Visuelle Identitäten: Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst 9783839435236

In looking at contemporary Iranian video art, this book examines artistic presentations of the self and the (de)construc

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German Pages 304 Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Anmerkung zur formalen Gestaltung
Transkription
Einleitung
1. Zeitgenössische iranische Kunst
2. Identität(en): Self_Other_Difference_Hybridity
3. Medientheorie und Identitätsthematik
4. Simin Keramati: De/Konstruktion(en) des Selbst
5. Shahram Entekhabi: Performative Inszenierungen von Identität/Alterität
6. Die Frage nach (künstlerischer) Identität
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis und -nachweis
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Visuelle Identitäten: Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst
 9783839435236

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Julia Allerstorfer Visuelle Identitäten

Image  | Band 95

Julia Allerstorfer (Dr. phil.) ist Assistenzprofessorin für Kunstwissenschaft am Institut für Geschichte und Theorie der Kunst an der Katholischen Privat-Universität Linz.

Julia Allerstorfer

Visuelle Identitäten Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst

Die Publikation wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung von: Bischöflicher Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Simin Keramati, Self Portrait, 2007–08, Still, Video (7:19 min), 6 Editionen, Courtesy the Artist. Korrektorat: Anna Sauer Satz: Katharina Hertel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3523-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3523-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

8

Anmerkung zur formalen Gestaltung

9

Transkription

10

Einleitung

11

1. Zeitgenössische iranische Kunst

33 1.1 „Ausweitung der Kunstzone“: Zur globalen Präsenz zeitgenössischer iranischer Kunst 34 1.2 Begriffliche Unschärfen 43 1.2.1 „Moderne islamische/arabische Kunst“ 45 1.2.2 Moderne und zeitgenössische iranische Kunst: Ein Versuch der Charakterisierung 47 1.2.3 Iranische Kunst und Diaspora 56

2. Identität(en): Self_Other_Difference_Hybridity

61 2.1 „Body“ und postkoloniale Theorienbildungen 68 2.2 Zur semantischen Komplexität des Identitätsbegriffs 70 2.2.1 „Identität“ als kultur- und sozialwissenschaftliche Problemstellung 72 2.2.2 Personale und kollektive Identität 75 2.2.3 Der Identitätsbegriff in Iran des 20. und 21. Jahrhunderts 81 2.2.4 Identität in der iranischen Kunstwissenschaft 88 2.3 Der Identitätsbegriff in postkolonialen Theorien 105 2.3.1 Die Problematisierung und Dezentrierung von Identität in der postmodernen und poststrukturalistischen Subjektphilosophie 106 2.3.2 Zur Konzeption der/des postkolonialen „Anderen“ 111

3. Medientheorie und Identitätsthematik 133

3.1 Fotografie und Videokunst in Iran 135 3.2 Selbstinszenierung_Medium_Identität 144 3.2.1 Fototheoretische Ansätze 144 3.2.2 Theorien im Bereich Video 150

4. Simin Keramati: De/Konstruktion(en) des Selbst 157

4.1 Selbstinszenierungen in Keramatis künstlerischem Werk 158 4.1.1 Die Videoarbeit „Self Portrait“ (2007–08) 158 4.1.2 Selbstdarstellungen in Malereien und Mischtechniken 169 4.1.3 Körper und Identität in weiteren Videoarbeiten 178 4.2 Künstlerische Selbstdarstellungen im Vergleich 184 4.2.1 Keramati und iranische Künstlerinnen 184 4.2.2 Keramati im internationalen Umfeld 194 4.3 Körperliche Selbst-De/Konstruktionen im gesellschaftlich-politischen Kontext Irans 206 4.3.1 Zur Metaphorik des Entschwindens: Die Zensur der schwarzen Farbe 209 4.3.2 Divergierende Signifikanten im Video „Self Portrait“ 213 4.3.3 Subalterne (?) Schriftzüge im „Dritten Raum“: Performativität, Handlungsmacht und Widerstand 215

5. Shahram Entekhabi: Performative Inszenierungen von Identität/Alterität 219

5.1 Zur komplexen Konstruktion des Selbst als „Anderer“: Migration, Transit und das „In-Between“ 223 5.1.1 Entekhabis Video „i?“: Die Genese der Figur des migrantischen „Anderen“ 223 5.1.2 Die Videoarbeiten „Miguel“, „Mehmet“ „Mladen“ und „Islamic Star“ 233 5.1.3 Zur Performanz des Selbst in weiteren Medien 242 5.2 Entekhabis Selbstinszenierungen im Vergleich 247 5.2.1 Entekhabi im Vergleich mit in Iran lebenden Künstlern 248 5.2.2 Kontextualisierung im internationalen Umfeld 255 5.3 De/Konstruktionen migrantischer Männlichkeit in transkulturellen Kontexten 264 5.3.1 Konzeptualisierung des Performativen: Selbstinszenierungen und Mimikry 267

5.3.2 5.3.3

Strategisches Othering durch Maskerade: „Das Ich sind Mehrere/Andere“ Übersetzungen, Verschiebungen und Neuinterpretationen: Identität(en) in Bewegung

6. Die Frage nach (künstlerischer) Identität

270 272

275

Literaturverzeichnis 279 Abbildungsverzeichnis und -nachweis 297

Danksagung Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertationsschrift, die ich im Zeitraum zwischen 2010 und 2014 im Fachbereich Kunstwissenschaft der Katholischen Privat-Universität Linz verfasst habe. Mit den Gutachten meiner Betreuerin Univ.-Prof.in DDr.in Monika Leisch-Kiesl (Institut für Geschichte und Theorie der Kunst, Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft der Katholischen Privat-Universität Linz) und des Zweitgutachters Univ.-Prof. Dr. Markus Ritter (Institut für Kunstgeschichte, Universität Wien) war die Arbeit mit Juli 2014 approbiert; die Defensio erfolgte im November 2014. Mein Dank gilt allen voran Simin Keramati und Shahram Entekhabi, die mich in meinem Vorhaben kontinuierlich unterstützt haben. Bedanken möchte ich mich in gleicher Weise bei meiner Doktormutter Monika Leisch-Kiesl, die mein Projekt wissenschaftlich begleitet hat; Markus Ritter danke ich für sein differenziertes Zweitgutachten, dessen Anmerkungen ich in der überarbeiteten Version berücksichtigt habe. Vielen weiteren Personen gilt mein Dank: Univ.-Prof.in Dr.in Ebba Koch, die während des Kunstgeschichtestudiums mein Interesse für die islamische Kunstgeschichte entfacht hat und meine Magisterarbeit betreut hat. Staci Gem Scheiwiller, Ph.D., die mich als Autorin in ihr Buchprojekt „Performing the Iranian State“ (2013) aufgenommen hat. Sini Coreth, die mich als Co-Kuratorin der Ausstellung „Iran: Preview of the Past“ (Wien, 2010) eingeladen hat. Dr. Peter Leisch (Magistrat der Stadt Linz) und Mag. Holger Jagersberger (Leiter des Atelierhauses Salzamt, Linz), die die Ausstellung „The State of In Between in Contemporary Iranian Art“ (Linz, 2012) und das Residency Programm ermöglicht haben, im Zuge dessen ich den Künstler Shahram Entekhabi nach Linz einladen konnte. Mein Dank gilt den vielen Künstlerinnen und Künstlern, den Galerien und Sammlungen, die mir die Nutzungsrechte für sämtliche Bilder im Buch kostenlos gewährt haben. Für das sorgfältige Lektorat des Textes bedanke ich mich bei Anna Sauer. Der Grafikerin Katharina Hertel danke ich ganz herzlich für das Layout. Mein großer Dank gilt meiner Familie, meinem Lebensgefährten Jörg Hertel und meinen Freundinnen und Freunden, die mir kontinuierlich und mit viel Zuspruch zur Seite standen. Meinen Eltern, Gertraud und Franz Allerstorfer, die meine wissenschaftliche Karriere in allen Phasen unterstützt haben, ist das vorliegende Buch von ganzem Herzen gewidmet.

Anmerkung zur formalen Gestaltung Folgende Begriffe, die in ihren Definitionen unscharf, umstritten und daher problematisch sind, sind kursiv hervorgehoben: a. Geografisch verallgemeinernde, monolithische und plakative Begriffe wie die Himmelsrichtungen Osten/Ost und Westen/West sowie die Adjektive östlich und westlich. Im übertragenen Sinn und in stark simplifizierter Weise wird mit der Bezeichnung Osten auf die Länder des Ostens, das Morgenland bzw. den Nahen und Mittleren Osten (der Iran inkludiert) angespielt. Im Gegensatz dazu bezeichnet der Westen bzw. die westliche Welt die Westmächte, im politisch-kulturellen Sinn also hauptsächlich Westeuropa und Nordamerika. b. Die stärker kulturell-religiös geprägten Termini Orient und Okzident. c. Geografisch häufig verwendete, jedoch unterschiedlich definierte Begriffe, die eine ganze Region bzw. mehrere Staaten Asiens subsumieren und Iran (oder Teile Irans) inkludieren: Naher Osten und Mittlerer Osten sowie Vorderasien, Westasien, Südwestasien. d. Allgemein gebräuchliche, kulturell-religiös konnotierte Adjektive wie islamisch/ muslimisch/arabisch, die in verschiedenen Kontexten häufig unpräzise oder generalisierend eingesetzt werden. Werden die Adjektive islamisch/muslimisch/arabisch mit dem Substantiv „Kunst“ verbunden, erscheint deren Verwendung umso problematischer, da die individuellen und sehr unterschiedlichen historischen, kulturellen und künstlerischen Entwicklungen einer flächenmäßig riesigen geografischen Region unter einem begrifflichen Konstrukt subsumiert werden, das sämtliche Spezifika ausblendet. Streng genommen wäre auch eine Kursivsetzung für jene adjektivisch gebrauchten, geografischen Begriffe erforderlich, die explizit mit der Kunst und Kultur des jeweiligen Staates in Zusammenhang gebracht werden, wie beispielsweise moderne oder zeitgenössische iranische Kunst. Zum einen bleibt unklar, ob mit dieser Bezeichnung die Kunstproduktion innerhalb Irans oder außerhalb Irans bzw. in der globalen iranischen Diaspora gemeint ist. Zum anderen ist es fraglich, ob der Begriff haltbar ist, zumal kaum von einer vergleichsweise zeitgenössischen österreichischen/deutschen (etc.) Kunst die Rede ist. Da die begriffliche Verwendung von moderner oder zeitgenössischer iranischer Kunst jedoch gängig ist, wird auch in der vorliegenden Arbeit – wenn auch nicht ohne Vorbehalte – daran festgehalten. Demnach erfolgt hier keine Kursivsetzung. Begriffe und fachspezifische Termini aus dem Englischen, Französischen und Persischen werden kursiv hervorgehoben; Bezeichnungen in deutscher Sprache, die aus der Literatur übernommen wurden und diskutiert werden, sind ebenso wie Publikations- und Kunstwerktitel in Anführungszeichen gesetzt.

Transkription Im deutschen Sprachraum sind für orientwissenschaftliche Publikationen die Empfehlungen der Deutsch Morgenländischen Gesellschaft (DMG) verbindlich.1 In der vorliegenden Arbeit erfolgt eine Orientierung am englisch-amerikanischen Umschriftsystem, da die verwendete wissenschaftliche Literatur in erster Linie englischsprachig ist. Die persischen Begriffe werden prinzipiell in jener Form übernommen, wie sie in den unterschiedlichen Quellen vorgefunden wurden, wobei sich die Transliterationssysteme meist an den Standards des „International Journal of Middle East Studies“ (IJMES)2, der „International Society for Iranian Studies“ (ISIS)3 und der „Encyclopædia Iranica“4 orientieren. Zugleich wird eine vereinfachte Form ohne diakritische Zeichen sowie eine Romanisierung gemäß des gesprochenen Westpersischen angestrebt.

1 Vgl. Transkriptionskommission der DMG (Hg.), Die Transliteration der arabischen Schrift in ihrer Anwendung auf die Hauptliteratursprachen der islamischen Welt. Denkschrift dem 19. Internationalen Orientalistenkongreß in Rom, unveränderter Neudruck, Wiesbaden 1969. 2 Vgl. http://ijmes.chass.ncsu.edu/IJMES_Translation_and_Transliteration_Guide.htm sowie http:// ijmes.chass.ncsu.edu/docs/TransChart.pdf [Stand: 29.08.2016]. 3 Vgl. dazu folgende Transliterationshinweise: http://societyforiranianstudies.org/journal/transliteration [Stand: 29.08.2016]. 4 Vgl. http://www.iranicaonline.org/pages/guidelines [Stand: 29.08.2016].

Einleitung Formen der Selbstinszenierung in Videoarbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis Weiße Schriftzüge in handschriftlichem Duktus schreiben sich Wort für Wort in persischer Sprache und englischer Übersetzung gemäß der konventionellen, alphabetischen Schreibrichtungen in einen schwarzen Grund ein: „I do walk a lot these days, I just want to get rid of my thoughts.“ Man vernimmt knisternde Geräusche von Schritten, ein Atmen und Seufzen. In einem dunklen, nicht näher definierten Raum erscheint plötzlich das ernste und schier regungslose Antlitz einer Frau mit Kopftuch, die den/ die Betrachter/in mit ihrem Blick fixiert. Es handelt sich um die Künstlerin Simin Keramati­. Bedrohlich beginnt sich eine schwarze Flüssigkeit über ihrem linken Auge auszubreiten und nimmt rasch eine gesamte Gesichtshälfte ein. Parallel zu diesem Überschreibungsprozess werden rechts und links von Keramatis Haupt handschriftliche Passagen eingeblendet und teilweise wieder durchgestrichen. Aufgrund der schnellen Abfolge wirken sie angespannt und hektisch (Abb. 1–2). Nachdem die schwarze Farbe Keramatis Gesicht vollständig eingenommen hat und nur mehr ihr Kopftuch sichtbar ist, sind folgende, letzte Notizen zu lesen: „There is always this portrait of myself, melting, while walking I feel drops of my face, running over each other and fall into nowhere, and at last, I find myself walking on the streets of this city while I am faceless.“ Das letzte Wort – „faceless“ – erscheint dabei exakt über dem nicht mehr sichtbaren Antlitz der Künstlerin. Simin Keramatis Video (7:17 min) trägt den Titel „Self Portrait“ und entstand in den Jahren 2007–8 in Teheran/Iran. In seiner Synthese aus konfligierenden textuellen und visuellen Zeichen führt das Werk ein drastisches Auslöschungsverfahren des Gesichtes als primären Identitätsmarker vor.

Abb. 1

Abb. 2

12 | Visuelle Identitäten



Abb. 3



Abb. 4

Eine nachlässig bekleidete, männliche Person in einem aus den Jahren gekommenen, grauen Anzug geht eine stark befahrene Straße in städtischem Umfeld entlang. In ihrer rechten Hand hält sie einen schwarzen Kanister. An einer Bushaltestelle bleibt sie stehen, dreht sich um und scheint zu zögern. Schließlich öffnet sie die Verschlusskappe des Behälters und schüttet den flüssigen Inhalt über ihren Kopf, der von Betrachter/ innenseite unmittelbar mit Benzin oder einem anderen liquiden Brennstoff assoziiert wird (Abb. 3–4). Weder Passant/innen noch Rad- und Autofahrer/innen nehmen Notiz von ihr. Selbst das laute Hupen eines Fahrzeuges gilt nicht ihrer Aktion. Der Mann lässt den leeren Kanister fallen, holt eine Streichhozschachtel aus seiner Sakkotasche und entzündet ein Streichholz. An dieser Stelle endet Shahram Enetekhabis Video „Mehmet“ (1:12 min), das er im Jahr 2005 in Berlin/Deutschland produzierte. „Mehmet­“ ist ein kurdischer Selbstmordattentäter, der von Entekhabi selbst dargestellt wird. Rollenspiel und Maskerade dienen der Inszenierung von kulturellen Stereotypen von muslimischen Migranten im öffentlichen Raum der deutschen Hauptstadt. Angesichts des abrupten Endes der Videoarbeit lassen sich die Folgeszenen nur erahnen. Dass es

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sich hier um einen erschreckenden Akt der Selbstverbrennung handelt, der offensichtlich politisch motiviert ist, liegt auf der Hand. Diese künstlerischen Arbeiten werfen mehrere Fragestellungen auf, die unter folgenden, scheinbar dichotomen, sich jedoch wechselseitig bedingenden Gesichtspunkten disktutiert werden sollen: Selbstdarstellung und Selbstentzug sowie die damit in Verbindung stehende Frage nach der Identität, Nicht-Identität und Alterität. In beiden skizzierten Positionen verweisen die unterschiedlichen Inszenierungen des Künstler/ innen-Körpers (oder Fragmente desselben) auf die damit verknüpften visuellen Strategien der Konstruktion und Dekonstruktion des „Selbst“ in der zeitgenössischen iranischen Videokunst. Die Werke Keramatis und Entekhabis, die in Teheran und in Berlin entstanden sind, fungieren als Ausgangspunkte für eine Analyse der bewegtbildlichen Möglichkeiten der Repräsentation von Identität in den sozio-politischen Kontexten Irans und der iranischen Migration in Europa. Simin Keramatis Antlitz wird wortwörtlich „gesichtslos“, indem es von der schwarzen Farbe überzeichnet wird und sich der Begriff „faceless“ in jenen blinden Fleck einschreibt, an dem vorher ihr Gesicht zu sehen war. Shahram Entekhabi schlüpft in die Rolle eines klischeebehafteten Fremdbildes – in jenes des Selbstmordattentäters Mehmet –, inszeniert dieses im öffentlichen Raum und lässt die Videoarbeit exakt an jener Stelle enden, an der das Feuer auf seinen benzinüberschütteten Körper übergreift. Aufgrund der sehr unterschiedlichen formal­ ästhetischen Gestaltung weisen die Werke zunächst keine unmittelbar rezipierbaren Parallelen auf. Ein verbindendes Moment, das sich im Zuge einer Werkbetrachtung von weiteren Arbeiten der Künstlerin und des Künstlers noch als konziser herausstellen wird, lässt sich in aller Kürze wie folgt auf den Punkt bringen: Die Selbstinszenierungen sind in spezifische soziokulturelle Machtverhältnisse eingebettet, konterkarieren dabei aber zugleich die jeweiligen Identitätspolitiken. In beiden Videos wird dem Selbstbildnis/Selbstbild durch den Einsatz von visuellen Mitteln und bildstrategischen Überlegungen eine bestimmte (Kunst-)Form verliehen, die das „Selbst“ dekonstruiert und als brüchig, instabil und zugleich dynamisch ausweist. Die in den Bildern repräsentierte „Identität“ ist einem permanenten Changieren und Schwanken zwischen Selbst- und Fremdbild ausgesetzt und lässt sich in die produktiven Zwischenräume von Identität und Nicht-Identität verorten. Diese entziehen sich stereotypen Kategorien ethnischer Identifizierbarkeit und stellen zugleich die Möglichkeiten der visuellen Fixierung von problembehafteten Begriffen wie „Selbstbildnis“ und „Identität“ in Bildern jedweder Art in Frage. Diese Beobachtungen betreffen selbstverständlich nicht nur die Arbeiten Keramatis und Entekhabis, sondern lassen sich mit zahlreichen weiteren künstlerischen Selbstdarstellungen in globalen, nicht-westlichen und migratorischen Zusammenhängen in Verbindung bringen. In der vorliegenden Einzelstudie liegt das Hauptaugenmerk auf spezifisch iranischen Kontexten und vor allem auf der Frage, ob und wenn, wie sich „iranische“ Identität in Werken von Kunstschaffenden manifestiert, die inner-, außerhalb, zwischen und/oder auch jenseits von nationalstaatlich fixierten Grenzen des Geburts- und Aufenthaltlandes leben und arbeiten.

14 | Visuelle Identitäten Visuelle Identitäten. Künstlerische Selbstinszenierungen in der iranischen Videokunst Iranische Gegenwartskunst ist global präsent. Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte ist seitens internationaler Kunstbetriebe und des Weltkunstmarktes ein verstärktes Interesse an der zeitgenössischen iranischen Kunst zu beobachten, das sich in zahlreichen, weltweiten Ausstellungsprojekten sowie hochdotierten Auktionsergebnissen widerspiegelt. Bis heute scheint diese Aktualität und Hinwendung ungebrochen. Neben rein kommerziellen Interessen und kunstmarktorientierter „Trenderscheinung“ haben auch Prozesse einer kritischen kunstwissenschaftlichen Aufarbeitung einer bislang vom euro-amerikanischen Kanon der modernen und zeitgenössischen Kunst exkludierten und somit marginalisierten Kunst- und Kulturlandschaft eingesetzt. Unter der Bezeichnung „iranische Gegenwartskunst“ werden nicht nur die künstlerischen Produktionen innerhalb des Landes subsumiert: Zeitgenössische iranische Kunst inkludiert in gleicher Weise Kunstwerke, die außerhalb Irans – in migratorischen Zusammenhängen und in der globalen iranischen Diaspora – geschaffen wurden und werden. Demnach handelt sich um ein sehr heterogenes Feld mit einer enormen Bandbreite an künstlerischen Ausdrucksformen, Kunstsprachen und ästhetischen Auffassungen, das die kunstwissenschaftliche Forschung wegen seiner transnationalen Verortungen und transkulturellen Prägungen vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellt. Dies ist mitunter auch ein Grund, warum das wissenschaftliche Betätigungsgebiet nicht ausschließlich fach- und sprachkundigen iranischen Kunsthistoriker/innen vorbehalten ist: Bedingt durch unterschiedliche Migrations- und Wanderungsbewegungen sowie Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen sind iranische Künstler/innen und ihre künstlerischen Arbeiten inter- und transnational präsent. Diese Präsenz spiegelt sich in den künstlerischen Arbeiten wider, die im globalen Ausstellungskontext gezeigt wurden und werden, und die letztendlich eine erweiterte Forschungslandschaft zu Rezeptionsprozessen im Sinne von kritischen Auseinandersetzungen und wissenschaftlichen Studien auffordert. Exakt in diesem Rahmen ist auch mein eigener Zugang zu verorten. Exemplarisch für das noch „junge“, sich im Aufbruch und Ausbau befindende Forschungsfeld zur iranischen Gegenwartskunst sollen zwei Tagungen genannt werden, die nicht in Iran stattfanden. In einer Kurzbeschreibung der 2005 an der Oxford University abgehaltenen Konferenz „Contemporary Iranian Art: Modernity and the Iranian Artist“ wurde auf die zahlreichen Ausstellungen iranischer Künstler/innen in einem internationalen Kontext und somit auf ein verstärktes Interesse hingewiesen. Zugleich stellte man jedoch fest: „However, there is no sign of any critical academic discussion or theorising.“1 Im Ankündigungstext einer weiteren Tagung, die sieben Jahre später im Bonner Kunstverein stattfand, wurde ein nach wie vor eklatanter Mangel an „[…] ei1 Vgl. The Barakat Trust Conference: Contemporary Iranian Art: Modernity and the Iranian Artist, Kellog College, Oxford University, 11.–12.07.2005, https://www.h-net.org/announce/show. cgi?ID=146581 [Stand: 06.09.2016].

Einleitung   |  15

ner systematisch wissenschaftlichen Betrachtung“2 konstatiert. Nicht ohne Grund trug die Veranstaltung, zu der deutsche, iranische und internationale Wissenschaftler/innen geladen waren, den Titel „Zeitgenössische iranische Kunst – Auf der Suche nach Identität“. Beide Tagungen und ihre ambitionierten Forderungen gelten als paradigmatisch für ganz allgemeine Desiderata in Bezug auf die Forschungssituation zur zeitgenössischen iranischen Kunst. Neben einer Reihe von Monographien, die namhaften und international etablierten Künstler/innenpersönlichkeiten gewidmet sind, gibt es neben einigen abgeschlossenen und laufenden Dissertationsprojekten eine große Menge an Ausstellungskatalogen und Aufsätzen in Fachzeitschriften, Kunstmagazinen oder im World Wide Web. Überblickswerke, die künstlerische Praktiken, Strömungen und mediale Entwicklungen im 20. und 21. Jahrundert sowie deren kulturwissenschaftliche Analyse fokussieren, sind ebenso wie Einzelstudien zu spezifischen Fragestellungen mit transdisziplinären Ansätzen auf die Initiativen und Leistungen weniger Autor/innen beschränkt. Ich rekurriere hier in erster Linie auf den iranischen Kunsthistoriker Hamid Keshmirshekan, Research Associate am London Middle East Institute an der School of Oriental and African Studies (SOAS) sowie Leiter und Senior Lecturer am Research Institute of Arts an der Iranian Academy of Arts in Teheran/Iran. Als Experte für die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts in Iran und anderen islamischen Staaten umfassen seine kritischen Ansätze u. a. Kontemporanität und Spezifizität, Exotizismus, Implikationen des Globalen und Lokalen sowie die Effekte von Identitätspolitiken auf künstlerische Praxen. An unterschiedlichen Stellen des vorliegenden Buches werden sämtliche in englischer Sprache verfassten Schriften Keshmirshekans diskutiert. Neben weiteren Texten iranischer und nicht-iranischer Kunstwissenschaftler/innen3, Kurator/innen und Kunstkritiker/ innen, die sich mit Identitätsfragen in der zeitgenössischern iranischen Kunst befassen, fungieren diese als Basis für meine Analyseversuche von Selbstrepräsentationen und den Visualisierungs- und Entzugsstratgien von Identität. Diese knappen Anmerkungen zum kunstwissenschaftlichen state of the art der iranischen Gegenwartskunst bekräftigen die Dringlichkeit von differenzierten, multiperspektivischen Auseinandersetzungen und „Standortbestimmungen“ im Kontext einer – noch zu schreibenden und zugleich zu problematisierenden – Global Art History. Ausführliche Diskussionen zum Forschungsstand der für die in der vorliegenden Studie relevanten Themenkomplexe Selbstdarstellung, Identität und De/ Konstruktion finden sich in den einzelnen Kapiteln des Buches. 2 Vgl. Bonnet, Anne-Marie und Corsepius, Katharina (wissenschaftliche Leitung)/Helbig, Elahe (Organisation), Zeitgenössische Iranische Kunst – Auf der Suche nach Identität, Bonner Kunstverein, 19.– 20.–05.2012, http://www.kunsthistoriker.org/veranstaltungskalender.html?id=2256&m=05&j=2012 [Stand: 06.09.2016]. 3 Ich verweise hier insbesondere auf den von Staci G. Scheiwiller herausgegebenen Band: Scheiwiller, Staci Gem (Hg.), Performing the Iranian State. Visual Culture and Representations of Iranian Identity, London et al. 2013. Genannt werden soll außerdem eine von den jüngeren Publikationen Talinn Grigors: Vgl. Dies., Contemporary Iranian Art. From the Street to the Studio, London 2014.

16 | Visuelle Identitäten Die vorliegende Studie fokussiert Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst und insbesondere Werke der kanadisch-iranischen Künstlerin Simin Keramati (geb. 1970 in Teheran/Iran) und des deutsch-iranischen Künstlers Shahram Entekhabi (geb. 1963 in Borujerd/Iran). Untersucht werden jene künstlerischen Strategien, die in ausgewählten Videoarbeiten für die Konstruktion und Affirmation sowie für die Dekonstruktion und Negierung von Identität gleichermaßen produktiv zum Einsatz kommen. Dieses Vorhaben basiert auf folgenden Beobachtungen: (1) In der Kunstgeschichte Irans trat das Selbstporträt in der Malerei erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung, während es in der Fotografie bereits kurz nach ihrer Einführung in den 1860er-Jahren Belege gibt. Während dem Genre im Verlauf des 20. Jahrhunderts scheinbar keine besondere Bedeutung oder Relevanz zukam, erlebte es im Zuge der Liberalisierungsprozesse unter Mohammad Khatami in den späten 1990er-Jahren einen regelrechten Boom. Die ab dieser Zeit feststellbare, starke Präsenz von Selbstbildnissen in Malerei und Zeichnung sowie in Fotografie, Video, Installations- und Konzeptkunst wurde bis dato wenig untersucht. (2) Aufgrund der mimetischen Grundfunktion des Genres und der künstlerischen Intention, ein Abbild von sich selbst zu schaffen, ist eine direkte Verbindung zur Identitäts- und Autorschaftsproblematik hergestellt. In postkolonialen Diskursen der zeitgenössischen Kunst zielt die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Selbstbildnis nicht auf bloße Selbstvergewisserung, Selbstdarstellung und Identitätsverweise oder -nachweise ab: Es sind Formen der Auflösung und Negierung des Selbstporträts sowie das Verschwinden des Ich, die hier im Vordergrund stehen. Das Genre lässt sich in der Folge produktiv mit Debatten um eine ethnisch codierte, „iranische“ Identität verknüpfen, die seit geraumer Zeit seitens der iranischen Kunstwissenschaft inner- und außerhalb des Landes geführt werden. Die zentralen Fragestellungen der vorliegenden Studie lauten: Welche visuellen Strategien werden bei künstlerischen Selbstdarstellungen eingesetzt? Sind dabei Identitätsdiskurse von Bedeutung? Wenn ja, in welcher Form werden diese in Bildern artikuliert? Mit Blick auf die iranische Gegenwartskunst drängt sich weiters die Frage auf, ob in den Selbstdarstellungen bildliche Signifikanten dekodierbar sind, die auf eine spezifisch iranische Identität verweisen. Im Titel „Visuelle Identitäten. Künstlerische Selbstinszenierungen in der iranischen Videokunst“ werden die zwei großen inhaltlichen Komplexe des Buches reflektiert: Zum einen die unterschiedlichen Auffassungen über und Konzepte von Identität in den sich kontinuierlich transformierenden gesellschaftlichen, politischen und religiösen Kontexten Irans im 20. und 21. Jahrhundert. Zum anderen Selbstdarstellungen im Medium Video in der iranischen Gegenwartskunst sowie die Frage nach den Artikulationsformen und Visualisierungsstrategien von Identität in ausgewählten Arbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis.

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Visuelle Identitäten Die prominente Platzierung des Identitätsbegriffs im Übertitel soll dessen zentrale Bedeutung für die iranische Gesellschaft, Kultur und Kunst markieren; zugleich werden der Identitätsbegriff selbst sowie spezifische Auffassungen von Identität im Zuge von politischen Indienstnahmen und Instrumentalisierungen auch problematisiert. Als essenzieller kulturwissenschaftlicher Begriff wird Identität als eine soziale Konstruktion und instabil-variable, prozessuale Einheit verstanden, der eine Schlüsselrolle hinsichtlich Diskurse um Rasse, Klasse und Geschlecht zukommt: „Identitäten müssen vom sozialen Umfeld erkannt und bestätigt werden, unterliegen also einem ständigen Qualifikationskampf und bedürfen der Binnenstärkung durch Rituale, Symbole und Mythen sowie eines stigmatisierten Außens als einer konstruierten Alterität.“4 Identität, die weder dinghaft oder statisch noch als einfach gegeben gefasst werden kann, ist „[…] als der von der oder dem einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biografie stattfindende Prozeß der Konstruktion und Revision von Selbstbildern.“5 Ebenso, wie sich Identität und Alterität wechselseitig bedingen, stehen personale Identität und kollektive Identität in einer interdependenten Beziehung. Mit dem Fokus auf Identität und die Frage nach ihrer Visualisierbarkeit in Selbstbildnissen sind im Wesentlichen zwei Aspekte angesprochen: (1) Zunächst ist das Zusammenspiel der Begriffe „Selbstbildnis“, „visuelle Repräsentation“ und „Identität“ bedeutend. Für eine differenzierte Befragung der visuellen Repräsentationsmöglichkeiten und -grenzen von Identität eigenen sich insbesondere Selbstporträts. Eine grundlegende Eigenschaft dieses Genres ist jene der Vergegenwärtigung der dargestellten Person im Bild, bei der es sich um den/die Künstler/in handelt. Denn, so Omar Calabrese, „[…] deutlicher als mit einem Selbstporträt kann man wohl nicht sagen ,Ich bin hier‘“6. Der Aspekt der Vergegenwärtigung und die Intention, ein Abbild von sich selbst zu schaffen, impliziert ein Verlangen nach Präsenz und Sichtbarkeit. Sei es im Bereich der Kunst, sei es in visuellen Diskursen allgemein: Selbstporträts oder Selbst-Repräsentationen haben also immer etwas mit der Identität des/der Dargestellten zu tun. Der vielfach angewandte Hilfsbegriff „Repräsentation“ umfasst ein breites Bedeutungsspektrum, das von der Vergegenwärtigung, Vorstellung, Darstellung bis hin zur Vertretung reicht. Vorstellung als Repräsentation bezeichnet das „Sichvergegenwärtigen vom nichtgegenwärtig Gegebenen“7. Von Interesse ist die Ambiguität des Repräsentationsbegriffs für künstlerische Sebstdarstellungen, da er auf die Darstellung bzw. Vergegenwärtigung einer Person (im Bild), auf die (bildliche) Stellvertretung für 4 Babka, Anna, Identität (D), produktive differenzen. Forum für Differenz und Genderforschung, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=23 [Stand: 15.02.2017]. 5 Identität, persönliche, in: Nünning, Ansgar (Hg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, 72. 6 Calabrese, Omar, Die Geschichte des Selbstporträts, übersetz aus dem Ital. v. E. Wünsche-Werdehausen, München 2006, 378. 7 Schmidt, Heinrich, Philosophisches Wörterbuch, neu bearb. v. G. Schischkoff, Stuttgart 221991, 616.

18 | Visuelle Identitäten eine abwesende Person sowie auf die (mentale) Vorstellung von einer Person und ihrer Identität hindeuten kann. Auf die Problematik, dass die Bedeutung von Darstellung häufig mit Abbildung (oder Mimesis) eines konkreten Gegenstandes oder einer konkreten Person gleichgesetzt wird, weisen Schade und Wenk hin: Repräsentationen haben die Funktion, „etwas nicht Anwesendes oder auch nicht Sichtbares darzustellen“8. Daraus folgern die Autorinnen, dass abstrakte Begriffe nicht einfach bildlich repräsentierbar sind und nach „[…] stellvertretenden, bezeichnenden Dingen, Zeichen und/ oder Symbolen, die durch Konventionen festgelegt und damit lesbar und verständlich sind“9, verlangen. Hinsichtlich der Repräsentation von Identität in Selbstdarstellungen sind diese Stellvertreter der Körper und vor allem das Gesicht, die eine Person als Individuum mit einer spezifischen Identität markieren. Sucht man in einer künstlerischen Selbst-Repräsentation nach einer Identität des/der im Bild Repräsentierten, wird rasch klar, dass dieses Unterfangen ein schwieriges ist. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Die im Bild dargestellten Personen sind immer abwesend und haben lediglich eine Verweisfunktion. Auch das Argument der Ähnlichkeit der im Bild Dargestellten mit realen Personen kann hinsichtlich der Veränderungs- und Alterungsprozesse letzterer entkräftet werden. Identität als abstrakter Begriff kann visuell eigentlich nicht dargestellt werden. Darüber hinaus sind Selbstporträts durch künstlerische Inszenierungsstrategien gekennzeichnet, die Selbstbild und die damit assoziierte Identität als visuelle Konstrukte ausweisen. Folgt man postmodernen, poststrukturalistischen und postkolonialen Identitätskonzepten und beschreibt diese als dezentriert, instabil, prozessual und verhandelbar, dann handelt es sich bei Identität um etwas, das mit visuellen Mitteln eigentlich nicht, und wenn, dann nur fragmentarisch repräsentierbar ist. Die Möglichkeiten einer Visualisierbarkeit von einem abstrakten Begriff wie Identität, der zudem als soziale Konstruktion verstanden wird, sind somit eingeschränkt. Der ursprünglich für meine Dissertationsschrift gewählte Übertitel „Representing the Unrepresentable“ sollte für diese grundlegende Widersprüchlichkeit in Selbstbildnissen sensibilisieren. Mit dem Übertitel des Buches – „Visuelle Identitäten“ – wird diese Diskrepanz abgeschwächt, da er impliziert, dass Identitäten bildlich repräsentierbar sind und daher auch als visuelle Konstrukte präsent und/oder absent sein können. Mein Ausgangspunkt ist, dass Identität aufgrund ihrer bildlichen Konstruktions- und Dekonstruktionsmöglichkeiten als dynamisch-wandelbares und daher instabiles Phänomen zu verstehen ist, das sich in den künstlerischen Arbeiten hegemonialen und stereotypen Zuschreibungen entzieht. (2) Die Bedeutung von Identitätsfragen für die iranische Gegenwartskunst belegen zunächst die zahlreichen künstlerischen Positionen, die sich diesem komplexen Phänomen auf unterschiedliche Weise nähern. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Selbstporträts, Selbstbildnisse und Selbstinszenierungen, die das Individuum und Selbst in das Zentrum künstlerischer Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung rücken. Auch 8 Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, 106. 9 Ebd., 107.

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im Hinblick auf zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Tagungen ist eine mitunter spezifische Konzentration auf Identitätsfragen auffällig. Im Kontext der iranischen Gegenwarstkunst sind Identitätsdebatten in hohem Maße in soziokulturelle und staatlich-religiöse Diskurse eingebettet, die häufig auf das historisch gewachsene Spannungsfeld zwischen den drei Sphären „persisch“, „islamisch“ und „modern/ postmodern“ rekurrieren und den Begriff der kollektiven Identität in den Vordergrund rücken. Kritische Auseinandersetzungen finden sich vor allem bei einer jüngeren Generation iranischer Künstler/innen im Kontext der New Art-Bewegung ab den späten 1990er-Jahren. Die zahlreichen Selbstdarstellungen gegen Ende dieser Dekade zeugen von einer Individualisierung und Personalisierung des Identitätsbegriffs, wobei dieser im Sinne von postmodernen Subjekttheorien zugleich als brüchig, dezentriert und instabil angesehen wurde. Hand in Hand mit dieser Auffassung geht eine Absage an staatliche Identitätspolitiken sowie an hegemoniale, ethnisch-nationale Identitätszuschreibungen und Exotismen seitens der westlichen Kunstwelt und ihrer Institutionen. „Iranische“ Identität erweist sich als ein Konstrukt, das in den künstlerischen Arbeiten zur Disposition gestellt und mit visuellen Mitteln zu dekonstruieren versucht wird. Eine ähnliche Skepsis gegenüber Identitätszuschreibungen manifestiert sich auch in Kunstwerken der globalen iranischen Diaspora. Hier sind es die vielfältigen Erfahrungswerte hinsichtlich Migration, Diaspora- und Exilsituationen sowie die kulturellen Lebensbedingungen des Aufenthaltslandes, die das Selbstbild des/der Künstler/in nachhaltig prägen und somit auch in die künstlerische Praxis, die Ausdrucksformen und Bildsprachen miteinfließen bzw. diese transformieren. Künstlerische Selbstinszenierungen und visuelle Strategien Im Buch werden zwei künstlerische Positionen diskutiert, die im Medium Video auf performativ angelegte, körperliche Selbstinszenierungen zurückgreifen und die sozio-politischen Kontexte und Machtstrukturen Irans und jene der iranischen Migration in Europa kritisch mitreflektieren: Es handelt sich um den in Berlin lebenden iranischen Künstler Shahram Entekhabi und die iranische Künstlerin Simin Keramati, die in Toronto und Teheran lebt und arbeitet. Ein verbindendes Moment in den Arbeiten beider Kunstschaffender ist die zunächst augenscheinliche, gewaltvolle Destruktionsarbeit am eigenen Körper, mit der die Verunklärung, Verneinung oder Auslöschung von personaler Identität Hand in Hand gehen. Trotz dieser Selbstzerstörungsakte bleiben körperliche Präsenz und somit auch „Identität“ erhalten. Die visuellen Artikulationsformen sind an konstruktive und dekonstruktive Bildstrategien gekoppelt, die ethnische und nationale Etikettierungen und Identitätszuschreibungen subversiv unterlaufen. Die Selbstinszenierungen der iranischen Künstler/innen verweisen auf globale Bildsprachen mit subtilen lokalen Referenzmarkern und lassen sich als transkulturelle Kunstpraxen und als ein kontinuierliches Arbeiten zwischen den unterschiedlichen Kultursphären beschreiben.

20 | Visuelle Identitäten Die Selbstdarstellungen sind in raumzeitliche und bewegtbildliche Kompositionen im Medium Video eingebettet und basieren auf einer kalkulierten Mise en Scène von Köper, Körperfragmenten und Physiognomie. Sie formieren sich aus performativ organisierten Prozessen der Zurschaustellung der Künstler/innenperson und synchron verlaufenden Entzugsmomenten derselben, die ich in der Folge als Selbstinszenierungen bezeichne. Diese Begriffswahl impliziert eine Abgrenzung zu traditionellen, aus der europäischen Kunstgeschichte überlieferten Formen des Genres Selbstporträt und verweist zugleich auf Auflösungs- und Erweiterungstendenzen der Gattung sowie auf die Krise der (Selbst-)Repräsentation im Zuge der Moderne und Postmoderne. Im Kontext der zeitgenössischen Kunst werden diese Entwicklungen mit Formulierungen wie etwa „Selbstbildnis ohne Selbst“10 oder „Die Negierung des Selbstporträts und das Verschwinden des Ich“11 beschrieben. Simin Keramatis eingangs beschriebenes Video trägt den Titel „Selbstporträt“. Auch in seiner formalen Gestaltung mit dem Schulterstück und der physiognomischen Selbstdarstellung rekurriert es scheinbar auf einen klassischen Typus des Selbstbildnisses. Das Abbild der Künstlerin wird jedoch im Verlauf durch eine schwarze Farbe eingenommen, übermalt und somit unkenntlich, im wortwörtlichen Sinne „gesichtslos“ gemacht. Shahram Entekhabi greift auf den eigenen Körper zurück, um fiktive Figuren zu performen, sein Alter Ego auszuloten und im öffentlichen Raum Reaktionen zu evozieren. Rollenspiel und Maskerade sind Mittel, die das „Selbst“ des Künstlers verschleiern, dieses zwischen Repräsentation und Repräsentanz situieren und Verwirrung hinsichtlich Identifikation und Zuschreibung stiften. Aus diesen knappen Ausführungen geht hervor, dass das Genre Selbstporträt einer Dekonstruktion im Sinne einer kritischen Hinterfragung des „authentischen“ (Selbst-)Abbildes unterzogen wird, die sich in einer simultanen Zurschaustellung von Präsenz und Absenz äußert. Die körperlichen Inzenierungen und die damit verknüpften Artikulationen von Identität sind hierbei an bestimmte Bildstrategien gebunden. Als intentionale künstlerische Verfahren verfolgen diese den konzeptuellen Anspruch, spezifische Aussagen, Intentionen und Wirkungen hinsichtlich Körper und Identität mit visuellen Mitteln umzusetzen. Das breite Feld der bewegtbildlichen Repräsentation mit ihren vielfältigen Artikulationsmöglichkeiten wird von den Kunstschaffenden dazu genutzt, Zensurmaßnahmen und hegemoniale Identitätszuschreibungen zu dekonstruieren und in der Folge Subjektkonstitutionen offen und neu zu formulieren. Im Zuge der Frage nach Identitäten und ihren visuellen Erscheinungsformen ist es zentral, die Kunstwerke zu kontextualisieren und Entstehungsort, Arbeitsbedingungen, soziopolitische­Machtstrukturen sowie persönliche Lebensverhältnisse zu berücksichtigen. Es erübrigt sich anzumerken, dass diese sich in Teheran anders als in Berlin darstellen. Als iranische Künstlerin in Teheran und als iranischer Künstler in Berlin geht es Keramati und Entekhabi um Akte der Sichtbarmachung in den unterschiedlichen ge10 Vgl. Weinhart, Martina, Selbstbildnis ohne Selbst. Dekonstruktionen eines Genres in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 2004. 11 Vgl. dazu den Untertitel von Kapitel 11 „Wo ist das Bild?“ in der Studie zum Selbstporträt von Omar Calabrese: Ders., Die Geschichte des Selbstporträts, 344–377.

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sellschaftlichen Kontexten Irans und Deutschlands. Sichtbarkeit als bedeutender politischer Slogan sozialer Bewegungen im Kampf um Anerkennung kann jedoch zugleich mit normativer Zurichtung, negativer Determinierung, voyeuristischer Ausrichtung und sozialer Kontrolle verknüpft sein.12 Sichtbarkeitspolitiken, so Schade und Wenk, schreiben sich in Repräsentationstraditionen und kulturelle Bilderrepertoires ein und sind niemals neutral: „Die Forderungen nach Sichtbarkeit von marginalisierten und/oder alterisierten Subjekten sind von dem Paradox bestimmt, dass sie sich – um sichtbar werden zu können – in die Bilder einschreiben müssen, die für sie im Feld hegemonialer Repräsentation mit ihren Ausschlusseffekten zur Verfügung stehen.“13 Dieses Paradox spiegeln auch die Arbeiten von Keramati und Entekhabi wider. In den Selbstinszenierungen werden stereotype Fremd- oder Rollenbilder jedoch auch für kritische Umkehrungen und Umformulierungen genutzt. Es ist die ambivalente Inszenierung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie die visuelle Verortung zwischen Präsenz und Absenz, die das repräsentierte Subjekt nicht greifbar macht. Auf diese Weise können Repräsentationsregime und ihre Machtverhältnisse unterlaufen werden. Fokus: Videokunst Hinsichtlich Identitätsfragen im Kontext von Video ist es zunächst interessant, dass der Begriff des Mediums in Bezug auf körperliche Selbstdarstellungen zweifach gefasst werden kann. Zum einen ist es die Projektion des eigenen Körpers, die bewusst als Medium eingesetzt wird: Das via Videokamera abgefilmte körperliche „Bildmaterial“ wird auf einen Bildschirm projiziert. Zum anderen ist es der eigene Körper, der als Medium aufgefasst wird, über das eigenmächtig und jederzeit verfügt und für unterschiedliche Selbstinszenierungsformen eingesetzt werden kann. In Rekurs auf medientheoretische Diskurse zum Index können darüber hinaus interessante Überlegungen zu den Visualisierungsmöglichkeiten von Identität in der Videokunst angestellt werden. Als Medium für künstlerische Auseinandersetzung wurde Videokunst in Iran erst seit etwa Mitte der 1990er-Jahre genutzt.14 In der Folge avancierte Video zu einer beliebten Ausdrucksform für Selbstdarstellungen; Hand in Hand mit diesem erstarkten Interesse an bildlichen Inszenierungsformen der eigenen Person ging eine neue Konzentration auf Auffassungen von personaler Identität. In der iranischen Gegenwartskunst wird Video häufig für performative Selbstinszenierungen und die Beschäftigung mit Identitätsfragen genutzt. In der vorliegenden Studie kann es weniger um eine Darstellung der verhältnismäßig jungen Mediengeschichte von Video in Iran des 20. Jahrhunderts gehen. Die Literatur über iranische Videokunst, ihre Genese und Charakteristika beschränkt sich auf wenige Aufsätze in Sammelbänden15 und 12 13 14 15

Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, 104f. Ebd., 105. Vgl. ebd., 6. Vgl. dazu etwa einen Beitrag von Scheiwiller, in dem sie die Präsenz von iranischer Videokunst im

22 | Visuelle Identitäten publizierte Tagungsbeiträge16; Texte über spezifische künstlerische Arbeiten und Positionen in Ausstellungskatalogen, Zeitschriften oder im Web sind vergleichsweise in größerem Umfang vorhanden. Eine Aufarbeitung der Historie, Dissemination sowie der Anwendungsbereiche und -formen ist ebenso wie die Nutzung von Video für künstlerische Zwecke bislang ein wissenschaftliches Desiderat und fällt in den Kompetenzbereich von iranischen Kunst- und Medienwissenschaftler/innen vor Ort. Der Fokus im Buch ist auf die Frage nach den Visualisierungsformen von Identität(en) in Selbstdarstellungen in Arbeiten der iranischen Videokunst nach dem Jahr 2000 gerichtet. Daher interessieren mich vor allem Identitätsdiskurse in Iran des 20. und 21. Jahrhunderts und welchen Einfluss diese auf künstlerische Selbstbildnisse hatten und haben. Eine weitere zentrale Fragestellung ist die nach der medialen und technologischen Relevanz von Video hinsichtlich der Repräsentationsmöglichkeiten und -grenzen von Identität. Auswahl künstlerischer Positionen In Anbetracht der Vielzahl an Künstler/innen der iranischen Gegenwartskunst, die Selbstdarstellungen und Identitätsfragen fokussieren, war für mein Forschungsprojekt eine Festlegung auf bestimmte Positionen notwendig. Es erübrigt sich an dieser Stelle anzumerken, dass die schwierige Selektionsphase von sehr subjektiven Interessen und Zugängen gezeichnet war. Hierbei spielten sowohl die Verfügbarkeit der Kunstwerke (in diesem Fall Videos) als auch der Kontakt zu und die Kommunikation mit den Künstlern und Künstlerinnen eine ausschlaggebende Rolle. Für die Wahl der Künstler/ innen waren zum einen bereits bestehende Kontakte bedeutend, die ich durch zwei (co-)kuratierte Ausstellungen – „Iran: Preview of the Past“ (Wien, 2010) und „The State of In Between in Iranian Contemporary Art“ (Linz, 2012) – intensivieren und festigen konnte. Zudem lassen sich mehrere objektive Kriterien für die Auswahl anführen: der Fokus auf die eigene Person in der Videokunst, die konstante Thematisierung des Künstler/innen-Körpers innerhalb des gesamten künstlerischen Œuvres und die damit einhergehende Relevanz für meine zentrale Fragestellung nach den Visualisierungsformen von Körper und Identität in Kunstwerken, die inner- und außerhalb Irans produziert wurden. Meine Wahl fiel auf Simin Keramati (geb. 1970 in Teheran/Iran), die mittlerweile in Toronto lebt und Shahram Entekhabi (geb. 1963 in Borujerd/Iran), der seit über 30 Jahren seinen Lebensmittelpunkt in Berlin hat. Beide Kunstschaffende und World Wide Web untersucht und das virtuelle Feld als alternativen Raum für parallele Kunstszenen bezeichnet: Scheiwiller, Staci, The Online Avant-Garde. Iranian Video Art and Ist Technological Rebellion, in: Faris, David M./Rahimi, Babak (Hg.), Social Media in Iran. Politics and Society after 2009, New York 2015, 271–285. 16 Vgl. Habib, Susan/Darabi, Helia, Video Art as a Rising Medium in Iranian Contemporary Art (Vortrag im Zuge des International Congress of Aesthetics: Aesthetics Bridging Cultures, Ankara, 09.–13.07. 2007), http://academia.edu/734261/Video_Art_as_a_Rising_Medium_in_Iranian_ Contemporary_Art [Stand: 18.07.2013].

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ihre Werke lernte ich im Zuge der oben erwähnten, (co-)kuratierten Ausstellungen kennen, wobei ich Shahram Entekhabi im Zuge eines Artist-in-Residence-Programmes 2012 nach Linz/Oberösterreich einladen konnte. Simin Keramati, mit der ich in erster Linie via E-Mail, Skype und Facebook in Verbindung stand, traf ich persönlich erst im Juli 2014 während eines Aufenthaltes in Teheran. Beide stellten bereitwillig Videoarbeiten zur Verfügung und nahmen sich darüber hinaus die Zeit für Interviews, die mitunter in einzelne Kapitel des Buches miteinfließen. Ein verbindendes Moment zwischen den Arbeiten Keramatis und Entekhabis ist der markante Fokus auf Selbstinszenierungen, die nicht nur in Videos oder Videoperformances aufreten, sondern sich wie ein roter Faden durch das gesamte künstlerische Œuvre ziehen. Bei beiden finden sich Selbstdarstellungen auch in der Malerei, Zeichnung und Fotografie. Auffällig ist, dass ihr Repertoire an Bildstrategien Ähnlichkeiten aufweist: In den Selbstinszenierungen fungieren Körper, Körperfragmente und Physiognomie sowohl als künstlerische Medien als auch vielschichtige Zeichenträger, die die Künstler/innenperson auf der einen Seite als Individuum kennzeichnen und somit auf personale Identität hindeuten. Auf der anderen Seite finden sich in den Arbeiten beider bestimmte Elemente oder formale Lösungen, die Körper, Physiognomie und die damit assoziierte personale Identität negieren, verunklären oder gar auslöschen. Die visuellen Strategien sind durch eine ambivalente Konstruktions- und Dekonstruktionsarbeit am eigenen Körper charakterisiert, die das Selbst und in der Folge auch Identität in einer eigentümlichen Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz verortet. Ein weiterer wichtiger Aspekt für meine Untersuchungen war die Gegenüberstellung und der Vergleich von Selbstinszenierungen iranischer Künstler/innen, die einerseits in Iran und andererseits in migratorischen Kontexten der iranischen Diaspora in Europa leben und arbeiten. Hierbei stellte sich die zentrale Frage, ob und wie sich „iranische“ Identität in Selbstdarstellungen einer in Iran lebenden Künstlerin und einem Künstler, der seit über 30 Jahren in Berlin lebt, manifestiert. Methoden Die vorliegende Studie versteht sich primär als eine kunstwissenschaftliche, die sich auf zwei künstlerische Positionen der iranischen Gegenwartskunst konzentriert. Aufgrund des thematischen Fokus auf Selbstinszenierungen in der Videokunst und der weiterführenden Frage nach Visualisierungsformen von Identität wird ein methodisch transdisziplinärer Zugang verfolgt, der sich auch in der Gliederung und Kapitelstruktur widerfindet. Die Entwicklung eines methodischen Grundgerüstes, das auf Identitätsdiskurse im Bereich der Kulturwissenschaften und insbesondere der Postcolonial Studies rekurriert, fungiert als theoretische Argumentationsbasis für die anschließende Diskussion der künstlerischen Arbeiten. Besonders fruchtbar für eine Analyse von körperlichen Repräsentationen und der damit einhergehenden Konstruktion von Identität/Alterität bzw. ethnischer Differenz

24 | Visuelle Identitäten erweisen sich neben Ansätzen der Gender Studies jene der postkolonialen Theorienbildung. Postkoloniale Studien knüpfen „[…] zum einen an die Geschichte der Dekolonisierung, an die Problematisierung dominanter Rassen-, Kultur-, Sprach- und Klassendiskurse durch die intellektuellen Aktivisten antikolonialer Kämpfe und zum anderen an die Revolutionierung westlich intellektueller Traditionen, welche die gängigen Konzepte von Macht, Subjektivität und Widerstand herauszufordern wussten“17 an. Weitere Forschungsfelder sind die aktuellen neokolonialen Machtverhältnisse sowie sämtliche kulturelle Formationen und Identitätsbildungsprozesse, die sich durch Kolonisierung und globale Migration herausgebildet haben.18 Für die Kunstwissenschaft bedeuten postkoloniale Fragestellungen eine kritische Revision der eigenen Historie und Prinzipien; konkrete Anknüpfungsmomente und zugleich Herausforderungen sind Ausstellungspraxen und museale Sammlungsbestände, die kunsthistorische Kanonbildung allgemein sowie postkoloniale Strömungen der zeitgenössischen Kunst.19 In die Gegenwartskunst verortet auch Viktoria Schmidt-Linsenhoff die deutlichste Ausformulierung eines Postcolonial Turn und bemängelt zugleich die im „kolonial Unbewussten“ begründete Aufklärungsresistenz der Disziplin.20 Für zeitgenössische postkoloniale Kunstpraxen sind die Globalisierung des Kunstbetriebes und die künstlerische Auseinandersetzung mit kultureller Differenz, Repräsentation und Identitätszuschreibungen kennzeichnend, die für die Kunstwissenschaft wesentliche Impulse liefern und zugleich nach neuen Analyseinstrumentarien verlangen.21 In Bezug auf die iranische (Kunst-) Geschichte könnte die Relevanz postkolonialer Forschungsansätze freilich auch in Frage gestellt werden, da das Land nicht in dem Ausmaß wie beispielsweise Indien oder nordafrikanische Staaten kolonisiert worden ist. Auch wenn im 19. und 20. Jahrhundert keine einschneidenden und dauerhaften territorialen Besatzungen durch europäische Kolonialmächte vorgenommen worden sind, gilt die ökonomische und politische Einflussnahme sowie intendierte Fremdsteuerung durch Großbritannien und die USA während der Pahlavi-Dynastie bis 1979 als eine historisch belegte Tatsache. Aufgrund der spezifischen, „semikolonialisierten“ Kon­stellation sind postkoloniale Diskurse und Theorienbildungen für Iran und selbstverständlich auch für die globale iranische Diaspora bedeutend. Mit einem Fokus auf den Identitätsbegriff werden im Buch daher zentrale Ansätze dieser transdisziplinären Forschungsrichtung skizziert und anschließend als mögliche Leseart der künstlerischen Selbstinszenierungen vorgestellt. 17 Castro Varela, Maria Do Mar/Dhawan, Nikita, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 25. 18 Vgl. ebd., 25. 19 Vgl. Karentzos, Alexandra, Postkoloniale Kunstgeschichte. Revisionen von Musealisierungen, Kanonisierungen, Repräsentationen, in: Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden 2012, 249. 20 Vgl. Schmidt-Linsenhoff, Viktoria, Das kolonial Unbewusste in der Kunstgeschichte, in: Below, Irene/von Bismarck, Beatrice (Hg.), Globalisierung/Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg 2005, 19–20. 21 Vgl. Karentzos, Postkoloniale Kunstgeschichte, 260–262.

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Als methodisches Verfahren für die Werkanalysen wird ein semiotischer (Bild-) Zugang gewählt, infolge dessen das ästhetische Objekt (die Videoarbeit) als komplexes Zeichensystem verstanden wird. Der semiologische Ansatz wird mit medientheoretischen Überlegungen zu Repräsentationsfragen von Identität im Medium Fotografie und Video kombiniert: Auf Basis von fotografischen Indextheorien und videotheoretischen Positionen wird eine indexikalisch orientierte Leseart für Selbstdarstellungen in der Videokunst vorgeschlagen. Die Videoarbeiten werden zugleich als Schnittstellen von transkulturellen und transnationalen Diskursen sowie sozialen und politischen Kontexten aufgefasst und in einem breiten kulturwissenschaftlichen Feld situiert. Zuletzt gilt es, die Position der Autorin des Buches einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen, denn – wie Schade und Wenk sehr treffend formulieren: „Ein verantwortungsvoller Umgang mit visueller Kultur […] schließt notwendig eine Reflexion des eigenen Standortes und der eigenen Perspektiven mit ein. Anders gesagt, Interpretieren und Zeigen sollte den eigenen Blick mit bedenken ebenso wie den Ort, von dem aus interpretiert und gezeigt wird, und dessen Relationen zu anderen Orten oder Feldern.“22

Eine Bearbeitung des skizzierten Themengebietes aus der Perspektive einer österreichischen Kunstwissenschafterin bringt mehrfache Herausforderungen mit sich, die sich mitunter auf sprachliche Kompetenzen und den sich damit eröffnenden Einblick in kulturelle Tiefendimensionen beziehen. Nach mehreren Sprachkursen und Aufenthalten in Iran musste ich mir eingestehen, dass ich die persische Sprache und Schrift nur bis zu einem bestimmten und eher niedrig anzusetzenden Level erlernen konnte. Daher war ich in meiner Recherchetätigkeit auf englischsprachige Quellen und Übersetzungen aus dem Persischen ins Englische angewiesen. Die Interpretationsversuche von Kunstwerken iranischer Künstler/innen auf Basis der gewählten methodischen Zugänge stellt eine weitere Herausforderung dar. Im Sinne der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak ist es daher unablässig, sich mit den Fragestellungen zu konfrontieren, wer für wen spricht/schreibt, ob das Sprechen/Schreiben für oder anstelle Anderer erfolgt, inwiefern die Anderen durch das eigene Sprechen/ Schreiben zum Schweigen verurteilt werden und ob damit wiederum westliche Stereotype der Alterität reproduziert werden. Um diesen Gefahren entgegenzuwirken, ist eine selbstreflexive Grundhaltung hinsichtlich der eigenen Perspektivität, ein hohes Maß an Kontextsensibilität und nicht zuletzt eine gute kommunikative Basis mit allen beteiligten Akteur/innen nötig: Die aktive Einbeziehung der iranischen Künstler/innen und ihrer Stimmen war mir daher ein wichtiges Anliegen.

22 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, 10.

