel der Bewegung und auf Grund des Ziels der Bewegung. Darum ist es falsch anzunehmen, dass für das Bewegte erst die Bewegung und dann das Ziel zustande kommt, gleichsam als ob sich das Ziel allein aus der Bewegung ergibt. Vielmehr geht im Bewegten die Potenz zum Ziel nicht nur dem Ziel, sondern auch der Potenz zur Bewegung voraus.173 Man kann also sagen, dass die Beziehung zwischen Bewegung und Ziel der Bewegung die gleiche Beziehung hypothetischer Notwendigkeit ist, wie sie zwischen der Form als Ziel (Telos) und der Materie, beziehungsweise dem Entstehungsvorgang als Voraussetzung zur Realisierung dieses Ziels besteht.174 Damit ist auf den Punkt gebracht, was Ibn Bāǧǧa in seiner oben rekonstruierten Argumentation in der Abhandlung über die Strebensseele dargestellt hat: Die Notwendigkeit, das Wo durch eine Bewegung zu erreichen, hängt nicht von der Natur der Elemente, sondern von externen Umständen ab. Deshalb kann mit Grund gesagt werden, dass die Elemente keine intrinsische, sondern nur eine akzidentelle Disposition zur Bewegung besitzen. Ein Element kann gar nicht wesentlich bewegt sein, weil es gerade dann, wenn es sein Wesen voll verwirklicht, nämlich dann, wie es bei Ibn Bāǧǧa geheißen hatte, wenn es »in natürlicher Weise« mit seinem natürlichen Wo-Akzidenz existiert, sich überhaupt nicht bewegt. Auf der anderen Seite folgt aus dieser Charakterisierung seiner Bewegung als akzidentell darum kein Widerspruch gegen die aristotelische Definition der Natur, die Ibn Bāǧǧa teilt,175 weil die Bewegung eben nicht in dem Sinne akzidentell ist, dass sie überhaupt nicht zum Wesen des Elements gehört und beliebig ausfallen könnte. Vielmehr hat Ibn Bāǧǧa gezeigt, dass sehr wohl aus der Form eine ganz bestimmte Bewegung folgt, aber eben nicht primär, sondern nur unter bestimmten (akzidentellen) Bedingungen. Die dringenderen Fragen, die man nun an Ibn Bāǧǧa zu richten hat, sind daher, (1) wie eine akzidentell vorhandene Potentialität in Bezug auf ein bestimm173Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 195, 3–10; man beachte die von Lettinck, Aristotle’s Physics, 763 notierte Korrektur des Textes. 174Vgl. Aristoteles, Physik, II. 9. 175Vgl. oben, Kapitel 5, Abschnitt 1 und Kapitel 6, Abschnitt 1.
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tes Akzidenz und die Natur oder Wesensform in das beschriebene Verhältnis treten können, und weiter (2) was das eigentlich für ein Verhältnis ist, wie am schlechthin einfachen Körper, den das Element darstellt, überhaupt diese Momente unterschieden werden können.
Akzidentell und doch natürlich Der Text, der auf diese Fragen näher antwortet, ist diejenige Fassung von Ibn Bāǧǧas Physik-Kommentar, in der er seine Erklärung der Ortsbewegung der unbelebten Naturkörper in enger Auseinandersetzung mit der durch Philoponos aufgeworfenen Problematik präsentiert. Wir haben diese ja bereits isoliert beleuchtet und können uns daher nun ganz auf die Momente konzentrieren, die dieser Text zur Lösung der offenen Fragen beiträgt. Dabei beginnen wir am besten mit Ibn Bāǧǧas Exposé des Themas, das er mit »die Potenz zur natürlichen Bewegung« (al-quwwa ʿalā l-ḥaraka al-ṭabīʿīya) angibt. [T 25] »[1] Wir wollen nun über die Potenz, ihre Existenz und das, was ihr eigentümlich ist, sprechen. Nun gehört das zu den Dingen, die nicht getrennt von der Vollendung [kamāl] dargelegt werden können. Sagen wir also, dass die Möglichkeit zwei Beziehungen besitzt: zur Materie und zur Form und zu dem, was sich wie sie verhält, wie die Akzidenzien. [2] Die Möglichkeit der Form ist wie die Möglichkeit des Feuers im Öl und sie besteht im Öl mit Notwendigkeit, ist aber nicht natürlich; sie ist daher notwendig ›der Natur nach‹. Nun ist die Möglichkeit Potenz, und daher ist die Potenz des Feuers der Natur nach im Öl. Und dies ist die Beziehung der Möglichkeit zur Materie und zum Subjekt. [3] Die Existenz dieser Potenz im Öl besteht nicht durch Zwang, außer in äquivokem Sinne. Der Existenz des Feuers folgt notwendigerweise die Existenz der Wärme und die Existenz des Oben der Reihe nach [ʿalā l-tartīb]. Das ist bereits in Die veränderlichen Seienden aufgezählt worden. Daher haben ihre Potenzen notwendigerweise diese Aufeinanderfolge [tatābuʿ], und folglich sind die Potenz des Oben, die Potenz der Wärme und die Potenz des Erleuchtens alle der Natur nach im Öl, der Reihe nach. Diese sind es, die Yaḥyā al-Naḥwī nicht beachtet oder nicht zu beachten vorgegeben hat. [4] Was die übrigen neun Kategorien angeht, wenn sie primär im Subjekt vorliegen, so sind sie entweder natürlich oder akzidentell. Das Akzidentelle ist dem, was der Natur nach besteht, entweder konträr entgegengesetzt [muḍādda] und ist dann Zwang, oder nicht konträr entgegengesetzt und erhält den Namen der Gattung [also: ›Akzidenz‹]. Ihre Potenzen haben diese selben Beziehungen zum Subjekt, aber die Potenz ist der Vollendung entgegengesetzt [tuqābilu] und besitzt notwendigerweise entgegengesetzte Zustände: Wenn die Vollendung in der Sache natürlich ist, dann liegt die Potenz zu ihrem Gegenteil in
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dieser Sache durch Zwang vor, das ist klar. Wenn aber die Existenz im Körper durch Zwang besteht, dann liegt die mit dem Subjekt verbundene Potenz der Natur nach vor.«176 Im ersten der von uns unterschiedenen Abschnitte dieser Textpassage erinnert Ibn Bāǧǧa an eine generelle Voraussetzung für alle Potenzen, also auch für die Potenz zur natürlichen Bewegung, um die es ihm geht, nämlich, dass eine Potenz nur in Hinblick auf die entsprechende Vollendung untersucht werden kann.177 Die Potenz soll deshalb, so Ibn Bāǧǧa, einerseits eine Beziehung zur Materie und andererseits zur Form und den Akzidenzien besitzen.178 Über ihre Beziehung zur Form und zu den Potenzen sind wir bereits durch die zuvor studierten Texte unterrichtet, denn es hatte sich ja gezeigt, dass die Potenz zur natürlichen Bewegung von der Potenz zu einem Wo-Akzidenz abhängt, und das dieses Akzidenz wiederum von der Form oder Natur des bewegten Körpers abhängt. Dieser Zusammenhang ist hier in Abschnitt 3 nochmals benannt. Es war aber zuvor auch deutlich geworden, dass das Akzidenz nur auf Grund der Form in der Materie vorliegt. Was kann es also bringen, die Beziehung der Potenz zur Materie als eine eigene Beziehung zu betrachten? Der nächste Abschnitt (2) zeigt denn auch, dass beide Beziehungen nicht wirklich voneinander zu trennen sind. Ibn Bāǧǧa beginnt mit der »Möglichkeit der Form«, die sich im Folgenden als eine Potenz zur Form erweist. Offenbar betrachtet er dies als gleichbedeutend mit der Beziehung der Potenz zur Vollendung, denn die Form ist ja die eigentümliche Vollendung eines jeden Seienden. Diese Beziehung besteht also in nichts anderem als darin, dass die Form in Potenz vorliegt. Das, worin diese Potenz vorliegt, ist aber ein anderes Seiendes, dem es nicht »natürlich« (ṭabīʿī) ist, diese Potenz zu besitzen. Das Beispiel macht es klar: Das Öl kann zwar brennen und damit zu Feuer werden, besitzt also die Potenz zur Form des Feuers, aber insofern es Öl ist, besitzt es diese Potenz nicht, denn die Form des Öls und die Form des Feuers stehen in Konkurrenz miteinander, das Verbrennen besteht gerade darin, dass die Form des Öls von der Form des Feuers verdrängt wird. Diese Potenz zur Form sei also nicht »natürlich«, wohl aber »der Natur nach« (bi-l-ṭabʿ), erklärt Ibn Bāǧǧa, und eben darin bestehe ihre Beziehung zur Materie.
176Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 184, 7–185, 2; mit MS B, f. 62v–63r [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: 184, 8 mufrada ʿan statt mufradahū ʿalā; 184, 10 bil-ḍarūra statt bi-l-ṣūra; 184, 11 bi-l-ṭabʿ statt fī l-ṭabʿ; 184, 14 ʿuddida statt ʿadda; 184, 15 faqawāhā lahā statt qawāhā ʿalā; 184, 19 fa-tulaqqab bi-laqab al-ǧins statt fa-tulaqqab bi-l-ṭabīʿa. 177Vgl. oben, Abschnitt 1. 178Der Text sagt dies über die Möglichkeit (imkān), aber mir scheint durch die folgenden Sätze offensichtlich zu sein, dass Ibn Bāǧǧa hier »Möglichkeit« und »Potenz« quasi synonym verwendet.
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Was Ibn Bāǧǧa hier im Sinn hat, hat er bereits in seinem Kommentar zum zweiten Buch der Physik dargelegt. Aristoteles geht dort, nachdem er »Natur« (φύσις) definiert hat, auf die Bedeutung von »der Natur nach« ein, wofür im Griechischen zwei verschiedene Ausdrücke verwendet werden: φύσει und κατὰ φύσιν.179 Allerdings lässt sich auch bei aufmerksamer Lektüre dieser Passage kein Unterschied entdecken, sind die beiden Ausdrücke offenbar synonym. Das gilt auch für die arabische Übersetzung, die sich folgendermaßen liest: [Z 8] »›Auf natürliche Weise‹ [ʿalā l-maǧrā al-ṭabīʿī] nun ist dies [d. i. die natürlichen Substanzen] und die Dinge, die diesen dem Wesen nach zukommen, zum Beispiel dem Feuer das Aufsteigen nach oben, denn diese Intention ist nicht ›Natur‹ [ṭabīʿa] noch ›das was Natur besitzt‹ [mā lahū ṭabīʿa], vielmehr ist es nur ›der Natur nach‹ [bi-l-ṭabʿ] und ›auf natürliche Weise‹ [ʿalā l-maǧrā al-ṭabīʿī].«180 Ibn Bāǧǧa sieht dagegen folgenden Unterschied: [T 26] »Das Ganze aus beiden [d. i. aus Form und Materie] ist der natürliche Körper. Die eigentümlichen Akzidenzien, die ihm durch die Form zukommen, das sind die natürlichen Akzidenzien; und was für es ihretwegen existiert, nennt man ›auf natürliche Weise‹ [ʿalā l-maǧrā al-ṭabīʿī]. Was für es dagegen nur wegen der Materie existiert, davon sagt man, es sei ›der Natur nach‹ [bil-ṭabʿ]. Zuweilen sagt man ›das der Natur nach‹ [mā bi-l-ṭabʿ] von allem, was dem Körper zukommt, auf welche Weise auch immer, sodass ›das der Natur nach‹ gleichsam die Gattung für das Natürliche ist.«181 Der Begriff »der Natur nach«, wenn er im engeren Sinne gebraucht wird, würde demnach Eigenschaften natürlicher Dinge bezeichnen, die ihnen nicht auf Grund der Natur im Sinne der ihr Wesen bestimmenden Form zukommen, sondern auf Grund der dieser zugrunde liegenden Materie. Es ist bereits bemerkt worden, dass schon Philoponos diesen Unterschied macht und zwar was »der Natur nach« geschieht nicht explizit auf die Materie zurückführt, aber doch solche Beispiele nennt, die üblicherweise als Wirkungen der Materie betrachtet werden – Tod, Krankheit, Alter.182 Ibn Bāǧǧa muss diese Unterscheidung je179Aristoteles, Physik, II. 1, 192b35–193a1. 180Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 80. 181Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 23, 10–15; »und was für es ihretwegen existiert« ist auch im Arabischen doppeldeutig, es kann entweder die Form oder die natürlichen Akzidenzien gemeint sein. 182Lettinck, Aristotle’s Physics, 162, vgl. auch 119 und 141; Ioannis Philoponi in Aristotelis Physicorum libros tres priores commentaria (Commentaria in Aristotelem Graeca 16), ed. Hieronymus Vitelli, Berlin 1887, 200, 10–19.
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doch nicht von Philoponos übernommen haben, eine genauere Überprüfung der Kommentartradition ergibt vielmehr, dass sie universell akzeptiert wurde – sie findet sich bei Themistios und Simplikios – und auch in der arabischen Tradition weiter verbreitet wurde, etwa bei Abū ʿAlī Ibn al-Samḥ.183 Ibn Bāǧǧa systematisiert lediglich diese Deutung des Textes, wenn er bi-l-ṭabʿ als eine eigene Benennung für Eigenschaften einführt, die einem Seienden auf Grund seiner Materie zukommen. Auf unseren Text (T 25) zurückkommend sehen wir nun also deutlich, dass Ibn Bāǧǧa sagen will, die Potenz zur Form des Feuers sei im Öl nicht auf Grund von dessen Form, sondern auf Grund seiner Materie, die fähig ist, die Form des Feuers aufzunehmen. Solch eine Potenz ist einem Seienden nicht in engerem Sinne natürlich, hängt aber doch im weiteren Sinne mit seiner Natur zusammen, zu der eben auch die Materie gehört. So gibt es ja auch Seiende wie das Gold, die feuerfest sind,184 deren Materie also keine Potenz besitzt, die Form des Feuers aufzunehmen. Vom Öl dagegen kann man sagen, dass es diese Potenz besitzt, und zwar meint man damit mehr als dass man dem Öl die Form des Feuers aufzwingen kann. Gleichwohl gesteht Ibn Bāǧǧa zu, dass man in äquivokem Sinne dennoch von Zwang sprechen kann. Der vierte Abschnitt des Textes untersucht diesen Zusammenhang von Zwang und Natur näher. Er lässt sich am leichtesten entschlüsseln, wenn wir ihn in seinen Kontext – die Auseinandersetzung mit Philoponos – zurückstellen, der auch verdeutlicht, was die diskutierte Potenz und das angeführte Beispiel nun genau zur Erklärung der Ortsbewegung beitragen. Das von Philoponos’ aufgebrachte Problem ergibt sich, wie erinnerlich, wenn sich das Bewegte bei seinem Entstehen sofort in Bewegung befindet. Denn in diesem Falle kann man nicht mehr sagen, dass die Potenz zur Bewegung der Bewegung vorausgeht, da ja auch die Potenz zum entsprechenden Ziel nicht vorher vorlag.185 Ibn Bāǧǧa stimmt dieser Analyse des Philoponos, dass nicht jeder Bewegung ihre Möglichkeit zeitlich vorausgeht, so weit zu, gibt aber zu bedenken, dass es sich dabei nur um die »Potenz durch Zwang« (al-quwwa allatī
183Themistii in Aristotelis Physica paraphrasis (Commentaria in Aristotelem Graeca 5, 2), ed. Heinrich Schenkl, Berlin 1900, 37, 7–10; Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, ed. Diels, 271, 9–22. Ibn al-Samḥs Glossen zur Physik sind in dem Unikum erhalten, aus dem Badawī die arabische Übersetzung Isḥāqs ediert hat; vgl. S. M. Stern, Ibn al-Samḥ, in: Journal of the Royal Asiatic Society (1956), 31–44. Siehe hier Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 82: »Viertens hat er über das gesprochen, was ›auf natürliche Weise‹ ist. Das ist nämlich die Substanz, in der diese Ursache ist, welche die Natur ist. Und es ist auch das Akzidenz, das keine Deformation [tašwīh] darstellt, wie das Aufsteigen für das Feuer. Wenn die Tätigkeit eine Deformation [man ändere tašwīš zu tašwīh] darstellt, dann sagt man nicht, dass es ›in natürlicher Weise‹ ist.« 184Vgl. N III. 38. 185Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 195, 10–12; vgl. auch T 18.
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takūnu bi-l-qasr) handelt. Wenn Feuer aus Öl entsteht und zufällig durch ein Hindernis unten festgehalten wird, dann entsteht ihm verbunden mit diesem Untensein (muqtarina bi-wuǧūdihā asfal) eine Potenz zur Bewegung nach oben, die der Bewegung zeitlich vorausgeht. Liegt dagegen kein Hindernis vor, bewegt sich das Feuer augenblicklich (fī l-ān) nach oben, und die besagte Potenz entsteht nicht. Wenn man diese Potenz betrachtet, ist es also in der Tat wahr, dass nicht jeder natürlichen Bewegung die Potenz zu dieser Bewegung vorausgeht.186 Der Fehler des Philoponos besteht jedoch darin, dass er diese »gewaltsame Potenz« (quwwa qasrīya) für die einzige gehalten und »die Potenz, die der Natur nach besteht« (al-quwwa allatī bi-l-ṭabʿ) nicht beachtet hat.187 Die Potenz »der Natur nach«, die im Gegensatz zu der durch das Hindernis erzwungenen Potenz, die fehlen kann, notwendig vorliegt, besteht allerdings, wie wir soeben gesehen haben, nicht in dem, was die betreffende Bewegung ausführt, sondern in dessen Subjekt, nämlich in der Materie, aus der es hervorgeht. Auf dieser Grundlage kann man nun sagen, dass auch in den »rein natürlichen« Fällen der Bewegung eine Potenz vorausgeht. Auf diese Feststellung beschränkte sich wohl auch, jedenfalls soweit es der Vergleich mit Ibn Rušd ergeben hat, die Lösung al-Fārābīs. Sieht man sich dagegen Ibn Bāǧǧas Behandlung der Potenz »der Natur nach« an, so wird rasch klar, dass auch aus diesen Fällen der Zwang als Erklärungsmoment nicht herauszuhalten ist. Einem Stein kommt es seinem Wesen nach zu, unten zu sein, und wenn er in diesem Zustand ist, dann bewegt er sich nicht. Er befindet sich also nur durch etwas, das Zwang auf ihn ausübt, oben, und wenn der Zwang aufhört, bewegt er sich nach unten. Der Stein bewegt sich also überhaupt nur dann, wenn er »der Potenz nach unten« (asfal bi-l-quwwa) ist. Dieser Zustand kann nur auf zwei Weisen zustande kommen, eine von beiden »natürlich«, die andere nicht. Auf natürliche Weise liegt eine Potenz nach unten vor, wenn der Stein selbst nur in Potenz ist, nämlich nur potentiell Erde, aktuell aber Feuer, Luft oder Wasser und deshalb aktuell oben und nur potentiell unten. Die Potenz nach unten liegt aber im Feuer »wegen der gemeinsamen ersten Materie« (min aǧli l-hayūlā al-ūlā al-muštarika) »der Natur nach« vor. Wenn die Erde dagegen aktuell existiert und dennoch in Potenz unten ist, weil sie oben festgehalten wird, »dann ist diese Potenz für den Stein nicht ›natürlich‹, sondern ›der Natur nach‹ wegen der gemeinsamen Materie.«188 Diese Bestimmungen haben wir uns bereits verdeutlicht.
186Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 195, 12f; 184, 1–7, in Zeile 184, 1 ist laut Lettinck, Aristotle’s Physics, 762 ġairi l-ṭabīʿī zu lesen. 187Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 4–6 (siehe auch die Korrekturen in Anm. 192); 195, 13f. 188Ibn Bāǧǧa, Kalām fī l-faḥṣ ʿan al-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 109, 17–110, 7; ed. Badawī 148, 11–149, 2.
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Die Erklärung des ersten Falles gibt die nun wohlbekannte Lösung wieder, dass die Potenz in dem Subjekt vorliegen kann, aus dem das Bewegte entsteht, und begründet dies mit dem Verweis auf die gemeinsame Materie etwa von Erde und Feuer. Weil die Materie des Feuers die Form der Erde aufnehmen kann, kommt dem Feuer potentiell nicht nur die Form der Erde, sondern auch deren Eigenschaft »unten« zu. Der zweite Fall dagegen, der eindeutig das beschreibt, was wir als gewaltsame Potenz kennengelernt haben, ist derjenige, der uns nun näher interessiert, insofern hier die besagte Potenz »der Natur nach« auf Grund der gemeinsamen Materie vorliegt: Auch das Aufzwingen eines unnatürlichen Ortes ist nur deshalb möglich, weil die Elementarkörper eine gemeinsame Grundlage haben, die es erlaubt, dass dem einen Eigenschaften des anderen zukommen, und sei es »durch Zwang«. In diesem Sinne ist, was »gegen die Natur« ist, zwar nicht natürlich aber doch »der Natur nach«. Damit haben sich die Unterschiede zwischen beiden Fällen aber weitgehend aufgelöst. Ursache für die natürliche Ortsbewegung, die gerade nicht in der Formnatur des Bewegten liegt, ist somit immer die zugrunde liegende Materie, auf die ein Zwang ausgeübt wird, denn auch im Fall der Entstehung von Erde oben muss der Materie des Feuers, aus der sie entsteht, die Form des Feuers ja gewaltsam entrissen werden. Eine natürliche Ortsbewegung ohne vorhergehenden Zwang ist daher nicht denkbar. Dieses Wechselverhältnis zwischen Natur und Zwang macht Ibn Bāǧǧa in Abschnitt (4) von Text T 25 deutlich sichtbar, indem er die inverse Proportion feststellt: »Wenn die Vollendung [kamāl] in der Sache natürlich ist, dann liegt die Potenz zu ihrem Gegenteil in dieser Sache durch Zwang vor, das ist klar. Wenn aber die Existenz im Körper durch Zwang besteht, dann liegt die mit dem Subjekt verbundene Potenz der Natur nach vor.«189 Mit anderen Worten, Zwang schafft natürliche Potenzen, während im Zustand der natürlichen Vollendung Potenzen nur »durch Zwang« bestehen. Sieht man jedoch genau hin, dann legt Ibn Bāǧǧa hier eine andere Bedeutung von »der Natur nach« und »durch Zwang« zu Grunde, als sie oben in »al-Fārābīs Antwort« auf Philoponos Verwendung fanden. Während dort nämlich die Potenz des oben festgehaltenen Steins nach unten als Potenz »durch Zwang« bestimmt worden war, weil sie im Stein nur durch das zwingende Hindernis vorliegt, so wäre nach der hier gegebenen Bestimmung diese Potenz eine Potenz »der Natur nach«, weil sie eine Potenz zu der dem Stein natürlichen Eigenschaft »unten« ist. Ibn Bāǧǧa führt damit eine gegenläufige Perspektive ein, die der ersteren zwar nicht unbedingt widerspricht, aber deutlich andere Gewichte setzt. Eine Potenz kann demnach [a=al-Fārābī] »durch Zwang« sein, weil sie dem Seienden außerhalb seines natürlichen Ortes zukommt, und sie kann für dieses Seiende gleichzeitig [b=Ibn Bāǧǧa] eine Potenz »der Natur nach« sein, weil sie auf seinen natürlichen Ort gerichtet ist. Ebenso kann [a] die Potenz zu einem 189Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 184, 21–185, 2.
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dem natürlichen Ort entgegengesetzten Ort als »natürlich« bezeichnet werden, da die Materie die entsprechende Aktualität aufnehmen kann, während sie [b] »durch Zwang« genannt werden kann, insofern sie nur durch Zwang realisiert wird. Dass Ibn Bāǧǧas neuer Wortgebrauch kein Versehen, sondern allenfalls eine produktive Fehllektüre al-Fārābīs ist, wird nicht nur dadurch deutlich, dass er die andere Perspektive kennt und referiert, sondern auch dadurch, dass die oben zitierte Passage kein Einzelfall ist. An anderer Stelle im selben Text trägt er folgende Überlegung vor: Eine Potenz kann ihrem Subjekt, etwa dem Öl, entweder durch Zwang oder der Natur nach, entweder primär (awwalan) oder sekundär (ṯānīyan) zukommen. Befindet Öl sich an seinem natürlichen Ort, nämlich an der konkaven Ober- oder vielmehr Innenfläche der Luftsphäre, dann besitzt es der Natur nach keine Potenz zur Bewegung. Das Obensein dagegen kommt dem Öl, insofern es Öl ist, nur »durch Zwang« zu, etwa wenn es geworfen wurde. Befindet es sich aber auf diese Weise oben, dann besitzt es »der Natur nach« eine Potenz nach unten, »da die Potenz des Wo [al-ain] immer mit dem Seienden verbunden ist, weil sie auf primäre Weise in der Sache ist«.190 [T 27] »Für die natürliche Bewegung muss dem Körper ein Wo außerhalb der Natur zukommen. Deshalb ist es keinem natürlichen Körper, dem das Wo der Natur nach zukommt, möglich, eine Bewegung der Natur nach zu besitzen. Deshalb ist es für das natürliche Bewegte nötig, nicht an seinem natürlichen Ort zu sein.«191 Wenn dies allgemein gilt, dann impliziert die natürliche Bewegung unbelebter Körper geradezu, dass sie eine durch Zwang hervorgerufene Potenz zu ihrem natürlichen Ort besitzen, das heißt von ihm abwesend sind, was wiederum bedeutet, dass sie sich in Bezug auf die primäre, ihnen notwendig zukommende Wo-Eigenschaft in einem Zustand der Potentialität befinden. Diese Potentialität muss dann aber auch dort vorliegen, wo kein gewaltsam Einwirkender und kein Hindernis Ursache der Verrückung vom natürlichen Ort ist, sondern die Erzeugung außerhalb des natürlichen Ortes stattgefunden hat beziehungsweise stattfindet. Wir können daher mit Ibn Bāǧǧa folgende Antwort auf die erste der beiden oben (S. 298f ) formulierten Fragen geben: Einem Naturkörper können auf Grund seiner Materie Potenzen zukommen, die ihn zur Ortsbewegung nötigen. Diese Potenzen können damit, auch wenn sie sich aus einer bestimmten Perspektive als durch Zwang hervorgerufen darstellen, dennoch der Natur des Körpers zugeschrieben werden. Sie sind in jedem Fall akzidentell, weil sie dem Körper nicht von dem, was er ist, also nicht von seiner Form her zukommen. Insofern diese 190Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 180, 15–20. 191Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 180, 20–181, 2.
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akzidentelle Potentialität nun aber in der Materie des Körpers wurzelt, ist es nicht verwunderlich, dass sie in ein Verhältnis zu dessen Form tritt. Die Form bewirkt in jedem Fall, dass das von ihr abhängige Wo-Akzidenz eintritt oder wiederhergestellt wird. Ibn Bāǧǧas erste Schlussfolgerung in der von uns hier untersuchten Version seines Kommentars zu Buch VIII der Physik lautet denn auch wiederum: »Folglich ist die Ursache der natürlichen Bewegung natürlich für diesen Körper, und die Natur dieses Körpers ist der Beweger.«192
Ortsbewegung und Potenz-Akt-Spannung An diesem Punkt setzt Ibn Bāǧǧa mit seiner Untersuchung neu an, und seine folgenden Überlegungen werden uns erlauben, auch auf die zweite obige Frage zu antworten, nämlich wie die Potenz zur Form beziehungsweise zu seinem wesentlichen Wo-Akzidenz von der Form so unterschieden werden kann, dass die Form oder Natur als Bewegungsprinzip des Elementarkörpers bezeichnet werden kann. Ibn Bāǧǧa erklärt: [T 28] »Also sind im natürlichen Körper, wenn er eine natürliche Bewegung ausführt, zwei Dinge: Eines von beiden ist die Natur [ṭabīʿa], die dieser Körper besitzt, durch die ihm diese Vollendung [kamāl] dem Wesen nach zukommt. Das andere ist die Möglichkeit [imkān] zur Aufnahme dieser Vollendung. Er bewegt sich durch die Möglichkeit, und es bewegt ihn die Natur.«193 Mit anderen Worten, der Unterschied zwischen Beweger und Bewegtem, der hier vorliegt, ist kein Unterschied zwischen zwei in Bezug auf ihre Definition verschiedenen Momenten, sondern nur die Differenz zwischen der Natur und Form als Vollendung des Bewegten und der Potenz zu dieser Vollendung, die es so lange besitzt, wie die Form nicht vollständig realisiert ist, beziehungsweise genauer das dieser Form wesentlich anhängende Wo-Akzidenz. Insofern kann, wie Ibn Bāǧǧa das in der früher zitierten Passage des Buchs der Seele (N I. 5) 192Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 4. Die beiden Handschriften weichen hier voneinander ab und haben wohl beide nicht den vollständigen Text. MS O, f. 52v liest fa-iḏan sabab al-ḥaraka al-ṭabīʿīya fa-ṭabīʿa ḏālika l-ǧism hiya al-muḥarrik; MS B, f. 63r [arab.] fa-iḏan sabab al-ḥaraka al-ṭabīʿīya fa-ṭabīʿīya li-ḍālika[?] l-ǧism ḏāka l-ǧism hiya al-muḥarrik. Keine der beiden Lesarten ergibt für sich genommen Sinn, angesichts des Kontextes besteht die schlüssigste Lösung darin anzunehmen, dass in B fa-ṭabīʿa ausgefallen ist, während in O eine Auslassung auf Grund von Homoioteleuton zwischen fa-ṭabīʿīya und fa-ṭabīʿa vorliegt. Der rekonstruierte Satz lautet dann: fa-iḏan sabab al-ḥaraka al-ṭabīʿīya fa-ṭabīʿīya li-ḍālika[?] l-ǧism ḏāka l-ǧism hiya al-muḥarrik. 193Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 6–10; mit MS B, f. 63r [arab.] ist in Zeile 185, 7 šaiʾān statt sababān (d. i. »zwei Ursachen«) zu lesen.
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gesagt hatte, im unbelebten Naturkörper kein Gegensatz zwischen der Natur als Beweger und dem Bewegten vorliegen, »da ja das Bewegte nur eine Potenz ist«, oder wie wir nun genauer sagen können, die Potenz zu dem, was die Natur in Akt ist, beziehungsweise was der aktualisierten Formnatur als wesentliches Akzidenz folgt. Diese Potenz besteht ganz einfach in der Materie des Körpers. Nun könnte Ibn Bāǧǧas dortige Erklärung der Bewegung des Steins – »Das Bewegte in ihm ist die Potenz für das Unten, während der Beweger die Schwere ist« – allerdings den Eindruck erwecken, man habe es doch mit zwei wesentlich verschiedenen Momenten zu tun. Das trügt aber, denn in voller Übereinstimmung mit Aristoteles betrachtet Ibn Bāǧǧa die Ortsbestimmungen oben/unten und die Wesenseigenschaften leicht/schwer als quasi synonym, wie folgende Passage aus einer weiteren Version seines Kommentars zu Physik VIII demonstriert: [T 29] »Solange das Wasser Wasser ist, ist es in Akt schwer und unten, während es in Potenz leicht und oben ist. Die erste Potenz ist die Ursache für die übrigen Potenzen, nämlich die Potenz des Leichten und sodann die Potenz des Oben. Wenn es in Akt leicht wird, dann kommt es in Akt nach oben, da die Existenz des Oben seinem Leichtsein folgt. Ebenso wenn es in Akt leicht und oben ist, so ist es in Potenz schwer und in Potenz unten, in dieser Reihenfolge [tartīb], denn die Potenzen folgen den Vollendungen, und die Beziehungen der Potenzen zueinander entsprechen den Beziehungen der Vollendungen zueinander.«194 Bestimmt man nun mit Ibn Bāǧǧa Schwere und Leichtigkeit als Natur und Wesen der Elementarkörper, dann kann man feststellen, dass die einzige formale Differenz, die zwischen Schwere als bewegendem und potentiellem Untensein als bewegtem Moment besteht, die Differenz zwischen der Form und dem wesentlichen Akzidenz ist. Insofern dieses Akzidenz aber notwendig aus der Form folgt, handelt es sich dabei um einen zu vernachlässigenden Unterschied. Es bleibt also dabei, dass sich Beweger und Bewegtes nur wie der Akt und die Potenz zu diesem Akt unterscheiden. Das bedeutet, dass »der Beweger, durch dessen Existenz dem Wesen nach die Bewegung existiert, sich in Vollendung befindet [bi-l-kamāl]«.195 Das ruft jedoch die Frage hervor – und Ibn Bāǧǧa stellt sie ausdrücklich – wie etwas gleichzeitig und im selben Subjekt in Potenz und in Akt vorliegen kann. Denn es ist hier weder wie bei äußerlich Bewegtem noch wie beim Lebewesen möglich, Beweger und Bewegtes in verschiedenen Sub194Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 196, 1–6. Zur selben Gleichsetzung bei Aristoteles vgl. etwa Physik, IV. 4, 212a21–28. 195Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 15; MS B, f. 63r [arab.] bestätigt die Konjektur wa-l-muḥarrik, dagegen ist wa-l-kamāl in bi-l-kamāl zu ändern.
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jekten zu lokalisieren. Die Antwort, die Ibn Bāǧǧa in größter Knappheit gibt, lautet: [T 30] »Der natürliche Körper ist auf die Weise aus Beweger und Bewegtem zusammengesetzt, wie die Definition zusammengesetzt ist [taʾlīf], nicht auf die Weise der Kombination [tarkīb], so dass dieses in einem Teil und jenes in einem anderen Teil wäre.«196 Die Zusammensetzung der Definition ist nun jene aus Gattung und Differenz, die sich wie Materie und Form zueinander verhalten,197 ja, bei den Elementen als einfachsten Körpern mit ihnen identisch sein müssen. Dies bestätigt unsere obige Schlussfolgerung, dass die Ortsbewegung auf die Potenz-Akt-Spannung zurückgeführt wird, die dem Element zukommt, insofern es seine Form beziehungsweise sein wesentliches Wo-Akzidenz noch nicht verwirklicht hat. Diese Potenz liegt in seiner Materie vor und tritt daher nicht als unabhängiges Moment zu Tage, sondern ist der Form und Aktualität vollkommen untergeordnet. Die Form wirkt, insofern sie Ursache der Ortsbewegung ist, nur als Vollendung, auf die die Potentialität der Materie hin ausgerichtet ist, das heißt, sie wirkt als Ziel- nicht als Wirkursache. Der Verweis auf die Definition macht deutlich, dass in jedem natürlichen Seienden, selbst wenn es in Akt ist, ein Moment der Potentialität bestehen bleibt, und sei es eine Potenz zu diesem Akt. Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung unbelebter Körper hebt also zwar die Natur oder Form dieser Körper als wesentliches Bewegungsprinzip hervor, schafft damit aber gerade keine neue Dynamik, denn die Form wirkt nicht als Kraft und nicht einmal als aktive Potenz, sondern ganz im Sinne der aristotelischen Unterscheidung von Potenz und Akt. Zwei kurze Nachfragen und ihre Beantwortung aus den Texten Ibn Bāǧǧas mögen das abschließend noch einmal unterstreichen. Zum einen könnte man nämlich zweifeln, ob nicht die Benennung der Form, die ja in Akt ist, als Ursache der Bewegung, entgegen der aristotelischen Bestimmung der Natur unbelebter Körper aus dieser ein aktives Prinzip der Bewegung, eine aktive Potenz macht. Ibn Bāǧǧa diskutiert zwar nicht genau diese Frage, dafür jedoch die verwandte, warum die Vollendung und nicht die Möglichkeit (oder Potenz) das bewegende Moment sein müsse. Als Antwort verweist Ibn Bāǧǧa auf ein beobachtbares Phänomen: Der fallende Stein wird schneller, je mehr er sich der Erde nähert. Dies liege daran, dass die Möglichkeit um so geringer sei, je näher der Stein der Erde komme, denn er sei ja dann der Vollendung seines Wo-Akzidenzes näher. Wäre nun die Möglichkeit der Beweger, dann müsste man ein ganz gegensätzliches Geschehen beobachten, denn wenn 196Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 16–186, 6; Zitat 186, 3f. 197Vgl. N I. 14 und Kapitel 5, Abschnitt 3.
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der Beweger schwächer wird, müsste schließlich auch die Bewegung schwächer werden.198 Diese Anwendung von Ibn Bāǧǧas Theorie die »Potenz zur natürlichen Bewegung« betreffend, macht augenfällig, dass die Form niemals wie eine aktive Potenz bewegt, sondern wie eine Zielursache, die stärker wird, je näher der Körper seinem Ziel kommt. Eine weitere Frage betrifft den Zustand des unbelebten Körpers, wenn er seinen natürlichen Ort erreicht hat. Ohne weitere Einwirkung wird er sich jetzt nicht mehr bewegen, da er seine Vollendung verwirklicht hat. Kann man ihm also keine Potenz zur Bewegung zu seinem natürlichen Ort mehr zuschreiben? Wenn das aber der Fall ist, hat er dann nicht seine Natur verloren, die doch als Prinzip der Bewegung bestimmt worden war? Unter den griechischen Kommentatoren wurde diese Frage in Begriffen der »Inklination« diskutiert: Hat ein Element an seinem natürlichen Ort noch eine Inklination zu diesem Ort?199 Ibn Bāǧǧa stellt und beantwortet zwar explizit weder die eine noch die andere Frage, aber seine Unterscheidung zwischen Potenz (quwwa) im engeren Sinne und dem umfassenderen Begriff der Disposition (šaʾn) hält dennoch eine Antwort bereit.200 Zwar wird die Potenz durch die Vollendung vollends aufgehoben, nicht jedoch die Disposition überhaupt, und diese Disposition verankert Ibn Bāǧǧa eben in der Materie. Übertragen wir das auf die Ortsbewegung, so können wir sagen, dass der auf der Erde liegende Stein zwar keine Potenz zu seinem natürlichen Wo, unten, mehr besitzt, von seiner Materie her aber dazu disponiert ist, solch eine Potenz erneut zu besitzen, sei es dadurch dass der Stein in etwas anderes umgeformt wird, sei es, dass er durch Zwang nach oben befördert wird. Die Disponiertheit dazu hat er auf Grund seiner Materie jederzeit, und obgleich dies nicht »natürlich« im strengsten Sinne ist, gehört es doch zur Natur des Steins qua Materie. Alle natürlichen Seienden sind aber wesentlich materiell, ihre Formen können nur in Materie vorkommen. Daher besitzen sie auch immer die Disposition, sich zu ihrem natürlichen Ort zu bewegen, selbst wenn sie sich an diesem natürlichen Ort befinden. Auch dies macht noch einmal klar: Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Bewegung stützt sich allein auf die Potenz, insofern sie auf einen Akt bezogen ist, er fasst die Potenz nicht als Kraft.
198Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 185, 10–13; mit MS B, f. 63r [arab.] ist in Zeile 113, 11 wa-ḍaʿafat statt wa-ṣaʿubat zu lesen. 199Vgl. Ruth Glasner, Gersonides’s Theory of Natural Motion, in: Early Science and Medicine 1 (1996), 151–203, hier 168–176. Themistios meint, die Körper dürften an ihrem natürlichen Ort keine Inklination mehr besitzen, sonst würden sie sich nicht hin zu diesen Orten, sondern vielmehr von ihnen weg bewegen. Damit kann Alexander nicht übereinstimmen, da er die vollständig realisierte Inklination mit der vollständig realisierten Schwere und Form identifiziert. 200Siehe dazu Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 157, 2–158, 3; Lettinck, Aristotle’s Physics, 596f.
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3. Interaktion und Erschöpfung Im vorstehenden Abschnitt haben wir uns ausschließlich mit Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung befasst. Wir haben dabei jedoch gesehen, dass Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles einen grundsätzlichen Unterschied zwischen natürlichen Bewegungen und solchen macht, die durch »Zwang« oder Gewalteinwirkung eines Körpers auf einen anderen zustande kommen.201 Diese Fremdbewegungen sind jedoch ein wichtiger Gegenstand der aristotelischen Physik, etwa wenn es darum geht zu beweisen, dass es einen ersten Beweger geben muss; Aristoteles führt in diesem Zusammenhang Bewegungsketten im Bereich der Ortsbewegung als deutliches Beispiel an.202 Für die Fremdbewegung gelten Bedingungen, die auf die natürliche Bewegung, wie gesehen, nicht zutreffen: Der Beweger und das Bewegte müssen einander berühren, solange die Bewegung andauert. Das macht es für Aristoteles notwendig, zur Erklärung der Projektilbewegung, also der Bewegung geworfener Körper, die nach einem Anstoß den Kontakt mit ihrem Beweger verlieren, für den Erhalt der Bewegung auf das durchquerte Medium zurückzugreifen: Der Beweger setzt nicht nur den bewegten Körper, sondern auch die anschließenden Teile des Mediums in Bewegung, die dann eine sukzessive Übertragung der Bewegung ermöglichen.203 Die Bewegung im Verhältnis zum Medium, das sie durchquert, spielt auch in einem anderen Zusammenhang eine Rolle, nämlich in Aristoteles’ Argumentation gegen die Möglichkeit eines Vakuums. Aristoteles setzt die Geschwindigkeiten, die ein Körper bei der Bewegung durch verschiedene Medien hat, in Beziehung zur Dichte des Mediums und schließt aus der Beobachtung, dass die Bewegung desto schneller ist, je dünner das Medium ist, dass die Bewegung durch einen leeren Raum zeitlos sein müsste. Da eine zeitlose Bewegung nicht möglich ist, kann es kein Vakuum geben.204 Über Ibn Bāǧǧas Behandlung dieser die Fremdbewegung betreffenden Theoriestücke ist bereits recht ausführlich gearbeitet worden, und zwar ausgehend von seiner kritischen Stellungnahme zu der zuletzt referierten Argumentation, die von Ibn Rušd in seinem Großen Kommentar zur Physik dargestellt, zitiert und zurückgewiesen worden ist, dann aber bei den lateinischen Lesern dieses Kommentars ein beträchtliches positives Echo gefunden und vermutlich Galileos Überlegungen, die am Anfang der Neuen Physik stehen, angeregt hat. – So jedenfalls hat es E. A. Moody in einem einflussreichen Aufsatz dargestellt.205
201Siehe auch Aristoteles, Physik, IV. 8, 215a1–4. 202Vgl. Aristoteles, Physik, VII. 1, 242a49–54. 203Aristoteles, Physik, VIII. 10, 266b28–267a12. 204Vgl. Aristoteles, Physik, IV. 8, 215a24–216a26. 205E. A. Moody, Galileo and Avempace. The Dynamics of the Leaning Tower Experiment, in: Journal of the History of Ideas 12 (1951), 163–193; 375–422.
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Vor diesem Hintergrund hat die »Dynamik« Ibn Bāǧǧas, wie sie Shlomo Pines genannt hat, ein reges Interesse gefunden. Viele der in diesem Zusammenhang aufgestellten Thesen über Abweichungen Ibn Bāǧǧas von Aristoteles, die angeblich auf Entwicklungen der Neuen Physik vorausdeuteten, sind inzwischen als unhaltbar erwiesen worden. Es hat sich gezeigt, dass Ibn Bāǧǧa in beinahe allen Punkten Aristoteles folgt, ja dass er ihn bewusst verteidigt, beziehungsweise zu verteidigen meint, selbst dort, wo er tatsächlich von ihm abweicht.206 Insofern es uns hier nicht um eine vollständige Darstellung aller die Bewegungen betreffenden Lehren Ibn Bāǧǧas geht, sondern um das Konzept der Potenz, das er in diesen zugrunde legt, sollen im Folgenden die reichlich Stoff zur Diskussion bietenden Deutungen dieser Lehren großenteils übergangen werden. Ich konzentriere mich ganz auf die Frage, wie sich in dem Übergang von der natürlichen Bewegung zur Fremdbewegung Ibn Bāǧǧas Begriff der Potenz verhält, insbesondere ob überhaupt ein einheitlicher Begriff der Potenz Anwendung findet. Dies nämlich ist Shlomo Pines einflussreiche These über »die Dynamik Ibn Bāǧǧas«, dass er miteinander unvereinbare Begriffe der Potenz, der δύναμις, die in Aristoteles’ Physik an verschiedenen Stellen zum Einsatz kämen, vereinheitlicht habe. Pines, der sich mit einer Passage aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zu Buch VII der Physik beschäftigt hat, wo Aristoteles die Vergleichbarkeit von Veränderungen (Bewegungen) behandelt,207 geht davon aus, dass dort δύναμις eher im Sinne einer Kraft verwendet werde, während sie in anderen Zusammenhängen – wie etwa der natürlichen Ortsbewegung – sowie im aristotelischen Korpus als Ganzen als reine, auf den Akt bezogene Potentialität verstanden werde.208 Hier, so Pines, hat Ibn Bāǧǧa ein einheitlicheres Potenzmodell entwickelt und etwa die natürliche ebenso wie die gewaltsame Bewegung durch eine »aktive bewegende Kraft« erklärt.209 Pines’ These in ihrer allgemeinen Tragweite für Ibn Bāǧǧas Potenzbegriff können wir erst diskutieren, wenn wir sein Konzept aktiver (und passiver) Potenzen und seine Behandlung des aristotelischen Potenz-Akt-Modells geklärt haben.210 Hier beschränken wir uns zunächst auf die Rolle der Potenz in der Bewegungstheorie. Da fällt nun sofort auf, dass die von Ibn Bāǧǧa gegebene Erklärung der natürlichen Ortsbewegung, wie wir sie im vorigen Abschnitt auf einer breiten Basis von Texten rekonstruiert haben, klar belegt, dass Pines zumindest in diesem Punkt unrecht hat: Ibn Bāǧǧa erklärt die natürliche Ortsbewegung nicht 206Dies ist zuletzt gezeigt von Abel B. Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, in: Journal of the History of Ideas (2004), 521–546, der auch einen guten Überblick über die verschiedenen Themenfelder gibt. 207Aristoteles, Physik, VII. 4–5. 208Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 450f. 209Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 452: »une force motrice (kinétiké dynamis) active.« 210Siehe Kapitel 8, Abschnitt 1.
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durch eine aktive Kraft, sondern genau wie Aristoteles durch die Potentialität, die ein Körper in Bezug auf seinen natürlichen Ort als Moment seiner Aktualität besitzt. Wenn nun dieser Teil von Pines’ Überlegung nicht haltbar ist, dann müssen wir aber eine andere Erklärung für die Aussagen Ibn Bāǧǧas finden, auf die er seine Einschätzung gestützt hat. Diese Äußerungen betreffen die Einwirkungen bewegter Körper aufeinander sowie die Wirkung des Mediums – das ja selbst ein Körper ist – auf den bewegten Körper. Ein Stück weit sorgt hier bereits das oben erreichte Verständnis von Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung für Aufklärung. Das lässt sich am Fall der Argumentation gegen das Vakuum gut zeigen. Ibn Bāǧǧas Kritik an dieser Argumentation, die er allerdings als ein Missverständnis der aristotelischen Position betrachte (wa-laisa ḏālika ʿalā mā yuẓannu min raiʾihī),211 findet sich im Kommentar zu Buch VII, also nicht direkt im Zusammenhang mit den Ausführungen zum Vakuum, offenbar wegen der gegebenen thematischen Bezüge zu den Wirkungen eines Körpers auf den anderen. Die betreffende Passage ist daher Teil des Textes, den Pines zur Grundlage seiner Folgerungen gemacht hat.212 Ibn Bāǧǧa widerlegt die skizzierte Argumentation, so hat man gesagt, durch ein Gegenargument und ein Beispiel.213 Das Beispiel betrifft die Bewegung der Himmelskörper, die nicht in einem Medium stattfindet, da ja die himmlische Welt aus einem einzigen »Element«, der Quintessenz, besteht. Dennoch ist die Bewegung der Himmelskörper nicht zeitlos, sondern die verschiedenen Sphären bewegen sich mit mehr oder weniger großer Geschwindigkeit. Das Gegenargument lautet: »Wenn das so wäre, wie sie annehmen, dann bestünde die natürliche Bewegung auf Grund von Zwang. Denn wenn kein Zwingendes oder Widerstand Leistendes da wäre, wie sollte dann eine Bewegung entstehen.«214 Das lässt sich folgendermaßen ausdeuten: Wenn allein das Medium dafür sorgte, dass sublunare Bewegungen nicht zeitlos geschehen, was unmöglich ist, dann könnte es überhaupt keine natürlichen Bewegungen geben. Vorausgesetzt ist dabei nämlich erstens die totale Dichotomie gewaltsamer und natürlicher Bewegungen, die Aristoteles aufstellt, und zweitens seine Beschreibung des Mediums, 211Die relevante Passage findet sich in Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 144, 1–16; es gibt eine (schon von Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 450, Anm. 35 bemerkte) Auslassung, die sich nur anhand von Ibn Rušds Zitat (IV c. 71, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, f. 74ra39–41) rekonstruieren lässt: in Zeile 144, 15 ist nach al-mutaḥarrik einzufügen »cum igitur fuerit nobilior, tunc illud quod movetur ab eo erit velocius«. Nur die letzten Worte dieses Satzes – fa-huwa yataḥarraku asraʿ – finden sich in den arabischen Handschriften. MS B, f. 41v [arab.] hat allerdings an dieser Stelle ein Einfügungszeichen und eine Marginalie, die aber nicht mehr zu lesen ist. 212Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 448–450 umfasst die Übersetzung dieses Abschnitts. 213Vgl. Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 531. 214Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 144, 7f.
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dass es Ursache der Bewegung sei, insofern es sie behindert.215 Wenn das nämlich meinte, dass die Bewegung ohne die Behinderung durch das Medium, also den Zwang, den dieses auf den bewegten Körper ausübt, gar nicht stattfände, dann gäbe es keine Bewegungen ohne Zwang und natürliche Bewegungen entstünden per impossibile »auf Grund von Zwang«. Nun hat die bisherige Forschung zwar die Annahme, Ibn Bāǧǧa erkläre die natürliche Ortsbewegung anders als Aristoteles durch die Natur der bewegten Körper als aktives Bewegungsprinzip, bereits zurückgewiesen.216 Allerdings nur auf Grund solcher Stellen, die zeigen, dass er mit Aristoteles den Erzeuger und das Hindernisaufhebende als Ursachen der Ortsbewegung benennt, und ohne befriedigende Erklärung für die Stellen, an denen Ibn Bāǧǧa die Natur als Beweger anführt, beziehungsweise, was wichtiger ist, ohne seine Theorie soweit zu analysieren, dass aus positiven Gründen klar würde, warum die natürliche Ortsbewegung eine endliche Geschwindigkeit hat, unabhängig davon, ob sie behindert wird oder nicht. Da man andererseits einhellig der Meinung ist, dass man die von Ibn Bāǧǧa kritisierte Position tatsächlich Aristoteles selbst zuschreiben muss,217 besteht demnach noch immer die Frage, wie sich seine Auffassung bezüglich des Verhältnisses der natürlichen Bewegung zum Medium überhaupt in eine aristotelische Konzeption der Bewegung einpassen lässt. Wenn wir nun Ibn Bāǧǧas im vorigen Abschnitt rekonstruierte Auffassung zugrunde legen, dass die natürliche Ortsbewegung deshalb Zeit benötigt – und nur dadurch überhaupt eine Bewegung ist –, dass der bewegte Körper die Mittelpunkte zwischen den Gegensätzen oben/unten durchqueren muss, dann haben wir einen positiven Grund dafür, warum er die (natürliche) Bewegung im Medium nicht per se für unmöglich halten muss. Ibn Bāǧǧa weiß nämlich genau, was statt des Mediums für die Endlichkeit der natürlichen Bewegung sorgt. Aus dieser Lösung ergibt sich eine kritische Nachfrage. Sie betrifft das von Ibn Bāǧǧa angeführte Gegenargument. Wenn nämlich das Medium tatsächlich die natürliche Bewegung behindert und nicht zu ihrer Möglichkeit beiträgt, ist dann nicht dennoch jede natürliche Bewegung eine gewaltsame Bewegung, da sie de facto immer in einem Medium stattfindet (weil es aus anderen Gründen kein Vakuum gibt)? Die Antwort muss hier zwei Dinge umfassen: Auf der einen Seite stimmt es offenbar, dass laut Ibn Bāǧǧa jede Bewegung durch ein Medium, also auch die natürliche, durch die »Potenzen der Kohäsion« (quwā ttiṣāl) des 215Aristoteles, Physik, IV. 8, 215a29; Arisṭūṭālīs, al-Ṭabīʿa. Tarǧama Isḥāq Ibn Ḥunain, ed. Badawī, 364: fa-l-šaiʾ allaḏī bi-tawassuṭihī takūnu al-ḥaraka yakūna sababan min qibali annahū qad yaʿūquhā. 216Vgl. Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 538–540. 217Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 299f; Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 537. Ibn Bāǧǧa schreibt die von ihm kritisierte Interpretation in einem der von Lettinck (691) edierten Fragmente aus MS B al-Ġazālī zu, in dessen Maqāṣid al-falāsifa Lettinck (300) sie nachgewiesen hat.
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Mediums eine »Verzögerung« (buṭʾ) erfährt,218 denn das Bewegte muss das Medium durchqueren, indem es es »zerteilt« (yataḫarriq).219 Das bedeutet also, dass tatsächlich alle beobachtbaren realen Bewegungen keine »rein« natürlichen Bewegungen sind, sondern ein Moment des Zwanges beinhalten. Auf der anderen Seite macht sie das nicht zu Bewegungen »auf Grund von Zwang« (bi-l-qasr), denn der Zwang modifiziert die Bewegung nur, er verursacht sie nicht. Das ist dann auch in bester Übereinstimmung mit Aristoteles’ Aussage, dass das Medium Ursache der Bewegung ist, insofern es sie behindert. Dies meint dann eben nicht Ursache der Bewegung überhaupt, sondern (Mit-)Ursache der resultierenden Bewegung. Damit ist schon klar, dass natürliche und Fremdbewegung in Ibn Bāǧǧas Modell miteinander in Berührung kommen können, ohne dass er die natürliche Bewegung als wirkende Kraft fasst. Jedoch, und hier müssen wir unsere Untersuchung fortsetzen, ist noch nicht wirklich deutlich, wie das sein kann. Denn wenn die Ursachen für die natürliche und die Fremdbewegung so unterschiedlich sind, nämlich Potenz-Akt-Spannung hier und »Zug, Stoß, Mitnahme, Drehung« dort,220 wie ist es dann möglich, dass sie einander behindern können, wie kann man sie überhaupt vergleichen? Dass in beiden Fällen ein vergleichbarer »Bewegungsimpuls« (ῥοπή) vorhanden ist, davon geht offenbar auch Aristoteles aus.221 Aber nicht seine, sondern nur Ibn Bāǧǧas Rechtfertigung für diese Annahme wollen wir hier näher untersuchen. Ein geeigneter Ausgangspunkt dafür scheint jene Bemerkung Ibn Bāǧǧas zu sein, die er im Zusammenhang mit der Definition der Bewegung macht, und die angesichts der – berechtigten – Feststellung, dass Ibn Bāǧǧa die von Philopo-
218Lettinck, Aristotle’s Physics, 548f spricht von mehreren möglichen Deutungen von buṭʾ (im Lateinischen des Großen Kommentars tarditas), die mir keinen wirklichen Unterschied zu machen scheinen. Für unsere Fragestellung jedenfalls sind sie ohne Bedeutung, denn auch Lettinck behauptet eindeutig: buṭʾ »is a retardation, or an (extra) ›slowness‹ due to the medium«. 219Dieses Verb benutzt Ibn Bāǧǧa an anderer Stelle in Bezug auf die Bewegung des Projektils, dass die Luft gerade nicht »zerteilt«, weil diese sich schneller bewegt, als sie »zerteilt« werden kann. Deshalb können die Luftpakete das Projektil vorwärts stoßen; vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 229, 7–230, 2, insbesondere 229, 16–19. Diese Aussage ist in Lettincks Paraphrase von Ibn Bāǧǧas Kommentar (Lettinck, Aristotle’s Physics, 630f ) ausgelassen und fehlt daher auch bei Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 533–533, da er Lettincks Paraphrase fälschlich für eine vollständige Übersetzung hält (Franco, 522). Ich halte es für gerechtfertigt, die Idee des Zerteilens des Mediums auch auf den Fall der natürlichen Ortsbewegung anzuwenden, denn das erklärt, warum Ibn Bāǧǧa ausgerechnet von einer Potenz der »Verbindung« (ittiṣāl) oder »Kohäsion« auf Seiten des Mediums spricht. Lettinck, 543, Anm. 1 hat Mühe, diese Wortwahl zu erklären. 220Zu diesen Ursachen einer von außen induzierten Ortsbwegung vgl. Aristoteles, Physik, VII. 2, 243a11–b16. 221Vgl. Aristoteles, Physik, IV. 8, 216a19f, wo natürliche Ortsbewegung (φορά) und das Geworfenwerden als zwei mögliche Ursachen der ῥοπή nebeneinander genannt werden.
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nos aufgebrachte sogenannte Impetustheorie der Bewegung nicht übernimmt,222 einiges Kopfzerbrechen bereiten kann.223 Ibn Bāǧǧa sagt nämlich: [T 31] »Die Bewegung [ḥaraka] ist das Bewegtwerden [taḥarruk], insofern es abstrahiert vom Subjekt bezeichnet wird, und sie ist wie eine Spur [aṯar], die der Beweger im Bewegten deponiert [yūdaʿ].«224 Inwiefern kann Bewegung als eine »Spur« oder »Wirkung« betrachtet werden, die im bewegten Körper vorliegt? Und insbesondere: Wie kann das auf die natürliche Bewegung zutreffen, wo kein äußerer Beweger überhaupt eine Wirkung hinterlässt? Denn die Natur oder Form als Bewegursache ist mit dem Bewegten substantiell identisch, und der Erzeuger der Form verursacht die Bewegung auch nicht wie eine Wirkursache, sondern nur vermittels der Form. Indessen kann bereits die Passage von Ibn Bāǧǧas Physikkommentar, die direkt auf die soeben untersuchte Diskussion zur Bewegung im Medium folgt, uns einer Lösung annähern.225 Ibn Bāǧǧa unterscheidet dort zwischen drei verschiedenen »bewegenden Potenzen« (quwā muḥarrikāt): »Körper« (ǧism), »körperlich« (ǧusmānī) und »Seele« (nafs). Er geht nämlich von Aristoteles’ Aussage in Buch VI aus, dass die Bewegung mit dem bewegten Körper teilbar ist,226 und will nun deutlich machen, dass das zwar auch für manche aber nicht für alle Beweger und darum nicht für jede »bewegende Potenz« gilt. Es gelte, sagt er, für Körper, die »dem Wesen nach Teile haben« und für solches, das »durch die Körper existiert« – offenbar die »körperlichen« Potenzen oder, wie er auch noch sagt, diejenigen, die »in Körpern ausgebreitet sind« (šāʾiʿa fī aǧsām). Dagegen gilt es eben nicht für Seelen oder allgemeiner, wie eine spätere Stelle zeigt, für »die Form des Zusammengesetzten« (ṣūrat al-murakkab), die »ganz im Ganzen ist«.227 Ibn Bāǧǧas Beispiele für teilbare bewegende Potenzen sind nun äußerst wichtig für unsere Fragestellung: »Die Wärme, wenn sie in einem größeren Körper ist, wärmt einen größeren Körper, und die Wärme wird durch die Teilung des warmen Körpers geteilt. Ebenso bewegt die Schwere den Stein und wird durch seine Teilung geteilt. Bewegende Potenzen wie diese sind teils Körper und teils körperlich.«228 Mir scheint, dass man die beiden Beispiele auf die Kategorien »Körper« und »körperlich« verteilen muss, wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, Körper als »bewegende Potenz« zu bezeichnen. Von der Schwere nämlich 222Vgl. Lettinck, Aristotle’s Physics, 549. 223So bei Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 535f. 224Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 32, 7f. Laut Lettinck, Aristotle’s Physics, 212 findet sich bei anderen Kommentatoren keine vergleichbare Aussage. 225Zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 144, 17–145, 5. 226Vgl. Aristoteles, Physik, VI. 4, insbesondere 234b21. 227Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 146, 9–12. 228Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 144, 19–145, 1.
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hatten wir gesehen, dass sie die Form des Elements ist, das sich nach unten bewegt, sie definiert es also als Körper und »ist« deshalb gleichsam dieser Körper. Die Wärme dagegen ist eine Eigenschaft, die einem Elementarkörper zukommt.229 Wenn Ibn Bāǧǧa die Schwere also in analoger Weise als Ursache der Bewegung betrachtet wie die Wärme als Ursache des Erwärmens, dann wird immerhin verständlich, wie sie »im« Körper vorliegen kann und warum es die Möglichkeit gibt, verschieden starke Potenzen, den Körper in Bezug auf den Ort zu bewegen, zu unterscheiden. Ebenso wie im Fall der Wärme gilt dann nämlich, dass ein größerer Stein schneller fällt als ein kleiner und sozusagen eine »größere« Potenz hat. Dazu muss die Potenz nicht als Kraft aufgefasst werden, denn streng genommen ist nicht die Potenz mehr oder weniger groß, sondern die körperliche Substanz, der sie angehört.230 Die Gegenüberstellung der beiden Beispiele macht indes auch die Unterschiede nochmals deutlich: Mit der Wärme bewegt nämlich der warme Körper einen anderen Körper, mit der Schwere dagegen bewegt der Stein sich selbst. Nur die Wärme erscheint daher hier tatsächlich als aktive Potenz, und die gemeinsame Bezeichnung als »bewegende Potenzen« kann daher zwar für die genannten Gemeinsamkeiten stehen, aber die grundsätzliche Differenz auch nicht verdecken. Es bleibt daher weiter zu fragen, in welcher Perspektive natürliche und Fremdbewegung im gleichen Sinne als »Spur« im bewegten Körper erscheinen können. Die Antwort darauf wird endgültig sichtbar aus einer Passage von Ibn Bāǧǧas Kommentar zu Buch VIII, in der er die Ergebnisse voriger Abschnitte in handlicher Formulierung zusammenfasst. Dort heißt es: [T 32] »Zu dem, was er vorher niedergelegt hat und was auch von selber klar ist, gehört, dass die Bewegung eine aktive Potenz ist, sie ist nämlich wie die Hitze und die Kälte und die übrigen aktiven Potenzen. Denn das Eis kühlt durch die Kälte, die in ihm ist, und das Feuer erhitzt durch die Hitze, die in ihm ist, und der Stab bewegt durch die Bewegung, wenn sie in ihm ist. Ebenso wie nicht jedes Feuer jedes beliebige Holz verbrennt, das sich ihm nähert, so bewegt auch der Stab nicht jeden beliebigen Stein, auf den er stößt.«231 Auf den ersten Blick könnte dieser Text wie eine Bestätigung von Pines’ These aussehen, dass Ibn Bāǧǧa die Bewegungstheorie im Zeichen der Potenz als aktive Kraft vereinheitlicht. Ganz abgesehen aber von dem Sinn, den Ibn Bāǧǧa dem Begriff der »aktiven Potenz« gibt und von dem wir im folgenden Kapitel zeigen werden, dass er nicht als ein Kraft zu deuten ist, deutet diese Aussage näher betrachtet eine ganz andere Vereinheitlichung in der Erklärung natürlicher 229Zu dieser Frage siehe unten, Kapitel 8, Abschnitt 3. 230Vgl. dazu N III. 8f und Kapitel 8, Abschnitt 4. 231Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, hg. Ziyāda, 176, 7–12.
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und gewaltsamer Ortsbewegungen an. Denn es ist nicht die Form Schwere, die Ibn Bāǧǧa hier eine aktive Potenz nennt, sondern vielmehr die Bewegung selbst. Es geht also nicht um die Potenz, die die Bewegung verursacht, sondern um die Potenz, die das In-Bewegung-Sein einem Körper verleiht und mit der dieser dann auf andere Körper einwirken kann. Die Bewegung selbst ist, wie es in der zuvor untersuchten Textpassage hieß, »eine Spur, die der Beweger im Bewegten deponiert« (T 31). Man kann nun sehen, inwiefern dies – mutatis mutandis – sowohl für die natürliche wie für die Fremdbewegung gilt. Zunächst gilt in Bezug auf das beobachtbare Phänomen der Bewegung, dass es für die Potenz, die der Stock aus Ibn Bāǧǧas Beispiel hat, einen bestimmten Stein zu bewegen, keine Rolle spielt, ob er sie deshalb besitzt, weil er kraft seiner Schwere eine natürliche Fallbewegung ausführt und den am Boden liegenden Stein trifft, oder ob er von einem Menschen gegen den Stein geschlagen oder geworfen wird. Formal kann man sagen, dass der »Beweger« Schwere in vergleichbarer Weise die aktive Potenz der Bewegung im Stock deponiert wie derjenige, der den Stock stößt. Denn es handelt sich, das muss dabei noch einmal betont werden, nicht um die Bewegung im Sinne der Bewegungsursache, sondern um die Bewegung als Prozess, als Ergebnis dieser Verursachung. Damit stimmt überein, dass Ibn Bāǧǧa als Spur nicht das »Bewegen« (taḥrīk) bestimmt hat, sondern das »Bewegtwerden« (taḥarruk). Natürliche und Fremdbewegungen werden also nach Ibn Bāǧǧas Analyse durch sehr verschiedene Potenzen verursacht: Die Fallbewegung des Steins beruht in einer Hinsicht auf ihrer Potentialität in Bezug auf ihr Wo-Akzidenz oder – was das selbe aus anderer Warte beschreibt – durch die »bewegende Potenz« der Schwere, die Form des Steins und so internes (passives) Prinzip seiner Bewegung ist.232 Die Bewegung des gestoßenen Steins beruht dagegen auf der – allerdings dauernden Kontakt verlangenden – Übertragung der Bewegung als einer aktiven Potenz. Es fällt sofort ins Auge, dass damit am Anfang jeder Bewegungskette eine natürliche Bewegung stehen muss, denn Bewegung als aktive Potenz könnte sonst gar nicht erst entstehen. Aber nicht das ist der Punkt, der uns hier beschäftigt. Wichtig ist vielmehr, dass trotz der unterschiedlichen Potenzen, die sie jeweils verursachen, alle natürlichen und gewaltsamen Bewegungen nun im Prinzip vergleichbar sind und in Wechselwirkung treten können. Damit sind wir bei der zweiten wichtigen These von Pines über Ibn Bāǧǧas »Dynamik« angelangt, nämlich dass sie, anders als die aristotelische, die in der Klassischen Mechanik bedeutsam werdende Idee beinhaltet, dass ein bewegter 232Das stimmt nicht ganz genau. Im strengen Sinne ist die Schwere nur Form des Elements Erde, während der Stein als homoiomerer Körper eine eigene Wesensform hat, zu der die Erde als in seine Mischung eingehendes Element die Potenz der Schwere beisteuert, die für den Stein also nur ein wesentliches Akzidenz ist. Vgl. dazu die Ausführungen zur Mischung in Kapitel 8, Abschnitt 4.
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Körper auf seinen Beweger zurückwirkt. Pines hat das an Ibn Bāǧǧas Konzept der »Erschöpfung« (kalāl) festgemacht.233 Diese Einschätzung wird von der bisherigen Forschung geteilt,234 auch wenn sie die Tragweite der von Ibn Bāǧǧa eingeführten Reaktion des bewegten Körpers deutlich geringer einschätzt und auf die Verwurzelung des Konzepts der Erschöpfung in der aristotelischen Kommentartradition verweist.235 Es ist für unseren Zusammenhang nicht nötig, auf das Thema der Erschöpfung in all seinen Verzweigungen und mit seinen Quellen einzugehen, sondern zunächst einmal nur, an zwei Beispielen vorzuführen, wie Ibn Bāǧǧa sich die Reaktion des Bewegten auf den Beweger denkt. Das erste Beispiel kann dem Buch der Seele entnommen werden: Ibn Bāǧǧa äußert sich dort im Zusammenhang mit Überlegungen zur Transformation verschiedener Elementarkörper ineinander (N III. 5), die dadurch eintritt, dass von den entgegengesetzen Potenzen dieser Körper warm/kalt die eine die andere in der ihnen gemeinsamen Materie verdrängt. Dies setzt natürlich voraus, dass eine Potenz in gewissem Sinne »größer« ist als die andere, und wie wir es hier bereits gesehen haben und in Kapitel 8, Abschnitt 4.5. ausführlicher analysieren werden, kommen diese Unterschiede den Potenzen nur mit bestimmten Einschränkungen zu (N III. 8). Vor allem präzisiert Ibn Bāǧǧa nun, dass die Verdrängung nur dort möglich ist, wo die »nahe« also die unmittelbare Materie dieselbe ist, also zwischen Körpern derselben Gattung, etwa zwischen den Elementen. Zwischen Körpern, die nicht dieselbe nahe Materie haben, etwa zwischen einem Handwerker und einem Stück Holz, das er bearbeitet, besitzt das Holz als bewegter Körper nicht die Fähigkeit, auf den Handwerker in derselben Weise einzuwirken, wie dieser auf das Holz. Dagegen kann es (durch seinen Widerstand) zur »Ermüdung« des Handwerkers führen. Dass diese Rückwirkung überhaupt möglich ist, erklärt Ibn Bāǧǧa, liegt daran, dass Holz und Handwerker zwar keine gemeinsame »nahe« wohl aber dieselbe »ferne« Materie haben. Die stattfindende Rückwirkung und die durch sie verursachte Ermüdung zeigen sich damit als identisch mit dem uns bereits bekannten Verhältnis zwischen dem bewegten Körper und dem von ihm durchquerten Medium. Die »Ermüdung« ist damit nichts anderes als der Extremfall der oben dargestellten »Verzögerung«, von der wir ja gesehen haben, dass sie in Übereinstimmung mit den Annahmen des Aristoteles steht. Der entscheidende Punkt an Ibn Bāǧǧas Ausführungen zur Erschöpfung im Physikkommentar ist daher die von ihm mehrfach festgehaltene und durch ausführliche Beispiele belegte Aussage, dass nicht jede Potenz jeden Körper bewegen kann, sondern dass sie ein bestimmtes Maß 233Ibn Bāǧǧas Ausführungen zur Erschöpfung diskutiert Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 453ff, insbesondere 455–457 zum Fehlen der Reaktion des Bewegten bei Aristoteles. 234Vgl. Franco, Avempace, Projectile Motion, and Impetus Theory, 543 und insgesamt zur Erschöpfung 540–545. 235Siehe dazu die von Lettinck, Aristotle’s Physics, 549f gesammelten Hinweise.
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nicht unterschreiten darf. Sonst wären Potenzen überhaupt nicht beschränkt (maḥdūda).236 Beschränkt sind Potenzen aber offensichtlich, wie die Beobachtung und unser zweites Beispiel lehrt: »Im Bewegten ist eine bewegende Potenz, und deshalb taumelt der Staub in der Luft und lässt sich nicht selbst nieder, da in ihm keine Potenz vorhanden ist, die Luft zu bewegen, obgleich in ihm eine Potenz vorhanden ist, zu seinem natürlichen Ort bewegt zu werden. Er ist also auf Grund von Zwang in der Luft.«237 Das heißt, der Staub als irdener Körper hat die Potenz zur natürlichen Ortsbewegung nach unten, aber auf Grund seiner geringen Größe ist die Bewegung, die ihm das verleiht, eine zu kleine Potenz, um die Luft zu bewegen, nämlich zu teilen, um den Erdboden zu erreichen. Genau das heißt es eben, gewaltsam aufgehalten zu werden. Und damit ist klar, dass bereits das in der Erklärung der natürlichen Ortsbewegung verwendete Moment des Hindernisses, ja bereits die Konzeption der gewaltsamen Bewegung überhaupt, die Annahme einer Reaktion des Bewegten voraussetzt. Es bleibt damit zwar richtig, dass Ibn Bāǧǧa das Wechselverhältnis entgegengesetzter Potenzen, das Aristoteles nur für die Eigenschaftsänderung formuliert, ausdrücklich auch auf den Bereich der Ortsbewegung anwendet. Aber wahr ist auch, dass bereits Aristoteles, wenn er in De generatione et corruptione I. 6–7 die reziproke Wirkung der Elemente aufeinander erklärt, eine Parallele zwischen Wirken und Leiden einerseits und Bewegen und Bewegtwerden andererseits herstellt (324a25). Insofern Ibn Bāǧǧa dies für die Bewegung als aktive Potenz ausdrücklich macht, entfernt er sich nicht vom aristotelischen Potenzbegriff, sondern wendet diesen systematisierend an.
4. Die Bewegung der Lebewesen Die beiden vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, dass Ibn Bāǧǧa unter Beibehaltung der aristotelischen Erklärungen mit gezielter Betonung des Begriffs der Potenz einerseits die natürliche Ortsbewegung unbelebter Körper überzeugend erläutert und andererseits den gemeinsamen Grund der natürlichen und der Fremdbewegung aufzeigt. Dehnt sich nun dieser systematisierende potenztheoretische Ansatz auch auf die Bewegung der Lebewesen aus? Die folgenden Beobachtungen werden das zu zeigen versuchen. Einen schon recht umfangreichen und präzisen ersten Eindruck davon vermittelt eine Passage aus dem Buch der Seele, die direkt an jene anschließt, die wir im Zusammenhang mit Ibn Bāǧǧas Erklärung der natürlichen Ortsbewegung zitiert haben. Dort hatte Ibn Bāǧǧa betont, dass der Schwere als Beweger im Bewegten 236Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 135, 10–137, 13; 140, 8–12. 237Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 142, 13–143, 1; mit MS B, f. 41v [arab.] ist in Zeile 142, 14 wa-in statt wa-iḏan zu lesen.
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nichts entgegengesetzt ist, da es nur eine Potenz ist, und wir hatten festgestellt, dass damit die Potenz zur Vollendung gemeint ist, die in der vollständigen Verwirklichung der Schwere als Form samt ihrem Wo-Akzidenz »unten« besteht. Ibn Bāǧǧa fährt nun fort: [N I. 5] »Bei den beseelten [Körpern] ist das nicht so. Das Bewegte besitzt nämlich eine Form, durch die es eine bestimmte Tätigkeit hat, und der Beweger bewegt es häufig mit einer Bewegung, die seiner natürlichen Bewegung entgegengesetzt ist – wie etwa das Hochheben der Hand und das Hochspringen –, und dadurch bewegt sich der Körper und bewegt sich nach oben. Daher bewegt die Seele mittels eines Organs, nämlich der angeborenen Wärme oder dessen, was ihr entspricht.« Die Seele, so behauptet dieser Text, bewegt den Körper – zumindest manchmal – entgegen seiner natürlichen Bewegung. Die Seele ist jedoch zugleich als Form bestimmt, die dem Bewegten, dessen Form sie ist, also dem Lebewesen, eben dadurch eine bestimmte Tätigkeit verleiht. Die hier erwähnte »natürliche Bewegung« kann daher nicht die Bewegung meinen, die dem Lebewesen »natürlich«, das heißt seiner Form oder Natur angepasst ist, sondern sie muss wie in den bisher betrachteten Texten die natürliche Ortsbewegung meinen. Diese kam aber nur unbelebten Körpern zu, und als solchen muss Ibn Bāǧǧa den Körper des Lebewesens hier daher betrachten. In seiner Eigenschaft als Körper, abgesehen von der Beseelung, hat der Körper des Lebewesens also eine (oder mehrere) natürliche Bewegungen, insbesondere durch seine Schwere eine natürliche Bewegung durch unten. Dieser Bewegung muss die Seele als eigentümlicher Beweger des Lebewesens entgegenwirken, wenn das Lebewesen Bewegungen machen soll, die ihm als Lebewesen »natürlich« sind.238 Sie tut dies, sagt Ibn Bāǧǧa, mittels der angeborenen Wärme als ihrem Organ. Mit der angeborenen Wärme und auch ihrer Leistung für die Ortsbewegung des Lebewesens werden wir uns in Kapitel 11 ausführlich beschäftigen, wir können diesen Punkt hier also übergehen. Dagegen können wir in Kenntnis des in Abschnitt 3 Gesagten nun feststellen, dass Ibn Bāǧǧa das Zusammenwirken der Körperteile des Lebewesens ganz offenbar nach den selben Grundsätzen analysiert wie die Wechselwirkungen zwischen unbelebten Körpern. Eine knappe Bestätigung dessen erhalten wir in Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik. Dort stellt er fest, der Beweger (die angeborene Wärme, beziehungsweise das angeborene Pneuma) müsse eine bestimmte Potenz haben, damit das Bewegte (etwa die Hand) ein bestimmtes Gewicht heben könne. Und Ibn Bāǧǧa fügt hinzu: »Ebenso gibt es für die zusammengesetzten Glieder [al-aʿḍāʾ al-murakkaba] in Bezug auf
238Vgl. dazu auch Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b17–20.
Die Bewegung der Lebewesen
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das Gewicht ein Verhältnis, in dem sie es notwendigerweise bewegen.«239 Sprich, die untereinander artikulierten Glieder können wie ein Hebelwerk betrachtet werden, in dem die Verhältnisse festgelegt sind, in denen die »bewegende Potenz«, als die wie oben gesehen die Bewegung selbst fungiert, von einem Glied auf das andere übertragen werden muss, um einen bestimmten Bewegungseffekt zu erzielen. Damit ist aber freilich erst ein Aspekt der Bewegung der Lebewesen geklärt und auf dieselben Prinzipien zurückgeführt, die auch die natürlichen und gewaltsamen Bewegungen unbelebter Körper bestimmen. Die wichtigere Frage ist jedoch, ob auch das spezifische Moment der Bewegung der Lebewesen mit diesen naturphilosophischen Prinzipien übereinstimmt. Dieses Spezifikum besteht aber darin, wie wir in Abschnitt 2.1. gesehen haben, dass das Lebewesen »sich selbst« bewegt, und dies war bei Ibn Bāǧǧa ebenso wie bei Aristoteles mit der Tatsache verknüpft, dass sie sich nicht nur selbständig in Bewegung setzen, sondern auch selbständig anhalten oder stillstehen können – etwas, das das unbelebte Naturding nicht vermag.240 Eine ausführliche Besprechung dieser Differenz des Belebten und Unbelebten findet sich in Ibn Bāǧǧas Kommentar zu Physik VII. 3, genauer zu der Passage, in der Aristoteles erläutert, dass es im Bereich der seelischen Zustände, also der als Tugenden und Laster bezeichneten Habitus, keine Eigenschaftsveränderungen gibt.241 Ibn Bāǧǧa lässt sich hier durch das Thema der Tugenden und Laster zu einem Exkurs anregen, in dem, sozusagen in paränetischer Funktion, die unterschiedliche Beherrschung der eigenen Bewegung bei Mineralien (unbelebten Körpern) und Lebewesen erwähnt wird: Der tugendhafte Mensch ist gleichsam spontan oder selbstbewegt in Bezug auf seine Leidenschaften (infiʿālāt), denn er lässt sich von ihnen nur nach freier Wahl (iḫtiyār) bewegen, das heißt, wann er will (matā šāʾa), oder besser, »wenn die Überlegung es angeordnet hat« (iḏan qaḍā l-naẓar bi-…242). Der lasterhafte Mensch gleicht dagegen einem Mineral, das sich notwendig bewegt, wenn der Beweger anwesend ist, weil er gleich ihm »sich der Aufnahme der Einwirkungen fügt« (mutalaqqiyan li-qabūl al-infiʿālāt). Vom Lasterhaften heißt es weiter, dass er in dem Zustand, in dem er der Bewegung (taḥarruk) seitens der Einwirkung ausgesetzt ist, nicht fähig ist stehenzubleiben (lā… qādir… ʿalā l-sukūn), während der Tugendhafte gleichfalls ruht, wann er will.243 Ibn Bāǧǧa stützt diesen Vergleich anschließend mit einem kurzen Resümee zu den unterschiedlichen Bewegungsprinzipien der Mineralien und Lebewesen, 239Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 138, 16. 240Siehe Aristoteles, Physik, VIII. 4, 255a5–7. 241Aristoteles, Physik, VII. 3, 246b20–247a19. 242Für diese Formulierung siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 123, 14f. 243Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 124, 5–19.
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der sich auf die in Physik VIII. 4 gemachte Unterscheidung bezieht, die wir genannt haben. Allerdings ist zuvor noch bemerkenswert und im gegenwärtigen Kontext von großem Interesse, wie er die eigentliche Frage in Bezug auf die Seelenzustände beantwortet.244 Ibn Bāǧǧa übernimmt nämlich zwar im Kern die aristotelische Lösung, dass es sich bei diesen um Relatives (πρὸς τι, muḍāf) handelt, so dass Bewegung in diesem Bereich nicht stattfinden kann, auch wenn die Tugenden und Laster wohl auf Grund von Eigenschaftsveränderung (ʿan istiḥāla) zustande kommen. Damit sind in letzter Instanz Lust (laḏḏa) und Schmerz (aḏan) gemeint, welche »Bewegungen im Wahrnehmenden« (ḥarakatān fī l-ḥāss) sind. Im Detail jedoch geht Ibn Bāǧǧa eigene Wege, denn während Aristoteles den relativen Charakter der Habitus dadurch erläutert, dass die Tugenden als Vollkommenheiten, die Laster als »Ver-Rücktheiten« (ἐκστάσεις) gute beziehungsweise schlechte Zustände in Bezug auf die Leidenschaften seien, bezieht Ibn Bāǧǧa sich genauer auf die aristotelische Ethik mit ihrer Erklärung der Tugenden als »Mitte« (wasaṭ).245 Bei dieser Mitte handelt es sich um eine Vermittlung zwischen einander entgegengesetzten Extremen und eine »Ausgewogenheit in dem Gebrauch, den die natürlichen Vermögen von den seelischen Einwirkungen machen« (iʿtidāl fī stiʿmāl al-quwā al-ṭabīʿīya ʿan al-infiʿālāt al-nafsānīya). Mit natürlichen Vermögen oder Potenzen meint er hier, so erläutert Ibn Bāǧǧa, Potenzen die uns der Natur nach zukommen, wie zum Beispiel der Zorn, also ein Teil des Strebevermögens. Dies ist eine Potenz, zu zürnen und nicht zu zürnen, also – wie man mit der von Aristoteles an anderer Stelle verwendeten Terminologie sagen kann – ein zu einander Entgegengesetztem fähiges »vernunftgemäßes Vermögen«.246 Dieses Vermögen kommt uns der Natur nach zu und ist nicht erworben, erworben und veränderlich ist dagegen der mehr oder weniger große Gebrauch, den wir von den beiden Gegensätzen machen. Durch ihn ergeben sich verschiedene Habitus als verschiedene Relativa, ohne dass man sagen könnte, dass die Änderung von einem zum anderen Verhältnis eine »Bewegung« oder Eigenschaftsveränderung ist. Mit dieser Erklärung der Habitus durch den Gebrauch bestimmter natürlicher Vermögen greift Ibn Bāǧǧa ein weiteres Mal auf den Begriff der Potenz zurück. Damit zeigt sich, dass der gewählte Vergleich der Tugendhaften und Lasterhaften mit der Ortsbewegung der Lebewesen und Elemente so zufällig 244Für das Folgende siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 123, 10–124, 4. 245Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, II. 5–6. Lomba, Lectura de la ética griega por Ibn Bayya, hat damit wohl unrecht, wenn er Ibn Bāǧǧa hauptsächlich mit der platonischen und stoischen Ethik der »Befreiung vom Körperlichen« in Verbindung bringt. Die Hierarchisierung ethischer und dianoetischer Tugenden ist vielmehr ebenso Teil der peripatetischen Tradition, und es zeigt sich hier, dass damit ein originär aristotelischer Tugendbegriff eben gerade nicht beiseite gedrängt, sondern vielmehr vorausgesetzt wird. 246Vgl. Aristoteles, Metaphysik, IX. 5.
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nicht ist und doch auch mehr als Paränese. Vielmehr sind Ibn Bāǧǧa zufolge Tugenden und Laster und allgemein jeder Habitus (malaka) selbst als auf der Tätigkeit bestimmter Potenzen beruhendes Verhältnis zu bestimmen. Sie sind demnach nicht, wie es zunächst erscheinen könnte, etwas völlig anderes als die Bewegungsprinzipien von Lebewesen und Mineralien, sondern zumindest mit den ersten insoweit identisch, als sie deren gute oder schlechte Dispositionen darstellen. Die Prinzipien haben bestimmte Tätigkeiten, die sie »spontan« ausführen oder nicht ausführen können, mit anderen Worten: sich bewegen oder stehenbleiben, und die Tugenden und Laster sorgen dafür, dass sie die Wahl zwischen beidem in guter oder schlechter Weise treffen. Laster bestehen im Extremfall dann gerade darin, dass die doppelseitige Spontaneität verloren geht und der Mensch entweder »seiner Natur nach« oder durch Gewohnheit (ʿāda) bestimmte Einwirkungen notwendig erfährt.247 Man könnte demnach sagen, dass Ibn Bāǧǧa die Analyse ethischer Tugenden in die Bewegungstheorie integriert und mit deren Mitteln betrieben hat: Tugenden und Laster sind Habitus der Bewegungsvermögen. Zur weiteren Erklärung geht Ibn Bāǧǧa, wie gesagt, angelehnt an Physik VIII. 4 auf die Unterscheidung der betreffenden Prinzipien der Bewegung ein, wobei er das Spektrum insofern verfeinert, als er die Pflanzen (al-nabāt) gesondert behandelt und letztlich auch unter den Lebewesen nochmals zwischen nichtrationalen und rationalen unterscheidet.248 Zunächst stellt er fest, dass die »natürlichen Körper« (al-aǧsām al-ṭabīʿīya) – also die zuvor genannten Mineralien (alǧamādāt) und die Elemente – sich »von Natur aus« oder genauer vielleicht »auf Grund der Natur« (ʿan al-ṭabʿ) notwendig zu einem der Gegensätze bewegen. Die Pflanzen dagegen bewegen sich »auf Grund der Nährseele« (ʿan al-nafs alġāḏīya) mit Bewegungen, die einander teilweise entgegengesetzt sind. Pflanzen und Mineralien bewegen sich also beide nicht spontan, Nahrung, Wachstum und Fortpflanzung, die Tätigkeiten der Nährseele, gehören ja, wie wir hinzusetzen können, eben nicht zum Bereich der Ortsbewegung auf den Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles die »Selbstbewegung« des Lebendigen beschränkt hat. Unterscheiden tun sich Mineralien und Pflanzen insofern, wie Ibn Bāǧǧa fortfährt, als die ersteren »sich auf Grund des Prinzips, das in ihnen ist, mit einer der entgegengesetzten Bewegungen bewegen«. Die Pflanzen dagegen führen viele Bewegungen aus, die einander teils entgegengesetzt sind. Den Lebewesen schließlich ist eigentümlich, »sich mit einander entgegengesetzten Bewegungen zu bewegen und stillzustehen durch das Prinzip, durch das sie sich bewegen« (wa-yaskunu bi-l247Siehe zu diesem Punkt Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 124, 11f. 248Für das Folgende siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 124, 18–125, 12. Dabei ist der Text von 125, 1 ka-mā bis 125, 5 ḍarūratan zu streichen, es handelt sich um eine Wiederholung in MS O auf Grund von Homoioteleuton, wie auch aus dem Text von MS B, f. 37r [arab] deutlich wird. Lettinck, Aristotle’s Physics, hat versäumt, diese Korrektur zu notieren.
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mabdaʾ allaḏī bihī yataḥarraku). Daraus folgert Ibn Bāǧǧa nun, dass Mineralien und Pflanzen zwar wie die Lebewesen ein Prinzip der Bewegung in sich haben, jedoch kein »Prinzip der Ruhe, welche jener Bewegung entgegengesetzt ist« (mabdaʾ al-sukūn al-muqābil li-tilka l-ḥaraka). Vom Lebewesen dagegen sagt Ibn Bāǧǧa, dass es »die beiden entgegengesetzten Prinzipien« habe oder auch dass es »beide Prinzipien gleichzeitig« habe. Dies scheint zunächst insofern ein wirklich unglückliches Ergebnis zu sein, als Ibn Bāǧǧa nicht nur nicht erklärt, in welchem Sinne von der Natur des Unbelebten gesagt werden kann, dass sie kein Prinzip der Ruhe ist, mithin die Definition der Natur streng genommen nicht erfüllt,249 sondern nun auch Aristoteles und seinen eigenen vorangegangenen Ausführungen widerspricht, indem er für die Lebewesen zwei Prinzipien einführen will statt eines Prinzips, das Entgegengesetztes bewirken kann. Dieses zweite Problem lässt sich allerdings rasch beseitigen, wenn man darauf achtet, dass Ibn Bāǧǧa ausdrücklich erklärt hat, dass die Lebewesen durch das Prinzip stillstehen, durch das sie sich bewegen; in diesem Sinne haben sie also nur ein Prinzip. Warum dann die irreführende Rede von zwei Prinzipien? Dies wird klar, wenn man sich Ibn Bāǧǧas unmittelbar folgende weitere Erklärung der Bewegung der Lebewesen ansieht: [T 33] »Hieraus wird bald klar, dass das Lebewesen jene Bewegungen immer auf Grund anderer Prinzipien ausführt; es nimmt diese beiden Prinzipien zu zwei [verschiedenen] Zeiten auf [yaqbalu], denn die Gegensätze können nicht zugleich existieren. Wir werden dies im achten [Buch] erklären.«250 Es gibt hier offensichtlich eine Bedeutungsverschiebung in der Verwendung von »Prinzip«. Gemeint ist nicht mehr die Natur oder Seele als Bewegungsprinzip des Körpers, sondern das Prinzip der jeweiligen Bewegung, welches das Lebewesen erst »aufnehmen« muss. Das Prinzip im ersten Sinne bleibt für die Lebewesen eines, das sich in verschiedene Richtungen bestimmen lässt. Die je zwei entgegengesetzten oder, allgemeiner gesprochen, vielen Prinzipien im zweiten Sinne sind es, die diese Bestimmung vornehmen. Ibn Bāǧǧa wird sie in der Folge als passiones (infiʿālāt) identifizieren, womit diesmal nicht so sehr die Leidenschaften im moralischen Sinne gemeint sind, sondern vielmehr ganz neutral jede Affizierung der Seelenvermögen.251 Dementsprechend lautet Ibn Bāǧǧas Aus249Die Natur ist als »Prinzip der Bewegung und der Ruhe« definiert; siehe nochmals Aristoteles, Physik, II. 1, 192b14. 250Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 125, 12–14; mit MS B, f. 37r [arab.] ist in Zeile 125, 13 tilka statt bi-tilka zu lesen. 251Es ist wohl angemessen zu sagen, dass Ibn Bāǧǧa keinen wirklichen Unterschied zwischen beiden Bedeutungen macht, denn die vorangegangene Betrachtung hat ja gezeigt, dass Leidenschaften eben »seelische Einwirkungen« sind, von denen die Bewegungsvermögen sich bestimmen lassen oder eben nicht.
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sage bezüglich der Mineralien auch nicht, dass sie nur ein Prinzip (im ersten Sinne) statt zweier haben, sondern ein Prinzip, dass sich nicht zu »der Ruhe, welche jener Bewegung entgegengesetzt ist«, bestimmen lässt. Dies und der Grund für Ibn Bāǧǧas Schwanken zwischen den beiden Bedeutungen von »Prinzip« wird noch deutlicher, indem er nach Betrachtung des naturphilosophischen Hintergrunds noch einmal auf den Vergleich des Lasterhaften mit der Bewegung unbelebter Körper zurückkommt.252 Er korrigiert diesen Vergleich nämlich insoweit, als er den Lasterhaften jetzt mit dem nichtrationalen Lebewesen und seiner Bewegung vergleicht, allerdings immer noch auf Grund einer Gemeinsamkeit, die diese mit den »natürlichen Körpern« haben: Beide bewegen sich, sobald eine Einwirkung vorliegt (ʿind ḥuḍūr al-infiʿāl). Die Einwirkung hat dabei die gleiche Rolle wie Schwere (ṯiql) und Leichtigkeit (ḫiffa) in den natürlichen Körpern. Allerdings, so bemerkt Ibn Bāǧǧa böse, hat der Lasterhafte eine minderwertigere Existenz als das nichtrationale Tier, weil dieses »von Natur aus dazu beschaffen ist, an Einwirkung das aufzunehmen, wodurch ihm entweder ein guter Zustand oder der bloße Lebenserhalt zukommt«.253 Der Mensch dagegen ist so beschaffen, dass er alle Einwirkungen aufnimmt, weil er durch seinen »praktischen Intellekt« (al-ʿaql al-ʿamalī) die Fähigkeit zu unterscheiden (tamyīz) besitzt; durch diese kann er sich »spontan« bewegen. Selbstbewegung im aller striktesten Sinne ist also laut Ibn Bāǧǧa nur von der Vernunft geleitete Bewegung. Nur der (tugendhafte) Mensch bestimmt sich zur Bewegung angesichts der Einwirkungen, während das nichtrationale Lebewesen von den Einwirkungen zwar zu Gegensätzlichem bestimmt wird, dabei aber eben immer passiv bleibt. Der Lasterhafte trifft es dabei insofern noch schlechter, als er noch nicht einmal zum Guten bestimmt wird. Die Verschiebung zwischen den beiden Bedeutungen von »Prinzip« ergibt sich daraus, dass bei den Lebewesen eine Differenzierung des Bewegungsprinzips vorliegt, die es bei den unbelebten Körpern einfach nicht gibt. Es muss dort nämlich die Seele (Prinzip 1) durch Einwirkungen (Prinzip 2) zur Bewegung bestimmt werden, während Schwere und Leichtigkeit sowohl die Form und Natur der »natürlichen Körper« sind als auch der Einwirkung vergleichbar, weil sie die Bewegung dieser Körper vollständig und eindeutig (d.h. in eine Richtung) bestimmen. Hat man dies festgestellt, dann ist deutlich, warum die Lebewesen, wie Ibn Bāǧǧa in Buch VIII sagt, »sekundär« sehr wohl von außen bewegt werden.254 Bei der Analyse der natürlichen Ortsbewegung haben wir gesehen, dass es Ibn Bāǧǧa nur dadurch gelingt, zu zeigen, wie die »Natur« der unbelebten Naturkörper ihr Bewegungsprinzip sein kann, indem er in ihnen zwei Momente isoliert hat: ein potentielles, das bestimmt wird, und ein aktuelles, das jenes be252Für das Folgende siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 125, 15–23. 253Mit MS B, f. 37r [arab.] ist in Zeile 125, 19 au al-salāma statt wa-l-salāma zu lesen. 254Siehe oben, S. 258.
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stimmt. Ibn Bāǧǧa hat die Schwere als Beweger, die Potentialität des Untenseins als Bewegtes im Stein identifiziert. Die zwei Prinzipien der Bewegung des Lebewesens verhalten sich nun offenbar ganz entsprechend. Dies führt Ibn Bāǧǧa an anderer Stelle seines Kommentars zur Physik auch ganz explizit aus. Nachdem er dort das in Abschnitt 2.3. dargestellte Ergebnis erreicht hat, dass Potenz und Vollendung die beiden für die Bewegung des Unbelebten verantwortlichen Momente sind und dass sie sich zueinander verhalten wie die Teile einer Definition und daher im selben Subjekt vorliegen können,255 stellt er ausgehend von diesem Punkt Zweifelsfragen bezüglich der Ortsbewegung der Lebewesen auf.256 Diese Zweifel gruppieren sich um die Frage, wie das Lebewesen »spontan« oder »von selbst« (min tilqāʾihī) bewegt sein kann, denn das scheint vorauszusetzen, dass Beweger und Bewegtes der Zahl nach identisch, also ebenfalls im selben Subjekt sind. Dies können sie aber, wie andere Überlegungen nahelegen, nicht sein, weil die Orte, zu denen sich die Lebewesen bewegen, ihnen akzidentell sind, ganz im Gegensatz also zu den natürlichen Orten der einfachen Körper. Die Bewegungen zu akzidentellen Orten, das hatte die bisherige Erörterung gezeigt, beruhen aber auf einem Beweger, der »außerhalb des Bewegten« ist. Dass die Orte, zu denen die Lebewesen sich bewegen, ihnen nicht »der Natur nach« zukommen, zeigt Ibn Bāǧǧa, indem er darauf verweist, dass die »Orte« (amkina), die sie zur Herbeischaffung der Nahrung, der Ernährung und der Vermehrung aufsuchen, einander nicht entgegengesetzt sind wie oben und unten, sondern vielmehr in einer Relation (iḍāfa) zueinander stehen, und dass ganz offenbar dem Lebewesen kein bestimmter Ort so von Natur aus zukommt wie etwa den Elementen. »Wären sie einander entgegengesetzt, dann wären [auch] die Potenzen im [Lebewesen] so wie in den natürlichen Körpern. Wenn man die Entsprechung der Potenzen zum Subjekt und zur Vollendung geklärt hätte, dann könnte man dadurch auch auf die Beziehung des Bewegers zum Bewegten kommen.«257 Mit anderen Worten, wären die Orte der Lebewesen ihnen im selben Sinne »natürlich« wie Oben und Unten für die Elemente, dann wäre damit klar, dass sie sich durch ihre Vollendung oder Form zu diesen Orten bewegen, indem diese Vollendung als Zielursache für die unvollendete Potenz, diese Orte zu erreichen, fungiert. Ibn Bāǧǧa bereitet seine Lösung vor, indem er zunächst verschiedene Beobachtungen anführt, die die Unterschiede zwischen den Ortsbewegungen des Belebten und des Unbelebten verringern. Dazu gehört zuerst die Feststellung, dass die Form des Steins ihn nur zu einer »Spezies von den Orten« (nauʿ min
255Siehe oben, S. 308. 256Zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 186, 7–22. 257Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 186, 16–18.
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al-amkina) bestimmt, nicht zu einem individuellen Ort,258 das heißt wohl, nur zu irgendeinem Ort unten, nicht zu einem bestimmten. Damit soll offensichtlich gezeigt sein, dass die Bestimmung des individuellen Ortes auch für die »zielgerichtete« Natur des unbelebten Körpers von außen bestimmt wird. Der zweite Punkt besteht in der Beobachtung, dass zumindest einige natürliche Körper auch bestimmte Orte oder genauer wohl »Spezies von Orten« haben, an denen sie entstehen, zum Beispiel Gold und Silber in Minen.259 Das soll wohl belegen, dass auch hier schon funktional bestimmte Orte vorliegen, wie er sie nun anschließend für die Lebewesen als Regel darstellt. Insofern sich das Lebewesen seiner Natur nach ernährt, ist es disponiert zu einem Ort, an dem es sich ernähren kann, einem Ort, an dem es Nahrung suchen kann, schlafen kann und so weiter. Manchmal kann es verschiedene Tätigkeiten (aʿmāl) an einem Ort ausführen, manchmal muss es verschiedene Orte aufsuchen. [T 34] »Folglich sucht das Lebewesen den Ort nicht, weil er ein Ort ist, sondern wegen einer von diesen [Tätigkeiten]. Jede einzelne von diesen wird begehrt [mutašawwaqa] durch die Natur, die in ihm ist. Wenn es ihn sich vorstellt, dann wird dieses Vorgestellte wie die Form des Steins im Stein; es bewegt sich dadurch zu diesem Ort und ruht an diesem Ort.«260 »Wie die Form des Steins im Stein«, das heißt, so wie die Form des Steins ihn zu seinem natürlichen Ort Unten bestimmt, weil dieses Wo-Akzidenz aus seiner Form folgt, so wird das Lebewesen durch die Vorstellung von einem Ort, den es nicht als Ort, sondern als Ort für eine seiner Lebenstätigkeiten sucht, zu diesem Ort hin bestimmt. Die Vorstellung ist freilich eine »Einwirkung« (infiʿāl) von außen, wie aus der Folge des Textes klar wird, aber das Begehren (tašawwuq) oder besser die verschiedenen Begehren gehören zu seinem Wesen (ḏāt), das das Lebewesen als dieses Seiende (mauǧūd) auszeichnet.261 Die formale Parallele zwischen der Verursachung der natürlichen Ortsbewegung des Unbelebten und der auf »Begehren« beruhenden Bewegung des Lebewesens, die die Seele oder genauer die »Strebensseele« (al-nafs al-nuzūʿīya) zum Prinzip hat, diese Parallele also ist vollkommen. Wie der Stein oder der Elementarkörper wird die Ortsbewegung des Lebewesens bestimmt durch die in ihm angelegte Vollendung, auf die natürliche Begierden als Potenzen ausgerichtet sind. Auch hier ist es also die Potenz-Akt-Spannung und nicht etwa eine aktive Kraft, die die Bewegung erklärt. Selbstverständlich treten auch die Unterschiede 258Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 187, 14–16. 259Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 187, 17–188, 2. 260Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 188, 5–9. 261Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 188, 10–17.
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zutage, denn nicht nur sind Vorstellung und Begehren dem Belebten eigen, sondern die Vollendung, die angestrebt wird, besteht nicht wie beim Unbelebten in einem Zustand, einem Wosein, sondern vielmehr in den Tätigkeiten, in denen sich das Lebendige realisiert. Diese Unterschiede können aber nicht mehr aus der Perspektive der Ortsbewegung untersucht werden, sie gehören vielmehr an das Ende unserer Studie.262
262Vgl. Kapitel 12.
8. Kapitel. Aktive und passive Potenzen als universelle Erklärungsprinzipien 1. Grundlagen 1.1. Kinetische und ontologische Bestimmung der Potenz In Ibn Bāǧǧas Schriften stößt man häufig auf Verweise zu »an anderem Ort« gegebenen Erklärungen der Begriffe der aktiven Potenz, quwwa fāʿila, und der passiven Potenz, quwwa munfaʿila.1 Diese Begriffe setzt er dann ein, um jeweils ganz unterschiedliche Fragen zu klären. Dies gilt auch für die Psychologie, wo die Seelenvermögen teils als aktive, teils als passive Potenzen bestimmt werden. Was ist jedoch der allgemeine Potenzbegriff, der hinter diesen Bestimmungen steht? Gibt es einen solchen überhaupt, oder meint Potenz kontextabhängig jeweils Unterschiedliches? Wenn unsere Behauptung zutreffen soll, dass Ibn Bāǧǧa die Seele als System von Potenzen unter die natürlichen Potenzen einreiht und als auf diesen aufbauend konzipiert (Kapitel 6), dann muss gezeigt werden können, dass dem ein gemeinsamer Potenzbegriff zugrunde liegt. Die vorangegangenen Untersuchungen haben nun in der Tat Ibn Bāǧǧas Verständnis von Potenz analysiert, die als Prinzip des Seinsbereiches der Möglichkeit, und als Prinzip der Veränderung – grundlegende etwa in Gestalt der ersten Materie – eine für die gesamte Naturphilosophie zentrale Stellung einnimmt. Dabei kam Potenz stets als Gegenstück zum Akt (fiʿl) beziehungsweise zur Vollendung (kamāl) in den Blick. So ist etwa die Bewegung als mittlere Existenzweise zwischen potentieller und aktueller Existenz gefasst worden.2 Jedoch ist dabei noch keine Analyse der Potenz als solcher unternommen worden, die eine Grundlage für den einheitlichen Gebrauch des Begriffs abgeben könnte. Dies gilt umso mehr, als Ibn Bāǧǧa, wie wir noch sehen werden und teils bereits gesehen haben, einen Unterschied macht zwischen dem Potentiellen, das heißt dem was in Potenz (bi-l-quwwa) ist, und der Potenz (quwwa). Eine solche Klärung des Potenzbegriffes unternimmt Ibn Bāǧǧa zu Beginn des Kapitels über das Nährvermögen seines Buchs der Seele. Seine Überlegungen zur Möglichkeit und zum Verhältnis von Möglichkeit und Potenz in diesem Zusam1Zum Beispiel N II. 8; T 35; T 42. 2Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 1.
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menhang dienen offenbar einer »onto-logischen« Einführung der Potenz und ihrer zeitlichen Priorität gegenüber dem Akt. Was aber ist der systematische Ort dieses Potenzexkurses am Anfang der Behandlung der Nährseele? Deutlich ist das Bemühen Ibn Bāǧǧas, vor der ersten thematischen Behandlung einer seelischen Potenz sich des Potenzbegriffs im Allgemeinen zu versichern. Es wird aber hilfreich sein, die Anknüpfungspunkte zu diesen Überlegungen, die sich vom Thema der Ernährung her und aus der aristotelischen Vorlage heraus angeboten haben mögen, kurz näher zu beleuchten, da sie manche Besonderheiten von Ibn Bāǧǧas Darlegungen erklären können. (a) So frei und überraschend Ibn Bāǧǧas Annäherung an das Thema des Nährvermögens auf den ersten Blick wirkt, es hat doch einen klaren Anlass im aristotelischen Text. Ibn Bāǧǧa übergeht nämlich scheinbar ein wichtiges Bestandstück der aristotelischen Argumentation, das die Aufmerksamkeit aller Kommentatoren hervorgerufen hat: Das Kapitel II. 4 enthält eine für alle Vermögen gedachte Einleitung, die wieder aufnimmt, was in Frageform bereits in der allgemeinen Einführung in De anima I. 1 vorgeschlagen worden war, nämlich dass vor den Vermögen deren Tätigkeiten und vor diesen ihre Gegenstände zu untersuchen seien. »Denn«, so Aristoteles, »früher als die Potenzen dem Begriffe nach [κατὰ τὸν λόγον] sind die Tätigkeiten [ἐνέργειαι] und Handlungen.«3 Als Ziel der Untersuchung hat er zuvor die Frage benannt, »was« ein jedes der Vermögen ist (τί ἐστιν) und was ihm an Eigenschaften zukommt.4 Was diese seelischen Potenzen sind, ist also nur auf einem Umweg erkennbar. Ibn Bāǧǧa nimmt nun Aristoteles’ Forschungsmaxime zwar nicht explizit auf, sein Exkurs über Potenz am Anfang des Kapitels gibt aber gewissermaßen dennoch einen Kommentar zu Aristoteles’ Ausführungen an dieser Stelle. Sein weit ausholender Ansatz beim Möglichen als einem Typ des Seienden zeigt, dass er auf das ontologische Fundament dieses Verhältnisses von Potenz und Tätigkeit zurückgehen will. Es sind an dieser Stelle nämlich zwei Perspektiven zu unterscheiden: eine erkenntnistheoretische und eine ontologische. Themistios, in Übereinstimmung mit der Kommentartradition, erklärt, dass nur die Objekte jeweils wahrnehmbar sind, während die auf sie gerichteten Aktivitäten und mehr noch die diesen zugrundeliegenden Potenzen nur durch Überlegung erschlossen werden können.5 Dies ist im Grunde die gleiche Überlegung wie diejenige, auf die sich Ibn Bāǧǧa stützt, wenn er die Evidenz der Seele aus den sinnfälligen »Bewegungen« des Belebten ableitet: Diese Bewegungen müssen eine Potenz zum Prinzip haben.6 Neben diese erkenntnistheoretische Perspektive tritt jedoch die ontologische spätestens dort, wo Aristoteles sagt, dass die Tätigkeiten »dem Begriffe nach« 3Aristoteles, De anima, II. 4, 415a16–22, Zitat 415a19f. Vgl. dazu oben Kapitel 4, Abschnitt 1. 4Aristoteles, De anima, II. 4, 415a14–16. 5Siehe Kapitel 4, Abschnitt 1. 6Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 1.
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früher seien als die Potenzen: Hier ist nicht mehr nur eine erkenntnistheoretische sondern eine sachliche und ontologische Priorität der Tätigkeit gemeint. Dies wird deutlich, wenn man sieht, dass Themistios sich auf zwei unterschiedliche Prinzipien beruft. Das erste, erkenntnistheoretische, lautet, dass man vom für uns Erkennbareren zum an sich Erkennbareren fortschreiten müsse, die Tätigkeiten für uns aber früher und deutlicher seien als die Potenzen.7 Das zweite, ontologische, Prinzip besagt, dass das der Natur nach Frühere und das für uns Frühere verschieden sind, und Themistios setzt es ein, um zu begründen, wieso beim Lebendigen nicht zuerst die der Natur nach früheren Tätigkeiten sondern die Potenzen vorliegen.8 Dies stimmt genauer mit dem von Aristoteles angesprochenen Prinzip überein, begründet aber gerade nicht mehr einen Fortschritt zum an sich Erkennbareren, denn die Potenzen sollen ja sowohl ontologisch als auch erkenntnistheoretisch sekundär sein. Die Verwirrung, die sich durch diese beiden Perspektiven ergibt, wird leicht daran deutlich, dass Themistios bald seiner ersten Aussage widerspricht, indem er sagt, dass der erkenntnistheoretische Grundsatz eigentlich nur für die Gegenstände der Vermögen, nicht für die Tätigkeiten gilt, denn nur die Gegenstände sind wahrnehmbar.9 Die Begründung für die Reihenfolge der Untersuchung müsste daher wechseln: Die Gegenstände besitzen lediglich eine erkenntnistheoretische Priorität, die Tätigkeiten sowohl eine erkenntnistheoretische als auch eine ontologische Priorität gegenüber den Potenzen. Themistios erweckt dagegen den Anschein, dass sich die gesamte Ortdnung aus einem Prinzip ableitet. Diesem Anschein ist etwa Ibn Rušd im Großen Kommentar zu De anima erlegen; er hält den Forschungsgang vom uns Bekannteren zum der Natur nach Bekannteren für die durchgehende Begründung des von Aristoteles etablierten Vorgehens10 und wird damit der ontologischen Priorität der Tätigkeit gerade nicht gerecht. Besonders aber wird damit die von Themistios angedeutete Perspektive vernachlässigt, der zufolge die Potenz wohl eine gewisse Priorität gegenüber der Tätigkeit beanspruchen kann. Denn wenn die Seele wirklich tätig ist, setzt das ihre Potenz voraus, umgekehrt aber beinhaltet die Potenz nicht notwendig ihre Aktivität.11 Es gibt also einen Sinn, in dem die Potenz nicht nur in zeitlicher Hinsicht und nur relativ der Tätigkeit gegenüber primär ist,12 sondern auch logische Priorität genießt: Jede Tätigkeit setzt die Potenz zu dieser Tätigkeit voraus, auch wenn die Potenz nur durch die Tätigkeit offenbar werden kann. Damit ist aber gerade 7Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 49, 18f. 8Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 49, 21–23. 9Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 49, 27f und 31–34. 10Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 180, 30–45 (II c. 33). Im Mittleren Kommentar greift er diese Überlegung ebensowenig auf wie im Kompendium. 11Aristoteles, De anima, II. 1, 412a22–28; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 11–22. 12Vgl. Aristoteles, Metaphysik, IX. 8, 1049b17–1050a3.
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Aktive und passive Potenzen als universelle Erklärungsprinzipien
angesprochen, was Ibn Bāǧǧa als Kennzeichen des Seelischen herausgearbeitet hat, nämlich als Potenz im Sinne der ersten Entelechie zu existieren.13 Diesen Aspekt betont Ibn Bāǧǧa, wenn er die notwendige zeitliche Priorität der Potenz gegenüber dem Akt hervorhebt (N II. 3–4). Seine Ausführungen an dieser Stelle versuchen demgemäß eher, die genaue ontologische Position der Potenz zu bestimmen, als ihre beinahe selbstverständliche erkenntnistheoretische Abhängigkeit zu thematisieren. (b) Diese ontologische Perspektive wird verstärkt durch eine scheinbar beiläufig eingeflochtene Betrachtung des Aristoteles, die Ibn Bāǧǧa in die Theorie der Potenz integriert. Es handelt sich um Aristoteles’ metaphysische Bestimmung der Relevanz von Ernährung und Zeugung: Diese Tätigkeiten erhalten das Individuum für eine gewisse Zeit und sie perpetuieren die Art, um sie so dem Göttlichen, das heißt dem Ewigen, anzuähneln, denn die dauerhafte Existenz könne nur die Art, nicht das Individuum erreichen.14 Das Verhältnis zwischen Vergänglichem und Ewigen aber lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Potenz gleich in mehrfacher Weise bestimmen. Vergängliches und Ewiges bilden einerseits verschiedene Bereiche des Seienden, wenn dieses in modaler Hinsicht differenziert wird; das Vergängliche ist Möglichseiendes oder Kontingentes, während das Ewige notwendigerweise ist (N II. 1). Damit kann Ibn Bāǧǧa andererseits das Ewige oder Notwendige heranziehen, um das Eigentümliche des Veränderlichen als eines auf Grund von Potenzen Tätigen deutlich zu machen: Der Beweger der ewigen Himmelsbewegung ist ewig in Akt, die Seele und andere natürliche Beweger dagegen nicht (N II. 7). (c) Mit der Veränderung als Merkmal des Natürlichen ist schließlich noch ein zentrales Motiv für den Exkurs über Potenz angesprochen: Ernährung ist ein Veränderungsvorgang, und Veränderungen sind immer Übergänge von einem Zustand der Potentialität in einen Zustand der (unvollendeten) Aktualität. Es gibt verschiedene Typen der Veränderung oder »Bewegung«, in die sich die Ernährung oder auch das Wachstum als ein bestimmter Typ einordnen lässt. Tatsächlich nimmt Aristoteles diese Einordnung in anderen Schriften auch selbst vor.15 In der Darstellung in De anima erinnert an diesen weiteren Zusammenhang die Unterscheidung von Ernährung und Wachstum abhängig von der kategorialen Bestimmung des Beseelten als Substanz oder als Quantitatives (De anima, II. 4, 416b11–14). Zu verschiedenen Typen von Veränderung kommt es nämlich deshalb, weil das Phänomen der Bewegung in verschiedenen Kategorien auftritt. Ibn Bāǧǧa nimmt dementsprechend die verschiedenen Kategorien in den Blick (N II. 4–5): »Die Potenz geht […] dem Akt voraus, und der Akt teilt 13Vgl. Kapitel 6, Abschnitt 2. 14Aristoteles, De anima, II. 4, 415a29–b7. 15Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 1 und siehe etwa: Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 5; Physik, III. 1, 200b26–201a15; Metaphysik, XI. 9, 1065b5–17.
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sich in die zehn Kategorien; was nun in Potenz ist, das wird notwendigerweise nichts in Akt, bis eine Veränderung eintritt.« Auch hier ergibt sich also eine ontologische Perspektive, insofern kategorial verschiedenem Sein kategorial verschiedene Potenzen zugrunde liegen. Die verschiedenen Veränderungen sind ebensoviele Bewegungen hin auf den Akt. Die Bewegung wird, das haben wir bereits gesehen, mittels des Begriffs der Potenz bestimmt.16 Ernährung und die übrigen Tätigkeiten der Seele können also mit Hilfe des Begriffs der Potenz als Bewegungen nach den gleichen Prinzipien untersucht werden wie andere natürliche Bewegungen (N II. 12): »Die Veränderung geschieht, wie wir gesagt haben, in der Substanz und sie geschieht in den übrigen Kategorien. Die Ernährung nun geschieht nur durch Bewegen in der Substanz. […] Folglich ist das Nährvermögen die Potenz, die dazu disponiert ist, in der Substanz zu bewegen.« Auch für die Untersuchung der Wahrnehmung im dritten Kapitel des Buchs der Seele gibt die Theorie der Veränderung den Hintergrund ab: [N III. 24] »Alles Potentielle wird nur dadurch aktuell, dass es sich verändert durch einen Veränderer – wie im achten [Buch] der Physik erklärt worden ist. Also muss es wohl in der Sinneswahrnehmung Bewegtes und Beweger geben; und es ist klar, dass das Bewegte vom Beweger verschieden ist. Der Beweger ist das Wahrnehmbare – dass es der Beweger ist, leuchtet von selber ein –, das Bewegte ist das Wahrnehmende [ḥāssa]. Jedes Bewegte ist in Potenz das, zu dem es bewegt wird; also hat das Wahrnehmende die Potenz der Sinneswahrnehmung. Die Potenz ist – wie an vielen Stellen erklärt wurde – in der Materie. Wir wollen daher betrachten, welche Materie dies sein muss.« Es steht dann in der folgenden Untersuchung zwar der Begriff der Materie im Mittelpunkt, genauer der »spirituellen Materie«, wie Ibn Bāǧǧa sie auch nennt (N III. 45),17 aber dieses Konzept ist eben durch eine Analyse der Wahrnehmung als Veränderung gewonnen worden, wobei die Anwendung des Begriffs der Potenz auf diesen besonderen Bereich die Bildung eines solchen analogen Materiebegriffs erlaubt hat. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Ibn Bāǧǧa erklärt, »Materie« werde von »der seelischen Potenz und den Potenzen des Körpers« äquivok ausgesagt (N III. 41). Sicher, eine Äquivokation liegt vor, aber dieser liegt doch eine Deutung von Potenz zu Grunde, die es erlaubt, sowohl in der Physik als auch in der Psychologie in kohärenter Weise von Potenzen zu sprechen. Auch in diesem Falle knüpft sich also die Übertragung von Strukturen in die Psychologie, welche in der Naturphilosophie untersucht und bestimmt worden sind, an den Begriff der Potenz.
16Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 1. 17Vgl. zu diesem Begriff Kapitel 11, Abschnitt 3.1., insbesondere Anm. 160.
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Aktive und passive Potenzen als universelle Erklärungsprinzipien
Eine solche Struktur stellen eben die aktiven und passiven Potenzen dar. In der Untersuchung des Nährvermögens ist ein konkreter Ansatzpunkt für ihre Berücksichtigung mit Aristoteles’ Unterscheidung zwischen »erster« und »letzter« oder »vollendeter« Nahrung gegeben.18 Der Vorgang der Verdauung bildet den Übergang vom ersten zum zweiten Typ der Nahrung. Aristoteles hat darauf hingewiesen, dass die Nahrung dabei passiv ist und eine Veränderung erleidet, während das sich Ernährende auf sie einwirkt, bei diesem Vorgang aber selbst nichts erleidet, sondern nur eine Wandlung von Untätigkeit zu Tätigkeit erfährt.19 Ibn Bāǧǧa gibt diesen Zusammenhang nun in den Begriffen der Theorie der Potenzen wieder: Der Unterschied zwischen »erster« und »letzter« oder »entfernter« und »naher« Nahrung ist ein Unterschied zwischen dem, was erst in Potenz Nahrung ist, und dem, was das Nährvermögen zu Nahrung in Akt umgewandelt hat. Der Ernährungsprozess ist als Wechselwirkung zwischen der aktiven Potenz des sich Nährenden und der passiven Potenz der Nahrung zu beschreiben (N II. 10, 15). Als Ergebnis dieser Übersicht kann man festhalten, dass Aristoteles’ Untersuchung der Nährseele in De anima vielfach Veranlassung gibt, über die Bedeutung von »Potenz« nachzudenken, nicht zuletzt dadurch, dass er die seelischen Potenzen zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung macht und ihren erkenntnistheoretischen und ontologischen Status problematisiert, ohne selbst an dieser Stelle eine eindeutige Antwort zu geben. An diesem Punkt setzt Ibn Bāǧǧa mit seiner Betrachtung der Potenz an. Um den Tenor seiner Lösung vernehmen zu können, muss man sich zunächst einmal verdeutlichen, wie Aristoteles selbst an anderer Stelle, dort wo er in der Metaphysik eine solche synthetisierende Betrachtung unternimmt, die Potenz bestimmt. Unter den zahlreichen Bedeutungen, die Aristoteles unterscheidet, stellt er eine als Kernbedeutung, als »eigentlichste« (μάλιστα κυρίως) heraus:20 »Prinzip der Bewegung oder Veränderung in einem anderen oder insofern es ein anderes ist.«21 In Beziehung auf und Abhängigkeit von dieser »ersten Potenz«22 wird dann auch die Potenz als »Prinzip der Veränderung von einem anderen her oder insofern es ein anderes ist« bestimmt.23 Weitere Modifikationen dieser beiden Typen von Potenzen folgen, sind aber an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Die beiden geschilderten Typen sind diejenigen, die Aristoteles als »Potenzen des Tuns und des Leidens«24 bezeichnet und an einigen Stellen eben auch als »aktive
18Vgl. Aristoteles, De anima, II. 4, 416a19–416b11. 19Vgl. besonders Aristoteles, De anima, II. 4, 416a34–416b3. 20Aristoteles, Metaphysik, IX. 1, 1045b35f. 21Aristoteles, Metaphysik, V. 12, 1019a15f. 22Aristoteles, Metaphysik, IX. 1, 1046a9–11. 23Aristoteles, Metaphysik, V. 12, 1019a20. 24Aristoteles, Metaphysik, IX. 1, 1046a16f.
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und passive Potenzen«.25 Sie stehen nicht nur begrifflich in einem engen Zusammenhang, so dass die passive von der aktiven abgeleitet ist, sondern treten auch als reale Potenzen paarweise auf. Veränderung findet nur statt, wenn aktive und passive Potenz zusammentreffen.26 Neben diesen sogenannten »kinetischen« Potenzen kennt Aristoteles die von ihm selbst geprägte Idee des Potentiellen oder In-Potenz-Seienden (δυνάμει…) im Unterschied zum Aktuellen (ἐνέργεια), die man häufig als »ontologische« Potenz bezeichnet.27 Auch diese Potenz ist letztlich von der kinetischen abgeleitet, wie Aristoteles in Metetaphysik IX. 1 deutlich macht: »Und zuerst [wollen wir sprechen] über die Potenzen in der Bedeutung, die zwar die eigentlichste, aber für unseren gegenwärtigen Zweck nicht die dienlichste ist; denn Vermögen und Wirklichkeit erstrecken sich weiter als nur auf das in Bewegung Befindliche.«28 Auch Ibn Sīnā schildert im metaphysischen Teil seines al-Šifāʾ diesen Prozess der Übertragung des Potenzbegriffes: von der animalischen Kraft (qudra) zum Prinzip der Veränderung, zum passiven Prinzip und zur Bestimmbarkeit und Möglichkeit.29 Man kann also zusammenfassend sagen, dass für Aristoteles der Begriff der Potenz ein mehrdeutiger, nämlich ein pros hen ausgesagter Begriff ist, bei dem jedoch die fundamentalste, nämlich die ontologische, Bedeutung gerade nicht der primäre Bezugspunkt ist.30 Davon hebt sich nun Ibn Bāǧǧa insofern ab, als er von einer anderen als dieser begriffstheoretischen Einheit von Potenz ausgeht. Im Buch der Seele beginnt er (N II. 4), das haben wir oben unter (c) schon gesehen, indem er Veränderung (taġayyur) als Übergang vom In-Potenz-Sein zum In-Akt-Sein beschreibt, wobei das hier gemeinte »Sein« jeweils ein anderes ist, je nachdem in welcher Kategorie man sich befindet. Veränderung im engeren Sinne ist in den Kategorien der Substanz, der Quantität, der Qualität und des Ortes möglich. Aus der Abgrenzung gegenüber den anderen Kategorien wird weiterhin deutlich, dass die Veränderung die »Vollendung« (kamāl) der an ihr beteiligten »passiven« oder »sich verändernden« Potenzen (quwā munfaʿila, mutaġayyira) darstellt. Damit ist selbstverständlich auf die Definition der Bewegung als ›Vollendung des InPotenz-Seienden, insofern es ein solches ist‹, angespielt. Ibn Bāǧǧa erwähnt auch gleich noch: »Die Potenzen zu diesen [sich verändernden] sind verändernde 25Aristoteles, Metaphysik, V. 15, 1021a14–16. 26Das ist ausgeführt in: Aristoteles, Metaphysik, IX. 5 und Physik, III. 3. 27Vgl. etwa H. Weidemann, dynamis / Vermögen, Möglichkeit, in: Ottfried Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 139–144. 28Aristoteles, Metaphysik, IX. 1, 1045b35–1046a2. 29Ibn Sīnā, al-Šifāʾ. al-Ilāhīyāt, edd. George C. Anawati, Saʿīd Zayid, Kairo, 1960, Kapitel IV. 1. Vgl. auch den Eintrag »Quwwa« in: Anne-Marie Goichon, Lexique de la langue philosophique d’Ibn Sīnā (Avicenne), Paris 1938, 329–338, insbesondere 329f. 30Dies spiegelt offenbar auch den doktrinalen Entwicklunggang des Potenzbegriffs bei Aristoteles wieder, vgl. dazu Stephen Menn, The Origins of Aristotle’s Concept of Ἐνέργεια: Ἐνέργεια and Δύναμις, in: Ancient Philosophy 14 (1994), 73–114.
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Potenzen.«31 Sein Programm ist damit bereits deutlich: sich-verändernde und verändernde oder griffiger, passive und aktive Potenzen, sind zwei Momente, die Veränderung verursachen, und zwar als den Übergang von der Potenz im Sinne des in einer jeweils zu bestimmenden Hinsicht In-Potenz-Seins zum entsprechenden In-Akt-Sein. Dieser Prozess findet »in« den passiven Potenzen statt und ist ihre Vollendung.32 Die Potenzen in kinetischer Bedeutung sollen also – anders als Aristoteles es zumindest explizit sagt – aus der Potenz in ontologischer Bedeutung abgeleitet werden, wobei in der passiven Potenz zunächst ontologischer und kinetischer Sinn zusammenfallen zu scheinen, da das Bewegte durch die passive Potenz »in Potenz« ist und durch sie Veränderung erfährt.
1.2. Typologie der Potenzen Indessen hat Ibn Bāǧǧa hiermit nur eine erste Richtung vorgegeben, der genaue Zusammenhang zwischen beiden Bedeutungen der Potenz und zwischen den passiven und aktiven Potenzen untereinander ist noch nicht geklärt. Dazu unternimmt Ibn Bāǧǧa zunächst einen weiteren Zwischenschritt, indem er untersucht, welche Rolle die »Beziehung« (nisba) in der Definition der einzelnen Kategorien spielt (N II. 5). Diese Überlegung knüpft nominell wohl bei der Feststellung an, dass in anderen als den vier genannten Kategorien, die Vollendung nicht eine Veränderung ist, sondern »von einer Veränderung kommt«. Der Grund dafür war, wir wir bereits gesehen haben, dass in diese Kategorien eine gewisse »Beziehung« zu anderem eingeht. Was Ibn Bāǧǧa aber tatsächlich aus dieser Überlegung zurückbehält und im Folgenden aufgreift, das ist die in diesem Rahmen erfolgte nähere Bestimmung des Leidens (an yunfaʿil), also der Passivität, und des Wirkens (an yafʿal), also der Aktivität. Und zwar gehört das Leiden zu den Kategorien, die eine Beziehung zwischen verschiedenen Subjekten bezeichnen, wobei »die Beziehung in der Definition eines der beiden Subjekte vorkommt, insofern sie diese beiden zueinander in Beziehung stehenden sind«. Das Wirken gehört dagegen mit der Relation im engeren Sinne zu den Kategorien, bei denen die Beziehung nicht in die Definition der Subjekte eingeht, mit dem Unterschied, dass beide Subjekte der Relation in Akt sind, während beim Wirken nur das eine in Akt ist, »das andere in Potenz, insofern es in Potenz ist«. Das heißt im Klartext: Leiden tritt notwendigerweise an etwas auf und kommt von etwas her, und das Leidende kann als Leidendes nicht bestimmt werden, ohne dass man die Beziehung zu dem, wodurch es etwas erleidet, berücksichtigt. Wirken 31Der Text der Handschriften, die »sind sich verändernde Potenzen« lesen, muss hier ganz offensichtlich korrigiert werden, da man sonst entweder einen handfesten Widerspruch oder eine sinnlose Wiederholung zu konstatieren hätte. 32Vgl. dazu wiederum Aristoteles, Physik III. 3.
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findet zwischen etwas statt, das in Akt ist, und etwas, das in Potenz ist, jedoch nicht schlechthin, sondern »insofern es in Potenz ist«, das heißt in Bezug auf das, was das Wirkende in Akt ist. Eine Asymmetrie zwischen beiden besteht, da das Leidende als Leidendes nur in Potenz ist und damit nur in Bezug auf das entsprechende Wirkende bestimmt werden kann, während das Wirkende in Akt ist und daher ohne die Beziehung, die es zum Leidenden unterhält, bestimmt werden kann. Auf dieser Grundlage, durch die In-Potenz-Sein mit Leiden und In-Akt-Sein mit Wirken verknüpft worden sind, kann Ibn Bāǧǧa nun folgende Prämisse aufstellen: [N II. 6] »Es leuchtet ein, dass dasjenige was wirkt [yafʿalu], insofern es wirkt, in Akt existiert, während das was leidet [yunfaʿil] in Potenz existiert. Aus unserer Aussage ›es wirkt‹ folgt wesentlich, nicht [bloß] akzidentell, dass es ein Seiendes in Akt ist, etwas Konkretes, während aus ›was leidet‹ folgt, dass es ein Seiendes in Potenz ist.« Die »kinetische« Bedeutung von Potenz wird hier also zunächst mit der »ontologischen« identifiziert; das Wirken und Leiden folgt unmittelbar aus dem Seinsstatus des betreffenden Seienden, und dieser kann aus dem Wirken beziehungsweise Leiden erschlossen werden. Jedoch deutet zumindest eine Aussage Ibn Bāǧǧas bereits an, dass es dabei nicht bleiben kann, denn er behauptet vom Wirkenden, dass es »wesentlich, nicht akzidentell« ein Seiendes in Akt ist. Damit will er es offenbar vom Leidenden unterscheiden, von dem die schlichte Behauptung, »dass es ein Seiendes in Potenz ist«, so nicht wahr sein kann, da Ibn Bāǧǧa bereits zuvor (N II. 5) deutlich gemacht hat, dass es nur in Potenz ist, »insofern es in Potenz ist«. Es kann oder vielmehr muss »akzidentell« aber auch etwas in Akt sein. Präzisierungen hierzu finden wir bezeichnender Weise in einem Text Ibn Bāǧǧas, der sich mit der Strebensseele beschäftigt und in dem er zur Erklärung der Tätigkeiten (afʿāl) dieser Seele wiederum ausführlich auf die naturphilosophischen Grundlagen des Wirkens und Leidens eingeht und gar noch breiter als im Buch der Seele die Rolle der verschiedenen Kategorien berücksichtigt.33 Von unmittelbarem Interesse für die hier unternommene Klärung des Potenzbegriffs ist auch der Anlass des Exkurses, da sich in ihm direkt eine weitere Anwendung
33Dass es sich um solche Grundlagen handelt, macht Ibn Bāǧǧa durch die wiederholt in unterschiedlichen Formulierungen eingestreute Bemerkung deutlich, »das sei demjenigen klar, der sich auch nur ein wenig mit der Naturwissenschaft beschäftigt habe«, vgl. Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 125, 5; 126, 1f; 129, 3f; 129, 16; hinzukommen zahlreiche Verweise auf einzelne Bücher der Physik, sowie ausdrücklich auf seinen eigenen Kommentar zur Physik, vgl. 130, 2; 130, 5; 130, 7f; 132, 9.
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der Konzeption der aktiven und passiven Potenzen in der Psychologie zeigt. Ibn Bāǧǧa stellt nämlich fest, dass die Strebensseele, die doch Ursache für die Bewegungen des Menschen ist, etwas erleidet und nur in Potenz ist, so dass es einen anderen Teil (der Seele) geben muss, der in Akt ist.34 Diesen bewegenden (muḥarrik) oder wirkenden (fāʿil) Teil identifiziert er nach Abschluss des Exkurses als die Einbildung (wahm)35 – wir haben das in Kapitel 7, Abschnitt 4 bereits näher untersucht. Anlass des Exkurses ist also auch hier wieder die Bestimmung eines seelischen Vermögens als Potenz eines bestimmten Typs, diesmal als passive Potenz. Man kann die von Ibn Bāǧǧa in diesem Zusammenhang entwickelten grundsätzlichen Überlegungen zum Wirken und Leiden folgendermaßen zusammenfassen: Alles Leidende oder Bewegte – denn Bewegung und Erleiden verhalten sich analog – muss in Akt etwas sein und in Potenz etwas anderes. Wenn es nämlich überhaupt nichts in Akt wäre, dann wäre die Potenz selbst etwas InAkt-Seiendes, die erste Materie hätte eine Form und die Möglichkeit bestünde an und für sich.36 Mit anderen Worten, dasjenige, was etwas erleidet und also in Potenz in Bezug auf die betreffende Einwirkung ist, muss selbst irgendetwas in Akt sein, das heißt, die betreffende Potenz muss an etwas aktuell Seiendem vorliegen, da sie ansonsten als Potenz unabhängig und damit in Akt existieren müsste. Das aber ist selbstwidersprüchlich. Im naturphilosophisch basalen Falle würde das bedeuten, dass die erste Materie, also die reine Potentialität, unabhängig existiert und mithin selbst eine »Form« hätte. Das Leidende oder Bewegte muss also etwas in Akt sein; genauerhin eine Substanz, und zwar eine körperliche Substanz, da alles Bewegte teilbar und mithin körperlich ist.37 Auf der anderen Seite muss das Bewegte »Etwas« (šaiʾ) in Potenz sein und dann dieses Etwas werden, nämlich entweder eine Substanz, eine Qualität, eine Quantität, ein Wo oder eine von den anderen Kategorien.38 Was in Potenz ist, das ist daher in Akt eine der Kategorien und in Potenz eine der Kategorien. Allerdings fällt das, »was in Potenz ist, insofern es in Potenz ist«, nicht unter die Kategorien, die Kategorien sind dem In-Potenz-Seienden in ähnlicher Weise entgegengesetzt (taqābala) wie verschiedene Arten unter einer Kategorie einander entgegengesetzt sind.39 Ibn Bāǧǧa greift also erneut 34Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 124, 10–13. 35Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 133, 1–5. 36Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 125, 2–5. Zur Analogie von Bewegung und Leiden siehe dort auch 132, 16–18: »Die Ortsbewegung ist dem Leiden analog [tunāsibu], und es gibt zwischen beiden keinen Unterschied hinsichtlich dessen, worüber wir sprechen wollen, denn jedes Bewegte hat einen Beweger und jedes Leidende hat ein Wirkendes.« 37Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 125, 6; Aristoteles erklärt in Physik VI. 4 und VI. 10, dass alles Bewegte teilbar und daher körperlich ist. 38Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 125, 9–11. 39Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 125, 11–126, 5.
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auf die Theorie der Materie und der Veränderung zurück, die darauf fußt, dass die schlechthin und auch kategorial unbestimmte Potentialität der Materie verschiedene einander entgegengesetzte Merkmale tragen kann und notwendig je eines von ihnen trägt. So sagt er hier zunächst für die Substanz, Aristoteles und al-Fārābī bezeichneten die einander entgegengesetzten Arten der Substanz, für die es eigentlich keine richtige Bezeichnung gäbe, häufig als »konträr Entgegengesetzte« (mutaḍāddain), was insofern ungenau sei als konträr Entgegengesetztes ein einziges, in Akt seiendes Subjekt (mauḍūʿ wāḥid bi-l-fiʿl) benötige, was bei diesen nicht der Fall sei. Dagegen gelte für die neun anderen Kategorien, dass das In-Potenz-Seiende notwendig eine Substanz sei und also eine »dritte Existenz« (wuǧūd ṯāliṯ) besitze, durch die es Subjekt für die einander entgegengesetzten Merkmale werde.40 Das heißt, dass entweder die erste Materie oder die zusammengesetzte Substanz Subjekt für die einander entgegengesetzten Merkmale ist. Nun geht nach Ibn Bāǧǧa aus der Naturphilosophie und insbesondere aus Physik I hervor, dass die erste Materie von einigen Kategorien nicht frei sein kann, und zwar zunächst von der Substanz, dann von der Quantität und schließlich von »der Gattung der passiven Qualität [al-kaif al-infiʿālī] wie der Wärme, der Kälte, der Feuchtigkeit und der Trockenheit«.41 Dies sind nun offensichtlich die primären »Potenzen« der Elemente, und so schreibt Ibn Bāǧǧa in der Folge diesen auch eine wichtige Rolle zu. Er erklärt nämlich einmal, dass alle aus den Elementen zusammengesetzten Körper ebenfalls diese den Elementen zukommenden Eigenschaften besitzen; weiterhin, dass die übrigen Eigenschaften der materiellen Körper – etwa Härte und Weichheit – sich auf diese zurückführen lassen; und schließlich, dass »Wirken [fiʿl] und Leiden [infiʿāl] nur in Bezug auf die primären Qualitäten erfolgen, nämlich diejenigen, durch die es zu Entstehen und Vergehen kommt, und das sind die[se] vier«.42 Insgesamt ergibt sich damit das folgende Bild: Wirken und Leiden sind nur erklärbar in einem Modell, in dem das In-Akt-Sein eines Merkmals mit dem InPotenz-Sein des entgegengesetzten Merkmals verbunden ist – und umgekehrt. Das letzte Prinzip dieser Prozesse ist die erste Materie, insofern diese an sich reine Potentialität ist, als solche aber eben nie außerhalb von substantiellen Formen und diesen folgenden Akzidenzien existiert; sie ist notwendigerweise in Potenz, während sie ebenso notwendigerweise etwas in Akt ist. Zu den wichtigsten Akzidenzien gehören nun solche »passive Qualitäten« genannten Eigenschaften, auf die sich das Entstehen und Vergehen der Körper sowie das Entstehen weiterer Eigenschaften zurückführen lassen. Diese passiven Qualitäten selbst 40Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 126, 5–9; vgl. auch Kapitel 7, Abschnitt 1. 41Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 129, 16–130, 18; Zitat 130, 8f. 42Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 131, 12–132, 12; Zitat 132, 10–12.
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sind wie alle übrigen primären Akzidenzien, zum Beispiel Quantität und Ort, abhängig vom Seinszustand des Seienden, an dem sie vorliegen. Da Wirken und Leiden die Vorgänge sind, die von diesen passiven Qualitäten ausgehen, so sind sie direkt mit dem In-Potenz- beziehungsweise In-Akt-Sein des Seienden oder seiner Akzidenzien verbunden. Geht man nun dem Begriff der »passiven Qualität« nach, so zeigt sich, dass es sich hier um einen der vier Typen von Qualität handelt, die Aristoteles in den Kategorien unterschieden hat: (1) Habitus und Dispositionen, (2) natürliche Vermögen, (3) passive Qualitäten und Einwirkungen, (4) Gestalt.43 Sieht man sich Aristoteles’ Ausführungen zur dritten Gruppe gut an, so ist auffällig, dass er die passiven Qualitäten nochmals unterteilt. Er hat nämlich unter den Beispielen einerseits etwa Wärme und Kälte genannt, andererseits Farben. Diese sind aber nicht im gleichen Sinne passive Qualitäten. Die Wärme wird nicht deshalb als passive Qualität bezeichnet, weil dasjenige, was warm ist, eine Einwirkung erlitten hätte, sondern weil die Wärme in den Sinnen eine Einwirkung bewirkt (πάϑους… ποιητικὴν). Dagegen entstehen Farben oft sehr wohl selbst auf Grund von Einwirkungen und werden in diesem Sinne passive Qualitäten genannt.44 Es handelt sich also ersichtlich einerseits um »aktive« andererseits um »passive« Eigenschaften, die von Aristoteles zwar hauptsächlich mit Bezug auf die Wahrnehmung bestimmt werden, deren Unterscheidung jedoch von diesem Bezugspunkt problemlos ablösbar ist. Das tut Ibn Bāǧǧa, wenn er sie in diesem Text über die Strebensseele mit den aktiven und passiven Potenzen identifiziert: [T 35] »Wir haben schon an anderen Stellen erklärt, dass die passiven und die aktiven in äquivoker Weise als ›Potenzen‹ bezeichnet werden, und wir haben jede dieser beiden Gattungen beschrieben. Die aktiven Potenzen nämlich sind notwendig seiend, während die Potenzen, durch die der Körper leidet, notwendig nicht seiend sind, sondern nur mit einem Seienden verbunden sind. Die passive Potenz wird also notwendig ein Seiendes und etwas Konkretes, nachdem sie zuvor nicht seiend war; aber sie ist mit einem Seienden verbunden.«45 In ganz ähnlicher Weise wie in dem zuletzt zitierten Absatz aus dem Buch der Seele (N II. 6) verknüpft Ibn Bāǧǧa hier Wirken und Leiden mit dem Seinszustand
43Aristoteles, Kategorien, 8. 44Aristoteles, Kategorien, 8, 9a28–10a10, insbesondere 9a28–9b19. 45Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 132, 13–16; mit MS B, f. 196rv [arab.], ist eine größere Auslassung zu beheben: in Zeile 132, 15 ist die Hinzufügung des Herausgebers zu streichen und statt bi-l-quwwa zu lesen: wa-l-quwā allatī bihā tunfaʿil al-ǧism hiya ḍarūratan ġairi mauǧūda wa-innamā taqtarinu bi-mauǧūd, fa-l-quwwa.
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des betroffenen Körpers: Das Wirkende ist zwangsläufig bereits etwas Bestimmtes, während das Leidende erst dazu wird. Seine Potenz im ontologischen Sinne einer Potentialität ist dabei jedoch immer mit einem In-Akt-Seienden verbunden. Ein bemerkenswerter Unterschied besteht aber zwischen den beiden Textstellen: War es im Buch der Seele das Wirken und Leiden selbst, das Ibn Bāǧǧa mit dem Seinszustand in Verbindung gebracht hatte, so sind es hier die dem Wirken und Leiden zugrunde liegenden Potenzen. Der Unterschied ist schon deshalb nicht zu vernachlässigen, weil die letzteren in eine andere Kategorie gehören als die ersteren, nämlich in die Qualität. Wirken und Leiden als kategoriale Eigenschaften sind offenbar nicht nur von der Kategorie der Substanz, sondern auch von der Kategorie der Qualität oder genauer der passiven Qualität abhängig. Wir haben ja bereits gesehen, dass Akzidenzien von anderen Akzidenzien abhängig sein können. Wirken und Leiden sind also in dieser Weise sekundär, und es bleibt genauer festzustellen, wie sie nachgeordnet und von den Potenzen als Qualitäten abhängig sind. In dem zitierten Text über die Strebensseele wird diese Problematik nicht weiter verfolgt, vielmehr zählt Ibn Bāǧǧa auch Wirken und Leiden zu den Kategorien, von denen die Materie nicht frei sein könne.46 Er bemerkt allerdings: »Was das Wirken und Leiden angeht, so wird das manchmal bezweifelt, aber wenn man die Angelegenheit weiter verfolgt, dann ist offensichtlich, dass sie so sind.«47 Auf diesem Hintergrund können wir uns nunmehr wieder dem Buch der Seele zuwenden. Dort bricht Ibn Bāǧǧa in einem nächsten Schritt die zunächst vorgenommene Ineinssetzung von ontologischer und kinetischer Potenz, von Wirken und In-Akt-Sein auf, wobei die aktiven und passiven Potenzen ihren Platz genau in der Lücke zwischen Sein und Wirken/Leiden finden. Er tut dies, indem er den Blick auf den Unterschied lenkt zwischen dem, was ewig bewegt, und dem, was »zu einer gewissen Zeit nicht bewegt« (N II. 7). Für die Seelen der Lebewesen ebenso wie für elementare Formen gilt, dass sie nicht immer bewegen, nicht einmal solange sie existieren. Das zeigt sich etwa bei einem Lebewesen, das an der Bewegung gehindert wird, oder beim Feuer, für das es nichts zu verbrennen gibt.48 Während bei der Himmelsbewegung der ewig in Akt seiende Beweger ewig in Akt bewegt, treten hier der Akt als Seinsstatus und das Bewirken von Bewegung also auseinander. Ibn Bāǧǧa nutzt die entstehende Diskrepanz, um zu erklären, inwiefern auch aktive Potenzen potentiell und mithin erst eigentlich Potenzen sind:
46Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 130, 14–18; vgl. auch 131, 15–18. 47Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 130, 19. 48Dabei ist freilich die aristotelische Theorie des Feuers als Element vorausgesetzt, denn wenn Feuer als ein Verbrennungsvorgang verstanden wird, dann gilt selbstverständlich nicht, dass Feuer ohne ein brennbares Objekt vorkommt.
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[N II. 8] »All diese« – nämlich die zuvor geschilderten in ihrer Tätigkeit behinderten Potenzen – »bewegen nicht, aber es ist ihnen möglich zu bewegen. Was möglich ist, ist – gemäß dem, was erklärt wurde, – in Potenz; und dasjenige, was bewegt, ist, solange es nicht aktuell bewegt, eine Potenz [quwwa]. Diese [Eigenschaften] sind den aktiven Potenzen [quwā fāʿila] und den bewegenden Potenzen [quwā muḥarrika] eigentümlich. […] Die bewegten Potenzen […] werden per prius ›Potenzen‹ genannt, während die bewegenden Potenzen nur per posterius und in übertragener Weise ›Potenzen‹ genannt werden.« »Potenz« ist nach Ibn Bāǧǧa also konsequent immer Gegenbegriff zum »Akt«, gleichgültig ob der entsprechende Akt im Wirken und Bewegen oder Leiden und Bewegtwerden besteht. Dennoch ist die Rede von passiven und aktiven Potenzen nicht univok, sondern die ersteren, die der reinen Potentialität näher stehen, tragen diese Bezeichnung im eigentlicheren Sinne als die aktiven, die dem Akt näher stehen, weil sie aus einem In-Akt-Seienden hervorgehen, insofern es in Akt ist. Diese Verhältnisse bringt eine Passage aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione noch genauer zum Ausdruck. Auch der Zusammenhang zwischen passiven und aktiven Potenzen wird dort noch besser verdeutlicht. [T 36] »[1] Die natürliche bewegende Potenz ist immer [a] das Bestehen [qiwām] eines natürlichen Körpers oder [b] sie besteht wegen eines natürlichen Körpers, und sie ist notwendig immer seiend. Sie wird aber nur in einer Weise als Potenz bezeichnet, die nicht der Weise entspricht, in der die passive Potenz als Potenz bezeichnet wird. Die Potenz im Passiven ist nämlich immer [a'] die Materie eines Körpers, nicht insofern sie dieser Körper ist, sondern insofern sie zugleich mit dieser körperlichen Existenz die Privation dieser anderen Existenz besitzt, oder [b'] die Materie eines gewissen Körpers, insofern er dieser Körper selbst mit dieser selben Existenz ist. Ihre Klassen sind bereits in der Metaphysik aufgezählt worden und ihre Typen sind dort dargelegt worden. [2] Aber durch diese Existenz wird jene nicht zu einer bewegenden Potenz, noch wird diese durch diese Existenz zu einer bewegten Potenz. Vielmehr bedarf jede von beiden einer anderen Existenz, und diese Prädikate sind gleichsam die Gattung für beide. [3] Die erste wird nur bewegend, wenn sie ihrem Wesen nach bei der Verbindung des Körpers, dem sie angehört, mit dem Körper, in dem die bewegte Potenz ist, den Körper, der in Potenz bewegt ist, bewegt, ohne dass noch eine andere Sache existieren muss.«49
49Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 20, 9–21, 9; mit MS B, f. 102v [arab.] sind folgende Änderungen vorzunehmen: Zeile 21, 7 lies iqtirān statt iftirāq und bi-l-ǧism statt fal-ǧism.
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Ibn Bāǧǧa verknüpft in diesem, auf den ersten Blick recht verwirrenden, bei genauerem Hinsehen jedoch sehr systematischen Text zuerst (Abschnitt 1) in ähnlicher Weise wie im Buch der Seele und in der Abhandlung über die Strebensseele die bewegende Potenz mit dem aktuellen Bestehen (qiwām), die bewegte Potenz mit der Materie und der Potentialität, nämlich der Potentialität, die etwas gegenüber einer anderen als der ihm gerade aktuell zukommenden Existenz besitzt. Auf Seiten sowohl der aktiven wie der passiven Potenzen unterscheidet er zwei Fälle. Worum es dabei geht, wird besser deutlich, wenn man die im Buch der Seele nur knapp, aber terminologisch deutlicher gegebene Feststellung hinzunimmt, dass einige bewegende also aktive Potenzen Akzidenzien sind, andere Formen (N II. 8). Bemerkenswerterweise verweist er dort, ebenso wie im gerade zitierten Text auf die Metaphysik, ohne das ganz klar wäre, genau welchen Teil seiner Aussage er damit stützen will, weshalb es schwerfällt, einen Referenztext zu identifizieren. Wie dem auch sei, die genannten zwei Fälle erklären sich leicht, wenn man auf die Diskussion in der Abhandlung über die Strebensseele zurückblickt, denn dort war deutlich geworden, dass etwas in Potenz oder in Akt entweder eine Substanz oder aber eine der neun übrigen (akzidentellen) Kategorien sein kann. Wenn Ibn Bāǧǧa behauptet, aktive Potenzen könnten Akzidenzien oder Formen sein, dann behauptet er damit, dass nicht nur passive Qualitäten sondern auch Wesensformen wirken beziehungsweise leiden können. Ein Beispiel dafür mag die Wärme sein, von der wir bereits gesehen haben, dass Ibn Bāǧǧa sie unter die passiven Qualitäten zählt, welche den Elementen zu eigen sind. Nun sagt er an einer Stelle, die Wärme sei, insofern sie Wärme sei, ein Seiendes (aḥad al-mauǧūdāt), insofern sie »wirke« (tafʿalu) dagegen, sei sie eine Potenz.50 Diese Aussage bekräftigt nicht nur die Unterscheidung zwischen Seinszustand und kinetischem Zustand, sie macht auch deutlich, dass man die Wärme ebenso als Wesensform – wohl des Feuers – betrachten kann, denn dasjenige, wodurch etwas ein Seiendes ist, ist ja seine wesentliche Form. Im übrigen bestätigt das auch der Kontext, in dem die Erörterung der Potenzen im Buch der Seele steht, denn dort geht es schließlich darum, die Nährseele als aktive Potenz zu bestimmen (N II. 13), die aber ist die Wesensform der Pflanzen, und unter Ibn Bāǧǧas Beispielen für an ihrer Tätigkeit gehinderte aktive Potenzen wurden ebenfalls die Seelen der Lebewesen erwähnt (N II. 7). Im vorliegenden Text ist [a] die aktive Potenz, die das Bestehen eines natürlichen Körpers ausmacht, also dessen Wesensform; [b] eine aktive Potenz, die »wegen« eines natürlichen Körpers besteht (qiwāmuhā li-ǧism), wäre ein diesem Körper akzidentell zukommendes Wirkvermögen. Auf Seiten der passiven Potenz nun, die der Materie des Körpers zukommt, wird in der zitierten Passage eine parallele Unterscheidung vorgenommen. Die Materie soll einmal [a'] Po50Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 66, 7–10.
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tenz sein, insofern sie, indem sie die Materie eines Körpers ist, in Bezug auf die Form eines anderen Körpers eine Privation besitzt, »die Privation dieser anderen Existenz«. In diesem Fall würde die Aktualisierung der betreffenden Potenz zur Realisierung dieser »anderen Existenz« führen, es handelte sich also um eine Erzeugung, um das Entstehen von etwas substantiell Neuem. Zum anderen [b'] soll die Materie Potenz sein, nur insofern sie die Materie eines bestimmten Körpers ist, also nicht insofern sie in Potenz ein anderer Körper ist. Diese Potenz muss der Materie mithin nicht »an sich« zukommen – soweit man davon bei der Materie überhaupt sprechen kann – sondern auf Grund der Form des Körpers, dessen Materie sie ist. In diesem zweiten Fall bliebe durch Aktualisierung der betreffenden Potenz der gegenwärtige Körper erhalten, der sich dann nur akzidentell verändern würde. Die beiden Typen aktiver und passiver Potenzen entsprechen einander also genau, sie sind einerseits mit dem Wesen des Seienden, andererseits mit seiner akzidentellen Beschaffenheit verbunden. Ibn Bāǧǧa gibt hier also zuerst eine Übersicht über die »kinetischen« aktiven und passiven Potenzen, die ein natürlicher Körper besitzt, insofern er die Seinszuständen des Aktes und der Potenz in Gestalt seiner Form und seiner Materie (und den ihnen folgenden Akzidenzien) – also als Ursachen – in sich enthält. Im nächsten Schritt (Abschnitt 2) hält er sodann die gleiche Überlegung fest, über die er im Buch der Seele nur in Bezug auf die aktiven Potenzen spricht: Die bewegenden und bewegten oder aktiven und passiven Potenzen sind durch ihre bloße Existenz noch nicht eigentlich aktiv und passiv, sie bedürfen dazu vielmehr »einer anderen Existenz«. Im Buch der Seele heißt es entsprechend, dass die aktive Potenz dann, wenn sie nicht aktuell bewegt, nur eine Potenz ist, und die Beispiele hatten dort klar gemacht, dass sie etwas benötigt, das Objekt ihres Bewegens werden kann. Dieses Objekt ist die »andere Existenz«, von der hier die Rede ist. Neu ist hier, dass dies auch auf die passive Potenz zutrifft, auch wenn man darauf verweisen kann, dass Ibn Bāǧǧa diesem Punkt im Buch der Seele dadurch gerecht wird, dass er bereits bei der Bestimmung des Leidens erklärt hat, dieses sei notwendig durch eine Beziehung zu anderem gekennzeichnet. Wirklich zentral ist dagegen Ibn Bāǧǧas Bemerkung, »diese Prädikate« seien »gleichsam die Gattung für beide«, denn damit wird das im Buch der Seele mehr implizit enthaltene Kriterium für die Verwendung des Potenzbegriffs expliziert: Was den passiven und aktiven Potenzen wie eine gattungsmäßige Bestimmung zukommt, das ist das Angewiesensein auf ein anderes, um zur Aktualität zu gelangen. Dies trifft aber eben auf die passiven Potenzen per prius, auf die aktiven Potenzen per posterius zu. Mit Hilfe dieser Bestimmung der Potenz lassen sich die passiven und aktiven Potenzen aus der Potentialität, das heißt aus der Potenz im ontologischen Sinne, ableiten. Schließlich bringt die zitierte Passage aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione noch eine letzte Präzisierung, indem sie ausdrücklich festhält (Abschnitt 3), dass das Objekt oder Komplement, auf das die aktiven
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und passiven Potenzen jeweils angewiesen sind, die jeweils korrespondierenden passiven und aktiven Potenzen sind. Körper wirken auf einander und erleiden Einwirkung von einander, wenn sie »sich verbinden« (iqtirān) und komplementäre aktive und passive Potenzen besitzen. Es handelt sich daher bei der Bestimmung des Potenzbegriffs, wie Ibn Bāǧǧa sie hier vorschlägt, nicht schlicht um eine Ausweitung des Begriffs auf Grund einer Ähnlichkeitsrelation. Vielmehr sind passive und aktive Potenzen ebenso wesentlich auf einander bezogen wie Potenz und Akt. Das heißt, dass das ontologische Verständnis nicht nur Ausgangspunkt der Verwendung des Potenzbegriffs ist, sondern die kinetischen Potenzen selbst Ausdruck der ontologischen Potenz-Akt-Spannung sind und diese gleichsam auf anderer Ebene fortsetzen. Nichts davon ist wohl wirklich neu und würde Aristoteles überraschen, neu ist jedoch das bewusste Bemühen, den ontologischen Begriff der Potenz, den Aristoteles als fundamentalsten betrachtet, auch zum Ausgangspunkt einer methodischen Bestimmung aller philosophischen Verwendungsweisen von quwwa– δύναμις zu machen. Aristoteles war dieser Weg vielleicht aus einfachen sprachgeschichtlichen Gründen verbaut – der aktive Sinn von δύναμις war zu präsent –, jedenfalls geht er ihn nicht. Bei Ibn Bāǧǧas systematischer Deutung des Potenzbegriffs können wir daher von einer Aristotelisierung von Aristoteles sprechen: Im Unterschied zu Aristoteles entwickelt Ibn Bāǧǧa den Begriff der Potenz aus ihrem ontologischen Verständnis heraus und dehnt ihn über die passive Potenz auf die aktive so aus, dass dabei nicht ein begriffstheoretischer Zusammenhang, sondern eine reale Eigenschaft zum Kriterium wird, die aktiven und passiven Potenzen gleichermaßen zukommt: Die Angewiesenheit auf eine komplementäre Potenz, um in Akt Veränderung und Sein zu erreichen. Gleichzeitig bleibt Ibn Bāǧǧas Ontologie der Potenzen jedoch eher eine physische als eine metaphysische, insofern er die aktiven und passiven Potenzen eben durch ihren Zusammenhang und ihre Rolle bei der Veränderung bestimmt. Die Perspektive der Veränderung, die Notwendigkeit, Veränderungsprozesse wie den der Ernährung zu erklären, diese ist Anlass für die Einführung von Potenz und Akt als ontologischen sowie aktiven und passiven Potenzen als kinetischen Prinzipien, anstatt dass metaphysische Annahmen über das Sein nur auf die Physik umgebrochen würden. Ibn Bāǧǧa gelingt es damit zugleich, Aristoteles’ metaphysische These über die Nachahmung des Ewigen in eine naturphilosophische Theorie einzubinden. Das Ewige wird zum obersten Ende einer Folge von Existenzstufen, die sich durch unterschiedliche Grade der Potentialität unterscheiden. Die unterste Stufe bilden die Lebewesen, die sich nach aristotelischer Auffassung nicht geschlechtlich fortpflanzen, sondern aus Spontanzeugung hervorgehen; sie erhalten durch diesen Vorgang die Nährseele, können diese Potenz jedoch nicht weitergeben, sondern sind für die fortgesetzte Existenz ihrer Art auf immer wieder erneute Einwirkung von außen angewiesen. Bei den sich fortpflanzenden Lebewesen auf der nächsten Stufe hat die Potenz einen höheren Wirkungsgrad, der dazu aus-
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reicht, ein neues Lebewesen hervorzubringen, das wiederum mit der gleichen Potenz ausgestattet ist (N II. 24). Das Ewige schließlich braucht sich nicht mehr in einem anderen fortzusetzen, sondern kann selbst und als ein und dasselbe in ungebrochener Kontinuität existieren, weil es in keiner Weise bloß Potenz, sondern vielmehr immer Tätigkeit ist. Dennoch will Ibn Bāǧǧa einen abgeschwächten Potenzbegriff auch hier gelten lassen, insofern die »Seelen der Himmelskörper« eine Ähnlichkeit zum aktiven Intellekt und der aktive Intellekt eine Ähnlichkeit zu den bewegenden Potenzen aufweist (N II. 9). Der Intellekt wird nämlich als Potenz bezüglich der Zeugung eingeführt (N II. 22–23), das heißt er zeigt sich dort in einem Veränderungsprozess als Prinzip dieser Veränderung. Damit hat Ibn Bāǧǧa nun aber die von Aristoteles ins Spiel gebrachte Nachahmungsrelation zumindest teilweise auf den Kopf gestellt (N II. 24 verfolgt die aristotelische): Die Tätigkeit des Ewigen kann erkenntnistheoretisch analogisch von den Tätigkeiten des Veränderlichen aus erschlossen werden, und zwar mittels des Begriffs der Potenz. In diesem Sinne ist es dann zu verstehen, dass Ibn Bāǧǧa neben Akzidenzien und Formen einen weiteren Typ aktiver Potenzen nennt (N II. 8): »Manchmal sind sie Seiende [mauǧūdāt], die nicht in Körpern sind, falls ihre Existenz erwiesen wird. Zu dieser Art zählen der aktive Intellekt und der erworbene Intellekt.« Das heißt, ausgehend von den aktiven Potenzen, die mit Existenz in Akt verbunden sind, ist es denkbar, dass es aktive Potenzen gibt, die so eng mit dem Akt verbunden sind, dass sie selbst als Akt existieren und von einem körperlichen und mithin materiellen und in Potenz befindlichen Subjekt abgelöst sind. Allerdings bedarf dies eines eigenen Beweises, ist also – zumindest in erkenntnistheoretischer Perspektive – nicht Ausgangs- sondern Zielpunkt einer hierarchischen Ordnung von Potenzen.
1.3. Potenz und reiner Akt Ibn Bāǧǧa eröffnet hier also in spannender Weise aus der Theorie der Potenzen selbst eine Perspektive auf den reinen Akt, und es lohnt sich daher, diesen Aspekt der Weiterentwicklung des Potenzbegriffs noch ein wenig genauer zu betrachten. Möglich ist das etwa in einer Passage seines Kommentars zu De generatione animalium. Im Zusammenhang mit der Betrachtung des Entstehens der Organe kommentiert Ibn Bāǧǧa dort die von Aristoteles hergestellte notwendige Verbindung der Seelenvermögen mit körperlichen Organen. Es sei klar, sagt er dort, dass Wahrnehmung, Ernährung, Wachstum und Bewegung »die Tätigkeiten [afʿāl] von Potenzen sind, welche Formen in den Körpern sind«.51 51Aristoteles, De generatione animalium, II. 4. Für dies und das Folgende siehe Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 176, 9–24.
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Hier geht es also um Formen als Potenzen, nicht notwendig um aktive, denn die Tätigkeiten des Sehens und der Bewegung etwa gehen aus »Einwirkungen« (infiʿālāt) hervor. Ibn Bāǧǧa hält fest: »Diese Einwirkungen sind Vollendungen und Tätigkeiten der körperlichen Potenzen, und sie sind daher nicht von ihnen abtrennbar.« Anschließend an diesen Gedanken geht Ibn Bāǧǧa in der Folge dann in einem Exkurs auf die Möglichkeit ein, dass einige Potenzen doch abgetrennt existieren könnten. [T 37] »In die Definitionen einiger Vollendungen werden die Materien aufgenommen, zum Beispiel werden die Beine in die Definition des Gehens aufgenommen und die Flügel in die Definition des Fliegens. Daher folgt notwendig, dass die aktiven Potenzen zu diesen nur zusammen mit den Organen existieren, denn wenn sie ohne sie existierten, wären sie Potenz. Bei jeder Potenz ist es nicht unmöglich, dass sie Akt ist. Aber wenn es Akt wäre, dann existierte das Gehen ohne Beine und das Fliegen ohne Flügel, und das ist abwegig. ›Potenz‹ wird nämlich nur das genannt, was bereit zu einer bestimmten Tätigkeit [oder: Akt (fiʿl)] ist. [a] Was [die Frage] angeht, wie die Potenz zu Entgegengesetztem besteht, so meint man hier mit ›Potenz‹ die reine Möglichkeit. [b] Die Potenz dagegen, die im spezifischeren Sinne so genannt wird, ist gleichsam die Form für jene, jene gleichsam die Materie; oder die Art, und die Möglichkeit ist die Gattung. [c] Die Potenz, von der gesagt wird, dass sie wirkt [annahā tafʿila], die wird mit einer stärkeren Äquivokation so genannt als diese, und sie stellt einen anderen Typ dar, dessen Wesen [māhīya] weit entfernt von diesen als einer Einheit ist, das ist von selber klar. Bei dieser Potenz hindert nichts, dass sie abgetrennt vom Leidenden existiert, vielmehr ist sie in vielen ihrer Subjekte so. Ein Beispiel dafür ist, dass irgendeine Farbe in Akt existiert, dass es dort aber überhaupt kein Sehvermögen [baṣar] gibt, das von ihr eine Einwirkung erfährt. [d] Ja, es hindert nichts, dass dieser Typ von Potenz vollständig abgetrennt von der Materie existiert, vielmehr ist das notwendig und bereits im achten [Buch der Physik] und an anderen Orten dargelegt worden.«52 Dieser Text bestätigt in aufschlussreicher Weise noch einmal, dass die Deutung des Potenzbegriffes, wie wir sie hier rekonstruiert haben, von Ibn Bāǧǧa tatsächlich an ganz verschiedenen Stellen seines Werkes mit bemerkenswerter Einheitlichkeit entwickelt wird. In dieser Passage beschreibt er vier Stufen der Anwendung des Begriffs der Potenz (Abschnitte a–d). Die als »reine Möglichkeit« 52Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 171, 1–14; mit MS B, f. 141v [arab.] sind folgende Korrekturen vorzunehmen: Zeile 171, 2 yuʾḫaḏu fī ḥaddihī statt yūǧadu fī; 171, 6 biʿainihī statt yaʿnīhu; nach dem zweiten al-quwwa ist hunā einzufügen; 171, 9 ist die in Anm. 12 genannte Lesart baʿīd zu wählen.
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bezeichnete vollständige Potentialität gegenüber Entgegengesetztem ist offenbar die Potenz der Materie, welche Inbegriff des ontologischen Verständnisses der Potenz ist (a). Diese bildet die Gattung für eine zweite, spezifischer so genannte Potenz, die, da sie mit der an dritter Stelle erwähnten aktiven Potenz kontrastiert wird, offenbar die passive Potenz bezeichnet (b). Hervorzuheben ist, dass das Verhältnis von Potentialität und passiver Potenz nicht nur als Gattungs-ArtRelation beschrieben wird, sondern auch als Materie-Form-Beziehung. Dies verleiht dem Zusammenhang, den wir bereits ans Licht gehoben haben, sprechenden Ausdruck, nämlich dass die kinetischen passiven Potenzen im Rahmen von Veränderungsprozessen den Potentialitätspol vertreten; sie sind gleichsam die »Form«, welche die Potentialität in konkreten natürlichen Seienden annimmt. Deshalb lassen diese ersten beiden Stufen sich auch als »eine Einheit« (ǧumla wāḥida) betrachten, wenn man sie den aktiven Potenzen gegenüberstellt, die in deutlich anderem Sinne Potenzen sind (c). Warum sie dennoch als Potenz bezeichnet werden können, sagt Ibn Bāǧǧa nicht explizit, er gibt jedoch zahlreiche Hinweise, die sich mit denen der hier bereits analysierten Texte decken: So heißt es zunächst grundsätzlich von jeder Potenz, dass es nicht widersprüchlich sei, dass sie Akt sei. Dies ist so, weil als »Potenz« bezeichnet wird, »was bereit [mustaʿidd] zu eine bestimmten Akt ist«. Dies kann jedoch, wie Ibn Bāǧǧas Beispiel ungesehener Farben deutlich macht, für vieles gelten, dass zwar in Akt ist, aber zumindest zeitweilig keine Auswirkung auf anderes ausübt. Diese aktiven Potenzen, zu denen auch hier, wie gesehen, ganz ausdrücklich einige seelische Vermögen gerechnet werden, sind dennoch nicht von der Materie in Gestalt von Körpern und Organen abgetrennt, »denn wenn sie ohne sie existierten, wären sie Potenz« – wobei in dieser Wendung »Potenz« offenbar im Sinne des ersten Typs, der reinen Potentialität, verstanden werden muss. Das heißt, aktive Potenzen in diesem Sinne stehen ontologisch zwischen reiner Potenz und reinem Akt, sie haben, anders als die passiven Potenzen, eine gewisse Unabhängigkeit, sind jedoch einerseits für ihre Existenz und andererseits für ihren Akt auf anderes – ihr Subjekt und ihr Objekt – angewiesen. Davon hebt sich die Stufe vollständig von der Materie getrennter aktiver Potenzen ab, für die Ibn Bāǧǧa auf Physik VIII, also offenbar auf den Beweis des unbewegten Bewegers, und auf »andere Orte« verweist (d), die man in der Intellektlehre vermuten kann. Dies jedenfalls dann, wenn man die hier beschriebene Stufe mit den aktiven Potenzen des aktiven und des erworbenen Intellekts identifizieren darf, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele als »Seiende« beschrieben hat. Der Text bestätigt dies später eindeutig, wenn Ibn Bāǧǧa im Kapitel über das rationale Vermögen über den dort nachgewiesenen aktiven Intellekt sagt, er sei Intellekt nicht dadurch, dass er von der Potenz zum Akt übergegangen sei, sondern weil er schon immer als Intellekt existiert hat. »Wir müssen daher die Ausdrücke auf ihn übertragen, welche aktive Potenzen bezeichnen, und keinen der Ausdrücke auf ihn übertragen, welche passive Potenzen bezeichnen« (N XI. 19).
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Indes stellt sich die Frage, ob die Ähnlichkeitsrelation, nach der »Potenz« ausgesagt wird, hier nicht überspannt und damit bedeutungslos wird? Lässt sich der reine Akt tatsächlich ausgehend von Potentialität und Potenzen nachweisen? Die Antwort darauf kann letztlich, wie angedeutet, nur die Kosmologie und die Intellektlehre Ibn Bāǧǧas geben, aber an dieser Stelle ist dazu zumindest das festzuhalten, was die Einheit des Potenzbegriffs unmittelbar betrifft. Die soeben betrachtete Passage hat ja noch einmal das Kriterium seiner Verwendung in Erinnerung gerufen, nämlich dass »Potenz« nur das genannt werden kann, was »bereit« ist zum Akt, aber eben nur insofern es noch nicht der Akt ist. Eine gewisse Spannung zwischen Bereitschaft und Akt müsste sich also auch beim Intellekt und den »Seelen der Himmelskörper« finden lassen, wenn Ibn Bāǧǧa ihnen – auch in noch so starker Verdünnung – den Titel von Potenzen zuerkennt oder – unter Vorbehalten – abspricht (N II. 8–9). Dass Ibn Bāǧǧa diesen Punkt tatsächlich konsequent in diesem Sinne behandelt hat, zeigt eine weitere Passage seines Kommentars zu De generatione et corruptione, wo er eine Hierarchie der Beweger unter dem Gesichtspunkt der Stetigkeit oder Kontinuität (ittiṣāl) der Bewegung liefert. Es ist dies der Anfang des in der Einleitung bereits erwähnten Exkurses zu den Potenzen. Ibn Bāǧǧas Ausgangspunkt ist dabei exakt das Zusammenspiel aktiver und passiver Potenzen, das wir hier bereits mehrfach angetroffen haben: [T 38] »Der Akt ist, absolut genommen, die Existenz dieser bewegenden Potenz als Bewegende, und das ist nur der Fall durch die Existenz des Bewegten als Bewegtes, und das ist angemessen, da wir ja die bewegte Potenz als seiend angenommen haben.«53 Ibn Bāǧǧa setzt also erneut bei der Überlegung an, dass zum Zustandekommen der Bewegung das Vorhandensein von aktiver und passiver Potenz erfordert wird.54 Er geht dann mögliche Hindernisse durch, welche die Bewegung unterbinden können, wobei die Art von Hindernissen, die das Bewegen des Bewegers verhindern können, zugleich etwas über das Wesen des Bewegers aussagt. Wenn das Hindernis auf Seiten der bewegenden Potenz liegt, besagt das, dass diese Potenz erst nur in Potenz besteht, woraus folgt, dass sie in einem Körper vorliegen muss. Erst die Beseitigung des Hindernisses setzt sie dann in den Zustand einer aktiven Potenz.55 Besteht das Hindernis dagegen auf Seiten des Bewegten oder
53Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 26, 5–7. 54Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 26, 5–10. 55Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 26, 10–27, 1. Auf diesen Fall bezieht sich Ibn Bāǧǧa wohl im Buch der Seele, wo er (N II. 7) von einem Beweger spricht, der nacheinander ein bewegender und ein nichtbewegender ist, im Unterschied von demjenigen, der als ein und derselbe zuweilen bewegt, zuweilen nicht.
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besteht es in der Entfernung des Bewegten vom Bewegenden, dann wird die aktive Potenz nicht selbst behindert, sondern nur insofern sie in einem Körper ist; dennoch impliziert die Beseitigung des Hindernisses hier ein »Bewegtwerden« auf Seiten des Bewegers. Wenn die Potenz dagegen immateriell ist, dann wird sie durch die Bewegung, die zur Aufhebung des Hindernisses führt, nur akzidentell bewegt. Wenn nämlich das Bewegte zuweilen behindert ist, bedeutet dies, dass die bewegende Potenz nur zeitweise bewegt. Ebenso ist es, wenn eine Entfernung zwischen beiden vorliegt, die hier nicht als eine Entfernung des Ortes sondern eine »Ferne in der Existenz« zu verstehen ist. In jedem Fall wird der Beweger selbst akzidentell bewegt.56 Diese Überlegung erlaubt Ibn Bāǧǧa nun eine dreiteilige Unterscheidung zwischen dem »ersten Beweger«, dem Intellekt und den Seelen der Lebewesen. Der erste Beweger wird noch nicht einmal akzidentell bewegt, weil dasjenige, was er bewegt, ewig ist und er infolge dessen ewig und kontinuierlich bewegen kann. Der Intellekt dagegen unterliegt der genannten Einschränkung, dass das Objekt seiner Bewegungstätigkeit manchmal existentiell fern ist. Dies ist dann der Fall – wie aus den erkenntnistheoretischen Betrachtungen hervorgeht, die Ibn Bāǧǧa anschließt –, wenn die Erkenntnisse des Menschen noch nicht begriffliches, das heißt intellektuelles Niveau erreicht haben.57 Die Seelen schließlich bewegen aus zwei Gründen nicht ewig. Erstens wegen der zuweilen eintretenden »Ferne des Bewegten« und zweitens, weil sie selbst nicht ewig sind. Was den ersten Faktor angeht, so erklärt ihn Ibn Bāǧǧa noch dahingehend, dass die Seelen sich zwar selbst nicht verändern, aber Form eines Veränderlichen sind.58 Ich vermute, dass man unter der erwähnten »Ferne« und der entsprechenden Nähe, die Ibn Bāǧǧa in seinem Physikkommentar ebenso als »seine Nähe und Ferne in der Existenz« erwähnt,59 den Grad der Verwirklichung zu verstehen hat, den der beseelte Körper gegenüber dem, was in seiner Seele an Möglichkeiten angelegt ist, erreicht hat.
56Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 27, 2–13. 57Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 36, 12–40, 4. Auf den Intellekt als ewigen Beweger, dessen Objekt nicht ewig ist, wird auch in Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 215, 7–12 angespielt. Vgl. besonders die Formulierung 215, 8f »wenn klar geworden ist, dass etwas mit dieser Eigenschaft existiert« mit der Formulierung im Buch der Seele, N II. 8 »falls ihre Existenz bewiesen wird«. 58Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 27, 13–28, 11. Lies mit MS B, f. 103v [arab.] in Zeile 28, 4 tuḥarriku statt yataḥarraku. Meine Deutung weicht erheblich von der durch Puigs Übersetzung (S. 31) nahegelegten ab. Dass Ibn Bāǧǧa hier einen Unterschied zwischen den Seelen und dem Intellekt macht, geht auch aus dem in der vorigen Fußnote genannten Abschnitt im Kommentar zur Physik (Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 214, 14–215, 12) hervor, wo Ibn Bāǧǧa neben den Seelen, die als vergänglich beschrieben werden (214, 20), einen ewigen aber nicht ewig bewegenden Beweger erwähnt. 59Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 219, 10–11.
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Unsere Frage, was die angemessene und einheitliche Verwendung des Potenzbegriffs angeht, wäre also zumindest für den Intellekt vorläufig beantwortet. Dieser ist nämlich an sich zwar immer reiner Akt, verursacht aber »Bewegung« beim Menschen nur dann, wenn der Mensch dieser intellektuellen Einwirkung gegenüber empfänglich geworden ist. Auch für den »ersten Beweger« ist aber immerhin angedeutet, worin die Ähnlichkeit mit dieser Weise Potenz zu sein bestehen mag, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele erwähnt hat. Denn wenn man akzidentelle Einflüsse berücksichtigt, die zwar nicht den Beweger, aber die von ihm verursachte Bewegung treffen, bieten sich in Ibn Bāǧǧas naturphilosophischen Schriften mehrere Hinweise auf solche »potentiellen« Aspekte von Himmelsbewegungen. Zum einen führt Ibn Bāǧǧa in seinem Kommentar zur Physik noch eine weitere Stufe in der Hierarchie der Beweger ein, indem er die Beweger der Himmelskörper vom ersten unbewegten Begweger unterscheidet. Die Beweger der Himmelskörper werden nämlich zwar durch den ewigen Körper, den sie bewegen, nicht akzidentell bewegt, werden jedoch von einem anderen Beweger akzidentell bewegt. Auf den ersten unbewegten Beweger dagegen trifft selbst das nicht zu.60 Mit dieser akzidentellen Bewegung durch einen anderen Beweger ist offenbar gemeint, dass der Himmelskörper, den solch ein ewiger aber nicht primärer Beweger bewegt, immer auch durch die nächst höhere Sphäre bewegt wird und daher eine (gleichfalls ewige) Bewegung erfährt, die so akzidentell auch seinem eigentlichen Beweger zukommt.61 Zum zweiten schreibt Ibn Bāǧǧa im Zusammenhang der Betrachtung von möglichem und notwendigem Sein dem Mond eine Potenz sich zu verfinstern zu (N II. 3), da die Finsternisse zwar von ewigen und gleichmäßigen Bewegungen verursacht werden, selbst aber nicht kontinuierlich, sondern intermittierend auftreten. Schließlich sollte erwähnt werden, dass sich nach Ibn Bāǧǧa auch bei der Himmelsbewegung von Möglichkeit insofern sprechen lässt, als der Himmelskörper sich nicht an allen Punkten seiner Bahn zugleich befindet und damit stets eine »Potenz« zu denjenigen besitzt, an denen er gegenwärtig nicht ist.62 Wir können es bei diesem kurzen Einblick in Ibn Bāǧǧas kosmologische Annahmen hier bewenden lassen. Was sie in Bezug auf seine Theorie der Potenz zeigen, ist die Tatsache, dass er diese auch im Bereich des reinen Aktes, dem er sich mit Hilfe dieser Theorie nähert, auf das ontologische Verständnis von Potenz als Potentialität stützt. Auf diese Potentialität gehen, wie wir gesehen haben, die passiven und aktiven Potenzen zurück durch die geteilte Eigenschaft der Abhängigkeit von etwas anderem, durch das allein der Akt möglich ist. Damit besteht bei den untersuchten Potenzen je schon ein Bezug auf den Akt als 60Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 219, 4–220, 4. 61Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 218, 6–219, 4. 62Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 179, 5–180, 1; ed. Faḫrī, 141, 6–16.
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solchen, und eben damit die Möglichkeit, deren Ergreifung durch Ibn Bāǧǧa wir zuletzt beobachtet haben, sich aus der Betrachtung der Potenzen heraus einem reinen Akt anzunähern. Mit diesem vertieften Einblick in die Grundlagen von Ibn Bāǧǧas allgemeiner Theorie der Potenz, können wir nun in den weiteren Abschnitten dieses Kapitels und in den folgenden Kapiteln Schritt für Schritt untersuchen, wie Ibn Bāǧǧa die aktiven und passiven Potenzen als universelle naturphilosophische Erklärungsprinzipien einsetzt, mit denen sich einerseits die Konstitution eines lebendigen Körpers und andererseits die Funktionsweise seiner seelischen Vermögen erklären lässt. Dieser weit gespannte Horizont kann beispielhaft an den Zusammenhängen gezeigt werden, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele in einem späteren Ausschnitt aus dem Kapitel über das Nährvermögen skizziert (N II. 18– 19). Dort sind bezogen auf die aktive Potenz, als welche Ibn Bāǧǧa die Nährseele identifiziert (N II. 13), gleich fünf Theoriekomplexe genannt, die im Folgenden schrittweise analysiert werden müssen: Zum einen ist von (1) den Elementen als Bestandteilen des belebten Körpers die Rede, die (2) durch Ortsbewegung in Kontakt kommen müssen, damit (3) aus ihnen durch gegenseitige Verwandlung, sprich »Mischung«, der Körper entstehen kann. Dies sind allesamt Aspekte, die, wie wir bereits gesehen haben, auf die »passiven Qualitäten« der Elemente also ihre aktiven und passiven Potenzen zurückgeführt werden. Sie bilden die Themen der folgenden Abschnitte dieses Kapitels. Weiterhin ist (4) die angeborene Wärme als Bedingung einer solchen Mischung genannt, aus der ein belebter Körper hervorgehen kann. Unter anderem aus diesem Grunde muss sie als primäres Organ der Seele aufgefasst werden, mittels dessen (5) die Nährseele etwa als aktive Potenz die Nahrung »bewegt« und »in Akt« zu einem Teil des Körpers macht. Diese Überlegungen werden in den Kapiteln 10 bis 12 weitergeführt.
1.4. Gegen Shlomo Pinesʼ »Dynamik« Wie die vorstehende Übersicht nochmals verdeutlicht hat, hängen große Teile der Naturphilosophie Ibn Bāǧǧas und insbesondere seiner Psychologie von der Bestimmung des Potenzbegriffs ab. Es ist daher sicherlich nicht überflüssig, zum Beschluss dieser ersten allgemeinen Untersuchung, den Kern des in ihr erreichten Ergebnisses noch einmal deutlich vor Augen zu stellen. Dies kann anhand von Shlomo Pines’ Studie unter dem Titel »Die Dynamik Ibn Bāǧǧas« (La dynamique d’Ibn Bāǧǧa, 1964) geschehen, die zum ersten Mal Ibn Bāǧǧas Naturphilosophie genauer in den Blick nahm und noch heute zu den einflussreichsten Untersuchungen seiner Philosophie zählt. Im vorhergehenden Kapitel (Abschnitt 3) haben wir aus der beschränkten Persepktive der Ortsbewegung bereits einige von Pines’ Annahmen über Ibn Bāǧǧas Verwendung des Potenzbegriffs widerlegen können. Die zentrale systematische These seines Aufsatzes ist
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meines Wissens von der Forschung weder überprüft noch aufgegriffen worden, doch sie betrifft genau die Theorie der Potenz, mit der wir hier befasst sind, und darf schon deshalb nicht übergangen werden. Pines glaubte nämlich in Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik den Versuch aufgespürt zu haben, die aristotelische Theorie der Bewegung zu vereinheitlichen, indem zwei grundverschiedene, ja gegensätzliche Begriffe der Potenz, die sich bei Aristoteles finden, auf einen einzigen reduziert werden. Aristoteles, so Pines, spreche nämlich einerseits von δύναμις im Sinne einer aktiven bewegenden Potenz, synonym mit »Kraft«, andererseits aber von einer rein passiven Potenz als Antithese des Aktes. Ibn Bāǧǧa soll nun nur den Begriff der Potenz im Sinne einer aktiven Kraft übernommen und mit ihm etwa sowohl die natürliche als auch die gewaltsame Ortsbewegung erklärt haben, während Aristoteles die erstere im Rahmen von Potenz-Akt-Beziehungen und nur die letztere durch aktive Kräfte erkläre.63 Wir haben jedoch bei der Untersuchung der Ortsbewegung anderes festgestellt: Die natürliche Bewegung der Elemente erklärt sich auch bei Ibn Bāǧǧa durch das In-Potenz-Sein des Elements gegenüber einem seiner wesentlichen Akzidenzien, nämlich seinem natürlichen Wo.64 Die Interaktion zwischen den Elementen, oder auch zwischen den aus ihnen aufgebauten Körpern, durch gewaltsame Bewegungen wird von Ibn Bāǧǧa mit dieser Theorie vielmehr dadurch verknüpft, dass er Bewegung selbst als eine »aktive Potenz« bestimmt, die etwa so übertragbar ist wie die aktive Potenz der Wärme.65 Wir sehen nun, dass Ibn Bāǧǧa damit die gewaltsame Bewegung in eine viel umfassendere Theorie der Potenzen integriert, allerdings so wie es bereits ihre Verknüpfung mit der natürlichen Ortsbewegung vorzeichnet, nämlich gerade im Ausgang von der Potenz-Akt-Beziehung. Genau diese Art der Vereinheitlichung hatte Pines aber ins Auge gefasst, nur um sie als ungangbar beiseite zu legen: »Denn es ist schwierig – wenn vielleicht auch nicht unmöglich – zur Verwirklichung der Einheit des Systems, die als aktive bewegende Kraft betrachtete dynamis in das Universum der aristotelischen Physik und Metaphysik einzufügen, das gekennzeichnet ist durch den ständigen Rückgriff auf die komplementären Begriffe des Aktes (energeia) und der dynamis im passiven Sinne.«66
63Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 450–453. 64Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 2.3. 65Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 3. 66Pines, La dynamique d’Ibn Bajja, 451: »Car il est difficile – quoique, peut-être, pas impossible – de faire entrer, afin de réaliser l’unité du système, la dynamis considérée comme force motrice active dans l’univers de la physique et de la métaphysique aristotéliciennes qui est caractérisé par le recours perpétuel aux notions complémentaires d’acte (energeia) et de dynamis prise dans le sens passif.«
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Hier haben wir, gleichsam als Negativ, eine genaue Beschreibung dessen, was wir anhand mehrerer dem Potenzbegriff gewidmeter Texte rekonstruiert haben, die über Ibn Bāǧǧas gesamtes Œuvre verstreut, aber inhaltlich auffällig konstant sind. Es hat sich nämlich gezeigt, dass gerade dies Ibn Bāǧǧas Bestreben ist: das dynamische Konzept der Potenz in den Rahmen der ontologischen Theorie der Potenz »einzufügen«. Dass Pines zum entgegengesetzten Resultat gekommen ist, hat selbstverständlich mit dem seinerzeit wenig fortgeschrittenen Stand der Edition und Erforschung von Ibn Bāǧǧas Schriften zu tun, so dass ihm Texte fehlten, die als Korrektiv seiner auf Grund eines kleinen Ausschnitts des Physikkommentars gebildeten These hätten dienen können. Auf der anderen Seite hat eine verkürzende Lektüre des aristotelischen Potenzbegriffs sicher viel zu Pines’ Irrtum beigetragen, denn er stellte die Potenz, »die in aktiver Weise eine Bewegung erzeugt«, direkt der Potenz »als Antithese des Aktes« gegenüber, während wir deutlich gemacht haben, dass Aristoteles auch eine passive kinetische Potenz kennt. Demnach muss das Paar der aktiven und passiven kinetischen Potenzen der ontologischen Potenz gegenübergestellt werden, die sich ihrerseits mit dem Akt paart. Was die passive kinetische Potenz von der ontologischen unterscheidet, das ist ihre Beschränkung auf den Bereich der Bewegung und Veränderung, wo sie als Ursache auftritt, während die ontologische Potenz, wie es ihr Name sagt, den Seinszustand der betreffenden Sache bezeichnet. Es handelt sich also um zwei verschiedene Ordnungen, die von Aristoteles nominell nur durch eine pros-hen-Relation zusammengehalten werden, die merkwürdigerweise nicht den fundamentalen ontologischen, sondern den aktiven Sinn zum Referenzpunkt hat. Dagegen bleibt Aristoteles’ systematische Verbindung der beiden Ordnungen den vielen Detailtheorien der Naturphilosophie vorbehalten, wo sie implizit immer, explizit aber kaum je präsent ist. Genau dort scheint Ibn Bāǧǧa sie nun aufgesucht zu haben, um durch eine kohärente Entwicklung des Potenzbegriffs die eine Ordnung in die andere »einzufügen«. Das Verbindungsstück ist dann nicht mehr wie in Aristoteles’ Darlegungen in der Metaphysik hauptsächlich begrifflicher Natur, sondern stellt mit der Unvollständigkeit eine allen Potenzen zukommende reale Eigenschaft dar. Pines hatte also wohl recht, wenn er bei Ibn Bāǧǧa das Bestreben zur Vereinheitlichung der Dynamik entdeckt und hervorgehoben hat. Jedoch leistet Ibn Bāǧǧa dies gerade nicht, wie Pines annimmt, indem er einen Aspekt der aristotelischen Lehre zu Lasten eines anderen stärkt, sondern indem er die Logik des Systems klärt und ausbaut. Eher als mit einer neuen Dynamik hat man es hier mit einer Ontologisierung der Bewegung zu tun: Angesichts ihres Zustandes der Unvollständigkeit zeigen sich die bewegenden Potenzen, die Prinzipien der Bewegung sind, als Potentialitäten, die sich mithin notwendig auf einen Akt beziehen, der nicht in ihrer alleinigen Macht steht.
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2. Konstitution und Funktion der Elemente 2.1. Primäre Potenzen in verschiedenen Perspektiven Mit der Kenntnis der allgemeinen Funktionsbestimmung der aktiven und passiven Potenzen ausgestattet, können wir uns nun der naturphilosophischen Anwendung des Konzeptes zuwenden. Es konnte bereits zu Beginn dieser Studie festgestellt werden, dass Ibn Bāǧǧa bei seiner Untersuchung der Seele ganz bewusst diejenigen Potenzen des beseelten Körpers mit einbezieht, die dieser mit der unbelebten Natur teilt, vornehmlich also die Potenzen der einfachsten natürlichen Körper, der Elemente.67 Aus den Elementen ist der Körper in letzter Analyse aufgebaut, und darum muss geklärt werden, wie auf ihrer Grundlage die Konstitution eines belebten Körpers mit seinen spezifischen, nämlich seelischen Potenzen möglich ist. Damit jedoch diese Überlegungen Ibn Bāǧǧas wirklich durchsichtig werden, sind zunächst einmal die Elemente mit ihren Potenzen und Eigenschaften für sich zu betrachten. Dass Ibn Bāǧǧa selbst dieser Ansicht ist und in welches Verhältnis er diese Forschungsgebiete setzt, das wird hervorragend in einer Passage seines Kommentars zu Aristoteles’ zoologischen Schriften, dem Buch der Lebewesen, deutlich. Ausgangspunkt seines Exkurses an dieser Stelle sind Aristoteles’ Reflexionen über Blut und Wärme. Das Blut ist offensichtlich eines der wichtigsten Organe der Lebewesen und seine Eigenschaften wie Dünne oder Dicke, Kälte oder Wärme sind nach Aristoteles’ Auffassung die Ursachen für viele Eigenschaften der Lebewesen und für die Unterschiede sowohl zwischen verschiedenen Arten als auch bei einer Art zwischen verschiedenen Körperteilen.68 Jedoch lässt sich laut Aristoteles erst klären, wozu die Lebewesen das Blut brauchen und was dessen Natur ist, wenn man das Warme und Kalte untersucht hat, da »die Natur von vielem auf diese Prinzipien zurückgeführt wird«.69 Ibn Bāǧǧa macht sich zum Echo dieser Annahmen und dieser Vorgehensweise und greift dann in seiner Betrachtung des Warmen gar noch viel weiter zurück als Aristoteles selbst.70 Seine Bemerkungen setzen nämlich eben bei der allgemeinen
67Siehe Kapitel 6, vgl. N II. 18. 68Aristoteles, De partibus animalium, II. 2, 647b29–35. 69Aristoteles, De partibus animalium, II. 2, 648a19–23. 70Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 107, 7–11: »Da ihre Differenzen das Warme, Kalte, Feuchte und Trockene sind, und dasjenige, was diese besitzt, auch dadurch differenziert wird, wieviel es vom Warmen hat, so sind einige von ihnen heißer, andere kälter, einige dünner und feiner, andere dicker und gröber. Wir müssen über diese sprechen und auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, damit man die Erörterung über das Feine und seinen Gegensatz erfasst und [darüber], wie beide im Blut und in anderem existieren, denn Aristoteles hat dem die Erörterung über das Wärmere und Kältere vorangestellt.« Mit MS B, f. 136v [arab.]
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Perspektive auf die Potenzen an, die wir im vorangegangenen Abschnitt kennengelernt haben: [T 39] »Wir sagen, dass es unter den Seienden einige gibt, die immer in Akt sind, und zwar sind das die ersten Körper, ich meine die Himmelskörper, und es gibt andere, die nicht so sind, und zwar zwei Typen. Die einen sind manchmal in Potenz und manchmal in Akt, und zwar sind das die aus den Elementen zusammengesetzten und die Akzidenzien, die in ihnen existieren. Die anderen existieren in Potenz wie die Bewegung und die Zeit. Zu diesen [ersteren] gehört, was eine einzige Art von Vollendung besitzt wie die Vaterschaft, die Sohnschaft, das Gerade und Ungerade und überhaupt alles, worin keine Veränderung stattfindet. Dazu gehört aber auch, was eine vollkommenere Existenz und eine verminderte Existenz hat, wie die Wärme und Kälte und dasjenige, worin Bewegung ist, denn die Erwärmung ist unvollendete [ġair mustakmila] Wärme. Die Potenz aber ist entweder mit dem Akt verbunden, gemäß dem, was bereits bei der Definition der Veränderung dargelegt worden ist, oder es kommt ihnen akzidentell zu, Potenzen zu sein. Dazu gehören zwei Typen, entweder sind sie Potenzen, durch die der Körper Materie ist, und das sind die Feuchtigkeit und die Trockenheit, oder etwas, durch das der Körper einen anderen Körper bewegt, und das sind die Wärme und die Kälte. Die ersteren werden passive Potenz genannt und diese zweiten werden aktive Potenzen genannt. All das wurde bereits in De generatione et corruptione dargelegt.«71 Die Elemente sind hier den Himmelskörpern gegenübergestellt, insofern beide eine Sphäre des Seienden darstellen: Die Himmelskörper existieren immer in Akt, die Elemente und alles, was aus ihnen zusammengesetzt ist, unterliegen der Spannung zwischen Potentialität und Akt. In diesem letzteren Bereich gibt es (1) einerseits solches, das nur entweder in Potenz oder in Akt sein kann, aber keinen Übergang zwischen beiden kennt wie Relationen, und (2) solches, das von einem ins andere übergeht und deshalb, insofern es in Potenz ist, eine »verminderte Existenz« hat, sofern es in Akt ist, eine »vollkommenere Existenz«. Schließlich kann (3) der Prozess selbst und von ihm Abhängiges wie die Zeit gesondert betrachtet werden, und man kann dann sagen, dass sie als Potentielles existieren. Wichtig an dieser Stelle ist nur die zweite Gruppe, zu der die Elemente selbst
sind hier folgende Änderungen am Text vorzunehmen: Zeile 107, 7 fuṣūl statt uṣūl; 107, 8 wayunfaṣilu statt wa-sanufaṣṣilu. 71Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 108, 7–109, 2. Folgende Änderungen sind vorzunehmen: Mit MS B, f. 137r [arab.] lies in Zeile 108, 7 al-aǧsām al-uwal aʿnī al-aǧrām statt hiya al-aǧsām; 108, 13 yaʿriḍu statt yaʿrifu; mit MS O, f. 99r streiche in Zeile 108, 14f die in eckigen Klammern stehenden Wörter und füge in 108, 15 bi-hā nach mā ein.
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gehören, zumal – wie wir bereits wissen (Kapitel 7, Abschnitt 1) – die anderen Erscheinungen von diesem sich Verändernden abhängen. Nun führt Ibn Bāǧǧa passive und aktive Potenzen der Elemente ein genau als die Momente, welche Ursache für die Spannung zwischen »verminderter« und »vollkommenerer« Existenz sind, wobei diese Spannung sich aber selbst innerhalb des (vergänglichen) Seins in Akt situiert. Es handelt sich also präzise um den Ort, den die abstrakteren Überlegungen zum Potenzbegriff im letzten Abschnitt als Ort der passiven und aktiven Potenzen ausgewiesen haben. Den Unterschied zwischen beiden, passiven und aktiven, definiert Ibn Bāǧǧa zunächst noch einmal allgemein: »Die Potenz aber ist entweder mit dem Akt verbunden, gemäß dem, was bereits bei der Definition der Veränderung dargelegt worden ist, oder es kommt ihnen akzidentell zu, Potenzen zu sein.« Das heißt, es handelt sich einerseits um etwas, das auch mit dem Akt verbunden noch Potenz ist, also eine passive Potenz, die durch einen Akt eine Bewegung erleidet, und andererseits um etwas, das nur akzidentell Potenz ist, also eine aktive Potenz, die diesen Namen nur in sofern trägt, als sie, um im Vollsinne aktiv zu sein, ein Objekt braucht. In diesem Sinne kann Ibn Bāǧǧa nun Feuchtigkeit und Trockenheit als passive Potenzen bestimmen, »durch die der Körper Materie ist«, also Bewegung aufnimmt, und Wärme und Kälte als aktive Potenzen, durch die »der Körper einen anderen Körper bewegt«. Nachdem er die kinetischen Potenzen der Elemente aus ihrem ontologischen Kontext heraus eingeführt hat, bemüht er sich im nächsten Schritt, verschiedene Perspektiven auf diese Potenzen zu differenzieren: [T 40] »Zwischen unserer Aussage über die Wärme, dass sie ›in Potenz‹ ist, und unserer Aussage, dass sie ›eine Potenz‹ ist, besteht ein sehr deutlicher Unterschied. Was die Rede von der Wärme angeht, insofern sie in Potenz oder in Akt ist, so kommt dieses Erleiden der Wärme, insofern sie ›eine Potenz‹ ist, nicht zu. Die Betrachtung über sie findet sich in De caelo, da sie zu den Folgeeigenschaften des natürlichen Körpers gehört, insofern er die Existenz besitzt, die ihm eigentümlich ist. Ihre Betrachtung, insofern sie Potenzen sind, ist dagegen in der Schrift De generatione et corruptione und in der Schrift der Meteorologie dargelegt worden. Denn sie sind, insofern sie in Potenz oder in Vollendung sind, eines der Seienden der Welt; und sie sind, insofern sie eine Potenz sind, eines der Organe, denn sie bedürfen eines Bewegers. Daher wechseln ihre Tätigkeiten entsprechend den Substanzen, in denen sie sind. Wie das Messer ein einziges Werkzeug ist und seine Tätigkeit immer das Schneiden schlechthin ist, unabhängig davon, wie zufällig die Art des Scheidens zustande kommt: Der Federspitzer spitzt damit die Feder, der Schlachter schneidet damit das Fleisch und der Schreiber beschneidet damit den Blattrand. Ebenso ist die Wärme manchmal eine in den Körpern, und jeder einzelne von ihnen gebraucht sie auf die Weise, die in seiner Natur liegt. Daher hat Aristoteles
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sie in zwei seiner Schriften – der Schrift De generatione et corruptione und der Schrift der Meteorologie – definiert, insofern sie Potenzen sind, da er sie an diesen beiden Stellen betrachtet, insofern sie Organe sind, denn sie sind Organe der Elemente. Und zwar werden sie dort entsprechend ihrer Existenz als Organe durch ihre vornehmlichen [mutaqaddima] Tätigkeiten definiert – wie wenn man das Messer durch das Schneiden schlechthin definiert –, in der Meteorologie aber, insofern sie Organe unbeseelter Körper sind, und ihre Tätigkeiten werden entsprechend aufgezählt, denn die Potenzen werden nur durch die Tätigkeiten definiert. Ebenso müssen wir ihre Tätigkeiten betrachten, insofern sie Beseeltem zukommen und in beseelten [Körper]teilen sind.«72 Hatte Ibn Bāǧǧa zunächst (T 39) die kinetische Potenz »Wärme« in das PotenzAkt-Schema eingeordnet, so versucht er nun, die kinetische Perspektive, dass die Wärme »eine Potenz« ist, von der ontologischen zu sondern, dass sie »in Potenz« ist. Insofern die Wärme eine Potenz ist, fragt man gerade nicht mehr danach, ob sie in Potenz oder in Akt existiert, denn sie kann ja nur wirken, sofern sie existiert. Fragt man danach, ob die Wärme in Potenz oder in Akt existiert, dann fragt man nach den »Folgeeigenschaften« (lawāḥiq) eines natürlichen Körpers, denn man fragt dann ja, ob etwas aktuell warm ist oder nicht. Man betrachtet die Wärme also unabhängig von ihrer Wirkung auf anderes und insofern sie für sich genommen – als ein »Seiendes der Welt« – existiert. Untersucht man sie dagegen als Potenz, dann betrachtet man die Wärme als »Organ der Elemente«, also insofern sie nicht bloß eine Eigenschaft dieser natürlichen Körper ist, sondern das, womit diese Körper auf andere einwirken. Als »Organ« bezeichnet sie Ibn Bāǧǧa offenbar deswegen, weil sie hier nicht für sich, sondern gerade als Mittel im Blick ist.73 Es ist nun bezeichnend für Ibn Bāǧǧas systematische Herangehensweise an die Potenzen, dass er meint, diese unterschiedlichen Perspektiven einzelnen aristotelischen Schriften zuordnen zu können – die ontologische Perspektive De caelo, die kinetische Perspektive De generatione et corruptione und der Meteorologie. Dies ist um so aussagekräftiger für Ibn Bāǧǧas bewusste Strukturierung dieser naturphilosophischen Disziplinen anhand der primären Potenzen, als Aristoteles in De caelo die Wärme und die übrigen drei Potenzen so gut wie gar nicht nennt, sie auf jeden Fall nicht thematisch behandelt. Man muss schon sehr 72Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 109, 2–18. Folgende Korrekturen sind notwendig: Mit MS B, f. 137r [arab.] und MS O, f. 99r ist in Zeile 109, 2 nach al-ḥarāra einzufügen innahā bi-l-quwwa wa-bain qaulinā innahā quwwa farq ẓāhir ǧiddan wa-amma l-qaul fī l-ḥarāra; 109, 11 wāḥid… yastaʿamiluhā statt wāḥida… tastaʿamiluhā; 109, 13 naẓruhū statt naẓra; 109, 17 li-mutanaffisa statt mutanaffisa; mit MS O ist in Zeile 109, 16 bi-qadr nach afʿāluhā einzufügen und in 109, 17 yaǧibu an nanẓar fī afʿālihā zu lesen statt yuḥidduhā Arisṭū bi-afʿālihā. 73Siehe Kapitel 10 zur allgemeinen Bestimmung von Organen.
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genau hinsehen, um Anhaltspunkte für die Perspektive zu finden, die Ibn Bāǧǧa diesem Text zuschreibt. Tatsächlich untersucht Aristoteles in De caelo, Buch III, die vier sublunaren Elemente und in Buch IV deren Eigenschaften »schwer« und »leicht«, die Wärme wird aber gerade nicht berücksichtigt. Am Ende von Buch III, zum Abschluss seiner Widerlegung der platonischen Theorie der Elemente als durch ihre Figur bestimmte einfache Körper, kommt Aristoteles jedoch zu einem Ergebnis, das zu Ibn Bāǧǧas Beschreibung passt. Er bemerkt nämlich, die differenzierenden Merkmale der Elemente müssten in Übereinstimmung mit den »Eigenschaften, Potenzen und Bewegungen« (πάθη, δυνάμεις, κινήσεις), beziehungsweise mit den »Eigenschaften, Tätigkeiten und Potenzen« (πάθη, ἔργα, δυνάμεις) der Elemente sein, und diese müssten zunächst untersucht werden.74 In diesem Zusammenhang finden warm und kalt oder auch Wärmen und Verbrennen als Tätigkeiten des Feuers Erwähnung.75 Das heißt, Aristoteles untersucht hier zwar nicht die Wärme als Eigenschaft von natürlichen Körpern, insofern sie diesen in Potenz oder in Akt zukommt, aber er nennt dies immerhin als zu klärende Frage und führt im folgenden Buch IV eine ähnliche Betrachtung für die Eigenschaften »schwer« und »leicht« durch. Allerdings wird an dieser Abhandlung ebenso wie bereits an den genannten Formulierungen deutlich, dass die Eigenschaften und Potenzen nicht unabhängig von den von ihnen ausgehenden Bewegungen untersucht werden können. Das gilt dann eben auch für die aktiven und passiven Potenzen, für die Ibn Bāǧǧa ja bezeichnenderweise auf De generatione et corruptione und nicht auf De caelo verwiesen hat (T 39, Ende). Im zweiten Buch von De generatione geht die Untersuchung der aktiven und passiven Potenzen als konstitutive Eigenschaften der Elemente aber gleichfalls mit dem Studium ihrer Wirkung einher.76 Die von Ibn Bāǧǧa unterschiedenen Perspektiven haben also weniger mit realen Gegenständen der aristotelischen Schriften zu tun. Er schreibt sie diesen vielmehr deshalb zu, weil die Perspektiven selbst systematisch notwendig sind und irgendwo innerhalb der aristotelischen Naturphilosophie verankert werden müssen. Ibn Bāǧǧa geht davon aus, dass die aktiven und passiven Potenzen als einheitlicher Gegenstand in verschiedenen Disziplinen in verschiedenen Hinsichten untersucht werden. Das ist bei Aristoteles aber noch nicht einmal terminologisch der Fall. Abgesehen von dem, was wir bezüglich De caelo bereits beobachtet haben, spricht Aristoteles auch in De generatione et corruptione, wo die vier Eigenschaften am ausführlichsten behandelt werden, von ihnen kaum als Potenzen. Aristoteles konzipiert die vier Elemente, Erde, Wasser, Luft und Feuer dort als die vier 74Aristoteles, De caelo, III. 8, 306b29–31; 307b18–24. 75Aristoteles, De caelo, III. 8, 307a13f; 307b6. 76Vgl. etwa Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b15–25.
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einfachsten Körper, die durch die vier möglichen Kombinationen einer einheitlichen Materie als Substrat mit je zwei Merkmalen von den beiden Gegensatzpaaren heiß/kalt und feucht/trocken zustande kommen.77 Aristoteles bezeichnet diese Merkmale auf unterschiedliche Weise, zumeist nur in Rücksicht auf ihre Paarung als »Gegensätze« (ἐναντία). Von solche Gegensätzen gibt es allerdings mehr als nur die genannten, zum Beispiel wie gesagt noch schwer und leicht, die ihn jedoch hier nicht interessieren, weil sie nicht aktiv (ποιητικά) oder passiv (παθητικά) sind, während die gesuchten Gegensätze diese Merkmale aufweisen müssen, da die Elemente, indem sie sich mischen oder ineinander umwandeln, aufeinander wirken beziehungsweise voneinander Einwirkung erleiden. »Formen« (εἴδη) und »Prinzipien« (ἀρχαί) der Körper, so nennt er sie nach ihrer Funktion, die Elemente zu formen.78 Dies sind nur die oben aufgeführten Gegensatzpaare, von denen heiß und kalt als aktiv, feucht und trocken als passiv gelten. Als solche Konstituentien der Elemente bezeichnet Aristoteles sie auch selbst als στοιχεῖα, »Elemente«.79 Ihrer Beschaffenheit nach schließlich betrachtet Aristoteles sie als παθήματα, d. i. passiones oder Eigenschaften.80 Dagegen gebraucht er die Bezeichnung »Potenzen« nicht, verwendet δύναμις vielmehr zur Bezeichnung der intensiven Größe.81 Natürlich gilt aber, dass allein schon durch das Moment der Aktivität beziehungsweise Passivität, das für die Konstitution der Elemente und ihre Interaktionen wesentlich ist und darum von Aristoteles im ersten Teil des Werks (I. 7–9) ausführlich untersucht wird, nahelegt, es ginge hier um Potenzen. Die arabische Übersetzung mag ein Übriges getan haben.82 In der arabischen Tradition der Meteorologie jedenfalls scheint sich dieser Gebrauch durchgesetzt zu haben. Allerdings bezeichnet auch Aristoteles selbst hier die »Ursachen« der Elemente als Potenzen,83 gebraucht einmal sogar die Fügung »passive Potenzen«,84 und durch mehrfache Verweise85 auf die aktiven und passiven Momente der Elemente wird klar, dass auch die Rede von »aktiven Potenzen« durchaus in seinem Sinne wäre. In der arabischen Übersetzung der Mete77Vgl. zum Folgenden Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 1, 329a24ff; II. 2–3. 78Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b8. 79Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 3, 330a30–330b1. 80Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 3, 331a1–3. 81Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 6, 333a23–29; II. 7, 334b7–15. Siehe dazu auch Abschnitt 4. 82Zu den nicht erhaltenen Übersetzungen vgl. Marwan Rashed, De generatione et corruptione. Tradition arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 304–314. Der einzige spätantike Kommentar zu De generatione et corruptione, derjenige des Philoponos, zeigt jedenfalls keinen thematischen Gebrauch von »Potenz«. 83Aristoteles, Meteorologie, IV. 1, 378b29, 33; 379a20, b4; IV. 2, 379b11; IV. 5, 382a31. Übrigens ist dieser Sprachgebrauch nicht auf Buch IV beschränkt, dessen Echtheit ja zuweilen bezweifelt wird, sondern taucht auch im ersten Teil auf, vgl. besonders I. 3, 339b17. 84Aristoteles, Meteorologie, IV. 1, 378b34. 85Aristoteles, Meteorologie, IV. 1, 378b10–28; IV. 5, 382a32–b1.
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orologie durch Yaḥyā Ibn al-Biṭrīq dann, die nicht auf den Originaltext sondern auf ein Kompendium zurückgeht,86 hat sich dieser Sprachgebrauch durchgesetzt und es ist immer wieder von aktiven und passiven Potenzen die Rede.87 Interessanter als die terminologischen Ursprünge von Ibn Bāǧǧas Theorie der Potenzen ist jedoch die Konsequenz, mit der er diese wissenschaftssystematisch durchführt. Dies bringt Ibn Bāǧǧas Vergleich der aktiven Potenz der Wärme mit einem Messer sehr deutlich zum Vorschein. Wie das Messer stets ein und dasselbe Werkzeug bleibt und seine Tätigkeit immer im Schneiden besteht, gleichgültig wer es führt, während das Objekt und das Resultat doch wechseln, abhängig davon wer das Messer benutzt, so erfüllt auch ein und dieselbe aktive Potenz der Wärme ganz unterschiedliche Funktionen, abhängig davon, ob sie an einem Element, einem unbeseelten oder einem beseelten Körper vorliegt. Ibn Bāǧǧa weist dementsprechend die Betrachtung der Wärme, insofern sie »eine Potenz« ist, drei Disziplinen zu: De generatione et corruptione betrachtet sie in Hinblick auf ihre primäre Tätigkeit, also als Potenz der einfachen Körper, der Elemente; die Meteorologie als Potenz unbeseelter Körper, der Homoiomere; und De partibus animalium, der Text, den Ibn Bāǧǧa an dieser Stelle kommentiert, soll nun auch ihre Tätigkeit im beseelten Körper untersuchen. Man sieht also, dass es eine Kontinuität der primären Potenzen gibt; sie bleiben auf höheren Komplexionsstufen erhalten und erfüllen, unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen und wesensmäßigen Tätigkeit, unterschiedliche Funktionen.
2.2. Die primären Potenzen als solche – drei Aspekte Ibn Bāǧǧas Analyse dieser Funktionen der Potenzen wird in folgenden Abschnitten jeweils einzeln zu leisten sein, während die Betrachtung der primären aktiven und passiven Potenzen für sich genommen, das also, was Ibn Bāǧǧa der Untersuchung in De caelo zuweist, an dieser Stelle vorab zu klären bliebe. Es erscheint aber überflüssig, hier anzuführen, was Ibn Bāǧǧa zu Aufbau und Identität der Elemente an dieser oder jener Stelle geschrieben hat – eine thematische Behandlung findet sich nicht –, denn dann könnte man direkt entsprechende Stellen aus den aristotelischen Schriften zusammensuchen.88 Vielmehr sollen 86Vgl. Lettinck, Aristotle’s Meteorology, VIII–IX, 3–6. Aristotle’s Meteorology in the ArabicoLatin Tradition, a critical edition of the texts, with introduction and indices by Pieter L. Schoonheim (Aristoteles Semitico-latinus 12), Leiden–Boston–Köln 2000, XI, XIV–XVI. 87Vgl. Aristotle’s Meteorology, ed. Schoonheim, 1080, 1082, 1083, 1085, 1120 et passim. Die angegebenen Zahlen beziehen sich auf die Zeilen des arabischen Textes. 88Ibn Bāǧǧa geht in seinem Kommentar zum vierten Buch der Meteorologie mit einiger Ausführlichkeit auf Eigenschaften der Elemente, ihre Größe, ihre Ausdehnung u.s.w. ein (Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 450–480). Es geht da um die Frage, welchem Element welches der vier Merkmale am meisten zukommt und so fort. Dort ist auch von »Poten-
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drei Aspekte hervorgehoben, die kennzeichnend für Ibn Bāǧǧas Auffassung sind und sich so nicht oder nicht mit derselben Gewichtung bei Aristoteles finden. (1) Die vier »Elemente« – der Grund für die Anführungszeichen wird im Weiteren deutlich werden – erhalten ihre Identität im strengen Sinne nicht durch die hier (T 39) und anderswo als passive und aktive Potenzen gekennzeichneten Eigenschaften feucht, trocken, warm und kalt. Dass es vier einfache Körper gibt, ist vielmehr in De caelo anhand deren einfacher Bewegungen gezeigt worden, die auf die Potenzen der Leichtigkeit und der Schwere zurückgeführt werden können. In De generatione et corruptione dagegen, so macht Ibn Bāǧǧa gleich auf der ersten Seite seines Kommentars deutlich, wird es um »die übrigen Potenzen« gehen. Das Verhältnis zwischen beiden wird uns im folgenden Abschnitt noch beschäftigen.89 Die genannten Eigenschaften besitzen aber laut Ibn Bāǧǧa eine primäre sinnliche Evidenz. Er geht hier in seinen Annahmen über Aristoteles hinaus, denn dieser beschreibt die von ihm untersuchten Eigenschaften zwar als wahrnehmbare und genauer als tastbare Eigenschaften, Ziel dieser Ausführungen ist es jedoch, sie als einzige reaktive von beispielsweise sichtbaren Eigenschaften wie Farbe abzugrenzen. Dies deshalb, weil der Kontakt, sprich die »Berührung«, wie wir noch sehen werden, eine wichtige Rolle für das Einwirken von Körpern aufeinander spielt.90 Dabei beruft sich Aristoteles für die Zuweisung von je einem Paar von Qualitäten zu den einfachen Körpern Feuer, Luft, Wasser und Erde aber gerade nicht auf die Wahrnehmung, sondern auf den λόγος, was wohl an dieser Stelle die etablierten wissenschaftlichen Annahmen meint.91 Anders Ibn Bāǧǧa.92 Er beruft sich, wie gesagt, für die Existenz der vier einfachen Körper Feuer, Luft, Wasser und Erde auf den Nachweis anhand der Bewegung. Er erklärt dann: Dass diese sich ineinander umwandeln, werde dadurch deutlich, dass es sich um tastbare Körper handele, und das sei »von selbst« bekannt. Jedoch muss er von einer Tatsache Notiz nehmen, die Aristoteles bereits erwähnt, nämlich dass die von uns beobachteten Körper gar nicht die einfachen Körper sind, sondern diesen nur ähnlich; wir beobachten nie die reine Erde oder
zen« die Rede, zum Beispiel von der Potenz der Kälte, zum Kleineren zu bewegen (478). Dies scheint mir insgesamt nichts Wesentliches zur Theorie der Potenzen beizutragen, zumal Ibn Bāǧǧas Ausführungen sehr ungeordnet sind, was er übrigens auch selbst bemerkt. Einmal wirft er ein, dies gehöre eigentlich zu De generatione et corruptione (460, 6–8), und in seiner Bearbeitung von De generatione fordert er seine Leser gleich zweifach auf, seine Ausführungen über Wärme, Kälte…, die in der Meteorologie fehl am Platz sind, in den Kontext von De generatione zu übertragen (Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 62, 1–3; 68, 4–6). 89Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 5, 1–8; 53, 1–54, 2. Diese Stellen werden in Abschnitt 3 ausführlicher besprochen. 90Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b6–15. 91Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 3, 330a30–330b7. 92Für das Folgende siehe Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 54, 3–14.
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das reine Feuer.93 Dies bringt für Ibn Bāǧǧa ein mögliches Problem, nämlich, so sagt er, »es gibt die Meinung, dass die Kenntnis dessen, was beobachtet wird, für sich nicht ausreicht, um darauf eine Darlegung folgen zu lassen«. Dem hält er aber nun entgegen, dass wir sehr wohl ein primäres und für sich ausreichendes Wissen vom Warmen, Kalten, Feuchten und Trockenen haben, dass diese Dinge wahrnehmbar sind und existieren. In ähnlicher Weise offensichtlich sei, dass sie in einem Subjekt vorliegen und dass »der Bestand des Körpers und seine Form, insofern er ist, was er ist«,94 bei keinem der beobachtbaren Körper auf nur einer Eigenschaft beruhe, vielmehr von diesen vier immer zwei vorliegen. »Und das ist alles von selbst bekannt.« Das heißt, Ibn Bāǧǧa hält letztlich den größten Teil der Elementartheorie für sinnlich evident. Er erkennt überhaupt nur zwei Aspekte als problematisch an, nämlich dass die Luft warm und das Wasser kalt sei, während es sich nicht lohne über das zu sprechen, was völlig klar sei, etwa dass das Wasser feucht sei.95 Ibn Bāǧǧas Lösung des Zweifels besteht dann auch wieder im Verweis auf Beobachtbares, zum Beispiel: die Wärme könne dem Wasser als solchem nicht zukommen, denn die »Betrachtung des Wassers« zeige doch, dass das Wasser durch Wärme vergehe. Es könne aber nicht sein, dass etwas durch etwas vergehe, das ihm als »natürliches Akzidenz« zukomme.96 Warum besteht Ibn Bāǧǧa in dieser Weise auf der sinnlichen Evidenz? Mir scheint, dass es dafür systematisch nur einen Grund gibt: Insofern sich alle natürlichen Körper aus den »Elementen« als einfachen Körpern zusammensetzen, muss sichergestellt sein, dass das Fundament der Elementartheorie trägt. Da es sich jedoch bei diesen aktiven und passiven Potenzen gerade um primäre Merkmale handeln soll, lassen sie sich nicht ableiten oder beweisen, und es ist deshalb so wichtig festzustellen, dass unser Beobachtungswissen ausreicht. Ein weiterer Grund mag in ihrer Natur als Potenzen liegen. Hier gilt, wie wir am Beispiel der Seele selbst gesehen haben, dass beobachtbare Veränderungen – und das war ja auch hier Ibn Bāǧǧas Ausgangspunkt – ihnen zugrundeliegende Prinzipien evident erscheinen lassen. (2) Die landläufig als »Elemente« bezeichneten einfachen Körper sind, für sich genommen, keine Elemente. Sie sind dies nur, wenn sie tatsächlich Elemente 93Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 3, 330b21–30; Puig merkt in seiner Übersetzung von Ibn Bāǧǧas Kommentar zu Recht an, dass Aristoteles dies gerade nicht als eine Schwierigkeit erwähnt (Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 67, Anm. 157). 94Man könnte den Eindruck gewinnen, dass diese Formulierung dem oben Gesagten widerspricht und zeigt, dass doch die vier Potenzen (und nicht schwer und leicht) das Wesen der einfachen Körper bestimmen. Dass die Lage komplizierter ist, wird aber schon dadurch deutlich, dass Ibn Bāǧǧa wenig später von der Wärme als »natürlichem Akzidenz« spricht. Genaueres dazu, wie gesagt, in Abschnitt 3. 95Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 55, 15–56, 4. 96Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 56, 14–57, 3.
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von etwas sind. Auch bei Aristoteles begegnet die Rede von den »sogenannten Elementen«,97 wobei das einschränkende Beiwort aber darauf zu beziehen ist, dass die »ersten Körper« erst an dritter Stelle Prinzipien der Seienden sind, nämlich nach der ersten Materie und den Gegensätzen warm/kalt und so fort.98 Für Ibn Bāǧǧa dagegen ist offenbar der Elementbegriff selbst entscheidend, dessen Bestimmung er – sei es aus De caelo, sei es aus der Metaphysik – in seinen Kommentar zu De generatione et corruptione aufnimmt: »Ich sage jetzt, dass die Elemente, insofern sie Elemente sind, vier sind. Die Elemente sind nämlich die ersten Körper, von denen keiner dem anderen gegenüber primär ist und aus denen die übrigen Seienden entstehen. Das soll uns zur Grundlage dienen; es ist eine Definition, nicht [nur] eine erklärende Darlegung, und die Wahrnehmung beobachtet dessen Existenz.«99 Ibn Bāǧǧa legt also Wert darauf, dass die Elemente wesentlich dadurch bestimmt sind, dass die anderen Seienden aus ihnen entstehen. Ausführlich geht er auf diesen Punkt wiederum in seinem Buch der Lebewesen ein: [T 41] »Ebenso muss die Sache auch in der Natur vonstatten gehen, denn die homoiomeren Körper entstehen nicht, damit die Erde und das Wasser Elemente sind, sondern die Sache ist umgekehrt, jene sind nur Elemente, damit diese entstehen. Bestünde die Existenz der Erde und des Wassers darin, dass sie Elemente sind, dann wäre die Aussage, dass sie existieren, damit die Homoiomere sind, absolut richtig. Aber die Erde wird nur so bezeichnet, insofern sie eines von den Seienden ist, während sie, insofern sie ein Element ist, keine eigentümliche Bezeichnung hat. Wenn wir also sagen, dass die Erde ein Element ist, dann ist das, als wenn wir sagten, dass der Mensch ein Arzt ist, und nicht wie wenn wir sagen, dass der Mensch ein Lebewesen ist, und nicht einmal [wie wenn wir sagten, dass er] wahrnehmungsfähig ist, denn die Erde und das Feuer und die übrigen kommen in den Definitionen der Elemente vor, [und nicht umgekehrt]. Daher sagt Aristoteles, wenn er im zwölften [Buch] von De animalibus die Elemente aufzählt, dass er sie bei den Namen aufzählt, die sie bezeichnen, insofern sie Substanzen sind, wie es bei den Naturwissenschaftlern üblich ist. Danach sagt er: ›Aber es ist angemessener, dass wir sie durch ihre Potenzen definieren‹ und er nennt das Warme, das Kalte, das Feuchte und das Trockene. Insofern sie Materie sind, ist ihr Materie-Sein ein Teil ihrer Existenz. Was ihre Bezeichnungen angeht, insofern sie Substanzen 97Vgl. Aristoteles, Physik, I. 4, 187a26; De generatione et corruptione, II. 1, 328b31. An letzterer Stelle ist von den »sogenannten Elementen der Körper« die Rede, die Einschränkung hat also nichts mit derjenigen Ibn Bāǧǧas zu tun, da für ihn die Elemente als Elemente von Körpern gerade zu Recht diese Bezeichnung tragen. 98Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 1, 329a24–36. 99Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 62, 14–63, 4; vgl. Aristoteles, De caelo, III. 3, 302a15–18; Metaphysik, V. 3, 1014a26–27.
Konstitution und Funktion der Elemente
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sind, so gehen ihre Potenzen in die Definitionen ein, die ihren Bezeichnungen entsprechen.«100 Diese Betrachtung, die Ibn Bāǧǧa im Rahmen der Diskussion des Verhältnisses konditionaler Notwendigkeit zwischen Materie und Form anstellt, ordnet die Elemente teleologisch den aus ihnen zusammengesetzten Körpern, zuerst also den Homoiomeren, unter. Diese Teleologie kann jedoch nur für die Elemente als Elemente gelten, nicht insofern sie Substanzen und damit unabhängig existierende »Seiende« sind. Ibn Bāǧǧa interpretiert daher in seinem Sinne einer präzisen Bestimmung der Elemente als Elemente von etwas, Aristoteles’ Aussage in De partibus animalium, wo dieser in Bezug auf die erste der drei Stufen der Zusammensetzung (siehe Kapitel 5, Abschnitt 2.4.) einmal mehr von den »sogenannten Elementen« spricht und meint, es sei vielleicht »besser«, stattdessen von einer Zusammensetzung aus den »Potenzen«, feucht, trocken, warm und kalt zu sprechen.101 Nichts deutet hier an, dass der Grund dafür ein anderer sein könnte als die oben genannte Priorität der Gegensätze, insbesondere findet sich bei Aristoteles keine Spur der ihm von Ibn Bāǧǧa zugeschriebenen Differenzierung zwischen Erde und Wasser als Substanzen und als Elemente. Ibn Bāǧǧas Vergleich der Aussage »die Erde ist ein Element« mit der Aussage »der Mensch ist ein Arzt« macht deutlich, dass er den Elementarcharakter der einfachen Substanzen als akzidentell betrachtet und damit auch die vier Potenzen nicht im engeren Sinne als Aspekte ihrer Form betrachtet. Am Ende der zitierten Passage behauptet er dennoch, sie gingen in die Definition der Substanzen ein. Dies ist aber deshalb der Fall, weil es auch zu ihrer Bestimmung als Substanzen gehört, dass sie Materie besitzen, und es sind gerade die passiven Potenzen, durch die sie Materie sind (vgl. T 39). Die vier Potenzen kommen den vier einfachen Körpern also weder eindeutig wesentlich noch eindeutig akzidentell zu, sie kommen aber in einem ganz anderen Sinne ins Spiel, wenn diese Körper durch Zusammensetzung Homoiomere bilden als wenn sie sich ineinander umwandeln. So bekräftigt Ibn Bāǧǧa in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione, dass die Erklärung dafür, dass es vier einfache Körper gibt, nicht dieselbe ist wie die Erklärung dafür, »dass sie, insofern sie Potenzen besitzen, durch die sie Elemente werden, vier sind«.102 Für ersteres verweist Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles darauf, dass die vier Gegensätze in natürlichen Körpern existieren müssen und dass man sie unzulässigerweise aufeinander reduzieren würde, wenn man weniger als vier Körper annähme. Aus den vier möglichen Gegensatzpaaren ergeben sich daher vier erste Körper, durch die diese als »zu100Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 91, 12–92, 3. Dieser Text knüpft an Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646a35–647a2 an. 101Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646a12–17. 102Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 63, 15–64, 2.