26 | Visuelle Identitäten Die einzelnen Kapitel In der Folge sollen die wesentlichen Inhalte der einzelnen Buchkapitel kurz dargestellt werden. Die Studie gliedert sich in einen umfassenden theoretischen Part (Kapitel 1–3) sowie einen Teil, der den ausgewählten künstlerischen Positionen der iranischen Gegenwartskunst gewidmet ist (Kapitel 4–5). Eine Zusammenfassung der Arbeitsresultate findet sich in Kapitel 6. (1) Zeitgenössische iranische Kunst Im ersten Kapitel werden zunächst die internationalen Rezeptionsprozesse iranischer Gegenwartskunst im Kontext von Ausstellungen und Kunstmarkt im euro-amerikanischen Raum skizziert. Unter dem Titel „Ausweitung der Kunstzone“ (1.1) gen Osten geht es hier um eine kritische Bestandsaufnahme der ökonomisch motivierten Interessenslagen (Stichwort: ethnic marketing) und neoorientalistischen Repräsentationspolitiken seitens des globalen Kunstbetriebs, die sich nach 9/11/2001 intensiviert haben. Diese keineswegs „unschuldige“ Hinwendung zu einer postulierten zeitgenössischen islamischen bzw. muslimischen Kunst werden anhand der Instrumentalisierung kultureller Paradoxa und den Praxen einer Kulturalisierung bzw. Ethnologisierung diskutiert. Es folgt eine notwendige Präzisierung des Begriffs „zeitgenössische iranischen Kunst“ (1.2), da dieser häufig unter Kategorien wie „zeitgenössische islamische“ oder „arabische Kunst“ subsumiert wurde (1.2.1). Auch werden die kritischen Implikationen der Adjektive „modern“ und „zeitgenössisch“ diskutiert, wenn diese auf iranische Kunst bezogen werden (1.2.2): Seit Beginn der „Modernisierung“ und westlichen Einflüsse ist iranische Kunst durch eine sich wiederholende Dichotomie von kulturellen Authentizitätsbestrebungen und globalen Positionierungsversuchen gekennzeichnet. Da sich die zeitgenössische visuelle Kultur sowohl aus künstlerischen Produktionen inner­- als auch außerhalb Irans zusammensetzt und Shahram Entekhabi als deutsch-iranischer Künstler neben Simin Keramati im Zentrum dieser Studie steht, geht es zuletzt um eine kurze Auseinandersetzung mit der iranischen Diaspora (1.2.3). (2) Identität(en): Self_Other_Difference_Hybridity Mit einem Rekurs auf philosophische, kultur-, kunst- und sozialwissenschaftliche Ansätze widmet sich das theoretisch transdisziplinär ausgerichtete zweite Kapitel dem Schwerpunkt Identität. In einer kurzen Einleitung wird die historische Entwicklung des Selbstporträts in der iranischen Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts dargestellt. Von Interesse ist, dass die Gattung in der Malerei erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung trat, während es in der Fotografie bereits kurz nach ihrer Einführung in den 1860er-Jahren Belege gibt. Im Zuge der Liberalisierungsprozesse unter Mohammad Khatami in den späten 1990er-Jahren erlebte die Gattung in Foto-

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grafie, Video, Installations- und Konzeptkunst einen regelrechten Boom. Körperliche Repräsentationen werden in der Folge aus der Perspektive der Postcolonial Studies betrachtet und als zentrale Austragungsorte für stereotype Alteritäts- und Differenzkonstruktionen diskutiert (2.1). Die semantische Komplexität des Identitätsbegriffs wird im nächsten Unterkapitel (2.2) anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung euro-amerikanischer und iranischer sozial-, kultur-, und kunstwissenschaftlicher Theorien abgebildet: Während es zunächst um die mehrfachen Erschütterungen und Umbrüche von Identitätskonzepten im euro-amerikanischen Raum im des 20. Jahrhunderts und um unterschiedliche Konnotationen von personaler und kollektiver Identität geht (2.2.1–2.2.2), werden anschließend Identitätsdebatten in Iran des 20. und 21. Jahrhunderts und das häufig zitierte Konfliktpotenzial zwischen den drei kulturellen Sphären „persisch“, „islamisch“ und „(post-)modern“ skizziert (2.2.3). Aufgrund der Dominanz von ideologisch aufgeladenen und religiös-politisch motivierten Identitätsdiskursen zeigt sich, dass Debatten um die kollektive und nationale Identität im Vergleich zu jenen um die personale Identität vorrangig waren. Im nächsten Abschnitt (2.2.4) werden zentrale Positionen iranischer Kunsthistoriker/innen diskutiert, die sich kritisch mit Identitätsdebatten auseinandersetzen: Autoren wie Hamid Severi, Hamid­Keshmir­ shekan und Abbas Daneshvari liefern für die vorliegende Studie zentrale Theoreme wie die Dekonstruktion, Intertextualität und Performativität als Strategien der Subversion von Identitätspolitiken. Das in den vorangegangenen Kapiteln dargelegte Konzept einer „dezentrierten iranischen Identität“ wird in der Folge in postkolonialen Theorienbildungen verortet (2.3). Als Basis für postkoloniale Ansätze gelten die strukturalistische Semiotik von Ferdinand de Saussure und die poststrukturalistische Subjektphilosophie von Jacques Derrida, dessen Differenzkonzept für den postkolonialen Identitätsbegriff zentral ist: Identität wird durch das Abwesende und das ausgeschlossene „Andere“ konstituiert (2.3.1). Auf der Grundlage von postkolonialen Konzepten werden alsdann methodische Arbeitshypothesen für die späteren Werkanalysen entwickelt (2.3.2): Personale Identität wird zunächst anhand der Begriffe „Person – Persönlichkeit“, „Subjekt“ und „Selbst/ Selbstkonzept“ untersucht. Alterität als integraler Bestandteil von Identität wird durch Prozesse determiniert und fixiert, die als othering bezeichnet werden „Identität – Alterität – Differenz“. In Abgrenzung zur Identität (der Kolonisator/innen) werden auf diese Weise marginalisierte, nicht-europäische Subjekte (die Kolonisierten) konstruiert. In Anbetracht der künstlerischen Selbstinszenierungen ist es von Interesse, mit welchen visuellen Codes Alterität in Bezug auf Identität und vice versa artikuliert wird. In dieser Hinsicht wird das „strategische Othering“ als künstlerisches Kalkül eingeführt. Performativitätstheorien von Judith Butler lassen sich mit dem persischen Terminus naqsh (Kopie, Modell, Rolle) in Verbindung setzen: Neben der performativen Herstellung von Geschlechtsidentität sind die von Butler skizzierten, widerständigen Strategien interessant: Drag performance, Maskerade und Travestie lassen sich ebenso wie Imitation, Reiteration und Parodie auf künstlerische Strategien beziehen, die eine

28 | Visuelle Identitäten Dekonstruktion hierarchischer Differenzschemata, hegemonialer Identitätspolitiken und patriarchaler Geschlechterrollen intendieren. Widerständige visuelle Strategien verweisen außerdem auf Handlungsmacht (agency). Hybridität, „Dritter Raum“ und Mimikry sind theoretische Denkfiguren des Widerstandspotenzials der Kolonisierten gegenüber den Kolonisator/innen. Hybridität bezeichnet den Kontakt zwischen Kulturen als wechselseitige Durchdringungen, die in einem Zwischenraum, dem „Dritten Raum“, verortet werden, in dem Neukonstruktionen von Identität möglich sind. Diese beruhen wiederum auf Prozessen der Mimikry, einem ambivalenten Vorgang der Kopie des Originals mit Abweichungen. Mimikry als visuelle Strategie bedeutet, dass Künstler/innen nur scheinbar Zeichen und Symbole der staatlichen Autorität übernehmen, da in diese Wiederholung stets Störfaktoren miteingeplant sind. Der hybride „Dritte Raum“ bzw. „alternative Kunstraum“ fungiert als Zone einer postkolonialen Kunstpraxis, in der Handlungsmöglichkeiten und Neuartikulationen von Identität stattfinden. Subalternität, ein Begriff von Gayatri Chakravorty Spivak, bezeichnet nicht-westliche (feminine) Subjekte ohne soziale Mobilität und Artikulationsmöglichkeit in (post)kolonialen Kontexten. Das „Nicht-Sprechen-Können“ bezieht sich auf die Unmöglichkeit einer Selbstrepräsentation in bestehenden Machtverhältnissen. Der Begriff ist insofern für das Betätigungsfeld iranischer Künstler/innen adäquat, als dass diese häufig als politische Aktivist/innen agieren und sich mit den Problemen minorisierter und sozial benachteiligter Gesellschaftsgruppen auseinandersetzen. Subalternität muss auch auf die kritische Selbstreflexion der Rolle und Perspektive der Autorin sowie auf die Gefahr einer Instrumentalisierung „subalterner“ Stimmen als Sprachrohr für eigene (wissenschaftliche) Interessen bezogen werden. Jacques Derridas Begriff der Dekonstruktion wird abschließend auf den Vorgang einer kritischen Text- bzw. Bildlektüre innerhalb der Kunstwissenschaft sowie auf ein künstlerisches Verfahren im Form von subversiven Strategien bezogen. Ausgehend davon, dass Kunstwerke intertextuell konstituiert sind und Ambiguitäten aufweisen, sollen bei einer Übersetzung von Bildern in Sprache die angelegten Paradoxa aufgespürt und die Konstruktion und Dekonstruktion von Bedeutung untersucht werden. Dekonstruktive künstlerische Strategien agieren mit kritischen Relektüren von machtgeleiteten Bedeutungsproduktionen im visuellen Bereich, die auf der Exklusion des unsichtbar gemachten Anderen basieren. (3) Medientheorie und Identitätsthematik Medientheoretische Ansätze zur Identitätsthematik in Fotografie und Video stehen im Zentrum des dritten Kapitels. In einem ersten Schritt wird die Mediengeschichte von Fotografie und Videokunst in Iran in groben Zügen nachskizziert (3.1). Während die Fotografie bereits in den 1840er-Jahren durch die Initiativen des qajarischen Hofes und hier insbesondere durch Nasir al-Din Shah Qajar (1848–96) ihre Verbreitung fand, setzte eine künstlerische Auseinandersetzung mit Video erst Mitte der 1990er-Jahre ein. Die nachfolgenden Abschnitte fokussieren medientheoretische Positionen zu

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Repräsentationsfragen von Identität in Fotografie und Video: Auf Basis von fotografischen Indextheorien und den Ausführungen zu Identität und Repräsentation von Kerstin Brandes (3.2.1) wird in einem nächsten Schritt und in Rekurs auf videotheoretische Überlegungen Irene Schubigers versucht, eine indexikalisch orientierte Leseart für Selbstdarstellungen in der Videokunst herauszuarbeiten (3.2.2). Das von Brandes entwickelte Konzept einer indexikalisch fundierten „Ent/Fixierung“ von Identität in der Fotografie lässt sich als visuelle Strategie auf Video übertragen, wobei Faktoren wie u. a. Zeitlichkeit, Bewegung und Ton mitzureflektieren sind. Selbstdarstellungen in der Videokunst beschreibt Schubiger insofern, dass sich das Künstler/innen-Selbst im Spannungsfeld zwischen Performance und Self-editing (digitale Nachbearbeitung) befindet. Dieser Ansatz wird mit Brandes fotografischem Theorem des „Ent/Fixierens“ von Identität unter Berücksichtigung der medialen Spezifika zusammengeführt. Künstlerische Strategien machen sich das Potenzial des Indexikalischen zunutze, um konventionell-tradierte Bedeutungen und Codierungen aufzubrechen, zu hinterfragen und möglicherweise neu zu definieren. Kapitel 4 und 5 sind Simin Keramati und Shahram Entekhabi gewidmet und weisen dieselbe Struktur auf: Zunächst werden ausgewählte Videoarbeiten detailliert analysiert und in der Folge im Œuvre der Künstlerin und des Künstlers kontextualisiert. Anschließend ist ein Vergleich mit Selbstdarstellungen im Bereich der iranischen Gegenwartskunst sowie ein kunstgeschichtlicher Verortungsversuch von Interesse. Zuletzt gilt es, die in den künstlerischen Positionen analysierten visuellen Strategien der De/Konstruktion von Identität mit den in Kapitel 2 und 3 formulierten theoretischen Ansätzen zu verknüpfen. (4) Simin Keramati: De/Konstruktion(en) des Selbst Die Bedeutung der Selbstinszenierung in Simin Keramatis Œuvre wird anhand der textuellen und visuellen Analyse der Videoarbeit „Self Portrait“ dargelegt (4.1.1). Die Gesamtkomposition des Videos kann als konfligierende Signifikantenkette bezeichnet werden, welche die personale Identität der Künstlerin zugleich konstruiert und dekonstruiert. Die identitätsstiftenden Elemente sind Keramatis Körper und Gesicht, ihre Handschrift und die tonale Ebene (Seufzen), das identitätsstörende Element ist die schwarze Farbe, die ihr Gesicht auslöscht. Schrift und Ton fungieren als widerständige und performative Signifikanten, die im Video erhalten bleiben. Visuelle Entzugsstrategien sind auch in Keramatis Malereien feststellbar (4.1.2), die sich in Form von Fragmentierungen – also dem Verbergen, Überdecken oder Abschneiden von Körperpartien – äußern. Die Dekonstruktion von Körper und Selbst ist auch in anderen Videoarbeiten zu beobachten (4.1.3). Durch einen Vergleich mit Videoarbeiten iranischer Künstlerinnen zeigt sich, dass es sich bei der dekonstruktiven künstlerischen Praxis Keramatis keineswegs um ein vereinzeltes Phänomen handelt (4.2.1). Auch lässt sich Keramatis künstlerisches Schaffen im Kontext der feministischen Kunstgeschichte

30 | Visuelle Identitäten verorten (4.2.2). Interviewauszüge belegen, dass sich Keramati selbst als feministische Künstlerin positioniert (4.3). Im folgenden Abschnitt wird unter dem Titel „Zur Metaphorik des Verblassens: Die Zensur der schwarzen Farbe und das Schreiben gegen die Zeit“ (4.3.1) die schwarze Farbe als metaphorisches Sinnbild der Überschreibung oder Auslöschung von Identität und Körper betrachtet, die als wiederholtes Bild­element in der zeitgenössischen iranischen Kunst in Erscheinung tritt. Den Einsatz der Farbe Schwarz ist mit der von Bhabha beschriebenen Mimikry – der Kopie des Originals mit Abweichungen – vergleichbar, wobei das „Original“ bei Keramati auf die staatlichen Zensurmaßnahmen und Bekleidungsvorschriften in Iran zu beziehen ist. Das Schreiben gegen die Zeit spielt auf die handschriftlichen Sequenzen im Video „Self Portrait“ an, die als widerständige Elemente gegen die Farbe Schwarz operieren. Aus den diver­gierenden Signifikanten im Videobild (Gesicht, Schrift, Ton, Farbe) resultieren Ambiguitäten hinsichtlich der Bedeutungsebene, die sich exakt „zwischen“ Identität und Nicht-Identität verorten lassen (4.3.2): Indexikalität, die sich in den Zwischenräumen von Keramati als reale Person und als Abbild im Video manifestiert, entzieht sich ebenso wie Identität fixierten Zuschreibungen. Technische Apparatur, Videoaufzeichnung und digitale Nachbearbeitung werden mit dem Modus des „Ent/Fixierens“ von Identität verknüpft. Zuletzt wird unter „Subalterne Schriftzüge im Dritten Raum“ das performative Handlungspotenzial im Zusammenspiel von Text und Bild im Video untersucht (4.3.3): Die Inhalte der handschriftlichen Schreibakte werden anhand des Auslöschungsverfahrens durch die schwarze Farbe und die tonale Ebene konkretisiert. Die Reiteration von staatlicher Zensur (Farbe Schwarz) lässt sich mit Butlers Konzept der drag performance und Bhabhas Mimikry verknüpfen und daher – ebenso wie die Handschrift – als subversive Strategie des Widerstands und Handlungspotenzial bestimmen. (5) Shahram Entekhabi: Performative Inszenierungen von Identität/Alterität Der Fokus auf Selbstinszenierungen als der migrantische „Andere“ spiegelt sich in Entekhabis postkolonialer künstlerischer Praxis wider. Zentrale Aspekte des in Iran geborenen und in Deutschland lebenden Künstlers sind Migration, Transit und das Spiel mit Rollen, stereotypen Zuschreibungen und Klischeebildern. Anhand von ausgewählten Arbeiten wird zunächst die komplexe Konstruktion des Selbst als „Anderer“ untersucht: Im Video „i?“ (2004), in dem Entekhabi die von ihm verkörperte Figur des Migranten entwickelt, geht es um die Verdoppelung der eigenen Person und das Verwirrspiel zwischen zwei identischen Figuren, die durch Blickwechsel interagieren. Fragmentarische Ansichten, kurze Sequenzen und rasche Schnittfolgen verstärken die Verunklärung und Dekonstruktion von Identität (5.1.1). Auch in anderen Arbeiten inszeniert der Künstler stereotype Bilder migrantischer Alterität, wie etwa in den 2005 entstandenen Videos „Miguel“, „Mehmet“, „Mladen“ und „Islamic Star“ (5.1.2). Hier performt der Künstler als lachender Guerillakämpfer mit Handgranate, als kurdi-

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scher Aktivist, als Krimineller aus der Balkanregion und als orthodoxer Muslime mit grünem Stern an der Brust und Gebetskette in der Hand. Den Figuren gemein ist die ironisch-satirische Überzeichnung, die Einbettung in den öffentlichen Raum, der Fokus auf Blickverhältnisse und das Spiel mit den Zuschreibungen. Die Verkörperung als migrantischer „Anderer“ findet sich ebenso in Entekhabis Zeichnungen wieder (5.1.3). Im Zuge eines Vergleichs mit Positionen der iranischen Gegenwartskunst werden unter anderem Gemeinschaftsarbeiten Entekhabis vorgestellt, die in Europa oder in Iran entstanden sind und von einer aktiven Vernetzung zeugen (5.2.1). Ebenso wie bei Keramati ist in der Folge eine Kontextualisierung im internationalen Umfeld von Interesse (5.2.2). Die dekonstruktiven Strategien und die zentralen Aspekte Migration, Ethnizität und Männlichkeit werden zuletzt wiederum mit theoretischen Ansätzen verknüpft (5.3); die „Konzeptualisierung des Performativen“ kann anhand der Mimikry analysiert werden: Entekhabi performt sichtbare Alterität und tritt mit einem Publikum in Interaktion. Handlung vollzieht sich weniger in Sprechakten und konkreten Aktivitäten, sondern auf der subtilen Ebene von Blickverhältnissen. Medial transportierte, migrantische Stereotypen und Repräsentationen von ethnischer Alterität werden wiederholt, kopiert, rezitiert; in den starken Überzeichnungen und ironischen Stereotypisierungen der Figuren Ironisierungen lassen sich Abweichungen erkennen, die Zuschreibungen von Identität bzw. Alterität als konstruiert entlarven (5.3.1). Ein weiterer Aspekt ist das „strategische Othering durch Maskerade“ (5.3.2) und die damit intendierte Verschiebung und Neuinterpretation einer sich in Bewegung befindlichen Identität (5.3.3): Aufgrund seiner transkulturellen künstlerischen Arbeit kommt dem Künstler die Rolle des Übersetzers zu. Strategisches Othering als visuelle Strategie bezeichnet die prozessuale Selbstüberschreibung und Differenzmarkierung durch Maskeraden. Neben dem Vorgang der Mimikry ist hier eine Verdoppelung von Alterität erkennbar, da Entekhabi auch ohne Maskerade einen iranischen Migranten in Deutschland verkörpert: Die vermeintlich klaren Grenzen zwischen dem Selbst und den Anderen verschwimmen, Zuschreibungen erweisen sich als kompliziert. Entekhabis­künstlerische Praxis mit den heterogenen, aber nie eindeutigen kulturellen Referenzen kann in den von Bhaba beschriebenen in-between spaces, den Zwischenräumen der sich überlappenden kulturellen Sphären, oder im „Dritten Raum“ verortet werden, die produktiv für Neuinterpretationen von Identität genutzt werden. (6) Die Frage nach (künstlerischer) Identität Im letzten Abschnitt werden die Arbeitsresultate rekapituliert und im Hinblick auf die Visualisierungsformen von Identität diskutiert. Zunächst geht es um einen Vergleich der de/konstruktiven Strategien in den Selbstdarstellungen Keramatis und Entekhabis, um zuletzt noch einmal die Fragen aufzuwerfen, ob Identität visuell darstellbar oder fixierbar ist und ob in den Videoarbeiten Signifikanten für eine spezifisch iranische Identität bestimmbar sind.

1. Zeitgenössische iranische Kunst

Unter dem Titel „Ausweitung der Kunstzone“ werden zunächst das Phänomen der internationalen Präsenz der zeitgenössischen iranischen Kunst kritisch durchleuchtet und die Beweggründe für das vor allem nach 9/11/2001 verstärkte Interesse seitens internationaler Kulturbetriebe skizziert. Von Interesse sind hier die Mechanismen, Strategien und Politiken der Inszenierung und der Repräsentation von Kunst sowie die Rezeptionsprozesse durch ein westliches Publikum. Im Zuge eines Versuchs der Abgrenzung und Definition der zeitgenössischen iranischen Kunst wird das problematische begriffliche Konstrukt der sogenannten zeitgenössischen arabischen bzw. islamischen Kunst analysiert. Es geht um eine Darstellung der terminologischen Genese, die maßgeblich durch die westliche Kunstgeschichte determiniert wurde sowie um die fragwürdige Verwendung der Begriffe in aktuellen Kontexten. In der Folge wird der Versuch unternommen, moderne und zeitgenössische iranische Kunst in ihren Grundzügen zu charakterisieren. Da eine Untersuchung des Kunst- und Bilddiskurses zwischen Ost und West intendiert wird, werden nicht nur künstlerische Positionen aus dem Iran, sondern auch jene innerhalb der iranischen Diaspora Europas behandelt. Somit ist auch eine Klärung des Begriffs „Diaspora“ im Zusammenhang mit der iranischen Migrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts vonnöten.

34 | Visuelle Identitäten 1.1 „Ausweitung der Kunstzone“1: Zur globalen Präsenz zeitgenössischer iranischer Kunst Die globale Präsenz zeitgenössischer iranischer Kunst ist mitunter eine Konsequenz des erstarkten Interesses an marginalen „Kunstzonen“, das innerhalb der letzten Dekade von unterschiedlichen Kulturinstitutionen vorangetrieben wurde. Der Titel „Ausweitung der Kunstzone“ wurde von einer Publikation adaptiert, in der das Hauptaugenmerk auf Interart Studies, die Transgression zwischen den Einzelkünsten und die Überschreitungen zwischen Kunst und Alltagswelt gelegt wird.2 In der vorliegenden Arbeit wird mit unter einer „expandierenden Kunstzone“ hingegen ein räumlich-geographisches Konzept im Sinne von transkulturellen3 Prozessen der Kunst verfolgt. In postkolonialen Zusammenhängen muss eine „Ausweitung der Kunstzone“ und das damit verknüpfte, keineswegs unschuldige Interesse am Orient und am sogenannten „islamischen Kulturkreis“ kritisch betrachtet werden. Die intensivierte Hinwendung zur zeitgenössischen Kunst des Nahen und Mittleren Ostens spiegelt sich vor allem in den zahlreichen internationalen Sammlungen, einer gesteigerten Ausstellungstätigkeit sowie sämtlichen Biennalen und Kunstfestivals wider.4 Eine Voraussetzung dafür war die 1 Dieser Titel ist folgender Publikation entlehnt: Fischer-Lichte, Erika/Hasselmann, Christiane/Rautzenberg, Markus (Hg.), Ausweitung der Kunstzone, Interart Studies, Neue Perspektiven der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2010. 2 Lediglich ein Beitrag des eben zitierten Sammelbandes beschäftigt sich mit Kunst zwischen verschiedenen Kultursphären. Vgl. Stemmrich, Gregor, Gordon Matta-Clarks Conical Intersect – Kunstwerk zwischen Kulturen, Künsten und medialen Darstellungsformen, in: Fischer-Lichte, Erika/Hasselmann, Christiane/Rautzenberg, Markus (Hg.), Ausweitung der Kunstzone, Interart Studies, Neue Perspektiven der Kulturwissenschaften, Bielefeld 2010, 111–142. 3 Mit dem Begriff „transkulturell“ wird auf das Konzept der Transkulturalität zurückgegriffen, das im deutschsprachigen Raum durch mehrere Schriften von Wolfgang Welsch Verbreitung fand. Vgl. Welsch, Wolfgang, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie 2 (1992), 5–20. In Abgrenzung zu Herders traditionellem Kugelmodell der Kultur, das über einen inneren Homogenisierungsdruck und eine äußere Abgrenzung verfügt, definiert Welsch mit seinem Konzept der Transkulturalität gegenwärtige Kulturen als jene, die sich gegenseitig durchdringen und durch Mischungen gekennzeichnet sind. Die Vorsilbe „trans“ weise darauf hin, dass die heutige „hybride“ Verfassung der Kulturen jenseits der alten liege und beziehe sich auf den Umstand, dass die kulturellen Determinanten heute zunehmend „quer durch die Kulturen hindurchgehen“. Der Begriff der Transkulturalität fungiere zudem keineswegs als Synonym zur Multikulturalität und Interkulturalität, deren konzeptuelle Ansprüche weitgehend die Defizite des Kugelmodells aufweisen würden. Vgl. dazu: Welsch, Wolfgang, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Darowska, Lucyna/Lüttenberg, Thomas/Machold, Claudia (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität, Bielefeld 2010, 39–66, hier 40–42 u. 49–50. In ihrer Einleitung zum Band „Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell“ führen Monica Juneja und Michael Falser einige Kritikpunkte zum Transkulturalitätskonzept von Welsch an und weisen auf die Potenziale der Transkulturalität als zeitgemäße Forschungsperspektive für die Kunstgeschichte hin. Vgl. Juneja, Monica/Falser, Michael, Kulturerbe – Denkmalpflege: transkulturell. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kulturerbe und Denkmalpflege transkulturell. Grenzgänge zwischen Theorie und Praxis, Bielefeld 2013, 17–34. 4 Hier sei auf die beachtliche Zahl internationaler Ausstellungen in Galerien und Museen im euro-amerikanischen Raum verwiesen. Eine repräsentative Auswahl von Ausstellungen zeitgenössischer iranischer Kunst findet sich in Kapitel 3.1. Auch hinsichtlich zahlreicher Biennalen und Kunstfestivals

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Gründung von bedeutenden Kunstinstitutionen und Kulturinitiativen in islamischen Staaten, die zunehmend mit finanzkräftigen internationalen Partner/innen kooperierten und somit Austauschprozesse zwischen Ost und West förderten.5 Es folgt eine kurze Darstellung der Globalisierung, Internationalisierung und des kommerziellen Erfolges der zeitgenössischen iranischen Kunst, wobei Kunstmarktberichte und Ausstellungen exemplarisch bis etwa zum Jahr 2012 aufgelistet werden. Die in London aktive libanesisch-iranische Kuratorin und Kritikerin Rose Issa gilt als ausgewiesene Expertin für zeitgenössische Kunst aus islamisch geprägten Staaten. In einem Interview mit RFE/RL (2010) analysierte sie den plötzlichen Boom iranischer Kunst. Zum einen verwies sie dabei auf die von ihr im Jahr 2001 organisierte Ausstellung „Iranian Contemporary Art“ im Barbican Art Center in London, die erstmals einen Einblick in verschiedene Genres der zeitgenössischen iranischen Kunst gab und auf großes Interesse bei Sammlern und Sammlerinnen gestoßen ist. Zum anderen sei auch die erste Auktion in der Kategorie „Contemporary Middle Eastern Art“ bei Christie’s in Dubai im Mai 2006 sowie das Interesse von Sotheby’s London an iranischer Kunst ein entscheidender Schritt in der Vermarktung gewesen. Auch hätten zahlreiche Folgeausstellungen die Aufmerksamkeit für zeitgenössische iranische Kunst geweckt und Akquisition und Sammler/innentätigkeit initiiert: „So there is a buzz everywhere about a culture that was ignored for the last 30 years, since the Islamic Revolution in 1979.“6 Mehrere Zeitungskolumnen und Online-Artikel der Jahre 2008–2011 berichten von einem plötzlichen „Interessens-Boom“, spektakulären Auktionsergebnissen und bombastisch angestiegenen Marktpreisen zeitgenössischer Kunst aus Iran und der iranischen Diaspora. In engem Zusammenhang mit diesen Entwicklungen ist die Nieist nach 2000 eine zunehmende Präsenz von Künstler/innen aus dem Nahen und Mittleren Osten spürbar: Venedig (seit 2003 verstärkter Fokus auf muslimische Staaten), Havanna (vgl. 2000/2001 u. 2003), Sydney (vgl. 2006 u. 2010), Singapur (vgl. 2006 u. 2008) sowie Documenta Kassel (vgl. 2007) u. Manifesta Murcia & Cartagena/Spanien (vgl. 2010–2011). Kunstschauen zahlreicher islamischer Staaten fokussieren ohnehin verstärkt künstlerische Positionen aus Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Vgl. dazu folgende Auswahl: Alexandria (seit 1955), Kairo (seit 1984), Istanbul (seit 1987), Dakar (seit 1992), Sharjah (seit 1993), International AiM Biennale/Marrakesch (seit 2005), Art Dubai (seit 2007), Teheran (u. a. Visual Arts Festival, Urban Jealousy: The 1st International Roaming Biennial of Tehran 2008–2010). 5 Vgl. folgende Auswahl an aktiven künstlerischen Kollektiven und Organisationen: USA (Texas): Association for Modern and Contemporary Art of the Arab World, Iran, Turkey (AMCA); Afghanistan (Kabul): Turquoise Mountain Foundation; Ägypten: Contemporary Image Collective (CiC)/Kairo; Alexandria Contemporary Arts Forum (ACAF); Jordanien (Amman): The Arab Fund for Arts and Culture (AFAC); Libanon (Beirut): Arab Image Foundation, Ashkal Alwan: The Lebanese Association for Plastic Arts; Marokko (Casablanca): La Source du Lion, Künstler/inneninitiative; Pakistan (Karachi): VASL, Künstler/innenkollektiv; Palästina (Jerusalem): Al Ma‘mal Foundation for Contemporary Art; Syrien (Aleppo): Le Pont Art Organization; Türkei (Istanbul): PiST, Künstlerinitiative; Santralistanbul; VAE: Sharjah: Dept. of Culture and Information; Barjeel Art Foundation; Dubai: Tashkeel. 6 Deasy, Kristin, Interview: Longtime Art Advocate Rose Issa Discusses Iranian Art ,Boom‘, Radio Free Europe/Radio Liberty, 21.05.2010, http://www.rferl.org/content/Interview_Longtime_Art_Advocate_Gallerist_Rose_Issa_Discusses_Iranian_Art_Boom_/2049215.html [Stand: 22.04.2011].

36 | Visuelle Identitäten derlassung der Auktionshäuser Christie’s (2006) und Bonhams (2008) in Dubai zu betrachten, die sich auf die Vermarktung moderner und zeitgenössischer Kunst aus Staaten wie u. a. Tunesien, Ägypten, Marokko, Libanon und Iran spezialisiert haben. Unter dem Slogan „Iranian art boom – 2006–2008: progress report“ hieß es etwa auf artmarketinsight.com: „Carried by the financial strength of the United Arab Emirates and the increasingly global reach of its national investors, Iranian artists are becoming increasingly popular among regional collectors.“7 Auf der Website von foxnews.com war zu lesen: „The art industry in Iran is booming despite heavy economic sanctions that make it almost impossible for internationally successful artists to get paid.“8 ABC News beschrieb das Phänomen wie folgt: „An extraordinary art boom has transformed the market in Tehran, capital of the Islamic Republic of Iran. […] The prices have soared by a factor of 20 within two years, the galleries are packed with prospective buyers and the works are both modern and daring.“9 Trotz der Finanzkrise im Jahr 2008 und der anhaltenden Kontroverse wegen des iranischen Atomprogramms schien der internationale Erfolg zeitgenössischer iranischer Kunst ungebrochen, wie etwa Daniel Grant 2010 in Barron’s Online konstatierte: „Alongside the nuclear controversy, an art scene flourishes. Collectors are taking notice: Prices of Iranian contemporary art have jumped – and they’re likely to keep going up for another five or 10 years […].“10 Ein weiterer Bericht von Radio Free Europe aus demselben Jahr besagte: „Sales of Arab and Iranian art in Dubai increased from $2 million in 2006 to $ 35.7 million in 2008. Iranian artists now represent 74 percent of artwork sales in Christie’s Modern and Contemporary Arab and Iranian auctions and 64 percent of sales at Bonhams.“11 In ihrer Analyse von Auktionen iranischer Kunst bei Christie’s in den Jahren 2006–2011 kam Zahra Jahanbaksh außerdem zu folgendem bemerkenswerten Ergebnis: „The total sales at the 11 auctions held at Christie’s Dubai between 2006 and 2011 were US$ 118.139.785 and of this, Iran’s share was US$ 41.322.115 which is 35% of all the sales. In the 11 auctions held, […], at least 12 other countries such as Egypt, Turkey, Syria, Morocco, Tunisia, Lebanon, Iraq, Qatar, the United Arab Emirates, etc. had a large presence at the auction in the past five years and from all of these, Iranian artists have been able to take the first place with one third of the sales.“12

7 „Iranian art boom – 2006–2008: „progress report“, artmarketinsight.com, 08.05.2008, http://www. artmarketinsight.com/en/08/08/05/Iranian+art+boom [Stand: 23.03.2011]. 8 Kellogg, Amy, Iran sees art boom even as artists struggle to get paid, Fox News, 13.10.2008, http:// www.foxnews.com/story/0,2933,436301,00.html [Stand: 11.04.2011]. 9 Iranian art market enjoys buying frenzy, ABC News, 9.07.2008, http://www.abc.net.au/news/stories/2008/07/09/2298773.htm [Stand: 11.04.2011]. 10 Grant, Daniel, Iran’s new treasures, Barron’s Online Journal, 22.05.2010, http://online.barrons. com/article/SB127438866419494489.html [Stand: 10.04.2011]. 11 Deasy, Kristin/Kaviani, Hannah, Despite tightening up of society, Iranian Art sees a boom, Radio Free Europe/Radio Liberty, 25.05.2010, http://www.rferl.org/content/Despite_Tightening_Up_ Of_Society_Iranian_Art_Sees_A_Boom__/2052173.html [Stand: 23.03.2011]. 12 Jahanbakhsh, Zahra, Iranian Art at Christie’s (2006–2011), in: Art Tomorrow 6 (2011), 18–28, hier 20–21.

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Von Interesse ist zudem die erste Auktion für zeitgenössische iranische Kunst, die vom früheren Direktor des Tehran Museum of Contemporary Art Alireza Sami Azar am 22.06.2012 in Teheran organisiert wurde und im Zuge derer alle 73 Werke um etwa 1,7 Millionen US$ verkauft wurden.13 Die innerhalb der letzten Dekade realisierten Ausstellungen mit Katalogpublikationen trugen wesentlich zu den Disseminationsprozessen von Kunst bei, die inner- und außerhalb Irans produziert wurde. Das nicht immer unproblematische Engagement seitens internationaler Museen und Galerien scheint bis dato ungebrochen. Um die globale Präsenz zeitgenössischer iranischer Kunst zu veranschaulichen, sollen in der Folge nur einige wenige der zahlreichen Gruppenausstellungen exemplarisch aufgelistet werden: Der von Rose Issa 2001 kuratierten Ausstellung „Iranian Contemporary Art“ in London folgten 2004 „Entfernte Nähe: Neue Positionen iranischer Künstler“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt, 2005/06 die Wanderausstellung „Persian Visions: Contemporary Photography from Iran“ im Nicolaysen Art Museum in Wyoming, 2006 die Wanderausstellung „ey! Iran/Contemporary Iranian Photography“ in der Gold Coast City Art Gallery in Queensland, Australien, 2006/2007 „Iran.com – Iranische Kunst heute“ im Museum für Neue Kunst in Freiburg, 2008 „Urban Jealousy – Die 1. Internationale Wander-Biennale von Teheran“ mit ihrer ersten Station in Istanbul, 2008 „Lion under the Rainbow“ in Athen, 2008 „Naqsh – Einblicke in Gender und Rollenbilder in Iran“ im Museum für islamische Kunst in Berlin, 2008/2009 „30 Years of Solitude“ und 2009 „Made in Iran“ im Asia House in London. Ebenfalls 2009 fanden die Großausstellung „Iran Inside Out“ im Chelsea Art Museum in New York (2010 in Dubai), das Festival „Photoquai“ mit einem Schwerpunkt auf Iran im Musée du Quai Branly (u. a.) in Paris und „Masques of Shahrazad“ in den Mall Galleries in London statt; 2009/10 folgten „Inside Teheran Out“ im Forum Schlossplatz in Aarau und 2011 „The Third Eye: Iranian Contemporary Art Exhibition“ in Shanghai. Von Interesse sind auch einige wenige Gruppenausstellungen, die bis 2012 in Österreich realisiert wurden. 2005 konzipierte Leo Kandl die Ausstellung „Brüche und Realitäten. Fotografien aus dem Iran“ in der Fotogalerie Wien. Die Protestbewegungen im Zuge der letzten iranischen Präsidentschaftswahlen und der erneute Amtsantritt von Mahmoud Ahmadinejad 2009 schürten das Interesse des Wiener Galeristen Ernst Hilger für junge, aufbruchswillige iranische Gegenwartskunst. Kuratiert von Shaheen Merali, fiel die Wahl des Titels der Ausstellung hinsichtlich der aktuellen politischen Umstände bezeichnenderweise auf „The Promise of Loss. A Contemporary Index of Iran“. Zwei weitere Ausstellungen, „Iran: Preview of the Past“ und „The State of In Between in Iranian Contemporary Art“, fanden 2010 in Wien (Heiligenkreuzer Hof) und 2012 in Linz (Atelierhaus Salzamt) statt. Zugleich ist auf die zahlreichen Initiativen der landesinternen Kunstszene Irans, insbesondere in der Metropole Teheran, hinzuweisen. In den 13 Vgl. Iran’s first contemporary art auction: All works sold, Art Radar Asia, 11.07.2012, http://artradarjournal.com/2012/07/11/irans-first-contemporary-art-auction-all-works-sold/ [Stand: 17.07.2012].

38 | Visuelle Identitäten über 50 Galerien der iranischen Hauptstadt14 lässt sich eine rege Ausstellungstätigkeit beobachten; zudem organisieren sich Kurator/innen sowie Künstler/innen seit geraumer Zeit zunehmend im World Wide Web.15 Wie lässt sich das Phänomen der internationalen Präsenz und gesteigerten Wertschätzung von Kunst aus dem Nahen und Mittleren Osten allgemein und im Speziellen aus Iran erklären? Mit einem Fokus auf den euro-amerikanischen Raum gilt es in der Folge, einige zentrale Beweggründe von Kunstinstitutionen und ihre Repräsentationsstrategien zu skizzieren. Im Kontext einer „erweiterten Kunstzone“ nach 9/11 ist es unablässig, sich mit den gesellschaftlichen, politischen und medialen Rahmenbedingungen einer westlichen Rezeption von terroristisch diffamierten islamischen Staaten wie Iran auseinanderzusetzen. Iran schottete sich mit der Islamischen Revolution im Jahr 1979, der Gründung der Islamischen Republik durch Ruhollah Mostafavi Musavi Khomeini und dem anschließenden ersten Golfkrieg gegen den Irak (1980–1988) mehr als zwei Jahrzehnte lang von den Weltgeschehnissen und der internationalen Politik ab. Auch wenn die Präsidentschaft Mohammad Khatamis (1997–2005) eine gewisse landesinterne Auflockerung sowie eine Öffnung nach außen mit sich brachte, rückte Iran mit dem von George W. Bush am 29. Januar 2002 geprägten Begriff „Achse des Bösen“ (Axis of Evil) in einer Rede zur Lage der Nation verstärkt ins allgemeine mediale Blickfeld. Der US-amerikanische Präsident bezichtigte die Länder Nordkorea, Iran und Irak, mit Terroristen alliiert zu sein und aufzurüsten, um den Weltfrieden zu bedrohen. Seit dem Antritt der iranischen Präsidentschaft durch Mahmoud Ahmadinejad 2005 war die iranische Politik nicht nur wegen ihrem umstrittenen Nuklear- und Urananreicherungsprogramm ein brisantes und omnipräsentes Thema in der globalen Medienlandschaft. Für einen Großteil westlicher Gesellschaften formiert sich seither – salopp gesprochen – das Bild Irans aus Negativschlagzeilen in aktuellen Berichterstattungen: restriktives Militär- oder Mullah-Regime, schiitischer Fundamentalismus, Verbindung zum internationalen Terrorismus, Antisemitismus, fehlende Menschenrechte, Folterung und Todesstrafe, Unterdrückung der Frauen, Bekleidungskodex/Verschleierung etc. Diese Reduktion auf die eben erwähnten Begriffe und stereotypen Denkmuster ist nicht nur für Iran charakteristisch, sondern reflektiert jene Mechanismen in der Kon14 Vgl. Arend, Ingo, Es geht alles um Veränderung. Momentaufnahmen aus der Teheraner Kunstszene, in: Nafas Kunstmagazin (2011), http://universes-in-universe.org/deu/nafas/node_60/2011/ tehran_art_scene/ [Stand: 17.07.2012]. 15 Hinzuweisen wäre hier u. a. auf „Persbook Art“, eine Online-Initiative für Künstler/innen, die 2010 von Neda Darzi gegründet wurde: http://persbookart.com/ [Stand: 17.07.2012] und http://www. facebook.com/persbook.iranianart [Stand: 17.07.2012] sowie auf den unabhängigen Projektraum der Parkinggallery, die 1998 gegründet wurde und 2002 online ging. Seither realisiert der Art Director, Kurator und Künstler Amirali Ghasemi zahlreiche nationale und internationale Ausstellungsprojekte und Workshops: http://www.parkingallery.com/ [Stand: 17.07.2012]. Hingewiesen werden muss auch auf die zahlreichen Initiativen des Künstlers und Kurators Sohrab Kashani, der den Ausstellungs- und Projektraum „Sazmanab“ mit Residency-Programmen in Teheran zwischen 2008 und 2016 leitete, vgl. http://www.sazmanab.org/ [Stand: 18.04.2017].

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struktion des Orients, welche bereits von Edward W. Said im Jahr 1978 analysiert worden waren. In seiner bahnbrechenden Studie „Orientalism“ entwickelte er das Konzept des Orientalismus, den er unter Anlehnung an Michel Foucault als umfassenden, interdisziplinären Diskurs einer gesamten Epoche entlarvte. Die Publikation fungiert als Schlüsseldokument der postkolonialen Theorie und beschreibt, wie sogenannte „andere“/„unterlegene“ Kulturen (Orient) vom dominanten Westen repräsentiert und somit erst kreiert werden. Der durch „Orientexpert/innen“ gestützte koloniale Diskurs wurde darüber hinaus dazu instrumentalisiert, die europäische Kolonialherrschaft auf- und auszubauen: Das vermeintliche Wissen über den Orient habe nicht nur der direkten Machtausübung, sondern insbesondere auch der Legitimierung von Gewalt gedient.16 Die zahlreichen Folgepublikationen im Bereich der Postcolonial Studies fokussierten neben literarischen auch visuelle Repräsentationen „anderer“ Kulturen und haben somit gleichermaßen einen kritischen Blick auf die Stereotypenbildungen des/der orientalischen „Anderen“ im Bilddiskurs der europäischen Kunstgeschichte geworfen. Die Konstruktion des Orients als markierte Seite der Differenz und Prototyp der Vorstellung von Alterität spiegelt sich in den Bildmaterialien und klischeehaften Bildsprachen in populären Berichterstattungen wider, die politisch nicht neutral sind und an tradierte orientalistische Typologien anknüpfen.17 Regina Göckede und Alexandra Karentzos beschreiben diesen Prozess in ihrer Einleitung des Bandes „Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur“ sehr treffend als permanente Neu-Kartografierung des Orients, worin die fortwährende Wirkungsmacht des Orientalismus deutlich wird.18 Manifestieren sich diese (neo)orientalistischen Grundhaltungen auch in Ausstellungspraxen im euro-amerikanischen Raum? Salah M. Hassan charakterisiert das verstärkte Interesse am Islam als eine nicht nur auf der politischen Arena praktizierte „kulturalistische Sichtweise des Islam“, sondern ein ebenso den Bereich der islamischen Kunst erfassendes, das von Museen und Kurator/innen dazu instrumentalisiert werde, die positiven Seiten eines „gemäßigten“ Islam vorzuführen.19 Das faszinierende 16 Vgl. Said, Edward W., Orientalism, New York 1978. 17 Vgl. Göckede, Regina/Karentzos, Alexandra, Einleitung: Der Orient, die Fremde, in: Dies. (Hg.), Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld 2006, 9–19, hier 10–11. 18 Beide Herausgeberinnen betonen, dass der Begriff Orient hier im Sinne einer semantischen und nicht essentiellen Kategorie verwendet wird. Der Untertitel „Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur“ sei als eine künstlerische und nicht geografische Fixierung zu verstehen, die auf die Konstruktion des Orients als fremder Ort und zudem auf die Verschränkung des Orients mit Weiblichkeit als Geschlechtsfremde verweist. Vgl. ebd., 11–12. 19 Hassan beschreibt hier eine, speziell nach 9/11 erstarkte westliche, spezifisch nordamerikanische Perspektive auf die „islamische Welt“, die qualitative Gegensätze zwischen „bösen“/terroristischen und „guten“/modernen/säkularen Muslim/innen innerhalb der USA aufbaut. Vgl. Hassan, Salah M., Zeitgenössische „islamische“ Kunst: Kuratorische Darstellungsstrategien im Westen in der Zeit nach dem 11. September, in: Dercon, Chris/Krempel, León/Shalem, Avinoam (Hg.), The Future of Tradition – The Tradition of Future, 100 Jahre nach der Ausstellung Meisterwerke muhammedanischer Kunst in München (Ausst.kat. Haus der Kunst, München), München 2010, 34–41, hier 34–35. Mit dem Begriff „kulturalistische Sichtweise des Islam“ rekurriert Hassan auf Mahmud

40 | Visuelle Identitäten und zugleich paradoxe Resultat sei „ein gesteigertes Interesse im Westen für Kunst der islamischen Welt bei gleichzeitiger Dämonisierung der Letzteren.“20 Zwei weitere nordamerikanische Wissenschaftler/innen, Jessica Winegar und Finbarr Barry Flood, vertreten die Meinung, dass westliche kulturelle Diskurse über islamische Kunst als Begleiterscheinung des „Krieges gegen den Terror“ und der öffentlichen Diplomatie in der Folge von 9/11 zu betrachten sind.21 Diese Beobachtungen sind partiell sicherlich auch für die europäische Kulturlandschaft relevant. Winegar hat richtig darauf hingewiesen, dass mit diesem westlichen Interesse nach einer Repräsentation der historischen und aktuellen künstlerischen Leistungen der „Muslim/inne/n“ die Reproduktion eines religiösen Bezugssystems einhergehen würde, „[…] such that their work is often interpreted with reference to Islam, whether or not there even exists a religious connection.“22 Feststellbar ist, dass auch innerhalb des Terrains einer erweiterten „Kunstzone“ die bereits erwähnten Kartografierungen (Göckede/Karentzos) und Orientalismen im Sinne von geografischen (und auch religiösen) Fixierungen und den daraus resultierenden Etikettierungen wie orientalisch, islamisch, arabisch und persisch/iranisch aufrecht bleiben. Nach Salah M. Hassan würde dieser Reihe von Oberbegriffen eine sehr fragliche Politik der Repräsentation zugrunde liegen, welche die tendenzielle Reduktion auf bestimmte „wesenhafte“ Erscheinungen wieder aktiviere.23 Im Kontext von Ausstellungen repräsentieren westliche Kunstinstitutionen künstlerische Produktionen aus dem besagten Raum häufig in starkem Konnex zu den jeweiligen landesinternen religiösen und politischen Umständen, wodurch andere Aspekte und Qualitäten der Kunstwerke vernachlässigt werden. Das Resultat sämtlicher groß angelegten, länderspezifischen Themenschauen, so Nat Muller in ihrem Aufsatz „Contemporary Art from the Middle East“, wäre eine problematische Homogenisierung anstelle einer Diversifizierung und einer Betonung aussagekräftiger, individueller künstlerischer Positionen. Zudem können kuratorische Selektionen eine Kanonbildung einleiten, die, basierend auf Alteritätskonstruktionen, sehr rasch als repräsentativ für künstlerische Produktionen einer bestimmten Region rezipiert werden: „The by-product of a ‚representative‘ approach – intentional or not – is that a canon is created. Art from the region is brought to Europe and the lens through which it is viewed – or the pre-conditioned gaze, if you will – is one of Otherness. Often particular topics are stressed, such as the position of women,

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Mamdani, der in erster Linie die Kultur (Modernität) und weniger den Markt (Kapitalismus) und Staat (Demokratie) als Trennungsgraben zwischen friedlichen Staatsbürger/innen und tendenziellen Terrorist/innen erachtet. Innerhalb dieser „kulturalistischen Sichtweise“ wird der Islam zu einer transzendenten Kategorie. Vgl. Mamdani, Mahmood, Good Muslim, Bad Muslim. America, The Cold War, and the Roots of Terror, New York 2004, 18. Hassan, Zeitgenössische „islamische“ Kunst, 35. Vgl. Winegar, Jessica, The Humanity Game. Art, Islam, and the War on Terror, in: Anthropological Quarterly, 81:3 (2008), 651–681; Flood, Finbarr Barry, From the Prophet to Postmodernism? New World Orders and the End of Islamic Art, in: Mansfield, Elizabeth (Hg.), Making Art History. A Changing Discipline and its Institutions, London 2007, 31–53. Winegar, The Humanity Game, 653. Vgl. auch: Hassan, Zeitgenössische „islamische“ Kunst, 36. Vgl. Hassan, Zeitgenössische „islamische“ Kunst, 35.

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(the lack of) democracy, and Islamic iconography. It thus often ends up institutionalizing which it aims to critique: a neo-Orientalist bazaar, where the goods become indistinguishable, because they are all exotic.“24

Auch Muller kritisiert anschließend den Fokus auf sozio-politische Faktoren, der multiplen Betrachtungs- und Interpretationsweisen der Exponate entgegensteuert und die Lesearten auf kollektive Stereotypen wie „exotisch“ alias arabisch/orientalisch etc. reduzieren würde. Der Kurator Tirdad Zolghadr spricht in diesem Zusammenhang von einer gezielten, sensationsfreudigen Politisierung als rhetorische Strategie des internationalen Kunstmarktes, nach welcher bestimmte Städte und Regionen als „Außenräume“ und Orte mit einer Aura politischer Wahrheit markiert würden.25 Ich schließe mich der Meinung Zolghadrs an, dass speziell auch die als „iranisch“ vermarktete Kunst tendenziell als politische Metapher oder Sinnbild eines geografisch verortbaren Referenzpunktes und weniger als Genre oder ästhetische Tradition interpretiert wird.26 Die häufig feststellbare Fixierung auf das geografisch-politische „Andere/Fremde“ fungiert mitunter sicherlich als wirksames Instrument, diese Kunst für eine breite Öffentlichkeit interessant und zugänglicher zu gestalten. Alma-Elisa Kittner nennt in ihrem Aufsatz „Nahe Ferne – ferne Nähe. Anmerkungen zu einem orientalistischen Topos in der zeitgenössischen Kunst“ weitere bedeutende Gesichtspunkte im Zusammenhang mit einer westlichen Perzeption des Orients im Kunstbetrieb. Ihrer Meinung nach sei speziell nach 9/11 eine geradezu inflationäre Verbreitung des Begriffspaares der „Fernen Nähe“ bzw. der „Nahen Ferne“ als Betitelung für Ausstellungen über den Orient feststellbar, die den als „Achse des Bösen“ diffamierten Staaten eine „aufklärende“ und differenzierte Sichtweise entgegenzusetzen intendierten.27 Die dichotome Titelwahl, die auf Goethes „West-östlichen Diwan“28 sowie Walter Benjamins Definition der Aura29 rekurriert, würde diesen Topos zu einem Klischee transformieren, das die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster des Orientalischen als „Fremdes“ verstärkt:

24 Muller, Nat, Contemporary Art in the Middle East, in: Sloman, Paul (Hg.), Contemporary Art in the Middle East, London 2009, 12–25, hier 14. 25 Vgl. Zolghadr, Tirdad, Framing Iran. Eine Genealogie für Katalog und Kaffeehaustisch, in: Merali­, Shaheen/Hager, Martin (Hg.), Entfernte Nähe. Neue Positionen iranischer Künstler (Ausst.kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin), Berlin 2004, 30–39, hier 36. 26 Vgl. ebd., 36. 27 Neben zahlreichen anderen Ausstellungen nennt Kittner auch jene mit dem Titel „Entfernte Nähe, Neue Positionen iranischer Künstler“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt 2004. Vgl. Kittner, Alma-Elisa, „Nahe Ferne“ – „Ferne Nähe“. Anmerkungen zu einem orientalischen Topos in der zeitgenössischen Kunst, in: Göckede, Regina/Karentzos, Alexandra (Hg.), Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld 2006, 139–163, hier 143. 28 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von, West-östlicher Divan (1819), Gesamtausgabe, Leipzig 1949. 29 Kittner bezieht sich auf Benjamins Definition der Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag“: Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1996, 15. Vgl. auch: Kittner, „Nahe Ferne“ – „Ferne Nähe“, 143, Fußnote 18.

42 | Visuelle Identitäten „Nah und fern zugleich ist vorzugsweise der Orient, daneben auch generell das ‚Östliche‘ oder auch das schlechthin ‚Andere‘. Doch auch das, was ‚anders‘ und/oder ‚östlich‘ ist, wird als Außereuropäisches und Fremdes gerade durch diese Wortwahl immer wieder neu hergestellt.“30

Das Begriffspaar, das nach Kittner etwas Bedrohliches markiert, hätte sich im Kontext der Debatten über den Islam nach 9/11 formiert und sei integraler Bestandteil eines Diskurses, der auch Bezeichnungen wie den „Schläfer“ (vermeintliche terroristische Migranten) als Sinnbild für die gefahrvolle Nähe einer gefährlichen fernen Kultur hervorgebracht hat. In dieser Hinsicht lasse sich auch die Art und Weise weiterer europäischer Diskussionen wie jene um den islamischen Schleier oder um den gescheiterten Multikulturalismus anführen. Innerhalb dieser begrifflichen Dichotomisierung wird dem Orient stets die Rolle als Stellvertreter für das Traditionelle, Rückständige und das „Ferne“ zugeschrieben. Im Anschluss an die lange kolonialistische Tradition einer Verschränkung des Orientalismus-Diskurses mit Weiblichkeitsimaginationen, so Kittner, zeige sich der Orient in seiner visuellen Inszenierung ganz explizit als die „weibliche Fremde“.31 Auch Salah M. Hassan zufolge lassen Titel sämtlicher einschlägiger Großausstellungen auf eine obsessive Thematisierung von Geschlechterbeziehungen schließen, deren Wurzeln in einer problembehafteten Repräsentationspolitik liegen und der Expansion eines ideologischen Neoorientalismus den Weg bereiten würden.32 Im Sinne der klassischen Rhetorik definiert Alma-Elisa Kittner das Klischee der „Nähe und Ferne“ auch als Paradoxon, da sich beide Begriffe zunächst nicht zusammendenken lassen.33 Die Instrumentalisierung kultureller Paradoxa gilt als eine weitere Strategie des internationalen Kunstbetriebs, die „die Einführung lokaler Kunst und Kulturgüter in den globalen Kreislauf erheblich erleichtert.“34 Das Neue, das Relevante, das repräsentative Beispiel für Hybridisierung und globalization in practice, so Zolghadr, sei durch ein Gemisch aus Östlich-Traditionellem und Westlich-Modernem gekennzeichnet.35 Kalligraphie und Digitalvideo oder Mullah mit Cheeseburger, die offensichtlich einen Gegensatz zwischen „mittelalterlich“ und „modern“ illustrieren, sind nur scheinbar neu und innovativ; erfolgt deren Interpretation als Paradoxon, das eigentlich konservativ konnotiert ist, wird jede kulturelle Veränderung zum Widerspruch, zur schizo­phrenen Merkwürdigkeit, so Zolghadr.36 Der Fokus auf kulturelle Paradoxa kann neben jenem 30 Kittner, „Nahe Ferne“ – „Ferne Nähe“, 144. 31 Vgl. ebd., 144 u. 147. 32 Der Autor führt hier eine Reihe von fraglichen Ausstellungstiteln im europäischen und nordamerikanischen Raum aus einem Zeitraum von 2003–2008 an, die den „Schleier“ der muslimischen Frau fokussieren. Vgl. Hassan, Zeitgenössische „islamische“ Kunst, 37. 33 Vgl. Kittner, „Nahe Ferne“ – „Ferne Nähe“, 144. 34 Zolghadr, Framing Iran, 35. 35 Vgl. ebd. Zolghadr verweist hier auf: Chakrabarty, Dipesh, Two Histories of Capital, in: Ders. (Hg.), Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000, 47–71, hier 49. 36 Vgl. Zolghadr, Framing Iran, 35. Paradoxa können jedoch auch Klischees unterwandern und als kritische Methode eingesetzt werden. Entscheidend dabei ist, wie und unter welchen Bedingungen dies bewerkstelligt werde. Vgl. Kittner, „Nahe Ferne“ – „Ferne Nähe“, 145.

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auf politische Implikationen wiederum als strategisches Instrument kultureller Institutionen erkannt werden. Mutmaßliche Kontraste und Konflikte zwischen Tradition und Modernismus, die sich nahezu perfekt in Stereotypenbildungen von islamischen Gesellschaften einreihen, fungieren wiederum als Interessensmagnet für ein Publikum, das sich somit in seiner bereits vorgefertigten Überzeugung bestätigt fühlen kann. Neben der Instrumentalisierung von Paradoxa gibt es einen weiteren Mechanismus, den der Professor für Iranische Studien und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University Hamid Dabashi mit den Begriffen Anthropologisierung bzw. Ethnologisierung umschreibt und sich dabei konkret auf Werke iranischer Künstler/innen bezieht: „Their work is being anthropologized. Their work is taken as indications of social, political, or ideological aspects. It is not that their art does not represent those aspects. It does. But there’s a difference between a work of art and a political manifesto.“37

Dabashis treffende Einschätzung einer Anthropologisierung von Kunst fügt sich als weitere Komponente in die Behauptung, dass im Zuge einer Rezeption und Interpretation dieser Werke andere wichtige Aspekte wie formale, stilistische und ästhetische Kriterien vernachlässigt werden. Im Zuge einer rein anthropologischen bzw. ethnologischen Perzeption wird das Werk auf einen quasi indexikalischen Stellvertreter für eine kollektive Kultur, Religion, Nation, Ideologie und Identität reduziert. Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass das Interesse von Kunstinstitutionen und Kunstmarkt an einer sogenannten „erweiterten Kunstzone“ gen Osten nach 9/11 zum einen klar ökonomisch und zum anderen stark politisch motiviert ist. Die eben diskutierten, bis dato (neo)orientalistisch konnotierten Repräsentationspolitiken (Hassan) in der Vermarktung und in Kunstausstellungen sind markante Begleiterscheinungen dieses Interesses. In dieser Hinsicht fungieren die genannten Faktoren quasi als Kehrseite der Medaille. Zugleich lassen sich aber auch positivere Aspekte wie etwa die Öffnung gegenüber marginalisierter Kunst(-zonen), die Gelegenheit für transkulturell orientierte, kunstwissenschaftliche Auseinandersetzungen oder die internationalen Vernetzungsmöglichkeiten für indigene Kunstschaffende und Institutionen nennen. Selbstverständlich sind aber auch diese Gesichtspunkte in machtpolitische Strukturen eingebettet und nicht unabhängig von diesen zu betrachten.

1.2 Begriffliche Unschärfen Der undifferenzierte sprachliche Gebrauch von gängigen Begriffen wie beispielsweise muslimische Welt, islamischer Kulturkreis, Vorderasien, Naher und Mittlerer Osten und 37 Es handelt sich um einen Auszug aus einem Interview mit dem Titel „Iranian Art: A Conversation with Hamid Dabashi“, das von Kirsten Deasy von RadioFreeEurope/RadioLiberty am 21. Mai 2010 geführt wurde: http://www.rferl.org/content/Iranian_Art_A_Conversation_With_Hamid_Dabashi/2048834.html [Stand: 06.04.2011].

44 | Visuelle Identitäten Orient erscheint ebenso heikel wie die Adjektive islamisch bzw. muslimisch in Verbindung mit moderner und zeitgenössischer Kunst der unterschiedlichen Länder. Diese Problematik trifft auch auf die iranische Kunst zu, da Iran häufig mit dem Islam verknüpft wird und dessen künstlerische Produktionen unter der Bezeichnung islamische Kunst subsumiert werden. Dieser begriffliche Usus rekurriert auf die Tatsache, dass Iran seit der Niederschlagung des Sassanidischen Reiches im Zuge der arabischen Expansion ca. Mitte des 7. Jahrhunderts islamisiert worden ist.38 Historisch fallen die architektonischen und künstlerischen Erzeugnisse Irans demnach in die Kategorie der „islamischen Kunstgeschichte“. Der Begriff islamische Kunst wurde von der westlichen Orientalistik im 19. Jahrhundert geprägt und hat sich im frühen 20. Jahrhundert durchgesetzt. Zudem birgt der Terminus die Vorstellung des „ewig Islamischen“, das unveränderlich, monolithisch, zeitlos und religiös konnotiert wäre, so die Kunsthistorikerin und Islamwissenschaftlerin Silvia Naef. Bei der arabischen und persischen Bezeichnung (al-fann al-islāmī und hunar-i islāmī) handelt es sich um Lehnübersetzungen aus europäischen Sprachen.39 Erst nach Oleg Grabars Publikation „Entstehung der islamischen Kunst“ im Jahr 1973 nahm eine differenzierte Debatte um den Ursprung und das „Wesen“ der islamischen Kunst ihren Anfang.40 Wie Grabar definiert auch Naef islamische Kunst als die hohe Kunst der zentralen islamischen Welt vom 7. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert, welche die Volkskunst und Artefakte peripherer Regionen meist ausschließt.41 Meiner Meinung nach bleibt es fraglich, ob die Kunstgeschichte Irans mit ihren lokalen und religiösen Spezifika historisch dem homogenisierenden Überbegriff islamische Kunst zugeordnet werden kann. Auch hinsichtlich der künstlerischen Produktionen in anderen Regionen der zentralen islamischen Welt bleibt eine kontextsensible Ausdifferenzierung der begrifflichen Kategorie ein Desiderat. Aufgrund der einsetzenden Modernisierungsprozesse und Industrialisierung im 19. Jahrhundert wurden Kunsthandwerk und traditionelle Techniken durch europäische verdrängt. Naef und Vernoit zufolge sei es demnach schwierig, die Kunstproduktionen der Region nach wie vor als islamische Kunst zu bezeichnen.42 Umbruchsmomente wie diese und die Orientierung an Europa sind in Iran zur Zeit der Qajaren (1794–1925) feststellbar. Die Problema38 637 nahmen die arabischen Streitkräfte die Hauptstadt Ktesiphon ein und schlugen die sassanidische Armee 641–42 in Nahavand. Der Großteil der Bevölkerung war allerdings bis zum 9. Jahrhundert nicht zum Islam konvertiert. Vgl. Curtis, Glenn E./Hooglund, Eric (Hg.), Iran. A Country Study, Library of Congress, Federal Research Division (Area Handbook Series), Washington D.C. 5 2008, 13–14. 39 Vgl. Naef, Silvia, „Moderne islamische Kunst“ – Überlegungen zu einem problematischen Begriff, in: Bruckstein Çoruh, Almut Sh./Budde, Hendrik (Hg.), Taswir. Islamische Bildwelten und Moderne (Ausst.kat., Martin-Gropius-Bau, Berlin), Berlin 2009, 26–30, hier 26. 40 Vgl. Grabar, Oleg, The Formation of Islamic Art, New Haven 1973. 41 Vgl. Naef, „Moderne islamische Kunst“, 26. 42 Vgl. ebd., sowie: Vernoit, Stephen, The Visual Arts in the Nineteenth Century Muslim Thought, in: Behrens-Abouseif, Doris/Vernoit, Sephen (Hg.), Islamic Art in the 19th Century, Traditions, Innovation and Eclecticism, Leiden/Boston 2006, 19–35.

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tik der Bestimmung der Moderne im Kontext der iranischen Kunst im 20. und 21. Jahrhundert wird in Kapitel 1.2.2. thematisiert. Festzuhalten bleibt zunächst, dass die Kunstproduktionen in diesem Zeitraum nicht mehr als islamische Kunst bezeichnet werden können. 1.2.1 „Moderne islamische/arabische Kunst“ In der Folge soll die Begriffsprägung moderne islamische Kunst skizziert werden. Die von der jordanischen Künstlerin und Diplomatin Wijdan Ali 1989 in London kuratierte Ausstellung trug den neutralen Titel „Contemporary Art from the Islamic World“; im Katalog wurden die Exponate jedoch als moderne islamische Kunst vorgestellt: Die drei charakteristischen Merkmale dieser Kunst sind, so Ali, dass die Künstler/innen eine westliche Ausbildung absolviert haben, dass sie auf der Suche nach ihrer Identität sind und ein Kommunikationsproblem in ihren eigenen Gesellschaften haben.43 In ihrem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1997 definiert sie den Begriff „Modern Islamic Art“ als einen enigmatischen, der sowohl in seiner Bezeichnung als auch in seiner Natur mehrdeutige Konnotationen in sich birgt: „On the one hand, the term modern conjures up a progressive, up-to-date condition. On the other hand, the word Islamic has overtones of tradition and religion, more relevant to the past than the present.“44 Interessanterweise nimmt die Autorin in dieser Publikation Iran ohne eine weitere (historische, linguistische oder religiöse) Differenzierung in ihre Länderliste auf und subsumiert ihn somit unter die relativ vage Bezeichnung „Modern Islamic Art“.45 Die US-amerikanische Kunsthistorikerin Nada Shabout hingegen differenziert zwischen islamisch und arabisch. Die Unterschiede sind mitunter darauf zurückzuführen, dass im Zuge der Arabischen Expansion nicht alle islamisierten Bevölkerungsgruppen der unterworfenen Regionen Arabisch als ihre Muttersprache annahmen. Die heutige Situation umschreibt sie wie folgt: „In fact, the majority of Moslems today belong to many diverse nationalities that remain outside the domain of the Arab world politically […].“46 Islamisch sei eine universale Bezeichnung innerhalb der muslimischen Welt, die hinsichtlich Religion, Kultur oder Zivilisation auf alle Regionen unter Einfluss des Islam zutreffe, während arabisch die Eigenschaft einer Metakultur sei, die Muslime/ innen und Nicht-Muslime/innen (bzw. auch Araber/innen und Nicht-Araber/innen) umfasse.47 Mit dem Begriff „Modern Arab Art“ operiert Shabout im Kontext einer postulierten „modernen arabischen Ästhetik“ und untersucht künstlerische Produktio­ nen arabischsprachiger Länder wie u. a. Ägypten, Irak und Syrien.48 Während Wijdan 43 Vgl. Ali, Wijdan (Hg.), Contemporary Art from the Islamic World (Ausst.kat. Barbican Art Gallery, London), London 1989, xii. 44 Ali, Wijdan, Modern Islamic Art. Development and Continuity, Gainesville/Florida 1997, XI. 45 Vgl. ebd., 77–84. 46 Shabout, Nada M., Modern Arab Art. Formation of Arab Aesthetics, Gainesville/Florida 2007, 4. 47 Vgl. ebd., 4. 48 Auch 2010 plädiert Shabout für den Begriff arabische moderne Kunst/„Arab Modern Art“: „Ich

46 | Visuelle Identitäten Ali iranische Kunst unter der Kategorie einer modernen islamischen Kunst subsumiert, nimmt Nada Shabout eine sprachliche Ausdifferenzierung vor, weswegen der persischsprachige Raum auch kein Gegenstand in ihrem Buch sein kann. Um wieder auf den Begriff moderne islamische Kunst und die Verbindung zur modernen/zeitgenössischen iranischen Kunst zurückzukommen, sind die Ausführungen von Silvia Naef von Interesse. Sie betont, dass die Unterscheidung zwischen moderner und islamischer Kunst mittlerweile auch in die jeweiligen nationalen Kunstgeschichtsschreibungen eingegangen sei. Zwar gäbe es vereinzelt Bestrebungen, bestimmte „klassische“ Genres der islamischen Kunst zu bewahren, jedoch seien diese Traditionen weitgehend aufgegeben worden und treten lediglich in Form von Zitaten in neuen Kunstformen auf.49 Naef zufolge sind dem Begriff moderne islamische Kunst zwei, nicht immer klar zu unterscheidende Grundvorstellungen inhärent. Zum einen wird diachron eine Kontinuität mit der historischen islamischen Kunst hergestellt, die sich heute in neuen Formen weiterentwickelt hat. Zum anderen wird synchron die Existenz einer „islamischen Weltkunst“ postuliert, die Muslim/innen global gemein sei. Die diachrone Vorstellung hinsichtlich einer Kontinuität der islamischen Kunst ist jedoch nicht gegeben, da unter diesem Begriff komplexe zeitliche, historische, geografische, stilistische und technische Merkmale subsumiert werden. Rückbesinnungen auf eigene Traditionen, so Naef, würden lediglich innerhalb der neuen Paradigmen auftreten, die sich durch die Modernisierungsprozesse zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert herausgebildet hätten. Hinsichtlich des synchronen Aspekts einer „islamischen Weltkunst“ stellt sich Naef die Frage, ob es in Anbetracht einer globalisierten Welt eine grenzüberschreitende „islamische Weltkultur und -kunst“ gibt, die den Islam von anderen Kulturen abgrenzt. Diese Idee wird oft von wertekonservativen Kreisen in islamischen Staaten getragen und scheint auch bei Kunstschaffenden der muslimischen Diaspora verbreitet zu sein. Naef definiert moderne islamische Kunst als kunsthistorischen Terminus als ein Konstrukt sowie eine neu erfundene Tradition, die durch die gegenwärtige weltpolitische Lage erklärbar sei. Diese Kategorisierung sei problematisch, da sie selten von Kunstschaffenden selbst vorgenommen werde und somit auf westliche Repräsentationspolitiken verweise.50 Im Ausstellungskatalog „Without Boundary“ (2006) hat die Kuratorin Fereshteh Daftari die Relevanz des Adjektivs islamisch in Bezug auf zeitgenössische Kunst in Frahabe unausgesetzt für eine kulturelle Einheit in der modernen arabischen Welt argumentiert, die selbst eine Fortsetzung der prämodernen historischen Einheit ist. […] Demnach fühle ich mich mit dem Ausdruck ‚arabische Kunst‘ wohl (Shabout 2007a). Ich definiere diese Kunst lose als etwas, das einer ästhetischen Formel folgt, die modern ist und sich von jener islamischen Kunst unterscheidet, und das eine Vielheit von Experimenten und Visionen umfasst, die durch eine bewusste Aushandlung kultureller Elemente vereint wird.“ Shabout, Nada, Die Herausforderung der arabischen modernen Kunst, in: Dercon, Chris/Krempel, León/Shalem, Avinoam (Hg.), The Future of Tradition – The Tradition of Future, 100 Jahre nach der Ausstellung „Meisterwerke muhammedanischer Kunst“ in München (Ausst.kat., Haus der Kunst München), München 2010, 42–49, hier 44. 49 Vgl. Naef, „Moderne islamische Kunst“, 28. 50 Vgl. ebd., 30.

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ge gestellt: „We often think of artists in terms of their origins, even when much of their life and work takes place elsewhere. This is problematic with artists from the Islamic world […].“51 In Anbetracht der komplexen Region der sogenannten islamischen Welt, die sich von Indonesien bis hin zur Atlantikküste Afrikas erstreckt, sei die Kategorie zeitgenössische islamische Kunst für die künstlerischen Produktionen dieses Gebietes vereinfachend und reduzierend, so als würde man die Kunst der gesamten westlichen Hemisphäre als zeitgenössische christliche Kunst bezeichnen. Die klassischen Traditionen der islamischen Kunst wie u. a. Kalligraphie, Miniaturmalerei und Teppichkunst, die westlichen Betrachter/innen die Identifizierung des Werkes mit dem Label islamisch ermöglichen, würden in der zeitgenössischen Kunst zunehmend nicht mehr aufrechterhalten werden. Somit sei der Terminus islamische Kunst, der ursprünglich eine westliche Erfindung und ein Synonym für traditionelle Kunstformen sei, für die Gegenwartskunst nicht länger adäquat.52 Interessanterweise waren in der Ausstellung „Without Boundary“ insgesamt auch fünf iranische Diaspora-Künstler/innen53 vertreten. Folgt man Daftaris Kritik am unreflektierten Gebrauch des kategorialen Überbegriffs zeitgenössische islamische Kunst, lässt sich folglich auch die iranische Gegenwartskunst diesem nicht unterordnen. Der Begriff zeitgenössische islamische Kunst ist also nicht dazu geeignet, moderne oder zeitgenössische iranische Kunst zu bezeichnen. 1.2.2 Moderne und zeitgenössische iranische Kunst: Ein Versuch der Charakterisierung Moderne und zeitgenössische iranische Kunst kann den problematischen begrifflichen Konstrukten moderne arabische Kunst oder moderne/zeitgenössische islamische Kunst nicht zugeordnet werden. In Abgrenzung zu diesen kategorialen Homogenisierungsversuchen kritisiert der iranische Künstler Barbad Golshiri eine Ankündigung der Saatchi Gallery für die 2009 abgehaltene Ausstellung „Unveiled: New Art from the Middle East“, die der „florierenden zeitgenössischen arabischen Kunstszene“ gewidmet war: „Where does ,the flourishing contemporary Arabic art scene‘ come from when eleven of the twenty-one artists are Iranians?“54 Zudem, so Golshiri, fungiere arabisch als Hauptsignifikant, der imaginative geografische Räume und die komplexen historischen Realitäten des sogenannten Nahen Ostens durch Symbolisierungen vereint: „Since the ,Middle East‘ does not exist in a geographical space but only on an ideological plane, and is more concrete than the heap of its referents, eventually it is unified and identified through the agency of a master-signifier: ,Arab‘ is there to unify dissimilar historical realities through symbolization.“55 51 Daftari, Fereshteh, Islamic or Not, in: Frankel, David (Hg.), Without Boundary. Seventeen Ways of Looking (Ausst.kat., Museum of Modern Art, New York), New York 2006, 10–27, hier 10. 52 Vgl. ebd., 10. 53 Auf den Begriff der Diaspora im Kontext der zeitgenössischen iranischen Kunst wird in Kapitel 1.2.3. eingegangen. 54 Golshiri, Barbad, For They Know What They Do Know, in: MacInnes, Neal/Khatibi, Marina/ McNamara, Josh (Hg.), Journal #3 1:3 (2011), 82–91, hier 86. 55 Ebd., 86f.

48 | Visuelle Identitäten Nachdem argumentiert worden ist, dass moderne/zeitgenössische iranische Kunst nicht mit den fraglichen Etiketten arabisch oder islamisch vereinbar ist, soll die Bedeutung der Adjektive „modern“ und „zeitgenössisch“ in Bezug auf iranische Kunst analysiert werden. Diese Untersuchung folgt nicht der Intention, die Modernität oder das Zeitgenössische der künstlerischen Produktionen in Abrede zu stellen. Vielmehr geht es darum, die begrifflichen Konnotationen aus der Perspektive der iranischen Kunstgeschichte aufzuzeigen. Der historische Rückblick auf die künstlerischen Strömungen in Iran des 20. Jahrhunderts fungiert als Basis für einen Charakterisierungsversuch der zeitgenössischen Kunst. Diese Kontextualisierung ist zudem für den thematischen Fokus der Studie bedeutend, da die Debatten um eine genuin „iranische Identität“ der künstlerischen Produktionen im Zuge des europäischen Einflusses zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzten. Die Diskussionen, die sich mit der Frage nach den Spezifika iranischer Kunst auseinandersetzen, manifestieren sich auch in aktuellen theoretischen Diskursen und lassen sich mit künstlerischen Selbstinszenierungen und der damit verbundenen Identitätsthematik verknüpfen. In seinem Aufsatz „Modern and Contemporary Iranian Art: Developments and Changes“ skizziert der iranische Kunsthistoriker Hamid Keshmirshekan diverse landesinterne Entwicklungsstränge im 20. und 21. Jahrhundert.56 Die Modernisierung und der Einfluss der europäischen Moderne auf die indigene iranische Kunst setzte während der qajarischen Periode (1795–1925) ein und intensivierte sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Während die Schule des Kamal al-Mulk (alias Mohammad Ghaffari) mit ihren Adaptionen europäischer Kunst wie dem naturalistischen Stil die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts maßgeblich dominierte, kam es gleichzeitig zu einer Revitalisierung der traditionellen persischen Miniaturmalerei, die während der Regentschaft von Reza Schah Pahlavi (1925–1941) gefördert wurde.57 Die Bezeichnung „Modern Art Movement“ bzw. „Iranian modernists“ führt Keshmirshekan erst für den Zeitraum von 1940–1950 ein, in dem sich moderne stilistische Strömungen wie Impressionismus, Expressionismus bis hin zu Kubismus und abstrakte Kunst verbreiteten. Zudem wurden zahlreiche Romane, Gedichte und philosophische Werke ins Persische übersetzt. Der steigende euro-amerikanische Einfluss bot jedoch auch Anlass für mehrfache Debatten unter iranischen Intellektuellen: „The sensibilities of modernism also had to be balanced against a growing preoccupation with identity. National sentiment motivated the young artists to refer to their roots and to seek an understanding of the national culture.“58 Der Prozess der Identitätsfindung und die Suche nach einer Nationalkunst äußerte sich bei den Modernisten in dem Versuch einer „Iranisierung“ 56 Vgl. Keshmirshekan, Hamid, Modern and Contemporary Iranian Art. Developments and Challenges, in: Amirsadeghi, Hossein (Hg.), Different Sames. New Perspectives in Contemporary Iranian Art, London 2009, 10–37. Vgl. auch folgenden Artikel zur iranischen Kunst des 20. Jahrhunderts: Pakbaz, Ruyin, Contemporary Art of Iran, in: Tavoos Quaterly 1 (1999), http://www.tavoosonline. com/Articles/ArticleDetailEn.aspx?src=75&Page=1 [Stand: 20.07.2012]. 57 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 10–12. 58 Ebd., 15.

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der Kunstwerke, um sich von anderen (nicht-iranischen) Künstler/innen abzusetzen und als „iranische“ identifiziert zu werden. Diese Tendenz, traditionelle Bildmotive mit verschiedenen, modernen Stilrichtungen zu kombinieren, erfuhr innerhalb der folgenden Dekaden eine Intensivierung59 und ist auch in der zeitgenössischen Kunst ein wesentlicher Diskussionspunkt. Die zweite Phase der modernen iranischen Kunst datiert Keshmirshekan in den Zeitraum von Mitte der 1950er- bis in die 1970er-Jahre. Hand in Hand mit dem nationalistischen und nativistischen Zeitgeist ging eine Auseinandersetzung mit Identitätsfragen, die in einer Verbindung von präislamischen Elementen und islamisch-schiitischem kulturellen Erbe mit westlichen Kunstsprachen mündete. Unter Mohammad Reza Schah Pahlavis Regentschaft (1941–1979) wurde von offizieller Seite versucht, eine „formelle Kunst“ als Basis für eine nationale Kunstschule zu etablieren. Zudem wurde die Anpassung an Strömungen der euro-amerikanischen Kunstszene verfolgt, während das Hauptaugenmerk zugleich auf die nationale und iranische Identität gelegt wurde.60 Der iranische Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Künstler Ruyin Pakbaz führt an, dass diese Kulturpolitik für die Herausbildung einer dekorativen Kunst mit einem formalen Bezug zu iranischen Bildtraditionen verantwortlich war.61 Die Etablierung der Teheraner Biennale ab 1958 trug maßgeblich zur Popularisierung der modernen iranischen Kunst bei. Die avantgardistische und neotraditionalistische „Saqqa-khaneh“ war die berühmteste künstlerische Bewegung der 1960er, die Motive aus der Volkskultur, schiitische Votivkunst und dekorative Elemente mit zeitgenössischen westlichen Kunststilen (speziell der abstrakten Kunst) kombinierte.62 Die Künstler der „Saqqa-khaneh“ strebten eine Synthese aus „modern“ und „traditionell“ an, die den iranischen Charakter exemplifizieren sollte.63 Weitere Strömungen der pluralistischen Kunst der 1970er-Jahre, die sich mit Identitätsfragen beschäftigten und einen modernistischen Zugang mit traditionellen Materialien verbanden, waren folgende Bewegungen: Easternism, Gnosticism und Naqqashi-khatt (kalligraphische Malerei). Zudem wurde durch die Eröffnung von bedeutenden kulturellen Institutionen wie dem Niavaran Cultural Center (1978) und vor allem dem Tehran Museum of Contemporary Art (1977) eine neue Phase für die iranische Kunst eingeleitet. Mit der Islamischen Revolution im Jahr 1979 fanden die in der Pahlavi-Ära proklamierten, modernisierenden und nationalistischen Doktrine ein jähes Ende und wichen einer, auf revolutionären Bestrebungen und ideologischen islamischen Traditionen basierenden Kunst. Moderne und Modernismus wurden wegen ihres als elitär diffamierten Charakters und ihrer Unfähigkeit, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, abgelehnt. Die propagandistische, von der neuen Regierung gestützte Revolutionskunst orientier59 60 61 62

Vgl. ebd. Vgl. ebd., 16. Vgl. Pakbaz, Ruyin, Encyclopaedia of Art, Teheran 1999, 594. Zur „Saqqa-khaneh-Schule“ vgl.: Keshmirshekan, Hamid, Neo-traditionalism and Modern Iranian Painting. The Saqqa-khaneh School in the 1960s’, in: Iranian Studies 38:IV (2005), 607–630. 63 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 19.

50 | Visuelle Identitäten te sich stilistisch am Sozialistischen Realismus (wie vergleichsweise in der ehemaligen Sowjetunion, Mexiko und Kuba) und kombinierte politisierende Inhalte (Revolution), symbolische schiitische Elemente (Märtyrertum, religiöse Führer wie Ayatollah Khomeini­) mit einer vereinfachten, allgemein verständlichen, realistischen Ausdrucksweise. Die in Form von Plakaten, Briefmarken und Wandbildern verbreitete Kunst erlangte zunehmende Popularität und Akzeptanz in der Öffentlichkeit und bestimmte die erste Dekade nach der Revolution während des Iran-Irak-Krieges 1980–1988. Im Zuge der kulturellen Revolution im Jahr 1980 wurde das Ministerium für islamische Führung (ab 1987: Ministerium für Kultur und islamische Führung) etabliert, das die Aktivitäten der Kunstinstitutionen bestimmte und eine ideologisierende Kunst stützte, die den offiziellen Interessen der Islamischen Republik Iran folgte.64 Die Periode ab den späten 1970er- bis in die frühen 1990er-Jahre beschreibt Keshmirshekan wie folgt: „The post-Revolution years saw art custodians enthusiastically promoting traditional cultural values and looking to forge an Irano-Islamic art quite distinct from Western art – without, however, advocating any specific theoretical or practical principles or models.“65

Kunstschaffende, die sich der traditionellen islamischen Kunst, wie beispielsweise der Miniaturmalerei, Kalligraphie (Naqqashi-khatt), Kaffeehausmalerei und klassischen Poesie widmeten, waren nach Ansicht des Regimes „wahre“ Repräsentanten der sogenannten „Irano-Islamischen Kunst“. Mit Ende des Krieges 1988 setzte durch die von wiedereröffneten privaten Galerien ausgestellte, nicht-ideologische und nicht-politische Kunst eine weitere Phase ein. Wichtige Impulse für die Kunst lieferten neue Geisteshaltungen im Zuge der Umbruchsstimmung in den frühen 1990er-Jahren. In dieser transitiven Phase stand wiederum die Frage nach der kulturellen/künstlerischen Identität im Vordergrund und wie diese vom massiven Einfluss durch die westliche Kultur bewahrt werden könnte. Gleichzeitig gab es jedoch auch Bestrebungen, an der internationalen Kunstszene zu partizipieren. Von offizieller Seite wurde nach wie vor an einem aktiven Widerstand gegen kulturelle Globalisierung und Verwestlichung festgehalten, der sich in Werten wie der kulturellen Authentizität, historischen Spezifität und spezifisch irano-islamischen schiitischen Traditionen äußerte. Die Ambivalenz dieser Bestrebungen bestand darin, eine Art von Balance zwischen der Positionierung Irans in einen internationalen, globalen Kontext und der gleichzeitigen Abwehrhaltung gegenüber westlichen Einflussnahmen zu halten. In dieser Phase des postrevolutionären Modernismus in den 1990er-Jahren kam es zu einer, wenn auch leicht modifizierten Wiederholung von Anliegen der Künstler/innengeneration der 1960/70er, da traditionelle Bildmotive in realistischem Stil bevorzugt wurden. Aus intellektueller Sicht hielt man wiederum an einer kreativen Verbindung zeitgenössischer Kunstsprachen mit traditionellen Materialien 64 Vgl. ebd., 23–27. 65 Ebd., 28. Zur postrevolutionären iranischen Kunst vgl. auch: Keshmirshekan, Hamid, Discourses on Postrevolutionary Iranian Art. Neo-traditionalism during the 1990s’, in: Muqarnas 23 (2006), 131–157.

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fest, wobei aktuelle Themen die Hauptrolle spielen sollten.66 Diese Debatten innerhalb der bildenden Kunst waren auch für kulturwissenschaftliche und philosophische Ansätze der frühen 1990er-Jahre zentral. Der iranische Indologe und Philosoph Daryush Shayegan beschrieb in seiner 1992 erschienenen Publikation „Cultural Schizophrenia“ die mentalen Deformationen von traditionellen Zivilisationen, die von globalen Transformationsprozessen und Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden, wodurch sich die Adaption der Moderne bzw. modernistischer Tendenzen erschwert habe. Dieser Konflikt zwischen zwei differenten Wissenssträngen – nämlich Tradition und Moderne – birgt mögliche Potenziale, kann jedoch auch zum Scheitern führen: „If accepted consciously, lucidly, without resentment, this ambivalent situation can be enriching; it can amplify the registers of our learning and broaden our sensibility. But the same ambivalence, when sheltered from the critical field of knowledge, causes mental blocks and lacunae, multilates perceptions and (in the manner of a broken mirror) fragments realities and mental images alike.“67

Eine dritte Phase der postrevolutionären Kunst wurde 1997 mit der Präsidentschaftswahl von Mohammad Khatami eingeleitet, die einen Wendepunkt für die iranische Kunst und Kultur markierte. Der Zeitraum bis 2005 ist durch das Aufkommen einer neuen Künstler/innengeneration, die sogenannte „New Art“-Bewegung, und neue Medien gekennzeichnet. Die Kontroll- und Zensurmaßnahmen der Regierung im Kontext der bildenden Kunst erfuhren eine bestimmte Auflockerung und Liberalisierung. Während dieser Periode, in der Ausstellungen zeitgenössischer iranischer und internationaler Kunst sowie Biennalen organisiert wurden, setzten theoretische Reflexionen über zeitgenössische Kunst ein.68 Die im Jahr 2001 etablierte, eher konservative Iranian Academy of Arts fokussierte in ihrem Ausbildungsprogramm sowohl traditionelle und zeitgenössische islamische Kunst als auch „iranische“ und „östliche“ Kunst, während sie „internationale“ – wohl eher westliche Kunst – als weniger wichtig erachtete.69 Dennoch verbreiteten sich neue künstlerische Ausdrucksformen wie Video, Installation und Kunstfotografie, die unter der Bezeichnung „New Art“ subsumiert wurden und hauptsächlich von einer jungen Generation von Künstlern und vor allem Künstlerinnen aufgegriffen wurden, die ihre Identität weniger im Kollektiv als in ihren eigenen Biografien innerhalb einer sich radikal verändernden Gesellschaft verortete. Diese Generation lehnte revolutionäre oder ideologisch-religiöse staatliche Konventionen ab und verhielt sich gegenüber Traditionen und kulturellen Werten kritisch. Die Verankerung in der internationalen zeitgenössischen Kunstszene resultierte aus der Beteiligung iranischer Künstler/innen an den 66 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 28–29. 67 Shayegan, Daryush, Cultural Schizophrenia. Islamic Societies Confronting the West, übers. v. J. Howe, London 1992, vii. 68 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 33. 69 Vgl. ebd., 35. Zit. nach: Jalali, R., guft-u-gu ba ductur Namvar Motlagh dabir-i farhangistan-i hunar: tafakkuri khas nisbat beh jahan-i islam, Sharq [Tageszeitung], ccclxxxii (1383/2005), 14.

52 | Visuelle Identitäten zahlreichen Ausstellungen und Biennalen rund um den Globus und dem steigenden Interesse des Kunstmarktes. Die Periode nach der Präsidentschaftswahl von Mahmoud Ahmadinejad im Jahr 2005 markierte einen weiteren Umbruch, deren offizielle Haltung gegenüber der Kunst der ersten Phase der postrevolutionären Kunst nach der Islamischen Revolution ähnelte. Wiederum wurden traditionelle, islamische und revolutionäre Ideologien sowie eine gesteigerte Xenophobie gegenüber dem Westen verbreitet.70 Mohammad Hossein Imani Khoshkhoo, der Vertreter des Ministeriums für Kultur und Islamische Führung, proklamierte 2007 eine notwendige, religiöse Indienstnahme von Kunst: „In the ninth gouvernment artistic matters and concepts have been illuminated by religion. With this, art will be distributed among the public from isolation.“71 Die erneute und umstrittene Wiederwahl Ahmadinejads im Jahr 2009, die in mehreren iranischen Städten heftige Proteste und Demonstrationen der sogenannten „Grünen Bewegung“ auslöste, brachte keine Veränderungen der offiziellen kulturpolitischen Richtlinien mit sich. Zahlreiche Künstler/innen lehnen diese Doktrinen jedoch ab und konzentrieren sich auf internationale Diskurse der zeitgenössischen euro-amerikanischen Kunst. Auch scheinen für sie die Debatten um eine „authentische“ Identität, wie sie während der 1960er- und 1970er-Jahre geführt worden sind, nicht länger relevant zu sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ersten umfassenden Adaptionen von westlichen Kunstströmungen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgten. Die von Mohammad Ghaffari (alias Kamal ol-Mulk) 1911 gegründete, erste iranische Kunstakademie, die „Madrasa-i Sanayi’-i Mustazrafa“, hat mit der Verbreitung eines akademisch-naturalistischen Stils die Moderne in Iran eingeleitet. Neben den Modernisierungsstrategien unter Reza Schah Pahlavi (1925–1942) kam zu einer gleichzeitigen Revitalisierung der traditionellen persischen Malerei. In den 1940er- und 1950er-Jahren ist mit dem Aufgreifen des Impressionismus, Expressionismus, Kubismus und der abstrakten Kunst die Genese einer ersten Phase moderner künstlerischer Bewegungen zu verzeichnen, während sich die Suche nach der eigenen Identität in einer „Iranisierung“ der Kunstproduktionen manifestierte. Auch Pakbaz zufolge markiert diese Periode den Beginn der Geschichte für die gegenwärtige iranische Kunst.72 Die zweite Phase des Modernismus datiert Keshmirshekan in den Zeitraum von Mitte der 1950er bis in die 1970er, während Pakbaz das Jahr 1958, in dem die erste Biennale in Teheran abgehalten wurde, als Beginn einer neuen Ära für die zeitgenössische iranische Kunst nennt.73 Die Versuche einer Anpassung an euro-amerikanische Stilrichtungen und die Betonung von nationalen iranischen Bildmotiven mündete u. a. in der indigenen, modernen Kunstbewegung der „Saqqa-khaneh“ in den 1960ern. Mit der 70 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 35–37. 71 Ebd., 37. Zit. nach: Khoshkhoo, Mohammad Hossein Imani, Seminar on Revolutionary Art, abgehalten an der Iranian Academy of Arts 2007. 72 Vgl. Pakbaz, Contemporary Art of Iran. 73 Vgl. ebd.

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Islamischen Revolution 1979 erfolgte eine Zäsur, die in einer plakativen, ideologisierend-propagandistischen, revolutionären Kunst in der Art eines Sozialistischen Realismus kulminierte und bis in die erste Phase der postrevolutionären Kunst während des Iran-Irak-Krieges (1980–1988) anhielt. In diesem Zeitraum hielt die konservative Kulturpolitik an Begriffen wie „islamisch“, „irano-islamisch“ bzw. „irano-islamisch-schiitisch“ fest. In der zweiten Phase der postrevolutionären Kunst (1988–1997) ist eine gewisse Öffnung gegenüber internationalen, zeitgenössischen Tendenzen feststellbar. Dennoch resultierte aus der wieder aufgenommenen Suche nach der eigenen Identität und dem Festhalten an Werten der „irano-islamischen“, schiitischen Traditionen ein Neotraditionalismus, der mit den stilistischen Ausprägungen der 1960/70er vergleichbar ist. Auch in der Ära der dritten Phase der postrevolutionären Kunst unter der Präsidentschaft Khatamis (1997–2005), die durch eine Öffnung gegenüber der internationalen zeitgenössischen Kunst und dem Aufkommen von einer neuen Künstler/ innengeneration und neuen Medien markiert ist, kursierten konservative Diskurse, die eine Hinwendung zur „islamisch-traditionellen“ bzw. „islamisch-zeitgenössischen“ Kunst proklamierten. Offizielle Richtlinien wie diese sollten sich ab 2005, in der sozusagen vierten Phase der postrevolutionären Kunst, mit der Präsidentschaftswahl von Ahmadinejad fortsetzen und massiv verstärken. Es ist auffällig, dass die iranische Kunst seit Beginn ihrer „Modernisierung“ und der einsetzenden westlichen Einflüsse durch sich wiederholende Dichotomien zwischen kultureller/künstlerischer Authentizität und internationalen Positionierungsversuchen gekennzeichnet ist. Die Identitätssuche mündete immer wieder in der Rückkehr zu autochthonen und indigenen künstlerischen Motiven und Praktiken, die mit modernen westlichen stilistischen Strömungen kombiniert wurden. Bezeichnungen wie „islamisch“, „irano-islamisch“ bzw. „irano-islamisch-schiitisch“ wurden und werden zumeist im Zuge einer konservativen, ideologisierenden Kulturpolitik verwendet. Im Kontext eines Beschreibungsversuches der iranischen (und nicht offiziell-staatlichen) Gegenwartskunst scheinen religiös konnotierte Begriffe wie diese irrelevant zu sein. In seiner kritischen Betrachtung des Begriffs „modern“ räumte Pakbaz 1999 und 2006 ein, dass es trotz der zahlreichen Versuche bis jetzt nicht möglich gewesen sei, eine kohärente und umfassende künstlerische Bewegung in Iran zu etablieren, die neue ästhetische Modelle einführen hätte können: „The reason for this situation must be sought not only in indiscriminate emulation and copying, but also in shortcomings resulting from the failure of Modern art to become institutionalized in the Iranian society. For the same reason, such factors as political changes, governmental policies, the views of foreign circles and the marker’s tastes have affected the evolution of contemporary art more than inner stimuli and aspirations.“74 74 Pakbaz, Contemporary Art of Iran. Vgl. auch folgendes Statement in Form einer Videoaufzeichnung: Pakbaz, Ruyin, In Quest of Identity, Statement (8:41 min), in: Wintsch, Susanne/Forouhar, Parastou (Hg.), Analysing While Waiting (For Time To Pass). Contemporary Art In Tehran, TREIBSAND, DVD Magazine on Contemporary Art 1(2006).

54 | Visuelle Identitäten Neben seiner Kritik an den fehlenden landesinternen Impulsen für eine Entwicklung der zeitgenössischen iranischen Kunst skizziert Pakbaz die Problematik der Modernisierungsprozesse und das daraus resultierende Spannungsfeld zwischen Traditon und Modernismus wie folgt: „We had no deep knowledge of our own tradition, nor did we grasp modernism, its history, philosophy, etc. […] Over the years efforts have been focused on modernization, without experiencing modernity.“75 Aufgrund dieser fehlenden Internalisierung der Moderne sei es auch hinfällig, zeitgenössische künstlerische Bewegungen als „modern/postmodern“ zu bezeichnen: „For this reason I believe that ,new‘ Iranian art works should not be called ,modern‘, and therefore it would also be wrong to use the label ,postmodern‘ for the most recent multimedia trends. These new artistic tendencies are based on Western modernism, but they are not really part of it.“76

Das Neue an der Kunst, so Pakbaz, resultiere weniger aus der internen Evolution oder Weiterentwicklung einer längst an Kraft verlorenen Tradition, sondern vielmehr aus den neuen gesellschaftlichen Bedürfnissen. Im Kontrast zur bildenden Kunst hätte die persische Poesie mit ihrer Kombination aus klassischen Formen und aktuellen Themen überzeugendere Ergebnisse im 20. Jahrhundert geliefert: „The visual arts, on the other hand, try to imitate modern styles or to squeeze traditional elements into modern forms. The new poetry surpasses tradition, while painting and sculpture use it as a source of identity. […] Following modernist principles, Iranian artists tended to choose an aesthetic based on visual and purely formal approaches. This gap between form and content ignores the historical interplay between art and literature in Iran.“77

Seine Kritik an der Diskrepanz zwischen Form und Inhalt bezieht Pakbaz ebenso auf eine jüngere Künstler/innengeneration der letzten 10–15 Jahre, die mit ihrem Aufgreifen von neuen Medien ebenso wenig „moderne“ Ideen verfolgen würde. In ihrer Auflehnung gegenüber früheren Kunstrichtungen, Kunsterziehung und dem generellen Satus quo würde sie dieselben „Fehler“ begehen wie die erste Generation iranischer „Modernisten“ und deren Reaktion auf die Moderne.78 Pakbaz lehnt also die Begriffe „modern“ und „postmodern“ für eine Bezeichnung der gegenwärtigen iranischen Kunst ab.79 Den Terminus „zeitgenössisch“ scheint er, wie auch andere iranische Autorinnen und Autoren, für künstlerische Produktionen im Bereich der bildenden Kunst zu verwenden, die von Zeitgenoss/innen hergestellt wurden/werden, wenn der Begriff nicht in Bezug auf einen zurückliegenden Zeitrahmen definiert wird.80 Keshmirshekan­ 75 Pakbaz, In Quest of Identity. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Vgl. ebd. 79 Interessanterweise verwendet er in dem zitierten Statement in persischer Sprache Derivative aus europäischen Sprachen wie honar-e modern bzw. honar-e postmodern (moderne bzw. postmoderne Kunst). 80 Vgl. folgende Auswahl: Pakbaz, Contemporary Art of Iran; Pakbaz, Ruyin, Contemporary Iranian Painting and Sculpture, übers. v. S. Melkonian, Teheran 1974. Vgl. u. a. auch folgende Auswahl

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verortet die Auseinandersetzung und Identifikation mit dem Zeitgenössischen in den Zeitraum von 1997–2005, der durch das Aufkommen der sogenannten „New Art“ (Video, Installation, Foto- und Tonkunst, Environment, Performance etc.) gekennzeichnet ist.81 In einem weiteren Artikel82 nennt er mit dem „Zeitgenössischen“ und/oder „Spezifischen“ zwei Faktoren in der iranischen Gegenwartskunst, die eng mit der Frage nach nationaler und kultureller Identität verbunden sind: Zum einen handelt es sich dabei um die Vorstellung vom Zeitgenössischen, die darauf basiert, dass die postmoderne Bildsprache eine fragmentierte und hybridisierte ist und von einer dritten Generation iranischer Künstler/innen (geb. nach 1979) aufgegriffen wird. Zum anderen ist das Spezifische ein weiterer Aspekt, der das Interesse von Kunstschaffenden an soziokulturellen Besonderheiten in iranischen Kontexten beschreibt. Somit wird die Frage nach der Möglichkeit einer künstlerischen Praxis aufgeworfen, die zugleich zeitgenössisch und global sowie indigen und spezifisch ist.83 Ausgehend von Terry Smith, der das Zeitgenössische als komplexes Konzept einer vielfältigen, sich modifizierenden Zeithaftigkeit definiert, das gegenwärtige Spannungen und aktuelle, rivalisierende Universalismen sowie neue Wahrnehmungsmöglichkeiten des Gegenwärtigen umfasst84, gelangt Ke­ shmirshekan zu einer Charakterisierung der zeitgenössischen iranischen Kunst. Diese ist durch eine heterogene Struktur gekennzeichnet, die aus der Inkorporation von euro-amerikanischen Elementen, der selektiven Adaption von bereits existierenden Kunstformen und dem Versuch einer Etablierung einer lokalisierten Kontemporanität bestehe. Die Phase der zeitgenössischen Kunst setzte 1997 mit der Präsidentschaftswahl Khatamis ein und wurde maßgeblich von der dritten Generation iranischer Künstler/ innen getragen.85 Die Auseinandersetzung mit dem Zeitgenössischen spiegelte sich in den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten visueller Mittel wider, um die eigene Präsenz in der Zeit zu befragen, zu definieren und aufzuzeichnen: „Within this contemporaneity, they seek to identify with, and represent, what it is to live in the contemporary moment. The artists then justify the cross-cultural nature of contemporary art as being relevant to the globalizing era.“86

81 82 83 84 85 86

an Publikationen: Yarshater, Ehsan, Contemporary Persian Painting, in: Ettinghausen, Richard/ Yarshater, Ehsan (Hg.), Highlights of Persian Art, New York 1969, 362–377; Sadegh, Mina, Contemporary Persian Art. Expression of Our Time (Ausst.kat. Pacific Asia Museum, Passadena), Passadena 1984; Mojabi, Javad, Pioneers of Contemporary Persian Painting. First Generation, übers. v. K. Emami, Teheran 1997; Issa, Rose/Pakbaz, Ruyin/Shayegan, Darysuh (Hg.), Iranian Contemporary Art (Ausst.kat. Curve Gallery, Barbican Art Center, London), London 2001. Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 33. Vgl. Keshmirshekan, Hamid, Contemporary or Specific. The Dichotomous Desires in the Art of Early Twenty-First Century Iran, in: Middle East Journal of Culture and Communication 4 (2011), 44–71. Vgl. ebd., 44. Vgl. Smith, Terry, Contemporary Art and Contemporaneity, in: Critical Inquiry 32 (2006), 681– 707, hier 703–704. Vgl. Keshmirshekan, Contemporary or Specific, 45–46. Ebd., 45.

56 | Visuelle Identitäten Mit der Verbreitung der „New Art“ und der Konzeptkunst ab 2000 lehnte der Großteil der dritten Generation Vorstellungen einer kulturellen Spezifität und eines indigenen Ausdrucks in der Kunst ab. Spezifität manifestiere sich ihrer Meinung nach weniger in der Wiederholung von Klischees und in den Referenzen an bildliche Traditionen der „irano-islamischen“ Vergangenheit, sondern in verschiedenen Formen des Selbstausdrucks und der Selbstdarstellung.87 Diese Kunst hatte, so Keshmirshekan, zudem das Potenzial, alternative Perspektiven auf iranische Identität in einer zunehmend von Globalisierungstendenzen gekennzeichneten Welt zu entwickeln.88 In einem seiner beiden Beiträge in dem 2011 erschienenen Buch „Amidst Shadow and Light: Contemporary Iranian Art and Artists“ sieht Keshmirshekan die heterogene und facettenreiche zeitgenössische iranische Kunst in der „modernen“ Kunstwelt verankert: „Hence the Iranian visual artists are striving to establish and integrate with the art world internationally: a continued search which contributes to the world of contemporary art.“89 Den Aspekt „becoming international or global“90 innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst betont der Autor auch in seinem zweiten Beitrag und charakterisiert das Zeitgenössische wie folgt: „In conclusion, for the majority of the talented young artists the concept of contemporaneity is not just restricted to the time. It is rather an ontological concept allowing artists not to limit themselves in choosing the technique or theme through the diversity of their experience.“91

Das Adjektiv „zeitgenössisch“ impliziert demnach antitradtionalistische und kosmopolitische Ambitionen, die sich ab den 1990ern (und speziell ab 1997) in Positionierungsversuchen innerhalb der globalen Kunstszene äußern. Darüber hinaus tritt der Begriff nach Keshmirshekan erstmals im Kontext der „New Art“ auf, zu der auch das für die Studie zentrale künstlerische Medium Video zählt. 1.2.3 Iranische Kunst und Diaspora Die zeitgenössische visuelle Kultur Irans setzt sich sowohl aus künstlerischen Produktionen innerhalb als auch außerhalb des Landes zusammen. Der Begriff „zeitge87 Hamid Severi führt in einem Interview mit Keshmirshekan an, dass im Zuge der Evaluierung der Kunstwerke für Ausstellungen des Teheraner Museums für zeitgenössische Kunst im Bereich der „New Art“ und Konzeptkunst die „iranische“ und „islamische“ Identität immer noch Kriterien darstellten. Vgl. Hamid Severi im Interview mit Hamid Keshmirshekan (2006), zit. nach: Keshmir­ shekan, Contemporary or Specific, 53. 88 Vgl. Keshmirshekan, Contemporary or Specific, 49. 89 Keshmirshekan, Hamid, Reproducing Modernity. Post-revolutionary Art in Iran since the Late 1990s, in: Ders. (Hg.), Amidst Shadow and Light: Contemporary Iranian Art and Artists, Hong Kong 2011, 44–63, hier 62. 90 Keshmirshekan, Hamid, Globalisation and the Question of Identity. Discourses on Contemporary Iranian Art During the Past Two Decades, in: Ders. (Hg.), Amidst Shadow and Light: Contemporary Iranian Art and Artists, Hong Kong 2011, 64–81, hier 79. 91 Ebd., 78.

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nössische iranische Kunst“ umfasst demnach gleichermaßen Kunstwerke, die in der sogenannten globalen iranischen Diaspora hergestellt wurden und werden. Unter Diaspora (griech. Zerstreuung od. Verbreitung) wird in der Regel „[…] the voluntary or forcible movement of peoples from their homelands into new regions […]“92 verstanden. Ruth May­er­definiert Diaspora als „[…] eine Gemeinschaft, die sich – durch Vertreibung oder Emigration – von einem ursprünglichen (oder imaginären ursprünglichen) Zentrum an mindestens zwei periphere Orte verteilte.“93 Die Entwicklung von hybriden diasporischen Kulturen, die von Stuart Hall auch „neue Ethnizitäten“94 genannt werden, unterläuft notwendigerweise essentialistische Konzepte und stellt die Ideologie einer homogenen, „natürlichen“ kulturellen Norm in Frage, die sich auf das Zentrum-Peripherie-Modell des kolonialistischen Diskurses stützt.95 Diasporische Gemeinschaften, so Mayer, würden sich immer weniger als nostalgische und nationalistische Emigrant/innen und Exilant/innen präsentieren, sondern vielmehr als „genuin neue Form der soziokulturellen Identifikation und Interaktion mit utopischem Verweispotential.“96 In der Folge ist es von Interesse, den Blick auf iranische Migrationsbewegungen im 20. und 21. Jahrhundert zu richten. Der Soziologe Mehdi Bozorgmehr unterscheidet zwischen zwei markanten Emigrationswellen vor und nach der Islamischen Revolution 1979. Die erste ist im Zusammenhang mit dem Industrialisierungsprogramm unter Mohammad Reza Schah Pahlavi in den 1960ern und die dafür benötigten, ausgebildeten Fachkräfte zu betrachten. Dies hatte zur Folge, dass Iran zu einem Hauptexporteur von Studierenden wurde, die hauptsächlich europäische und nordamerikanische Universitäten besuchten. Die zweite, zahlenmäßig größere Bewegung umfasste Flüchtlinge der Revolution sowie einberufene Rekruten für den Iran-Irak-Krieg 1980–1988.97 In einem Online-Artikel (2006) beschreibt Shirin Hakimzadeh insgesamt drei große Emigrationswellen seit 1950.98 Die erste fällt in den Zeitraum von 1950–1979, als das ökonomische Erstarken durch die Erdölindustrie eine gesellschaftliche Woge der Veränderung mit sich brachte. Angehörige der oberen Schichten schickten ihre Kinder zum Studium ins Ausland. 1977–1978 befanden sich beispielsweise 100.000 iranische Studierende in westlichen Ländern wie in den USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien, die aufgrund der Islamischen Revolution zum Großteil nicht in ihre Heimat 92 Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen (Hg.), Post-Colonial Studies, The Key Concepts, Taylor & Francis e-library 22007, 61. 93 Mayer, Ruth, Diaspora, Eine kritische Begriffsbestimmung, Bielefeld 2005, 13. 94 Vgl. Hall, Stuart, New Ethnicities, in: Baker, Houston/Diawara, Manthia/Lindeborg, Ruth (Hg.), Black British Cultural Studies. A Reader, Chicago 1996, 163–172. 95 Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 62. 96 Mayer, Diaspora, 12. 97 Vgl. Bozorgmehr, Mehdi, viii. Diaspora in the Postrevolutionary Period, in: Encyclopædia Iranica VII:4 (1995), http://www.iranicaonline.org/articles/diaspora [Stand: 27.07.2012]. 98 Vgl. Hakimzadeh, Shirin, Country Profiles, Iran. A Vast Diaspora Abroad and Millions of Refugees at Home, in: Migration Information Source, Migration Policy Institute, Washington DC (2006), http://www.migrationinformation.org/Profiles/display.cfm?ID=424 [Stand: 27.07.2012].

58 | Visuelle Identitäten zurückkehrten. Die zahlreichen Flüchtlinge dieser Jahre standen in politischer Verbindung mit dem gestürzten Schah-Regime des Mohammed Reza Pahlavi. Die zweite Phase der Emigration fand nach der Revolution während der nahtlos anschließenden, restriktiven Khomeini-Ära und dem Iran-Irak-Krieg in den Jahren 1980–1988 statt. Der plötzliche Braindrain äußerte sich in der Flucht von zahlreichen Intellektuellen, Akademiker/innen, Liberalist/innen und Sozialist/innen in die USA, nach Deutschland, Kanada und Schweden. Die dritte Woge der Auswanderung verzeichnet Hakimzadeh zwischen 1995 und 2006. Diese ist durch eine verstärkte Zuwanderung in den europäischen Raum gekennzeichnet. Eine Statistik des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt die Zahl iranischer Asylsuchender und Flüchtlinge Ende 2005 auf 111.684. Zwischen 1995 und 2004 kam es beispielsweise in Deutschland zu 34.828 und in Österreich zu 11.315 iranischen Asylansuchen.99 Ende 2011 berichtet die UNHCR von insgesamt 89.122 iranischen Asylsuchenden, Flüchtlingen und Binnenflüchtlingen100. Nach Pakistan ist der Iran zugleich auch das zweitgrößte Aufnahmeland für Flüchtlinge.101 Es ist schwierig, die heterogene und komplexe Künstler/innenschaft zu charakterisieren, die sich im Zuge der diversen Emigrationswellen innerhalb der globalen iranischen Diaspora formiert hat. Ebenso ist es fraglich, ob sich die nicht in Iran lebenden, unterschiedlichen Kunstschaffenden und mittlerweile auch Künstler/innengenerationen mit ihren individuellen Biografien unter dem Begriff der art communities102 subsumieren lassen. Die Bezeichnung „Emigrationskunst“ impliziert verschiedene Beweggründe und Motivationen von Künstler/innen, die Heimat zu verlassen. Ein weiterer Begriff, der häufig mit diasporischen Situationen in Verbindung gebracht wird, ist jener des Exils. Exil bedeutet so viel wie Verbannung bzw. Verbannungsort und bezeichnet die Ausweisung, Vertreibung, Ausbürgerung, Zwangsumsiedlung oder auch „freiwillige“ Auswanderung aufgrund unerträglicher sozio-politischer, kultureller oder religiöser Verhältnisse. Mit Exil ist zudem auch die Unmöglichkeit, in seine Heimat zurückzukehren, verbunden. Durch die wachsende Zahl an diasporischen Personen im globalen Kontext erfährt der Begriff „Exil“ durch folgende Fragestellungen eine zusätzliche Problematisierung: „Where is the place of ‚home‘ to be located for such groups? In the place of birth (nateo), in the displaced cultural community onto which the person is born, or in the nation-state in which this diasporic community is located?“103 Ne99 Vgl. ebd. 100 Vgl. UNHCR Global Trends 2011 (2012), 43, Table 2, http://www.unhcr.at/fileadmin/user_upload/dokumente/06_service/zahlen_und_statistik/GlobalTrends_2011.pdf [Stand: 27.07.2012]. 101 Vgl. ebd., 2. 102 Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 31. Hier gilt es anzumerken, dass der Begriff community die Vorstellung einer Künstler/innengemeinschaft bzw. einer Gruppierung von Individuen mit emotionalen Bindekräften und einem Zusammengehörigkeitsgefühl impliziert. Iranische Diaspora-Künstler/innen sind nicht zwangsläufig Teil von derartigen communities. 103 Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 86.

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ben den Exilkünstlerinnen und Exilkünstlern gibt es ebenso Kunstschaffende, die im Ausland studiert haben und aufgrund der politischen Umwälzungen nicht nach Iran zurückgekehrt sind. Auch muss auf jene iranische Künstler/innen hingewiesen werden, die zwischen ihrer Wahlheimat und Iran pendeln und somit quasi zwischen den verschiedenen kulturellen Sphären oszillieren. Anthony Downey zufolge pflegen die Künstler/innen der iranischen Diaspora ein intensives dialogisches Verhältnis zu ihrer Heimat, während sie sich gleichzeitig mit den lokalen kulturellen Gegebenheiten ihrer Aufenthaltsländer auseinandersetzen: „The Iranian Diaspora, like all migrant communities, looks both westward and eastward, to the present and the past, to the legacy of tradition and the ever-pressing immediacy of the present and, ultimately, relates back to national practices within Iran itself […].‘‘104

Zwischen Iran, iranischer Diaspora und internationaler Kunst bestehe zudem ein reger und fruchtbarer Austausch: Künstlerische Produktionen in Iran inspirieren sowohl die iranische Diaspora als auch globale Kunstpraktiken und werden vice versa durch diese angeregt. In dieser Hinsicht, so Downey, widersetzt sich die zeitgenössische iranische Kunst als internationale künstlerische Praxis simplifizierenden und polarisierenden Antonymen wie Zentrum und Peripherie, Tradition und Moderne, innen und außen sowie lokal und global.105 Im Hinblick auf eine Analyse und ein Verständnis von visuellen Artikulationen von Identität in Selbstinszenierungen erscheint es somit wichtig, künstlerische Werke zu integrieren, die auch außerhalb Irans produziert wurden. Neben Arbeiten der Künstlerin Simin Keramati, die zum Zeitpunkt des Abschlusses der Studie in Teheran lebte, stehen Werke des Künstlers Shahram Entekhabi im Mittelpunkt, der seit 1988 in Berlin lebt. Mit der Darlegung sämtlicher begrifflicher Problemstellungen, dem Versuch einer Charakterisierung der iranischen Kunst im 20. und 21. Jahrhundert und der globalen iranischen Diaspora sind zentrale Aspekte der zeitgenössischen iranischen Kunst dargelegt worden. Mit diesen Ausführungen sollte gezeigt werden, dass die Debatten um iranische Identität die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich geprägt haben und bis heute für die künstlerische Praxis und das Selbstverständnis von Bedeutung sind. Identität, wie auch immer diese erfahren, er- und gelebt wird, spielt insbesondere bei den verschiedenen Visualisierungsstrategien des Selbst eine zentrale Rolle.

104 Downey, Anthony, Centralizing Margins and Marginalizing Centers. Diasporas and Contemporary Iranian Art, in: Bardaouil, Sam/Fellrath, Till (Hg.), Iran Inside Out. Influences of Homeland and Diaspora on the Artistic Language of Contemporary Iranian Artists (Ausst.kat. Chelsea Art Museum, New York /The Farjam Collection, Dubai), New York 2009 [nicht paginiert]. 105 Vgl. ebd.

2. Identität(en): Self_Other_Difference_Hybridity

In Kapitel 2 geht es zunächst um einen knappen historischen Überblick über die Gattung ds Selbstporträts in der iranischen Kunstgeschichte und die Aktualität von Selbstdarstellungen in der zeitgenössischen Kunst. Der Körper als zentrales Motiv wird anschließend in den Kontext postkolonialer Theorien gesetzt. In der Folge wird die Instabilität und Dezentrierung des Identitätsbegriffes im Zeitalter der Moderne und Postmoderne skizziert und mit Theorienbildungen der iranischen Sozial-, Politik- und Kunstwissenschaft verglichen. Basierend auf den transkulturellen Analysen zur semantischen Komplexität des Identitätsbegriffs werden anhand zentraler Begriffe der Postcolonial Studies methodische Zugänge und ein theoretisches Rahmenwerk für die Werkanalysen der Videoarbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis entwickelt. Innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst, und im Speziellen der Videokunst, ist ein starkes Interesse an Selbstporträts, Selbstdarstellungen und Selbstinszenierungen feststellbar. Diese Aktualität spiegelt sich in sämtlichen nationalen und internationalen Ausstellungen1, iranischen Homepages und Websites2 sowie einer Reihe von Publikationen3 wider. Hinzuweisen ist hier noch einmal auf den von Staci­Gem Scheiwiller im 1 Exemplarisch werden hier einige Projekte bis in das Jahr 2012 genannt: Die Großausstellung „Iran Inside Out“, die 2009 im Chelsea Museum in New York stattfand. Unter den insgesamt 56 künstlerischen Positionen waren mindestens zehn Selbstdarstellungen vertreten: Bardaouil, Sam/Fellrath, Till (Hg.), Iran Inside Out. Influences of Homeland and Diaspora on the Artistic Language of Contemporary Iranian Artists (Ausst.kat. Chelsea Art Museum, New York/The Farjam Collection, Dubai), New York 2009. In Teheran kuratierte Ali Ettehad 2009–2012 die themenspezifischen Ausstellungen „Auto Portraits I“ (2009, Fokus: Fotografie) in der Azad Art Gallery, „The Other“ in der Mohsen Art Gallery (2010, Fokus: Fotografie, Video) und „Auto Portraits II“ (2012, Fokus: Malerei) in der Silk Road Gallery und Mohsen Art Gallery: http://www.aliettehad.com/2012/04/04/auto-portraits-i/, http://www.aliettehad.com/2012/04/04/the-other/, http://www.aliettehad.com/2012/04/13/ auto-portraits-ii/ [Stand: 10.08.2012]. 2 Die Auflistung ist selbstverständlich wieder eine unvollständige: Vgl. dazu sämtliche Fotograf/innen, die von der Silk Road Gallery in Teheran vertreten werden: http://silkroadartgallery.com/ [Stand: 10.08.2012], sowie sämtliche andere Teheraner Galerien, die Selbstporträts in unterschiedlichen Medien auf ihren Homepages vertreten wie u. a.: http://www.azadartgallery.com/home/image-galleries.aspx, http://www.aarangallery.com/index.php, http://www.mohsengallery.com/ etc. [Stand: 10.08.2012], diverse Plattformen wie beispielsweise Fanoosphoto: http://www.fanoosphoto.com/sn/ galleries/id/1 [Stand: 10.08.2012], das fotografische Projekt „Myself, as someone else“ mit einer Reihe von iranischen Fotografinnen und Fotografen auf Aksbazi.com: http://www.aksbazi.com/home/ show_project/46 [Stand: 10.08.2012] sowie zahlreiche Websites von iranischen Künstler/innen. 3 Vgl. dazu den Beitrag von: Ettehad, Ali, Self-Portrait as a portrait of Society, in: Contemporary Practices, Visual Arts from the Middle East XI (2012), 38–45, http://www.contemporarypractices. net/essays/volumeXI/self-portrait.pdf [Stand: 8.02.2013]. Ebenso ist folgende Ausgabe des irani-

62 | Visuelle Identitäten Jahr 2013 herausgegebenen Band mit dem Titel „Performing the Iranian State. Visual Culture and Representations of Iranian Identity“, in dem die unterschiedlichen Beiträge den Identitätsbegriff im Kontext der visuellen Kultur Irans analysieren.4 Auch die im Einleitungstext bereits erwähnte Bonner Konferenz „Iranian Contemporary Art – Searching for Identity“ (2012) fokussierte Identitätsfragen im Zusammenhang mit der zeitgenössischen iranischen Kunst.5 In der Kunstgeschichte Irans trat das Selbstporträt in der Malerei erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung, während es in der Fotografie bereits kurz nach ihrer Einführung in den 1860er-Jahren Belege gibt. Während dem Genre im Verlauf des 20. Jahrhunderts scheinbar keine besondere Bedeutung oder Relevanz zukam, erlebte es im Zuge der Liberalisierungsprozesse unter Mohammad Khatami in den späten 1990er-Jahren einen regelrechten Boom. Innerhalb der persischen Malerei stellt das Selbstporträt keinen signifikanten Bereich und keine spezifische Tradition dar. Der Künstler und Kurator Ali Ettehad führt in seinem Aufsatz „Self-Portrait as a Portrait of Society“6 an, dass die figurativen Darstellungen in der traditionellen iranischen Malerei weniger realitätsnahen, abbildenden Prinzipien folgten, sondern bestimmte Lehrmeinungen und Doktrinen des jeweiligen Künstlers reflektierten. Eine neue Ära hinsichtlich der Einführung von realistischen Prinzipien in die iranische Malerei erfolgte erst unter dem safawidischen Herrscher Schah Abbas I. (1587–1629). Es war vor allem die Malschule Isfahans unter der Leitung des Künstlers Reza Abbasi, die alltägliche Themen und „gewöhnliche“ Personen realitätsnah und auf Grundlage von direkter Beobachtung darstellte. Von zentralem Interesse ist ein Porträt von Reza Abbasi, das von dessen Schüler Muin Musawwir angefertigt wurde, aber häufig, so

4 5 6

schen Kunstmagazins „Art Tomorrow“ von Interesse, das ausschließlich Selbstdarstellungen gewidmet ist: Keshmirshekan, Hamid (Hg.), Image of „Self “ in Contemporary Art, in: Art Tomorrow 6 (2011). Auch in der bereits zitierten Publikation „Amidst Shadow and Light“ befassen sich zahlreiche Beiträge mit der iranischen Identität im Kontext der zeitgenössischen Kunst. Zudem finden sich sämtliche Abbildungen mit Selbstporträts: Lucie-Smith, Edward, Contemporary Art in Iran and its Relation to Other Non-European Art, in: Keshmirshekan, Hamid (Hg.), Amidst Shadow and Light. Contemporary Iranian Art and Artists, Hong Kong 2011, 34–43; Keshmirshekan, Reproducing Modernity, 44–63; Keshmirshekan, Globalisation and the Question of Identity, 64–81; Severi, Hamid, The New Generation of Iranian Photographers. Approaches and Challenges, in: Keshmirshekan (Hg.), Amidst Shadow and Light, 82–95; Fouladvand, Hengameh, Cultivating a New Identity. A Self-referential Experience for Iranian-American Artists, in: Keshmirshekan (Hg.), Amidst Shadow and Light, 150–165. Zu nennen sind auch einige, bereits zitierte Aufsätze von Keshmirshekan: Ke­ shmirshekan, Contemporary or Specific, 44–71; Keshmirshekan, New Wave of Iranian Art, in: MacInnes, Neal/Khatibi, Marina/McNamara, Josh (Hg.), Journal #3 1:3 (2011), 8–20; Keshmirshekan, The Question of Identity vis-à-vis Exoticism in Contemporary Iranian Art, in: Iranian Studies 43:4 (2010), 489–512; Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 10–37. Vgl. Scheiwiller, Performing the Iranian State. Sämtliche im Buch enthaltene Beiträge werden in Kapitel 2.2.4. („Identität in der iranischen Kunstwissenschaft“) diskutiert. Vgl. http://www.kunsthistoriker.org/veranstaltungskalender.html?id=2256&m=05&j=2012 [Stand: 06.09.2016] sowie eine Auflistung der Namen der Vortragenden und deren Beiträge: http:// arthist.net/archive/3204 [Stand: 8.02.2013]. Vgl. Ettehad, Self-Portrait as a Portrait of Society, 38–45.

Identität (en ): Self_Other_D ifference _Hybridity   |  63



Abb. 5



Ettehad­, dem Meister der Malschule selbst zugeschrieben wird (Abb. 5).7 Da die Autor­ schaft Musawwirs gesichert ist, kann diese Miniaturmalerei somit nicht als „erstes“ malerisches Selbstporträt innerhalb der iranischen Kunst bezeichnet werden.8 Dennoch fungiert es als bedeutender Indikator für den zunehmenden Stellenwert der malerisch-realistischen Verbildlichung und Visualisierung von Künstlerpersönlichkeiten. Zugleich werden Ambitionen der Festigung des Memorialcharakters sowie Einschreibungstendenzen in die Kunstgeschichte manifest. Der Einfluss der europäischen Malerei verstärkte sich im safawidischen Iran des 17. Jahrhunderts und intensivierte sich während der Ära der qajarischen Dynastie (1786–1925). Die selektiv vorgenommenen Adaptions- und Rezeptionsversuche der iranischen Künstler konzentrierten sich vor allem auf die perspektivischen Darstellungskonventionen und die Modellierung mit Licht und Schatten, während die Figuren weiterhin meist generisch, zweidimensional und abstrakt gestaltet wurden.9 Wegbereiter der modernen Kunst in Iran, der sich dezidiert von persischen malerischen Konventionen distanzierte und sich der Kopie europäischer Meister widmete, war Muhammad Ghaffari (1848–1941). Dessen Selbstporträts bezeichnet Ettehad als erste realistische innerhalb der iranischen Kunst.10 Daftari 7 Vgl. ebd., 38–39. 8 Vgl. Swietochowski, Marie Lukens, Drawing, in: Encyclopædia Iranica VII (1996), http://www. iranicaonline.org/articles/drawing [Stand: 15.04.2013]. 9 Vgl. Daftari, Fereshteh, Another Modernism. An Iranian Perspective, in: Balaghi, Shiva/Gumpert, Lynn (Hg.), Picturing Iran. Art, Society and Revolution, London/New York 2002, 39–85, hier 41. 10 Vgl. Ettehad, Self-Portrait as a portrait of Society, 39.

64 | Visuelle Identitäten



Abb. 6

verweist diesbezüglich auf die Anomalie des Genres des Selbstporträts im Hinblick auf die persische Kunstgeschichte: „Paradoxically yet logically, in this emulation he [Anm. Kamal al-Mulk] found permission to use himself as a model, painting many self-portraits – an anomaly in Persian art.‘‘11 Auch Layla S. Diba bezeichnet die Selbstporträts von Kamal al-Mulk als ein neues Genre in der persischen Malerei.12 Die Einführung dieser Gattung sei auf den Einfluss europäischer Kunst und den zweijährigen Studienaufenthalt des Künstlers in Florenz, Wien und Paris (1896–1898) zurückzuführen und zeugt zugleich von einem erstarkten künstlerischen Selbstbewusstsein. Ein in die Jahre 1899–1900 datiertes Selbstporträt Kamal al-Mulks, in dem er sich in eleganter europäischer Kleidung und mit selbstsicherem Blick in Richtung Betrachter/in präsentiert, zählt wohl zu den ersten dieser Gattung in der iranischen Malerei (Abb. 6).13 Durch den Einfluss der modernen Kunst entwickelte sich das Selbstporträt im Laufe der nächsten Jahrzehnte zu einer akzeptierten Gattung innerhalb der iranischen Kunst.14 Mit der Islamischen Revolution 1979 wichen individuelle Selbstporträts Wandmalereien im Stil des Sozialistischen Realismus und Künstler porträtierten sich inmitten der Schar von Demonstrant/innen. Das Jahr 1998 und die damit eingeleitete politische Reformära 11 Daftari, Another Modernism, 43. 12 Vgl. Diba, Layla S., Muhammad Ghaffari. The Persian Painter of Modern Life, in: Iranian Studies 45:5 (2012), 645–659, hier 654. 13 Vgl. ebd., 654f. 14 In den 1960er- und 1970er-Jahren ist auf mehrere Selbstporträts des 1935 in Tabriz geborenen Malers und Fotografen Ahmad Aali hinzuweisen. Vgl. Aali, Ahmad, Selection of Works 1961–2009, Tehran 2010.

Identität (en ): Self_Other_D ifference _Hybridity   |  65



Abb. 7

Khatamis markierten schließlich einen Wendepunkt für das Genre des Selbstbildnisses. Ab diesem Zeitpunkt, so Ettehad, erlangte das Selbstporträt den Status eines weitverbreiteten Mediums in der iranischen Kunst. Hand in Hand mit der plötzlichen Aktualität des Selbstbildnisses verstärkte sich das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung für den Anspruch auf zivile Rechte. Zudem begriffen sich die Iraner/innen verstärkt als individuelle Repräsentant/innen der gesamten Gesellschaft.15 Das veränderte Selbstverständnis der Künstler/innen und die damit einhergehenden Konsequenzen für die Kunstproduktion und den Status des Selbstporträts Mitte der 1990er-Jahre beschreibt Ettehad wie folgt: „The increasing importance of the artist’s individuality – as a person who despite being unique is an effective component in the society – made the artist’s portrait the primary focus in many artworks; the works no longer knew any boundaries for medium and representation.‘‘16

In der Folge beschreibt der Autor exemplarisch eine Auswahl an Selbstporträts iranischer Künstler/innen, die nach 2000 entstanden sind. Darunter befinden sich neben Simin Keramati prominente Namen wie etwa Neda Razavipour, Amirali Ghasemi, Khosrow Hassanzadeh und Nikoo Tarkhani (Abb. 7–10).17 Auch der Kunsthistoriker Bavand Behpoor bestätigt in einer Rezension der Ausstellung „Auto Portraits II“ den großen Anteil an Selbstporträts innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst und 15 Vgl. Ettehad, Self-Portrait as a portrait of Society, 40. 16 Ebd., 40. 17 Vgl. ebd., 40–45.

66 | Visuelle Identitäten

Abb. 8

Abb. 9

Abb. 10



weist darauf hin, dass es sich bei dieser Gattung im iranischen Kontext mehr um eine Bewegung als um eine künstlerische Kategorie handle.18 Er meint außerdem, dass sich die Selbstbildnisse von europäischen Werken unterscheiden und dass die Arbeiten stärker mit sozialen Anliegen als mit dem künstlerischen Selbst verknüpft sind.19 Ettehad verweist in gleicher Weise auf den durch starke soziale und zivile Anliegen gepräg18 Es handelt sich hier um eine Rezension der Ausstellung „Auto Portraits II“, die von Ali Ette­had 2010 in der Silkroad und Mohsen Gallery in Teheran kuratiert wurde. Vgl. Behpoor, Bavand, Self-portrait as a document of one society in flux, http://www.auto-portraits.blogspot.co.at/2009/05/selfportrait-as-document-of-one.html [Stand: 18.04.2013]. 19 Vgl. ebd.

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ten Charakter der Selbstdarstellungen. In den Porträts würden sich spezifische, auf den Iran bezogene Inhalte und Narrationen manifestieren: „The image of ,I‘, in spite of being unique and unrepeatable – due to characteristics such as time-place, geographic region, history, culture and policies – is fully connected to the land that ,I‘ is rooted. When an artist inserts the theme ,I‘ into his/her artwork, the work will inevitably relate to every element in the artist’s life by an automatic mechanism. The land in which the artist is living, the artist’s home, personal affairs, major policies of his/her homeland, historic memory of his/her people and everything that connects ,I‘ to its surroundings makes it ,I‘.‘‘20

Von Interesse ist hier die Kontextualisierung des Künstler/innen-Selbst („I‘‘) innerhalb spezifisch iranischer Themenkomplexe, die geografische, historische, politische, soziale und persönliche Aspekte beinhalten. Die Konstitution des „Ich“ bzw. „Selbst“ der Künstler/innen befindet sich demnach in einer starken Dependenz und zugleich in einer fruchtbaren, wechselseitigen Beziehung zur „Heimat“; das „Ich“ absorbiert und internalisiert auf Iran bezogene Inhalte, während es zugleich durch seine gesellschaftlichen Kontexte konstituiert und formiert wird. Diese Beobachtung wird in im Zuge der Analyse von Selbstporträts sogenannter Diaspora-Künstler/innen wieder aufgegriffen und diskutiert. Wie eben skizziert, sind Formen der Selbstinszenierung in der iranischen Gegenwartskunst sehr aktuell. Diese plötzliche Präsenz der Gattung ab den späten 1990er-Jahren ist insbesondere im Hinblick auf ihr vergleichsweise spätes Auftreten in der iranischen Kunstgeschichte interessant. Dies führt in der Folge zu mehreren kunstwissenschaftlichen Fragestellungen, die es speziell in transkulturellen Kontexten zu analysieren gilt. Die thematische Schwerpunktsetzung des Buches fokussiert Selbstinszenierungen und körperliche Repräsentationen des Künstler/innen-Subjekts in der zeitgenössischen iranischen Videokunst. Hierbei stehen die performativen strategischen Interventionen im Vordergrund, die von den Kunstschaffenden für die Visualisierung und die damit einhergehende Konstruktion und Dekonstruktion von Identität(en) eingesetzt werden. Künstlerische Selbstdarstellungen müssen nicht zwangsläufig den Körper bzw. körperliche Fragmente abbilden und persönliche äußere Merkmale fixieren, die auf Selbstreferenzialität verweisen und eine eindeutige Identifikation mit dem/der Künstler/in garantieren. Es besteht ebenso die Möglichkeit, dass Künstler/innen bei Selbstdarstellungen oder Selbstporträts auf diverse Substitute zurückgreifen, diese anstelle ihrer selbst inszenieren und diese mit individuellen, (auto)biografischen oder auch verschlüsselten und metaphorischen Bedeutungshorizonten codieren. Die Künstler/innenperson fungiert in diesem Fall als Substituendum – als das zu Ersetzende – das durch ein Substituens kontextabhängig „ausgewechselt“ wird. Hierbei kann es sich um verschiedenste (Alltags-)Objekte, persönliche Gegenstände, Architektur, ländliches oder städtisches Ambiente, Motive aus der Natur etc. handeln. Auch ist ein bewusster Ersatz durch eine Identifikation mit 20 Ettehad, Self-Portrait as a portrait of Society, 45.

68 | Visuelle Identitäten anderen Protagonist/innen möglich, wenn nicht überhaupt auf abstrakte, nicht-gegenständliche Ausdrucksmodi rekurriert wird. Der Einsatz von sprachlichen Mitteln und Textualität kann ebenso einen stellvertretenden Charakter vermitteln und zugleich Körperlichkeit transportieren. Wie bereits in der Einleitung ausgeführt konzentriert sich die vorliegende Studie auf Selbstinszenierungen, die den Künstler/innen-Körper (oder Fragmente desselben) darstellen und mit identitätsstiftenden und identitätsstörenden visuellen Elementen operieren. Im Fokus des Interesses stehen hierbei ausgewählte Videoarbeiten von Simin Keramati und Shahram Entekhabi. Neben der abbildenden, mimetischen Funktion von Selbstdarstellungen sind es in erster Linie die strategischen Interventionen wie beispielsweise die Dekonstruktion, Performanz und Subversion, die es zu analysieren gilt. Den visuellen Strategien gemein ist deren explizite oder implizite Verbindung zum Identitätsbegriff.

2.1 „Body“ und postkoloniale Theorienbildungen Der Fokus auf den Künstler/innen-Körper sowie auf die Identitätsproblematik findet auf theoretischer Ebene eine klare Verbindung zu den Postcolonial Studies. Gründe für die Relevanz von postkolonialen Forschungen hinsichtlich der Iranian Studies wurden bereits knapp in der Einleitung skizziert. Auch wenn Iran in formaler Hinsicht niemals eine Kolonie war, ist es naheliegend, das Land aufgrund der ökonomischen und politischen Einflussnahme und Fremdsteuerung durch europäische Kolonialmächte als „semikolonialisiert“ zu bezeichnen.21 Im 20. Jahrhundert intensivierten sich insbesondere während der Regentschaft Mohammad Reza Schah Pahlavis (1941–1979) die nordamerikanischen Interessen. Nach der Nationalisierung des iranischen Erdöls und den darauffolgenden, durch Großbritannien und die USA organisierten Staatsstreich gegen Premierminister Mohammad Mossadeq im Jahr 1953, wurde das Land von der Bevölkerung weitgehend als Klientelstaat der USA betrachtet: „[…] and Iranians began to regard the United States as a neo-colonial power in their country.“22 Aufgrund der historisch belegten Semikolonialisierung und der neokolonialen Interventionspolitiken im 20. Jahrhundert bis zur Islamischen Revolution 1979 sind postkoloniale Theorien gleichermaßen für Iran relevant. In dieser Hinsicht scheint es auch methodisch gerechtfertigt, Ansätze aus den Postcolonial Studies für kunstwissenschaftliche Analysen von Selbstinszenierungen zeitgenössischer iranischer Künstler/innen nutzbar zu machen. In Ashcrofts Publikation werden unter dem Begriff Postkolonialismus sämtliche Prozesse, Effekte des und Reaktionen auf den europäischen Kolonialismus 21 Ramazani führt an, dass Iran nach den massiven Gebietsverlusten aufgrund der insgesamt vier Russisch-Persischen Kriege (1722–1828) und dem Britisch-Persischen Krieg (1856/57) durch sämtliche, von Großbritannien vorgenommenen, ökonomischen und kommerziellen Konzessionen quasi „semikolonialisiert“ worden sei. Vgl.: Ramazani, Rouholla K., Iran’s Foreign Policy. Independence, Freedom and the Islamic Republic, in: Ehteshami, Anoushiravan/Zweiri, Mahjoob (Hg.), Iran’s Foreign Policy. From Khatami to Ahmadinejad, Berkshire 2008, 1–15, hier 5. 22 GhaneaBassiri, Kambiz, A History of Islam in America, New York et al. 2010, 258.

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seit dem 16. Jahrhundert sowie den gegenwärtigen Neokolonialismus subsumiert.23 Maria Do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan zufolge knüpfen postkoloniale Studien „zum einen an die Geschichte der Dekolonisierung, an die Problematisierung dominanter Rassen-, Kultur-, Sprach- und Klassendiskurse durch die intellektuellen Aktivisten antikolonialer Kämpfe und zum anderen an die Revolutionierung westlich intellektueller Traditionen, welche die gängigen Konzepte von Macht, Subjektivität und Widerstand herauszufordern wussten.“24 Zudem betonen die Autorinnen, dass heutzutage nicht mehr nur die Effekte der Kolonialisierung Forschungsfelder des Postkolonialismus sind, sondern auch die aktuellen neokolonialen Machtverhältnisse sowie sämtliche kulturelle Formationen, die sich durch Kolonisierung und globale Migration herausgebildet haben.25 Als historisch „semikolonialisiertes“, den neokolonialen Interessen der Westmächte unterworfenes und trotz mehrfacher ausländischer Interventionen widerständiges und revolutionsfähiges Land ist Iran auch wegen der globalen iranischen Diaspora für postkoloniale Studien besonders interessant. Theorien dieser Forschungsrichtung zufolge fungiert der Körper als zentraler Ort für (koloniale) Einschreibungen, Kontrollmechanismen und Repräsentationen.26 Frühe Studien zur Körperlichkeit wie etwa jene von Frantz Fanon (1961)27 und Edouard Glissant (1981)28 basieren auf der Annahme der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung von Zeichen der Differenz (Hautfarbe, Rasse, physiognomische Merkmale etc.), welche die Vorurteile gegenüber spezifischen ethnischen Gruppen verstärkten und in der Folge als Rechtfertigung für die imperialistische und kolonialistische Hegemonie und Sklaverei der kolonisierten Völker dienen sollten. Ashcroft führt an, dass sich das Forschungsinteresse später auf die spezielle Rolle von Geschlecht bei der Bildkonstruktion der kolonialen Unterlegenheit – die Entmannung bzw. Feminisierung im Zuge kultureller Repräsentationen in Form von Bildern, Worten etc. – verlagert hat.29 Zudem wurde die Situation der Frauen im Feld der generellen kolonialen Unterdrückung als Doppelkolonialisierung30 bezeichnet. Der Körper wird als Ort für Einschreibungen von widersprüchlichen Diskursen, Kontrollmechanismen und als materielle, textuelle Struktur interpretiert. Der Aspekt der 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 169. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 25. Vgl. ebd., 25. Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 166. Vgl. Fanon, Frantz, Les Damnés de la Terre, mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre, Paris 1961. Vgl. Glissant, Edouard, Le Discours Antillais, Paris 1981. Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 166. Dieser Begriff wurde Mitte der 1980er-Jahre durch folgende Publikation geprägt: Holst-Petersen, Kirsten/Rutherford, Anna, A Double Colonization. Colonial and Post-Colonial Womens’ Writing, Aarhus 1985. Er beschreibt die doppelte Kolonialisierung von Frauen, die einerseits der Kolonialherrschaft des Empires und andererseits der männlichen Dominanz des Patriarchats unterworfen sind. Beide üben gleichermaßen Kontrolle auf weibliche, koloniale Subjekte aus, die in der Folge durch imperiale und patriarchale Mächte eine zweifache Kolonialisierung erleben. Die feministische Kritik innerhalb der postkolonialen Studien beschäftigt sich insbesondere mit dem Phänomen der weiblichen Marginalisierung während der kolonialen Ära und der andauernden neokolonialen Unterdrückung in postkolonialen Zeiten. Vgl.: Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 66–67.

70 | Visuelle Identitäten Materialität in Bezug auf Körper und Subjektivität verweist auf die Tatsache, dass sich die Operationen der imperialen Macht durch Menschen und an Menschen vollziehen.31 Durch den Fokus auf Körperbilder und körperliche Repräsentationen wird die Bedeutung der bildenden Kunst als materielle Grundlage für die Postcolonial Studies hervorgehoben. Hier sind es zunächst museale Studien, die sich eine kritische Untersuchung der ethnografischen Sammlungen der imperialen Mächte, des (historischen) Ausstellungswesens, den damit verbundenen, exotisierenden Repräsentationen der durch die Kolonialmächte unterworfenen Völker sowie die Restitution von Kunstwerken zum Ziel gesetzt haben. In diesem Kontext ist gleichermaßen die Untersuchung von künstlerischen Selbstinszenierungen in der iranischen Gegenwartskunst von Interesse. In den Kunstwerken fungiert der Künstler/innen-Körper als Medium, das durch die Kunstschaffenden selbst hinsichtlich der Repräsentationspolitiken und Machtstrukturen einer kritischen Analyse unterzogen wird. Hier stellt sich die Frage, mit welchen Strategien Künstlerinnen und Künstler ihre eigene Körperlichkeit und Identität inszenieren, um machtvolle, exotisierende und stereotype Repräsentationsmuster zu dekonstruieren.

2.2 Zur semantischen Komplexität des Identitätsbegriffs Im Kontext der philosophischen, sozial-, kultur- und kunstwissenschaftlichen Diskurse gilt der theoretische Grundbegriff der Identität als vielschichtig, differenziert und umstritten. Als „Inflationsbegriff Nr. 1“32, ist die Identitätsfrage speziell im 20. Jahrhundert jedoch zugleich zu einem bedrängenden Problem geworden.33 Als feststehender theoretischer Grundterminus34 wird Identität einerseits als unverzichtbar erachtet35, 31 Vgl. ebd., 166. 32 Brunner, Karl-Michael, Zweisprachigkeit und Identität. Probleme sprachlicher Identität von ethnischen Minderheiten am Beispiel Kärntner Slowenen, in: Psychologie und Gesellschaftskritik 44 (1987), 57–75, hier 63. 33 Vgl. Böhme, Gernot, Selbstsein und derselbe sein. Über ethische und sozialtheoretische Voraussetzungen von Identität, in: Barkaus, Anette/Mayer, Matthias/Roughley, Neil/Thürnau, Donatus (Hg.), Identität, Leiblichkeit und Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt/M. 1996, 322–340, hier 323. 34 Vgl. dazu folgende Auswahl: Ashmore, Richard D./Jussim, Lee (Hg.): Self and Identity. Fundamental Issues, New York/Oxford 1997; Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt/M. 1998; Calhoun, Craig, Social Theory and the Politics of Identity, Oxford et al. 1994; Hetherington, Kevin, Expressions of Identity, London et al. 1998; Keupp, Heiner et al., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Hamburg 42008; Lash, Scott/Friedman, Jonathan (Hg.), Modernity and Identity, Oxford et al. 1992; Morley, David/Robins, Kevin (Hg.), Spaces of Identity. Global media, electronic landscapes and cultural boundaries, London/New York 1995; Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt/M. 2002; Woodward, Kathryn (Hg.), Identity and Difference. Culture, Media and Identities, London et al. 1997. Für eine ausführliche bibliografische Angabe zum Thema Identität vgl.: Straub, Jürgen, Identität, in: Jaeger, Friedrich/Liebsch, Burkhard et al. (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 2004, 277–303, hier 301–303. 35 Vgl. hier beispielsweise: Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007; Giddens, Anthony, Modernity and Self-Identity.

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während der Begriff andererseits heftig kritisiert oder sogar für dessen Abschaffung36 plädiert wird. In Heinrich Schmidts philosophischem Wörterbuch werden für Identität (vom lat. idem: dasselbe) synonyme Begriffe wie Dieselbigkeit, Einerleiheit sowie völlige Übereinstimmung genannt: „A. ist identisch mit sich selbst, wenn es in den verschiedenen Sachlagen und Umständen immer dasselbe bleibt, so daß es als dasselbe identifiziert werden kann.“37 In der Folge wird mit dem Verweis auf die Dialektik angeführt, dass ein reales Ding jedoch veränderlich, identoid sei; in gleicher Weise ist die „[…] ‚Identität d. Bewußtseins meiner selbst in verschiedenen Zeiten‘ in Wahrheit keine I., sondern eine Kontinuität oder eine Entwicklung, wohl aber die des → Ich.“38 Der diffuse Ausdruck birgt und weckt zahlreiche Konnotationen und Assoziationen, besitzt jedoch keinen klar bestimmbaren semantischen Gehalt und ist mit normativen Anweisungen verknüpft, welche die menschliche Praxis an verinnerlichte Kontroll- und Disziplinarmotive koppeln. Somit trägt der Begriff dazu bei, so der Psychologe, Sozial- und Kulturwissenschaftler Jürgen Straub, das um Autonomie bemühte Subjekt mit einem subjectum (dem Unterstellten, Unterworfenen, Untertanen) gleichzustellen und auf eine Selbstidentität zu reduzieren, die eine Festlegung und Festschreibung auf unveränderliche soziale Kategorien (wie u. a. Geschlechtszugehörigkeit, persönliche Merkmale) vorantreibt und das Subjekt zuletzt als konsensuelles Korrelat von äußeren, soziokulturellen Machtverhältnissen erscheinen lässt.39 Der Sachverhalt ist Straub zufolge jedoch insofern komplexer, als dass „die vermeintliche Alternative ‚Identität oder nicht‘ bzw. die apologetische Losung ,Nicht-Identisches versus Identität‘ selbst zur Disposition zu stellen“40 ist. In der Regel wird zwischen zwei semantisch nicht voneinander un-

36

37 38 39 40

Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991; Joas, Hans, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997; Ricœur, Paul, Das Selbst als ein Anderer, München 1996; Taylor, Charles, The Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge/Mass. 1989. Vgl. Kamper, Dietmar, Die Auflösung der Ich-Identität, in: Kittler, Friedrich A. (Hg.), Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, München 1980, 79–86; Ricken, Norbert, Identitätsspiele und die Intransparenz der Macht, in: Straub, Jürgen/Renn, Joachim et al. (Hg.), Transistorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt/M. 2002, 318–359; Schmid, Wilhelm, Der Versuch, die Identität des Subjekts nicht zu denken, in: Barkhaus, Annette/ Mayer, Matthias/Roughley, Neil/Thürnau, Donatus (Hg.), Identität, Leiblichkeit und Normativität. Neue Horizonte anthropologischen Denkens, Frankfurt/M., 370–379. Straub nennt darüber hinaus mit Wolfgang Welsch eine ambivalente Position, die den Begriff einerseits abschaffen möchte, doch zugleich auch an diesem festhält: Vgl. Straub, Identität, 277 u. 303; Welsch, Wolfgang, Identität im Übergang. Philosophische Überlegungen zur aktuellen Affinität von Kunst, Psychiatrie und Gesellschaft, in: Ders., Ästhetisches Denken, Stuttgart 1990, 168–200; Ders., Subjektsein heute. Überlegungen zur Transformation des Subjekts, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 39 (1991), 347–365; Ders., ICH ist ein anderer. Auf dem Weg zum pluralen Subjekt?, in: Reigeber, Dieter (Hg.), Frauen-Welten. Marketing in der postmodernen Gesellschaft – ein interdisziplinärer Forschungsansatz, Düsseldorf et al. 1993, 282–317. Schmidt, Philosophisches Wörterbuch, 323. Ebd., 323. Vgl. Straub, Identität, 277–278. Ebd., 278.