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sammengesetzte Gegensätze« bestehen: trocken-warm, feucht-warm, trockenkalt und feucht-kalt.103 Ihre Bestimmung als vier Elemente sieht anders aus, wir werden das in Abschnitt 4 noch genauer ergründen. (3) Ein letzter Gesichtspunkt betrifft Ibn Bāǧǧas genauere Ausbestimmung dessen, was unter aktiven und passiven Potenzen zu verstehen ist. Wir haben bereits gesehen, dass schon Aristoteles die Gegensatzpaare als aktiv beziehungsweise passiv bestimmt und dass Ibn Bāǧǧa daraus aktive und passive Potenzen macht. In einer weiteren Passage seines Buchs der Lebewesen stellt er diese nun aber der Zeugungspotenz des Lebendigen gegenüber. Mit folgendem Ergebnis: [T 42] »Wir haben bereits zuvor erwähnt, dass es aktive und passive Potenzen gibt und dass von den aktiven die einen etwas von ihrer Art bewirken wie die Wärme Wärme, die anderen etwas bewirken, das nicht von ihrer Art ist, wie die Wärme Härte und der Anzünder Feuer. Die Formen der Substanzen definieren wir ebenso: Es gibt darunter Arten, denen die Potenz zur Aktivität gegeben wurde, und ihre Existenz vervollkommnet sich dadurch, und es gibt andere, denen das überhaupt nicht gegeben ist, vielmehr bedürfen sie zu ihrer ewigen und kontinuierlichen und kurz gesagt geordneten Existenz als Spezies [intiẓām wuǧūdihā al-nauʿī] der Existenz von etwas anderem. Was die Homoiomere angeht, die der Natur nach nicht Teile von Körpern sind, so existieren sie, aber sie haben keine Potenzen, durch die sie Substanzen sind. Was die Elemente angeht, so haben sie beide Existenzweisen, wie das in De generatione et corruptione erklärt worden ist, aber ihre Tätigkeit, insofern sie Potenzen sind, ist nicht geordnet [laisa bi-munẓam] und nicht natürlich, sondern zufällig. Die Formen, die von Natur aus als Potenzen existieren, das sind die sich fortpflanzenden […]. Diese Potenz ist notwendigerweise Seele, das wird bei Nachprüfung klar. Das kommt nur bei den Lebewesen und den Pflanzen vor, die notwendigerweise der Betätigung ihres Organs bedürfen.«104 Ibn Bāǧǧa bestimmt hier die aktiven Potenzen nach einem Gesichtspunkt, den er auch im Buch der Seele aufgreift (N II. 18), als solche, die wesentlich etwas von ihrer Art erzeugen, wenn sie auch sekundär andere Auswirkungen auf andere Körper haben können. Im Buch der Seele fügt Ibn Bāǧǧa mit Blick auf die »Elemente« hinzu, dass diese Potenz bei Feuer und Luft am auffallendsten sei, bei Wasser und Erde weniger deutlich, aber man darf daraus wohl ablesen, dass er allen vier einfachen Körpern eine solche aktive Potenz zuschreibt. Diese aktive Potenz impliziert aber nun, dass man zwei Existenzweisen unterscheiden kann: Insofern die Formen von Substanzen aktive Potenzen sind, finden sie ihre Vollendung darin, dass sie auf anderes einwirken und es zu etwas 103Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 62, 10–13; 63, 5–64, 6. 104Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 131, 6–132, 1.
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von ihrer Art machen. Damit ist deutlich wiederum die Potenz-Akt-Spannung als Hintergrund der Theorie der aktiven und passiven Potenzen angesprochen, wie wir sie im letzten Abschnitt kennengelernt haben. Nur dann nämlich, wenn solch eine aktive Potenz auch in Akt tätig ist, ist sie als Form vollkommen. Damit erscheinen aber die primären Potenzen der Elemente nicht mehr im Vollsinne als aktive Potenzen, denn ihre Wirkung ist zufällig, besitzt keine Ordnung. Zwar erzeugen sie anders als unbelebte Homoiomere etwas von ihrer Art, denn das Feuer erzeugt wohl Feuer, während das Gold kein Gold erzeugt, aber diese Wirkung ist »nicht natürlich«. Aktive Potenzen im strengen Sinne sind erst die Seelen der sich fortpflanzenden Pflanzen und Lebewesen. Diese Aussagen passen zu der Hierarchie der Potenzen, von der wir bereits gesehen haben, dass Ibn Bāǧǧa sie gebraucht, um die aristotelische, an dauerhafter Existenz ausgerichtete Hierarchie wiederzugeben: Die Seele ist im eigentlicheren Sinne aktive Potenz, weil sie dem Akt näher ist, da sie – das ist auch hier wieder das Kriterium – nicht der »Existenz von etwas anderem« bedarf. Aus welchem Grund aber nennt er die Wirkung der aktiven Potenzen der Elemente ungeordnet und gar »nicht natürlich«? Nun, das dürfte eben damit zu tun haben, dass sie an sich, als Substanzen, keine Elemente sind. Auf anderes wirken sie nicht von sich aus ein, sondern nur, wenn sie durch äußere Einwirkung damit in Kontakt gebracht werden. Befinden sich die Elemente an ihrem natürlichen Ort, in geordneten Strata, dann kommt es zu keiner Wechselwirkung zwischen ihnen. Dies tritt vielmehr – wir werden es im nächsten Abschnitt genauer sehen – nur durch den Einfluss der Himmelsbewegung ein, die in Bezug auf die Natur der einfachen Körper freilich akzidentell ist. Damit fügen sich die drei hier hervorgehobenen Aspekte von Ibn Bāǧǧas Behandlung der Elemente und ihrer Potenzen auch zu einem stimmigen Bild zusammen: Als Potenzen gehören sie notwendig in den Zusammenhang von Entstehung und Veränderung, aus dem heraus sie sinnlich evident sind, und sie verweisen so auf höhere Potenzen, die dem Akt näher stehen.
3. Ortsbewegung und Kontakt In der vorstehenden Betrachtung der vier aktiven und passiven Potenzen der Materie sind wir mehrfach auf die Frage gestoßen, welchen Status diese Eigenschaften genau haben, ob sie formale oder akzidentelle Qualitäten sind. Ibn Bāǧǧas Formulierungen schienen einmal in die eine, ein anderes Mal in die andere Richtung zu deuten. Außerdem hat sich die Frage ergeben, wie sich eigentlich die vier Potenzen zu Schwere und Leichtigkeit als denjenigen Potenzen verhalten, die bei der Analyse der Ortsbewegung betrachtet und dort als »Formen« der Elemente beschrieben worden sind. Gibt es ein Prioritätsverhältnis zwischen beiden Gruppen von Potenzen und wie erklärt es sich?
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Ein solches Prioritätsverhältnis gibt es laut Ibn Bāǧǧa in der Tat. Während man bei Aristoteles selbst eher den Eindruck gewinnt, dass er die beiden Perspektiven auf die einfachen Körper – ihre Ortsbewegungen hier, ihre Entstehungsund Veränderungsprozesse dort – nicht mehr in eine umfassende Perspektive integriert.105 Wenn überhaupt, so betrachtet er Schwere und Leichtigkeit zusammen mit anderen Eigenschaften wie rauh und glatt als sekundär.106 Ibn Bāǧǧa dagegen hält umgekehrt schwer und leicht für primär und eröffnet genau mit dieser Feststellung seinen Kommentar zu De generatione et corruptione: [T 43] »Es ist bereits in De caelo klar geworden, dass es vier einfache Körper gibt und dass sie der gleichen Gattung angehören und konträr entgegengesetzte Potenzen haben, wenn es gestattet ist, die komplementären Arten konträr entgegengesetzt zu nennen. Die Potenzen, denen man den konträren Gegensatz zuschreibt, sind allgemein die Leichtigkeit und die Schwere. Was dagegen die übrigen Potenzen angeht, die für [die einfachen Körper] existieren, so sind sie nicht primär und wahrhaftig konträr entgegengesetzt, sondern den Übrigen schreibt man den konträren Gegensatz nur wegen der Ähnlichkeit mit diesen zu. Diese Körper werden durch ihre natürlichen Orte differenziert.«107 Es hat sich uns schon zuvor gezeigt, dass die aktiven und passiven Potenzen nur als Gegensätze aufeinander wirken beziehungsweise von einander Einwirkung erleiden können. Ibn Bāǧǧa meint nun aber, dass diese Potenzen nur in abgeleiteter Weise als Gegensätze betrachtet werden können, nämlich nur insofern sie dem primären Gegensatzpaar schwer/leicht gleichen. Im Buch der Seele wird Ibn Bāǧǧa noch deutlicher und macht die aktiven Potenzen des Warmen und Kalten eindeutig abhängig von der Bereitschaft der 105In De caelo werden die natürlichen Ortsbewegungen der »Elemente« untersucht und auf Schwere und Leichtigkeit zurückgeführt, in De generatione et corruptione die Entstehungs- und Veränderungsprozesse, die ihnen zukommen. An keiner Stelle aber geht Aristoteles ausdrücklich auf das Verhältnis zwischen beiden ein. In De generatione et corruptione II. 2, 329b19–21, werden zwar schwer und leicht aussortiert, weil sie weder passiv noch aktiv sind, aber Aristoteles zeigt nicht, anders als etwa für fein und grob, wie sie aus den vier primären Qualitäten abgeleitet werden können. Deshalb ist nicht klar, ob seine abschließende Feststellung, dass »alle« anderen Qualitäten auf die ersten vier zurückgehen (330a24f ), tatsächlich auch für leicht und schwer gilt. 106Vgl. Aristoteles, De partibus animalium II. 1, 646a17–20; schwer und leicht gehören aber so wenig zur Thematik dieser Abhandlung, dass man aus der kurzen Stelle kaum etwas folgern kann. Jochen Althoff, Warm, kalt, flüssig und fest bei Aristoteles. Die Elementarqualitäten in den zoologischen Schriften, Stuttgart 1992, 25–27 übergeht in seinem ausführlichen Kommentar diesen Punkt bezeichnenderweise ganz. Auch Ibn Bāǧǧa kennt die Stelle, hat daraus aber offenbar keine entsprechenden Folgen gezogen. 107Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 5, 1–7
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ersten Materie, überhaupt Gegensätze aufzunehmen. Diese Überlegung fügt sich dort ein in Ibn Bāǧǧas Analyse der Abstraktion als eines Vorgangs, durch den Materie und Form »verschieden« (mutaġāyirān) von einander werden, denn es ist nur durch Prozesse der Veränderung, für die paradigmatisch die Umwandlung der »Elemente« in einander steht, dass eine Abziehung der Form, eine Abstraktion, überhaupt gedacht werden kann. Letztlich, so Ibn Bāǧǧa, stehen die intelligiblen Formen und die Elemente »auf einer Stufe« (vgl. N III. 2 und 21). Die Fragen, welche die Potenzen der einfachen Körper betreffen, die diese Veränderungen verursachen, sind also zwar von mittelbarer aber systematisch grundlegender und vor allem durchgreifender Wirkung für die Psychologie. Aus diesem Grund unterlässt es Ibn Bāǧǧa nicht, bei der Behandlung von Wahrnehmung und Erkenntnis auf solche scheinbar abgelegenen Fragen der Elementartheorie einzugehen. Für die Abhängigkeit der Potenzen der Wärme und Kälte, die er hier übrigens wieder als Formen bezeichnet (N III. 5), gibt er folgende Begründung: [N III. 7] »Was dagegen das Warme und die Potenz zum Kalten angeht, so ist seine Existenz als Warmes Ursache für sein potentielles Kaltsein und seinetwegen besteht dies, denn die Beziehung des Warmen und des Kalten zur Materie ist ein und dieselbe Beziehung; und auf genau dieselbe Weise, in der sie das Warme aufnimmt, nimmt sie das Kalte auf, die doch von einander verschieden sind [mutaġāyirān]. Nähme sie beide gleichzeitig auf, dann bliebe dort keinerlei Verschiedenheit übrig. Beide sind nur deshalb voneinander verschieden, weil die erste Materie die Geradheit [istiqāma] aufnimmt; das Gerade [mustaqīm] ist die erste Ursache für die Verschiedenheit und ist daher die Ursache des konträren Gegensatzes [taḍādd], denn das Gerade vollendet sich [mutammim], ist aber nicht seinem Wesen nach Vollendung [tamām]. Daher hat es eine Mitte und zwei Extreme, denn es ist kontinuierlich, und jedes Kontinuum besitzt Teile; aber diese Darlegung gehört zur Betrachtung der Ursache der Existenz der Gegensätze.« In dieser Passage, an der vieles auf den ersten Blick unverständlich bleibt, will Ibn Bāǧǧa offenbar erklären, wie die Verschiedenheit des Warmen und des Kalten von einander und von der Materie überhaupt möglich ist, wenn doch Form und Materie immer nur verbunden miteinander existieren (vgl. N III. 1–4). Eine solche Verschiedenheit macht sich nur beim Entstehen und Vergehen bemerkbar, wenn die Formen in der Materie wechseln (N III. 2). Dieser Wechsel ist deshalb möglich, weil die Materie an und für sich nicht beformt ist und deshalb auch die jeweils entgegengesetzte Form aufnehmen kann, notwendig jedoch immer eine Form hat. So besitzt sie mit jeder Form, die sie trägt, in Potenz die entgegengesetzte Form (N III. 4). Diese Potenz kann nur durch einen entsprechenden »Beweger«, nämlich den in Frage stehenden Gegensatz, zum Akt be-
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wegt werden. Veränderung findet also statt, wenn zwei aufeinander einwirken, die der gleichen Gattung angehören (mutaǧānisān), weil sie dieselbe Materie haben, die aber konträre Gegensätze (aḍdād) bilden (N III. 5). Es ist deshalb von entscheidender Bedeutung zu klären, warum die Materie Gegensätze wie warm und kalt aufnimmt. Ibn Bāǧǧas Antwort lautet, dass das Gerade die erste Ursache des konträren Gegensatzes ist; nur weil »die erste Materie die Geradheit aufnimmt« als primären Gegensatz, kann sie auch andere Gegensätze aufnehmen. Mit dieser Geradheit ist nun aber die geradlinige Ortsbewegung gemeint. Dies wird durch einen weiteren Passus aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione hervorragend unterstrichen: [T 44] »Es ist bereits in De caelo klar geworden, dass die primären Körper diejenigen sind, die sich mit einfachen Bewegungen bewegen; und es ist klar geworden, dass es zwei Arten einfacher Bewegungen gibt: die kreisförmige [mustadīra] und die gerade [mustaqīma]. Es ist klar geworden, dass dasjenige, was sich dem Wesen nach im Kreis bewegt, sich nicht verändert, und dass die Veränderung nur bei dem eintritt, was sich mit einer geradlinigen Bewegung bewegt. Die Eigenschaftsveränderung und das Enstehen geschehen nämlich nur in Bezug auf konträre Gegensätze, und die konträren Gegensätze sind das, was sich mit geradliniger Bewegung bewegt.«108 Im selben Sinne wie zu Beginn des Kommentars werden hier die auf den Ort bezogenen Gegensätze als die primären beurteilt. Waren dort die Potenzen schwer und leicht als ursprüngliche Gegensätze beschrieben worden (T 43), so ist hier dieselbe Sache ausgedrückt, indem Ortsbewegung und Gegensätze verknüpft werden. Nur im Bereich dessen, was sich mit einer geradlinigen Bewegung bewegt, also im Bereich der sogenannten Elemente, gibt es Veränderung. Die soeben zitierte Passage aus dem Buch der Seele deutet an, warum das so ist: Die Gerade hat zwei Enden, zwei Extreme, die einander tatsächlich räumlich entgegengesetzt sind. Um von einem Extrem zum anderen zu gelangen, muss man die »Teile« der kontinuierlichen Geraden durchlaufen. Das aber ist gerade Bewegung, denn wir haben bereits gesehen, dass dazu Zeit vonnöten ist, so dass kein plötzlicher Umschlag von einem Zustand in den anderen erfolgen kann.109 Deshalb sagt Ibn Bāǧǧa hier, dass Gerade »vollende sich«, sei aber keine Vollendung. Dies drückt nur mit anderen Worten aus, dass die Bewegung als »mangelhafte Vollendung« vom Akt als wahrer Vollendung zu unterscheiden ist.110
108Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 53, 7–54, 1. 109Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 2. 110Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 1.
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Damit ist nun aber zunächst nur gezeigt, dass die konträre Entgegensetzung und die geradlinige Bewegung in einem begrifflichen Zusammenhang stehen, nicht jedoch, dass die aktiven und passiven Potenzen in einer realen Abhängigkeit zu den Potenzen der Ortsbewegung stehen. So hat denn in Aristoteles’ Werk auch jene Stelle in den Kategorien am meisten Ähnlichkeit mit Ibn Bāǧǧas Theorie, wo zustimmend berichtet wird, dass »sie« – offenbar frühere Philosophen – die Definition aller übrigen Gegensätze von dem primären Ortsgegensatz zwischen unten, nämlich dem Zentrum des Kosmos, und oben, der Peripherie des Kosmos, herleiten.111 Desgleichen ließe sich allenfalls noch auf De caelo verweisen, wie Ibn Bāǧǧa es hier ja auch tut (T 43, T 44). Dort aber ist lediglich gezeigt, dass das himmlische fünfte Element, da es sich im Kreis bewegt, keinen Gegensatz haben kann und deshalb unveränderlich und unvergänglich ist. Dabei sind drei Voraussetzungen gemacht: einmal, dass Veränderung durch die Wirkung von Gegensätzen auf ein gemeinsames Substrat zustande kommt, zum zweiten, dass Gegensätze entgegengesetzte Bewegungen haben, und drittens, dass es keine der Kreisbewegung entgegengesetzte Bewegung gibt. Aus letzterem folgt dann unter Anwendung der ersten beiden Annahmen, dass dasjenige, was die himmlische Kreisbewegung ausführt, keiner Veränderung unterliegen kann.112 Hierbei ist der Zusammenhang zwischen Ortsbewegung und den übrigen Veränderungen aber wiederum vorausgesetzt und gerade nicht nachgewiesen. Immerhin wird deutlich, in welchem Kontext eine Erklärung dieses Zusammenhangs gesucht werden muss, nämlich im Rahmen der Analyse der himmlischen Kreisbewegung in Abgrenzung von der sublunaren geradlinigen Bewegung, wie Aristoteles sie im achten Buch der Physik unternimmt. Dort geht es darum zu zeigen, dass nur die Kreisbewegung, nicht aber die geradlinige Bewegung eine kontinuierliche Bewegung ermöglicht.113 Ibn Bāǧǧa erläutert in seinem Kommentar zur Physik den Unterschied folgendermaßen: Die gerade Linie, auf der die Bewegung verläuft, ist zwar der Zahl nach eine, dem Begriff nach aber zwei (da sie durch zwei Punkte definiert wird), und die Bewegung verläuft auf ihr nicht, insofern sie eine ist, sondern insofern sie zwei ist (nämlich von einem Punkt zum anderen), und auch das Bewegte wird darum zweifach. Dies zumal, wenn man eine kontinuierliche Bewegung aus zwei auf der gleichen Linie verlaufenden entgegengesetzten Bewegungen zusammensetzen wollte, da zwischen den entgegengesetzten Bewegungen ein Zustand der Ruhe liegen muss. Der tiefere Grund für die Beschränkung der geradlinigen Bewegung liegt jedoch darin, dass die drei Momente jedes Bewegungsverlaufs – das Woher (mā minhū), die Mitte (wasaṭ) und das Wohin (mā ilaihī) – eindeutig differenziert sind, so dass 111Vgl. Aristoteles, Kategorien, 6, 6a11–17. 112Aristoteles, De caelo, I. 3, insbesondere 270a12–22. 113Vgl. zum Folgenden Aristoteles, Physik, VIII. 8–9; Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 216–224.
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die Extreme »der Natur nach« festgelegt sind, während auf der Kreisbahn jeder Punkt alle drei Momente in sich vereinigt. Darum sagt Ibn Bāǧǧa dann auch hier, dass die geradlinige Bewegung nicht vollkommen ist, sondern durch ein ihr äußerliches Moment, die Ruhe (sukūn), vollendet wird. Alle übrigen »Bewegungen«, zum Beispiel die Eigenschaftsveränderung von weiß zu schwarz, haben die gleiche Struktur wie die geradlinige Bewegung. Das macht allerdings aus der geradlinigen Bewegung höchstens einen Modellfall, aber noch nicht eine Bedingung für das Vorliegen anderer Gegensätze und Veränderungen. Diesen Schluss erreicht man erst, wenn nachgewiesen ist, dass die Ortsbewegung eine reale Voraussetzung für andere Arten der Veränderung darstellt. Diesen Beweis zu führen unternimmt Aristoteles nun im selben Kontext in der Tat, und Ibn Bāǧǧa folgt ihm auf diesem Weg: [T 45] »Die Ortsbewegung ist der Natur nach die erste und früheste der Bewegungen. Und zwar deshalb, weil die Veränderung entweder Entstehen oder eine der drei Bewegungen ist. Es ist nun nicht möglich, dass es zum Entstehen kommt, ohne dass dem eine Eigenschaftsveränderung vorhergeht, und es ist unmöglich, dass eine Eigenschaftsveränderung neu entsteht, ohne dass dem eine Annäherung [qurb] des Verändernden an das sich Verändernde vorausgeht, entweder von nahem oder von weitem. Das ist von selber klar, und es ist überflüssig, dies länger zu erklären.«114 Abgesehen vom Modellcharakter der Ortsbewegung ist es nur die Notwendigkeit, Veränderndes und Verändertes, aktives und passives Moment, zusammenzubringen, die die Priorität der Ortsbewegung und der Gegensätze schwer/leicht begründen kann. Genau auf diesen Zusammenhang, das haben wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits erwähnt, spielt Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele an, wenn er sagt (N II. 19): »Es ist klar, dass der Körper, der eine sogeartete Form hat, aus den Elementen zusammengesetzt ist, […] und dass das Zusammengesetzte […] sich nur dadurch mischt, dass zuerst seine Teile eine Ortsbewegung vollziehen, so dass sie sich einander nähern, und dass sich dann, danach, jedes einzelne von beiden verwandelt auf eine Weise, die im ersten [Buch] von De generatione et corruptione erklärt worden ist.« Tatsächlich behandelt Aristoteles in De generatione et corruptione den Kontakt (ἁφή, tamāss) als eine der Voraussetzungen für Erzeugung und Mischung.115 Ibn Bāǧǧa nimmt diese Theorie auf und gibt sie wie so oft in Begriffen der Potenz wieder: Der Beweger und das Bewegte müssen immer in Kontakt sein, müssen Wirkung ausüben und Einwirkung erleiden, und zwar bewegt der Beweger »durch seine natürliche Potenz«, genauso wie das Bewegte »durch seine natür114Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 220, 15–19. 115Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 6.
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liche Potenz bewegt wird«. Sie sind dabei immer entgegengesetzt, während ihre Materie eine ist.116 Die Notwendigkeit des Kontakts für die (gewaltsame) Ortsbewegung nennt Ibn Bāǧǧa dagegen ausdrücklich nur in seinem Physikkommentar. Aristoteles legt hier im siebten Buch, nachdem er zuvor schon auf den Kontakt als Bedingung der Bewegung hingewiesen hat,117 dar, dass und inwiefern alle Typen von Bewegung den unmittelbaren Kontakt des Bewegten mit seinem (nahen) Beweger erfordern, indem er anhand von Beispielen alle Bewegungstypen durchgeht.118 Ibn Bāǧǧa verweist nun in seinem knapp gehaltenen Kommentar zu dieser Passage119 gleich mehrfach auf seinen Kommentar zu De generatione et corruptione und sagt, dass sich Beweger und Bewegtes in Hinblick auf die Notwendigkeit des Kontakts analog zum Wirkenden und Leidenden verhielten, für die er diese dort bewiesen habe.120 Die dort zu findenden Bestimmungen sollen also auch für die Ortsbewegung gelten Und in der Tat geht Ibn Bāǧǧa im Kommentar zu De generatione ausführlicher auf den Kontakt als solchen ein, wenn er auch keinen klassischen Beweis für seine Notwendigkeit liefert, sondern dafür vielmehr auf seinen Kommentar zum siebten Buch der Physik zurückverweist.121 Der Grund für diese komplexen Querverweise könnte in dem von Ibn Bāǧǧa festgestellten Mangel liegen: Aristoteles habe den »natürlichen Kontakt« nicht ausreichend dargelegt.122 In der Physik argumentiert Aristoteles, wie wir soeben gesehen haben, für die zeitliche und wesentliche Priorität der Ortsbewegung,123 die er in der Frage des Kontaktes bereits voraussetzt und voraussetzen muss.124 Die Priorität der Ortsbewegung ist nämlich für den Kontakt entscheidend von Belang, da dieser ganz wesentlich eine Ortsbestimmung ist. Aristoteles definiert das »Berühren« (=Kontakt) als das Zusammensein der Enden der sich berührenden Dinge und das »Zusammensein« wiederum als das Sein am gleichen Ort.125 Insofern für jede Bewegung Beweger und Bewegtes erst in Kontakt kommen müssen, geht jeder Bewegung und selbst jeder Erzeugung notwendig eine Ortsbewegung vor-
116Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 19, 5–20, 3. 117Aristoteles, Physik, III. 2, 202a3–13. 118Aristoteles, Physik, VII. 2; zur Ortsbewegung insbesondere 243a32–244b2. 119Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 119, 15–122, 14. 120Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 120, 4f; vgl. auch 121, 2f. 121Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 9, 7–10. 122Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 9, 11. Puigs Edition des Textes weist in dem Abschnitt über den Kontakt eine Unzahl von Lesefehlern auf, die im Folgenden, sofern sie sinnentstellend sind, nach MS B, f. 101rv [arab.] korrigiert werden; hier: 9, 11f streiche fa-huwa yulaḫḫiṣuhū bi-mā yaḫaṣṣuhū. 123Aristoteles, Physik, VIII. 7, besonders 260b2–7. 124Aristoteles, Physik, VII. 2, 243a39f; 245a2–5 und 15f. 125Aristoteles, Physik, V. 3, 226b21–23.
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her. In De generatione et corruptione widmet Aristoteles dem Kontakt ein eigenes Kapitel, und nur hier spricht er die Verbindung des Kontakts mit dem Wirken und Leiden deutlich aus. Zunächst greift er nämlich die Definition des Kontakts aus der Physik wieder auf, das sich Berührende sei dasjenige, dessen Enden zusammen sind, stellt dann jedoch fest, dass dies auch auf die Gegenstände der Geometrie zutrifft. Er erweitert die Definition des Kontakts daher so, dass die Dinge, deren Enden zusammen sind, auch in der Lage sein müssen, aufeinander zu wirken und voneinander Einwirkung zu erleiden. Diese Bedingung erfüllen nun aber nur die Dinge, die einen Ort einnehmen können; die Orte – gedacht ist dabei an die natürlichen Orte der Elemente – differenzieren sich nach oben und unten, und diese werden von den Dingen eingenommen, welche die Eigenschaften der Schwere oder der Leichtigkeit besitzen.126 Ibn Bāǧǧa verdeutlicht diese bei Aristoteles in ihrem Argumentationsziel nicht besonders klare Überlegung, indem er die Unterscheidung des »natürlichen Kontakts« (tamāss ṭabīʿī), den er auch »materiellen Kontakt« (tamāss hayūlānī) nennt, vom »mathematischen Kontakt« (tamāss taʿlīmī) einführt. Die Definition der Physik trifft daher als solche nur den mathematischen Kontakt, bei dem die sich berührenden Dinge nicht wirken und leiden, beziehungsweise den Kontakt zwischen gleichartigen Dingen – denn gleichartige Dinge wirken ebenfalls nicht aufeinander. Der natürliche Kontakt dagegen kann nur zwischen zwei Körpern mit einander entgegengesetzten Potenzen bestehen, die aufeinander einwirken.127 Am Ende der Erörterung über den Kontakt, wird dies Ergebnis bestätigt: Der Kontakt natürlicher Körper mit entgegengesetzten Potenzen bestehe im Wirken und Leiden. In einer Formel zusammengefasst, sagt Ibn Bāǧǧa, die hier relevante natürliche Berührung sei »Aufeinandertreffen verbunden mit Erleiden«.128 Ibn Bāǧǧa führt allerdings noch eine andere Form des Kontakts ein, auch hier wieder gestützt auf Aristoteles’ Aussagen in De generatione et corruptione. Aristoteles stellt nämlich dem Kontakt im gewöhnlichen Sinne, der Gegenseitigkeit, Reziprozität der Berührung und Einwirkung impliziert, einen einseitigen Kontakt gegenüber, bei dem der Beweger das Bewegte berührt, nicht aber umgekehrt.129 Nach Auffassung der meisten Kommentatoren tut er dies, um das Verhältnis von himmlischen zu sublunaren Körpern zu bestimmen.130 So jedenfalls versteht es auch Ibn Bāǧǧa, der als Beispiel für den Kontakt »im übertragenen 126Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 6, 322b34–323a12. 127Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 9, 13–10, 2. In 9, 15 lies mit MS B almutašābiha statt al-mutamāssa. Zum mathematischen Kontakt vgl. auch 13, 3–6. Vgl. dazu Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 7, 323b4–7. 128Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 14, 10–12. In 14, 12 lies bi-nfiʿāl statt bi-l-fiʿl. 129Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 6, 323a12–35. 130Vgl. dazu, sowie zu einer teilweise abweichenden Deutung: Aristotle’s De Generatione et Corruptione, Translated with notes by C.J.F. Williams (Clarendon Aristotle Series), Oxford 1982, 115ff.
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Sinne« (bi-l-istiʿāra) das Bewegungsverhältnis zwischen der Sphäre des Mondes und dem Feuer nennt, welches als oberster Ring der sublunaren Atmosphäre gilt. Auch dies ist ein Verhältnis zwischen Körpern, wobei jedoch einer auf die Rolle des Wirkenden, der andere auf die Rolle des Leidenden festgelegt ist, während beim Kontakt im eigentlichen Sinne der Beweger auch vom Bewegten bewegt wird, wenn auch nicht in gleicher Hinsicht. Zum Beispiel übt der Beweger eine Ortsbewegung aus, während das Bewegte auf ihn in Form der »Erschöpfung« (kalāl) zurückwirkt. Jeder eigentliche Kontakt ist solch eine »gegenseitige Einwirkung« (mufāʿala), so dass, wie Ibn Bāǧǧa explizit sagt, die Relation zwischen den beiden sich Berührenden identisch ist.131 Was können wir aus diesen Überlegungen zum Kontakt über die aktiven und passiven Potenzen der »Elemente« und im besonderen über den Zusammenhang zwischen ihrer Ortsbewegung und ihren Wechselwirkungen bei Erzeugung und Mischung entnehmen? Wenn man genau hinsieht, so gibt es hier zwei konkurrierende Erklärungen dieses Zusammenhangs, denn wenn Ibn Bāǧǧa darauf verweist, dass schwer und leicht der primäre Gegensatz ist und die erste Materie nur auf Grund ihrer Empfänglichkeit für den Ortsgegensatz auch andere Gegensätze aufnimmt, dann geht es um die geradlinige Bewegung der einfachen Körper zu ihren natürlichen Orten. Wenn dagegen die Notwendigkeit des Kontakts herausgestellt wird, dann kann es um diese natürliche Bewegung gerade nicht gehen. Die natürliche Bewegung für sich genommen würde nämlich, wie Aristoteles in De generatione et corruptione explizit sagt, auf eine vollständige Trennung der »Elemente« in Strata hinauslaufen. Nur dank der gleichmäßigen, aber der Erde gegenüber geneigten Kreisbahn der Sonne werden diese Schichten immer von neuem durcheinander gebracht, so dass die »Elemente« miteinander in Berührung kommen und die Prozesse der Veränderung in Gang gehalten werden.132 Dabei handelt es sich nun gerade nicht um eine durch die Potenzen der Schwere oder Leichtigkeit als intrinsischen Bewegungsprinzipien hervorgebrachte Bewegung, sondern um eine von außen induzierte also gewaltsame Bewegung. Eine mögliche Versöhnung der beiden Erklärungen ergibt sich aber, wenn man Ibn Bāǧǧas Ausführungen zu der von der Himmelsbewegung hervorgerufenen Bewegung der Elementarstrata genauer unter die Lupe nimmt. Die oberste sublunare Sphäre, das Feuer, soll durch die angrenzende Himmelssphäre in Bewegung versetzt werden und bewegt selbst wiederum die an es angrenzende Sphäre der Luft, und so fort. Ibn Bāǧǧa erwähnt diese Zusammenhänge in einem längeren Exkurs innerhalb seines Kommentars zum vierten Buch der Meteorolo131Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 12, 8–14, 9. In 12, 14 und 15, sowie 13, 2 lies al-ḍarr statt al-ḍauʾ, das De generatione et corruptione 323a33 τὸν λυποῦντα entspricht. In 13, 10 lies qāraba statt fāraqa. In 13, 11 lies illā annahū statt li-annahū. In 14, 1 streiche liqāʾ und lies al-mutaḥarrik statt al-muḥarrik . 132Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 10.
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gie, ohne sie im Detail darzulegen.133 Wir erfahren jedoch, dass das Vermögen, diese Ortsbewegung zu verursachen, genauso wie Hitze und Kälte oder das Vermögen, etwas zu erzeugen, ebenfalls eine aktive Potenz ist,134 sowie dass ihm eine Potenz bewegt zu werden entspricht.135 Dies stimmt mit unserer Analyse der gewaltsamen Ortsbewegung überein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Bewegung selbst als eine aktive Potenz verstanden wird.136 Von diesem allgemeinen Grundsatz weicht die Bewegung der Feuerschicht durch die Sphäre des Mondes, wie wir soeben gehört haben, nur dadurch ab, dass eine Rückwirkung auf den Himmelskörper unterbunden ist. Wie verhält es sich nun bei den Schichten der sublunaren Körper untereinander? Warum können diese einander in Bezug auf den Ort bewegen anstatt, dort wo sie in Kontakt treten, miteinander zu reagieren. Ibn Bāǧǧa geht auf diese Frage in seinem Kommentar zu De generatione ebenfalls ein:137 Die Elemente, sofern sie sich an ihren natürlichen Orten befinden, stehen in einem Kontakt, der dem mathematischen gleicht, so dass zwischen ihnen nicht »Leiden« sondern »Gleichgewicht« (takāfuʾ) herrscht. Die Elemente leisten einander Widerstand, so dass es nur an den Rändern der Strata zu Mischzuständen kommt. Nur wo die Ortsbewegung Teile, die sowohl der Dichte oder Größe als der Resistenz nach mächtiger sind, und Teile, die in beiden Hinsichten »kleiner« sind, aufeinander treffen lässt, dort kommt es zu Prozessen der Erzeugung. Das legt nahe, dass die Ortsbewegung, die als Fremdbewegung eben keine wesentliche, sondern eine akzidentelle Bewegung ist, bei den Elementen nur dort auftritt, wo die anderen Bewegungen durch die Ausgewogenheit der entsprechenden Potenzen unterbunden sind. Den theoretische Hintergrund für diese Art der Bewegung entwickelt Ibn Bāǧǧa, wenn er in seinem Kommentar zur Physik einen Aristoteles unbekannten Typ der Bewegung einführt: die Bewegung »außerhalb der Natur«. Von der gewaltsamen Bewegung, die »gegen die Natur« ausgeführt wird, unterscheidet er nämlich die Bewegung, die »außerhalb der Natur« aber nicht »gegen die Natur«
133Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 454, 4–470, 19, besonders 454, 4–11; 458, 6–10 und 17f; 470, 5–14. 134Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 460, 8–11. 135Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 454, 7f; 470, 14. 136Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 3. 137Zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 10, 3–11, 14. In 10, 4 lies mit MS B, laut Anmerkung 2. In 11, 2 liest yuqāwimu statt yaqūmu . In 11, 3 lies al-tuḫūm statt al-nuǧūm; in 11, 7 yalqī statt yalī; in 11, 8 al-mašūb statt al-mabṯūṯ. Eine unterschiedliche Ausdehnung beziehungsweise Dicke und Dünne der Elemente (Feuer als dünnstes und Erde als dickstes) in Verbindung mit unterschiedlicher Wirkmächtigkeit erörtert Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 462, 10–466, 3. Andeutungen bei Aristoteles dafür finden sich an vielen Stellen, z.B. in Aristoteles, Physik, IV. 9; De generatione et corruptione, II. 6–7; Meteorologie, I. 3.
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erfolgt, etwa die Drehbewegung des Mühlsteins. Hier »überwindet nicht das Gegenteil etwas, das in dessen Natur ist, sondern in ihm wird eine Bewegung erzeugt, ohne dass es in seiner Natur etwas gäbe, was sie notwendig machen würde. Sie ist daher ›auf Grund der Natur‹ [ʿan al-ṭabʿ], wie Aristoteles zuvor, am Beginn dieser Untersuchung der Differenzen des Bewegten gesagt hat.«138 Während Aristoteles die Begriffe der gewaltsamen Bewegung und der Bewegung gegen die Natur synonym verwendet, betrachtet Ibn Bāǧǧa als gewaltsam im strengen Sinne also nur einen Teil der nicht der Natur entsprechenden Bewegungen, nämlich diejenigen, die tatsächlich im »Gegensatz« zu den natürlichen stehen. Daneben sind aber durch einen äußeren Beweger verursachte Bewegungen möglich, die ohne in der Natur des Bewegten angelegt zu sein, nicht im Gegensatz zu dieser Natur stehen. Im selben Sinne beschreibt Ibn Bāǧǧa in seinem Kommentar zur Meteorologie nun auch die Kreisbewegung der Feuersphäre, welche durch ihren Kontakt zur kreisförmigen Himmelsbewegung zustande kommt.139 Diese Kreisbewegung ist der »geraden Bewegung« des Elements nicht entgegengesetzt (mutaḍādda), sie »widerspricht nicht seiner Natur«, vielmehr kommt ihr diese Bewegung »der Natur nach« (bi-l-ṭabʿ) zu, weil »das Aufnehmen des Bewegtwerdens vom Sphärenkörper in seiner Natur liegt« (fī ṭibāʿihī). Der Unterschied zwischen der Kreisbewegung der Quintessenz (al-ǧirm al-ḫāmis) und der Kreisbewegung des Feuers liegt darin, so erläutert Ibn Bāǧǧa weiter, dass die Quintessenz diese Bewegung (1) »von selbst« (min ḏawātihā) ausführt und auf Grund eines Bewegers, (2) durch den sie sich substantialisiert (taǧauharat bihī), der (3) »etwas von ihr« (šaiʾ minhā) und das interne Prinzip ihrer Bewegung (mabdaʾ ḥarakatihī fīha) ist. Auch das Feuer hat bei seiner »geraden Bewegung« einen Beweger, der zumindest die Bedingungen (2) und (3) erfüllt, dass heißt, der »etwas ist, wodurch es sich substantialisiert« und der »das Prinzip seiner Bewegung in ihm« ist. Bei seiner Kreisbewegung dagegen hat das Feuer seinen Beweger »außer sich« (ḫāriǧ ʿanhā) und »bewegt sich nicht dadurch, dass es in seiner Natur läge [fī ṭabīʿatihā], auf eine solche Weise bewegt zu werden«. Wäre das nämlich der Fall, dann wäre jener Beweger seine Form (ṣūra), und es wäre dem Feuer unmöglich, auf eine andere Weise bewegt zu werden, »es sei denn außerhalb seiner Natur«. Hält man die zumindest auf der Oberfläche einander widersprechenden Aussagen zusammen, die Ibn Bāǧǧa hier innerhalb weniger Zeilen macht, nämlich einerseits, dass das Bewegtwerden durch den Sphärenkörper in der Natur des Feuers liegt, und andererseits, dass es nicht in seiner Natur liegt, dann wird klar, 138Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 167, 15–17; in Zeile 16 liest laut MS B, f. 58v [arab.] uḥdiṯat statt sinnlosem r.ḥ.d.ṯ. 139Siehe dazu und zu den folgenden Zitaten Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 454, 4–22.
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dass es Ibn Bāǧǧa um eine Nuancierung des Naturbegriffs zu tun ist. Man muss in der Natur des Feuers offenbar primäre und sekundäre Aspekte unterscheiden: Primär ist die Form des Feuers, die es als Substanz konstituiert und als sein internes Bewegungsprinzip seine natürliche »gerade Bewegung« nach oben bestimmt – die Leichtigkeit. Sekundär ist dagegen zu sagen, dass die so definierte Natur des Feuers eine von außen induzierte Kreisbewegung aufnehmen kann, ohne als Natur aufgehoben oder beeinträchtigt zu werden. Dies wäre nicht der Fall, wenn ein äußerer Beweger das Feuer nach unten bewegte, denn die Bewegung nach unten ist derjenigen nach oben »entgegengesetzt«, nicht so dagegen die Kreisbewegung, die das Feuer ausführen kann, ohne seinen natürlichen Ort, oben, zu verlassen. Entsprechendes dürfte dann für die anderen Elementarstrata gelten. Hiermit ist erstens der schroffe Gegensatz zwischen der Perspektive der natürlichen Bewegung und der Perspektive der gewaltsamen Bewegung aufgehoben: Die Bewegung der Elementarstrata, die in letzter Konsequenz für die Prozesse der Veränderung verantwortlich ist, geht zwar nicht aus der »Natur« der Elemente hervor, ist ihnen aber – wenn man den größeren kosmologischen Zusammenhang betrachtet – in anderer Weise doch »natürlich«. Dass die einfachen Körper in dieser Weise bewegt werden können, wird ausdrücklich auf eine Potenz bewegt zu werden, also auf eine passive Potenz, zurückgeführt. Man geht sicherlich nicht zu weit, wenn man annimmt, dass sie diese Potenz insofern besitzen, als sie überhaupt in Bezug auf den Ort beweglich sind. Insofern könnte man dann zweitens ihre natürliche (geradlinige) Ortsbewegung doch wieder zur primären Ursache aller anderen Bewegungen und Veränderungen machen: Nur weil die erste Materie »die Geradheit aufnimmt«, besitzt sie Ortsbewegung, und nur deshalb können die einfachen Körper auch »außerhalb ihrer Natur« bewegt und in Kontakt miteinander gebracht werden. Schließlich hat sich auch die natürliche Ortsbewegung selbst schon als eine akzidentelle Bewegung erwiesen. Außerdem passt zu dieser Erklärung Ibn Bāǧǧas Behauptung, die Wirkung der aktiven Potenzen der Elemente, mit denen diese sich etwas anderes anverwandeln, sei nicht geordnet und »nicht natürlich« (T 43). Sie sind dies freilich nicht, wenn man die Natur dieser Körper für sich betrachtet, insofern sie also die Tendenz haben, sich in Strata zu isolieren. Erst der kosmologische Zusammenhang macht diese Prozesse in anderem Sinne »natürlich«. Dies drückt sich ebenso in Ibn Bāǧǧas Unterscheidung zwischen den einfachen Körpern als »Seienden« und als »Elementen« aus: Ihre Betrachtung als Elemente beinhaltet immer schon die kosmologische Perspektive. Bezogen auf die Potenzen müssen Schwere und Leichtigkeit damit im selben Sinne Priorität genießen wie der Perspektive auf die einfachen Körper als Substanzen Priorität gegenüber ihrer Betrachtung als Elemente gebührt. Auf der anderen Seite kann das Entstehen und Vergehen dieser Substanzen nur im Rückgriff auf die kosmologische Perspektive und damit auf die aktiven und passiven
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Potenzen erklärt werden. Ein absoluter Vorrang lässt sich dagegen nicht begründen, und damit erklärt sich dann letztlich auch, warum die aktiven und passiven Potenzen teils als akzidentelle, teils als formale Eigenschaften behandelt werden.
4. Veränderung und Mischung 4.1. Eine Potenz zur Mischung Nachdem wir in den beiden vorangegangenen Abschnitten die Stellung der vier primären aktiven und passiven Potenzen als solcher untersucht haben, können wir uns nun Ibn Bāǧǧas Behandlung derjenigen Prozesse zuwenden, die durch die Tätigkeiten dieser Potenzen erklärt werden. Wie erinnerlich fungieren die Potenzen seiner Interpretation nach dabei als »Organe der Elemente« und werden in unterschiedlichen naturphilosophischen Disziplinen in unterschiedlicher Perspektive untersucht, nämlich in De generatione et corruptione in Bezug auf ihre »vornehmlichen Tätigkeiten«, was wir als Prozesse der Entstehung der Elemente beziehungsweise ihrer Umwandlung ineinander gedeutet hatten; in der Meteorologie in Bezug auf ihre Funktion für unbeseelte Körper, nämlich nichtorganische Homoiomere, und schließlich in der Zoologie in Bezug auf ihre Funktion für beseelte Körper (vgl. T 40). Auch an dieser Stelle wieder kann es nicht darum zu tun sein, die entsprechenden Theorien in ihren Details zu rekonstruieren, insofern diese im großen und ganzen eine in ihrem Ausmaß zwar beachtliche aber in der Substanz nichts Neues erbringende Aneignung aristotelischer Lehrstücke darstellen. Dagegen soll hervortreten, wie Ibn Bāǧǧa das Instrument seiner Potenztheorie nun tatsächlich einsetzt, um natürliche Veränderungsprozesse zu erklären, und ob er dabei seine programmatische Ankündigung, die seelischen Potenzen könnten angemessen nur von diesen natürlichen Potenzen her verstanden werden, auch tatsächlich mit Inhalt füllt. In diesem Abschnitt soll daher die Rolle der Potenzen in Prozessen der Entstehung, Veränderung und Mischung verfolgt werden, zunächst bis an die Grenze der Konstitution des belebten Körpers. Einer der wichtigsten Bausteine zur Rekonstruktion von Ibn Bāǧǧas Position befindet sich in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione; die Textpassage behandelt im Überblick die Potenzen der »Elemente« zum Entstehen einerseits und zur Mischung andererseits. Eine eindeutige Zuordnung dieser Überlegungen zu Aristoteles’ Text ist kaum möglich, der Text zeigt Anklänge einerseits an die Passage zu Beginn des zweiten Buches, in der die vier Qualitäten als aktive und passive eingeführt werden (II. 2, 329b19–31), sowie andererseits zu den späteren Überlegungen, wie zusammengesetzte Körper aus den Elementen hervorgehen (II. 7). Ibn Bāǧǧa bemüht sich also sichtlich um eine Systematisierung anhand der Potenztheorie. Der Text wird eingeleitet durch einen Hinweis
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auf die uns bereits bekannte strikte Verwendungsweise des Begriffs »Element«: Nur insofern das Wasser zum Beispiel »eine Potenz hat, welche eine der zusammengesetzten Formen aufnimmt«, nur insofern ist es Element etwa von Blut oder Galle. In seinem Verhältnis zu den übrigen einfachen Körpern Luft, Erde und Feuer dagegen ist es kein Element.140 Dieser Unterschied kann durch Analyse der beteiligten Potenzen wie folgt beschrieben werden: [T 46] »Das Wasser hat zwei Potenzen, durch eine von beiden ist es aufnahmefähig, durch die andere aktiv. Insofern es aufnahmefähig ist, besitzt es zwei Potenzen: eine Potenz, durch die es zu den einfachen Körpern wird – und durch diese Potenz ist es nicht Element – […], und es besitzt eine Potenz, durch die es die Formen der zusammengesetzten Dinge aufnimmt, und durch diese Potenz ist es ein Element. Was ist nun diese Potenz? Wir sagen, dass das Zusammengesetzte nur aus mehr als einem [Typ von Element] entsteht, und wenn das so ist, dann ist es ohne Zweifel notwendig, dass es gemischt wird. Wir haben die Mischung bereits definiert und gesagt, dass sie auf das Zustandekommen von Kontakt und gegenseitiger Beeinflussung [tafāʿul] angewiesen ist, wie aus der Definition des Gemischs folgt. Daher ist das aus den beiden Zusammengefügte keines von den beiden Elementen, wie Oxymel zum Beispiel aus Essig und Honig. Daher muss das Element seine beiden Potenzen zugleich anwenden, und durch diese beiden Potenzen entsteht die Mischung. Das Element ist dann in Akt in Bezug auf seine Potenz zur Mischung, und seine Potenz zur Mischung ist mit seinen beiden Potenzen, der aktiven und der passiven, verbunden. Durch die aktive kommt ihm nämlich eine gewisse Form zu, mit der es sich selbst bewegt, und durch die passive kommt ihm eine gewisse Subsistenz zu und wird es bestimmbar oder unbestimmbar.«141 Die Frage, die dieser Text formuliert und zu beantworten sucht, geht auf die Identität derjenigen Potenz, von der schon einleitend die Rede war, nämlich die Potenz zur Aufnahme zusammengesetzter Formen. Damit wird ein Problem zum Ausdruck gebracht, dass sich sowohl phänomenal als auch theoretisch beschrei140Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 65, 1–4. 141Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 65, 5–66, 6. Die hier als »bestimmbar« und »unbestimmbar« übersetzten Ausdrücke ḏā ḥadd und ġair ḏī ḥadd scheinen auf den aristotelischen Ausdruck εὐόριστον Bezug zu nehmen, der wörtlich »das gut Bestimmbare« bezeichnet und mit dem Aristoteles dasjenige meint, was sich leicht teilen lässt, darum für Einwirkungen empfänglich und damit gut mischbar ist. Diese Eigenschaft kommt vor allem dem Feuchten zu. Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 328a32–b5; b20–23. Es ist deshalb nicht die Mischung, die »definit oder indefinit sein kann«, wie Puig (77) übersetzt. Die hier gegebene Übersetzung folgt dem von Puig gebotenen arabischen Text, obgleich dieser gegenüber dem MS B mehrere Lesefehler aufweist, die allerdings nicht sinnentscheidend sind und die hier zu korrigieren zu aufwendig wäre.
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ben lässt. Phänomenal ist nämlich zu klären, warum es in einem Fall zur Umwandlung der einfachen Körper ineinander kommt, während im anderen Falle eine Mischung entsteht. Dies ist mit der theoretischen Frage verbunden, wie der einfache Körper jeweils die neue Form aufnimmt. Ist es nicht die Materie, die die Form aufnimmt (vgl. T 36)? Wenn ja, warum nimmt sie dann in einem Fall eine einfache und im anderen Fall eine zusammengesetzte Form auf? Kann man ein und derselben Materie überhaupt diese verschiedenen Funktionen zuschreiben? Es ist diese Frage, die Ibn Bāǧǧa hier zu stellen und negativ zu beantworten scheint. So unterscheidet er zwei Potenzen, durch die der einfache Körper »aufnahmefähig« (qābil) ist, einmal die Potenz, zu anderen einfachen Körpern zu werden, und zum zweiten die Potenz, die er dann auch »Potenz zur Mischung« (quwwa ʿalā l-imtizāǧ) nennt und die eine Potenz zur Aufnahme der zusammengesetzten Formen ist. Demgegenüber spricht er nur von einer aktiven Potenz. Man darf sich nun nicht vom ersten Satz des zitierten Textes irreführen lassen, der zunächst von der aktiven Potenz und der Potenz zur Aufnahme als den zwei Potenzen des einfachen Körpers spricht. Dies kann nur eine erste Annäherung sein, denn nicht nur wird die Potenz zur Aufnahme anschließend in der genannten Weise differenziert, es wird außerdem klar, dass die Potenzen zur Aufnahme nicht mit der passiven Potenz gleichgesetzt werden dürfen, denn »seine Potenz zur Mischung ist mit seinen beiden Potenzen, der aktiven und der passiven, verbunden«. Dies stellt offenbar einen Gegensatz her zur Aufnahme der einfachen Formen, an der weder die aktive noch die passive Potenz beteiligt ist. Dies wird deutlich, wenn wir uns, wie im vorigen Abschnitt, noch einmal Ibn Bāǧǧas allgemeine Überlegungen zur Veränderung am Beginn des dritten Kapitels des Buchs der Seele ansehen. Es heißt dort (N III. 4): »Denn die Materie wird, da sie durch eine Form beformt wird, zum Subjekt für sie; sie ist als Materie ihrer Existenz nach nicht beformt, und deshalb ist die entgegengesetzte Form in Potenz in ihr, und jene Potenz hängt ihr mit Notwendigkeit an und trennt sich nicht von ihr ab. […] Denn die Materie hat ihrem Wesen nach keine Beziehung zu irgendeiner Form, sondern ihr sind alle gleich. […] Wenn sich irgendeine Form in ihr einstellt, welche Form es auch sei, dann ist sie dadurch empfänglich [qābila] für den anderen Gegensatz, und wenn er auf sie trifft, bewegt er sie.« Zur Aufnahme der einfachen Form genügt also das Einwirken der aktiven Potenz eines anderen Körpers auf die aufnahmebereite Materie. Man kann zwar auch, wie Ibn Bāǧǧa es in dem anschließenden Beispiel tut, etwa dem Wasser eine »Potenz zur Luft« zuschreiben (N III. 5), aber diese und alle anderen gleichartigen Potenzen sind, wie es auch der zitierte Ausschnitt schon deutlich macht, immer mit der Materie verbunden. Sie sind sozusagen ein spezifischer Aspekt der Potentialität der ersten Materie in Bezug auf den jeweils untersuchten Veränderungsprozess. Und in diesem Sinne spricht sich Ibn Bāǧǧa auch in seinem Kommentar zur
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Meteorologie aus: »Es ist bereits klar geworden, dass alle Elemente eine einzige Materie haben, und in jedem Teil jedes Elements sind folglich notwendigerweise Potenzen der übrigen Elemente; das ist von selber klar.«142 Durch die passiven Potenzen demgegenüber kommt dem Element »eine gewisse Subsistenz zu und wird es bestimmbar oder unbestimmbar«, so heißt es in unserem Ausgangstext. Die passiven Potenzen beschreiben also nicht die Potentialität der einfachen Körper, sondern ebenso wie die aktiven ein formales Moment. Gleichwohl sind die passiven Potenzen jedoch solche, durch die die einfachen Körper eine Einwirkung erleiden und nicht etwa bewirken. Was dies konkret bedeutet ist mit den Merkmalen »bestimmbar« und »unbestimmbar« angedeutet. Da Ibn Bāǧǧa die Details dieser Theorie jedoch an keiner Stelle ausdrücklich behandelt, so müssen wir hier auf die vorausgesetzten aristotelischen Lehrstücke zurückgreifen. Zunächst einmal können wir jedoch seinem Kommentar zur Meteorologie zumindest eine allgemeine Beschreibung entnehmen. In De generatione et corruptione, so Ibn Bāǧǧa, sei erklärt worden, dass nur vier Potenzen die Elemente zu Elementen machen. Es handele sich um zwei Gegensätze, wobei die Termini oder Extreme (aṭrāf) des einen, Wärme und Kälte, aktiv seien, die Extreme des anderen, Trockenheit und Feuchtigkeit, passiv.143 Gegen Ende des Kommentars, der an dieser Stelle leider abbricht, erklärt Ibn Bāǧǧa, durch Feuchtigkeit oder Trockenheit werde ein Körper bewegt und unterliege Einflüssen, es handele sich daher um Qualitäten die »eher« (aḫlaq bi-an yakūna) materiell seien, während der Körper durch Wärme und Kälte bewege und wirke, so dass diese Potenzen »eher« Formen seien.144 Auch in einem oben behandelten Text konnten wir bereits auf die Formulierung treffen, durch Feuchtigkeit und Trockenheit sei der Körper Materie, durch Wärme und Kälte dagegen wirke er auf andere Körper (T 39). Dies entspricht tatsächlich Aristoteles’ Bestimmung der vier primären Qualitäten in De generatione et corruptione: Feuchtigkeit ist das Moment, was etwas »leicht bestimmbar« macht, Trockenheit demgegenüber das, was es nicht leicht bestimmbar macht145 – die beiden Eigenschaften, die Ibn Bāǧǧa in unserem Text genannt hat. Hitze und Kälte sind dagegen laut Aristoteles diejenigen Eigenschaften, die Dissoziation und Assoziation herbeiführen, und im vierten Buch der Meteorologie beschreibt er ihre Wirkung auf das Feuchte und Trockene, die zur Verfestigung als notwendigem Vorgang zur Bildung von Körpern führt.146 142Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 470, 20–22. 143Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 452, 19–454, 2; vgl. auch 390, 21–392, 5. 144Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 478, 22–480, 5. 145Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b30–32. 146Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b27–30. Meteorologie IV. 4; IV. 5, 382a22– b1 und entsprechend Aristotle’s Meteorology, ed. Schoonheim, 1120–1159. Vgl. Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 150f.
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Diese Theorie macht Ibn Bāǧǧa sich zu eigen, wenn er in seinem Kommentar zu De generatione erklärt, Mischung könne immer nur unter Beteiligung von etwas Feuchtem stattfinden und werde mit Hilfe von Hitze oder Kälte herbeigeführt. Er verweist dafür explizit auf das vierte Buch der Meteorologie.147 Die passiven Potenzen sind daher nicht mit der Materie, sondern mit der »Subsistenz« (qiwām) der einfachen Körper verbunden. Sie erleiden zwar Einwirkung und stehen der Materie näher als die aktiven Potenzen, aber sie leiden doch nicht in gleicher Weise wie die Materie. Wie genau, das bleibt im Folgenden zu sehen, wenn wir das von Ibn Bāǧǧa beschriebene Zusammenspiel der Potenzen bei der Mischung analysieren. Man kann aber bereits an dieser Stelle festhalten, dass der konkrete Einsatz der Potenztheorie in voller Übereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen ist, die wir in Abschnitt 1 herausgearbeitet haben: Die kinetischen Potenzen sind Ausdruck der Potenz-Akt-Spannung, jedoch jeweils in Bezug auf bestimmte Veränderungsprozesse. Außerdem zeigt sich, dass die Kombination verschiedener Potenzen neue Potenzen hervorbringt, und zwar bereits auf der Ebene der Elemente. Während in einer Hinsicht die aktive Potenz eines einfachen Körpers auf die mit der Materie eines anderen verbundene »passive« Potenz einwirkt, ergibt sich aus dieser aktiven Potenz und den im engeren Sinne passiven Potenzen der Feuchtigkeit und Trockenheit eine neue »Potenz zur Mischung«.
4.2. Der Prozess der Mischung Was ist nun Mischung und wie kommt sie zustande? Ibn Bāǧǧa nennt in unserem Ausgangstext (T 46) vier Aspekte der Mischung, verweist aber auch auf eine eigene frühere Behandlung der Mischung, wobei er offenbar an deren thematische Behandlung im ersten Buch desselben Kommentars denkt. Zusätzlich zu diesen sehr knappen Ausführungen können wir auf einige verstreute Passagen aus anderen Werken zurückgreifen, insbesondere aus seinem Kommentar zur Meteorologie und aus dem Buch der Seele, um die Natur und Funktion der genannten Potenzen in Ibn Bāǧǧas Theorie der Mischung zu studieren. Die vier hier erwähnten Aspekte sind die folgenden: (1) Das durch Mischung Zusammengesetzte entsteht »aus mehr als einem«, und zwar muss das, wenn es sich nicht um eine reine Tautologie handeln soll, offenbar bedeuten, dass es aus mehr als einem Typ von Element entsteht. Das der Mischung gewidmete Kapitel bestätigt dies. Ibn Bāǧǧa sagt dort, die gemischten Körper dürften nicht gleichartig (mutašābihān) sein, denn das sei nicht Mi-
147Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 15, 10–16, 8.
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schung sondern eine Form von »Kontinuum« (ittiṣāl), die keine eigentümliche Bezeichnung habe.148 (2) Eng damit hängt zusammen, dass das durch Mischung Zusammengesetzte »keines von den beiden Elementen« ist. Es entsteht also etwas Neues. All das, was gemischt wird, existiert im Gemischten nur mehr in Potenz, wie Ibn Bāǧǧa in Übereinstimmung mit Aristoteles erklärt; es kann allenfalls später durch natürliche oder künstliche Auflösung der Mischung wieder als Element zum Vorschein kommen.149 So schreibt er auch im Buch der Seele, dass die Elemente entweder so zusammengesetzt sein können, dass sie dabei in Akt existieren, dann handelt es sich lediglich um ein Kontinuum, oder aber in dem sie sich mischen und nur noch in Potenz existieren, sodass sie etwa im Körper der Lebewesen, der in dieser Weise zusammengesetzt ist, als Elemente nicht in Erscheinung treten (N III. 30). (3) Die Mischung kommt durch »Kontakt und gegenseitige Beeinflussung« zustande. Dies ist der Kernsatz der Mischungstheorie, Ibn Bāǧǧa entwickelt ihn im ersten Buch seines Kommentars in folgender Weise:150 Er beginnt mit einem Referat der von Aristoteles diskutierten scheinbaren Mischung, die nur eine Mischung »in der Wahrnehmung« (fī l-ḥiss) ist.151 Etwas kann nämlich der Wahrnehmung als Mischung erscheinen, wenn die Körper nicht mehr als einzelne erkennbar sind. Ibn Bāǧǧa führt dabei im Vergleich mit Aristoteles eine Präzisierung ein, indem er erklärt, dass in diesem Fall die »Begrenzungen der Teile« (nihāyāt al-aǧzāʾ) nicht erfasst würden, und genau daraus entstehe der Eindruck der Mischung.152 Dies erlaubt ihm, im nächsten Schritt genau zu beschreiben, was bei der tatsächlichen Mischung geschieht: Hier trennen sich die Teile jedes der beiden Elemente, dann »werden ihre Begrenzungen aufgehoben und das Gesamte wird ein Einfaches« (basīṭ wāḥid). Ibn Bāǧǧa sagt auch, dass die Elemente »eins werden« beziehungsweise »sich vereinigen« (yattaḥidā). Es gelingt ihm so, Aristoteles’ Beschreibung der Mischung, die Teile würden nicht »bewahrt«, 148Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 16, 10–12. 149Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 17, 13–18, 3; Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 327b22–31. Vgl. auch Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 390, 22–392, 1: »Und dort [d. i. in De generatione et corruptione] ist erklärt worden, dass jenes Einfache zu einem Einfachen vergeht und nicht zu einem Zusammengesetzten, während jedes Zusammengesetzte letzten Endes zu etwas Einfachem vergeht.« 150Zum Folgenden siehe Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 15, 1–16, 1. Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 160–162 paraphrasiert den Inhalt von Ibn Bāǧǧas Darlegung der Mischung, unterlässt aber eine philosophische Analyse. 151Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 327b31–328a18. 152Nach dem »unmittelbaren Eindruck« (sābiq al-raʾy) – nicht »en una antigua opinión« wie Puig übersetzt (Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 17 und Anm. 36) – existiert das nicht, was nicht wahrnehmbar ist (die Begrenzungen). Zur Begriffsgeschichte von sābiq al-raʾy vgl. Vallat, Alfarabi et l’école d’Alexandrie, 217f.
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sondern es entstünde ein »Gleichteiliges« (Homoiomer),153 in Grundbegriffen der Physik wiederzugeben. Als etwas, das keine getrennten Begrenzungen hat, sondern dessen Begrenzungen vielmehr eins werden, bestimmt Aristoteles dort nämlich das Kontinuierliche (συνεχές).154 Erstes Kriterium der Mischung ist also, dass ein Kontinuum entsteht, das in sich »einfach« ist, das heißt keine qualitativ voneinander unterscheidbaren Teile hat.155 Dies ist jedoch, wie bereits gehört, nicht genug, um die Mischung eindeutig zu bestimmen. Die gemischten Körper dürfen nicht gleichartig sein, sondern müssen sich in einander konträr entgegengesetzten Zuständen befinden, wobei dieser Zustand sowohl eine konträre Eigenschaft (ḍidd) als auch eine Privation (ʿadam) sein kann.156 Das bedeutet, wenn man einmal die bisher durchgegangenen Bestimmungen zusammenfasst, dass »gemischt« etwas ist, dass (1) aus ungleichartigen Elementen oder Teilen so zusammengesetzt ist, dass es (2) ein Kontinuum bildet, das (3) von den gemischten Elementen verschieden ist und (4) diese nur mehr in Potenz in sich enthält. Das ist allerdings, wie Ibn Bāǧǧa deutlich macht, erst eine Bestimmung des »absolut betrachteten Gemischten« (al-muḫtaliṭ bi-l-iṭlāq).157 Das meint in diesem Falle wohl eine rein begriffliche Bestimmung der Mischung, denn Ibn Bāǧǧa lässt darauf eine Bestimmung der »natürlichen Mischung« (al-iḫtilāṭ al-ṭabīʿī) folgen, für die dann nicht mehr nur konträre Zustände, sondern ganz konkret konträre Potenzen (quwā mutaḍādda) entscheidend sind:158 Eine natürliche Mischung entsteht nur zwischen Körpern mit konträren Potenzen, und zwar müssen sie (a) zuerst in Kontakt treten (tamāss), dann (b) müssen sie sich teilen und schließlich (c) »jeder einzelne von beiden Einwirkung von seinem Gegenüber erleiden«. Die Bedingung des Kontaktes ist, wie wir gesehen haben (Abschnitt 3) eine allgemeine Bedingung für jede Form des Wirkens und der Veränderung.159 Mit der Teilung spielt Ibn Bāǧǧa wohl auf Aristoteles’ Beobachtung an, dass die Mischung leichter eintritt, wenn die zu mischenden Körper in sehr kleinen Teilen vorliegen, da sie dann besser auf einander einwirken können.160 Am wich-
153Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 328a5–8. 154Vgl. Aristoteles, Physik, V. 3, 227a10–17. Es handelt sich bei Ibn Bāǧǧa also nicht um eine »atomistische Terminologie« wie Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 234 vermutet. 155Auch in seinem Kommentar zur Meteorologie (Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 388, 7–10) stellt Ibn Bāǧǧa zwei miteinander gemischten Teilen solche Teile gegenüber, die »jeder ihre Begrenzungen bewahren« (kullu wāḥid minhumā ḥāfiẓan li-nihāyātihī). 156Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 16, 9–14. 157Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 16, 9. 158Dazu und zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 16, 15–17, 2. 159Vgl. für Kontakt und Mischung insbesondere Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 6, 322b21–26. 160Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 328a31–34.
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tigsten ist aber, dass jeder Teil auf den anderen einwirkt und keine einseitige Einwirkung vorliegt,161 was Ibn Bāǧǧa oben (T 46) knapp und präzise als tafāʿul, als »gegenseitige Einwirkung« gefasst hatte. An diesem Punkt kommt dann die Theorie der Potenzen erst wirklich zum Tragen, denn sie erlaubt Ibn Bāǧǧa, Vorgang und Resultat der gegenseitigen Einwirkung genau zu beschreiben: [T 47] »Wenn eins der beiden zu Mischenden überwiegt [ġalaba] und im Gesamten nichts von der Potenz des anderen existiert, dann ist das keine Mischung, sondern Entstehen und Vergehen. Man sagt daher nicht, dass ein Tropfen Wein mit dem Wasser des Meeres gemischt wird, sondern man nennt Mischung vielmehr nur das, wobei das Gesamte immer noch die Potenz beider zu Mischenden hat, wenn es aus zweien besteht, oder die anderen Potenzen, wenn es aus mehreren besteht. Wenn wir von einer Mischung aus zweien ausgehen, dann existiert für die Gesamtheit des Gemischten jede einzelne von den Potenzen der zu Mischenden. Diejenigen, die nicht konträr entgegengesetzt sind oder einem konträren Gegensatz folgen, existieren beide zugleich in Vollendung; diejenigen, die einen konträren Gegensatz bilden, von denen existiert das Mittel [wasaṭ] zwischen beiden; und das, was einem konträren Gegensatz folgt, bei dem existiert manchmal ein Mittel, manchmal existiert etwas anderes und es fehlt ganz. Deshalb besteht in den Gemischen jedes einzelne der zu Mischenden in Potenz.«162 Einerseits paraphrasiert Ibn Bāǧǧa hier sehr getreu die zentrale Passage von Aristoteles’ Untersuchung der Mischung, einschließlich des Weinbeispiels etwa. Andererseits transformiert er Aristoteles’ Theorie, indem er sie in Begriffen der Potenz neu fasst und damit in sein Modell der Potenzen integriert. Aristoteles’ Text bietet dafür insofern eine Handhabe, als er davon spricht, dass eine Mischung entsteht, wenn die Veränderung nicht »hin zum Herrschenden« erfolgt, also nicht einer der Bestandteile überwiegt, sondern eine »Balance der Potenzen« (ταῖς δυνάμεσιν ἰσάζῃ) vorliegt. Dann wird nicht eines zum anderen, sondern es entsteht ein gemeinsames »Mittel« (μεταξύ).163 Aristoteles verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der δύναμις jedoch eindeutig im Sinne einer Kraft, einer Wirkmächtigkeit. Dies kommt auch in einer weiteren, der Mischung und Zusammensetzung gewidmeten Passage zum Ausdruck, die offenbar in Ibn Bāǧǧas Text hineinspielt. Es heißt dort in Bezug auf die Mischung des Warmen und Kalten, dass nicht eines von beiden in Potenz (δυνάμει), das andere in-Vollendung ist. Vielmehr kommt es zu einem »Mittel«, das verschieden ausfallen 161Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 328a18–23. 162Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 17, 2–14. 163Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 10, 328a23–31.
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kann: »Insofern es in Potenz mehr warm als kalt ist oder umgekehrt, wird es zweifach wärmer in Potenz als kalt sein oder dreifach oder in anderer Weise«.164 Gerade an dieser letzten Stelle will das δυνάμει gar nicht recht zu Aristoteles’ üblichem Begriff des Potentiellen passen, sondern man scheint eher »der Potenz nach« übersetzen zu müssen. Gemeint ist, dass in der Mischung die eine oder andere Eigenschaft »mehr Kraft« hat und das Gemisch stärker bestimmt als die andere. Ibn Bāǧǧa tut an dieser Stelle etwas Grundverschiedenes. Für ihn werden nicht Eigenschaften gemischt, die mehr oder weniger »Kraft« haben, sondern es werden Potenzen gemischt – auch wenn er diese Potenzen mit Aristoteles durchaus als intensive Größen betrachtet, die »überwiegen« oder einander ausgleichen können. Diesen Gedanken greift er auch in anderen Texten auf. Im Buch der Seele beispielsweise, wenn er die Umwandlung der einfachen Körper beschreibt, sagt er, dass einer den anderen nur dann bewegt, wenn er »stärker« (aqwā) ist als der andere, nicht wenn er »gleichwertig« (musāwī) ist (N III. 5). Bei Ibn Bāǧǧa bekommt damit die Feststellung, dass die Gegensätze in Potenz im Gemisch erhalten bleiben, eine ganz konkrete Bedeutung, insofern sie als Potenzen, als Mittel zwischen den Potenzen anwesend sind. Außerdem geht er in sofern über Aristoteles hinaus, als er aus diesem Grundsatz auch Folgen für die übrigen Potenzen der gemischten Körper zieht: Wenn sie einander nicht entgegengesetzt sind, so bleiben sie »in Vollendung« erhalten und gehen in das Gemisch ein, »folgen« sie dem Gegensatz, eröffnen sich mehrere Möglichkeiten zwischen Mischung und Aufhebung. Was hier gemeint sein könnte, lässt sich wiederum aus dem Kommentar zur Meteorologie entnehmen, wo davon die Rede ist, dass Gemischtes eine »zusammengesetzte Bewegung« hat, die maßgeblich durch den »überwiegenden Bestandteil« (al-aġlab) bestimmt wird.165 Hier sind wohl leicht und schwer als den Gegensätzen folgende Potenzen betrachtet. (4) Wenn wir nun wieder zu unserem Ausgangstext (T 46) zurückkommen, so können wir feststellen, dass Ibn Bāǧǧa die Theorie der Mischung noch in einem anderen Punkt anhand des Potenzbegriffs weiter ausführt, indem er sich nämlich an den im vierten Buch der Meteorologie genannten aktiven und passiven Eigenschaften orientiert und diese in die in De generatione et corruptione entwickelte allgemeine Theorie der Mischung integriert. Die »Potenz zur Mischung«, also die Potenz, eine zusammengesetzte Form aufzunehmen, beruht auf der aktiven und der passiven Potenz eines Elementes: Die aktiven geben gewissermaßen die Form, die passiven die Materie. Man muss demnach nicht nur, in Anbetracht von Text T 47, bei der Mischung ein Mittel der aktiven und ein Mittel der passiven Potenzen erhalten, sondern die aktiven müssen auch auf die passiven einwirken 164Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 7, 334b7–29, Zitat 334b13–15. Hier wird auch die »Balance« wieder erwähnt. 165Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 386–388.
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und sie gleichsam formal bestimmen. H. H. Joachim hat hier bei Aristoteles von zwei Tätigkeiten der aktiven und passiven Gegensätze gesprochen: einer »Übergangstätigkeit« (transient action), die zum Ausgleich jeweils innerhalb eines Gegensatzpaares führe und in De generatione et corruptione untersucht werde, und einer »immanenten Tätigkeit« (immanent action) der aktiven auf die passiven Eigenschaften, vergleichbar der »Wirkung« der Form eines Belebten auf seine Materie, die bei der genauen Betrachtung der Homoiomere in Buch IV der Meteorologie untersucht werde. Mit letzterer Tätigkeit werde erklärt, wie das Homoiomer zu einer Einheit wird.166 Ibn Bāǧǧa hat diesen Zusammenhang offenbar in ähnlicher Weise hergestellt und mittels des Potenzbegriffs systematisiert.
4.3. »Eine zusammengesetzte mittlere Potenz« Was ist nun das bei der Mischung entstehende Mittel und wie verhält es sich zur Form des Zusammengesetzten? Eine Passage aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Meteorologie gibt darüber Auskunft: [T 48] »Alles, was entsteht, entsteht entweder aus einem Element oder aus mehr als einem Element. [1] Aus einem einzigen Element entsteht nur ein anderes Element, wie das Feuer etwa aus den übrigen drei erzeugt wird, wie in De generatione et corruptione gesagt worden ist. [2] Aus zweien entsteht manchmal ein anderes Element, wie in De generatione gesagt worden ist, und zwar wenn das Gesamte vergeht durch Vergehen der Potenz jedes einzelnen von beiden oder das Vergehen der Potenz eines von beiden. [3] Oder aber die Begrenzungen vergehen, während die Potenzen in Akt erhalten bleiben, jedoch nicht rein, sondern so, dass aus ihnen eine zusammengesetzte mittlere Potenz [quwwa murakkaba mutawassiṭa] neu entsteht. Und zwar ist das dann der Fall, wenn sie sich noch mischen und dabei auf Grund von beiden ein anderes Seiendes und eine andere Form neu entsteht. In diesen können viele Formen neu entstehen durch [verschiedene] Arten von Zusammensetzung und [verschiedene] Arten von Eigenschaftsänderung, denen [verschiedene] Arten von Entstehen folgen – besonders wenn ein Beweger von einer anderen Gattung hinzukommt; und so gibt es viele Entstehungen.«167 166Harold H. Joachim, Aristotle’s Conception of Chemical Combination, in: The Journal of Philology 29 (1904), 72–86, hier 83–85; vgl. Aristoteles, Meteorologie, IV. 1, insbesondere 379a8– 11. Joachim stützt sich in seiner Interpretation ausdrücklich (72 et passim) auf Zabarella, also auf eine scholastisch informierte Tradition. 167Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 452, 7–18. Meine Übersetzung weicht sowohl von derjenigen Lettincks als auch von der von Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 233 gegebenen ab, insbesondere was den Satz waḏālika mā dāmā… angeht. Die folgende Interpretation wird deutlich machen, dass hier nicht
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Die ersten beiden hier genannten Fälle des Entstehens – sie beschreiben verschiedene Fälle der Umwandlung der Elemente ineinander – sind an dieser Stelle für uns nicht weiter von Interesse oder höchstens insofern, als der Text noch einmal bestätigt, dass Ibn Bāǧǧa auch diese Prozesse konsequent auf die kinetischen Potenzen der Elemente (oder richtiger: der einfachen Körper) hin beschreibt. Diese Potenzen vergehen beziehungsweise entstehen, wenn ein einfacher Körper aus anderen erzeugt wird. Der dritte Fall dagegen bringt entscheidend Neues. Bei der Mischung, denn die ist natürlich gemeint, vergehen zwar die Begrenzungen der Elemente, es entsteht also, wie wir schon wissen, ein Kontinuum, aber die Potenzen bleiben erhalten. Bemerkenswert ist, dass sie laut Ibn Bāǧǧa in Akt erhalten bleiben, während er in dem zuletzt betrachteten Text (T 47) mit Aristoteles von einem Enthaltensein in Potenz gesprochen hatte. Dies ist jedoch kein Widerspruch, denn dort war von den gemischten Körpern die Rede, hier dagegen sind die Potenzen dieser Körper gemeint. Während nämlich die Elemente im Gemischten nicht zutage treten, so kennen wir bereits Ibn Bāǧǧas These, dass die aktiven und passiven Potenzen wie die Wärme in allen aus den Elementen zusammengesetzten Körpern erhalten bleiben und eine je eigentümliche Funktion übernehmen (T 40). Die Potenzen bleiben nun aber nicht »rein« (ḫāliṣa), sondern bilden eine so nicht dagewesene neue Potenz – das von Ibn Bāǧǧa hier mehrfach gebrauchte Verb ḥadaṯa bezeichnet das Entstehen von etwas radikal Neuem, man spricht etwa von der These der Weltschöpfung als ḥudūṯ al-ʿālam. Diese neue Potenz wird mit zwei Begriffen beschrieben, einmal als »zusammengesetzt« (murakkaba) und zum anderen als »ausgemittelt« (mutawassiṭa). Dies letztere nimmt das »Mittel« (wasaṭ) auf, von dem, wie gesehen, auch Aristoteles als μεταξύ oder μέσον spricht,168 und bezeichnet den durch gegenseitige Einwirkung zustande gekommenen Ausgleich der Potenzen in einer »zwischen« beiden ursprünglichen Potenzen liegenden neuen Potenz, nennt also das Faktum der Mischung als solcher. Dagegen bezieht sich murakkaba offenbar auf die von Ibn Bāǧǧa genannten »Arten der Zusammensetzung [tarkīb]«, und damit sind wohl die bereits genannten verschiedenen Verhältnisse gemeint, in denen die Potenzen stehen können, um verschiedene Mischungen zu erzeugen. Ibn Bāǧǧas Formulierung, »viele« neue Formen könnten aus »[verschiedenen] Arten« (ḍurūb… ḍurūb… ḍurūb) der Zusammensetzung, Mischung und Entstehung hervorgehen, nimmt ganz deutlich Bezug auf Aristoteles’ Beobachtung, das μέσον sei »vielfach« (πολύ) und dadurch könnten Fleisch, Knochen und anderes entstehen. Bemerkenswert an Ibn Bāǧǧas »zusammengesetzter mittlerer Potenz« ist aber anders übersetzt werden kann. Inhaltlich kann man die hier ausgedrückte Idee mit N III. 37 vergleichen. Siehe unten, S. 431f. 168Zu μέσον siehe Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 7, 334b23–29.
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weniger die gemeinaristotelische Theorie der Mischung und des Mittels als die Tatsache, dass er diese als Mischung von Potenzen auffasst, bei der eine neue Potenz entsteht. Dies wird deutlich, wenn man sich etwa Ibn Rušds Kommentar zu De generatione et corruptione ansieht: Dieser spricht von einer »einzigen mittleren Qualität« (kaifīya wāḥida mutawassiṭa), die durch die Mischung zustande komme, und eben nicht von einer Potenz.169 Die »zusammengesetzte mittlere Potenz« ist nun in Ibn Bāǧǧas Analyse nicht das einzige und nicht das wichtigste Resultat der Mischung. Was er im vorliegenden Text erklären will ist ja das »Entstehen« (takawwun) und das betrifft, wie er klar sagt, ein Seiendes beziehungsweise eine Form. Auch in dem zuvor betrachteten Text (T 46) war die Mischung als der Vorgang beschrieben worden, durch den »die Formen der zusammengesetzten Dinge« »aufgenommen« werden. Der Prozess der Mischung, bei dem eine neue beziehungsweise mehrere neue Potenzen zustande kommen (insofern es ja zwei Paare entgegengesetzter Potenzen gibt), ist also nicht identisch mit der Formwerdung, als die das Entstehen verstanden werden muss. Vielmehr deutet Ibn Bāǧǧa hier an, dass die Entstehung die letzte von drei Etappen ist, die den beiden ersten – »Zusammensetzung« und »Eigenschaftsänderung« – »folgt« (tābiʿ). Die »Zusammensetzung« beschreibt, wie schon gesehen, das Verhältnis der Potenzen; die »Eigenschaftsänderung« (istiḥāla, ἀλλοίωσις) dagegen ist das Einwirken der aktiven und passiven Momente aufeinander, das nach Aristoteles für jede Mischung notwendig ist.170 Damit zeigt sich das »zusammengesetzte Entstehen«, eine Veränderung in der Substanz, als Terminus des Prozesses der Veränderung in der Qualität.171 Ibn Bāǧǧa hat mit Aristoteles das Entstehen als solches und insbesondere das »einfache Entstehen«, nämlich das Entstehen der einfachen Körper, von der Eigenschaftsänderung abgegrenzt, weil es eine Veränderung vom Nichtsein zum Sein ist, während das in seinen Eigenschaften Veränderte gerade in Akt existieren muss.172 Das Entstehen des zusammengesetzten Seienden dagegen setzt nun eine Eigenschaftsänderung voraus, »folgt« dieser, indem es sie durch die Aufnahme einer »zusammengesetzten Form« terminiert. Damit muss die »zusammengesetzte mittlere Potenz« formell als eigentümliche Qualität des zusammengesetzen Körpers gedacht sein, aber es darf vermutet werden, dass die Abgrenzung hier genauso schwierig sein wird wie im Verhältnis der aktiven und passiven Potenzen zu schwer und leicht als »Formen« der Elementarkörper.173
169Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar, 84 [arab.], 2. 170Zu dieser Theorie vgl. Kapitel 9, Abschnitt 3. 171Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 6, 323a16–20 und I. 10, 328b22. 172Vgl. insbesondere Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 44, 8–46, 2; Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 3, 317b13–35; I. 4. 173Vgl. oben, Abschnitt 3.
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4.4. Die ausgewogene Mischung Zum Abschluss des zuletzt untersuchten Textes erklärt Ibn Bāǧǧa, es ergebe sich noch ein weiteres Spektrum von »Entstehungen« (takawwunāt), wenn »ein Beweger von einer anderen Gattung« hinzukomme. Was hier gemeint ist, sagt eine Passage aus seinem Buch der Lebewesen deutlicher: [T 49] »Was nun die Zusammensetzung [tarkīb] der Homoiomere angeht, so wird das nur im äquivoken Sinne ›Zusammensetzung‹ genannt, während die spezifischere Bezeichnung dafür ›Mischung‹ [mizāǧ] und ›Temperament‹ [iḫtilāṭ] lautet.174 Darüber ist bereits im vierten Buch der Meteorologie gesprochen worden. Wir wollen [hier] darüber nach Art der Beschreibung sprechen: Es ist bereits in der Schrift De generatione et corruptione die Mischung definiert worden und angegeben worden, wie und worin sie entsteht; und es ist dort erklärt worden, dass die gemischten Körper in dem Gemischten in Potenz, nicht in Akt existieren. [1] Wenn das so ist, dann ist von den auf dem Wege der Mischung zusammengesetzten Körpern derjenige, den die Natur eines der Elemente in sehr klarer Weise dominiert [aġlab… ġalba ẓāhira], auf erste [Weise] zusammengesetzt, da er beinahe dieses Element selbst ist. Daher werden der Stein, das Gold und das Eisen zu den irdenen Körpern gezählt, während der Essig und der Wein zu den wässrigen Körpern gezählt werden, denn die ersteren sind beinahe Erde, die letzteren sind beinahe Wasser. Daher genügt für [Körper] wie diese die Existenz der Elemente allein, und ihr Entstehen zu einem Zeitpunkt und Vergehen zu einem [anderen] Zeitpunkt liegt an der Bewegung der Himmelskörper. [2] Bei demjenigen dagegen, wo der Abstand von beiden Extremen nahezu gleich ist, genügen diese beiden Prinzipien allein nicht, sondern [es braucht noch] ein anderes Prinzip, nämlich die Seele, denn die Seele ist die Ursache für diese Art von Mischung. Wenn die Elemente einander nämlich in ihren Potenzen nahe kommen [taqārabat quwāhā], mischen sie sich nicht, sondern jedes von beiden kann sich vom anderen freimachen, und daher bedarf es eines anderen Prinzips, das beide kombiniert und beide bewegt, sodass sie eine Sache werden und ihre beiden Potenzen eine einheitliche zusammengesetzte Potenz [quwwa wāḥida murakkaba] werden.«175
174Im Folgenden sind beide arabischen Begriffe als »Mischung« übersetzt worden, denn Ibn Bāǧǧa gebraucht sie offenbar synonym (vgl. auch Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 145), wie auch Aristoteles μῖξις und κρᾶσις synonym gebrauch; vgl. Joachim, Aristotle’s Conception of Chemical Combination, 72f. 175Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 181, 1–16.
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Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte an dieser Stelle vielleicht zuerst vorausgeschickt werden, dass die »Zusammensetzung«, von der hier die Rede ist, nicht wie im vorangegangenen Text das Verhältnis bezeichnet, sondern die aristotelische σύνϑεσις, die einerseits ganz allgemein für jede Form der Kombination gebraucht werden kann,176 in De generatione et corruptione aber als Gegenbegriff zur Mischung die rein mechanische »Vermischung« von zwei Stoffen bezeichnet.177 Weshalb Ibn Bāǧǧa hier sagt, Mischung könne nur äquivok als Zusammensetzung bezeichnet werden. Ibn Bāǧǧa unterscheidet hier nun zwei Typen der Mischung: Beim ersten Typ überwiegt einer der Ausgangsstoffe und der gemischte Körper wird daher nach dem dominierenden Element entweder als irden oder als wässrig bezeichnet – eine Beobachtung, die auch Aristoteles in der Meteorologie macht, wobei er allerdings sowohl unbelebte wie belebte Homoiomere aufzählt.178 Ibn Bāǧǧa dagegen kombiniert diesen Gesichtspunkt mit einer anderen Unterscheidung, die Aristoteles in unterschiedlicher Form sowohl in der Meteorologie als auch in De generatione animalium vornimmt. In der Meteorologie erklärt Aristoteles’, Wärme und Kälte als wirkende und Feuchtigkeit und Trockenheit als materielle Ursachen würden ausreichen, um homoiomere Körper – er nennt wiederum sowohl unbelebte als auch belebte – zu erzeugen. Für das Entstehen anhomoiomerer Körper wie Kopf oder Hand dagegen sei »eine andere Ursache« oder auch »die Natur oder irgendeine andere Ursache« nötig – Formulierungen die offenbar hinter Ibn Bāǧǧas Rede von einem »Beweger von einer anderen Gattung« stehen (T 48).179 In der zoologischen Schrift dagegen zieht Aristoteles die Trennlinie anders: Wärme und Kälte seien zwar in der Lage, Eigenschaften wie Härte und Weichheit zu erzeugen, nicht jedoch den λόγος, das Verhältnis, durch das etwas zu Fleisch oder Knochen – belebten homoiomeren Körpern also – werde. Diese Funktion wird dort der Seele übertragen.180 Ibn Bāǧǧa hält sich eindeutig an die letztere Unterscheidung und stellt demgemäß hier unbelebte Homoiomere (Abschnitt 1) und belebte Homoiomere (Abschnitt 2) einander gegenüber. Zum Entstehen der ersteren tragen zwei Prinzipien bei, nämlich die Elemente oder genauer deren Potenzen und die Himmelskörper, die, wie Ibn Bāǧǧa hier deutlich macht, nicht den Prozess der Mischung selbst bestimmen, sondern nur, wann dieser Prozess ausgelöst wird. Sie sind ja, wie wir schon gehört haben, die Ursache dafür, dass die Elementarkörper
176Vgl. etwa Aristoteles, De partibus animalium II. 1, 646a12–24. 177Vgl. Joachim, Aristotle’s Conception of Chemical Combination, 73–75. 178Vgl. Aristoteles, Meteorologie, IV. 10, 389a2–23. 179Aristoteles, Meteorologie, IV. 10, 388a20–26; IV. 12, 390b2–14. 180Aristoteles, De generatione animalium, II. 1, 734b27–735a4. Vgl. zur Diskrepanz zwischen beiden aristotelischen Texten Althoff, Warm, kalt, flüssig und fest bei Aristoteles, 26.
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miteinander in Kontakt kommen.181 Die belebten Homoiomere dagegen benötigen zu ihrer Entstehung die Seele als weiteres Prinzip. Bedeutsam ist nun Ibn Bāǧǧas Erklärung für diese theoretische Grenzziehung, die sich wieder in innovativer Weise der Theorie der Potenzen bedient und explizit an das anknüpft, was die allgemeine Bestimmung der Mischung (T 47) ergeben hatte, nämlich dass ein Gleichgewicht zwischen den Potenzen der zu mischenden Bestandteile bestehen muss, damit nicht eine überwiegt und die andere verdrängt. Und zwar versteht er die Besonderheit der belebten Homoiomere nach dem in der medizinischen Tradition verbreiteten Konzept der »ausgewogenen Mischung«, das auch bei Aristoteles bereits begegnet.182 Er projiziert diese Bedingung auf die in der Meteorologie für ganz andere Zwecke gemachte Unterscheidung zwischen Homoiomeren, die stärker durch das eine oder andere Element bestimmt sind, und kann dann sagen, dass die Seele zur Herstellung der Mischung notwendig wird, wenn »die Elemente einander in ihren Potenzen nahe kommen«, so dass also keine von sich aus die andere affizieren kann. Nur durch Mitwirkung des seelischen Prinzips kann dann »eine zusammengesetzte Potenz« zustande kommen. Ibn Bāǧǧa liest hier die für die spezifische Materie des belebten Körpers aufgestellten Bedingungen umgekehrt von der materiellen Komposition her, so dass er aus dem Satz, dass ein beseelter Körper ein ausgewogenes Temperament haben muss, auf den Satz schließt, dass ausgewogene Temperamente nur durch Beteiligung der Seele zustande kommen. Er deutet das im Rahmen der allgemeinen »chemischen« Theorie, die er mittels des Potenzbegriffs systematisiert hat.
4.5. Dynamisierung der Potenztheorie Bevor wir im nächsten Kapitel die biologische und psychologische Verlängerung dieser Theorie studieren, bleibt eine Frage zu klären, die sich an dieser Stelle aus den Grundlagen von Ibn Bāǧǧas Potenztheorie ergibt, so wie wir sie im ersten Abschnitt dieses Kapitels rekonstruiert haben. Wenn nämlich die passiven und aktiven Potenzen von der Potentialität her zu denken sind, kann Ibn Bāǧǧa dann ihre hier notwendig gewordene Bestimmung als intensive Größen rechtfertigen? Ist es nicht widersprüchlich, Potenzen durch ihr Angewiesensein auf eine komplementäre Potenz zu definieren, sie also als Instantiierung der Potenz-AktSpannung zu konzipieren, und dann, als handele es sich um einen Kraftbegriff, von stärkeren und schwächeren Potenzen zu sprechen? Diese Frage stellt sich
181Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 10; vgl. oben T 42. 182Vgl. Kapitel 11, Abschnitt 2.4.
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selbstredend schon bei Aristoteles,183 sie wird aber bei Ibn Bāǧǧa dadurch verschärft, dass er eine einheitliche Theorie der Potenzen anstrebt. Ibn Bāǧǧa ist das Problem zumindest bewusst, und er gibt im Buch der Seele eine gewisse Antwort (N III. 8): Eine »bewegte«, also eine passive Potenz kann nicht größer oder kleiner sein, es sei denn, insofern sie in einem größeren oder kleineren Körper ist. Dies ist ganz offenbar deshalb der Fall, weil sie ja als passive Potenz kein unabhängiges Sein besitzt, sie existiert nur, insofern sie an einem in-Akt-seienden Körper ist. Je größer dieser Körper ist, desto »größer« ist die passive Potenz; man könnte etwa folgendes Beispiel konstruieren: Je mehr Wasser im Topf ist, desto mehr Wärme kann es aufnehmen. Dagegen können Gegensätze, die in Akt existieren, also aktive Potenzen, zumindest im übertragenen Sinne (bi-l-iqtibās) als größer und kleiner bezeichnet werden. Auch dies leuchtet ein, da sie ja im Unterschied zu den passiven Potenzen in Akt sind, wenn auch noch nicht vollständig. Im übertragenen Sinne größer und kleiner wird Ibn Bāǧǧa das deshalb nennen, weil er die Potenzen eben als Qualitäten und wohl nicht als quantitativ messbare Qualitäten, sondern, wie wir es mehrfach ausgedrückt haben, als intensive Größen betrachtet. Ibn Bāǧǧa folgert nun in dieser Textpassage aus der Steigerbarkeit der aktiven Potenzen unmittelbar: »Daher folgt bei dem, dessen Materie eine ist, notwendigerweise, dass jedes von beiden wirkt und das [jeweils] andere Einwirkung erleidet.« Das heißt aber nicht nur, dass die gegenseitige Einwirkung, die Bedingung der Mischung ist, sich an die Voraussetzung knüpft, dass aktive Potenzen intensive Größen sind, sondern auch, dass Ibn Bāǧǧa diese Eigenschaft der Potenzen mit dem PotenzAkt-Schema vereinbar findet.184 Man kann damit durchaus feststellen, dass Ibn Bāǧǧa innerhalb der Theorie der Potenz Raum für eine »Dynamik« schafft, so dass Potenzen gleichsam als konkurrierende Kräfte auftreten können. Damit durchbricht er aber gerade nicht das für die aristotelische Naturphilosophie bestimmende Potenz-Akt-Schema, wie S. Pines angenommen hatte, sondern er bemüht sich, andere, nicht weniger zentrale aristotelische Lehrstücke in eine auf diesem Schema aufbauende Potenztheorie zu integrieren. Dies gelingt ihm, indem er die dynamischen Aspekte 183Vgl. Joachim, Aristotle’s Conception of Chemical Combination, 83: »Aristotle’s theory of μῖξις, therefore, essentialy involves the conception of degrees of intensity in the elementary qualities […].« 184Für den Ausgleich der passiven Potenzen in der Mischung gibt es zwei mögliche Erklärungen, von denen nicht erkennbar ist, welche Ibn Bāǧǧa wählt. Entweder kann man nämlich darauf verweisen, dass die passiven Potenzen Feuchtigkeit und Trockenheit nicht mit der reinen Potentialität der Materie zusammenfallen, und man könnte sie daher nur gegenüber den aktiven Potenzen als passiv, untereinander dagegen als aktiv beschreiben. Das ist der Weg, den Joachim, Aristotle’s Conception of Chemical Combination, 83 wählt. Andererseits kann man darauf verweisen, dass nach den Beschreibungen in der Meteorologie die Mischung zwischen feucht und trocken immer mittels Wärme und/oder Kälte hergestellt wird.
Veränderung und Mischung
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auf die aktiven, dem Akt näherstehenden Potenzen beschränkt. Das hatte sich bei der als aktive Potenz bestimmten Ortsbewegung gezeigt und konnte nun hier in Bezug auf Umwandlung und Mischung der Elemente erneut bestätigt werden. Aus dieser naturphilosophischen Perspektive auf die den natürlichen Veränderungs- und Entstehungsprozessen zugrunde liegenden Potenzen wird die Seele zuerst als Prinzip sichtbar, dass aus annähernd gleichstarken Potenzen »eine einheitliche zusammengesetzte Potenz« machen und damit die Erzeugung spezifischer homoiomerer Körper verursachen kann.
9. Kapitel. Seele als Form der Mischung Im vorangegangenen Kapitel haben wir im Anschluss an die Klärung von Ibn Bāǧǧas allgemeinem Begriff der Potenz und seiner Konzeption aktiver und passiver Potenzen den Einsatz dieser Potenztheorie im Bereich der unbelebten Natur bis zu dem Punkt verfolgt, an dem durch Mischung (mizāǧ) organische Homoiomere entstehen. Dies lässt sich nach Ibn Bāǧǧas Auffassung nur durch das Hinzutreten eines neuen Prinzips, der Seele, erklären, die allein dafür sorgen kann, dass die annähernd gleichstarken Potenzen der Komponenten zu einer »einheitlichen zusammengesetzten Potenz« gemischt werden. Die Seele und die Mischung des Körpers stehen mithin in einem engen Zusammenhang, der genauer aufgeklärt werden muss. Dies ist insbesondere deshalb der Fall, weil die Seele ja selbst eine Potenz oder vielmehr ein Ensemble von Potenzen ist. Es stellt sich mithin die Frage, ob die Seele des durch die Mischung erzeugten organischen Körpers selbst jene zusammengesetzte Potenz oder aber von ihr verschieden ist. Ibn Bāǧǧa sagt im Buch der Seele verschiedentlich, dass die Seele »Form für einen gemischten Körper« (N III. 47), oder dass das Wahrnehmungsvermögen »eine Form in der Mischung des Beseelten« (N III. 50) ist. Was bedeutet das für den Begriff einer seelischen Potenz und für den Begriff der Seele? Wie eng hängen die Potenzen des Unbelebten und des Belebten tatsächlich zusammen? Eine weitere Frage schließt sich an diese zwangsläufig an: Was geschieht mit den Potenzen der Komponenten im gemischten Körper? Was geschieht mit ihren Formen? Wir haben gesehen, dass es für Ibn Bāǧǧa ein Unterscheidungsmerkmal natürlicher und seelischer Potenzen ist, dass die letzteren mittels Organen bewegen und dadurch verschiedene, teils entgegengesetzte Bewegungen ausführen können. Die Fähigkeit der Seele zu solchen verschiedenen Tätigkeiten beruht darauf, dass sie, im Gegensatz zur Natur, eine Vielzahl von Potenzen umfasst.1 Im folgenden Kapitel wird sich bei der näheren Untersuchung der organischen Struktur zeigen, dass die Potenzen den Teilen angehören, aus denen der organische Körper zusammengesetzt ist. Wie also können diese Potenzen im komplexen Körper präsent sein? Wie verhalten sie sich zur »einheitlichen zusammengesetzten Potenz« und wie verhalten sie sich zur Form des Beseelten? Dies ist ein ganzes Nest von Fragen, die zusätzlich im Kontext von historischen Debatten gesehen werden müssen, die auf direktem oder indirektem Wege Einfluss auf Ibn Bāǧǧas Position genommen haben können. Oben war 1Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2.
Alexanders Emergenztheorie
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insbesondere auf das Vorbild Alexanders von Aphrodisias verwiesen worden, der in seinem psychologischen Traktat die stufenweise Zusammensetzung des beseelten Körpers zum Angelpunkt seiner Argumentation macht und dabei dem Begriff der Potenz eine zentrale Rolle zuweist. Der Interpret Ibn Bāǧǧas sieht sich jedoch in diesem Punkt einer doppelten Schwierigkeit gegenüber: Obgleich sich auf viele der gestellten Fragen in Ibn Bāǧǧas Schriften eine Antwort finden lässt, insbesondere wenn man auch Argumentationskontexte berücksichtigt, die diese Fragen nur am Rande berühren, so weist Ibn Bāǧǧa diese Fragen – mit einer Ausnahme – nie als problematisch oder umstritten aus. Dies impliziert, dass er seine Quellen nicht nennt und auch keine sonstwie deutlich erkennbaren Anleihen macht. Hinzukommt, dass die Konzeption der Seele als »Form der Mischung« zu jenen allgegenwärtigen und diffuser Verbreitung unterliegenden Ideen gehört, deren Varianten und Überlieferungswege zu rekonstruieren äußerst aufwendig ist und bis heute wohl noch nicht unternommen wurde. Es wird daher einerseits notwendig sein, zu einzelnen Punkten auf Parallelen und Debatten hinzuweisen, um die systematische Bedeutung von Ibn Bāǧǧas Ansatz herauszupräparieren, während es andererseits nicht möglich ist, Ibn Bāǧǧas Vorbilder mit der wünschenswerten Genauigkeit aufzuarbeiten. Ziel der folgenden Ausführungen ist daher lediglich, Ibn Bāǧǧas Position möglichst deutlich herauszustellen. Damit sollte dann aber auch ein Baustein gegeben sein, auf den spätere, breiter angelegte Untersuchungen zurückgreifen können.
1. Alexanders Emergenztheorie Um zu sehen, was bei den soeben aufgerufenen Fragen auf dem Spiel steht, mag es nützlich sein, bei einer polemischen Reaktion zu beginnen, zumal diese Polemik Ibn Bāǧǧa ausdrücklich mit Alexander in Verbindung bringt. Es handelt sich um einen Teil der Kritik, die Ibn Rušd in seinem Großen Kommentar zu De anima an der Intellekttheorie Alexanders und Ibn Bāǧǧas übt.2 Und zwar geht es genauer um die Natur und Beschaffenheit des materiellen Intellekts: Ist er ein körperliches oder mit dem Körper verbundenes Vermögen oder vielmehr eine abgetrennte Substanz? Ibn Rušd referiert zunächst die Position Alexanders so: Der materielle Intellekt sei ein erzeugtes Vermögen (virtus generata), er entstehe – wie auch die übrigen Vermögen – »dem Wesen nach im Körper auf Grund der Mischung und Temperierung« (in corpore per se a mixtione et complexione).3 Was Ibn Rušd bezüglich des rationalen Vermögens diskutiert, 2Ich habe einige Grundlinien dieser Kritik bereits in Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, untersucht. 3Siehe hierzu und zum Folgenden Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 178–183 und 188– 191 mit Nachweis der von Ibn Rušd herangezogenen Stellen in Alexanders Schriften über die
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Seele als Form der Mischung
gilt also im Grunde für alle seelischen Vermögen. Dies tritt auch in Ibn Rušds anschließender Kritik hervor, die dann Ibn Bāǧǧa einbezieht, denn Ibn Bāǧǧas Bestimmung des materiellen Intellektes sieht er als eine Modifikation derjenigen Alexanders an: [Z 9] »Abū Bakr Ibn Bāǧǧa aber scheint, nach dem offensichtlichen Sinn seiner Darlegung, zu meinen, dass der materielle Intellekt das Vorstellungsvermögen ist, insofern es dazu bereit ist, dass die Intentionen, die in ihm sind, aktuell erkannt werden, und dass es kein anderes Vermögen gibt, das Subjekt der Intelligibilia wäre, außer diesem Vermögen. Abū Bakr scheint dies aber zu meinen, um den Unmöglichkeiten zu entgehen, die bei Alexander eintreten, nämlich dass das Subjekt, welches die erkannten Formen aufnimmt, ein aus den Elementen entstandener Körper ist oder ein Vermögen in einem Körper. […] Am widervernünftigsten an der Auffassung Alexanders ist, dass er gesagt hat, die ersten Bereitschaften zu den Intelligibilia und zu den anderen letzten Vollendungen der Seele seien auf Grund von Temperierung entstandene Dinge, nicht von einem äußeren Beweger [a motore extrinseco] hervorgebrachte Vermögen, wie aus der Auffassung des Aristoteles und aller Peripatetiker allgemein bekannt ist. Denn diese Auffassung von den perzeptiven Vermögen der Seele, wenn sie so lautet, wie wir verstanden haben, ist falsch. Denn aus der Substanz der Elemente und ihrer Natur kann kein unterscheidendes und perzeptives Vermögen entstehen; da ja, wenn es möglich wäre, dass aus ihrer Natur und ohne einen äußeren Beweger [sine extrinseco motore] solche Vermögen entstünden, es dann [auch] möglich wäre, dass die letzte Vollendung, die in den Intelligibilia besteht, etwas aus der Substanz dieser Elemente Entstandenes wäre, so wie Farbe und Geschmack entstehen. Diese Auffassung gleicht derjenigen derer, welche die Wirkursachen leugnen und nur die Stoffursachen anerkennen; und das sind jene, die von Zufall sprechen. Alexander aber ist zu edel als dass er das glauben würde; aber die Probleme, die ihm in Bezug auf den materiellen Intellekt entgegenstanden, haben ihn dazu gezwungen.«4 Die Beweggründe der intellekttheoretischen Debatte brauchen uns an dieser Stelle nicht weiter zu interessieren, es kommt vor allem auf die allgemeinere Schwierigkeit an, ob überhaupt seelische Vermögen »auf Grund von Temperierung entstanden« sind oder nicht. In Bezug auf Ibn Bāǧǧa scheint Ibn Rušd hier davon auszugehen, dass er Alexanders These bezüglich der seelischen Vermögen Seele und über den Intellekt; vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 393–398. 4Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 397, 299–398, 330; Übersetzung aus: Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 189–191.
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im Prinzip akzeptiert, denn nur dann ist seine Vermutung sinnvoll, er habe im Fall des materiellen Intellekts die Konsequenz dieser Theorie vermeiden wollen, dass dieser ein Vermögen in einem »aus den Elementen entstandenen Körper« ist. Andererseits zeigt sich Ibn Rušd, was Alexanders Position selbst angeht, sehr unsicher. Einerseits betrachtet er es als nötig zu sagen, seine Kritik gelte für den Fall, dass er Alexander richtig verstanden habe, und andererseits hält er Alexander für zu »edel«, um die aufgezeigten Implikationen seiner Theorie bewusst vertreten zu haben. Dabei geht er so weit zu behaupten, Alexander habe seine Position nur wegen Schwierigkeiten entwickelt, welche die Beschaffenheit des materiellen Intellekts betreffen, was allerdings nicht recht überzeugen kann, da er zuvor ja gerade deutlich gemacht hat, dass es sich um eine zumindest alle perzeptiven Seelenvermögen betreffende These handelt. Wie lautet nun diese These und was sind ihre Implikationen? Die »ersten Bereitschaften«, also die Seelenvermögen als erste Entelechien, sollen auf Grund der Mischung entstehen und aus der Substanz und Natur der gemischten Elemente allein erklärbar sein – »ohne einen äußeren Beweger«. In der vorangegangenen Darstellung von Alexanders Position benennt Ibn Rušd genauer die Gründe für diese Annahme, und zwar recht getreu den Motiven Alexanders, die wir bereits genannt haben:5 »Ein solch edles und bewunderungswürdiges Sein«, wie es die Seele darstellt, ist auf Grund der Mischung der Elemente allein erklärbar, wenn man berücksichtigt, wie »groß«, also wie komplex diese Mischung ist. Sprich, die seelischen Vermögen sollen auf natürliche Prinzipien zurückgeführt werden und nicht auf ein heterogenes Göttliches. Problematisch findet Ibn Rušd daran nicht nur, dass Alexander auf den angeblich von »Aristoteles und allen Peripatetikern« geforderten »äußeren Beweger« verzichtet, sondern dass er damit die Elemente als Komponenten der Mischung zur alleinigen Ursache der komplexeren Körper macht, dass er also – in atomistischer Manier – die seelischen Vermögen nur auf eine zufällige Kombination der Elemente zurückführen kann, wenn er eine ihnen heterogene Wirkursache ablehnt. Eine weitere Konsequenz sieht Ibn Rušd darin, dass, falls die ersten Entelechien in dieser Weise erklärt werden, nichts dagegen spricht, dass auch die letzten Vollendungen auf die gleiche Weise begründet werden. Die letzten Vollendungen der Erkenntnisvermögen bestehen aber darin, dass diese bestimmte sensible oder intelligible Formen aufgenommen haben. Diese Formen müssten dann ebenso aus der Kombination der Elemente hervorgehen wie die sie aufnehmenden Bereitschaften und müssten damit Eigenschaften von Körpern wie Farbe und Geschmack gleichen. Ibn Rušd scheint mithin anzunehmen, dass Farbe und Geschmack tatsächlich durch Mischung der Elemente entstehen, nicht aber die seelischen Vermögen. Mit dieser Kritik an Alexander, aber auch mit seinem Zögern, ob Alexander die beschriebene Theorie wirklich in dieser Weise vertreten hat, gibt Ibn Rušd 5Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2.
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den Vorgeschmack einer lebhaften modernen Debatte über die Frage, ob Alexanders Position eine orthodox aristotelische ist oder vielmehr eine »materialistische« Abweichung darstellt. Am Anfang dieser Debatte steht die Einschätzung von P. Moraux, der argumentiert, Alexander habe das Verhältnis von Materie und Form geradezu umgekehrt. Es sei bei ihm nicht mehr die Form, welche die Organisation der Materie bestimmt, sondern die Materie könne auf Grund ihrer Organisation zum Träger einer bestimmten Form werden. Dies sei »eine ziemlich gewaltsame Umbildung des aristotelischen Hylemorphismus«.6 Andererseits gibt es Hinweise genug, dass Alexander die von Aristoteles der Form zugewiesene Rolle durchaus beibehalten sehen will. So weist Moraux selbst auf die ihm mit Alexanders Theorie unvereinbar scheinende Aussage hin: »Der organische Körper, in dem die Seele ist, hat sein Organischsein von der Seele.«7 Der Verlauf der weiteren Diskussion kann denn auch als ein schrittweises Abstandnehmen vom Materialismusvorwurf beschrieben werden. Dabei sind interessante Einblicke in den argumentativen Kontext und die Zielsetzung von Alexanders Theorie erzielt worden, die, mangels einer geeigneten Aufklärung des historisch-doktrinalen Hintergrunds in der arabischen Welt, als Muster für die Ibn Bāǧǧas Seelenbegriff betreffenden Fragen und Perspektiven dienen können. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann dabei nur Ibn Rušds Zeugnis dafür angeführt werden, dass dieser Aspekt von Ibn Bāǧǧas Psychologie tatsächlich in einem direkten Überlieferungszusammenhang mit Alexanders De anima steht. Bevor wir allerdings einige Resultate der Diskussion ganz kurz zusammenfassen können, ist es nötig, in einem kursorischen Durchgang durch die relevanten Passagen von Alexanders Text eine knappe Darstellung seiner Theorie zu geben. Alexander verweist zuerst auf die Bedeutung, welche eine Betrachtung der Gegenstände der Natur für seine Behandlung der Seele hat: Wer, so sagt er, einen Eindruck hat von den außerordentlichen Produkten der Natur und insbesondere von der zweckmäßigen Einrichtung der Körper, die als beseelt betrachtet werden, dem wird es leichter fallen, die Vorstellung zu akzeptieren, dass diesem Körper mit der Seele ein Tätigkeitsprinzip zukommt, das die körperlichen Kräfte übersteigt.8 Alexander führt nun zunächst die Unterscheidung von 6Paul Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 3: Alexander von Aphrodisias, Berlin 2001, 356; zuerst und ausführlich entwickelt ist diese Analyse und Kritik in Paul Moraux, Alexandre d’Aphrodise. Exégète de la noétique d’Aristote, Liège–Paris 1942, 29–62; für ein Resümee des ersten Stadiums der Debatte vgl. Sharples, Alexander of Aphrodisias: Scolasticism and Innovation, 1202f. Die folgenden Bemerkungen erheben nicht den Anspruch, die gesamte Debatte darzustellen und zu bewerten, sondern nur, einige Aspekte hervorzuheben, die in Bezug auf Ibn Bāǧǧas Psychologie wichtig erscheinen. 7Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 15, 3–5. Vgl. Moreaux, Der Aristotelismus bei den Griechen, Bd. 3, 356, Anm. 171. 8Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 10–25.
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Materie und Form überhaupt am Beispiel künstlicher Gegenstände ein, bei denen am offensichtlichsten wird, dass man ihr Material unterscheiden muss von der Gestalt, die der Künstler ihm mit Hilfe der jeweiligen Kunst verleiht.9 Die Unterscheidung lässt sich dann auch auf natürliche Körper übertragen, nahegelegt durch die Überlegung, dass die Kunst ja lediglich die Natur nachahmt, gestützt aber vor allem auf Beispiele, etwa dass man an Metallen unterscheiden kann zwischen einer bestimmten Feuchtigkeit, ihrer Materie, und der ihnen die spezifische Form, des Kupfers zum Beispiel, verleihenden spezifischen Dichte oder Kondensation.10 Betrachtet man nun natürliche Körper verschiedener Komplexität, so ergibt sich, dass von Materie im absoluten Sinne als eines nicht Geformten nur bei den einfachen Körpern, also den Elementen, gesprochen werden kann, da ja alle komplexeren Körper einfachere zu ihrer Materie haben, an denen jeweils wieder zwischen Form und Materie zu unterscheiden ist.11 Reine Materie ist ein Prinzip, das nur gedanklich isoliert werden kann, tatsächlich tritt Materie immer mit irgendeiner Form auf, doch sie wäre nicht Materie, wenn ihr eine dieser Formen dem Wesen nach zukäme.12 Ebenso gilt für die Form, dass sie nie für sich, sondern immer nur in Materie bestehen kann.13 Nachdem festgestellt ist, dass Materie und Form nicht unabhängig voneinander bestehen können, ist auch klar, dass weder die Form noch die Materie allein den Körper ausmachen, sondern dass dieser das Produkt beider Prinzipien ist.14 Alexander erläutert nun, dass aus dem durch die Form bestimmten Wesen eines Körpers das spezifische Bewegungsvermögen (δύναμις) dieses Körpers resultiert, ja er bezeichnet diese δύναμις ganz eigentlich als Form des Körpers. Die Form des einfachen Körpers Feuer ist so zum Beispiel seine Leichtigkeit, welche die Ursache seiner Aufwärtsbewegung darstellt. Dabei bewegt sich nicht die Leichtigkeit selbst, denn sie besteht ja nur als δύναμις an dem Feuerkörper, sondern das Feuer vermittels der Leichtigkeit und überhaupt jeder Körper vermittels seiner Form.15 So ist klar, dass, obgleich ein Körper aus Materie und Form bestehen muss, es die Form ist, die bestimmt, was für ein Körper er ist. Leicht zu sehen ist das bei den einfachen Körpern, die alle die gleiche, nämlich die erste, Materie haben und daher nur durch ihre Formen differenziert werden können.16 Die Form bestimmt aber nicht nur das spezifische Sein eines Dinges, sie muss auch als Vollendung (τελειότης) des Dinges betrachtet werden, weil etwas dann 9Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 2, 25–3, 13. 10Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 3, 13–19. 11Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 3, 21–4, 6. 12Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 4, 9–20. 13Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 4, 20f. 14Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 5, 9; 5, 18–6, 4. 15Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 5, 10–18. 16Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 6, 21–29.
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vollendet ist, wenn es in seinem Entstehungsprozess seine Form vollständig erreicht hat.17 So ist die Form also Grund des spezifischen Seins eines Körpers und seiner Unterschiedenheit von anderen, und, wie bereits gesagt, Ursache der spezifischen Weise, in der er wirkt und leidet.18 Offensichtlich besteht eine Korrelation zwischen Materie, Form und Bewegung dergestalt, dass der schlechthin einfachen Materie die einfachen Formen der Elemente entsprechen und dass diese daher auch nur eine einfache Bewegung besitzen, nämlich nur in eine Richtung.19 Da komplexere Körper aus den Elementen zusammengesetzt sind, tragen die diversen Formen seiner nahen Materie zu seiner Vollendung mit bei, der komplexen Materie entspricht eine Form, die als »Form der Formen« oder »Vollendung der Vollendungen« die einfachen Formen unter sich begreift und dem komplexen Körper eine größere Vielfalt der Bewegungen ermöglicht.20 Daraus folgert nun Alexander, dass sich die Vielfalt möglicher Formen und die Vielfalt ihrer Bewegungen aus den unzähligen Kombinationsmöglichkeiten der einfachen Körper erklären lassen.21 Dies ist offenbar das Ziel der ganzen grundsätzlichen Diskussion des MaterieForm-Verhältnisses, nämlich die Seele unter die materiellen Formen22 einzureihen, gleichzeitig jedoch eine Erklärung für ihre besonderen Eigenschaften und Vermögen zu präsentieren. Die vielfältigen und komplexen δυνάμεις und Aktivitäten lebendiger Wesen, aber auch die Unterschiede zwischen ihnen, lassen sich nun mit Verweis auf ihre körperliche Zusammensetzung leicht begründen. Und umgekehrt kann auch die Seele eingeführt werden als Form von Körpern, die einen solchen Komplexitätsgrad erreicht haben.23 Die erste solche Form und damit »die erste δύναμις der Seele« ist die Form der Pflanzen, sie ist Ursache ihrer Lebendigkeit und ihrer Vermögen der Ernährung und Vermehrung.24 Eine nächste Stufe erreicht die Tierseele, deren wesentliches Attribut die Wahrnehmungsfähigkeit ist, und auch in ihr lassen sich noch weitere Unterschiede feststellen. Sie alle haben ihren Grund in der Menge, Kombination (κρᾶσις) und Mischung (μῖξις) der zugrundeliegenden Körper. Die Verschiedenheit der Formen ist eine Folge der Verschiedenheit der Materie der Körper bei ihrer Entstehung.25 Das liegt, wie hier wiederholt wird, an der Korrelation zwischen der Komplexität der Materie und der Komplexität der Form. Nicht jede Materie nimmt jede Form auf, und die Form Seele setzt einen organischen Körper voraus, dessen 17Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 6, 29–7, 8. 18Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 7, 9–14. 19Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 7, 14–21. 20Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 7, 21–8, 13. 21Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 8, 13–25. 22εἶδος ἔνυλον, vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 16, 2. 23Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 8, 25–9, 11. 24Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 9, 11–14. 25Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 10, 14–26.
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Teile so gestaltet sind, dass sie einander bei der Ausführung ihrer diversen Funktionen unterstützen; je komplexer der Körper, desto reicher an Vermögen die Seele.26 Weiteren Einblick in diese Konzeption des Leib-Seele-Verhältnisses gibt Alexanders Auseinandersetzung mit der Harmonietheorie der Seele.27 Denn Alexander sieht sehr wohl die Gefahr, dass man sein Konzept mit der Harmonietheorie gleichsetzt, weshalb er denn auch zuallererst betont, dass er sie, wenn er davon spricht, dass die Seele bei der Kombination und Mischung der Körper entsteht, deshalb noch lange nicht als bloße Harmonie der körperlichen Bestandteile auffasst. Die Seele kann zwar nicht ohne die κρᾶσις des Körpers bestehen, aber sie ist darum nicht etwa mit ihr identisch, vielmehr ist sie eine δύναμις, die zusätzlich zu ihr entsteht. Alexander vergleicht die Seele mit der Heilkraft, die aus der Kombination mehrerer Heilmittel hervorgeht; diese beruht auf einer bestimmten harmonischen Komposition der Heilmittel, aber sie ist mit ihr nicht identisch, und man darf wohl hinzufügen, sie ist auch nicht das bloße Kompositum der einzelnen Heilkräfte. Alexander drückt sich so aus, die Seele sei eine »hinzukommende« oder »hinzuentstehende« Form (εἶδος ἐπιγινόμενον). Für die Anhänger der Harmonietheorie, so fasst er zusammen, ist die Kombination des Körpers selbst bereits irgendwie (πῶς) die Seele, so dass dem Körper das Beseeltsein allein auf Grund dieser σύνϑεσις zukommt, während Alexander davon ausgeht, dass der Körper auf Grund der bei der Mischung hinzukommenden δύναμις beseelt ist. So weit Alexander. Die neuere Forschung hat nun herausgearbeitet, dass Alexander auf zwei verschiedene Tendenzen reagiert, zwischen denen seine Theorie einen Mittelkurs zu steuern versucht. Auf der einen Seite steht der platonische Dualismus mit der insbesondere durch Attikos formulierten Einschätzung, dass die Tätigkeiten der Seele zu »göttlich« seien, um körperlichen Organen zugeschrieben werden zu können.28 Dem steht einerseits der einflussreiche stoische Materiemonismus entgegen29 und andererseits materialistische Positionen in der peripatetischen Schule selbst, insbesondere Dikaiarchos’ Rehabilitierung der Harmonietheorie und seine Behauptung, dass die Annahme einer Seele im üblichen Verständnis überflüssig sei.30 Für Alexander stand damit die aristote-
26Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 10, 26–11, 5. 27Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 24, 18–26, 30. 28Paolo Accattino, Generazione dell’anima in Alessandro di Afrodisia, De anima 2.10–11.13?, in: Phronesis 40 (1995), 182–201, hier 183; Victor Caston, Epiphenomenalisms, Ancient and Modern, in: The Philosophical Review 106 (1997), 309–363, hier 347; Valérie Cordonier, Matière, qualités, mélange. La physique élémentaire d’Aristote chez Galien et Alexandre d’Aphrodise, in: Quaestio 7 (2007), 79–103, hier 83f mit Anm. 16. 29Cordonier, Matière, qualités, mélange, 82f. 30Caston, Epiphenomenalisms, 339–346.
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Seele als Form der Mischung
lische Psychologie auch deshalb auf dem Spiel, weil Attikos Dikaiarchos’ These als logische Konsequenz der aristotelischen Position dargestellt hatte.31 Dagegen scheint eine Auseinandersetzung Alexanders mit der These seines älteren Zeitgenossen Galen, dargestellt in dessen eponymer Schrift Dass die Potenzen der Seele den Mischungen des Körpers folgen, die zunächst als Bezugspunkt seiner Theorie angenommen worden war,32 nicht den Hintergrund seiner Seelenlehre zu bilden. Obgleich einige von Galens Äußerungen nämlich den Anschein geben, er setze die Seele mit dem Mischungsverhältnis gleich, so wenn er den Peripatetiker Andronikos dafür kritisiert, die Seele als dem Temperament folgende Potenz bezeichnet zu haben, vertritt er doch nicht nur andernorts selbst die These, dass die aus der Mischung hervorgehenden Eigenschaften des Lebendigen den körperlichen Eigenschaften gegenüber heterogen sind, sondern der Titel der genannten Schrift selbst macht einen Unterschied zwischen Seele und Mischung.33 Vielmehr müssen Galens und Alexanders Theorien wohl als großenteils parallele Antworten auf den stoischen Materialismus verstanden werden, mit dem Unterschied, dass Alexander nach einer Systematisierung der aristotelischen Naturphilosophie anhand des Formbegriffs strebt, was für Galen keine Rolle spielt.34 Der Zusammenhang dieser zwei Modelle ist von unmittelbarer Bedeutung für die arabische Philosophie, der sowohl die Seelenschrift Alexanders als auch der Traktat Galens in Übersetzung zur Verfügung stand.35 Auch sind dort Kontroversen um das Verhältnis von Seele und körperlicher Mischung belegt, etwa zwischen Ibn Sīnā und seinem älteren Zeitgenossen Abū l-Qāsim al-Kirmānī, der ebenso wie Dikaiarchos die Existenz der Seele verneint zu haben scheint.36 Dabei ist sicherlich ein medizinischer Hintergrund anzunehmen, während andererseits Ibn Sīnā Galens Theorie ausdrücklich für die Unterscheidung von Seele und Körper heranzieht und auch Alexander im gleichen Sinne liest.37 Eine genaue 31Caston, Epiphenomenalisms, 347. 32P. Donini, L’anima e gli elementi nel de anima di Alessandro di Afrodisia, in: Atti della Accademia delle Scienze di Torino. Classe di scienze morali, storiche e filologiche 105 (1970–71), 61–107; akzeptiert von Teun Tieleman, The Hunt for Galen’s Shadow. Alexander of Apfrodisias, De anima 94.7–100.17 Bruns Reconsidered, in: Keimpe A. Algra, Pieter W. Van der Horst, David T. Runia (Hg.), Polyhistor. Studies in the History and Historiography of Ancient Philosophy, Leiden 1996, 265, der eine weitere angebliche Kontroverse mit Galen in Alexanders De anima untersucht. 33Vgl. Caston, Epiphenomenalisms, 350–353. 34Vgl. Cordonier, Matière, qualités, mélange, insbesondere 87 und die Schlussfolgerung 103. 35Galen, Fī anna quwā l-nafs tābiʿa li-mizāǧ al-badan, in: Biesterfeldt, Galens Traktat. 36Vgl. Jean Michot, La réponse d’Avicenne à Bahmanyār et al-Kirmānī. Présentation, traduction critique et lexique arabe-français de la Mubāḥatha III, in: Le Muséon 110 (1997), 143–221, hier 146–149 und 179–184. 37Siehe dazu Ibn Sīnās Glossen zu De anima, Taʿlīqāt ʿalā hawāšī kitāb al-nafs, ediert in: Badawī, Arisṭū ʿind al-ʿarab. Dirāsa wa-nuṣūṣ ġair manšūra, 2. Aufl., Kuwait 1978, 75–116, hier 78, 17–23.
Alexanders Emergenztheorie
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Analyse der arabischen Diskussion müsste daher beide Einflusslinien entwirren, gleichzeitig aber mit vielfachen Verschränkungen rechnen. So werden etwa in Bezug auf al-Fārābī – stets ein wahrscheinliches Vorbild für Ibn Bāǧǧa – gegenwärtig sowohl Alexander als auch Galen als Vorlage seiner Thesen zum Verhältnis von Körpermischung und Aktivität des Vorstellungsvermögens genannt, ohne dass die Details und die Zielsetzung dieser Thesen geklärt wären.38 Im Allgemeinen besteht hier die Tendenz, Alexanders Überlegungen unter diejenigen Galens zu subsumieren, was vermutlich den Blick auf die Position der arabischen Aristoteliker eher versperrt.39 Unklar bleibt angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes auch, ob Ibn Bāǧǧa, wenn er im Buch der Seele die Behauptung bestreitet, die Seele werde in materialer Verursachung durch die Mischung der Elemente erzeugt,40 wie Ibn Sīnā kontemporäre Gegner im Blick hat und aus welchen Quellen sich eine solche Theorie – sei sie nun real oder hypothetisch – speist. Ich gehe hier dagegen davon aus, dass die aufgezeigten Parallelen zwischen Ibn Bāǧǧas Buch der Seele und Alexanders De anima,41 das Ibn Bāǧǧa nachweislich benutzt hat (vgl. N I. 17), sowie das Zeugnis Ibn Rušds ausreichende Belege dafür sind, dass das Vorbild für Ibn Bāǧǧas positive Theorie in Alexanders Psychologie zu finden ist. Die Analyse von dessen Lösung zwischen platonischem Dualismus und Materiemonismus ist daher hier allein von Bedeutung. Dabei muss das obige Resümee als Beleg der Schlussfolgerungen genügen, die hier nur im Ergebnis vorgetragen werden können. Drei Punkte scheinen wesentlich: (1) In Antwort auf das platonische Seelenverständnis versucht Alexander bewusst, die Ontologie der Seele aus den Prinzipien der aristotelischen Naturphilosophie so zu entwickeln, dass sich die seelischen Vermögen in ein einheitliches Modell natürlicher Formen und Potenzen einfügen.42 Dies geschieht durch eine Theorie der Emergenz neuer Formen und Potenzen, die nicht erst die Seele, sondern die gesamte Natur von den Elementen aufwärts betrifft. Von Emergenz ist hier deshalb zu sprechen, wie V. Caston überzeugend gezeigt hat, weil höhere oder komplexere Potenzen zwar durch die Mischung der materiellen Komponenten einer neuen Substanz verursacht werden, selbst aber Ursache von Aktivitäten sind, die nicht auf die Potenzen der Komponenten reduziert und durch diese allein erklärt werden können, ja, die selbst auf diese zugrundeliegenden Potenzen zurückwirken (»downward
38Vgl. Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila, ed. Walzer, 417f; Biesterfeldt, Galens Traktat, 15; H. H. Biesterfeldt, Ǧālīnūs Quwā n-nafs. Zitiert, adaptiert, korrigiert, in: Islam 63 (1986), 119–136, hier 122, Anm. 9 und 126–127. 39Diese Tendenz ist auffällig etwa bei Biesterfeldt, Ǧālīnūs Quwā n-nafs. 40Siehe unten zu N III. 20. 41Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 2. 42Vgl. Cordonier, Matière, qualités, mélange, insbesondere 80f.
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causation«).43 Dies kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass Alexander die Seele als ἐπιγινόμενον auffasst und davon ausgeht, dass die niederen Potenzen zur Aktivität des jeweiligen Seelenvermögens »beitragen«, diesem aber eben dadurch untergeordnet werden. Entscheidend für Emergenz ist nämlich nicht die evolutionäre Perspektive moderner Theorien, sondern die kausalen Verhältnisse zwischen den Schichten. (2) Dieses Bemühen um eine naturphilosophische Einreihung der Seelenvermögen ist nicht ohne Rückwirkungen auf die Konzeption der unbelebten Natur. Alexander schreibt bereits den Elementen substantielle Formen zu – Schwere und Leichtigkeit – und lässt diese aus der Kombination der primären Qualitäten ebenso emergieren, wie später die Seelenform aus der Mischung des Körpers hervorgeht. Er überträgt damit das von Aristoteles an den Lebewesen entwickelte Modell einer Wesenseinheit und Funktion bestimmenden Artform auf die gesamte Natur, während Aristoteles selbst die Aspekte der Konstitution und der Bewegung der Elementarkörper, sowie ihre Leistung zur Konstitution komplexer Substanzen nicht in ein umfassendes Modell integriert hatte. Seine Naturphilosophie ist daher gerade nicht materialistisch, sondern gibt der Form, dem εἶδος, eine weit zentralere Stellung, als sie der bloße aristotelische Text hergibt.44 (3) Die »Erzeugung der Form«, wie Alexanders Emergenztheorie sie beschreibt, widerspricht denn auch nicht der aristotelischen Zeugungstheorie, die auf der Übermittlung der Form vom Vater auf den Nachwuchs mittels des Samens beruht, also auf einer Wirkursächlichkeit der Form. Ein von Simplikios überliefertes Fragment aus Alexanders Kommentar zur Physik, das die intrauterine Entwicklung des Lebewesens in Anlehnung an De generatione animalium II. 3 beschreibt und dabei die Form eher als Resultat und Zielursache denn als Wirkursache der Entwicklung betrachtet, bringt nur einen Teilaspekt der Kausalität der Form zum Ausdruck. Es darf nicht als Ablehnung der Wirkursächlichkeit der Form missverstanden werden.45 Ganz im Gegenteil, derselbe aristo43Caston, Epiphenomenalisms, zur Definition von Emergenz 317–318; zu Alexander 347–350. 44Vgl. Accattino, Generazione dell’anima, insbesondere 188–195; Caston, Epiphenomenalisms, 349; Cordonier, Matière, qualités, mélange, 84–87 und 98–101. Die Kernstelle bei Alexander ist Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 5, 4–18. Dass Alexander nach Rasheds Rekonstruktion (Marwan Rashed, Essentialisme. Alexandre d’Aphrodise entre logique, physique et cosmologie, Berlin–New York 2007, 128–141) auch die vier primären Eigenschaften der Elemente teils als Qualitäten teils als substantielle Formen behandelt, steht auf einem anderen Blatt. Zu dieser Schwierigkeit bei Ibn Bāǧǧa siehe Kapitel 14. Die Theorie über das Verhältnis des Entstehens zur Eigenschaftsänderung, wie wir sie bei Ibn Bāǧǧa antreffen und zu Alexander zurückverfolgen werden, kann diese Ambivalenz möglicherweise besser erklären. 45So R. W. Sharples, On Body, Soul and Generation in Alexander of Aphrodisias, in: Apeiron 27 (1994), 163–170, in Antwort auf Paolo Accattino, Alessandro di Afrodisia e la trasmissione della forma nella riproduzione animale, in: Atti della Accademia delle Scienze di Torino. Cl. Sc. mor. 122 (1988), 79–94.
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telische Text mit seinem Hinweis auf ein »göttliches« Moment im Samen ist für Alexander Vorlage für eine doppelte Theorie des Einwirkens einer göttlichen Potenz auf die sublunare Welt. Alexander macht zwei Vorschläge zur Identifizierung dieser Potenz, zwischen denen er keine Entscheidung herbeiführt: Einmal kann diese Potenz als zu den Elementarkörpern hinzukommend und sie zu komplexeren Körpern organisierend gedacht werden bis zur Entstehung der Seele. Zum anderen kann man sie als das betrachten, was nur die elementaren Qualitäten hervorbringt, die diesen Vorgang dann selbständig vollziehen. Angesichts der Emergenztheorie der Formen und der im aristotelischen Kontext als selbstverständlich vorauszusetzenden Ewigkeit der Artformen, erscheinen diese Vorschläge nicht als Alternativen, sondern als verschiedene Perspektiven auf dieselbe natürliche Realität.46 Der Vorwurf Ibn Rušds an die Adresse Alexanders, er erkläre die Seele ohne »äußeren Beweger« ist also sicherlich unbegründet.
2. Sine extrinseco motore? Seele als Ursache und Produkt der Mischung Auch bei Ibn Bāǧǧa hat sich bereits gezeigt, dass er für die Erzeugung eines organischen Körpers keineswegs auf einen »äußeren Beweger« verzichtet, sondern vielmehr davon ausgeht, dass nur unter Einwirkung eines seelischen Prinzips eine entsprechende Mischung der Elemente zustande kommen kann (T 49). Ebenso steht es mit der großen Mehrheit der Texte, in denen Ibn Bāǧǧa Seele und Mischung in Zusammenhang bringt: Stets geht es eher darum, die Seele als Prinzip und Ursache der spezifischen Mischung des Körpers zu begreifen, denn darum, die Seele aus der Mischung zu begründen. Es ergibt sich daher als erste Aufgabe, die Position zu rekonstruieren, an der Ibn Rušd Anstoß nimmt. Der Fokus von Ibn Rušds Argumentation gegen Alexander und Ibn Bāǧǧa ist, wie gesehen, die Frage nach der Natur des materiellen Intellekts. In der Tat ist sich die Forschung einig, dass als Quelle für die Ibn Bāǧǧa zugeschriebene These, der materielle Intellekt sei »eine Bereitschaft in den Vorstellungen« (preparatio existens in intentionibus ymaginatis),47 Ibn Bāǧǧas Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen anzusehen ist.48 Dort nennt Ibn Bāǧǧa als 46Vgl. Rashed, Essentialisme, 285–291. Meine Beschreibung der Verträglichkeit beider Vorschläge geht über das hinaus, was Rashed behauptet. 47Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 406, 551f; vgl. Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 211. 48Vgl. dazu Richard C. Taylor, The Agent Intellect as ›Form for us‹ and Averroes’s Critique of al-Fārābī, in: Tópicos 29 (2005), 29–51; erneut veröffentlicht in: Proceedings of the Society for Medieval Logic and Metaphysics 5 (2005) [URL: http://www.fordham.edu/gsas/phil/klima/ SMLM/PSMLM5/PSMLM5.pdf], 18–32, hier Anm. 7; Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 211,
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»Materie« der Intelligibilia, also als dasjenige, was intellektuell erfasste Formen aufnimmt, die »mittleren spirituellen Vorstellungsformen«.49 Nimmt man nun den weiteren Kontext dieser Äußerung hinzu, was Ibn Rušd offenbar getan hat, dann zeigt sich, dass Ibn Bāǧǧa damit tatsächlich das rationale Vermögen des Menschen von den übrigen Vermögen abgrenzen möchte, und zwar insofern die übrigen Vermögen mit der »Mischung« oder dem »Temperament« (imtizāǧ) in Verbindung gebracht werden. Genauer handelt es sich um das Temperament des »angeborenen Pneumas«, das als »erstes Organ« hier für den gesamten organischen Körper stehen kann, während wir die Feinheiten der Pneumatheorie erst in Kapitel 11 untersuchen wollen. Nachdem Ibn Bāǧǧa das Pneuma als das Organ identifiziert hat, mit dem die Seele als »erster Beweger« den Körper des Menschen bewegt,50 beschreibt er die Entwicklungsstadien des Menschen, die er mit den biologischen Reichen parallelisiert: Im Mutterleib gleicht der Mensch einer Pflanze; sobald er geboren wurde und beginnt wahrzunehmen, gleicht er einem nichtrationalen Tier. [T 50] »Der Mensch gleicht folglich im Mutterleib den Pflanzen und wird nur als Lebewesen in Potenz bezeichnet, und zwar deshalb, weil sein angeborenes Pneuma die spirituelle Form aufnimmt, denn er [wird] ein Lebewesen durch diese Aufnahme. Im angeborenen Pneuma der Pflanzen dagegen ist das nicht möglich. Was [die Frage] angeht, warum dieses angeborene Pneuma die Form aufnimmt und jenes andere sie nicht aufnimmt, so ist der Grund dafür das Temperament [imtizāǧ]. Das bedarf einer anderen Erörterung, von der ein Teil bereits in der Naturwissenschaft dargelegt worden ist. Eine hinreichende Darlegung dagegen ist würdig, separat erörtert zu werden.«51 Die spirituelle Form, von der hier die Rede ist – auch das wird im weiteren Verlauf der Untersuchung deutlich werden – ist die erkannte Form, zunächst einmal also die wahrgenommene, durch deren Aufnahme sich die Fähigkeit des Menschen zur Wahrnehmung aktualisiert. Der Mensch wird also erst dann ein Lebewesen in Akt, wenn er tatsächlich wahrnimmt, während er zuvor nur in Potenz ein Lebewesen ist, weil sein Pneuma prinzipiell in der Lage ist, die Wahrnehmungsform aufzunehmen. Dies »In-der-Lage-Sein-eine-Form-aufzunehmen« ist nun aber freilich nichts anderes als die Potenz zur Wahrnehmung, das Wahrnehmungsvermögen. Wenn Ibn Bāǧǧa sagt, der Grund dafür, dass der Mensch
Anm. 105; 199, Anm. 84; 191, Anm. 68; 97, Anm. 127. Einzig Genequand stellt diesen Konsens in Frage, wobei er sich aber selbst widerspricht; vgl. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 61 und 69. 49Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 188, 19–189, 1; Faḫrī, 160, 12–14. 50Vgl. hierzu und zum Folgenden Kapitel 11. 51Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 188, 4–10; Faḫrī, 159, 18–160, 3.
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und allgemein das Lebewesen diese Potenz besitzt, die Pflanze dagegen nicht, sei das Temperament des Pneumas, dann sagt er damit also, dass das seelische Vermögen zur Wahrnehmung von der Mischung des Körpers abhängig ist. Dies bestätigt sich nun gerade an dem Versuch, in der Fortführung der Linie vom Lebewesen zum Menschen diese Verbindung teilweise – aber eben auch nur teilweise – zu lösen. [T 51] »Manchmal ist das Individuum Lebewesen in Potenz und [manchmal] Lebewesen in Akt. Nehmen wir nun an, dass es in dem Zustand ist, in dem es Lebewesen in Akt und Mensch in Potenz ist, und zwar ist das dann der Fall, wenn es ein Kind im Säuglingsalter ist, solange ihm das Denkvermögen [quwwa fikrīya] noch nicht entstanden [ḥadaṯa] ist. […] Das Denkvermögen kommt ihm nur zu, wenn sich die Intelligibilia einstellen. Durch das Auftreten der Intelligibilia entsteht das Begehren, das zum Denken bewegt und [zu dem], was auf Grund seiner besteht. Durch diese ist dieses Individuum ein Mensch, nicht durch jene. Es ist bereits an anderen Stellen erklärt worden, dass die Intelligibilia nicht Formen für das angeborene Pneuma sind, denn sie sind nicht Formen der Körper, denn das wäre nur dann möglich, wenn sie materiell wären. Der Stein zum Beispiel ist nur in Materie, wenn er ein individueller Stein ist, während das Intelligibile niemals Form für Materie ist und auch keine spirituelle Form für einen Körper, sodass dieser Körper durch sie existierte wie bei den Vorstellungen. Vielmehr ist es eine Form, deren Materie die mittleren spirituellen Vorstellungsformen sind. […] Es ist also nicht mit dem Körper verbunden, sondern bewegt den Körper mittels der spirituellen Formen, die sein Organ sind.«52 Der Unterschied des Denkvermögens von den übrigen Seelenvermögen besteht also darin, dass seine Materie nicht direkt das Pneuma und damit der Körper ist, sondern es mit dem Körper nur indirekt über einen bestimmten Typ von Vorstellungen in Beziehung steht. Somit muss das Denkvermögen auch als Vermögen erst einmal »entstehen« und nicht etwa nur zum Akt übergehen, denn bevor die entsprechenden Vorstellungen nicht erworben sind, besteht mithin auch das sie zum Subjekt habende Vermögen nicht. Ibn Bāǧǧas Absicht ist hier nun aber gerade nicht, die Ratio vollständig von der Bedingung durch das Körperliche zu entbinden, sondern nur, sie von einer direkten Beformung des Pneumas als körperlichem Substrat auszunehmen. Es hat sich ja bereits zu Anfang dieser Untersuchung ergeben, dass Ibn Bāǧǧa das 52Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 188, 10–198, 3; Faḫrī, 160, 4–16. In Zeile 188, 17 ist die von Genequand in den Apparat relegierte Lesart von MS B, lā takūna, durch den Sinn unbedingt gefordert, trotz seiner Anmerkung S. 357. Ohne die Negation wäre das in Zeile 188, 21 folgende bal völlig unmotiviert.
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rationale Vermögen nicht als »Seele«, sondern nur als »Potenz der Seele« begreift, gerade weil es nicht direkt, sondern nur mittelbar Form des organischen Körpers ist.53 Obgleich an dieser Stelle die Details der Intellekttheorie noch ausgeklammert werden müssen, kann doch bereits darauf hingewiesen werden, dass Ibn Bāǧǧa in den weiteren Ausführungen der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen ausdrücklich erläutert, dass die Intelligibilia und der Intellekt, der sie erfasst, »materiell« sind, eben weil sie auf spirituelle Formen bezogen sind und ohne diese nicht existieren können.54 Die entsprechenden Vorstellungsformen sind nun ihrerseits sehrwohl von der Mischung abhängig, denn anders wäre es auch nicht zu erklären, wieso unter allen mit Vorstellung begabten Lebewesen nur der Mensch Begriffe bildet und denkt. Anzeichen dafür mag etwa sein, dass die Intelligibilia nicht nur beim Kleinkind fehlen, sondern auch beim Schwachsinnigen, der »ein von der Natur abweichender Mensch« (insān ḫāriǧ ʿan al-ṭabʿ) ist.55 Überhaupt kommen die »mittleren spirituellen Vorstellungsformen« auch bei Tieren vor, ja in seinem Buch der Lebewesen macht Ibn Bāǧǧa mit Aristoteles die Intelligenz der Lebewesen von der Qualität ihres Blutes abhängig und präzisiert, dass nur blutführende Lebewesen »die rationalen Dinge aufnehmen« (yaqbalu al-umūr al-nuṭqīya).56 Es gibt deshalb zwischen den nichtrationalen Lebewesen und dem Menschen auch ebenso ein Mittelglied wie zwischen den übrigen Gliedern der Scala naturae, nämlich den Affen (qird).57 Ibn Rušds Kritik geht also zumindest insofern an Ibn Bāǧǧas Absichten vorbei, als er ihm unterstellt, er wolle den materiellen Intellekt unabhängig von der Mischung des Körpers machen, während es Ibn Bāǧǧa in der Tat nur darauf ankommt, dass die intelligiblen Formen in einer anderen, vermittelten Weise aufgenommenen werden. Dagegen liegt es ihm fern, die Befähigung dazu von materiellen Bedingungen abzukoppeln. Dies galt nun allerdings auch für Ibn Rušd selber, zumindest in seinem Kompendium zu De anima – aber das ist hier nicht unser Thema.58 Die Vorlage für Ibn Bāǧǧas Verknüpfung der Mischung des Körpers mit den Potenzen der Seele bildet nun ganz offenbar ein aristotelischer Text, von dem man bereits gezeigt hat, dass er auch für Alexanders Konzeption der Wesensbestimmung des Menschen und des Verhältnisses der seelischen Vermögen zu53Vgl. Kapitel 6, Abschnitt 1. 54Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 192, 14–193, 5 und 195, 1–4; Faḫrī, 163, 20–164, 7 (mit großer Auslassung) und 165, 20–166, 2. Vgl. auch N III. 21: »sie und die Elemente befinden sich auf einer Stufe«. 55Ibn Bāǧǧa, Fī l-waḥda wa-l-wāḥid, ed. al-ʿAlawī, 145, 2–10. 56Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 125, 1–6; in Zeile 125, 5 lies mit MS B, f. 139v [arab.] und MS O, f. 101v al-nuṭqīya statt al-manṭiqīya. Zum Zusammenhang von Intelligenz und körperlicher Konstitution vgl. Kapitel 11, Abschnitt 2.4. 57Ibn Bāǧǧa, Fī l-nabāt, ed. Asín, 271, 11–25. 58Vgl. dazu Wirmer, Averroes. Über den Intellekt, 372f.
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einander eine zentrale Rolle gespielt hat,59 nämlich jene berüchtigte Passage aus De generatione animalium II. 3, in der Aristoteles die Frage behandelt, auf welchem Wege die seelischen Vermögen bei der Erzeugung eines Lebewesens übermittelt und entwickelt werden.60 Im Kern beruht die dort präsentierte Theorie auf der Annahme, dass jedes Seelenvermögen »zusammengeht« (κεκοινωνηκέναι, mušārika) mit einem Körper, der von den Elementen verschieden und »göttlicher« als sie ist. Wie sich die Seelen ihrem Wert nach unterscheiden, so unterscheidet sich auch dieser Körper. Und zwar handelt es sich dabei um das »Warme« (ϑερμόν), das im Pneuma enthalten ist, welches wiederum im Samen vorliegt.61 Während die Einzelheiten dieser These die verschiedensten Interpretationen erfahren haben, so ist hier doch eindeutig eine Beziehung zwischen der Qualität des Pneumas und den dem Lebewesen zukommenden seelischen Vermögen hergestellt. Im direkten Zusammenhang mit dieser Beziehung stehen weitere physiologisch-psychologische Annahmen, deren Echo in dem soeben untersuchten Text Ibn Bāǧǧas unschwer zu erkennen ist. (1) Das Lebewesen befindet sich, solange es im Mutterleib ist, in einem pflanzenähnlichen Stadium. Von allen seelischen Vermögen kommt ihm nämlich wie den Pflanzen zuerst nur die Nährseele zu.62 (2) Die übrigen Vermögen der Seele kommen erst schrittweise hinzu, ohne dass sie (mit Ausnahme des Intellekts) von außen hinein kommen würden.63 (3) Und zwar ist jedes Vermögen zunächst potentiell vorhanden, bevor das Lebewesen es aktuell erwirbt.64 (4) Da die Tätigkeiten der seelischen Vermögen körperlich sind, können sie nicht ohne einen Körper sein, von dem sie unabtrennbar bleiben.65 Nimmt man diese Informationen zusammen, dann ergibt sich, dass alle höher organisierten Lebendigen sich durch Aktualisierung von Möglichkeiten entwickeln, die in dem ersten, allein durch die Nährseele geformten Zustand angelegt sind. Diese Potentialitäten finden ihr passendes Substrat in dem bereits mit der Nährseele verbundenen Pneuma, und zwar umso mehr von ihnen, je besser die Qualität dieses Pneumas ist. Dies also ist die theoretische Grundlage für die von Ibn Bāǧǧa ebenso wie von Alexander hergestellte Abhängigkeit der seelischen Potenzen von der Mischung des Körpers. Alles kommt nun jedoch darauf an, wie diese Beziehung näherhin 59Vgl. Rashed, Essentialisme, 156f und 285–291. 60Die gesamte hier relevante Passage erstreckt sich von 736a24–737a18. 61Aristoteles, De generatione animalium, II. 3, 736b29–737a1; vgl. zu dieser Stelle Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 106–119. 62Aristoteles, De generatione animalium, II. 3, 736a31–736b1. Vgl. zu diesem Punkt auch V. 1, 778b32–779a4. 63Aristoteles, De generatione animalium, II. 3, 736b1–8; 736b15–29. 64Aristoteles, De generatione animalium, II. 3, 736b8–15; 737a16–18. 65Aristoteles, De generatione animalium, II. 3, 736b21–26; vgl. auch 737a7–11. Ausgenommen ist wiederum der Intellekt.
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gedacht ist, und in diesem Punkt ist Ibn Bāǧǧa, wie bereits erwähnt, immer wieder bemüht, den Eindruck zu zerstreuen, es könne sich um eine einseitige Abhängigkeit der Seelenform von der Materie handeln, so dass die Seele allein mit Verweis auf den Körper erklärt werden könnte. Die deutlichste, weil polemisch gegen eine abweichende Position formulierte Äußerung findet sich im Kapitel über das Wahrnehmungsvermögen des Buchs der Seele. Der Kontext dort ist der folgende: Ibn Bāǧǧa bemüht sich zu erklären, wie Formen von der Materie abstrahiert werden können, wenn doch grundsätzlich Form und Materie immer »in Akt als eine Sache existieren« (N III. 11). Dass es Abstraktion gibt und dass es mithin verschiedene »Stufen« der Form gibt, das belegt die Realität von Wahrnehmung, Vorstellung und Denken (N III. 21, 23, 24). Das »äußerste Extrem« der Abstraktion (N III. 21) besteht dabei in der »Existenz der materiellen Formen, abstrahiert von der Materie – und diese sind der Intellekt in Akt« (N III. 19). An diese Feststellung schließt Ibn Bāǧǧa nun mit folgender Überlegung an: [N III. 20] »Diese Art von Existenz in der Materie kann unmöglich in Akt existieren, bevor [das Seiende] in bestimmten Zuständen der Ernährung ist; und das Beste ist, dass es eine freie Wahl trifft von der geeigneten Nahrung bis zum Übrigen, ohne das seine Existenz sich nicht vollendet, und das ist der Mensch. Notwendigerweise geht folglich das rationale Vermögen den übrigen Vermögen der Seele vorher, und die übrigen Vermögen existieren um dieses [Vermögens] willen, welches das beste ist. Daher entstehen die Sinneswahrnehmung und die Vorstellung um des rationalen Vermögens willen. Dieses entsteht nicht mit Notwendigkeit wie diejenigen meinen, die glauben, dass aus den Elementen wegen ihrer gleichmäßigen Mischung die Sinneswahrnehmung zufällig entsteht.« Die enge Verwandtschaft dieser Kritik mit derjenigen Ibn Rušds in dem oben zitierten Ausschnitt aus seinem Großen Kommentar zu De anima ist auffällig und sicherlich nicht zufällig: Ibn Rušd wendet die von Ibn Bāǧǧa gegen niemanden im Besonderen gerichtete Bemerkung gegen Alexander und Ibn Bāǧǧa selbst. Die Entstehung des Wahrnehmungsvermögens (und dann natürlich auch aller höheren Vermögen) lässt sich nicht mit dem bloßen Verweis auf die gleichmäßige Mischung der Elemente erklären. Ibn Bāǧǧa qualifiziert ein solches Erklärungsmodell gleichzeitig als eines, das Notwendigkeit (ḍarūra) und Zufall (ittifāq) zum Prinzip erhebt. Dies ist offenbar als Verweis auf die Entstehung unbelebter Homoiomere zu verstehen, denn dort hatte sich gezeigt, dass ihre Existenz nicht geordnet sondern zufällig ist, weil sie nicht auf Grund einer entsprechenden aktiven Potenz hervorgebracht werden, durch die ein Seiendes mit der gleichen Form erzeugt würde (T 42). Es ist die Bewegung der Himmelskörper, die »zufällig« die Komponenten in Kontakt bringt, während die Mischung, wenn der Kontakt des aktiven Momentes mit dem passiven erst einmal herge-
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stellt ist, »notwendig« verläuft. Zufall und materielle Notwendigkeit sind daher synonym.66 Dem stellt Ibn Bāǧǧa nun, zumindest an dieser Stelle, nicht zuerst die Forderung nach einem »externen Beweger« gegenüber, sondern den Verweis auf eine Zweckordnung, die auf »das Beste« (al-afḍal) zielt. Das beste Vermögen ist nun aber das rationale Vermögen, das abstrahierte Formen erfasst, und die übrigen seelischen Vermögen entstehen daher »um willen« (min aǧli) des rationalen Vermögens (vgl. auch N III. 23), weil bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, damit »in der Materie« (!) abstrahierte Formen existieren können. Dies ist besonders offensichtlich bei der Wahrnehmung, ohne die der Ratio die Gegenstände fehlen würden, weshalb Ibn Bāǧǧa denn auch auf diesen Punkt nicht näher eingeht, sondern gerade auf die Ernährung verweist, die gesichert sein muss, damit überhaupt ein lebens- und dann auch erkenntnisfähiges Wesen entsteht. Die einzige Ursächlichkeit, die der körperlichen Mischung mithin zugeschrieben werden kann, liegt in der konditionalen Notwendigkeit: Damit das rationale Vermögen entstehen kann, müssen zunächst die Vermögen der Vorstellung, Wahrnehmung, Ernährung und eine gleichmäßige Mischung des Körpers vorliegen. Der Gegensatz – und die gleichwohl vorhandene Verwandtschaft – zwischen den beiden hier kontrastierten Perspektiven lassen sich ausgezeichnet an einem Ausschnitt aus Ibn Bāǧǧas Buch der Lebewesen illustrieren, in dem es um die Ursachen der Potenzen der körpereigenen Homoiomere wie Fleisch und Knochen geht.67 [T 52] »Diese Potenzen – ich meine zum Beispiel Weichheit und Härte und was ihnen gleicht – sind es, die in der Schrift De generatione et corruptione als sekundäre [ṯawānin] aufgezählt werden in Relation zu jenen Subjekten, welche bei den Homoiomeren primär sind. Daher müssen wir nach den Ursachen von sogearteten [sekundären Potenzen] in den Homoiomeren fragen. Ihre Ursachen sind so verschieden wie ihre Gattungen. So ist die Ursache der Weichheit im Blei eine andere als die Ursache der Weichheit in der Haut, und zwar ist sie wie die Ursache der Weichheit im Haar. Die Ursache der Weichheit des Goldes oder des Bleis ist nicht, dass das Blei darin zu seiner letzten Vollendung gelangt, denn das Blei wird nicht durch die Potenz definiert, es sei denn insofern es ein Element für die Kunst ist, aber darin besteht nicht seine Existenz; vielmehr ist es, weil es aus feuchtem Dampf ist, notwendigerweise 66Dies besagt allerdings nicht, dass jeder durch Zufall auf den Weg gebrachte Entstehungsprozess auch an sein Ziel kommt; vgl. unten die gleiche Gegenüberstellung von Zufall und materieller Notwendigkeit mit der Zielursache. 67Zum Kontext und für eine Übersetzung der vorausgehenden und nachfolgenden Textstücke siehe Kapitel 10, T 58 und T 59.
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weich. Ebenso ist das Haar der Slaven und der Bewohner der kalten Länder weich, weil der Rauch, aus dem das Haar gemischt ist, feucht ist, in den warmen Ländern dagegen fest, weil die Materie verbrannt und trocken ist. Was dagegen die Weichheit im muskulösen Fleisch angeht, so ist sie [deshalb], damit es sich biegen kann, und die Härte im Knochen, damit er zum Stoßen geeignet und zum Festhalten in der Lage ist.«68 Weichheit und Härte, die hier beispielhaft genannt sind, sind Potenzen, durch die bestimmte Organe des Lebewesens zu bestimmten Tätigkeiten in der Lage sind. Andererseits handelt es sich um Eigenschaften, die auch unbelebten Körpern wie Gold oder Blei zukommen. Ibn Bāǧǧa bestimmt sie mit Verweis auf De generatione et corruptione als ›sekundäre Potenzen‹, gegenüber den primären aktiven und passiven Potenzen Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit. Dabei bezieht er sich auf Aristoteles’ Analyse, der zufolge jene tastbaren Gegensätze auf diese zurückgeführt werden können.69 Getreu der konsequenten Ausdeutung im Sinne einer Theorie der Potenzen, bezeichnet Ibn Bāǧǧa auch diese sekundären Eigenschaften nicht nur als Qualitäten (kaifīyāt), sondern eben auch als Potenzen.70 Dabei führt er es als Merkmal etwa von Härte und Weichheit an, dass sie nicht auf Grund von Härte beziehungsweise Weichheit erzeugt werden.71 Wogegen die Wärme etwa zwar auch auf Grund von Reflexion oder Bewegung erzeugt werden kann, auf jeden Fall aber auch »von ihresgleichen« (ʿan ašbāhihā).72 Dies eben kennzeichnet Härte und Weichheit als sekundär: Ihre Existenz bedarf der Erklärung und der Zurückführung auf ein Zugrundeliegendes, und zwar in Lebewesen dann genauso wie in unbelebten Substanzen. Ibn Bāǧǧa beharrt nun im soeben zitierten Text darauf, dass die Ursachen beispielsweise der Weichheit im unbelebten Homoiomer Blei und im belebten Homoiomer Fleisch nicht dieselben sind. Der Unterschied liegt genau darin, dass im Fall des Bleis nur eine Materialursache anzugeben ist – feuchter Dampf –, die Weichheit wird also auf die primäre Eigenschaft einer materiellen Komponente zurückgeführt, während beim Fleisch eine Zweckursache angegeben werden kann: Es muss sich biegen können. Das Fleisch ist für eine bestimmte Tätigkeit gemacht, in der seine »letzte Vollendung« (kamāl aḫīr) besteht, und es wird durch die Potenz zu dieser Tätigkeit – in diesem Fall unter anderem die Weich68Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 95, 1–12. Folgende Änderungen sind vorzunehmen: Die in Anm. 4 und 7 genannten Varianten von MS B sind vorzuziehen; in Zeile 95, 3 ist mit MS B, f. 134v [arab.] wa vor hiya zu streichen; in Zeile 95, 6 ist mit MS O, f. 95r sabab statt nisab zu lesen. 69Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b31–330a29. 70Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 22, 13–26, 5 und 66, 7–68, 4. Siehe auch T 42. 71Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 23, 13–24, 3. 72Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 66, 7–15.
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heit – definiert. Vom Blei gilt das gerade nicht, weil von seiner Qualität der Weichheit höchstens akzidentell und durch den Menschen als von einer Potenz Gebrauch gemacht werden kann. Es ist nun jedoch keineswegs so, dass die mit der Materie verbundene Notwendigkeit, von der hier wiederum die Rede ist, auf die unbelebte Natur beschränkt wäre. Vielmehr sagt Ibn Bāǧǧa ausdrücklich, dass die Weichheit des Haars nach dem gleichen Modell zu erklären ist wie die Weichheit des Bleis, mit anderen Worten, sie dient keinem Zweck, sondern ergibt sich notwendig aus den materiellen Entstehungsbedingungen, die für Bewohner kalter Länder anders sind als für Bewohner warmer Länder. Ibn Bāǧǧa folgt auch darin Aristoteles, der, nachdem er in De partibus animalium den allgemeinen Zweck des Haars – Schutz des Körpers – behandelt hat, in De generatione animalium ausführlich die auf »Notwendigkeit« beruhenden Eigenschaften des Haars verschiedener Spezies und Klassen von Individuen untersucht.73 Es wäre jedoch ebenfalls ein Missverständnis, wenn man nun annehmen wollte, dass die Erzeugung von Potenzen sich entweder auf die materiellen Komponenten oder auf den Zweck zurückführen ließe. Im Gegenteil führt ein und dieselbe Ursache sowohl zu »beabsichtigten« Ergebnissen wie zu Nebenfolgen, die sich auf Grund von Notwendigkeit einstellen. Dies wird in einem weiteren Abschnitt des Kapitels über das Wahrnehmungsvermögen aus dem Buch der Seele deutlich. [N III. 35] »Alles, was in natürlichen Körpern existiert, sei dieser ein Element oder ein Mineral, ist materiell, mit ihr [=der Materie] vereinigt, wie wir gesagt haben. Was aber die Pflanzen und Lebewesen angeht, so existieren in ihnen die materiellen Zustände, die [auch] den Elementen zukommen, und die materiellen Zustände, die von der Reifung herrühren. Durch diese Zustände werden die Homoiomere erzeugt, die in ihnen sind. Und sie haben [darüber hinaus] andere Zustände, die den Elementen nicht zukommen und die nicht von der Verkochung der Elemente herrühren, nämlich die Naturanlage [ḫilqa]. Das ist klar [erkennbar] bei vielen der Pflanzen und bei den Lebewesen noch klarer.« In einem ersten Schritt ist hier erklärt, dass die Homoiomere des organischen Körpers der Pflanzen und Lebewesen auf dieselben »materiellen Zustände« (aḥwāl hayūlānīya) – und das sind eben solche Potenzen wie Härte und Weichheit (vgl. N III. 32) – zurückgehen, wie sie den Elementen und den aus ihnen durch Verkochung (naḍǧ) entstehenden mineralischen, also unbelebten, Körpern zukommen.
73Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, II. 14; De generatione animalium, V. 3–6, 782a20– 786b6.
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Daher sagt Ibn Bāǧǧa dann auch in der Lebensführung des Einsamen, dass der Mensch wie alles Lebendige einige Dinge mit den Mineralien und Elementen gemein hat, zum Beispiel, dass er von oben herabfällt oder dem Verbrennen durch Feuer ausgesetzt ist,74 und er bezeichnet diese Dinge als »elementare Potenz« (quwwa usṭuqusīya), die er in eine Reihe mit den seelischen Potenzen stellt, nämlich dem Nährvermögen, dem Zeugungsvermögen, dem Wahrnehmungsvermögen, den »drei spirituellen Vermögen« – also Gemeinsinn, Vorstellung, Gedächtnis – und dem rationalen Vermögen.75 Die seelischen Potenzen reihen sich mithin nahtlos an diese elementaren Potenzen an. Gleichwohl kann Ibn Bāǧǧa behaupten, diese Potenzen hätten »überhaupt keine Beziehung auf das
74Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 128, 10–22; Faḫrī, 45, 1–46, 1: »Alles Lebendige hat einige Dinge mit den Mineralien gemein, und jedes Lebewesen einige Dinge mit dem bloß Lebendigen gemein, und jeder Mensch [schließlich] hat einige Dinge mit den nichtrationalen Lebewesen gemein. Das Lebendige und das Mineral haben beide an dem teil, was dem Element zukommt, aus dem sie zusammengesetzt sind, nämlich zum Beispiel das selbständige nach unten Fallen, das erzwungene nach oben Aufsteigen und ähnliches. Dies hat das Lebewesen ebenso mit dem Lebendigen gemein, da ja beide aus einem und demselben Element [gebildet] sind. Außerdem hat es mit ihm die Tätigkeiten der Nähr-, Zeugungs- und Wachstumsseele gemein, und ebenso hat der Mensch mit dem nichtrationalen Lebewesen all dies gemein und hat mit ihm außerdem die Sinneswahrnehmung, Vorstellung und Gedächtnis [ḏikr] gemein, sowie die ihm auf Grund dieser zukommenden Tätigkeiten, welche nämlich der tierischen Seele angehören. Dagegen hebt er sich von allen diesen Klassen ab durch das Denkvermögen [quwwa fikrīya] und das, was nur durch dieses zustande kommt, denn deshalb besitzt er Erinnerung [taḏakkur], die anderes nicht besitzt. Es ist bereits aufgezählt worden, worin sich der Mensch vom nichtrationalen Lebewesen unterscheidet. Da der Mensch aus den Elementen [gebildet] ist, kommen ihm die notwendigen Tätigkeiten zu, in Bezug auf die er keine freie Wahl [iḫtiyār] hat, wie der Fall von oben und das Verbrennen durch Feuer und Ähnliches.« 75Dazu und zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 142, 3–18; Faḫrī, 58, 14–59, 7: »Jeder Mensch hat, entsprechend dem zuvor Gesagten, verschiedene Gattungen von Vermögen. Das erste ist das Denkvermögen, zweitens die drei geistigen Vermögen, drittens das Wahrnehmungsvermögen, viertens das Zeugungsvermögen, fünftens das Nährvermögen und was dazu gezählt wird, sechstens das elementare Vermögen. Was ihm allerdings auf Grund der fünften und sechsten zukommt, das hat keine Beziehung auf ihn, ja noch nicht einmal überhaupt auf das Lebewesen, deshalb nennen einige Leute sie ›die Natur‹, und das fünfte nennen sie [alle] ›Natur‹. Was die Wirkungen des sechsten Vermögens angeht, so geschehen sie mit reiner Notwendigkeit, sie haben keine Gemeinsamkeit mit den frei gewählten Tätigkeiten, die Wirkungen des fünften Vermögens dagegen geschehen auch niemals durch freie Wahl, jedoch auch nicht mit reiner Notwendigkeit. Sie unterscheiden sich von den notwendigen darin, dass der Beweger im Körper ist und eines Bewegten bedarf – und das ist die Materie, welche die Nahrung darstellt. […] Die vierten sind auch den Wirkungen des fünften Vermögens ähnlich, nur dass sie der freien Wahl näher stehen, und zwar deshalb, weil die Ernährung für das Bestehen des Körpers notwendig ist, während die Emission des Samens ins Weibchen, damit es ihn gebiert, nicht notwendig ist; die Begierde führt nicht notwendigerweise dazu, das ist von selber klar. Die freie Wahl führt also dazu, nämlich zur Emission des Samens in das Weibchen, damit es ihn gebiert, und das ist also eine frei gewählte Handlung.«
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Lebewesen«. Der in der Lebensführung des Einsamen dafür genannte Grund liegt darin, dass die Tätigkeiten dieser Vermögen der Notwendigkeit unterliegen und nicht der Entscheidung (iḫtiyār, d. i. προαίρεσις). Dies ist nun aber keine bloß ethisch begründete Einteilung, sondern gründet, wie die Gegenüberstellung mit Nähr- und Zeugungsvermögen deutlich macht, auf der Erkenntnis, dass die Aufhebung der Notwendigkeit und der – wenn auch begrenzte – Einfluss rationaler Entscheidung dort beginnt, »wo der Beweger im Körper ist und eines Bewegten bedarf«, sprich, dort wo Seele als internes aktives Bewegungsprinzip auftritt und eines Objektes bedarf, um aus dem Zustand der ersten Entelechie in den Zustand der letzten Entelechie überzugehen. – Dieser letzte Punkt wird uns in Kapitel 10 ausführlicher beschäftigen. In dem soeben zitierten Text aus dem Buch der Seele ist der Unterschied zwischen den Potenzen nun so formuliert, dass den Pflanzen und Lebewesen über die »materiellen Zustände« der Elemente und Mineralien hinaus weitere Zustände zukommen, die nicht auf das Verkochen der Elemente zurückgeführt werden können. Dies ist ihre »natürliche Beschaffenheit« oder »Naturanlage« (ḫilqa). Obgleich also die Homoiomere des organischen Körpers durch die natürlichen Potenzen erzeugt werden, wird ihre »Naturanlage« nicht durch sie erzeugt. Man darf das in Anlehnung an den oben besprochenen Ausschnitt aus dem Buch der Lebewesen wohl so verstehen, dass Ibn Bāǧǧa die funktionale Bestimmung des Homoiomers, also die »Potenz«, durch die es definiert wird, von der Rückführung auf die Elemente ausnehmen will. Insofern nun etwa die Funktion des Knochens, zu stoßen und festzuhalten, substantiell identisch ist mit der Potenz der Härte, die ihm eigen ist und die zweifellos auf die Elemente zurückgeht, unterliegt diese Potenz offenbar einer doppelten materiellen und funktionalen Bestimmung. Wie sich diese Dopplung konkret physisch begründet, geht aus den unmittelbar folgenden Überlegungen des Buchs der Seele hervor: [N III. 36] »Der Beweger, der auf die Materie diese Bewegung ausübt, der nämlich, der die Naturanlage verleiht [yufīdu], gehört zu einer anderen Gattung der Beweger. Das zeigt sich [schon] bei kurzer Betrachtung. […] Dieser Beweger ist nicht die die Reifung bewirkende Wärme [al-ḥarāra], aber die die Reifung bewirkende Wärme ist sein Organ, und deshalb folgen [auch] diesen Körpern die Geschmäcke und Gerüche und die übrigen Akzidenzien [al-aʿrāḍ], die sich durch die Reifung einstellen. Was [die Frage] angeht, wie sie sich durch es einstellen, so ist das bereits im vierten [Buch] der Meteorologie erklärt worden. Und diese verleihen [fa-hāḏihī tufīdu] notwendigerweise die Naturanlage.«76 76Ausgeblendet sind an dieser Stelle alle Aspekte, die im engeren Sinne zur Zeugungstheorie gehören. So wird zwar in N III. 36 der genannte Beweger als »Intellekt« identifiziert, aus einer Analyse der Zeugungstheorie, die an anderer Stelle erfolgen soll, würde sich jedoch ergeben,
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Die doppelte Perspektive auf die homoiomeren Substanzen des organischen Körpers ergibt sich mithin daraus, dass ihre Wirkursache zumindest teilweise mit der Wirkursache der anorganischen Homoiomere identisch ist. Beide werden durch Wärme in einem Prozess der Verkochung erzeugt, mit dem Unterschied, dass diese Wärme für die Mineralien die einzige (nahe) Wirkursache darstellt, während sie für den organischen Körper nur als Organ oder Instrument (āla) eines anderen Bewegers fungiert. Dieser Beweger, der zu einer »anderen Gattung der Beweger« gehört, ist offensichtlich, wie diese uns bereits bekannte Formel verdeutlicht, die Seele (vgl. T 48, T 49). Weil nun aber die materiellen Komponenten und die Wärme als direkte Wirkursache dieselben bleiben, kommen auch dem belebten Körper Akzidenzien wie Geschmäcke und Gerüche zu, die zwar nicht dem vom seelischen Beweger »beabsichtigten« Ziel der Naturanlage zugehören, aber aus der zu deren Erzeugung als Instrument benutzten verkochenden Wärme folgen. Diese erste Beschreibung trifft jedoch nur annähernd die tatsächliche Verquickung der beiden Perspektiven. Man könnte ja wiederum den Eindruck haben, dass die Naturanlage allein auf die Seele, die Akzidenzien allein auf die als Organ dienende Wärme und die zugrunde liegenden elementaren Potenzen zurückzuführen sind. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wenn man den zitierten Abschnitt genau liest, dann wird dort die Naturanlage sowohl auf den Beweger von einer anderen Gattung als auch auf die durch das Kochen erzeugten Akzidenzien zurückgeführt; von beiden heißt es, dass sie die Naturanlage »verleihen« (faid), und von den Akzidenzien gar, dass sie dies »notwendigerweise« tun.77 Es gibt hier mithin zwei einander überkreuzende Begründungsverhältnisse: Die Entstehung organischer Homoiomere ist einerseits nur durch Seele als hinzutretenden Beweger möglich. Unsere Untersuchung in Kapitel 8, Abschnitt 4, hat ja bereits ergeben, dass nur die Seele die annähernd gleich mächtigen Potenzen der Komponenten bewegen und mischen kann, sodass eine »einheitliche zusammengesetzte Potenz« zustande kommt. Andererseits kann die Seele dies nicht als mirakulöses, mit dem Körper unverbundenes Prinzip bewirken, sondern nur auf die physikalische Weise, in der Homoiomere nun einmal erzeugt werden; sie muss daher die das Kochen bewirkende Wärme als Organ benutzen. Vom Gedass die Rolle von Intellekt und Seele als Beweger nicht zu trennen sind. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschränken wir uns auf die Seele als unmittelbaren Beweger des entstehenden Körpers. 77Im Prinzip wäre es auch möglich, fa-hāḏihī tufīdu nicht auf die Akzidenzien, sondern auf die Wärme zu beziehen. Man müsste dann etwa übersetzen: »Jene nun verleiht…« An der Aussage des Textes würde dies nichts Grundsätzliches ändern, wäre aber leichter mit der Aussage vereinbar, dass selbst bei den Mineralien die ihnen eigentümlichen Zustände aus der Form folgen (N III. 38) – und eben nicht umgekehrt. Jedoch sind die »Akzidenzien« das letzte genannte Subjekt, auf das hāḏihī verweisen kann, und es ist daher im Zweifelsfall angemessener, die inhaltlich schwierigere, grammatisch aber naheliegendere Lesart zu wählen.
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sichtspunkt des Verkochungsprozesses entsteht die Naturanlage damit ebenso notwendig wie die übrigen Akzidenzien. Ja, Ibn Bāǧǧa scheint an dieser Stelle zu sagen, dass die Akzidenzien, die ja sekundäre und wohl auch primäre Potenzen sind, die Naturanlage hervorbringen oder gar selber sind. Das ist durchaus plausibel, wenn wir an das bereits erwähnte Beispiel des Knochens denken, bei dem die Potenz der Härte und die Potenz zu stoßen offenbar substantiell, wenn auch nicht begrifflich, identisch sind. Genau das ist es aber, was man sich unter emergenten Potenzen vorzustellen hat. Dies sind Potenzen, die sich nicht auf die zugrunde liegenden Potenzen zurückführen lassen, die dennoch von diesen erzeugt werden und die Ursachen von Prozessen sind, die sich auf der Grundlage der zugrunde liegenden Potenzen nicht erklären lassen. Wenn Ibn Bāǧǧa nun behauptet, hier sei Seele als Bewegungsprinzip einer anderen Gattung zur Entstehung notwendig, so hebt das nicht die beschriebene Emergenz auf, sondern schränkt sie höchstens ein. Es handelt sich um Emergenz unter den Bedingungen der hypothetischen Ewigkeit natürlicher Arten, wo die Seele als Form niemals schlechthin neu entstehen kann, sondern jeweils nur das individuelle Ganze aus Materie und Form. Die Seele ist folglich nicht nur als Ziel- und Formursache primär, sondern auch immer schon da, und das trifft im übrigen ja auch ganz gut, was bei der Zeugung durch geschlechtliche Fortpflanzung geschieht: Die »Form« des Lebewesens entsteht nicht jedes Mal so wie bei der angenommenen »Entstehung des Lebens«, sondern sie wird von den Elternorganismen auf die Nachkommen übertragen. Außerdem zeigt bereits das »zufällige« Entstehen unbelebter Homoiomere,78 die ja im Vergleich mit den Elementen ebenfalls neue, emergente Potenzen besitzen, dass das von Ibn Bāǧǧa in Anlehnung an Alexander und Aristoteles vertretene Modell offen ist für eine Umdeutung im Sinne einer Evolutionstheorie der Natur. Während solche Anwendungsmöglichkeiten weit über das Thema dieser Untersuchung hinausgehen, so machen sie doch besonders deutlich, dass der von Ibn Rušd als notwendig angemahnte »äußere Beweger« nicht den Kern der Sache trifft, jedenfalls nicht die materielle und notwendige Verursachung seelischer Potenzen aufhebt, die nach Ibn Bāǧǧas Verständnis mit deren ontologischer Priorität durchaus vereinbar ist. Nur insofern er die ontologische Priorität der Form vertritt, ist der »äußere Beweger« zentral, den denn auch weder Alexander noch Ibn Bāǧǧa geleugnet hat. Auf Grund der beschriebenen Verschränkung der beiden Begründungszusammenhänge kann der wiederholte Verweis auf Seele als Beweger der Mischung jedoch durchaus auch als Hinweis auf die Emergenz 78Dies gilt auch für Mineralien, die nicht homoiomer sind; vgl. dazu Ibn Bāǧǧa, Kitāb alḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 180, 1–3: »Jeder Körper ist entweder homoiomer oder zusammengesetzt, und das Zusammengesetzte ist entweder dem Wesen nach zusammengesetzt, so dass es in seinem Wesen liegt, dass es diese Zusammensetzung hat, oder zufällig [bi-ttifāq] wie die Körper einiger Steine und was dem gleicht.«
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seelischer Potenzen aufgefasst werden. Dies soll im Folgenden anhand der konkreten Darstellung des Entstehungsprozesses organischer Körper näher gezeigt werden.
3. Mischung und die Aufnahme der Form: Integratives Modell materieller und formaler Genese Um das Entstehen belebter Körper zu erklären – das haben die vorstehenden Ausführungen gezeigt – benötigt Ibn Bāǧǧa ein einheitliches Modell, das die materielle und die formale Genese dieser organisch strukturierten Körper miteinander integriert. In der Absicht, dieses Modell herauszuschälen, können wir erneut bei Ibn Bāǧǧas Erläuterung der »Zusammensetzung« des Körpers im Buch der Lebewesen ansetzen und sie an der Stelle des Übergangs vom Anorganischen zum Organischen wieder aufnehmen, an der wir sie in Kapitel 8 (T 49) unterbrochen hatten: [T 53] »[D]ie Seele ist die Ursache für diese Art von Mischung. Wenn die Elemente einander nämlich in ihren Potenzen nahe kommen, mischen sie sich nicht, sondern jedes von beiden kann sich vom anderen freimachen, und daher bedarf es eines anderen Prinzips, das beide kombiniert und beide bewegt, sodass sie eine Sache werden und ihre beiden Potenzen eine einheitliche zusammengesetzte Potenz werden. [1] Das geschieht nicht durch die bewegende Potenz der Kälte, denn die Kälte lässt beide erstarren und gibt jedem von beiden ein eigenes Ende, sodass sie sich nicht mischen. Der Wärme dagegen kommt es primär zu zu mischen, danach, an zweiter und dritter Stelle, trennt sie das Gleichartige. Es ist bereits in der Meteorologie gesagt worden, wie das geschieht: [a] Wenn zufällig die Vermischung [ḫilṭ] dieser beiden Elemente eintritt und [b] die Wärme in der Weise Ursache für beide ist, dass sie beiden eine solche Bewegung verleiht, dass sie sich dadurch mischen, und [c] nicht in der Lage ist beide zu zerstören und [d] eine Weile anhält, in der dies geschieht, und [e] zu diesem Körper Kälte hinzukommt und er in jenem Zustand erstarrt und [f] aus dem Konglomerat [muǧtamaʿ] eins wird, was eine Tätigkeit [fiʿl] hat, dann wird die Tätigkeit jener Hitze ›Reifung‹ [naḍǧ] im Allgemeinen genannt. Manchmal spricht man auch von Reifung im Besonderen. Das ist bereits im vierten [Buch] der Meteorologie dargelegt worden. [2] Die Dauer [mudāwama] der Wärme und ihr Maß [taqdīr] sowie der allmähliche Fortschritt [tadrīǧ] des Körpers von Wärme zu Wärme, bis die Sache den vorgesehenen Zustand erreicht, das erfolgt in einem Zustand, der der Ordnung [tartīb] und Führung [tadbīr] bedarf. Dies aber liegt nicht in der Potenz der Natur, denn die Natur ist immer nur für eine Sache und in Richtung auf eine
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Sache, und deshalb bedarf es dazu der Seele, denn sie ist es, die viele Tätigkeiten bewirkt, obgleich sie eine ist. [3] Dies ist ihr nur möglich mittels vieler Organe. Die Seele ist also notwendigerweise Form eines organischen Körpers. Jeder organische Körper ist notwendigerweise aus Teilen zusammengefügt – das wird in Kürze klar werden. Jeder Körper, der eine Seele besitzt, ist entweder mit der nährenden beseelt und den Potenzen, die mit ihr verbunden sind, insofern sie ernährend ist; dies sind die Pflanzen, und ihrer Erörterung werden wir die Schrift Über die Pflanzen widmen. Oder er ist mit zwei Gattungen von den Potenzen der Seele beseelt, nämlich der nährenden und der wahrnehmungsfähigen; dies ist das Lebewesen. Mit jeder Hinzufügung von Potenzen der Seele entsteht eine neue Art der Lebewesen, bis man zum Menschen gelangt. [4] Der Mensch ist ein Körper, der ein sich Gleiches zeugt. Der Mensch ist also in beiden Hinsichten das Vollendete und von ihm und auf ihn hin müssen die zusammengesetzten Teile der Lebewesen aufgefasst werden.«79 Entsprechend der soeben analysierten doppelten Verursachung des Organischen bemüht sich auch dieser Text um zweierlei: Er versucht einerseits zu zeigen, warum nur Wärme als »bewegende Potenz« geeignet ist, den Körper zu erzeugen, und andererseits nachzuweisen, dass die Verursachung dieses Prozesses »nicht in der Potenz der Natur« sondern nur in der Potenz der Seele liegt. Was zunächst die Wärme angeht (Abschnitt 1), so grenzt er diese von der Kälte als einziger anderer in gleicher Weise primärer Potenz ab, und zwar mittels der aristotelischen Bestimmung der Wirkungen dieser zwei Potenzen: Nur Wärme mischt, weil nur die Wärme Dinge als gleiche zusammenbringt.80 Diesen Grundsatz verbindet Ibn Bāǧǧa sodann mit der Bestimmung des Reifungsvorgangs aus der Meteorologie, den er in sechs Etappen (a bis f) beziehungsweise Voraussetzungen zerlegt, die gegeben sein müssen, damit sich Reifung einstellt. Während diese Beschreibung, zumindest in ihrer konzentrierten und systematisierten Form, kein direktes Vorbild in der Meteorologie selbst hat,81 so sind dort doch zwei für Ibn Bāǧǧas Darstellung wesentliche Faktoren genannt.82 Erstens (b), es ist die »natürliche Wärme«, welche die Reifung bewirkt, indem sie die entgegengesetzten passiven und damit materiellen Qualitäten zusammenbringt – Ibn Bāǧǧa spricht von »diesen beiden Elementen«, das heißt, Erde und Wasser, die die passiven
79Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 181, 13–184, 7 (man beachte 184, Anm. 6); der erste hier unnummerierte Abschnitt ist bereits in T 49 zitiert worden. 80Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b25–29; nach Aristoteles allerdings trennt die Wärme sekundär das Ungleichartige. Vielleicht liegt ein Fehler in der Textüberlieferung vor. 81Man vergleiche aber Ibn Bāǧǧas Bearbeitung der Meteorologie, etwa den unten S. 485, Anm. 75 zitierten Text. 82Siehe zum Folgenden Aristoteles, Meteorologie, IV. 2, 379b18–26.
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Potenzen der Trockenheit und Feuchtigkeit vertreten.83 Zweitens (f), Resultat der Reifung sind Natur, Form und Wesen der Sache. Sie wird, wie Ibn Bāǧǧa es ausdrückt, von einem bloßen Konglomerat tatsächlich zu einer Einheit, der eine spezifische Tätigkeit zukommt.84 Diese physikalische Bestimmung des Reifungsprozesses ist nun jedoch unvollständig, weil sie nicht berücksichtigt, dass zur Entstehung des organischen Körpers nicht eine einzige Wärme notwendig ist, sondern vielmehr variable Wärmezustände, die sich hinsichtlich der Dauer und des Maßes unterscheiden und die zusätzlich eine bestimmte Abfolge haben müssen, sodass der reifende Körper sich ihnen Schritt für Schritt unterzieht (Abschnitt 2). Dies kann nun aber »Natur« im Sinne der unbelebten Natur (vgl. Kapitel 6) nicht leisten, da dieses Natürliche stets nur eine Tätigkeit besitzt, die auf ein einziges Ziel ausgerichtet ist – man denke an die Ortsbewegung der Elemente. Dem steht die Seele als das Prinzip gegenüber, das einheitlich ist, obwohl es Ursache vieler verschiedener Tätigkeiten ist. Das die Wärme lenkende Prinzip kann mithin nicht Natur sein, sondern muss Seele sein, deren Aufgaben Ibn Bāǧǧa als Ordnen und Führen beschreibt. Dies ergibt sich aus der Vereinigung von Einheit und Vielheit, die nur als Ordnung gedacht werden kann. Das Führen wiederum bestimmt Ibn Bāǧǧa in der Lebensführung des Einsamen als die Hinordnung vieler Tätigkeiten auf ein einheitliches Ziel.85 Wie aber kann Seele das leisten? Ging es nicht gerade darum, die Erzeugung eines beseelten Körpers zu erklären? Wie kann der Verweis darauf, dass dieser Körper von einem seelischen Prinzip verursacht wird, dann eine Erklärung darstellen? Dieses Vorgehen ist zwar unter anderem der vorausgesetzten Ewigkeit der Speziesformen geschuldet, von der bereits die Rede war, im vorliegenden Text aber zeigt sich deutlich, dass dies nicht mit einer Hypostasierung dieser Formen einhergeht. Denn die einheitlich-vielfältige Seele steht an einer Scharnierstelle: Einerseits erklärt sie, wie ein organischer Körper erzeugt werden kann (Abschnitt 2), andererseits folgert Ibn Bāǧǧa aus dieser ihrer Bestimmung unmittelbar, dass sie einen aus vielen Organen zusammengesetzten Körper braucht, um die vielfältigen Tätigkeiten realisieren zu können (Abschnitt 3). Man darf also 83Siehe dazu Kapitel 11. 84Zum Zusammenhang zwischen Form und Tätigkeit vgl. Aristoteles, Meteorologie, IV. 12 und Kapitel 10. 85Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 121, 3–8; Faḫrī, 37, 1–5: »Das Wort ›Führung‹ [tadbīr] wird im Arabischen von vielen Intentionen ausgesagt, welche die Experten dieser Sprache bereits aufgezählt haben. Üblicherweise bezeichnet es allgemein die Hinordnung [tartīb] von Handlungen auf ein angestrebtes Ziel. Deshalb wird es nicht für jemanden verwendet, der eine einzelne Handlung [ fiʿl] ausführt, um ein gewisses Ziel zu erreichen, denn derjenige, der überzeugt ist, dass dies eine einzelne Handlung ist, nennt sie nicht Führung. Wer dagegen überzeugt ist, dass [die Handlung] vielfältig ist, und sie ergreift, insofern sie eine Ordnung besitzt, der nennt diese Ordnung ›Führung‹.«
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die Seele als ursächliches Prinzip nicht ablösen vom Körper, den sie erzeugt, und vom bereits beseelten Körper, der zeugt. Als einzig kritischer Moment zeigt sich dementsprechend der Zeugungsvorgang selbst, während dessen die Seele weder mit dem entstehenden noch mit dem zeugenden organischen Körper verbunden ist, sondern allein mit dem Samen. Daher die Notwendigkeit einer physiologisch und formontologisch überzeugenden Erklärung der Zeugung, bei der deshalb der aktive Intellekt ins Spiel kommt (vgl. N II. 23). Angesichts der beschriebenen Scharnierstellung der Seele ist es dann nur folgerichtig, wenn Ibn Bāǧǧa im direkten Anschluss an die Berufung auf Seele als Prinzip und Beweger sich wieder der Sprache der Emergenz bedient und aus der Zusammensetzung des Körpers aus verschiedenen Teilen auf das Vorhandensein einer oder mehrerer seelischer Potenzen schließt. Und diese emergenten Potenzen, die hinzugefügt werden (ziyād), definieren jeweils eine neue Substanz, nämlich eine neue Art von Lebewesen. Der Mensch bildet lediglich die Spitze dieses komplexen Aufbaus von Körper und Seele (Abschnitt 3). Deshalb muss man die Lebewesen von diesem Ziel und dieser Vollendung her betrachten (Abschnitt 4), gemäß dem, was oben über die teleologische Ordnung der seelischen Potenzen gesagt worden ist (N III. 20, N III. 23). Deshalb kann und muss die Abhängigkeit dann auch andersherum formuliert werden, nämlich so: »Da nun die Teile des Körpers nur seelische Organe sind […], so muss notwendig, je mehr Teile die Seele hat, dort auch die Zahl der Arten von Organen größer sein« (T 55). Die hier zunächst anhand des Buchs der Lebewesen analysierte Theorie der Entstehung des organischen Körpers findet nun ihren Niederschlag auch im Buch der Seele, das darüber hinaus jedoch, wie man es von der übergeordneten Fragestellung her auch erwarten sollte, ein größeres Gewicht auf die Form legt. Der Körper eines Lebewesens ist aus den Elementen Erde und Wasser gemischt, sodass wie in jeder Mischung (vgl. T 49) die Elemente in ihm nur noch in Potenz existieren (N III. 30). Die Mischung kommt »mittels der natürlichen Wärme« durch Wirken und Leiden zustande (N III. 31). Da nun Wärme immer an einem Körper vorliegt, fragt Ibn Bāǧǧa danach, in welchem Körper die entsprechende Wärme enthalten ist. Er schließt zunächst aus, dass die Wärme in einem der zu mischenden Elemente ist, mit der Begründung, dass der Mischung (oder präziser: dem Wirken und Leiden) das »Aufeinandertreffen« (liqāʾ), also der Kontakt der Elementarkörper vorhergehen muss. Wäre nun die Wärme, welche die Mischung bewirkt, an eine der Komponenten gebunden, dann wäre (1) das Zustandekommen der Mischung ebenso akzidentell wie das Aufeinandertreffen der Komponenten. (2) Außerdem wäre, selbst wenn die Mischung begonnen wird, nicht gesichert, dass sie auch vollendet wird, da ja die Elemente nur zufällig zusammengekommen wären und es sich folglich ergeben könnte, dass die Potenzen nicht ausgewogen sind, sondern das Warme etwa das Kalte umwandelt und sich gleich macht und damit die Mischung verhindert. (3) Weiterhin, selbst wenn es zu einer vollständigen Mischung kommt, so wäre dies doch nicht immer nach
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demselben Verhältnis (nisba wāḥida) der Fall. Ibn Bāǧǧa schließt also: »Deshalb bedarf es, wenn die Sache der Ordnung [niẓām] gemäß verläuft, notwendigerweise eines Bewegers von außerhalb. Diese Weise des Bewegens ist Führung [tadbīr], die notwendigerweise des Führers [mudabbir] bedarf.« Der externe Beweger, der hier erschlossen wird, ist also gar nicht primär die Seele, sondern zunächst erst einmal ein weiterer Körper, der die entsprechende Wärme trägt und einer bestimmten Ordnung gemäß einsetzen kann, damit eine Mischung mit einem genau bestimmten Verhältnis entsteht. Dieser Körper kann nun je nach Art der Zeugung ein faulender Körper oder aber der Same sein, auf den als den bekannteren Fall wir uns hier zunächst beschränken wollen. »Der Same ist nämlich ein erzeugender Körper für das Beseelte, und es ist klar, dass seine Wärme, durch die er wirkt, in ihm ist« (N III. 37). Allerdings sind Same und Wärme dabei, wie wir bereits oben gesehen haben, nur Organ für einen Beweger, von einer anderen Gattung (vgl. N III. 36), die Seele. Dennoch beschreibt Ibn Bāǧǧa die Seele nicht nur als Ausgangspunkt, sondern auch als Ergebnis der Mischung: [N III. 37] »Dieses Warme hört nicht auf, die mit Wasser gemischte Erde zu bewegen, bis das Ganze, wenn es den Zustand erreicht hat, in dem es jene Form aufnehmen [kann], sie dabei [tatsächlich] aufnimmt. Es ist einleuchtend, dass mit Beginn der Bewegung [auch] die Aufnahme der Form beginnt und dass die Aufnahme und die Bewegung sich im Gleichgewicht befinden. Die Seele ist folglich, wie gesagt, Form für den gemischten Körper, der sie mit der Mischung, die er hat, aufnimmt.« Hier finden zwei parallele Prozesse statt, nämlich einerseits die Mischung und andererseits die Aufnahme der Seele als Form. Wenn Ibn Bāǧǧa daher sagt, der gemischte Körper nehme die Seele auf, so ist damit gerade nicht gemeint, dass die Seele zur vollendeten Mischung hinzutritt – das wäre je nach Verständnis eine materialistische oder eine supernaturalistische Missdeutung –, sondern dass der Vorgang der Formwerdung dem Prozess der Mischung simultan ist. Die Kausalität der Wärme und die Kausalität der Seele gehen Hand in Hand – eine Form emergiert. Nun war jedoch bisher betont worden, dass die Seele als Form nicht radikal neu entstehen kann, und dies hatte zudem dazu beigetragen, die Notwendigkeit der Seele als »äußeren Beweger« in der Physiologie Ibn Bāǧǧas zu begründen. Jetzt könnte es jedoch scheinen, als verstieße der vorliegende Absatz genau gegen dieses Prinzip, da er die Aufnahme der Form als einen Prozess behandelt, den man in Beginn und Abschluss und dann sicher auch in viele Zwischenstufen zerlegen kann. Indessen hat Ibn Bāǧǧa in seinen Ausführungen im Buch der Seele bereits einige Absätze zuvor ein Modell dafür geliefert, wie die Formwerdung richtig zu verstehen ist (N III. 34). Sein Gegenstand sind dabei zunächst ganz
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unspezifisch jene »Dinge« (ašyāʾ) die durch das Kochen auf Grund elementarer Wärme zustande kommen, also bei der Entstehung unbelebter Homoiomere, und zwar fasst er darunter sowohl Akzidenzien als auch »die Formen der natürlichen Substanzen«. Von all diesen Formen und Eigenschaften gilt nun, dass sie nur in Materie existieren und von ihr nur »in Potenz unterschieden« sind (N III. 33). Dies gilt jedoch von den substantiellen Formen und den anderen Eigenschaften nicht im selben Sinne, sondern die übrigen Dinge »folgen« (tābiʿa) den substantiellen Formen, das heißt, sie sind von ihnen abhängig und nur auf Grund (ʿan) der Formen in der Materie (vgl. N III. 38). Die Formen dagegen »gehören« (lahā) der Materie »primär«. Daraus ergibt sich ein Problem bei der für alle anderen Veränderungen grundlegenden »Veränderung in der Form« (al-taġayyur fī l-ṣūra), das Ibn Bāǧǧa folgendermaßen beschreibt und löst: [N III. 34] »Daher bedürfen sie [d.h. die ›Formen der Substanzen‹] zum Entstehen der Eigenschaftsänderung. Die Materie ist nämlich niemals etwas in Akt, während das sich Verändernde notwendigerweise in Akt als irgend etwas existiert. Deshalb ist es, wenn es sich bewegt, notwendigerweise seiend, und es bedarf dann der Form und verändert sich im Akzidenz; es existiert durch die Form, die in ihm ist. Die Veränderung in der Form tritt auf Grund dessen ein, so wie auf Grund der Bewegung im Raum ein Wechsel der Lagen eintritt; die Bewegung geschieht nämlich nicht in der Lage, sondern durch sie kommt es zur Lage. Würde es in der Form bewegt, so wäre es die Materie, die dem Wesen nach bewegt wird, und sie wäre dann irgend etwas [Bestimmtes]. Bei der Eigenschaftsänderung dagegen wird die Materie [nur] akzidentell bewegt.« Ibn Bāǧǧa geht hier von der Überlegung aus, mit der Aristoteles in Physik V. 1 Entstehen und Vergehen von Bewegung beziehungsweise Veränderung unterscheidet: Entstehen kann keine Veränderung sein, weil das Entstehende aus etwas – und sei es im eingeschränkten Sinne – Nichtseiendem hervorgeht, etwas Nichtseiendes aber kann sich nicht verändern, sondern Veränderung geht immer von einem Zugrundeliegenden aus.86 Dem korrespondiert Ibn Bāǧǧas Aussage, das sich Verändernde müsse in Akt bestehen. Anstatt nun aber einfach festzustellen, dass Entstehen als Wandel in der Substanz keine Veränderung ist, zieht Ibn Bāǧǧa aus dieser Bedingung der Veränderung inhaltliche Folgen für die Weise, in der sich Entstehen vollziehen kann. Wenn nämlich ein jedes Seiende durch seine Form besteht und die Materie an und für sich nichts Seiendes ist, dann müsste ein Wandel in der Substanz, der doch auf eine »Veränderung« in Bezug auf die Form hinausläuft, gegen den Grundsatz verstoßen, dass das sich »Verändernde« etwas in Akt sein muss. 86Aristoteles, Physik, V. 1, 225a20–225b5.
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Diese Folgerung ist nun nicht einfach eine Missachtung der aristotelischen Unterscheidung oder eine Verschiebung im Gebrauch von »Veränderung«, sondern benennt eine reale Schwierigkeit, die tatsächlich auch das Entstehen in seiner aristotelischen Bestimmung betrifft. Sie lässt sich festmachen an der erwähnten Einschränkung der Aussage, dass etwas aus Nichtseiendem entsteht. Ein Entstehen von Seiendem aus schlechthin Nichtseiendem ist ja nach aristotelischen Grundsätzen unmöglich,87 vielmehr ist immer nur ein spezifisches Nichtsein gemeint,88 das Aristoteles im Prinzip der »Privation« formalisiert: Etwas wird (entsteht) durch den Übergang von der Privation einer Form zu dieser Form, gleichzeitig jedoch entsteht es aus der Materie als einem Zugrundeliegenden, das in Potenz diese Form ist beziehungsweise hat.89 Nun existiert die Materie aber eben nicht an sich – deshalb kann sie alles werden –, und sie existiert daher nie frei von Form.90 Ein Seiendes entsteht daher in einem dritten Sinne immer aus einem anderen Seienden;91 das Entstehen des einen ist das Vergehen des anderen.92 Wenn dies aber der Fall ist, dann ist die von Ibn Bāǧǧa aufgeworfene Frage durchaus berechtigt, wie der Wechsel von einer Form zur anderen möglich ist, ohne dass das, was diesen Wechsel erleidet, nämlich die Materie, entweder entgegen ihrer Bestimmung doch etwas Seiendes ist oder aber Seiendes doch aus schlechthin Nichtseiendem entsteht. Ibn Bāǧǧas Lösung besteht nun darin, das Entstehen seinerseits von Eigenschaftsänderungen abhängig zu machen, um zu verhindern, dass die Materie jemals ohne Form ist. Solange sich nämlich nur Eigenschaften ändern und das sich Verändernde durch seine Form ein Seiendes in Akt ist, ist die Materie nur indirekt und akzidentell Zugrundeliegendes der Veränderung. Nach dem von Ibn Bāǧǧa hier vorgeschlagenen Modell verändern sich daher im eigentlichen Sinne nur die Eigenschaften, während die »Veränderung in der Form« lediglich das Resultat ist, das sich auf Grund dieser Eigenschaftsänderung einstellt. Ibn Bāǧǧas Vergleich dieses Vorgangs mit einem Lagenwechsel ist folgendermaßen zu verstehen: Bewegt sich ein Körper im Raum, dann ändert sich die Lage, die er im Verhältnis zu einem anderen Körper besitzt – der ist etwa zunächst rechts, dann links von ihm –, ohne dass deshalb die Lagen selbst sich verändern würden – es wird nicht etwas Rechtes zu etwas Linkem.93 Im selben Sinne soll die Veränderung in Bezug auf die Form ein Ergebnis der Veränderung der akziden87Vgl. Aristoteles, De caelo, III. 2, 301b31–33. 88Aristoteles, Physik, I. 8, 191b9–17. 89Aristoteles, Physik, I. 9. 90Vgl. etwa Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 5, 320b12–14; Physik, I. 7, 191a7–12; I. 9, 192a3–6. Die anhaltende Debatte über die Beschaffenheit von Aristoteles’ erster Materie kann hier freilich nicht berücksichtigt werden. 91Für die drei Sinne des »Entstehens aus« vgl. Aristoteles, Physik, I. 7, 190b23–27. 92Vgl. Aristoteles, Metaphysik, II. 2, 994b5–6. 93Vgl. dazu etwa N IV. 8.
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tellen Eigenschaften sein, so dass es zu einer neuen Form kommen kann, ohne dass das sich Verändernde zuvor die vorhergehende Form verlieren muss. Das Entstehen, die Änderung in der Substanz, bedarf der Eigenschaftsänderung, der Änderung in der Qualität. Dies bedeutet nun aber nicht, dass Ibn Bāǧǧa die kategoriale Trennung von Entstehen und Eigenschaftsänderung aufheben würde, wie Aristoteles sie mit Nachdruck zieht. Er will nicht die von Aristoteles kritisierten Versuche, das Entstehen auf Eigenschaftsänderung zurückzuführen, wiederbeleben.94 Vielmehr kann man sich durch einen Blick in seinen Kommentar zu De generatione et corruptione überzeugen, dass er den Unterschied zwischen wesentlicher und akzidenteller »Veränderung« ganz klar im Blick hat.95 Und dieser Unterschied ist auch im Buch der Seele nicht aufgegeben, wo Ibn Bāǧǧa gleich zu Beginn schreibt: »Denn wenn sich ein einfaches Seiendes verändert, so verändert es sich entweder seiner Form nach, und dann entsteht aus ihm ein anderes, ihm entgegengesetztes, einfaches Seiendes – wie aus Wasser Luft und Erde entsteht – oder es verändert sich seinen Akzidenzien nach, und das wäre eine Eigenschaftsänderung [istiḥāla], kein Entstehen [takawwun]« (N I. 1). Man muss Ibn Bāǧǧa daher so verstehen, dass die »Veränderung in der Form« ontologisch und konzeptuell verschieden ist von den prozessualen Veränderungen der Eigenschaften, dass diese aber dennoch die Voraussetzung für jene bilden. Diese Lehre findet sich, jedenfalls in eindeutiger Formulierung, nicht bei Aristoteles. Dem lateinischen Mittelalter war der Satz geläufig, verbreitet etwa in den Auctoritates Aristotelis: Generatio et corruptio sunt termini alterationis.96 Aber dieser Satz lässt sich wohl nur auf die lateinische Übersetzung von Ibn Rušds Großem Kommentar zur Physik zurückverfolgen, wo tatsächlich dieselbe Position, wie wir sie bei Ibn Bāǧǧa antreffen, mehrfach ausgedrückt ist.97 Ist also 94Vgl. Aristoteles, Physik, I. 4; De generatione et corruptione, I. 4. 95Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 45, 9–13: »Dass nun das Entstehen [takawwun] verschieden ist von der Eigenschaftsänderung [istiḥāla], das ist klar, denn das Subjekt bleibt hier ein und dasselbe, aber dort ist das nicht so. Außerdem findet die Veränderung hier in Bezug auf die Spuren [āṯār] statt und dort in Bezug auf das Wesen. Außerdem ist das Subjekt der Eigenschaftsänderung etwas Konkretes, das an beiden Ruhepunkten und während der Bewegung durch dieselbe Definition bestimmt wird, während das beim Entstehen [kaun] nicht so ist.« 96Vgl. Jacqueline Hamesse, Les Auctoritates Aristotelis. Un florilège médiéval. Étude historique et édition critique (Philosophes médiévaux 17), Louvain–Paris 1974, 155 (No. 2, 180); als Quelle ist dort nachgewiesen: »Averroes, In Phys., VI, com. 45, f. 274 M«. 97Ibn Rušd, Commentarium magnum in Aristotelis Physicorum, VI, c. 45, ed. Venedig: apud Iuntas, 1550, 126ra5–11: »Sed forte transmittit nos ad hoc quod dictum est prius, quod generatio et corruptio sunt fines transmutationis. Et declaratum est hic quod finis transmutationis est indivisibilis. Et intelligo per transmutationem illud cuius finis est generatio et corruptio scilicet transmutationem alterationis, et generatio est finis alterationis et non est transmutatio, sed est sequens transmutationem«; VIII, c. 57, 181va60–63: »Et consyderandum est quomodo generatio
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Ibn Bāǧǧa als früheste Quelle und möglicherweise als ihr Urheber anzusehen? Nein, denn dasselbe Modell findet sich bereits in Simplikios’ Kommentar zur Physik98 und war wahrscheinlich in dem diesem zur Vorlage dienenden Kommentar Alexanders’ enthalten, auch wenn letzterer in diesem Zusammenhang nicht zitiert wird. Gut belegt ist jedenfalls, dass nach Alexander die Materie die Form durch Eigenschaftsänderung aufnimmt,99 und dies ist ja das zentrale Stück des praecedit istos motus. Omne enim quid generatur secundum opinionem Aristotelis necesse est ut alteretur, et ex hoc existimatur quod alteratio praecedit generationem.« 98Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, ed. Diels, 828, 21–30 und 829, 7–15 (Teil des langen Kommentars zu 225a33ff); in der Übersetzung von Urmson (Simplicius, On Aristotle’s Physics 5, translated by James O. Urmson, London 1997) lautet die Passage folgendermaßen: »I think that one might see the difference between coming to be and change in this way, which is other than but akin to the proposals of Aristotle. For he says that evry transformation always involves one thing being after another, but some which he saw as occuring all at once and timelessly and without an extended existence he would call coming to be because they are from not being into being and ceasing to be because from being into not being, but he would not call them changes because every change is extended and temporal. But he says that form is acquired and lost atemporally, and if it seems that some time is spent in coming to be, that is not a measure of coming to be, but of change of the forms that are changing and altering during the coming to be, and it is on their many-formed turning and alteration that the form supervenes all at once. […] Perhaps that from which there is coming to be, such as the seed, exists in the prior time, and at the later time that into which exists, such as a man, and what is in between is time, but this time is not that of the form, for it does not yet exist since it is added timelessly, but of what is prior to the form, on which it flowers. And if you were to regard each of these, such as flesh and bone and sinew, as coming to be, you would say that the coming to be of each was all at once. But if you were to regard them not as acquiring some other form but in regard to their affective qualities as being heated, that will be alteration and not coming to be.« Diese letzten Sätze machen deutlich, dass wie bei Ibn Bāǧǧa die Aufnahme der Form in Etappen erfolgt und dass letztlich ein Prozess vorliegt, der stets in zweierlei Hinsicht betrachtet werden kann. Vgl. weiterhin 1266, 38. 99Alexander zitiert bei Simplikios, Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, ed. Diels 320, 1–7; Simplicius, On Aristotle’s Physics 2, übers. Fleet, 78: »Alexander says: ›Matter takes on the form by alteration, while the letters and the parts do so by composition (the syllable comes-to-be from the letters as from parts), while as for primary and simple bodies, viz. earth, water, air and fire, it is both by composition and by alteration that compound bodies are made from them. But all these are inherent and become causes for what comes from them […]’«; 320, 20–23: »We should remember that Alexander says that the matter takes on the form by alteration. That is why the Peripatetics say that the compound is made up of matter and form with these two basic components changing together in the process of the coming-tobe of the compound.« 213, 21–23: »Mit der Eigenschaftsänderung, sagt [Alexander], ist nämlich auch das Entstehen hinsichtlich der Substanz verbunden, und in gleicher Weise muss man sagen, dass sie zwar keine Eigenschaftsänderung ist, aber dass sie nicht ohne Eigenschaftsänderung ist.« Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica commentaria, ed. Hayduck, 351, 9 (Kommentar zu Metaphysik V. 2): »Die Materie nimmt nämlich die Form durch Eigenschaftsänderung auf.« Diese Stellen sind bereits genannt bei Accattino, Alessandro di Afrodisia e la trasmissione della forma nella riproduzione animale, 86, Anm. 23. Weder dort noch offenbar in der folgenden Literatur ist die Bedeutung dieser These für Alexanders Verständnis des Hyle-
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von Ibn Bāǧǧa wie von Simplikios vorgestellten Modells. Bemerkenswerterweise gebraucht Simplikios eine Formulierung, die schon begrifflich stark an Alexanders Emergenztheorie erinnert, indem er sagt, dass das Entstehen deshalb als Prozess in der Zeit erscheint, obgleich Aristoteles es als zeitlos bestimmt, weil beim Entstehen sich gewisse Formen bewegen und ändern, »zu deren vielförmigem Wenden und Ändern die Form auf einmal [ἀϑρόως] hinzutritt [ἐπιγίνεται]«.100 Damit verwendet er denselben Ausdruck, mit dem Alexander in De anima das Verhältnis der Form und insbesondere der Seele zur Mischung beschreibt. Ein Anhaltspunkt bei Aristoteles selbst schließlich mag jene Äußerung in Physik VII gewesen sein, dass Gestalt und Form aber auch Habitus und Vollendungen und allgemein Relationen zwar keine Eigenschaftsänderungen sind, aber doch auf Grund der Eigenschaftsänderungen von irgend etwas entstehen und vergehen.101 Ursprung und Geschichte dieser Interpretation genauer zu rekonstruieren wäre eine lohnenswerte Aufgabe, die aber hier nicht ihren Platz hat. Deutlich werden sollten jedoch die grundsätzlichen naturphilosophischen, ja metaphysischen Fragen, welche die hier kurz referierten Überlegungen aufwerfen. Dazu sollte der Aspekt der Zeitlosigkeit des Entstehens noch ein wenig beleuchtet werden. Alle Bewegungen oder Veränderungen im engeren Sinne finden laut Aristoteles zwischen konträren Gegensätzen statt, das heißt zwischen solchen Gegensätzen, die Mittelzustände haben.102 Bei der Veränderung werden diese Mittelzustände durchlaufen, daher braucht die Veränderung Zeit.103 Entstehen morphismus erkannt. Man vergleiche weiterhin Alexanders Darstellung der Umwandlung der Elemente in einander in seinem De mixtione (Robert B. Todd, Alexander of Aphrodisias on Stoic Physics. A Study of the De mixtione with Preliminary Essays, Text, Translation and Commentary, Leiden 1976, 230, 5–13); er spricht dort in Bezug auf die einander verdrängenden Gegensätze von Entstehen und Vergehen »durch Veränderung« (κατὰ μεταβολήν). 100Für Simplikios’ Text siehe die vorhergehenden Anmerkungen. Simplikios’ Gebrauch von ἐπιγίνεται ist daher wohl nicht als Ausdruck eines spezifisch neuplatonischen Verständnisses der Form zu lesen, sondern passt, wenn man die Zeugnisse bezüglich Alexanders berücksichtigt, eher in eine peripatetische Auslegungstradition der Physik; vgl. dazu Irma Maria Croese, Simplicius on Continuous and Instantaneous Change. Neoplatonic Elements in Simplicius’ Interpretation of Aristotelian Physics (Quaestiones infinitae 23), Leiden 1998, 86–107, insbesondere 100f und 105–107, wo diese Möglichkeit offengelassen wird, obgleich Simplikios vornehmlich im neuplatonischen Kontext gelesen wird. 101Aristoteles, Physik, VII. 3, 246a4–9 und 246b10–15; diese Verbindung sieht auch Croese, Simplicius on Continuous and Instantaneous Change, 91f; in Simplikios’ Kommentar zur ersten Stelle heißt es unter anderem (Simplicii in Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, ed. Diels, 1064, 19–22; Simplicius, On Aristotle’s Physics 7, translated by Charles Hagen, London 1994, 42): »Having stated that it is ›absurd‹ to claim that that which has come to be has been altered, he rightly (since alteration does appear in coming to be and also nothing could come to be if alteration did not exist) makes the following distinction, saying that ›each‹ of the things which comes to be ›comes to be‹ when the underlying matter is altered.« 102Aristoteles, Physik, V. 1, 224b27–35. 103Vgl. dazu Kapitel 7, Abschnitt 2.3., insbesondere unter »Die Lösung im Entwurf«.
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und Vergehen, insofern sie Übergänge zwischen relativem Nichtsein und korrespondierendem Sein sind, verlaufen dagegen zwischen kontradiktorischen Gegensätzen, die keine Mittelzustände kennen. Deshalb ist hier nur ein plötzliches Umschlagen vom einen zum anderen denkbar.104 Aristoteles sagt,105 und Ibn Bāǧǧa nimmt auch das auf, wie wir in Kürze sehen werden, dass die Form keinen Gegensatz hat, und das ist ja auch überzeugend, denn was wäre der Gegensatz etwa von ›Mensch‹? Diese Konzeption des Entstehens kommt im bereits genannten Drei-Prinzipien-Modell zum Ausdruck, das Entstehen durch Privation, Form und Materie erklärt. Schaut man dagegen auf die in De generatione et corruptione, also Über Entstehen und Vergehen, hauptsächlich diskutierten Vorgänge des Entstehens der Elemente auseinander, dann werden diese gerade durch Paare konträrer Gegensätze erklärt, die einander verdrängen. Aristoteles sagt zudem ausdrücklich, dass etwas nur dann seine Natur verlieren kann, wenn es von einem konträren Gegensatz verdrängt wird oder aber beide Merkmale von einem konträren Gegensatz abhängen.106 Es gibt mithin bei Aristoteles zwei Modelle des Entstehens, die nicht miteinander integriert sind.107 Dem seinstheoretischen Modell zufolge handelt es sich beim Entstehen von Substanzen um ein zeitloses Umschlagen vom Nichtsein zum Sein, nach dem – nennen wir es – physikalischen Modell ist das Entstehen jeweils abhängig von elementaren Modifikationen, bei denen gewisse Qualitäten – nach Ibn Bāǧǧa Potenzen – miteinander reagieren und je nachdem einander verdrängen oder sich mischen. Dies ist ein in der Zeit verlaufender Prozess. Die beiden Modelle entspringen offenbar verschiedenen Perspektiven auf das Entstehen, die beide gerechtfertigt sind, deren Verhältnis zueinander aber unklar bleibt. Das erste Modell fasst die Form als konstitutives, dem Ganzen Sein und Einheit gebendes Prinzip, das zweite begreift das Form-Materie-Ganze als Ergebnis einer beobachtbaren Entwicklung. Die von Ibn Bāǧǧa und offenbar auch schon von Alexander vertretene Theorie ist nun der Versuch, beide Modelle miteinander zu vereinbaren und sie in ein umfassendes Modell zu integrieren, das sowohl die formale Identität des Entstandenen als auch seine Entwicklung erklären kann. Sie kann damit als Fundament der Emergenztheorie der Form betrachtet werden. Das sukzessive Aufnehmen der Form durch die Mischung, von dem Ibn Bāǧǧa spricht und von dem wir ausgegangen sind, passt in den Rahmen dieses in104Vgl. Aristoteles, Physik, V. 6, 230a7–18. 105Siehe etwa Aristoteles, Physik, V. 2, 225b10f. 106Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 7, 323b28–33. 107Diese fehlende Integration schlägt sich auch in der Behandlung der Elemente nieder, die nicht nach dem ontologischen Modell analysiert werden. So ist von ihnen mit Grund gesagt worden, dass sie keine Substanzen seien (siehe etwa Christopher Frey, Organic Unity and the Matter of Man, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 32 (2007), 167–204, hier 180f ) – siehe aber De caelo, III. 1, 298a29f – und im Vergleich mit Alexander fällt auf, dass Aristoteles nie von einer Form der Elemente spricht, siehe Cordonier, Matière, qualités, mélange, 88f.
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tegrierten Modells des Entstehens. Oder doch nicht? Die Emergenz der Form scheint schließlich immer noch »zeitlos«, »instantan« oder »auf einmal« zu erfolgen, während Ibn Bāǧǧa das Aufnehmen der Form als einen der Mischung simultanen Vorgang beschrieben hat. Wenn man jedoch seinen Vergleich mit dem Lagenwechsel fortdenkt, so zeigt sich, dass die Ortsbewegung, aus der dieser Wechsel resultiert, in Teilbewegungen zerlegbar ist, und selbstverständlich hat der sich bewegende Körper an jedem denkbaren Haltepunkt seiner Bewegung eine Lage bezüglich des Körpers, relativ zu dem er sich bewegt. Man kann dann zum Beispiel auch sagen, dass A, um eine Lage links von B einzunehmen, zuvor eine Bewegung erfahren muss, durch die er zunächst andere Lagen einnimmt, die der Ziellage näher sind als als seine Ausgangslage. Betrachtet man die »Aufnahme« der Form nach diesem Modell, dann kann sie durchaus als sukzessiv verstanden werden, ohne dass sie darum selbst schon ein Veränderungsprozess ist. Man kann dann nämlich einfach sagen, dass der Körper zum Zeitpunkt y der Vollendung näher ist als zum Zeitpunkt x; denn die Vollendung ist, wie wir soeben gesehen haben, keine Veränderung, unterliegt aber dennoch einer Gradation.
4. Die Wesensform und die Ordnung der Potenzen Wenn wir mit Ibn Bāǧǧa die Aufnahme der Seelenform durch die Mischung nach dem vorstehend erläuterten Modell begreifen und es als Benennung des Resultats dieses Vorgangs auffassen, wenn Ibn Bāǧǧa die Seele »Form in der Mischung des Beseelten« und Potenz des gemischten Körpers (N III. 48) nennt, dann sind wir auf dem besten Wege, auch die Frage zu beantworten, ob die Seele als Form vom Mischungsverhältnis, also von der »einheitlichen zusammengesetzten Potenz«, verschieden ist oder nicht. Anders gesagt, wir können bestimmen, wie sich die Wesensform zu den ihr zugeordneten beziehungsweise untergeordneten Potenzen verhält. Diese Frage betrifft, das haben die bisherigen Überlegungen gezeigt, nicht nur die Seele, denn es handelt sich nicht um eine spezifisch psychologische Theorie, sondern um den Versuch, zwei Perspektiven auf natürliche Substanzen überhaupt miteinander ins Verhältnis zu setzen. So finden wir denn die hier erläuterte Theorie bereits in einem der Texte, die wir oben bezüglich der Mischung im allgemeinen herangezogen haben. Dort hieß es, dass aus den Potenzen der Komponenten eine »zusammengesetzte mittlere Potenz« neu entsteht und weiter: »Und zwar ist das dann der Fall, wenn sie sich noch mischen [mā dāmā muḫtaliṭain] und dabei auf Grund von beiden ein anderes Seiendes und eine andere Form neu entsteht. In diesen können viele Formen neu entstehen durch [verschiedene] Arten von Zusammensetzung und [verschiedene] Arten von Eigenschaftsänderung, denen [verschiedene] Arten von Entstehen folgen« (T 48).
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Hier sind alle Momente beisammen, die wir soeben rekonstruiert haben: Die Mischung und das Hinzutreten der Form sind verschiedene aber simultane Vorgänge, wobei das Entstehen des Seienden, das durch die neue Form bestimmt ist, als »Folge« der Eigenschaftsänderung aufzufassen ist, durch die die Mischung herbeigeführt wird. Wenn aber die Vorgänge verschieden sind, dann muss auch das Resultat verschieden sein. Ibn Bāǧǧas weitere Ausführungen im Buch der Seele bestätigen dies, und sie tun das bezeichnenderweise, indem im direkten Anschluss an die Bestimmung der Seele als »Form für einen gemischten Körper« (N III. 37) wiederum die Übereinstimmung mit anderen Formen hervorgehoben wird: [N III. 38] »[1] Die Formen, welche die Gemische [mumtaziǧāt] aufnehmen, bewegen teils nichts wesentlich, sondern werden [nur] aufgenommen. Dies sind beispielsweise die Formen der Mineralien. Auch diese gehen in der Materie dem vorher, was in ihr auf Grund ihrer existiert, zum Beispiel den Zuständen, die dem Gold eigentümlich sind, insofern es Gold ist, wie Schmiedbarkeit und Feuerfestigkeit. Teils bewegt sich der Körper, in dem sie sind, durch sie mit einer ihm eigentümlichen Bewegung, etwa bei der Seele der Pflanzen. Wenn die Materie nämlich die Form des Samens aufgenommen hat, dann bewegt sie [=die Form] diesen Körper, und zugleich bewegt durch sie der Körper. [2] Hier gibt es also notwendigerweise materielle Potenzen, einige ferne wie die Potenz der Elemente, andere nahe, nämlich die Potenz des Gemischten [mumtaziǧ]. Eine Potenz existiert in diesen immer nur verbunden mit der Form, und sie ist also immer zugrundeliegend. [3] Daher hat das, was Seele besitzt, kein Entgegengesetztes [muqābil], da sie keine ihr eigentümliche Privation hat. Eine Privation jener Form existiert nur so, als würde man sagen, ›die Form der Biene [fehlt] ihr‹, und sie existiert bei ihr nur in der fernen Materie, wie wenn man sagt »im Wasser ist keine Wärme«. Was die nahe Potenz angeht, so existiert sie nicht frei von der Form, denn sie ist immer ein Substrat und trennt sich niemals ab. [4] Und ebenso, scheint es, sind die Formen der Mineralien in ihren Materien, da sie keine konträren Gegensätze haben und keine Privationen, die [ihnen] so entgegengesetzt wären, wie die Privation dem Habitus [malaka] entgegengesetzt ist. In solchen, die diesen gleichen, ist die Form der Mischung [ṣūrat al-mizāǧ] das Wesen [māhīya] dieses Körpers, wie beim Gold zum Beispiel. Das Gemischte ist nämlich Materie, und ihre Existenz ist diese Art der Dichte [tamāsuk]. Es ist einleuchtend, dass diese Dichte in naher Materie ist, sie existiert im Gemischten gleichsam als Form für die Mischung [ka-l-ṣūra li-l-mizāǧ]. Dann nimmt jene Materie diese Dichte auf, aber, da die Materie niemals getrennt von jener Form existiert, besteht ihr Kompositum [maǧmūʿ] immer als eine Sache, während die Existenz der Materie sich nur bei der Veränderung zeigt.«
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Obgleich hier zunächst ein wichtiger Unterschied zwischen der Seele und anderen Formen benannt wird, stellen doch beide Formen von Gemischen dar und werden in dieser Eigenschaft gemeinsam betrachtet. Dabei ist der Unterschied für unsere Untersuchung insofern von besonderem Interesse, als die Seele durch ihre Funktion als Beweger bestimmt wird, mithin als Form, die eine (aktive) Potenz ist, wogegen die Formen der Mineralien nur »aufgenommen« werden, ohne eine besondere Aktivität zu entfalten. Doch ist das an dieser Stelle noch nicht unser Thema, wir werden darauf in Kapitel 12 zurückkommen. Die Gemeinsamkeit, auf die hin Seelen und Mineralformen hier betrachtet werden, betrifft ihr Verhältnis zu der Mischung, deren Form sie sind, und zu den weiteren »Zuständen«, die dem von ihnen beformten Körper zukommen. Von beiden gilt, dass die Formen diesen Zuständen gegenüber – in denen wir ohne jeden Zweifel die Eigenschaften und Potenzen wiedererkennen dürfen, die wir zu Beginn dieses Kapitels betrachtet haben – Priorität besitzen: Diese Zustände sind nur auf Grund der Formen in der Materie (Abschnitt 1). Obgleich also vom Standpunkt der Entwicklung die Aufnahme der Form den Veränderungen dieser Zustände »folgt«, sind die Zustände als von der Form abhängig anzusehen. Auch dies kennzeichnet die Form als emergent, dass ihr, trotz ihres Hervorgehens aus den Komponenten des Zusammengesetzten, eine Ursächlichkeit in Bezug auf die Totalität der Eigenschaften des Ganzen zugesprochen wird. Die oben betrachtete Finalursächlichkeit, die bei belebten Substanzen und ihren organischen Teilen auftritt, steht in der direkten Verlängerung dieser Struktur, derzufolge die Vollendung stets Priorität gegenüber dem genießt, was sie vollendet. Ibn Bāǧǧa benennt nun die »Zustände« näher, indem er von »materiellen Potenzen« spricht, die alles von den Potenzen der Elemente bis zur »Potenz des Gemischten« umfassen (Abschnitt 2). Dabei verbindet er offenbar zwei Aspekte des Potenzbegriffs, denn diese sind nicht nur Potenzen in dem Sinne, dass sie aktive und passive Eigenschaften des Ganzen ausmachen, sondern auch »materielle Potenz« in dem Sinne, dass sie die Materie darstellen, welche die Form aufnimmt. Die Materie ist ja stets in Potenz das, wozu die Form es in Akt macht, und die genannten Potenzen bilden für die Form des Gemischten diese Potentialität. Ibn Bāǧǧa schiebt damit aber nicht etwa zwei heterogene Bedeutungen von »Potenz« ineinander, sondern er folgt strikt der allgemeinen Theorie der Mischung, wie er sie in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione dargelegt hat. Dort hatte sich gezeigt (T 46), dass die aktiven und passiven Potenzen der Elemente Teilaspekte der Potenz sind, »durch die [das Element] die Formen der zusammengesetzten Dinge aufnimmt«, da durch diese Potenzen die Mischung entsteht. Und weiterhin war gesagt worden, dass die Potenzen der gemischten Komponenten erhalten bleiben, und zwar die konträr entgegengesetzten Potenzen, indem sie die besagte mittlere Potenz bilden, die übrigen Potenzen unverändert (T 47). Die »materiellen Potenzen«, von denen hier die Rede ist, bilden mithin die Gesamtheit jener Potenzen, wobei die »Potenz des Gemischten« die
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nahe Materie (vgl. Abschnitt 4) ist, also das, was der Form unmittelbar zugrunde liegt. Die Formen gemischter Körper, unter ihnen die Seele, sind also in der Tat verschieden von dem Mischungsverhältnis, das sich in der zusammengesetzten Potenz ausdrückt. Auf diese letztere Potenz muss Ibn Bāǧǧa sich nun beziehen, wenn er erklärt, dass die Potenz immer nur verbunden mit der Form und als deren Subjekt auftritt (Abschnitt 2). Das bedeutet, dass die erzielte Mischung nicht ohne die von ihr aufgenommene Form existieren kann, dass sie überhaupt nur in Hinblick auf die aus ihr resultierende Form zustande kommt. Damit wird die vorhergehende Aussage bekräftigt und konkretisiert, dass die Zustände oder Potenzen auf Grund der Form in der Materie sind (Abschnitt 1), nicht etwa umgekehrt. In diesem Licht ist zu verstehen, warum Ibn Bāǧǧa von eigentümlichen Eigenschaften des Goldes als Gold spricht, aber mit Schmiedbarkeit und Feuerfestigkeit Eigenschaften nennt, die dieses tatsächlich mit vielen Metallen gemeinsam hat. Gemeint ist nämlich nicht, dass diese Eigenschaften nur als Anhänge der Form des Goldes existieren, sondern vielmehr, dass für das Gold seine spezifische Schmiedbarkeit und Feuerfestigkeit Funktionen der Mischung sind, die durch die Artform terminiert werden, weil die Mischung durch sie terminiert wird. Dies Verständnis des Verhältnisses der Form zusammengesetzter natürlicher Körper zu ihrer Materie hat Implikationen, die Ibn Bāǧǧa anschließend zunächst für beseelte (Abschnitt 3) und dann für unbeseelte Seiende (Abschnitt 4) deutlich ausspricht: Die genannte »nahe Potenz«, die diesen Formen zugrundeliegt, kann nicht ohne die Formen existieren und daher auch nicht unabhängig betrachtet werden. In gewissem Sinne ist es daher artifiziell, beide unterscheiden zu wollen; es kann sich dabei nur um eine begriffliche, nicht um eine reale Differenz handeln. Das zieht die Frage nach sich, ob das Materie-Form-Modell in Bezug auf diese natürlichen Seienden überhaupt noch sinnvoll ist, wenn der spezifischen Materie kein formunabhängiger Beitrag zur Konstitution des Ganzen zugeschrieben werden kann – eine Frage, der wir in Kapitel 10 anhand von Ibn Bāǧǧas Begriff des Organischen weiter nachgehen werden. Wir können diesen Aspekt hier daher ausklammern und uns auf das konzentrieren, was sich aus Ibn Bāǧǧas Ausführungen und Beispielen bezüglich des präzisen Verhältnisses der Form zu den anderen Zuständen oder Potenzen ableiten lässt. Wie bereits angedeutet, beruft Ibn Bāǧǧa sich auf den aristotelischen Grundsatz, nach dem die Form keinen Gegensatz hat, und zwar tut er das hier, um die soeben skizzierte Theorie zu untermauern, dass die nahe Potenz – und also die Mischung – nicht unabhängig von der Form ist. Beide Thesen hängen insofern zusammen, als man an der Mischung, wenn sie unabhängig von der von ihr aufgenommenen Form existieren könnte, einen Gegensatz zur Form in Gestalt einer entsprechenden Privation feststellen können müsste. Gerade dies aber ist nicht der Fall. Ibn Bāǧǧa sagt, die Form besitze keinen Gegensatz nach dem Muster des Gegensatzes von Habitus und Privation. Laut den aristotelischen Ka-
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tegorien ist dies ein Gegensatz, der dort vorliegt, wo etwas »von Natur aus dazu veranlagt« (πέφυκεν) ist, den jeweiligen Habitus zu besitzen.108 Ganz zu schweigen davon, dass Habitus als Qualitäten ein In-Akt-Seiendes zum Subjekt haben,109 wie es keiner Form zugesprochen werden kann – es kann von der nahen Materie der zusammengesetzten Seienden gerade nicht gesagt werden, dass in ihr eine entsprechende Privation vorliegt, einfach deshalb, weil sie erst durch die Form konstituiert wird und somit etwas, das von Natur aus dazu veranlagt wäre, diese Form zu haben, ohne sie tatsächlich zu haben, undenkbar ist. Insofern nehmen die einfachen Körper oder »Elemente« tatsächlich eine Sonderstellung ein, die Ibn Bāǧǧa auch gelegentlich hervorhebt,110 da hier die Formen einander entgegengesetzt sind, so dass mit jeder Form die Privation ihres Gegensatzes und die Potenz zu ihm verbunden ist.111 Die Seelen und bereits die Formen der Mineralien aber sind mit der Mischung gerade deshalb so eng verknüpft, weil sie in ihrer Vielfalt einerseits auf die einander entgegengesetzten Grundpotenzen der Elemente zurückgeführt werden müssen, andererseits aber nicht in ein entsprechendes System von Gegensätzen gebracht werden können, sondern durchaus inkommensurabel sind. Ibn Bāǧǧas zweifellos auf einer älteren Tradition beruhende Lösung, Mischung und Entstehen als einander wechselseitig bedingende Vorgänge aufzufassen, deren Resultat komplexe (im Gegensatz zu einfachen) Materie-Form-Komposita sind, klärt daher elegant, wie die Formen mit ihrer Materie unauflöslich verbunden sein können, ohne auf diese reduzierbar zu sein. Damit löst sich zugleich auch die Schwierigkeit, dass die Mischung, insofern sie eine Mittelstellung zwischen Eigenschaftsänderung und Entstehen einzunehmen scheint, die kategoriale Ordnung der verschiedenen Arten der Veränderung zu sprengen droht.112 Es wird erkennbar, dass die Mischung nicht eine Sonderform der Veränderung ist, sondern vielmehr die spezifische Art des Entstehens komplexer natürlicher Körper. Sie ist, was ihren Verlauf angeht, Eigenschaftsänderung, was ihr Ergebnis angeht, aber Entstehen. In diesem Punkt kommen das Entstehen der Elemente auseinander und ihre Zusammensetzung dann wieder überein, denn auch die Umwandlung der Elemente läuft über einen Typ von Eigenschaftsänderung – Verdrängung statt Mischung – und resultiert im Entstehen eines neuen Seienden. 108Aristoteles, Kategorien, 10, 12a26–29. 109Habitus sind als Untergruppe der Qualität bestimmt in: Aristoteles, Kategorien, 8, 8b26f; vgl. dazu auch oben, Kapitel 8, Abschnitt 1. 110N III. 5f. Dass die Besonderheit der Elemente an der genannten Stelle nicht mit letzter Klarheit deutlich wird, hat damit zu tun, dass Ibn Bāǧǧa unglücklicherweise als Beispiel für Formen ohne Gegensatz die Form eines Artefakts wählt. 111Zum Zusammenhang von und Unterschied zwischen Potenz und Privation vgl. auch N II. 2. 112Vgl. etwa Todd, Alexander of Aphrodisias on Stoic Physics, 234f.