72 | Visuelle Identitäten abhängigen Bedeutungshorizonten des Begriffs unterschieden: Die personale Identität bezeichnet die qualitativen Merkmale oder die Struktur des praktischen, kommunikativen Selbstverhältnisses einer Person, während die kollektive Identität sich auf eine Gruppe bezieht. Im abstrakten Identitätsbegriff werden zudem praktische Lebens- und Handlungsprobleme sowie alltags- oder lebensweltliche Phänomene manifest.41 Hinsichtlich der künstlerischen Selbstbildnisse ist neben dem Begriff der personalen auch jener der kollektiven Identität von Relevanz. Speziell letzterer umfasst Theorien zur politischen, nationalen, ethnischen, kulturellen und geschlechtlichen Identität, die in den künstlerischen Arbeiten als integrale Komponenten mitschwingen und daher in Betracht zu ziehen sind. Als umstrittener Begriff ist Identität dicht mit der iranischen (Kunst-)Geschichte verwoben und wird in zahlreiche Studien verschiedener Disziplinen debattiert. Somit ist es zunächst interessant, die diversen historischen und kulturwissenschaftlichen Diskurse um Identität aus der Perspektive euro-amerikanischer und iranischer Wissenschaften detaillierter zu beleuchten und die Konzepte miteinander zu vergleichen. Dieser Abschnitt fokussiert zeitlich das 20. Jahrhundert mit einem besonderen Augenmerk auf die Problematisierung des Identitätsbegriffs in der Postmoderne. In der Folge werden spezifische postmoderne und vor allem postkoloniale Identitätstheorien mit kunstwissenschaftlichen Perspektiven iranischer Autoren verknüpft. Ziel dieses Vorgehens ist die Entwicklung eines methodischen Instrumentariums hinsichtlich der Visualisierungsformen von Identität in den Selbstdarstellungen iranischer Künstler/ innen. 2.2.1 „Identität‘‘ als kultur- und sozialwissenschaftliche Problemstellung Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz geht davon aus, dass Identität die Bestimmungsproblematik der Eigenschaften eines Individuums oder Kollektivs bzw. der Kontingenz und Konstanz des Selbstverstehens in der Hochmoderne bezeichnet.42 Er spricht in der Folge von einer semantischen Transformation des Begriffs der personalen und kollektiven Identität, die in den hochmodernen Kultur- und Sozialwissenschaften seit den 1970er- und 1980er-Jahren feststellbar sei: Während die „klassischen“ Modelle der 1940er- bis 1970er-Jahre universalistisch und kompetenztheoretisch orientiert waren und das Problem der temporalen Konstanz sowie des Verhältnisses zwischen Individuum und sozialem Umfeld fokussierten, ist das hochmoderne Konzept der 1970–80er hermeneutisch sowie historisch ausgerichtet und nimmt Bezug auf das kontingente Selbstverstehen.43 Stuart Hall, Mitbegründer und Haupt41 Vgl. ebd., 278–279. 42 Vgl. Reckwitz, Andreas, Der Identitätsdiskurs. Zum Bedeutungswandel einer sozialwissenschaftlichen Semantik, in: Rammert, Werner (Hg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, 21–38, hier 22. 43 Vgl. ebd., 25.

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vertreter der britischen Cultural Studies, differenziert zwischen drei unterschiedlichen Identitätskonzepten: Dem Subjekt der Aufklärung, dem soziologischen Subjekt und dem postmodernen Subjekt.44 Das erste rekurriert auf die Annahme eines zentrierten, vereinheitlichten, kontinuierlichen und mit sich selbst identischen Individuums (männlichen Geschlechts), das mit den Kompetenzen der Vernunft, des Bewusstseins und der Handlungsfähigkeit ausgestattet ist. Das soziologische Subjekt folgt einer interaktiven Konzeption von Identität, wonach diese durch das Zusammenspiel und einen kontinuierlichen Dialog zwischen dem Ich und den „bedeutenden Anderen“ bzw. der Gesellschaft geformt und modifiziert wird. Das postmoderne Subjekt als Resultat des strukturellen und institutionellen Wandels ist mit keiner gesicherten und kontinuierlichen Identität ausgestattet. Die verschiedenen und auch widersprüchlichen Identitäten, die es annimmt, folgen wechselnden Identifikationen und lassen sich um kein kohärentes Ich gruppieren.45 Diese Umbrüche in Bezug auf die Identitätsbildung werden in der Regel mit der Postmoderne und der Globalisierung in Zusammenhang gebracht. Gesellschaftliche Prozesse der Differenzierung, Enttraditionalisierung, Individualisierung, Migration und Pluralisierung, die ab den 1960er-Jahren in intensivierter Form greifbar sind, waren für die Auflösung kulturell vorgegebener Identitätsmuster sowie stabiler sozialer Verhältnisse ausschlaggebend und übertrugen die Konstruktionsaufgabe der eigenen Identität auf das Individuum.46 Als ein weiterer Umstand für die Erosion von Identität spielt das ökonomisch-kapitalistische Konzept der Globalisierung eine Rolle, die mit ihren modernen Informations- und Kommunikationstechnologien und der globalen Zirkulation von Menschen, Waren, Dienstleistungen, Symbolen aber auch Zeichen erheblichen Einfluss auf die Sozialbeziehungen und die Kultur per se nahm und nimmt.47 Faktoren wie diese führten zu einer Problematisierung von vermeintlich fixierten Bedeutungsperspektiven von Heimat, kultureller Identität und Nation. Angesichts der Massenmigration, der unzähligen Möglichkeiten rascher Ortswechsel und der Ortlosigkeit vieler Zeichen im scheinbar durchlässig gewordenen postmodernen Symbolgefüge sind eine Vielzahl neuer, situativer Kontexte und Muster entstanden: Zum einen wäre Heimatlosigkeit oder politisch motiviertes Exilant/innentum zu nennen. Zum anderen resultieren aus der scheinbar „fröhlich-bunten“ Mixtur verschiedenster ethnischer Gruppierungen innerhalb einer gesellschaftlichen Staatsstruktur Verschiebungen und Brüche im Verständnis von personaler und kollektiver Identität.48 Die permanen44 Vgl. Hall, Stuart, Die Frage der kulturellen Identität, in: Mehlem, Ulrich et al. (Hg.), Stuart Hall. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, 180–222, hier 181. 45 Vgl. ebd., 181–183. 46 Der Begriff der individuellen Identitätsarbeit wird zudem als „riskantes und störungsanfälliges Unterfangen“ bezeichnet: Vgl. Eickelpasch, Rolf/Rademacher, Claudia, Identität, Bielefeld 32010, 6–7. 47 Vgl. ebd., 8–9. 48 Vgl. Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin, Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturismusdebatte, in: Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin/Steffen, Therese (Hg.),

74 | Visuelle Identitäten te Neuformation von Randschichten, die in einer Art von grenznomadischem Dasein „zwischen“ diversen kulturellen Sphären oszillieren, muss als wesentliches Charakteristikum aktueller Gesellschaften erachtet werden. Stuart Hall führt fünf zentrale Momente der Gesellschaftstheorie an, die für die postmoderne Dezentrierung des Subjekts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausschlaggebend waren.49 Diese theoretisch fundierten Paradigmenwechsel zeichnen sich für eine verstärkte Instabilität des Subjektbegriffs verantwortlich. Ein erster großer Bruch fand mit der Neuinterpretation des marxistischen Denkens durch den Strukturalisten Louis Althusser statt, demzufolge Karl Marx gesellschaftliche und materielle Verhältnisse über individuelles Handeln und abstrakte Vorstellungen über das Individuum gesetzt hätte. Somit habe er philosophische Kategorien wie Subjekt, Empirismus, ideales Wesen etc. aus diversen Bereichen verbannt. Als weiteren Beitrag zur Dezentrierung nennt Hall Sigmund Freuds (und in der Folge auch Jacques Lacans) psychoanalytische Theorie, nach der Identität, Sexualität und Begehren auf Basis psychischer und symbolischer Vorgänge des Unbewussten formiert werden, die der Logik der Vernunft widersprechen. Jacques Lacans Spiegel-Stadium besagt, dass die Bildung des Ich in der frühen Kindheit im Spiegelbild bzw. im Blick des Anderen stattfindet, welche die Beziehungen zu den äußeren Symbolsystemen wie Sprache, Kultur und Geschlechterdifferenz eröffnen. Identität als etwas Imaginäres bleibt in Form von Identifikationen in permanenten, unbewussten Prozessen ihrer Formation verhaftet, die nie abgeschlossen sind. Ein drittes Dezentrierungsmoment ist nach Hall auf den strukturalistischen Linguismus von Ferdinand de Saussure zurückzuführen, der dem Individuum die Autorschaft über sprachliche Aussagen und Bedeutungen absprach und diese (Aussagen und Bedeutungen) in ein bereits dem Subjekt vorausgehendes, gesellschaftliches und kulturelles Regelwerk der Sprache verortete.50 Die Tatsache, dass sich die Wortbedeutungsproduktion anhand von Ähnlichkeit und Differenz zwischen den sprachlichen Zeichen vollzieht, verweist hier auf die Analogie zwischen Sprache und Identität: „Ich weiß, wer ‚Ich‘ bin in Relation zu ‚dem Anderen‘ […].“51 Theoretiker/innen der Sprachphilosophie wie Jacques Derrida ergänzten Saussures Ansatz insofern, als dass Bedeutungen durch eine/n Sprecher/in – ebenso wie ihre/seine Identität – nie endgültig fixierbar sind: Die grundlegend instabile Bedeutung von Aussagen strebt nach einer Schließung (Identität), wird jedoch durch die Differenz unterbrochen und entgleitet somit ständig. Den vierten großen Umbruch führt Hall auf die Schriften von Michel Foucault zurück, der im Zuge seiner „Genealogie des modernen Subjekts“ eine administrative „Disziplinarmacht“ des 19. Jahrhunderts aufzeigte, die als Produkt der neuen Institutionen der Spätmoderne ReHybride Kulturen, Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte (Stauffenberg Discussion, Studien zur Inter- und Multikultur 4), Tübingen 1997, 1–29, hier 1–2. 49 Vgl. Hall, Die Frage der kulturellen Identität, 193. 50 Vgl. ebd., 193–196. 51 Ebd., 196.

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gulierung, Überwachung und Kontrolle über Kollektive und Individuen ausübte. Als letzte große Dezentrierungsmaßnahme nennt Hall die Konsequenzen der „Neuen sozialen Bewegungen“ rund um das Jahr 1968 und den aus diesen Zusammenhängen hervorgegangenen Begriff der Identitätspolitik. Insbesondere der Feminismus hinterfragte die Mechanismen der subjektiven Geschlechtskonstitution, stellte diese in einen gesellschaftspolitischen Kontext und trug damit zur Politisierung von Subjektivität, Identität und Identifikationsprozessen bei. Mit dem Hauptaugenmerk auf sexuelle und geschlechtliche Identitäten transformierten feministische Ansätze die Vorstellung von Frau und Mann und rückten die Frage nach der Geschlechterdifferenz in den Mittelpunkt.52 Die von Hall skizzierten Umbrüche, die sowohl das Verständnis von personaler als auch kollektiver Identität grundlegend verändert haben, werden in gleicher Weise in der globalen Gegenwartskunst kritisch reflektiert. Insbesondere sind es künstlerische Selbstporträts und Selbstdarstellungen, in denen die Auseinandersetzung mit dem komplexen Begriff der Identität manifest wird. Hinsichtlich der zeitgenössischen Positionen iranischer Künstler/innen ist es von Interesse, mit welchen visuellen Codes Aspekte der personalen sowie kollektiven Identität reflektiert werden und welche weiteren Konnotationen diese im Kontext Irans bzw. der iranischen Diaspora bergen. 2.2.2 Personale und kollektive Identität Im Kontext künstlerischer Selbstinszenierungen ist zunächst der Begriff der personalen Identität von Relevanz. Zwei zentrale theoretische Ansätze sind Erik Eriksons Entwicklungspsychologie53 sowie George Herbert Meads Sozialisationstheorie54. Erikson zufolge wird personale Identität dann möglich, wenn sich das Individuum soziale Identitäten aneignet bzw. an kollektiven Charakterzügen teilhat und diese für sich in eine konsistente Form bringt. Mead hingegen akzentuiert den interaktiven und kommunikativen Prozess im Zuge der Aneignung der Ich-Identität und unterscheidet zwischen dem „me“, den internalisierten gesellschaftlichen Erwartungen, und dem „I“, der unkontrollierbaren Spontaneitäts- und Kreativitätsinstanz, die sich den sozialen Erwartungen auch zu widersetzen vermag. Die Problemstellung beider Positionen ist, so Reckwitz, „eine Konstanz des Ich angesichts institutionalisierter sozialer Erwartungen bzw. eine Balance zwischen Ich und sozialen Erwartungen zu erreichen.“55 Dem Problem der Fragmentierung des Ich hinsichtlich der sozialen Erwartungen wird von Erikson und Mead mit einer Theorie der primären Sozialisation begegnet, der zufolge 52 Vgl. ebd., 196–199. 53 Vgl. Erikson, Erik, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M. 1973. 54 Vgl. Mead, George Herbert, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus [1934], Frankfurt/M. 81991. Mead wurde erst in den 1950/60er-Jahren im Kontext des US-amerikanischen symbolischen Interaktionismus verstärkt rezipiert. 55 Reckwitz, Der Identitätsdiskurs, 27.

76 | Visuelle Identitäten sich das Kind bzw. der/die Jugendliche bestimmte Kompetenzen aneignet, die sozialen Erwartungen in ein Gleichgewicht bringt und das Selbst in eine formale sowie konstante Struktur versetzt.56 Als fünf Merkmale personaler Identität nennt Straub Aspiration, Differenzialität und konstitutiven Selbstentzug, qualitative und strukturelle Form, Kontinuität/Konsistenz/ Kohärenz, Handlungspotenzial und Autonomie.57 Die prinzipiell unvollständige und unvollendete personale Identität ist eine aspirierte, angestrebte aber auch imaginierte Identität sowie Motivator für das Handlungspotenzial und die Verhaltensweisen. Grundlegende Basis für die Identität ist der Selbstentzug, durch den diese konstituiert wird.58 Strukturell ist Identität – als paradoxe Einheit ihrer Differenzen – in diachroner und synchroner Hinsicht durch ihre Differenzialität charakterisiert, die das Selbst auch als „Anderes“ und „Fremdes“ darstellt. Der Selbstentzug fungiert als empirisches Faktum und ist zudem als normative Implikation für den Identitätsbegriff zu werten. Diese Faktoren ermöglichen wiederum die Selbsttranszendenz. Somit beinhaltet Identität die Kompetenz der Selbstdistanzierung (Selbstironie), der Selbstreflexion und der Selbstkritik.59 Identität wird durch formale oder strukturelle Merkmale und weniger durch unvollkommene, temporäre Qualifizierungen definiert. Zudem bezeichnet sie die Form der kommunikativen Selbstbeziehung einer Person, die Straub anhand der Begriffe Kontinuität, Konsistenz und Kohärenz erläutert.60 Kontinuität bezeichnet die temporale aber auch diachrone Einheit von Identität bzw. die (Selbst-)Kontinuierungsleistungen des Subjekts: „Kontinuität ist ein akzentuierender Gegenbegriff, mit dem auf biographisch-dia­chroner Ebene theoretisch zum Ausdruck gebracht wird, wie der biographische Zerfall eines Selbst in verschiedene, unabhängig voneinander und völlig unabhängig voneinander fungierende ,Selbste‘ oder ,Personen‘ vermieden wird, und welche Gestalt eine solche ,Vermeidung‘ annimmt.“61

Der Begriff impliziert keinen konstanten Kern einer Person und verschleiert demnach ebenso keine Brüche und Diskontinuitäten in der Biografie. Diese werden vielmehr „in den insgesamt intelligiblen Zusammenhang einer Lebensgeschichte und personalen Identität integriert.“62 Die Selbstkontinuierungsleistung des Subjekts, der dennoch Grenzen gesetzt ist, kann Straub zufolge als ein in der zeitlichen Dimension operierender Modus einer „Synthesis des Heterogenen“ verstanden werden. Speziell im narrativ-sprachlichen Kontext deuten Selbstthematisierungen – wie beispielsweise das Erzählen von Geschichten, aber auch andere Zeichen, Metaphern und Symbole – Prozesse der Identitätsbildung an, die über bloße Deskriptionen hinausgehen. Vielmehr handelt es sich dabei um Sprechakte performativen Charakters mit praktischer 56 57 58 59 60 61 62

Vgl. ebd., 28. Vgl. Straub, Identität, 279–290. Vgl. ebd., 280f. Vgl. ebd., 281f. Vgl. ebd., 283. Ebd., 285. Ebd., 285.

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und psychosozialer Funktion. Während Konsistenz als logische Widerspruchsfreiheit verschiedener Elemente für die Identitätsforschung weniger relevant scheint, ist der Begriff der Kohärenz interessanter.63 Straub versteht darunter „[…] eine Struktur, die aus miteinander verträglichen, zueinander passenden Elementen gebildet wird und insgesamt, ganz im gestaltpsychologischen Sinne, mehr oder anderes darstellt als die bloße Summe ihrer Teile.“64 Zudem wird Kohärenz mit bestimmten (kulturell variablen) Regelsystemen moralischer und ästhetischer Orientierungen in Verbindung gebracht, welche die Handlungsweisen des Subjektes mitbestimmen.65 Als letzten Faktor nennt Straub die auf Identität und kritischer Selbstreflexion basierende Autonomie eines Handlungssubjekts. Autonomie kann in Rekurs auf die biografische Identität als Fähigkeit sozialisierter und enkulturalisierter Personen verstanden werden, wobei Sozialisationsprozesse gesellschaftlich und kulturell different sind.66 Der Sozialphilosoph Axel Honneth hingegen charakterisiert personale Freiheit und Selbstbestimmung als „dezentrierte Autonomie“ und negiert die Existenz purer Autonomie bzw. Heteronomie.67 Als Kriterien dieser dezentrierten Autonomie nennt er die sprachliche Artikulationsfähigkeit, die narrative Kohärenz des Lebens als Synthese heterogener Sinnbezüge sowie die moralische Kontextsensibilität anstelle der Prinzipienorientierung.68 Straub schließt daraus, dass sich das Subjekt zwischen totaler Abhängigkeit und vollständiger Autonomie bewege, aber dennoch als autonome Person mit den Kompetenzen der Selbstbestimmung und Selbstkontrolle erachtet werden müsse, ohne die es nicht lebensfähig wäre.69 Aspekte wie die „dezentrierte Autonomie“ und das Spannungsfeld des Subjektes zwischen Autonomie und Heteronomie, Handlungsfähigkeit und Kontrolle bzw. (Selbst-)Zensur werden im Hinblick der Selbstinszenierungen iranischer Künstler/innen zentral. Als Basis für Identitätsformationen sind Differenzialität, Selbstentzug und Selbstdistanzierung integrale Komponenten der personalen Identität, die es hinsichtlich der künstlerischen Positionen zu analysieren gilt. Unter der Bezeichnung „kollektive Identität“ oder „Wir-Identität“ versteht der Kulturwissenschaftler Jan Assmann ein von einer Gruppe geschaffenes Selbstbild, mit dem sich deren Mitglieder identifizieren: „Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen.“70 Der Soziologe Werner Rammert beschreibt kollektive Identität als konstruktives Ergebnis sozialwissenschaftlicher De63 64 65 66 67 68 69 70

Vgl. ebd., 286. Ebd., 287. Vgl. ebd., 287. Vgl. ebd. 288; Quante, Michael, Personale Autonomie und biografische Identität, in: Straub, Jürgen/Renn, Joachim (Hg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt/M. 2002, 32–55. Vgl. Honneth, Axel, Dezentrierte Autonomie. Moralphilosophische Konsequenzen aus der modernen Subjektkritik, in: Menke, Christoph/Seel, Martin (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter, Frankfurt/M. 1993, 149–163. Vgl. ebd., 158–159. Vgl. Straub, Identität, 290. Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis, 132.

78 | Visuelle Identitäten batten, die als analytische Kategorie zwar diverse Assoziationen wie Gemeinschaft, Volk, Stamm oder Nation vermeidet, jedoch zugleich auch etymologische Missverständnisse impliziert. Kollektive Identitäten basieren auf Selbstzuschreibungen, haben aber keine fixierten Eigenschaften und Wesensmerkmale. Ebenso wenig lassen sie sich durch eine Ganzheit oder Geschlossenheit charakterisieren; sie formieren und verdichten sich zu hybriden Formationen analog zu historischen Situationen, kulturellen Kontexten und sozialen Konstellationen und können sich ebenso wieder auflösen.71 Kollektive Identitäten, so Rammert, „[…] sind das historische Resultat von bindungsstiftenden Praktiken, Semantiken und institutionellen Regimes, in denen ein Wir-Gefühl gegenüber Anderen durch ritualisierte Handlungen und schematisierte Darstellungen oft unabsichtlich geformt und gefestigt wird.“72 In diesen knappen Ausführungen wird angedeutet, dass der Begriff der kollektiven Identität ebenso schwer fassbar ist wie jener der personalen/individuellen Identität. Jürgen Straub thematisiert zudem die bis dato noch kaum geklärte, verwickelte Semantik beider Begrifflichkeiten und schlägt aufgrund der sehr unterschiedlichen Bedeutungen in der Begriffsgeschichte eine Trennung der Termini vor.73 Der Historiker Lutz Niethammer weist auf das zahlenmäßige Primat an Publikationen über die kollektive Identität hin und bezeichnet jene über die politische/nationale, ethnische/kulturelle und geschlechtliche Identität als Spitzenreiter.74 In der Folge werden einige weitere kritische Implikationen der kollektiven Identität angeführt. Assmann skizziert diese als Sozialkörper, Metapher, imaginäre Größe und soziales Konstrukt, die in der sichtbaren und greifbaren Realität nicht existent ist.75 Straub problematisiert die „gewaltsame Rhetorik“ des Terminus, der als „Signifikant ohne Signifikat“, als nebulöses, leeres Zeichen ohne Referenten bestens für eine ideologisch-politische Diktion und Mobilmachung adäquat sei.76 Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Gruppen und die damit verbundenen Identitätskon­ struktionen folgen häufig objektivierenden Kriterien, wie beispielsweise Ethnie, Rasse und Religion, die Konfliktpotenziale nähren und „[…] einer gewaltförmigen Praxis von Inklusion und Exklusion die Tür öffnen.“77 Negativ konnotierte Identitätspolitiken, so Straub, operieren mit Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen/ Fremden, magisch-religiösen Zuschreibungen, Projektionen und Manipulationen, die 71 Vgl. Rammert, Werner, Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Thema und Beiträge, in: Ders. et al. (Hg.), Kollektive Identitäten und kulturelle Innovationen. Ethnologische, soziologische und historische Studien, Leipzig 2001, 9–20, hier 10–11. 72 Ebd., 11. 73 Vgl. Straub, Identität, 290–293. 74 Vgl. Niethammer, Lutz, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbeck 2000, 21–23. 75 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 132. 76 Straub beruft sich hier wiederum auf die Publikation Niethammers, Kollektive Identität: Vgl. Straub, Identität, 293. Letztendlich plädiert Straub jedoch für eine alternative Begriffsbestimmung bzw. Verwendung des problematischen Terminus: Vgl. ebd., 298–300. 77 Ebd., 294.

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andere kollektive Identitäten abwerten oder gar dämonisieren und zugleich für das Selbstverständnis einer Gruppe konstitutiv sind. Zugleich räumt der Autor den Identitätspolitiken auch positiv besetzte Handlungsspielräume für minoritäre Kollektive im Sinne einer defensiven Politik der Differenz bzw. eines Kampfes gegen bestehende, repressive Herrschafts- und Machtverhältnisse ein.78 In dieser Hinsicht ist vor allem das erstarkte Interesse an kollektiven Identitäten seitens der feministischen und postkolonialen Theorienbildungen zu nennen, die eine kulturpolitische Praxis verfolgen und den Identitäten minoritärer Gruppen Artikulation, Stimme und Handlungskompetenz zuschreiben.79 Mittlerweile hat sich die Auffassung von kollektiven Identitäten bzw. Wir-Gruppen als „vorgestellte Gemeinschaften“ weitgehend etabliert.80 Diese Annahme basiert auf einer Diskurskritik, so Aleida Assmann und Heidrun Friese, der zufolge Identitäten über kulturelle Symbole sowie diskursive Formationen gebildet werden und, poststrukturalistischen Theorien folgend, als grenzüberschreitende, infinite Aushandlungsprozesse zu verstehen sind: Inszenierungen von Identität erscheinen als Bestandteil sozio-politischer Praktiken und sind als kultureller Text mit komplexen Signifikaten und unterschiedlichen Codierungen zu lesen.81 Klassisch-moderne Theorien verstanden kollektive Identität als soziale Identität, die an Rollenerwartungen sowie institutionelle Normen und Werte gekoppelt ist und sich in der Selbst- oder Fremdattribution des Individuums zu einer sozialen Funktion und Rolle äußert. Eine andere Position, im Kontrast zur funktions- und rollenspezifischen sozialen Identität, war die radikale Loslösung kollektiver Identität von den Rollenerwartungen, aus der eine hochabstrakte, formalisierte und die Spezifika einer Gruppe übergreifende Identität resultierte.82 Neuere Identitätsdiskurse, so Reckwitz, fokussieren die Problematik des individuellen sowie kollektiven Selbstverstehens und seiner Kontingenz. Sie weisen drei zentrale Perspektivenwechsel auf: Die Hermeneutisierung thematisiert die subjektiven Selbstinterpretationsakte von Individuen sowie die Kontingenz der Selbstdeutung und lehnt eine Zuschreibung von Identität von „außen“ ab. Die Historisierung kollektiver Identität führt zu einer Auflösung universaler und überkultureller Codes und Traditionen und betont die Historizität von kulturspezifischen Wissensordnungen. Die Fragmentierung der kollektiven Identität und der Fokus auf das Selbstverstehen negieren 78 Vgl. ebd., 295–296. 79 Vgl. Assmann, Aleida/Friese, Heidrun, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt/M. 1998, 11–23, hier 13. 80 Die Begriffsprägung geht auf folgende Publikation zurück: Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Vgl. unter zahlreichen anderen Publikationen auch: Assmann/Friese, Einleitung, 12; Hall, Kulturelle Identität, 199–208; Straub, Identität, 293. 81 Vgl. Assmann/Friese, Einleitung, 12. 82 Reckwitz differenziert hier zwischen den theoretischen Positionen Eriksons, Parsons und Meads sowie Habermas. Während für die einen die Balance zwischen personaler und sozialer Identität Basis einer gelungenen Identitätsbildung ist, nennen die anderen elaboriertere Kriterien eines Gleichgewichts zwischen „I“, „me“ und einer „offenen“ kollektiven Identität. Vgl. Reckwitz, Der Identitätsdiskurs, 28–30.

80 | Visuelle Identitäten eine Zuordnung zu sozialen Schichten, Rollen und Funktionsbereichen. Zu diesen Umbruchsmomenten zählen außerdem feministische und postkoloniale Theorien, welche die Konstitution von Identität über symbolische Differenzen innerhalb kultureller Differenzierungssysteme begreifen und den generellen Konstruktcharakter des Begriffs betonen. Im Zuge der skizzierten Identitätsmodelle verweist Reckwitz auf das Risiko des kulturellen Essentialismus sowie in umgekehrter Weise auf die Gefahr eines hyperflexiblen Subjekts, das seine Identitäten permanent wechselt und somit den Bezug zur alltäglichen Praxis verlässt.83 Straub bezeichnet eine kollektive Identität als eine Zuschreibung von Gemeinsamkeiten an eine variable Mehrzahl, wobei keine Rede von identischen Kollektiven bzw. einer Wesensgleichheit eines Kollektivs sein kann. Verbindende Faktoren sind vielleicht die gemeinsame Herkunft und Sprache, bestimmte Traditionen, Handlungsund Lebensweisen sowie Erwartungen, die nicht immer als reflexiv oder bewusst zu bezeichnen sind, sondern oft als „tacit knowledge“ im Sinne eines latenten Alltagswissens auftreten. Kollektive Identität kann auf keiner totalen Gleichheit der Mitglieder basieren und ebenso keine Mehrfachzugehörigkeiten eines Individuums zu unterschiedlichen Gruppen ausschließen. Die Konstitution des „Wir“ inkludiert stets Identität und Differenz und darf nicht einfach vorausgesetzt werden.84 Von Interesse hinsichtlich der Selbstdarstellungen iranischer Künstler/innen ist die Frage, inwiefern hier Identifikationen mit einem Kollektiv zu dechiffrieren sind, auf welche Weise Selbst- und Fremdzuschreibungsmechanismen beeinflussen und welche Konsequenzen diese Prozesse letztendlich auf die Inszenierung des Selbst im Medium Video haben. Autor/innen wie Assman/Friese, Straub und Reckwitz haben in ihren Ausführungen zur kollektiven Identität und zu Identitätspolitiken auf feministische und postkoloniale Theorien verwiesen, die Identitäten minoritärer Gruppen mit Handlungskompetenzen und politischem Potenzial verknüpft sehen. Der Aspekt der agency – die Artikulationsfähigkeit und widerständige Praxis in unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten – wird auch in Anbetracht der künstlerischen Positionen zentral sein. Entgegen einer strikten Trennung von personaler und kollektiver Identität wird vorgeschlagen, deren Interaktionen und Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Ein zentraler Ausgangspunkt hinsichtlich der künstlerischen Selbstinszenierungen ist die These, dass sowohl Aspekte der personalen als auch der kollektiven – und daher auch der sozialen, geschlechtlichen, kulturellen etc. – Identität(en) für das Selbstverständnis und Selbstbild konstitutiv sind. Im Zuge der komplexen Prozesse der Konstruktion von personaler Identität schwingen stets bestimmte Komponenten der kollektiven Identität im Sinne von Identifikationen oder Nicht-Identifikationen mit. In der Folge geht es darum, Identitätsdiskurse in Iran des 20. und 21. Jahrhunderts aus sozial-, politik- und kunstwissenschaftlicher Perspektive nachzuskizzieren.

83 Vgl. ebd., 29–35. 84 Vgl. Straub, Identität, 298–300.

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2.2.3 Der Identitätsbegriff in Iran des 20. und 21. Jahrhunderts Es sind in erster Linie Theoriebildungen der iranischen Geschichts-, Politik-, Sozialund Sprachwissenschaft, die sich mit den Bedeutungshorizonten einer „iranischen Identität“ kritisch auseinandersetzen. Der Fokus ist hier auf Positionen gerichtet, die den Zeitraum des 20. und 21. Jahrhunderts beleuchten, wobei Bezüge zu historischen Epochen stets in aktuelle Auseinandersetzungen miteinfließen. Viele der theoretischen Diskussionen um eine iranische Identität thematisieren das für die Krisen und Konflikte verantwortlich gemachte Spannungsfeld zwischen den drei kulturellen Sphären „persisch“, „islamisch“ und „(post)modern“. Der Großteil der Publikationen über iranische Identität fokussiert Debatten um die kollektive und nationale Identität.85 Seyed Sadegh Haghighat, Politikwissenschaftler an der Mofid University in Qom/Iran, führt an, dass die Frage nach der nationalen Identität speziell in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in den Mittelpunkt der landesinternen politischen Diskurse gerückt ist.86 Als Gründe für iranische Identitätskrisen nennt der Autor vier Faktoren, die auf mehrere historische Paradoxa zurückzuführen sind: 1. Das nationale Erbe der 2.500 Jahre alten 85 Vgl. folgende Auswahl an Büchern: Holliday, Shabnam J., Defining Iran. Politics of Resistance, Surrey/Burlington 2011; Vaziri, Mostafa, Iran as Imagined Nation. The Construction of National Identity, New York 1993. Zum Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne siehe u. a.: Jahanbegloo, Rahim (Hg.), Iran Between Tradition and Modernity, Lanham/Maryland 2004; Rajaee, Farhang, Islamism and Modernism. The Changing Discourse in Iran (Modern Middle East Series 24), Austin 2007; Shayegan, Cultural Schizophrenia. Vgl. auch folgende Artikel: Ahmadi, Hamid, Unity within Diversity. Foundations and Dynamics of National Identity in Iran, in: Critique: Critical Middle East Studies 14 (2005), 127–147; Ashraf, Ahmad, The Crisis of National and Ethnic Identities in Contemporary Iran, in: Iranian Studies 26:1 (1993), 159–164; Boroujerdi, Mehrzad, Contesting Nationalist Constructions of Iranian Identity, in: Critique: Journal for Critical Studies of the Middle East 12 (1998), 43–55; Borszik, Oliver, Der Iran. Eine dualistische Identitätskonstruktion, in: Robert, Rüdiger/Schlicht, Daniela/Saleem, Shazia (Hg.), Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion, Münster et al. 2010, 293–314; Farhi, Farideh, Crafting a national identity amidst contentious politics in contemporary Iran, in: Iranian Studies 38:1 (2005), 7–22; Haghighat, Seyed Sadegh, Iranian Identity in the West. A Discursive Approach, in: Journal of Third World Studies XXVII:1 (2010), 85–105; Hanaway, William, Iranian Identity, in: Iranian Studies 26:1 (1993), 147–150; Karimifard, Hossein, Constructivism, National Identity and Foreign Policy of the Islamic Republic Iran, in: Asian Social Science 8:2 (2012), 239–246; Khosrokhavar, Farhad/Etemad, Shapour/Mehrabi, Masoud, Report on Science in Post-Revolutionary Iran – Part II: The Scientific Community’s Problems of Identity, in: Critique: Critical Middle Eastern Studies 13:3 (2004), 363–382; Piri, Daryuosh/Ab Halim, Adlina, Diplomacy of Iran towards Globalization. The Tension between Globalization and Islamization in Iran, in: Cross-Cultural Communication 7:1 (2011), 82–96; Sanadjian, Manuchehr, Nuclear fetishism, the fear of the ,Islamic‘ bomb and national identity in Iran, in: Social Identities: Journal for the Study of Race, Nation and Culture 14:1 (2008), 77–100; Shahramnia, Amir Masoud/Tadayon, Zahra, Comparative Analysis Identity Components between an Eastern Society (Islamic Republic of Iran) and Western Society, in: Interdisciplinary Journal of Contemporary Research in Business 3:10 (2012), 310–316; Zahed, Saeid, Iranian National Identity in the Context of Globalization: Dialogue or Resistance? CSGR Working Paper No. 162:05, Center for the Study of Globalisation and Regionalisation, University of Warwick 2005, http://wrap.warwick.ac.uk/1957/1/WRAP_Zahed_ wp16205.pdf [Stand: 16.03.2013]. 86 Vgl. Haghighat, Iranian Identity in the West, 85–105

82 | Visuelle Identitäten iranischen Kultur habe sowohl soziale Imaginationen als auch das autoritäre politische System genährt. Die Einverleibung der iranischen Kultur in die islamische im Zuge der arabischen Expansion war mit zahlreichen Problemen verbunden. 2. Der durch die safawidische Dynastie proklamierte schiitische Islam fungiert als Hauptpfeiler der iranischen kollektiven Identität. 3. Eine weitere Einflussquelle ist die liberale Ideologie, die als hegemonialer, euro-amerikanischer Diskurs in Iran Verbreitung fand. 4. Als letzten Faktor nennt der Autor die sozialistisch-kommunistische Ideologie der ehemaligen Sowjetunion, welche dazu beitrug, revolutionäres Gedankengut zu verbreiten und den Islamismus als politischen Diskurs während der 1960er-Jahre in Iran zu etablieren.87 Auch der Politikwissenschaftler Hamid Ahmadi führt das politische Erbe Irans (Staat, politische Geschichte, Mythologie), die Existenz der reichen kulturellen Überlieferung (persische Sprache und Literatur) und den omnipräsenten Einfluss der Religion als drei Basiselemente für die iranische nationale Identität und Einheit an.88 Zentral für eine fundierte Orientierung sind die Einträge unter dem Stichwort „Iranian Identity“ in der Encyclopædia Iranica, die von Ahmad Ashraf, Soziologe an der Columbia University in New York, in die Kategorien „Perspectives on Iranian Identity“, „Pre-Islamic Period“, „Medieval Islamic Period“, „In the 19th and 20th Centuries“ und „In the post-revolutionary era“ gegliedert wurden, wobei der letztgenannte Beitrag zum Zeitpunkt des Abschlusses der Studie noch nicht erschienen war.89 Als eine historisch-territoriale Definition für iranische Identität führt Ashraf das kollektive Empfinden iranischer Völker an, welche die historischen Gebiete Irans bewohnten und auf gemeinsame historische Erfahrungswerte sowie kulturelle Traditionen rekurrierten. Die drei folgenden Perspektiven auf iranische Identitätsdiskurse stehen Ashraf zufolge in enger Verbindung mit der Frage nach dem Ursprung der Nation: 1. Der Autor nennt zum einen die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende, romantisierende-nationalistische Ansicht, die sich sowohl auf mythologisch-legendäre Überlieferungen als auch auf faktische, historische Aspekte stützte und die ideologische Basis für die Pahlavi-Dynastie und den modernen Nationalstaat formte.90 Die Verbreitung von westlichen Konzepten wie Nation, Nationalismus und nationale Identität im späten 19. Jahrhundert hatte die Wiederbelebung und Rekonstruktion einer bereits existenten, prämodernen Auffassung von iranischer Identität zur Folge, die auf 87 Vgl. ebd., 85–86. 88 Vgl. Ahmadi, Unity within Diversity, 134. 89 Vgl. Ashraf, Ahmad, Iranian Identity i. Perspectives, in: Encyclopædia Iranica XIII (2006), 501– 504; Ders., Iranian Identity ii. Pre-Islamic Period, in: Encyclopædia Iranica XIII (2006), 504–507; Ders., Iranian Identity iii. Medieval Islamic Period, in: Encyclopædia Iranica XIII (2006), 507-522; Ders., Iranian Identity iv. In the 19th-20th Centuries, in: Encyclopædia Iranica XIII (2006), 522– 530. Mit dem Verweis auf den Online-Artikel ist in demselben Band auf S. 530 „v. Post-Revolutionary Era“ angeführt; bis dato gibt es jedoch noch keinen Artikel auf der Website der Encyclopædia Iranica. Vgl. http://www.iranicaonline.org/articles/iranian-identity-v-post-revolutionary-era [Stand: 17.12.2017]. 90 Vgl. Ashraf, Iranian Identity i. Perspectives, 501.

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das ethnisch-nationale kulturelle Erbe seit der Ära der Sasaniden rekurrierte. Ashraf führt diesbezüglich den Wandel vom subordinierten, untertänigen Subjekt in eine/n modernen Staatsbürger/in an: „These new ideas also brought about a transformation of people’s identity from subjects (ra‘aya) to citizens (with a recently coined term, šahrvandān).‘‘91 Zudem wurde der persische Terminus mellat (religiöse Gemeinschaft) als Äquivalent für den Begriff Nation herangezogen und sowohl mit einer religiösen (mellat-e mosalman-e Iran) als auch einer reinen nationalen Konnotation (mellat-e Iran) verwendet. In gleicher Weise wurde mellat auch in die Begriffsbildung der nationalen Identität miteinbezogen (howiyat-e melli). Das liberale-nationalistische Gedankengut florierte insbesondere zur Zeit der Konstitutionellen Revolution (1905–1911) und wurde während der Pahlavi-Periode (1925–1979) in eine staatlich protegierte Form eines Ethno-Nationalismus transferiert.92 2. Eine zweite, moderne bzw. postmoderne Perspektive erachtet das Konzept der Nation als eine „erfundene“ oder „imaginierte“ Konstruktion, die von den herrschenden Klassen propagiert wird. Ashraf führt diesbezüglich kritisch an, dass Vorstellungen von nationaler Identität auf den Idealtypen moderner Staatstheorien europäischer Gesellschaften beruhen und daher nicht nahtlos auf prämoderne, nicht-westliche Nationen übertragen werden können. 3. Die dritte, historisierende Perspektive geht davon aus, dass die Zivilnation ein Produkt der Moderne sei und als solche nicht rückwirkend auf prämoderne Zeiten übertragen werden kann; im Gegensatz zum modernen und postmodernen Ansatz lehnt diese Auffassung die radikale Diskontinuität zwischen einer modernen Nation und ihrer historischen Vergangenheit ab. Moderne Nationen und Nationalismen sind Erzeugnisse langfristiger, historischer Prozesse und werden durch Mythen, Erinnerungen, Werte und Symbole legitimiert. Ashraf skizziert die Hauptentwicklungsstränge iranischer Identität wie folgt: Die Gründungszeit mit einer prämodernen, ethno-nationalen Identität während der Sasa­niden, die inaktive Phase zur Zeit der arabischen Eroberung Persiens, die Wiederbelebung iranischer kultureller Identität während der iranischen Regionaldynastien vom 9. bis ins 11. Jahrhundert, die komplexe Phase iranischer Identität während der Ära der Seldschuken, das Wiederaufleben derselben während der mongolischen und timuridischen Periode, die Formation einer hybriden iranisch-schiitischen Identität zur Zeit der Safawiden sowie zuletzt die Ausbildung einer modernen iranischen natio­nalen Identität während der letzten zwei Jahrhunderte.93 Während der Pahlavi-Ära fungierten vier verschiedene Gruppierungen als Promotoren iranischer Identitätspolitik: Die sich ab Mitte der 1950er-Jahre formierenden, regierungsnahen Parteien, die einen achämenidischen Nationalismus propagierten (1), die volksnahen, liberalen Nationa91 Ashraf, Iranian Identity iv. In the 19th-20th Centuries, 522. 92 Vgl. ebd., 523. 93 Vgl. Ashraf, Iranian Identity i. Perspectives, 501–503.

84 | Visuelle Identitäten listen (2), diejenigen, die linksgerichtete Ideologien verfolgten und auf die landesinternen, ethnischen Minderheiten hinwiesen (3) sowie die Verfechter/innen einer religiösen, islamisch-schiitischen nationalen iranischen Identität (4). Als prominenter Vertreter der letztgenannten Strömung gilt der Revolutionär und Religionssoziologe Ali Shariati (1933–1977), der die Begriffe „Nation“ und „Nationalität“ in Bezug auf Kultur definierte und eine enge Verbindung zur religiösen Komponente herstellte. Ein konstitutives Element der iranischen Identität sei demnach der Islam; die kulturelle und nationale Entfremdung könne nur durch die Konzentration auf die iranische Nation und die schiitische Kultur überwunden werden.94 Die in den 1960er-Jahren zunehmende islamistische Perspektive sowie der Einfluss des politischen Islam mündete in der von zusätzlichen sozialistischen Diskursen beeinflussten Revolution im Jahr 1979. In diesem Kontext wurden die islamischen Aspekte innerhalb der iranischen Kultur intensiviert und die „modernen“ marginalisiert. Haghighat führt an, dass die iranische Bevölkerung nach Etablierung der islamischen Regierung weniger zu einem politischen, sondern vielmehr zu einem kulturellen Islam tendierte und ihre Religion als eine Domäne der Kultur betrachtete. Zudem, so der Autor, wäre Foucaults Charakterisierung der Islamischen Revolution als „postmodern“ nicht haltbar, zumal diese auf islamische und prämoderne Prinzipien rekurrierte.95 Der politische Islam, Islamismus und muslimische Extremismus resultieren Haghighat zufolge aus der Abwehrhaltung gegenüber neokolonialer und imperialistischer Verschwörungen westlicher Großmächte und können demnach als reaktionäre Gegenposition zum Kolonialdiskurs angesehen werden.96 Oft wird mit dieser Haltung auch der Terminus Gharbzadegi assoziiert, der mit „plagued by the West“ oder „Westoxification“ übersetzt wird.97 Rahmin Jahanbegloo skizziert in seiner Einleitung im Buch „Iran between Tradition and Modernity“ die Machtergreifung des schiitischen Klerus im Jahr 1979 und das daraus resultierende, häufig zitierte Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne wie folgt: „After nearly a quarter of a century of violent revolutionary upheavals, a bloody war with Iraq, and power struggles among the political groups in Iran, the Shi’i clergy that came to power in 1979 has been able to consolidate its hold over all the levers of power. Many consider this transformation of the 94 Vgl. Ashraf, Iranian Identity iv. In the 19th and 20th Centuries, 528. 95 Haghighat stimmt jedoch mit der Foucaultschen Bezeichnung als „anti-modernistische“ Revolution überein. Vgl. Haghighat, Iranian Identity in the West, 86. 96 Hierfür führt der Autor vier historische Momente an, welche die Divergenzen mit dem Westen (Nordamerika und Vereinigtes Königreich) im Verlauf des 20. Jahrhunderts intensiviert haben: Die Okkupation Irans im August 1941 durch Großbritannien und die Sowjetunion, der Sturz des Premierministers Mohammad Mossadeq im August 1953 durch eine CIA/MI6-Operation nach der Nationalisierung der iranischen Erdölindustrie, die Besetzung und Geiselnahme der US-amerikanischen Botschaft in Teheran durch iranische Studenten im November 1979 sowie der zunehmende Antagonismus mit dem Westen während des Iran-Irak-Krieges. Vgl. ebd., 99. 97 Der Terminus Gharbzadegi wurde durch den Philosophen Ahmad Fardid geprägt und später durch den prominenten Schriftsteller und Denker Jalal Al-e-Ahmad populär gemacht. Vgl. Ashraf, Ahmad, CONSPIRACY THEORIES, in: Encyclopædia Iranica VI (1992), http://www.iranicaonline. org/articles/conspiracy-theories [Stand: 29.04.2013].

Identität (en ): Self_Other_D ifference _Hybridity   |  85 Shi’i hierocracy from a political force to a ruling regime as a political exemplification of the historical tension between ,tradition‘ and ,modernity‘ in Iran. As a matter of fact, this tension has been a durable and influential factor in the political and cultural formation of Iranian society for the past 150 years.‘‘98

Bei diesem Spannungsfeld, so Jahanbegloo, handle es sich jedoch weniger um eine unüberbrückbare Kluft zwischen Tradition und Moderne, als um eine Reihe ontologischer und anthropologischer Begegnungen zwischen beiden Aspekten: „These encounters, the major theme of this book, are too complex to be simply characterized as a monolithic conflict between the liberal and enlightened values of ,modernity‘ on one side and the dark and backward forces of ,tradition‘ on the other.‘‘99

Kulturell bedingte Polarisierungen wie diese, gegen die sich Autoren wie Jahanbegloo aussprechen, werden in der Folge auch hinsichtlich kunstwissenschaftlicher Positionen iranischer Autor/innen von Interesse sein. Saeid Zahed, Soziologe an der Shiraz University, charakterisiert in seinem Aufsatz „Iranian National Identity in the Context of Globalization: Dialogue or Resistance?“100 die erste Dekade der Islamischen Republik (1980er-Jahre) als Phase der Selbstrealisierung, die auf einer islamischen Identitätspolitik basierte und populistische Gesinnungen verfolgte. Die 1990er waren von konstruktiven Diskursen geprägt, die sich insbesondere ab 1997 mit der von Präsident Khatami eingeleiteten Reformperiode (Khordad-Bewegung) etablierten. Ab der Jahrhundertwende führte der zunehmend demokratische Diskurs zur Ausbildung eines mosaikartigen Identitätsbegriffs, ließ jedoch die im Zuge der verstärkten Globalisierungsprozesse neuen Identitätsformationen in eine Krise stürzen. Als Reaktion darauf propagierte Khatami das Konzept der Zivilgesellschaft, mit dem die unterschiedlichen sozialen Identitäten erreicht werden sollten. Mit dem Dialog der Zivilisationen und Kulturen verfolgte der iranische Präsident zudem die Absicht, auf internationaler Bühne eine neue iranische Identität zu präsentieren. Zahed hält fest, dass sich diese Reformansätze seit dem Amtsantritt Ahamdinejads im Jahr 2005 mit der Einführung einer neuen Phase einer islamischen Identität minimiert hätten; diese Phase sei jedoch nicht mit jener der ersten Dekade der Islamischen Republik vergleichbar.101 Eine weitere temporale Gliederung der in Iran des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Identitätsdiskurse nimmt Farhang Rajaee, Professor für Political Science and Humanities an der Carleton University in Ottawa, in seinem 2007 erschienenen Buch „Islamism and Modernism. The Changing Discourse in Iran“ vor.102 Hier gruppiert er die diversen Strömungen generationenbedingt in zeitliche Abschnitte: Die erste Generation (1920er–1960er) bezeichnet der Autor als Widerstandsbewe98 99 100 101 102

Jahanbegloo, Rahim, Introduction, in: Ders. (Hg.), Iran between Tradition and Modernity, Lanham/Maryland 2004, ix–xxiii, hier x. Ebd. Vgl. Zahed, Iranian National Identity in the Context of Globalization. Vgl. ebd. Vgl. Rajaee, Islamism and Modernism.

86 | Visuelle Identitäten gung gegen den Modernismus mit dem Ziel der Wiederbelebung des Islam. Aktivist/ innen der zweiten Generation (1963–1991) radikalisierten die Ablehnung modernistischer Tendenzen in den 1960er-Jahren, propagierten alternative islamische Ideologien und fungierten als Wegbereiter der Islamischen Revolution 1979. Die dritte Generation (1989–1997) verfolgte radikale islamistische Identitätspolitiken und war die treibende Kraft im postrevolutionären Iran. Nachdem der Islamismus als politisch-ideologische Konzeption gescheitert war, verfolgte die vierte Generation (1997–2005) das Anliegen einer Restauration des Islams, indem sie versuchte, Islam und Moderne zu kombinieren bzw. den Modernismus zu islamisieren.103 Aus den Ausführungen zu den verschiedenen, zumeist ideologisch und politisch gearteten Identitätsdiskursen geht hervor, dass diese weniger auf ein Individuum bzw. die personale Identität der Iraner/innen ausgerichtet sind, sondern vielmehr ein gesellschaftliches Kollektiv im Sinne einer aspirierten, nationalen Entität anvisieren. Hinsichtlich der in der vorliegenden Arbeit behandelten Künstler/innen stellt sich die Frage, ob und inwiefern die verschiedenen Identitätspolitiken sowie das sozio-politische Umfeld Einfluss auf die Konstitution des Selbst der Künstler/innen-Person sowie auf die künstlerische Praxis nehmen und ob in bestimmten Werken Prozesse der Identifikation oder Nicht-Identifikation feststellbar sind. Von Relevanz ist in gleicher Weise die Frage, ob sich iranische Künstler/innen inner- und außerhalb Irans mit Konzepten der nationalen iranischen Identität auseinandersetzen und auf welche Art und Weise sich diese Beschäftigung in den künstlerischen Werken manifestiert. Da Begriffe wie „Identitätskrise“ oder „Spannungsfeld zwischen Tradition und Modernismus“ bereits genannt worden sind, möchte ich diese in der Folge detaillierter beleuchten und klären, in welchen Kontexten die Instabilität und Dezentrierung von Identität thematisiert wird und welche wissenschaftlichen Diskurse euro-amerikanischer Theorienbildungen aufgegriffen bzw. adaptiert werden. In seinem 1998 im „Journal for Critical Studies of the Middle East“ publizierten Aufsatz kritisiert Mehrzad Boroujerdi, Professor für Political Science an der Syracuse University in New York, die von nationalistisch orientierten iranischen Intellektuellen und politischen Eliten proklamierte, ahistorische Definition einer authentischen „iranischen Identität“.104 Diese Konzeption stütze sich auf die persische Sprache, eine selektiv vorgenommene Historiografie sowie auf einen persisch zentrierten Nationalismus, der andere ethnische Minderheiten ignoriere.105 Basis für Boroujerdis Analyse von iranischer Geschichtsforschung, Sprache und Nationalismus sind ideologiekritische Autoren wie Eric J. Hobsbawn und Benedict Anderson (imagined communities) sowie anthropologische und theoretische Linguisten bzw. Philosophen wie Pierre Bourdieu, Jacques Derrida, Michel Foucault, Hans Georg Gadamer und Jürgen Haber103 Vgl. ebd., 3. 104 Vgl. Boroujerdi, Contesting Nationalist Constructions of Iranian Identity, 43–55. 105 Vgl. ebd., 43.

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mas.106 Nationale Identität, so der Autor, kann ebenso wenig wie personale und kollektive Identität nicht länger als konkret, festgelegt und grundlegend unveränderlich aufgefasst werden: „As the pace, extension, and complexity of modern societies accelerate, personal and collective identities are becoming more self-reflexive, ambulatory, multiple, and fragile.“107 Ausschlaggebend für die Identitätskrisen in zeitgenössischen Nahost-Staaten seien die bis dato wirksamen Interessen der früheren Kolonialmächte: „Because state boundaries and institutions reflect the interests of colonial powers, the Middle East and it’s peoples have experienced ethnic and other civil unrest, the production of universalist and/or chauvinist ideologies, and crises of identity.“108 2004 beschreibt Saeid Zahed in seinem „CSGR Working Paper“ in Anlehnung an Soziologen wie Anthony Giddens und Manuel Castells Identität als dynamisch, prozesshaft und abhängig von sozialen Veränderungen.109 Haghighat, der in seinem 2010 erschienen Artikel in erster Linie die Merkmale von diasporischer iranischer Identität im Westen zu skizzieren versucht,110 gelangt zur folgenden Definition: „Based on non-essentialism, Iranian identity with its complex components (Iranian/Islamic/liberal/ socialist) has shaped antagonism with the other. Since the exteriority determine the identity, it is contingent, decentered and in change.“111

Ausgehend von der Tatsache, dass die Konstitution von Identität auf dem Anderen/ Fremden (other) basiert, rekurriert er in seiner Analyse u. a. auf die postmoderne Hegemonie- und Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe112 sowie auf die klassische Studie „Orientalism“ von Edward Said113. Haghighat befürwortet die Diskursanalyse als adäquates theoretisches Instrumentarium für die Untersuchung von iranischer Identität mit folgenden Worten:

106 Vgl. ebd., 44–49. Hamid Ahmadi steht der Adaption des von Benedict Anderson entworfenen Modells der imagined communities auf die iranische nationale Identität kritisch gegenüber und beanstandet in erster Linie die seiner Meinung nach unreflektierte Übernahme wie sie etwa Mustafa Vaziri in seinem Buch „Iran as Imagined Nation: The Construction of National Identity“ (1993) vorgenommen hat: Vgl. Ahmadi, Unity within Diversity, 127–128. 107 Boroujerdi, Contesting Nationalist Constructions of Iranian Identity, 51. 108 Ebd., 52. 109 Zahed bezieht sich hier insbesondere auf folgende zwei Werke: Giddens, Modernity and Self-Identity; Castells, Manuel, The Power of Identity, Oxford 2004. Vgl. Zahed, Iranian National Identity in the Context of Globalization. 110 Vgl. Haghighat, Iranian Identity in the West. 111 Ebd., 100. 112 Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal, Hegemony and socialist strategy, towards a radical democratic politics, London et al. 1985. Ihre poststrukturalistisch orientierte, politische Theorie beruht auf der differenztheoretischen Konzeption des Sozialen, die durch innere Brüchigkeit und Kontingenz gekennzeichnet ist. Zudem wird die Hegemonietheorie Antonio Gramscis weiterentwickelt und das Konzept einer radikalen Demokratie entworfen. Vgl. dazu: Nonhoff, Martin, Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie – Einleitung, in: Ders. (Hg.), Diskurs, radikale Demokratie, Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, 7–23, hier 7–14. 113 Vgl. Said, Orientalism.

88 | Visuelle Identitäten „In short, discourse analysis can explain Iranian identity very well, since it is formed by Iranian/Islamic/ liberal and socialist discourses based on non-essentialism. Being influenced by different sources, the identity of Iranians has changed during time. Therefore there is no unique identity for them.‘‘114

Diese offene Charakterisierung von iranischer Identität kann sowohl auf Iraner/innen, die in Iran leben, als auch auf jene, die der iranischen Diaspora angehören, bezogen werden. Amir Masoud Shahramnia und Zahra Tadayon (Ass.-Prof. für Political Science und Studierende an der University of Isfahan) berufen sich in ihrer 2012 erschienenen Analyse von Identität in östlichen und westlichen Gesellschaften auf Stuart Hall115 und charakterisieren iranische Identität als nicht fixierbar, ambivalent, prozessual und gespalten.116 Abschließend ist festzuhalten, dass die Definitionsversuche von iranischer (nationalen) Identität im Kontext der iranischen Sozial- und Politikwissenschaften auf Theorien rekurrieren, welche die Instabilität, Dezentrierung und Krisensituation von Identität akzentuieren. Somit lässt sich eine klare Verbindung zu postmodernen, poststrukturalistischen und postkolonialen Subjekttheorien herstellen. Um die Diskussion letztendlich wieder auf die zentrale Fragestellung nach den Identitätsformationen innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst zurückzuführen, werdem im Folgekapitel kunstwissenschaftliche Positionen iranischer Autor/innen diskutiert. 2.2.4 Identität in der iranischen Kunstwissenschaft In diesem Kapitel werden philosophisch-kunstwissenschaftliche Ansätze iranischer Autor/innen vorgestellt, die sich mit Identitätsfragen im Kontext der modernen und zeitgenössischen Kunst befassen. In Bezug auf die bisherige Diskussion um den Begriff der iranischen Identität lassen sich mehrere Berührungspunkte hinsichtlich Terminologie, Argumentation und Definition feststellen, die auf postkoloniale Theorienbildungen in Kapitel 2.3 verweisen. Meine Intention ist es, einen Zusammenhang zwischen iranischen und postkolonialen Identitätsdebatten herzustellen und ein begriffliches Vokabular herauszuarbeiten, das in die Analyse der Selbstinszenierungen iranischer Künstler/ innen und die Frage nach Visualisierungsformen von Identitäten einfließen soll. „Kulturelle Schizophrenie“? Hinsichtlich des häufig konstatierten dreiteiligen iranischen Identitätsmodells (vorislamisch, iranisch/islamisch, modern) sind zwei Aufsätze des prominenten Philosophen und Indologen Daryush Shayegan von Relevanz, die an sein 1989 erschienenes Buch 114 Haghighat, Iranian Identity in the West, 88. 115 Vgl. Hall, Stuart, Ethnicity. Identity and Difference, in: Radical America 23:4 (1989), 9–20. 116 Vgl. Shahramnia/Tadayon, Comparative Analysis, 313–314. Die Autor/innen gelangen hier allerdings zu der missverständlichen Schlussfolgerung, dass westliche Identitäten in ihrer Konzeption homogener und kongruenter seien als vergleichsweise iranische.

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„Le Regard Mutilé. Schizophrenie Culturelle: Pays traditionnels face à la modernité“117 anschließen.118 In seinem Beitrag für den Ausstellungskatalog „Entfernte Nähe“ (2004) führt Shayegan an, dass in nicht-arabischen, islamischen Staaten (wie Iran) keine Verschmelzung von religiöser und ethnischer Identität feststellbar sei, da Sprache und Identität aus einem wesentlich älteren kollektiven Gedächtnis im Vergleich zu arabischen Ländern schöpfen würden. In Iran decke die religiöse Identität somit nicht alle Wissensbereiche des irdischen Daseins ab. Dem Autor zufolge lassen sich drei verschiedene, ineinander verschränkte Identitäten feststellen – die ethnische, religiöse und moderne – in deren Zwischenräumen sich Zonen der Überlagerung formieren. Zugleich beanspruche jede ihr angestammtes Territorium, von dem sie die anderen weitgehend ausschließe. Das Geflecht dieser drei Identitätssphären im Kontext der widersprüchlichen Atmosphäre des heutigen Irans bezeichnet Shayegan als schizophren. Die im kollektiven Gedächtnis fix verankerte ethnische Identität rekurriere auf die vorislamische, mehrere tausend Jahre alte Geschichte Irans. Die jüngere religiöse, islamische Identität sei stärker gefühlszentriert als jede nationale Identität. Das iranische Bewusstsein ist in historische, sedimentartige Schichten strukturiert, denen im kulturellen Bereich immer wieder Ausdruck verliehen wurde.119 Die Arbeiten der zeitgenössischen iranischen Künstler/innen reflektieren der Meinung des Autors zufolge zweifellos die moderne Identität, wobei die ethnischen und religiösen Sphären von Identität nicht unabhängig von dieser betrachtet werden können und in den Arbeiten mitschwingen. Das dreilagige Identitätsmodell sei sowohl Brücke als auch Hindernis; das Erlernen eines sicheren Umgangs mit den verschiedenen Ebenen des Seins ist notwendig, um nicht einem einseitigen Identitätswahn zu verfallen.120 Die notwendige Kombination der drei Identitätsschichten bezeichnet Shayegan schließlich als den Zustand einer kontrollierten Schizophrenie: „Wenn die drei Schichten der Identität dagegen aus dem Feld des kritischen Denkens verdrängt werden, entstehen Blockaden. Sie entstellen die Realität und die Bilder der Vorstellung wie in einem zerbrochenen Spiegel. Die hohe Kunst, neue Bezüge zwischen heterogenen geistigen Räumen herzustellen, ist meiner Ansicht nach ein möglicher dritter Weg: Denn er entkommt sowohl der Reduktion auf monolithische Sichtweisen als auch den Illusionen nicht realisierbarer Wunschträume. Dieser Weg ist vielleicht nichts anderes als eine kontrollierte Schizophrenie.“121

Der Film- und Literaturkritiker Mir-Ahmad Mir-Ehsan ist ein weiterer Autor, der die Problematik der vielschichtigen iranischen Identität thematisiert und eine Synthese des 117 Shayegan, Daryush, Le Regard Mutilé. Schizophrenie Culturelle. Pays traditionnels face à la modernité, Paris 1989. Vgl. auch die bereits zitierte englische Übersetzung: Shayegan, Cultural Schizophrenia. 118 Vgl. Shayegan, Daryush, At the Cutting Edge of Intersecting Worlds, in: Issa, Rose/Pakbaz, Ruyin/ Shayegan, Daryush (Hg.), Iranian Conteporary Art (Ausst.kat. Curve Gallery, Barbican Centre, London), London 2001, 9–12; Ders., Kontrollierte Schizophrenie, in: Merali, Shaheen/ Hager, Martin (Hg.), Entfernte Nähe. Neue Positionen iranischer Künstler (Ausst.kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin), Berlin 2004, 114–123. 119 Vgl. Shayegan, Kontrollierte Schizophrenie, 115–116. 120 Vgl. ebd., 118. 121 Ebd., 118.

90 | Visuelle Identitäten dichotomen, scheinbar unvereinbaren Begriffspaares Tradition und Moderne mit Hilfe der Phrase „das ‚Eine‘ wie das ‚Andere‘“ anstrebt: „Im Spiegel ‚des Einen wie des Anderen‘ können wir einige wichtige Aspekte unseres Lebens betrachten: Individualität, Religion, Sprache, Freiheit, soziales Leben und die sich verändernden Konturen von Zeit und Raum. Ich kann hier jedoch nur einem der vielen möglichen Pfade auf dieser Reise folgen. Dieser Pfad wird den falschen Gegensatz zwischen dem ‚Einen‘ und dem ‚Anderen‘ überwinden, indem er eine dritte Möglichkeit aufzeigt. Sie besteht in einer Verbindung zwischen Tradition und Moderne, und es gibt sie durchaus auch in anderen Ländern. Ich bin dennoch überzeugt, dass Iran die ursprünglichste und am weitesten entwickelte Ausprägung dieser Synthese darstellt. Denn in Iran ist die Herausforderung, Verstand und Intuition, Westen und Osten, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu vereinen, fast unvorstellbar groß.“122

Traditionelle religiöse und kulturelle Spezifika wie u. a. Ashura (schiitischer Gedenktag am zehnten Tag des Monats Muharram) oder die klassische persische Dichtung, so Mir-Ehsan, formieren einen integralen Bestandteil der postmodernen Lebenswelt der Iraner/innen, haben jedoch mehrere Wandlungen erfahren und sind vollständig in moderne Sichtweisen, Beziehungen und Wahrnehmungsmuster eingeflossen. Diese „moderne conditio humana“, ein Amalgam von Alt und Neu oder Synthese von dem ‚Einen‘ mit dem ‚Anderen‘, versteht sich als Verknüpfung des traditionellen iranischen Denkens mit Aspekten der Freiheit, der Demokratie und des modernen Rationalismus in Wissenschaft und Technik unter einem ethischen Vorzeichen.123 Shayegans Schichtenmodell von iranischer Identität kann in Bezug auf die Gegenwartskunst freilich auch kritisch betrachtet werden. Vor allem stellt sich die Frage, ob und wenn, auf welche Art und Weise sich die „ethnische“, „religiöse“ und „moderne“ Sphäre sowie deren Überlappungszonen in künstlerischen Praxen manifestiert. Shayegan hat, ähnlich wie Mir-Ehsan, einen Lösungsvorschlag für die sich in einem Konfliktverhältnis befindlichen Identitätssphären und die daraus resultierende Identitätskrise vorgeschlagen. Beide Autoren berufen sich auf die Möglichkeit, innovative Interaktionen und Verbindungen zwischen den konfligierenden Schichten herzustellen. Dafür führt Shayegan den Begriff einer kontrollierten Schizophrenie ein. Hier drängt sich die Frage auf, ob die Bezeichnung einer schwerwiegenden, psychischen Krankheit für einen Erklärungsansatz der (zeitgenössischen) iranischen Identitätskrise adäquat ist. Wie bereits angedeutet wäre es interessant, hinsichtlich der zeitgenössischen iranischen Kunst die Relevanz dieses Modells anhand konkreter künstlerischer Positionen zu untersuchen. Zweifelsohne lassen sich in vielen Kunstwerken Spuren und Momente ausfindig machen, die auf Shayegans Identitätssphären verweisen. Der Blick ist hier jedoch vielmehr auf die produktiven Überlappungszonen als auf das schematische, bloß dreidimensionale Muster zu richten, das in visuellen Kontexten durch künstlerische 122 Mir-Ehsan, Mir-Ahmad, Das Eine wie das Andere, in: Merali, Shaheen/Hager, Martin (Hg.), Entfernte Nähe. Neue Positionen iranischer Künstler (Ausst.kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin), Berlin 2004, 108–13, hier 108–109. 123 Vgl. ebd., 108–110.

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Strategien problematisiert und dekonstruiert wird. Auch wenn durch den Zusammenprall von unterschiedlichen Identitätssphären Diskrepanzen und Widersprüchlichkeiten thematisiert werden, lassen sich künstlerische Arbeiten nicht ausschließlich durch eine „kontrollierte Schizophrenie“ erklären. Im Zuge einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Identitätsschichtungen rekurrieren iranische Künstler/innen auf individuelle Erfahrungswerte sowie auf gesellschaftliche und politische Realitäten, um ihren persönlichen Perspektiven auf Identität (und/oder Identitätskrise) Ausdruck zu verleihen. Identitätskrisen – auch im Sinne einer kontrollierten Schizophrenie – treffen zudem nicht ausschließlich auf die aktuelle Situation in Iran und auf iranische Künstler/innen zu. Kritische Implikationen des Identitätsbegriffs innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst Hamid Keshmirshekan hat sich in mehreren einschlägigen Aufsätzen mit den verschiedenen Diskursen innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst befasst. 2007 nennt er in einem Beitrag den Identitätsbegriff als dominanten Faktor, der ab dem Jahr 1997 wieder verstärkt greifbar ist124: „In the early 1990s, a host of older questions resurfaced, although they were now posed differently. The 1960s and 1970s intellectual preoccupation with ,return‘ to an ,authentic‘ and glorified Iranian and Islamic ,self ‘ was now changed to a more critical attitude towards national culture and character. The importance of questions, such as ,Who am I?‘ and ,What is my identity?‘ which had preoccupied artists and the intelligentsia for years, was revitalized.‘‘125

Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die jüngere Generation iranischer Künstler/innen in den frühen 1990er-Jahren dem Begriff der nationalen sowie islamischen Identität kritisch gegenüberstand. Daraus resultierten neue Identitätssuchen, häufig in Form von Selbst(re)präsentationen und Selbstvergegenwärtigungen in symbolisch-metaphorischen und poetischen Kunstsprachen der „New Art“: „They respond to the changing cultural climate of their country by creating works that incorporate (yet depart from) a personal or collective past. Their works are part of the wave of change transforming contemporary Iran: alternately challenging boundaries, documenting contradictions, or reinterpreting cultural heritage and social realities.‘‘126

2010 nennt Keshmirshekan in seinem Artikel „The Question of Identity vis-à-vis Exoticism in Contemporary Iranian Art“127 einen zweifachen Fokus, der künstlerische 124 Vgl. Keshmirshekan, Hamid, Contemporary Iranian Art. The Emergence of New Artistic Discourses, in: Iranian Studies 40:3 (2007), 335–366. 125 Ebd., 336. 126 Ebd., 350 u. 353. 127 Vgl. Keshmirshekan, The Question of Identity, 489–512.

92 | Visuelle Identitäten Praxen in Iran kennzeichne: Zum einen die lokale, historische, imaginierte, kollektive Identität sowie die Selbst-Identität und zum anderen den damit verbundenen und daraus resultierenden Exotismus.128 Beide Momente beinhalten Herausforderungen an das „Selbst“ und „Andere/Fremde“ sowie eine Erwartung(shaltung). Der erste Aspekt bewegt sich im sozio-politischen Kontext der Identitätskonzeptionen und bezieht sich auf die künstlerischen Interpretationsweisen zeitgenössischer Ästhetik im Lichte von nationalen und indigenen Ideologien. Der Exotismus hingegen spielt auf kulturelle Kommerzialisierungsprozesse sowie auf die Präferenzen des westlichen Kunstmarktes an.129 Keshmirshekan analysiert in der Folge, wie die beiden Phänomene – Identität und Exotismus – innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst in dem Zeitraum von 1997–2010 definiert wurden. Die unterschiedlichen intellektuellen Debatten um die kulturelle Identität führten Künstler/innen der ersten und zweiten Generation zu einer nostalgischen Rückkehr in die Vergangenheit, zu einer imaginierten historischen Identität bzw. einer ethnischen, nativen, lokalen bis hin zu einer nationalen, kollektiven Identität.130 Während in den frühen 1990ern formalistische Zugänge zur Kunst dominierten, die zeitgenössische westliche Stile mit Elementen der Lokalkultur kombinierten, begann in den letzten Jahren dieser Dekade eine andere Gruppierung die Idee eines indigenen Ausdrucks zu kritisieren. Zentrale Anliegen dieser dritten Generation waren Faktoren wie Selbst-Identität und Verkörperung des kulturellen Gedächtnisses. Alternative Visionen einer iranischen Identität wurden von der neuen Generation meist anhand verschiedener Formen des Selbst-Ausdrucks und der Selbst-Repräsentation visualisiert. Diese Werke zählen zu einem Repositorium historischer und sozialer Kommentare, die oft auf persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen der Kunstschaffenden basieren. Dieser paramoderne Diskurs, so Keshmirshekan, signalisiere eine Demontage von früheren modernistischen Tendenzen und kann dennoch nicht exakt als postmodern bezeichnet werden. Gründe für die Herausbildung von Exotismen in der Kunstproduktion waren Globalisierung, Kommerzialisierung sowie die Erwartungshaltung eines neuen und interessierten westlichen Publikums. Der Exotismus in diesen 128 Vgl. ebd., 489. Exotismus (gr. exotikos: außerhalb befindlich, fremd) gilt als Sonderform des europäischen epistemologischen Imperialismus, des fundamentalen Überlegenheitsanspruchs der Kolonialmächte, der sich aus rassistischen Voraussetzungen ableitete. Der Exotismus wurde in Europa in Form von exotischen Objekten oder Menschen als ethnisch fremde Elemente unter Betonung der kulturellen Differenz in den eigenen Kulturraum eingeführt. Erscheinungsformen des Exotischen können das moralisch Bessere, Unschuldige, das Ersehnte oder das „Primitive“, Ursprüngliche und (sexuell) Bedrohliche sein. Vgl. http://www.bender-verlag.de/lexikon/lexikon.php?begriff=Exotismus [Stand: 30.07.2012]. In Ashcrofts Publikation werden die in den Metropolen der Kolonialmächte zur Schau gestellten Exot/innen wie folgt beschrieben: „Isolated from their own geographical and cultural contexts, they represented whatever was projected onto them by the societies into which they were introduced.“ Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 88. 129 Vgl. Keshmirshekan, The Question of Identity vis-à-vis Exoticism, 489. 130 Keshmirshekan spricht hier auch von einem während der postrevolutionären Jahre kursierenden kulturellen Essentialismus, der Nationalismus, Patriotismus, Islam und lokale iranische, schiitische Identität vereint und als Abwehrhaltung gegen westliche Interventionen und Einflüsse zu begreifen ist. Vgl. ebd., 493–495.

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Kunstwerken manifestiert sich in einer künstlerischen Praxis, deren Ziel es ist, den Erwartungen „anderer/fremder“, internationaler und oft kommerzieller Interessen gerecht zu werden. Kunstwerke weisen bestimmte Codierungen in Form von indigenen Elementen auf und repräsentieren exakt das, was als typisch „iranisch“ und „zeitgenössisch“ angesehen wird. In dieser Hinsicht wird oft, so Keshmirshekan, auf stereotype Themen wie Geschlechterverhältnisse, die Situation islamischer Frauen, die Dritte Welt und feministische Anliegen zurückgegriffen.131 Diese Kritik einer Stereotypenbildung stammt von einem ausgewiesenen Experten für die iranische Kunstszene. Es wäre jedoch interessant, diesen kritischen Ansatz anhand der Analyse einiger konkreter Werkbeispiele noch expliziter zu machen, da visuelle Stereotypen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten wohl nicht immer als solche rezipert werden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Keshmirshekan sich hier insbesondere auf die Instrumentalisierung des islamischen Schleiers bezieht. Darüber hinaus lässt sich einwenden, dass vielen feministisch orientierten iranischen Künstlerinnen (und auch Künstlern) realpolitische Sachverhalte ein großes Anliegen sind, die sie künstlerisch mit ironischen, metaphorischen bis hin zu plakativen Bildsprachen thematisieren. Der Einsatz von stereotypen Bildern kann demnach auch bewusst im Sinne einer künstlerischen Strategie der Irritation erfolgen. Auch im Hinblick auf postkoloniale Strömungen der zeitgenössischen Kunst in einem globalen Kontext lassen sich genderspezifische Anliegen nicht einfach als bloße, kunstmarktorientierte Stereotypisierungen bestimmen. Keshmirshekan bezeichnet in der Folge jedoch auch das Phänomen der Selbst-Exotisierung als eines der zentralen Themen der postkolonialen Ästhetik und ihren Repräsentationsmethoden: „Self-exoticization usually means when the artist himself makes himself exotic or represents his work as an exotic commodity. The critical intellectual objection questions the hegemonic structures of the kind and the aesthetic and intellectual strategies that might be used to deal with it.‘‘132

Künstler/innen der jüngeren Generation lehnen Exotismus insofern ab, indem sie Darstellungen lokaler und indigener Charakteristika Irans vermeiden und Identität als flexibel, wandelbar und hybrid verstehen. Diese Gesinnung folgt den bereits im Kontext der Identitätskrisen dargelegten Argumentationen iranischer Autor/innen. Darüber hinaus verweist diese Haltung auf Stuart Hall, der anführte, dass jede Identität inner131 Vgl. ebd., 491–499. 132 Ebd., 501. Keshmirshekan rekurriert hier auf den kubanischen Kunstkritiker Gerardo Mosquera. Dieser führt an, dass sich die durch die westliche Kultur hervorgerufene Zwangslage für nicht-westliche Künstler/innen in deren Entscheidung zwischen einer derivativen Kunstpraxis (als weniger qualitativ im Vergleich zum westlichen Modell) oder der Darstellung der eigenen Alterität widerspiegelt. Ein möglicher Ausbruch aus diesem Dilemma sei die Übernahme der postkolonialen „Unreinheit“ im Zuge der De-Eurozentralisierung, die von den westlichen Forderungen nach Authentizität und „Reinheit“ befreit und künstlerische Strategien der Rekontextalisierung, Aneignung und Wiederverwertung ermöglicht. Vgl. Mosquera, Gerardo, The Marco Polo Syndrome. Some Problems around Art and Eurocentrism, in: Kocur, Zoya/Leung, Simon (Hg.), Theory in Contemporary Art since 1985, Oxford 2005, 218–225, hier 219.

94 | Visuelle Identitäten halb einer Kultur, Sprache, Geschichte etc. positioniert sei, jedoch nicht an fixierte, permanente und unveränderliche Bedingungen sowie Voraussetzungen gebunden ist.133 Aufgrund dieser Neupositionierung, der Entwicklung neuer Ausdrucksformen mit symbolischen, metaphorischen und poetischen Zügen sowie der Konzentration auf Selbst-Repräsentationen entfalte diese Generation, so Keshmirshekan, eine neue Identitätspolitik des 21. Jahrhunderts. Indigene Traditionen, kulturelle Werte und sozio-politische Themen werden in kritischen, satirischen und ironischen Kunstsprachen verarbeitet: „This ironic, sometimes humorous, language has also become a common method to criticize exoticism and as a metaphorical reaction against united sacred values defined by officials.“134 Die kollektive und personale Identität sowie den damit verknüpften Exotismus nennt Keshmirshekan als dominante Faktoren innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunstproduktion. Alle Aspekte sind wiederum unweigerlich mit der Selbstreflexion, der kritischen Auseinandersetzung mit autochthonen Ideologien und Identitätskonstruktionen sowie den Erwartungshaltungen der „Anderen“, also den kommerziellen Interessen des internationalen Kunstmarktes, verbunden. Identität und Exotismus befinden sich demnach in einem komplexen Spannungsverhältnis, das für iranische Künstler/innen mehrfache Herausforderungen mit sich bringt: Können indigene bzw. autochthone Elemente und Motive in künstlerische Arbeiten integriert werden, ohne dass der Vorwurf eines Exotismus fällt? Wie können Visualisierungen von „iranischer“ Identität erfolgen, ohne dabei auf „stereotype“, iranisch konnotierte Motive zu rekurrieren bzw. einem „Selbst-Exotismus“ Folge zu leisten? Gibt es mögliche Lösungsstrategien für die konflikt- und spannungsgeladene Beziehung zwischen Selbst- und Fremdbild im Feld der visuellen Selbst-Repräsentationen? Resultiert aus dem Aufgreifen ausschließlich globaler, internationaler Kunstsprachen und der damit einhergehenden Vermeidung indigener Traditionen, Motivik und Symbolik eine explizite Kritik des (Selbst-)Exotismus? Fragestellungen wie diese stehen in engem Konnex mit den in der vorliegenden Publikation fokussierten künstlerischen Positionen. Von Interesse ist des Weiteren der Hinweis Keshmirshekans auf die mit dem (Selbst-) Exotismus verknüpfte postkoloniale Ästhetik, die wiederum auf die Relevanz der Verknüpfung postkolonialer Theorienbildungen mit Selbst-Repräsentationen iranischer Künstler/innen verweist. Somit gilt es zu analysieren, wie sich die von Keshmirshekan skizzierten Momente von Identität und Exotismus in Selbstdarstellungen iranischer Künstler/innen manifestieren und welche strategischen Interventionen für die Repräsentation und die Visualisierung des Selbst zum Einsatz kommen.

133 Vgl. Keshmirshekan, The Question of Identity vis-à-vis Exoticism, 503–504. Keshmirshekan zitiert aus folgendem Aufsatz Halls: Hall, Stuart, Cultural Identity and Diaspora, in: Williams, Patrick/Chrisman, Laura (Hg.), Colonial Discourse and Post-Colonialism, Cambridge 1993, 392–403, hier 393. 134 Keshmirshekan, The Question of Identity vis-à-vis Exoticism, 507.

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Ethnografische Modelle: Othering vs. Selfing Im Zusammenhang mit dem (Selbst-)Exotismus zu betrachten ist ein Aufsatz mit dem Titel „The Artist-Ethnographer in Contemporary Iranian Art“, der von dem Kunsthistoriker Combiz Moussavi-Aghdam und der Kuratorin Azar Mahmoudian für eine Ausgabe des Magazins „Art Tomorrow“ verfasst worden ist.135 Sie transferieren hier das Modell des „Künstlers als Ethnografen“136 des amerikanischen Kunstkritikers Hal Foster auf Selbstrepräsentationen zeitgenössischer iranischer Künstler/innen. Diese würden die Interaktionen von kulturellen Differenzen globaler und lokaler Relationen sowie spezifische sozio-politische Themen aufgreifen und ihr Selbst als scheinbaren Gegenpart zu einem westlichen konstruieren. Als Mechanismen hinter diesen Repräsentationen von Differenz werden die Instrumentalisierung von binären Oppositionen und die Reiteration von Stereotypen genannt. Eine klare Trennung zwischen „Selbst“ und „Anderem“ erfolgt durch die Charakterisierung des Erstgenannten als traditionell, unterdrückt und obskur, und des Letztgenannten als progressiv, befreit und entmystifiziert. Ähnlich wie Keshmirshekan argumentieren Moussavi-Aghdam und Mahmoudian, dass jene privilegierten iranischen Künstler/innen, die in einem globalen Kontext agieren, als Repräsentant/innen der iranischen Kunst betrachtet werden und der Erwartungshaltung des internationalen Kunstmarktes durch ihre selbstreferentiellen Werke und ihre Performanz als Ethnograf/innen gerecht werden sollen.137 Das quasi-anthropologische Modell Fosters mit drei Prämissen138 wird folglich auf die zeitgenössische iranische Kunstproduktion bezogen: Iran ist freilich ein politischer Raum und iranische Kunst ist bzw. wird gemäß den Erwartungshaltungen immer politisiert. Gleichsam wird iranischen Künstlerinnen und Künstlern die subversive Rolle von Anderen, Außenseiter/innen und regimekritischen Individuen zugeschrieben, die sich in Gesellschaft und Staat nicht einfach einfügen. In dieser Hinsicht nehmen sie die Position einer zweifachen 135 Vgl. Moussavi-Aghdam, Combiz/Mahmoudian, Azar, The Artist-Ethnographer in Contemporary Iranian Art, in: Art Tomorrow 6 (2011), 114–121. 136 Vgl. Foster, Hal, The Artist as Ethnographer?, in: Marcus, George/Myers, Fred (Hg.), The Traffic in Culture. Refiguring Art and Anthropology, Berkley/London 1997, 302–309. Foster transferiert hier Walter Benjamins Modell des „Autor als Produzenten‘‘ auf die zeitgenössische „linke“ Kunst, indem er den/die Künstler/in als „Ethnografen“ bezeichnet und ein quasi-anthropologisches Modell verfolgt. Das Objekt der Kontroverse, die bürgerliche Institution autonomer Kunst, sei dasselbe geblieben, während sich das Subjekt der Assoziation verändert habe: Anstelle des/ der proletarischen Anderen (other) ist es nun der/die kulturelle und/oder ethnisch unterdrückte postkoloniale, subalterne oder subkulturelle Andere (other), in dessen Namen der/die Künstler/ in kämpfen würde. Vgl. ebd., 302. 137 Vgl. Moussavi-Aghdam/Mahmoudian, The Artist-Ethnographer, 115. 138 1) Der Ort der künstlerischen Transformation sei ein politischer, der stets andernorts, im Bereich des Anderen, lokalisiert ist. 2) Die Alterität, die den Anderen außerhalb verortet, fungiert als Methode der Subversion der dominanten Kultur. 3) Wenn der/die Künstler/in als soziale/r und/ oder kulturelle/r Andere/r wahrgenommen wird, hat er/sie automatischen Zugang zur transformativen Andersheit, wenn nicht, dann nur limitierten. Diese Faktoren bergen die Gefahr einer „ideological patronage“, also eines ideologischen Mäzenat/innentums. Vgl. Foster, The Artist as Ethnographer?, 302–303.

96 | Visuelle Identitäten Alterität ein: Zum einen innerhalb des landesinternen dominanten Regimes und zum anderen außerhalb als minoritäre Gruppierung im Kontext der globalen Kunstszene.139 Die Gefahr an einer derartigen Situation beschreiben Moussavi-Aghdam und Mahmoudian wie folgt: „Merging their self-expressive character with their ethnic identity, Iranian artists would be able to perform appropriately as artist-ethnographers within the new ideological framework of contemporary art.“140 Diese Behauptung geht auf Hal Foster zurück, der die Codierung von Identität mit scheinbaren Differenzen und jene von Alterität mit dem „Außerhalb“ als Methode einer „Kulturpolitik der Marginalität‘‘ beschreibt. Letztere würde eine „Kulturpolitik der Immanenz“ blockieren, in der geopolitische Modelle von Zentrum und Peripherie obsolet erscheinen.141 Eine These Fosters, die von Moussavi-Aghdam und Mahmoudian in den iranischen Kontext transferiert wird und auch für die vorliegende Studie zentral ist, lautet, dass die Projektion von Alterität immer im Zusammenhang mit dem Unbewussten steht, und „[…] its effect may be to ,other‘ the self more than to ,selve‘ the other.“142 Das othering des Selbst würde sehr einfach in den Modus einer Selbstabsorption übergehen, in der die ethnografische Selbstinszenierung als narzisstische Praxis bezeichnet werden kann.143 Dieser neuen und globalen Politik der projizierten Alterität(en), so der Autor und die Auto­rin, sind auch zahlreiche selbstdarstellerische Werke der zeitgenössischen iranischen Kunst ausgesetzt. Die Alteritätskonstruktionen werden sowohl durch westliche als auch landesinterne Medien vorgenommen: Hier geht es um die Verbreitung eines verzerrten Bildes des Landes als das für den Westen konstitutive „Andere“ und um die Proklamation von holistischen Vorstellungen bezüglich der lebensweltlichen Realität in Iran. Auf diese Projektionen reagieren die Künstler/innen, indem sie die gewünschte oder benötigte Rolle reflektieren und wählen, oft auch vor Beginn der aktiven Kunstproduktion. Selbstreflexive Kunst nimmt gemäß den bereits skizzierten Erwartungshaltungen stets auf aktuelle, gesellschaftspolitische Themen und Paradoxa Bezug, die in der Regel als Resultat einer kulturellen Rückständigkeit und (im besten Fall) einer Übergangsphase interpretiert werden. Jene Werke ohne ethnografische Fundierung, die eben nicht als „authentisch indigen“ oder „politisch motiviert“ gelten, werden vom Mainstream absorbiert und kaum wahrgenommen. Im Zuge der Formation einer neuen kollektiven Identität, die stereotype Alteritätskonstruktionen ablehnt, gelinge es vielen Künstlerinnen und Künstlern trotz der Repräsentationsversuche eines „anderen“ Iran nicht, dem in der Kulturpolitik der Marginalität verwurzelten Universalismus zu trotzen.144 Mit der Bezugnahme auf die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak argumentieren Moussavi-Aghdam und Mahmoudian weiter, dass der Kunst widerständiges Potenzial 139 140 141 142 143 144

Vgl. Moussavi-Aghdam/Mahmoudian, The Artist-Ethnographer, 116. Ebd., 117. Vgl. Foster, The Artist as Ethnographer?, 303. Ebd., 304. Vgl. ebd., 304. Vgl. Moussavi-Aghdam/Mahmoudian, The Artist-Ethnographer, 117–118.

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abgesprochen und für den Konsum neoorientalistischer Fantasien des globalen Kunstmarktes instrumentalisiert wird, wodurch wiederum hegemoniale Machtkonstellationen gestärkt werden: „Hence, after being absorbed in a global market, the subversive traits of theses artworks, based on a projected alterity, rigorously fade away, as they merely perform to other their self (what is called self-exoticisation) instead of selving the other, while perpetuating the interests oft he ruling institutions.“145

Durch das kollektive self-othering verliert die iranische Kunst ihre systemkritische Haltung gegenüber einer kanonisierten Ästhetik des Neoorientalismus sowie gegenüber der konservativen und nach wie vor eurozentristischen Disziplin der Kunstgeschichte. Der Verkauf von Identität als vorverpackte Erkenntnisquelle begünstige die für den gesamten Kunstapparat förderliche Weiterführung des ungleichen Verhältnisses zwischen dem (euro-amerikanischen) Selbst und dem (orientalisierten) Anderen.146 Moussavi-Aghdam und Mahmoudian verorten sowohl Künstler/innen als auch Galerist/innen, Kurator/innen und Kunstkritiker/innen etc. in ein problematisches Feld machtvoller Repräsentationspolitiken, die mit Projektionen von Alterität operieren. Die Identifikation des Künstlers und der Künstlerin mit minorisierten „Anderen“ ist ein ethnografisches Modell, das von Kunstschaffenden zum Zweck der Selbst-Exotisierung instrumentalisiert wird. Dies befriedigt die Interessen des internationalen Kunstmarktes und ermöglich zugleich eine Partizipation am „globalen Mainstream“. Die Adaption von Fosters Thesen und ihr Übertragungsversuch auf die zeitgenössische iranische Kunstproduktion und im Spezifischen auf Selbst-Repräsentationen hat sicherlich ihre Berechtigung. Kritische Analysen von Selbstdarstellungen im Zusammenhang mit Repräsentationspolitiken und globalem Kunstmarkt stellen im Kontext der iranischen Kunstwissenschaft nach wie vor ein Desiderat dar. Der Beitrag ist demnach auch eine wichtige Quelle für alle Kurator/innen und Kunsthistoriker/innen, die in transkulturellen Kontexten tätig sind und mit stereotypen Rezeptionsmechanismen und Instrumentalisierungen von Kunstwerken für marktspezifische und kommerzielle Interessen konfrontiert sind. Einer der zentralen Kritikpunkte an Moussavi-Aghdams/ Mahmoudians Beitrag ist, dass hier verabsäumt wird, die an Foster angelehnten Thesen anhand konkreter Werkbeispiele zu diskutieren. Im Beitrag findet sich nur eine einzige Abbildung, die einen Einblick in die Ausstellung „Unveiled: New Art from the Middle­East“ in der Saatchi Gallery in London mit einem großformatigen, figurativen Gemälde des iranischen Künstlers Ahmad Morshedloo zeigt (Abb. 11). Da diese Malerei nicht weiter kommentiert wird, ist es schwierig nachzuvollziehen, was nun unter einer „pseudo-ethnografischen“, selbstdarstellerischen Kunst zu verstehen ist. Welche visuellen Elemente bzw. Ikonografien werden hier kritisch betrachtet? Inwiefern lassen sich diese als Stereotype charakterisieren? Handelt es sich dabei um Themen wie 145 Ebd., 118. 146 Vgl. ebd., 118.

98 | Visuelle Identitäten



Abb. 11

Schleier, Krieg/Terror, Geschlechterrollen, politischer Islam, nukleare Waffen oder alltägliche Paradoxa? Ebenso unklar ist, wie und mit welchen Mitteln das kritisierte othering of the self in den Werken visualisiert wird. Auch das positiv besetzte Gegenmodell selfing the other bleibt unscharf umrissen, da es nicht näher beschrieben und anhand von Bildbeispielen diskutiert wird. In der vorliegenden Studie wird der Versuch unternommen, Begriffe wie othering bzw. selfing zu präzisieren und diese als subversive Methoden künstlerischer Intervention und Strategie einzuführen. Aus dieser Vorgangsweise resultieren nicht automatisch Selbst-Exotismen und vorgefertigte Produkte einer scheinbaren Alterität, die von einem globalen Kunstmarkt erwartet und verwertet werden. Künstlerische Positionen von Simin Keramati und Shahram Entekhabi zeigen sehr deutlich, dass die iranische Gegenwartskunst keineswegs ihr (selbst)kritisches Potenzial verloren hat. In gleicher Weise soll dargelegt werden, dass trotz der Gefahr neokolonialer Repräsentationsmechanismen und Instrumentalisierungen differenzierte, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit iranischer Kunst möglich sind, insofern Problembewusstsein und Kontextsensibilität gegeben sind, transdisziplinäre Ansätze angestrebt werden und die Künstler/innen selbst zu Wort kommen. Identitätssuche und künstlerische Ausdrucksmodi Keshmirshekan hat sich in mehreren Beiträgen mit der Identitätsfragen in der iranischen Gegenwartskunst auseinandergesetzt. In einem bereits zitierten Aufsatz aus dem Jahr 2011 führt er an, dass in aktuellen Debatten um zeitgenössische Kunst tief verwurzelte Ängste hinsichtlich einer nationalen und kulturellen Identität zu Tage treten.147 In seiner Einleitung des ebenfalls im Jahr 2011 herausgegebenen Buches „Amdist Shadow and Light“ nennt Keshmirshekan als Herausgeber einige zentrale Bezugspunkte und thematische Charakteristika zeitgenössischer Kunstpraxen: kul147 Vgl. Keshmirshekan, Contemporary or Specific, 44.

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turübergreifende Vergleiche, den Begriff des „Selbst“ sowie jenen der Identität, das kulturelle Gedächtnis und die damit einhergehende geografische Lokalisierung, den Konnex zwischen Kunstpolitik und Kunstproduktion sowie die transnationalen und sozialen Verknüpfungen zwischen iranischer Künstler/innen in Iran sowie jenen in der Diaspora.148 In demselben Band verweist der Kunsthistoriker und Kunstkritiker Hamid Severi in seinem Beitrag149 auf die zahlreichen Selbstporträts und die damit verbundenen Identitätssuchen und -krisen in Kunstwerken einer jüngeren Generation iranischer Künstler/innen. Hervorgehoben wird insbesondere die politische Identiät: „The issue of identity is not a new phenomenon for Iranians. In addition to the long-standing ethnic, religious and linguistic identities in Iran, there are also many political ones that have developed over the last three decades. Iranian youth now faces a crisis.‘‘150

In der Folge bezeichnet Severi das Selbstporträt als inflationäres Genre im Medium der Fotografie, das in erster Linie mit persönlichen Erfahrungswerten und sozialen Kontexten verknüpft sei.151 Eine weitere Quelle für Selbstbildnisse ist ein Artikel Severis­in der Zeitschrift „Art Tomorrow“ aus dem Jahr 2011.152 Hier unterstreicht er wiederum die Bedeutung des Genres für iranische Künstler/innen, die – wie auch andere Kunstschaffende des Globalen Südens – Porträts zum Zweck des Selbstausdrucks und der Selbstdarstellung verwenden, um damit die Kontrolle über die Repräsentation der eigenen Person im globalen Umfeld zu sichern. Auf der Basis postmoderner Subjekttheorien, die das fiktionale, kohärente und stabile Kartesianische Selbst durch eine fragmentierte, instabile, dezentrierte sowie diskursabhängige Identität ersetzen, sei auch aufgrund von Globalisierung, Migration und kultureller Hybridisierung die zentrale Auseinandersetzung mit Identität seitens iranischer Künstler/innen gewachsen. Das Genre des Selbstporträts, das vorwiegend als westliche Kunsttradition betrachtet werden muss, hat sich erst in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts als künstlerische Ausdrucksform in Iran etabliert; dieses relativ junge Genre ist zudem auf eine Dekonstruktion gängiger Identitätspolitiken ausgerichtet. Ebenso wie die im vorhergehenden Kapitel angeführten iranischen Politik- und Sozialwissenschaftler verweist Severi auf die dominanten kollektiven, nationalen, iranisch-schiitischen Identitätsdiskurse in den postrevolutionären Jahren, die zu der binären Opposition zwischen traditioneller und moderner Identität geführt hätten.153 Diese daraus entstandene Konfliktsituation und die Unterminierung der personalen Identität beschreibt Severi wie folgt: 148 Vgl. Keshmirshekan, Hamid, Introduction, in: Ders. (Hg.), Amidst Shadow and Light. Contemporary Iranian Art and Artists, Hong Kong 2011, X–XVII, hier XI. 149 Vgl. Severi, The New Generation of Iranian Art Photographers, 82–95. 150 Ebd., 87. 151 Vgl. ebd., 87. 152 Vgl. Severi, Hamid, Social Concerns in Self-Portrait. Photography in Iran, in: Art Tomorrow 6 (2011), 130–139. 153 Vgl. ebd., 131.

100 | Visuelle Identitäten „Like all aspects of life, identity became a socio-political issue and therefore personal identity was undermined morethan ever in the public realm. In reaction to this, the fixation on the history of pre-islamic Iran and the Qajar era, ancient national heroes, and a nostalgic affirmation of the past became fashionable.‘‘154

Die Selbstporträts, so der Autor, reflektieren weniger individuell-persönliche Motive oder narzisstische Ambitionen als vielmehr sozio-politische Themen auf einer Metaebene: „[…] these self-portraits are mainly about indexes and current discourses in society; and the narcissistic and personal side is rather rare.‘‘155 In den letzten Jahren sind die Konstruktion, Konstitution sowie das kritische Verständnis von personaler Identität Hauptanliegen der künstlerischen Praxis in Iran.156 Hinsichtlich der in der Studie behandelten künstlerischen Positionen stellt sich die Frage, welches strategische Repertoire und welche Bildsprachen für die Visualisierung von personaler Identität eingesetzt werden. Indem Hamid Severi diesbzüglich das Rollenspiel, die Selbstanalyse und Selbstexploration, die Reflexion und Dekonstruktion von gesellschaftspolitischen Themen nennt, liefert er wichtige Anhaltspunkte, die auch für die Arbeiten von Simin Keramati und Shahram Entekhabi zentral sind. Identität und iranische Diaspora In Bezug auf Identitätskonstruktionen in der Kunst der iranischen Diaspora in Nordamerika ist ein weiterer Artikel im Buch „Amidst Shadow and Light“ von Interesse.157 Verfasst wurde dieser von Hengameh Fouladvand, Künstlerin, Kunsthistorikerin und geschäftsführende Direktorin des Center for Iranian Modern Arts, eine Organisation, die zeitgenössische iranisch-amerikanische Kunst fördert. In ihrem Beitrag beschreibt sie eine sich neu abzeichnende, postmoderne, selbstreferentielle Identität und Subjektposition iranisch-amerikanischer Künstler/innen der zweiten Generation, die sich aus multiplen und heterogenen Elementen zusammensetzt. Diese neue Identität würde eine zuvor existente, modernistische Konzeption von Identität ersetzen, die stärker auf singuläre und spezifische Stile sowie auf ideologische Botschaften ausgerichtet war. Im Vordergrund stehe nun die Visualisierung von persönlichen Narrationen und selbstreferenziellen Erfahrungswerten.158 Fouladvand skizziert einige Fragestellungen, die nicht nur für künstlerische Positionen der iranisch-amerikanischen Diaspora relevant sind: „We are interested to see the artist’s criteria and how a ,self ‘ sees itself. It is a censored self? Is it a modern self, or is it a post-modern identity? How does the so-called ,fragmented identity‘, which is created outside the country, show a transnational trend? How does the ,other‘ come to play a role in self-referential experiences of Iranian-American artists?‘‘159 154 Ebd., 131. 155 Ebd. 156 Vgl. ebd., 131, sowie: West, Shearer, Portraiture. Oxford History of Art, Oxford 2004, 205. 157 Vgl. Fouladvand, Cultivating a New Idenitity, 150–165. 158 Vgl. ebd., 150–153. 159 Ebd., 153.

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Die angeführten Problemstellungen im Zuge einer Definition des künstlerischen Selbst bzw. der iranischen Identität in der Diaspora sind auch für die Diskussion der Selbstinszenierungen des deutsch-iranischen Künstlers Shahram Entekhabi von Inter­ esse. Die Behauptung der Autorin, dass sich die Auffassung von einer fragmentierten iranischen Identität ausschließlich außerhalb Irans entwickelt hat, muss jedoch in Frage gestellt werden. Im Zuge der Ausführungen in Kapitel 2 hat sich relativ eindeutig herauskristallisiert, dass auch innerhalb Irans Diskurse um eine inkohärente, gespaltene und krisenhafte Identität im Spannungsfeld zwischen islamisch/iranisch/modern/ postmodern zirkulieren. Festzuhalten bleibt, dass diasporische und vor allem exilbedingte Lebenssituationen iranischer Künstler/innen aufgrund der unmittelbaren Konfrontation mit anderen kulturellen Kontexten jedoch andere Herausforderungen mit sich bringen. Diesbezüglich wird an späterer Stelle der nicht unproblematische Begriff der Hybridität bzw. Hybridisierung im Kontext der postkolonialen Theorienbildung Homi K. Bhabhas diskutiert. Künstlerische Visualisierungsstrategien von Identität Der Band „Performing the Iranian State“ ist eine relativ aktuelle Quelle in Bezug auf Identitätsdebatten in der modernen und zeitgenössischen iranischen Kunst. Auf Basis der zahlreichen politischen Transformationen in Iran des 20. Jahrhunderts untersucht Abbas Daneshvari, Professor für Kunstgeschichte an der California State University in Los Angeles, zeitgenössische iranische Kunst anhand der Begriffe „Wissen“ und „Identität“.160 Die Identitätsdebatten innerhalb der Gegenwartskunst müssen im Kontext diverser Umbruchsmomente, wie das Aufkommen des iranischen Modernismus in den 1940er-Jahren, die Gründung der „Saqqa-khaneh“ im Jahr 1961/62 und die Islamische Revolution im Jahr 1979, betrachtet werden. Von Interesse ist Dansehvaris Charakterisierung der neuen Künstler/innengeneration, deren Vertreter/innen vorwiegend in den 1960ern und 1970ern geboren wurden. Diese würde im Vergleich zur älteren Generation Ängste und Zweifel hinsichtlich der Authentizität historischer Narrationen und kultureller Identitäten thematisieren, die Individuen zugeschrieben werden.161 Während absolute Wertvorstellungen abgelehnt werden, verfolge die jüngere Generation eine Dezentrierung von Identität: „Whereas the artists of the classical generation imply absolutes, the art of the new generation deconstructs these absolutes and undermines the notion of a center, from which values and identities may emanate.“162 Als ein weiteres wichtiges Thema nennt Daneshvari die Semiotik der Gesell160 Vgl. Daneshvari, Abbas, Seismic Shifts Across Political Zones in Contemporary Iranian Art. The Poetics of Knowledge, Knowing and Identity, in: Scheiwiller, Staci Gem (Hg.), Performing the Iranian State. Visual Culture and Representations of Iranian Identity, London et al. 2013, 101– 120. 161 Vgl. ebd., 101–102. 162 Ebd., 102.

102 | Visuelle Identitäten schaft: Dieser begegnen Künstler/innen mit neuartigen strategischen Verfahrensweisen wie der Dekonstruktion von Textualität und Sprache sowie mit einer veränderten Grundhaltung in Form einer „ontologischen Hermeneutik“ in Bezug auf Identität und Geschlecht.163 Die von Daneshvari skizzierte „ontologische“ Ausgangsposition der Künstler/innen spiegelt eine grundlegende Skepsis gegenüber sämtlichen Grundstrukturen der Wirklichkeit wider und basiert auf der Annahme der Ambiguität von tradierten Wissens- und Identitätskonstruktionen: „The corollaries of this ambiguity extend from a crisis of knowledge and knowing to a crisis of identity, both personal and cultural.“164 Die sowohl personale als auch kulturelle Identitätskrise analysiert der Autor anhand künstlerischer Werke von u. a. Shadi Ghadirian und Barbad Golshiri. Ein gemeinsamer Nenner sei hier die Maskerade, die Identität verschleiert und jene Wissensordnungen hinterfragt, die personale und kulturelle Identität definiert. Der Rekurs auf historische Modelle, wie beispielsweise auf die Dynastie der Qajaren im Fall von Ghadirian und anderen Künstler/innen, sei einer der seltenen Fälle, in dem iranische Identität affirmiert wird. In Bezug auf Golshiri und die Verquickung von kulturellen und zeitlichen Dimensionen in der künstlerischen Praxis verknüpft der Autor den Identitätsbegriff mit dem Derridaschen Verständnis von Intertextualität, demzufolge Identitäten als Patchwork verschiedener Machtkonstellationen sowie ohne zugängliche Kausalität und Zentrum aufgefasst werden.165 In seiner Conclusio verweist Daneshvari auf die generelle Verknüpfung von kultureller und individueller Identität sowie von Identität und Differenz. Einen nicht unerheblichen Einfluss üben zudem die ideologisch konnotierten, staatlichen Identitätspolitiken auf die zeitgenössische iranische Kunst aus: „Contemporary Iranian art treats identity through those cultural tracts that yield uncertainty and, to put it succinctly, communicates that the real identity has been placed under erasure by either the State or its ideology. Identity is a matter of difference, and this difference is often erased by the demands of the State and its institutions. […] One thing is certain; that there is a fierce struggle in contemporary Iranian art to seek, understand and establish identity.‘‘166

Die grundlegend skeptische Auseinandersetzung mit Identität ist eines der Hauptcharakteristika zeitgenössischer iranischer Kunst. Die verschiedenen Identitätskonzepte und -politiken sind in einem komplexen Spannungsfeld religiöser und staatlicher, nationaler und internationaler, kollektiver und personaler Kontexte zu verorten, welche die Suche, Konstitution sowie Etablierung von Identität zu einer schwierigen Aufgabe machen. Resultate dieser Verhandlung sind künstlerische Werke, die durch die Implementierung verschiedener visueller Strategien den zweifelhaften Status und die Identitätskrisen des Subjekts reflektieren. Die von Daneshvari skizzierten strategischen, auf 163 164 165 166

Vgl. ebd., 102–103. Ebd., 110. Vgl. ebd., 110–112. Ebd., 114.

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die gesellschaftliche Semiotik bezogenen Kalküle wie beispielsweise Dekonstruktion, Stereotypisierung und Intertextualität, werden im Zuge der Diskussion postkolonialer Konzepte und künstlerischer Arbeiten wieder aufgegriffen. Performativität als Methode der Subversion staatlicher Identitätspolitiken Ein weiterer wichtiger Aspekt im Kontext von Identitätskonstruktionen ist jener der Performanz bzw. Performativität. In seinem Beitrag im Buch „Performing the Iranian State“ untersucht Hamid Keshmirshekan künstlerische Strategien der Personifikation und Performativität; zugleich wirft er einen Blick auf die Diskurse einer ästhetischen Rebellion, die gegen die ideologisch fundierten, staatlichen Identitätspolitiken im postrevolutionären Iran gerichtet sind.167 Unter Berufung auf Michel Foucault168 basieren seine Argumentationen auf der Annahme, dass soziale Subjekte eine aktive und widerständige Rolle gegenüber dominanten Ideologien und Machtkonstellationen einnehmen können. Den Ausführungen Suman Guptas169 folgend, führt Keshmirshekan an, dass die staatliche Autorität auf Basis von Essentialismen eine kollektive Identität konstruiert und diese für politische Zwecke sowie für die Separation und Kontrolle der Bevölkerung instrumentalisiert. Durch den Konstruktcharakter und die prinzipielle Instabilität der kollektiven Identität werden die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse und Prozessualitäten jedoch enthüllt, wodurch Identität als sozial konstruiert und nicht essentialistisch ausgewiesen wird. Iranische Künstler/innen richten ihre performativen Praktiken gegen die staatlichen Identitätspolitiken und fordern ihre eigenen Kulturräume und selbstdefinierten Identitäten zurück.170 Keshmirshekan setzt den Identitätsbegriff in der Folge mit Performativität in Beziehung und rekurriert dabei auf Publikationen von Stuart Hall171, Viki Bell172 und Judith Butler173. Ausgehend von Halls Ausführungen, dass kollektive Identitäten seit der Spätmoderne zunehmend als fragmentiert und im Zustand einer permanenten Transformation zu betrachten seien174, geht es Keshmirshekan insbesondere um die damit verbundenen, performativen Prozesse der Entfaltung und (De-)Konstruktion 167 Vgl. Keshmirshekan, Hamid, Reclaiming Cultural Space. The Artist’s Performativity versus the State’s Expectations in contemporary Iran, in: Scheiwiller, Staci Gem (Hg.), Performing the Iranian State. Visual Culture and Representations of Iranian Identity, London et al. 2013, 145–155. 168 Vgl. Foucault, Michel, The Subject and Power, in: Dreyfus, Hubert L. (Hg.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1982, 346–348. 169 Vgl. Gupta, Suman, Social Constructionist Identity Politics and Literary Studies, New York 2007, 7–12. 170 Vgl. Keshmirshekan, Reclaiming Cultural Space, 145–148. 171 Vgl. Hall, Stuart, Introduction: Who needs „Identity“?, in: Hall, Stuart/du Gay, Paul (Hg.), Questions of Cultural Identity, London et al. 1996, 1–17. 172 Vgl. Bell, Viki, Performativity and Belonging: An Introduction, in: Dies. (Hg.), Performativity and Belonging, London 1999, 1–10. 173 Vgl. Butler, Judith, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of „Sex‘‘, London/New York 1993. 174 Vgl. Hall, Introduction, 4.

104 | Visuelle Identitäten von Identität: „Performativity somehow equals relativists’ ideas of (de)constructive identities and stands in opposition to essentialist views of identity, which the state ultimately promotes.“175 Eine profunde Anregung für iranische Künstler/innen sei die theoretische Prämisse einer temporalen, performativen Natur von Identität, die dazu auffordere, deren Produktion, Verkörperung und Performanz innerhalb sozio-politischer Kontexte zu untersuchen.176 Diese Feststellung verknüpft Keshmirshekan mit Butlers These einer, auf der Sprechakttheorie basierenden, performativ produzierten Identität, wonach Identitäten durch die Äußerungen konstituiert werden, von denen behauptet wird, sie seien ihre Resultate.177 Unter Berufung auf Homi K. Bhabhas­ Konzept einer narrativen Konstruktion der Nation178 thematisiert der Autor die alternativen Handlungspotenziale, Neuinterpretationen der Nationalkultur und Gegenerzählungen zur staatlich hegemonialen Narration, die sich speziell in künstlerischen Repräsentationsstrategien in Iran äußern. Ein Effekt der staatlich propagierten Kulturpolitik, die sich gegen die säkularen Normen der kulturellen Globalisierung richtet und Zuflucht in Klischees kultureller Spezifität und Authentizität in Form von iranisch-islamischen, schiitischen Traditionen nimmt, ist die Genese von künstlerischen Positionen gegen die Prioritätensetzungen des Staates. Diese systemkritische Kunstpraxis, die neue Bedeutungsproduktionen und eine Rückgewinnung eigener kultureller Artikulationsräume anvisiert, bedient sich in erster Linie der strategischen Instrumentalisierung und Re/Präsentation des menschlichen Körpers als Medium in einem ideologisch-politischen Kontext. Die Verarbeitung aktueller gesellschaftlicher Problemstellungen durch ironisch-humoristische Kunstsprachen fungiert als metaphorische Strategie der Rebellion gegen staatlich sanktionierte Wertvorstellungen.179 In der Folge verweist Keshmirshekan wiederum auf die Gefahr des Selbst-Exotismus und der Stereotypenbildung innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst, die auf der Befriedigung der Erwartungshaltung hegemonialer Interessen basieren. Zudem verfolge die internationale Kulturpolitik eine Strategie der kulturellen und visuellen Differenz zwischen westlichen und nicht-westlichen Künstler/innen, die institutionell durch die Konstruktion des/der „postkolonialen Anderen“ legitimiert wird. Diesem/ dieser sind ausschließlich Ausdrucksmöglichkeiten gestattet, die seine/ihre eigene Alterität fokussieren.180 Mit dem Begriff der Performativität und dessen Verknüpfung mit Identitätskon­ struktionen in jener Sparte der zeitgenössischen iranischen Kunst, die auf körperli175 176 177 178

Keshmirshekan, Reclaiming Cultural Space, 148. Vgl. ebd., 148–149; sowie: Bell, Performativity and Belonging, 2. Vgl. ebd., 149; sowie: Butler, Bodies That Matter, 45. Vgl. Bhabha, Homi K., Introduction: Narrating the Nation, in: Ders. (Hg.), Nation and Narration, London et al. 1990, 1–7. 179 Vgl. Keshmirshekan, Reclaiming Cultural Space, 149–151. 180 Vgl. ebd., 151–152; sowie: Ramadan, Khaled D., The Edge of the WC, in: Ders. (Hg.), Peripheral Insider. Perspectives on Contemporary Internationalism in Visual Culture, Kopenhagen 2007, 22–39, hier 27.

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chen Repräsentationen basiert, wurde ein weiterer theoretischer Ansatzpunkt für künstlerische Selbstinszenierungen genannt. Aus der Diskussion sämtlicher Positionen iranischer Autor/innen ist hervorgegangen, dass Identitätsfragen einen bedeutenden Diskurs innerhalb der Kunstwissenschaft und Kunstkritik darstellen. Die in Kapitel 2.2.4 skizzierten Aspekte und weiterführenden Fragestellungen fungieren als Grundlage für die Analyse der ausgewählten künstlerischen Positionen. Insbesondere werden folgende Punkte aufgegriffen: kulturelle Schizophrenie, Identitätssuche und künstlerische Ausdrucksmodi, Selbst-Exotismus, selfing vs. othering, Hybridität in Bezug auf Identität in der iranischen Diaspora, Visualisierungsstrategien von Identität wie De/ Konstruktion, Stereotypisierung und Performativität sowie die Subversion hegemonialer Identitäts- und Kulturpolitiken. Die eben genannten Aspekte rekurrieren auf Identitätskonzeptionen des Poststrukturalismus und Postkolonialismus. Im Folgekapitel gilt es daher, die im Bereich der iranischen Kunstwissenschaft angeführten Konzepte in poststrukturalistischen und postkolonialen Identitätstheorien zu verorten, um methodische Zugänge für die Werkanalysen der Videoarbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis zu entwickeln.

2.3 Der Identitätsbegriff in postkolonialen Theorien Ein prominentes Betätigungsfeld postkolonialer Theorien ist die Untersuchung der Konstitution von Subjektformen in marginalisierten kulturellen „Peripherien“ sowie die adäquate Konzeptionalisierung von Identität, Subjektivität, Alterität und Repräsentation. Auf der Basis eines differenztheoretischen Hintergrundes wird davon ausgegangen, dass die Grenzmarkierung eines „Anderen“ bzw. eines „Außens“ für die Stabilisierung eines kulturellen Zentrums konstitutiv ist.181 In dieser Hinsicht wird auch die der westlichen Moderne entsprungene Idee eines autonomen und rationalen Subjekts kritisch hinterfragt.182 Zentrale Aspekte der postkolonialen Kritik sind demnach Fragen nach Repräsentationsmechanismen von Dominanzverhältnissen sowie die Prüfung von Konstruktions- und Etablierungsprozessen von Differenzen.183 Neben der Analyse von Repräsentationsweisen eines/einer nicht-europäischen Anderen wird versucht, die Dependenz der Selbstformung westlicher Subjektivität von Konstruktionen einer nicht-westlichen Alterität explizit zu machen. Die engen Relationen zwischen stereotypen Selbst- und Fremdrepräsentationen und die damit einhergehenden ethnischen, religiösen und nationalen Implikationen von Identität sind in der kolonialen Vergangenheit geformt worden und wirken auf gegenwärtige Subjektkonstellationen ein. In theoretischen Diskursen des Postkolonialismus nehmen Subjektkonstitutionen

181 Vgl. Reckwitz, Andreas, Subjekt (Einsichten: Soziologische Themen, Themen der Soziologie), Bielefeld 2008, 95–96. 182 Vgl. Kerner, Ina, Postkoloniale Theorien zur Einführung, Hamburg 2012, 34. 183 Vgl. Moser, Anita, Die Kunst der Grenzüberschreitung, Bielefeld 2011, 40.

106 | Visuelle Identitäten und Repräsentationsmodi von Identität eine zentrale Position ein.184 In Bezug auf textliche Repräsentationen formuliert Andreas Reckwitz wichtige Fragen, die sich in der Folge auch auf visuelle Phänomene und das Kunstfeld übertragen lassen: „Wie wird der Andere, das fremde Subjekt und wie wird umgekehrt die ‚eigene‘ Subjektform textuell dargestellt und in dieser Darstellung hergestellt? Welche asymmetrischen Differenzschemata werden verwendet, um welche Identitäten zu produzieren?“185 Postkoloniale Problemstellungen wie diese verweisen auf strukturalistische und poststrukturalistische Identitäts- und Subjekttheorien und ihr spzifisches Verständnis von Differenz. Ina Kerner beschreibt mit dem Poststrukturalismus, der Psychoanalyse und dem Marxismus drei theoretische Stränge, die wesentlichen Einfluss auf postkoloniale Theorienbildungen genommen haben. Hinsichtlich poststrukturalistischer Ansätze sind einerseits Michel Foucaults Diskursanalyse und Jacques Derridas Konzeption der Dekonstruktion als besonders wirkungsmächtig zu nennen. Die psychoanalytisch orientierten Ansätze thematisieren die psychologischen Effekte und Traumata der Kolonisation für sowohl Kolonisierte als auch Kolonisator/innen. Die feministische postkoloniale Kritik erachtet Geschlecht, Sexualität, Begehren sowie die Verschränkung von Weiblichkeit und Männlichkeit mit Rasse und Ethnizität als fundamentale Bestandteile für die Prozesse kolonialer Differenzkonstruktionen. Mit der materialistischen Wende innerhalb der Postcolonial Studies traten Fragen bezüglich der politischen Ökonomie in den Vordergrund, die auf der Feststellung basierten, dass die Analyse kolonialer und postkolonialer Konstellationen mit kapitalismuskritischen Ansätzen unabdingbar sei.186 In der Folge geht es um eine Darstellung postmoderner und poststrukturalistischer Rezeptionsstränge innerhalb der postkolonialen Theorienbildung. Die Relevanz dieser Ansätze ist zum einen durch die Resultate der bereits diskutierten Positionen der iranischen Kunstwissenschaft und zum anderen durch die Verknüpfungsmöglichkeit mit den künstlerischen Selbstbildnissen gegeben. Mit diesem Vorgehen wird das Ziel verfolgt, die innerhalb der iranischen Kunstwissenschaft skizzierten theoretischen Ansatzpunkte in Bezug auf Identität zu kontextualisieren und für die in Diskussion stehenden künstlerischen Selbstinszenierungen methodische Zugänge und Analysekriterien zu formulieren. 2.3.1 Die Problematisierung und Dezentrierung von Identität in der postmodernen und poststrukturalistischen Subjektphilosophie Ursachen für die fortschreitenden Dezentrierungsprozesse von Identität in der Spätbzw. Postmoderne wurden bereits in Kapitel 2.2.1 und 2.2.2 angeführt. Theoretisch fundierte Einsichten in diese Vorgänge liefern zunächst strukturalistische bzw. poststrukturalistische Zugangsweisen, die sich der Frage nach einer zeitgemäßen Defini184 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 96–98. 185 Ebd., 98. 186 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 34–40.

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tion des Subjektbegriffs stellen. Für Autor/innen wie beispielsweise Michel Foucault, Jacques Derrida, Pierre Bourdieu, Jacques Lacan, Ernesto Laclau und Judith Butler ist das Subjekt nicht mehr jenes der klassischen Subjektphilosophie der Frühen Moderne von 1600–1800. Dieser Konzeption zufolge wird es es als eine autonome, selbsttransparente und selbstreflexive Instanz des Erkennens und Handelns verstanden. Sein rationaler Kern wird von mentalen Qualitäten geformt und ihm werden universale, in der Vernunft oder Natur begründete Eigenschaften zugeschrieben. Dieser subjektphilosophische Diskurs hat auch das intellektuelle Denken des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst und ist eng an die Vorstellung der Moderne als gesellschaftliche Formation gekoppelt, welche die Autonomisierung und Emanzipation des Subjekts vorantreibt.187 Strukturalistische und poststrukturalistische Theoretiker/innen haben hingegen versucht, mit verschiedenen Methoden die Dezentrierung und den theoretischen „Tod“ des Subjekts zu begründen: „Das Subjekt wird ‚dezentriert‘, indem es seinen Ort als Null- und Fixpunkt des philosophischen und humanwissenschaftlichen Vokabulars verliert, es erweist sich selber in seiner Form als abhängig von gesellschaftlich-kulturellen Strukturen, die ihm nicht äußerlich sind und in deren Rahmen es seine Gestalt jeweils wechselt: Sprachspiele, symbolische Ordnungen, psycho-soziale Konstellationen und technisch-mediale Strukturen.“188

Das Subjekt kann sich nicht von diversen kulturellen Formationen emanzipieren, es ist vielmehr als Korrelat prozessualer Subjektivierungsweisen zu verstehen. Bedeutend für gegenwärtige Subjekttheorien ist die Doppeldeutigkeit des Subjektbegriffs: Gegenüber dem Objekt präsentiert es sich als scheinbar autonome, agierende und selbstbestimmte Instanz, ist jedoch als subjectum zugleich das Unterworfene, das bestimmten Regeln und kulturellen Kriterienkatalogen (wie Autonomie, Selbstverwirklichung etc.) subordiniert ist.189 So hat Louis Althusser mit der Interpellation des Subjektes den Prozess der Subjektwerdung des/der Einzelnen durch die „Anrufung“ als ein solches innerhalb der kulturellen Ordnung beschrieben.190 Ein derartiges Subjektverständnis bringt gleichermaßen eine Verschiebung der soziologischen Problemstellung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft mit sich. Auch wenn, wie Reckwitz ausführt, das Hauptaugenmerk kulturwissenschaftlicher Subjektanalysen nicht auf die Polarität zwischen Individuum und Gesellschaft, agency (Handlungsfähigkeit) und structure (Rahmen, in der sich die agency bewegt) sowie personaler und sozialer Identität gelegt wird, sondern vielmehr auf die kulturelle Form, die das Individuum in einem spezifi187 188 189 190

Vgl. Reckwitz, Subjekt, 11–13. Ebd., 13. Vgl. ebd., 13–14. In einem 1969 verfassten Aufsatz entwickelte Althusser die Konzeption von Ideologie als Interpellation von Subjekten, wonach der Ideologie die Funktion zukommt, konkrete Individuen zu Subjekten zu konstituieren. Vgl. Althusser, Louis, Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung), in: Ders. (Hg.), Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg/Berlin 1977, 108–153.

108 | Visuelle Identitäten schen historischen Kontext erhält191, sind es gerade diese Spannungsverhältnisse (agency-structure, personale-soziale Identität), die für Selbstinszenierungen innerhalb der iranischen Gegenwartskunst von Interesse sind. Kulturwissenschaftliche, poststrukturalistische und postkoloniale Subjektanalysen rekurrieren auf das semiotisch-strukturalistische Vokabular von Ferdinand de Saussure und transferieren sein differenztheoretisches Konzept von der Identität sprachlicher Zeichen auf Identitätskonzeptionen des Subjekts. Zentral für poststrukturalistische Theorien, die Subjekte als zunehmend fragile Gebilde und schwankende Gestalten interpretieren, ist die Frage nach den Mechanismen der Stabilisierung und Destabilisierung von Subjektformen innerhalb eines kulturellen Kontextes und welche Rolle dabei Körper, Psyche und Selbstverständnis spielen.192 Die strukturalistische Linguistik von Saussure gilt als wirkungsmächtiger Angelpunkt für nachfolgende philosophische und sozialwissenschaftliche Studien. Die Fruchtbarmachung seiner Ansätze für Bereiche außerhalb der Sprachwissenschaften erfolgte zum einen bereits durch Saussure selbst und zum anderen durch die Radikalisierung seiner Theorien in der Philosophie des Poststrukturalismus. Saussure zufolge können (Sprach-)Zeichen die Welt nicht so abbilden, wie sie ist; Sprache wird als Zeichensystem verstanden, das Bedeutungen erst generiert. Das sprachliche Zeichen besteht aus dem Signifikanten und dem Signifikat, deren Verhältnis arbiträr ist und keine naturgegebene Verbindung aufweist. Das sprachliche System setzt sich aus Verschiebungen der Laute und den damit verbundenen Verschiebungen der Vorstellungen zusammen: Die Bedeutungsproduktion innerhalb beider, als deckungsgleich verstandenen Differenzsysteme – die Ordnung der Signifikanten und der Signifikate – wird als ein Effekt der Differenzordnung von Einheiten verstanden, die für sich alleine bedeutungslos sind. Bedeutungen werden als bestimmbare und identifizierbare Effekte einer Struktur angesehen. Im Gegensatz zum Sprechen (parole) können Individuen die in einer Sprachgemeinschaft weitgehend unveränderliche Sprache (langue) als System gesellschaftlicher Konventionen nicht verändern. Der Saussuresche Anspruch, dass die Semiologie als neue Wissenschaft eine Zeichenanalyse im Kontext des sozialen Lebens intendiere, deutet eine Übertragung strukturalistischer Ansätze auf nicht-sprachliche Bedeutungssysteme an.193 Eine Weiterentwicklung der strukturalistischen Konzepte erfolgte in den späten Schriften bei den in der Regel dem Poststrukturalismus zugeordneten Denkern Jacques

191 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 15. 192 Vgl. ebd., 20–21. 193 Vgl. hier speziell das Unterkapitel 2.1 „Die strukturalistische Linguistik nach Saussure: Bedeutung als Effekt von Differenzierungsbeziehungen“ in folgendem Artikel: Glasze, Georg, Vorschläge zur Operationalisierung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe in einer Triangulation von lexikometrischen und interpretativen Methoden, in: FQS 8:2 (2007), http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/239/529#g21 [Stand: 10.07.2017].

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Derrida194 und Roland Barthes195. Auf Basis der Saussureschen Annahme, dass Bedeutungen Effekte von Differenzbeziehungen sind, erfolgte die Radikalisierung dessen Theorien durch den weiterführenden Gedanken, dass Strukturen niemals als geschlossen und fixiert betrachtet werden können.196 Innerhalb des offenen und sich in permanenter Bewegung und Veränderung befindlichen Systems der Sprache sind unendlich viele Differenzierungen und somit stets neue Prozesse von Sinnkonstitutionen möglich. Aus dem Spiel der Differenzen geht hervor, dass jeder Begriff auf andere verweist und dass Bedeutungsproduktionen immer flüchtig, ambivalent und unkontrollierbar bleiben.197 Barthes spricht von einer Vielzahl an Verweismöglichkeiten, der Ambiguität eines jeden Signifikanten sowie der Abwegigkeit einer Grenzziehung zwischen Konnotation und Denotation; eindeutige Interpretationen sind nicht möglich, weshalb jeder Text letztendlich „plural“ sei.198 Derrida geht davon aus, dass kein Signifikat dem Spiel der aufeinander verweisenden Signifikanten entgehen könne. Somit ist die Existenz eines ursprünglichen, transzendentalen Signifikats undenkbar, da dieses innerhalb der Differenzierungsprozesse zu verorten und als Effekt derselben beschreibbar ist. Aufgrund des offenen Verweisungszusammenhangs der Signifikanten können Bedeutungen nie fixiert werden und befinden sich somit in einem permanenten Wandel.199 Den Begriff der Dekonstruktion führte Derrida erstmals in den 1960er-Jahren in seinem Werk „Grammatologie“ ein200, um formalisierende und totalisierende Praktiken in zahlreichen Bereichen wie u. a. Lektüre, Sprechen und Schreiben zu identifizieren und diesen entgegenzuwirken. Eine Bedingung der Möglichkeit der Dekonstruktion ist ein verallgemeinerter Textbegriff.201 In einem Gespräch mit Peter Engelmann skizziert Derrida den neuen Textbegriff wie folgt: „Das was ich also Text nenne, ist alles, praktisch alles. Es ist alles, das heißt, es gibt einen Text, sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. […] Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung.“202

194 Vgl. Derrida, Jacques, Die Différance [1972], in: Ders. (Hg.), Randgänge der Philosophie, hg. v. Peter Engelmann, Wien 1988, 29–52. 195 Vgl. Barthes, Roland, S/Z [1970], übers. v. J. Hoch, Frankfurt/M. 1987. 196 Vgl. Glasze, Vorschläge zur Operationalisierung; hier insbesondere Unterkapitel 2.2: „Kritik und Radikalisierung strukturalistischen Denkens im Poststrukturalismus: Bedeutung als fragil und niemals fixiert“. 197 Vgl. Hein, Kersin, Hybride Identitäten. Bastelbiografien im Spannungsverhältnis zwischen Lateinamerika und Europa, Bielefeld 2006, 31. 198 Vgl. Barthes, S/Z, 7–9; sowie: Glasze, Vorschläge zur Operationalisierung. 199 Vgl. Glasze, Vorschläge zur Operationalisierung. 200 Vgl. Derrida, Jacques, De la grammatologie, Paris 1967. 201 Vgl. Engelmann, Peter, Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie, in: Ders. (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, 5–32, hier 18–20. 202 Zit. nach ebd., 20–21; vgl. auch folgende Veröffentlichung des Gesprächs: Engelmann, Peter, Jacques Derridas Randgänge der Philosophie, in: Bernard, Jeff (Hg.), Semiotica Austriaca, Wien 1987, 107–108.

110 | Visuelle Identitäten Dieser erweiterte Textbegriff ermöglicht die Übertragung der Dekonstruktion auf andere Gebiete, sofern sich diese unter dem erweiterten Textbegriff subsumieren lassen.203 Anna Babka und Gerald Posselt führen an, dass die Dekonstruktion ein kritisch-destruktives und ein affirmativ-rekonstruktives Moment beinhaltet. Auch wenn sie die binären und hierarchisierten Oppositionen, die den Logozentrismus und die Metaphysik der Präsenz stützen, kritisch zu analysieren versucht, kann sie nicht ohne die metaphysischen Begrifflichkeiten operieren: Diese werden wiederum, wenngleich auch in einer anderen Art, weitergeführt. Der doppelte stilistische Gestus der Dekonstruktion umfasst Derrida zufolge zum einen das Begründende, das Aufzeigen von logisch-formalen Paradoxien, und zum anderen das Geschichtliche, die Textlektüre, die sorgfältige Interpretation und die genealogische Verfahrensweise. Der Begriff der Dekonstruktion entzieht sich jeglicher Definition und gilt weder als Theorie, Methode, Analyse noch als Kritik.204 Eine zentrale Rolle spielt die différance, ein Neologismus, der den Doppelgestus der Dekonstruktion zwischen zeitlichem Aufschub und räumlicher Verschiebung kennzeichnet, und das Spiel der Differenzen, den permanenten Prozess der sich unterscheidenden und aufeinander verweisenden Signifikanten, beschreibt. Der différance liegt eine bewusste Umschrift und Deformierung des Wortes différence zugrunde: Das nur lesbare und nicht hörbare „a“ in différance deutet den Rekurs einer jeden kommunikativen Praxis auf eine paradoxe „Ur-Schrift“ als bedeutungsgenerierende Instanz aller kulturellen und geistigen Aktivitäten an.205 Für ihre konkrete Erscheinungsweise im Text verschwimmt die différance mit Bildern; hierfür nennt Petra Gehring Begriffe Derridascher Prägung wie etwa Markierung, Rand, Bruch, Riss, Spalte, Leerstelle, Textäußeres, Ersatz und Spur. Diese Termini, die an Graphismus, Text und Schreibvorgang denken lassen, habe Derrida bewusst mit organologischen Sprach-Bildern kombiniert, welche die schriftliche Materialität verfremden und an ihrer Stelle auf den Leib und Körper-Inschriften verweisen.206 Das Derridasche Differenzkonzept und die Dekonstruktion sind für die postkoloniale Theorie und ihre kritischen Perspektiven auf Identität und Kultur wegweisend gewesen. Derridas unendliches Spiel von Differenzen impliziert die Nichtexistenz von originären Wahrheiten und feststehenden Bedeutungen. Ebenso wenig können daher Identitäten als unveränderlich und eindeutig bezeichnet werden; diese sind wie Bedeutungen stets relational, flüchtig und instabil. Ein wesentlicher Punkt ist, dass sie erst durch das, was sie nicht sind, konstituiert werden, nämlich durch das Abwesende 203 Vgl. Engelmann, Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion, 30. 204 Vgl. Babka, Anna/Posselt, Gerald, Dekonstruktion (D), Glossar: Produktive Differenzen, Forum für Differenz- und Genderforschung, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=3 [Stand: 08.07.2013]. 205 Vgl. Babka, Anna, Différance (D), Glossar: Produktive Differenzen, Forum für Differenz- und Genderforschung, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=14 [Stand: 08.07.2013]. 206 Vgl. Gehring, Petra, Dekonstruktion – Philosophie? Programm? Verfahren?, in: Jäger, Friedrich/ Straub, Jürgen (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Paradigmen und Disziplinen, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2004, 377–394, hier 382.

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bzw. ausgeschlossene „Andere“.207 Durch die Dekonstruktion binärer Oppositionspaare der westlichen Metaphysik werden Zwischenräume von Differenzen freigesetzt, die wiederum im Subjekt „[…] als Differenz zwischen dem sprechenden Subjekt und dem gesprochenen, der Sprache unterworfenen oder gar namenlosen Subjekt verankert sind.“208 Exakt an diesem Punkt schließt die postkoloniale Theorie mit ihren eigenen Dekonstruktionsverfahren an, die stärker als in Derridas Philosophie historisch und politisch orientiert sind.209 Reuter und Villa verstehen Dekonstruktion als Verfahren, Perspektive und Relektürestrategie für Texte jedweder Art, welche die machtgeleitete Produktion von Bedeutungen aufzeigen sollen. Bedeutungskonstitutionen resultieren aus den Spuren dessen, was unsichtbar gemacht und ausgeschlossen wird; zugleich sind sie auf die différance, die unabschließbaren inner- und intertextuellen Sinnverschiebungen zurückzuführen.210 Dieser poststrukturalistische Ansatz ist gleicherweise für Prozesse der Konstruktion und Konstitution von Identität, wie er in postkolonialen Theorienbildungen beschrieben wird, grundlegend. In der Folge geht es darum, den Identitätsbegriff aus theoretischen Perspektiven der Postcolonial Studies zu betrachten und ihn zugleich produktiv mit Formen der Selbstinszenierung in der iranischen Videokunst zu verknüpfen. 2.3.2 Zur Konzeption der/des postkolonialen „Anderen“ Ein großer Teil der Literatur, die sich mit Identitätsfragen postkolonialer „Anderer“ auseinandersetzt, fokussiert den Status von Migrant/innen ehemaliger Kolonien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in europäischen oder nordamerikanischen Metropolen.211 Hier werden Themen wie u. a. Rassismus, Strategien antirassistischer Mobilisierung, Subjektivierungseffekte kolonialistischer Diskurse und Fragen der kulturellen Identität behandelt. Im Kontrast zu traditionellen und um innere Kohärenz bemühte Identitätstheorien machen postkoloniale Perspektiven die Ambivalenzen und Dichotomien personaler sowie kollektiver Identität explizit. Das begriffliche Vokabular hinsichtlich minorisierter Subjekte ist häufig von Metaphern der Vermischung und Überschreitung inspiriert und wird sowohl auf Formationsprozesse von Identität in den Postkolonien 207 Vgl. Moser, Die Kunst der Grenzüberschreitung, 40. 208 Ebd., 40. 209 Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie), Hamburg 42010, 190. 210 Vgl. Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene, Provincializing Soziologie. Postkoloniale Theorie als Herausforderung, in: Dieselben (Hg.), Postkoloniale Soziologie. Empirische Befunde, theoretische Anschlüsse, politische Intervention, Bielefeld 2010, 11–46, hier 16. 211 Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 114; Kerner führt für die deutschsprachige Diskussion dieses Sachverhalts zudem folgende Publikationen an: Ha, Kein Nghi, Ethnizität und Migration, Münster 1999; Steyerl, Hito/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (Hg.), Spricht die Subalterne Deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003; Ha, Kein Nghi/Lauré al-Samarai, Nicola/Mysorekar, Sheila (Hg.), re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Colour auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster 2007.

112 | Visuelle Identitäten als auch auf jene der globalen, postkolonialen Migration bezogen.212 Zu den Begründer/innen der angloamerikanischen Postcolonial Studies, die den Identitätsdiskurs mit zentralen Konzepten bereichert haben, zählen die Literaturwissenschaftler/innen Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhabha. Ausgewählte theoretische Ansätze der genannten Autor/innen stehen in der Folge auch im Fokus. In den nachfolgenden Abschnitten werden zunächst die wesentlichen, integralen Bestandteile des Begriffs der personalen Identität wie „Person/Persönlichkeit“, „Subjekt“ und „Selbst/Selbstkonzept“ untersucht, da diese für die Visualisierungsformen des Künstler/innen-Subjekts in Selbstbildnissen von Interesse sind. Basierend auf poststrukturalistischen und postkolonialen Identitätstheorien werden in einem weiteren Schritt jene zentralen Termini dieser Forschungsbereiche erläutert, die für die in Diskussion stehenden künstlerischen Selbstinszenierungen von Relevanz sind. Dabei handelt es sich um Begriffsbildungen wie Identität – Alterität – Differenz, other und „strategisches Othering“, Performativität – agency, Stereotypisierung – Hybridität – Mimikry – Dritter Raum, Subalternität und Dekonstruktion. Anhand dieser Konzepte werden weiterführende Fragestellungen und Arbeitshypothesen für die nachfolgenden Werkanalysen iranischer Videokunst formuliert. Person – Persönlichkeit Persönlichkeit leitet sich vom lateinischen Begriff persona ab, der ursprünglich die gegensätzlichen Bedeutungen Maske, äußerer Schein, das Nichtwesenseigene, die Rolle sowie das Innere, Wesentliche und Wahre trug. Im Mittelalter wurde von scholastischen Philosophen daraus der Ausdruck personalitas bezogen, der von deutschen Mystikern mit Persönlichkeit übersetzt wurde und die transzendente, göttliche und unsterbliche Seite eines Wesens charakterisierte. Der Begriff Persönlichkeit wird generell dazu gebraucht, um die besondere Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Menschen sowie seine rational nicht voll erfassbare Natur zu bezeichnen.213 In der Psychologie werden darunter die überdauernden und verhaltensrelevanten Merkmale einer Person verstanden; eine allgemein anerkannte Definition ist bis dato jedoch ausständig.214 Pervin betont die Strukturhaftigkeit und den Prozesscharakter der Persönlichkeit, die Effekte und Erinnerungen der Vergangenheit sowie gegenwärtige und zukünftige Konstruktionen miteinschließt.215 Fiedler rückt in seiner Definition von Persönlichkeit die charakteristischen Verhaltensmuster, Interaktionen und interpersonelle Beziehungen in den Mittelpunkt, mit denen das Individuum soziokulturellen Anforde212 Vgl. ebd., 114–115. 213 Vgl. Laux, Lothar, Persönlichkeitspsychologie (Grundriss der Psychologie 11), Stuttgart 22008, 47–48. 214 Vgl. Merzbacher, Georg, Persönlichkeitsbeschreibung aus selbstdarstellungs- und eigenschaftstheoretischer Perspektive, Dissertation Universität Bamberg 2007, 19. 215 Vgl. Pervin, Lawrence E., The Science of Personality, New York 1996, 414.