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Seele als Form der Mischung
Eine weitere Konsequenz der Theorie besteht darin, dass Ibn Bāǧǧa auch für unbelebte Homoiomere, wie es die Mineralien sind, Formen benennen muss, die ihr »Wesen« (māhīya) ausmachen, und dies, obgleich er, wie gesehen, ihr Entstehen als zufällig betrachten und ihre Form von den aktiven Potenzen der Elemente einerseits und der beseelten Körper andererseits unterscheiden muss. Wenn Ibn Bāǧǧa diese Mineralform in der – man möchte hinzusetzen: »spezifischen« – Dichte (tamāsuk) findet, dann schließt er auch hier wieder an Alexander an, wie bereits in Kapitel 6 angedeutet worden ist. Auffälligerweise gebraucht Ibn Bāǧǧa zwei ähnliche aber zumindest oberflächlich inkongruente Beschreibungen dieser Mineralformen, wenn er sie einerseits als »Form der Mischung« und andererseits als »gleichsam Form für die Mischung« bezeichnet. Dies ist vermutlich Ausdruck des soeben benannten Systemzwangs, eine »Eigenschaft« der Mineralien als Form zu benennen, obgleich man bei dieser nicht dieselbe Ursächlichkeit gegenüber dem Ganzen, dem sie angehört, und gegenüber anderen Körpern feststellen kann, welche die anderen Formen auszeichnet. Gerade weil dieses Vorgehen problematisch ist, wird aus ihm deutlich, wie stark die systematische Option ist, die Ibn Bāǧǧa gewählt hat. Dasselbe galt ja von seinen uneinheitlichen Äußerungen über die »Formen« der Elemente, die zeigen, dass solche Formen trotz der dem Konzept inhärenten Schwierigkeiten systematisch notwendig sind.113 Für die Psychologie kann das folgende Ergebnis festgehalten werden: Die Seele ist als Form eines gemischten Körpers begrifflich zu unterscheiden von der durch die Mischung erzeugten mittleren Potenz, in welche die entgegengesetzten Potenzen der Komponenten eingehen; diese Potenzen sind damit nur in Potenz im Körper. In Akt präsent sind dagegen all jene Potenzen, die entweder durch die von der Seele bestimmte Mischung entstehen – das heißt, die genannte mittlere Potenz und eventuell die auf sie zurückgehenden sekundären Potenzen – oder, die von der Mischung nicht berührt werden, weil sie nicht entgegengesetzt sind. Insofern all diese Potenzen ontologisch von der das Gemisch konstituierenden Form abhängig sind, können sie einerseits als Akzidenzien der beseelten Substanz und andererseits auch als Materie der Seele betrachtet werden. In gleicher Weise waren ja schon die aktiven und passiven Potenzen der Elemente als Materie der Form der Mischung aufgefasst worden. Die Seele setzt dieses Materie-Form-Verhältnis, dem dann auch die seelischen Vermögen untereinander folgen, linear fort (N III. 20). Ein Aspekt, der in der vorstehenden Analyse übergangen worden ist, weil Ibn Bāǧǧa sich zu ihm nicht deutlich äußert, ist aber nachzutragen. Es ist gerade noch einmal wiederholt worden, dass die Form nur begrifflich von der gemischten Potenz zu unterscheiden ist. Dies mag nun für die Homoiomere des belebten Körpers wie Fleisch und Knochen in der Tat gelten. Hier hat unsere Untersu113Vgl. dazu Kapitel 8, Abschnitt 3.
Die Wesensform und die Ordnung der Potenzen
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chung ja gezeigt, dass die funktionale (formale) und die materiale Bestimmung solcher Potenzen zwei Perspektiven auf dasselbe sind. Wie steht es nun aber mit dem gesamten gegliederten, organischen Körper, der sich aus vielen Homoiomeren zusammensetzt? Die Seele ist ja die Form eines solchen Körpers und muss es sein, wie Ibn Bāǧǧa erläutert (T 53, Abschnitt 3), um vielfältige Tätigkeiten ausführen zu können. Sie kann dies aber nur, weil der Körper letztlich aus Homoiomeren besteht, die jedes eine funktional bestimmte Potenz besitzen. Von diesen Potenzen muss dann die Seele als Gesamtform jedoch nicht nur begrifflich, sondern real verschieden sein. Auf der anderen Seite soll auch für diese Gesamtform gelten, dass sie die Form einer nur durch sie konstituierten Mischung ist. Ibn Bāǧǧa hat zwar im zuletzt analysierten Text ausdrücklich nur die Seele der Pflanzen als Beispiel genannt, aber es besteht kein Anlass anzunehmen, dasselbe gelte nicht für die Seelen der Lebewesen und des Menschen; ja, wenn man die zu Beginn dieses Kapitels betrachteten Texte (T 50, T 51) hinzuzieht, so ist dies mit Sicherheit anzunehmen, da dort die Kontinuität der verschiedenen Seelenvermögen im selben – in der Mischungsqualität variierenden – Subjekt vorausgesetzt ist, nämlich im »angeborenen Pneuma«. Dieses Pneuma scheint in der Tat die gerade verdeutlichte Bedingung zu erfüllen, ein bestimmtes Gemisch zu sein, dass die unmittelbare und unabtrennbare Materie der Seele als Gesamtform bilden kann. Was aber ist dann das Verhältnis des Pneumas zum gesamten Organismus, wie wird die Seele zur Form des ganzen Körpers? Es ergeben sich mithin neue Fragen bezüglich der Seele, insofern sie Form eines organischen und eben nicht eines homoiomeren Körpers ist und die Einheit dieses Körpers leisten muss. In den folgenden zwei Kapiteln sollen diese Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven angegangen werden, wobei zuerst der Begriff des Organischen (Kapitel 10) und anschließend die Theorie des Pneumas und der Lebenswärme (Kapitel 11) einer Prüfung unterzogen werden.
10. Kapitel. Der Organismus: Ein System von Potenzen Mit Aristoteles definiert Ibn Bāǧǧa die Seele als »erste Entelechie eines organischen Körpers«, ja, es hat sich gezeigt, dass er den Begriff der Seele mit dem Organischen so eng verknüpft, dass er dieses Kriterium immer wieder heranzieht, um zwischen seelischen Vermögen oder Potenzen im engeren Sinne und weiteren »Potenzen der Seele« zu unterscheiden: Seele im eigentlichen Sinne ist nur die Potenz, die tatsächlich und unmittelbar Form eines organischen Körpers ist. Was aber ist ein Organ (āla), was ist ein »organischer« (ālī) Körper? Unmittelbar in Zusammenhang mit der Seelendefinition konnte weiter beobachtet werden, dass Ibn Bāǧǧa die Seele von der Natur unterscheidet, insofern die Natur den Körper, dessen Natur sie ist, »als Ganzes« und mit einer einzigen einfachen Bewegung bewegt, während die Seele mittels Organen verschiedene Bewegungen verursacht. Der organische Körper ist demnach immer ein aus verschiedenen Teilen zusammengesetzter Körper.1 Die Untersuchung der Ortsbewegung der Lebewesen hat weiterhin ergeben, dass die Selbstbewegung eine interne Strukturierung voraussetzt, die sowohl den Körper als auch die Seelenvermögen betrifft.2 Damit kann, was Seele ist, und gar was ein spezifisches Seelenvermögen ist, nicht unabhängig von den Organen bestimmt werden, welche die Materie dieser seelischen Formen bilden. Ibn Bāǧǧa hebt hervor, dass die Begriffe »Körper« und »Organ« äquivok sind und dass in Abhängigkeit davon auch der Begriff der Seele äquivok ist, genau bestimmbar wird sie nur, wenn der entsprechende organische Körper mit seiner Funktion – Ernährung, Wahrnehmung, Vorstellung – angegeben wird (N I. 6). Daraus entsteht jedoch ein Problem, das die neuere Aristotelesforschung schon seit einiger Zeit beschäftigt: Welchen Erklärungswert besitzt das Materie-Form-Modell, das Konzept des Hylemorphismus also, noch für die Seele, für das Lebendige, wenn der organische Körper als Materie und die Seele als Form in so enge Abhängigkeit voneinander gesetzt werden, dass was ein organischer Körper ist, nicht ohne Bezug auf die seelischen Funktionen bestimmt werden kann, während die Seele nicht ohne sehr präzisen Bezug auf einen solchen organischen Körper definiert werden kann?3 1Vgl. Kapitel 6. 2Vgl. dazu Kapitel 7, Abschnitt 4. 3Anlass der Debatte waren die kritischen Anfragen von Ackrill, Aristotle’s Definition of Psyche, und Miles F. Burnyeat, Is an Aristotelian Philosophy of Mind Still Credible, in: Martha C.
Der Organismus: Ein System von Potenzen
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Wenn der organische Körper überhaupt nur als beseelter Körper verstanden werden und gar nur als in Akt beseelter Körper vorkommen kann, also »wesentlich beseelt« ist, dann droht die Materie-Seite des Hylemorphismus einer reinen Formontologie unterworfen zu werden. Der Kristallisationspunkt dieser kritischen Analyse der aristotelischen Psychologie und der mit ihr verbundenen Ontologie der Natur ist das sogenannte Homonymieprinzip, das besagt, dass ein organischer Körper oder ein einzelnes Organ seine spezifische Bezeichnung nur im äquivoken Sinne trägt, wenn ihm die Seele oder das jeweilige Seelenvermögen fehlt.4 Auch Ibn Bāǧǧa vertritt dieses Homonymieprinzip: [N IV. 3] »Unter den Sensibilia gibt es, wie gesagt worden ist, primäre, nämlich diejenigen, die je einem Sinnesorgan eigentümlich sind, sowie gemeinsame und akzidentelle. Das primär Wahrnehmbare ist für das Sehen die Farbe, und daher perzipiert nur das Sehen sie. Daher ist auch in dem Körperteil, in dem sich die Perzeption der Farbe befindet, Sehsinn, wo er auch sei und welche Eigenschaft er auch habe; der Körper wird nämlich nur durch seinen Zweck definiert. Daher ist auch das Abbild kein Mensch, noch das, was vom Wachs aufgenommen wird, ein Messer, da sie nicht die Tätigkeiten [afʿāl] der Arten ausführen, deren Bezeichnung sie teilen. Daher wird gesagt, dass ›Auge‹ vom Auge des Lebendigen und dem Auge des Toten äquivok, nicht univok ausgesagt wird.« Dieser Text ist insofern bemerkenswert, als er zwei Aussagen miteinander vereint, die, zumindest der modernen Debatte nach zu urteilen, miteinander unvereinbar erscheinen. Dies ist einmal die »funktionalistische« These einer »Plastizität« der Körpermaterie, insofern Ibn Bāǧǧa die Identifizierung eines bestimmten Körperteils als Sehorgan allein davon abhängig macht, dass es die spezifische »Funktion« oder Tätigkeit des Sehens, nämlich die Perzeption von Farben (also eines bestimmten Typs von Eigenschaften), erfüllt. Und zwar gilt dies, »wo [der Körperteil] auch sei und welche Eigenschaft er auch habe«. Dies scheint vorauszusetzen, dass die Fähigkeit, Farben wahrzunehmen, in verschiedenen körperlichen Strukturen realisiert sein kann und dass mithin das Organ und die seelische Funktion hinreichend distinkt sind, um in aussagekräftiger Weise aufeinander bezogen werden zu können. Ibn Bāǧǧa nimmt hier auf, was Aristoteles sagt, indem er die Organe der Pflanzen und Lebewesen miteinander vergleicht:
Nussbaum, Amélie Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s De Anima, Oxford 1992, 15–26. Aus der inzwischen immens angewachsenen Literatur, die versucht, eine Antwort im Sinne des Aristoteles zu geben, seien hier nur zwei der prägnanteren Beiträge genannt: Jennifer Whiting, Living Bodies, in: Nussbaum, Oksenberg Rorty (Hg.), Essays on Aristotle’s De Anima, 75–91; Frey, Organic Unity and the Matter of Man. 4Etwa Aristoteles, De anima, II. 2, 412a17–25.
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Diese sind entsprechend ihren »Leistungen« (ἔργα) als dieselben beziehungsweise als verschieden zu bezeichnen.5 Ibn Bāǧǧa wendet das so, dass der Körper durch seinen Zweck (ġāya) definiert wird.6 Damit wird die funktionalistische These als eine teleologische These erkennbar, da sie an bestimmten materiellen Strukturen das als wesentlich begreift, was diese Strukturen für ein Belebtes leisten. Damit ergibt sich die zweite, die essentialistische These, die im Homonymieprinzip ihren Ausdruck findet und die sich somit auf denselben Grundsatz stützt: Nur der Körperteil und nur der Körper, welche (zumindest von Zeit zu Zeit) tatsächlich die entsprechenden Funktionen ausführen, können als dieser Körperteil und dieser Körper identifiziert werden. Ist damit der Widerspruch zwischen einer funktionalistischen und einer essentialistischen Analyse der Organe schon aufgehoben oder entlarvt dies nur den Funktionalismus als einen Essentialismus? Wichtig zum Verständnis von Ibn Bāǧǧas Position sind die Standpunkte dieser Debatte nur, insofern sie interne Spannungen der aristotelischen Theorie sichtbar machen, die Ibn Bāǧǧa sich angeeignet und deren Implikationen er sich damit eingehandelt hat. Was ist der präzise Begriff von Organ – wenn Ibn Bāǧǧa denn einen solchen überhaupt hat –, der die Vereinigung der beiden Perspektiven erlaubt? Können Seele und organischer Körper als komplementäre und korrelative Prinzipien einander wirkungsvoll erhellen, oder können die Frage des materiellen Aufbaus des belebten Körpers und die Frage seiner formalen Identität letztlich nur miteinander konkurrierende Antworten erhalten? Wie groß die Schwierigkeit ist, zeigt sich an Ibn Bāǧǧas konsequenter Anwendung des Homonymieprinzips, das, wenn es gilt, nicht nur für anhomoiomere Organe wie das Auge gelten kann, also solche Teile des Körpers, zu denen es außerhalb des lebendigen Organismus nichts Vergleichbares gibt, sondern auch für die diesen zugrunde liegenden homoiomeren Teile gelten muss. Damit können wir nochmals auf einen oben bereits betrachteten Text zurückkommen: [N III. 35] »Alles, was in natürlichen Körpern existiert, sei dieser ein Element oder ein Mineral, ist materiell, mit ihr [=der Materie] vereinigt, wie wir gesagt haben. Was aber die Pflanzen und Lebewesen angeht, so existieren in ihnen die materiellen Zustände, die [auch] den Elementen zukommen, und die materiellen Zustände, die von der Reifung herrühren. Durch diese Zustände werden die Homoiomere erzeugt, die in ihnen sind. Und sie haben [darüber hinaus] andere Zustände, die den Elementen nicht zukommen und die nicht von der Verkochung der Elemente herrühren, nämlich die Naturanlage [ḫilqa]. Das ist 5Aristoteles, De anima, II. 4, 416a5. 6So auch in N VIII. 10: »Da die Körperteile durch ihre Zwecke [ġāyāt] definiert werden und ihre Bereitschaft [istiʿdād] zur Erreichung dieser Zwecke sie gut eingerichtet macht […].«
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klar [erkennbar] bei vielen der Pflanzen und bei den Lebewesen noch klarer. Ihre Existenz als Homoiomere ist verschieden von ihrer Existenz als Organe.« Hier wird einerseits eine Identität der Eigenschaften oder Zustände der Elemente und Homoiomere in unbelebten und belebten Körpern behauptet und andererseits ein grundsätzlicher Unterschied gemacht. Beides kann angesichts der von Ibn Bāǧǧa aufgenommenen Theorie von der Seele als »Form der Mischung«, wie wir sie im neunten Kapitel untersucht haben, nicht überraschen. Die »materiellen Zustände«, die den Elementen und den aus ihnen durch Verkochung entstehenden Homoiomeren zukommen, werden im Körper der Pflanzen und Lebewesen (beziehungsweise als ein Teil von ihm) genauso erzeugt wie außerhalb des Lebendigen. Sie besitzen jedoch darüber hinaus eine »Naturanlage«, die nicht durch die Elemente und den Kochvorgang allein zu erklären sind, sondern die nur unter den Bedingungen der Erzeugung von beseelten Körpern auftritt: Die Homoiomere, aus denen das Lebendige besteht, sind so geartet, dass sie nur im Lebendigen und auf Grund der Mitwirkung eines seelischen Prinzips entstehen. Nun gilt es jedoch zu betrachten, was daraus für den Begriff des organischen Körpers folgt. Wenn die vorstehende zusammenfassende Beschreibung es nicht bereits getan hat, so macht spätestens der letzten Satz des zitierten Abschnitts ganz klar, dass ohne eine genauere Bestimmung des Organs und seiner Beziehung zur Seele der Sinn der Psychologie als naturphilosophischer Disziplin, wie sie Ibn Bāǧǧa in Anlehnung an Aristoteles entwirft, auf dem Spiel steht. Denn wenn das Organsein eines organischen Homoiomers verschieden sein soll von seinem Homoiomersein, dann stellt sich die Frage, ob es wirklich eine Kontinuität der belebten mit der unbelebten Natur gibt, oder ob es nicht eine bloße Äquivokation darstellt, wenn Mineralien und körpereigene Stoffe wie Blut und Fleisch beide als Homoiomere bezeichnet werden.
1. Ontologie der Organe Ein adäquates Verständnis dessen, was mit der Definition der Seele als Form des organischen Körpers gemeint ist, lässt sich deshalb kaum durch eine Untersuchung der organischen und der seelischen Struktur des Belebten allein erreichen, diese setzt vielmehr eine vorgängige Klärung des allgemeinen Begriffs des Organs voraus. In der Tat leistet Ibn Bāǧǧa eine allgemeine Bestimmung und geht damit deutlich über Aristoteles hinaus, wobei er jedoch direkt an Vorüberlegungen des Aristoteles anknüpft, die er dann zu einer regelrechten Ontologie der Organe entfaltet. Der Ort dieser Ausführungen ist Ibn Bāǧǧas Buch der Lebewesen, und er kommentiert hier den von Aristoteles angesprochenen Unterschied zwischen der Ordnung der Genese und der Ordnung des Wesens oder
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der Substanz (οὐσία): Das der Natur nach Primäre kommt in der Entstehung zuletzt. Das wird am Beispiel des Verhältnisses der Steine zum Haus erläutert. Die Steine sind wegen des Hauses da, nicht umgekehrt. Der Zeit nach muss zwar das Material, sprich die Materie, früher sein, dem Begriff nach aber genießen ὀυσία und Form Priorität.7 Aristoteles stellt diese Überlegungen an, um seine Aussage zu begründen, dass die anhomoiomeren Körperteile wie Hand und Gesicht die dritte und »letzte« Stufe der Zusammensetzung nach »Elementen« und Homoiomeren bilden.8 In diesem Rahmen behauptet er, die Anhomoiomere existierten in gleicher Weise nach den Homoiomeren, wie bereits die Homoiomere nach den Elementen, da »die Materie der Elemente notwendig um der Homoiomere willen da ist«. Wir haben Ibn Bāǧǧas Reaktion auf diesen Teil der aristotelischen Argumentation (vgl. T 41) bereits an früherer Stelle kennengelernt. Ibn Bāǧǧa akzeptiert die aristotelische Behauptung nur mit einer Präzisierung, welche die scheinbar umgreifende Teleologie der Aussage einschränkt. Es sei zu unterscheiden zwischen den einfachen Körpern, insofern sie »eines von den Seienden« und insofern sie Element für anderes sind, das heißt zwischen ihrer Betrachtung als Substanzen und ihrer Betrachtung in einem größeren kosmologischen Zusammenhang, zu dem eben auch ihre Funktion beim Aufbau belebter Körper gehört. Wir konnten dies mit einer weiteren Betrachtung Ibn Bāǧǧas in Verbindung bringen, die in Bezug auf die Potenzen der einfachen Körper ihre Untersuchung als solche von ihrer Untersuchung als »Organe« der Elemente, der Homoiomere und der Lebewesen unterschied (T 40). Dies zeigt bereits, dass Ibn Bāǧǧa der Stellung der teleologischen Struktur, die mit dem Begriff eines Organs als »etwas um zu« unmittelbar mitgegeben ist,9 besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat. An der genannten Stelle des Buchs der Lebewesen zieht er, zusätzlich zum direkten Bezugstext weitere Überlegungen aus De partibus animalium I. 5 heran, die dort zur Begründung des angemessenen Vorgehens in der Untersuchung der Teile der Lebewesen dienen. Aristoteles will nämlich zeigen, warum die Untersuchung sich an den »Tätigkeiten« (πράξεις) zu orientieren hat und danach die Körperteile einteilen kann in solche, die »in analoger Weise« allen Lebewesen zukommen, und diejenigen, die einer Gattung oder Art eigen sind.10 Er verweist deshalb darauf, dass alle Organe »um etwas willen« (ἕνεκα του) sind, nämlich wegen einer gewissen πράξις. Auch der Körper als ganzer besitzt deshalb eine »vielteilige« (πολυμερής), das heißt komplexe Tätigkeit. Dies wird unterstützt durch den selben Gedanken, welcher der zuerst besprochenen Stelle zugrunde 7Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646a24–646b2. 8Hierzu und zum Folgenden Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646a22–24 und 646b5f. 9Vgl. Jochen Althoff, organon / Werkzeug, Organ, in: Ottfried Höffe (Hg.), Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 403–405. 10Aristoteles, De partibus animalium, I. 5, 645b20–28.
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liegt, nämlich dass jeder Körperteil »um willen« einer Tätigkeit oder Leistung (ἔργον) da ist, wie auch das artifizielle Organ oder Werkzeug »um willen« einer Tätigkeit da ist, zum Beispiel die Säge zum Sägen, nicht umgekehrt. Im selben Sinne ist der gesamte Körper »um willen« der Seele und die Körperteile »um willen« der Leistungen, zu denen sie natürlich beschaffen sind (πρὸς ἃ πέφυκεν).11 In den folgenden Überlegungen werden noch Weiterungen dieser Ordnung genannt, etwa dass die Zweckrelation, die zwischen zwei Tätigkeiten besteht, dann auch zwischen den Organen vorliegt, denen diese Tätigkeiten zukommen.12 Der Reflexionsstand, den diese beiden von Ibn Bāǧǧa benutzten Passagen widerspiegeln, lässt sich so zusammenfassen: Ein Organ steht in einer Zweckrelation zur Substanz des Körpers, dem er angehört, die, vertreten durch die Form oder Seele, die Entstehung des Organs und seine Tätigkeit bestimmt. Dabei ordnet sich das Organ in eine umfassendere Zweckstruktur ein, die sich parallel in den Beziehungen der Körperteile und in den Beziehungen der »vielteiligen« von der Seele bestimmten Tätigkeiten niederschlägt.13 Ibn Bāǧǧas Überlegungen nehmen nun, wie gesagt, ihren Ausgang von der behaupteten Zweckrelation, erläutert am Beispiel des Hauses.14 Und zwar versucht Ibn Bāǧǧa, auf einen möglichen Einwand gegen die Annahme, dass Steine und Lehm für das Haus da sind, nicht das Haus damit diese existieren, zu ant-
11Aristoteles, De partibus animalium, I. 5, 645b14–20. 12Aristoteles, De partibus animalium, I. 5, 645b28–32. 13Die wesentliche Unterordnung der »Natur« im engeren Sinne unter einen übergreifenden Zweckzusammenhang in beseelten Körpern und die Verknüpfung dieses Unterordnungsverhältnisses mit der Funktion des Organs (āla) ist bereits bei al-Fārābī explizit angesprochen; vgl. al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 113, 14–20 und 115, 8–15; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 115–117 (§§ 74, 76), und siehe oben, Kapitel 6, Abschnitt 1. 14Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 87, 6–14; zwischen Zeile 12 und 13 ist mit Muḥammad Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Talḫīṣ kitāb al-ḥayawān li-Ibn Bāǧǧa al-Andalusī, in: Journal of the Indian Academy of Arabic 4, 1–2 (1979), 1–90, hier 23, 11–12 wieder einzufügen fa-inna ḏālika laisa bi-l-ḍarūra wa-lā aiḍan fī ḥadd al-ḥaǧar an yakūna minhū bait: »Was die natürlichen Dinge angeht, die innerhalb der Sphäre des Mondes sind, so sind sie alle in Potenz entstehend [kāʾina]. Es ist bereits in der Physik erklärt worden, dass die Potenz eines jeden Seienden seinem Akt der Zeit nach vorhergeht. ›Primär‹ ist hier in Bezug auf die Erzeugung gemeint, denn es existiert notwendigerweise der Zeit nach früher. Die Materie in der Erzeugung und das, was in der Erzeugung primär ist, das ist später in der Existenz. Das wird von der Definition her klar, denn die Definition stimmt mit der Existenz überein. So existieren die Ziegel und der Lehm nur des Hauses wegen, während das Haus nicht existiert, damit die Steine sind. Aber vielleicht zweifelt jemand [daran] und sagt: Die Steine und der Lehm existieren nicht dazu, dass aus ihnen ein Haus entstehe, denn das ist nicht notwendig, und es liegt auch nicht in der Definition des Steines, dass ein Haus aus ihm entsteht, sondern das ist eine Art von Zufall. Daher ist es richtiger [zu sagen], dass die Existenz des Hauses auf Grund von Steinen und Lehm zustande kommt. Foglich ist das akzidentell; und was dem Wesen nach ist, geht dem Akzidentellen voraus.« Die Rede von der »Definition« nimmt wohl Bezug auf Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646b2–4.
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worten. Dieser Einwand fußt auf derselben Unterscheidung Ibn Bāǧǧas, wie er sie bezüglich der »Elemente« getroffen hat, und besagt, dass es keineswegs zur Definition von Steinen gehört, das aus ihnen ein Haus entsteht; denn aus ihnen entsteht ja nicht notwendig ein Haus, sondern für die Steine sei das vielmehr zufällig. Man könne deshalb lediglich sagen, dass Häuser aus Steinen und Lehm bestehen, wobei das aber in Bezug auf diese Materialien akzidentell ist, »und was dem Wesen nach ist, geht dem Akzidentellen voraus«, das heißt, die wesentliche Bestimmung der Steine ist gerade ohne jeden Bezug darauf, dass man aus ihnen ein Haus bauen kann. Damit bringt Ibn Bāǧǧa hier genau jenen in der modernen Debatte so zentralen Einwand vor, nämlich dass das Artefaktmodell zur Analyse des Beseelten nicht taugt: Was vom organischen Körper und seiner Seelenform gelten soll, trifft auf die zur Erklärung herangezogenen Beispiele gerade nicht zu. Auf den eigenen Einwand antwortet Ibn Bāǧǧa nun folgendermaßen: [T 54] »[1] Wir antworten, dass es unter den Seienden solches gibt, was aufnehmend [qābila] ist, und solches, was nicht aufnehmend ist, wie zum Beispiel das Lebewesen. Das Lebewesen, insofern es Lebewesen ist, kann nämlich nicht Materie für etwas anderes sein, sondern, wenn es das ist, so ist es als Materie gegeben wie die Ziegel. Dasjenige, was aufnehmend ist, ist entweder notwendigerweise aufnehmend, und dann ist es immer Materie und gleicht der [ersten] Materie, oder es ist manchmal aufnehmend, manchmal nicht aufnehmend (und diesbezüglich zweifelte der Zweifler) wie die Elemente und das Gold in den künstlichen Körpern. [2] Dasjenige, was [überhaupt] nicht aufnehmend ist, das ist seinem Wesen nach ein Teil von den Teilen der Welt. Aber das, was manchmal aufnehmend und manchmal nicht aufnehmend ist, das ist notwendigerweise etwas Konkretes, wenn es sich auf seine ihm eigentümliche Existenz zurückzieht [yunḥāzu], und es ist dadurch ein Teil von der Welt. Wenn es aufnehmend wird, dann ist es kein Teil [der Welt] seinem Wesen nach, sondern insofern es ein Teil dessen ist, was es aufgenommen hat, und es ist nur als Materie konkret. [3] Diese Körper, die als eines der Seienden konkret sind und die als Materie konkret sind, haben zwei Typen. Entweder [sind sie] einfach wie die Elemente oder zusammengesetzt und homoiomer wie das Gold und das Kupfer. Diesen beiden kommen nämlich einander entgegengesetzte Akzidenzien zu, wenn sie Materie sind: Enteder ist es Materie, während es in Akt in dem Zustand ist, in dem es eines von den Seienden der Welt ist, und dies ist allein der Kunst eigentümlich. Oder aber sie sind insofern Materie, als sie in ihrem Zustand sind, der ihnen eigentümlich ist, insofern sie in Potenz existieren, und das haben die Kunst und die Natur gemeinsam. So sind beim Oxymel der Essig und der Honig beide in Potenz in ihm und ebenso die Erde und das Wasser im Honig. [4] Diejenigen [Dinge], die nur als Materie konkret sind, die sind der Natur eigentümlich. So ist das Fleisch des Toten in äquivoker Weise Fleisch und ebenso die Hand und alle Glieder
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des Lebewesens. Sie existieren immer nur als Materie, und daher vollenden ihre Potenzen ihre Definitionen. [5] Weil Potenzen wie diese seelisch sind, existieren [diese Dinge] immer als Teile eines Lebewesens. Daher existiert Fleisch nur im Körper eines Lebewesens und auch Knochen, nicht wie das Gold außerhalb der Kunst existiert und Wasser und Erde außerhalb der zusammengesetzten Körper. Deren Existenz besteht nämlich nicht darin, dass sie Materie sind, vielmehr kommt ihnen das akzidentell zu. Was dagegen diese [vorigen] angeht, so besteht ihre Existenz darin, dass sie Materie sind, und daher trennt sich die Form nicht ab, und sie trennen sich nicht von ihr ab, wie das [auch] bei der ersten Materie der Fall ist. [6] Wo sich daher die Materie von der Form trennt, die in ihr existiert, nimmt die Materie die Stelle der Differenzen ein. Deshalb wird der Armreif ›ein künstlicher Körper aus Gold mit einer solchen Eigenschaft‹ genannt und die Axt ›ein künstlicher Körper aus Eisen‹, und durch die Materien unterscheiden sich die Arten der Körper, während sich das Gesicht gegenüber der Hand nicht durch die Materien unterscheidet, sondern durch die Potenz und die Gestalt, denn die Materie der Teile des Gesichts kann nichts anderem als dem Gesicht zukommen. Wenn wir ›Gesicht‹ sagen, haben wir in Potenz [auch] schon seine Teile genannt, während wir, wenn wir ›Armreif‹ sagen, damit noch nicht notwendigerweise in Potenz das Gold genannt haben, denn vielleicht ist er aus Silber oder aus einer Legierung. Die Glieder des Gesichts sind dagegen in nichts anderem als dem Gesicht, und sie sind es, aus denen das Gesicht primär zusammengesetzt ist. [7] Manchmal sind in diesen [Gliedern] gemeinsame Teile, von denen einige den andern nicht gleichen; und dadurch werden die Teile der Lebewesen gemeinsam. Diese können sich aber nicht davon losmachen, Teile eines Gliedes zu sein. Was davon nahe Materie für viele verschiedene Glieder ist, das kann in vielen Definitionen vorkommen und wird der Gattung zugeordnet. Die Potenz, die diesem Glied eigen ist, ist dann die Differenz. [8] Daher wird das Natürliche durch die Potenz und die Naturanlage15 [ḫilqa] definiert, nicht durch die Materie, während das Künstliche manchmal durch die Materie definiert wird. Denn der Künstler, wenn er den Armreif definiert und sagt ›ein Ring, mit dem man sich schmückt‹ aber nicht sagt ›aus Gold oder Silber‹, gibt nicht die Spezies des Armreifs an, sondern gibt nur sein genus proximum an.«16
15Nach MS O, f. 94r »die Form« (wa-bi-l-ṣūra). 16Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 87, 5–91, 9; mit MS B, f. 133v [arab.] lies in Zeile 88, 1 wa-llaḏī statt allaḏī; 90, 11 li-ḥayawān statt al-ḥayawān; mit MS O, f. 93v lies in Zeile 88, 3 ka-l-usṭuqusāt statt bi-l-usṭuqusāt; mit MS B, f. 133v–134r [arab.] und MS O, f. 94r streiche in Zeile 90, 4 al-ǧism; 90, 6 bi-l-quwwa statt faqaṭ; 90, 7 füge kullu vor wāḥid ein; 90, 14 nach hayūlā füge ein bal ḏālika ʿāriḍan lahā wa-amma hāḏihī fa-wuǧūduhā annahā hayūlā; 90, 16 füge wa-li-ḏālika vor yuqālu ein.
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Was an diesem ausführlichen Exkurs zuerst ins Auge fällt ist, dass Ibn Bāǧǧa das beschriebene Problem durch eine ontologische Reflexion zu lösen sucht. Er teilt das Seiende in drei Klassen ein, nämlich erstens solches, das nie Materie für anderes ist, zweitens solches, das notwendig und immer Materie für anderes ist, und drittens eine mittlere Klasse, Seiendes das Materie von anderem sein kann aber nicht sein muss (Abschnitt 1). Diese Relation des Materie-Seins für Etwas fasst er, in einer Formulierung, die auch sonst in der peripatetischen Tradition begegnet, als Eigenschaft des betreffenden Seienden, »aufnehmend« (qābil) zu sein, das heißt aufnahmefähig für weitere Formen.17 Die beiden Problembereiche, die Ibn Bāǧǧa ausgemacht hat, nämlich die Elemente (T 41) und die Materialien von Artefakten, gehören in die mittlere Klasse, bei der es nun darauf ankommt zu bestimmen, unter welchen Aspekten und Bedingungen sie jeweils »aufnehmend« oder »nicht aufnehmend« sind. Gleichzeitig arbeitet Ibn Bāǧǧa in Abgrenzung dazu heraus, dass die Glieder der Lebewesen, die Organe, um die es in diesem Werk ja prinzipiell geht, in die zweite Klasse des notwendig Materiellen fallen. Der Gesichtspunkt, unter dem Ibn Bāǧǧa diese ontologische Differenzierung vornimmt, ist der der »Welt« (al-ʿālam). Aussagen über »die Welt« und insbesondere die Formel »eines der Seienden der Welt« (aḥad mauǧūdāt al-ʿālam) oder wie hier »ein Teil von den Teilen der Welt« (ǧuzʾ min aǧzāʾ al-ʿālam) begegnen in Ibn Bāǧǧas Werk an vielen Stellen.18 Eine Zusammenschau sowie ein Blick auf seine Quellen vermitteln den Eindruck, dass diese Formel eine ganze Theorie zusammenfasst. Wenn man aus einem expliziten Zitat im Kapitel über Wahrnehmung des Buchs der Seele auf seine Herkunft schließen darf, dann hat Ibn Bāǧǧa den Ausdruck aus al-Fārābīs Abhandlung Über den Intellekt entlehnt (N III. 18). al-Fārābī spricht dort davon, dass die Intelligibilia, wenn sie in Akt als solche zustande kommen, »eines der Seienden der Welt« sind, beziehungsweise »zur Gesamtheit der Seienden gezählt werden« (ʿuddidat… fī ǧumlat al-mauǧūdāt).19 Ibn Bāǧǧa greift diese Überlegung im Rahmen einer Auseinandersetzung auf, bei der es um die Frage geht, ob abstrahierte Formen, zum Beispiel die Intelligibilia, nicht »in Akt unverbunden« mit dem sind, wovon sie abstrahiert wurden, »so dass es in der Natur etwas Vergebliches [bāṭil] gäbe« (N III. 17). Mit dem Stichwort des »Vergeblichen« wird deutlich ein Grundsatz aufgerufen, der zu den grundlegenden Prinzipien der aristotelischen Naturphilosophie zählt, nämlich dass die Natur nichts »umsonst« tut.20 »Umsonst«, das bedeutet, 17Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 31, 14f; vgl. die hebräische Übersetzung in MS Berlin, Staatsbibliothek, orient. Oct. 332, f. 15, 9ff ()מקבל. 18Siehe etwa Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 150, 3–6; Ittiṣāl al-ʿaql bi-linsān, ed. Genequand, 194, 13–16; Faḫrī, 165, 12–14; Asín, 17, 4–6. 19al-Fārābī, Risāla fī l-ʿaql, ed. Bouyges, 17, 9–18, 1. 20Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, 658a9; 661b22–25; 691b4; 694a15; 695b19; De generatione animalium, 741b4.
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wie Aristoteles in der Physik erläutert, dass etwas den Zweck, für den es von seiner Natur her bestimmt ist, nicht erfüllt, wobei vorausgesetzt ist, dass es »um eines anderen willen« da ist.21 In diesem Kontext verwendet al-Fārābī die Formulierung »Teile der Welt« auch in seiner Philosophie des Aristoteles. Er schreibt Aristoteles dort die Frage zu, ohne sie aufzulösen, ob die Körper, die Pflanzen und Tieren zur Nahrung dienen, zu diesem Zweck gemacht sind und ihre »Vollendung« darin finden, oder ob sie »um ihrer selbst willen als Teile der Welt« erzeugt wurden. Darüber hinaus erwähnt er die parallele Frage, ob die Elemente »um ihrer selbst willen« oder zur Erzeugung anderer Körper da sind.22 Kriterium dafür, ein »Teil der Welt« zu sein, ist nach dieser ersten Annäherung, dass etwas um seiner selbst willen und nicht für etwas anderes existiert. Die Frage, die sich Ibn Bāǧǧa in der erwähnten Passage des Buchs der Seele stellt, lautete demnach, ob abstrahierte Formen »um ihrer selbst willen« existieren oder nicht. Der genannte Einwand, als etwas das »in Akt unverbunden« und damit doch für sich und um seiner selbst willen existiert, seien die Intelligibilia etwas Vergebliches, macht aber sofort deutlich, dass man jedenfalls für Ibn Bāǧǧa nicht bei diesem ersten Verständnis der Formel stehen bleiben kann. Die an dieser Stelle seiner Schrift nur eben angedeutete Lösung verweist zunächst auf die abstrahierten Formen der Wahrnehmung. Die wahrgenommenen Formen besitzen zweierlei Tätigkeiten [afʿāl]: Sofern sie Formen in Materie sind, haben sie selbstverständlich eigentümliche Tätigkeiten, während sie als wahrgenommene das Lebewesen zu bestimmten Handlungen bewegen (N III. 17). In beiderlei Hinsicht sind sie deshalb nicht »vergeblich«. Dabei dürfte jedoch auffallen, dass sie zwar in beiden Fällen um einer Tätigkeit willen da sind, jedoch einmal für die ihnen spezifische Tätigkeit, das andere Mal in einer Tätigkeit für ein anderes. Dies soll dann auch für die Intelligibilia nicht anders sein, wenn Ibn Bāǧǧa auch behauptet, ohne es an dieser Stelle zu erklären, dass das Intelligibile in entgegengesetzter Weise »um eines anderen willen« da ist als das Materielle. Was auch immer er dabei im Blick hat – seine Intellekttheorie wird uns darüber Auskunft geben –, deutlich ist jedenfalls, dass auch die Intelligibilia, von denen er mit al-Fārābī sagt, dass sie »eines von den Seienden der Welt« werden, doch darum nicht weniger »um eines anderen willen« da sein sollen.23
21Aristoteles, Physik, II. 6, 197b22–27. 22al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 116, 22–117, 9; und siehe zuvor schon 108, 22–109, 3; Alfarabi, Philosophy of Plato and Aristotle, übers. Mahdi, 112 und 118 (§§ 64 und 78). 23Ibn Bāǧǧa meint hier: Die Intelligibilia sind um der Dinge willen, weil sie als deren höchste Form ihr Zweck sind, während Materielles um eines anderen willen ist, indem es dies zu seinem Zweck hat. Auch Ibn Rušd nimmt die Formel auf, wenn er in seiner Theorie der intellektuellen Erkenntnis im Großen Kommentar zu De anima sagt, der materielle Intellekt sei das Subjekt per quod intellecta sunt unum entium in mundo; Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 400, 388f ).
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Die Ausrichtung auf eine Tätigkeit oder Leistung ist demnach nicht auf solches beschränkt, das im primären Sinne um eines anderen willen da ist, weil es ausschließlich zu seinem Gebrauch erzeugt wurde. Dies kommt besonders deutlich in einer weiteren Passage des Buchs der Seele zum Ausdruck, in der Ibn Bāǧǧa nicht nur das Axiom, das die Natur nichts umsonst tut, sondern noch einen weiteren aristotelischen Grundsatz mit al-Fārābīs Formel in Verbindung bringt. [N II. 16] »Wir sagen nämlich, dass jedes Seiende eine Tätigkeit hat, die ihm eigentümlich ist und um derentwillen es ist, gemäß dem, was an anderer Stelle erklärt worden ist. Und dadurch wird es ein Teil von den Teilen der Welt, denn die Natur tut nichts umsonst.« »Die Natur tut nichts umsonst«, das kann noch so verstanden werden, dass damit lediglich das gemeint ist, was als Teil eines Seienden diesem Seienden zu dienen hat, etwa wenn Aristoteles damit begründet, warum kein Lebewesen gleichzeitig Säge- und Stoßzähne hat.24 Dagegen muss die Aussage, dass jedes Seiende um seiner eigentümlichen Tätigkeit willen da ist, ganz im Gegenteil auf unabhängige Substanzen bezogen werden. So sagt Aristoteles in De caelo: »Alles, was eine Leistung [ἔργον] hat, ist um dieser Leistung willen da.« Und das gilt dann selbst für den Gott, dessen Leistung und Akt (ἐνέργεια) das ewige Leben ist.25 Die für unseren Zusammenhang wohl bedeutendste Passage begegnet aber am Ende der Meteorologie, wo Aristoteles zwei unterschiedliche Fragestellungen benennt, diejenige nach der Materie, aus der etwas besteht – und das sind »für alle Werke der Natur« die Elemente und die Homoiomere –, und die Frage nach der Substanz oder dem Wesen, das durch den »Begriff« (λόγος) bestimmt wird.26 Aristoteles meint nun, bei den Elementen und Homoiomeren sei der Begriff weniger klar, weil das Worumwillen dort nicht so deutlich erkennbar sei, denn sie stünden der Materie besonders nahe. Bei »späteren«, das heißt komplexeren Dingen und bei Organen, zeige sich das dagegen deutlich. Zum Beleg greift Aristoteles eben auf das Homonymieprinzip zurück, demzufolge ein toter Mensch und die Hand eines Toten nur im äquivoken Sinne Mensch und Hand sind.27 Der Grund dafür ist aber, dass »alles durch seine Leistung bestimmt ist, denn ein jedes ist wahrhaft dadurch, dass es in der Lage ist, seine Leistung zu vollbringen, wie ein Auge, wenn es sieht, während es, wenn es nicht [dazu] in der Lage ist, homonym ist wie der Tote oder Steinerne«; und weiter: anorganische Homoiomere (Gold), organische Homoiomere (Fleisch), anhomoiomere Organe (Zunge) 24Vgl. Aristoteles, De partibus animalium, III. 1, 661b22–25. 25Aristoteles, De caelo, II. 3, 286a8f. 26Aristoteles, Meteorologie, IV. 12, 389b23–29. 27Aristoteles, Meteorologie, IV. 12, 389b29–390a4.
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und belebte Substanzen (Pflanzen), »alles ist wegen einer Potenz, entweder zu wirken oder zu leiden«.28 Die Wesensbestimmung ist also aufs engste verknüpft mit der spezifischen Tätigkeit und zwar unabhängig davon, ob es um das Wesen eines Teils oder eines unabhängigen Ganzen geht. Ja, Aristoteles wird noch deutlicher. Man könne die »Extreme« betrachten und sehen, dass Materie nur Materie, die οὐσία dagegen »nichts anderes als λόγος« sei, dass aber alles dazwischen, abhängig davon, ob es dem einen oder anderen näher stehe, ihm »analog« sei, »da ein jedes von ihnen um etwas willen ist«.29 Das heißt dann aber, dass bei allem, was nicht reiner λόγος ist, die Wesensbestimmung nicht abgelöst werden kann von der Leistung, die es immer auch »um etwas willen« vollbringt. Oder, noch anders gefasst, nur der reine λόγος ist völlig selbstgenügsam, ist Selbstzweck.30 Dies scheint nun genauer zu treffen, was Ibn Bāǧǧa mit der Idee der Welt verbindet. So sagt er, wiederum im Buch der Seele, die Welt sei »gleichsam ein einziges, einzelnes Lebewesen, das niemals einer Sache von außerhalb bedarf«, und er begründet damit, »dass die Elemente um der Himmelskörper willen sind, denn der Himmelskörper ist in ihnen auf die Weise, wie ein Körper an einem Ort ist, und sie sind im Himmelskörper auf die Weise, wie ein Teil im Ganzen ist« (N III. 14). Hier ist also wohl eine äußere Teleologie gemeint, allerdings keine, die bloß dazu dient, eine Mittel-Zweck-Hierarchie zu errichten. Vorherrschend ist vielmehr der Gedanke der Funktionseinheit – »niemals einer Sache von außerhalb bedarf« –, die es erlaubt, die Welt in Analogie – »gleichsam« (ka-) – zu einem organischen Lebewesen zu betrachten. In dieser Funktionseinheit Welt sind die Substanzen, die ihre Teile bilden, wechselseitig aufeinander bezogen, wie am Beispiel der Elemente und der Himmelskörper deutlich wird.31 So verbindet Ibn Bāǧǧa in seinem Kommentar zur Meteorologie die Auffassung, dass »die Welt vollkommen ist« (al-ʿālam tāmm), auch damit, dass »die letzten Spezies der Seienden« (anwāʿ al-mauǧūdāt al-aḫīra) nicht relativ zu einer bestimmten Zeit, aber absolut gesehen, immer existieren und zumindest prinzipiell eindeutig angebbar sind.32
28Aristoteles, Meteorologie, IV. 12, 390a10–20. 29Aristoteles, Meteorologie, IV. 12, 390a4–7. 30Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XII. 7, 1072b1–14. 31Die Himmelssphäre als äußerste umfasst die Sphäre der Elemente und ist damit mehr als nur ihr Ort, sie begrenzt das »All«, definiert also das Ganze der Welt. Die sublunare Sphäre dagegen ist der Ort des Himmels, der ja keinen ihn umfassenden Körper mehr hat; vgl. zu dieser Theorie Ibn Bāǧǧas Lettinck, Aristotle’s Physics, 253, 306–309; ders., Some Remarks on Ibn Bājja’s Commentary on Aristotle’s Physics, in: Gerhard Endreß (Hg.), The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism, Leiden 1997, 193–200, insbesondere 196–199. 32Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 414–416: »Man könnte fragen, ob es möglich ist, dass etwas existiert, was nicht disponiert ist zu existieren. Unser Ausdruck ›was disponiert ist [mā šaʾnuhū] zu existieren‹ ist gleichbedeutend mit ›existierend‹, es gibt keinen
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»Ein Teil von den Teile der Welt« zu sein, bedeutet dann für Ibn Bāǧǧa, dass etwas in dem geordneten Ganzen der Welt seinen Platz einnimmt, und dies tut es nur dann, wenn es seine spezifische Tätigkeit versieht. Diese spezifische Tätigkeit bestimmt zwar einerseits das Wesen des Seienden als dieses Seienden, ist also »um seiner selbst willen«, sie setzt es aber immer auch in Beziehung zu den anderen »Teilen der Welt«, zum Kosmos. Folgende Kriterien dafür, Teil der Welt zu sein, lassen sich mithin angeben: Das Betreffende muss (a) in Akt sein; (b) eine Substanz; (c) seine spezifische Tätigkeit ausführen; (d) dadurch (sekundär) »um etwas anderes willen« da sein. Sehen wir nun, wie Ibn Bāǧǧa seine ontologische Differenzierung von »Aufnehmendem«, »Nichtaufnehmendem« und der Zwischenklasse zu dieser Konzeption der Welt in Beziehung setzt (T 54, Abschnitt 2). Dazu unterscheidet er, ob etwas »seinem Wesen nach« (bi-ḏātihī) Teil der Welt ist oder nur, »insofern es ein Teil dessen ist, was es aufgenommen hat«. Dasjenige, was niemals »aufnehmend« ist, also niemals Materie für anderes sein kann wie etwa ein Lebewesen (vgl. Abschnitt 1), das ist seinem Wesen nach ein Teil der Welt. Es gehört also zur Ordnung des Kosmos, in dem es als »Konkretes« (mušār ilaihī, d. i. τόδε τι), das heißt als in Akt seiendes Einzelding, eine der ewigen Spezies exemplifiziert. Dass es wesentlich ein Teil der Welt ist, bedeutet mithin, dass es zwar nicht im primären Sinne »um eines anderen willen« da ist, dass es aber doch in einer TeilGanzes-Relation steht, wenn man die Struktur der Welt insgesamt betrachtet. Diese beiden Aspekte treten nun bei Dingen, die zuweilen »aufnehmend« sind, also der Zwischenklasse angehören, gewissermaßen potenziert auf: Sie können wie die ersteren »zurückgezogen« oder isoliert auf ihre »eigentümliche Existenz« etwas Konkretes sein, oder aber sie können als Materie von etwas anderem ein Konkretes sein (vgl. Abschnitt 3). Im einen Fall sind sie auch ihrem Wesen nach ein Teil der Welt, im anderen Fall dagegen, insofern sie sich durch eine andere Form – »dessen, was es aufgenommen hat« – bestimmen lassen, sind sie nur mittelbar Teil der Welt, nämlich insofern sie einem selbständigen Konkreten
Unterschied, insofern wir nicht über die Seienden sprechen, insofern sie zu einer Zeit existieren, denn was disponiert ist zu existieren das wird zu irgendeinem Zeitpunkt existieren, wenn auch einiges keine definite Existenz in Beziehung zu einem Teil der Zeit hat. In Bezug auf die Zeit absolut gesehen besitzt es dagegen notwendigerweise Existenz. Wenn es möglich wäre, dass etwas existiert, das nicht existiert, dann wäre die Welt mangelhaft, unvollkommen. Warum sollte das [nicht] der Fall sein? Nehmen wir für jetzt aber an, dass die Welt vollkommen ist und dass es nicht möglich ist, dass etwas existiert, das nicht existiert, dann sind die Arten der Seienden endlich. Alles Endliche ist aber notwendigerweise existent, es kann nicht nichtexistent sein. Warum sollte es also keinen Weg zur Aufzählung der letzten Arten der Seienden geben? Außerdem, wenn etwas existierte, das nicht disponiert ist zu existieren, so existierte etwas Unmögliches, und das ist widersinnig, gleichgültig ob die Welt vollkommen oder mangelhaft ist.« Das ergänzte »nicht« erscheint durch den Folgesatz gefordert; die Aussage ändert sich aber auch nicht wesentlich, wenn man es fortlässt.
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als Teil angehören. Um die im vorliegenden Text gegebenen Artefaktbeispiele vorerst beiseite zu lassen, kann man wieder auf die »Elemente« verweisen, die als einfache Körper als selbständiger Teil der Welt aber auch als tatsächliche Elemente von komplexeren Körpern existieren können (vgl. T 41). Auf die dritte Seinsklasse, dasjenige was immer »aufnehmend« und Materie ist, wendet Ibn Bāǧǧa die Rede von den »Teilen der Welt« nicht explizit an, ihre Zuordnung wird dennoch aus den folgenden Überlegungen sehr deutlich. Ibn Bāǧǧa bemüht sich zunächst, die Aporie, die Ausgangspunkt seines Exkurses war, aufzulösen (Abschnitt 3). Er tut dies, indem er innerhalb der Zwischenklasse natürliche und künstliche Körper einander gegenüberstellt: Was Teil eines künstlichen Körpers wird, kann dies entweder tun, indem es (a) in Akt in dem Zustand bleibt, »in dem es eines von den Seienden der Welt ist«, also zum Beispiel, indem es als natürliche Substanz »Gold« die Form eines Armreifs aufnimmt (vgl. Abschnitt 6, 8). Es hört dadurch ja nicht auf Gold zu sein. Oder aber es kann Teil eines künstlichen Körpers werden, indem es (b) in diesem nur noch in Potenz existiert, zum Beispiel wie der Honig in der künstlichen Mischung Oxymel. Nur der zweite Fall lässt sich nun auch auf die Natur anwenden, der erste ist der Kunst eigentümlich. Damit ist im Grunde bereits gezeigt, wie weit Aristoteles’ Beispiel von Haus und Steinen trägt. Insofern Steine außerhalb von Häusern vorkommen und insofern sie auch, wenn sie Teile eines Hauses werden, nicht aufhören in Akt Steine zu sein, ist der Einwand völlig berechtigt: Die Steine sind nicht um des Hauses willen da. Ibn Bāǧǧa bedient sich nun aber des herausgearbeiteten Gegensatzes zur Natur, um genauer zu analysieren, was Aristoteles mit diesem zu grob ausgefallenen Beispiel ursprünglich zeigen wollte. Dabei wird erstens anhand des Beispiels der »Elemente« klar, welches im Bereich der Natur die größte Ähnlichkeit zu den Artefakten aufweist, dass selbst das, was sowohl als Teil als auch als selbständiges Seiendes existieren kann, dies doch nicht in gleicher Weise tut. Als Seiendes ist es in Akt, als Teil und Materie ist es in Potenz. Dem tritt nun zweitens ein ausschließlich in der Natur vorkommender Fall an die Seite, nämlich dasjenige, was »nur als Materie konkret« ist (Abschnitt 4) oder, wie es zuvor hieß, »notwendigerweise aufnehmend«. Beispiele dafür sind die homoiomeren (Fleisch) und anhomoiomeren (Hand, Gesicht) Teile der Lebewesen, also die Organe. Von ihnen muss unter Anwendung der vorausgegangenen Beobachtungen zur Zwischenklasse gesagt werden, dass sie nie ihrem Wesen nach ein Teil der Welt sind, sondern nur insofern sie ein Teil dessen sind, was sie aufgenommen haben (vgl. Abschnitt 2). Sie sind, was sie sind, nur als Teil eines Ganzen, und zwar nur insofern dieses Ganze seine spezifische Tätigkeit ausführt, denn wenn diese das Ganze wesentlich bestimmende Tätigkeit wegfällt, hört mit dem Ganzen auch der Teil auf, als solcher zu existieren. Ibn Bāǧǧa zitiert deshalb das Homonymieprinzip und sagt, dass das Fleisch eines Toten nur in äquivokem Sinne Fleisch ist.
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Ibn Bāǧǧa vertritt daher hier offensiv, was die moderne Aristotelesauslegung als Problem zu betrachten sich angewöhnt hat: Die Organe sind wesentlich beseelt. Fleisch, Knochen, Hand und Gesicht kommen immer nur als Teile eines Lebewesens vor und gleichen damit der ersten Materie, die niemals abgelöst von den einfachsten Formen vorkommen kann (Abschnitt 5). Was für Artefakte gilt, nämlich dass deren Materie sich unabhängig bestimmen lässt, dass sie sich von der artifiziellen Form abtrennt, gilt deshalb für die Organe als Materie des Beseelten gerade nicht. Im Buch der Seele macht Ibn Bāǧǧa, wie wir in Kapitel 5 gesehen haben, gleich zu Anfang deutlich, dass künstliche Formen nur Eigenschaften von natürlichen Körpern, aber keine Formen im strengen Sinne sind (N I. 2). Demgemäß geht die Materie, wie Ibn Bāǧǧa hier ausführt, auf Seiten der Differenz, also des bestimmenden Moments, in die Definition der Artefakte ein (Abschnitt 6, 8). Demgegenüber tritt bei natürlichen Körpern die Materie nur auf Seiten der Gattung in der Definition auf. Das wird besonders deutlich, wenn Teile, die mehreren Körpergliedern gemeinsam sind – also etwa Fleisch und Knochen – betrachtet werden, sie treten dann auf Seiten der Gattung in den Definitionen dieser verschiedenen Glieder auf und werden differenziert und bestimmt durch die (seelische) Potenz, »die diesem Glied eigen ist« (Abschnitt 7). Damit ist es unvermeidbar geworden, sich der Rolle des in der Rekonstruktion des Textes bisher ausgesparten Potenzbegriffs zuzuwenden. Fassen wir dazu jedoch zunächst zusammen, was wir bereits über die Ontologie der Organe in Erfahrung gebracht haben: Die Körperglieder kommen, da sie niemals unabhängig von dem Lebewesen existieren, dessen Teile sie sind, immer nur als Materie vor. Für anderes, das heißt als Teil von etwas, existierend, sind sie nicht ihrem Wesen nach, sondern nur mittelbar – nur als Teil, als Materie eines anderen – Teil der Welt. Von den oben gesammelten Kriterien trifft nur (d) im strengen Sinne auf die Organe zu. Ihre primäre Bestimmung besteht in dem, was den Teilen der Welt nur sekundär zukommt: Sie sind »um eines anderen willen«. Da sie eine selbständige Existenz nicht besitzen können, erhalten sie ihre höchste ontologische Dignität nur dadurch, dass sie ein funktionierender Teil des Ganzen, ein Organ des Lebewesens sind.
2. »Die Organe folgen den Potenzen« Was aber heißt es, ein funktionierender Teil des Lebewesens zu sein? Aristoteles hatte in den Texten, an die Ibn Bāǧǧas hiesige Überlegungen anknüpfen, wie gesehen auf die Leistung (ἔργον) und auf die Tätigkeit (πράξις) verwiesen, um derentwillen das Organ da ist. Ibn Bāǧǧas Antwort dagegen erinnert mehr an die Formulierung der Meteorologie, alles sei »wegen einer Potenz, entweder zu wirken oder zu leiden«, denn er weist als bestimmende Momente der Organe
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die seelischen Potenzen aus (T 54, Abschnitt 5). Das Organ wird definiert, indem man als spezifische Differenz die Potenz nennt, deren Materie es ist (Abschnitt 4). Organe, die sich untereinander in Bezug auf die Materie nicht unterscheiden, zum Beispiel Gesicht und Hand, werden durch ihre Gestalt (šakl), also die äußere Anordnung der verschiedenen Homoiomere Fleisch und Knochen, vor allem aber durch ihre Potenzen unterschieden (Abschnitt 6–7). »Daher wird das Natürliche durch die Potenz und die Naturanlage definiert« (Abschnitt 8). Wie dieser Zusammenhang von Organ und Potenz genauer zu verstehen ist, aber auch welche Fragen er aufwirft, wird sich am deutlichsten zeigen, wenn wir die explizit und implizit im vorliegenden Text enthaltenen Aussagen über die Organe in ein geordnetes Schema bringen. I. Organe existieren nur im Körper eines Lebewesens, das heißt als Teil eines Ganzen (Abschnitt 5). Dasselbe gilt für die Teile eines Organs (Abschnitt 7). i. Die Organe existieren deshalb immer nur als Materie (Abschnitt 4); sie sind im Ganzen des Körpers nicht in Akt, sondern nur in Potenz (Abschnitt 2). ii. Die Organe sind von ihrer Form, das heißt, der seelischen Potenz, unabtrennbar; ihre »Existenz« besteht darin, dass sie Materie sind und sie »gleichen« darin der ersten Materie (Abschnitt 5, 1). II. Die seelischen Potenzen, deren Materie die Organe sind, »vollenden« ihre Definitionen (Abschnitt 4). III. Die Organe werden untereinander durch ihre Potenzen differenziert (Abschnitt 6–8). IV. Der Begriff des Organs enthält notwendigerweise in Potenz bereits die Teile, aus denen das Organ zusammengesetzt ist, es hat also eine spezifische Materie (Abschnitt 6). Dies gilt a fortiori für den organischen Körper als ganzen. Die vorangegangene Analyse hatte ergeben, dass Ibn Bāǧǧa die Organe als ontologisch abhängige Seiende begreift. In den hier rekonstruierten und schematisch zusammengestellten Aussagen sind aber bereits zwei Abhängigkeitsverhältnisse angesprochen: Auf der einen Seite stehen Organe in einer Teil-Ganzes-Relation zum Körper des Lebewesens, sind also in ihrer Existenz von diesem Ganzen abhängig (I). Auf der anderen Seite verhalten sich die Organe wie Materie zu seelischen Potenzen, so dass jedem Organ eine Potenz entspricht, die es erst zu diesem Organ macht und es damit auch von allen anderen Organen unterscheidet (ii, II, III). Die Organe sind also in zweifacher Weise auf die Seele bezogen, nämlich einmal insofern sie nur als Teil eines beseelten Körpers bestehen und zum zweiten insofern sie durch eine ihnen je eigentümliche seelische Potenz bestimmt werden. Damit ergibt sich jedoch eine Spannung zwischen der Existenz des Organs und seiner Differenzierung, zwischen seiner Bestimmung als Teil und der Bestimmung des Teils. Einerseits heißt es von den Organen, sie seien nur in Potenz
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(i), andererseits sollen sie einer eigenen Definition fähig sein und jeweils eine Potenz haben (III). Wie das zusammengehen kann, dafür geben die obigen Punkte jedoch auch mehrere Anhaltspunkte. So können zwar die Organe nur als Materie eines beseelten Körpers existieren und sind deshalb lediglich in Potenz, sie sind aber darum dennoch der ersten Materie nur ähnlich (ii) und keineswegs wie diese völlig unbestimmt. Dies drückt sich auch darin aus, dass anhomoiomere Organe auf anderer Ebene die Teil-Ganzes-Relation wiederholen und selbst als Ganze betrachtet werden können (IV). Zudem wird gesagt, dass die Potenzen die Definitionen der Organe »vollenden«, was im Umkehrschluss bedeutet, dass sie diese nicht vollständig bestimmen (II). Indem nämlich Körper und Organ eine spezifische Materie haben (IV), muss auch diese Materie in die Definition eingehen, und die seelischen Potenzen als Formen sind ebensowenig von den Organen ablösbar wie diese von ihnen (vgl. Abschnitt 5). Damit ist gezeigt, wie die Organe als Teil zugleich bestimmt und unbestimmt sein können, sie besitzen nämlich Potenzen, die sie einerseits bestimmen, andererseits aber zum Teil eines Ganzen machen: Es ist in ihrer Abhängigkeit von der jeweiligen seelischen Potenz begründet, dass die Organe vom Ganzen des beseelten Körpers abhängig sind. Wie zuvor in der Mischung die Potenzen der Elemente weder völlig vernichtet wurden, noch in Akt anwesend waren, sondern vielmehr durch Hervorbringung einer zusammengesetzten Potenz »aufgehoben« wurden, so gilt dies auch hier für die Potenzen der Organe, mit dem Unterschied, dass die Einzelpotenzen gar nicht unabhängig vom Ganzen auftreten können. Damit hat sich an dieser Stelle die Frage nach Einheit und Differenzierung des organischen Körpers auf die Frage nach der Einheit und Differenzierung der seelischen Potenzen verlagert und ebenso die Frage nach der Bestimmtheit und Unbestimmtheit beziehungsweise dem In-Akt- und In-Potenz-Sein. Während die erste Frage im gegenwärtigen Zusammenhang noch nicht beantwortet werden kann, sodass sich hier nur erst weitere Beobachtungen zur Struktur dieser gleichzeitig seelischen und körperlichen Potenzen sammeln lassen, soll auf die zweite Frage eine Antwort versucht werden. Dazu muss man sich zunächst die genannte wechselseitige Abhängigkeit der Organe und Potenzen noch etwas genauer ansehen. Im Rückbezug auf den hier untersuchten Textausschnitt T 54 kann Ibn Bāǧǧa an späterer Stelle im Buch der Lebewesen, wo es um das Verhältnis der Organe zueinander und insbesondere um den Nachweis des Herzens als erstem Organ geht, Folgendes feststellen: »Jeder Teil eines Lebewesens ist ein Organ, wie zuvor dargelegt wurde, und die Organe folgen (tābiʿ) den Potenzen; folglich dient das früheste der Organe der frühesten der Potenzen der Seele.«33 Ibn Bāǧǧa übernimmt damit eine Schlussfolgerung, die Aristoteles, wie wir gesehen haben, als Zweckbeziehung zwischen 33Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 100, 14f.
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Organ und Tätigkeit formuliert. Das Organ »folgt«, das heißt ist abhängig von seiner Potenz, es ist die seelische Potenz, die es und seinen Platz im Lebewesen bestimmt. Die umgekehrte Perspektive ist in einem weiteren Ausschnitt aus dem Buch der Lebewesen formuliert, den wir bereits in anderem Kontext untersucht haben (T 37): »In die Definitionen einiger Vollendungen werden die Materien aufgenommen, zum Beispiel werden die Beine in die Definition des Gehens aufgenommen und die Flügel in die Definition des Fliegens. Daher folgt notwendig, dass die aktiven Potenzen zu diesen nur zusammen mit den Organen existieren, denn wenn sie ohne sie existierten, wären sie Potenz. Bei jeder Potenz ist es nicht unmöglich, dass sie Akt ist. Aber wenn es Akt wäre, dann existierte das Gehen ohne Beine und das Fliegen ohne Flügel, und das ist abwegig. ›Potenz‹ wird nämlich nur das genannt, was bereit zu einer bestimmten Tätigkeit [oder: Akt (fiʿl)] ist.« Hier ist ausführlicher die Einsicht zum Ausdruck gebracht, dass die Potenzen nur als Potenzen der Organe existieren können, und zwar als Potenzen spezifischer Organe. Jedes Organ kann jeweils nur eine bestimmte und nicht eine beliebige Tätigkeit ausführen, wie Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele eindrücklich klar macht (N III. 24): »Ebenso gehört es zu den anerkannten Tatsachen, dass irgendeine Art nichts von der Sinneswahrnehmung mittels eines beliebigen Organs wahrnimmt, denn das Lebewesen sieht nicht mit seinem Mund und schmeckt nicht mit seinen Augen.« Die erwähnte Plastizität der Körpermaterie hält sich daher in engen Grenzen, die von der Variationsbreite der verschiedenen natürlichen Arten vollständig ausgereizt wird. Denn wenn die Organe den seelischen Potenzen »folgen«, dann lassen sich von der Komplexität des Psychischen her eindeutige Kriterien dafür aufstellen, wie ein vollkommenes Organ beschaffen sein muss (N VIII. 10): »Da die Körperteile durch ihre Zwecke definiert werden, und ihre Bereitschaft [istiʿdād] zur Erreichung dieser Zwecke sie gut eingerichtet macht, hat der Mensch sie alle oder das, was besser ist als sie.« Diese Orientierung am Menschen leitet sich aus Überlegungen her, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Lebewesen folgendermaßen entwickelt: [T 55] »Der Mensch ist das vollkommenste Lebewesen, weil er alle Teile der Seele hat. Da nun die Teile des Körpers nur seelische Organe sind […], so muss notwendig, je mehr Teile die Seele hat, dort auch die Zahl der Arten von Organen größer sein. Wenn die Teile der Seele vollkommen sind, so ist auch die Zahl der Arten von Teilen insgesamt vollkommen. […] Im Menschen müssen die Anzahlen dieser [Teile] gesucht werden, im Menschen müssen sie existieren und zu ihm müssen sie in Analogie gesetzt werden. Welcher Teil auch immer sich bei einem anderen findet, der univok mit einem Teil des Menschen ist, so wird er primär benannt, und welcher Teil auch immer sich bei einem anderen findet, der nicht univok ist, so wird er nach der Entsprechung [mulāʾama] zum menschlichen Teil benannt. Daher sagt man, dass die
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Gräten den Knochen entsprechen, und nicht, dass die Knochen den Gräten entsprechen, denn das Mangelhaftere wird auf das Bessere bezogen.«34 Die Abhängigkeit der Potenzen von den Organen, die darin besteht, dass man ohne Beine nicht laufen und ohne Flügel nicht fliegen kann, ist damit nahezu ebenso vollständig wie die Abhängigkeit der Organe von den Potenzen. Denn eine Gräte kann zwar die entsprechende Funktion erfüllen wie ein Knochen, aber doch nur für einen Fisch, dessen Potenz zur Bewegung zwar ebenfalls der menschlichen Potenz zur Bewegung entspricht, sich von dieser aber der Vollkommenheit nach unterscheidet. Die Plastizität beschränkt sich mithin auf die Analogien zwischen den ewigen Arten als »Teilen der Welt«. Doch dies ist nur ein Nebenschauplatz. Bedeutsamer ist, dass Ibn Bāǧǧa in dem Text, von dem wir ausgegangen sind (T 37), die Abhängigkeit der Potenzen von den Organen ableitet aus der Feststellung, dass die Organe in den Definitionen der Tätigkeiten auftauchen. Wir befinden uns folglich, wenn wir die vorangegangene Untersuchung einbeziehen, vor dem folgenden intrikaten Verhältnis: Die Organe treten in der Definition der Tätigkeiten auf, die Potenzen dagegen in der Definition der Organe. Warum mutet uns Ibn Bāǧǧa diese Verschachtelung zu und begnügt sich nicht damit, wie Aristoteles direkt Organe und Tätigkeiten in Beziehung zu setzen? Der zitierte Text hält die Antwort bereit, wenn er darauf hinweist, dass hier von der Potenz als etwas die Rede sein muss, was zwar »bereit« (mustaʿidd) zu einer Tätigkeit aber nicht selbst schon Tätigkeit oder Akt ist. Existierten die Tätigkeiten in denen sich das Lebendige vollendet, also etwa seine Ortsbewegung in Form von Gehen oder Fliegen, an sich schon als Akt, dann bedürften sie gar keines Organs, nämlich keiner Materie mehr. Das aber ist absurd, weil damit die Phänomene des Lebendigen, die wir erklären wollen, gerade aufgehoben wären. Nur wenn die Organe seelische Potenzen zur Form haben, die weder vollständig in Akt noch vollständig in Potenz sind, können die Organe mittelbar »eines der Seienden der Welt sein«. Denn nur dann eröffnet sich ein Spielraum für Seiende, die nur als Materie existieren, ohne doch die vollständige Unbestimmtheit der ersten Materie zu besitzen, und die folglich auch weder vollständig in Potenz noch vollständig in Akt sind.
3. Die ekstatische Ontologie der Seele Dieser Parallele können wir uns auch aus der anderen Richtung, von den seelischen Potenzen her, nähern. In seiner Nachschrift zum Abschiedsbrief versucht Ibn Bāǧǧa einen Überblick über die seelischen Potenzen zu geben und sagt in 34Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 189, 2–17.
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diesem Zusammenhang über den Gemeinsinn, also das niederste Erkenntnisvermögen, Folgendes: [T 56] »Im Sperma des Lebewesens ist eine göttliche Substanz, nämlich Intellekt, und dasjenige, was er bewirkt, ist die Spezies der menschlichen Potenzen, welche erste Vollendungen sind, aber nicht die letzten Vollendungen. Daher bedarf das Lebewesen in Bezug auf die letzten Vollendungen eines anderen Wirkenden, wie des Wahrnehmens und Vorstellens – und diese beiden existieren nur durch die Existenz des sinnlich Wahrnehmbaren. Wenn das sinnlich Wahrnehmbare in Akt sinnlich wahrgenommen ist, dann existieren die Vermögen in Akt als Wahrnehmung. Das Sperma gibt daher der Materie nur die Potenz des Gemeinsinns – bei dem [Lebewesen], das diesen besitzt –, aber er ist an sich nichts real Seiendes [saiʾ mauǧūd]. Wenn er [aber] wahrnimmt, dann wird er etwas Konkretes, eines von den Seienden der Welt. Und wenn er derart ist, dass in ihm Eindrücke dessen, was er wahrgenommen hat, zurückbleiben nach dem Verschwinden des Wahrgenommenen, dann wird er in Akt etwas Konkretes und wird eines von den Seienden der Welt.«35 Die uns nun bereits wohlbekannte Formel von den »Seienden der Welt« ist hier nicht auf die Organe, sondern auf die »menschlichen Potenzen« angewandt. Diesen seelischen Potenzen ist es eigentümlich, dass sie bei der Erzeugung des Lebewesens nur als »erste Vollendungen«, sprich als »erste Entelechien« entstehen, und sie sind als solche noch »nichts real Seiendes«, eben kein »Seiendes der Welt«. Das werden sie erst, wenn sie durch eine entsprechende Tätigkeit – in diesem Falle das Wahrnehmen – den Status letzter Vollendungen erreichen. Das ist ganz in Übereinstimmung mit unserer vorstehenden Analyse von Ibn Bāǧǧas Formel, die gezeigt hat, dass das Seiende erst durch seine eigentümliche Tätigkeit ein »Teil der Welt« wird (N II. 16). Ibn Bāǧǧa unterscheidet dabei hier noch einmal zwei Stufen, die man als einzelnen Akt (Wahrnehmen) und als Habitus (zurückbleibende Eindrücke) identifizieren kann. Die seelische Potenz ist mithin kein hinreichendes Prinzip seelischer Tätigkeit, sondern sie bedarf zu dieser ihr eigentümlichen Tätigkeit immer noch eines anderen »Wirkenden«, in diesem Fall des Wahrnehmungsgegenstandes. Und sie kann nur durch diese nicht in ihrer alleinigen Macht stehende Tätigkeit überhaupt als diese seelische Potenz existieren. Das wird besonders auch am Nährvermögen deutlich, von dem Ibn Bāǧǧa in der Nachschrift sagt, es sei immer in letzter Vollendung gegeben.36 Dies ist nämlich nur deshalb so, weil das Lebendige aufhören würde zu existieren, sobald die aktive Potenz seines Nährvermögens aufhörte, auf Nahrung einzuwirken und sie sich anzuverwandeln. Auch hier ist 35Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 149, 20–150, 6. 36Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 149, 8.
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also die Tätigkeit, die von der seelischen Potenz ausgeht, vom Gegenstand abhängig, auch wenn der Potenz dabei eine »aktivere« Rolle zufällt. Man braucht dies nur mit einem der von Ibn Bāǧǧa genannten Beispiele für aktive Potenzen der unbelebten Natur zu vergleichen, um zu sehen, dass damit in der Tat etwas spezifisch Seelisches benannt ist. Denn Feuer, für das es nichts zu verbrennen gibt, und Eis, für das es nichts zu kühlen gibt (N II. 7), hören doch darum noch nicht auf, Feuer und Eis zu sein, während das Lebewesen, dessen Potenz Nahrung zu erzeugen aussetzt, aufhört als Lebewesen zu bestehen. Das bedeutet nun, dass die seelische Potenz durch ihren eigenen Akt gewissermaßen überstiegen wird. Der Akt der Seele reicht über die Seele hinaus, weil er vom Hinzutreten des Objekts abhängt. Jedoch nicht erst der Akt hängt vom Gegenstand ab, sondern indem die Existenz der seelischen Potenz vom Akt abhängt, hängt auch sie vom Gegenstand ab, ist immer bereits auf Gegenstände bezogen. Das Lebendige zeichnet sich mithin dadurch aus, wesentlich immer schon bei anderem zu sein, auf das es sich als Nahrung, als Erkenntnisobjekt und so fort bezieht. Insofern Ibn Bāǧǧa diese Beziehung als wesentliches Moment benennt und sie, was die Erkenntnis angeht, in einer Analyse der »Intention« genau untersucht, kann man hier von einer »ekstatischen Ontologie« der Seele sprechen: Die Seele realisiert ihr Sein außer sich. Damit ergibt sich aber eine exakte Parallele zwischen der seelischen Potenz und den Organen, dem organischen Körper. Das Organ hat sich uns als etwas gezeigt, das seinen Zweck und sein Sein wesentlich außer sich hat, da es nur als Materie der Seelenform existiert und zur Ausführung seelischer Tätigkeiten dient. Wie das Organ so wird aber auch die seelische Potenz, die erste Entelechie ist, nur durch einen sie vollendenden und sie übersteigenden Akt realisiert, so dass sie ihr Sein wesentlich außer sich hat. Ibn Bāǧǧa gibt im Buch der Seele folgende Definition der ersten Entelechie: »Die erste Entelechie ist ganz allgemein das, wodurch der Körper bereit ist zur Aufnahme irgendeiner Sache, ohne dass er sich dem Wesen nach veränderte« (N IV. 1). Er verändert nicht sein Wesen, er erreicht sein Wesen. Dies ist die Eigenart des Beseelten. Damit wird verständlich, warum das Beseelte notwendig einen organisch strukturierten Körper besitzt, wird deutlich, dass die beiden Bestandteile der allgemeinen Seelendefinition »erste Entelechie« und »organischer Körper« zwei Seiten derselben Realität benennen:37 Nur ein organischer Körper kann den Übergang 37Diese Bedeutungsgleichheit behauptet auch Themistios: Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 42, 27–37; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 51, 11–52, 4. Bei Aristoteles wird das insofern deutlich, als er das Merkmal der Organizität als Schlussfolgerung aus der vorhergehenden Bestimmung der Seele als erste Entelechie einführt (Aristoteles, De anima, I. 1, 412a27–412b1): »Daher ist Seele die erste Entelechie eines natürlichen Körpers, der in Möglichkeit Leben hat; ein solcher ist aber der organische.« Die Präzision »erste Entelechie« ist das Einzige, was in der zweiten Definition gegenüber der ersten in 412a19–21 neu hinzugekommen ist, und somit das Einzige, was das Merkmal des Orga-
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von der Potenz (dem Organsein) zur seelischen Tätigkeit als materielles Substrat mitmachen, ohne durch diesen Übergang so weit »außer sich« zu geraten, dass es sich wesentlich verändert, denn seine Tätigkeit ist immer wesentlich außer ihm.
4. Die Seele ist keine »ununterschiedene Gesamtheit« Auf die andere Frage, die sich aus der Ontologie der Organe ergeben hat, nämlich die Frage, wie die seelischen Potenzen die Differenzierung und gleichzeitig die Einheit des organischen Körpers leisten, lässt sich an dieser Stelle nicht mit gleichem Ertrag antworten. Dies ist deshalb der Fall, weil für Ibn Bāǧǧa die Organizität gerade erklären soll, wie die Seele viele verschiedene Tätigkeiten ausführen kann (N I. 5–6). Dies kam bereits deutlich zum Vorschein, wo Ibn Bāǧǧa die Seele als ursächliches Prinzip für die Erzeugung spezifisch organischer Homoiomere eingeführt hat.38 Betrachten wir die für die gegenwärtige Fragestellung zentrale Textpassage aus dem Buch der Lebewesen: [T 57] »Dies liegt nicht im Vermögen der Natur, denn die Natur kommt immer nur einer einzigen Sache zu und ist immer nur auf eine einzige Sache ausgerichtet, daher bedarf es dabei der Seele, sie ist es nämlich, die viele Tätigkeiten vollbringt, obgleich sie eine ist, und das ist ihr möglich durch [ihre] vielen Organe. Also ist die Seele notwendigerweise die Form eines organischen Körpers, und jeder organische Körper ist notwendigerweise aus Teilen zusammengesetzt.«39 Die Seele ist zwar eine, muss aber viele Organe besitzen und aus vielen Teilen zusammengesetzt sein, weil natürliche Dinge immer nur eine Tätigkeit ausführen können. Dies kann nur so verstanden werden, dass der organische Körper aus vielen einzelnen natürlichen Dingen zusammengesetzt ist, die jedes für sich nur je eine Tätigkeit besitzen und erst in der Verbindung die vielen Tätigkeiten der Seele ausführen können. Was dies nun in Bezug auf die Tätigkeiten des fertigen Lebewesens konkret meint, kann eine Überlegung zeigen, die Ibn Bāǧǧa aus Aristoteles’ De partibus animalium fast unverändert übernimmt:40
nischen begründen kann. Das »Leben« kann es nicht sein, denn dies ist gleichbedeutend mit dem Beseeltsein; vgl. Aristotle, De Anima, ed. Hicks, 307. 38Vgl. Kapitel 9, Abschnitt 2. 39Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 182, 5–8 40Vgl. zum Folgenden Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 646b14–27.
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[T 58] »Man nimmt manchmal an, dass die Beweger der Lebewesen sich allesamt bewegen und alle Potenzen sind. Diese Potenzen sind nicht einfach, denn das Leichte ist zum Beispiel nur zur Ausdehnung geeignet und zum Strecken und Biegen und Zusammenziehen. Für das Festhalten sodann – und das ist die Tätigkeit der Hand – folgt notwendig, dass dieses Organ nicht aus einem natürlichen Körper besteht, denn wenn das so wäre, hätte es nur eine einzige Bewegung. Da nun jedes Organ von den Teilen des Lebewesens aus natürlichen Körpern zusammengesetzt ist, so ist es notwendigerweise aus Körpern, welche solche Potenzen besitzen, wie sie für diese Tätigkeit angemessen sind. Es gibt in ihm von den homoiomeren Gliedern das, in dessen Potenz diese [Tätigkeiten] liegen, und zwar darunter etwas, das weich ist, denn der weiche Körper biegt sich und dehnt sich aus, und etwas, das hart ist, denn das Harte hält fest und stößt. Diese beiden Potenzen können nicht in einem einzigen homoiomeren Körper und in einem einzigen Teil sein. Aber in zwei Teilen ist das möglich.«41 [T 59] »Diese Potenzen [der Hand] sind aus diesen Potenzen [der einfachen Körper] der Ordnung gemäß zusammengesetzt, und durch die Ordnung und Regelmäßigkeit wird aus Vielem eins, nämlich die Form der Hand. Die Hand ist notwendigerweise aus [Potenzen] wie diesen zusammengesetzt, und die Existenz von [Potenzen] wie diesen in den [entsprechenden] Materien dient dazu, damit die Hand Hand in Vollkommenheit ist; und sie ist um des Besseren [al-afḍal] willen.«42 Die Hand ist ein anschauliches Beispiel für die Weise, wie sich der organische Körper aus einfachen Körpern mit je einer Potenz zusammensetzt, denn sie kann sich ausdehnen, biegen und zusammenziehen, aber auch festhalten und stoßen, also ganz verschiedene Tätigkeiten ausführen. Sie besteht aus muskulösem Fleisch, das weich ist, damit sie sich biegen kann, und aus Knochen, der hart ist, damit sie Druck ausüben und festhalten kann. Durch ihre Zusammensetzung ist die Hand damit zu komplexen Handlungen wie etwa dem Jagen geeignet, das aus Greifen, Festhalten, Waffe Zücken und Zustoßen besteht.43 Es handelt sich dabei selbstverständlich um Potenzen, die »sich bewegen«, also um Potenzen 41Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 94, 7–95, 2; mit MS B, f. 234v [arab.] sind folgende Verbesserungen vorzunehmen: 94, 9–10 streiche ṯumma ḥālāt šattā und li-ḏālika; 94, 23 lies taṣliḥu statt wa-taṣliḥu. 42Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 95, 13–16; ich lese unter Verwendung von MS B, f. 135r [arab.] und MS O, f. 95r: wa-hāḏihī l-quwā murakkaba min hāḏiḥi l-quwā ʿalā l-tartīb fa-inna bi-l-tartīb wa-l-niẓām yakūnu min al-kaṯīr wāḥid wa huwa ṣūrat al-yad fa-l-yad ḍarūratan murakkaba min amṯāl hāḏihī wa-wugūd amṯāl hāḏihī fī l-mawādd li-kaun al-yad yadan ʿalā l-kamāl. 43Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 95, 11–13.
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von materiellen Körpern (vgl. T 37), und genauer um die »sekundären Potenzen«, die in homoiomeren Körpern vorliegen – Weichheit, Härte und Ähnliches eben.44 Natürlich müssen diese Potenzen dann auch verbunden und koordiniert werden, Ibn Bāǧǧa sagt, dass sie durch »Ordnung« (tartīb) und Regelmäßigkeit (niẓām) eine Einheit erhalten, welche die Form der Hand ist. Diese Ordnung kann freilich nicht von den Einzelpotenzen geleistet werden, aber sie kann auch nicht ursprünglich von der Form der Hand geleistet werden, die ja selbst nur ein einzelnes Organ ist. Die Funktion, verschiedene auch gegensätzliche Potenzen zusammenzuhalten, weist Ibn Bāǧǧa in der bereits zitierten Nachschrift zum Abschiedsbrief der Seele zu, ganz wie Aristoteles es in De anima tut, wenn er gegen Empedokles einwendet, das Wachstum der Pflanze nach oben und unten sei nicht durch die Elementarkörper Feuer und Erde zu erklären, denn sonst würde die Pflanze auseinandergerissen. Es bedürfe der Seele, um die Gegensätze zusammen zu halten.45 [T 60] »Daher ist es nicht möglich, dass die natürlichen Formen aus mehr als einer der einander entgegengesetzten Potenzen zusammengesetzt sind, wie das in der Seele möglich ist. So bewegt sich zum Beispiel die Leichtigkeit nur nach oben, während die Seele zu einander entgegengesetzten Orten bewegt, obgleich sie eine ist, und der Körper bewegt sich durch sie zu einander entgegengesetzten Orten.«46 Die einzelnen Potenzen bedürfen also der Koordination und der Leitung, die nur die Seele ausüben kann. Wie sie das tut, kann eine bloße Analyse dessen, was es bedeutet, ein Organ zu sein, aber nicht leisten. Zwar ist mit dem Stichwort der Ordnung, die immer eine Rangordnung ist, ein wichtiges Erklärungsmoment gegeben – es gibt »frühere« und »spätere«, vorgeordnete und nachgeordnete Organe mit entsprechenden vor- und nachgeordneten Potenzen –, aber eine solche Ordnung ist eben stets in beide Richtungen zu lesen, sie vereint nicht nur, sie differenziert auch. Das zeigt sich etwa daran, wie Ibn Bāǧǧa den Prozess der Ernährung nicht schlicht der Nährseele zuweist, sondern durchdekliniert, wie tatsächlich der gesamte organische Körper ernährt wird: [N II. 18] »Was die beseelten Körper angeht, so ist in ihnen allen eine erzeugende Potenz. Sie ist es, kurz gesagt, die aus der Nahrung in Potenz einen Körper erzeugt, der dem gleicht, in dem sie ist. […] Es gibt unter diesen [Potenzen] eine führende für diesen Leib, nämlich diejenige, die in dem Teil sitzt, der 44Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 95, 1–3. 45Aristoteles, De anima, II. 4, 415b28–416a9. 46Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 15–148, 3.
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das Prinzip für diesen Körper ist, etwa das Herz bei den Lebewesen, und es gibt unter ihnen dienende, partikuläre, die in den einzelnen Gliedern sind. So ist in der Form des Knochens eine Potenz, die die Nahrung, welche Knochen in Potenz ist, verwandelt und sie zu Knochen in Akt macht; ebenso im Fleisch und ebenso in den übrigen [Körperteilen]. Diejenige [Potenz], die im Prinzip sitzt, lässt aus der Nahrung, die dieses Seiende in Potenz ist, dieses Seiende in Akt werden, denn das Ganze ist nichts anderes als seine Teile.« Wenn das Ganze nichts anderes als seine Teile ist, dann kann die Potenz zur Ernährung, die das Lebewesen als »Seiendes«, als Substanz, erhält, nicht etwas Zusätzliches zum organischen Körper sein. Der strikte Hylemorphismus, den Ibn Bāǧǧa hier wieder an den Tag legt, gebietet, dass das führende Nährvermögen nicht als seelische Potenz zum in sich fertigen organischen Körper wie eine zusätzliche Form hinzukommt, sondern dass es tatsächlich »organisch« in diesen Körper eingefügt ist. Das bedeutet dann, dass eine Teilpotenz, nämlich diejenige, die im Hauptorgan oder »Prinzip« des Lebewesens sitzt, gleichsam als prima inter pares die Rolle des Substanzerhalts und der Einheitsstiftung übernimmt. Damit ist die von der Seele erwartete Ordnung aber wiederum zurückverwiesen auf die Organisation des Körpers. Ernährung, die im Erzeugen von dem belebten Körper assimilierbaren Körpern besteht, erhält eben nur mittelbar dieses bestimmte Lebewesen, primär dagegen erhält sie diesen Knochen und dieses Fleisch, die nicht gleich sind und daher auch nicht die gleichen Potenzen haben können. Eine Erklärung dafür, wie die Seele die Einheit der Potenzen und des organischen Körpers bewerkstelligt, kann deshalb nur eine physiologische Erklärung sein. Dies ist in einer Passage von Ibn Bāǧǧas Buch der Lebewesen sprechend zum Ausdruck gebracht, in der es darum geht, was geeignete Erklärungen in der Zoologie sind: [T 61] »Was [die Frage] angeht, welche Ursachen derjenige angeben muss, der sich mit dieser Naturwissenschaft befasst, so wird das von hieraus klar. So wie sich der Arzt nicht damit begnügt, die fernen und allgemeinen Ursachen dessen anzugeben, was er in seiner Kunst will – Denn er sagt nicht ›der Grund für diese Handlung ist die Gesundheit‹, bis er sagt welche Gesundheit, etwa ›die Wiederherstellung des Fingergelenks‹ oder ›die Wiederherstellung des Fleisches zu seinem natürlichen Maß‹. Und er begnügt sich nicht damit zu sagen ›die Wachstumsmedizin fürs Fleisch‹, bis der Weihrauch genannt wurde und der Zustand, in dem das Fleisch wächst. – So muss auch derjenige, der sich mit dieser Wissenschaft befasst, sagen, was der Backenzahn ist und aus welchen Materien er ist und dass er nur für eine solche Tätigkeit von den Tätigkeiten der Seele geeignet ist. [Zur] Angabe der entferntesten ersten Ursache: Er [d. i. der Zahn] ist für den rationalen Teil in der Seele. Bis zu die-
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sem Grad muss die Betrachtung in diesem Teil von der Wissenschaft von den Lebewesen gehen.«47 Es gibt also wohl eine Zweckordnung, welche die globalen Tätigkeiten von der Ernährung bis zur intellektuellen Erkenntnis miteinander verknüpft, sodass alle Einzeltätigkeiten ihren Zusammenhalt letztlich dadurch erhalten, dass sie (im Menschen) die Tätigkeit des rationalen Vermögens ermöglichen (vgl. N III. 23). Aber dies bleibt solange eine bloße Behauptung, wie die Einzelheiten, die einzelnen Zusammenhänge nicht ausgefüllt werden. Die allgemeine Theorie der Organizität, die wir in diesem Kapitel verfolgt haben, kann daher nicht mehr tun als festzustellen, dass der Körper »die Totalität der Organe« (maǧmūʿ al-ālāt) ist.48 Ibn Bāǧǧa legt Wert darauf, und das auch gerade in seinen späten, angeblich von einer neuplatonischen Geistmetaphysik beherrschten Schriften, dass die psychologische Spekulation sich nicht von den physiologischen Fakten löst. In der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen geht es um nichts weniger als die Einheit des Menschen und das Prinzip dieser Einheit. Ibn Bāǧǧa verweist darauf, dass »das wodurch der Mensch eins ist« nicht wahrnehmbar sei. Er zeigt am Beispiel von Zähnen, die ausfallen und nachwachsen können, und mit Verweis darauf, dass man auch ohne gewisse Körperglieder als dieser bestimmte Mensch weiterleben kann, dass die Frage nach der Identität des Menschen tatsächlich nur durch den Ausweis eines Prinzips, eines »ersten Bewegers«, geleistet werden kann. »Aus dieser Darlegung ist offensichtlich, dass, solange der erste Beweger ein und derselbe bleibt, dieses Seiende ein und dasselbe bleibt.« Dies darf aber, mahnt Ibn Bāǧǧa, nicht im Sinne der Lehre von der Seelenwanderung missverstanden werden, so als könnte die Seele ihre gesamten Organe einfach austauschen. Hier hätten die Vertreter dieser Lehre die Ergebnisse der »Naturwissenschaft« (al-ʿilm al-ṭibāʿī) missverstanden. »Sie haben den ersten Beweger im Menschen als ununterschiedene Gesamtheit [ǧumla dūna tafṣīl] genommen und das zu numerisch einem gemacht, was nicht eins ist. Und zwar bewegt der erste Beweger im Menschen insbesondere mit zwei Klassen von Organen, die erste von beiden körperlich, die zweite spirituell […].«49 Die Seele als der erste Beweger im Menschen ist keine »ununterschiedene Gesamtheit«, sondern sie ist ein Ensemble von Potenzen, welche die Formen einer
47Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 85, 1–9. 48Vgl. Ibn Bāǧǧa, Fī l-mutaḥarrik, ed. al-ʿAlawī, 138, 4. 49Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 185, 10–186, 9, Zitat 186, 6–9; Faḫrī, 157, 13–158, 7, Zitat 158, 4–7; Asín, 10, 22–11, 10, Zitat 11, 8–10. Zu den Willensorganen vgl. Ibn Bāǧǧā, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 92, 6–19; Faḫrī, 116, 17–117, 8; Asín, 17, 26–18, 10; zur Gesundheit als bestem Zustand der Organe vgl. Genequand, 102, 8–10; Faḫrī, 126, 13–15; Asín, 26, 9–11.
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Unzahl von Organen darstellen.50 Von diesen Organen kann sie sich nur punktuell ablösen, insofern nicht alle Organe überlebenswichtig sind, sondern einige nur »um des Besseren willen« (T 59). Um die Einheit unter diesen Potenzen, die Einheit der Seele und damit die Einheit des Organismus zu begründen, bedarf es damit einer Erklärung, welche die Betrachtung der Seele als Prinzip des Lebendigen mit der Betrachtung ihrer einzelnen Tätigkeiten enger verzahnt. Diese Lücke füllt die Theorie der angeborenen Wärme aus, die als »erstes Organ« der Seele konzipiert wird.
50Vgl. Ibn Bāǧǧa, Fī l-mutaḥarrik, ed. al-ʿAlawī, 138, 3: »Der absolut erste Beweger im Menschen ist die Seele und ihre Teile […].«
11. Kapitel. »Träger der Seele«: Pneuma und angeborene Wärme als Bindeglied zwischen Physiologie und Psychologie 1. Problemaufriss Die Wärme ist als eine der primären Potenzen ein grundlegendes Wirkprinzip der gesamten Natur. Ibn Bāǧǧa fasst dies in die Bestimmung, dass Wärme, soweit sie nicht als formales Moment der einfachen Körper betrachtet wird, in allen einfachen und zusammengesetzten Körpern als »Organ« wirkt – und er leitet daraus auch die Aufgabe ab, für die belebte ebenso wie für die unbelebte Natur zu zeigen, welche Rolle die Potenz der Wärme in den beseelten Körpern als deren Organ übernimmt (T 40). Die in Kapitel 9 geführte Untersuchung hat bereits gezeigt, dass Wärme und Seele dabei insofern eine besonders enge Verbindung eingehen, als die Wärme ohne die führende und ordnende Tätigkeit der Seele zwar unbelebte, aber keine belebten Körper zur Reife bringen kann (T 53, Abschnitt 2). Umgekehrt gilt, dass die Körper der Lebewesen, eben weil sie zusammengesetzt sind, zu ihrer Entstehung der Aktivität der Wärme bedürfen, die dabei als Instrument oder »Organ« der Seele fungieren muss und entsprechend als »angeborene seelische Wärme« (ḥarāra ġarīzīya nafsānīya) bezeichnet wird (N II. 19). Damit stellt sich jedoch, mehr noch als die Frage nach dem Wie des Wirkens dieser besonderen Erscheinungsform der Wärme, die Frage nach der genauen Beschaffenheit der Verbindung von Wärme und Seele und nach ihren Implikationen für die Konzeption des Beseelten als Ganzen. Wie genau verhalten sich physiologische und psychologische Erklärungen zueinander?1 1Der Begriff »Physiologie«, obgleich er in seiner modernen Verwendung im Mittelalter nicht auftritt, trifft doch insofern das zu Behandelnde, als ein Bewusstsein für die stofflichen Strukturen und Vorgänge als Bereich einer eigenen wissenschaftlichen Untersuchung durchaus vorhanden war. Wir haben eingangs gesehen, dass Ibn Bāǧǧa im Kontinuum von Biologie und Seelenlehre sehr genau verschiedene Teilbereich beziehungsweise verschiedene Perspektiven unterscheidet (vgl. Kapitel 3, Abschnitt 2). Die Physiologie entspricht dabei dem, was Ibn Bāǧǧa die Untersuchung der »Eigenschaften der [Körper]teile« nennt. In dieser Zuspitzung tauchte der Begriff »Physiologie« tatsächlich bereits bei Galen auf als Name für den Bereich der Naturbetrachtung, der sich auf die Funktionsweise des (menschlichen) Organismus bezieht, und wurde von hier aus in der Neuzeit wiederbelebt. Vgl. dazu K. E. Rothschuh, Phy-
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Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das »angeborene Pneuma«, dem Ibn Bāǧǧa ganz ähnliche Funktionen bei der Konstitution des Lebewesens zuschreibt wie der Wärme (T 50, T 51) und das er ebenfalls als »erstes Organ« der Seele bezeichnet? Wärme und Pneuma hängen in der aristotelischen Biologie eng zusammen,2 wobei die Feststellung ihrer genauen Beziehung durchaus des interpretatorischen Aufwands bedarf. Wenn man noch jüngst – unter Berufung auf die uneinheitliche Behandlung bei Aristoteles – für Ibn Bāǧǧa die Identität von Pneuma und Wärme behauptet hat,3 so zeigt dies, wie weit die sachlichen Fragen in diesem Gebiet mit der Rezeptionsgeschichte verquickt sind. Die mit der psycho-physiologischen Frage zusammenhängenden systematischen Probleme, die im vorliegenden Kapitel behandelt werden sollen, sind daher eingebettet in ideen- und begriffsgeschichtliche Problemfelder, die den Interpreten zu besonderer Vorsicht verpflichten. (1) Als erstes stellt sich das Problem der diffusen Theoriebildung. Denn freilich haben wir es hier, ähnlich wie in vielen anderen Bereichen, nicht mit originären Theorien Ibn Bāǧǧas, sondern mit dem Einsatz und der Fortentwicklung weit verbreiteter Theoriestücke zu tun. In der Tat gehören nämlich die Begriffe der »angeborenen Wärme« (al-ḥārr al-ġarīzī oder al-ḥarāra al-ġarīzīya) und ebenso des »angeborenen Pneumas« (al-rūḥ al-ġarīzī) zur gängigen Münze in der Philosophie vieler antiker und mittelalterlicher Autoren.4 Das bedeutet allerdings nicht, dass sie jeweils das Gleiche damit meinen. Ganz im Gegenteil, insbesondere der Begriff des Pneumas ist für grundverschiedene medizinische, philosophische und theologische Theorien eingesetzt worden. Daher können generelle Aussagen wie etwa die, dass im Mittelalter aristotelische Theoriestücke mit galenischen fusioniert wurden,5 vielleicht verbreitete Tendenzen benennen, siologie, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, 964–967. Der Sache, wenn nicht dem Namen nach, war dieser Wissenszweig also zur Zeit Ibn Bāǧǧas durchaus präsent. 2A. L. Peck, Appendix B. Σύμφυτον Πνεῦμα, in: Aristotle, Generation of Animals, with an English translation by A. L. Peck (Loeb Classical Library 366), Cambridge (Mass.)–London 1942, 576–593, besonders 586. 3Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 24, Anm. 41; 273. 4Für eine kurze Übersicht über die antike Tradition vgl. Gérard Verbeke, Geist. II. Pneuma, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, 157–162; Geoffrey Lloyd, Pneuma between Body and Soul, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 13 (2007), Supplement, 135–146; zur arabischen Tradition, siehe Anm. 15, 17, 38, 64, 65; zum lateinischen Mittelalter: Jacqueline Hamesse, Spiritus chez les auteurs philosophiques des XIIe et XIIIe siècles, in: Marta Fattori, Massio L. Bianchi (Hg.), Spiritus. IV° Colloquio internazionale del Lessico Intellettuale Europeo, Rome 1984, 157–190; Ermenegildo Bertola, Le fonti medicofilosofiche della dottrina dello »spirito«, in: Sophia 26 (1958), 48–61; James J. Bono, Medical Spirits and the Medieval Language of Life, in: Traditio 40 (1985), 91–130. 5Vgl. etwa Bono, Medical Spirits, 91, 94.
Problemaufriss
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aber sie sind nicht genau genug, um zum Ausgangspunkt für die Analyse eines einzelnen Autors zu taugen. Die Geschichte der Begriffe des Pneumas und der angeborenen Wärme ist, trotz zahlreicher Publikationen zum Thema,6 in vielen Teilen erst noch zu schreiben. Denn eben aus der Verbreitung von Wärme und Pneuma als Erklärungselementen folgt die Schwierigkeit, Einflusslinien sicher festzustellen – eine Schwierigkeit, die mit der Dauer der Überlieferung nur zunimmt. So gehört bereits Aristoteles’ Verwendung dieser Theoriebausteine in einen zeitgenössischen medizinischen Kontext und stützt sich auf bereits Vorhandenes, prägt dieses jedoch im eigenen Sinne um.7 Galens Lehre wiederum speist sich nicht nur aus der, teils nacharistotelischen, medizinischen Tradition, sondern bezieht sich bereits selber – teils zustimmend, teils ablehnend – auf Aristoteles,8 ebenso wie auf den Mittelplatonismus und die Stoa,9 die ihrerseits auch keine einheitlichen Blöcke bilden. Selbstverständlich kommt er dabei zu einer deutlich eigenen Position.10 Bekannt ist, dass Galens medizinische Theorien in der spätantiken alexandrinischen Schule eine Vereinfachung und Systematisierung erfuhren, die sich etwa in den sogenannten »Kompendien der Alexandriner« niederschlugen und, teils durch deren arabische Übersetzungen, teils durch von arabischen Autoren neu verfasste Kompendien und Summen in ein verändertes galenisches System
6Vgl. etwa Everett Mendelsohn, Heat and Life. The Development of the Theory of Animal Heat, Cambridge (Mass.) 1964; Marielene Putscher, Pneuma, Spiritus, Geist. Vorstellungen vom Lebensantrieb in ihren geschichtlichen Wandlungen, Wiesbaden 1973; Franz Rüsche, Blut, Leben und Seele. Ihr Verhältnis nach Auffassung der griechischen und hellenistischen Antike, der Bibel und der alten Alexandrinischen Theologen. Eine Vorarbeit zur Religionsgeschichte des Opfers (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums 5), Paderborn 1930; ders., Das Seelenpneuma. Seine Entwicklung von der Hauchseele zur Geistseele. Ein Beitrag zur Geschichte der antiken Pneumalehre, Paderborn 1933; Gérard Verbeke, L’évolution de la doctrine du pneuma du stoïcisme à saint Augustin. Etude philosophique, Leuven–Paris 1945. 7Vgl. etwa Philip J. van der Eijk, Medicine and Philosophy in Classical Antiquity. Doctors and Philosophers on Nature, Soul, Health and Disease, Cambridge 2005, 119–135 (»The heart, the brain, the blood and the pneuma. Hippocrates, Diocles and Aristotle on the location of cognitive processes«); siehe auch die klassische Studie: Werner Jaeger, Das Pneuma im Lykeion, in: Hermes 48 (1913), 29–74. 8Vgl. etwa Paul Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. Bd. 2: Der Aristotelismus im I. und II. Jh. n.ÐChr., Berlin–New York 1984, 742–751. 9Rüsche, Blut, Leben und Seele, 285–302; Verbeke, L’évolution de la doctrine du pneuma, 206– 220. Die vielfältigen Einflüsse auf Galen stellt Teun Tielemann, Galen and Chrysippus on the Soul. Argument and Refutation in the De Placitis Books II–III, Leiden–New York–Köln 1996, dar. 10Vgl. Owsei Temkin, On Galen’s Pneumatology, in: Gesnerus 8 (1951), 180–189. Eine Darstellung, die die Eigenständigkeit von Galens Pneumatheorie im Zusammenhang mit seinen Ergebnissen zur Hirnanatomie betont, findet sich in: Julius Rocca, Anatomy, in: R. J. Hankinson (Hg.), The Cambridge Companion to Galen, Cambridge 2008, 242–262, hier 247–256.
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gebracht wurden.11 Die Vermehrung der von Galen wohl angenommenen zwei Pneumata – »psychisches« und »vitales« – um ein drittes, »natürliches«, gehört zu den bekanntesten Neuerungen des »Galenismus« gegenüber den ursprünglichen galenischen Texten.12 Die Lehre von den drei Pneumata ist so ein Grundbestandteil der arabischen Medizin geworden13 und wird auch von Ibn Bāǧǧa als ein medizinischer Gemeinplatz erwähnt (unten, T 66). Doch war auch dieser Entwurf nicht alternativlos. Es fällt etwa auf, dass ein Zeitgenosse des Galenübersetzers Ḥunain ibn Isḥāq, welcher die Drei-Pneuma-Lehre vertrat,14 nämlich der gleichfalls im Bagdader wissenschaftlichen Milieu des 9. Jahrhunderts beheimatete Qusṭā ibn Lūqā, in seiner vielgelesenen Schrift Über den Unterschied zwischen Pneuma und Seele nur zwei Pneumata erwähnt.15 Wenn also Qusṭās Text zuweilen unbesehen als Vorbild und als repräsentativ für Ibn Bāǧǧas Verwendung des Pneumabegriffs hingestellt wird,16 so spricht hierfür unmittelbar gar nichts. Viel entscheidender ist aber noch, dass das gesamte Feld der medizinischen Physiologie in der arabischen Tradition viel zu wenig erforscht ist, um entscheiden zu können, welche Modelle von Pneuma und angeborener Wärme zur Verfügung standen und auf einen bestimmten Autor gewirkt haben könnten. Viele wichtige Quellentexte wie etwa die arabische Version der »Alexandrinischen Kompendien« oder Ḥunains Medizinische Fragen sind nicht ediert oder kaum erforscht.17 11Vgl. A. Z. Iskandar, An Attempted Reconstruction of the Late Alexandrian Medical Curriculum, in: Medical History 20 (1976), 235–258; Ullmann, Die Medizin im Islam, 65–67 und 343; Ivan Garofalo, I sommari degli Alessandrini, in: ders., Amneris Roselli (Hg.), Galenismo e medicina tardoantica. Fonti greche, latine e arabe (Annali dell’Istituto Universitario Orientale di Napoli. Quaderni 7), Neapel 2003, 203–231; Peter E. Pormann, The Alexandrian Summary (Jawāmiʿ) of Galen’s On the Sects for Beginners: Commentary or Abridgment?, in: Peter Adamson (Hg.), Philosophy, Science and Exegesis in Greek, Arabic and Latin Commentaries (Bulletin of the Institute of Classical Studies), London 2004, 11–33. 12Owsei Temkin, Galenism. Rise and Decline of a Medical Philosophy, Ithaca–London 1973, 107. Siehe auch unten, Anm. 55. 13Manfred Ullmann, Islamic Medicine, Edinburgh 1978. Das 4. Kapitel (»Physiology and anatomy«), 55–71, referiert als Mustertext für die Grundüberzeugungen arabischer Mediziner auf dem Gebiet der Physiologie die entsprechende Sektion von al-Maǧūsīs Kitāb al-malakī. Für die Konzepte der angeborenen Wärme und des Pneumas siehe besonders 59, 62f, 65. 14Vgl. Owsei Temkin, Byzantine Medicine: Tradition and Empiricism, in: Dumbarton Oaks Papers 16 (1962), 95–115, hier 105. 15Qusṭā Ibn Lūqā, Risāla fī l-farq bain al-rūh wa-l-nafs, ed. Louis Cheikho, in: Al-Mašriq 14 (1911), 94–109, hier 98, 10–11. Vgl. zu diesem Text Judith C. Wilcox, The Transmission and Influence of Qusṭa Ibn Lūqā’s On the Difference between Spirit and the Soul, Diss. New York 1985 [non vidi]; John W. Livingston, On the Difference Between the Soul and the Spirit: Translation and Analysis of Qusta ibn Luqa’s Psycho-Physiological Treatise and its Place in Islamic Thought, in: Scripta Mediterranea 2 (1981), 53–77. 16Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 24. 17Aus dem Überlieferungskomplex der Alexandrinischen Kompendien liegt lediglich ein Faksimiledruck aus Handschriften vor: Fuat Sezgin (Hg.), The Alexandrian Compendium of Galen’s Work. Jawāmiʿ al-Iskandarāniyyīn. Translated by Ḥunain Ibn Isḥāq (Publications of the
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Neben den Entwicklungen in der medizinischen Literatur sorgt auch die vielfältige Interaktion von Philosophie und Medizin für weitere Komplikationen der Überlieferungslinien. Bereits Alexander von Aphrodisias scheint sich aus systematischer Perspektive mit der Physiologie seines älteren Zeitgenossen Galen auseinandergesetzt zu haben.18 Es geht dabei um die körperliche Lokalisierung des leitenden Seelenvermögens, des sogenannten Hegemonikon, das Alexander mit Aristoteles im Herzen ansiedelt. Er versucht, die Funktion des Herzens als Zentralorgan und Sitz aller seelischen Vermögen zu begründen und gegen die konkurrierende galenische Annahme, das Hirn übernehme diese Rolle, zu verteidigen. In diesem Zusammenhang spielen auch die vom Herzen ausgehende Wärme und die zentralen physiologischen Funktionen des oder der Pneumata eine bedeutende Rolle. In der Folge wird die Debatte um Aristoteles’ kardiozentrische und Galens zerebrozentrische Physiologie zu einem »Dauerbrenner«, der zu unübersehbar vielen Positionen von der Spätantike bis in die Neuzeit geführt hat.19 Trotz der breiten Beschäftigung mit diesem Thema sind manche entscheidenden Weichenstellungen noch gar nicht untersucht, so insbesondere die für Ibn Bāǧǧa vermutlich nicht unbedeutende Stellungnahme al-Fārābīs, dessen Kritik an Galen sich auch in anderen Bereichen für die falāsifa als prägend erwiesen hat.20 Das von A. Badawī 1973 veröffentlichte Konvolut von Texten al-Fārābīs zu physiologischen Fragen, die in weiten Stücken der Gegenüberstellung von Aristoteles und Galen gewidmet sind, ist bisher nicht näher erforscht Institute for the History of Arabic-Islamic Science. Series C. Vol. 68, 1–3), Frankfurt 2001 und 2004. Eine Edition von Ḥunains Masāʾil fī l-ṭibb liegt vor: Ḥunain ibn Isḥāq al-ʿIbādı÷, Masāʾil fı̄ l-ṭibb li-l-mutaʿallimı̄n, ed. Muḥammad ʿAlī Abū Rayyān, Mursī Muḥammad ʿArab, Ǧalāl Muḥammad Mūsā, Kairo 1978; zu den drei Pneumata siehe dort 17f. 18Vgl. Tieleman, The Hunt for Galen’s Shadow, 265–283. Silvia Fazzo hat neuerdings in Frage gestellt, ob Alexander als Ahnherr der in der arabischen Philosophie verbreiteten Galenkritik angesehen werden kann, vgl. Silvia Fazzo, Alexandre d’Aphrodise contre Galien: la naissance d’une légende, in: Philosophie Antique 2 (2002), 109–144. Sie bezieht sich dabei aber nicht auf Tielemans genannte Rekonstruktion. Ihre Hauptkritik gilt der Vereinnahmung Alexanders für eine polemisch zugespitzte und ausschließlich auf Galen gemünzte Widerlegung antiaristotelischer Argumente. Eine weitere Abschwächung ihrer These in diese Richtung ist angedeutet bei Rashed, Essentialisme, 113, Anm. 355. 19Vgl. jüngst Michael Frampton, Embodiments of Will. Anatomical and Physiological Theories of Voluntary Animal Motion from Greek Antiquity to the Latin Middle Ages, 400 B.C.–A.D. 1300, Saarbrücken 2008; mit Ergänzugen dazu die (sehr kritische) Rezension von Vivian Nutton in: Perspectives in Biology and Medicine 53 (2010), 271–288. 20Vgl. Friedrich W. Zimmermann, Al-Farabi und die philosophische Kritik an Galen von Alexander zu Averroes, in: Albert Dietrich (Hg.), Akten des VII. Kongresses für Arabistik und Islamwissenschaft. Göttingen, 15. bis 22. August 1974, Göttingen 1976, 401–414; Sarah Stroumsa, Al-Fārābī and Maimonides on Medicine as a Science, in: Arabic Sciences and Philosophy 3 (1993), 235–249. Als Beispiel mag die unten (Abschnitt 2.6.) ausführlicher besprochene Frage der physiologischen Rolle des Gehirns wirken; Ibn Bāǧǧa knüpft hier erkennbar an al-Fārābī an.