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rungen gerecht zu werden versucht und die Ausbildung einer sinnerfüllten Identität vorantreibt.216 In Bezug auf künstlerische Selbstdarstellungen und Identitätsfragen sind einige der ursprünglichen Bedeutungshorizonte wie die Maske, Rolle und äußerer Schein von Interesse.217 Insbesondere der Maskenbegriff im Sinne von Maskierung bzw. Verbergen, Verstecken und Verhüllen ist für die Selbstdarstellungen in den Videoarbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis relevant. Im Zusammenhang damit ist auch die Rolle (bzw. das Rollenspiel) zu betrachten, die von den Künstler/ innen in ihren Inszenierungen eingenommen wird. Schließlich stellt sich die Frage, inwiefern der „äußere Schein“ Aufschluss über persönliche Merkmale des/der im Bild Dargestellten geben kann. Subjekt Andreas Reckwitz bezeichnet das Subjekt als „schwankende Gestalt im Zeitalter seiner Dezentrierung“, als heuristisches Schlüsselkonzept der Kultur- und Sozialwissenschaften des 21. Jahrhunderts und als pragmatisches, modifizierbares Werkzeug für materiale Analysen. Es ist somit kein Endpunkt einer autarken Theorie, sondern vielmehr ein Fluchtpunkt einer bestimmten analytischen Strategie, welche die Formen und Modelle des Subjekts, seines Körpers und seiner Psyche untersucht, die durch soziokulturelle Ordnungen, Praktiken und Diskurse produziert werden. Die kulturwissenschaftliche Subjektanalyse beschäftigt sich mit Prozessen der Subjektivierung bzw. Subjektivation, die das Subjekt als solches unter spezifischen Kontexten erst hervorbringen. Das Subjekt befindet sich im Prozess seiner permanenten kulturellen Produktion und ist demnach nicht als „gegeben“ bzw. „abgeschlossen“ zu betrachten. Im Fokus der kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse stehen textuelle und visuelle Diskurse, in denen Subjektformen repräsentiert, problematisiert und dekonstruiert werden.218 Diese gilt es unter dem Aspekt ihrer subjektivierenden Wirkung zu dechiffrieren, „[…] d. h., welche Formen des Körpers und der Psyche sich in ihnen produzieren, reproduzieren und torpedieren.“219 Hinsichtlich der visuellen Diskurse sind es vor allem körperliche Inszenierungen der Künstler/innen, die eine besonders relevante und ergiebige materielle Basis für Subjektanalysen darstellen. Anhand der 216 Vgl. Fiedler, Peter, Integrative Psychotherapie bei Persönlichkeitsstörungen, Göttingen 2000, 3. 217 Laux führt an, dass sich die Bedeutung von persona von den 100 v. Chr. aufgetretenen Tonmasken im römischen Theater ableiten lässt und auch bei etruskischen Grabkammern als phersu (vollständig maskierter Dämon) vorkam. Die Wortbedeutung des Maskenhaften, der Täuschung und des äußeren Scheins bevorzugt die äußere Erscheinung gegenüber der inneren Struktur. Die daraus hervorgegangene, zweite Bedeutung bezeichnet die Rolle, die ein/e Schauspieler/in spielt. Im nicht-theatralischen Kontext war damit die Rolle im öffentlichen Leben, die soziale Stellung, die Ausstrahlung und das Ansehen gemeint. Erst die dritte Wortbedeutung verlässt den äußeren Schein und bezeichnet die persönlichen Eigenschaften eines Menschen. Vgl. Laux, Persönlichkeitspsychologie, 45–46. 218 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 9–11. 219 Ebd., 10.

114 | Visuelle Identitäten künstlerischen Selbstdarstellungen soll untersucht werden, inwiefern das sich selbst im Bild inszenierende Subjekt durch äußere Faktoren – den soziokulturellen Diskursen inner- und außerhalb Irans – produziert und auf welche Weise es im Medium Video reproduziert wird. Selbst – Self Mit dem „Selbst“, das in der Alltagssprache dem Begriff des Ich entspricht, werden häufig dynamische Inhalte des Selbstbewusstseins – des phänomenalen Selbst – und das subjektive Erleben des unmittelbar gegebenen Inhalts über sich selbst diskutiert. Das bewusste Empfinden und Handeln geschieht aus der „Ich-Perspektive“, die auch als Inhalte unseres Bewusstseins sprachlich repräsentiert sein können. Psychologische Forschungen unterscheiden bereits seit 1892 zwischen dem Inhalts- und Prozesscharakter des Begriffs: Das self as known bezeichnet die Summe der semantischen Inhalte des Selbst und das self as knower den fortlaufenden Bewusstseinsfluss, der sich dem self as known bewusst ist.220 Linville und Carlston betrachten self as known aus kognitionspsychologischer Sicht als den Inhalt der Selbstrepräsentation und das self as knower als mentale Prozesse, die die Selbstrepräsentationen permanent kontrollieren und regulieren. Selbstrepräsentation des self as known wird im self as knower verfügbar, letzteres erkennt sich selbst als Inhalt des ersteren.221 Self as known findet sich wiederum im Begriff des Selbstkonzepts, das eine dynamische innere Struktur und Regulationsinstanz darstellt, die intrapersonale (Emotion, Motivation) und interpersonale (soziale Wahrnehmung) Prozesse interpretiert und zwischen ihnen vermittelt. Das Selbstkonzept fungiert als subjektives Bild von sich selbst und bezeichnet die Gesamtheit der auf die eigene Person bezogenen Beurteilungen. Theorien des Selbstkonzepts befassen sich mit der Selbstaufmerksamkeit, der Selbstüberwachung, der Selbstwerterhaltung und der Selbstregulation.222 Das skizzierte Selbstkonzept lässt sich auf Inszenierungen des Selbst in künstlerischen Selbstdarstellungen übertragen, wobei hier Inhalts- und Prozesscharakter eng verschränkt sind. Inhalte des zu sehen Gegebenen sind Formen der Selbstrepräsentation (self as known) im Bild, die durch mentale Prozesse bzw. künsterische Strategien (self as knower) reguliert werden. Darüber hinaus kann mit Blick auf die in dieser Studie behandelten künstlerischen Positionen argumentiert werden, dass das Selbstkonzept nicht ausschließlich aus Beurteilungen der eigenen Person besteht, sondern auch jene „Fremdkonzepte“ mitreflektiert, die von „außen“ auf die Selbstkonsitution einwirken. 220 Vgl. Merzbacher, Persönlichkeitsbeschreibung, 34–35; sowie: James, William, Psychology. Briefer Course, New York 1892. 221 Vgl. Linville, Patricia W./Carlston, Donald E., Social Cognition and the Self, in: Devine, Patricia C./Hamilton, David L./Ostrom, Thomas M. (Hg.), Social Cognition. Impact on Social Psychology, San Diego 1994, 143–193, hier 161. 222 Vgl. Merzbacher, Persönlichkeitsbeschreibung, 36–37.

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Identität – Alterität – Differenz Als kulturtheoretisch prominenter Terminus nimmt Identität eine Schlüsselrolle in Fragehorizonten von Rasse, Klasse, Geschlecht, Nation, Kultur etc. ein. Die essentialistische Semantik des Identitätsbegriffs stürzte spätestens mit Derridas poststrukturalistischer Konzeption von Differenz als différance in eine Krise, da die scheinbar fixierten Merkmale von Identität wie Stabilität, Kohärenz und Geschlossenheit aufgebrochen, einer kritischen Analyse unterzogen und als prozessual betrachtet wurden. Identitäten, so Babka, benötigen die Bestätigung durch ihr soziales Umfeld, die Binnenstärkung durch Rituale, Symbole und Mythen und ein stigmatisiertes Außen als eine konstruierte Alterität. Innerhalb des Poststrukturalismus bezeichnet der Terminus Alterität (lat. alter: der eine, der andere von beiden) die Dichotomie von Identität und Alterität als einander bedingende Momente und intrinsische Verwobenheit von Zentrum und Rand.223 Identitätskonstruktionen erfolgen durch Ab- und Ausgrenzung, das konstitutive Außen bedingt nicht nur die Möglichkeit von Identität, sondern ist stets Teil derselben: „Alter ist kein beliebiger Anderer, alter ist der zweite von zwei gleichartigen und einander zugeordneten Identitäten im Gegensatz zu alius oder xenos (dt. der Fremde).“224 Alterität als integraler Bestandteil von Identität eröffnet den Blick auf das „Andere“ im Eigenen bzw. Selbst und legt zugleich den konstruktiven und machtdurchzogenen Herrschaftscharakter des Identitätsdiskurses offen. In postkolonialen Theorien wird konstatiert, dass die Selbstidentität des kolonisierenden Subjekts und jene der imperialen Kultur untrennbar mit der Alterität der kolonisierten Anderen verwoben sind.225 Diese Alterität wird durch Prozesse determiniert und gefestigt, die mit dem englischen Terminus othering bezeichnet werden. In Kapitel 4 und 5 wird herausgearbeitet, dass die in den künstlerischen Selbst­ darstellungen inszenierte Identität untrennbar mit Alterität verknüpft ist. Die Inszenierungsformen beider beruhen auf visuellen Strategien, die sich auf differenzierte Weise mit Problemstellungen der Repräsentation und den damit verbundenen Bildpolitiken und Machtdiskursen auseinandersetzen. Die in den Bildern vorgeführte, augescheinliche Identität der Dargestellten wird durch unterschiedliche Formen der Sichtbarmachung von ihrem stigmatisierten „Außen“, der Alterität, verunklärt und in ihrer Eindeutigkeit und Fixiertheit dekonstruiert. Somit wird die enge Verwobenheit der sich wechselseitig bedingenden Identität und Alterität bildlich vor Augen geführt. In dieser Hinsicht spielen die Begriffe other bzw. othering eine wesentliche Rolle.

223 Vgl. Babka, Anna, Alterität (D), Glossar: Produktive Differenzen, Forum für Differenz- und Genderforschung, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=7 [Stand: 06.07.2013]. 224 Ebd. 225 Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 10.

116 | Visuelle Identitäten Other und „Strategisches Othering“ Im Feld der Subjekt- und Identitätsanalysen sind es vor allem postkoloniale Theorienbildungen, welche die widersprüchliche Konstitution eines/einer kulturell „Anderen“ kritisch in den Blick nehmen. Wissenschaftler/innen wie Edward Said, Homi K. Bhabha, Gayatri Spivak und Stuart Hall – um nur einige, prominente Namen anzuführen – haben ihren Interessensfokus auf die Konzeption von Identität, Subjektivität, Alterität und Repräsentation gelegt. Other bezeichnet das marginalisierte, nicht-europäische, postkoloniale Subjekt und etabliert damit die binäre Separation zwischen Kolonisator/innen und Kolonisierten sowie einem privilegierten, kulturellen Zentrum und einer subordinierten Peripherie. Kulturelle Repräsentationen der „Anderen“, Stereotypisierungen des Fremden und der Einsatz von asymmetrischen Differenzschemata gewährleisten die Konstitution und Stabilisierung des „Eigenen“, des imperialen Ego sowie der Identität der Kolonialmacht.226 Den Terminus other adaptierte die postkoloniale Theorie von freudianischen und postfreudianischen Analysen der Formation von Subjektivität. Der psychoanalytischen, poststrukturalistischen Subjekttheorie Jacques Lacans zufolge ist das inhomogene, gespaltene und sich selbst verkennende Subjekt durch einen primordialen Mangel gekennzeichnet und eine Instanz des Begehrens. Der Bereich des Psychischen gliedert sich in die drei sich bedingenden Register des Symbolischen, Imaginären und Realen. In seiner einflussreichen Schrift „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“227 (1949) beschreibt Lacan die Erfahrung des Ich im Spiegelbild durch den nicht sprachfähigen infans in der vorsymbolischen imaginären Phase. Der primäre Narzissmus äußert sich in der „jubilatorischen Geschäftigkeit“228 und der Identifikation mit dem scheinbar vollständigen Ideal-Ich bzw. dem Anderen im Spiegel, die zugleich eine Verkennungsfunktion in sich bergen. Das Subjekt erfährt eine Entfremdung, welche die Spaltung in das moi (auch: Imago, Abbild, imaginäres Ideal-Ich), die Selbstbeschreibung und Selbstreflexion des Einzelnen und in das je, das soziale Selbst und die eigentliche psychische Struktur des Subjekts mit dem Hauptmotor des unbewussten Begehrens, zur Folge hat.229 Dieses Begehren heftet sich an bestimmte Objekte 226 Vgl. ebd., 154–156. 227 Vgl. Lacan, Jacques, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint [1949], in: Ders., Schriften I, hg. u. erweitert v. N. Haas, Weinheim/Berlin 31986, 61–70. 228 Ebd., 63. 229 Michael Ermann beschreibt das je als tatsächlich existierendes, erlebendes Ich und als Subjekt, das aus der Außenperspektive betrachtet werden kann, während das moi das nur scheinbar existente, gesehene und idealisierte Selbst darstellt, das zum Träger des Selbstbewusstseins generiert. Vgl.: Ermann, Michael, Psychoanalyse in den Jahren nach Freud, Entwicklungen 1940–1975 (Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik), Stuttgart 2009, 102–103. Zudem gilt es zwischen dem imaginären „Ich-Ideal“ und dem „Ideal-Ich“ zu unterscheiden: Ersteres hat Vorbildfunktion und basiert auf der Einführung des Subjekts in die sprachlich-symbolische Ordnung, während das Ideal-Ich auf der imaginären Erfahrung des Spiegelstadiums beruht. Im

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(Personen oder Gegenstände), die innerhalb einer kulturellen, symbolischen Ordnung vorgegeben werden. Lacan unterscheidet hierbei zwischen dem kleingeschriebenen Anderen (Objekt Klein a) und dem „großen Anderen“ (grande-autre): Mit der ersten Bezeichnung sind Projektionen und Spiegelungen des Subjekts selbst bzw. Gegenstände oder Personen gemeint, an denen sich das Begehren orientiert und die der Ebene des Imaginären angehören. Mit dem großen Anderen hingegen sind die Sprache und die Ordnungen des Symbolischen gemeint, die sich in ihrer formalen Komplexität der subjektiven Erfassung entziehen und in Relation zum Subjekt immer in einer generellen Alterität verhaftet bleiben.230 Innerhalb der postkolonialen Theorie kann sich other bzw. der kleingeschriebene Andere auf die kolonisierten Anderen beziehen, die durch den imperialen Diskurs marginalisiert, durch ihre Differenz zum Zentrum identifiziert und zum Fokus der Kontrolle durch das imperiale Ego werden. Der oder das große Andere (Other) ist nach Lacan für das Subjekt prinzipiell konstitutiv, da dieses in dessen Blick existiert und mit der Mutter, dem Vater oder dem Unbewussten selbst in Verbindung gebracht werden kann. In postkolonialer Hinsicht kann der große Andere auf das imperiale Zentrum, den kolonialen Diskurs sowie auf das Empire selbst bezogen werden. Die Subjektivität der Kolonisierten wird demnach kontinuierlich im Blick des imperialen Anderen lokalisiert. Die Subjekte können einerseits durch die maternale und nährende Funktion sowie Ideologie der Kolonialmacht „angerufen“ werden (vgl. mother England, home). Andererseits kann das symbolisch Andere auch durch den Vater repräsentiert werden: Die Dominanz der imperialen Sprache, in welche die Kolonisierten zwangsläufig eingeführt werden, korrespondiert metaphorisch mit dem Eintritt des Subjekts in die symbolische Ordnung und der Entdeckung des väterlichen Gesetzes. Das koloniale Subjekt ist demnach sowohl ein „Kind“ des Empires als auch ein degradiertes, der Ordnung des imperialen Diskurses unterworfenes Subjekt.231

ersten Fall unterwirft sich das Subjekt dem großen Anderen und seinen Signifikanten, im zweiten Fall bespiegelt es sich selbst im Bild seiner körperlichen Einheit. Vgl. dazu: Evans, Dylan, Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übers. v. G. Burkhart, Wien 2002, 139–143. 230 Vgl. Evans, Wörterbuch, 59–60, sowie: Lacan, Jacques, The Language of the Self. The Function of Language in Psychoanalysis, übers. u. komm. v. A. Wilden, Baltimore/MD 1968. 231 Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 155–156. In der Folge wird die hier vorgeschlagene Groß- und Kleinschreibung von Other/other bzw. Andere/r und andere/r nicht beibehalten: Anstelle der Bezeichnung der Kolonisierten mit den (kleingeschriebenen) „anderen“ wird die Großschreibung – der oder die (post)koloniale „Andere“ – gewählt. Ein Grund für diese Schreibweise ist das Anliegen, die sprachlichen Dichotomien und die damit verbundenen, hierarchisierenden und abwertendenen Bedeutungsproduktionen (wie etwa „Kinder“ des Empire oder „degradiertes Subjekt“) nicht fortzuführen. Weitere Aspekte sind die Handlungspotenziale und Widerstandsformen (post)kolonialer Subjekte gegen die (post)koloniale Autorität, die eine Kleinschreibung und die damit angedeutete Subordination unter die großgeschriebenen „Anderen“ (die Kolonisator/innen) fraglich erscheinen lassen.

118 | Visuelle Identitäten In seiner Studie „Orientalism“232 entwickelte Said unter Berufung auf die Foucaultsche Diskursanalyse und Gramscis Hegemonietheorie die colonial discourse analysis, in welcher der Begriff other eine wesentliche Rolle spielt. Seiner Konzeption des Orientalismus zufolge wird der Orient in einer asymmetrischen Repräsentation als das „Andere“ des Westens konstruiert, die den Westen wiederum zu einer adäquaten Selbstrepräsentation befähigt. Im Zuge der institutionell gestützten kolonialen Praxis, die sich auf die grundlegende Differenz zwischen dem Orientalen und der westlichen Zivilisation beruft, wird das orientalische Subjekt für den Prozess der diskursiven Verfremdung instrumentalisiert.233 Der Terminus othering, der 1985 von Gayatri Chakravorty Spivak geprägt wurde, beschreibt jene Prozesse, durch die im kolonialen Diskurs die Identität der „Anderen“ in Abgrenzung zur eigenen produziert werden.234 Die Konstruktion des/ der Anderen ist dabei stets fundamental für die Konstruktion des Selbst.235 In künstlerischen Selbstdarstellungen der iranischen Gegenwartskunst wird der Begriff O/other (s. Ashcroft et al.) von den Künstler/innen strategisch instrumentalisiert, in das Selbstbild eingeschrieben oder als dekonstruktives Bildelement inszeniert. Daraus resultiert eine Auflösung der vermeintlich festgeschriebenen Grenzen zwischen self und other, die simplifizierende Identifikationen und Zuschreibungen erschwert. Der machtdurchzogene Konstruktcharakter von Identitätsdiskursen und ihren Repräsentationssystemen wird offengelegt: Selbst- und Fremdbilder verschwimmen, das Selbst ist das Andere/Fremde und umgekehrt. Dafür steht auch Lacans prominente Aussage „Le je n’est pas le moi“. Wird das Konzept des othering in den visuellen Bereich und insbesondere auf Selbstdarstellungen übertragen, lassen sich mehrere Fragestellungen formulieren: Wie kann sich othering als Prozess der Abgrenzung der eigenen Identität zu „anderen“ Identitäten in Selbstbildnissen äußern? Bedeutet othering eine Ent- bzw. Verfremdung des Selbstbildes oder dass dieses in Kontrast zu Fremdbildern entworfen wird? Oder aber können durch das othering Differenzkonzeptionen zwischen self und other aufgelöst werden? Auf welche visuellen Codes wird zurückgegriffen? Welche Rezeptionsvorgänge werden dabei bei Betrachter/innen in Gang gesetzt? Das othering kann, das ist der Ausgangspunkt, im visuellen Bereich als subversive künstlerische Strategie fungieren, mit der auf ironisierende, dekonstruierende oder auch zerstörerische Weise binäre Identitätskonstruktionen hinterfragt werden. Othering als künstlerische Strategie wird in der Folge als „strategisches othering“ bezeichnet und im Zuge der Werkanalysen näher ausgeführt.

232 Vgl. Said, Orientalism. 233 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 98–99. 234 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty, The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives, in: Barker, Francis et al. (Hg.), Europe and Its Others, Vol. 1, Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, Colchester 1985, 128–151. 235 Vgl. Ashcroft et al., Post-Colonial Studies, 156.

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Performativität236 – Agency Performativitätskonzepte sind sowohl für Theorien der Gender und Postcolonial Studies als auch der Kunstwissenschaft zentral. Mit Blick auf künstlerische Selbst­ inszenierungen iranischer Künstler/innen inner- und außerhalb Irans ist es von Interesse, wie sich performative Praktiken in visuellen Repräsentationen manifestieren. Mit Performativität als visuelle Strategie können Geschlechtsidentitäten in den sozio-politischen Kontexten Irans oder der migrantisch-diasporischen Situation Europas untersucht werden. Der Künstler/innen-Körper ist in den Selbstdarstellungen als Medium zu verstehen, durch das Identität performativ produziert wird. Das Interesse gilt hier also den performativen Strategien, die die Konstruktion und Konstitution von Geschlecht, Körper und Identität im Kontext von Selbstinszenierungen prägen. Den Begriff der Geschlechterperformativität hat Judith Butler in ihrem 1990 erschienen Buch „Gender Trouble“ ausdifferenziert. Hier charakterisiert sie Geschlechtsidentität als Effekt wiederholter performativer Akte und Prozesse diskursiver Produktionen, welche die illusionäre Kategorie eines statischen, konventionellen und wahren Geschlechts sowie die damit verknüpfte, binäre Matrix normativer Heterosexualität etablieren.237 In der Folge sind die performativen Subversionen und parodischen Praktiken von Interesse, die Butler für die Dekonstruktion normativer Kategorien wie Körper, Geschlecht und Sexualität vorgeschlagen hat. Das Konzept der Performanz entstand in der linguistischen Philosophie der 1950er-Jahre, die den Begriff als Antonym zu jenem der Kompetenz auffasste. Als angewandte und verkörperte Sprache bezieht sich die Performanz auf die aktuelle Verwendung von Sprache und bezeichnet die von einem/r individuellen Sprecher/in in einer spezifischen Situation vorgenommene Realisierung von Äußerungen. Kompetenz wird als idealistische Auffassung des/r Sprechers/in interpretiert, die Fähigkeit zu besitzen, eine unlimitierte Anzahl an Äußerungen mit einer begrenzten Menge an linguistischen Elementen zu tätigen. Das Konzept der Performanz negiert diese implizite Metaebene der Kompetenz. John L. Austins Sprechakttheorie zufolge, die posthum in der Publikation „How to Do Things with Words“ (1962) erschienen ist, hat Sprache nicht nur eine referentielle, sondern auch eine performative Funktion. Durch die Einführung der Bezeichnung performative speech acts eröffnete er ein Paradigma der Performativität im Bereich linguistischer Äußerungen.238 Mit diesem Terminus beschreibt Austin jene Sprechakte, die Handlungen 236 Die Diskussion des Performativitätsbegriffs und dessen Verknüpfungen mit Positionen der zeitgenössischen iranischen Kunst basieren auf folgendem Buchbeitrag: Vgl. Allerstorfer, Julia, Performing Visual Strategies. Representational Concepts of Female Iranian Identity in Contemporary Photography and Video Art, in: Scheiwiller, Staci Gem (Hg.), Performing the Iranian State. Cultural Representations of Identity and Nation, London et al. 2013, 173–192. 237 Vgl. Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity (Thinking Gender), New York et al. 1990. 238 Vgl. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to Do Things with Words), deutsche Bearbeitung v. Eike von Savigny, Stuttgart 21979, 35 u. 45–6. Vgl. dazu auch: Hülk, Walpurga,

120 | Visuelle Identitäten bzw. konventionelle Vorgänge vollziehen.239 Eine relevante Bewertung performativer Äußerungen orientiert sich nicht nach deren wahrhaftigen Wert oder Nutzen, sondern nach dem Erfolg oder Scheitern hinsichtlich ihrer intendierten Bedeutungen. Der Begriff „performativ“ skizziert somit die Konstitution einer bedeutsamen Handlung. Während die Geistes- und Sozialwissenschaften Texte, Monumente und Artefakte als primäre Themen wissenschaftlicher Auseinandersetzung fokussierten, in denen kulturelle Manifestationen analysierbar sind, wiesen Anthropolog/innen wie Milton Singer darauf hin, dass auch Kulturen durch Performanzen hergestellt werden.240 Während der 1980er- und 1990er-Jahre wurde der Terminus Performanz durch Michel Foucault241, Jacques Derrida242, Judith Butler243 und Erika Fischer-Lichte244 revitalisiert und wiedereingeführt. Während Foucault und Derrida die linguistische Auseinandersetzung um kritische soziologische Aspekte bereicherten, brachte Butler die Argumentationslinie einer performativen Geschlechtsidentität ein. Fischer-Lichte, Mitbegründerin des For-

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Paradigma Performativität, in: Erstic, Marijana/Schuhen, Gregor (Hg.), Avantgarde-Medien-Performativität: Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2005, 1–17, hier 2–3. Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, 35 u. 45–6. Milton Singer hat Ende der 1950er-Jahre den Begriff cultural performance geprägt und diesen für die Beschreibung von spezifischen Beispielen kultureller Organisationsformen wie u. a. Hochzeiten, Tempelfeiern, Rezitationen, Spiele, Tänze, musikalische Konzerte etc. verwendet. Vgl. dazu: Singer, Milton, Traditional India. Structure and Change, Philadelphia 1959, xii–xiii. Foucault hat die Iteration und Wiederholbarkeit sprachlicher Äußerungen problematisiert und auf die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Determination von Identität hingewiesen. Darüber hinaus setzt er eine Monumentalisierung und Materialisierung der Auffassung von Performanz in Gang. Seiner Meinung nach ist die Materialität einer sprachlichen Äußerung für diese konstitutiv, weil sie nach einer Substanz, einem Überträger, einem Ort und einer Zeit verlangt: Wenn sich diese situativen Indizien verändern, modifiziert die Äußerung ihre Identität. Vgl. Foucault, Michel, Die Archäologie des Wissens, Frankfurt 1969, 147; sowie: Wirth, Uwe, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Ders. (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, 9–60, hier 42–43. Im Zuge seiner dekonstruktiven Kritik der Sprechakttheorie führt Derrida Kategorien des Erfolgs und Verfehlens der Sprechakte ein und konfrontiert diese wie Foucault mit Problemstellungen der Iteration und Rezitaion. Somit verbindet er die Auffassung von Performanz mit jener von Schrift: Die Funktionalität von Sprache ist generell mit der von Schrift verbunden. Vgl. Derrida, Jacques, Signatur Ereignis Kontext [1971], in: Limited Inc, übers. v. W. Rappl, Wien 2001, 15–45, hier 38–39; sowie: Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, 19. Vgl. Butler, Gender Trouble. Körperliche Aspekte sind für das theatralische Konzept der Performanz Fischer-Lichtes zentral, das eine wechselseitige Dependenz zwischen Theatralik und Aufführung kennzeichnet. Sie verknüpft Inszenierung mit Performativität und unterscheidet zwischen vier unterschiedlichen Aspekten: Performanz, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung. Performanz wird als Repräsentationsprozess des Körpers und der Stimme vor einer physischen Präsenz von Zuschauer/ innen skizziert. Vgl. Fischer-Lichte, Erika, Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Weg zu einer performativen Kultur, in: Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt 2002, 277–300, hier 299.

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schungszentrums Interweaving Performance Cultures245, beschäftigt sich mit Fragen nach Inszenierungsstrategien als performative Elemente der zeitgenössischen Kultur. Butler charakterisiert das biologische und soziale Geschlecht sowie Sexualität als performative Effekte geschlechtsspezifischer Diskurse, in denen das Geschlecht wiederholt durch diskursive Praktiken konstruiert wird: „There is no gender identity behind the expressions of gender; identity is performatively constituted by the very ,expressions‘ that are said to be its results.“246 Der performative Akt der Verkörperlichung stellt eine Bedingung für die Konstitution von Geschlechtsidentität dar.247 In ihrem Buch „Bodies That Matter“ (1993) differenziert sie zwischen Performativität und Performanz. Letzterer Begriff wird als eine bewusst inszenierte Aufführung verstanden und setzt die Existenz eines handelnden Subjekts voraus, das nach Butlers Performativitätskonzept durch vollführte (Sprech-)Akte etabliert wird. Der Erfolg dieser Akte hängt von den performativen Äußerungen und deren Wahrnehmbarund Wiederholbarkeit innerhalb eines Systems kanonischer Normen und Konventionen ab: „[P]erformance as bounded ,act‘ is distinguished from performativity insofar as the latter consists in a reiteration of norms which precede, constrain and exceed the performer and in that sense cannot be taken as the fabrication of the performer’s ,will‘ or ,choice‘; further, what is ,performed‘ works to conceal, if not to disavow, what remains opaque, unconscious, unperformable. The reduction of performativity to performance would be a mistake.“248

Die Autorität der Performativität resultiert aus den permanenten, ritualisierenden Iterationen sozial forcierter Konventionen im Kontext der binären Matrix der Heterosexualität. Zugleich ermöglicht die Performativität von Geschlechtszugehörigkeit die Unterminierung der diskursiven Normalisierung von Geschlechtsidentität, da die Veränderung eines Kontextes, in dem eine Äußerung bzw. Zuschreibung erfolgt, auch die Bedeutung modifiziert. Somit lassen sich Fehler, Deplatzierungen und Oppositio­nen in den repetitiven performativen Praktiken der Matrix der Macht verorten, die Geschlechtsidentitäten hervorbringen.249 In ihrer Studie „Gender Trouble“ äußert sich Butler wie folgt über die parodische Wiederholung eines vermeintlichen „Originals“: „The parodic repetition of ,the original‘ […] reveals the original to be nothing other than a parody of the idea of the natural and the original.“250 Neben Verfehlung, Zitation und Rezitation, die für ihre 245 Vgl. http://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/en/v/interweaving-performance-cultures [Stand: 11.07.2013]. 246 Butler, Gender Trouble, 25. 247 Vgl. Butler, Judith, Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Conboy, Katie/Medina, Nadia/Stanbury, Sarah (Hg.), Writing on the Body. Female Embodiment and Feminist Theory, New York 1997, 401–417, hier 402. 248 Butler, Judith, Bodies That Matter, 234. 249 Vgl. dazu Bublitz’ nützliche Erläuterungen zum Begriff der Geschlechterperformativität, die auf Butlers Büchern „Gender Trouble“, „Bodies That Matter“ und „The Psychic Life of Power“ basieren: Bublitz, Hannelore, Judith Butler zur Einführung, Hamburg 2007, 70–74. 250 Butler, Gender Trouble, 31.

122 | Visuelle Identitäten Analysen geschlechtsspezifischer, performativer Praktiken grundlegend sind, führt sie gleicherweise Parodie und Travestie als Strategien subversiver Repetition an, die körperliche Kategorien denaturalisieren und resignifizieren können. Parodie und Travestie als strategische Interventionen exemplifiziert Butler anhand der drag performance: „In imitating gender, drag implicitly reveals the imitative structure of gender itself – as well as its contingency.“251 Darüber hinaus beschreibt sie Zitationalität und Performativität des Geschlechts als streitbare Praxis politischer Agitation. Aufgrund der durch Crossdressing, Make-up, Gestik und Mimik vollzogenen geschlechtlichen Rollenwechsel besitzt die drag performance das Potenzial, die Imitation und Vortäuschung von Geschlecht zu entlarven. Eine Konsequenz dieser strategischen Mimesis von Geschlecht ist das Verschwimmen der Grenzen, die durch die binäre Matrix der Geschlechterdifferenzierung und Heterosexualität gesetzt wurden. Durch die Möglichkeit der Imitation demaskiert die drag performance die artifizielle und konstruierte Textur von Geschlecht und dekonstruiert somit dessen scheinbare Authentizität, Originalität und Kontingenz.252 Eine interessante Verbindung lässt sich zur persischen Bezeichnung naqsh herstellen, die auf Performanz, Performativität und die subversiven Widerstandsstrategien bezogen werden kann. Der Begriff hat mehrere Bedeutungen253, wird aber in diesem Kontext auf Kopie, Modell oder Rolle bezogen. Im Zuge der in Berlin im Jahr 2008 organisierten Ausstellung „Naqsh: An Insight into Gender and Role Models in Iran“ wurde der Terminus in den Zusammenhang traditioneller und alltäglicher Bilder von Geschlechtsidentitäten, Rollenbilder und Verhaltensmuster gestellt.254 Naqsh bezieht sich sowohl auf künstlerische Selbst- und Fremdporträts als auch auf Rollenbilder, die für die soziale Organisation und Regulierung von Geschlecht von Bedeutung sind. Die durch sozio-politische und religiöse Rahmenbedingungen konstituierten Rollenmodelle sind jedoch keineswegs statisch; vielmehr werden diese durch subversive künstlerische Strategien diskutiert, kritisiert und aufgebrochen: „In affirming, reproducing, questioning or resisting gender categorization in Iranian society.“255 Ein performativer Gebrauch von naqsh ermöglicht eine Demaskierung der Instrumentalisierung dieses Begriffs für kulturelle Normen und machtvolle soziale Konstruktionen von Identität und Geschlecht. Butlers Performativitätsbegriff lässt sich fruchtbar mit den visuellen Strategien in den Videoarbeiten Simin Keramatis und Shahram Entekhabis verknüpfen. Aspekte der 251 Ebd., 137. 252 Vgl. ebd., insb. iv. „Bodily Inscriptions, Performative Subversions“, 128–141. 253 B. N. Goswamy führt folgende Begriffe für naqsh an: Malerei, Druck, Färbung, Stickerei, Schnitzerei oder Gravur. Zudem assoziiert er die Bezeichnung mit Ritualen der Sufi-Orden. Naqshband wird in der Regel mit Musterzeichner übersetzt. Vgl. Goswamy, B. N., Pattern-drawers of Benares, in: The Tribune (2003), http://www.tribuneindia.com/2003/20031005/spectrum/art.htm [Stand: 11.07.2013]. 254 Vgl. Nazmy-Gandchi, Melanie, Naqsh. An Insight into Gender and Role Models in Iran (Ausst. kat. Museum für islamische Kunst, Pergamonmuseum, Berlin), Berlin 2008, 2–5, hier 4–5. 255 Ebd., 4.

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drag performance, Maskerade, Travestie und geschlechtlichen Rollenspiele fließen auf unterschiedliche Weise in die künstlerischen Selbstinszenierungen mit ein und sind als wesentliche Bestandteile der jeweiligen Identitätskonstruktionen erkennbar. Beispiele sind hier etwa die mitunter ironisierend-spielerische Instrumentalisierung des traditio­ nellen, persischen chādors256 oder die drastischen Auslöschungsverfahren durch die schwarze Farbe in zahlreichen Arbeiten iranischer Künstlerinnen. Die parodischen Imitationen gesetzlicher Auflagen und politischer Restriktionen im Kontext iranischer Gesellschaftsordnungen können als subversives Widerstandspotenzial minorisierter und unterdrückter (weiblicher) Identitäten betrachtet werden. Spielarten der drag performance können auch auf Subjektkonstitutionen im diasporisch-migrantischen Bereich in europäischen Metropolen bezogen werden, wo iranische Künstler/innen mit exotisierenden Selbstdarstellungen und Performances im öffentlichen Raum Aufmerksamkeit erregen. Hier handelt es sich um Imitationen von klischeehaften Fremdbildern des/der „Anderen“ bzw. des Orientalen, die europäische Gesellschaften weitläufig mit muslimischer Alterität und mit Migrant/innen aus dem Nahen und Mittleren Osten assoziieren. Mit den stereotypisierten Selbstbildnissen reagieren Kunstschaffende auf medial konstruierte Feindbilder. Indem diese mitunter reinszeniert werden, konfrontieren sie Betrachter/innen mit ihren Vorurteilen und Rassismen. Die subversiven Strategien der Imitation, Reiteration und Parodie ermöglichen gewissermaßen eine Dekonstruktion der hierarchischen Differenzschemata und den damit verbundenen Denkbildern. Im Zusammenhang mit Performativität ist der englische Begriff agency zu betrachten, der sich in postkolonialen Theorien auf die Handlungsfähigkeit postkolonialer Subjekte in Bezug auf die imperiale Macht bezieht, die sich sowohl in Form von Kritik als auch Resistenz äußern kann.257 Hinsichtlich der iranischen Gegenwartskunst stellt sich die Frage nach der Instrumentalisierung von widerständigen und streitbaren Strategien in Bezug auf soziokulturelle, politische Normen und ihre Rückwirkungen auf Identitätskonstitutionen innerhalb und außerhalb Irans. Stereotypisierung – Hybridität – Mimikry – Dritter Raum Homi K. Bhabha entwickelte in den Publikationen „Nation and Narration“258 (1990) sowie in der Aufsatzsammlung „The Location of Culture“259 (1994) eine auf ästhetischen, semiotischen und narratologischen Konzepten basierende, postkoloniale Kulturtheorie, die auf eine Dekonstruktion nationaler Literaturen und kultureller Identitäten abzielt. Kulturelle Repräsentationen und deren Konstruktion als Differenzen sind sowohl räumlich, im Sinne nationaler/territorialer Zuschreibungen, als auch zeitlich determi256 Der chādor (pers.: Zelt) ist ein großes, meist dunkles Tuch in Form eines Halbkreises, das von vorwiegend religiösen iranischen Frauen als Umhang über Kopf und Körper getragen wird. 257 Vgl. Ashcroft et al., Postcolonial Studies, 6–7. 258 Vgl. Bhabha, Nation and Narration. 259 Vgl. Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London/New York 1994.

124 | Visuelle Identitäten niert: „Culture’s In-Between“260 bezeichnet den Status des „Da-Zwischen“, in dem sich (post)koloniale Minoritäten und Majoritäten befinden. Kultur, die Bhabha analog zur Sprache als Modus der Weltartikulation versteht, ist prinzipiell durch eine Instabilität und Simultanität von inkommensurablen Geschichten und Orten gekennzeichnet. Das auf der Saussureschen Semiotik und dem Derridaschen Begriff der différance basierende Konzept des differentiellen „Weltartikulationsmodus“ geht davon aus, dass Kulturen eine grundlegende Differenzialität immanent ist, die sich nicht nur in Kulturkontakten und Fremdheitserfahrungen äußert. Kulturen tragen bereits einen Grenzwert an Selbstverfremdung in sich. Der differenzielle Kulturbegriff birgt das Potenzial von Antagonismen, Widersprüchlichkeiten und Inkommensurabilitäten, die als produktive Grundlage für kulturelle und politische Konzepte fungieren können.261 Im Zuge der Analyse der polysemen Repräsentationsmechanismen ethnischer Differenz orientiert sich Bhabha an Derridas dekonstruktiver Methode des Aufdeckens scheiternder Sinnlogiken. Das konstitutive Außen, das als negatives Abziehbild eine Grundlage für die Selbstkonstitution formiert, kippt häufig in positiv konnotierte Vorbilder um.262 Diese „Kippfiguren“ äußern sich beispielsweise, wie Reckwitz es formuliert, in einem „[…] Umschlagen von der Diskriminierung naturnaher Primitivität in die Faszination der Natürlichkeit des edlen Wilden.“263 Der Prozess des othering fokussiert somit nicht nur Differenzmarkierungen zwischen dem Eigenen und Anderen, da letzterer zugleich affektiv aufgeladen wird und zwischen der ambivalenten Besetzung aggressiver oder libidinöser Besetzung changiert. Das „andere“, repräsentierte Subjekt hat für den/die westliche/n Betrachter/in zudem den Status eines Fetisches. Aus der Differenzangst resultiert eine aggressive Haltung gegenüber dem Anderen, die mit der libidinösen Besetzung des Anderen als begehrenswertes Bild kombiniert wird. Letztere ist wiederum als narzisstische Vergewisserung der Kohärenz der eigenen Identität anzusehen. Bhabha nennt vier Faktoren, die ambivalente Repräsentationen des/der „Anderen“ kennzeichnen: In psychisch-affektiver Hinsicht die Aggressivität und den Narzissmus, auf symbolischer Ebene die Metapher (die kulturelle Suggestion von imaginären Einheiten wie Kultur, Rasse etc.) und die Metonymie (die Bedeutungsverschiebungen von Eigenschaften des „anderen“ Subjekts). Als ein weiterer postkolonialer Grundbegriff Bhabhas gilt die Stereotypisierung, die eine Typisierung von Subjekten mit überdeterminierten und asymmetrischen Differenzierungsschemata bezeichnet, die Auf- und Abwertungen mit sich bringen. Es waren und sind körperliche Merkmale, die (post)koloniale Sichtbarkeitsregime für die Visualisierung von ethnischer Differenz instrumentalisier(t)en. Demnach wird für Repräsentationen ethnischer Subjektformen 260 Vgl. Bhabha, Homi K., Culture’s In-Between, in: Hall, Stuart/du Gay, Paul (Hg.), Questions of Cultural Identity, London et al. 1996, 53–60. 261 Vgl. Bonz, Jochen/Struve, Karen, Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz: “in the middle of differences“, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 140–153, hier 140–143. 262 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 99–100. 263 Ebd., 100.

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bis heute auf die visuelle Ebene – und hier vor allem auf technisch reproduzierbare Medien wie Fotografie und Film – rekurriert.264 Die von Bhabha entwickelten und für den postkolonialen Identitätsdiskurs zentralen Konzepte wie Hybridität, „Dritter Raum“ und Mimikry fungieren als theo­ retische Denkfiguren des Widerstandspotenzials und der Handlungsfähigkeit der Kolonisierten gegenüber der durch die Kolonisator/innen beanspruchten kulturellen Autorität.265 Der Begriff des Hybriden nimmt auf die kulturelle Konstitution von Identität im Kontext ehemaliger Kolonialgesellschaften und westlichen Migrant/innen-Milieus Bezug.266 Hybridität bezeichnet den Kontakt zwischen Kulturen als endlose und wechselseitige Durchdringungen, die in einem Zwischenraum verortet werden.267 In einem Interview skizzierte Bhabha kulturelle Hybridität als Möglichkeit der Ausbildung eines neuen Ortes für alternative Aushandlungen von Identität, Bedeutung und Repräsentation: „The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new arena of negotiation of meaning and representation.“268 Die Neukonstruktionen von Identität werden mit ihren Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten in einem „Dritten Raum“ gedacht. Die Hybride nehmen nur Spuren der Originale auf und lassen sich von diesen nicht überschreiben, weswegen keine Differenzierung zwischen Original und Abbild mehr möglich ist. Hybridisierung als prozessuale Wiederholungsbewegung ihrer inhärenten Ambivalenz wird als widerständige Srategie in Bezug auf die Autorität der Kolonialmacht betrachtet.269 Mittlerweile sind jedoch auch mehrfach negative Implikationen des Begriffs aufgezeigt worden: In seiner kritischen Untersuchung des „Hypes um Hybridität“ entlarvt der Politologe Kien Nghi Ha das Hybride als spätkapitalistische Warenform, die mit Essenzialisierungen und Exklusionen verbunden ist und neue Formen des Konsums der „Anderen“ ermögliche.270 Bhabhas Konzeption der Mimikry beschreibt, wie kolonisierte Subjekte bewusst oder unbewusst Symbole und Zeichen der kolonisierenden Macht übernehmen und diese sukzessiv in ihr eigenes Zeichenrepertoire integrieren. Mimikry gilt als ambivalenter Vorgang der Kopie, Wiederholung und Nachahmung, der stets Abweichungen vom Ori264 Vgl. ebd., 100–103. 265 Vgl. Babka, Anna/Posselt, Gerald, Vorwort, in: Dieselben (Hg.), Über kulturelle Hybridität. Tradition und Übersetzung, übersetzt aus dem Englischen von Kathrina Menke, Wien 2012, 7–16, hier 13–14. 266 Vgl. Reckwitz, Subjekt, 103. 267 Vgl. Moser, Die Kunst der Grenzüberschreitung, 43. 268 Rutherford, Jonathan, The Third Space – Interview with Homi Bhabha, in: Ders. (Hg.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, 207–221, hier 211. 269 Vgl. Bonz/Struwe, Homi K. Bhabha, 144–145. 270 „Ermöglicht der postmoderne Hype um Hybridität auch eine fortschreitende Kommodifizierung kultureller Identitäten und Alteritäten, die als konsumierbarer Warenfetisch nicht nur unbekannte Arten der ästhetischen Differenzproduktion generieren, sondern auch tradierte Machtverhältnisse und Arbeitsverteilungssysteme in der Gesellschaft erneuern?“: Ha, Kien Nghi, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus (Cultural Studies 11), Bielefeld 2005, 13.

126 | Visuelle Identitäten ginal inkludiert.271 Bonz/Struve weisen auf den spezifischen Effekt der nur scheinbaren Einpassung postkolonialer Minderheiten in den Sinnhorizont majoritärer Gesellschaften hin, da erstere weiterhin Differenzen in sich tragen. Das Potenzial der Mimikry liegt nicht in der Etablierung einer Identität, sondern in der performativen Zurschaustellung der Ambivalenz kultureller Differenzen sowie in der Irritation und Unterwanderung der kolonialen Autorität.272 Aus den skizzierten Aneignungsprozessen der Mimikry generiert ein „Dritter Raum“ (third space), der Bhabhas Konzeptionen der Hybridisierung, Zeitlichkeit und Prozessualität vereint.273 Dieser fungiert als Zone der Kritik und Subversion hierarchischer Machtkonstellationen und den damit einhergehenden, forcierten Identitätsdiskursen. Somit stellt er einen potenziellen Handlungsspielraum für unterschiedliche Widerstandsstrategien dar. Babka/Posselt beschreiben den „Dritten Raum“ als „[…] Ort des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von Hierarchisierungen und damit Ort und Möglichkeit der Hybridisierung.“274 Hinsichtlich der Widerstandspotenziale in künstlerischen Kontexten Irans und der iranischen Diaspora, die für die vorliegende Studie relevant sind, äußern sich Bonz/Struve in Bezug auf Bhabhas Theorien wie folgt: „Die Potenziale postkolonialer Literatur und Kunst liegen also in der Möglichkeit der Formulierung verschiebender, störender, transnationaler, translationaler und, nicht zuletzt, neuer Weltartikulationen.“275 Bhabhas postkoloniales Begriffsarsenal und die damit verbundenen sprachwissenschaftlichen, psychoanalytischen und poststrukturalistischen Konzepte eigenen sich hervorragend für eine Verknüpfung mit Identitätskonstruktionen in künstlerischen Positionen zeitgenössischer iranischer Künstler/innen. In den Selbstinszenierungen werden die skizzierte „Kippfigur“ und der damit assoziierte Begriff der Stereotypisierung strategisch für Visualisierungen der eigenen Alterität bzw. zugeschriebenen Minorität verwendet. In dieser Hinsicht adaptieren Künstler/innen exakt jene Repräsentationsschemata ethnischer Differenz, die eigentlich dem visuellen Vokabular der ehemaligen Kolonialmacht bzw. der kulturellen Hegemonie in westlichen Metropolen angehört. An diesem Punkt kommt die subversive Strategie der Mimikry zum Einsatz. Bestimmte Zeichen, Symbole und konstruierte Fremdbilder der Mehrheitskultur oder der staatlich-religiösen Autorität Irans werden nur scheinbar durch Kopie oder Wiederholung übernommen. Nur scheinbar deswegen, weil in die Vorgänge der Iteration bewusst Abweichungen und Störfaktoren miteingebaut sind. Zugleich werden die von Bhabha beschriebenen Faktoren, die in den ambivalenten Repräsentationen der „Anderen“ mitschwingen, auf Selbstinszenierungen im Medium Video übertragen und als Strategien der Irritation eingesetzt. So können etwa psychisch-affektive Aspekte wie Aggressivität und Narzissmus, aber auch symbolische Codes wie Metapher 271 272 273 274 275

Vgl. Moser, Die Kunst der Grenzüberschreitung, 44. Vgl. Bonz/Struwe, Homi K. Bhabha, 149–150. Vgl. ebd., 145. Babka/Posselt, Vorwort, 12. Bonz/Struwe, Homi K. Bhabha, 146.

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und Metonymie für die körperlichen Selbstrepräsentationen fruchtbar gemacht werden. Selbstbildnisse werden etwa als widersprüchliche „Kippfiguren“ inszeniert, die zwischen (auto)aggressivem und narzisstischem Gebaren changieren. Die imaginäre Einheit von Geschlecht, Körper und Identität wird durch visuelle Zeichen nur scheinbar bzw. metaphorisch suggeriert, während die Metonymie für Verschiebungen und Störungen der Eigenschaften und Merkmale der eigenen Identität zum Einsatz kommt. So etwa wird der bedrohliche muslimische Attentäter zum harmlos-komödiantischen Alleinunterhalter oder die verschleierte iranische Frau zur politischen Aktivistin. Mit der Umkehrung und Neucodierung von kolonialen Repräsentationsmustern können Ambivalenzen kultureller Sichtbarkeitsregime und Identitätspolitiken aufgezeigt und die Autorität herrschender Systeme kritisch unterlaufen werden. Die Konzeption des „Dritten Raumes“ als Zone der Handlungsmöglichkeit, Aushandlung von Differenzen und Aufzeigen von Ambivalenzen kann auf die Sphäre künstlerischer Strategien und Praktiken inner- und außerhalb Irans übertragen werden. Dieser Zwischenraum oder „alternative Kunstraum“ markiert zugleich die Möglichkeit für Hybridität und die Neukonstruktion von selbstbstimmten Identitäten. Subalternität Der Begriff „Subalterne“ und die damit in Verbindung stehenden Subaltern Studies rekurrieren auf die postkolonialen Subjektanalysen der marxistisch, feministisch und dekonstruktivistisch orientierten Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak. Ihre Forschungsbereiche umfassen die Schnittstellen zwischen Klasse, Ethnizität und Geschlechterdifferenz sowie die Unterdrückungsmechanismen der Frauen des Globalen Südens.276 In Anlehnung an Antonio Gramsci und die indische Subaltern Studies Group entfaltete sie in ihrem 1988 erschienenen Text „Can the Subaltern speak?“277 ihre Konzeption von Subalternität. Spivak beschreibt subalterne Subjekte wie folgt: „Let us move to consider the margins (one can just as well say the silent, the silenced center) of the circuit marked out by this epistemic violence, men and women among the illiterate peasantry, the tribals, the lowest strata of the urban subproletariat.“278

Als subaltern werden jene nicht-westlichen und nicht-elitären Bevölkerungsschichten und deren Identitätskonstitutionen in (post)kolonialen Kontexten bezeichnet, denen jegliche soziale Mobilität und Artikulationsmöglichkeit verwehrt bleibt. Den angloamerikanischen Postkolonialismus kritisiert Spivak insofern, dass dieser weitgehend auf 276 Vgl. Nandi, Miriam, Gayatri Chakravorty Spivak. Übersetzungen aus anderen Welten, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 129–139, hier 131. 277 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern speak?, in: Nelson, Cary/Grossberg, La­ w­rence (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana 1988, 271–313. 278 Ebd., 283.

128 | Visuelle Identitäten westliche Diskurse über die „Anderen“ beschränkt ist und darüber hinaus maskuline, der Mittel- und Oberschicht angehörige, nicht-westliche Identitätsformen und Praktiken fokussiert, falls diese überhaupt Sichtbarkeit erlangen.279 Zentral ist die Frage, ob Subalterne für sich selbst sprechen und sich selbst repräsentieren können oder ob für sie gesprochen wird und sie repräsentiert werden.280 Spivak versteht die Subalternen als heterogene Gruppe und als keine „[…] authentischen Subjekte, denen man als Wissenschaftler/in oder auch als politische/r Aktivist/in lediglich zuhören müsse, um Wahrheiten über sie und ihre persönliche und kollektive Lebenssituation zu erfahren.“281 Anhand des Verbots der in Indien üblichen Witwenverbrennung durch die englische Kolonialverwaltung demonstriert Spivak das Fehlen einer adäquaten Repräsentation der Betroffenen durch indigene Eliten oder die Engländer. Die Anmaßung, für und an Stelle dieser als passive Opfer erachteten Frauen sprechen zu können, bringt deren Stimmen zum Verschwinden. Mit der rhetorischen Fragestellung „Can the Subaltern speak?“ ist keineswegs die Passivität, Wehr- und Stimmlosigkeit dieser Frauen gemeint. Spivak zufolge impliziert Sprechen den vollständigen Vollzug eines Sprechaktes, der diesen Frauen jedoch verwehrt bleibe, da ihnen kein Gehör geschenkt werde.282 Das „Nicht-Sprechen-Können“ der Subalternen verweist somit auf bestehende, oppressive Machtverhältnisse, die ein Vortragen ihrer heterogenen Anliegen und eine erfolgreiche Selbstrepräsentation unmöglich machen.283 Im Zuge einer Revision des französischen Poststrukturalismus, und insbesondere der Autoren Michel Foucault und Gilles Deleuze, stellt Spivak die zentrale These auf, dass selbst kritische Intellektuelle die „Andere Frau“ (Other Woman) zum Schweigen verurteilen, indem sie diese als transparentes, mit sich selbst identisches Subjekt mit einem freien Willen denken. Ihr Plädoyer ist daher eine kontextsensible und vor allem selbstreflexive Auseinandersetzung mit den problematischen Fremdrepräsentationen sowie ein verstärktes Bewusstsein der eigenen, privilegierten Position in der sozialen Struktur. Insbesondere postkoloniale Intellektuelle sollten sich ihrer „Täter/innenrolle“ bewusst sein, anstelle sich als „Opfer“ westlicher Rassismen zu betrachten.284 Eine spezfische Bedeutung spielt für Spivak die Übersetzung, die nicht nur die lingusitische Domäne, sondern auch jene der Kultur(en) betrifft. Im Zuge von Translationsprozessen bestehe daher die Gefahr, „[…] tradierte Bilder und Klischees von der anderen Kultur zu reproduzieren und dadurch die ohnehin vorhandenen Machtdifferenzen zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen zu perpetuieren.“285 Spivaks Vorschlag lautet, das Andere zu lernen, indem Interpret/ innen eine Intimität zu dem jeweiligen kulturellen Kontext aufbauen und sich den Tex279 280 281 282 283 284 285

Vgl. Reckwitz, Subjekt, 104–105. Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 69. Kerner, Postkoloniale Theorien, 103–104. Vgl. Nandi, Gayatri Chakravorty Spivak, 131–132. Vgl. Kerner, Postkoloniale Theorien, 105. Vgl. Nandi, Gayatri Chakravorty Spivak, 132. Ebd., 136.

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ten „fraglos ausliefern“.286 Spivaks Text „Can the Subaltern speak?“ endet mit folgendem, oft missinterpretierten Fazit: „The subaltern cannot speak.“287 Spivak wurde u. a. vorgeworfen, dass sie mit Aussagen wie dieser das Stereotyp des zum Schweigen verurteilten, nicht-westlichen Subjekts konsolidieren würde. Die Autorin selbst betont, dass den Subalternen kein Gehör geschenkt wird, auch wenn diese immer wieder zu sprechen versuchen; zurückzuführen sei dies auf das hegemonial strukturierte Hören. Insofern wird subalternen Gruppierungen keineswegs Sprachlosigkeit oder fehlendes Handlungspotenzial zugeschrieben, da diese durchaus sprechen, aber nicht gehört werden.288 In der Folge stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Begriff Subalternität auf iranische Künstler/innen inner- oder außerhalb Irans bezogen werden kann. Folgt man Spivaks Ausführungen, ist die Bezeichnung wahrscheinlich weder für jene Kunstschaffende im Kontext von Diaspora und Migration in westeuropäischen oder nordamerikanischen Metropolen noch für jene in Iran adäquat, da viele von ihnen wohl eher einer „privilegierten“, intellektuellen Mittelschicht angehören. Die Künstler/innen greifen jedoch häufig soziale Problemstellungen unterprivilegierter Randgruppen auf: Zu nennen sind hier etwa islamophobe Alltagsrassismen und die auf ethnischer Differenz basierenden Repräsentationsregime in visuellen Diskursen, mit denen Migrant/innen aus dem Nahen und Mittleren Osten häufig konfrontiert sind. In Iran sind es soziale Diskriminierungen, politische Missstände und nicht selten frauenspezifische Inhalte, die von Kunstschaffenden thematisiert werden. In dieser Hinsicht lassen sich die Künstler/ innen – ähnlich wie Spivak selbst – als indigene politische Aktivist/innen bezeichnen, die durch ihr Engagement im künstlerischen Bereich (und oftmals darüber hinaus) versuchen, den Subalternen Gehör zu schenken und gleichzeitig die hegemoniale Autorität – sei es die sogenannte „Leitkultur“ in multikulturellen Gesellschaften oder die staatlich-religiöse Instanz der Islamischen Republik Iran – durch subversive Systemkritik zu unterlaufen. Doch es bleibt nicht nur bei einer bloßen Auseinandersetzung mit subalternen Gruppen: Speziell in künstlerischen Selbstinszenierungen lassen sich mitunter auch Identifikationsprozesse mit den Subalternen festellen, die in Form von körperlichen Einschreibungen, Maskerade, Rollentausch oder Auslöschungsverfahren in Erscheinung treten. Der Begriff der Subalternität im Zusammenhang mit Selbstdarstellungen wird ebenso wie die Frage nach dem Selbstverständnis Simin Keramatis und Shahram Entekhabis in den nachfolgenden Kapiteln wieder aufgegriffen. Letztendlich fordert der Begriff der Subalternität auch die Autorin dazu auf, ihre Anliegen und Ansätze einer selbstkritischen Reflexion zu unterziehen. Für eine österreichische Kunsthistorikerin, die sich mit iranischer Gegenwartskunst auseinandersetzt, sind jene Gefahrenquellen von Relevanz, die Spivak mit dem eigenen, privilegierten Status und der „Täter/innenrolle“ umschrieben hat: Eine bewusste oder auch unbewusste Instrumentalisierung „subalterner“ Stimmen als Sprachrohr für eigene 286 Vgl. ebd., 136. 287 Spivak, Can the Subaltern speak?, 308. 288 Vgl. Castro Varela/Dhawan, Postkoloniale Theorie, 76.

130 | Visuelle Identitäten Interessen resultiert aus einer wenig bis unreflektierten eigenen Position und einer eindimensionalen, monokulturellen Perspektive. Somit scheint es unabdingbar, sich mit den Fragestellungen zu konfrontieren, wer für wen spricht, ob das Sprechen für oder anstelle „Anderer“ – und bestenfalls dialogisch, gemeinsam mit ihnen – erfolgt, inwiefern die „Anderen“ durch das Sprechen zum Schweigen verurteilt werden und ob diese damit wiederum durch Stereotype kolonialer Prägung repräsentiert werden. Auch müssen Spivaks Ausführungen über die Schwierigkeit kultureller Übersetzungen mitgedacht werden. Im Rahmen dieser kunstwissenschaftlichen Studie geht es um den nicht unproblematischen Translationsprozess, (Video-)Bilder der iranischen Gegenwartskunst in (die deutsche) Sprache zu transferieren und aus einer transkulturellen Perspektive bestimmte Deutungsvorschläge auszuarbeiten. Spivak fordert dazu auf, das „Andere“ adäquat zu lesen und „davon zu lernen“. Die dazu benötigte Intimität basiert auf einer Kontextsensibilität, die eine selbstreflexive Haltung und eine dialogisch-kommunikative Ebene verlangt: Mit der letzteren ist die aktive Einbeziehung der Stimmen iranischer Künstler/innen gemeint. Dekonstruktion Die Derridasche Begriffsprägung der Dekonstruktion wird auf den Vorgang einer kritischen Text- und Bildlektüre innerhalb der Kunst und Kunstwissenschaft bezogen. In Selbstinszenierungen der iranischen Gegenwartskunst sind Dekonstruktionen als strategische Verfahren und visuelle Strategien zu betrachten, die in Form von Irritationsmomenten und Störfaktoren mit der visuellen Repräsentation der eigenen Identität auftreten. Dekonstruktive Ansätze fungieren demnach sowohl als Methoden der kunstwissenschaftlichen Theorie als auch der künstlerischen Praxen. Ein Referenzpunkt für die Übertragung der Dekonstruktion aus der Philosophie in andere Disziplinen ist Derridas offener und verallgemeinerter Textbegriff. Jacques Derrida hat sich außerdem in mehreren Werken mit der Architektur-, Kunst- und Literaturtheorie befasst, in denen er die durch den Logozentrismus der abendländischen Metaphysik bestimmte Trennung von Kunst und philosophischem Diskurs aufzuheben versuchte.289 Thomas Rösch befragt die Relevanz der Dekonstruktion für die bildenden Künste, die zeitgenössische ästhetische Theorie und die Kunstwissenschaft; er verweist auf die zahlreichen sprachwissenschaftlich inspirierten Zugänge innerhalb der Kunstgeschichte: Ausgangspunkt der dekonstruktiven Analyse bildnerischer Arbeiten – und im Prinzip jeder Bildbeschreibung – ist die problematische Beziehung zwischen Sprache und Kunstwerk. Als Paradoxon der Kunstgeschichtsschreibung gilt ihr Wiederherstellungsversuch eines originären Sinngehalts, den sie in den zu erforschenden Gegenständen als repräsentiert erachtet und der in Sprache übersetzt werden soll. Rösch zufolge be289 Vgl. dazu folgende Publikationen von Jacques Derrida: La dissémination, Paris 1972; Die Wahrheit in der Malerei [La vérité en peinture, 1978], Wien 1992; Psyché. Inventions de l’autre, Paris 1987; Parages, Paris 1994.

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steht hier die Schwierigkeit in der Translation einer visuellen Sinnordnung in einen sprachlichen Text, der die Bedeutung eines prinzipiell mehrdeutigen Kunstwerks in keiner eindeutigen Übereinstimmung wiederzugeben vermag. Resultate dieses Übersetzungsvorgangs können demnach nur Sinnüberschuss oder Bedeutungsverlust sein. Im Gegensatz zu den hermeneutischen Sinnauslegungen versteht der dekonstruktive Ansatz Bildwerke als intertextuelle Gebilde und Produkte unterschiedlichster kultureller Diskurse, die sich durch Ambiguitäten und Bedeutungspluralismen auszeichnen.290 Rösch spricht von der Ausbildung einer systematischen Archäologie der Begriffssprache durch die dekonstruktive Bildanalyse, die er wie folgt skizziert: „Sie klärt den spezifischen Übersetzungsvorgang zwischen Bild und Sprache, indem sie den Zusammenhang von Anschauung und Begriff oder von Theorie und Praxis herzustellen sucht.“291 Das Kunstwerk als intertextuelles Konstrukt ist ein multidimensionaler Raum mit einer Vielzahl kultureller Zitationen, Spuren und einander überschneidender, nicht hierarchisch organisierter Bedeutungsschichten. Künstler/innen und künstlerische Intentionen sind Teile der Intertextualität bzw. der allgemeinen Textualität, die wiederum Interpretation und Kommentar, Publikationstätigkeit, Kunstinstitutionen sowie den universitären kunstwissenschaftlichen Bereich umfassen.292 Die von Rösch beschriebene, dekonstruktive kunstwissenschaftliche Methode lässt sich produktiv mit den visuellen Strategien in Selbstinszenierungen iranischer Künstler/innen verknüpfen. Zentrale Aspekte sind die intertextuelle Konstitution der künstlerischen Arbeiten und ihre prinzipielle Ambiguität, die originären Sinngehalten bzw. klassifizierbaren Identitäten entgegenwirken. Im Kontext der iranischen Gegenwartskunst und transkultureller Analyseansätze muss ein dekonstruktiver Ansatz insbesondere die komplexen Interrelationen visueller Produktionen mit sozio-politischen Diskursen berücksichtigen. In dieser Hinsicht soll die Translation des Bildes in Sprache den kommunikativen Zusammenhang zwischen visueller Perzeption und Begriffsbildung sowie theoretischem Zugang und künstlerischer Praxis aufzeigen. Zentral ist das Aufspüren der in den künstlerischen Werken angelegten Widersprüchlichkeiten und Paradoxien sowie die Untersuchung der Konstruktion und Destruktion von Bedeutung und Sinneinheiten. Dekonstruktion wird als Verfahren betrachtet, das Künstler/ innen als subversive künstlerische Strategie für die Repräsentation, Visualisierung und auch De/Stabilisierung von (ihrer eigenen) Identität einsetzen. Im Zuge der Konzeptkunst beschäftigten sich Kunstschaffende seit Beginn der 1960er-Jahre mit dem Problem der Sprachlichkeit und des traditionellen Selbstverständnisses von Kunst. In den 1980er-Jahren wurden Derridas Schriften und die Dekonstruktion von postmodernen Kunstpraktiken und zeitgenössischen Kunsttheorien rezipiert.293 Im Kontext des Post290 Vgl. Rösch, Thomas, Kunst und Dekonstruktion. Serielle Ästhetik in den Texten von Jacques Derrida, Wien 2008, 28–32. 291 Ebd., 34. 292 Vgl. ebd., 44–46. 293 Vgl. ebd., 42–43.

132 | Visuelle Identitäten kolonialismus und insbesondere der zeitgenössischen iranischen Kunst konzentrieren sich dekonstruktive künstlerische Strategien auf die kritische Relektüre und Infragestellung von machtgeleiteten Bedeutungsproduktionen im visuellen Bereich, die auf der Exklusion der unsichtbar gemachten „Anderen“ basieren. Binäre Oppositionen und scheinbar unüberbrückbare Differenzen zwischen Identität und Alterität sowie die damit einhergehenden Hierarchisierungen und Privilegisierungen werden aufgebrochen. Identität wird in ihrer Bedeutung hinterfragt, dekonstruiert und aufgelöst. Künstlerische Selbstinszenierungen entlarven Identität letztendlich als konstruiert, instabil und widersprüchlich. Es wird vorgeschlagen, Dekonstruktion als subersive künstlerische Strategie zu betrachten, die sowohl das Moment der Dekonstruktion als auch jenes der Konstruktion von Identität(en) umfasst, weswegen der Begriff „De/ Konstruktion“ eingeführt wird.

3. Medientheorie und Identitätsthematik

Mediale und technische Spezifika von Fotografie und Video lassen sich produktiv mit Identitätsfragen verknüpfen. Als (historisches) Medium für Identitätsnachweise wird die Fotografie in ihrer zeichentheoretischen Bestimmung als Index in die Diskussion miteinfließen und auf videotheoretische Ansätze bezogen. Zunächst geht es darum, die Mediengeschichte der iranischen Fotografie und Videokunst in ihren Grundzügen zu skizzieren. In der Folge werden zentrale medientheoretische Ansätze zu Identitätsfragen vorgestellt und eine indexikalisch orientierte Leseart für Selbstdarstellungen in der iranischen Videokunst vorgeschlagen. Für die mediale Konzentration auf Videokunst lassen sich mehrere Gründe anführen. Video ist eine weitverbreitete und populäre Ausdrucksform iranischer Künstler/ innen der jüngeren Generation, die häufig für Selbstinszenierungen und damit einhergehende identitäts- und geschlechtsspezifische Fragestellungen genutzt wird. Dies gilt auch für Simin Keramati und Shahram Entekhabi. Simin Keramati, die 1970 in Teheran geboren wurde und mittlerweile in Toronto/Kanada lebt und arbeitet1, absolvierte 1995 ein Sprachstudium in Englisch an der Azad Universität und 1996 ein Malereistudium an der Kunstuniversität in Teheran.2 Ab etwa 2000 wandte sie sich neben Installationen verstärkt der Videokunst zu und gab die Malerei für einen Zeitraum von beinahe sieben Jahren auf.3 Die Auseinandersetzung mit neuen Medien gilt zudem als paradigmatisch für die iranische Kunst ab Mitte der 1990er-Jahre. Keshmirshekan zufolge ist die Phase von 1997 bis 2005 durch das Aufkommen der sogenannten „New Art“ sowie neuer Medien geprägt; gleichermaßen setzten theoretische Diskussionen und Reflexionen über Kontemporanität und zeitgenössische Kunst ein.4 Der Begriff „New Art“ bezeichnet neue künstlerische Ausdrucksformen wie Video, Installation und Kunstfotografie. Keramatis abrupter Bruch mit der Malerei und ihre intensive Beschäftigung mit Video werfen folgende Fragen auf: Entdeckte sie in diesem Medium neue Qualitäten und Ausdrucksmöglichkeiten, die für ihre bildlichen Sujets adäquater erschienen als jene des malerischen Prozesses im Sinne einer Fixierung und Fest1 Zum Zeitpunkt der Fertigstellung meiner Dissertation Ende 2013 lebte Simin Keramati noch in Teheran; ihr Umzug nach Toronto erfolgte im Folgejahr. 2 Vgl. http://www.siminkeramati.com/biography.html [Stand: 16.07.2013]. 3 Vgl. Samadzadegan, Behrang, The Judge of Other’s Judgement. A Glance at the Works of Simin Keramati, in: Art Tomorrow 3 (2011), 82–89, hier 83. 4 Vgl. Keshmirshekan, Modern and Contemporary Iranian Art, 33.