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worden und ist im bisherigen Zustand auch unvollständig.21 Mit Ausnahme von gelegentlichen Verweisen kann auch diese wichtige Traditionslinie hier daher nicht berücksichtigt werden. Als diffus stellt sich auch ein weiterer Flügel der reichen Tradition des Wärme- und Pneumabegriffs dar: seine Verwendung in der neuplatonischen Psychologie, insbesondere zur Ausgestaltung der platonischen Lehre vom »Seelenwagen« (ὄχημα τῆς ψυχῆς).22 Auch hier ist von Beginn an eine Verquickung mit oder Benutzung von medizinischen und zumal galenischen Theoriestücken, aber auch ein Einfluss der aristotelischen Physiologie festzustellen.23 Die These des Seelenwagens als einer feinstofflichen Substanz, mittels derer die Seele im Körper ist und mit der dinglichen Welt in Beziehung tritt, ist Ausdruck der neuplatonische Tendenz, die Übergänge und Beziehungen zwischen den heterogenen Instanzen des Materiellen und des Psychischen durch Einführung vermittelnder Entitäten zu bewerkstelligen.24 Auch in den spätantiken, neuplatonisch orientierten Aristoteleskommentaren, etwa in Philoponos’ Kommentierung von De anima, ist diese Lehre und eine entsprechende Verwendung des Pneumabegriffs präsent.25 Von hier aus führt ebenfalls eine im Einzelnen noch aufzuklärende Rezeptionslinie in die arabische Philosophie, etwa in die stark von
21Badawī, Rasāʾil falsafīya li-l-Kindī wa-l-Fārābī wa-Ibn Bāǧǧa wa-Ibn ʿAdī, 38–107. Ein Zitat aus dem damals noch unpublizierten Text findet sich bei Christoph Bürgel, Averroes »contra Galenum«. Das Kapitel von der Atmung im Colliget des Averroes als ein Zeugnis mittelalterlich-islamischer Kritik an Galen (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, Jahrg. 1967, No. 2), Göttingen 1968, 286f. Der von Badawī publizierte Text verschwimmt am Ende (106, 3) übergangslos mit einem Text völlig anderen Charakters. Wie ich feststellen konnte, handelt es sich bei den knapp zwei Seiten des scheinbaren Textendes um das letzte Stück von Ibn Bāǧǧas Abhandlung Über das Ziel des Menschen (Fī l-ġāya al-insānīya), vgl. ed. Faḫrī, 103, 3 (ḥukm ġaḍabihī)–104, 10. 22Vgl. Jens Halfwassen, »Seelenwagen«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, 111–117. Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung dieser Lehre findet sich jetzt bei Stéphane Toulouse, Les théories du véhicule de l’âme. Genèse et évolution d’une doctrine de la médiation entre l’âme et le corps dans le néoplatonisme, Diss. Paris: EPHE, 2001 [non vidi]; ein Resümee findet sich bei Michael Chase, Porphyre et Augustin: des trois sortes de visions au corps de résurrection, in: Revue d’études augustiniennes et patristiques 51 (2005), 233–256, hier 233–237; siehe auch Stéphane Toulouse, Le véhicule de l’âme chez Plotin: de la réception d’une hypothèse cosmologique à l’usage dialectique de la notion, in: Luc Brisson (Hg.), L’âme amphibie: études sur l’âme selon Plotin (Études platoniciennes 3), Paris 2006, 103–128. 23Vgl. Teun Tielemann, Plotinus on the Seat of the Soul: Reverberations of Galen and Alexander in Enn. IV 3.23, in: Phronesis 43 (1998), 306–325; Stéphane Toulouse, Le véhicule de l’âme chez Galien et chez le Pseudo-Plutarque: les linéaments physiologiques et eschatologiques d’une doctrine du corps intermédiaire, in: Philosophie antique 2 (2002), 145–168. 24Vgl. dazu Blumenthal, Aristotle and Neoplatonism in Late Antiquity, 28f, 112f. 25Robert B. Todd, Philosophy and Medicine in John Philoponus’ Commentary on Aristotle’s De Anima, in: Dumbarton Oaks Papers 38 (1984), 103–110, hier 108; vgl. auch ders., Galenic Medical Ideas in the Greek Aristotelian Commentators, in: Symbolae Osloenses 52 (1977), 117–134.
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Philoponos beeinflusste, dem Zirkel um al-Kindī entstammende De anima-Paraphrase.26 Dieselben, Neuplatonismus und galenische Physiologie verbindenden, Tendenzen sind auch in einem weiteren Text präsent, der Ibn Bāǧǧa nachweislich bekannt war und der jüngst als bestimmender Faktor seiner Psychologie genannt worden ist.27 Es handelt sich um die unter Aristoteles’ Namen umlaufende Paraphrase der Parva naturalia, Kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs.28 Dieser wohl ebenfalls dem Kindizirkel zuzuordnende Text zeichnet sich dadurch aus, dass er die Rolle des Pneumas für die sinnlichen Erkenntnisvermögen verbindet mit einem weiteren Begriff des »Pneumatischen« oder »Geistigen« und durchweg die »spirituellen Formen« (ṣuwar rūḥānīya) dieser Vermögen den materiellen Formen gegenüberstellt.29 Der Ausdruck »spirituell« (rūḥānī) gehört zu den Schlüsselwörtern der neuplatonischen Aristoteleslektüre im Kindikreis und darüber hinaus und übersetzt eine Mehrzahl von griechischen Termini, die den Bereich des Göttlichen und Immateriellen bezeichnen.30 In diesem Sinne wurde der Ausdruck auch in Texte neu eingeführt, in denen er gar kein griechisches Äquivalent besitzt. So ist von »spirituellen Formen« ebenfalls in einem weiteren Text aus dem benannten Um-
26Arnzen, Aristotle’s De anima, 85–107 (zur Beziehung des Textes zu Philoponos’ Kommentar), 285, 7–15 und 343, 7–12 (Erwähnung des Pneumas im Text), 414 und 458 (Stellenkommentar). Zu weiteren Hinweisen eines Einflusses von Philoponos’ Psychologie vgl. Fazlur Rahman, Avicennaʼs Psychology. An English Translation of «Kitāb al-Najat», Book II, Chapter VI with Historico-Philosophical Notes and Textual Improvements on the Cairo-Edition, London 1952, 111–114; Arnzen, Aristotle’s De anima, 133, Anm. 79. 27Vgl. Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 26. 28Dieser in einer einzigen indischen Handschrift unvollständig überlieferte Text ist zuerst beschrieben worden von Hans Daiber, Salient Trands of the Arabic Aristotle, in: Gerhard Endreß, Remke Kruk (Hg.), The Ancient Tradition in Christian and Islamic Hellenism. Studies on the Transmission of Greek Philosophy and Sciences, Leiden 1997, 29–41, hier 36–41; die vorbereitete Edition des Textes soll demnächst im Druck erscheinen: Rotraud Hansberger, The Transmission of Aristotle’s Parva naturalia in Arabic, Diss. Oxford, 2006. 29Zur Beziehung zum Kindi-Zirkel vgl. Rotraud Hansberger, Kitāb al-Ḥiss wa-l-maḥsūs. Aristotle’s Parva naturalia in Arabic Guise, in: Christophe Grellard, Pierre-Marie Morel (Hg.), Les Parva naturalia d’Aristote. Fortune antique et medievale, Paris 2010, 143–162, hier 150f; dies., Plotinus Arabus Rides Again, in: Arabic Sciences and Philosophy 21 (2011), 57–84. Zum Konzept der »spirituellen Form« in diesem Text vgl. Hansberger, Kitāb al-Ḥiss wa-l-maḥsūs, 145f und 155–157; dies., Plotinus Arabus, 78f; dies., How Aristotle Came to Believe in God-given Dreams: The Arabic Version of De divinatione per somnum, in: Louise Marlow (Hg.), Dreaming Across Boundaries. The Interpretation of Dreams in Islamic Lands, Washington–Cambridge (Mass.) 2008, 50–77, hier 56–58 und 60f. 30Gerhard Endreß, Platonizing Aristotle: The Concept of ›Spiritual‹ (rūḥānī) as a Keyword of the Neoplatonic Strand in Early Arabic Aristotelianism, in: Studia graeco-arabica 2 (2012), 265–279; zuvor schon ders., Proclus arabus. Zwanzig Abschnitte aus der Institutio theologica in arabischer Übersetzung (Beiruter Texte und Studien 10), Beirut 1973, 128.
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feld die Rede, der von Ibn Bāǧǧa nachweislich benutzt worden ist,31 und zwar in einer Alexander von Aphrodisias zugeschriebenen arabischen Bearbeitung der Propositionen 15–17 von Proklos’ Stoicheiosis theologike, die unter dem Titel Fī iṯbāt al-ṣuwar al-rūḥānīya die Existenz »spiritueller«, immaterieller Formen diskutiert.32 Da nun Ibn Bāǧǧa selbst in seiner Abhandlung über die Lebensführung des Einsamen eine Theorie der »spirituellen Formen« entwirft, ist zu fragen, inwieweit er dabei von den beiden letztgenannten Texten beeinflusst ist,33 oder vielmehr, ob seine Begriffe des Pneumas und der spirituellen Form einer vergleichbaren metaphysischen Position dienen. Denn zur Detailuntersuchung von Ibn Bāǧǧas Rezeption ist es jedenfalls für den bei weitem umfangreicheren der beiden Texte, die Paraphrase der Parva naturalia, wiederum zu früh, da die Edition bisher nicht zur Verfügung steht. Der hier gegebene Überblick über mögliche Einflusslinien auf Ibn Bāǧǧas Konzeption des Pneumas und der angeborenen Wärme soll aber auch gar nicht suggerieren, dem angezeigten Problem der diffusen Theoriebildung sei mit einem immer genaueren Studium der Rezeption beizukommen. So wichtig die Aufdeckung begrifflicher oder inhaltlicher Übernahmen im Einzelnen für unser Verständnis auch sein mag, diese historisch dienliche Orientierung an einzelnen Elementen als »Leitfossilien«34 kann eben niemals dazu taugen, die genaue Bedeutung der von einem jeweiligen Autor vertretenen Theorie zu rekonstruieren. Nicht wo die Einzelstücke jeweils herkommen, sondern wie und wozu sie eingesetzt werden, ist am Ende entscheidend. Dies gilt insbesondere für variable und multifunktionell einsetzbare Basiskonzepte wie Lebenswärme und Pneuma, die schon genetisch gar keinen eindeutigen Ursprung haben. Es wird sich in der vorliegenden Untersuchung noch an mehreren Stellen zeigen, gerade auch hier im Bereich der Physiologie, wie sehr die Fixierung auf das Ausgraben begrifflicher Ahnen zu Ähnlichkeitsfehlschlüssen und zur vollständigen Missachtung des organischen Zusammenhangs führt. Dem Problem der diffusen Theoriebildung ist daher am ehesten mit einer genauen werkimmanenten Interpretation beizukommen. Diese muss freilich hellhörig für Echos der oben dargestellten Traditionslinien sein, und sie kann vielleicht als Baustein zu deren künftiger genauerer Darstellung dienen, vornehmlich kommt es aber darauf an, die Fragestellung zu identifizieren, auf welche Ibn Bāǧǧas Theorie zu antworten versucht. 31Ibn Bāǧǧa zitiert den Text in seiner Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen, siehe: Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql fī l-insān, ed. Genequand, 195, 20f. 32Ediert in Endreß, Proclus arabus, 13–18 (arab.); deutsche Übersetzung 260–266; zum Begriff rūḥānī 202–204; zur Zuschreibung an Alexander 55–58. 33Ein solcher Zusammenhang ist angedeutet bei Endreß, Platonizing Aristotle, 279. Zur Diskussion der bestehenden Annahmen über den Einfluss der einzelnen Texte siehe unten, Abschnitt 3.1. 34Für diese treffende Metapher vgl. erneut Endreß, Platonizing Aristotle, 268.
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(2) Die angestrebte Rekonstruktion von Ibn Bāǧǧas Psychophysiologie stößt zweitens auf das Problem der diffusen Präsentation. Ähnlich der unklaren Herkunft ergibt sich auch diese Schwierigkeit deshalb, weil die genannten Begriffe des Pneumas und der angeborenen Wärme stets mit einer solchen Selbstverständlichkeit eingesetzt wurden, dass systematische Erläuterungen meist unterblieben. Das gilt schon für die Position des Aristoteles selbst, dessen Annahmen und Überlegungen der Interpret sich aus diversen Passagen seiner verschiedenen biologischen Schriften und – in geringerem Umfang – aus den Parva naturalia zusammenlesen muss.35 Es gab daher die durchaus berechtigte Frage, ob überhaupt eine kohärente Theorie der Lebenswärme und des angeborenen Pneumas bei Aristoteles erkennbar ist.36 Spätestens seit der epochemachenden Studie von Gad Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance (1995), ist diese Frage positiv entschieden. Im Detail aber wird es sicherlich auch weiter Raum für verschiedene Interpretationen geben,37 eben weil eine autoritative Motivierung der Theorie fehlt So lässt sich zwar sicher feststellen, was mit Pneuma und angeborener Wärme jeweils erklärt wird. Die Rekonstruktion der übergeordneten Gründe und der größeren Zusammenhänge bleibt aber in ihren Einzelheiten fragil. Derselbe Befund ergibt sich auch für die arabische Medizin und Philosophie. Für Avicennas Begriff der angeborenen Wärme in seinem Canon medicinae (alQanūn fī l-ṭibb) ist etwa festgestellt worden: »Die zentrale Stellung der Lebenswärme in der Physiologie des ›Canon‹ steht außer Zweifel. Eine klare Definition sucht man aber, im Gegensatz zu manchen anderen Basiskonzepten, vergebens.«38 Dies gilt nun auch für Ibn Bāǧǧa, der im Buch der Seele die angeborene Wärme und das Pneuma zwar mehrfach heranzieht, um bestimmte Phänomene zu erklären, sich aber an keiner Stelle seines Werks um eine thematische Darlegung dieser beiden Momente bemüht. Das gleiche Bild bieten seine im Physikkommentar, im Buch er Pflanzen und in diversen Abhandlungen verstreuten Bemerkungen und selbst noch die längeren Ausführungen im Buch der Lebewesen. Vor diesem Hintergrund erklären sich irrige Einschätzungen wie die, Ibn Bāǧǧa setze Pneuma und angeborene Wärme einander gleich.39 Alle genannten Texte müssen daher in systematischer Perspektive quergelesen werden, um überhaupt zu einer überzeugenden Rekonstruktion zu kommen.
35Vgl. den in Anm. 2 zitierten Appendix von Peck. 36Vgl. Ingemar Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 343–345. 37Siehe etwa die im Ganzen Freudenthal durchaus zustimmenden Ausführungen bei Richard King, Aristotle on Life and Death, London 2001. 38Michael Stolberg, Die Lehre vom ›calor innatus‹ im lateinischen Canon medicinae des Avicenna, in: Sudhoffs Archiv 77 (1993), 33–53, hier 35. 39Siehe oben, Anm. 3 und unten, S. 491.
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Im Ergebnis wird die folgende Analyse zeigen, dass hinter Ibn Bāǧǧas Verwendung der Begriffe der Wärme und des Pneumas tatsächlich für seine Seelenlehre zentrale Überlegungen stehen, die seine sporadischen Bemerkungen so auf den ersten Blick nicht erkennen lassen. Dabei wird sich auch erweisen, dass die im Hintergrund befindliche Theorie für seine Bestimmung spezifisch seelischer Potenzen unverzichtbar ist. (3) Damit treten drittens die immanenten systematischen Schwierigkeiten in den Vordergrund, denen sich eine aristotelisch geprägte Seelenlehre durch die Momente der Lebenswärme und des Pneumas aussetzt. Diese sollen hier anhand kurzer Schlaglichter auf einige der oben angesprochenen historischen Formationen eingeführt werden, um Ibn Bāǧǧas Überlegungen in einen Problemkontext zu stellen. Es geht, wohl gemerkt, nicht um eine präzise historische Kontextualisierung, die aus den bereits genannten Gründen weder durchführbar noch zielführend ist. Gleichwohl sind die im Folgenden zu betrachtenden Ausschnitte sämtlich für Ibn Bāǧǧa auch historisch relevant. Am Anfang muss dabei sicherlich Aristoteles stehen. Das zentrale Problem, das seine Physiologie der Seelenlehre aufgibt, kann leicht an dem interpretatorischen Irrweg illustriert werden, den die Aristotelesforschung mit Nuyens chronologischer These eine Zeit lang genommen hat, derzufolge das Verständnis der Seele als Entelechie des Körpers, wie Aristoteles sie in De anima entwickelt, inkompatibel wäre mit der physiologischen Theorie der Parva naturalia und der zoologischen Schriften, wo die Seele im Herzen verortet und mit der dort angesiedelten Lebenswärme verknüpft wird.40 Wenn der Versuch, diese zwei Zweige der aristotelischen Beschäftigung mit dem Lebendigen und der Seele auseinanderzudividieren, heute auch als erledigt betrachtet werden kann, so hat die lang anhaltende gegenteilige Überzeugung doch sichtbar gemacht, dass keineswegs selbstverständlich ist, wie beide Theorien zusammengehen, ja dass dies vielmehr einer sorgsamen Analyse und Rekonstruktion bedarf. So kommt G. Verbeke in einer ausgezeichneten Studie der von Aristoteles dem Pneuma übertragenen Funktionen, in der er nachdrücklich klar macht, dass das Pneuma kein Instrument zur Vermittlung von Körper und Seele als ursprünglich heterogenen Bestandteilen sondern ein Teil des Körpers ist, doch zu dem Schluss, die Behandlung des Pneumas als privilegiertes Instrument der Seele sei dem Entelechismus letztlich inadäquat. Der Haupteinwand lautet dabei, dass die Einheit des menschlichen Wesens nur durch die Einheit von Körper und Seele als Prinzip der Lebensfunktionen erklärt werden könne, nicht durch ein Modell, indem die Seele sich zur Ausübung ihrer Funktionen eines besonde40Für eine »Geschichte« dieser Interpretation und ihres Niedergangs vgl. Theodore J. Tracy, Heart and Soul in Aristotle, in: J. P. Anton, A. Preus (Hg.), Essays in Ancient Greek Philosophy 2, Albany 1983, 321–339. Tracy argumentiert dafür, dass beide Theorien nicht nur kompatibel sind, sondern dass der Entelechismus die physiologische Theorie notwendig fordert.
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ren Instruments bediene.41 Wie berechtigt dieser Einwand, wenn nicht in Bezug auf Aristoteles, so doch zumindest in Hinblick auf Teile der sich auf Aristoteles berufenden Tradition ist, mag etwa an Ibn Sīnās Gebrauch der Theorie im psychologischen Teil seines Šifāʾ deutlich werden. Die Lehre vom Pneuma als Organ der Seele dient dort dem Zweck, die »Verbindung« (taʿalluq) der unsterblichen Seele mit dem Körper zu erklären; und die Funktion des Herzens wird so beschrieben, dass von dort die »Emanation« (faiḍ) der seelischen Potenzen auf die übrigen Glieder des Körpers ausgeht.42 Diese Deutung des Pneumas als Mittel, mit dem die unsterbliche Seele auf den vergänglichen Körper einwirkt, läuft dem aristotelischen Hylemorphismus grundsätzlich zuwider. Zu einem ähnlich zwiespältigen Ergebnis wie Verbeke kommt G. Freudenthal in seiner Untersuchung der aristotelischen Theorie von Wärme und Pneuma. Die Studie, der es hervorragend gelingt, Aristoteles’ diesbezügliche Lehre aus den verstreuten Textstellen als eine kohärente und bis in vielfältige Details ausgearbeitete Position zu rekonstruieren, enthält sich nämlich, die »philosophische« Frage anzugehen, welche Implikationen die ans Licht gehobene Physiologie für das Verhältnis zwischen Körper und Seele hat. Sie gibt andererseits aber doch bemerkenswerte Hinweise, die insbesondere für die mittelalterliche Philosophie mit folgeträchtigen Thesen verbunden sind. Nach Freudenthals Analyse führt Aristoteles das Kozept der natürlichen Wärme beziehungsweise der Lebenswärme ein, um Erzeugung, Einheit und Fortdauer von komplexen unbelebten und belebten Substanzen erklären zu können, welche durch die Theorie der vier Elemente mit ihren unterschiedlichen Bewegungstendenzen und ihrem daher rührenden Hang zur Disintegration nicht überzeugend erklärt werden können. Aristoteles, so Freudenthal, konzipiert die natürliche Wärme daher als eine »formgebende Wärme« (formative heat): Sie ist nämlich Trägerin von »Bewegungen«, durch die sie die Komponenten der entstehenden Substanz in einem bestimmten Verhältnis (λόγος) zusammenbringt und dann auch aufrechterhält.43 Damit wird die von Freudenthal ausgeklammerte Frage nach dem genauen Zusammenhang zwischen Erklärungen, die sich auf Form und Seele berufen, und solchen physikalischen oder physiologischen Erklärungen, die mit der natürlichen Wärme operieren, zum Problem. Die physiologische Theorie scheint 41Gerard Verbeke, Doctrine du pneuma et entéléchisme chez Aristote, in: G.E.R. Lloyd, G.E.L. Owen (Hg.), Aristotle on mind and the senses. Proceedings of the Seventh Symposium Aristotelicum, Cambridge 1978, 191–214, hier 206. 42Ibn Sīnā, Kitāb al-šifāʾ. al-Nafs, Kapitel 5. 8; Avicenna’s De Anima (Arabic Text). Being the Psychological Part of Kitāb al-Shifāʾ, ed. Fazlur Rahman, London 1959, 262–269. Zu Ibn Sīnās Theorie des taʿalluq vgl. Sebti, Avicenne. L’âme humaine, 19–36; dies., Une épître inédite d’Avicenne: Taʿalluq al-nafs bi-l-badan (De l’Attachement de l’âme et du corps): édition critique, traduction, introduction doctrinale et annotation, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 15 (2004), 141–200. 43Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 22–29.
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nämlich die Theorie der Form zu implizieren, da ohne sie die spezifische Fähigkeit der Wärme, Substanzen eines bestimmten Typs zu erzeugen, nicht erklärt werden könnte.44 Auf der anderen Seite kommt Freudenthal jedoch zu dem Ergebnis, dass Aristoteles Form und natürliche Wärme zwar großenteils »parallel«, teilweise aber auch »alternativ« einsetzt.45 Insbesondere wird folgende partielle Deckung zwischen den Theorien der Wärme und der Nährseele festgestellt: Die Nährseele als formgebendes Prinzip erklärt selbstverständlich nur die Entstehung belebter Substanzen, dafür kann sie aber auch die Konstitution des anhomoiomeren belebten Körpers erklären. Demgegenüber erklärt die natürliche Wärme die Entstehung und den Zusammenhalt belebter und unbelebter Homoiomere; sie wird, um die Lehre vom Pneuma als Träger der Wärme erweitert, von Aristoteles parallel zu psychologischen Erklärungen auch zur Begründung höherer Lebensfunktionen eingesetzt. Aber sie taugt eben nicht, um die Konstitution organischer Körper zu erklären.46 Daneben soll es laut Freudenthals Analyse Bereiche geben, in denen sich zwischen beiden Modellen »unüberbrückbare« Gegensätze auftun. So kann der Tod des Lebewesens innerhalb der psychologischen Theorie nur als instantaner Verlust der Form aufgefasst werden, während die physiologische Theorie Altern und Sterben als einen sukzessiven Verlust der natürlichen Wärme begreift.47 Obgleich Freudenthal nicht davon spricht, muss für den Beginn des Lebens entsprechendes gelten: Wie lässt sich der zeitlich ausgedehnte Prozess, durch den die Wärme eine zusammengesetzte Substanz produziert, indem sie die zugrunde liegende Materie durch »Verkochung« (πέψις) in das richtige Verhältnis bringt, vereinbaren mit einer Erklärung in Begriffen der Form, die keinen Zustand zwischen Form-Haben und Nichthaben kennt? Auf Grund der erwähnten Abhängigkeit der physikalischen oder physiologischen Theorie von der Annahme formaler Momente, die durch die Wärme übertragen und umgesetzt werden, entscheidet die Antwort auf die Frage nach Zusammenhang und Vereinbarkeit der beiden Erklärungsmodelle tatsächlich auch darüber, ob die physiologische Theorie der natürlichen Wärme überhaupt sinnvoll ist. Freudenthals »philosophische« Zurückhaltung ist deshalb als pragmatische Begrenzung eines Forschungsprojekts zwar legitim, hinterlässt jedoch viele offene Fragen.48 Dies betrifft gerade auch seine Thesen über das Nachleben der aristotelischen Lehre von Lebenswärme und Pneuma, die sich auf den letztlich unaufgeklärten »formgebenden« Charakter der Wärme beziehen. Er nimmt nämlich an, dass die von ihm rekonstruierte Theorie »späteren Genera44Vgl. insbesondere Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 29. 45Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 3. 46Vgl. insbesondere Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 6, 181–187. 47Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 185–187. 48Vgl. den ähnlichen Vorbehalt bei King, Aristotle on Life and Death, 7.
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tionen selbstverständlich unbekannt« war. Die überlieferte »kanonische« Theorie der vier Elemente habe deshalb einen »blinden Fleck« hinterlassen, was die Begründung des Entstehens und des Zusammenhalts komplexer Substanzen anging. Diese Lücke sei im Mittelalter einerseits durch die Lehre vom aktiven Intellekt als Formgeber gefüllt worden und andererseits durch alchemistisch beeinflusste Theorien des Pneumas als eines den Körper durchdringenden und zusammenbindenden Stoffes von ontologisch herausgehobenem Rang.49 Ohne die von Freudenthal angedeuteten Zusammenhänge grundsätzlich zu bestreiten, möchte ich mit Blick auf die Untersuchung der Physiologie Ibn Bāǧǧas doch folgende Einwände geltend machen: Erstens, die Theorie des aktiven Intellekts als Formgeber verweist auf die offengelassene Frage nach dem Verhältnis formtheoretischer und biologischer Erklärungen. Es ist daher noch gar nicht entschieden, ob der »blinde Fleck«, den diese Theorie zu füllen versucht, tatsächlich auf der Blindheit der mittelalterlichen Autoren in Bezug auf die authentische aristotelische Lösung im Bereich der Physiologie beruht, oder ob es sich nicht vielmehr um eine vornehmlich die Theorie der Form selbt berührende Lücke handelt, die Freudenthals Studie – ihrer methodischen Begrenzung wegen – nur nicht aufgedeckt hat. Der metaphysische Kontext, in dem die Frage des Formgebers diskutiert wurde, spricht eher für die Richtigkeit dieser zweiten Annahme.50 al-Fārābī etwa unterscheidet deutlich zwischen der unmittelbaren Ursächlichkeit der individuellen Form und der übergreifenden Ursächlichkeit der abstrakten Speziesform (»Menschheit«), für die er sich dann auf den aktiven Intellekt beruft.51 In ähnlicher Weise geht auch Ibn Bāǧǧa in Auslegung von De generatione animalium 737a7–11 davon aus, dass im Samen deshalb eine Potenz tätig sein muss, die Intellekt in Akt ist, weil die Form hier in abstrakter Weise vorliegt und übermittelt wird.52 Zur Debatte stehen damit zwei verschie49Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 6, 195ff. Die Frage ist von Freudenthal weiterverfolgt worden, beispielsweise in seinem Aufsatz The Medieval Astrologization of Aristotle’s Biology: Averroes on the Role of the Celestial Bodies in the Generation of Animate Beings, in: Arabic Sciences and Philosophy 12 (2002), 111–137. 50Zu diesem metaphysischen Kontext vgl. Dag Nikolaus Hasse, Spontaneous Generation and the Ontology of Forms in Greek, Arabic, and Medieval Latin Sources, in: Peter Adamson (Hg.), Classical Arabic Philosophy: Sources and Reception (Warburg Institute Colloquia 11), London– Turin 2007, 150–175. 51al-Fārābī, Falsafat Arisṭūṭālīs, ed. Mahdi, 130, 1–14. 52Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 138, 17f (MS B 142r26f; das Blatt ist irrtümlich zunächst als 150 nummeriert). Zum Einfluss der arabischen Übersetzung (Aristotle, Generation of Animals. The Arabic Translation Commonly Ascribed to Yaḥyā Ibn al-Biṭrīq, edited with introduction and glossary by J. Brugman, H. J. Drossaart Lulofs, Leiden 1971, 64, 13–15) auf die Lektüre von Aristoteles’ Erwähnung des Intellekts an dieser Stelle vgl. Davidson, Alfarabi, Avicenna, and Averroes, 233f. Die dort beschriebene Position »Ibn Bāǧǧas« ist aus Ibn Rušds Darstellung gezogen und bedarf, ebenso wie die des Ibn Rušd selbst, einer neuen Untersuchung.
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dene ontologische Ebenen, die in der Form anwesend sind und die zur Erklärung der Übertragung der Form unterschieden werden müssen.53 Diese Problematik berührt aber den Zusammenhang von Physiologie und Psychologie nicht direkt, und kann daher hier ausgeblendet werden. Zweitens mag es sehr wohl sein, dass in der Überlieferung der aristotelischen »Chemie« und Biologie an das Mittelalter zahlreiche Details der rekonstruierbaren Lehre des Aristoteles verlorengegangen sind, ja auch dass viele Denker keine oder nur vage Vorstellungen von den allgemeineren Zusammenhängen hatten, aber selbstverständlich ist dies keineswegs. Man muss daher bei jedem einzelnen Autor genau hinsehen, welche Elemente der aristotelischen Theorie der natürlichen Wärme in seiner Philosophie anzutreffen sind. Die in Abschnitt 2 folgende Rekonstruktion von Ibn Bāǧǧas Auffassung von angeborener Wärme und Pneuma wird zeigen, dass eine weitgehend mit der aristotelischen Lehre übereinstimmende Position zumindest in der arabischen Tradition durchaus erreichbar war. Damit stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach den Überlieferungswegen, deren Untersuchung jedoch über den Rahmen dieser Studie hinausgeht. Immerhin scheint sicher zu sein, dass al-Fārābīs Versuch, die aristotelische Physiologie gegen die galenische Medizin zu verteidigen, prägende Wirkung entfaltete und zumindest wichtige Teile der Theorie von Lebenswärme und Pneuma in systematischer Konzentration vermitteln konnten.54 Diese Konfrontation aristotelischer und galenischer Physiologie ist von unmittelbarer Bedeutung für die Frage nach der Vereinbarkeit des entelechialen Seelenmodells mit der Theorie von Lebenswärme und Pneuma. Denn die galenische Medizin kennt, wie bereits angedeutet, zwei oder gar drei Pneumata, die mit drei prinzipiellen Organen – Leber, Herz und Hirn – verbunden sind, welche jeweils zum Zentrum verschiedener Lebensfunktionen gemacht werden.55 Ibn 53Diese Unterscheidung ist auch dort wesentlich, wo sie, wie beim reifen Ibn Rušd, als rein begriffliche, nicht reale Unterscheidung gefasst und daher gegen die These vom aktiven Intellekt als Formgeber ausgespielt wird. Vgl. dazu die revidierte Fassung von Averroes’ Kommentar zu De generatione animalium (Gad Freudenthal, Averroes’ Changing Mind on the Role of the Active Intellect in the Generation of Animate Beings, in: Ahmad Hasnawi (Hg.), La lumière de l’intellect. La pensée scientifique et philosophique d’Averroès dans son temps. Actes du IVe colloque international de la SIHSPAI, Cordoue, 9–12 décembre 1998, Leuven 2011, 319–328, hier 326f, §§ 24–26) und die entsprechende Formulierung in der revidierten Fassung seiner Epitome der Metaphysik (Rüdiger Arnzen, Averroes on Aristotle’s Metaphysics. An Annotated Translation of the So-called »Epitome«, Berlin–New York 2010, 66, rechte Spalte), wo er erklärt, dass »der Akt, welcher das Ziel der Veränderung ist, nur durch den Bewirker der Veränderung erreicht wird, und dass es nicht möglich ist, dass der Bewirker der Veränderung eines ist und der Bewirker des Endes der Veränderung etwas anderes«. 54Vgl. oben, Anm. 21. 55Die Unterscheidung von drei Pneumata entspricht der kanonisierten Form von Galens Pneumalehre, wie sie sich in der alexandrinischen und syro-arabischen Tradition herausgebildet hat, vgl. Temkin, On Galen’s Pneumatology, 188f; und siehe oben, Anm. 12 und 13. Galens
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Bāǧǧa kennt als Arzt nicht nur die galenische Pneumalehre (vgl. unten T 66), sondern er erkennt auch, dass diese medizinische Theorie zwar mit einem platonischen Modell getrennter Seelenteile, nicht aber mit der aristotelischen Psychologie vereinbar ist. Die Position, die er, durchaus zutreffend, Platon und Galen zuschreibt, besagt, die Seele sei zwar eine, besitze aber »in den Subjekten viele Teile« (N I. 11). Diese Übereinstimmung Platons und Galens war für jeden arabischen Leser offensichtlich in Galens Kompendium des Timaios festgehalten und darüber hinaus in vielen anderen galenischen Schriften dokumentiert.56 Es ist aber al-Fārābī, der in seiner oben erwähnten Abhandlung der aristotelischen Position, die Seele und alle ihre Vermögen seien im Herzen, »die Ansicht des Timaios und Platons« gegenüberstellt, es gebe mit Hirn, Herz und Leber drei führende Glieder, wobei der »zürnende Teil« der Seele im Herzen, der rationale, wahrnehmende und bewegende sich im Hirn befänden, und zwar ohne dass alle Teile noch einmal durch eine einheitliche, übergeordnete »Führung« gelenkt würden. Vielmehr sei jeder sein eigener Herrscher und »isoliert« (munfarid) in Bezug auf die jeweilige Lenkung der Körperteile.57 Diese physiologisch orientierte Theorie impliziert – und das wird in al-Fārābīs nochmaliger Zusammenfassung auch deutlich ausgesprochen –, dass die Seele mit ihren Substraten, den Körperteilen, aktuell in Teile geteilt sei: »Was nun die Ansicht des Timaios angeht, so sind nach ihr der Körper und seine Glieder sowohl in Akt als auch in Potenz eine Vielheit, da ihre Tätigkeiten ja auf Grund von vielem entstehen und wegen vieler Ziele, ohne dass sie sich in einem Ziel vereinigten. Und ebenso ist [dann] der Führer [raʾīs] im Körper des Menschen in Akt und in Potenz vielfach.«58 eigene Pneumalehre, die nur das sogenannte πνεῦμα ψυχικόν, gebildet in dem das Hirn umgebenden Adernetz aus dem vom Herzen ausströmenden πνεῦμα ζωτικόν und verantwortlich für die sinnlichen und geistigen Fähigkeiten, als Pneuma eigener Art deutlich heraushebt, ist weiterhin analysiert bei Leonard G. Wilson, Erasistratus, Galen, and the Pneuma, in: Bulletin of the History of Medicine 4 (1959), 293–314, sowie Rudolph E. Siegel, Galen’s System of Physiology and Medicine. An Analysis of His Doctrines and Observations on Bloodflow, Respiration, Humors and Internal Diseases, Basel–New York 1968, 113–115, 183–192. 56Galen, Ǧawāmiʿ kitāb Ṭīmāʾus, ed. Kraus, Walzer, 23, 5–8. Eine ausführliche Dokumentation zu Galens an Platon anknüpfende Einteilung und Verortung der Seelenvermögen findet sich in: Phillip de Lacy, The Third Part of the Soul, in: Paola Manuli, Mario Vegetti (Hg.), Le opere psicologiche di Galeno. Atti del terzo Colloquio Galenico Internazionale, Pavia, 10–12 settembre 1986, Neapel 1988, 43–63; vgl. neuerdings auch Mark Schiefsky, Galen and the Tripartite Soul, in: Rachel Barney [u.a.] (Hg.), Plato and the Divided Self, Cambridge 2012, 331–349; John Finamore, The Platonic Tripartite Soul and the Platonism of Galen’s On the Doctrines of Hippocrates and Plato, in: Metaphysical Patterns in Platonism, New Orleans 2005, 1–16 [non vidi]. 57al-Fārābī, Risāla fī aʿḍāʾ al-ḥayawān wa-afʿālihā wa-quwāha, in: Badawī, Rasāʾil falsafīya li-l-Kindī wa-l-Fārābī wa-Ibn Bāǧǧa wa-Ibn ʿAdī, 65–107 (siehe aber oben, Anm. 21), hier 84, 10–85, 3. 58al-Fārābī, Risāla fī aʿḍāʾ al-ḥayawān wa-afʿālihā wa-quwāha, ed. Badawī, 86, 13–15.
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Demgegenüber muss, wie al-Fārābī weiter deutlich macht, die aristotelisch geprägte Physiologie, der es auf die Einheit des Organismus und der Seele ankommt, auch ein physiologisches Einheitsprinzip finden: [Z 10] »Er [d. i. Aristoteles] beginnt seinen Beweis, indem er den Grund angibt, aus dem es der Wärme und eines gemeinsamen Prinzips der Wärme in den übrigen Gliedern bedarf und aus dem das Herz zu Quelle und Prinzip der Wärme wird. Dies ist der Grund, aus dem die primäre Wärme in Potenz die Wärmen [ḥarārāt] aller Glieder wird – im Herzen; sie ist nämlich die gemeinsame Wärme für alle Glieder. Zur Prämisse seiner Argumentation hat er die Aussage gemacht, ›dass die Seele, die wahrnimmt, in Akt eine ist‹. Das bedeutet, dass ihre Tätigkeit und sie [selbst] eins sind. Da nun die Tätigkeit vielfach ist, wird ihre Potenz vielfach, obgleich sie dem Wesen nach eine ist.«59 Indessen lässt sich diese aristotelische Einheitsforderung in verschiedener Weise ausgestalten. Ibn Sīnā etwa, dessen auch neuplatonisch inspirierte Pneumatheorie schon erwähnt worden ist,60 argumentiert mit Blick auf die Einheit des Lebewesens, die sinnlichen Vermögen emanierten mittels des Pneuma vom Herzen her auf das Hirn, wo sie, durch richtige Temperierung des Pneumas, erst vervollkommnet und zu den einzelnen Sinnesorganen delegiert würden. So rettet er den galenischen Forschungsstand bezüglich Hirn, Nerven und Sinneswahrnehmung möglichst integral hinüber in eine auf der aristotelischen Forderung nach einem einheitlichen Zentrum der Lebensfunktionen beruhenden herzzentrierten Lehre, die dem Hirn eigentlich nur die Funktion eines Kühlapparates zuweist.61 Ibn Rušd dagegen folgt der aristotelischen Theorie viel weiter, indem er die Hirn und Sinnesorgane verbindenden Nerven nur als Transportwege der vom Hirn ausgehenden Kälte betrachtet, während die Sinnesorgane prinzipiell über die
59al-Fārābī, Risāla fī aʿḍāʾ al-ḥayawān wa-afʿālihā wa-quwāha, ed. Badawī, 87, 15–20. Das Zitat entspricht, mit geringen Abweichungen, dem Text der überlieferten arabischen Übersetzung, welche die Passage De partibus animalium, 667b19–22, recht frei wiedergibt; vgl. The Arabic Version of Aristotle’s Parts of Animals, Book XI-XIV of the Kitāb al-ḥayawān, a critical edition with introduction and selected glossary by Remke Kruk (Aristoteles Semitico-Latinus 2), Amsterdam–Oxford 1979, 76, 2–4 (arab.). 60Vgl. oben, Anm. 42. 61Zum angegebenen Grund für die Übernahme der aristotelischen Perspektive vgl. insbesondere Ibn Sīnā, Kitāb al-šifāʾ. al-Nafs, ed. Rahman, 263, 20–264, 3 (Kapitel 5. 8). Einen tieferen Einblick in den galenischen Anteil an Avicennas Psychologie bietet Robert E. Hall, Intellect, Soul and Body in Ibn Sīnā: Systematic Synthesis and Development of the Aristotelian, Neoplatonic and Galenic Theories, in: Jon McGinnis, David C. Reisman (Hg.), Interpreting Avicenna: Science and Philosophy in Medieval Islam. Proceedings of the Second Conference of the Avicenna Study Group (Islamic Philosophy, Theology and Science. Text and Studies 56), Leiden–Boston 2004, 62–86.
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Adern mit dem Herzen als zentralem Wahrnehmungsorgan verknüpft bleiben.62 Dies ist, wie wir sehen werden, auch der von Ibn Bāǧǧa beschrittene Weg. Solch unterschiedliche Lösungen sind nicht als bloßes Resultat anderer Rezeptionswege, sondern nur als Ausdruck philosophischer Richtungsentscheidungen zu verstehen. Diese lassen sich aber unter Umständen in verschiedener Weise deuten. So könnte etwa der Wechsel von Ibn Sīnā zu Ibn Rušd als Richtgröße in der philosophischen Psychologie bei den lateinischen Autoren des 13. Jahrhunderts als Hang zu einer aristotelischen Orthodoxie interpretiert werden, der auf die »fortschrittliche« Sinnesphysiologie Ibn Sīnās unnötig verzichtet.63 Eine ähnliche Vermutung läge, angesichts des zu Beginn dieser Studie nachgezeichneten »ideologischen« Kontextes, auch für Ibn Bāǧǧa nahe. Dagegen scheinen mir jedoch systematische Gründe entscheidend zu sein. Denn das avicennische Modell der Interaktion von Seele und Körper verträgt sich eben letztlich nicht mit dem aristotelischen Hylemorphismus. Um genau diese Verträglichkeit geht es aber Ibn Bāǧǧa, wie wir sehen werden. Nur wenn alle systematischen Implikationen betrachtet werden, kann auch die Rezeption der entsprechenden Theorien angemessen bewertet werden. Für die arabische Philosophie fehlt es hier noch an entsprechenden Studien. Dabei zeugt Qusṭā ibn Lūqās Abhandlung Über den Unterschied zwischen Seele und Pneuma davon – und nur in diesem Sinn kann sie als Indikator dienen –, dass die Frage nach dem Verhältnis psychologischer und physiologischer Erklärungen in der arabischen Wissenschaft spätestens im 9. Jahrhundert virulent war. Soweit die wenigen bisher erschienenen Untersuchungen ein Urteil zulassen, scheint es jedoch, als sei zwar die Frage über die Differenz zwischen Seele und Pneuma zu einem Standardthema in der arabischen Literatur geworden, jedoch ohne eine nennenswerte systematische Vertiefung zu erfahren. So zeigen die etwa hundert Jahre nach Qusṭā verfassten kurzen Abhandlungen der beiden Ärzte und Philosophen Isaak Israeli und Ibn al-Ṭayyib keinen Versuch, die Beziehung von Pneuma und Seele genauer zu klären.64 Ebenso ist der physiologische
62Ibn Rušd, Kitāb al-kullīyāt fī l-ṭibb, ed. J. M. Fórneas Besteiro, C. Alvarez de Morales, Madrid 1987, 75, 14–80, 4 und zur Funktion der Nerven 55, 17–56, 8. 63Vgl. die Bewertung bei Dag Nikolaus Hasse, Aristotle versus Progress: The Decline of Avicenna’s De anima as a Model for Philosophical Psychology in the Latin West, in: Jan A. Aertsen, Andreas Speer (Hg.), Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea Medievalia 26), Berlin–New York 1998, 871–880. Jedoch könnten die hier analysierten Texte Ibn Bāǧǧas eher zeigen, warum ein zunehmendes Verständnis von Aristoteles’ Hylemorphismus zu einer Abkehr von Ibn Sīnā führen musste. 64Zu Isaak Israeli vgl. Altmann, Stern, Isaac Israeli, 106–117; zu Ibn al-Ṭayyib vgl. Y. Tzvi Langermann, Abū l-Faraj Ibn al-Ṭayyib on Spirit and Soul, in: Le Muséon 122 (2009), 149–158. Einen kurzen Überblick über die Geschichte der Unterscheidung von Geist und Seele gibt auch Y. Tzvi Langermann, David Ibn Shoshan on Spirit and Soul, in: European Journal of Jewish Studies 1 (2007), 63–86, hier 70–73.
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Pneumabegriff wohl in die theologische Literatur eingegangen, die sich auf die koranischen Begriffe von »Geist« (rūḥ) und »Seele« (nafs) bezieht, dort aber offenbar vor allem als metaphysische Mittlerinstanz gehandhabt worden.65 Welche Probleme bei Qusṭa angesprochen, aber eben nicht gelöst waren, konnte für die lateinische Rezeption seiner Schrift in beeindruckender Weise gezeigt werden: Der Text fragt nach dem Unterschied zwischen Seele und Pneuma, identifiziert das letztere als feine körperliche Substanz, verantwortlich für eine Vielzahl von Lebensfunktionen, und referiert das entsprechende galenische Grundwissen. Die Seele dagegen wird, ohne tieferes Problembewusstsein, sowohl mit Aristoteles als Entelechie des Körpers als auch mit Platon als unkörperliche Substanz bestimmt. Die Frage nach dem Zusammenhang dieser beiden Entitäten und nach der Art ihrer Kausalität tritt dagegen nur durch Qusṭās Versagen hervor, sie überhaupt angemessen zu thematisieren.66 Unter dem Titel De differentia spiritus et animae zu Beginn des 12. Jahrhunderts von Johannes Hispanus ins Lateinische übersetzt,67 lieferte der Text Theologen und Philosophen des 12. und 13. Jahrhunderts einen Problemaufriss und das medizinische Material zum Begriff des Pneumas, das sich in verschiedener Weise einsetzen ließ. J. Bono hat gezeigt, dass die Theologen des 12. Jahrhunderts es vor allem benutzten, um den spiritus zwischen dem materiellen, sterblichen Körper und der immateriellen, unsterblichen Seele vermitteln zu lassen, während im 13. Jahrhundert, wie er vor allem anhand einiger Schriften des Albertus Magnus verdeutlicht, mit der intensivierten Aristotelesrezeption und der Übernahme des Entelechiemodells, der spiritus nicht mehr als vermittelndes Moment gedacht werden konnte, sondern ihm eine begrenzte Funktion als körperliches Organ der Seele zugewiesen wurde. Der Erfolg der wesentlich auf Galen und seine arabischen Bearbeitungen zurückgehenden Pneumatheorie lag, so Bono, darin, dass sich dieses medizinische Konzept im Horizont völlig verschiedener
65Vgl. etwa Y. Tzvi Langerman, The Naturalisation of Science in Ibn Qayyim al-Ǧawziyya’s Kitāb al-rūḥ, in: Oriente Moderno 90 (2010), 201–218, besonders 211f; eine Übersicht über die Entwicklung des theologischen Geistbegriffs gibt Duncan B. MacDonald, The Development of the Idea of Spirit in Islam, in: Acta Orientalia 9 (1931), 307–351. Siehe weiterhin: T. R. Netton, Nafs, in: Encyclopedia of Islam, New Edition, Bd. 7, Leiden–New York 1993, 880–884. 66Bono, Medical Spirits, 94–96. Die Grenzen dieser Untersuchung werden aber gerade an dem beschriebenen Kurswechsel deutlich, denn Bono spricht fast durchweg von dem »aristotelischen und galenischen spiritus«, wobei er jedoch nur die galenische Theorie des Pneumas darstellt. »Aristotelisch« ist ihm die Benutzung dieser Theorie im Rahmen einer durch De anima bestimmten Psychologie. Damit sind also die physiologischen Schriften des Aristoteles als Quelle einer eigenen Theorie von Pneuma und Lebenswärme ignoriert sowie die Rolle, welche die Rezeption neuer arabischer Texte – man denke an die obigen Beispiele aus Ibn Sīnā und Ibn Rušd – in dieser Hinsicht spielen musste. 67Vgl. die Edition und Studie der Überlieferungsgeschichte in: Wilcox, The Transmission and Influence.
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platonischer, aristotelischer, neuplatonischer und augustinischer Philosophien integrieren ließ. An diesem Beispiel mag die Aufgabe in Blick auf die Analyse von Ibn Bāǧǧas Theorie deutlich werden. Um festzustellen, welche Ausprägung und vor allem welche Funktion die so variable und anpassungsfähige Theorie von Lebenswärme und Pneuma bei ihm annimmt, muss diese in einem ersten Schritt zunächst so weit wie möglich rekonstruiert werden – und zwar allein aus den Texten Ibn Bāǧǧas selbst (Abschnitt 2). Nur wenn in dieser Weise das physiologische Modell gesichert ist, das Ibn Bāǧǧa sich zu eigen macht, können die theoretischen Implikationen dieser Theorie diskutiert werden (Abschnitte 3–4), ohne dass man sich auf im Detail unidentifizierte Annahmen beruft. Es würde jedoch den Rahmen dieser Studie sprengen, alle Theoriebausteine auf ihre aristotelischen Quellen zurückzuverfolgen. Hier muss der allgemeine Verweis auf Freudenthals Analyse genügen. Ein Vergleich der hier rekonstruierten Theorie Ibn Bāǧǧas mit den entsprechenden Abschnitten bei Freudenthal kann jederzeit die weitgehende Deckung mit den zentralen Einsichten der aristotelischen Theorie bezeugen. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung liegt dagegen auf der Frage, wie Ibn Bāǧǧa die Theorie der Lebenswärme in seine Psychologie und insbesondere in seine Potenztheorie integriert.
2. Die physiologische Funktion von angeborener Wärme und Pneuma Nicht alle Einzelheiten der im Folgenden in systematischer Form zusammengestellten Aussagen über die Funktion von Wärme und Pneuma werden von Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele erwähnt, aber eine ausreichend große Menge von Teilstücken dieser Theorie ist tatsächlich in seiner Seelenschrift präsent, sodass außer Zweifel steht, dass er sich dort auf eine in sich geschlossene Theorie bezieht, aus der er nach Bedarf auf einzelne Momente verweist. Insofern im Buch der Seele nicht nur die Teile der Theorie genannt werden, welche die Lebewesen unmittelbar betreffen, sondern gerade auch solche, die sich auf die unbelebte Natur beziehen, ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass Ibn Bāǧǧa hier nicht bloße Versatzstücke aus seinen Quellen aufnimmt, sondern ganz bewusst auf eine einheitliche Theorie der Wärme zurückgreift.
2.1. Wärme in der unbelebten Natur Bei der Erzeugung und Ernährung des Lebewesens spielt die Wärme eine entscheidende Rolle (N II. 19). Das gilt jedoch nicht erst für die Prozesse der Entstehung und des Erhalts beseelter Substanzen, sondern verbindet diese mit der unbelebten Natur. Für eine »erste Art« der Mischung, durch die aber weder mi-
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neralische noch eigentlich homoiomere Körper entstehen, trägt allein die kreisförmige Bewegung der Himmelskörper die Verantwortung (N III. 32, 33), welche dafür sorgt, dass die Elementarkörper miteinander in Berührung kommen.68 Gemeint sind hier vermutlich die »Elemente«, die, so wie sie sich tatsächlich beobachten lassen, immer bereits Mischungen darstellen, in denen einer der vier einfachen Körper überwiegt.69 Dagegen ist für die Erzeugung aller anderen Homoiomere und Mineralien zusätzlich eine »natürliche Wärme« (ḥarāra ṭabīʿīya) notwendig, die verschiedenen Ursprung haben kann. Ibn Bāǧǧa nennt »Kochen« (ṭabḫ), Fäulnis (ʿufūna) und »andere der im vierten Buch der Meteorologie aufgezählten Mischungen« als von der Wärme verursachte Veränderungsprozesse (N III. 31). In diesem Fall sind die Himmelskörper nur der »ferne Beweger«, während »der nahe Beweger derjenige ist, in dem die Wärme ist, durch die die Reifung zustande kommt«, das heißt die Wärme stammt aus den Elementarkörpern selbst (N III. 33). Zu den Entstehungsbedingungen homoiomerer Körper gehört erstens die Erzeugung der entsprechenden »Materie«. Diese wird gebildet von zwei sogenannte »Ausdünstungen«, einer warm-feuchten, nämlich Dampf (buḫār), und einer warm-trockenen, nämlich Rauch (duḫān). Diese Ausdünstungen entstehen auf Grund der Einwirkung der Wärme, die von den Himmelskörpern ausgeht, und ständig auf die Erde gelangt.70 Die materielle Voraussetzung dafür liegt in der bereits erwähnten grundsätzlichen Mischung der Elemente. Tatsächlich bilden Erde und Wasser »gleichsam eine einzige Sphäre«, und mit beiden ist auch noch Luft vermischt.71 Ja, tatsächlich kommen alle drei Elemente – Wasser, Luft und Feuer – in der Erde vor, da die Erde auf Grund der in ihr vorherrschenden 68Vgl. Kapitel 8, Abschnitt 3. 69Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 54 und siehe Kapitel 8, Abschnitt 2. 70Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 394, 11–13: »Die Wärme gelangt ständig von den Himmelskörpern zur Erde, und gelangt, wenn sie zu ihr gelangt, [auch] zu dem, was in ihr an Luft und Wasser ist, sodass Körper entstehen, die in verschiedener Weise gemischt sind und die sich alle nach oben bewegen.« Lettinck, 436, 13–18: »Wir sagen, dass von der Erde, wie wir gesagt haben, aus dem genannten Grund zwei Gattungen von Ausdünstungen [abḫira] aufsteigen, eine von beiden warm und trocken, die andere warm und feucht, sowie etwas aus beiden Gemischtes. Jede von den beiden einfachen ist entweder dick oder dünn. Das TrockeneDünne ist ›Glut‹ [wahaǧ], das Dicke ›Rauch‹ [duḫān]; das Feuchte wird insgesamt als ›Dampf‹ [buḫār] bezeichnet, während es keine Bezeichnung für seine [unterschiedlichen] Typen gibt. Diese steigen alle, wie wir gesagt haben, in die Atmosphäre [al-ǧaww] auf.« Mit MS B, f. 116r [arab.] lies in Zeile 436, 14 ǧinsān statt ǧismān. 71Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 410, 4–9: »Wir sagen, dass das Wasser und die Erde gleichsam eine einzige Sphäre sind und ebenso im Verhältnis zum Ganzen existieren, wie es in der Mathematik erklärt worden ist [?]. Sie sind beide miteinander vermischt, und ein Teil der Luft ist mit beiden vermischt. Wenn die Wärme auf der Erde anlangt, steigt von jedem von beiden eine Ausdünstung auf. Die vom Wasser erhebt sich getrennt, diejenige von der Erde erhebt sich gemischt und zusammengesetzt, während nur ein wenig davon sich getrennt erhebt.«
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Trockenheit nicht leicht Einwirkungen erleidet und sich teilen lässt, sodass sie diese Elemente also festhalten kann.72 Die von den Himmelskörpern und insbesondere von der Sonne ausgehende Wärme kommt dann auf zweierlei Weise zur Erde, einmal durch die Bewegung der Sonne, die Wärme erzeugt und der Luft mitteilt, und zweitens durch Reflexion (inʿikās) des Sonnenlichts von der Erde.73 Die so entstehenden Ausdünstungen sind dann die Ausgangsstoffe für jegliche homoiomere und anhomoiomere Substanzen, die jeweils an dafür geeigneten Orten entstehen.74 Mineralien zum Beispiel im Erdinneren, in einer sogenannten »Mine« (maʿdin), Wasserpflanzen dagegen im oder an der Oberfläche des Wassers, und zwar jeweils nur dadurch, dass Wärme auf die für eine gewisse Dauer an einem Ort festgehaltenen Ausdünstungen einwirkt.75 Bei der Erzeu72Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 392, 24–394, 8: »Es ist bereits in De generatione et corruptione erklärt worden, dass die Elemente selten getrennt existieren, sondern vielmehr in zwei Arten der Vermischung, [nämlich] der Nebeneinanderstellung und der Mischung, und dass die drei Arten der Elemente alle in der Erde existieren. In Luft und Wasser existieren sie nur selten, und das können wir auch durch Wahrnehmung beobachten, nämlich deshalb, weil Luft und Wasser dazu bereit sind, dass sich die anderen beiden Elemente, nämliche Feuer und Erde, in ihnen bewegen. Die Erde dagegen ist nicht dazu bereit, dass sie sich in ihr bewegen, da alles, indem sich etwas bewegt, leicht Einwirkung erleidet und teilbar ist.« 73Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 404, 6–18: »Stellen wir nun fest, dass die Erde die Wärme der Sonne erreicht, die von ihrer Bewegung und von der Reflexion herkommt. Insgesamt erreicht sie die Bewegung der Sonne, während ihr Inneres in gewissem Maß von der [Wärme] erreicht wird, die von der Reflexion herkommt. […] Die Reflexion erwärmt die Luft, dann kehrt die Luft um und erwärmt die Erde. Jedes von beiden ist daher Ursache für das jeweils andere, jedoch in zwei Weisen und Zuständen: Die Erde erwärmt die Luft durch Reflexion, die Luft erwärmt die Erde durch die Wärme, die in ihr ist.« Ob und, wenn ja, in welchem Sinne Ibn Bāǧǧa den Himmelskörpern selbst Wärme zuschreibt, müsste noch genauer geklärt werden. Zu dieser »Anomalie« innerhalb der aristotelischen Naturphilosophie vgl. Freudenthal, Medieval Astrologization, 128–135. 74Ibn Bāǧǧa sieht in den Ausdünstungen das einheitliche Subjekt der Wissenschaft der Meteorologie. Sie sind einerseits für im engeren Sinne meteorologische Phänomene im Erdinneren und in der Atmosphäre verantwortlich, dann aber an spezifischen Orten auch für das Entstehen von Homoiomeren. Das vierte Buch der Meteorologie behandelt die allgemeinen Grundlagen dieses letzteren Aspekts, während spezifische komplexe Körper in der Zoologie, in der Pflanzenkunde und in der Mineralogie behandelt werden; vgl. Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 406, 6–408, 16 und 450, 1–452, 6. 75N III. 32 und Ibn Bāǧǧa, Šarḥ al-āṯār al-ʿulwīya, ed. Lettinck, 394, 14–396, 3: »Dasjenige [von den Ausdünstungen], was zufällig [ittafaqa] keinen Ausweg findet, bleibt stehen, wenn das Hindernis es zum Stehen bringt, und zwar ist das der dichte Ort. Wenn dann dort zufällig Wärme dazukommt [ṣādafa], dann wird es zudem bewegt und kocht entweder oder fault oder reift oder verbrennt, oder aber es wird fest. […] Wenn es entweicht und zufällig auf Wasser trifft und nicht heraus kann, das Wasser aber es aufhält und nicht durch seine Kälte auflöst, dann bleibt die Wärme im warmen Teil eingeschlossen im Inneren dieser Ausdünstung, und es entstehen daraus Algen und ähnliche Wasserpflanzen.« Vgl. auch Lettinck, 406, 18–408, 3: »Die Erde ist ein einziger Ort, der den Elementen und den mineralischen Körpern gemeinsam ist. Ein Teil der Erde wird, wenn er diese Potenz hat, als ›Mine‹ [maʿdin] bezeichnet. Dort,
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gung mineralischer Körper übernimmt dabei die Wärme die Rolle, die bei künstlichen Mischungen der Mischende innehat, sie bestimmt das »Mittel« (wasaṭ) der Mischung, also das Verhältnis der Bestandteile (N III. 32). Da in diesem Fall die Wärme von den elementaren Körpern selber stammt – sie kann nämlich, wie Ibn Bāǧǧa ausdrücklich präzisiert, immer nur an einem Körper vorkommen – und da somit das Zusammentreffen aller genannten Faktoren nur auf Zufall beruht, so entstehen mineralische Körper nur zufällig und nicht stets nach den gleichen Verhältnissen (N III. 31–32). Eben deshalb bedarf es, wie wir schon sehen konnten, zur Entstehung von Beseeltem der Seele als ordnendem Prinzip.76
2.2. Erzeugung und Erhalt des Organismus Beim Lebendigen kann nun die Wärme ebenfalls aus der Umgebung stammen, oder aber sie kann im Samen erhalten sein. Im ersten Fall, der sogenannten »Spontanzeugung«, übernimmt »die Wärme der Fäulnis oder eine andere Wärme« die Rolle, die bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der Samen übernimmt. In jedem Fall bewegt das Warme »die mit Wasser gemischte Erde« (N III. 36–37). Wärme, Wasser und Erde sind also die Hauptfaktoren der Erzeugung belebter Körper. Die Erde dient dabei dem Bestand und der Begrenzung (N III. 30), das Wasser als Feuchtes der Kohäsion. In seiner Schrift Über Pflanzen legt Ibn Bāǧǧa ihre Funktionen folgendermaßen auseinander: [T 62] »In jeder Pflanze sind zwei Potenzen, eine von beiden von der Art der Potenz der Erde, die andere von der Art der Potenz des Wassers. Ebenso existiert in den Pflanzen eine Potenz von der Art des Feuers, nur dass deren Existenz nicht in allen Pflanzen klar ist […] und diese Potenz entsteht nur auf Grund der Bewegung der Sonne und gelangt mittels der Luft zu den Pflanzen. […] Daher hat Aristoteles gesagt, dass die Pflanzen drei Potenzen besitzen und hat die dritte auf das Feuer zurückgeführt, weil sie bewegt, während die Potenz der Erde Materie ist. Warum dies so ist, ist schon in dem dargelegt worden, was wir über die Seele geschrieben haben. Die Pflanzen haben nämlich eine einheitliche Tätigkeit und müssen daher der Natur nach numerisch eines sein, und das ist im Feuchten nicht möglich. Das Feuchte ist das, wodurch das Trockene zusammengehalten wird, durch das es sich bewegt und Kontinuität erhält. Die Potenz von der Art des Feuers dagegen ist nicht diejewo mineralische Körper erzeugt werden, entstehen keine Lebewesen und überhaupt nichts Beseeltes; Beseeltes existiert nur auf der Oberfläche der Erde oder im Wasser. Deswegen hat Aristoteles in diesem Buch ausschließlich diese Orte betrachtet, denn an ihnen entstehen diese Homoiomere, die nicht der Natur nach Teile von anderen sind.« 76Vgl. Kapitel 9, Abschnitt 3.
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nige, die ernährt, sondern sie ist das Organ der Nährpotenz. […] Die Wärme von der Art des Feuers, nämlich diejenige, die von der Bewegung der Sonne herkommt, ist wie die angeborene Wärme in den Lebewesen und sie muss daher ein bestimmtes Maß haben [maḥdūda], denn wenn es zu viel oder zu wenig Wärme gibt, wird die Arbeit der Nährpotenz vereitelt.«77 Die »angeborene« (ġarīzī) Wärme der Lebewesen ist demnach als die Wärme aufzufassen, die höhere Lebewesen als Bestandteil ihres Körpers besitzen, während den übrigen Lebewesen und den Pflanzen diese Wärme von außen zugeführt werden muss. Die angeborene Wärme wird bei der Zeugung durch den Samen übertragen. In jedem Fall ist die Wärme das Organ der Nährseele, weil sie es ist, die gegenüber den beiden materiellen Potenzen, Feuchtigkeit und Trockenheit mit ihren jeweiligen Funktionen der Begrenzung und des Zusammenhalts, die Formgebung übernimmt.78 Dies stimmt erstaunlich genau mit der von Freudenthal bei Aristoteles herausgearbeiteten Theorie überein, die sich mit dem Satz der Meteorologie zusammenfassen lässt, dass »das Feuchte durch das Trockene durch die Einwirkung der aktiven [Potenzen] begrenzt worden ist«.79 Daraus leiten sich dann auch die Notwendigkeit der Ernährung und die Funktion der Wärme bei der Ernährung ab. Ibn Bāǧǧa verweist im soeben zitierten Text dazu auf sein Buch der Seele, und in der Tat erklärt er dort, dass der beseelte Körper aus Erde und Wasser zusammengesetzt ist und dass diese durch die Wirkung der »angeborenen seelischen Wärme« als Organ der Seele zusammengebracht und umgewandelt werden (N II. 19). Während die Erde für den Bestand und die Begrenztheit des Körpers sorgt (N III. 30), ist die Potenz der Ernährung deshalb notwendig, weil der Körper auch Feuchtigkeit enthält, die »schnell etwas erleidet und sich auflöst«. Wenn also nicht durch Nahrung dasjenige ersetzt wird, was sich aufgelöst hat, dann »zerstört die Wärme diesen Körper« (N II. 20; vgl. N II. 21). Denn es ist eben, wie Text T 62 zeigt, nur eine genau bemessene Wärme, weder zu stark, noch zu schwach, welche der Operation der Nährseele dienen kann. Es ist dann die natürliche oder angeborene Wärme, die die Umwandlung der Nahrung übernimmt, sodass die Nährseele mittels der Wärme auf die Nahrung einwirkt und sie dem Körper anverwandelt.80 Zur Erklärung dieser Fähigkeit der 77Ibn Bāǧǧā, Fī l-nabāt, ed. Asín, 272, 4–20. 78So schreibt Ibn Bāǧǧa auch im Buch der Lebewesen, Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. alʿAmmāratī, 116, 1–3: »Da die Homoiomere, gemäß dem, was in der Meteorologie erklärt worden ist, notwendigerweise aus Erde und Wasser oder Erde und Luft oder aus [allen] dreien zusammengesetzt sind, so ist das Feuer in dem, was aus ihm zusammengesetzt ist, immer nur so, dass es die Form ist.« 79Aristoteles, Meteorologie, IV. 1, 379a10f; vgl. Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 22f, 40f und die weiteren dort genannten Textstellen bei Aristoteles. 80N II. 19; vgl. auch Ibn Bāǧǧā, Fī l-nabāt, ed. Asín, 271, 26–272, 1: »Sagen wir also, dass alle Pflanzen sich ernähren und dass alles, was sich ernährt – entsprechend dem, was wir im
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Wärme beruft sich Ibn Bāǧǧa nicht zuletzt darauf, dass die aktive Potenz, etwas sich Gleiches zu erzeugen, unter den Elementen beim Feuer am offensichtlichsten ist (N II. 18). Vor allem aber beruht diese Theorie auf der bereits bei den unbelebten Substanzen festgestellten Tatsache, dass sie nur durch Beteiligung von Wärme erzeugt werden.81 Wie im Falle der Zeugung können auch bei der Ernährung die Lebewesen unterschieden werden, die diese Tätigkeit mit eigener Wärme leisten und diejenigen, die dazu äußerer Wärme bedürfen. Maßgeblich dafür ist die »Ausgewogenheit« (iʿtidāl) ihrer Mischung, also ob diese genug Warmes enthält. Je ausgewogener die Mischung, desto vollkommener ist das Lebewesen.82
2.3. Ursprung der angeborenen Wärme Wenn die Wärme angeboren ist, braucht sie einen Sitz im Körper, denn wir wissen ja bereits, dass Wärme immer nur als Qualität eines Körpers vorkommt (N III. 31). Es bedarf also einer weiteren physiologischen Theorie, um zu erklären, wie die Wärme als Organ der Nährseele im belebten Körper sein kann. Diese
Buch der Seele geschrieben haben – eine natürliche Wärme benutzt und durch sie die Nahrung umwandelt.« 81Vgl. N III. 36; Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 116, 7–10: »Manchmal gibt es zusammengesetzte Körper, denen das warme Element nicht beigemischt ist, sondern immer nur außerhalb ist, denn es entsteht kein Homoiomer, ohne dass das warme Element existiert, entweder beigemischt oder [von außen] berührend [mumāssa], nämlich bei den mineralischen Körpern, denn bei den meisten von ihnen ist das warme Element außerhalb, wie beim Gold und dem, was ihm gleicht.« 82Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 117, 5–119, 7: »Alles was sich ernährt benutzt das Warme so, dass es Organ zur Existenz der Ernährung ist. In allem was sich ernährt ist daher notwendigerweise Wärme, nur ist sie in einigen von ihnen bedürftig; was in ihnen von Seiten der Zusammensetzung an Wärme ist genügt nicht, sondern es braucht Wärme von außen, die es so verwendet, dass sie ein Organ zur Vollendung ihrer Tätigkeit ist. Das ist bei ihnen nur deshalb der Fall, weil sie aus den beiden kalten Elementen zusammengesetzt sind, und die beiden warmen Elemente nur in dem Maße in ihnen sind, ohne das sie nicht erstarren und die Bewegung nicht aufnehmen würden. Daher bewegen sich die Pflanzen zur Zeit des Frühlings und reifen zur Zeit des Sommers. […] Ebenso finden wir unter den Lebewesen solche, die fern von der Ausgewogenheit [iʿtidāl] sind, die sich in der kalten Jahreszeit verbergen, besonders in den kalten Ländern. Wenn eines von ihnen an die Kälte kommt, wird es starr, und wenn die Wärme es erreicht, bewegt es sich, wie die Schlangen, die Eidechsen, die Skorpione und derartiges, denn ihre Wärme, die in ihnen ist, reicht nicht aus, um sie zu bewegen, und sie ähneln darum den Pflanzen. Es ist richtig, dass das Lebewesen, das in sich die Potenzen hat, derer es bedarf, und keine Potenz gebraucht, die es von einem äußeren Körper bezogen hätte, ›vollkommenes Lebewesen‹ genannt wird, wie die landgängigen Lebewesen und die fliegenden. Das vollkommene Lebewesen ist notwendigerweise dasjenige, in dem die Elemente ausgewogen sind. Je ausgewogener es ist, desto vollkommener ist es.«
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Theorie beruft sich einerseits auf das Herz als »Prinzip« (mabdaʾ) des Lebewesens und andererseits auf das angeborene Pneuma. [T 63] »Das Glied, in dem die Nährpotenz ist, dort sind die übrigen Potenzen, und durch es entsteht das Leben des Lebewesens. Im Menschen ist das das Herz und ebenso bei allen blutführenden Lebewesen. In allen Lebewesen gibt es ein Herz oder etwas, das dem Herzen entspricht, bei den Lebewesen, die etwas haben, was dem Blut entspricht. Es ist klar, dass dort wo das erste Organ ist, notwendigerweise auch die Seele sein muss. Das erste Organ ist aber, gemäß dem, was im vierten [Buch der Meteorologie] dargelegt worden ist, die angeborene Wärme, und wo die angeborene Wärme entspringt, dort ist die Seele. Das Herz ist gemäß dem, was durch Sektion beobachtet worden ist, die Quelle der angeborenen Wärme, also ist das Herz das Prinzip des Lebewesens.«83 Die Identifizierung des Herzens als Prinzip des Lebewesens beruht mithin auf einer doppelten Überlegung, welche einmal die Seele als Form und zum anderen die angeborene Wärme betrifft. Insofern die Potenz zur Ernährung von allen seelischen Potenzen Priorität besitzt, weil sie Ursache des Lebens ist, sodass die übrigen Potenzen von ihr abhängen, müssen diese Potenzen auch in Bezug auf ihre Verortung im Organismus mit der Nährseele verbunden sein. Auf der anderen Seite hat bereits die »chemische« Theorie der Meteorologie ergeben, dass Wärme das erste Organ der Ernährung sein muss. Und die Beobachtung lehrt ferner, dass in den Lebewesen das Herz die Quelle der angeborenen Wärme ist. Folglich ist die Seele im Lebewesen prinzipiell im Herzen, sofern dieses Ursprung der Wärme ist, während die übrigen Glieder entweder dazu dienen, das Herz zu bewahren, oder aber vom Herzen bewegt werden.84 Das Herz besitzt dadurch jedoch keine Priorität gegenüber der angeborenen Wärme, vielmehr ist es die Wärme mittels derer die »Form« des Lebewesens das Herz allererst als ein Organ erzeugt, das die entsprechende Funktion erfüllen kann. Sie tut das unter anderem, indem sie ihm eine besondere Festigkeit verleiht.85 Vom Herzen aus
83Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 103, 3–10. Zur Frage, ob und wie zur Zeit Ibn Bāǧǧas seziert wurde vgl. die (etwas spekulativen) Ausführungen bei Forcada, Ibn Bājja on Medicine and Medical Experience, 137–139; zum islamischen Hintergrund allgemein Emilie Savage-Smith, Attitudes toward Dissection in Medieval Islam, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 50 (1995), 67–110. 84Vgl. auch Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 104, 5–7: »Die Seele ist folglich im Lebewesen im Herzen oder in dem, was ihm entspricht. Das Herz ist also das Prinzip des Lebewesens, während die übrigen Glieder entweder es bewahren oder von ihm bewegt werden. Alles was im Körper ist, hängt vom Herzen ab oder dem, was ihm entspricht.« 85Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 104, 11–16: »Warum es fest ist, haben wir bereits gesagt, was aber [die Frage] angeht, wie es fest wird, so liegt das daran, dass es das wärmste der Glieder ist, es ist nämlich aus Erde und Feuer zuammengefügt, und daher ist es
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wird dann der gesamte Körper ausgebildet und ernährt, sodass die Form oder Seele als »Wirkendes« (fāʿil), indem sie das Herz als Prinzip der Ernährung und des Wachstums erzeugt, zugleich den gesamten Körper erzeugt, auch wenn sich diese Prozesse vom Herzen aus entrollen.86 [T 64] »Da die Wärme materiell ist, hat sie notwendigerweise Materie, die sie trägt, damit sie wirken [kann], denn das Wirken und Leiden entstehen, wie in De generatione et corruptione [I. 6] erklärt worden ist, nur durch Kontakt, und der Kontakt entsteht nur in einem Körper. Die angeborene Wärme ist in einem Körper, und dieser Körper ist mit dem Herzen verbunden und strömt von ihm aus [munbaʿiṯ]. Dies kann entweder nur ein Dampf [buḫār] sein, nämlich das, was ›angeborenes Pneuma‹ [rūḥ ġarīzī] genannt wird, oder das gilt [zumindest] im Lebewesen, das Blut hat, denn es allein ist im Herzen, wie man beobachten kann.87 Das Herz ist das erste, dem das Nährvermögen gegeben ist, und das ist stärker materiell als die Sinne, also muss dieses Pneuma notwendigerweise mit der Nahrung verbunden sein. Da alle Glieder sich ernähren, muss die nahe Nahrung mit jedem einzelnen von ihnen verbunden sein, sodass das Blut im ganzen Körper verbreitet sein muss. Da die Nahrung des Lebewesens feucht ist, wie bereits in De plantis erklärt worden ist, kann die Nahrung nicht rein trocken sein. Daher braucht das Blut Gefäße wie Röhren, die sich mit den Gliedern verbinden und das Herz durchdringen. Die Blutgefäße sind die Adern, und das Herz ist folglich das Prinzip der Adern.«88 fester als die anderen, die diese Mischung haben. Es ist jedoch nur im Zustand des Wohlergehens des Lebewesens so und gehört nicht zu dem, was notwendig ist. Die Ursache der Wärme eines jeden Lebewesens ist seine Form. Weil nun die Wärme die Festigkeit bewirkt, so ist es folglich die Form, die dies dem Wesen nach, nicht [bloß] akzidentell bewirkt; und sie bewirkt es um des Wohlergehens willen.« 86Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 178, 1–7: »Aristoteles hat gesagt, dass man beobachten kann, dass die Glieder nicht zugleich erzeugt werden, denn das Herz kann vor der Lunge beobachtet werden, obgleich die Lunge größer ist als es. Einige Seiten später hat er dann gesagt, dass die Glieder gleichzeitig erzeugt werden. Gemeint ist damit, dass sie in ihrer Existenz vom Wirkenden her gleichzeitig sind, denn es liegt nicht im Sein des Wirkenden, dass es erst das Herz bewirkt und dass dann das Herz die Leber und die übrigen bewirkt. Das Herz oder das, was seine Stelle ausfüllt, geht nur insofern voraus, als es Prinzip des Wachstums ist, denn Wachstum bedeutet etwas anderes als Entstehen. In Bezug darauf, was etwas ist, werden seine Teile zugleich erzeugt. Insofern jedoch dieses Erzeugte vollendet ist und ein Prinzip des Wachstums hat, so ist sein Prinzip früher, nämlich das Herz und die Organe der Ernährung.« Laut MS B, f. 141r [arab.] ist in Zeile 178, 7 wa-ālāt statt wa-li-anna zu lesen. 87Möglicherweise ist dieser zentrale Satz, so wie er in beiden verfügbaren Handschriften zu lesen ist, korrupt. Die Hauptaussage ist aber deutlich, zumal die Folge zeigt, dass Ibn Bāǧǧa die Hypothese des Pneumas akzeptiert. 88Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 104, 17–105, 7. In Zeile 105, 6 ist statt des grammatikalisch wie inhaltlich sinnlosen yutaqaddimna nach MS B, f. 138v, und MS O, f. 96v, vermutlich yunfaḏ min zu lesen; 104, 19 ergänze wa-l-tamāss nach bi-tamāss.
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Damit das Herz die beschriebene Rolle als Prinzip des Lebewesens erfüllen kann, muss die angeborene Wärme von ihm aus im gesamten Körper verteilt werden. Sie bedarf dazu eines Trägers, der mit dem Blut als »naher«, das heißt verarbeiteter, Nahrung (vgl. N II. 14) über die Adern alle Teile des Körpers erreicht. Dieser Körper ist das angeborene Pneuma, das als ein »Dampf«, also nach den obigen Ausführungen als feucht-warme Ausdünstung zu bestimmen ist. Das Pneuma transportiert die Wärme in alle Körperglieder und belebt sie dadurch.89 Ibn Bāǧǧa geht offenbar davon aus, dass das Pneuma durch eine von der angeborenen Wärme im Herzen verursachte Verdunstung des Blutes erzeugt wird, denn er sagt an einer Stelle: »Das angeborene Pneuma vermehrt sich nämlich durch das Sieden [ġalayān] des Blutes im Herzen auf Grund der natürlichen Wärme.«90 Dies entspricht wiederum präzise der von Freudenthal für Aristoteles rekonstruierten Theorie.91 Wenn das angeborene Pneuma so durch die angeborene Wärme erzeugt ist und sie trägt, dann wird verständlich, warum Ibn Bāǧǧa in vielen Kontexten beide Begriffe austauschbar verwendet. Er kann vom angeborenen Pneuma sprechen und damit das Ganze meinen, das dieses mit der angeborenen Wärme als seiner wirkenden Potenz bildet; er kann auch von der angeborenen Wärme allein sprechen, indem er nur das wirkende Moment benennt und dessen materielles Substrat ausblendet.
2.4. Die Differenzierung von Organen und Spezies Bisher war nur von der angeborenen Wärme als einem einheitlichen Phänomen die Rede. Dagegen hat sich bereit anlässlich der Analyse der Organizität des Körpers in Kapitel 10 gezeigt, dass etwa die Potenz zur Ernährung ebenso ausdifferenziert sein muss wie die Organe, die ernährt werden (N II. 18, vgl. N II. 14). Es ist deshalb folgerichtig, wenn Ibn Bāǧǧa in einer medizinischen Abhandlung Über die Mischung – wohl einem Kommentar zu Galens Kitāb al-mizāǧ (Пερὶ κράσεων) –, die sich allerdings ausdrücklich auf die Ergebnisse der Naturphilosopohie beruft, erklärt, dass die Mischung, also das »Mittel« zwischen warm und kalt, für jedes Körperglied unterschiedlich ist.92 Das ausgewogene Tempe89Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 193, 2–5: »In all diesen großen Gliedern gibt es Adern, welche die Wege sind, die das Blut und das angeborene Pneuma transportieren. Daher müssen sie notwendigerweise mit jedem Glied verbunden sein, denn die Adern sind die Wege des Lebens für jedes der Glieder, und solange das Glied lebendig ist, sind die Adern mit ihm verbunden.« 90Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 140, 6f. 91Vgl. Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 119–130 zu »The Production of Connate Pneuma« und »The Workings of Connate Pneuma (1): Providing the Vital Heat With a Substrate Transporting It«. 92Einige kurze Anmerkungen zu diesem Text finden sich bei Forcada, Ibn Bājja on Medicine, 114 und 116. Zur arabischen Überlieferung des galenischen Werkes vgl. Ivan Garofalo,
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rament, das dem Menschen als ganzem zukommt, ist dasjenige der angeborenen Wärme, während die einzelnen Glieder jeweils ein spezifisches Temperament besitzen. Ohne diese spezifische Wärme können sie ihre Tätigkeit nicht oder zumindest nicht vollkommen ausführen.93 Nicht nur die Differenzen der Organe eines Körpers können durch unterschiedliche Wärmegrade erklärt werden, sondern auch die Differenzen der verschiedenen Spezies von Lebewesen. Aus der Vielzahl der denkbaren Mittel zwischen warm und kalt gibt es nämlich für jedes Körperglied jeweils zwei, zwischen denen sich die entsprechenden Temperamente bei den verschiedenen Lebewesen bewegen müssen, um eine Lebensfunktion erfüllen zu können. Was man als »ausgewogenes Temperament« bezeichnet und der angeborenen Wärme zuschreibt, ist folglich ein Mittel zwischen diesen beiden gerade noch lebenstauglichen Mischungen, das der einen oder der anderen näher stehen kann.94 La traduzione araba del de temperamentis, del de optima constitutione e del de bono habitu, in: Véronique Boudon-Millot [u.a.] (Hg.), Ecdotica e ricezione dei testi medici greci. Atti del Convegno internazionale sulla medicina antica (Napoli, 1–2 ottobre 2004), Neapel 2006, 125–135; zu Handschriften, Zitaten und Kommentierungen vgl. Ullmann, Die Medizin im Islam, 39. Ibn Rušds Kommentierung desselben Werkes ist ediert in: Commentaria Averrois in Galenum, ed. Maria de la Concepción Vazquez de Benito, Madrid 1984, 35–94 und 237–248. 93Ibn Bāǧǧa, Maqāla fī l-mizāǧ 1, ed. Wuld Manāh, in: Maqālāt wa-taʿālīq wa-šurūḥ li-Bn Bāǧǧa fī l-ṭibb, 157, 20–23: »Alle Mittel, nämlich die Wärmen und Kälten sind im Großteil der tastbaren Körper und sind auch natürlicherweise im menschlichen Körper. Jedes seiner Glieder trägt ein Mittel, das von dem jedes anderen [Gliedes] verschieden ist. Wenn dieses Organ sein Mittel verliert, dann ist seine Tätigkeit nicht vollkommen.« 160, 22–24: »Was das absolut ausgewogene Temperament des Menschen angeht, so ist das ausgewogene Temperament eines [jeden] Gliedes verschieden vom ausgewogenen Temperament des Menschen, und das ausgewogene Temperament eines Gliedes ist verschieden vom ausgewogenen Temperament eines anderen Gliedes.« 164, 5–7: »Unter den Temperamenten gibt es eines, das zum Körper des Menschen als solchen gehört, nämlich das Temperament der angeborenen Wärme, und es gibt darunter solche, die zu jedem einzelnen Glied gehören, nämlich das Temperament dieses Gliedes.« 94Ibn Bāǧǧa, Maqāla fī l-mizāǧ 1, ed. Wuld Manāh, 160, 7–22: »Das Ausgewogene ist aus zwei Gegensätzen zusammengesetzt, ohne dass einer von beiden überwiegt, und das Verhältnis jedes der beiden Gegensätze zu ihm ist das gleiche. Da nun im Körper des Menschen und in seinen Gliedern nicht eines dieser Mittel selbst existiert, sondern vielmehr davon in einem Glied des menschlichen Körpers ein gewisses Mittel, während in dieser Art von den Gliedern in einem anderen Körper der Natur nach ein anderes Mittel ist, so gibt es viele natürliche Temperamente, die sich der Güte nach unterscheiden. Jedoch nicht unendlich viele, denn es kann nicht sein, dass in einem Glied eines anderen Lebewesens die Gegensätze in gewisser Weise rein existieren und das Glied dennoch lebendig ist. Es gibt folglich für jede Art von den Körpern der Lebewesen zwei Arten von Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit, die das Äußerste sind, was darin vorkommt. Diese beiden Arten, die einander entgegengesetzt sind, insofern beide in der Gattung des Lebewesens sind, sind also auch beide entgegengesetzte Extreme des Temperaments. Sie verhalten sich zum Temperament wie die reine Hitze und die grimmige Kälte zu den entgegengesetzten Qualitäten. Es ist klar, dass zwischen diese beiden Temperamente, wenn wir annehmen, dass sie aufeinandertreffen und sich aneinander anglei-
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Der Mensch hat das ausgewogenste Temperament im Vergleich zu den übrigen Lebewesen.95 Es ist letztlich jeweils die Nährseele, die auch unter gleichen äußeren Bedingungen ein verschieden bemessenes Maß an Wärme bewegt und als ihr Organ gebraucht und damit für die Differenz der Spezies sorgt.96 Auf diese Weise erklärt sich schließlich auch der Unterschied zwischen den Reichen des Lebendigen – Pflanzen, Tieren und Mensch –, denn nur wenn das Temperament des angeborenen Pneumas besonders ausgewogen ist, kann es über das Nährvermögen hinaus weitere Potenzen oder Formen aufnehmen.97 Eine seelische Potenz wird dabei durch die nächst höhere überformt, sofern das Temperament es zulässt.98
chen in allen ihren Zuständen, ein aus beiden zusammengesetztes Mittel entsteht, zu dem sie beide das gleiche Verhältnis haben. Dieses Mittel ist folglich das ausgewogene Temperament in Relation zu jenen beiden Extremen. Es ist einleuchtend, dass es wärmer ist als das Ausgewogene, da ja bereits in der Naturwissenschaft erklärt worden ist, dass jedes Lebewesen eine angeborene Wärme besitzt.« 95Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 119, 11–12: »Es ist bereits klar, dass der Mensch das vollkommenste Lebewesen ist, weil er das ausgewogenste Lebewesen ist.« Vgl. auch Anm. 82. 96Ibn Bāǧǧā, Fī l-nabāt, ed. Asín, 272, 14–19 (=T 62): »Die Potenz von der Art des Feuers dagegen ist nicht diejenige, die ernährt, sondern sie ist das Organ der Nährpotenz. Dadurch unterscheiden sich die Spezies der Pflanzen, obgleich sie in ein und derselben Pflanzung sind, die Nahrung dieselbe ist und die sie umgebende Luft dieselbe ist. Dies ist auch die Ursache dafür, dass einige Pflanzen zu einigen Jahreszeiten existieren, zu anderen nicht. Die Wärme von der Art des Feuers, nämlich diejenige, die von der Bewegung der Sonne herkommt, ist wie die angeborene Wärme in den Lebewesen und sie muss daher ein bestimmtes Maß haben.« 97Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 187, 8–15; Faḫrī, 159, 3–8; Asín, 12, 1–7: »Ich sage, dass der Mensch manchmal einen Zustand besitzt, in dem er den Pflanzen ähnelt, und zwar in der Zeit, in der ihn der Mutterleib umschließt, denn er formt sich zuerst, und wenn seine Formung dann vollendet ist, ernährt er sich und wächst. Diese Tätigkeiten besitzen die Pflanzen von Beginn ihrer Existenz an, und er [d. i. der Mensch] besitzt zu Beginn seiner Existenz keine anderen, nämlich während seiner Entwicklung. Die angeborene Wärme führt diese Tätigkeiten aus. Wenn der Embryo dann aus dem Bauch seiner Mutter gekommen ist und seine Sinneswahrnehmung gebraucht, dann gleicht er dabei den nichtrationalen Lebewesen; er bewegt sich in Bezug auf den Ort und hat Begehren. Dies ist der Fall, weil die spirituelle Form sich [zuerst] seinem Gemeinsinn einschreibt und dann der Vorstellung.« Genequand, 188, 4–10; Faḫrī, 159, 18–160, 3; Asín, 12, 16–21 (=T 50): »Der Mensch gleicht folglich im Mutterleib den Pflanzen und wird nur als Lebewesen in Potenz bezeichnet, und zwar deshalb, weil sein angeborenes Pneuma die spirituelle Form aufnimmt, denn er [wird] ein Lebewesen durch diese Aufnahme. Im angeborenen Pneuma der Pflanzen dagegen ist das nicht möglich. Was [die Frage] angeht, warum dieses angeborene Pneuma die Form aufnimmt und jenes andere sie nicht aufnimmt, so ist der Grund dafür das Temperament [imtizāǧ]. Das bedarf einer anderen Erörterung, von der ein Teil bereits in der Naturwissenschaft dargelegt worden ist. Eine hinreichende Darlegung dagegen ist würdig, separat erörtert zu werden.« 98Vgl. Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 101, 6–7: »Außerdem ist bereits erklärt worden, dass der Tastsinn sich nicht abtrennt und dass sein Subjekt sich ernährt, und der Tastsinn ist also Form für die Potenz der Ernährung.« Lies in Zeile 101, 7 mit ed. Maʿṣūmī, 32, 6
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2.5. Pneuma und Bewegung Das Pneuma, beziehungsweise die in ihm enthaltene angeborene Wärme erzeugt alle Tätigkeiten des belebten Körpers, wobei diese entweder vom Herzen ausgehen oder von anderen Organen, die dann aber in Bezug auf die Wärme vom Herzen abhängen.99 Wenn daher das Pneuma den Körper verlässt, stirbt das Lebewesen.100 Kein Organ kann ohne die angeborene Wärme seine Tätigkeit entfalten. Insbesondere dem Pneuma als Körper, mehr als der in ihm enthaltenen Wärme, weist Ibn Bāǧǧa die Funktion zu, die Ortsbewegung des Lebewesens zu verursachen.101 Die Funktionsweise des Pneumas erklärt sich Ibn Bāǧǧa dabei anhand des von Aristoteles in der Physik entwickelten und in De anima auf die Ortsbewegung angewandten Drei-Faktoren-Modells. Diesem Modell zufolge sind an jedem Bewegten das bloß Bewegte, das Bewegende und das, womit es bewegt, zu unterscheiden. Als verschiedene Teile lassen sich nämlich immer zweierlei beobach-
li-quwwa statt li-ǧism. Und al-ʿAmmāratī, 124, 1–3: »Nun entsteht der Tastsinn nur auf Grund der Ausgewogenheit, weil durch die Ausgewogenheit der vollkommene Tastsinn entsteht, wie in der Schrift De anima erklärt wurde [vgl. 421a19–25]. Wenn der Tastsinn vollkommen ist, können die Sinne vollkommen sein, nur dass dies akzidentell ist.« Akzidentell ist dies offenbar deshalb, weil das ausgewogene Temperament des Pneumas die Ursache für beides ist, sodass die Vollendung des Tastsinns nur Anzeichen für die Vollendung der übrigen Sinne sein kann. 99Ibn Bāǧǧa, Qaul fī l-quwwa al-nuzūʿīya, ed. al-ʿAlawī, 133, 17–21: »Es ist bereits an anderer Stelle erklärt worden, dass das Herz oder das, was seine Stelle einnimmt, das Prinzip der Lebewesen ist, dass es die Quelle der angeborenen Wärme ist, die im Körper existiert, und dass durch die angeborene Wärme alle im Körper existierenden Bewegungen erzeugt werden, und zwar meine ich damit die Ernährung und die Arten von Begehren [nuzūʿ], Einbildung [tawahhum] und Überlegen [tafakkur], denn die Verdauung, auch wenn sie im Magen stattfindet, ist doch wie das Schreiben: Wenn es auch die Feder ist, welche die Buchstaben zeichnet, so ist der Zeichnende doch der Mensch.« Der Vergleich will offenbar besagen, dass das Herz den Magen als Mittel gebraucht wie der Mensch die Feder. Wenn Ibn Bāǧǧa dem »Überlegen« hier ein körperliches Organ zuweist, dann ist damit wohl eher eine Tätigkeit des Vorstellungsvermögens als des rationalen Vermögens gemeint. 100Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 138, 5–8: »Wenn dieses Pneuma beim Tod des Lebewesens weggeht, dann bleiben jene [vermittelnden Organe] zurück, unbewegt und nicht bewegend.« 101Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 186, 21–187, 5; Faḫrī, 158, 18–159, 1 (mit Auslassung); Asín, 11, 22–27: »Die angeborene Wärme existiert in jedem blutführenden [Lebewesen] und existiert auch in Lebewesen, die kein Blut besitzen, wie Insekten und ähnlichen. Die angeborene Wärme wird, insofern sie das Organ der bewegenden Potenz ist – und die ist seine Form, nämlich der erste Beweger –, als ›angeborenes Pneuma‹ bezeichnet. Als ›Pneuma‹ bezeichnet man sowohl die Seele als auch das, was wir beschrieben haben. Deshalb fügt man ›angeboren‹ hinzu und nennt es ›angeborenes Pneuma‹. In den Pflanzen gibt es etwas Entsprechendes, das aber dem angeborenen Pneuma nur entfernt ähnlich ist.« Die verkürzende Gleichsetzung von Lebenswärme und Pneuma ist offenbar dem Kontext der Schrift geschuldet, der es auf die Feinheiten der physiologischen Zusammenhänge nicht ankommt.
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ten: etwas das bewegt, ohne in sich ein Prinzip der Bewegung zu besitzen, und ein Selbstbewegtes, das Bewegung verursacht. Dieses muss daher einen Beweger besitzen, der selbst unbewegt ist.102 In De anima wird dieses Modell um einen weiteren Faktor vermehrt, insofern das Bewegende in das Strebevermögen und das erkannte Objekt, auf das sich dieses Vermögen richtet, auseinandergelegt wird. Demnach sind (1) das erfasste Objekt als das unbewegte Bewegende, (2) das Strebevermögen als das bewegte Bewegende, (3) der Körper des Lebewesens als das Bewegte und (4) das körperliche Organ der Bewegung zu unterscheiden.103 Auch Ibn Bāǧǧa kennt und benutzt dieses Schema, indem er das von Aristoteles nicht näher bezeichnete körperliche Organ als das angeborene Pneuma identifiziert: [T 65] »Der Beweger ist die Idee [raʾy] oder die Vorstellung [ḫayāl], das sich Bewegende ist der strebende Teil [der Seele], der die Form des angeborenen Pneumas ist, das ein Körper ist. Es ist also klar geworden, dass der erste Beweger aus zwei Dingen zusammengesetzt ist; eins von beiden ist der Beweger, nämlich die Idee oder die Vorstellung, das andere ist dasjenige, womit sie bewegt, nämlich das Streben [nuzūʿ], aber diese beiden sind keine Körper, sondern die Beziehung der Idee zum Streben entspricht der Beziehung des Bewegers zum Organ, mit dem er bewegt.«104 Das heißt, jeweils zwei Faktoren lassen sich in bestimmter Perspektive zusammenfassen. Zum einen kann die Seele als »erster Beweger« betrachtet werden, der dann das erkannte Objekt und das durch dies bestimmte Strebevermögen umfasst.105 Zum anderen bilden die Seele als Form, hier vertreten durch das Strebevermögen, und das angeborene Pneuma als körperliches Organ eine Einheit. Auf diesem Aufbau beruht auch Ibn Bāǧǧas weitere Analyse der Wirkung des Pneumas, die sich in seinem Kommentar zur Physik findet. Er identifiziert dort das Pneuma als Selbstbewegtes (mutaḥarrik min tilqāʾihī), insofern der »erste Beweger« des Lebewesens, der ein unbewegter Beweger ist, »im« Pneuma vorliegt. Die übrigen Organe wie Sehnen und Muskeln sind »Mittel« (mutawassiṭāt) der Bewegung, werden also notwendig bewegt, damit andere Glieder wie die Hand bewegt werden können; oder aber sie sind wie die letzteren bloße Empfänger der Bewegung. Selbstbewegt ist dann das Lebewesen nur mittelbar, dadurch dass zunächst einmal das Pneuma selbstbewegt ist, denn das Pneuma bewegt die übrigen Organe als ein »ihnen äußerlicher Beweger«. Dies tut es offenbar, indem es 102Aristoteles, Physik, VIII. 5, 256b14–24. 103Aristoteles, De anima, III. 10, 433b10–19. 104Ibn Bāǧǧa, Risālat al-wadāʿ, ed. Genequand, 101, 22–102, 1; Faḫrī, 126, 3–7; Asín, 25, 23– 26, 2. 105Vgl. Kapitel 7, Abschnitt 4.
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eine Zugwirkung auf die Sehnen ausübt.106 Die Seele bewegt den Körper mithin mittels des Pneumas auf durchaus mechanische Weise. Diese Mechanik mit dem Pneuma als Übermittler der Bewegungsimpulse, jedenfalls sofern sie aus Ibn Bāǧǧas eher beiläufigen Bemerkungen sichtbar wird, entspricht wiederum der von Aristoteles hauptsächlich in De motu animalium entwickelten Theorie.107 Da jedoch dieser Text nicht in arabischer Übersetzung vorlag,108 muss hier zunächst offenbleiben, auf welchem Wege Ibn Bāǧǧa sich diese Lehre hat aneignen können. Was immer seine Quellen gewesen sein mögen, festzuhalten ist jedenfalls, dass dieser Aspekt sich nahtlos in die übrige aristotelische Theorie von Pneuma und Lebenswärme einfügt. Aus dem Kontext der hier herangezogenen Stelle aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik lassen sich einige weitere Auskünfte über das Pneuma gewinnen, die zwar in der Hauptsache die Bedeutung des Pneumas für die Bewegung illustrieren sollen, jedoch gleichzeitig Näheres über die Wechselwirkung zwischen Seele und Pneuma erkennen lassen.109 Ibn Bāǧǧa führt nämlich dort verschiedene Faktoren an, die sich auf das Vermögen eines Lebewesens auswirken, den eigenen Körper zu bewegen beziehungsweise mit dem Körper zusätzlich bestimmte Lasten zu bewegen. Neben offensichtlichen körperlichen Faktoren wie der mehr oder weniger kräftigen Beschaffenheit der ausführenden Organe 106Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 137, 13–138, 11: »Das Lebewesen ist zusammengesetzt aus einem Beweger, der sich nicht bewegt, aus einem Bewegten, das nicht notwendig bewegt, es sei denn zufällig, und aus etwas, wodurch der Beweger bewegt. Der erste Beweger ist unbewegt; das, wodurch er bewegt, ist notwendig bewegt und bewegend; während das, was er – sei es an dritter Stelle, sei es durch viele Mittel – bewegt, sich bewegt, aber nicht dem Wesen nach bewegt. Das, wodurch der unbewegte Beweger bewegt, ist das Selbstbewegte. Das hat Aristoteles im achten [Buch] dieser Schrift bereits erklärt. Dieses Selbstbewegte ist in den Lebewesen das angeborene Pneuma, während die Mittel alle vom angeborenen Pneuma bewegt werden, sodass sie nicht selbstbewegt sind, nämlich die Sehnen [aʿṣāb], die Muskeln und die zusammengesetzten Glieder wie die Hand. Diese alle sind in ihm [d. i. dem Lebewesen] bewegend und bewegt, nur dass sie von einem ihnen äußerlichen Beweger bewegt werden. Was die Hand angeht, so wird sie zwar bewegt und bewegt [ihrerseits], aber nicht notwendigerweise wie die Mittel. Im angeborenen Pneuma nun ist der Beweger, der sich nicht bewegt; es bewegt das Lebewesen und durch es existiert das Lebewesen als Selbstbewegtes. Wenn dieses Pneuma beim Tod des Lebewesens weggeht, dann bleiben jene [vermittelnden Organe] zurück, unbewegt und nicht bewegend. Daher kommt es vor, dass bei einigen Gliedern der Lebewesen, wenn an ihren Sehnen gezogen wird [ǧuḏibat], [diese] sich bewegen und das Glied bewegen, wie es zum Beispiel bei den Beinen der Vögel geschieht: Wenn die vom Unterschenkel herkommende Sehne gezogen wird, dann ziehen sich die Zehen des Fußes zusammen.« 107Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 134f; vgl. zu dieser Thematik Martha Craven Nussbaum, Aristotle’s De Motu Animalium. Text with Translation, Commentary, and Interpretive Essays, Princeton 1978. 108Vgl. Remke Kruk, La zoologie aristotélicienne. Tradition arabe, in: Richard Goulet (Hg.), Dictionnaire des philosophes antiques, Supplément, Paris 2003, 329–334, hier 329. 109Vgl. zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 138, 12–140, 7.
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und einschlägigen psychischen Faktoren wie der Stärke des Begehrens, welches die angestrebte Handlung auslöst, widmet Ibn Bāǧǧa seine Aufmerksamkeit vor allem dem Zustand des angeborenen Pneumas. Die Quantität und die Resistenz gegen Auflösung [baṭīʾ al-inḥilāl] sind die beiden entscheidenden Eigenschaften des Pneumas, die es zur Verursachung stärkerer Bewegungen befähigen. Die Beschaffenheit des Pneumas muss nicht, wie man erwarten könnte, mit derjenigen der Gliedmaßen übereinstimmen, vielmehr kann unter Umständen jemand, der schwächere Glieder aber ein kräftigeres angeborenes Pneuma besitzt, schwerere Lasten bewegen als jemand mit starken Gliedern und einem schwächeren angeborenen Pneuma. Ibn Bāǧǧa bemerkt sogar, dass diese mitunter fehlende Proportionierung häufig Anlass zu ärztlichen Fehldiagnosen gibt, weil dieser entscheidende Faktor nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Die Quantität des angeborenen Geistes wird zu allererst durch Hunger beeinflusst, der ihn verringert, womit die grundsätzliche Verknüpfung des Pneumas mit der Ernährung als primärer Seelenfunktion bestätigt wird. Deswegen wirken sich auch Krankheiten, welche die Quantität des Blutes (der nahen Nahrung) verringern, auf die Quantität des Pneumas aus.110 Umgekehrt löst die Beeinträchtigung des Pneumas Schwächezustände wie Ohnmacht und Schmerzen aus. Emotionale Regungen wirken sich ebenfalls auf die Quantität des Pneumas aus, Zorn etwa führt zu stärkerem Kochen des Blutes und damit zu vermehrter Erzeugung von Pneuma.111 Die seelischen Zustände haben dabei zwar Einfluss auf die Quantität des angeborenen Pneumas, werden jedoch nicht verlustlos auf der physiologischen Ebene umgesetzt. So erwähnt Ibn Bāǧǧa nämlich die Möglichkeit, dass eine feste Absicht, ein heftiger Wunsch nicht ausgeführt werden können, wenn die Menge des angeborenen Pneumas zu gering ist. Die Nahrung ist mithin der primäre Einflussfaktor auf das Pneuma, was völlig mit der Priorität des Nährvermögens gegenüber allen anderen seelischen Vermögen sowie deren Angewiesenheit auf das Nährvermögen übereinstimmt. Seelische Regungen, die letztlich auf die sinnlichen beziehungsweise das intellektuelle Vermögen zurückgehen, haben zwar Einfluss auf die Produktion des Pneumas – sie sind ja, wie oben gesehen, indem sie die Nährseele überformen, Formen des angeborenen Geistes – sie kontrollieren es jedoch nicht allein, sondern bleiben von den basalen Gegebenheiten der Ernährung und der leiblichen Gesundheit abhängig.
110Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 213, 17f: »Dies ist bei den Kranken offensichtlich; wenn sich in ihren Körpern das saubere Blut verringert, verringert sich das angeborene Pneuma.« 111Siehe die hier in den Anmerkungen zitierten Texte. Dass der Zorn Ursache des verstärkten Kochens des Blutes ist, sagt Ibn Bāǧǧa zwar nicht ausdrücklich, ist in seiner Argumentation jedoch impliziert. Diese Annahme wird zudem durch Aristoteles’ ausdrückliche Verknüpfung von Zorn und Blutwallung im Herzen in De anima, I. 1, 403a29–b1 gestützt.
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2.6. Pneuma und Wahrnehmung Schon bei Aristoteles sind die Aussagen darüber, inwiefern Pneuma und Lebenswärme Organ der wahrnehmenden Seele sind, weniger zahlreich und deutlich. Freudenthal kommt bei seiner Rekonstruktion zu dem Schluss, dass allenfalls erahnt werden kann, dass das Pneuma als Transporteur der Sinneswahrnehmungen von den partikulären Sinnesorganen zum Herzen als dem zentralen Sinnesorgan fungieren soll.112 Verbeke allerdings fällt auf Grund derselben Textstellen ein viel eindeutigeres Urteil über diese Funktion des Pneumas, sodass man immerhin sagen kann, dass es nahelag und naheliegt, Aristoteles in dieser Weise zu lesen.113 Ähnliches gilt nun auch für Ibn Bāǧǧa: Es lassen sich nur wenige und vor allem teils dunkle Textstellen über die Leistung von Wärme und Pneuma für die Wahrnehmung finden, die aber teils so komplexe Theoriestücke enthalten, dass man kaum bezweifeln kann, dass sie in der Tat Teile eines einigermaßen fest gegründeten physiologischen Modells der Wahrnehmung bilden. Die folgende Interpretation dieser Textstellen bemüht sich darum, die dort implizit mitgegebenen Annahmen so weit wie möglich zu entfalten. Zunächst einmal steht auf Grund der bisher gesichteten Zeugnisse fest, dass für Ibn Bāǧǧa die angeborene Wärme ebenso wie für alle anderen seelischen Tätigkeiten auch Organ für das Wahrnehmungsvermögen ist. Er nennt unter anderem »Einbildung« und »Überlegen«, also zwei Tätigkeiten des Vorstellungsvermögens, als von der angeborenen Wärme verursachte »Bewegungen«.114 Weiterhin ist dieser Zusammenhang bei der soeben untersuchten Funktion des Pneumas für die Ortsbewegung vorausgesetzt. In seinem Buch der Lebewesen bemerkt Ibn Bāǧǧa in einer Passage, die auf die oben besprochene bezüglich des Herzens als Quelle des Pneumas hinführt (T 63, T 64), Aristoteles habe bei seiner Behandlung des Tastsinnes, also des ersten Wahrnehmungsvermögens, an dieser Stelle nicht genau unterschieden, »ob das Fleisch das Wahrnehmende ist oder das angeborene Pneuma und das Fleisch sein Organ«.115 112Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 130–134. 113Vgl. Verbeke, Doctrine du pneuma et entéléchisme chez Aristote, 198; zu weiteren Stimmen in diesem Sinne vgl. Freudenthal, Aristotle’s Theory of Material Substance, 132, Anm. 63. 114Vgl. Anm. 99. 115Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 100, 1–11: »Wir sagen, dass der Tastsinn den übrigen Arten des Sinnes der Natur nach vorhergeht, und das ist von selbst bekannt. Man nimmt manchmal an, dass es verschiedene Typen des Tastsinns gibt, denn der Tastsinn ist [zuständig] für das Warme und das Kalte, das Feuchte und das Trockene, das Harte und das Weiche. Diese Potenz, ob sie nun eine ist oder mehr als eine, ist das Fleisch und das was ihm entspricht. Dieser Sinn bedarf des Fleisches mehr als die anderen seiner bedürfen. Daher hat der Mensch ein besseres Tastempfinden als die übrigen Lebewesen, weil er viel Fleisch besitzt, und weder Haar hat noch Gefieder noch eine Färbung noch eine harte Schale, sondern Haut. Man nimmt auch manchmal an, dass die Haut des Menschen das erste Wahrnehmende [ḥāss awwal] sei. Dass sie aber nicht das erste Wahrnehmende ist, ist klar, weil das Fleisch ohne die
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Im Buch der Seele bestätigt sich dann eindeutig, dass Ibn Bāǧǧa die angeborene Wärme als das primär Wahrnehmende ansieht. Das Organ des Tastsinns, so erklärt er, muss zwischen den Grundqualitäten warm, kalt, feucht und trocken, die es wahrnimmt, »ausgewogen« (muʿtadil) sein, wenn es schon nicht, wie die Organe der anderen Sinne, ganz frei von den wahrzunehmenden Qualitäten sein könne. Als »Körper, in dem sich das Tastvermögen befindet«, der nämlich »ausgewogen zwischen den Extremen« sei, identifiziert er dann die angeborene Wärme. Jedoch widerspricht er unmittelbar im Anschluss an diese Behauptung seinem eigenen Befund und behauptet nun, ein ausgewogenes Verhältnis sei bei der angeborenen Wärme gerade nicht möglich, sie bedürfe vielmehr der Kühlung durch die »seelische Kälte« (burūda nafsānīya), die vom Gehirn ausgeht. Er erklärt sogar, dass die Organe, die nicht gekühlt werden, kein Tastempfinden haben, ja dass die Arterien, die mit angeborenem Pneuma gefüllt sind, gerade deshalb keine Tastwahrnehmung besitzen (N VIII. 4). Der sich hier auftuende Widerspruch kommt dadurch zustande, dass Ibn Bāǧǧa möglicherweise unvereinbare Annahmen der aristotelischen Sinnesphysiologie dennoch miteinander zu vereinbaren sucht. Auf der einen Seite steht die in De anima vorgetragene und von Ibn Bāǧǧa hier referierte Notwendigkeit, dass das Tastorgan zwischen den gegensätzlichen Qualitäten ausgewogen sein muss, um als »Mitte« die Extreme – etwa die Abweichungen von der mittleren Temperatur – unterscheiden zu können.116 Dem steht jedoch entgegen, dass die angeborene Wärme per definitionem genau das ist, Wärme, und zwar die stärkste im Körper vorhandene Wärme, welche den gesamten Körper wärmt und belebt. Wenn Ibn Bāǧǧa sie dennoch zu dem »Körper, in dem sich das Tastvermögen befindet« macht, dann kann das nur bedeuten, dass der Systemzwang stärker ist als dieser interne Widerspruch: Die angeborene Wärme, beziehungsweise das angeborene Pneuma (Ibn Bāǧǧa nennt beide) muss das prinzipiell Wahrnehmende sein, wenn sie das erste einheitliche Organ aller seelischer Potenzen ist. Der Widerspruch muss dann eben auf andere Weise aufgelöst werden. Gerade die Tatsache, dass Ibn Bāǧǧa insbesondere für das Tastvermögen näher auf die
Haut mehr wahrnimmt als es mit der Haut darüber wahrnimmt. Ob sie aber ein Wahrnehmungsfähiges oder das Organ des Wahrnehmenden ist, die Darlegung dessen verschiebt er auf die Schrift De anima. Wir wollen die Sache stehen lassen gemäß dem, was wir beobachten, [nämlich] dass der Sinn im Fleisch ist. Er kümmert sich in diesem [Werk] nicht darum, ob das Fleisch das Wahrnehmende ist oder das angeborene Pneuma und das Fleisch sein Organ.« Die Stelle bezieht sich auf Aristoteles, De partibus animalium, II. 1, 647a14–21; dort ist das Pneuma nicht erwähnt. In Zeile 100, 11 ist mit MS B, f. 135v [arab.] āla vor lahu einzufügen. Eine umfangreiche Sammlung von Textstellen zur Problematik des Tastsinns findet sich bei David Kaufmann, Die Sinne. Beiträge zur Geschichte der Physiologie und Psychologie im Mittelalter, aus hebräischen und arabischen Quellen, Budapest 1884, 171–191. 116Aristoteles, De anima, II. 11, 423b27–424a10.