134 | Visuelle Identitäten schreibung von Bildmotiven auf eine zweidimensionale Fläche? Welche Verbindungen bestehen zwischen Keramatis Wechsel zur Videokunst und ihrem Interesse an identitäts- und frauenspezifischen Themen? Die medialen Schwerpunkte Shahram Entekha­ bis, der 1963 in Borujerd/Iran geboren wurde und seit den frühen 1980er-Jahren in Berlin lebt, umfassen Zeichnung, Malerei, Installationen, Aktionskunst/Performances sowie Fotografie und Videokunst. Nach einem an der Universität Teheran begonnenen Grafik Design-Studium emigrierte er im Revolutionsjahr 1979 nach Italien, wo er in Perugia und Reggio Calabria Italienisch, Architektur und Stadtplanung studierte. Im Zeitraum von 1983 bis 2000 war Entekhabi als freier Architekt in Berlin tätig. Seit Mitte der 1990er-Jahre beschäftigte er sich zunehmend mit Fragen der visuellen Kultur und Kunst. Ab 2001 begann er ausschließlich als bildender Künstler und zunächst vorrangig im Bereich Video zu arbeiten. Erste, experimentelle Werke entstanden im Jahr 2002.5 Viele seiner performativen Aktionen im öffentlichen Raum, in denen er sich mit der Identität und Wahrnehmung von Migrant/innen bzw. orientalischer „Anderer“ im Kontext der deutschen Gesellschaft auseinandersetzt, sind durch eine Videokamera aufgezeichnet und dokumentiert oder als Videokunst inszeniert. Keramati und Entekhabi arbeiten ferner auch im Bereich der Fotografie, obwohl die Kunstfotografie für beide kein primäres Betätigungsfeld darstellt. Fotografien kommen in erster Linie zur Dokumentation von Installationen, von Videoarbeiten auf Homepages oder in Mischtechniken zum Einsatz. Entekhabi hält vor allem seine Performances und Live-Aktionen fotografisch fest. Darüber hinaus kommt es vor, dass Bilder bzw. Stills aus Videoarbeiten später auch in Form von C-Prints oder Digitaldrucken für Fotografieprojekte neu zusammengestellt werden. In internationalen Kontexten der zeitgenössischen Kunst sind Fotografie und Video aufgrund ihrer vergleichsweise kostengünstigen Verfügbarkeit, Unmittelbarkeit und rapiden Distributionsmöglichkeiten im World Wide Web populär und weit verbreitet. William J. Mitchell verweist in dieser Hinsicht auf die Ungebundenheit der Neuen Medien von Raum und Zeit; zugleich charakterisiert er diese als Räume, in denen Konstruktionen und Zirkulationen von Bedeutungen stattfinden: „Medien haben keine Adresse … wie die in der modernen Science-Fiction sind sie überall und nirgends, einzelne und viele … sie sind nicht an einem bestimmten Ort oder in einem bestimmten Ding, sondern sie sind selbst jener Raum, in dem Botschaften und Repräsentationen sich entwickeln und zirkulieren.“6

Medienspezifische Charakteristika wie die Ort- und Zeitlosigkeit spielen für Visualisierungsstrategien in Selbstinszenierungen der iranischen Videokunst eine gewichtige Rolle. In vielen Videoarbeiten lassen sich weder konkrete Orte noch eine bestimmte 5 Vgl. http://www.entekhabi.org [Stand: 16.07.2013]; sowie das von mir geführte, nicht publizierte Interview mit dem Künstler: Allerstorfer, Julia, Interview mit Shahram Entekhabi, Linz, 26.06.2013. 6 Mitchell, William J., The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, Mass./London 1992, 178.

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Zeit ausmachen; Faktoren wie diese tragen wiederum dazu bei, dass sich die selbstinszenierten Figuren simplifizierenden Identifikationen und stereotypen Zuschreibungen entziehen. Aus historischer Perspektive ist die Fotografie eng mit Identitätsfragen verwoben: Aufgrund ihrer Fähigkeit, Lichtstrahlen von Objekten einzufangen, diese auf lichtempfindliche Oberflächen zu projizieren und dort als Lichtbilder zu fixieren, avancierte sie als „Identitätsausweis“ seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu dem Medium für bildliche Repräsentationen von Personen sowie für Selbst- und Fremdarstellungen.7 Roland Barthes ging sogar so weit, die Fotografie als Kunst der Person schlechthin zu bezeichnen, als jene ihrer Identität, ihres zivilen Standes und ihrer Körperlichkeit: „Photography, moreover, began historically as an art of the Person, of civil status, of what we may call, in all senses of the term, the body’s formality.“8 Irene Schubiger geht in ihrem Buch „Selbstdarstellung in der Videokunst“9 den Beziehungen zwischen den Videoselbstdarstellungen und der Selbstporträttradition in künstlerischen Arbeiten der 1970er- und 1980er-Jahre nach. Ihre zentrale These ist, dass die in den 1980ern entstandene technische Methode der Nachbearbeitung (editing) die künstlerischen Selbstdarstellungen und vor allem die Performances der 1970er im Bereich Video transformiert hat. Die Selbst-Präsentation, die auf die Situation der Künstler/ innen zwischen Videokamera und Monitor verweist, ist mit dem Prozess des self-editing verknüpft. Eine Konsequenz dieser technischen Innovation war eine veränderte Subjektkonstitution in den Selbstdarstellungen. Im Zuge ihrer Untersuchungen rekurriert Schubiger auf theoretische Modelle des gespaltenen (Jacques Lacan) und fraktalen (Jean Baudrillard) Subjekts.10 Selbstporträts, Selbstdarstellungen und Selbstinszenierungen formierten bereits seit den 1970er-Jahren einen wichtigen Bereich der Videokunst. Die technischen Innovationen und Möglichkeiten wurden in den folgenden Dekaden kontinuierlich weiterentwickelt und präzisiert. Aspekte wie „Fotografie als Identitätsausweis“ und „Selbst-Präsentation im Kontext von Performance/Self-editing in der Videokunst“ finden sich in gleicher Weise in der iranischen Mediengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In Folge soll daher die mediale Entwicklung des Porträts bzw. der Selbstdarstellung in der iranischen Fotografie und Videokunst nachskizziert werden.

3.1 Fotografie und Videokunst in Iran Die Fotografie verbreitete sich in Iran in den 1840ern, nur wenige Jahre nach ihrer Erfindung in Frankreich 1839. Als große visuelle Revolution wurde sie hauptsäch7 Vgl. Brandes, Kerstin, Fotografie und „Identität“. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld 2010, 18. 8 Barthes, Roland, Camera Lucida. Reflections on Photography [La chambre claire, Paris 1980], übers. v. R. Howard, New York 1981, 79. 9 Vgl. Schubiger, Irene, Selbstdarstellung in der Videokunst. Zwischen Performance und „Self-editing“, Berlin 2004. 10 Vgl. ebd., 9–10.

136 | Visuelle Identitäten lich durch Initiativen des qajarischen Hofes und hier insbesondere durch Nasir alDin Shah Qajar (1848–1896) gefördert. Auch die Kinematographie wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einer Europareise von Nasir al-Din Shahs Sohn, Mozaffar al-Din Shah, in Iran eingeführt. Das erste öffentliche Kino wurde 1904 in Teheran eröffnet.11 In dieser Hinsicht verlief die iranische Fotografie- und Filmgeschichte mehr oder weniger simultan mit internationalen Entwicklungen. Ihre Spezifika sind auf die selektiven Adaptionen europäischer Elemente und die Zusammenführung mit lokalen Eigenheiten und Traditionen zurückzuführen. Die Porträtfotografie und die Abbildung von Individuen zählten wie vergleichsweise in Europa und den USA seit jeher zu weitläufig gebräuchlichen Kategorien und Praxen innerhalb des Landes. Daraus ist ableitbar, dass die Fotografie in Iran ebenso wie andernorts von Beginn an als adäquates Medium für Repräsentationswünsche und Identitätsnachweise fungierte. Jedoch ist sie keineswegs als „unschuldiges“ Medium zu betrachten, da sie in ihrer anthropologischen „Spielart“ exotisierende Fremddarstellungen nicht-europäischer Individuen und Volksgruppen im Kontext des Kolonialdiskurses verbreitete und festigte. Im Zusammenhang mit neuen touristischen Absatzgebieten und den „Orientreisen“ wurden von europäischen und auch iranischen Fotografen wie etwa Antoin Sevruguin (Teheran, 1840er–1933) kommerzielle, exotisch-pittoreske Bilder für den westlichen Konsum und der damit verbundenen, romantischen Verklärung des mysteriösen Orients produziert.12 Die häufig stereotypen Bilder dieser Region und ihrer Bevölkerung basieren auf westlichen Imaginationen von einem scheinbar rückständigen und ursprüglichen Ortes.13 Neben literarischen Werken trugen diese oftmals orientalistisch konnotierten visuellen Repäsentationen dazu bei, den Orient und dessen Bevölkerung ein weiteres Mal als kulturellen Gegenpart zu einem zivilisierten Okzident zu entwerfen: Verschleierte Erotik, despotische Grausamkeit und religiöser Fanatismus zählten zu den charakteristischen Aspekten einer solchen Gesinnung.14 Speziell die Fotografie erwies sich als äußerst produktives Medium im Herstellungsprozess von Orientbildern, indem sie das orientalistische Wissenssystem durch einen effizienten technologischen Apparat für die Daten- und Faktenaufzeichnung radikal transformierte. Die 11 Vgl. Sadr, Hamid Reza, Iranian Cinema. A Political History, London 2006, 9. 12 Vgl. Vuurman, Corien J. M./Martens, Theo H., Early Photography in Iran and the Career of Antoin Sevruguin, in: Bohrer, Frederick N. (Hg.), Sevruguin and the Persian Image. Potographs of Iran: 1870–1930, Washington D.C. et al. 1999, 15–32, hier 18. 13 Vgl. Behdad, Ali, Sevruguin: Orientalist or Orienteur?, in: Bohrer, Frederick N. (Hg.), Sevruguin and the Persian Image. Photographs of Iran: 1870–1930, Washington D.C. et al. 1999, 79–98, hier 80. 14 „Orientalismus“ bezieht sich auf ein europäisches Genre bildender Kunst und Literatur im 19. Jahrhundert. Orientalistische Bildproduktionen folgen meist unrealistischen und verqueren Vorstellungen vom sogenannten Orient. Die Bezeichnung reflektiert ein nur oberflächliches Interesse des Westens für den Orient, das in dieser Epoche durch die zahlreichen Reisen zwischen Europa und Asien und die daraus resultierende Verbreitung von visuellen und literarischen Materialien genährt wurde. Vgl. dazu: Bohrer, Frederick N., Looking Through Photographs. Sevruguin and the Persian Image, in: Ders. (Hg.), Sevruguin and the Persian Image. Photographs of Iran: 1870–1930, Washington D.C. et al. 1999, 33–54, hier 38.

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Abb. 12

Kamera, so Ali Behdad, verlieh dem Orientalismus einen pseudowissenschaftlichen Touch sowie eine Aura von Objektivität, Präzision und Exaktheit. In Wirklichkeit handelte es sich bei den dargestellten Motiven oder Personen um konstruierte Stereotype im Zeichen des Kolonialismus. Neben einer scheinbar objektiven Aufzeichnung der Umwelt fungierte der fotografische Apparat als Hilfsmittel für europäische Kolonialmächte, ihre Hegemonie über ethnischen Gruppen des Orients durch eine subjektiv-stereotype Rahmung ihrer Identitäten zu wahren. Ein Fokus der orientalistischen Fotografie war demnach die visuelle Erfassung diverser orientalischer Repräsentant/ innen in exotisierendem Stil, die häufig in Form von Bildpostkarten im Genre der scènes et types enthusiastisch von einem westlichen Publikum rezipiert wurden (Abb. 12).15 Bildproduktionen wie diese, die für die Befriedigung von ethnografischen Interessen und voyeuristischen Verlangen weißer europäischer Männer inszeniert wurden, folgen vereinfachenden und irrationalen Repräsentationssystemen des Exotischen, Fremden und Unbekannten. Paradoxerweise wurden orientalistische Bildwerke wie diese in gleicher Weise in Iran rezipiert und für eigene Zwecke adaptiert. Sämtliche Darstellungsmodi und Repräsentationsweisen der orientalistischen Fotografie übten einen beachtlichen Einfluss auf die formale und inhaltliche Ausrichtung der Arbeiten iranischer Fotografen aus. In dieser Hinsicht ist auf mehrere Fotografien Antoin Sevruguins als frühe Beispiele für derartige, paradoxe Adaptionen hinzuweisen, die zugleich damit einhergehende Prozesse ästhetischer Transformation und Neucodierung dokumentieren. So zeigt ein um 1900 datierter Gelatinsilberdruck eine westliche Frau, der im Fotostudio die Möglichkeit geboten wurde, sich mit chādor und Hookah wie eine „authentische persische Frau“ zu inszenieren (Abb. 13). Bilder wie diese fungierten wahrscheinlich als Reisesouvenirs und wurden für explizit touristische Interessen in einem pseudoorientalischen Setting und in einer pseudoexotischen Manier ange15 Vgl. Behdad, Sevruguin: Orientalist or Orienteur?, 83–85.

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Abb. 13

fertigt. Im Vergleich dazu weist ein ca. zehn Jahre zuvor entstandener Albumindruck auf einen ganz anderen Typus weiblicher Repräsentation hin: Neben einem Arrangement mit Teppichen und verteilten Kleidungsstücken ist hier eine persische Frau in zeitgenössischer Mode zu sehen. Ihren Blick von dem/der Betrachter/in leicht abgewandt, wurde sie in einem nicht ganz eindeutigen Moment des Be- oder Entkleidens festgehalten (Abb. 14). Wenngleich das Bild ebenso wie jenes der westlichen Frau mit chādor und Hookah – selbstverständlich auch aufgrund der langen Belichtungszeit – ein inszeniertes ist, ist darin eine gewisse Intimität und Unmittelbarkeit erkennbar. Die Frühzeit der iranischen Fotografie war durch eine große Bandbreite fotografischer Repräsentationen geprägt: Neben scheinbar authentischen Darstellungen von Angehörigen des persischen Königshauses und der Bevölkerung bis hin zu pseudoorientalistischen Fotos von Tourist/innen waren ebenso Bilder im Umlauf, die „orientalische Subjekte“ anhand rassischer Differenzkonstruktionen im Kontext orientalistischer und kolonialistischer Diskurse produzierten. Die durch den qajarischen Königshof vorangetriebene Verbreitung der noch kostspieligen fotografischen Technik beschränkte sich zunächst auf die sozialen Oberschichten des Landes. Aus diesem Grund sind aus dieser ersten Phase hauptsächlich Porträtfotografien diverser Angehöriger der Aristokratie überliefert, die entsprechend ihres sozialen Status für Erinnerungsbilder vor der Kamera posierten. Durch das qaja­ rische Mäzenatentum entwickelte sich die Technologie relativ rasch zu einer neuen Kunstform. Bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden hauptsächlich indigene Fotografen offiziell beschäftigt; im Jahr 1888 existierten bereits mehrere Fo-

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Abb. 14

toateliers in Teheran und anderen Großstädten des Landes.16 Die Entwicklung der Fotografie in Iran ist zu großen Teilen auf die Förderinitiativen und die persönliche Leidenschaft des Herrschers Nasir al-Din Shah Qajar zurückzuführen, sodass dieser oft als Begründer vieler verschiedener Richtungen und Facetten der iranischen Fotografie bezeichnet wird.17 In diesem Kontext sind vor allem die zahlreichen, an die 43.000 Fotografien zu nennen, die sich in der Sammlung der Bibliothek des Golestan-Palastes in Teheran befinden.18 Der Schah nutzte die Fotografie sowohl für machtpolitische Selbstrepräsentationen als moderner, für eurpäische Modeerscheinungen offener Herrscher, als auch für Aufnahmen seiner vielen Haremsdamen. Iraj Afshar zufolge handelt es sich bei dem Bild mit den Lieblingskonkubinen (Abb. 15) mit großer Wahrscheinlichkeit um eines der frühesten Porträtfotografien iranischer Frauen, das überliefert ist.19 Von spezifischem Interesse ist ein in die Jahre 1865/66 datiertes Selbst16 Diese Informationen beruhen auf einem Interview Arash Hanaeis mit dem Fotografen Jamshid Hatam im Online-Magazin TehranAvenue, das bis April 2004 abrufbar war. Vgl. http://www.tehranavenue.com/ec_interview_hatam1.htm [Stand: 21.04.2004]. 17 Vgl. dazu beispielsweise: Tahmasbpoor, Mohammad Reza, Nâsir al-Dîn Shah. The Photographer King, Teheran 2002. 18 Eine Auflistung des Umfangs und der Aufbewahrungsorte von Fotografien aus qajarischer Zeit ist unter Appendix 3 in folgender Dissertation angeführt: Pérez Gonzaléz, Carmen, A comparative visual analysis of nineteenth-century Iranian portrait photography and Persian painting, Dissertation Universität Leiden 2010, 178–179. 19 Vgl. Afshar, Iraj, Some remarks on the early history of photography in Iran, in: Bosworth, E./ Hillenbrandt, C. (Hg.), Qajar Iran. Political, social and cultural change: 1800–1925, Costa Mesa/ California 21992, 261–290, hier 265. Bohrer hingegen vermutet, dass die ältesten Fotografien jene

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Abb. 15

porträt des Schahs, das wohl zu den ersten dieser Gattung zählt und in der Bibliothek des Golestan-Palastes aufbewahrt wird (Abb. 16). Donna Stein beschreibt das Selbstbildnis wie folgt: „The Shah portrays himself in the idealized studio style of the French photographer Nadar (Gaspard-Félix Tournachon, 1820–1910). His clothes are sober, reflecting contemporary European tailoring.“20 Neben dem Nachempfinden des idealisierten Stils Nadars und seiner Bekleidung in zeitgenössischer europäischer Mode ist vor allem auch die handschriftliche Notiz unter dem Albumindruck erwähnenswert, die besagt: „The picture was taken in the first 10 days of the month of Ramazan 1284, Tehran. I took this picture myself.“21 Es war dem Schah also ein Anliegen zu erwähnen, dass er selbst es war, der sich porträtiert hat. Das Bildnis des Schahs zeugt außerdem davon, dass die Gattung des Selbstporträts bereits in den 1860er-Jahren in der iranischen Fotografie präsent ist, während sie in der Malerei erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Erscheinung tritt. Mit der Einführung der Porträtfotografie als Identitätsausweis während der Pahlavi-Dynastie (1925–1979) war schließlich ein Großteil der iranischen Bevölkerung mit dem Medium konfrontiert. Darüber hinaus entwickelte sich die Pressefotovon Metzen und Prostituierten im Kontext westlicher Haremsphantasien gewesen sind. Vgl. Bohrer, Looking through Photographs, 46. Als aktuelle Studie über die Frühzeit iranischer Porträtfotografie gilt ebenso die in Buchform erschiene, bereits zitierte Dissertation: Pérez Gonzaléz, Carmen, Local Portraiture. Through the lens of the 19th century Iranian photographers (Iranian Studies Series), Leiden 2012. Für eine Untersuchung des Einflusses qajarischer auf zeitgenössische Fotografie vgl.: Scheiwiller, Staci Gem, Mirrors with Memories. Nineteenth-Century and Qajar Imagery in Contemporary Iranian Photography, Saarbrücken 2011. 20 Stein, Donna, Three Photographic Traditions in Nineteenth-Century Iran, in: Muqarnas, An Annual on Islamic Art and Architecture VI (1989), 112–130, hier 117. 21 Ebd.

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Abb. 16

grafie, die insbesondere während der Islamischen Revolution (1979) und dem IranIrak-Krieg (1980–1988) internationale Verbreitung fand. Als eigenes Studienfach wurde Fotografie erstmals im Jahr 1979 an der Hochschule für Radiotelevision und in der Folge 1984 an der Universität Teheran sowie 1994 an der Teheraner Kunstakademie und an der Azad Universität etabliert. Der Sieg der Reformisten im Jahr 1997 und die damit einhergehenden kulturpolitischen Initiativen markierten eine rasante Weiterentwicklung der Kunstfotografie. In den 1990ern begannen sich neben der bewährten Dokumentar- und Pressefotografie genuin künstlerische Spielarten im Bereich der Konzeptkunst zu formieren.22 Der Fokus auf personale Identitätsdiskurse in diesem Zeitraum wird in der intensivierten Auseinandersetzung mit Selbstporträts, Selbstdarstellungen und Selbstinszenierungen durch eine jüngere Generation iranischer Künstler/innen manifest. Die facettenreichen und vielschichtigen Spielarten der zeitgenössischen iranischen Fotografie und Videokunst beschreibt Michket Krifa als Phänomen einer buchstäblichen Explosion an Bildern, in denen Identitätsfragen ein besonderer Stellenwert zukommt: „Cette explosion d’images, tout en témoignant d’un besoin d’expression et de définition identitaire, affirme mieux que tout discours la volonté de changement et d’ouverture des iraniens.“23 Das große Interesse an Fotografie spiegeln zahlreiche Publikationen wider.24 22 Vgl. Javadi, Rana, Bref regard sur l’histoire de la photographie iranienne, in: Krifa, Michket (Hg.), Regards Persans. Iran, une révolution photographique (Ausst.kat. Fondation Electricité de France, Espace Electra Paris), Paris 2001, 28–31. 23 Krifa, Michket, Iran, une révolution photographique, in: Krifa, Michket (Hg.), Regards Persans. Iran, une révolution photographique (Ausst.kat. Fondation Electricité de France, Espace Electra Paris), Paris 2001, 20–21, hier 20. 24 Hinsichtlich kunstwissenschaftlicher Artikel wird auf sämtliche, bereits zitierte Beiträge von Hamid Keshmirshekan verwiesen, in denen immer wieder Fotografien abgebildet sind. In der folgen-

142 | Visuelle Identitäten Im Kontrast zur Fotografie und zum Film gilt Video als relativ junges, ab Mitte der 1990er-Jahre aufkommendes künstlerisches Medium. Seit Beginn der letzten Dekade verzeichnet die Videokunst eine zunehmende Popularität unter iranischen Künstler/ innen, die ausschließlich in diesem Bereich tätig sind.25 Die Quellenlage beschränkt sich hier auf diverse Kurztexte und Rezensionen im Kontext von Ausstellungen26 sowie auf vereinzelte wissenschaftliche Artikel27, die allesamt kaum oder überhaupt nicht auf mediengeschichtliche Entwicklungen und spezifische lokale Ausprägungen eingehen. Bis dato sind nach Wissensstand der Autorin keine kunst- und medienwissenschaftliche Grundlagenforschungen über die iranische Videokunst erschienen. Transdiszi­ plinäre Untersuchungen dieser künstlerischen Gattung stellen demnach ein Desiderat dar und sollten von fachkundigen iranischen Kunst- und Medienwissenschaftler/innen vor Ort durchgeführt werden. Im Zentrum der vorliegenden Studie können daher auch keine mediengeschichtlichen Nachforschungen stehen. Vielmehr geht es darum, Viden Auflistung werden exemplarisch Bücher und Ausstellungskataloge angeführt, die zeitgenössische iranische Fotografie entweder explizit oder neben anderen Kunstgattungen thematisieren. Hingewiesen wird darauf, dass diese Zusammenstellung nur Publikationen bis in das Jahr 2013 umfasst, in dem die Dissertation fertiggestellt wurde. Vgl. folgende Bücher: Amirsadeghi, Hossein (Hg.), Different Sames. New Perspectives in Contemporary Iranian Art, London 2009; Issa, Rose (Hg.), Iranian Photography Now, Ostfildern 2008; Keshmirshekan (Hg.), Amidst Shadow and Light. Contemporary Iranian Art and Artists, Hong Kong 2011; Kleinschmidt, Monique, Der reflektierte Blick. Zeitgenössische Positionen iranischer Künstlerinnen und Künstler zwischen Orient und Okzident, Saarbrücken 2007; Rahnavard, Zahra (Hg.), Contemporary Iranian Art and the Islamic World, Tehran 2002; Scheiwiller (Hg.), Performing the Iranian State. Vgl. folgende Ausstellungskataloge: Balaghi, Shiva/Gumpert, Lynn (Hg.), Picturing Iran. Art, Society and Revolution (Ausst.kat. Grey Art Gallery, New York), New York 2002; Bardaouil/Fellrath (Hg.), Iran Inside Out; Herda, Isabel (Hg.), iran.com. Iranische Kunst heute (Ausst.kat. Museum für Neue Kunst, Freiburg), Freiburg/Breisgau 2006; Issa/Pakbaz (Hg.), Iranian Contemporary Art; Merali, Shaheen, The Promise of Loss. A contemporary Index of Iran (Ausst.kat. Hilger BROT Kunsthalle Wien), Wien 2009; Merali, Shaeen/Hager, Martin (Hg.), Entfernte Nähe. Neue Positionen Iranischer Künstler/ Far Near Distance. Contemporary Positions of Iranian Artists (Ausst.kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin), Berlin 2004; Krifa (Hg.), Regards Persan; Severi, Hamid/Hallman, Gary (Hg.), Persian Visions, Contemporary Photography from Iran (Ausst.kat. Regis Center, University of Minnesota, in Kooperation mit dem Tehran Museum of Contemporary Art), Washington 2005. 25 Vgl. Habib, Susan/Darabi, Helia, Video Art as a Rising Medium. 26 Vgl. sämtliche Ausstellungen der Aaran, Azad, Etemad, Mohsen und Parking Gallery in Teheran sowie folgende Auswahl an Ausstellungen im internationalen Kontext: „Surveilling the Naked City: Video Art from Tehran“, Oslo 2013; „Part of me: Mise en abyme“, Cité Internationale des Arts, Paris 2012; „Rewind, Pause, Fast Forward: Mirrors on Iran“, Pi Artworks Galatasaray und Tophane, Istanbul 2012; „Iran via Video Current“, Thomas Erben Gallery, New York 2011; „Close to my Heart: Video Art from Iran“, Cologne International Video Festival, Köln 2011; „Iran: Preview of the Past. Contemporary Iranian Videoartists and Photographers“, Heiligenkreuzerhof, Wien 2010; „Sight Unseen: Video from Afghanistan and Iran“, Asia Society Museum, New York 2009. 27 Vgl. Habib/Darabi, Video Art as a Rising Medium; Allerstorfer, Performing Visual Strategies, 173–192; Torshizi, Foad, The Unveiled Apple. Ethnicity, Gender, and the Limits of Inter-discursive Interpretation of Iranian Contemporary Art, in: Iranian Studies 45:4 (2012), 549–569, Scheiwiller, The Online Avant-Garde. Für eine politikwissenschaftlich-soziologische Analyse bezüglich Video vgl. Shahabi, Mahmood, The Iranian Moral Panic over Video. A Brief History and a Policy Analysis, in: Semati, Mehdi (Hg.), Media, Culture and Society in Iran Living with Globalization and the Islamic State, London et al. 2008, 111–129.

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sualisierungsstrategien von Identität(en) in Selbstinszenierungen iranischer Künstler/ innen zu analysieren und dabei grundlegende medienspezifische Aspekte von Video in die Diskussion miteinfließen zu lassen. Hinsichtlich der Popularität und Präsenz von Video innerhalb der zeitgenössischen iranischen Kunst können einige Gründe angeführt werden. Als Verfahren, das die Projektion als Medium für künstlerische Ausdrucksweisen nutzt und dabei mit Ton und Zeit operiert, sind der Videokunst mehrere spezifische Qualitäten eigen. Ihr antistatischer, flexibler und hybrider Charakter, die Intimität und Instantaneität sowie der unmittelbare Effekt auf Rezipient/innen fungieren als weitere Faktoren, die zu einer Bandbreite an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten beitragen. Video ist daher ein adäquates Medium für den produktiven Einsatz von visuellen Strategien, die auf die Dekonstruktion und Transformation von festgeschriebenen Kategorien wie Ethnie und Geschlecht ausgerichtet sind. Hinsichtlich Identitätsfragen in Selbstinszenierungen der Videokunst ist interessant, dass der Begriff des Mediums in Bezug auf körperliche Selbstdarstellungen zweifach gefasst werden kann. Zum einen ist es die Projektion des eigenen Körpers, die bewusst als Medium eingesetzt wird: Das via Videokamera abgefilmte, körperliche „Bildmaterial“ wird auf einem Bildschirm projiziert. Zum anderen ist es der eigene Körper, der als Medium aufgefasst wird, über das eigenmächtig und jederzeit verfügt und für unterschiedliche Selbstinszenierungsformen eingesetzt werden kann. Performative körperliche Praktiken, die strategisch dominante Rollenbilder und stereotype Repräsentationsregime aufzubrechen suchen, werden von feministisch orientierten Künstlerinnen rund um den Globus aufgegriffen. Daher ist es auch kaum verwunderlich, dass Video häufig von iranischen Künstlerinnen verwendet wird. Ein wichtiger Grund für die rasche Adaption von Video durch die feministische Kunst Europas und Nordamerikas ab den 1970er-Jahren war die fehlende Historizität als künstlerisches Medium und die damit einhergehende Unabhängigkeit von männlich dominierten, traditionellen Gattungen wie Malerei und Plastik.28 Video koinzidierte zudem mit der Performance-Kunst der 1960er-Jahre. Diesbezüglich konstatiert Jean Fisher, dass Frauen und andere marginalisierte Gruppen in zeitbasierten Medien alternative Strategien für eine Re/Präsentation und Transformation von Subjektivität und Identität entdeckten: „[…] women’s art practice (and that of other marginalized groups) rejected a fascination with the static and autonomous art object, recognizing that it was inadequate as a model of subjectivity in a world of ever-shifting-identities.“29 Der antistatische Charakter der Videokunst eröffnet neue Ausdrucksmöglichkeiten für performativ inszenierte künstlerische Selbstdarstellungen.

28 Vgl. Meigh-Andrews, Chris, A History of Video Art. The Development of Form and Function, Oxford 2006, 236. 29 Fisher, Jean, Reflections on Echo. Sound by Women Artists in Britain, in: Iles, Chrissie (Hg.), Signs of the Times. A Decade of Video. Film and Slide-Tape Installation in Britain 1980-1990, (Ausst.kat. Museum of Modern Art Oxford), Oxford 1990, 60–67, hier 62.

144 | Visuelle Identitäten 3.2 Selbstinszenierung_Medium_Identität In diesem Kapitel werden medientheoretische Ansätze zu Identitätsfragen im Bereich von Fotografie und Video diskutiert. Ausgehend von fotografischen Indextheorien und den Ausführungen zu Identität und Repräsentation von Kerstin Brandes wird in der Folge mit einem Rekurs auf Irene Schubigers videotheoretische Thesen versucht, eine indexikalisch orientierte Leseart für Selbstdarstellungen in der Videokunst herauszuarbeiten. 3.2.1 Fototheoretische Ansätze In ihrem Buch „Fotografie und Identität. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre“30 untersucht die deutsche Kunsthistorikerin Kerstin Brandes Fotografie als zentrales Medium der visuellen Repräsentation von Identität und arbeitet in Rekurs auf fotografische, postkoloniale und feministische Theorien Möglichkeiten emanzipatorischer Bildpolitiken heraus. Zunächst geht es um die Frage nach Repräsentationsmöglichkeiten von Subjekten innerhalb eines Systems, das diesen Alterität zuschreibt, diese als „anders“ markiert und in dieser Form sichtbar macht. Im Zuge einer interdisziplinären Analyse von Sichtbarkeitskonzepten führt Brandes für die spezifischen Beweglichkeiten des Bildstatus den Begriff des „Ent/Fixierens“ ein: Damit beschreibt sie die miteinander verknüpften und permanent changierenden Akte der Bedeutungsgebung und Bedeutungsauflösung sowie ihre (ambivalent bleibende) Fixierung und Entfixierung auf und zwischen verschiedenen Ebenen. Der Ausgangspunkt ist, dass Identitäts- und Fotografiediskurse im Modus des „Ent/ Fixierens“ für emanzipatorische visuelle Strategien nutzbar gemacht werden können. Zeitgenössische Repräsentationssysteme sind maßgeblich durch das kulturelle Bild­ repertoire geprägt, das aus der engen historischen Beziehung zwischen Fotografie und Identität hervorgegangen ist. Der fotografische Diskurs fungierte hierbei stets als Medium und machtvolle Instanz der Sichtbarmachung und Fixierung von Identitäts- und Differenzkonstruktionen der „Anderen“.31 Die doppelte Evidenzartikulation32 der Fotografie hinsichtlich Objekt und Zeit, so Brandes,

30 Vgl. Brandes, Fotografie und „Identität“. 31 Vgl. ebd., 237–238. 32 Die doppelte Evidenzartikulation als zentrale Problemstellung im fotografischen Diskurs spiegelt sich in zwei verschiedenen fototheoretischen Ansätzen wider: Zum einen erfolgt die Konzentration auf die auf das Objekt gerichtete fotografische Beweiskraft, auf die fotografischen Praktiken sowie auf die Beziehung zwischen Evidenz und Indexikalität (s. Victor Burgin, Allan Sekula, Abigail Solomon-Godeau). Ausgehend von der Singularität der Fotografie wird zum anderen die Indexikalität als mediales Spezifikum untersucht und Evidenz auf die Zeitlichkeit bezogen (s. Rosalind Krauss, Philippe Dubois). Vgl. ebd., 50.

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„[…] ermöglicht die Inszenierung eines ent/fixierten Bild-Status des Anderen, indem fotografische Signifikationen von Präsenz und Absenz, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Bedeutungsbehauptungen und deren Verunsicherung offensiv miteinander und gegeneinander changieren können.“33

Die indexikalische Strukturiertheit der Fotografie lässt Visualisierungsformen entstehen, in der sich Evidenz als transgressiver Raum für Neu- und Umgestaltungen eröffnet. In Anlehnung an Derridas „Parergon“ entwirft Brandes den „parergonalen Raum“ als ein Konstrukt, der das Verhältnis von Bild und Rahmen vervielfältigt und verschiebt. In den entstehenden und entschwindenden Zwischenräumen des Rahmens ereignen sich „Ent/Fixierungen“, die eine neue oder andere Konnotation von Körperbildern zulassen. In diesen Kontext stellt die Autorin Homi K. Bhabhas Konzept des hybriden „Dritten Raumes“, das sie mit der Inszenierung fotografischer Bildräume als „Dritte Räume“ und den daraus resultierenden Möglichkeiten für emanzipatorische Handlungsfähigkeit im Bereich der visuellen Repräsentation verknüpft. Die affirmativen und dekonstruktiven ästhetischen Strategien in körperlichen (Selbst-)Repräsentationen im Medium der Fotografie reflektieren zugleich ein dezentriertes Identitätsverständnis der Künstler/innen.34 Die strategische Intervention des „Ent/fixierens“ von Identität im fotografischen Bild kann auch auf Videobilder übertragen werden, wobei hier durch Faktoren wie dem zeitlichen, in seiner Temporalität unmittelbar nachvollziehbaren Ablauf, der Simulation von Bewegung sowie der Tonspur weitere Spektren künstlerischer Gestaltungsmöglichkeit gegeben sind. Von Interesse ist außerdem die produktive Zusammenführung des „transgressiven“, „parergonalen“ Raumes mit dem hybriden „Dritten Raum“ Bhabhas und dem fotografischen Bildraum. Die emanzipatorischen Raumkonzepte und die damit einhergehenden, widerständigen Repräsentationsmöglichkeiten von Körper und Identität lassen sich auch auf bewegte Bilder der analogen und digitalen Videotechnik beziehen. Die von Brandes eingeführte Begriffsbildung des „Ent/Fixierens“ als medial bedingte Inszenierungsstrategie ist somit für Selbstdarstellungen und damit verknüpfte Identitätsfragen in Positionen der zeitgenössischen iranischen Videokunst relevant. Überlegungen wie diese basieren auf einer indexikalischen Leseart von Fotografie und Video, die in der Folge näher ausgeführt wird. Kerstin Brandes zufolge eignen sich indexikalisch orientierte Analysen, um Fotografien (und in der Folge auch Videoarbeiten), „[…] als spezifische Kreuzungspunkte historischer, politischer, gesellschaftlicher, naturwissenschaftlicher, kunsttheoretischer und/oder ökonomischer Diskurse zu untersuchen.“35 Ausschlaggebend ist dabei, dass Bildproduktionen stets komplexe Akte der Bedeutungsherstellung sind, die ins Bild transferierte Referenten erst generieren und in einer Bedeutung determinieren.36

33 34 35 36

Ebd., 239. Vgl. ebd., 239–240. Brandes, Fotografie und „Identität“, 69. Vgl. ebd.

146 | Visuelle Identitäten Die fotografische Indextheorie rekurriert auf Auszüge von Schriften des US-amerikanischen Semiotikers Charles Sanders Peirce.37 In seiner Differenzierung von drei Klassen von Zeichen, den Similes (Ikons), Indikatoren (Indizes) und Symbolen, ordnete Peirce die Fotografie sowohl den Similes als auch den Indikatoren zu. Während Fotografien als Similes ein Verhältnis der Ähnlichkeit auszeichnet, stehen sie als Indikatoren in direkter physischer Verbindung zur bezeichneten Sache.38 Für nachfolgende Fototheorien war vor allem die letzte Charakterisierung maßgeblich: Als optisch-chemische Spur des Referenzobjekts lässt sich das Wesen der Fotografie durch ihre physische Beziehung zum Abgebildeten (Index) und weniger durch ihre Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten (Ikon) und dessen Bedeutung (Symbol) beschreiben.39 Die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss war diejenige, die das semiotische Modell von Peirce reaktivierte und den fotografischen Index als Funktionsmodell der Kunst für die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht hat.40 Ausgehend von einer Kunst des Index beschrieb Krauss das Fotografische als neues Untersuchungsinstrument der zeitgenössischen Kunst, das sich als künstlerische Verfahrensweise auf bereits vorhandene Repräsentationen, Zeichen oder Codes bezieht. Die indexikalische Verfahrensweise bleibt nicht auf das Medium der Fotografie beschränkt, sondern ist überall dort greifbar, wo Reproduktionen, Einschreibungen, Spuren oder Aufzeichnungen auftreten.41 Darüber hinaus kombinierte Krauss die auf der materiellen Herstellungsbedingung basierende Theorie des fotografischen Index mit der spezifischen Bedeutungsstruktur der dabei produzierten Bilder, die Roland Barthes als fotografische „Botschaft ohne Code“42 bezeichnete: Aufgrund der indexikalisch bedingten Wirklichkeitstreue entzieht sich die Fotografie kulturellen Codierungen und wird erst nachträglich und von außen mit Bedeutung aufgeladen. Krauss folgert daraus, dass die Struktur des Index bzw. der Indexkunst sowohl Stilfragen als auch konventionelle Bedeutungsschemata ausschaltet, eine „bedeutungslose Bedeutung“43 einführt und das Kunstwerk an die „überwältigende physische Präsenz des ursprünglichen Objekts, fixiert in der Spur des 37 Vgl. Peirce, Charles Sanders, Elements of Logic (Collected Papers of Charles Sanders Peirce 2), hg. v. Charles Hartshorne u. Paul Weiss, Cambridge 1932; Ders., Die Kunst des Räsonierens, in: Ders., Semiotische Schriften, Bd. 1 (1865–1903), hg. und übers. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986, 191–201. 38 Vgl. Geimer, Peter, Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009, 23. 39 Vgl. Hölzl, Ingrid, Der autoporträtistische Pakt. Zur Theorie des fotografischen Selbstporträts am Besipiel von Samuel Fosso, München 2008, 51. 40 Vgl. Krauss, Rosalind, Anmerkungen zum Index, Teil 1, in: Dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne (Geschichte und Theorie der Fotografie 2), hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000, 249–264; Dies., Anmerkungen zum Index, Teil 2, in: Dies., Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne (Geschichte und Theorie der Fotografie 2), hg. von Herta Wolf, Amsterdam/Dresden 2000, 265–276; Dies., Die diskursiven Räume der Photographie, in: Dies., Das Fotografische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, 40–58. 41 Vgl. Brandes, Fotografie und „Identität“, 69–70. 42 Vgl. Barthes, Roland, Rhetorik des Bildes [1964], in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M. 1990, 28–46. 43 Krauss, Anmerkungen zum Index, Teil 1, 260.

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Abdrucks“44, rückbindet. Roland Barthes, der ebenso wie Peirce und Krauss von einer physischen Verbindung zwischen Objekt und Aufzeichnung ausgeht, beschrieb mit der „Emanation des Referenten“45 den Rezeptionsvorgang durch den späteren Blick des/ der Betrachters/in („Es-ist-so-gewesen“). Der Begriff der Emanation bezieht sich in seiner zeitlichen Struktur sowohl auf das materielle Kontinuum zwischen Fotografie und Objekt als auch auf dessen Entzogen- und Verschwundensein. Mit studium und punctum skizzierte Barthes kontrapunktisch zwei verschiedene Funktionsweisen der Fotografie: Während das studium ein allgemeines Interesse an Fotografien und ihren kulturell bedingten Erkenntnis- und Studienmöglichkeiten bezeichnet, markiert das punctum die sinnliche Wirkung – das nicht Erfassbare und Entgleitende, welches das studium durchbricht, den/die Betrachter/in berührt und in Form von Begehren auftritt.46 Im Anschluss an Peirce, Krauss und Barthes konstatierte der Fototheoretiker Philippe Dubois in seiner Studie „Der fotografische Akt“47, dass das Potenzial der Indexikalität in ihrer Überwindung der Mimesis liegt. Der Index-Status der Fotografie kann ihre Polarität zwischen wirklichkeitsgetreuen Abbildern und bloßen, ideologisch und konventionell bedingten Realitätseffekten auflösen und zu einer differenzierten Betrachtung anregen. Das fotografische Spurenprinzip ist für Dubois bloß ein Teil des fotografischen Ablaufs und bezieht sich ausschließlich auf den kurzen Moment des Einschreibungsprozesses der Welt auf eine lichtempfindliche Fläche. Nur in diesem Augenblick der Belichtung ist die Fotografie als Spur und als Botschaft ohne Code zu betrachten; vor und nach diesem Zeitpunkt ist sie durch kulturell codierte und vor allem menschliche Gesten bestimmt.48 Fototheoretische Diskurse der späten 1970erund 1980er-Jahre, die eine indexikalische Verfasstheit der Fotografie fortführten, gingen davon aus, dass das Medium per se keine Identität, Eigenart und spezifische Bedeutung unabhängig des jeweiligen soziokulturellen und institutionellen Kontextes besitzt.49 Wie bereits angeführt, setzt Kerstin Brandes in Rekurs auf Krauss und Dubois 44 Ebd., 262. 45 Vgl. folgendes Zitat: „The photograph is literally an emanation of the referent.“ Barthes, Camera Lucida, 80. 46 Vgl. dazu Barthes Ausführungen zum punctum in der „Hellen Kammer“: „This second element which will distrub the studium I shall therefore call punctum; for punctum is also: sting, speck, cut, little hole-and also a cast of the dice. A photograph’s punctum is that accident which pricks me (but also bruises me, is poignant to me).“ [Das zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen; denn punctum, das bedeutet auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).] Ebd., 27. 47 Vgl. Dubois, Philippe, Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv (Geschichte und Theorie der Fotografie 1), hg. v. Herta Wolf, übers. v. D. Hornig, Amsterdam/Dresden 1998. 48 Vgl. ebd., 54–55. 49 Vgl. Holschbach, Susanne, Einleitung: Vom Paradigma zu den Diskursen, in: Wolf, Herta (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. II, Frankfurt/M. 2003, 7–21, hier 7. Diese Ansicht wird in erster Linie von (u. a.) folgenden Fototheoretiker/innen vertreten: Burgin, Victor (Hg.), Thinking Photography, London 1982; Sekula, Allan, Photography against the Grain. Essays and Photo Works 1973–1983, Halifax 1984; Tagg, John, The Burden of Representation. Essays on Photographie and Histories, Basingstoke et al. 1988; Bolton, Richard

148 | Visuelle Identitäten das Indexikalische mit neuen Denkansätzen von Identität und dem von ihr eingeführten Begriff des „Ent/Fixierens“ in Verbindung: Das Spezifische der Indexikalität – und in der Folge auch die Produktivität von emanzipatorischen Identitätsdiskursen – liegt darin, da sie „etwas beschreibt, das in der Beziehung von ‚Bild‘ und ‚Objekt‘ zugleich zuviel und zuwenig ist, das darüber hinaus geht und nie völlig ausfüllt, das nie identisch werden kann und doch niemlas völlig different erscheint.“50 Die These von Brandes ist auch für künstlerische Selbstdarstellungen und der damit verknüpften Fragestellung nach Visualisierungsmöglichkeiten von Identität(en) von Interesse: Der nicht exakt fixierbare, prozessuale Status des Indexikalischen sowie die Verortung des Index in die transitorischen Zwischenräume von „realer“ Person als Referenzobjekt und (Ab-)Bild im Medium Fotografie oder Video entspricht der bereits skizzierten Problematik der visuellen Repräsentation des Identitätsbegriffs. Ähnlich wie der Zeichencharakter des Index wird auch Identität in einer direkten physischen Beziehung zum Bezeichneten, der Person, gedacht. Versteht man die indexikalische Strukturiertheit von Fotografie und Video als simultanen Überschuss und Defizit oder als das niemals Identitische und doch nicht völlig Differente, das in die Beziehung zwischen Bild und Objekt eingelagert ist, lässt sich der von Brandes dafür eingeführte Begriff der „Ent/Fixierung“ mit einer De/Zentrierung von Identität verknüpfen. Aufgrund der bildlichen Möglichkeiten der „Ent/Fixierung“ und De/Konstruktion wird Identität als dynamisch-wandelbares und daher instabiles Phänomen aufgefasst, das sich in den künstlerischen Arbeiten hegemonialen und stereotypen Zuschreibungen entzieht. Künstlerische Inszenierungsstrategien machen sich das ambivalente Potenzial des Indexikalischen zunutze, um Festschreibungen von Bedeutungen und Identitäten aufzubrechen, zu hinterfragen und neu zu definieren. Somit erscheint der Index mit seiner physischen Beziehung zum Referenzobjekt und den damit verbundenen, absichtsvollen oder unbewussten Evidenzproduktionen und Realitätsverweisen als medientheoretische Ausgangsposition für die Untersuchung von Selbstbildnissen bedeutend. In de/konstruktiven Strategien im Kontext von Selbstinszenierungen der iranischen Gegenwartskunst wird das Indexikalische als „inhaltsloses und ausgehöltes Zeichen“51 für De/Codierungen von Identität nutzbar gemacht. Im Zuge einer zeichentheoretischen Diskussion des Mediums Fotografie sollte freilich auch die ikonische Ebene – nicht zuletzt aufgrund aktuellerer Debatten52 – Erwäh(Hg.), The Contest of Meaning. Critical Histories of Photography, Cambridge/Mass. 1989; Solomon-Godeau, Abigail, Photography at the Dock. Essays on Photographic History, Institutions, and Practices, Minneapolis 1991. 50 Brandes, Fotografie und „Identität“, 71. 51 Vgl. Doane, Mary Ann, The Emergence of Cinematic Time. Modernity, contingency, and the archive, Cambridge, Mass./London 2002, 92. 52 Vgl. dazu beispielsweise den von Lars Blunck herausgegebenen Band, in dem er in seinem Beitrag eine fototheoretisch stärkere Akzentuierung der Ikonizität unternimmt: Blunck, Lars, Fotografische Wirklichkeiten, in: Ders. (Hg.), Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration, Bielefeld 2010, 9–36.

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nung finden. Obwohl die Relevanz der Ikonizität mit ihrem Ähnlichkeitsbezug zum Referenzobjekt gerade in Bezug auf Porträts und Selbstbildnisse gegeben ist, würde eine Mitberücksichtigung dieser Zeichenebene den Rahmen dieser Publikation sprengen. Ein spezifisches Verständnis des Index, wie es in Rekurs auf Kerstin Brandes dargelegt wurde, erweist sich darüber hinaus für eine Analyse von Identitätsfragen in künstlerischen Selbstinszenierungen und die zum Einsatz kommenden visuellen Strategien als produktiver. Das Index- und Spurenparadigma der Fotografie ist von soziologischer53 und kunsthistorischer54 Seite mehrfach angefochten worden. Auch im Kontext der Digitalisierung der Fotografie gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Indextheorie kritisiert.55 Die von Wolfgang Kemp geäußerte Kritik, dass mit der Konzentration auf den fotografischen Selbstabdruck die Beteiligung des/der Fotografen/in ausgeblendet werde56, wird von Peter Geimer wiederum folgerichtig relativiert: Beide Faktoren existieren parallel zueinander und sind komplementäre Eigenschaften der Fotografie, deren Anteile je nach Funktion, Autor/in und Technik in unterschiedlichem Ausmaß zum Einsatz kommen.57 Ingrid Hölzl konstatiert, dass die Indextheorie auch am „Ende des fotografischen Zeitalters“58 nicht an Relevanz verloren hat: „Auch digitale Bilder sind, wenn sie mittels einer optischen Apparatur aufgenommen wurden, fotografische Indexzeichen und mit Computergrafiken mitnichten gleichzusetzen.“59 Peter Lunenfeld betont in Bezug auf die digitale Fotografie, die er mit dem Begriff des „dubitativen Bildes“ assoziiert, dass diese zeichentheoretisch nicht länger als Index im Peirceschen Sinne oder als Lichtschrift, sondern als „geschriebener Text“ bzw. Schrift zu fassen sei.60 Herta Wolf zufolge sollte bei der Wesensbestimmung der digitalen Fotografie neben dem Was (dem Referenten) und dem Wie (der Bildgestaltung) auch das Wodurch (das Repräsentationsmedium) des Bildes Beachtung finden.61 Aus den aufgelisteten Positionen 53 Vgl. hier in erster Linie Bourdieus Ansatz von der Fotografie als ausschließlich soziale Praxis: Bourdieu, Pierre, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, übers. v. U. Rennert, Frankfurt/M. 1981. 54 Vgl. dazu u. a.: Kemp, Wolfgang, Theorie der Fotografie 1839–1912, in: Ders. (Hg.), Theorie der Fotografie I, München 1980, 13–45; Ders., Theorie der Fotografie 1912–1945, in: Ders. (Hg.), Theorie der Fotografie II, München 1979, 13–38; Ders., Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie, München 2006; Snyder, Joel, Das Bild des Sehens, in: Wolf, Herta (Hg.), Paradigma Fotografie, Frankfurt/M. 2002, 23–59; Ders., Pointless, in: Elkins, James (Hg.), Photography Theory, New York/London 2007, 369–385. 55 Vgl. beispielsweise: Mitchell, The Reconfigured Eye. 56 Vgl. Kemp, Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie, 34. 57 Vgl. Geimer, Theorien der Fotografie, 53. 58 Hölzl bezieht sich hier auf die von Herta Wolf herausgegebenen Bände zur Fototheorie: Wolf, Herta (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1, Frankfurt/M. 2002; Dies. (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, Frankfurt/M. 2003. 59 Hölzl, Der autoporträtistische Pakt, 32. 60 Vgl. Lunenfeld, Peter, Digitale Fotografie. Das dubitative Bild [2000], in: Stiegler, Bernd (Hg.), Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, 344–361. 61 Vgl. Wolf, Herta, Objektiv-objektiv. Zu den technologischen Implikationen von Fotografie, in: Wüstenrotstiftung (Hg.), Digitale Bildverarbeitung, eine Erweiterung oder radikale Veränderung

150 | Visuelle Identitäten geht hervor, dass das Indexikalische – wenn auch mit anderer Bezeichnung – trotz der veränderten technischen und in der Folge auch manipulativen Möglichkeiten der Digitalisierung als theoretische medienspezifische Konstante bestehen bleibt. 3.2.2 Theorien im Bereich Video In diesem Abschnitt geht es um medientheoretische Ansätze, die sich mit der Frage nach Visualisierungsformen von Identität in Selbstdarstellungen im Bereich der Videokunst auseinandersetzen. Wie bereits im Kontext fototheoretischer Positionen vorgeschlagen, kann der indexikalische Status der Fotografie mit seiner physischen Beziehung zum Referenzobjekt, seines Verweischarakters und Spurenparadigmas auch auf das Video übertragen werden. In Anbetracht der medialen Differenzen zwischen Fotografie- und Videoaufzeichnung verfügt letztere über ein anderes bzw. erweitertes Spektrum an technischen Möglichkeiten. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Faktoren Zeit und Ton. Video als erstes audiovisuelles Medium und elektronisches Verfahren unterscheidet sich von den fotochemischen Aufzeichnungsmedien Fotografie und Film durch die Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Wiedergabe.62 Zur Videotechnik zählen die dafür eingesetzten Geräte wie die Video- bzw. Digitalkamera, der Videorekorder oder Camcorder (Videokamera mit eingebautem Videorekorder) und der Bildschirm bzw. Monitor. Das audiovisuelle Aufnahmeverfahren operiert mit analogen oder digitalen Videosignalen63, die entweder auf einem Magnetband oder einem digitalen Speichermedium aufgezeichnet werden. Das Produkt dieses Einschreibungsprozesses in einen Bild- und Tonträger steht wiederum in einer direkten, physischen Beziehung zur bezeichneten Sache und zum Referenzobjekt. Zeichentheoretisch lässt sich demnach auch die Videotechnik als indexikalisch verfasst bestimmen. Das bewegte Bild und der Ton sind spezifische Qualitäten des Mediums, die es im Zuge von kunstwissenschaftlichen Werk­ analysen zu berücksichtigen gilt.64 Das veränderte Raum- und Zeitgefüge, der Einsatz der Fotografie?, Dokumentation des Symposiums am 12.–13.11.2004 im Museum Folkswang, Ludwigsburg 2005, 18–27. 62 Vgl. Spielmann, Yvonne, Video. Das reflexive Medium, Frankfurt/M. 2005, 7. 63 Ein Videosignal ist eine serielle Anordnung elektrischer Spannungen, durch die Bildsignale (Bildhelligkeit/Luminanz und Farbe/Chrominanz), Austastimpulse und Synchronsignale in elektrischer Form übertragen werden können. Vgl.: http://www.univie.ac.at/video/grundlagen/videosignal.htm [Stand 01.08.2013]. Die auf einer Scan-Methode basierenden analogen Videosignale stellen die Daten als kontinuierlichen Fluss dar und sind für den Fernsehbildschirm bestimmt. Zur analogen Videotechnik vgl.: Schmidt, Ulrich, Professionelle Videotechnik. Analoge und digitale Grundlagen, Filmtechnik, Fernsehtechnik, HDTV, Kameras, Displays, Videorekorder, Produktion und Studiotechnik, Berlin et al. 42005, 8–95. Digitalsignale werden aus analogen Signalen gewonnen, indem diesen in regelmäßigen Abständen Proben (Samples) entnommen und den Werten der Proben Zahlen aus einem endlichen Zahlbereich zugeordnet werden. Vgl. Schmidt, Ulrich, Digitale Film- und Videotechnik, Hamburg 22008, 109. 64 Irene Schubiger verweist diesbezüglich auf die kunstwissenschaftlichen Herausforderungen, das Verhältnis von Zeit und Darstellung sowie Zeit und Ton im Zuge von Werkanalysen von Videoarbeiten zu beschreiben. Vgl. Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 21–22.

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von Geräuschen, Musik oder Stimmen sowie die handlungsbezogenen, performativen Gestaltungsoptionen – also die Aufzeichnung eines zeitlichen Prozesses – sind mediale Qualitäten, die von Künstler/innen produktiv und strategisch für Selbstdarstellungen und Visualisierungstrategien von Identität eingesetzt werden. Die Fruchtbarmachung videotechnischer Spezifika für performative Selbstinszenierungen unterstützt wiederum die Ent/Fixierung (Brandes), De/Zentrierung und De/Konstruktion von Identität, die sich folglich stereotypen Zu- und Festschreibungen entzieht. Die kunstwissenschaftliche Forschung zu Selbstdarstellungen in der Videokunst konzentriert sich in erster Linie auf die Frühphase der 1970er- und 1980er-Jahre. Publikationen von der bereits zitierten Irene Schubiger65, Anja Osswald66 und Barbara Engelbach67 thematisieren in unterschiedlicher Gewichtung das Verhältnis von Subjekt und neuem Medium sowie die Transformation der künstlerischen Selbstdarstellung aufgrund der technischen Apparatur. Weitere Studien umfassen länderspezifische Kurzdarstellungen und Chronologien, Ausstellungsprojekte oder Monografien über einzelne Videokünstler/innen.68 Der bis dato problematische historische und theoretische Forschungsstand im Bereich der internationalen Videokunst und insbesondere auch der Videoselbstdarstellung ist mitunter auf die marginale Beteiligung der Kunstwissenschaft zurückzuführen, die sich für das bewegte und tönende Bild für geraume Zeit fachlich nicht als zuständig erachtete.69 In Anbetracht dieser Tatsache ist es kaum verwunderlich, dass sich auch die Quellenlage der erst Mitte der 1990er-Jahre in Iran einsetzenden Videokunst als äußerst spärlich erweist. Im Zuge einer kunstwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit elektronischen Medien nennt Schubiger daher sämtliche Herausforderungen und Desiderata: die Öffnung gegenüber der Medienwissenschaft und -theorie, die Entwicklung methodischer Instrumentarien unter Berücksichtigung der technischen Voraussetzungen, die adäquate medienspezifische Beschreibung, den erweiterten Werkbegriff (der Struktur und Produktionsbedingungen mitreflektiert), die Überprüfung von Gegenstand, Bilddefinition, Gattung, Mate­ rialität und Medialität sowie eine umfassende Geschichtsschreibung.70 Als paradigmatisch und wegweisend für spätere Theorien im Bereich der Videokunst gilt der 1976 in der Zeitschrift „October“ erschienene Aufsatz „Video. The aes65 Vgl. ebd. 66 Vgl. Osswald, Anja, Sexy Lies in Videotape. Künstlerische Selbstinszenierung im Video um 1970, Berlin 2003. 67 Vgl. Engelbach, Barbara, Zwischen Body Art und Video Kunst. Körper und Video in der Aktionskunst um 1970, München 2001. 68 Vgl. das Kapitel 3.2.1. „Die Geschichte der Videokunst: Selbstdarstellung in der Frühphase“ in Schubigers Buch, in dem sie den Forschungsstand eingehend diskutiert: Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 35–36. 69 Schubiger verweist auf die erst seit Mitte der 1990er-Jahre einsetzende Intensivierung der Forschungstätigkeit im Bereich der elektronischen Medien, die durch deren Bedeutung und Präsenz innerhalb der zeitgenössischen Kunst ausgelöst wurde und auch die Kunstwissenschaft zu einer Auseinandersetzung aufforderte. Vgl. ebd., 211. 70 Vgl. ebd., 40.

152 | Visuelle Identitäten thetics of narcissism“ von Rosalind Krauss.71 Hier führt die Autorin den Begriff des Narzissmus für die Beschreibung von und Bedingung für Video ein; dies sei ein Spezifikum, das Videokunst von anderen visuellen Künsten unterscheidet. Im Instant Feedback ist der/die Künstler/in zwischen Kamera und Monitor platziert, wodurch eine simultane Rezeption und Projektion des Bildes gewährleistet ist; als Verbindungsstelle fungiert hierbei die menschliche Psyche. In dieser Hinsicht spricht sie von den in der Videokunst genutzten Möglichkeiten der Selbsteinkapselung, in der Kunstschaffende aussschließlich vom eigenen Körper und der eigenen Psyche umgeben sind. Die völlige Abkapselung in der eigenen Subjektivität und der Selbstbezug birgt die Gefahr, den Blick auf die Außenwelt und ihre Bedingungen zu verlieren. Auf der Basis von psychoanalytischen Theorien über den Narzissmus von Sigmund Freud und Jacques Lacan stellt Krauss eine narzisstische Bindung der Künstler/innen an den Apparat fest, die verhindert, die objektiven medialen Beschaffenheiten für künstlerische Zwecke nutzbar zu machen.72 Nachfolgende Betrachtungen von Selbstdarstellungen in der Videokunst rezipierten psychoanalytische Analysekriterien auf und Implikationen des Narzissmus-Begriffs, während andere Facetten weitgehend unberücksichtigt blieben.73 Schubiger ordnet die von ihr untersuchten Selbstdarstellungen in ausgewählten Videoarbeiten der 1970er- und 1980er-Jahre insgesamt zwölf Kategorien zu.74 Indem sie medienspezifische Bedingungen in die Analyse der künstlerischen Selbstpräsentationen miteinbezieht, stellt sie eine medial bedingte Transformation der Selbstdarstellungen sowie einen veränderten Status der Subjektkonstellation fest. In ihrer Kritik an der Kraussschen Konzeption des Closed Circuits als narzisstische Spiegelsituation bezieht sich Schubiger auf die in Jean Baudrillards Text „Videowelt und fraktales Subjekt“75 formulierte These des Schaltkreises, des „An-sich-selbst-angeschlossen-Seins“. Dieser beruft sich wiederum auf Marshall McLuhans Extensionsbeziehung zwischen Mensch und Apparat, der zufolge der Mensch alle Medien als Ausweitungen seines Zentralnervensystems und demnach als Entäußerungen seiner selbst als Faszinosum rezipere.76 Den Begriff des fraktalen Subjekts entwickelt 71 Vgl. Krauss, Rosalind, Video. The aesthetics of narcissism, in: October 1 (1976), 51–64. 72 Vgl. ebd., 52–58. 73 Schubiger führt hier die Vernachlässigung der medial bedingten Zeitlichkeit, der Eigenschaften des Videodispositivs sowie der Genealogie von Video an. Weitere Kritikpunkte sind die Gleichsetzung des Monitors mit einem Spiegel, die fehlende Kontextualisierung der Videokunst innerhalb der Kunst der 1970er-Jahre sowie der verabsäumte Vergleich der Gattung des Selbstporträts in Video und anderen künstlerischen Ausdrucksformen wie der Zeichnung, Malerei und Fotografie. Vgl. Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 27–28. 74 Diese für die vorliegende Arbeit zum Teil nützlichen Einteilungen umfassen Konzept, Körper, Störung (I), Abstraktion (II), Apparat, Schwächung und Aufhebung der Autonomie (III), Apparat, Unbewusstes und Sprache (IV), Innenstatus, Anzeige, Wandlung, Aneignung (V), Grenzerfahrung, Körper, Apparat (VI), Reflexion, Zeit, Narziss (VII), Abkoppelung außen/innen (VIII), Tradition, Idol, Selbst (IX), Körper – Apparat, Manipulation und Deformation (X), Doppelgänger (XI), Im Schaltkreis der Apparate (XII). Vgl. ebd., 52–118. 75 Vgl. Baudrillard, Jean, Videowelt und fraktales Subjekt, in: Barck, Karlheiz et al. (Hg.), AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais, Leipzig 1991, 252–264. 76 Vgl. McLuhan, Marshall, Understanding Media. The extensions of man, New York 1964.

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Baudrillard anhand der Lacanschen psychoanalytischen Theorie eines dezentrierten und unaufhebbar gespaltenen Subjekts.77 Die elektronischen Apparate, die von Baudrillard „Prothesen“ oder „virtuelle Maschinen“ genannt werden, formieren gemeinsam mit dem Menschen einen Schaltkreis. Aus deren annähernd genetischen Integration in den Körper resultiert eine Struktur der Angeschlossenheit, die Mensch und Maschine ununterscheidbar macht und eine körperliche sowie geschlechtliche Obsession nach dem „Angeschlossen-Sein“ an die Apparatur hervorruft. Die Schaltkreis-Theorie, die sich gegen die Gleichsetzung der Monitorwiedergabe mit der Spiegelreflexion wendet, evoziert kein narzisstisch Imaginäres, sondern einen Effekt verzweifelter Selbstreferenz, einen Kurzschluss, eine Wechselwirkung des Selben auf das Selbe.78 Obwohl sich Baudrillard nicht auf Werke der Videokunst bezieht, stellt Schubiger in der Folge heraus, dass dessen Ausführungen über die Bedeutung elektronischer Medien für den zeitgenössischen und zukünftigen Subjektstatus auch eine Grundlage für Selbstdarstellungen in der Videokunst formieren. Zudem ist ein Bezug zu Vilém Flussers Begriff der „stillen Bilder“79 herstellbar, die in Kontrast zur massenhaft auftretenden Bilderflut durch künstlerische Strategien der Umkehrung der künstlichen Apparatur und deren Programmierung entstehen. Die Reduktion des menschlichen Abbildes im Monitor auf eine leuchtende Erscheinung ohne Volumen und Raum führt zu einer Transformation des Körpers in eine apparative Erscheinung, durch die wiederum der Subjektstatus geschwächt wird.80 Schubiger verknüpft die Begriffe „Schaltkreis“, „fraktales Subjekt“ und „stille Bilder“ mit der Performance im Medium Video, wo Apparat, Monitor und Künstler/in (als Teil der Apparatur) konstitutive Bestandteile des Werkes und Teil des Schaltkreises sind.81 In dieser Hinsicht wird auch der von Krauss geprägten, narzisstischen Spiegelsituation widersprochen. Ein wesentlicher Faktor neben der Selbst-Präsentation vor der Kamera durch das Instant Feedback ist Schubiger zufolge das Self-editing, das sowohl die Aufzeichnung durch die Integration in den Schaltkreis als auch die autonome Geste der künstlerischen Nachbearbeitung des Videobandes umfasst. Diese Intervention wirkt der Reduktion des Künstler/innen-Körpers durch den Apparat und der Schwächung des Subjektstatus entgegen.82 Zudem ermöglicht die Bearbeitung zeitlicher Abläufe eine Veranschaulichung der inneren, subjektiven Zeit und die damit verbundenen Wahrnehmungen, Assoziationen, Erinnerungen und Vorstellungen.83 An den apparativen Schaltkreis zwischen Kamera und Monitor angeschlossen, „[…] agieren die Künstlerinnen 77 Vgl. Lacan, Das Spiegelstadium, 61–70. 78 Vgl. Baudrillard, Videowelt, 252–261; Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 28–29 u. 186–187. 79 Vgl. Flusser, Vilém, Bilderstatus [1991], in: Ders., Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien (Schriften 1), hg. von Stefan Bollman u. Edith Flusser, Bernsheim/Düsseldorf 1993, 133–146, hier 141. 80 Vgl. Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 184–185; Flusser, Vilém, Die Geste des Video, in: Ders., Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf 1991, 245–252. 81 Vgl. Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 191–192. 82 Vgl. ebd., 169. 83 Vgl. ebd., 214.

154 | Visuelle Identitäten und Künstler in wechselnder Position zwischen Selbst-Präsentation und ‚Self-editing‘ oder, anders formuliert, zwischen Objekt- und Subjektfunktion.“84 Dem Ton bzw. der Stimme kommt der besondere Stellenwert eines unverwechselbaren, persönlichen Elements zu, das Schubiger als eine Ausweitung der Körperlichkeit interpretiert.85 Im Anschluss an Schubiger und anderen Autor/innen ist davon auszugehen, dass die von Krauss konstatierte, narzisstische Bindung der Künstler/innen an den Apparat und die damit einhergehende Ausblendung medialer Spezifika kein generelles Charakteristikum von Selbstdarstellungen in der Videokunst darstellt. Mit Blick auf Videoarbeiten iranischer Künstler/innen scheint auch die Gleichsetzung des Monitors mit dem Spiegelmotiv weitgehend abwegig. Anstelle des Narzissmus sind es hier performativ inszenierte Visualisierungsformen des Künstler/innen-Selbst, die sozio-politische Realitäten reflektieren und essentialistisch konnotierte Kategorien wie Identität, Subjektivität, Geschlechtszugehörigkeit, Nation, Rasse und Ethnie dekonstruieren. Schubigers These, dass mit den medial bedingten, erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten im Bereich Video eine Transformation in der Gattung der Selbstdarstellung und der damit verbundenen Subjektkonstellation einherging, kann daher bekräftigt werden. Obwohl das Konzept einer dezentrierten Identität einen zentralen Ausgangspunkt für die Werkanlaysen dieser Studie darstellt, bedarf die Konzeption des „fraktalen Subjekts“ (Baudrillard), das auf einer Extensionsbeziehung zwischen Mensch und Apparat (McLuhan) basiert, eine kritischere Betrachtung. Hier stellt sich die Frage, wie sich das Dispositiv der Apparatur als menschliche Entäußerung oder als in den Körper integrierte virtuelle Maschine oder Prothese, die gemeinsam einen Schaltkreis formieren und Mensch und Maschine quasi identisch erscheinen lassen, mit den Inszenierungsstrategien in den Videoselbstdarstellungen vereinbaren lässt. Somit ist auch die Relevanz einer scheinbaren Obsession mit dem Anschluss an einen Schaltkreis und der Effekt einer verzweifelten Selbstreferenz zu hinterfragen. Ebensowenig scheint eine Schwächung des Subjektstatus durch die Transformation des Körpers in eine apparative Erscheinung (Flusser) relevant. Im Kontrast dazu wird vorgeschlagen, dass die Künstler/innen durch strategische Interventionen die technische Apparatur, den Prozess der Videoaufzeichnung sowie die digitale Nachbearbeitung am Computer, die von Schubiger in analoger Hinsicht als Self-editing bezeichnet wird, bewusst (mit)organisieren und (mit)gestalten. Das Künstler/innen-Selbst, das von Schubiger im Spannungsfeld zwischen Performance und Self-editing und in der Folge zwischen Subjekt- und Objektstatus verortet wird, kann zudem mit Brandes fototheoretischer Begriffsbildung des „Ent/Fixierens“ von Identität verknüpft werden. Vorgänge wie diese basieren jedoch stets auf künstlerischen Konzepten und Strategien. Die Verunklärung, Schwächung, Auflösung oder Dekonstruktion des Subjektstatus erfolgt demnach durch bewusst vorgenommene gestalterische Überlegungen, welche die medial bedingten Möglichkeiten 84 Ebd., 214. 85 Vgl. ebd., 213.