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physiologischen Grundlagen eingeht,117 dass er eine Lösung sucht, ja dass diese dürftig und wenig kohärent ausfällt, zeigt, wie unaufgebbar die Funktion der angeborenen Wärme als erstes Wahrnehmendes für ihn ist. Die Lösung, die er findet beziehungsweise adaptiert, besteht darin, dass Körper, die von Aristoteles »Pfade« (subul), von Galen dagegen »Nerven« (ʿaṣab) genannt werden, vom Gehirn aus sich mit der angeborenen Wärme »verbinden« (waṣala bihī) und sie temperieren. Deshalb haben nur Organe, die auf diese Weise mit dem Hirn verbunden sind, Tastempfinden (N VIII. 4). Ibn Bāǧǧa nimmt hier eine Idee auf, die er wohl bei al-Fārābī gefunden hat, dort jedoch ohne jeden Bezug auf die Tatswahrnehmung. al-Fārābī versucht, durch Galen präsente nacharistotelische physiologische Erkenntnisse in Aristoteles’ Lehre vom Herzen als Zentralorgan zu integrieren. Die Entdeckung der Nerven, ihre Unterscheidung von anderen Organen ist nacharistotelisch,118 und Aristoteles wurde – wie auch al-Fārābī referiert – von Galen kritisiert, die Nerven und ihren Ursprung im Hirn nicht zu kennen und daher die Beweise für die zentrale Rolle des Hirns für die Wahrnehmung und Bewegung zu ignorieren. al-Fārābī löst das Problem auf terminologische Weise, indem er die von Aristoteles mehrfach erwähnten mit den Sinnesorganen verbundenen »Pfade« (πόροι)119 – in der arabischen Übersetzung als subul wiedergegeben – als Nerven deutet und mit Galens aʿṣāb (νεῦρα) identifiziert. Die aʿṣāb, die Aristoteles erwähne, seien dagegen Galens Bänder (ribāṭāt) und Sehnen (autār).120 Indem er so auf anatomischer Ebene den Ausgleich zwischen Galen und Aristoteles herstellt, hat al-Fārābī mit den Nerven, den aristotelischen Pfaden, nun ein Instrument in der Hand, um Galens funktionale Deutung der Nerven als Überträger von Wahrnehmung und Bewegung mittels des psychischen Pneumas durch eine von Aristoteles inspirierte Deutung zu ersetzen und die aristotelischen Erklärungen dabei gleichzeitig zu präzisieren. Dem Hirn wird von Aristoteles die Funktion verliehen, die vom Herzen ausgehenden Wärme zu kühlen und damit zu temperieren, er erklärt dagegen nicht genau, auf welchem Wege und durch welche Kanäle dieser Wärmeaustausch stattfindet. Vielmehr beschreibt er in De partibus animalium und in De somno diesen Prozess mehr metaphorisch, indem er ihn mit dem makroskopischen Vorgang des Auftiegs warmer Dämpfe,
117Für die anderen Sinne stellt sich das Problem nicht, denn Wärme ist eine tastbare Eigenschaft. 118Vgl. Friedrich Solmsen, Greek Philosophy and the Discovery of the Nerves, in: Museum Helveticum 18 (1961), 150–167 und 169–197. 119Aristoteles, De sensu, 438b10; De partibus animalium, II. 10, 656b16–19; De generatione animalium, II. 6, 743b35–744a5; V. 2, 781a20–23. 120al-Fārābī, Risāla fī l-radd ʿalā Ǧalīnūs fīma nāqaḍa fīhi Arisṭūṭālīs li-aʿḍāʾ al-insān, in: Badawī, Rasāʾil falsafīya li-l-Kindī wa-l-Fārābī wa-Ibn Bāǧǧa wa-Ibn ʿAdī, 38–64, hier 56, 20–59, 4; al-Fārābī, Risāla fī aʿḍāʾ al-ḥayawān wa-afʿālihā wa-quwāha, ed. Badawī, 105, 2–106, 3.
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ihrer Kondensierung und ihres schließlichen Niederschlags vergleicht.121 Laut al-Fārābī nun erfüllen die Nerven, die im Gehirn beziehungsweise in dem mit ihm verbundenen Rückenmark entspringen, die Funktion, die wahrnehmenden und bewegenden Organe mit der vom Hirn ausgehenden Kälte zu versorgen und so angemessen zu temperieren.122 Dies scheint jedoch vorauszusetzen, dass ein anderes Organ als die Wärme, etwa das Fleisch, das Tastempfinden besitzt, nämlich insofern es zugleich »angeborene Wärme« und »seelische Kälte« empfängt und dadurch temperiert wird. So wird auch das Fleisch zu Beginn des Kapitels als »Aufnehmendes« (qābil) bezeichnet, wobei allerdings wiederum nicht ganz klar wird, ob es das Tastbare aufnimmt oder »das erste Wahrnehmende« (N VIII. 1).123 Was aber, wenn das Fleisch, dessen Temperierung so immerhin erklärbar wäre, wahrnähme? Wie gelangt die Wahrnehmung von dort zum Herzen, das, wie gesehen, »Prinzip« des Lebewesens und Sitz der Seele ist? Alle seelischen Potenzen, das hat Ibn Bāǧǧa ausdrücklich gesagt, sind im Herzen, und zwar gerade weil es Quelle der angeborenen Wärme ist (T 63). Aus dieser Überlegung heraus kann nur die angeborene Wärme das erste Wahrnehmende sein, auch wenn dies im konkreten Fall des Tastvermögens zu kaum versteckten Widersprüchen führt. Dies Ergebnis lässt sich übrigens weiter bestätigen, wenn man sich ansieht, wie Ibn Rušd in seinem Kompendium zu De anima im Gefolge Ibn Bāǧǧas ebenfalls das von al-Fārābī entwickelte Erklärungsmodell auf den besonderen Fall der Tastwahrnehmung anwendet: Einerseits erklärt er, das Fleisch könne nur »durch 121Aristoteles, De partibus animalium, II. 7, 652a24–653a20; De somno, 456b17–28. 122Diese Lösung steht freilich in mehr als einer Hinsicht im Widerspruch zum aristotelischen Text. Zum einen verlaufen die Pfade, die al-Fārābī mit den Nerven gleichsetzt, laut Aristoteles von den Sinnesorganen zum Herzen, und eben nicht zum Hirn. Es sind dies Kanäle, die voller Pneuma sind und die eben dadurch die Wahrnehmungen zum zentralen Sinnesorgan übertragen können, indem die Sinneseindrücke das Pneuma affizieren, welches ihnen erlaubt, sich bis zum Herzen fortzupflanzen (Aristoteles, De generatione animalium, V. 2, 781a20–33). Allerdings gibt es auch eine gewisse Verbindung mit dem Hirn, in dessen Nähe sich die meisten Sinnesorgane befinden. Aristoteles erwähnt nämlich, dass die Pfade von den Augen, sowie die für das Riechen und Hören zuständigen, in den das Hirn umgebenden Blutgefäßen enden. Diese Adern gehen vom Herzen aus (Aristoteles, De partibus animalium, II. 10, 656b16–19; De generatione animalium, II. 6, 743b35–744a5). Aristoteles beabsichtigt also ganz offensichtlich zu zeigen, auf welche Weise diese Sinnesorgane mit dem Herzen verbunden sind. Seine »Pfade« verlaufen in der Nähe des Hirns, verbinden die Sinnesorgane aber gerade nicht mit diesem. Ganz im Gegenteil sagt Aristoteles tatsächlich ausdrücklich, was Galen ihm in einer von al-Fārābī zitierten Passage zuschreibt, nämlich dass die Sinnesorgane nicht mit dem Hirn verbunden sind (Aristoteles, De partibus animalium, II. 7, 652b4; vgl. al-Fārābī, Risāla fī aʿḍāʾ al-ḥayawān wa-afʿālihā wa-quwāha, ed. Badawī, 105, 3. 123Die von Aristoteles formulierte Frage, ob das Fleisch Sinnesorgan ist oder vielmehr das eigentliche Sinnesorgan »innen« liegt (De anima, II. 11, 422b34–423a1), nimmt Ibn Bāǧǧa auf, ohne sie zu entscheiden (N VIII. 8). Sie scheint für ihn also nicht im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Fleisch und angeborener Wärme zu stehen.
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die angeborene Wärme, die in ihm ist, in vollendeter Weise wahrnehmen, wenn seine Wärme durch die vom Hirn zu ihm gelangenden Nerven ausgeglichen« werde. Andererseits will er das Resultat aus der Zoologie aufrecht erhalten wissen, »dass das primäre Subjekt für dieses Vermögen und für die übrigen Vermögen der Wahrnehmung die angeborene Wärme ist«, die lediglich vom Hirn »im Organ der Wahrnehmung« ausgeglichen werde.124 Wie die Wärme als Wärme Subjekt des Tatsvermögens sein kann, bleibt damit weiter rätselhaft. Haben Ibn Bāǧǧas Erwägungen zur Tastwahrnehmung vor allem das nicht immer erfolgreiche Bemühen gezeigt, alle seelischen Funktionen mit der angeborenen Wärme zu verknüpfen, so zeigt eine andere Passage des Buchs der Seele konkreter, wie Ibn Bāǧǧa sich die Umsetzung dieser Funktion denkt. Er erläutert an dieser Stelle des Kapitels über den Gemeinsinn die psycho-physiologischen Ursachen des Schlafes. Der Gemeinsinn, also das Vermögen der Wahrnehmung in seiner Einheit betrachtet, ist nämlich nur dadurch im Körper, dass es »Form für die angeborene Wärme« ist. »Durch seine Existenz darin kann er sich mit den Sinnesorganen verbinden (ittiṣāl) und durch ihr Bewegtwerden [selbst] bewegt werden.« Im Schlaf nun sondert sich der Gemeinsinn ab (infarada), die angeborene Wärme ist nicht mehr im Sinnesorgan, zum Beispiel im Auge, und das Lebewesen sieht deshalb nicht mehr, selbst wenn seine Augen geöffnet bleiben. Denn, »wenn daher dieser Körper, der jene Form hat, nicht im Sinnesorgan existiert, dann nimmt man nicht wahr« (N IX. 6). Diese Bemerkungen lassen das folgende Modell der Wahrnehmung erkennen: Träger des Wahrnehmungsvermögens ist die angeborene Wärme, die sich – sicherlich vom Herzen aus – mit den Organen der Einzelsinne verbinden, aber von diesen auch wieder zurückziehen kann – sicherlich ebenfalls zum Herzen. Befindet sich die Wärme im Sinnesorgan, dann wird sie zusammen mit diesem Organ »bewegt«, das heißt, sie nimmt offenbar einen körperlichen Eindruck auf. Insofern im Schlaf, wenn die Wärme sich zurückgezogen hat, keine Wahrnehmung stattfindet, lässt sich schließen, dass es tatsächlich die angeborene Wärme ist, die durch diesen Eindruck wahrnimmt, während die Organe, etwa das Auge, nur dafür zu sorgen scheinen, dass solch ein Eindruck von bestimmten wahrnehmbaren Qualitäten her stattfinden kann. Im Auge etwa dient die »eisartige Feuchtigkeit« (ruṭūba ǧalīdīya) zur Aufnahme von Farben (N IV. 3). Weiter zeigt sich dadurch, dass der Gemeinsinn als das Vermögen, überhaupt wahrzunehmen, nur dadurch zu Einzelsinnen differenziert wird, dass die angeborene Wärme als sein Subjekt mit jeweils anderen Organen zusammenwirkt. Schließlich scheint der Gedanke, die angeborene Wärme erstrecke sich zu den einzelnen Organen und ziehe sich auch wieder von ihnen zurück, die auch für Aristoteles rekonstruierte Funktion des Pneumas anzudeuten, als Transportmit124Ibn Rušd, Muḫtaṣar kitāb al-nafs, ed. al-Ahwānī, 49, 13–15 und 48, 12–16; die gesamte Diskussion erstreckt sich von 47, 18–50, 2.
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tel von den Sinnesorganen zum Herzen als Zentralorgan zu fungieren. Dies wird weiter von einer recht merkwürdigen Theorie bestätigt, welche von einer möglichen Umkehrung des Wahrnehmungsprozesses spricht (N X. 3). Diese Theorie, für die Ibn Bāǧǧa auf den zweiten Teil von De sensu verweist und die tatsächlich auch von Ibn Rušd in seiner Epitomé der Parva naturalia wie zuvor schon von al-Fārābī in ganz ähnlicher Weise vorgetragen wird,125 dient zur Erklärung des Phänomens der Wahrträume beziehungsweise überhaupt von »Wahrnehmungen« ohne Grundlage in der äußeren Realität. Der Ursprung der Theorie liegt damit sehr wahrscheinlich in der arabischen Paraphrase der Parva naturalia (Kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs).126 Ibn Bāǧǧa sagt, dass unter der Voraussetzung, dass der Gemeinsinn »kräftig«, das Temperament des Sinnesorgans dagegen »schwach« ist, das Sinnesorgan vom Gemeinsinn affiziert wird. Im Normalfall dagegen, so hat er zuvor klargemacht, entsteht bei der Wahrnehmung im Sinnesorgan ein Abdruck (aṯar), nämlich die Wahrnehmung, und das Sinnesorgan wird dadurch »wahrnehmbar« für den Gemeinsinn. Der Gemeinsinn wird also, wie auch laut der zuvor besprochenen Passage, sekundär durch das primäre Wahrnehmungsorgan affiziert. Bei der bereits genannten Konstitution beider Faktoren dagegen wird das Sinnesorgan vom Gemeinsinn affiziert. Ibn Bāǧǧa beschreibt den weiteren Verlauf dieser Wahrnehmungsumkehrung folgendermaßen: Das vom Gemeinsinn affizierte Organ bewegt die »angrenzende Luft«.127 Diese Luft nimmt den Abdruck auf, wird dadurch zu einem »Phantom« (šabaḥ), das nun »umkehren« und seinerseits auf Sinnesorgan und Gemeinsinn einwirken kann. So soll es offenbar zu einem Eindruck kommen, der einer tatsächlichen Wahrnehmung phänomenal identisch ist. Man kann dann aus dieser Passage ohne weiteres auf die normale Wahrnehmungssituation zurückschließen. In dieser wird mithin ein durchaus körperlicher Eindruck vom Wahrnehmungsorgan auf den Gemeinsinn oder, genauer gesagt, auf das Substrat des Gemeinsinns übertragen. Dieser Eindruck muss vom Sinnesorgan weg (und gegebenenfalls eben zum Sinnesorgan hin) transportiert werden. Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass Ibn Bāǧǧa das angeborene Pneuma und seine Form, die angeborene Wärme, das Organ des Gemeinsinns, als dasjenige ansah, was diesen Transport bewältigen konnte. Dies liegt umso mehr nahe, als er die Bedeutung des Temperaments des Sinnesorgans hervorhebt. Ein schwaches Temperament ist aber, wie unter Punkt 2.4. gesehen, eines von ge125Ibn Rušd, Talḫīṣ kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs, ed. Henry Blumberg, Cambridge (Mass.) 1972, 70; al-Fārābī, Mabādiʾ ārāʾ ahl al-madīna al-fāḍila, ed. Walzer, 222. 126Vgl. oben, Anm. 29. 127Hawāʾ muḍāmm, in beiden Handschriften. Eventuell ist mit al-Fārābī, Mabādiʾ ārāʾ ahl almadīna al-fāḍila, ed. Walzer, 222, 10 muḍīʾ (»leuchtend«) zu lesen. Oder aber muḍāmm könnte als »zusammengezogen, zusammengepresst« gedeutet werden. Es wäre dies dann der dem Medium homogene Körper im Sinnesorgan, welcher die im Medium fortgepflanzten Abdrücke in ähnlicher Weise aufnimmt; vgl. für das Gehör etwa N V. 1 und 3.
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ringer Wärme; das erklärt, warum in diesem Zustand die von innen kommende angeborene Wärme das Organ stärker beeinflusst, als dieses sie seinerseits beeinflussen kann. *** Obgleich diese Rekonstruktion von Ibn Bāǧǧas Theorie der angeborenen Wärme und des Pneumas eine große Vielfalt psycho-physischer Phänomene umspannt, lassen sie sich doch im Wesentlichen auf zwei systematische Motive zurückführen: Das eine besteht darin, Merkmale des Lebendigen mit Hilfe eines Modells zu erklären, das sich aus naturphilosophischen Grundprinzipien ableiten lässt: Die angeborene Wärme als Organ der Ernährung fungiert ganz und gar wie Wärme auch sonst in der Natur wirkt; sie erzeugt das Pneuma als ihr Subjekt, ganz wie Wärme auch sonst in der Natur »Ausdünstungen« erzeugt. Das zweite Motiv ist das der Einheit der Seele und des Organismus: Wenn die basale Funktion der Ernährung mit der angeborenen Wärme verknüpft ist, dann müssen auch alle anderen Seelenvermögen mit dieser Wärme verbunden sein. Die aristotelische Argumentation für das Herz als Zentralorgan wird so integriert in eine umfassendere Theorie der angeborenen Wärme als erstem Organ der Seele.
3. Pneuma und »Spiritualität«: Seele und Körper zwischen Distanz und Einheit Die vorstehende Untersuchung hat mithin realisiert, was Ibn Bāǧǧa in einem bereits früher betrachteten Text als Aufgabe umrissen hat, nämlich zu zeigen, welche Rolle die Potenz der Wärme in beseelten Körpern als deren Organ übernimmt (T 40). Ebenso wie andere naturphilosophische Disziplinen dies für die Wärme als »Organ der Elemente« beziehungsweise der unbeseelten Körper leisten, so greift Ibn Bāǧǧa in der Seelenlehre, in der Zoologie und in seiner Schrift Über Pflanzen in zahlreichen Kontexten die »angeborene Wärme« als primäres Organ solcher Körper auf, deren Form Seele ist. Dabei hat sich zwischen den Zeilen auch gezeigt, dass diese Kontinuität einer »elementaren« Potenz durch alle Niveaus der Zusammensetzung homoiomerer und anhomoiomerer Körper hindurch nicht die Wärme allein betrifft – auch deren Gegensatz, die Kälte, ist als »seelische Kälte« wieder aufgetaucht. Wir werden in der Folge sehen, dass Ibn Bāǧǧa sich ausdrücklich Gedanken darüber macht, inwiefern sie als »seelisch« bezeichnet werden kann. Die bisherige Analyse hat ja die Frage gerade ausgeklammert, was es für das Verständnis der Seele bedeutet, wenn von den verschiedenen Potenzen der Seele – darunter explizit von den Potenzen zur Ernährung, zur Wahrnehmung
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und zur Bewegung – behauptet wird, dass sie Formen der angeborenen Wärme sind und dass die Seele »in« dieser Wärme als in ihrem unmittelbaren körperlichen Subjekt ist. In diesem Zusammenhang ist entscheidend, wie Ibn Bāǧǧa die beschriebene physiologische Theorie in seine Psychologie integriert. Zu diesem Fragenkomplex gehört erstens das einleitend skizzierte Problem, wie die Annahme eines privilegierten Organs der Seele mit dem Hylemorphismus vereinbar ist (Abschnitt 3.2.). Zum anderen hängt daran das Problem der leiblichen und seelischen Einheit, dessen Lösung durch die Theorie der angeborenen Wärme bereits in Aussicht gestellt worden ist.128 Dieses Problem hatte sich dadurch ergeben, dass die Seele als Form des organischen Körpers bestimmt worden war, während gleichzeitig die in dieser Definition enthaltene These des Hylemorphismus nicht lediglich global verstanden, sondern auf die Struktur des gesamten Organismus so angewendet wurde, dass individuellen Organen jeweils individuelle Potenzen zugeordnet werden konnten. Wie diese einzelnen funktionalen Einheiten zu einem einheitlichen beseelten Leib vereinigt werden, bedarf nun weiterer Klärung (Abschnitt 3.3.). Zunächst jedoch müssen Lesarten aus dem Weg geräumt werden, die eine tiefere Einsicht in Ibn Bāǧǧas Psychophysiologie versperren, indem sie deren Zentralbegriff –»Pneuma« – im Lichte des Begriffs der »pneumatischen« oder »spirituellen« Form betrachten, der in einigen späten Abhandlungen Ibn Bāǧǧas prominent vertreten ist, ohne das Verhältnis beider korrekt zu bestimmen. Wie im einleitenden Problemaufriss dargestellt, entstammt der Ausdruck »spirituelle Form« einer neuplatonischen Strömung, in der er alles andere als eine enge Leib-Seele-Einheit bezeichnet. Es ist also zu klären, welche Bedeutung er bei Ibn Bāǧǧa annimmt (Abschnitt 3.1.).
3.1. Der Begriff des »Spirituellen« (rūḥānī) Das Wort rūḥ steht in den arabischen Übersetzungen der aristotelischen Zoologie für das griechische πνεῦμα129 und wird von Ibn Bāǧǧa, wie wir gesehen haben, entsprechend gebraucht. Auch in den Übersetzungen der galenischen Medizin wird πνεῦμα in dieser Weise übertragen, wie man etwa bereits am Titel der erwähnten Schrift Qusṭā ibn Lūqās ablesen kann. Jedoch lässt die Rückübersetzung, »Pneuma«, die wir der Präzision halber gewählt haben, einen Aspekt des Wortes rūḥ beiseite, der die arabische Verwendung ebenso mitprägt, wie es mit seinen exakteren Entsprechungen im Deutschen und Lateinischen – »Geist« und spiritus – der Fall ist. Diese Begriffe treten nämlich häufig als Gegensatz 128Vgl. Kapitel 10, Abschnitt 4. 129Vgl. für De partibus animalium etwa The Arabic Version of Aristotle’s Parts of Animals, ed. Kruk, 53, 11 (=659b17).
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zum Körperlichen auf, wenn auch nicht unbedingt kategorisch vom Körper geschieden; etwa so wie es für den frühen griechischen Begriff der ψυχή, der Seele, der Fall war.130 Diese Bedeutung ist vor allem auch mit dem zugehörigen Adjektiv rūḥānī, »spirituell«, verbunden.131 Damit ist der von Ibn Bāǧǧa verwandte Begriff der »spirituellen Form« (ṣūra rūḥānīya) klärungsbedürftig. Als »spirituelle Formen« bezeichnet Ibn Bāǧǧa, grob gesprochen, alle Formen, die im Erkenntnisprozess in den seelischen Vermögen aufgenommen werden, sowie diese Vermögen selbst. Mehr oder weniger ausführliche Abschilderungen von Ibn Bāǧǧas ethisch-politischer Verwendung des Begriffs der spirituellen Form in seiner Lebensführung des Einsamen fehlen in kaum einer Publikation zu unserem Autor. Dabei werden seine verschiedenen Einteilungen dieser Formen und ihre Zuordnung zu bestimmten Seelenvermögen und Tugenden referiert und zumindest im Ansatz geordnet und systematisiert.132 Eine tiefergehende Analyse ist dagegen bisher nicht unternommen worden. Das zeigt sich etwa daran, dass eine ganze Gruppe dieser Formen, die »mittleren spirituellen Formen« (ṣuwar rūḥānīya mutawassiṭa), die in Ibn Bāǧǧas Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen eine wichtige Rolle spielen, erst kürzlich überhaupt als besondere Klasse spiritueller Formen wahrgenommen worden sind.133 Der zu wünschen bleibenden detaillierten Untersuchung von Ibn Bāǧǧas Begriff der spirituellen Form in erkenntnistheoretischer Hinsicht noch voraus liegt aber die grundsätzlichere Frage, ob und wie die beiden genannten Bedeutungen des »Spirituellen« – die des materiellen Pneumas und diejenige der Immaterialität – von Ibn Bāǧǧa miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Allein diese Frage, die dann auch die Weichen für die erkenntnistheoretische Bedeutung des Begriffs stellt, ist hier bei der Betrachtung der naturphilosophischen Grundlagen der Psychologie Ibn Bāǧǧas zu klären.134 Denn es geht zunächst darum festzustellen, ob Ibn Bāǧǧa mit dem Begriff der spirituellen Form den aristotelischen Hylemorphismus durchbricht zugunsten eines neuplatonischen Verständnisses der Form als primär abgetrennter Wesenheit.135 Ch. Genequand hat jüngst zu Recht Darstellungen kritisiert, die eben
130Vgl. dazu David Claus, Toward the Soul. An Inquiry into the Meaning of ψυχή before Plato, New Haven 1981. 131Vgl. Netton, Nafs, passim. 132Eine kondensierte Aufzählung der von Ibn Bāǧǧa unterschiedenen spirituellen Formen findet sich bei Altmann, Ibn Bājja on Man’s Ultimate Felicity, 80, Anm. 21. 133Vgl. den leider reichlich konfusen Aufsatz von Rachak, La noétique d’Ibn Bajja. 134Ibn Bāǧǧas Theorie der spirituellen Formen habe ich ausführlicher untersucht in meiner unveröffentlichten Magisterarbeit Die Stufen der Erkenntnis nach Ibn Bāǧǧa, Bonn 2002, insbesondere 80–95. Eine Publikation der Ergebnisse ist geplant. 135So etwa muss man wohl die (nicht näher begründete) Einschätzung von Puig, Philosophy in Andalusia, 165 verstehen: »His doctrine of spiritual forms seeks to harmonize emanationism with a hylomorphic vision of nature.«
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diesen Eindruck erwecken, nämlich dass Ibn Bāǧǧa von »spirituellen Formen« ausschließlich und allein im »neuplatonisierenden« Sinne spricht, und dagegen betont, dass vielmehr der »engere« »physiologische und psychologische« Gebrauch des Begriffs bei Ibn Bāǧǧa dominant sei.136 Allerdings sind auch Genequands Ausführungen dazu angetan, Verwirrung zu stiften, denn er behauptet einerseits – fälschlich, wie wir sehen werden – Ibn Bāǧǧa würde »sich nicht bemühen, die Doppeldeutigkeit aufzulösen«,137 andererseits deutet er an, den zwischen den Formen der wahrnehmbaren Gegenstände und den intelligiblen Formen stehenden spirituellen Formen sei »die Ambivalenz der Bezeichnung rūḥānī vollkommen angemessen«.138 Zum dritten führt er Ibn Bāǧǧas besondere Verwendung des Begriffs der spirituellen Form just auf jene Paraphrase der aristotelischen Parva naturalia zurück, von deren grundsätzlich neuplatonischer Ausrichtung oben bereits die Rede war, ohne zu erklären, wie sich dies mit der behaupteten aristotelischen Ausrichtung verträgt.139 Es ist daher angezeigt, die Frage neu aufzurollen und zunächst die Begriffsverwendung der beiden oben genannten Quellen zu betrachten. Das unter dem Namen des Alexander von Aphrodisias überlieferte Stück aus der arabischen Adaption der Stoicheiosis theologike des Proklos, das den Titel trägt Über den Nachweis der spirituellen Formen, die keine Materie haben (Fī iṯbāt al-ṣuwar alrūḥānīya allatī lā hayūlā lahā),140 wird von Ibn Bāǧǧa als Schrift Alexanders »Über die spirituellen Formen« zitiert.141 Dies ist vermutlich der Grund dafür, dass ältere Studien diesen Text unbesehen zur Quelle von Ibn Bāǧǧas Begriff der spirituellen Form machen.142 Die These, für die Ibn Bāǧǧa sich auf diesen Text beruft, lautet, dass auf dem Niveau des reinen Intellekts Intellekt und Intelligibile identisch sind. Der Intellekt »wendet sich auf sich selbst zurück« (rāǧiʿ ʿalā nafsihī) und ist daher vollständig eins mit dem, was er erkennt. In der Tat argumentiert Proklos hier, dass alles, was sich auf sich selbst zurückwendet (πρὸς ἑαυτό ἐπιστεπτικόν) unkörperlich ist, denn es muss sich zur Gänze mit sich selbst verbinden, und dies kann nur geschehen, wenn es unteilbar und folg136Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 27f. Genequand richtet sich namentlich gegen E. I. J. Rosenthal und Oliver Leaman. 137Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 23 »il n’a pas tenté de remédier à cette polysémie«. 138Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 25 »l’ambivalence du terme rūḥānī leur est parfaitement appropriée«. Die von Genequand aufgestellte Opposition zwischen dem, was Ibn Bāǧǧa »partikuläre spirituelle Formen« nennt, und den Intelligibilia, die Ibn Bāǧǧa auch als »universale spirituelle Formen« bezeichnet, ist Ibn Bāǧǧas Text und Absichten gar nicht angemessen. Die »confusion« (ebd. 27) liegt bei Genequand, nicht bei Ibn Bāǧǧa. 139Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 25f. 140Siehe oben, Anm. 32; vgl. Altmann, Ibn Bājja on Man’s Ultimate Felicity, 96f. 141Siehe oben, Anm. 31. 142Vgl. etwa ʿAbdurraḥmān Badawī, Histoire de la philosophie en Islam, Bd. 2: Les philosophes pur, Paris 1972, 716; Dunlop, Ibn Bādjdja, 728b.
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lich unkörperlich (ἀσώματὸν) ist.143 Die Bezeichnung dieses Unkörperlichen als rūḥānī ist dann ein Zusatz der arabischen Übersetzung. Es kann jedoch keine Rede davon sein, dass hier ein Begriff der spirituellen Form entwickelt würde, er wird vielmehr nur zur Kennzeichnung der Immaterialität benutzt, wie es für eine breite Vielfalt an arabischen Texten festgestellt worden ist. Dazu gehört etwa auch die arabische Übersetzung von De caelo, die Ibn Bāǧǧa ebenfalls als Belegstelle für den Begriff rūḥānī angibt.144 Als Quelle oder auch nur Anregung für Ibn Bāǧǧas detailreiche Theorie der spirituellen Formen konnten diese Texte aber in keiner Weise dienen.145 Außerdem muss gegen den rezenten Versuch C. D’Anconas, die gesamte Intellektpsychologie Ibn Bāǧǧas aus seinem Zitat des besagten Proklostextes heraus als neuplatonisch zu deuten, nachdrücklich festgehalten werden, dass Ibn Bāǧǧa diesen Text in einen aristotelischen, durch die Intellektlehre des Alexander von Aphrodisias geprägten Lektürerahmen einfügt.146 Das Zitat, das er für eine authentische Äußerung Alexanders hält, setzt er nämlich nur ein, um das bereits argumentativ erreichte Ergebnis zu untermauern, dass im Akt der Erkenntnis des aktiven Intellektes jeder Erkennende mit seinem Erkenntnisobjekt und dadurch auch mit allen übrigen auf diesem Niveau Erkennenden identisch ist.147 Der Anschein einer hier angeblich vertretenen neuplatonischen Imitationslehre, die
143Proclus, The Elements of Theology, ed. E. R. Dodds, Oxford 1933, 16ff. 144Unten, Text T 67; vgl. dazu Endreß, Proclus arabus, 128; Gerhard Endreß, Averroes’ De caelo. Ibn Rushd’s Cosmology in his Commentaries on Aristotle’s On the Heavens, in: Arabic Sciences and Philosophy 5(1995), 9–49, hier 15. Zur Verbreitung des Terms rūḥānī siehe nochmals Endreß, Platonizing Aristotle; auch Endreß führt dort (279) – ganz offensichtlich irregeführt von D’Ancona, Man’s Conjunction with Intellect (siehe dazu im Folgenden) – Ibn Bāǧǧas Theorie der spirituellen Formen auf den Proklostext zurück. 145Das Gleiche gilt für den von Genequand (Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 24f ) stark hervorgehobenen gelegentlichen (!) Gebrauch von rūḥānī bei al-Fārābī. Der von Badawī, Histoire de la philosophie en Islam, Bd. 2, 490, aufgelistete Traktat al-Fārābīs mit dem Titel Kalām fī l-ṣuwar al-rūḥānīya (Handschrift Taschkent, n. 2385, ff. 319a–327b) existiert nicht, es handelt sich vielmehr um eine Handschrift, die den so betitelten Teil von Ibn Bāǧǧas Tadbīr al-mutawaḥḥid al-Fārābī zuschreibt. Warum Genequand, der die Handschrift für seine Edition benutzt hat, die falsche Zuschreibung an al-Fārābī in seine Übersetzung aufgenommen hat (132), bleibt unverständlich. 146D’Ancona, Man’s Conjunction with Intellect; sie wiederholt und verbreitet im Wesentlichen die Interpretation von Altmann, Ibn Bājja on Man’s Ultimate Felicity, 96–103. Dieselbe Kritik an D’Ancona und Altmann übt bereits Genequand (Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 66f mit Anm. 95), allerdings ohne auf ihre Argumente im Einzelnen einzugehen. Dass der Proklostext und insbesondere die These von der Rückwendung des Intellekts auf sich selbst im Lichte von Aristoteles’ und Alexanders’ Aussagen über die Erkenntnisweise des Intellekts in De anima III. 4 und Metaphysik XII. 9 gelesen werden können, räumt D’Ancona übrigens selbst ein (a.a.O., 87f ). Warum sie daraus keine Folgerungen für die Interpretation Ibn Bāǧǧas zieht, bleibt völlig unklar. 147Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 195, 11–196, 2.
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substantiell verschiedene Intellekte zu einander in ein Nachahmungsverhältnis setzen würde, trügt. Ibn Bāǧǧa behauptet genau das Gegenteil, und D’Ancona ist hier schlicht der partiellen Lektüre eines lakunären Textes aufgesessen.148 Hinzukommt – und das ist für uns an dieser Stelle entscheidend –, dass der (engere) Begriff der spirituellen Form, den Ibn Bāǧga im Umfeld seines Zitats aus dem Proklostext verwendet, auf den aktiven Intellekt gerade keine Anwendung findet.149 Ibn Bāǧǧa sagt vielmehr ausdrücklich: »Die spirituellen Formen können nicht eins sein.«150 Deutlich höher ist dagegen der Einfluss der neuplatonischen Paraphrase der Parva naturalia auf Ibn Bāǧǧas Begriff der spirituellen Form einzuschätzen. Dies bedeutet jedoch gerade nicht, dass Ibn Bāǧǧa die Bedeutung von rūḥānī aus diesem Text einfach übernimmt. Vielmehr deutet er die von der Paraphrase eingeführten pseudo-aristotelischen »spirituellen Formen« im Sinne der aristotelischen Psychologie um. Die Paraphrase präsentiert nämlich ein strikt hierarchisches Modell, in dem die Spiritualität der Körperlichkeit diametral entgegengesetzt ist und im Wesentlichen mit den inneren Sinnen im Unterschied von der äußeren Wahrnehmung einerseits und der intellektuellen Erkenntnis andererseits assoziiert wird.151 Allerdings ist die dort vertretene Theorie der Erkenntnis mit beträchtlichen Vagheiten und Unschärfen behaftet. Dazu gehört, dass die Gruppe von drei »spirituellen Vermögen« (quwā rūḥānīya) – Vorstellung oder »Formatives« Vermögen (muṣawwir), Denkvermögen (fikr) und Erinnerungsvermögen (ḏikr) – einerseits in galenischer Manier in den Hirnventrikeln lokalisiert und mit einer »feinen spirituellen Substanz« (ǧauhar laṭīf rūḥānī) verbunden wird, andererseits aber der als körperlich definierten Wahrnehmung diametral gegenübergestellt wird. Die physiologischen Aspekte werden weitgehend zurückgedrängt und kaum thematisiert. Es wird zwar eingeräumt, dass 148Vgl. D’Anconas Zitat und Interpretation (D’Ancona, Man’s Conjunction with Intellect, 72f ) mit der in der vorstehenden Anmerkung angegebenen Stelle in der Edition Genequands: Durch das zweimalige Ausfallen von »Arisṭū« versteht D’Ancona den Ausdruck »miṯluhū« im Sinne einer Imitation der Einheit des göttlichen Intellekts. Es muss aber statt wa-man kāna miṯluhū [supple al-muḥarrik al-awwal] ṣāra wāḥidan bi-l-ʿadad heißen: wa-man kāna miṯluhū [supple Arisṭū] ṣāra wa-Arisṭū wāḥidan bi-l-ʿadad. D’Ancona hätte dies, trotz ihrer an dieser Stelle fehlerhaften Textvorlage, aus vielen verwandten Stellen des Textes (z.B. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 200, 3f; Faḫrī, 170, 7f ) durchaus klar sein müssen. 149Vgl. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 195, 11f: »Was aber den Intellekt angeht, der sich selbst erkennt, so hat er keine spirituelle Form, die ihm zugrunde läge.« Diese Aussage ist Teil von D’Anconas Zitat. 150Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 200, 11f. 151Die folgende Darstellung beruht auf einem noch nicht erschienenen Aufsatz Rotraud Hansbergers, in den sie mir dankenswerterweise Einsicht gewährt hat: Rotraud Hansberger, The Arabic Parva Naturalia, erscheint in: M. Sebti, D. De Smet (Hg.), Noétique et théorie de la connaissance dans la philosophie arabo-musulmane des IXe–XVIIe siècles, Paris: Vrin.
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auch die genannten Vermögen zusammengesetzt und an den Körper gebunden sind, weshalb sie nicht vollständig spirituell – sprich: unkörperlich – sind, aber andererseits wird das Intellektuelle nicht selbst in Begriffen der Spiritualität beschrieben, sondern dies bleibt vielmehr den inneren Vermögen vorbehalten. Die Stellung des Gemeinsinnes wird dabei nicht genau fixiert, tendenziell wird er jedoch eher der körperlichen Sinneswahrnehmung zugeschlagen. Die »spirituelle Form« wird als in der wahrgenommenen körperlichen Form enthaltener Kern vorgestellt, der wiederum als innersten Kern die »intellektuelle Form« enthält.152 Dabei soll ein Abbildungsverhältnis von außen nach innen bestehen, sodass die äussere Form die innere abbildet oder nachahmt. Ibn Bāǧǧas Theorie der spirituellen Formen ist dagegen deutlich anders ausgerichtet. Dies macht sich sogleich darin bemerkbar, dass die Wahrnehmung und mit ihm der Gemeinsinn als primäres Wahrnehmungsvermögen eindeutig als erste spirituelle Ebene gezählt werden153 – eine Verschiebung gegenüber der Paraphrase, die später von Ibn Rušd genau so übernommen wird.154 Die vom Intellekt erfassten Intelligibilia werden als »universale spirituelle« Formen ([ṣuwar] rūḥānīya ʿāmma) von den »partikulären« (ḫāṣṣa) zwar unterschieden, aber konsequent in den Bereich des Spirituellen einbezogen.155 In epistemologischer Hinsicht meint »spirituelle Form« bei Ibn Bāǧǧa nichts anderes als eine erkannte Form, die in einem der Erkenntnisvermögen vorliegt und daher stets auf das wahrgenommene Objekt bezogen bleibt, auf das sie sich »stützt« (tustaʿnid) und »durch das sie wahr ist« (hiya bihi mauǧūda ṣādiqa);156 allenfalls kann die partikuläre spirituelle Form als Wahrnehmungsspur dabei gegenüber dem Intelligibile die Rolle des zugrundeliegenden Objekts vertreten, wenn die aktuelle
152Hansberger, The Arabic Parva Naturalia, Text ix: »[…] every corporeal object of perception has two forms, one spiritual and one corporeal, the spiritual form (ṣūra rūḥāniyya) being inside the corporeal form (ṣūra jusmāniyya). As the corporeal form of the city is an image (mithāl) of the spiritual form of the city, which is inside it, likewise the spiritual form is an image of the intellectual form (ṣūra ʿaqliyya).« 153Vgl. Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 133, 24–134, 6; Faḫrī, 51, 3–7: »Es ist dort [= in De sensu et sensato] erklärt worden, dass dasjenige, was im Gemeinsinn vorliegt, der niedrigste Grad der spirituellen [Formen] ist, danach dasjenige, was im Vorstellungsvermögen vorliegt, danach dasjenige, was im Erinnerungsvermögen vorliegt, und ihre höchste und vollkommenste Stufe ist ihre Existenz im rationalen Vermögen [al-quwwa al-nāṭiqa], während diese drei alle körperlich sind. Die Körperlichkeit im Gemeinsinn ist stärker als die Körperlichkeit, die in den Formen des Erinnerungsvermögens vorliegt, und in der Form des rationalen Vermögens ist überhaupt keine Körperlichkeit.« 154Ibn Rušd, Talḫīṣ kitāb al-ḥiss wa-l-maḥsūs, ed. Blumenberg, 42, 11–43, 4; vgl. dazu Harry Austryn Wolfson, The Internal Senses in Latin, Arabic and Hebrew Philosophic Texts, in: Harvard Theological Review 28 (1935), 69–133, hier 108. 155Vgl etwa Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 133, 8f; Faḫrī, 50, 8f. 156Vgl. etwa Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 178, 1–5; siehe auch 164, 17–165, 6 (Faḫrī, 92, 6–9 und 80, 13–22).
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Wahrnehmung vorüber ist.157 Es ist also nicht die sinnliche Form, die die abstraktere »nachahmt«, sondern genau umgekehrt die abstraktere Form, die ihre sachgehaltliche Füllung ausschließlich durch den – unter Umständen mehrfach vermittelten – Bezug auf den materiellen Gegenstand erhält. Ibn Bāǧǧa verweist zwar in seiner Darstellung der Theorie der spirituellen Formen häufig auf die Parva naturalia, aber die Weise, in der er das tut, macht deutlich, dass er dabei eine Perspektive einnimmt, die mit der groben Konfrontation materieller und spiritueller Sphären wenig zu tun hat. Er schreibt: »Die Angelegenheit dieser partikulären spirituellen Formen und ihrer Typen ist bereits in De sensu et sensato dargestellt worden, und ihre Darlegung ist gründlich betrieben worden aus der Perspektive, dass es sich um natürliche Dinge handelt.«158 Auch sollte man berücksichtigen, dass Ibn Bāǧǧa die Parva naturalia bereits im Buch der Seele immer wieder zitiert, jedoch den Begriff der »spirituellen Form« dort niemals verwendet,159 und zwar ohne dass in der Erkenntnistheorie ein Bruch zwischen dem Buch der Seele und den späteren Abhandlungen feststellbar wäre. Dies könnte darauf hindeuten, dass Ibn Bāǧǧa den Begriff der spirituellen Form zunächst bewusst vermieden hat, bis es ihm gelungen war, die unverkennbar neuplatonischen Obertöne zu neutralisieren.160 Wie dem auch sei, entscheidend ist jedenfalls, dass Ibn Bāǧǧa den Begriff der spirituellen Form dort, wo er ihn einsetzt, in deutlich unabhängiger und wohlerwogener Weise verwendet. Er bemüht sich – entgegen Genequands Behauptung – sichtbar darum, ihn einheitlich zu entwickeln. Sehen wir uns sein Vorgehen nun genauer an. Ibn Bāǧǧa eröffnet den als »Abhandlung über die spirituellen Formen« betitelten Teil der Lebensführung des Einsamen folgendermaßen: [T 66] »›Spiritus‹ [rūḥ] wird in der arabischen Sprache von demjenigen ausgesagt, wovon auch ›Seele‹ ausgesagt wird. Die Philosophen benutzen es äquivok: Zuweilen meinen sie damit die angeborene Wärme, die das erste
157Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 192, 14–193, 5; Faḫrī, 163, 20–164, 7 (mit größerer Auslassung); Asín, 15, 23–16, 3 (Auslassung). 158Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 133, 20–22; Faḫrī, 50, 18–51, 1. Zu Titel, Gliederung und Überlieferung der Parva naturalia in arabischer Übersetzung vgl. Di Martino, Parva Naturalia. Tradition arabe. 159Das bemerken auch Genequand (Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 274, § 58) und Blaustein, Aspects of Ibn Bajja’s Theory of Apprehension, 203. 160Im Buch der Seele begegnet lediglich (einmal!) der Begriff »spirituelle Materie« (N III. 45), aber auch dieser typisch neuplatonische Begriff (vgl. L. Gardet, Hayūlā, in: Encyclopaedia of Islam, New Edition, Bd. 3, Leiden 1971, 328f; siehe auch Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolé, ed. Genequand, 28 zu Gabirol, allerdings ohne Verweis auf Ibn Bāǧǧas Verwendung von »spirituelle Materie«) bezeichnet dort nur das spezifische Verhältnis zischen wahrgenommener Form und wahrnehmendem Vermögen.
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seelische Organ ist. Deshalb sehen wir die Ärzte von drei spiritus sprechen: dem ›natürlichen spiritus‹, dem ›wahrnehmungsfähigen spiritus‹ und dem ›bewegenden spiritus‹. Mit dem ›natürlichen‹ meinen sie den nährenden, denn als ›Natur‹ bezeichnen sie in ihrer Disziplin die Nährseele, während sie ›Seele‹ nicht von der Seele als solcher verwenden, sondern insofern sie bewegende Seele ist.161 Die Seele und der spiritus sind dem Begriff nach zwei, dem Subjekt nach eins. ›Spirituell‹ [rūḥānī] ist auf den spiritus bezogen, wenn er die zweite Bedeutung bezeichnet. Sie bezeichnen damit die ruhenden Substanzen, die anderes bewegen, und die sind notwendigerweise keine Körper, sondern vielmehr Formen von Körpern, denn jeder Körper ist ja bewegt. […] Je weiter eine Substanz vom Körperlichen entfernt ist, um so angemessener ist für sie diese Bezeichnung [=›spirituell‹], weshalb sie der Ansicht sind, die Substanzen, für die sie am angemessensten ist, seien der aktive Intellekt und die Substanzen, die die Himmelskörper bewegen. Es gibt verschiedene Typen von spirituellen Formen: den ersten bilden die Formen der Himmelskörper, den zweiten Typ der aktive Intellekt und der erworbene Intellekt, den dritten die materiellen Intelligibilia und den vierten die Intentionen [maʿānī], die in den Vermögen der Seele existieren, das sind diejenigen, die im Gemeinsinn, im Vorstellungsvermögen und im Erinnerungsvermögen existieren. Der erste Typ ist überhaupt nicht materiell, während der dritte Typ eine Beziehung zur Materie hat; sie werden materiell genannt, weil sie die materiellen Intelligibilia sind, denn sie sind nicht ihrem Wesen nach spirituell, da sie in der Materie existieren. Was den zweiten Typ angeht, so ist er in dieser Hinsicht überhaupt nicht materiell, da sie zu keinem Zeitpunkt materielle Formen sind, er hat nur eine Beziehung zur Materie, da er die materiellen Intelligibilia vollendet – nämlich der erworbene [Intellekt] – oder sie bewirkt – nämlich der aktive Intellekt. Was den vierten Typ angeht, so handelt es sich um ein Mittelding zwischen den materiellen Intelligibilia und den materiellen Formen.«162
161Dieser medizinische Begriffsgebrauch geht, wie bereits Genequand in Ibn Bāǧǧa, La conduite de l’isolée, 273 bemerkt, auf Galens Abhandlung Über die natürlichen Vermögen zurück. Vgl. Claudii Galeni Pergameni Scripta minora, Bd. 3, ed. Johannes Marquardt [u.a.], Leipzig 1893, 101; Commentaria Averrois in Galenum, ed. Vazquez de Benito, 95. 162Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 132, 2–133, 5; Faḫrī, 49, 1–50, 5; vgl. auch Genequand, 275, zur hier gewählten Lesart. Vgl. außerdem unten, S. 584, Anm. 45. Bei der im obigen Text ausgelassenen Passage handelt es sich um folgende sprachgeschichtliche Bemerkung: »Die Form dieses Wortes ist nicht arabisch, es handelt sich um ein Fremdwort in der Sprache der Araber vom Typ dessen, was den arabischen Grammatikern zufolge keinen analogen Fall hat, denn der Analogie nach müsste man ihnen zufolge ›rūḥī‹ sagen. Nur die Philosophen verwenden [diese Form] bei einigen wenigen Wörtern wie zum Beispiel ›das Körperliche‹ [ǧusmānīya] und ›das Seelische‹ [nafsānīya]. Was ›das Materielle‹ [hayūlānīya] angeht, so ist das Wort ein Fremdwort in ihrer Sprache.«
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An diesem Text ist zunächst auffällig, dass Ibn Bāǧǧa alle Bedeutungen von rūḥ anspricht: (1) rūḥ im Sinne von πνεῦμα, und zwar sowohl nach dem Sprachgebrauch (a) der Philosphen als auch (b) der Ärzte; (2) im Sinne des Unkörperlichen, wie es im Pseudo-Alexander aus dem Zirkel al-Kindīs Verwendung findet; und (3) schließlich im Sinne der von den sinnlichen Vermögen erfassten Formen, wie sie in der Paraphrase der Parva naturalia präsentiert sind. Er hat jedoch nicht lediglich die verschiedenen Verwendungen unterschieden, sondern sie vielmehr synthetisiert. Die Synthese besteht nun einerseits darin, dass Ibn Bāǧǧa eine ontologische Ordnung des Spirituellen auf Grund eines einheitlichen Prinzips aufstellt, das da lautet: Etwas ist umso spiritueller, je weiter es vom Körperlichen entfernt ist. Dadurch werden die zweite und dritte Bedeutung in ein eindeutiges und zwar graduelles Verhältnis gebracht: Die von den sinnlichen Vermögen erfassten Formen sind spirituell in Analogie zu den unkörperlichen Formen der reinen Intellekte, die in ausgezeichneter Weise spirituell sind. In der so umrissenen Ordnung entsteht dann ganz von selbst auch ein Platz für die Intelligibilia (maʿqūlāt), die vom menschlichen Intellekt erfassten Formen, die Ibn Bāǧǧa in der Folge der Schrift als »allgemeine spirituelle Formen« von den sinnlichen als »partikuläre spirituelle Formen« unterscheiden wird. Die Details seiner Theorie der spirituellen Formen, die er aufbauend auf dieser Ordnung entwickelt, können hier übergangen werden; sie wären im Rahmen von Ibn Bāǧǧas Erkenntnistheorie im engeren Sinne zu untersuchen. Wichtig ist jedoch, wie dieses Moment der Synthese zu interpretieren ist. Die bisher herrschende Lektüre behält die soeben beschriebene hierarchische Ontologie als einzige Aussage von Ibn Bāǧǧas Begriffsbestimmung zurück. Die Theorie der spirituellen Formen wird dann als weitere massive neuplatonische Komponente in der Philosophie Ibn Bāǧǧas gesehen, der es darauf ankäme, die Priorität des Unkörperlichen als des Eigentlichen und Primären zu betonen, zu dem sich der Mensch über Zwischenstufen zu erheben hätte.163 Man kann freilich nicht leugnen, dass es dieses Motiv bei Ibn Bāǧǧa gibt, aber es fehlt auch bei Aristoteles selbst nicht. Hier kommt alles auf den Akzent und die Details an, und zu denen gehört an dieser Stelle, dass Ibn Bāǧǧa seinen Begriff der spirituellen Form nicht allein und nicht einmal primär auf den Sinn des Unkörperlichen gründet. Der zunächst beschriebene Aspekt der Synthese beruht nämlich auf einer sprachlichen Eingrenzung, die nur das Adjektiv »spirituell« betrifft – »›spirituell‹ ist auf den spiritus bezogen, wenn er die zweite Bedeutung bezeichnet«. Die zwei hier angesprochenen Bedeutungen von rūḥ sind aber erstens πνεῦμα und zweitens »Seele«. Die Kernbedeutung von »spirituell« ist daher »seelisch«, allerdings »seelisch« insofern damit eine Unterscheidung vom Körper gemeint ist. Diese Unterscheidung ist jedoch gerade keine vollständige Trennung, denn: 163Vgl. zuletzt Lomba, La ciencia del alma en Ibn Bāǧǧa (Avempace), 84ff.
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»Die Seele und der spiritus sind dem Begriff nach zwei, dem Subjekt nach eins.« Seele und rūḥ sind aber deshalb substantiell identisch, weil rūḥ die angeborene Wärme trägt, die »das erste seelische Organ« ist, oder, wie die vorausgegangene Untersuchung ergeben hat, das unmittelbare Subjekt der Seele. Seele und rūḥ sind dem Subjekt nach eins, weil die Seele die Form des πνεῦμα, das πνεῦμα die Materie der Seele ist.164 Ibn Bāǧǧa illustriert in dieser ihrer ganzen Anlage nach eher protreptischen als wissenschaftlich-systematischen Schrift das mit πνεῦμα Gemeinte durch Verweis auf die wohlbekannte medizinische Lehre von den drei πνεύματα, das bedeutet jedoch gerade nicht, dass er sich diese Theorie zu eigen macht. Nicht nur haben wir in unserer Rekonstruktion seiner Theorie von Lebenswärme und Pneuma keine Spur davon gefunden, auch der hiesige Kontext, in dem Ibn Bāǧǧa den medizinischen Sprachgebrauch von »Natur« und »Seele« im aristotelischen Sinne zurechtrückt, zeigt, welche Perspektive er einnimmt. Die hier behauptete Einheit von Seele und Pneuma bezieht sich mithin auf die oben analysierte Theorie. Damit ergibt sich jedoch ein ganz neuer Einblick in den Begriff der spirituellen Form. In die Begriffsbildung gehen nämlich alle Bedeutungen von rūḥ und rūḥānī ein. Diese bilden einen kontinuierlichen Zusammenhang durch die FormMaterie-Einheit von Seele und Pneuma: Es ist das Pneuma, welches als Subjekt von Formen, die Seele sind, zuerst das Seelische als »Spirituelles« begründet. Aus der Steigerung eines spezifischen Moments des Seelischen, nämlich seiner gewissen »Entfernung« von Materie und Körper, ergibt sich dann erst der herausgehobene Sinn des Spirituellen als vollständig Unkörperlichen. Im Zentrum von Ibn Bāǧǧas weiterer Untersuchung steht dann auch der vierte Typ, die »partikulären spirituellen Formen« in den sinnlichen Vermögen, und diese sind eben »spirituell« gerade auch in dem Sinne, dass sie letztlich das angeborene Pneuma zu ihrem Subjekt haben. Dass dies für Ibn Bāǧǧa der ursprüngliche Ansatzpunkt seiner Lehre von den spirituellen Formen ist, wird durch einen Auszug aus seiner Nachschrift zum Abschiedsbrief deutlich, an deren Ende er die ausführlichere Behandlung der spirituellen Formen in der Lebensführung des Einsamen ankündigt.165 Hier schreibt er: [T 67] »Daher sind sie [d. i. die Potenzen des Gemeinsinns und der Vorstellung], die ersten der spirituellen Seienden, spirituell, denn sie bewegen die Körper und sie sind spiritus (arwāḥ) der Körper, und einige von ihnen sind 164Die von Langermann, David Ibn Shoshan on Spirit and Soul, 77, aufgestellte Behauptung, Ibn Bāǧǧa habe rūḥ und nafs einander gleichgesetzt, ist daher unrichtig. Ibn Bāǧǧa behauptet nicht ihre Identität, sondern dass sie eine Form-Materie-Einheit bilden. 165Vgl. Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 152, 10–12.
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wie spiritus für sie. Es gibt zwei Arten von Potenzen: [einmal] körperliche, die mit dem Körper teilbar sind wie die Schwere und die Leichtigkeit. Die andere Art ist nicht so, wie die Arten der Relation und wie die Potenzen der Seele. Diejenigen von diesen, die Formen für Körper sein können, werden ›spirituell‹ genannt, und diejenigen, die nicht so sind, werden ›Potenzen‹ genannt. Daher sagt Aristoteles bei solchen wie diesen, dass in ihnen etwas Spirituelles ist. Diese Formen werden nicht bewegt, denn sie sind keine Körper, sondern wenn sie bewegt werden, dann akzidentell, wie wir über die Grammatik sagen, dass sie sich bewegt, wenn sich der Grammatiker bewegt. Daher sagt man nicht, dass sie ruhen, denn sie sind gar nicht beweglich, vielmehr existieren166 sie nicht durch eine Veränderung ihres Wesens noch durch Entstehen und Vergehen. Aristoteles hat das schon im achten [Buch] der Physik erwähnt. Sie bewegen, werden aber nicht bewegt. Die Formen der Himmelskörper sind von dieser Art, deshalb werden sie als ›spirituell‹ bezeichnet, und daher wird von den Engeln gesagt, dass sie ›Geistwesen‹ [rūḥānīyāt] sind, und daher sagt Aristoteles im ersten Buch von De caelo, dass die Alten glaubten, der Himmel sei die Wohnstätte der spirituellen Wesen [vgl. I. 3, 270b6; I. 9, 278b15]. Die Seelen der Lebewesen gehen den intelligiblen Substanzen [ǧawāhir maʿqūla] der Zeit nach voraus in Bezug auf diesen Namen, während die intelligiblen Substanzen dem Sein nach dieses Namens würdiger sind. So geschieht hierbei dasselbe, was bei ›Schluss‹ [qiyās] geschieht, denn das Beispiel [miṯāl] ist dieses Namens würdiger aus Sicht des allgemein Bekannten, während die Figuren des Syllogismus [aškāl al-qiyās] seiner dem Sein nach würdiger sind. Ähnliches kommt oft vor, weil die Intention, auf Grund derer diesen diese Bezeichnung besonders zukommt, in jenen vollkommener ist. So sind jene ihrer würdiger und besitzen einen größeren Vorrang in Bezug auf die Natur.«167 Als »spirituell« werden dieser Betrachtung zufolge zuerst die seelischen Potenzen bezeichnet, die direkt Formen von Körpern sind. Sie sind Prinzipien der Bewegung für die Körper, deren Form sie sind, selbst dagegen unbewegt. Zudem unterscheiden sie sich von bloß körperlichen Potenzen wie Schwere und Leichtigkeit als den Formen der Elemente dadurch, dass sie nicht mit dem Körper teilbar sind, also keiner Veränderung durch den Körper unterliegen. Sie sind mithin, um den Ausdruck aus T 66 zu gebrauchen, in gewisser Hinsicht »entfernt« vom Körperlichen. Dies trifft nun zwar auch auf die Formen der Himmelskörper, die reinen Intellekte, zu, ja trifft auf sie in vollkommenerer Weise zu, aber der Zugang, den man zu dieser Eigenschaft hat, besteht doch über die 166yūǧadu statt yatawaḥḥidu, da im Hebräischen וימצאוsteht, vgl. Hayoun, Ibn Bāǧǧa u-Mošeh Narboni: Iggeret ha-peṭirah, 124, 12. 167Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 150, 6–22; der Text ist die unmittelbare Fortsetzung von T 56.
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seelischen Potenzen. Sie sind »der Zeit nach früher« spirituell, die intellektuellen Substanzen »dem Sein nach«. Damit ist nicht nur die erkenntnistheoretische Priorität seelisch-körperlicher Potenzen vor dem Intellektuellen behauptet, sondern auch deutlich gemacht, dass diese Potenzen nicht bloß analoge Abbilder transzendenter Formen sind, sondern mit diesen Formen in realer – weil durch gemeinsame Eigenschaften begründeter – Kontinuität stehen. Das Pneuma als Träger dieser Potenzen ist nicht äquivoker Gegenpol zum Spirituellen, sondern dessen Anfangspunkt.168
3.2. Das Pneuma: Seelenwagen oder bewegliche Form? Damit ist nun genau die Spannung zwischen Distanz und Einheit angesprochen, die das Verhältnis von Körper und Seele auszeichnet und sich an der Spannung ablesen lässt, die es beinhaltet, die Seele einerseits als Entelechie des organischen Körpers zu bestimmen und andererseits als »Form für die angeborene Wärme«. Das Entelechiemodell steht für eine vollständige Einheit der einen Seele mit dem ganzen Körper. Das Modell der Lebenswärme scheint einem Seelenverständnis zu entspringen, nach dem die Seele über eine Mittelinstanz den von ihr radikal verschiedenen Körper gleichsam »fernsteuert«. Stehen diese zwei Konzeptionen bei Ibn Bāǧǧa unvermittelt nebeneinander oder bezeichnet gar das Konzept der Fernsteuerungsseele sein Verständnis der Seele viel besser als ein oberflächlicher Entelechismus, wie er durch die bloß verbale Übernahme der aristotelischen Seelendefinition auch bei manch anderem Denker zu finden ist? Ibn Bāǧǧas Theorie, wie sie hier sichtbar geworden ist, liefert an mehr als einer Stelle Verdachtsmomente in diese Richtung. Das schwerwiegendste unter ihnen ergibt sich wohl aus der Wirkweise, die er Pneuma und Wärme bei der Erzeugung und Übermittlung der Sinneswahrnehmung zuschreibt. Dort war davon die Rede, dass die Seele, indem sie sich durch die angeborene Wärme mit den Sinnesorganen »verbindet« oder von ihnen »absondert«, diesen Organen die Fähigkeit wahrzunehmen verleiht oder nimmt. Dem kann man etwa Aristoteles’ Aussage gegenüberstellen, dass wie die Seele für den gesamten Körper so das Sehvermögen »das Wesen des Auges dem Begriffe nach« ist und dass dieses, wenn jenes sich entfernt, nur noch im äquivoken Sinne als Auge bezeichnet werden kann.169 Zeigt dieser Gegensatz nicht an, dass Ibn Bāǧǧa die hylemorphische Leib-Seele-Einheit aufgegeben hat? Dieser 168Es sei weiter darauf verwiesen, dass in den vorhergehenden Ausführungen die »seelische Wärme« als erste Ursache des Entstehens der Seelenvermögen genannt ist, die im Falle der erkennenden Vermögen dann allerdings noch durch das Objekt der Erkenntnis vollendet werden muss. Vgl. Kapitel 12. 169Vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 412b18–25.
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Eindruck verschärft sich sogar noch, wenn man einige der Formulierungen, die er im Zusammenhang mit der erwähnten physiologischen Theorie gebraucht, genau betrachtet: [N IX. 6] »Der Gemeinsinn wird nur durch seine Vermischung [iltibās] mit den Organen zu einer Form für den organischen Körper, zum Beispiel durch seine Vermischung mit dem Auge. Daher hört und sieht der Schlafende nicht; das zeigt sich deutlich bei den Lebewesen, die ihre Augen im Schlaf nicht schließen, weil jene Form nicht im Körper ist, denn jene Form trennt sich nicht von ihrer Materie. Wenn daher dieser Körper, der jene Form hat, nicht im Sinnesorgan existiert, dann nimmt man nicht wahr. Seine Existenz im Sinnesorgan ist gleichsam die Form für es, etwa so wie der Kapitän Form im Schiff ist.« Der »Körper, der jene Form hat«, das ist die angeborene Wärme beziehungsweise das angeborene Pneuma, das den Gemeinsinn zu seiner Form hat. Von diesem Körper und mithin von der wahrnehmenden Seele als seiner Form sagt Ibn Bāǧǧa, er sei die Form des Sinnesorgans wie der Kapitän die Form – nicht einmal des Schiffes, sondern im Schiff. Damit greift er eine Metapher auf, die zwar von Aristoteles formuliert worden ist, aber wohl mit Recht als Ausdruck eines nichtaristotelischen Seelenverständnisses gilt. Aristoteles fragt, ob die Seele in der Weise Vollendung (Entelechie) des Körpers ist wie der Schiffer für das Schiff, aber er hat zuvor schon verneint, was charakteristisch für das Verhältnis von Schiffer und Schiff ist. Denn während der Schiffer sich vom Schiff trennen kann, sagt Aristoteles, dass die Seele – mit der möglichen Ausnahme des Intellekts – nicht vom Körper abtrennbar ist.170 Bei Ibn Bāǧǧa scheint hier die Lehre vom »Seelenwagen« als Mittlerinstanz anzuklingen, wenn er sich in der bereits zitierten Textpassage in folgender Weise äußert: »Und durch seine Existenz darin« – nämlich durch die Existenz des Gemeinsinnes in der angeborenen Wärme – »kann er sich mit den Sinnesorganen verbinden und durch ihr Bewegtwerden [selbst] bewegt werden, denn was unkörperlich ist, verbindet sich nicht mit dem, was außerhalb seiner ist« (N IX. 6). Was doch zu heißen scheint, dass die unkörperliche Seele sich nur mittels der angeborenen Wärme mit dem Körper vereinigen kann. Als Bindemittel bietet sich das Konzept der Lebenswärme beziehungsweise des Pneumas vortrefflich an, um einer nominell aristotelischen Psychologie diesen neuplatonischen Du170Aristoteles, De anima, II. 1, 413a3–9. Eine Übersicht über verschiedene Auslegungsversuche dieser umstrittenen Textpassage vgl. Aristotle, De Anima, ed. Hicks 319–321 und für einige neuere Vorschläge Hubertus Busche, Die Seele als System. Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg 2001, 92–94, Anm. 179; Busches eigene Lösung, verbunden mit seiner kuriosen These vom Nous als »Ätherpunkt«, ist nicht überzeugend.
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alismus aufzupfropfen. Die angeborene Wärme wird zu einer Mittelinstanz, die je nach Kontext als rein physiologischer Baustein gedeutet oder aber mit einer ontologischen Überbrückungsfunktion ausgestattet werden kann. Daher ist es zwar falsch, aber nicht absurd, wenn bereits Proklos Aristoteles die Annahme eines pneumatischen Seelenwagens zuschrieb.171 Ist Ibn Bāǧǧas Psychologie in diese Tradition einzuordnen? Ein weiteres Indiz scheint innerhalb der dargestellten Physiologie die Interpretation des Drei-Faktoren-Modells zu sein, mit der Ibn Bāǧǧa aus dem Pneuma das »Selbstbewegte« (mutaḥarrik min tilqāʾihī) macht, durch welches das Lebewesen erst mittelbar zum Selbstbewegten wird, während die aristotelische Bewegungstheorie, die er in seinem Kommentar zur Physik doch auch aufnimmt, gerade deutlich macht, dass nur das Lebewesen als Einheit aus dem unbewegten Beweger der Seele und dem bewegten Körper »sich selbst« bewegen kann.172 Diese problematische Auffassung des Pneumas – oder in diesem Falle der Wärme – als »Selbstbewegtes« findet sich im Buch der Seele nun auch bezüglich des Nährvermögens: [N II. 19] »Die angeborene Wärme ist also das Organ der Seele, und die Nährseele bewegt zuerst die angeborene Wärme – die das ist, was sich von selbst bewegt – und bewegt mittels der angeborenen Wärme die Nahrung. Denn was sich [selbst] nicht bewegt, kann nichts bewegen, in dem es nicht ist, außer dadurch, dass es zuerst mittels eines Körpers bewegt, in dem es ist, gemäß dem, was im achten [Buch] der Physik erklärt worden ist. Diese Potenz verursacht eine so geartete Bewegung und lässt das, was in Potenz das Etwas ist, in dem sie ist, dahin gelangen, dass es ihm in Akt gleich wird.« Die angeborene Wärme ist selbstbewegt, weil die Nährseele sie »zuerst«, das heißt unmittelbar bewegt. Dies muss die Seele tun – und damit scheint wieder die ontologische Vermittlungsinstanz gefordert zu sein – weil sie selbst unbewegt ist und nicht »im« Körper ist, den sie deshalb nur mittels eines anderen, besonderen Körpers bewegen kann, »in dem sie ist«, sprich der angeborenen Wärme. Der Verweis auf die Physik lässt erkennen, dass es sich wiederum um dieselbe Interpretation des Drei-Faktoren-Modells handelt. Durch Textstellen wie die hier besprochenen mag also der Eindruck entstehen, es gebe zumindest einen starken dualistischen Unterstrom in Ibn Bāǧǧas Psychologie, der mit dem aristotelischen Entelechiemodell unvereinbar ist, und der möglicherweise in seinen späten Schriften immer mehr hervortritt. Dieser Eindruck ist jedoch bei näherer Betrachtung unbegründet, und gerade die Anbindung der Theorie der spirituellen Formen an die physiologische Theorie des 171Blumenthal, Aristotle and Neoplatonism in Late Antiquity, 28. 172Vgl. dazu Kapitel 7, Abschnitt 4.
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Pneumas mag dafür ein erster Fingerzeig sein. Um zu verstehen, wie Ibn Bāǧǧa diese Theorie mit dem Entelechiemodell verbindet, sollte in einem ersten Schritt der nun mehrfach angetroffene Grundsatz aufgeklärt werden, demzufolge ›das Unkörperliche sich nicht mit dem verbindet, was außerhalb seiner ist‹, und daher das Pneuma als primäres Subjekt der Seele und als eigentlich Selbstbewegtes zu betrachten ist. Wie kann etwas Unkörperliches in einem Körper sein? In seinem Kommentar zur Physik weist Ibn Bāǧǧa darauf hin, dass ein unkörperlicher Beweger zwar in einem räumlichen Sinne weder außerhalb noch innerhalb des von ihm Bewegten sein kann, erklärt jedoch, dass Akzidenz und Form in einem anderen Sinne sehr wohl »in« einem Körper sein können, das erstere nämlich, weil es »durch den Körper Bestand hat«, die letztere, weil »der Körper durch sie Bestand hat«.173 Es handelt sich also bei der Rede von der Seele »in« der angeborenen Wärme (N II. 19) nicht eo ipso um einen Widerspruch gegen das Konzept einer hylemorphischen Struktur, sondern nur um einen besonderen, abkürzenden Ausdruck desselben. Dieser Gebrauch von »in« ist gut aristotelisch;174 Aristoteles selbst spricht an mehreren Stellen davon, dass die Seele »im Herzen« ist, und man hat überzeugend dafür argumentiert, dass er dabei stets ein Materie-Form-Verhältnis im Blick hat.175 So sagt Ibn Bāǧǧa im Physikkommentar im selben Zusammenhang auch, ein Lebewesen sei aus dem bewegten Körper und der ihn bewegenden Seele »zusammengesetzt«, und er beschreibt dieses Verhältnis folgendermaßen: [T 68] »Jedes Lebewesen wird bewegt durch [oder: in Bezug auf (bi-)] seinen Körper, während seine Seele es bewegt. Es ist also zusammengesetzt aus dem Beweger und dem Bewegten. Deshalb nehmen Mechaniker [aṣḥāb al-ḥiyal] Körper aus Mineralien, in denen sie den Beweger verstecken. So erscheint der Wahrnehmung ihre Bewegung ohne Beweger zu sein, und man bestaunt sie. Denn die Seele ist im Körper wie der Schiffer auf dem Schiff, denn der Schiffer ist im Schiff eine Form, nur dass sie abtrennbar ist.«176 Hier taucht also wieder das Schiffergleichnis auf, das wir auch im Buch der Seele gefunden haben (N IX. 6), jedoch gerade verknüpft mit der Aussage, dass die Seele zwar wie der Schiffer in Bezug auf das Schiff Form des Körpers ist, der Schiffer jedoch eine abtrennbare Form darstellt, die Seele eben nicht. Wenn
173Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 207, 11–15. 174Vgl. Aristoteles, Physik, IV. 3, 210a20–21 (als fünfte von acht Bedeutungen von »in«); Ibn Bāǧǧas Kommentar zu dieser Passage in Lettinck, Aristotle’s Physics, 681f (10a4) mit einer expliziten Abgrenzung vom räumlichen Insein. 175Tracy, Heart and Soul in Aristotle, 334f. 176Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 206, 7–11.
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nun Seele und Schiffer nicht in diesem Sinne verglichen werden, wozu dient dann der Vergleich überhaupt? Aristoteles und Ibn Bāǧǧa mit ihm gebraucht das Schiffergleichnis zuweilen um zu zeigen, in welchem Sinne Unteilbares und mithin Unkörperliches bewegt werden und sich selbst bewegen kann: Dies kann nur eine akzidentelle Bewegung sein, wie der Schiffer, indem er das Schiff bewegt, sich nicht wesentlich bewegt, sondern nur dadurch, dass die von ihm verursachte Bewegung des Schiffes ihn mitnimmt.177 Andererseits verwendet Aristoteles das Bild vom Schiff und anderen Artefakten, in denen Beweger und Bewegtes getrennt sind, um die Ortsbewegung der Lebewesen als Selbstbewegung gegenüber der Bewegung unbelebter Körper zu charakterisieren.178 Und genau dies ist der Kontext in der soeben zitierten Passage aus Ibn Bāǧǧas Kommentar: Das Lebewesen wird mit Automaten verglichen, bei denen der bewegende Teil im Inneren verborgen ist. Das Schiffergleichnis wird dann von Ibn Bāǧǧa wohl hinzugezogen, um zu zeigen, wie ein solch bewegender Teil Form des Körpers sein kann, denn der Schiffer kann als Erzeuger des Schiffes, das er nach der Form des Schiffes in seinem Geist hergestellt hat, das er nun bewegt und für das er den Zweck darstellt, in einem Sinne als Form begriffen werden, den man dem bewegenden Teil in einem Automaten niemals beilegen würde. Diese beiden Aspekte des Schiffergleichnisses widersprechen sich nun keineswegs, sie ergänzen sich vielmehr. Das lässt sich zeigen, wenn man die Stelle der Physik hinzunimmt, die Ibn Bāǧǧa im oben zitierten Text (T 68) kommentiert. Es geht dort darum zu zeigen, dass auch die Bewegungen der Lebewesen von äußeren Bewegungen induziert werden. Und zum Schluss heißt es: »[1] Bei diesen allen ist das erste Bewegende in Bewegung und die Ursache davon, dass es selbst sich selbst unter seinem eigenen Einfluss bewegt, allerdings nur akzidentell: Es ist der Körper, der den Ort wechselt, folglich auch das, was in dem Körper ist und [2] mit dem Hebelwerkzeug sich selbst bewegt.«179 Am Anfang dieses Passus steht der Gedanke der akzidentell sich selbst bewegenden Seele im Hintergrund, also der erste Aspekt des Schiffergleichnisses. Am Ende dagegen 177Aristoteles, Physik, VI. 10, 240b7–20; vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 212, 10–14: »[…] wie das beim Schiff geschieht, denn der Schiffer bewegt das Schiff, indem er das Ruder bewegt, während das Schiff den Schiffer dadurch bewegt, dass er ein Teil von ihm ist. Der Schiffer wird also akzidentell von sich selbst bewegt. Der Schiffer ist akzidentell das Prinzip seiner Bewegung, da er sich selbst akzidentell bewegt, denn der Schiffer bewegt sich selbst mit der Bewegung, durch die er das Schiff bewegt, sodass er von seiner Bewegung bewegt wird, mit der das Schiff , indem das Schiff ihn bewegt. Der Schiffer bewegt sich selbst folglich akzidentell.« Nach MS B, f. 48v [arab.] ist in Zeile 212, 14 nach dem ersten al-safīna zu ergänzen: ḥattā yakūna mutaḥarrik ḥarakatahū allatī bihā al-safīna. Die durch »« angezeigte Emendierung ist angesichts des Kontextes unproblematisch. 178Aristoteles, Physik, VIII. 4, 254b27–33 und vgl. Kapitel 7, Abschnitt 2.1. 179Aristoteles, Physik, VIII. 6, 259b1–20, Zitat 259b16–20 (Übersetzung: Hans Günther Zekl, in einigen Punkten abgewandelt). Dass dies die Passage ist, die Ibn Bāǧǧa an dieser Stelle kommentiert, meint auch Lettinck, Aristotle’s Physics, 619f.
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deutet die Rede vom Hebelwerkzeug auf den zweiten Aspekt, nämlich dass an dem von der Seele bewegten Körper ein Teil auf den anderen einwirken muss. Nun besagt eine treffende Interpretation dieses aristotelischen Textes, dass als Hintergrund des Verweises auf ein Hebelwerkzeug die Theorie aus De motu animalium anzusehen ist, der zufolge die Ortsbewegungen des Lebewesens durch kleinste Veränderungen in der Region des Herzens verursacht werden – »so wie, wenn das Ruder eines Schiffes sehr wenig bewegt wird«.180 Es handelt sich mithin um den gleichen Gedanken, wie wir ihn bei Ibn Bāǧǧa kennengelernt haben: Durch das Pneuma als »Hebelwerkzeug« werden die übrigen Glieder in Bewegung gesetzt.181 Im übrigen wird dieses Modell wieder zitiert, wenn Aristoteles in seiner Behandlung des Nährvermögens Hand und Ruder als Gleichnis gebraucht: Beide sind das, womit der Schiffer das Schiff bewegt. Ebenso ernährt die Seele den Körper mittels der Wärme und der Nahrung, wobei die Wärme bewegt wird und bewegt wie die Hand, während die Nahrung lediglich bewegt wird wie das Ruder.182 – Es sei denn, man setzt hinzu, dass sie den Körper gleich dem Schiff bewegt. Dies ist nun aber genau dieselbe Überlegung wie diejenige, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele (N II. 19) anstellt, und genau dieselbe Ausdeutung des DreiFaktoren-Modells (das Aristoteles an dieser Stelle explizit gebraucht) wie diejenige, auf die Ibn Bāǧǧa sich in diesem Text mit Verweis auf Buch VIII der Physik beruft. Die angeborene Wärme tritt hier in Funktion des Steuerruders auf. Das sieht etwas anders aus in der ersten der beiden problematischen Aussagen, die wir zu untersuchen haben (N IX. 6), folgt jedoch letztlich derselben Logik. Wenn man den Text genau liest, behauptet Ibn Bāǧǧa dort nämlich nicht, dass die Seele im Körper ist wie der Kapitän im Schiff, sondern dass die angeborene
180Aristoteles, De motu animalium 7, 701b1–32, Zitat 701b26–27. Vgl. hierzu und zum Folgenden Theodore J. Tracy, The Soul/Boatman Analogy in Aristotle’s De anima, in: Classical Philology 77 (1982), 97–112, insbesondere 104f. 181Dazu passen auch Ibn Bāǧǧas weitere Ausführungen in der Folge von T 68, Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 208, 16–209, 5: »Dasjenige, wodurch der Beweger bewegt, ist das Organ des Bewegers, so sind nämlich Hand und Beil das, womit der Beweger bewegt, und der Beweger kann nicht ohne sie oder ohne Ähnliches bewegen, denn durch die Hand bewegt er die Feder beim Schreiben […]. So gibt es zwei Gattungen von Bewegtem, eine Gattung, die bewegt wird, aber nicht dem Wesen nach bewegt, und eine Gattung, die bewegt wird und bewegt, insofern sie bewegt wird, und das ist dasjenige, womit der Beweger bewegt. Das von selbst Bewegte ist das Lebewesen, und es ist zusammengesetzt aus einem Beweger, der sich nicht bewegt, und aus zwei Typen von Bewegtem: den ersten bewegt der Beweger, und der zweite wird mit einem Organ bewegt wie die Sehnen und die Muskeln und die zusammengesetzten Glieder. Das, was so bewegt wird, dass es keine primären Organe darstellt, das wird bewegt, bewegt aber nicht notwendigerweise. Dasjenige dagegen, womit der Beweger bewegt, das wird notwendig bewegt und bewegt das Letzte.« Mit MS B, f. 47v [arab.] lies in Zeile 209, 4 das zweite mutaḥarrikāt als muḥarrikāt. 182Aristoteles, De anima, II. 4, 416b20–29.
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Wärme – insofern sie die Seele zur Form hat – dem Kapitän gleicht. Es geht dort ja darum, dass die angeborene Wärme ihre Position im Körper und zum Körper verändern und dadurch bestimmte Veränderungen in ihm bewirken kann. Darin gleicht sie dem Schiffer. Allerdings sagt Ibn Bāǧǧa wörtlich, dass sie »gleichsam die Form« (ka-l-ṣūra) für das Sinnesorgan ist, mit dem sie sich verbindet. Diese Einschränkung ist wichtig, denn die angeborene Wärme beziehungsweise das sie tragende Pneuma ist ja ein Körper, der mithin nicht im eigentlichen Sinne Form für einen anderen Körper sein kann. Diese Form ist vielmehr die Seele, die, wie der Schiffer mittels der Hand, die er vom Ruder vorstrecken oder zurückziehen kann, die Sinnesorgane und ebenso auch die übrigen Körperglieder lenkt. »Was unkörperlich ist, verbindet sich nicht mit dem, was außerhalb seiner ist«, bedeutet hier: Die Seele kann nur mittels der Wärme, deren Form sie ist, auf die Nahrung einwirken und sie dem Körper assimilieren. Ibn Bāǧǧas Aussage, die Seele sei »in« der angeborenen Wärme und die angeborene Wärme sei das, was sich »von selbst« oder »spontan« (min tilqāʾihī) bewegt, beruht also nicht auf der Vorstellung der Wärme oder des Pneumas als eines Seelenwagens. Es ist nicht gemeint, dass die Seele sich der angeborenen Wärme als eines selbst schon bewegten Organs bedient, dessen Bewegung sie selbst als Seele nur die Richtung geben würde.183 Vielmehr muss dies so verstanden werden, dass die Seele und die angeborene Wärme ein Ganzes aus Form und Materie bilden. Ein weiterer Passus in dem bereits herangezogenen Abschnitt von Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Physik hebt hervor, dass die beiden Momente – der »unbewegte« Beweger und das, womit er bewegt – nur begrifflich, nicht aber räumlich zu unterscheiden sind. Sonst könnte nämlich das Bewegung gebende Moment nur auf die Weise eines selbst in Bewegung Befindlichen bewegen. Das Selbstbewegte ist daher immer ein aus beiden Zusammengesetztes.184 Wenn damit nun auch die hylemorphische Einheit von Seele und Körper gewahrt ist, so ist der Körper, um den es dabei geht, doch nicht mehr der organische Gesamtkörper des Lebewesens, sondern bloß die angeborene Wärme. Hat Ibn Bāǧǧa also zwar kein Modell der Fernsteuerungsseele, begreift die angeborene Seele aber wenn nicht als Seelenwagen so als eine Art Homunculus, als einen beseelten Körper, der seinerseits den ganzen Leib beseelt? Eine weitere Formulierung Ibn Bāǧǧas zum Verhältnis von Seele, Wärme und Körper lautet folgendermaßen: »Seine Existenz [d. i. die Existenz des Gemeinsinns] im Leib ist nur [möglich] durch seine Existenz in seiner spezifischen Materie [hayūlāhu alḫāṣṣa bihī], und dadurch wird die Gesamtheit [aus beiden] ein Teil des Körpers« (N IX. 6). Schön und gut, es ist eine uraristotelische Forderung, dass die Seele
183Das ist schon deshalb nicht möglich, weil nichts rein Körperliches selbstbewegt sein kann; vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 207, 15f. 184Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 209, 5–15.
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nicht einer beliebigen, sondern einer spezifischen Materie bedarf.185 Wieso aber soll ausgerechnet die angeborene Wärme diese Materie sein? Wieso kann die Seele den Leib nicht direkt beseelen, warum muss sie zuerst in einem anderen Körper sein? Und zweitens, wie entsteht denn die größere Einheit aus angeborener Wärme als Seelenträger und Gesamtleib? Auf die erste Frage nach dem Grund für die Notwendigkeit der angeborenen Wärme ist mit den psycho-physischen Phänomenen zu antworten, die in der oben rekonstruierten Theorie auftauchen: die Wärme als prinzipieller Agent bei der Umwandlung von Nahrung (N II. 19), der Mangel von Wahrnehmung im Schlaf (N IX. 6), die Verzichtbarkeit gewisser Körperteile, ja überhaupt die beobachtbare Struktur des Körpers aus Sehnen, Muskeln und so weiter, die erkennen lässt, das bestimmte Organe andere lenken (»bewegen«) und ihnen vorgeordnet sind.186 Dem hier entwickelten Modell des Organismusses zufolge ist das angeborene Pneuma der Anfangspunkt der Bewegungen des Lebewesens. Ihm kommt deshalb Priorität gegenüber den anderen Organen zu, weil der erste Beweger, das heißt die Seele, als seine Form »in« ihm ist und er sich daher selbst bewegt, während die anderen Glieder unmittelbar oder mittelbar von ihm und mithin »von außen« bewegt werden. Wichtig ist dabei aber, dass Ibn Bāǧǧa, obgleich er gegenüber den anderen Körperteilen nur das Pneuma als selbstbewegt einstuft, dennoch auch das Lebewesen als Ganzes als selbstbewegt betrachtet: »Im angeborenen Pneuma nun ist der Beweger, der sich nicht bewegt; es bewegt das Lebewesen und durch es existiert das Lebewesen als Selbstbewegtes.«187 Wie das Pneuma und die ihn beformende Seele als Ganzes betrachtet werden müssen und jenes daher selbstbewegt genannt werden kann, so muss also auch das Lebewesen als ein so innig zusammengefügtes Ganzes betrachtet werden, dass die Selbstbewegung, die dem ersten körperlichen Bewegungsprinzip des Lebewesens zugeschrieben wird, auch dem Lebewesen selbst zugeschrieben werden kann. Die genannten Phänomene zeichnen ein spannungsreiches Bild, denn sie implizieren einerseits zwar die Einheit des gesamten belebten Körpers, andererseits jedoch einen gewissen »Abstand« der Seele von einzelnen Aspekten oder Teilen dieses Körpers – einen Abstand, den sie mit Hilfe von Pneuma und angeborener Wärme herstellt, mit denen sie immer als mit ihrer »spezifischen Materie« verbunden ist. Den Versuch einer theoretischen Bewältigung dieser Distanz unternimmt Ibn Bāǧǧa in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione: [T 69] »Wenn die bewegende Potenz sich von der Materie trennen und dennoch existieren kann, dann wirkt sie auf den bewegten Körper ein und bedarf 185Vgl. Aristoteles, De anima, II. 2, 414a19–28. 186Vgl. zum Folgenden den in Anm. 106 zitierten Text und T 63. 187Vgl. erneut den in Anm. 106 zitierten Text.
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[dazu] nicht des Kontakts. Wenn dies so ist und sie das Bewegte bewegt, dann muss die Materie in gewisser Weise für sie aufnahmebereit [qābila] sein, es kann aber nicht sein, dass sie in der Weise aufnahmebereit ist, dass sie in Potenz jene ist. Folglich wird [die bewegende Potenz] notwendig in der Weise der Entfernung [intizāʿ] in ihr sein und mithin Seele sein, und dieser Körper wird dem Wesen nach bewegt werden. Der Kontakt existiert für sie nur, insofern sie in einem Körper ist, das Maß existiert für sie nur, insofern sie in einem Körper ist, und die Endlichkeit existiert für sie nur, insofern sie in einem Körper ist. Die Rede über diese Art [von Bewegern] gehört zu einer Darlegung, die ins achte [Buch] der Physik passt.«188 Die These dieses Textes mutet zunächst fremd an und scheint uns auf das schon abgetane Fernsteuerungsmodell zurückzuwerfen: Die Seele soll in einer ganz besonderen Weise, nämlich im Modus der »Entfernung«, »in« der Materie sein, sie soll sich von ihr »trennen« und dennoch existieren können. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest, dass uns die Mehrzahl der hier miteinander verknüpften Theorieelemente bereits bekannt ist. Gehen wir daher den Text einmal Schritt für Schritt durch. Wenn die bewegende Potenz sich von der Materie trennen [firāq] und dennoch existieren kann… – Das Schlüsselwort ist hier firāq, welches sowohl die Bedeutung von Trennung als von Unterschied annehmen kann. Dass im Falle der Seele Trennung oder Unterscheidung jedenfalls nicht im Sinne einer separaten Existenz verstanden werden dürfen, wird aber im weiteren Verlauf des Kommentars deutlich, wo Ibn Bāǧǧa ausdrücklich sagt, dass die Seele nicht ewig ist. Zwar unterliegt sie selbst nicht der Veränderung, aber sie ist doch die Form eines sich verändernden Körpers (ṣūra li-mutaġayyir), und die Veränderung kommt ihr so zu, wie etwas, das in einer Relation steht, sich »verändert«, wenn sich der andere Relationsterminus ändert.189 Was für eine Trennung oder Unterscheidung ist dann aber gemeint? Ein Blick auf den Kontext mag das verdeutlichen. Der zitierte Absatz steht im Zusammen-
188Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 22, 2–11. Laut MS B, f. 212r [arab.] sind folgende für den Sinn erhebliche Änderungen vorzunehmen: In Zeile 22, 5 füge nach dem ersten qābila ein lahā und lies wa-laisa statt wa-mā; 22, 7 lies al-intizāʿ statt al-nuzūʿ. 189Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 28, 2–10: »Daher bewegt der Intellekt nicht primär und ist sein Bewegen nicht kontinuierlich, und ebenso bewegen die Seelen der Lebewesen [al-nufūs al-ḥayawānīya] nicht immer, [und zwar] aus zweierlei Hinsicht, durch die ihnen akzidentell die Bewegung zukommt: erstens von Seiten des Bewegten, seiner Nähe und Ferne, zweitens insofern sie nicht ewig sind. Denn wenn sie sich auch nicht verändern, so sind sie doch Form für ein sich Veränderndes, und ihnen kommt die Veränderung auf die Weise zu wie man sie dem Relativen zuspricht und allem, von dem man sagt, dass es sich verändert, weil es existiert, nachdem es [zuvor] inexistent war. Daher bewegen diese niemals in einer einzigen Weise, denn sie existieren nicht in einer einzigen Weise.« Vgl. zum Text Kapitel 8, Abschnitt 1.
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hang mit Überlegungen zur Beschaffenheit aktiver und passiver Potenzen, die wir in Kapitel 8, Abschnitt 1, bereits untersucht haben: Wirkende und leidende Potenzen sind als solche erst dann in Wirklichkeit vorhanden, wenn sie tatsächlich aufeinander einwirken, wofür die »Verbindung« (iqtirān) der entsprechenden Körper vorausgesetzt ist. Ein Unterschied zwischen bewegenden und bewegten Potenzen war jedoch, dass die bewegten immer Potenzen sind, die nur in und durch einen Körper Bestand haben, und deshalb immer verbunden mit einem Körper existieren müssen, weil sie als Potenz – und Potenz hier im Sinne der Potentialität verstanden – immer mit einer Privation verbunden sind, die als Privation an etwas, nämlich hier am bewegten Körper vorliegen muss (T 36). Daraus folgert Ibn Bāǧǧa, dass eine bewegende Potenz nicht notwendigerweise in und durch einen Körper besteht (vgl. T 37), was Ibn Bāǧǧa hier im Kommentar zu De generatione noch mit einem Verweis auf das sechste Buch der Physik bekräftigt.190 Im genannten Abschnitt der Physik erklärt Aristoteles, dass das Unteilbare unbeweglich ist beziehungsweise umgekehrt dass alles Bewegliche teilbar und mithin körperlich ist.191 Ibn Bāǧǧas Kommentar zur Stelle zeigt, dass dieser Grundsatz ebenfalls mit entsprechenden Annahmen über den Kontakt verbunden ist. Bewegung oder Veränderung als ein zeitlicher Vorgang erfordert die Teilbarkeit des Veränderten. Das heißt aber, dass jeder Teil mit dem Beweger in Kontakt sein oder von einem anderen Teil, der seinerseits mit dem Beweger in Kontakt ist, bewegt werden muss.192 Was dagegen unteilbar ist, kann nicht (wesentlich) bewegt werden und es wird daher, wie wir folgern dürfen, auch in keinem Kontakt stehen, da der Kontakt eine räumliche Lage und diese selbst wieder Teilbarkeit voraussetzt.193 Damit wird nun aber auch deutlich, inwiefern die Seele vom Körper »getrennt« ist. Es hat sich ja bei der obigen Analyse des Schiffergleichnisses gezeigt, dass die Seele nicht räumlich »im« Körper ist. Dies gilt zwar im Grunde für alle Formen, aber nicht für alle Formen gleichermaßen. So hat sich etwa gezeigt, dass Schwere und Leichtigkeit Formen sind, die mit dem Körper der Teilbarkeit
190Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 21, 10–22, 1: »Diejenigen dieser Potenzen, die nur in einem Körper Bestand haben, die sind natürlich und bewegt, denn die Potenz bewegt zu werden ist immer mit einem Körper verbunden, da sie eine Potenz ist, die überhaupt keine Existenz besitzt. Jene dagegen existieren und haben dem Wesen nach keine Privation in sich, sondern die Privation liegt nur im Bewegten. Daher folgt nicht notwendig, dass jede bewegende Potenz durch einen Körper Bestand hat, wie folgt, dass jede bewegte Potenz in einem Körper ist. Dies ist bereits im sechsten [Buch] der Physik erklärt worden.« In 21, 14 lies mit MS B, f. 102v [arab.] muḥarrika statt mutaḥarrika, wie durch Puigs Übersetzung (S. 23) als »potencia motriz« übrigens auch angenommen. 191Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 96, 1ff. 192Siehe besonders Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 102, 3–9; 103, 4–7. 193Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 101, 13–16.
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unterliegen (T 67), während dies von den seelischen Potenzen nicht gilt. Wir wissen auch, dass dies nicht deshalb der Fall ist, weil die Seelen einem anderen Seinsbereich angehören, sondern deshalb, weil die Körper, deren Potenzen sie sind, im Gegensatz zu den unbelebten Körpern nicht homoiomer sind. Hat in homoiomeren Körpern jeder Teil die gleiche Potenz, so hat im organischen Körper jeder Teil eine spezifische Potenz.194 Nur im Zusammenhang aber konstituieren diese Potenzen den lebendigen Körper. Andererseits hat das Schiffergleichnis gezeigt, dass im selbstbewegten Lebewesen ein bewegender und viele bewegte Teile zu unterscheiden sind. Wenn die Seele der Beweger des Lebewesens sein soll, dann besteht also die Frage, wie sie als unkörperliche mit allen seinen Körperteilen in Kontakt stehen kann. ...dann wirkt sie auf den bewegten Körper ein und bedarf [dazu] nicht des Kontakts. – Das Erfordernis des Kontakts zwischen Beweger und Bewegtem ist die physikalische Seite des notwendigen Zusammenwirkens aktiver und passiver Potenzen, das erst durch diesen Kontakt möglich wird. Wenn die Seele eine aktive, bewegende Potenz für den Körper ist und dieser Körper aus unterschiedlichen Teilen besteht, die aufeinander einwirken, dann muss es hier irgendeine Form von Kontakt geben. Das zeigt auch die Folge, wenn Ibn Bāǧǧa erklärt: Der Kontakt existiert für sie nur, insofern sie in einem Körper ist. Die bewegende Potenz der Seele ist also in einem Körper und kann dadurch in Kontakt mit etwas stehen. Indessen öffnet sich hier ein Raum für die Unterscheidung verschiedener Arten von Bewegern, denn, wie sich gezeigt hat, gibt es verschiedene Arten des Kontaktes.195 Es war ein reziproker Kontakt von einem einseitigen Kontakt unterschieden worden, wobei der einseitige Kontakt zwischen der lunaren Sphäre und der obersten sublunaren Sphäre angesetzt worden war, der gegenseitige dagegen bei allen Bewegungen innerhalb der sublunaren Sphäre. Das besondere des einseitigen Kontakts war, dass der Beweger nicht vom Bewegten seinerseits in Bewegung versetzt wird. Diese Unterscheidung ist es offenbar, die sich Ibn Bāǧǧa nun zu nutze macht, um die spezifische Bewegungsweise der Seele zu charakterisieren. Er konstruiert das Verhältnis der Seele als »Beweger« der Eigenbewegung gleichsam in Analogie zum einseitigen Kontakt zwischen dem edleren Beweger und niederen Bewegten in der Kosmologie. Die Seele soll eine bewegende Potenz sein, die mit dem Körper, den sie bewegt, nicht in Kontakt oder, besser gesagt, nur mittelbar in Kontakt steht, sich also in irgendeiner Art von »Entfernung« vom Körper befindet. Wenn dies so ist und sie das Bewegte bewegt, dann muss die Materie in gewisser Weise für sie aufnahmebereit sein, es kann aber nicht sein, dass sie in der Weise aufnahmebereit ist, dass sie in Potenz jene ist. – Die Materie, also der Körper, soll 194Vgl. dazu Kapitel 10, Abschnitt 2. 195Vgl. Kapitel 8, Abschnitt 3.
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nach Ibn Bāǧǧas Formulierung »nicht in Potenz jene« sein, nämlich nicht jene bewegende Potenz, die Seele. Der Körper soll nicht so von der bewegenden Potenz bewegt werden, dass er zu dieser Potenz wird, beziehungsweise zu etwas, das diese Potenz trägt. Das scheint aber ein Verstoß gegen das Hylemorphismus-Modell zu sein, denn wenn die Seele genauso Form des Körpers ist, wie das Feuer Form der ersten Materie ist, dann muss der Körper ebenso in Potenz beseelt sein wie die Materie potentiell Feuer ist. Auch in diesem Falle ist das Verhältnis ja nicht so zu verstehen, dass die Materie zur Form wird, sondern dass sie beformt wird. Hier hilft indessen wiederum die Rückbesinnung auf die unterschiedlichen Weisen der Ortsbewegung unbeseelter und beseelter Körper. Bei der unbelebten Natur ist die Potenz, bewegt zu werden, der entsprechenden Vollendung vollständig untergeordnet: Die Potenz, bewegt zu werden, besteht etwa darin, in Potenz unten zu sein, die Potenz zu bewegen ist dann die Schwere (N I. 5). Insofern Schwere und der natürliche Ort »Unten« in Abhängigkeit von einander definiert sind, sind sie synonym. Der Stein ist desto mehr unten, je schwerer er ist – und umgekehrt. Die Bewegung besteht hier folglich nur in der Aktualisierung einer Potenz. Bei den Lebewesen dagegen bleibt die Potenz des Körpers, bewegt zu werden, auch dann bestehen, wenn sie bereits bewegt wurden, da sie keinen natürlichen Ort in diesem Sinne haben.196 Denn hier sind es verschiedene Körperteile, die aufeinander einwirken. Folglich wird [die bewegende Potenz] notwendig in der Weise der Entfernung in ihr sein und mithin Seele sein, und dieser Körper wird dem Wesen nach bewegt werden. – Der beseelte Körper ist nicht in dem Sinne einheitlich »Seelending«, wie jeder Teil des Feuers ganz gleichmäßig die Form des Feuers trägt. Die bewegende Potenz der Seele muss in diesem Sinne »entfernt« vom Körper sein, damit sie den Körper bewegen kann, und zwar »dem Wesen nach« nicht bloß »akzidentell« wie die Naturkörper (N I. 5), nämlich nicht nur dann, wenn der Körper zufällig nicht an seinem natürlichen Ort ist. Gesucht ist also nach einem Körper, in dem die Seele – verstanden als die eine, leitende Potenz – innerhalb des Körpers, den sie bewegen soll, sein und auf ihn einwirken kann. Diesen Körper, das wissen wir, findet Ibn Bāǧǧa in der »angeborenen Wärme«. Nur durch diesen Körper besitzt die Seele dann Kontakt, Maß und Endlichkeit, wie Ibn Bāǧǧa in T 69 weiter schreibt. Es ist die angeborene Wärme beziehungsweise das Pneuma, welches einen Kontakt möglich macht, der in gewisser Weise dem einseitigen Kontakt zwischen himmlischer und irdischer Sphäre gleicht. Die Ähnlichkeit 196Vgl. Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 186, 15–18: »Diese Orte, [die das Lebewesen aufsucht], sind nämlich nicht der Natur nach einander konträr entgegengesetzt, sondern relativ. Keiner von ihnen kommt dem Lebewesen der Natur nach zu; sie sind also [einfach] entgegengesetzt. Wären die Potenzen in ihm, so wie sie in den natürlichen Körpern sind, dann könnten wir, sobald wir die Verhältnisentsprechung [tanāsub] der Potenzen zum Subjekt und zur Vollendung geklärt haben, dadurch [auch] auf das Verhältnis des Bewegers zum Bewegten kommen.«
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besteht darin, dass das Pneuma in den Körpergliedern »nur« eine Ortsbewegung auslöst und sie nicht etwa zu Pneuma macht. Ein Unterschied liegt andererseits darin, dass das Pneuma sehr wohl eine Rückwirkung von den Körpergliedern erfährt, denn dadurch kommt es eben zur Erschöpfung (kalāl) des Lebewesens.197 Bei der Erschöpfung wird das »Maß« des Pneumas verringert, durch es besitzt die Seele Maß. Und schließlich ist die Seele »endlich« nicht als Form, sondern durch den Körper, der sich desintegrieren kann, und das betrifft zuerst das Pneuma, das »weggeht« (ḏahaba).198 Wie eingangs angedeutet, laufen im hier analysierten Text viele bereits bekannte Fäden bezüglich der Weise, wie die Seele den Körper bewegt, zusammen. Neu ist hingegen, dass Ibn Bāǧǧa hier aus der Theorie der aktiven und passiven Potenzen heraus entwickelt, warum die Seele ein solcher Typ von Potenz ist, der notwendigerweise in einer gewissen »Entfernung« von dem Körper bleibt, den er bewegt. Damit wird deutlich, warum die Art von Potenz, zu der die Seele gehört, mittels eines solchen Körpers bewegen muss, wie das Pneuma und die angeborene Wärme ihn darstellen.
3.3. Die angeborene Wärme als »erstes Organ« und die Einheit des Leibes Mit diesem Ergebnis können wir uns der zweiten oben aufgeworfenen Frage zuwenden, nämlich: Worin gründet sich die Einheit des Gesamtkörpers, des Leibes des Lebewesens? Inwiefern ist die Seele auch seine Form? Ein Text Ibn Bāǧǧas, der auf diese Frage antwortet, findet sich in seinem Buch der Lebewesen und gehört zu der Sektion, in der Funktion und Stellung des Herzens als »Prinzip« des Lebewesens und der angeborenen Wärme als »erstes Organ« erläutert werden. In mehr als einer Hinsicht bildet dieser Text eine exakte Parallele zu dem soeben untersuchten aus Ibn Bāǧǧas Kommentar zu De generatione et corruptione. Auch hier wird nämlich das Verhältnis der Seele als Beweger zum bewegten Körper des Lebewesens betrachtet; sie wird dabei als Potenz beschrieben, und es finden dieselben zwei Potenzen Erwähnung, die eine bewegend, die andere »aufnehmend«. Die Perspektive dieses Textes unterscheidet sich jedoch insofern vom vorhergehenden, als hier nicht abstrakt der Typ von Potenz betrachtet wird, zudem die Seele gehört, sondern diese Theorie vielmehr in Anwendung auf die konkrete Physiologie existierender Lebewesen vorgeführt wird. Damit bestätigt dieser Text zugleich, was die vorstehende Interpretation behauptet hat, nämlich dass es Pneuma und angeborene Wärme sind, über die die Seele die genannte »Entfernung« vom Körper herstellt.
197Vgl. dazu Kapitel 7, Abschnitt 3. 198Vgl. die oben in Abschnitt 2.5. »Pneuma und Bewegung« zitierten Texte.
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[T 70] »[1] Das Herz ist, gemäß dem, was durch Sektion beobachtet worden ist, die Quelle der angeborenen Wärme, also ist das Herz das Prinzip des Lebewesens. [2] Dass die Seele dort ist, wo das erste Organ ist, das ist bereits im achten [Buch] der Physik erklärt worden. Denn das Selbstbewegte ist wenigstens aus drei Dingen, denn es ist bereits erklärt worden, dass jedes Bewegte einen Beweger hat und in ihm etwas Bewegendes ist, das sich nicht bewegt, wie erklärt worden ist; denn das Subjekt ist selbstbewegt, eine Sache wird bewegt und bewegt, und eine Sache wird bewegt, bewegt aber nicht, und die wollen wir auslassen. Dann müssen im selbstbewegten Körper wenigstens zwei [Dinge] sein: Eins von beiden wird bewegt, ohne zu bewegen, und das andere bewegt. [3] Nun ist aber jedes Bewegte teilbar, und der Körper ist das notwendigerweise. Dessen Beweger gehört zu dem, wovon bereits erklärt worden ist, dass es kein Körper ist, und er ist folglich Potenz für einen Körper. So sind in diesem Körper zwei Potenzen, eine von beiden bewegt und die andere ist aufnehmend [qābila], und durch beide hat der Körper Bestand. [4] Da der erste Beweger im Lebewesen andere Dinge außer dem ersten bewegt, muss er sie bewegen, indem er den ersten Körper bewegt. Der erste Körper, der von ihm bewegt wird, ist folglich ein Organ, mit dem er bewegt, da ja klar geworden ist, dass der Zweck der Bewegung im letzten Bewegten ist. [5] Die Seele ist folglich im Lebewesen notwendigerweise im Herzen oder dem, was ihm entspricht. Das Herz ist also das Prinzip des Lebewesens, während die übrigen Glieder entweder es bewahren oder von ihm bewegt werden. Alles was im Körper ist, hängt vom Herzen ab oder dem, was ihm entspricht.«199 Obgleich Ibn Bāǧǧa hier fast ausschließlich vom Herzen als Prinzip des Lebewesens spricht, ist doch klar, dass dem Herzen diese Funktion nur deshalb zukommt, weil es Quelle der angeborenen Wärme ist (Abschnitt 1), und wir dürfen daher hier unter dem »ersten Organ« der Seele ebenso wie in anderen Texten getrost die angeborene Wärme verstehen. Ibn Bāǧǧa beruft sich für die Behauptung, »dass die Seele dort ist, wo das erste Organ ist«, auf Physik, Buch VIII, nämlich auf die uns bereits bekannte Interpretation des Drei-Faktoren-Modells, derzufolge am Selbstbewegten zwei Dinge zu unterscheiden sind: ein bewegtbewegendes und ein bewegtes, wobei »im« bewegenden sich der unbewegte Beweger befindet. Das Selbstbewegte, das »Subjekt«, von dem hier die Rede ist, ist also das Ganze des Lebewesens, das bewegte Bewegende die angeborene Wärme, die »in« sich die Seele hat, und das Bewegte die übrigen Glieder des Körpers (Abschnitt 2). Der selbstbewegte Körper des Lebewesens ist also wie alles Bewegte teilbar, und zwar ist er in funktionale Teile teilbar, von denen einer die Potenz hat zu be199Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 103, 10–104, 7; diesem Text unmittelbar voraus geht T 63; es folgen ihm der Text in Anm. 85 und T 64.
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wegen, nämlich die angeborene Wärme, während die anderen die Potenz haben, die Bewegung aufzunehmen. Durch beide Potenzen »hat der Körper Bestand«, das heißt, man muss die Teile dieses Körpers als solche begreifen, die aufeinander bezogene aktive und passive Potenzen haben, die eben nur zusammen einen organischen Körper konstituieren (Abschnitt 3). Aktive und passive Potenzen waren ja definitionsgemäß von einander abhängig und aufeinander bezogen. Dies bedeutet im Lebewesen konkret, dass die Seele mittels der Bewegung des »ersten Körpers« »andere Dinge« bewegt, also mittels der angeborenen Wärme den gesamten Organismus. In diesem Verhältnis ist jedoch impliziert, dass die angeborene Wärme als »erstes Organ« nicht Zweck [ġāya] der von der Seele verursachten Bewegung ist, vielmehr ist »der Zweck der Bewegung im letzten Bewegten«, also vor allem in den Gliedmaßen (Abschnitt 4). Ibn Bāǧǧa begründet also die Verwendung des Begriffs »Organ« für die angeborene Wärme damit, dass das Ziel der mit diesem Körper begonnenen Bewegung die Bewegung der nachgeordneten Glieder und letztlich die Bewegung des Lebewesens ist. Für diese Bewegung ist die angeborene Wärme ein Organ, und das bedeutet, dass sie kein selbständiges beseeltes Wesen ist, das akzidentell in einem größeren Körper steckt und diesen bewegt, sondern dass sie nur Mittel der Beseelung des Lebewesen als Ganzen ist. Damit ist also nun auch die Gefahr beigelegt, die Theorie der angeborenen Wärme könnte ein Homunculusmodell der Seele anzeigen. Dies ist jedoch nur die eine Hälfte der Beziehung unter den Körperteilen. Während nämlich alle Teile auf das Herz als Quelle der angeborenen Wärme bezogen sind, so sind sie das doch auf zweifache Weise: Einerseits werden sie, wie bereits festgestellt, vom Herzen aus bewegt, andererseits aber »bewahren« (ḥāfiẓ) sie das Herz (Abschnitt 5). Das heißt dann aber, dass die angeborene Wärme nicht einseitig erstes Organ ist, sondern auf andere Weise doch wieder den letzten Zweck darstellt, nämlich insofern nur durch die Bewahrung der angeborenen Wärme die Existenz des Lebewesens gesichert wird, da sie die Seele als ihre Form und damit mittelbar als Form des gesamten Organismus enthält. Ibn Bāǧǧas Konzeption des organischen Körpers erfüllt damit durchaus, was Kant von einem »Naturzweck« fordert:200 Die Teile sind in ihren Potenzen wechselseitig aufeinander bezogen, sie sind ursächlich für einander, können nur in der Einheit des Gesamtleibes existieren, während der Gesamtleib »nichts anderes als 200Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, B 290f (zitiert nach Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, 5. Nachdruck 1983 der Ausgabe Darmstadt 1957, 484f ): »Zu einem Dinge als Naturzwecke wird nun erstlich erfordert, dass die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. [...] wird zweitens dazu erfordert: dass die Teile desselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, dass sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, dass umgekehrt (wechselseitig) die Idee des Ganzen wiederum die Form und Verbindung aller Teile bestimme [...].«
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seine Teile« (N II. 18) ist. Damit ist der Organismus jedoch noch nicht vollständig erklärt, denn die Einheit entsteht eben nicht dadurch, dass unterscheidungslos jeder Teil auf jeden anderen bezogen ist, sondern es bedarf vielmehr eines führenden Teils oder Prinzips, das der identische Bezugspunkt aller Teile ist. Eine Passage aus Ibn Bāǧǧas später Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen bestätigt das erreichte Ergebnis. Und hier ist nun auch ausdrücklich von der angeborenen Wärme als »erstem Organ« die Rede.201 Ibn Bāǧǧa erklärt nämlich, dass es unter den körperlichen Organen mittels derer der erste Beweger im Menschen Bewegung ausübt, eine Ordnung des Früher und Später gibt.202 So gehen etwa die Nerven den Muskeln vorher, während die angeborene Wärme allen anderen Organen »vorhergeht« (mutaqaddim). Sie ist demgemäß als das eigentliche »Organ der Organe« zu bezeichnen. Dieser Ausdruck, der konventionell auf die Hand angewandt wird, weil sie den künstlichen Organen – das ist, den Werkzeugen oder Instrumenten – vorhergeht, indem sie sie in Bewegung versetzt,203 kommt bei weitem angemessener der angeborenen Wärme zu. Es gibt nämlich sehr wohl noch Instrumente, die sich von der Hand »isolieren« und sie nicht »gebrauchen«, während es keine natürlichen (und mittelbar auch keine künstlichen) Organe gibt, die sich des Gebrauchs der angeborenen Wärme enthalten. Jedes Glied, das ist jeder begrenzte Körperteil, und jede Körperflüssigkeit, wie etwa die Galle,204 wird auf die angeborene Wärme »zurückgeführt« (mansūb ilā), und die angeborene Wärme geht in ihre Definitionen ein. Man könne dies – sagt Ibn Bāǧǧa – aus Aristoteles’ Schrift Über die Nutzen der Glieder lernen, die zu den letzten Büchern der Schrift De animalibus gehöre. Zufolge des Gesagten ist die angeborene Wärme deshalb das erste Organ, weil alle anderen Organe von ihrer Tätigkeit abhängen. Diese Abhängigkeit ist aber auch hier eine doppelte: Einerseits steht die angeborene Wärme in der Hierarchie der Organe an der Spitze und wirkt auf die übrigen Organe ein. Ja, sie »kommt in ihrer Definition vor«, das heißt, ein Körperglied das keine angeborene Wärme in sich hat, ist nur in äquivoker Weise ein solches Körperglied. Das trifft sich genau mit dem, was wir im Buch der Seele über die Beformung des Auges durch den Gemeinsinn mittels der angeborenen Wärme gefunden haben. 201Siehe zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 186, 13–21; Faḫrī, 158, 11–17. 202Neben den körperlichen Organen ist dort auch von sogenannten »spirituellen Organen« die Rede (vgl. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 186, 7–9; Faḫrī, 158, 5–7), worunter Ibn Bāǧǧa die das Begehren und damit die Bewegung auslösenden spirituellen Formen versteht. 203Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 186, 13; Faḫrī, 158, 10; vgl. auch Aristoteles, De anima, III. 8, 432a1–2. 204Zur Unterscheidung von Körperglied (ʿuḍw) und [Körper]flüssigkeit (ruṭūba) vgl. Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 186, 10–13; Faḫrī, 158, 8–10 und Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 119, 14–120, 15.
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Andererseits aber kann die Abhängigkeit auch so gefasst werden, dass die übrigen Organe die angeborene Wärme zur Ausführung ihrer Tätigkeiten »gebrauchen« (istiʿmāl), insofern es ihre Tätigkeiten sind, worauf die Seele abzielt, nicht die Tätigkeit der angeborenen Wärme als solche. Indem wir Ibn Bāǧǧas Werk auf die Vereinbarkeit der Theorie von Pneuma und Lebenswärme mit dem Entelechiemodell der Seele befragt haben, hat sich uns so auch die offene Frage des vorangegangenen Kapitels gelöst, wie unter den Einzelpotenzen des organischen Körpers eine Einheit hergestellt und die Einheit der Seele konstituiert wird. Diese Einheit besteht in einer doppelten Zweckordnung, bei der die jeweils führende Potenz in der angeborenen Wärme gleichzeitig Ausgangs- und Endpunkt der ihr untergeordneten Potenzen ist. Dieses Verhältnis beruht darauf, dass die führende Potenz in der angeborenen Wärme gegenüber den Einzelpotenzen eine aktive Potenz ist, während diese passive Potenzen darstellen. So erklärt sich, dass sie von ihr die Wärme empfangen, mittels derer sie dann ihre Tätigkeiten ausführen. Zweiseitig ist die Abhängigkeit aber auch in dieser Hinsicht, weil auch die aktive Potenz von der ihr komplementären passiven abhägig ist, wenn auch in geringerem Maße. Ibn Bāǧǧa Analyse der Struktur des belebten Körpers erweist sich mithin als eine weitere Anwendung seiner allgemeinen Theorie der Potenzen. Was nun die Vereinbarkeit von Entelechismus und Physiologie der Lebenswärme angeht, so kann auch über sie jetzt kein Zweifel mehr bestehen. Es ist nämlich deutlich geworden, dass die Seele nur so Form des organischen Körpers sein kann, indem sie primär Form der angeborenen Wärme ist. Auf anderem Wege kann sie diesen Körper nicht zu einer Einheit zusammenbinden und auch selbst keine Einheit bilden. Nach dem Durchgang durch die komplexe physiologische Theorie und ihre nicht weniger komplexen theoretischen Hintergründe in der Bewegungslehre und dem Potenzbegriff könnte dieses Ergebnis fast schon trivial erscheinen: Zu verlangen, die Seele solle den ganzen Leib unmittelbar beformen, bedeutet einfach zu ignorieren, dass der Leib nicht gleichförmig ist. Indessen hält auch Ibn Bāǧǧa es offenbar für geraten, zumindest beiläufig darauf hinzuweisen, dass mit der Theorie der angeborenen Wärme die Bestimmung der Seele als Entelechie des organischen Körpers nicht aufgehoben ist. In einer Passage des Buchs der Seele, die wir ihrer »problematischen« Formulierungen halber hier bereits ausführlich besprochen haben, ist bis jetzt ein Satz ausgeklammert geblieben, der nun, da die besagten Zweifel aufgehoben sind, sein ganzes Gewicht erhalten kann (N IX. 6): »Der Gemeinsinn muss, da er notwendigerweise eine Form für die angeborene Wärme ist, notwendigerweise Seele sein. Aber nicht wegen dieser Art von Beziehung [nisba] wird er ›Seele‹ genannt, sondern weil er Entelechie für die Gesamtheit des zusammengesetzten Leibes ist.«
Das Wirken der angeborenen Wärme
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4. Das Wirken der angeborenen Wärme: Physiologischer Prozess und psychischer Akt Die Einheit des organischen Körpers ist jedoch nicht das einzige Merkmal spezifisch seelischer Potenzen, das sich mit Hilfe der Theorie der angeborenen Wärme erklärt. Vielmehr bildet diese auch die physiologische Grundlage für das, was wir im vorangegangenen Kapitel die ekstatische Ontologie des Seelischen genannt haben. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass nur ein organischer Körper eine Struktur besitzt, die es erlaubt, die Seele als wesentlich auf einen sie übersteigenden Akt, das Beseelte wesentlich als auf anderes bezogen zu begreifen. Wir hatten festgestellt, dass diese Eigenart einerseits in der Bestimmung der Seele als erste Entelechie im Unterschied zur letzten Entelechie eingefangen ist und andererseits im Begriff eines Organs, das keine von dem es übersteigenden Zweckverhältnis unabhängige Existenz besitzt. Daraus ergibt sich aber eine Spannung zwischen dem Tätigsein und dem bloßen Sein des beseelten Körpers. Denn obgleich das letztere nie vollständig zu isolieren ist, wird doch die dem Beseelten eigene Beziehung auf anderes nur dadurch möglich, dass der beseelte Körper, wenn er anderes aufnimmt, sich nicht wesentlich verändert. Das war eben Ibn Bāǧǧas Bestimmung der ersten Entelechie (N IV. 1). Würde sich der Körper nämlich wesentlich verändern, so wäre er schlicht nicht mehr derselbe Körper, und man würde nicht von einer ersten und einer letzten Entelechie, sondern von verschiedenen Formen sprechen. Dann aber wäre das Lebewesen, das bestimmte Lebenstätigkeiten ausführt, verschieden von demselben Lebewesen, das diese Tätigkeiten gerade nicht ausführt. Wenn dem so ist, dann muss es aber auch eine organische oder physiologische Erklärung dafür geben, wie der Übergang von der ersten zur letzten Entelechie ohne wesentliche Änderung des Körpers möglich ist. Genau dies leistet nun die Theorie der angeborenen Wärme. Und zwar wird das deutlich am emblematischen Beispiel des Schlafes, das Aristoteles gerade dazu gedient hatte, angesichts der Unterscheidung der ersten und letzten Entelechie die Seele als erste Entelechie zu bestimmen.205 Es wird hilfreich sein, zunächst einmal diesen formalen Aspekt des Schlafes in Ibn Bāǧǧas Buch der Seele zu verfolgen. Bei Einführung der allgemeinen Seelendefinition erwähnt Ibn Bāǧǧa den Schlaf nicht, er bemerkt nur, dass die Seele in der Weise Entelechie ist, die der Vollendung des Geometers entspricht, der die Geometrie »kennt« (yaʿlamu) aber nicht »geometrisiert« (handasa), das heißt als erste Entelechie (N I. 6). Ausführlicher geht er darauf zu Beginn seiner Behandlung des Sehens ein:
205Vgl. Aristoteles, De anima, II. 1, 412a21–27.
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[N IV. 1] »Im Vorangegangenen ist bereits erklärt worden, dass die Seele die erste Entelechie ist, deren Materie die Mischung ist. Wenn ich von der ›ersten‹ rede, meine ich [das] so, wie man [jemanden] ›Geometer‹ nennt, während er sein Wissen von der Geometrie nicht anwendet, und ›Musiker‹, während er sich der Kunst der Musik nicht bedient. Die letzte [Entelechie] ist zum Beispiel, wie man [jemanden] ›Musiker‹ nennt, wenn er eine Melodie spielt. Dieser [erste] Typ von Entelechie ist nämlich immer gleichsam die Materie für die letzte Vollendung, und daher bedarf sie notwendigerweise einer anderen Sache, die sie zur Aktualität führt, das ist der Beweger. Alles, was sich bewegt, hat nämlich einen Beweger, nur dass der Beweger bei diesen verborgen ist, während der Beweger bei der Sinneswahrnehmung offensichtlich ist, so wie das, was bei einem polierten Spiegel passiert. Das Poliertsein nämlich ist die erste Vollendung, und wenn sich daher eine Ansicht präsentiert, dann prägt sich die Form in ihn ein [irtasama], ohne dass er sich veränderte hin zu einer anderen Existenz, durch die er näher [aqrab] wäre, wie das, was beim Eisen passiert, während es [noch] Eisen ist, denn es bedarf des Poliertwerdens; daher sagt man über den Zustand des Eisens auch nicht, er sei eine erste Entelechie.« Zwischen erster und letzter Entelechie, erster und letzter Vollendung, besteht ein Materie-Form-Verhältnis. Dementsprechend muss die wahrnehmungsfähige Seele als erste Entelechie durch einen »Beweger« zur Aktualität beziehungsweise Tätigkeit (fiʿl) bewegt werden. Dabei »prägt« oder »schreibt« sich ihr eine Form ein, so wie etwas Sichtbares auf der polierten Oberfläche eines Spiegels erscheint, wenn es sich ihm »präsentiert« (ḥaḍara) oder, anders gesagt, »gegenwärtig« ist. Alle Übergänge des Beseelten zur Tätigkeit, auch die erwähnten Beispiele des Musizierens und Geometrie Betreibens, müssen durch einen solchen Beweger erklärt werden, der in diesen Fällen aber weniger offensichtlich ist als bei der Wahrnehmung, wo von selber klar ist, dass das Wahrnehmbare (maḥsūs) dieser Beweger ist (vgl. N III. 24). Was Spiegel und Wahrnehmung insbesondere gemein haben ist, dass die besagte Form aufgenommen wird, ohne dass sie sich »zu einer anderen Existenz« (ilā wuǧūd āḫar) verändern.206 Solch eine Veränderung wäre die Herstellung des Spiegels aus Eisen durch Polieren der Oberfläche. Durch Herbeiführung des Zustandes des Poliertseins erhält das Eisen nämlich eine Existenz, in der es dem tatsächlichen Abspiegeln »näher« ist. Der fertige Spiegel dagegen und das Wahrnehmungsvermögen bedürfen keiner solchen Annäherung mehr, vielmehr gehen sie zur Tätigkeit über, sobald sich das Wahrnehmbare »präsentiert«. Aus dieser Beobachtung und diesem Vergleich folgert Ibn Bāǧǧa dann die bereits zi206Es gibt aber auch wesentliche Unterschiede zwischen beiden, die Ibn Bāǧǧa am Schluss des Kapitels erwähnt (N IV. 14).
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tierte allgemeine Bestimmung der ersten Entelechie als »das, wodurch der Körper bereit ist [mustaʿidd] zur Aufnahme irgendeiner Sache, ohne dass er sich dem Wesen nach veränderte« (N IV. 1). Aus dieser Überlegung ergibt sich für Ibn Bāǧǧa dann die uns bereits bekannte Unterscheidung der Seele als Potenz vom Akt der Seele, der schon nicht mehr Seele im engeren Sinne ist.207 Diese zunächst zwischen Sehpotenz oder Sehseele und »Sehen« aufgezeigte Differenz wird dann verallgemeinert: »Ebenso ist es mit den übrigen [Potenzen]; wenn sie sich abgesondert haben [infaradat] und nur Potenz sind, dann sind sie Seele. Daher sagt man vom Embryo und vom Schlafenden, dass er eine Seele besitzt« (N IV. 2). Der Schlaf ist mithin ein Zustand, in dem die Seele in ganz besonderem Maße als Seele erscheint, nämlich als bloße Potenz. Ähnliches gilt vom Embryo, der ja vom Körper der Mutter ernährt wird, sodass auch seine einzige bereits entwickelte seelische Potenz passiv bleibt.208 [N III. 24] »Wir sagen, dass es zu den offensichtlichen Dingen gehört, dass die Sinneswahrnehmung [manchmal] in Akt ist, wie der Zustand des wachen Lebewesens, wenn es wahrnimmt, und manchmal in Potenz, wie der Zustand des Schlafenden und dessen, der seine Augen geschlossen hat. Die Potenz ist teils nah, teils fern, die ferne wie die Potenz zur Sinneswahrnehmung beim Embryo, die nahe wie der Zustand des Geruchssinnes, während kein Riechbares gegenwärtig ist, und der Zustand des Sehsinns bei Dunkelheit.« Der Embryo ist in Bezug auf die Wahrnehmung im Zustand des unpolierten Eisens, er besitzt noch nicht die »nahe« Potenz wahrzunehmen, ohne vorher weitere Veränderungsprozesse durchzumachen. Der Schlafende und derjenige, der die Augen geschlossen hat, dagegen besitzen diese nahe Potenz. Dies jedoch offenbar in unterschiedlicher Weise, denn die Ursache für das Nichtsehen ist ja in beiden Fällen eine andere. Ganz offenbar genügt es nicht, einem Schlafenden die Augen zu öffnen, damit er sieht. Damit wird deutlich, dass die erste Entelechie in ihren körperlichen Voraussetzungen weniger eindeutig ist, als es der Vergleich mit dem Spiegel suggeriert. In den von Ibn Bāǧǧa im zuletzt zitierten Text genannten Beispielen sind viele Voraussetzungen für gelingende Wahrnehmung angesprochen: ausgebildete Sinnesorgane (im Unterschied zum Embryo), aktiver Einsatz dieser Organe (geöffnete Augen), Vorhandensein von Wahrnehmungsobjekten und richtiger Zustand des Mediums (Licht statt Dunkelheit). Unter diesen Bedingungen ist jedoch keine, die einen hinreichenden Grund dafür abgeben könnte, warum der Schlafende keine Wahrnehmung hat. Wenn der
207Vgl. Kapitel 6, Abschnitt 2. 208Zu den Vermögen des Embryos vgl. oben, Anm. 97.
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Schlaf jedoch den paradigmatischen Fall des Habens von Seele als Seele darstellt, dann ist dessen organische Grundlage noch nicht benannt. Jetzt war aber davon die Rede, dass die seelischen Vermögen dann Seele sind, »wenn sie sich abgesondert haben [infaradat] und nur Potenz sind« (N IV. 2). Diese Absonderung oder Abtrennung lässt sich nun offenbar nicht anders deuten denn als dieselbe Abtrennung, die im Zusammenhang mit der Funktion der angeborenen Wärme für die Wahrnehmung erwähnt worden ist: [N IX. 6] »Wenn sich der Gemeinsinn absondert [infarada], ist er nur in der Weise Seele, dass er Form für einen gewissen Körper ist. Daher kommt der Schlaf nicht bei allen Lebewesen vor, da die angeborene Wärme bei ihnen immer im Sinnesorgan vorhanden ist, denn das Frühere und das Spätere sind bei ihnen eins oder wie eines.« Die angeborene Wärme als das primär Wahrnehmende, so hatte sich gezeigt, »verbindet« sich mit dem Auge oder einem anderen Sinnesorgan, um diese als Organe für spezifische Wahrnehmungen zu benutzen und »durch ihr Bewegtwerden [selbst] bewegt [zu] werden«. Sie kann sich von diesen Organen aber auch »trennen« und ins zentrale Sinnesorgan des Herzens zurückziehen. Genau das geschieht im Schlaf, und deshalb können einige Lebewesen mit offenen Augen schlafen, ohne wahrzunehmen. Es ist also wesentlich diese Beweglichkeit der angeborenen Wärme im Körper, die erklären kann, wie es zum Zustand der ersten Entelechie kommen kann. In dem zuletzt zitierten Passus gebraucht Ibn Bāǧǧa die vielsagende Formulierung, der Gemeinsinn sei bei Absonderung »nur in der Weise Seele, dass er Form für einen gewissen Körper [ṣūra li-ǧism mā] ist«: Der Gemeinsinn ist ja in diesem Falle zwar Form der angeborenen Wärme und mit dem Herzen verbunden, aber er übt seine eigentümliche Tätigkeit, das Wahrnehmen, nicht aus. Wenn der Gemeinsinn dennoch die Form und Seele des Lebewesens sein soll und nicht wie beim Embryo nur in »ferner« Potenz vorhanden ist, dann kann er das offenbar nur sein, indem er zumindest Form »für einen gewissen Körper«, nämlich das erste oder die ersten Organe bleibt. Wenn sich dagegen bei bestimmten Lebewesen die angeborene Wärme so verhält, dass sie immer in den Sinnesorganen bleibt, dann schlafen diese Tiere nicht und »das Frühere«, nämlich die erste Entelechie, ist vom »Späteren«, der letzten Entelechie, nicht real verschieden. Im Kapitel über das Vorstellungsvermögens des Buchs der Seele beschreibt Ibn Bāǧǧa die Auswirkungen des Schlafes auf dieses von der Wahrnehmung abhängige Vermögen und beschreibt dabei auch den Zustand des Gemeinsinns während des Schlafes genauer: [N X. 8] »Wenn daher der Gemeinsinn beschäftigt ist oder wir ihn untätig lassen, dann ist das Vorstellungsvermögen nicht tätig und ist bloße Potenz, auf
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die Weise wie man glaubt, dass dies der Fall ist, wenn man furchteinflößende Dinge wahrnimmt und bei der Ohnmacht. Deshalb wird das Vorstellungsvermögen zu der Menge der materiellen Potenzen gezählt. Daher wird seine Tätigkeit während des Schlafens deutlicher, denn der Schlaf besteht darin, dass der Gemeinsinn sich bloß in Potenz befindet. Er ist währenddessen ein Behälter [ḥāfiẓ] für seine spezifischen Seienden [wuǧūdāt], aber er wird nicht bewegt, sondern bewegt nur, und das Vorstellungsvermögen wird bloß von ihm bewegt. Im Wachen dagegen, wenn er die übermäßig starken [mufriṭa] Sensibilia wahrnimmt, so scheint es, dass er dabei nur bewegt wird. Dabei [scheint es], dass das [Vorstellungsvermögen] entweder untätig ist oder zu einer bloßen Potenz wird und das nicht bewusst bemerkt, was es in Bewegung versetzt.« Im Schlaf ist der Gemeinsinn nur in Potenz, das heißt, er nimmt augenblicklich nicht wahr. Dagegen fungiert er immer noch als »Behälter« oder »Bewahrer« von ihm eigentümlichen »Seienden«. Was hier gemeint ist zeigt sich, wenn man diese Stelle in Beziehung zu Text T 56 setzt. Dort waren zwei Hinsichten unterschieden worden, in denen der Gemeinsinn »eines von den Seienden der Welt« wird, nämlich erstens, wenn er durch die Einwirkung eines Wahrnehmbaren in Akt wahrnimmt, und zweitens, wenn diese Wahrnehmungen nach Verschwinden des Wahrnehmungsobjektes als »Eindrücke« (rusūm) in ihm zurückbleiben.209 Erst in diesem letzteren Falle erhält der Gemeinsinn eine vom Wahrnehmungsakt unabhängige Existenz als »Konkretes«. Diese Behauptung gewinnt nun, nach Rekonstruktion der Theorie der Lebenswärme, noch größere Klarheit. Denn es hat sich gezeigt, dass ein Lebewesen erst dadurch zum Lebewesen wird, dass sein angeborenes Pneuma über die Form des Nährvermögens hinaus die »spirituelle Form«, und zwar zuerst die Wahrnehmung aufnimmt. Das Pneuma des Lebewesens zeichnet sich nämlich eben dadurch gegenüber demjenigen der Pflanze aus, dass es dies vermag.210 Wenn Ibn Bāǧǧa nun sagt, dass der Gemeinsinn bei Zeugung des Lebewesens durch den Samen – der, wie wir wissen, die angeborene Wärme trägt – nur eine Potenz und »nichts real Seiendes« ist, sondern dies erst durch die »Eindrücke« wird (T 56), dann bedeutet das, dass der Gemeinsinn lediglich mit den ersten von Pneuma und Lebenswärme aufgenommenen Sinneseindrücken »Form für einen gewissen Körper« (N IX. 6) wird. Das Wahrnehmungsvermögen als erste Entelechie ist daher zunächst nichts anderes als eine bloße »Bereitschaft« (vgl. N IV. 1) im Pneuma zur Aufnahme von Wahrnehmungseindrücken, und nach Aufnahme dieser Eindrücke ist es im Zustand der ersten Entelechie immer dann, wenn es durch Rückzug aus den Sinnesorga209Man bemerke auch den begrifflichen Zusammenhang zwischen rusūm und dem in N IV. 1 genannten Vorgang der Einprägung (irtasama). 210Vgl. die in Anm 97 zitierten Texte.
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nen oder durch äußere Behinderungen auf diese bereits aufgenommenen – »habituellen« – Eindrücke beschränkt ist. Es ist mithin »konkret« entweder durch eine aktuelle Wahrnehmung, die ja die Wahrnehmung eines konkreten Gegenstandes ist, der mittels des Wahrnehmungsorgans das Pneuma bewegt, oder aber dadurch, dass dem Pneuma aus früherer Wahrnehmung hervorgegangene Formen eingeprägt sind. Ist dieser letztere Zustand erreicht, dann kann der Gemeinsinn im Schlaf das Vorstellungsvermögen bewegen, obgleich er augenblicklich nicht in Akt wahrnimmt – das Lebewesen träumt. Das Vorstellungsvermögen wird dabei merklicher tätig, weil die Aktivität des Gemeinsinns geringer ist. Im Wachzustand dagegen erleidet das Vorstellungsvermögen vor allem die Einwirkung des Gemeinsinns, der pausenlos die Eindrücke der Sinne an es weitergibt. Kommen wir aber abschließend noch einmal auf die theoretischen Implikationen zurück: Es lässt sich nun festhalten, dass in Ibn Bāǧǧas Sicht ohne die physiologische Theorie der angeborenen Wärme nicht nur nicht begründet werden kann, dass die Seele Entelechie des gesamten organischen Körpers ist, sondern dass ohne sie auch nicht verständlich wird, wie sie erste Entelechie dieses Körpers sein kann.
12. Kapitel. Seelische Potenzen und ihre Objekte
1. Seelenvermögen als aktive und passive Potenzen Die bisherige Untersuchung hat die naturphilosophischen Grundlagen von Ibn Bāǧǧas Psychologie anhand seiner Theorie der Potenzen freigelegt. Damit ist es nun möglich, die seelischen Potenzen als Potenzen zu betrachten und vor allem festzustellen, welche Perspektive auf die Erkenntnisvermögen sich aus der vorgestellten Potenztheorie ergibt. Es geht mit dieser Frage gleichsam um das Bindeglied zwischen der Psychophysiologie einerseits und der Erkenntnistheorie andererseits. Die Potenzen sind nun nicht mehr in Bezug auf ihr Subjekt zu betrachten, wie bereits geschehen, noch in Bezug auf ihren Akt, der als objektabhängiger nur zusammen mit dem Erkenntnisgegenstand studiert werden kann. Vielmehr kommt es darauf an, als Voraussetzung für diese letztere Untersuchung auszuloten, was aus der Potenztheorie für sich genommen folgt, wenn man sie auf die Erkenntnisvermögen anwendet. Dem Objekt der seelischen Potenzen kommt dabei eine wichtige Rolle zu, aber es wird nicht in seiner Spezifität betrachtet. Statt dessen ist es der allgemeine Objektbezug seelischer Potenzen, sofern er sich aus ihrer Bestimmung als Potenzen ergibt, der hier zu klären ist. Bereits bei der Rekonstruktion der Grundlagen von Ibn Bāǧǧas Theorie aktiver und passiver Potenzen hat sich gezeigt, dass er diese bewusst als ein Kontinuum konzipiert, das einerseits von den Potenzen der Elemente bis zu den Bewegern der Himmelskörper reicht, also von den geringsten zu den höchsten »Kräften« der Natur, und sich andererseits von der reinen Potentialität der Materie bis zum reinen Akt des Intellekts ausspannt, sich also zwischen ontologischen Gegensätzen erstreckt.1 Bis jetzt hat sich zwar in der Tat gezeigt, dass Ibn Bāǧǧa die Seele als Form und Potenz in Kontinuität zu den Formen und Potenzen der unbelebten Natur entwirft, während aber noch offen geblieben ist, wie die Potenztheorie einen Übergang zum Phänomen des Erkennens insbesondere des intellektuellen Erkennens herstellt. Wie Ibn Bāǧǧa diesen Übergang aus denselben naturphilosophischen Prinzipien erklärt, das ist in diesem und den beiden folgenden Kapiteln zu untersuchen. Während in den vorstehenden Untersuchungen die Bestimmung der Seele als Potenz eine wichtige Rolle gespielt hat, ist weitgehend unberücksichtigt ge1Vgl. Kapitel 8, Abschnitt 1.
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blieben, um was für eine Potenz es sich dabei handelt. Insbesondere hat die allgemeine Potenztheorie ergeben, dass passive und aktive Potenzen deutlich zu unterscheiden sind, jedoch immer als Korrelata auftreten, so dass sich einerseits die Frage ergibt, ob die Seele eine passive oder eine aktive Potenz ist, und andererseits, welches die ihr korrespondierende Potenz ist. Diese Fragen treten in Ibn Bāǧǧas Werk besonders in der Nachschrift zum Abschiedsbrief hervor, wo sogleich deutlich wird, dass eine einfache Antwort nicht möglich ist: [T 71] »Das ist so, weil ›Seele‹ auf zwei Weisen ausgesagt wird, wie in dem, was wie über die Seele geschrieben haben, dargelegt worden ist. Wenn ›Seele‹ nämlich von der ersten Vollendung ausgesagt wird, dann ist sie eine passive Potenz, wenn es von der letzten Vollendung ausgesagt wird, dann ist sie eine aktive Potenz.«2 Obgleich Ibn Bāǧǧa hier ausdrücklich auf das Buch der Seele zurückverweist, scheint diese Aussage mit der bisher eingenommenen Perspektive unvereinbar. Denn Seele war ja gerade als erste Vollendung (kamāl awwal) beziehungsweise erste Entelechie (istikmāl awwal) in Abgrenzung zur letzten Vollendung oder Entelechie (kamāl aḫīr, istikmāl aḫīr) bestimmt worden,3 und Ibn Bāǧǧa hatte diese Definition so konsequent angewendet, dass er ausdrücklich die Tätigkeit eines seelischen Vermögens von dem Vermögen selbst unterschieden und nur das letztere als Seele bezeichnet hatte.4 In der weiteren Analyse hat sich herausgestellt, dass Ibn Bāǧǧa damit nicht nur eine terminologische Festlegung getroffen, sondern ein zentrales Strukturmoment des Beseelten benannt hat. Wir konnten nämlich die durch eine entsprechende Konstitution des organischen Körpers getragene ekstatische Struktur des Psychischen nachweisen, die darin besteht, dass die Seele für ihre Akte von ihren Gegenständen abhängig und damit stets bereits auf anderes bezogen ist.5 Der Akt der Seele ist daher bereits nicht mehr Seele. Schon aus diesem Grunde dürfte die letzte Vollendung nicht als Seele bestimmt werden, wie es hier geschieht. Allerdings konnte das, was wir die »ekstatische Ontologie« der Seele genannt haben, gerade anhand der hier zitierten Nachschrift zum Abschiedsbrief rekonstruiert werden, so dass die Differenzen vielleicht nicht unüberbrückbar sind.
2Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 14–16. 3N I. 6; dort ist der Begriff kamāl awwal allerdings nur implizit, ausdrücklich genannt wird er in N II. 13. 4Vgl. Kapitel 6, Abschnitt 2. 5Vgl. dazu Kapitel 10.
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2. Die Grenzstellung des Nährvermögens Die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Texte auf die Seele und die aktiven und passiven Potenzen lassen sich am ehesten klären, wenn man beider Überlegungen zum Nährvermögen miteinander vergleicht, denn diese bilden in der Nachschrift zum Abschiedsbrief den Kontext der soeben zitierten Äußerung. Im Buch der Seele geht der Behandlung des Nährvermögens jener Exkurs zum Begriff der Potenz voraus, anhand dessen wir Ibn Bāǧǧas allgemeine Theorie der Potenzen aufdecken konnten,6 und die Betrachtung des Prozesses der Ernährung ist dementsprechend ganz von dieser Theorie geprägt. Ibn Bāǧǧas Ausführungen lassen sich systematisch in zwei Hauptabschnitte gliedern. Im ersten (N II. 10–13) geht es um eine allgemeine Einordnung der »Nährpotenz« in eine Klasse der Potenzen; die Nährseele wird als aktive Potenz bestimmt (N II. 13). Der anschließende zweite Hauptabschnitt beschäftigt sich dann genauer mit den verschiedenen Tätigkeiten der Nährseele – Ernährung (N II. 14–20), Wachstum (N II. 21) und Zeugung (N II. 22–24) – und bestimmt zum Schluss das Verhältnis dieser drei Leistungen zueinander (N II. 25f ). Diese Gliederung folgt den wissenschaftstheoretischen Anforderungen, wie sie im ersten Kapitel entwickelt worden sind. Dort hatte sich ergeben, dass die allgemeine Seelendefinition nur eine gattungsmäßige Definition darstellt und für die verschiedenen Seelenvermögen jeweils durch Angabe der Finalursache, nämlich der jeweiligen Tätigkeit, spezifiziert werden muss.7 Dieser Logik gehorcht nun auch das vorliegende Kapitel. Die Nährseele wird zunächst der »Gattung« der aktiven Potenzen zugeordnet (N II. 13), indem verdeutlicht wird, dass sie eine Bewegung in der Substanz verursacht (N II. 12).8 Der zweite Hauptabschnitt übernimmt dann mit der näheren
6Vgl. Kapitel 8, Abschnitt 1. 7Siehe oben, Kapitel 5, Abschnitt 3. 8Aristoteles’ Grund für die Zuordnung der Ernährung zur Kategorie der Substanz – und ebenso der Grund für Alexander und Themistios (Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 35, 13–17; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 52, 34–36) – ist an der Art der Wirkung auf den beseelten Körper orientiert: Dieser wird in seiner ousia bewahrt, folglich korrespondiert die Ernährung der Kategorie der Substanz. Ibn Bāǧǧas Begründung ist eine andere, sie richtet sich danach, welche Art von Veränderung bewirkt wird; verändert wird nun jedoch gerade nicht das Ernährte, sondern die Nahrung, wie in knapper Form bei Aristoteles und in ausführlicherer bei Themistios nachzulesen ist (Aristoteles, De anima, II. 4, 416a34–b2; Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 52, 11–19). Bewegung in der Substanz ist die Ernährung nach Ibn Bāǧǧa daher deshalb, weil die Nahrung substantiell verändert wird. Die Nahrung »in der Substanz zu bewegen«, das heißt, sie dem beseelten Körper zu assimilieren – sei es durch Aufnahme in den eigenen, sei es durch Hervorbringung eines ähnlichen Körpers – ist folglich die gemeinsame und einigende Funktion der drei Vermögen der Ernährung, des Wachstums und der Zeugung (vgl. N II. 19, 22, 25). Die finalursächliche Erklärung ihrer Tätigkeiten, Erhaltung, Wachstum und Vermehrung, setzt dagegen gerade ihre Unterschiede fest (vgl. N II. 20, 21, 24).
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Bestimmung der Tätigkeiten dieser Potenz die notwendige Spezifizierung. Er wird folgerichtig mit der Frage eingeleitet, welche »Erzeugung« – denn Bewegung in der Substanz ist ja Erzeugung – die Nährseele nun genau bewirkt: »Was [die Frage] angeht, welche Erzeugung sie ausführt – und das ist die Definition, die Prinzip des Beweises genannt wird – wird aus dem klar werden, was ich [darüber] sage, warum die Nahrung teils in Potenz und teils in Akt ist« (N II. 14). Die angestrebte spezifische Definition der Nährseele, diejenige also die auch die Ursache angibt und daher der Prämisse eines Beweises vergleichbar ist, erhält man also, wenn man eine genaue Bestimmung der Erzeugungsfunktionen gibt, zu denen die Nährseele disponiert ist. Über die Beschreibung dieser Funktionen wird die Seele als Prinzip von Veränderung offenbar und genauer die Nährseele als Prinzip bestimmter Veränderungen. Deshalb hebt Ibn Bāǧǧa den Übergang von potentieller Nahrung zu aktueller Nahrung, die Veränderung, die von der Nährseele bewirkt wird, besonders hervor. Sein Bemühen, die Wirkund Leidensverhältnisse zwischen Nahrung, Seele und Körper als Wechselspiel wirkender und leidender Potenzen zu beschreiben, dient damit einerseits der Integration der Seelenvermögen in eine »naturwissenschaftliche« Gesamttheorie, und andererseits ihrer kohärenten »psychologischen« Erklärung: Die Erklärung der konkreten physiologischen Prozesse ist zugleich die vollständige Explikation der Nährseele. Die Unterscheidung zwischen potentieller und aktueller Nahrung oder, gleichbedeutend damit, zwischen ferner und naher Nahrung, mit der Ibn Bāǧǧa die Diskussion eröffnet (N II. 10), geht zurück auf Aristoteles’ Lösung der Aporie, ob sich das Gleiche vom Gleichen oder das Entgegengesetzte vom Entgegengesetzten ernährt. Aristoteles beschreibt die unverdaute und zuerst zugeführte Nahrung als Entgegengesetztes, die verdaute und »vollendet« zugeführte Nahrung dagegen als Gleiches. Sowohl Alexander als auch Themistios, deren Kommentare Ibn Bāǧǧa vorlagen, tragen die Problemkonstellation und die Lösung ausführlicher vor als Aristoteles, halten sich jedoch beide an die von ihm vorgegebene Beschreibung in Begriffen von Gleich und Ungleich.9 Ibn Bāǧǧa dagegen nimmt die beide Seiten stützenden Argumente nicht auf, sondern referiert nur knapp die Lösung: »[D]ie Rede dessen, der meint, dass die Nahrung 9Die Frage, ob Gleiches oder Ungleiches einander affiziert, wird von Aristoteles in allgemeiner Form in De generatione et corruptione, I. 7, 323b1–324a24 behandelt und in Aristoteles, De anima, II. 4, 416a21–b9 auf die Nahrung angewandt. Alexander (Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 33, 13–34, 18) und Themistios (Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 52, 1–30) folgen Aristoteles in Darstellung und Lösung des Problems. Dabei scheint Alexanders Umgang mit der Frage insofern vorbildhaft für Ibn Bāǧǧa gewesen zu sein, als er den Streitpunkt eher nebenbei abhandelt und vielmehr dazu gebraucht, um gleich von Beginn seiner Untersuchung der Nährseele an die Mehrstufigkeit der Nahrung und die Doppeldeutigkeit ihres Begriffs einzuführen, wie wir es auch bei Ibn Bāǧǧa (N II. 10) beobachten.
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vom Gegenteil kommt, ist nicht unvereinbar mit der Rede dessen, der sagt, dass jede Nahrung vom Gleichen kommt, denn der erste hat recht in Bezug auf die Nahrung in Potenz, der zweite in Bezug auf die Nahrung in Akt« (N II. 15). Die physiologische Unterscheidung verschiedener Stufen der Nahrungsverarbeitung aber, welche die Basis für die gegebene Antwort bildet, hält Ibn Bāǧǧa einer ausführlicheren Behandlung für wert. Zu diesem Zweck führt er die Rede von potentieller und aktueller Nahrung ein, um mit Hilfe dieser naturphilosophischen Formalisierung Verdauung beziehungsweise Ernährung als Veränderungsprozess beschreiben zu können. Ibn Bāǧǧa orientiert sich dabei offenbar am Kapitel über das Wachstum aus De generatione et corruptione. Aristoteles macht dort deutlich, dass die Nahrung, das also wodurch Wachstum erreicht wird, aktuell vom Fleisch, welches durch das Wachstum vermehrt wird, verschieden ist; die Nahrung ist nur potentiell Fleisch und muss in aktuelles Fleisch umgewandelt werden.10 Das Potenz-Akt-Vokabular erlaubt es Ibn Bāǧǧa, die Nahrungsumwandlung beliebig genau zu analysieren, indem verschiedene Stufen der Aktualisierung der Nahrung, vom aufgenommenen Stoff über den Mageninhalt und das Blut bis hin zum vollständig assimilierten Fleisch, unterschieden werden (N II. 14). Indem Ibn Bāǧǧa diese beobachtbare Veränderung der Nahrung zum Ausgangspunkt seiner Erklärung der Ernährung macht, gelingt es ihm, eine bezwingende Beschreibung des Nährvermögens von dessen Objekt her zu liefern: [N II. 10] »›Nahrung‹ wird [etwas] der Potenz nach genannt, wie etwa das Fleisch für die Raubtiere, und ›Nahrung‹ wird von der letzten Nahrung ausgesagt, als die wir zum Beipiel das Blut ansetzen wollen. Folglich ist die Potenz der Nahrung eine Potenz, durch die der Körper [der Nahrung] bewegt wird, so dass ihre Potenz passiv ist. Nun hat alles, was sich verändert, einen Veränderer, und so hat die Nahrung, die in Potenz ist – nämlich die entfernte Nahrung – notwendigerweise einen Beweger, nämlich dasjenige, was sie zur Nahrung in Akt macht; seine Tätigkeit ist die Ernährung. Der Beweger ist das Nährende, und der Körper, der eine so geartete Potenz besitzt, ist das Ernährte.«
10Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 5, 321b35–322a8. Die hier eingeführte Rede vom potentiellen und aktuellen Fleisch wird im folgenden Teil des Kapitels beständig angewandt. Den Einfluss von De generatione et corruptione bezeugt auch Ibn Rušd, der sich eng an Ibn Bāǧǧas Argumentation anlehnt. Nachdem Ibn Rušd gezeigt hat, dass die potentielle Nahrung durch die aktive Potenz der Nährseele bewegt werden muss, setzt er hinzu (Talḫīṣ kitāb al-nafs, ed. al-Ahwānī, 15, 12–15): »Wie Wirken und Leiden im Allgemeinen bei dieser Bewegung und anderen Bewegungen bestehen, das ist im ersten [Buch] von De generatione et corruptione gesagt worden. Es ist dort gesagt worden, dass es nötig ist, dass das Leidende einerseits gleich und andererseits entgegengesetzt ist.«
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Die Gegenüberstellung vom gefressenen Fleisch als potentieller und dem daraus erzeugten Blut als aktueller Nahrung soll zeigen, dass die »Potenz der Nahrung«, hier also des Fleisches, zu dem Typ von Potenz gehört, »durch die der Körper bewegt wird« und mithin eine passive Potenz ist. Indem ein verzehrtes Stück Fleisch in Blut verwandelt wird, muss bei ihm eine passive Potenz zu dieser Veränderung vorausgesetzt werden. Die Überführung aus einem Zustand der Potentialität in einen Zustand der Aktualität erfordert dann einen »Veränderer«. Dieser Veränderer oder Beweger muss eine korrespondierende Potenz sein, die an einem Körper vorliegt, nämlich dem Körper des Ernährten, des Lebendigen. Dieser Körper wird von der Potenz ebenso bewegt wie die Nahrung, jedoch nicht in gleicher Weise, denn diese Potenz ist für ihn ein interner, für die Nahrung ein externer Beweger. Im Ernährten, also dem Lebewesen oder der Pflanze, liegt mithin eine bewegende oder aktive Potenz vor (N II. 11). Im nächsten Schritt unternimmt Ibn Bāǧǧa zu zeigen, dass diese Potenz Seele ist. Zu diesem Zweck führt er scheinbar thetisch zwei Bestimmungen an, die er jedoch an früheren Stellen des Buchs der Seele bereits vorbereitet hat. Zuerst erklärt er, dass jede bewegende Potenz »eine gewisse Vollendung [kamāl]« ist (N II. 11). Dies ergibt sich nämlich aus der allgemeinen Theorie der Potenzen, der zufolge die Tätigkeit aktiver Potenzen notwendig mit aktueller Existenz verknüpft ist (vgl. N II. 6). Mit anderen Worten, Ibn Bāǧǧa macht zunächst klar, dass die Nährpotenz Entelechie (istikmāl) ist.11 Damit ist ein Moment der allgemeinen Seelendefinition – erste Entelechie eines natürlichen organischen Körpers – erfüllt. Folgerichtig schließt sich ein Hinweis auf die Organizität des ernährten Körpers an: Ernährung kann nur mittels Organen geschehen – eine bereits erfolgte Untersuchung soll das gezeigt haben12 – und daher muss die Nährpotenz Seele sein. Dieser Schluss beruht auf der Organizität als Voraussetzung seelischer Potenzen, wie wir sie in Kapitel 10 ausführlich analysiert haben. Warum scheint Ibn Bāǧǧa ein Beweis dafür notwendig, dass die Nährpotenz Seele ist? Auf der argumentationslogischen Ebene ergibt sich die Antwort auf
11Dass Ibn Bāǧǧa Vollendung und Entelechie hier synonym verwendet, geht aus den in Anm. 2 genannten Stellen hervor. 12Es ist wahrscheinlich, dass Ibn Bāǧǧa hier auf Aristoteles’ Schrift De partibus animalium und vielleicht auch auf seine eigene Adaption einiger Kapitel daraus anspielt, denn dort werden im Rahmen einer allgemeinen Untersuchung der Funktionen der Körperteile natürlich auch die Organe beziehungsweise die besonderen Funktionen von Organen besprochen, die der Nahrungsaufnahme und Nahrungsverarbeitung dienen; vgl. etwa den Abschnitt über die Zähne: De partibus animalium, III. 1, 661a34–b27. Einige an der Ernährung beteiligte Organe zählt auch Themistios auf, um den Zusammenhang zwischen organischer Struktur und Beseeltheit darzulegen; vgl. Themistii in libros Aristotelis de anima Paraphrasis, ed. Heinze, 41, 40–42, 13. Da die betreffende Passage in unmittelbarer Nähe zu einer anderen steht, auf die Ibn Bāǧǧa, wie sich sogleich zeigen wird, ausführlicher eingeht, kommt auch er hier als Quelle in Betracht.
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diese Frage aus der oben beschriebenen Funktion dieses Abschnitts, zunächst eine gattungsmäßige Definition der Nährseele zu leisten. Diese Aufgabe ist mit dem Nachweis der Anwendbarkeit der allgemeinen Seelendefinition auf das Nährvermögen erfüllt. Ein zweiter, den psychologisch-physiologischen Gehalt der Untersuchung selbst betreffender Grund scheint aus dem anschließend diskutierten Einwand auf, den wir ansatzweise bereits in Kapitel 6, Abschnitt1, diskutiert haben. Man kann sich nämlich bei einzelnen Pflanzenarten – Ibn Bāǧǧa wählt die Trüffeln als Beispiel – durchaus mit Recht fragen, ob ihre bewegende Potenz tatsächlich als Seele zu bestimmen ist. Sie kann, soviel hält Ibn Bāǧǧa für sicher, bei den Trüffeln zumindest nicht im Vollsinne Seele sein, denn jede Seele bewegt, wie bereits gesagt, mittels Organen, die Trüffeln aber sind homoiomer, nicht organisch strukturiert. Ist die Potenz der Trüffeln keine Seele, dann werden sie auf dieselbe Weise wachsen wie Steine, nämlich durch rein äußerliche Hinzufügung. Ibn Bāǧǧa greift an dieser Stelle ganz offenbar auf Themistios’ Paraphrase zurück, wo im Zusammenhang mit der allgemeinen Seelendefinition Aristoteles’ begriffliche und sachliche Unterscheidung von »natürlich«, »lebendig« und »Lebewesen« gerechtfertigt wird.13 Steine, heißt es dort, wachsen nur durch Hinzufügung,14 oder falls sie doch als Ganze wachsen, dann haben sie höchstens eine sehr unbestimmte Form von Leben. Dieser Kontext seiner Vorlage macht die Stoßrichtung der von Ibn Bāǧǧa hier vorgetragenen Überlegung deutlich: Es geht um die richtige Auffassung des Nährvermögens; weder ist dieses bloß natürlich, noch darf umgekehrt alles Natürliche bereits als beseelt betrachtet werden. Dem Nährvermögen kommt eine distinkte Stufe auf der scala naturae und in der Reihe der seelischen Vermögen zu.15 Ibn Bāǧǧa übernimmt denn auch Themistios’ Antwort auf sogeartete Zweifelsfälle, eine Antwort, durch die die Bestimmung des Nährvermögens als Seele als solche gewahrt bleibt (N II. 11): Zweifelsfälle treten auch an anderen Stellen auf, zum Beispiel lässt sich der Meerschwamm nicht eindeutig als Pflanze oder Tier bestimmen. Der Grund dafür liegt in einem allgemeinen Verfahren der Natur, nur durch Mitteldinge von einer Gattung zur nächsten, vollkommeneren, 13Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 25–42, 2. 14Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 34 prosthêke; An Arabic Translation of Themistius Commentary, ed. Lyons, 49, 8. Ibn Bāǧǧa gebraucht, wie schon Lyons festgestellt hat, den gleichen Ausdruck wie die arabische Themistiosübersetzung: tarākum. 15Zum antiplatonischen Hintergrund dieser Bestimmungen bei Themistios vgl. auch Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 44, 35–45, 18. In neuplatonischen Auslegungen werden die von Aristoteles der Nährseele zugeschriebenen Funktionen häufig einer unterhalb der Seele angesetzten phýsis zugeordnet; vgl. dazu Blumenthal, Aristotle and Neoplatonism in Late Antiquity, 103, 115f. Einen »Beweis«, dass die Nährseele wirklich Seele und nicht bloß Natur ist, führt auch Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 31, 25–32, 8.
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überzugehen.16 Daraus lässt sich aber eben nicht folgern, dass die Nährpotenz als solche sich keiner Organe bedient und keine Seele ist. Ibn Bāǧǧa kann nun folgenden Zwischenstand festhalten: [N II. 13] »So haben wir bereits die Gattung gefunden, in welche die Nährseele sich einordnet. Diese Potenz ist aktiv. Alles Aktive ist ein Seiendes in Akt, und jedes Seiende besitzt eine Aktivität auf ein anderes. Es gibt beim Seienden zwei Vollendungen, eine erste, nämlich seine Existenz als Potenz, und eine letzte, nämlich seine Existenz als bewegend. Die Nährseele ist die erste Vollendung des Ernährten.« Die Nährseele ist eine aktive Potenz. Das beinhaltet zum einen, dass sie aktuell existiert, und zum anderen, dass sie auf anderes – nämlich die Nahrung – einwirkt. Die letztere Bestimmung gibt Anlass für eine weiter Präzisierung, durch welche die Momente der allgemeinen Seelendefinition nun vollständig aufgenommen sind: Von den zwei bei einem jeden Seienden unterscheidbaren Entelechien fällt die Nährseele unter die erste Entelechie. Das Vorhandensein der Nährseele bedeutet die Existenz einer Potenz, eines Vermögens, nicht schon die Aktivität dieses Vermögens, sein aktuelles Einwirken auf die Nahrung. Ibn Bāǧǧa rechtfertigt diesen Schluss hier nicht, er erklärt sich jedoch leicht aus der allgemeinen Theorie der Potenzen, denn das gemeinsame Merkmal der passiven und der aktiven Potenzen bestand eben in ihrer Ergänzungsbedürftigkeit durch eine ihnen komplementäre Potenz, die in diesem Fall die passive Potenz der Nahrung ist. Die Beschränkung der Nährpotenz als Seele auf die erste Entelechie ist erforderlich, weil die Verfügbarkeit der Nahrung, die notwendige Bedinung für die Tätigkeit der Närseele ist, nicht in ihrer Macht steht. Diese Abhängigkeit hat Ibn Bāǧǧa zuvor bereits klar gemacht, wo er die »nicht neu beginnenden« also die überwinternden Pflanzen mit dem Feuer vergleicht, für das es nichts zu verbrennen gibt (N II. 7). In diesem Sinne ist die Nährseele als aktive Potenz und dennoch als erste Entelechie zu bestimmen. Damit erreicht Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele eine Definition des Nährvermögens, die sich sowohl der allgemeinen Definition der Seele wie der Theorie der Potenzen schlüssig einfügt. Es wird daher aus seinem Text nicht recht deutlich, worin die Schwierigkeit bestehen mag, die er im ersten Kapitel des Werkes andeutet. Dort versieht er die Forderung, eine genaue Erforschung der Seele müsse alle Seelen, nicht nur die menschliche berücksichtigen, mit der Einschränkung: »Daher betrachten wir die Seelen aller Lebewesen, denn in Bezug auf die Formen der Pflanzen besteht [noch] Untersuchungsbedarf« (N I. 16). Was ist es, was die Formen der Pflanzen von denen der Lebwesen so unterscheidet, dass sich für Ibn Bāǧǧa Zweifel ergeben können, ob sie Seele sind, ob sie in das Gesamt16Vgl. Kapitel 6, Abschnitt 1.
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bild der Seele mit eingehen sollen oder nicht? Ein Einwand gegen Aristoteles’ Seelendefinition, den Themistios referiert, mag hier im Hintergrund stehen.17 Wenn, so die Überlegung, die Seele als erste Entelechie definiert wird, dann scheint diese Definition die Nährseele auszuschließen, die doch immer, selbst im Schlaf, aktiv ist. Bei der Nährseele tritt die erste Entelechie, der Habitus, niemals getrennt von der zweiten, der aktuellen Tätigkeit, auf. Da die Pflanzen von allen Seelenvermögen nur das Nährvermögen besitzen, kann so durchaus zweifelhaft werden, ob Pflanzen überhaupt eine Seele im eigentlichen Sinne haben und bei der Erforschung der Seele zu berücksichtigen sind. Genau diese Schwierigkeit greift er in der später verfassten Nachschrift zum Abschiedsbrief nun auf. Dies ergibt sich letztlich wohl aus der hierarchischen Perspektive des Textes, dem es thematisch darum geht, zu klären, wie der »erste Beweger« im Menschen, nämlich der Intellekt, in Verbindung zum menschlichen Körper tritt.18 Da der Intellekt dem Körper offenbar als dessen Form zukommt, untersucht Ibn Bāǧǧa nacheinander die verschiedenen Formen, insbesondere die seelischen Vermögen und deren Unterschiede.19 Formen sind sowohl die »natürliche Form« (ṣūra ṭabīʿīya) als auch die Seele,20 wobei sich die letzte dadurch von ersterer unterscheidet, dass sie mittels Organen bewegt (T 60). An diesem Punkt kommt das Nährvermögen ins Spiel, denn es genügt zwar dem Kriterium der Organizität und ist daher unter die Seelen zu rechnen, unterscheidet sich jedoch von den anderen seelischen Vermögen.21 Ibn Bāǧǧa trägt Beobachtungen und Gründe für diese Behauptung verwoben mit ihrer theoretischen Bewältigung vor, während wir versuchen wollen, die verschiedenen Register zu scheiden. Dem Ursprung der Schwierigkeit am nächsten steht wohl die Beobachtung, dass Pflanzen ihre Nahrung nicht suchen müssen, sondern in der Erde fertig vorfinden und »mit einem Schlag« (dufʿatan) erhalten und daher keines Vermögens bedürfen, das plötzliche Ereignisse und Entwicklungen erfasst, sprich, sie brauchen keine Wahrnehmung. Von einem Begehren nach Nahrung kann man bei ihnen höchstens im übertragenen Sinne sprechen, so 17Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 11–22; siehe auch 42, 3–6. 18Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 1f. 19Die Frage nach der Form (Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 3–6) wird nicht explizit motiviert, ergibt sich aber aus dem angekündigten Thema und der Schlussfolgerung (Faḫrī, 152, 3–6). 20Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 147, 6. 21Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 3–6: »Deshalb wird das Nährvermögen unter die Seelen gezählt und nicht unter die natürlichen Formen, denn es verrichtet viele Tätigkeiten, von denen einige einander entgegengesetzt sind. Daher wird es in Bezug auf die Existenz zum verborgensten Vermögen der Seele, sodass manche sogar glauben, dass es natürlich sei; und manche halten die Pflanzen nicht für lebendig und zählen sie unter die natürlichen Formen.« Vgl. Aristoteles, De anima, II. 2, 413a25–31, von Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 44, 13–21 ausdrücklich auf die Pflanzen bezogen.
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wie man der aktiven Potenz der Wärme das Verlangen, etwas zu verbrennen, zusprechen kann.22 Das Nährvermögen gleicht in dieser Hinsicht also eher den Potenzen der unbelebten Natur als etwa dem Wahrnehmungsvermögen, da es wie sie nicht aktualisiert werden muss, sondern unmittelbar tätig ist.23 Eine zweite Beobachtung geht in die gleiche Richtung: Auch Tiere, die den Anschein erwecken, dass sie sich zuweilen nicht ernähren, etwa Reptilien in der Winterstarre oder Vögel in der Mauser, ernähren sich in dieser Zeit tatsächlich von im Körper angelegten Reserven. Man kann daran sehen, dass die Nährseele niemals in Potenz ist, sondern stets in letzter Vollendung.24 Als Konsequenz aus diesen Beobachtungen stellt Ibn Bāǧǧa fest, dass sich bei den Pflanzen, die hier für das Nährvermögen stehen, im Gegensatz zu den übrigen Vermögen erste und letzte Entelechie nicht trennen lassen:
22Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, Rasāʾil Ibn Bāǧǧa, 148, 9–14: »Weil die Pflanzen das, was sie tun, nicht wegen eines Ereignisses tun, das ihnen plötzlich widerfährt, bedürfen sie keines Vermögens, das die plötzlichen Ereignisse und die Entwicklungen erfasst, denn sie sind mit dem Erdboden verbunden, da ihre Nahrung darin ist, und bedürfen nicht der Suche. Daher erhalten sie alles, dessen sie bedürfen, auf einen Schlag, da es beschränkt und bestimmt ist. Deshalb besteht in ihnen das Verlangen danach auf andere Weise als von den Lebewesen ausgesagt wird, dass sie begehren, vielmehr ist dies nur auf die Weise, wie von den aktiven Potenzen ausgesagt wird, dass sie nach der Tätigkeit verlangen, wie zum Beispiel die Wärme nach dem Verbrennen, die Seele ist nämlich eine aktive Potenz.« Die enge (und teleologisch bestimmte) Verknüpfung von Wahrnehmen und Bewegung – der das Begehren zugrunde liegt – sowie ihr Bezug auf die Ernährung wird von Aristoteles in De anima ausführlich dargelegt; vgl. etwa De anima II. 3, 414a32–414b16. Ibn Bāǧǧa diskutiert die Frage im Buch der Lebewesen, wo er unter anderem sagt (Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 98, 15–17): »Um des Bewegtwerdens willen wurde der Sinn gemacht, und die Potenz des Sinnes ist gleichsam die Materie für die Potenz des Bewegens. Das ist in Übereinstimmung mit dem, was existiert, denn jeder Körper, dem kein Bewegungsorgan gegeben wurde, dem wurde [auch] kein Sinn gegeben wie den Pflanzen.« 23In dieser Konzeption der Pflanze stützt Ibn Bāǧǧa sich wohl auf die pseudoaristotelische Schrift De plantis, vgl. Arisṭūṭālīs, Fī l-nafs, ed. Badawī, 264, 12–19; 244, 1–3; 244, 15–245, 1. Siehe auch Aristoteles, De anima, III. 12, 434b2; De partibus animalium, II. 3, 650a21–23. Die der unbelebten Natur verwandte »Automatik« des Wachstums hebt Ibn Bāǧǧa auch in der Physik hervor: Ibn Bāǧǧa, Šurūḥāt al-samāʿ al-ṭabīʿī, ed. Ziyāda, 161, 7–9. 24Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 149, 8–13: »Die Nährseele existiert dauerhaft und auf jeden Fall gemäß ihrer letzten Vollendung in allem, in dem sie existiert. Bei vielen Arten bestehen Zweifel, ob ihre Nährseelen zu manchen Zeiten nur in Potenz sind, wie die Schlangen und viele andere Arten von Lebewesen, die man im Winter nicht sieht, und wie die Tauben, wenn sie ihre Federn abwerfen. Das alles ist schon an anderen Stellen erklärt worden, und zu dem, was darüber erklärt wurde, gehört, dass sie sich ernähren, indem das Fett bei den Tauben zu diesem Zeitpunkt besonders reichlich vorhanden ist, ohne dass sie [so viel] zu einer anderen Zeit hätten.« Mit MS B, f. 208v [arab.] sind folgende Änderungen am Text vorzunehmen: 149, 9 dāʾiman… tūǧadu ist auszulassen, da Hinzufügung auf Grund von Homoioteleuton; 149, 10 yatašakkiku (in marg.) statt šukika; 149, 12 ist zu lesen wuǧūd al-samīn min al-yamām; 149, 13 nach waqt ist hinzuzufügen ḫāṣṣatan dūna an yūǧada lahā fī ġairi ḏālika l-waqt.
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[T 72] »Nur [ist es so], dass den Pflanzen ihre letzte Vollendung gegeben wird und ihre erste Vollendung [ihnen] nicht getrennt gegeben wird. Daher haben die Pflanzen keinen Wahrnehmungssinn, denn der Sinn ist erste Vollendung, und seine letzte Vollendung besteht in unbestimmten Dingen; ja, sie sind dem Wesen nach unendlich und nur akzidentell endlich. Daher haben die Pflanzen auch nicht die nach dem Sinn kommenden Vermögen wie Vorstellung, Gedächtnis und anderes.«25 Das bedeutet dann aber, dass das Nährvermögen ein wichtiges Merkmal der übrigen seelischen Vermögen nicht teilt, und Ibn Bāǧǧa beschreibt daher, indem er sich wieder auf die gleitenden Übergänge in der Natur beruft, die Pflanzen als Mittelding zwischen mineralischen und beseelten Körpern.26 Damit ergibt sich aber diesmal ein ernsthaftes Problem für die Anwendung der allgemeinen Seelendefinition auf das Nährvermögen, denn es scheint nach Ibn Bāǧǧas hier vorgetragener Analyse nicht mehr richtig, sie als erste Entelechie zu bezeichnen. Das stellt deshalb keine geringe Schwierigkeit dar, weil es, wie Ibn Bāǧǧa herausgearbeitet hat, dem Nährvermögen wesentlich ist, seine Funktion stets in Akt zu erfüllen, während andererseits die Seele wesentlich als Potenz bestimmt worden war. Ibn Bāǧǧa löst dieses Problem mit recht drastischen Mitteln: »Daher definierte Aristoteles die Seele als Entelechie eines lebendigen Körpers, um alle Entelechien einzuschließen, die erste und die letzte, und damit alle Arten der Seele unter seine Definition fallen.«27 Mit anderen Worten, er fälscht kurzerhand die Definition des Aristoteles und korrigiert stillschweigend seine eigene aus dem Buch der Seele. Dieser unorthodoxe Zug überrascht umso mehr, als Ibn Bāǧǧa zwei alternative Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung standen. Die erste stammt von Themistios, der das Problem beseitigt, indem er darauf aufmerksam macht, dass der Habitus in der Tätigkeit immer mitgegeben ist, während der Habitus die Tätigkeit gerade nicht automatisch mit einschließt; daher umfasse nur die Definition als erste Entelechie alle Seelenvermögen.28 Anders gesagt, das Nährvermögen mag immer tätig sein und zu keinem Zeitpunkt bloß im Zustand der ersten Vollendung sein, aber dies gehört eben zu den spezifischen Eigenschaften dieses 25Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 16–19. Die »unbestimmten« Objekte der Wahrnehmung werden hier der zuvor als »bestimmt« bezeichneten Nahrung der Pflanzen gegenübergestellt. 26Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 148, 7f: »Wie wir schon mehrfach gesagt haben, macht die Natur nichts, was sie macht, mit einem Schlag, sondern sie macht es nur stufenweise, und daher gleichen die Pflanzen den mineralischen Körpern, denn sie nehmen von allem einen Teil.« Mit MS B, f. 208r [arab.] lies in Zeile 148, 9 al-ǧamādīya statt al-mutanaffisa. 27Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 149, 5–6; mit MS B, f. 208v [arab.] lies li-ǧism statt al-ǧism; ḥayāt statt al-ḥayāt; li-yaʿumma statt li-naʿumma; wa-l-aḫīra statt wa-lāḫira. 28Themistii in libros Aristotelis de anima paraphrasis, ed. Heinze, 41, 15–22.
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Vermögens, wie jedes Vermögen sie hat, und braucht in der allgemeinen Seelendefinition keine Berücksichtigung zu erfahren. Insofern der Akt immer die Potenz voraussetzt, kann das Nährvermögen also durchaus unter die Bestimmung der Seele als erste Entelechie fallen. Die zweite Lösungsmöglichkeit ist jene, die Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele selbst entwickelt hat und die Themistios’ Vorschlag gewissermaßen ergänzt. Sie besteht eben in der Erkenntnis, dass der Unterschied zwischen passiven und aktiven Potenzen keineswegs mit dem Unterschied zwischen erster und letzter Entelechie gleichzusetzen ist, weil auch das von sich aus Aktive nicht wirken kann, wenn ihm das geeignete Objekt fehlt. Die aktive Potenz des Nährvermögens ist überhaupt nur deshalb Potenz, weil sie von ihrem Akt zu unterscheiden ist. Das heißt, als Potenz kann sie überhaupt nur erste Entelechie sein. Warum bleibt Ibn Bāǧǧa nicht bei diesem Erklärungsmodell? Die Eindeutige Zuordnung der passiven Potenz zur ersten und der aktiven Potenz zur letzten Entelechie, wie er sie hier in der Nachschrift zum Abschiedsbrief vornimmt (T 71), bleibt hinter dem im Buch der Seele erreichten Analyseniveau zurück. Denn die Nährseele ist ja nicht etwa deshalb als aktive Potenz aufzufassen, weil sie immer tätig ist, sondern weil sie auf die Nahrung einwirkt und diese umwandelt. Sie kann gar nicht als passive Potenz gedacht werden, weil sie nicht Einwirkung erleidet, sondern ausübt. Andererseits hat Ibn Bāǧǧa hier eine Verwandtschaft der Nährseele mit den elementaren Potenzen herausgearbeitet, die sich nicht einfach übergehen lässt. Konzipiert man das Nährvermögen als erste Entelechie, dann müsste man nun auch die Wärme des Feuers als erste Entelechie begreifen, womit die Grenze zwischen unbelebter und belebter Natur ebenfalls verschwömme. Möglicherweise sind diese Schwierigkeiten nicht endgültig zu beseitigen, und zwar genau wegen der von Ibn Bāǧǧa skizzierten Mittelstellung des Nährvermögens, das wohl einem organischen Körper angehört, aber den für die anderen Vermögen charakteristischen Übergang von der ersten zur letzten Entelechie nicht mitmacht. Es bleibt angesichts des Buchs der Seele und der allgemeinen Potenztheorie aber fragwürdig, diesen Übergang durch die Unterscheidung passiver und aktiver Potenzen auszudrücken.
3. Das Wirken passiver Potenzen Indessen gibt es durchaus berechtigte Gründe für Ibn Bāǧǧas im vorstehenden Abschnitt beschriebenen Schritt, die Unterscheidungen erste/letzte Entelechie und passive/aktive Potenz einander anzunähern. Diese Gründe ergeben sich aus der Gesamtperspektive der Nachschrift, vor allem aber aus der Analyse der übrigen Seelenvermögen, bei denen der Übergang von der ersten zur letzten Entelechie tatsächlich mit der Verwandlung von einer passiven in eine aktive Potenz zusammenfällt. Dies ist im Folgenden zu zeigen.
Das Wirken passiver Potenzen
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Der geeignete Ausgangspunkt dafür ist erneut die bereits aufgezeigte Abhängigkeit des Akts der Seelenvermögen von ihrem Gegenstand. Für das Wahrnehmungsvermögen beschreibt Ibn Bāǧǧa den Vorgang der Aktualisierung im Buch der Seele präzise so: [N III. 49–50] »Der Sinn in Potenz im Allgemeinen ist Vermögen eines Körpers, der vom Wahrnehmbaren etwas erleidet [und] mit dessen Vollendung die Vollendung des seelischen Vermögens, das in ihm ist, verbunden ist. Es folgt daher notwendigerweise, dass das Wahrnehmbare verändert [muḥīl] und das Wahrnehmende verändert wird [mustaḥīl].« Das Wahrnehmungsvermögen ist also eine passive Potenz, die durch das wahrnehmbare Objekt vollendet wird. Der Akt des Wahrnehmungsvermögens besteht darin, dass dieses in gewisser Weise das Wahrnehmbare wird. So sagt Ibn Bāǧǧa etwa: »Die Potenz, die Sehen wird, ist in Potenz die sichtbaren [Dinge]« (N IV. 2). Damit ist aber nur ein bestimmter Aspekt der Wahrnehmung angesprochen, der sich mit Hilfe der Theorie der Potenzen beschreiben läßt. Im Buch der Lebewesen dagegen tritt ein anderer Aspekt hervor: [T 73] »Aber vielleicht zweifelt jemand und fragt: Wenn jedes Lebewesen wahrnehmungsfähig und beweglich ist und die Wahrnehmung und die Ortsbewegung durch Spontanität des Beweglichen beim Lebewesen [einander] notwendig folgen und sie beide die Form des Lebewesens sind, durch die das Lebewesen ein Lebewesen ist, [geschieht das dann] durch die Potenz des Tastsinns oder durch die bewegende Potenz? Wir antworten: Wenn wir das spontan Bewegte erfasst haben, wie es in der Physik erklärt wurde, dann muss sein erster Beweger dem Wesen nach Seele sein. […] Außerdem ist der Sinn manchmal in Akt und manchmal in Potenz, und die Bewegung ist immer abhängig vom Beweger und vom Beweglichen. Folglich kann die wahrnehmungsfähige Seele, sei es die tastende oder eine andere, keine kontinuierliche ewige Bewegung ausüben. […] Es gibt kein sich ernährendes Lebewesen, das sich mit dauernder Bewegung bewegt, sondern seine Bewegungen entstehen und vergehen. Daher bewegt es sich und ruht; und es bewegt sich und ruht nicht nur, sondern bewegt sich [auch] mit einander entgegengesetzten Bewegungen. Die Ursache davon ist, dass sich sein Beweger immer in verschiedenen, einander entgegengesetzten Zuständen befindet. Folglich ist dasjenige, womit sich das Lebewesen bewegt, der Sinn, und der Sinn ist folglich eine bewegende Potenz. Die Vollendung der Potenz besteht in der Tätigkeit.«29
29Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 98, 1–15; mit MS O, f. 95v sind folgende Änderungen vorzunehmen: in Zeile 98, 3 bi-quwwat al-lams am statt fa-quwwat al-lams takūnu,
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Die Tätigkeit, die hier als Vollendung des Wahrnehmungsvermögens betrachtet wird, ist nicht der Akt des Wahrnehmens, sondern die spontane Ortsbewegung des Lebewesens, die von der Wahrnehmung bestimmt wird.30 Der Sinn (ḥiss) als Beweger des Lebewesens ist zuweilen in Akt, zuweilen aber auch in Potenz oder, anders gesagt, er ist in verschiedenen »Zuständen«, nämlich indem er wahrnimmt oder nicht wahrnimmt oder auch jeweils verschiedene Dinge wahrnimmt. Die Bewegungen des Lebewesens sind daher von den Akten des Sinnes abhängig, und der Sinn ist in dieser Hinsicht eine »bewegende«, das heißt eine aktive Potenz. Die Potenz zur Ortsbewegung dagegen, die vom Wahrnehmungsvermögen bestimmt wird, muss dementsprechend, insofern sie bestimmt wird, eine passive Potenz sein. Man hat daher zwei verschiedene Perspektiven auf das Wahrnehmungsvermögen zu unterscheiden: In Bezug auf den Akt der Wahrnehmung selbst ist das Wahrnehmungsvermögen eine passive Potenz, die durch ihren Gegenstand bewegt und aktualisiert wird. Dies schließt jedoch nicht aus, dass dieser Akt der Wahrnehmung seinerseits eine aktive Potenz bezüglich des Bewegungsvermögens ist und dass das Wahrnehmungsvermögen, insofern es Ursprung dieses Aktes ist, selbst als aktive Potenz betrachtet werden kann. Dies impliziert, dass die Wahrnehmung, obgleich sie die Vollendung des Wahrnehmungsvermögens darstellt, in Bezug auf dessen Funktion im Lebewesen als ganzen bloß erst eine aktive Potenz ist, die ihren eigentlichen Akt erst in der Bewegung findet.31 Das trifft genau, was Ibn Bāǧǧa in der Nachschrift als allgemeinen Satz aufgestellt hat, nämlich dass die Seele in erster Vollendung eine passive, in letzter Vollendung aber eine aktive Potenz ist. Dies gilt nun nicht nur in Bezug auf die Ortsbewegung des Lebewesens, sondern gilt auch für die Beziehung der Erkenntnisvermögen untereinander. So stellt Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele bei Erörterung des Vorstellungsvermögens fest: [N X. 12] »Die materiellen Formen bewegen diese Vermögen nämlich nur durch die Potenz, die in ihnen steckt, […] und so entstehen die Wahrnehmungen, und sie besitzen [wiederum] eine Potenz, mit der sie bewegen; sie bewegen das Vorstellungsvermögen, sodass die Vorstellungen entstehen.« Das Wahrnehmungsvermögen wird also, wenn es in Akt wahrnimmt, auch gegenüber dem Vorstellungsvermögen zu einer aktiven Potenz. Was an dieser Umpolung des Wahrnehmungsvermögens besonders bemerkenswert ist und in dementsprechend ist das Fragezeichen in Zeile 98, 2 falsch gesetzt; 98, 12 streiche man faqaṭ; Zeile 98, 14 ist das zweite bihī zu streichen. 30Vgl. dazu Kapitel 7, Abschnitt 4. 31Zur Bewegung als Ziel der Wahrnehmung vgl. die Fortsetzung von T 73, zitiert in Anm. 22.
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dem soeben zitierten Textausschnitt gut deutlich wird, ist die Tatsache, dass die aktive Potenz des Wahrnehmungsgegenstandes und die passive Potenz des Vermögens eine neue Potenz hervorbringen, die weder der Gegenstand noch das Vermögen für sich genommen besitzt. Damit setzt sich in der Seele fort, was Ibn Bāǧǧa in Bezug auf die natürlichen Substanzen mit Aristoteles und Alexander als Erzeugung jeweils neuer Potenzen durch Mischung vorliegender Potenzen analysiert hat. Und in der Tat hat er den hier dargestellten Aktualisierungszusammenhang aus Alexanders Schrift über die Seele übernommen.32 Die Wahrnehmung ist so in zwei Ordnungen hineingestellt, sie ist einerseits Vollendung der körperlichen Potenz zur Wahrnehmung und andererseits Fortsetzung der Potenz des Gegenstandes, ja man kann zeigen, dass sie auch für die letztere eine Vollendung darstellt.33 Genau das ist der Standpunkt, von dem aus Ibn Bāǧǧa die Seelenvermögen in der Nachschrift zum Abschiedsbrief betrachtet, und zwar berücksichtigt er dabei gleichzeitig das Verhältnis der Erkenntnisvermögen zueinander und ihr Verhältnis zum Bewegungsvermögen, da er, wie gesagt, in diesem Text nach dem »ersten Beweger« im Menschen fragt. [T 74] »Es wurde schon erklärt, dass diese [spirituellen Formen] für irgendeinen Körper nur durch zwei Wirkende existieren, einer von beiden ist das Erzeugende und der andere das Wahrnehmbare. Die spirituellen Formen existieren nur durch diese beiden. […] Zu dem, was wir im Abschiedsbrief geschrieben haben, gehört, dass der nahe Beweger die Vorstellung und deren Organ das Begehren ist; und die Vorstellung existiert nur nach der Existenz dieser beiden Wirkenden.«34 Die spirituellen Formen sind die von den Sinnesvermögen erkannten Formen, und sie sind auf Grund der ekstatischen Struktur der Seele, die erst durch diese Formen vollendet wird, zugleich die Formen der erkannten Dinge und Formen der Seele. Die spirituellen Formen sind damit von zwei Wirkenden, zwei Ursachen, abhängig: einerseits von dem, was den beseelten Körper erzeugt, und andererseits vom wahrnehmbaren Gegenstand. Dies gilt nicht nur für die Wahrnehmung selbst, sondern diese beiden Ursachen sind auch für die Existenz der Vorstellung verantwortlich, weil, wie sich soeben gezeigt hat, die Wahrnehmung als aktive Potenz die Vorstellung verursacht. Dagegen wird die Vorstellung selbst zur aktiven Potenz, wenn sie als »naher Beweger« des Lebewesens fungiert, und zwar wirkt sie dann auf das Begehren ein. 32Vgl. Alexandri Aphrodisiensis de anima liber cum mantissa, ed. Bruns, 69, 20–70, 5. 33Vgl. dazu den »Ausblick« am Ende dieses Buches. 34Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 150, 22–151, 4; mit MS B, f. 209r [arab.] ist zu lesen: 151, 3 al-taḫayyul statt al-mutaḫayyil; al-tašawwuq statt al-šauq.
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Das Zusammenwirken oder vielmehr die Wirkkette, die sich bei Verursachung einer Bewegung abspult, beschreibt Ibn Bāǧǧa im Anschluss für den Menschen noch genauer, wobei nicht die Vorstellung, sondern die »Ansicht« (raʾy), eine Form des praktischen Intellekts, der Ausgangspunkt ist.35 Wie solche intellektuellen Formen entstehen, wird in der Folge zumindest in Grundzügen noch deutlich werden. Wichtig ist hier aber nur der Aktionsstatus der beteiligten seelischen Vermögen: [T 75] »Die menschliche Bewegung entsteht durch eine Ansicht, sei sie richtig oder falsch. Wenn die Ansicht vorausgegangen ist, wird das Vorstellungsvermögen bewegt, das zu erfassen, was die Ansicht notwendig gemacht hat, und der Gemeinsinn schafft das Abbild [ṣanam] dieser Ansicht herbei, und das Begehren danach stellt sich ein und bewegt den Körper. Daher bedarf der erste menschliche Beweger immer dann, wenn er eines körperlichen Organs bedarf, notwendigerweise der Vorstellung. Die übrigen spirituellen Vermögen, die im Körper existieren, werden bewegt.«36 Die Wirkverhältnisse, wie sie beim Erkenntnisgewinn herrschen, sind hier also auf den Kopf gestellt: Der Intellekt bewegt die Vorstellung, die Vorstellung den Gemeinsinn, der Gemeinsinn das Strebevermögen und das Strebevermögen mittels des angeborenen Pneumas den Körper (vgl. T 65). Alle spirituellen Vermögen fungieren als passive Potenzen, die eine vom Intellekt kommende Einwirkung erleiden und dann, indem sie durch diese Einwirkung selbst aktiv geworden sind, an ein anderes Vermögen weitergeben. Vom Vorstellungsvermögen etwa sagt Ibn Bāǧǧa in der Lebensführung des Einsamen ausdrücklich, dass es »Tätigkeiten« (afʿāl) und »Affizierungen« (infiʿālāt) besitzt, also teils als aktive und teils als passive Potenz operiert.37 Dies gilt, wie die hier untersuchten 35Die »Ansicht« führt Ibn Bāǧǧa in der Lebensführung des Einsamen folgendermaßen ein (Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 130, 5–11; Faḫrī, 47, 5–10; in Genequand, 130, 8 ist miṯlan mit MS O, f. 168r1 durch bal zu ersetzen): »Die tierische Handlung ist also diejenige, der in der Seele bloß ein seelisches Erleiden vorausgeht, zum Beispiel Begehren, Zorn, Furcht oder ähnliches, während die menschliche diejenige ist, der ein Befehl vorausgeht, welchen das Nachdenken [ fikr] für den Handelnden zwingend macht, gleichgültig ob dem Nachdenken [selbst] ein seelisches Erleiden vorhergeht oder ob dem Nachdenken ein solches folgt. Ja, folglich ist der Beweger des Menschen etwas, was das Nachdenken zwingend gemacht hat [und] insofern das Nachdenken es zwingend gemacht hat oder etwas von dieser Art, gleichgültig ob das Denken [demonstrativ] gewiss oder meinungsförmig ist. Der Beweger der tierischen [Handlung] ist also das Erleiden, welches in der tierischen Seele entsteht, der Beweger der menschlichen die Ansicht [raʾy] oder Überzeugung [iʿtiqād], die in der Seele vorliegt.« 36Ibn Bāǧǧa, Qaul yatlū risālat al-wadāʿ, ed. Faḫrī, 151, 6–10; mit MS B, f. 209r [arab.] ist in Zeile 151, 7 auǧabahū statt auǧahu zu lesen. 37Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 143, 1–8; Faḫrī, 59, 9–16: »Was das dritte [Vermögen, nämlich das Wahrnehmungsvermögen] angeht, so sind seine Tätigkeiten eben-
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Textstellen zeigen, grundsätzlich aber für alle »spirituellen Vermögen«, also für alle seelischen Vermögen mit Ausnahme des Nährvermögens. Charakteristisch für diese Vermögen ist nun eben, dass sie, einmal durch ihr Objekt vollendet, aus passiven zu aktiven Potenzen werden. Das Nährvermögen macht diesen Übergang, der gleichzeitig ein Übergang von der ersten zur letzten Entelechie ist, nicht mit, und fungiert deshalb als seelisches Prinzip des Belebten gewissermaßen neben und unabhängig von den höheren Aktivitäten. Dies kommt in folgender Passage der Abhandlung Über die Verbindung des Intellekts mit dem Menschen zum Ausdruck, in welcher der Zustand des Menschen beschrieben wird, in dem spirituelle Formen bereits sein Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen aktiviert haben, sein Denkvermögen jedoch noch nicht entwickelt ist: [T 76] »Die vorgestellte Form ist der erste Beweger in ihm, sodass der Mensch nun drei Beweger hat, die gleichsam auf derselben Stufe stehen: das Nährvermögen, das Wachstumsvermögen und das Vorstellungsvermögen. All diese Vermögen sind aktive Potenzen, sie existieren in Akt, es besteht bei ihnen keine Privation. Das nämlich ist der Unterschied zwischen den aktiven und passiven Potenzen, denn in den passiven liegt die Privation vor. Nur bildet die wahrgenommene spirituelle Form die erste Stufe des Spirituellen, wie im Buch des Einsamen erklärt worden ist, weil sie Perzeption [idrāk] ist, während bei jenen anderen Formen der Körper, in dem sie sind, weder durch sie perzipiert noch sie perzipiert. Deshalb schreibt man den Pflanzen überhaupt kein Wissen zu, während man es den Lebewesen zuschreibt, denn alle Lebewesen sind wahrnehmungsfähig.«38
falls diesen ähnlich, sie kommen uns auch mit Notwendigkeit zu, da es sich um Affizierungen handelt. Allerdings gibt es unter ihnen solches, das unter die Kategorie der freien Wahl fällt wie etwa die Sehwahrnehmung, und anderes, was dem Notwendigen näher ist, nämlich der Tastsinn, obgleich wir, wenn wir wollen, von ihnen allen nicht affiziert zu werden brauchen, etwa [durch das] Fliehen vor der Hitze, das sich Bedecken vor der Kälte und Ähnliches. Was das zweite Vermögen [d. i. das Vorstellungsvermögen] angeht, so besitzt es Tätigkeiten und Affizierungen: Seine Affizierungen verhalten sich genauso wie die der Sinneswahrnehmung, während die Tätigkeiten, die aufgrund seiner entstehen, frei gewählt sind, wenn sie menschlich sind. Wenn sie aber tierisch sind, dann sind sie notwendig, wie wir in den Darlegungen gesagt haben, welche wir im Kommentar zum siebten [Buch] der Physik geschrieben haben.« 38Ibn Bāǧǧa, Ittiṣāl al-ʿaql bi-l-insān, ed. Genequand, 187, 15–188, 3; Faḫrī, 159, 8–16; ich folge dem korrekteren Text ed. Asín, 12, 7–15, ziehe aber die in Anm. 1 und 2 notierten Varianten von MS B vor, die auch durch MS Ankara, f. 72r bestätigt werden.
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Seelische Potenzen und ihre Objekte
4. Die Potenz des Objekts In der vorstehenden Betrachtung der Seelenvermögen als aktive und passive Potenzen ist nicht nur dem jeweiligen Objekt dieser Vermögen, sondern genauer dessen passiver oder aktiver Potenz eine wichtige Funktion zugewachsen. Die Potenz des Gegenstandes ist nämlich nicht nur das Komplement, ohne das die seelische Potenz ihre Tätigkeit nicht entfalten kann, sondern die Potenz des Gegenstandes geht gewissermaßen in die Seele ein. Wenn durch das Zusammentreffen der passiven Potenz des Wahrnehmungsvermögens und der aktiven Potenz des Gegenstandes eine Wahrnehmung entsteht, die dann wiederum eine Vorstellung erzeugen kann, dann geschieht dabei etwas anderes, als wenn die aktive Potenz des Feuers auf die passive Potenz des Holzes einwirkt und dieses entzündet. Die Potenz des Wahrnehmbaren vollendet nämlich das Vermögen, ohne den Wahrnehmenden wesentlich zu verändern (vgl. N IV. 1). Es geschieht aber auch etwas anderes als wenn die Potenzen der Wärme und Kälte sich zu einer mittleren Potenz mischen, denn zwar entsteht eine neue Form und eine neue Potenz, jedoch ohne dass die ihr zugrunde liegenden Potenzen dadurch aufgehoben würden. Man muss deshalb näher nachfragen, was diese Potenz ist, denn die Annahme bestimmter Potenzen der Gegenstände, mit denen sie auf die Vermögen einwirken oder von diesen Einwirkung erfahren, resultiert aus dem allgemeinen Schema aktiver und passiver Potenzen, das nach einer strikten Korrespondenz verlangt. Die Forderung dieser Korrespondenz wird dort besonders deutlich, wo Ibn Bāǧǧa sie gegen eine scheinbare sprachliche Evidenz entwickelt, deren Implikationen es aus der philosophischen Theorie heraus zu korrigieren gilt. So macht er sich im Buch der Seele bei Behandlung der Nahrung Gedanken über die grammatische Form der Worte »Nahrung«, ġiḏāʾ, und »Ernährtes«, muġtaḏin (N II. 10). Ġiḏāʾ hat im Arabischen die Form eines kausative Bedeutung tragenden Verbalnomens, muġtaḏin dagegen ist Partizip eines Verbalstammes, der mediale oder passive Funktion hat. Ibn Bāǧǧa vermerkt nun, dass die Bezeichnungen (alfāẓ) in diesem Fall dem Bezeichneten entgegengesetzt sind, da die Nahrung passiv sei und ihre Vollendung im Bewegtwerden finde, während ihre Bezeichnung ein aktives Bewegen suggeriert. Das Umgekehrte gilt, was Ibn Bāǧǧa nicht mehr ausdrücklich ausführt, für das Ernährte, das im Kontakt mit der Nahrung gerade das Aktive ist, weil es eine aktive Potenz zur Umwandlung der Nahrung besitzt. Einen ähnlichen, nur invers gelagerten Widerspruch stellt Ibn Bāǧǧa anderswo für die Wahrnehmung fest. Dort suggerieren nämlich die Bezeichnungen des Vermögens als mudrik (perzipierend) und des Gegestandes als mudrak (perzipiert), dass das Vermögen bewegt, das Wahrgenommene dagegen bewegt wird, ganz im Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen.39 Die von Ibn Bāǧǧa in 39Ibn Bāǧǧa, Tadbīr al-mutawaḥḥid, ed. Genequand, 165, 6–8; Faḫrī, 80, 22–81, 1: »Bei diesen Potenzen führen die grammatikalischen Formen ihrer Bezeichnungen in die Irre, denn die
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Aussicht gestellte Erklärung der Gründe für diese Diskrepanz zwischen Sprache und Wirklichkeit (N II. 10), findet sich, soweit ich feststellen konnte, in seinem Werk nicht. Wahrscheinlich hatte er dabei eine Erklärung in den Linien von al-Fārābīs Theorie der Sprachschöpfung im Blick.40 Wie dem auch sei, wichtig ist an dieser Stelle vornehmlich, dass Ibn Bāǧǧa grundsätzlich eine genaue Entsprechung von seelischen Vermögen und ihren außerseelischen Gegenständen erwartet, die sich als Teil der Wirklichkeit auch in der Sprache spiegeln sollten. Insofern die seelischen Vermögen Potenzen einer Klasse natürlicher Körper sind und nach denselben naturphilosophischen Prinzipien erklärbar werden wie andere Potenzen, hält es Ibn Bāǧǧa offenbar für selbstverständlich, dass an den Gegenständen Potenzen vorliegen, die genau auf jene seelischen Potenzen bezogen sind. So hat er in einem hier bereits untersuchten Text (T 37) von der aktiven Potenz der Farbe gesprochen, die einem Seienden auch dann in Akt zukommt, wenn gerade kein Wahrnehmungsvermögen gegenwärtig ist, das von dieser Potenz eine Einwirkung erleidet. Was ist das für eine Potenz, wie kommt sie zustande? Ibn Bāǧǧa diskutiert den Fall der Farbe in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione und erläutert dort, warum die Weiße keine aktive Potenz und die Potenz zur Weiße keine passive Potenz ist. Dies ist deshalb der Fall, weil ein Körper nur dadurch weiß wird, dass an ihm irgend etwas anderes vorliegt. Mit anderen Worten, die Farbe ist eine sekundäre Potenz. Veränderungen in der Farbe sind daher nicht das Resultat eines Wirkens oder Leidens hinsichtlich der Farbe.41 Dabei geht es Ibn Bāǧǧa wie Aristoteles auch in diesem Kontext nur um die Potenzen, mit denen Gegenstände aufeinander einwirken. So räumt Aristoteles, wo er nach den primären Gegensätzen der Körper fragt, durchaus ein, dass weiß und schwarz als Gegenstand des Sehsinns in gewissem Sinne den tastbaren Gegensätzen gegenüber primär sind, aber nur insofern das Sehen gegenüber dem Tasten primär ist, also in einer teleologischen, nicht in einer konstitutiven grammatikalische Form des Wortes ›das Perzipierende‹ [al-mudrik] ist die grammatikalische Form eines Wortes, welches Bewegendes bezeichnet, während die grammatikalische Form von ›das Perzipierte‹ [al-mudrak] in der arabischen Sprache etwas Passives bezeichnet, obgleich sich die Sache umgekehrt verhält.« Auch Ibn Rušd vermerkt diesen Widerspruch; vgl. Averrois Cordubensis Commentarium Magnum, ed. Crawford, 343, 28f (II. c. 140): »[...] passio enim visus habet nomen, et est videre [=ibṣār] (licet sit in figura nominis agentis).« 40Vgl. Vallat, Alfarabi et l’école d’Alexandrie, 292. 41Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 22, 13–23, 7. Ibn Bāǧǧas Antwort auf die Frage, ob die Farbe überhaupt eine Qualität ist, wenn in Bezug auf sie keine Einwirkung stattfindet, bleibt problematisch; vgl. 24, 6–25, 12. Denn die bloße Feststellung, dass Einwirkung nur in zwei Klassen von Qualitäten, den passiven Qualitäten und den natürlichen Potenzen, auftritt, erklärt nichts, da Farbe ja selbst zu den passiven Qualitäten zählt. Dabei hätte es genügt, auf das bereits erzielte Ergebnis zu verweisen, dass Farbe eine sekundäre Qualität ist. Siehe weiterhin Puig, 19, 13–20, 8.
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Perspektive.42 Weiter hält er in der Physik und in De anima fest, dass das Belebte und Wahrnehmungsfähige von mehr Eigenschaften Einwirkung erfährt als das Unbelebte.43 In der Metaphysik schließlich ist klar gemacht, dass das Wahrnehmbare zwar nicht als Wahrnehmbares, aber als etwas, das Wahrnehmung verursachen kann, unabhängig von der Wahrnehmung existiert.44 Ibn Bāǧǧa steht daher fest auf dem Boden dieses aristotelischen Realismus, wenn er annimmt, dass die Farben und andere wahrnehmbare Eigenschaften zwar primär keine aktiven Potenzen sind, dies jedoch gegenüber dem Wahrnehmungsvermögen werden. Im Buch der Seele setzt Ibn Bāǧǧa überall solch einen sinnvoll geordneten Bestand an natürlichen Potenzen voraus, eine Annahme, die sich letztlich aus der allgemeinen Potenztheorie ergibt. So erklärt er: »Da nun nicht jede Potenz jeden Körper bewegt, und da der Bewegungen viele sind, gibt es viele Sinne« (N III. 50). Ja es lässt sich beweisen, dass es nicht mehr als fünf Sinne gibt, weil es sonst anderes Wahrnehmbares geben müsste, das diesem angenommenen Sinn spezifisch wäre und als sein »körperlicher Beweger« fungiert. Auch gibt es keinen eigenen Sinn für die communia sensibilia, weil diese keine Bewegung ausüben (N VIII. 10). Es gibt also Potenzen, die erst für die Wahrnehmung Potenzen sind. Andererseits geht Ibn Bāǧǧa auch davon aus, dass einige Potenzen Verschiedenes bewirken, je nachdem auf welche Materie sie einwirken. Dieser Grundsatz ist das zweite Standbein, um die seelischen Potenzen nach naturphilosophischen Prinzipien zu erklären, und wird nicht erst für das Wahrnehmungsvermögen, sondern bereits für das Nährvermögen bemüht. Die Theorie, auf die er sich im Buch der Seele mehrfach beruft, ist zuerst in seinem Kommentar zu De generatione et corruptione entwickelt. Aristoteles stellt nämlich Feuer und Härte einander als Beispiele für zwei Arten des Entstehens gegenüber: Einerseits kann etwas aus Gleichartigem oder zumindest solchem von gleicher Gattung entstehen wie das Feuer, während anderes nur auf Grund etwas bereits Vollendeten entsteht wie etwa die Härte, die nicht durch Härte gezeugt wird.45 Ibn Bāǧǧa greift diese Einteilung an zwei Stellen seines Kommentars auf: einmal indem er schlicht entlang der aristotelischen Aussage erklärt, Härte und Weichheit seien keine bewegenden Potenzen, sondern würden von etwas in Vollendung Bestehenden erzeugt.46 An anderer Stelle aber weitet er das Modell aus und wendet es auch auf die Seele 42Vgl. Aristoteles, De generatione et corruptione, II. 2, 329b6–16. In De anima, II. 3, 415a3–5 erklärt Aristoteles, dass der Tastsinn ohne die anderen Sinne vorkommt, diese aber auf ihn angewiesen sind; das Verhältnis der Sinne untereinander gleicht also dem Verhältnis der globaleren Vermögen zueinander. 43Aristoteles, Physik, VII. 2, 244b10–15; De anima, II. 12, 424b3–18. 44Aristoteles, Metaphysik, IV. 5, 1010b30–1011a2. 45Aristoteles, De generatione et corruptione, I. 5, 320b17–21. 46Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 23, 13–24, 3. Vgl. dazu auch Eichner, Averroes’ Mittlerer Kommentar zu Aristoteles’ De generatione et corruptione, 129f, insbesondere Anm. 46, die zeigt, dass Ibn Bāǧǧa sich explizit auf die hier genannte Aristotelesstelle bezieht.
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an.47 Es gibt demnach einerseits aktive Potenzen, die von etwas ihrer Art erzeugt werden, und zwar sowohl solche, die immer von einem Gleichartigen erzeugt werden, als solche, die auch von anderem erzeugt werden können. Für letztere führt er die Wärme an, die auch durch Reflektierung oder Bewegung erzeugt werden kann. Beispiel für den ersten Typ sind dagegen gerade die Seelen der Lebewesen und Pflanzen, die »vollendet« (kāmil) sind, weil sie sich geschlechtlich fortpflanzen (mutanāsul). Dem treten nun andererseits Potenzen gegenüber, die nicht von etwas Artgleichem erzeugt werden. Dazu gehört die Härte, dazu gehören aber auch die Seelen der spontan erzeugten Lebewesen und Pflanzen. Wir haben diese Überlegung bereits in einem früher untersuchten Text aus dem Buch der Lebewesen angetroffen, wo Ibn Bāǧǧa mit Blick auf die Zeugung aktive Potenzen unterscheidet, die etwas Artgleiches bewirken wie die Wärme Wärme, und solche, die etwas anderes bewirken, wie die Wärme Härte bewirkt; nach diesem Modell wurden auch dort die Vermehrung durch Fortpflanzung von den Spezies unterschieden, die für ihre Existenz von etwas anderem abhängen (T 42). Auch bei Erörterung des Nährvermögens im Buch der Seele greift Ibn Bāǧǧa diese Unterscheidung mit denselben Beispielen wieder auf (N II. 17). Dabei geht es ihm diesmal nicht vornehmlich um die Zeugung, sondern um die Ernährung. Auch im Buch der Lebewesen, wo er ausdrücklich festhält, dass nur einigen Lebewesen die Potenz, ein Artgleiches zu erzeugen, zukommt,48 sieht Ibn Bāǧǧa die Notwendigkeit hier weiter zu differenzieren: »Die Seelen einiger Lebewesen sind potent [qawīy], die anderen sind niemals potent, etwa die Seele des Maultiers, während jede Seele eine Potenz [quwwa] ist.«49 Deshalb stellt es keinen Widerspruch zu den bereits zitierten Überlegungen dar, wenn Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele nun erklärt, dass jeder beseelte Körper eine entsprechende Potenz besitzt: »Was die beseelten Körper angeht, so ist in ihnen allen eine erzeugende Potenz. Sie ist es, kurz gesagt, die aus der Nahrung in Potenz einen Körper erzeugt, der dem gleicht, in dem sie ist« (N II. 18). Die Seele des Maultiers ist also, was die Ernährung angeht, eine aktive Potenz, die in der Lage ist, ferner Nahrung dieselbe Form aufzuprägen, wie der eigene Körper sie bereits hat. Dagegen ist sie keine aktive Potenz in dem Sinne, dass sie ein neues Maultier zeugen könnte.
47Zum Folgenden Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-kaun wa-l-fasād, ed. Puig, 66, 7–67, 6. Am Text wären wieder einige Korrekturen anzubringen, die aber, da nicht sinnverändernd, hier unterbleiben können. Nachdrücklich gewarnt werden muss jedoch vor Puigs Übersetzung (S. 78f ), zunächst weil er durch Ergänzung des vermeintlich unvollständigen Satzbaus (vgl. Anm. 199) der hier vorliegenden Aufzählung verschiedener Potenzen die inhaltliche Struktur nimmt, und zum anderen, weil er ṣulb (Härte) mit einer äußerst gesuchten Erklärung als »Samen« übersetzt, obgleich er selbst die parallele Stelle (span. S. 26 und Anm. 58) zuvor korrekt wiedergegeben hat. 48Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 132, 5–8. 49Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 134, 16–135, 1.
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Zu dieser Differenz kann es deshalb kommen, weil auch die Zeugung wiederum auf komplementären aktiven und passiven Potenzen beruht, die als männlich beziehungsweise weiblich bestimmt werden: Das Männchen zeugt in einem anderen, das Weibchen in sich selbst, und nur wo diese Potenzen zusammenkommen, kann Zeugung tatsächlich stattfinden. Deshalb muss solchen Spezies wie den Muscheln, die sich nicht in Männchen und Weibchen scheiden lassen und sich dennoch fortpflanzen, auch eine »zusammengesetzte Potenz« zugeschrieben werden.50 Die sich geschlechtlich fortpflanzenden Lebewesen besitzen daher eine weitere Potenz, die eine weitere Wirkung auf die Nahrung ausübt und aus ihr den Samen herstellt (N II. 24). Indessen ist die Unterscheidung, von der wir ausgegangen sind, mit den bisher diskutierten Beispielen noch nicht wirklich zum Tragen gekommen. Ibn Bāǧǧa sagt in der Abhandlung über das Nährvermögen: »Die bewegende Potenz macht wesentlich und primär das, was von ihrer Art ist, und sie macht sekundär und akzidentell etwas anderes, und zwar abhängig von den Materien, auf die sie einwirkt und aus denen sie andere Potenzen macht« (N II. 18). Aber die Folge macht dann klar, dass die Nährpotenz eine Potenz ersten Typs ist. Ebenso liegt der Fall bei der Zeugungspotenz, der Ibn Bāǧǧa die gleiche Überlegung vorangestellt hat (T 42), es sei denn, man denkt an den begrenzten Bereich der Hybriden, etwa daran, dass ein Pferdehengst mit einer Pferdestute ein Pferd, mit einer Eselstute dagegen einen Maulesel erzeugen wird. Die gleiche Beobachtung kann man nun zunächst auch im Kapitel über das Wahrnehmungsvermögen wieder machen. In der betreffenden Passage geht es um einen Vergleich der Wahrnehmung als Übertragung einer Form mit Vorgängen natürlicher Erzeugung, der sich erst im Rahmen der Intentionstheorie richtig erschließt. Hier reicht es daher zu sagen, dass Ibn Bāǧǧa von der Wirkung »natürlicher Akzidenzien« spricht, die ja gleichermaßen Ursache natürlicher Veränderungen und Ursache der Wahrnehmung sind. Diese Akzidenzien unterscheidet er erstens in bewegende und bewegte, also aktive und passive, und zweitens in solche, die etwas sich gleich machen wie Feuer, und andere, die etwas Ungleichartiges machen, etwa Feuer das Ton härtet (N III. 27). In der Folge konzentriert sich Ibn Bāǧǧa dann aber wiederum ganz auf das, »was von seiner Art bewegt wird«, was einleuchtet, da dass Feuer ja auch auf die Wahrnehmung die Form des Feuers und nicht die Form der Härte oder Ähnliches überträgt. Wozu also der beständige Hinweis auf die Möglichkeit einer ungleichartigen, von der jeweiligen Materie abhängigen Wirkung, wenn alle relevanten aktiven Potenzen, seien sie seelische Vermögen, seien sie Potenzen der Objekte, nach dem Standardmodell zu interpretieren sind? Der vielleicht nur halb bewusste, jedenfalls von Ibn Bāǧǧa nicht vollständig ausgearbeitete Grund für die Bedeutung solcher bereits in der unbelebten Natur 50Ibn Bāǧǧa, Kitāb al-ḥayawān, ed. al-ʿAmmāratī, 134, 1–6.
Die Potenz des Objekts
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anzutreffender Varianz erhellt aus einem späteren Abschnitt des Kapitels über das Wahrnehmungsvermögen. Dort geht es, erneut im Vergleich mit »physikalischen« Einwirkungen, wieder um die Erzeugung von Wahrnehmungen durch die Wirkung des Objekts. [N III. 47] »Es ist nämlich von der Sache der materiellen Formen her klar, dass sie in ihrem Wesen, obgleich sie materiell sind, diese Potenz besitzen. Dieses Bewegen besitzen sie auf Grund ihrer ihnen eigentümlichen Existenz. Deshalb existiert diese [Potenz] in den aktiven unter ihnen wie der Wärme und der Kälte so wie in den passiven wie der Härte und der Weichheit. Dasjenige, was die Bewegung bewirkt, die auf Erleiden zurückgeführt wird, bewirkt dieses auch nur, während es in einem Zugrundeliegenden ist; und es bewegt andere Materie von der Art der Materie, die in ihm ist. […] Das bewegende Wahrnehmbare, etwa das Warme und das Kalte, besitzt von Beginn an [awwalan] zwei Arten des Bewegens für zwei Typen der Materie, eine von beiden für Materie von der Art seiner Materie und die andere für diese Materie, durch die es wahrnehmbar ist.« Zweierlei versucht Ibn Bāǧǧa in diesem Absatz zu erläutern: Einmal, dass materielle Formen Wahrnehmung verursachen können, die doch »Aufnahme der Form ohne die Materie« (De anima 424a18f ) ist, und zum zweiten, dass sie dies neben ihrer »gewöhnlichen« Tätigkeit tun können. Ibn Bāǧǧa hält zunächst fest, dass die Potenz, mit der die Wahrnehmungsgegenstände auf das Wahrnehmungsvermögen einwirken, ihnen wesentlich und »auf Grund ihrer ihnen eigentümlichen Existenz« zukommt, also nicht erst durch den Kontakt mit dem Wahrnehmenden oder irgendeinen äußeren Einfluss zuwächst. Er vergleicht die Verursachung von Wahrnehmung dann mit der körperlichen Einwirkung, um zu zeigen, dass in beiden Fällen die materielle Form, obgleich sie in ihr zugrunde liegender Materie besteht, auf andere Materie einwirkt. Eine Übertragung findet also in beiden Fällen statt, allerdings bei der körperlichen Einwirkung auf Materie »von der Art der Materie, die in ihm ist«. Die Wirkung der materiellen Form ist also abhängig von der Materie, auf die sie trifft. Sie ist »von Beginn an« – das nimmt den vorangegangenen Hinweis auf das »Wesen« wieder auf – in der Lage, verschiedene Wirkungen hervorzurufen, einerseits in einer der ihren gleichartigen Materie und andererseits in »Materie, durch die es wahrnehmbar ist«, sprich in Wahrnehmungsvermögen. Die aktive Potenz der materiellen Form kann also abhängig von der passiven Potenz, auf die sie trifft, unterschiedliche Tätigkeiten ausüben. Allerdings handelt es sich dabei nur teilweise um dieselbe Potenz. Das zeigt sich daran, dass die »Potenz«, Wahrnehmung zu verursachen, von Ibn Bāǧǧa ausdrücklich aktiven und passiven Potenzen (im rein naturphilosophischen Sinne) gleichermaßen zugeschrieben wird. Die Härte ist, was die Interaktion zwischen Körpern
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angeht, eine passive Potenz, für das Wahrnehmungsvermögen aber ist sie eine aktive Potenz; für die Wärme dagegen gibt es keinen Unterschied. Es fällt auf, dass Ibn Bāǧǧa dort, wo er von den zwei ursprünglichen Arten des Bewegens spricht, nur noch die aktiven Potenzen Wärme und Kälte nennt. Es bliebe also zu erklären, wie die Potenzen, die nur für die Wahrnehmung aktive sind, dazu werden können. Ein wenig später folgender Abschnitt zeigt, dass Ibn Bāǧǧa sich diese Frage ausdrücklich gestellt hat: »Es folgt daher notwendigerweise, dass das Wahrnehmbare verändert und das Wahrnehmende verändert wird. Daher sind die Wärme und die Kälte von selbst und primär wahrnehmbar. Was die Härte, die Rauheit, die Weichheit und [allgemein] die Tastbarkeit angeht, so werden wir ihre Angelegenheit in der Abhandlung über das Tastvermögen klären […]« (N III. 50). Die aktive Potenz der Wärme und Kälte, Veränderung zu verursachen, ist naturphilosophisch gesichert, es steht daher nichts im Weg, ihnen diese Potenz auch gegenüber dem Wahrnehmungsvermögen zuzusprechen. Wodurch aber erhalten die passiven Eigenschaften die Potenz, das Wahrnehmende zu verändern? Die in Aussicht gestellte Erklärung enthält das erhaltene Kapitel über das Tastvermögen ebensowenig wie ein anderer Text Ibn Bāǧǧas. Die Frage bleibt offen und erhält keine andere Antwort als die bereits angedeutete, dass naturphilosophisch gut belegt ist, dass dieselbe Potenz Verschiedenes in verschiedenen Materien bewirkt. Dass die Frage aber überhaupt gestellt wird, zeigt, wie ernst es Ibn Bāǧǧa mit der Durchführung der Potenztheorie in der Psychologie meint, und dass er sich dabei prinzipiell an den in der Naturphilosophie entwickelten Modellen orientiert. Naturphilosophie und Psychologie sind gerade nicht klar zu scheiden, sondern spielen ineinander über. Dies aber nicht nur in einer Richtung, denn einerseits muss Wahrnehmung als Fall einer Interaktion zwischen aktiver und passiver Potenz verstanden werden, andererseits hat sich hier gezeigt, dass die dem Objekt zugeschriebene aktive Potenz sich selbst nur aus dem Horizont der Psychologie erklärt. Es ist das eine durchaus physische, aber immer schon auf Seele bezogene Potenz. Diese Theorie kann offenbar nur deshalb aufgehen, weil die Existenz seelischer Potenzen genauso ein Faktum und einen integralen Bestandteil der Natur darstellt – man denke an die Evidenz der Seele als »natürliches« Bewegungsprinzip.51 Wir haben bereits an anderer Stelle jene Passage des Buchs der Seele betrachtet, in der Ibn Bāǧǧa verdeutlicht, dass die materiellen Formen einerseits als materielle und andererseits als wahrgenommene jeweils Tätigkeiten (afʿāl) besitzen, deren Ausübung sie zu einem selbständigen und dennoch zweckhaften Teil der »Welt« macht.52 Ibn Bāǧǧa zögert in diesem Zusammenhang nicht, 51Vgl. Kapitel 5, Abschnitt 1. 52N III. 17, und siehe Kapitel 10, Abschnitt 1.
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das Erkanntwerden der Form, zumal die Erkenntnis durch den Intellekt, als ihre »beste Existenz« zu bezeichnen, wobei die materielle Existenz zwar »minderwertig« ist, aber gleichwohl die »eigentümliche« bleibt (N III. 16). Die beste Existenz ist den materiellen Formen »akzidentell«, weil erst der Intellekt sie intelligibel macht, aber das bleibt dennoch eine Existenzweise dieser selben Formen. Die Erkenntnis gehört damit von Anfang an ins Bild der Natur als ein zwar nicht basales, aber deshalb nicht weniger wirkliches und wirksames Phänomen. Mit seiner Theorie der Intentionen wird sich Ibn Bāǧǧa dieser Tatsache von einer anderen Seite nähern.53
53Vgl. den »Ausblick« am Ende dieses Buches.
13. Kapitel. Die Notwendigkeit einer unendlichen Potenz: Der aktive Intellekt Im vorangegangenen Kapitel haben wir Ibn Bāǧǧas Konzeption der seelischen Vermögen als aktive beziehungsweise passive Potenzen betrachtet und sind dabei auf ein Phänomen gestoßen, das eine noch unbestimmte Perspektive öffnet: Die aktive Potenz des Wahrnehmungsobjektes und die passive Potenz des Wahrnehmungsvermögens bringen mit dem Wahrnehmungsakt eine neue aktive Potenz hervor, die auf weitere seelische Vermögen – das Vorstellungsvermögen und das Strebevermögen – einwirkt. Unbestimmt ist diese Perspektive der Erzeugung neuer Potenzen in zweierlei Hinsicht. Einmal kann man nämlich fragen, Potenzen welcher Art auf diese Weise hervorgebracht werden können. Gibt es eine Beschränkung, was die Leistung dieser Potenzen angeht? Zum anderen stellt sich die verwandte Frage, ob und wenn ja wo die Erzeugung neuer Potenzen ihren Abschluss findet. Und zwar lässt sich diese Frage nochmals in zwei Hinsichten formulieren: Erstens, gibt es eine letzte Potenz, die nicht nochmals höhere Potenzen hervorbringt? Zweitens, was ist das letzte Ziel in der Verursachungskette, wie wir sie für den Menschen rekonstruiert haben? Bei Ibn Bāǧǧa finden alle diese Fragen ihre Antwort in der Theorie des aktiven Intellekts als einer Potenz, die selbst reiner Akt und damit letzter Bezugspunkt aller Potenzen ist. Dabei geht es in den Texten, die wir im folgenden betrachten wollen, zum einen darum nachzuweisen, dass der aktive Intellekt als eine besondere Potenz überhaupt angenommen werden muss (Abschnitt 1). An zweiter Stelle stehen Überlegungen, die zeigen sollen, dass alle seelischen Potenzen auf den aktiven Intellekt als auf ihr Ziel bezogen sind (Abschnitt 2). Bei all diesen Überlegungen bleibt jedoch stets vorausgesetzt, was für die arabische Tradition, anders als für die lateinische, selbstverständlich ist: Der aktive Intellekt wird niemals als Teilvermögen der Seele aufgefasst, nicht in diesem Sinne ist er Potenz. Vielmehr ist er über die Einzelseele wie über alles Einzelne immer schon hinaus und gerade darin liegt, wie sich zeigen wird, seine philosophische Notwendigkeit. Das intellektuelle Erkenntnisvermögen des Menschen bezeichnet Ibn Bāǧǧa, wie wir bereits gesehen haben, wenn er es in seinem nicht oder noch nicht voll aktualisierten Zustand benennen will, als »rationales Vermögen« (quwwa nāṭiqa), aktualisiert dann als »Intellekt« (ʿaql).
Die unendliche Potenz als Ursache der Erkenntnis
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1. Die unendliche Potenz als Ursache der Erkenntnis 1.1. Unendliche Erkenntnisse Wie weit setzt sich die durch das Wahrnehmbare angestoßene Erzeugung neuer Potenzen fort? Ibn Bāǧǧa nimmt diese Frage nicht unmittelbar auf, sondern geht sie von der anderen Seite an, indem er den Denkakt als Zielpunkt setzt und danach fragt, ob die vom Wahrnehmungsgegenstand ausgehende Bewegung in der Lage ist, Universalien, also intelligible Begriffe, hervorzubringen.1 Das ist zugleich die Frage, ob die bisher betrachteten Potenzen und die ihnen zugrunde liegenden allgemeinen Strukturen der Potenztheorie ausreichen, um Denken zu erklären. Diese Fragerichtung findet ihre Rechtfertigung darin, dass Ibn Bāǧǧa – darauf wurde bereits hingewiesen – die verschiedenen Erkenntnisakte des Wahrnehmens, Vorstellens und Denkens als evidente Realitäten betrachtet, sodass mithin auch die Existenz entsprechender seelischer Vermögen evident ist (vgl. N III. 23–24). Dies ist dieselbe Evidenz, die Ibn Bāǧǧa für die Existenz der Seele als Bewegungsprinzip des Lebendigen in Anspruch nimmt (N I. 16): Überall dort, wo spezifische Bewegungen oder Akte auftreten, muss diesen eine entsprechende Potenz zugrunde liegen. Dies ist nun im Fall der Erkenntnisvermögen wie gesehen eine passive Potenz, und man hat deshalb für das rationale Vermögen nach der entsprechenden aktiven Potenz zu forschen, die sie zum Akt bewegt.2 In diesem Sinne fragt Ibn Bāǧǧa im Buch der Seele zu Beginn des Kapitels über das rationale Vermögen nach dem »Beweger« dieses Vermögens: »Wir müssen bei diesem Vermögen auch untersuchen, ob es immer Tätigkeit ist oder manchmal Potenz, manchmal Akt. Wenn [dies] so ist, dann besitzt es Materie; und wenn es Materie besitzt, dann hat es 1In den hier diskutierten Texten können der Begriff des Universale (kullī) und der Begriff des Intelligibile (maʿqūl) als synonym aufgefasst werden. Das bedeutet nicht, dass Ibn Bāǧǧa die Momente der Universalität und der Intelligibilität nicht unterscheiden würde – N XI. 5 zeigt, dass das Gegenteil richtig ist –, aber er sieht die Universalität doch als wesentliches Merkmal des Intelligiblen an. Ausführlicheres dazu muss der geplanten Studie von Ibn Bāǧǧas Wissenschaftstheorie vorbehalten bleiben. 2Wenn Ibn Bāǧǧa gelegentlich behauptet, alle menschlichen Potenzen seien aktiv und das Lernen nur »in anderer Weise« eine passive Potenz, dann hat er dabei erstens einen auf körperliche Einwirkung beschränkten Sinn des Passiven im Kopf und stellt andererseits vornehmlich auf das menschliche Handeln ab; vgl. Fī l-ġāya al-insānīya, ed. Faḫrī, 100, 11–15: »Die aktiven und passiven Potenzen sind Ursache der Existenz, durch sie wird etwas seiend. Wir wollen die aktiven menschlichen Potenzen betrachten, denn die passiven Potenzen sind entweder materiell oder tierisch, und der Mensch ist zu erhaben, als dass sie ihm zugeschrieben würden. Die Potenz des Lernens ist eine passive Potenz in anderer Weise. Kurz gesagt, Ziel dieser Darlegung ist nicht, sie alle zu erläutern, sondern [nur] was man mit seiner Aufnahmefähigkeit erfassen kann. Eine aktive Potenz ist nun etwa die Kunst der Grammatik, und durch sie entsteht die Grammatik.«
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Die Notwendigkeit einer unendlichen Potenz: Der aktive Intellekt
einen Beweger, da alles, was sich bewegt, einen Beweger hat. Was ist dieser Beweger und auf welche Weise existiert er?« (N XI. 1). Nach einer aufnehmenden Materie für den Akt des Denkens und nach einer Wirkursache dieses Aktes ist nur dann zu suchen, wenn das menschliche Denken tatsächlich der Potenz-AktSpannung unterliegt und nicht ein ewiger Akt ist. Deshalb besteht Ibn Bāǧǧa in der Folge darauf, dass es »klar« (bayyin) sei, dass das rationale Vermögen nicht immer tätig ist und dass es ebenfalls unmöglich immer in Potenz sein kann. Gegen die ununterbrochene Tätigkeit des rationalen Vermögens führt Ibn Bāǧǧa den Zusammenhang zwischen Denken und Wahrnehmen ins Feld, den er in einem antiplatonischen Gestus mit einigen knappen Bemerkungen festhält: Eine Beeinträchtigung der Sinne zieht eine Beeinträchtigung in den Wissenschaften nach sich; vieles ist nur mit wissenschaftlicher Gewissheit (yaqīn) erkennbar, wenn es zuvor wahrgenommen wurde, etwa biologische Arten.3 Gegen eine andauernde Potentialität des rationalen Vermögens spricht, dass dem Menschen tatsächlich, sei es durch eigenes Wahrnehmen, sei es durch Lernen von anderen, neue Erkenntnisse entstehen (yaḥduṯu). Ibn Bāǧǧa kann deshalb schließen: »Es ist also einleuchtend, dass [das Vermögen] manchmal in Potenz, manchmal in Akt ist. Der Übergang von der Potenz zum Akt ist eine Veränderung, also gibt es etwas Veränderndes, denn alles, was sich bewegt, hat einen Beweger, das haben wir im Vorhergehenden schon dargelegt« (N XI. 1). Im unvollendet gebliebenen Kapitel über das rationale Vermögen wird dieser Punkt zwar nicht wieder aufgegriffen, aber Ibn Bāǧǧa hat bereits im vorangegangenen Kapitel eine entscheidende Überlegung zu dieser Frage festgehalten. Die soeben referierten Beobachtungen legen ja nahe, dass letztlich die Wahrnehmungen als der »Beweger« anzusehen sind, der das rationale Vermögen zu seinem Akt bewegt. Es spricht aber auch manches dagegen, den Denkakt ausschließlich auf die Wahrnehmung zurückzuführen, wie Ibn Bāǧǧa in seiner Erörterung des Vorstellungsvermögens verdeutlicht: [N X. 15] »Und dieses [Vermögen] ist das letzte, welches das konkrete Wahrnehmbare bewegt. Da alles, was bewegt wird, von gleicher Gattung [muǧānis (