Medientheorie

und I dentitätsthematik

  |  155

der Videotechnik (mit)reflektieren, in den künstlerischen Entstehungsprozess inte­ grieren und für inhaltliche Ausrichtungen fruchtbar machen. Da sich Irene Schubiger weitgehend auf technische Faktoren konzentriert, die zweifelsohne für Werkanalysen von Videoarbeiten von grundlegender Bedeutung sind, werden andere wichtige Gesichtspunkte wie Körper, Geschlecht, Identität sowie Machtverhältnisse und Repräsentationspolitiken nur marginal thematisiert. Gerade die letztgenannten Aspekte sind für die Videoanalysen in dieser Studie zentral.

4. Simin Keramati: De/Konstruktion(en) des Selbst

Simin Keramati wurde 1970 in Teheran geboren. 1995 absolvierte sie ein Englisch-Studium an der Azad Universität und erhielt im Folgejahr den Master of Fine Arts mit einem Schwerpunkt in Malerei an der Teheraner Kunstuniversität. Seit dem Jahr 1993 werden ihre Arbeiten sowohl in Iran als auch im internationalen Kontext ausgestellt.1 2013 migrierte sie nach Toronto/Kanada, wo sie seitdem lebt und arbeitet. Die Verbindungen zu ihrem Herkunftsland hat sie jedoch niemals abgebrochen, da sie sich jährlich, ebenso wie ihr Künstlerkollege Shahram Entekhabi, über einen längeren Zeitraum in Teheran aufhält. Ihre akademische Sprachausbildung ist im Zusammenhang mit mehreren ihrer Videoarbeiten von Interesse, da sie die gesprochene persische Sprache oder persische Untertitel häufig ins Englische überträgt und diese Übersetzungen in die Bilder miteinfließen lässt. Ein Beispiel dafür ist etwa das im Einleitungstext bereits kurz besprochene Video „Self Portrait“, in dem Farsi und Englisch in Form von Handschriften eingeblendet werden. Translationsarbeiten wie diese machen ihre Werke auch einem nicht-persischsprachigen Publikum zugänglich und regen Rezeptionsprozesse in an. Darüber hinaus markiert der Einsatz der englischen Sprache – als die bedeutendste internationale Lingua franca – zugleich eine Positionierung der Künstlerin in einem globalen Kontext der zeitgenössischen Kunst. Keramati begann ihre künstlerische Laufbahn mit der Malerei, entdeckte jedoch in den späten 1990er-Jahren Installation und Video als weitere Ausdrucksformen. Im Zeitraum von 2000 bis 2006 arbeitete sie vorrangig mit neuen Medien und etablierte sich in der iranischen Kunstszene auch als Videokünstlerin. In einem Artikel in der iranischen Kunstzeitschrift „Art Tomorrow“ schreibt Samadzadegan, dass Keramati nach einer beinahe sechsjährigen malerischen Abstinenzphase erst im Jahr 2008 wieder mit Malereien an die Öffentlichkeit trat. Hierbei handelte es sich um eine Serie von Selbstporträts, die gemeinsam mit dem Video „Self Portrait“ in einer Ausstellung präsentiert wurden.2 In einem Interview skizzierte Keramati diesen Sachverhalt wie folgt: „Self portrait was the point in which I continued working with my videos and I felt I need[ed] something more. I just went back to the painting. As I told you before I did paintings and drawings but I did not show them in public, this time I felt like they are ready to be exposed together.“3

Von Interesse ist Keramatis Fokus auf Selbstdarstellungen sowohl im Video als auch in der Malerei und gleichzeitige Auslotung der medial bedingten Ausdrucksmöglich1 Vgl. dazu Keramatis Website: http://www.siminkeramati.com/exhibition.html [Stand: 20.07.2017]. 2 Vgl. Samadzadegan, The Judge of Other’s Judgement, 83. 3 Interview mit der Künstlerin Simin Keramati, geführt von Julia Allerstorfer via E-Mail, 13.08.2013.

158 | Visuelle Identitäten keiten. Für die Gattung des Selbstporträts erschien ihr eine alleinige Konzentration auf Video nicht ausreichend. In zahlreichen nachfolgenden Werken stehen Selbstdarstellungen und damit verbundene Fragen nach Visualisierungsmöglichkeiten der eigenen Person im Zentrum. Diese thematischen Schwerpunkte finden sich in malerischen oder zeichnerischen Zyklen und vor allem auch in Videoarbeiten. Die Tendenz zu einem medialen Gattungswechsel – im Falle Keramatis von der Malerei zu Video – wurde bereits im dritten Kapitel als paradigmatisch für die Zeit ab Mitte der 1990er-Jahre beschrieben, in der sich viele iranische Künstler/innen einer jüngeren Generation mit neuen Medien auseinandersetzten. In Bezug auf Keramatis abrupten Bruch mit der Malerei und den Umstand, dass sie mehrere Jahre keine Gemälde in Ausstellungen zeigte, stellt sich die Frage nach ihren Beweggründen und Motiven. Wie bereits angeführt, ist die Auseinandersetzung mit Video im Zusammenhang mit der Gattung des Selbstporträts zu sehen, die sich wie ein roter Faden durch das künstlerische Œuvre Keramatis zieht. Bietet die Videotechnik mit ihrem erweiterten Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmitteln produktivere Möglichkeiten für die Visualisierung der eigenen Person und das feminine künstlerische Selbst? Die Künstlerin äußert sich diesbezüglich wie folgt: „[…] but the most important thing was that I was exploring in the media of ,camera‘ and ,video art‘, I did what I wanted and I created what I needed in that field and I was satisfied. Well, I had to focus on one field to know it better so […].“4 In demselben Interview erwähnte Keramati jedoch auch, dass gerade in Bezug auf Selbstdarstellungen Video nicht „ausreichend“ sei. Das intermediale Spannungsverhältnis zwischen Malerei und Video sowie ihre medienspezifischen Qualitäten werden von der Künstlerin produktiv für Selbstinszenierungen genutzt und sind daher auch im Zusammenhang zu betrachten. Sowohl in ihren Videoarbeiten als auch Malereien und Zeichnungen lassen sich miteinander vergleichbare, visuelle Strategien beschreiben, die für eine „Ent/Fixierung“ und De/Konstruktion von Identität zum Einsatz kommen. Basierend auf dieser Annahme werden in einem ersten Schritt ausgewählte Videoarbeiten analysiert und Malereien und Mischtechniken (Fotografie, Collage, Digitaldruck) gegenübergestellt.

4.1 Selbstinszenierungen in Keramatis künstlerischem Werk 4.1.1 Die Videoarbeit „Self Portrait“ (2007–08) Im Einleitungstext wurde das 2007–08 entstandene Video „Self Portrait“ (7:19 min.) Keramatis bereits kurz beschrieben (vgl. Abb. 1–2). Das Antlitz der Künstlerin, die sich in Frontalansicht inszeniert und dabei auf den klassischen Typus des Schulterstücks rekurriert, ist Einschreibungsfläche für die schwarze Farbe, die es sukzessive übermalt und unkenntlich macht: Ihr Gesicht als visuelle Referenz für ihre Identität wird regelrecht ausgelöscht und ist letztendlich ebenso schwarz wie der Hintergrund. Synchron zu die4 Ebd.

Simin Keramati: D e/Konstruktion(en )

des

Selbst  |  159

sem destruktiven Vorgang verläuft die Einblendung weißer handschriftlicher Sätze oder Satzfragmente in persischer Sprache und ihrer englischen Übersetzung, die rechts, links, ober- und unterhalb des „Porträts“ der Künstlerin aufscheinen und wieder verschwinden. Neben schriftbildlich-formalen Qualitäten vermitteln diese auf inhaltlicher Ebene persönliche Gedanken und Gefühle in tagebuchartiger Form. In der Art und Weise, wie die Texte im Videobild inszeniert werden, erinnern sie entfernt auch an das Lettering in Sprech- oder Denkblasen in Comics. Die Schriftzüge visualisieren unmittelbare Schreibakte, die sich in Form von handschriftlichen Einschreibungen in den schwarzen Grund vollziehen: Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort lassen in einer zeitlichen Abfolge Sätze oder Satzfragmente mit semantischem Gehalt entstehen. Darüber hinaus deuten sie auf eine Person hin, die diese Texte verfasst: Die Autor/innenschaft wird hier automatisch der im Videobild Dargestellten zugeschrieben. Die kombinatorische Verquickung von Selbstporträt und eigener Handschrift fungiert als doppelter Identitätsverweis auf die Person Simin Keramati, die den Betrachter/innen simultan in einer verdichteten Bild- und Zeitlichkeit vor Augen geführt wird. In ihrem Zusammenspiel formieren beide visuelle Elemente zugleich einen eigentümlichen Kontrast zwischen Passivität und Aktivität: Simin Keramatis Antlitz bleibt statisch, unbewegt und regungslos, während sich die Schriftzüge rings um sie dynamisch und unvermittelt in den schwarzen Grund einschreiben und wieder entschwinden. Diese Divergenz wird auch durch den Einsatz der Nicht-Farben Schwarz und Weiß bestärkt. Die schwarze Flüssigkeit als weitere Bildkomponente breitet sich ausschließlich über dem Gesicht der Künstlerin aus und hat im Zuge ihres Auslöschungsverfahrens keinen Einfluss auf die Handschrift. Ein bedeutendes Element ist außerdem die tonale Ebene im Video: Durch die Geräuschkulisse – knirschende Schritte, Straßenverkehr, gelegentliches Hupen – wird eine Situation im Freiraum bzw. städtischen Umfeld simuliert. Diesem Eindruck widerspricht aber die quasi nicht-räumliche Situation im Videobild mit dem abgedunkelten, schwarzen Hintergrund. Darüber hinaus ist mit dem deutlich hörbaren Atmen und Seufzen, das – ebenso wie auch die Handschrift – automatisch Simin Keramati zugeschrieben wird, ein dritter Identitätsverweis in auditiver Form gegeben. Die unterschiedlichen Elemente im Video lassen sich in der Folge als konfligierende Signifikantenkette bezeichnen, die das Selbst der Künstlerin und ihre Identität zugleich konstruiert und dekonstruiert. Identitätsverweise sind durch das Selbstporträt, die eigene Handschrift sowie das Atmen/Seufzen gegeben, während die schwarze Farbe als Gegenspielerin Keramatis Antlitz überzeichnet und dieses sukzessive bis zur Unkenntlichkeit auslöscht. Die eingeblendeten, handschriftlichen Texte und die Geräusche, die auf die Präsenz Keramatis verweisen, bleiben als performativ inszenierte und widerständige Bild- und Tonelemente im Video erhalten. Im Gegensatz zum statischen Körper und zur regungslosen Mimik der Künstlerin transportieren diese temporale Vorgänge, Bildbewegung(en) sowie auditive Simulationen von alltäglichen Geräuschkulissen im städtischen Raum. Die im Videobild visualisierte Körperlichkeit, die primär durch Keramatis Gesicht artikuliert wird, fungiert als passives Einschreibungsmedium für die anderen bildlichen Signifikanten.

160 | Visuelle Identitäten Die Videoarbeit „Self Portrait“ wird in einem nächsten Schritt einer differenzierten Analyse von Bild, Text und Ton unterzogen. Hierbei geht es um eine sequenzartige Darstellung der textlichen Komponente und einer nachfolgenden Verknüpfung mit den weiteren Videobildelementen. Die persischen Schriftzüge werden parallel mit den englischen Übersetzungen im Video eingeblendet. Die Passagen in Farsi, die gemäß der Schriftkonvention von rechts nach links im Videobild verlaufen und damit einen Kontrast zur Schreibrichtung der englischen Sprache formieren, sind entscheidend für die formalästhetische Bildgestaltung und -wirkung (Abb. 17–22).

Abb. 17

Abb. 18

Simin Keramati: D e/Konstruktion(en )

Abb. 19

Abb. 20

Abb. 21

Abb. 22

des

Selbst  |  161

162 | Visuelle Identitäten Der englische Text wird in Textsequenzen5 aufgesplittet, die in der Folge den einzelnen Videobildern zugeordnet werden. Die Reihung orientiert sich nach dem Einblendungszeitpunkt und kann daher von jener im ursprünglichen Text (vgl. Abb. 17–22) abweichen. self portrait

(Textsequenz 1)

I do walk a lot these days I just want to get rid of my thoughts while

(while wird durchgestrichen, Ts. 2)

while walking I somehow put my mind under my feet

(Ts. 3)

and with every step I feel pieces of it remaining between the fingers of my feet no I can’t get rid of them while walking the stink of shits my nose becomes the biggest part of my body

(Ts. 7)

how do I shits of men, cats and rats They all fill my big nose

(Ts. 8)

and my eyes

(Ts. 9)

although they They just look They don’t find anything to see

(wird gestrichen)

(Ts. 4) (Ts. 5) (Ts. 6)

(Ts. 10)

5 Der Begriff Textsequenz, in der Folge mit Ts. abgekürzt, bezeichnet einzelne Wörter, Satzzeichen, Satzfragmente oder ganze Sätze, die einzeln oder gleichzeitig, sukzessive in das Videobild eingeblendet werden.

Simin Keramati: D e/Konstruktion(en )

everything disappears immediately there is nothing remained in my eyes all that I remember at the end of the day is a sery of unclear and dispread pieces of a puzzle that I don’t like to put them in their right places

(Ts. 11)

and I don’t care

(Ts. 12)

This chaos of pictures They all need to be forgotten … but …

(Ts. 13) (Ts. 14) (Ts. 15) (Ts. 16)

to be honest

(Ts. 17)

des

Selbst  |  163

there is this image which (which wird gestrichen; Ts. 18) it’s enough to say

(Ts. 19)

it’s beautiful

(Ts. 20)

really beautiful

(Ts. 21)



(Ts. 22)

and do I have any ears? I can’t listen to anything

(Ts. 23)



(Ts. 24)

the war of sounds

(wird gestrichen; Ts. 25)

none of them ist the winner

(wird gestrichen; Ts. 26)

164 | Visuelle Identitäten all of t____

(wird gestrichen; Ts. 27)

all of the voices, they die before having any reflection in my ears and my mind

(Ts. 28)

voice

(wird gestrichen; Ts. 29)

what I hear is not real voice

(Ts. 30)

but a repetition of some memories belonging to a lost time

(Ts. 31) (Ts. 32)

There is allways This portrait of myself melting

(Ts. 33) (Ts. 34)

while walking I feel drops of my face running over each other and fall into nowhere

(Ts. 35)

and at last

(Ts. 36)

I find myself

(Ts. 37)

walking on the streets of this city

(Ts. 38)

while I am

(Ts. 39)

faceless

(Ts. 40)

Nach der Zitation dieses aussagekräftigen Textes werden die einzelnen Textsequenzen mit weiteren konstitutiven Elementen der Videoarbeit, nämlich mit den Bewegtbildern des Selbstporträts und der tonalen Ebene, miteinander verknüpft und beschrieben. Im Zuge dieses Vorgehens gilt es, die visuellen und auditiven Komponenten den schrift-

Simin Keramati: D e/Konstruktion(en )

des

Selbst  |  165

bildlichen Signifikanten zeitlich zuzuordnen. Eine umfassende, alle Videoelemente berücksichtigende Analyse erweist sich hinsichtlich einer Befragung von Identitäts(de)konstruktionen als bedingend und besonders aufschlussreich. Bemerkenswert ist außerdem, dass sich die insgesamt vierzig Textsequenzen mit der im sunnitischen als auch schiitischen Islam signifikanten Zahl 40 in Verbindung bringen lassen, die mit Verwandlung, Tod sowie dem vierzigtägigen Gedenkzeitraum im Falle des Ablebens von Angehörigen assoziiert wird. Die Memorialfeier des Schiitentums Arba‘in (vierzig) wird exakt vierzig Tage nach Ashura, dem Märtyrertod des Enkels Mohammads, Husain, gefeiert. In gewisser Hinsicht lässt sich hier eine Analogie zu Keramatis Videoarbeit und dem drastischen Auslöschungsakt ihres Gesichtes herstellen, der wiederum mit Ableben, (Identitäts-)Verlust und Metamorphose zu tun hat. Gleich zu Beginn des Videos wird mit der Einblendung des Werktitels auf den inhaltlichen Fokus, das Selbstpoträt, verwiesen. Synchron mit dem nächsten Schriftzug setzen nach etwa 13–14 Sekunden diverse Geräusche wie ein eigentümliches Rauschen und Vogelgezwitscher (?) ein. Am deutlichsten ist jedoch das Knistern und Rascheln zu vernehmen, das an Schritte im Laub erinnert. Diese Annahme wird durch den Text „I do walk a lot these days / I just want to get rid of my thoughts“ mehr oder weniger bestätigt. An dieser Stelle beginnt sich ein gewisses Bild von einer Person zu formieren, die draußen (im städtischen Kontext Teherans?) zu Fuß unterwegs ist und ihre Gedanken in Form von handschriftlichen Notizen preisgibt. Bereits hier wird ein erstes Wort („while“) mehrfach durchgestrichen, wodurch der Eindruck geweckt wird, dass die Sätze nicht bis ins Detail durchdacht bzw. konstruiert worden sind. Diese Spontaneität, die freilich auch auf den kontinuierlichen Einschreibungsprozess der Handschrift in das Videobild zurückzuführen ist, wird darüber hinaus durch die scheinbare Gleichzeitigkeit von Gedankengang und Schreibakt genährt. Neben dem fortlaufenen Geräusch der Schritte ist in der 37./38. Sekunde ein erstes schweres Seufzen zu hören. „while walking / I some how / put my mind under my feet“ lautet die dritte Textsequenz auf dem schwarzen Grund. Vom Betrachter/innenstandpunkt aus wird der persische Text rechts und der englische links eingeblendet. Aufgrund der entgegengesetzten Schreib­ richtungen laufen beide Schriftzüge in der Mitte zusammen. In der vierten Sequenz wird „and with“ mehrfach durchgestrichen und mit einem weiteren Seufzen wie folgt fortgesetzt: „and with / every step / I feel pieces of it / remaining between / fingers of my feet“. Neben dem nun deutlicher zu vernehmenden Zwitschern von Vögeln ist auch das Heulen einer Autoalarmanlage zu hören. Nach einer Minute und ca. 17 Sekunden erscheint eine Frau in Frontalansicht inmitten des Videobildes und fixiert mit ihrem Blick den/die Betrachter/in. Aufgrund des eingeblendeten Werktitles zu Beginn des Videos ist davon auszugehen, dass es sich um die Künstlerin selbst handelt. Von Interesse ist hier außerdem der Rekurs auf den klassischen kunsthistorischen Porträttypus des Schulterstücks. Eine Lichtquelle akzentuiert ihre rechte Gesichtshälfte und macht diese zum momentanen Bildfokus, während die linke nur umrisshaft erkennbar ist und im Halbschatten liegt. Die dunkle Bekleidung und das schwarze Kopftuch Keramatis

166 | Visuelle Identitäten



Abb. 23

verschwimmen mit dem dunklen Hintergrund und sind kaum sichtbar. Die fünfte Schriftsequenz „no I can’t get rid of them“ verläuft über ihrem Oberkörper, während weiterhin Schritte und ein Autoalarm zu hören sind. Dies ist der Moment (etwa 1:26/27), wo sich – ausgehend von der linken Augenpartie und anfänglich kaum merklich – die linke Gesichtshälfte noch intensiver zu verdunkeln beginnt (Abb. 23). Im Verlauf der folgenden Sekunden läuft eine schwarze Flüssigkeit über die Nase, Wange und am Mundwinkel vorbei in Richtung Kinn. Keramatis Mimik bleibt unverändert ruhig und statisch. Mit „while walking“ (Ts. 6) verändert sich die textuelle Anordnung im Videobild: Von Keramatis Perspektive aus werden die persischen Schriftzüge nun rechts und die englischen links neben ihren Schultern eingeblendet. Die nächsten zwei, parallel verlaufenden Textsequenzen (7) erscheinen von Keramatis Standpunkt aus links oben („the stink of shits“) sowie am unteren Bildrand: „my nose becomes / the biggest part of my / body“. Wiederum ist ein Seufzen zu vernehmen (ca. 1:39, Ts. 40). In der Folge erscheinen gleichzeitig an verschiedenen Stellen Satzfragmente; „how do I“ wird mehrfach gestrichen und verschwindet. Zu diesem Zeitpunkt (1:51) hat die schwarze Substanz die gesamte linke Gesichtshälfte eingenommen. Zudem beginnt sich die Flüssigkeit bedrohlich und wie eine Schlinge von links nach rechts um den Hals zu legen. Rechts von Keramatis Kopf ist „shits of men, cats and rats“ zu lesen, unterhalb „They all fill my big nose“ (Ts. 8) und in der Folge links von ihr: „and my eyes“ (Ts. 9). Während sich das Schwarz auch über ihre Lippen legt und vom rechten Mundwinkel nach unten fließt (1:58/59), erscheinen gleichzeitig die Satzfragmente „although they“, das gestrichen wird, „They just look“ und „They don’t find anything to see“ (Ts. 10). In der Folge (Ts. 11) ist synchron ablesbar: „everything disappears / immediately / there is nothing remained / in my eyes“, und „all that I remember / at the end of the day / is a sery of unclear / and dispread pieces / of a puzzle that I don’t / like

Simin Keramati: D e/Konstruktion(en )



des

Selbst  |  167

Abb. 24

to put them in their / right places“ (Abb. 24). Neben dem permanenten Geräusch der Schritte ist ein erneutes Seufzen zu hören. Unterhalb von Keramatis Antlitz erscheint „and I don’t care“ (Ts. 12), gefolgt von „This chaos of pictures“ und „They all need to be forgotten“ (Ts. 13), während ihr Mund nun vollständig von der schwarzen Farbe überzeichnet wird. Dies kann als Sinnbild für Sprachlosigkeit und Verstummen oder vielmehr für den Umstand betrachtet werden, dass jemand zum Schweigen verurteilt bzw. mundtot gemacht wird. Nichtsdestotrotz verlaufen die Handschriften weiter: „…“ (Ts. 14), gefolgt von einem hörbaren Ausatmen, „but“ (Ts. 15), „…“ (Ts. 16), „to be honest“ (Ts. 17), „there is this image / which“ (Ts. 18), wobei „which“ wieder durchgestrichen wird. Die schwarze Flüssigkeit bahnt sich mittlerweile ihren Weg von der Nase hinüber in die andere Gesichtshälfte, Keramatis Antlitz bleibt weiterhin regungslos. Während zwei schwarze Rinnsäle vom rechten Nasenflügel die Wange hinablaufen, werden links von ihr folgende Satzfragmente eingeblendet: „it’s enough to say“ (Ts. 19), „it’s beautiful“ (Ts. 20), „really beautiful“ (Ts. 21), und „…“ (Ts. 22). In der Folge ist die Frage „and do I have any ears?“, die sofort wieder gestrichen wird und die Aussage „I can’t listen to anything“ (Ts. 23) zu lesen. Aufgrund der Schnelligkeit und Synchronität der Texteinblendungen in zwei Sprachen wird es immer schwieriger, die inhaltliche Ebene der Handschriften zu erfassen. Die schwarze Flüssigkeit breitet sich nun auch langsam auf der noch sichtbaren Stirnhälfte aus. Es folgen „…“ (Ts. 24), „the war of sounds“ (Ts. 25), „none of them is the winner“ (Ts. 26), „all of t___“ (Ts. 27), wobei die letzten drei Sequenzen nahezu hektisch mehrfach durchgestrichen werden. Je mehr Gesichtspartien wie Stirn, Augenbraue und Wange von der schwarzen Substanz verdeckt werden, desto häufiger werden Wörter und einzelne Passagen wieder gestrichen oder nicht vollständig ausformuliert. Während die Flüssigkeit langsam die rechte Nasenwand hinabfließt, geht es inhaltlich um Stimmen, die nicht (mehr) gehört werden können: „all of

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Abb. 25

the voices, they / die before having any / reflection in my ears / and in my mind“ (Ts. 28, Abb. 25). In der nachfolgenden 52 Sekunden erscheint kein Text. Die schwarze Farbe beginnt sich nun vom rechten Haaransatz weiter auszubreiten. Ein schmaler Strom fließt langsam an der Braue vorbei die rechte Wange hinab, die Nase ist mittlerweile fast völlig eingeschwärzt. Gleichzeitig treffen auf der Stirn schwarze Flächen aufeinander und lassen die Haut allmählich verschwinden. Ein weiterer Strahl läuft vom Stirnansatz abwärts und trifft auf einen anderen über der Augenbraue. Immer wieder ist ein schweres Atmen zu vernehmen, während sich über den noch frei liegenden Gesichtspartien eine Art liquide Gitterstruktur formiert. Plötzlich erscheint unterhalb des nur noch eingeschränkt erkennbaren Antlitzes der Künstlerin das Wort „voice“ (Ts. 29), das viermal durchgestrichen wird. Die nur noch wenigen, unbedeckten Hautstellen werden von der Substanz kontinuierlich weiter übermalt. Nach etwa 29 Sekunden wird Textsequenz 30 „what I hear is not / real voice“ eingeblendet. Das rechte Auge Keramatis zuckt einige Male, bevor sie es wegen der bedrohlichen schwarzen Flüssigkeit schließt (5:17). Es folgt „but a repetition of / some memories“ (Ts. 31) sowie „belonging to a lost time“ (Ts. 32). Unter gewissen Anstrengungen öffnet Keramati im nächsten Moment ihr Auge wieder (5:33). Die Stirn ist nun bis auf eine kleine Stelle vollständig schwarz. Das rechte Augenlid zuckt aufgrund der Bedrohung von allen Seiten. Ein schmales Rinnsal verläuft knapp unter Simins Auge und zieht sich in der Folge wie ein Kajalstrich am unteren Lid entlang. Obwohl sich die Flüssigkeit über- und unterhalb des Auges ausbreitet, bleibt es geöffnet. Während nach wie vor Schritte vernehmbar sind, ist Keramatis Gesicht mittlerweile nahezu vollständig ausgelöscht. Die letzten Textsequenzen setzen gegen Ende der sechsten Minute ein: „There is allways This / portrait of myself “ (Ts. 33, links oben), „melting“ (Ts. 34, mittig links). Nur noch an vier Stellen lassen sich Fragmente des Antlitzes erkennen. Rechts und links werden

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gleichzeitig folgende Passagen eingeblendet: „while walking / I feel drops of / my face / running over each other / and fall into nowhere“ (Ts. 35). Drei kleine Partien sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit Schwarz bedeckt. Es geht weiter mit: „and at last“ (Ts. 36), „I find myself “ (Ts. 37), „walking on the streets / of this city“ (Ts. 38). Während dieser letzten Textsequenzen werden auch die restlichen Stellen von der schwarzen Substanz verschlungen. Ab 6:23 ist Keramatis Gesicht gänzlich verschwunden. In der linken Videobildhälfte sind die gespenstisch anmutenden Umrisse der Kleidung und des Kopftuchs erkennbar, die aufgrund der Absenz von Kopf und Antlitz nun ausgehöhlt und leer erscheinen. In der vorletzten Sequenz heißt es „while I am“ (Ts. 39) und mit einem abschließenden, leisen Seufzen wird das letzte Wort exakt über dem nicht mehr sichtbaren Antlitz eingeblendet: „faceless“ (Ts. 40). Es dauert nicht lange, bis sich das Bild vollständig verdunkelt und das Video endet. Die tonale Ebene – Schritte und Atemgeräusche – setzt sich auch während des Nachspanns fort, im Zuge dessen folgende Informationen zur Videoarbeit angeführt werden: „a work by Simin Keramati“, „camera: M.R. Heidari“, „Edit: Saeed Nasiri. M.R. Heidari“, „animation: Simin Keramati“, „sound: Saeed Nasiri“ und zuletzt Keramatis Signatur sowie das Datum: „Simin / 2007“. Im Zuge der Videoanalyse wurde versucht, die aufeinander verweisenden und zugleich konfligierenden Signifikanten detailliert zu beschreiben. Porträt, Handschrift und Ton sind für die Konstruktion von Identität konstitutiv. Das Bildnis der Künstlerin wird von einer schwarzen Substanz, dem destruktiven Bildlement, sukzessive übermalt. Dieser Auslöschungsprozess betrifft jedoch ausschließlich Keramatis Gesicht, weswegen der Identitätsverlust auf das Verschwinden des Antlitzes zu beziehen ist. Andere Komponenten – und das ist gewissermaßen der springende Punkt – sind nicht davon betroffen und bleiben im Video erhalten: Es handelt sich dabei um die schriftbildlichen und tonalen Elemente, die ebenso wie das Porträt auf Identität verweisen und diese konstituieren. In Anbetracht der Videoarbeit „Self Portrait“ lassen sich mehrere Oppositionspaare skizzieren: Präsenz/Absenz, Aktivität/Passivität, Identität/ Nicht-Identität, Handlungsmacht (Schrift)/Unterdrückung (schwarze Farbe), Artikulationsmöglichkeit/Zensur. Die visuell artikulierten Differenzen – oder vielmehr die produktiven Zwischenräume dieser scheinbar unüberwindbaren Gegensätze – werden für subversive Repräsentationsstrategien nutzbar gemacht, die zu einer „Ent/Fixierung“ bzw. De/Konstruktion von Identität beitragen. 4.1.2 Selbstdarstellungen in Malereien und Mischtechniken Selbstdarstellungen ziehen sich wie ein roter Faden durch Simin Keramatis künstlerisches Schaffen und treten nicht nur in Videoarbeiten auf. Inszenierungsformen von Körper, Selbst und Identität gilt es daher auch in ihrem malerischen Œuvre zu kontextualisieren, um zunächst formale Vergleichsmomente zum Video „Self Portrait“ herauszuarbeiten. Parallel zum Video „Self Portrait“ begann Keramati 2007 an einem malerischen Zyklus mit Selbstporträts zu arbeiten, der im Folgejahr fertiggestellt war.

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Abb. 26

Es handelt sich hierbei um acht Acrylbilder im Format 150 × 150 cm mit dem übergeordneten Titel „Self Portrait Series“. Die Gemälde tragen jeweils eigene Bezeichnungen wie „Where are you?“ (Abb. 26), „My nose is bleeding“ (Abb. 27), „Make up“ (Abb. 28), „I am tired“ (Abb. 29), „Earrings“ (Abb. 30), „Don’t say a word“ (Abb. 31), „Divorce“ (Abb. 32) und „Hush“ (Abb. 33). In allen Bildern ist die Künstlerin, zumeist in Frontalansicht, ausschnitthaft in Brust- oder Schulterstücken dargestellt. Nur in „Divorce“ (Abb. 32) wendet sie dem/der Betrachter/in den Rücken zu. Für eine vergleichende Gegenüberstellung mit der Videoarbeit sind insbesondere die Malereien „Where are

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you?“, „Make up“, „Don’t say a word“ sowie „Hush“ geeignet, in denen die Sinnesorgane Auge und Mund sowie Behinderungen bei Seh- und Sprechakten im Zentrum stehen. In „Where are you?“ (Abb. 26) trägt Keramati eine Augenbinde, die explizit auf eine Störung der visuellen Wahrnehmung, auf das „Nicht-Sehen-Können/Wollen“ bzw. auf Blindheit verweist und zum anderen auch an Entführungsopfer denken lässt. Im Bild „Make up“ (Abb. 28) sind sowohl Lippenstift als auch Kajal oder Mascara verschmiert, wodurch Assoziationen zu Blut und körperlicher Gewalteinwirkung herstellbar sind. In anderen Bildern scheint es wiederum um Beeinträchtigungen in der Artikulationsfähigkeit zu gehen: In „Don’t say a word“ (Abb. 31) hat sich Keramati leicht nach rechts gewandt und hält die Hand vor ihren Mund, während sie im Gemälde „Hush“ (Abb. 33) frontal dem/der Betrachter/in zugewandt ist und den rechten Zeigefinger über ihre Lippen legt. Im Video „Self Portrait“ ist es die schwarze Flüssigkeit, die sich über Keramatis Gesicht ausbreitet und Augen, Nase und Mund verschwinden lässt. In den

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Malereien hingegen wird die Einschränkung der Sinnesorgane durch die Augenbinde oder die über den Mund gelegte Hand angedeutet und ist nicht direkt auf eine sichtbare Fremdeinwirkung zurückzuführen. Der thematische Fokus, der sich mit Verhüllen/Verbergen/Verstecken (bzw. verhüllt, verborgen oder versteckt werden) oder dem Verschließen der Augen (vor etwas/vor jemanden?), Verstummen und Schweigen umschreiben lässt, ist jedoch derselbe. Auch in anderen malerischen Zyklen nimmt Keramatis Person eine zentrale Rolle ein. „You are a bad girl“ aus dem Jahr 2009 umfasst acht Acrylbilder in denselben Maßen wie „Self Portrait Series“. Die Künstlerin ist wieder fragmentarisch – hier jedoch zumeist in unterschiedlichen Ganzkörperposen – sitzend, liegend oder stehend dargestellt. In manchen Bildern scheinen einzelne Körperpartien regelrecht abgeschnitten bzw. bewusst ausgeblendet zu sein. In einem Gemälde fehlt der Kopf (Abb. 34), in weiteren ist sie nur bis zum Kinnbereich sichtbar, in einem anderen hat sie sich

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von dem/der Betrachter/in abgewandt und zeigt ihren Rücken (Abb. 35). Zwei Bilder zeigen Keramatis Kopf in Profilansicht, wobei die Augenpartie durch ihre Hand (Abb. 36) oder eine Sonnenbrille (Abb. 37) verdeckt wird. In einer Malerei, in der sie stehend positioniert und dem/der Betrachter/in direkt zugewandt ist, wird ihr Körper jedoch vom oberen und unteren Bildrand beschnitten; darüber hinaus fallen ihre Haare ins Gesicht, sodass die Augen nicht sichtbar sind (Abb. 38). Nur einmal lässt sich in einem Bild ein Auge erkennen; allerdings wird hier Keramatis Mund durch einen abgestützten Arm verdeckt (Abb. 39). In Bezug auf die fragmentarischen Ansichten der körperlichen Selbstinszenierungen ist auch der Titel ironisch zu verstehen: Das „bad girl“ gewährt nur ausschnitthafte Blicke auf ihren Körper, direkte Blickkontakte werden gänzlich vermieden. Bei „Insomnia“ (2010) handelt es sich um ein mehrteiliges künstlerisches Projekt, das sowohl eine Videoarbeit als auch Malereien und Zeichnungen umfasst. Während im Video ein Fenster mit einem durch Wind bewegten Vorhang zu



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sehen ist (Abb. 40), inszeniert sich Keramati in den zehn Zeichnungen und dreizehn Malereien in unterschiedlichen Posen mit einer gestreiften oder karrierten Decke und schildert ihre nächtlichen Zustände der Schlaflosigkeit (Abb. 41). Alle Bilder zeigen wiederum Ausschnitte und wie in den zuvor skizzierten Malereien ist in keinem einzigen ihr Antlitz sichtbar, das stets durch Hände, Haare oder Bettlaken verdeckt wird. In Zyklen wie „Self Portrait Series“, „You are a bad girl“ und „Insomnia“ deuten formale Überlegungen zur Bildgestaltung und Komposition auf bestimmte Entzugsstrategien von Gesicht und Körper hin: Insofern, dass wichtige Gesichtspartien wie Augen oder Mund verdeckt werden, oder dass die Protagonistin den Betrachter/innen den Rücken kehrt und Körperteile abgeschnitten sind, ist von einer intendierten Negation von Identitätsverweisen auszugehen. „I live between the colors of my flag“ ist der übergeordnete Titel von weiteren vier Gemälden aus dem Jahr 2011. Im Fokus steht wieder Keramati selbst, die sich in drei dieser Arbeiten sehr explizit auf die Farben Grün, Weiß und Rot der drei horizontalen Streifen der iranischen Flagge bezieht und sich selbst quasi zwischen oder als Teil derselben inszeniert. In Profilansicht posiert sie einmal mit weißem Kopf und Haar, grüner Halskette und rotem Oberteil vor einem Goldgrund (Abb. 42). Die Einschreibung der eigenen Abb. 42

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Abb. 43 (links oben) Abb. 44 (rechts oben) Abb. 45 (rechts unten)

Person in die iranische Flagge wird am deutlichsten in jenem Bild artikuliert, in dem sie ihren Oberkörper und weißhaarigen Kopf zurückfallen lässt, um als horizontales Bindeglied für das Grün und Rot im Hintergrund zu fungieren und den weißen Streifen der Fahne zu repräsentieren (Abb. 43). Ein anderes Gemälde zeigt ein Schulterstück einer scheinbar liegenden Keramati mit grünem Haar und rotem Oberteil, ihr Haupt ist leicht nach rechts gewandt (Abb. 44). Die Malerei, in der Keramatis Hinterkopf mit den pinken, nach oben gesteckten und mit einem Messer zusammengehaltenen Haaren vor einem blauen Hintergrund zu sehen ist, sticht zunächst aufgrund der abweichenden Farbpalette deutlich hervor (Abb. 45). Von Interesse an diesem Zyklus ist die Übertragung spezifischer Farbsymboliken auf das Genre des Selbstporträts bzw. die Selbsteinschreibung in die Farben der iranischen Flagge: In der Regel gilt Grün als Farbe des Islam, in der iranischen Kultur symbolisiert es außerdem Freude, Wachstum, Vitalität sowie die persische Sprache. Weiß steht traditionell für Frieden, während Rot auf das Märtyrertum und in Iran auch auf Mut, Feuer, Leben und Liebe verweist. In ihrer heutigen Form wurde die persische Flagge nach der Islamischen Revolution im Jahr 1980 eingeführt; den Löwen mit Schwert und die Sonne ersetzte man durch ein rotes, nationales Emblem als Hoheitszeichen Irans im Zentrum.6 Indem Keramati die Farben der iranischen Flagge in ihr Haar, ihre Bekleidung oder Acessoires aufnimmt, konstruiert sie ein vielschichtiges Verhältnis 6 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Flag_of_Iran [Stand: 25.07.2017].

176 | Visuelle Identitäten zu ihrem ihrem Geburtsland und bezieht zugleich Stellung zum Begriff der nationalen Identität. In dieser Hinsicht ist es aufschlussreich, sich den Werktitel und insbesondere die Präposition „between“ in Erinnerung zu rufen, deren Einbettung in den sprachlichen Gesamtkontext gewissermaßen als subversives Statement gelesen werden kann: Die Künstlerin lebt nicht mit oder für die Farben der Flagge (alias Nation), sondern sie lebt zwischen oder unter ihnen. Die Serie „Edge of the blade“ aus dem Abb. 46 Jahr 2012 umfasst Malereien, Mischtechniken und Fotografien mit Applikationen wie Rasierklingen, Gold- oder Silberblättchen und Textilien. In dem Gemälde „The Artist is posing for you“ geht es explizit um eine Selbstinszenierung als Künstlerin: In legerer Alltagskleidung sitzt Keramati auf einem Stuhl, auf dem ein gemustertes Tuch liegt (Abb. 46). Ihre Hände liegen auf den Oberschenkeln und ihr eindringlicher Blick fixiert den/die Betrachter/in. Keramatis Oberkörper ist in das stehende goldene Rechteck in der Mitte des schwarzen Hintergrundes eingepasst, das ihrem Erscheinungsbild eine repräsentative Bedeutung verleiht und auf ein Hofzeremoniell im Kontext einer herrscherlichen Audienz oder auf Marienbildnisse hindeutet. Dieser Eindruck wird jedoch durch die bunt gestreiften Socken und die Jeans wieder abgeschwächt. Das Bild lässt an die Performance „The Artist Is Present“ (2010) der Aktionskünstlerin Marina Abramović denken, im Zuge derer sie im Museum of Modern Art in New York 721 Stunden schweigend an einem Tisch saß und Besucher/innen gegenüber von ihr Platz nehmen konnten, um ihr in die Augen zu blicken. Von Bedeutung ist hier, dass Simin Keramati als Künstlerin vor einem und für ein Publikum posiert und sich den Blicken der anderen bewusst aussetzt. Die ambivalente Inszenierungsform resultiert aus dem Rekurs auf byzantinisch-christliche oder imperiale Ikonografien und Genres der abendländischen Kunstgeschichte sowie auf Positionen der globalen Gegenwartskunst. Elemente dieser selektiven Adaption kombiniert Keramati mit ihrer körperlichen Selbstrepräsentation, wodurch etwas Hybrides und doch Neues entsteht. In dem Gemälde „The artist is posing for you“ scheint sie sowohl die repräsentative Funktion von Selbstporträts generell und die damit verbundenen Künstler/innenmythen als letztendlich auch ihr eigenes Selbstbild(nis) als Künstlerin ironisch zu unterlaufen. In der Fotocollage „The Saint of the Blades“ (Abb. 47) greift Keramati diese Thematik in einer leicht modifizierten Version wieder auf: Während Pose, Mimik und Bekleidungsstücke wie Socken und Kopftuch unverändert bleiben, ist anstelle des goldenen Rechtecks eine weiße und stellenweise mit roter Farbe (alias Blut) bespritzte Leinwand zu sehen. Rings um Kera-

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matis Kopf finden sich außerdem Rasierklingen in Form eines Nimbus. Der Schleier, der ihr Gesicht umrahmt und die scheinbare Gloriole verstärken den ikonenhaften Eindruck der Dargestellten. Fast noch deutlicher als im Gemälde ist hier der Verweis auf traditionelle Darstellungsschemata für Madonnenbildnisse aus der byzantinischen und christlichen Kunst, wobei das Jesuskind auf ihrem Schoß freilich fehlt. Das mitunter erschreckende und gewaltvolle Bilddetail, das jedoch nicht im ersten Moment ins Auge sticht, ist der Heiligenschein: Die Strahlen dieser Leucht- oder Lichterscheinung wurden durch Rasierklingen replatziert, die auf der Leinwand bereits Blutspuren hin-

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178 | Visuelle Identitäten terlassen haben. Wie auch aus der Betitelung „The Saint of the Blades“ hervorgeht, ist es keine Madonna, die hier von Keramati verkörpert wird. Auf eine drastische und vor allem schmerzhafte Weise kulminieren die körperlichen Selbstinszenierungen mit Rasierklingen in der Malerei „The Edge of the Blade“ (Abb. 48) und in den beiden Fotocollagen „Throwing up the Blades #1 und #2“ (Abb. 49–50): Im Acrylbild hat Keramati ihr Gesicht direkt dem/der Betrachter/in zugewandt und gibt durch ihren leicht geöffneten Mund den Blick auf eine Klinge frei. In der Fotocollage „Throwing up the Blades #1“, in der sich die Künstlerin wiederum en face dargestellt, speit sie aus ihrem nun weiter geöffneten Mund zahlreiche kleine Messer strahlenförmig aus. „Throwing up the Blades #2“ zeigt Keramati in Profilansicht bei derselben Tätigkeit. Die Dramatik wird hier allerdings durch den Positionswechsel, die nun deutlich sichtbare Menge an Klingen, die sich gegen den hellen Grund abheben sowie die roten Farb- bzw. Blutspritzer zusätzlich gesteigert. Während in anderen malerischen Zyklen bestimmte Körperpartien – und hier sehr häufig Kopf und Gesicht – verdeckt oder durch das Bildformat beschnitten werden, sind es hier Rasierklingen, die in den Selbstdarstellungen als destruktive Bildelemente zum Einsatz kommen. Die Bedrohung und Verletzungsgefahr durch die Klingen ist vor allem in den letzten drei Werken offensichtlich, jedoch wird Keramati selbst kein wirklicher Schaden zugefügt. Die Vermutung, dass Keramati das Rasiermesser aufgrund seiner vielfachen Verweise auf geschlechterspezifische Themen oder die Kultur-, Kunst- und Filmgeschichte aufgreift, ist naheliegend: So kann der Akt der Rasur auf die Betonung der Maskulinität bezogen werden; Rasiermesser finden sich jedoch auch in religiös-schiitische Ritualen der Selbstverletzung im Rahmen der Ashura oder bei Beschneidungen und werden zudem für Selbstverletzungen oder als Mordwaffe verwendet. Der Vorgang des Ausspeiens bzw. Erbrechens dieser Klingen, der in den Fotocollagen „Throwing up the Blades #1 und #2“ dargestellt ist, könnte mit einem Akt der innerlichen Reinigung oder Befreiung von Assoziationen wie diesen in Verbindung gebracht werden. Die kurzen Werkbesprechungen haben gezeigt, dass Keramati auch in ihren Malereien und Mischtechniken Körper und Identität durch visuelle Entzugsstrategien (Verbergen, Überdecken, Abschneiden von Körperpartien) oder durch gewaltsame Konfrontationen mit spezifischen Bildelementen (Rasierklingen, Messer) dekonstruiert. 4.1.3 Körper und Identität in weiteren Videoarbeiten De/Konstruktionsverfahren im Kontext von Selbstinszenierungen, wie sie Keramati im Video „Self Portrait“ einsetzt, finden sich auch in anderen Videoarbeiten der Künstlerin. Ein frühes Beispiel dafür ist etwa das im Jahr 2006 entstandene Video „Earth“ (14:24 min), das mit „Fire“, „Water“ und „Wind“ Teil des Zyklus „The Four Elements“ ist. Ein Gehäuse, das an der Vorder- und Rückseite verglast ist, gibt den Blick auf die darinsitzende Protagonistin frei. Gleich zu Beginn erinnert das schwere Atmen im Moment der Einblendung des Titels an ähnliche Geräusche im Video „Self Portrait“. In der

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dreizehnten Sekunde beginnt feine, sandförmige Erde in das Behältnis zu rieseln. In der Folge fällt die in immer größeren Mengen eindringende Erde auch auf die Künstlerin, die mit ihrem Rücken an der linken Wand lehnt. Zunächst werden ihre Schultern erfasst, kurze Zeit später auch ihr Kopf und Oberkörper. Keramatis Gesichtsausdruck wird ernster, sie blickt auf ihre Handflächen und schließt gelegentlich ihre Augen, während ihre Position unverändert bleibt. Die Erde fällt mittlerweile vielfach und sehr rasch an mehreren Stellen von oben in das Gehäu- Abb. 53 se, das nach guten fünf Minuten bereits fast halbvoll ist. Gegen Ende der neunten Minute reicht die Erde bis zu ihrem Hals, nach elfeinhalb Minuten ist ihr Kopf nur mehr bis zur Hälfte und in der zwölften Minute nicht mehr sichtbar (Abb. 51–53). Die destruktive Funktion, die im Video „Self Portrait“ der schwarzen, sich über dem Gesicht ausbreitenden Flüssigkeit zukommt, erfüllt in „Earth“ die feinkörnige Erdmasse, die sich sukzessive über der Künstlerin ergießt. Das Auslöschungsverfahren ist hier gegen den gesamten Körper gerichtet, der von der Erde verschüttet wird. Keramati inszeniert sich relativ passiv und liefert sich ihrem „Schicksal“ ohne Widerstand aus. Im Kontrast zum Video „Self Portrait“ gibt es hier keine deutlichen körperlichen Reaktionen oder andere streitbaren Signifikanten, die auf Handlungspotenzial hindeuten. Sie wird quasi lebendig von der einfallenden Erdmasse begraben.

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Abb. 54

In einer weiteren, fünf Jahre später entstandenen Videoarbeit ist die vollständig schwarz gekleidete Künstlerin im Innenraum beim Seilspringen zu sehen (Abb. 54). Durch die durch Glas und Gitterstäbe durchbrochene Wand im Hintergrund ist ein schmaler, mit Laub bedeckter Innenhof mit Bäumen erkennbar, in den Tageslicht fällt. Die Betitelung mit „Tehran 2010“ ermöglicht eine Lokalisierung dieser Aktivität, die vermutlich in Keramatis Atelier in der iranischen Hauptstadt stattfindet. Die gleichförmigen Bewegungen und das Aufknallen des Springseils auf dem Boden verlaufen zunächst monoton. Nach etwa 37 Sekunden unterbricht Keramati ihre Tätigkeit kurzfristig, setzt diese jedoch rasch wieder fort. Gen Ende des kurzen Videos verschwindet die Künstlerin (2:24 min) und das Seil liegt wie ein ausgedienter Galgen am Fußboden. Die knallenden Geräusche des Aufpralls, die wie Peitschenhiebe klingen, setzen sich trotz der Absenz der Protagonistin paradoxerweise fort. Die ambivalente Symbolik des Seils lässt an die in Iran durch die Sharia (religiöses Gesetz des Islam) legalisierte Hinrichtung durch Erhängen denken. Mit dieser Thematik beschäftigt sich Keramati auch in einer später datierten Videoarbeit, die in der Folge noch vorgestellt werden wird. Keramatis plötzliches Verschwinden aus dem Videobild hat wiederum etwas mit der Verweigerung, dem Entzug oder auch der gewaltvollen Auslöschung von körperlicher Präsenz zu tun. Seil und Geräuschkulisse fungieren als indexikalische Signifikanten bzw. als visuelle und auditive Referenten, die auf hinterbliebene Spuren von etwas einmal Dagewesenem, Vergänglichem hindeuten, die in einer gewissen Form aber noch präsent sind: Sie erinnern an die eben noch sichtbare Simin Keramati bei einem vermeintlichen Kinderspiel, dem Seilspringen. Ein Impuls für die Arbeit an dem Video „Biopsy of a Close Memory“ (2:45 min, 2012) war laut Keramati die künstlerische Verarbeitung alltäglicher Horrorszenarien von Kriegen und Massakern, mit denen sie seit Kindesalter entweder direkt oder über Fernsehnachrichten konfrontiert war. Ein aktueller Beweggrund im Jahr 2012

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war selbstverständlich auch die sich formierende Protestwelle im Zuge des Arabischen Frühlings. Die jüngsten Ereignisse in Syrien veranlassten sie letztendlich dazu, die Farbe Rot für den Vorgang einer Biopsie zu verwenden, die das Unaussprechliche visualisieren soll.7 Das Slow Motion-Video beginnt auf tonaler Ebene mit dem Geräusch eines Herzschlages, während sich das Bild rot einfärbt. In diesem zeichnet sich schließlich das Schulterstück der weiß bekleideten Künstlerin ab und der Hintergrund erhellt sich. Nach nur wenigen Sekunden wird sie von einer roten Flüssigkeit im Gesicht und am Oberkörper getroffen, die von links auf sie geschüttet wird (Abb. 55–56). Die Augen geschlossen, neigt sie sich langsam nach rechts, die Substanz tropft von ihrem Antlitz hinab auf ihren Körper. Keramati wendet sich wieder dem/der Betrachter/in zu und öffnet vorsichtig ihre Augen, das linke ist rot und blutunterlaufen. Alternierend werden in der Folge die Augen auf- und zugemacht, während die rote Flüssigkeit über ihr Gesicht läuft und vom Kinn tropft. In Kürze hat sich das Rot auch in ihr rechtes Auge eingeschrieben. Zuletzt schließt sie ihre Augen und ihr rot bespritzter Körper verschmilzt mit dem sich wieder rot einfärbenden Hintergrund. Aufgrund der Schütttechniken sind hier Referenzen zu dem visuellen Artikulationsvokabular der Aktionskunst erkennbar, das mitunter an die blutigen Schüttaktionen des Wiener Aktionismus, an Positionen der Body Art oder Performances der feministischen Kunst denken lässt. Der medizinische Fachbegriff der Biopsie, der die Entnahme von Gewebematerial aus einem lebenden Organismus bezeichnet, bezieht sich in der Videoarbeit auf die (erzwungene) Absorption von Erinnerungen an blutige Massaker und Gräueltaten, die durch die rote Farbe visualisiert werden. Als integrale Komponenten der Selbstbiografie werden diese prägenden Erfahrungen und Erlebnisse mental und auch physisch wiedererlebt und retrospektiv durchlaufen. Dieser Memorialprozess, der die geistige und körperliche Dimension miteinbezieht und herausfordert, verweist sowohl auf ein Sich-Ausliefern an schmerzhafte Erinnerungen als auch auf eine aktive Konfrontation mit denselben. Das Werk ähnelt dem Video „Self Portrait“ aufgrund des Ausschnitts, der Pose sowie des Farbeinsatzes, der Keramatis Antlitz übermalt, jedoch hier nicht vollständlich unkenntlich macht oder auslöscht. 7 Vgl. http://www.siminkeramati.com/about.html [Stand: 10.08.2013].

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Im Zentrum der Videoarbeit „The Painless Method“ (8:17 min) aus dem Jahr 2013 stehen Keramatis Reflexionen über die Todesstrafe. Zu Beginn ist eine weibliche Stimme zu vernehmen, die in persischer Sprache spricht. Parallel dazu werden englische Übersetzungen am unteren Videobildrand eingeblendet: „LauAbb. 59 dation to the God of majesty and glory / Obedience to him is a cause of approach and gratitude in increase of benefits“ lauten die ersten zwei Sequenzen. Die tonale und schriftbildliche Struktur bleibt ein fixer Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Hier wird jedoch nicht einfach ein Text vorgelesen, es handelt sich um Rezitationen von Auszügen aus dem Prosawerk „Golestaˆn“ (per.: Rosengarten) des berühmten persischen Dichters Saadi, das 1258 verfasst wurde und zum Kanon der persischen Literatur zählt.8 In der zwanzigsten Sekunde wird ein Close-up von Keramatis Hals- und Schulterpartie in Rückenansicht eingeblendet (Abb. 57). Vereinzelte Strähnen ihres hochgesteckten braunen Haares wehen im Wind, ihre Schultern sind nackt. Rechts und links von ihr ist ein zunächst verschwommenes landschaftliches Ambiente erkennbar. Die weiterhin vernehmbare weibliche Stimme ist die der Künstlerin, sie wird jedoch durch das Geräusch von Windböen in ihrer Deutlichkeit beeinträchtigt. Im weiteren Verlauf des Videos gibt es mehrere Unterbrechungen, in denen thematisch einschlägige Werke aus der Kunstgeschichte, Definitionen sämtlicher Hinrichtungswerkzeuge in persischer und englischer Sprache sowie Fotos von Exekutionen eingeblendet wer8 In „Golestân“ wird die Geltendmachung des Selbstinteresses im Gegenzug zur menschlichen Nächstenliebe thematisiert. Dieser Sachverhalt ist in persönlich gefärbte Anekdoten, Aphorismen, Lebensweisheiten und zum Teil in humoristische Reflexionen verpackt. In seiner Konzeption in acht Kapitel folgt das Werk einer Struktur, die auf die acht Pforten zum Paradies verweist. Die einzelnen Abschnitte befassen sich mit dem Umgang mit Königen, der Moral der Derwische, der Vortrefflichkeit und den Vorzügen des Schweigens, Liebe und Jugend, Schwäche und Alter, erzieherischen Konsequenzen und Benimmregeln. Vgl. Lewis, Franklin, Golestān-e Sa’di, in: Encyclopædia Iranica XI:1 (2001), http://www.iranicaonline.org/articles/golestan-e-sadi [Stand: 10.08.2013].

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den. Neben Caravaggios Gemälden „Opferung Isaaks“ (dat. 1601–02) und „David mit dem Kopf des Goliath“ (dat. 1590) ist eine Grafik mit dem Titel „Grande hazona! Con muertos!“ aus dem Zyklus „Desastres de la Guerra“ (dat. 1810–14) von Francisco de Goya zu sehen. Im Zeitraum zwischen den Einblendungen von Fotografien mit einer Guillotine, Texten über die Exekutionsmethode und Goyas Grafik beginnt Keramati, ihren Kopf zu bewegen und mit einer Hand ihren Nacken zu berühren (Abb. 58–59). Es folgen zwei Enthauptungsszenen mit einem Gunto-Schwert, das als japanisches Militärschwert vor allem im Zweiten Weltkrieg zum Einsatz kam, sowie eine Darstellung mit der Enthauptung von Marie-Antoinette. Unmittelbar nach dem brutalen Bild, das einen durch das Gunto-Schwert abgetrennten Kopf zeigt, ist wieder das Close-up von der Rückenansicht Keramatis sichtbar. Als würde diese blutrünstige Enthauptung fortgesetzt werden, fährt ein Schnellzug exakt an der Stelle ihres Nackens quer durch das Videobild. Nach einer Erläuterung der Hinrichtungsart durch Erhängen wird eine Fotografie einer iranischen Frau im schwarzen chādor eingeblendet, die zum Tod durch den Galgen verurteilt ist. Das erneute Betasten ihres Nackens spiegelt Keramatis Unbehagen wider. Bevor das Erhängen als altpraktizierte Hinrichtungsmethode beschrieben wird, ist ein weiteres Foto mit mehreren gehängten, jungen iranischen Männern zu sehen. Das Video endet mit folgender Übersetzung von Saadis „Golestaˆn“: „I intended to fill the skirts of my robe with roses, when I reached the rose-tree, as presents for my friends, but the perfume of the flowers intoxicated me so much that I let go the hold of my skirt.“ Die Einbettung mehrerer Bild- und Fotomaterialien sowie lexikalischer Definitionen in die Videoarbeit zeugt von Keramatis intensiver Auseinandersetzung mit dem Thema der Todesstrafe, die sowohl in Iran also auch in zahlreichen anderen Staaten gesetzlich verankert ist. Der Titel des Videos, zu Deutsch „Die schmerzlose Methode“, bezieht sich auf die Praxis der Enthauptung, von der beteuert wird, dass sie „humaner“ als andere Hinrichtungsmethoden sei. Die Fotografien mit den enthaupteten Personen lassen allerdings an alles andere als an eine „menschliche“ Exekutionsart denken. Keramati selbst nimmt im Video wiederum eine zentrale Rolle ein: Zum einen ist es ihre Stimme, die Auszüge aus der Gedichtsammlung „Golestaˆn“ rezitiert, die der sehr ernsthaften Thematik diametral entgegengesetzt zu sein scheint. Zum anderen verweist die Selbstinszenierung in Rückenansicht und vor allem das Close-up ihres Nackenbereichs darauf, dass sie sich in die Lage der zum Tode Verurteilten versetzt und die Gräueltaten der eingeblendeten Bilder körperlich mitzufühlen scheint. Ein Hinweis dafür ist etwa ihr vorsichtiges Abtasten der Hals- und Nackengegend. Diese Geste erinnert an die Malerei „Divorce“ aus dem Zyklus „Self Portrait Series“ (Abb. 32), in der Keramati in gleicher Weise in Rückenansicht dargestellt ist und mit der rechten Hand ihren Nacken berührt. Auch steht die Springschnur und ihre Assoziation mit einer Galgenschnur aus dem Video „Tehran 2010“ thematisch mit „The Painless Method“ in Zusammenhang. In gewisser Hinsicht lässt sich Keramatis Rückenansicht zudem mit einer klassischen Hinrichtungssituation in Verbindung bringen: Demnach würde ein/e Betrachter/in der Videoarbeit die Position eines Henkers bzw. Vollstreckers

184 | Visuelle Identitäten der Todesstrafe einnehmen. Besonders drastisch sind jene Situationen, in denen die an der Stelle ihres Nackens quer durch das Videobild fahrenden Züge mehr oder weniger die Funktion eines Enthauptungswerkzeuges einnehmen. Die Arbeit impliziert freilich auch eine subversive Kritik an Exekutionen, die noch in vielen Ländern üblich sind. Die Werkanalysen sämtlicher Malereien, Mischtechniken und Videoarbeiten haben gezeigt, dass Repräsentationsformen der eigenen Person einen zentralen Stellenwert in Simin Keramatis Œuvre einnehmen. Diese Selbstinszenierungen sind sowohl in persönliche als auch gesellschaftspolitische Kontexte eingebettet und interagieren mit den spezifischen Inhalten. Sie sind Teil und gleichzeitig Ergebnis von visuellen Strategien, die eine De/Konstruktion von Körper und Identität fokussieren.

4.2 Künstlerische Selbstdarstellungen im Vergleich In diesem Abschnitt geht es darum, das Video „Self Portrait“ und andere Arbeiten Keramatis künstlerischen Positionen zeigenössischer iranischer Künstlerinnen gegenüberzustellen, die in Iran oder der globalen iranischen Diaspora leben und arbeiten. In der Folge ist es interessant, Keramatis Selbstinszenierungen im transnationalen und „globalen“ Umfeld zu kontextualisieren, wobei hier das Hauptaugenmerk auf Künstlerinnen gerichtet ist, die sich mit der (eigenen) weiblichen Identität beschäftigen und mitunter Strömungen der feministischen Kunst zuzuordnen sind. Durch diese kunstwissenschaftlichen Vergleiche soll einerseits gezeigt werden, dass Selbstdarstellungen und Identitätsfragen sowie de/konstruktive Visualisierungsstrategien zu den zentralen Themen der iranischen Gegenwartskunst zählen. Andererseits ist es interessant, Verknüpfungen zu feministisch orientierten Künstlerinnen im globalen Kontext herzustellen, die sich spätestens seit den 1960er-Jahren in Fotografie und Video mit performativen körperlichen Selbstinszenierungen auseinandersetzen. 4.2.1 Keramati und iranische Künstlerinnen Die Videoarbeit „Messages“ (10:58 min) der 1971 in Teheran geborenen Jinoos Taghizadeh, die derselben Künstlerinnen-Generation wie Simin Keramati angehört und zu ihren Kolleginnen zählt, entstand im Jahr 2006. Zu Beginn werden drei Projektio­ nen auf einem weißen Hintergrund eingeblendet, in denen jeweils ein Schulterstück der weiß gekleideten Taghizadeh vor schwarzem Hintergrund zu sehen ist (Abb. 60). Alle drei Gesichter der Künstlerin machen zunächst einen glücklichen Eindruck und sprechen mit Salam die traditionelle Grußformel im arabischen und auch persischen Sprachkontext aus. Englische Übersetzungen des gesprochenen Persisch finden sich unter den drei Selbstbildnissen der Künstlerin. In der Folge äußert sich Jinoos Taghizadeh im linken Bild: „We’re doing well / just here is mild coma which will pass soon / Kisses / Jinoos“. Während sie spricht, bewegen die mittlere und rechte Taghizadeh ihren Kopf nach rechts und wenden sich somit von ihr ab. Im Verlauf des Videos folgen

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Abb. 60

noch zwei weitere dieser Dreifacheinblendungen der Künstlerin. Zwischen diesen kurzen Sequenzen führt Taghizadeh den/die Betrachter/in mit einer Videokamera durch die Straßen der iranischen Hauptstadt Teheran und lässt auf diese Weise an ihrem individuellen Blick auf diverse Schauplätze im Außen- und Innenraum teilhaben. Der Einsatz von raschen Schwenks, Zeitraffer und Slow Motion sowie das gehetzt anmutende Keuchen als kontinuierliche auditive Untermalung vermittelt Rastlosigkeit und Unruhe. Bilder von Insekten und Ungeziefer, die immer wieder für einige Sekunden sichtbar sind, fungieren als symbolträchtige und unheilvolle Signifikanten für Bedrohung, Gefahrenquelle, Plage und sind als Indikatoren für Tod, Verfall und Verwesung interpretierbar. Die zweite Dreifachprojektion in der Mitte des etwa zehnminütigen Videos beginnt, wie die erste, mit dem Grußwort Salam. Taghizadeh in der Mitte gibt Folgendes von sich: „I’m feeling better today / I just have a slight headache / maybe because of the sleeping pill I took last night / but when I woke up this morning, I was smiling / as if I were in a sweet dream / Thanks / Jinoos“. Währenddessen changieren die Positionen der rechten und linken „Versionen“ der Künstlerin zwischen Frontal- und Profilansicht. Es folgt eine Detailansicht von Nase und Mund, die Augenpartie ist nicht mehr sichtbar. In der letzten Einblendung ist der Gesichtsausdruck der drei Protagonistinnen ernst. Dieses Mal spricht die rechte Jinoos: „Salam / I’m still here, beneath the ground / I’m unavailable at this time / and all other routes are busy / That’s all / Jinoos“. Es folgen Close-ups und diverse extreme Close-ups der drei Einblendungen der Künstlerin. Die Struktur von „Messages“ erinnert an Taghizadehs zwei Jahre zuvor produziertes Video „Aboureyhan Selfportrait: Day and Night“: Durch die Aufnahmen einer am Körper befestigten Videokamera gibt die Künstlerin je eine Stunde am Morgen und in der Nacht Einblicke in ihren Alltag, der sich zu diesen Zeiten in ihrer Wohnung in der Aboureyhan Gasse abspielt. Begleitet werden die unterschiedlichen Aktivitäten von lauten und angestrengt wirkenden Atemgeräuschen. Gelegentlich sind auch ihre Hände oder Füße zu sehen. In beiden Videoarbeiten steht die Künstlerin selbst im Zentrum: In „Messages“ geht es um die Vervielfältigung der eigenen Person in Form einer Dreifacheinblendung, mit der eine eigentümliche Wiederholung, Aufsplittung und Verunklärung der Subjektposition einhergeht. In den dazwischenliegenden Sequenzen wird – wie auch

186 | Visuelle Identitäten in „Aboureyhan Selfportrait: Day and Night“ – die körperliche Präsenz durch die Art der Kameraführung vollständig oder großteils negiert. Zugleich werden Betrachter/innen, jedoch dazu eingeladen, durch die Augen der Künstlerin zu blicken und an ihrem visuellen Empfinden und Abb. 61 Wahrnehmen zu partizipieren. Ebenso wie in Keramatis Werken lassen sich in den beiden Videos von Jinoos Taghizadeh körperliche Entzugsstrategien und Dekonstruktionsverfahren von weiblicher Identität feststellen. Die ausschnitthafte und fragmentarische Darstellung von Körperlichkeit, die Einbindung der eigenen Stimme, die Einblendung von englischen Übersetzungen aus dem Persischen und vor allem die Vermittlung von persönlichen Botschaften sind Momente, die beide Künstlerinnen miteinander verbinden. Auch Nikoo Tarkhanis Videoperformances aus dem Zyklus „Song of Songs“ sind für einen Vergleich mit Keramatis Werken geeignet. In „Metamorphoses“ (2009) ist das Haupt der 1983 geborenen und in Teheran lebenden Künstlerin frontal in Großaufnahme zu sehen. In reißenden und zerrenden Bewegungen zieht sie relativ unvermittelt eine Hautschicht von ihrem Gesicht, wodurch an ihrer linken Wange sowie auf ihrer Stirn offene und blutige Stellen zurückbleiben (Abb. 61). Unbeeindruckt von diesem schmerzhaften Eingriff fixiert sie den/die Betrachter/in mit ihrem Blick und löst weitere Haut von ihrem Antlitz, das mittlerweile deutlich geschunden und verletzt aussieht. Gegen Ende des Videos schließt sie ihre Augen. „Regeneration“ (2011) ist die zweite Videoperformance der Triologie. In Form eines Schulterstücks ist Tarkhani hier wiederum frontal dem/der Beschauer/in zugewandt (vgl. Abb. 10). Ihre brutal anmutende und auf eine Selbstzerstümmelung verweisende Aktivität bleibt zunächst unscharf, ist jedoch relativ rasch erkennbar: Die Künstlerin versucht, ihre Lippen mit Nadel und Faden zuzunähen und blickt während dieser schmerzvollen Aktion beharrlich auf den/ die Betrachter/in. Parallel dazu sind flüsternde Stimmen in persischer Sprache zu vernehmen. Am Ende der Videoperformance wird der Blick auf Tarkhanis Mundpartie gelenkt: Ihre Lippen sind zusammengenäht und der Faden ist blutig. Wie auch in „Metamorphoses“ schließt sie ihre Augen. In der Videoarbeit „The Scarlett Letter“ (2012) näht die Künstlerin das persische Wort man, das „ich“ bedeutet, in die Innenseite ihres Unterarms. In einer Dreifachprojektion werden zunächst ihr Arm und später ihr Antlitz und Fuß eingeblendet. Letzterer reflektiert ihre Anstrengungen und Schmerzen in Form von Wippbewegungen und Zusammenziehen der Zehen (Abb. 62). Begleitend dazu sind langsame und bedrohlich anmutende Klänge als tonale Untermalung hörbar. Am Schluss ist wiederum nur der Unterarm mit dem eingenähten Wort man sichtbar,

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Abb. 62

das die Künstlerin mit ihren Fingern ertastet. Tarkhani nimmt durch das Abziehen ihrer Gesichtshaut, das Zusammennähen ihrer Lippen sowie das Einnähen des Wortes man in ihren Unterarm schwerwiegende körperliche Eingriffe vor. Fokus und Medium dieser destruktiven Betätigungen, die ihren Ausdruck in Metamorphosen durch Häutung, Verstummung und wortwörtlichen Einschreibungsverfahren in die Haut finden, ist stets der eigene Körper. Die Visualisierungen von Körper und Identität sind stets an gewaltvolle, mitunter autoaggressive Eingriffe am eigenen Leib gekoppelt: Das Gesicht wird gehäutet, der Mund wird vernäht und das man/Ich muss erst in der Haut verewigt werden, um es als solches zu erkennen. Im Gegensatz zu Keramatis Video „Self Portrait“, in dem die dekonstruktiv-zerstörerischen Kräfte in Form der schwarzen Substanz von außen gesteuert wirken, nimmt Tarkhani selbst Interventionen an ihrem Körper vor. Jedoch handelt es sich nur um scheinbare Kontraste, die sich aufgrund eines ähnlichen Repertoires an Visualisierungsformen von weiblicher Identität auflösen lassen: Das Antlitz Tarkhanis mit den abgezogenen Hautschichten und blutigen Stellen kann dem vernichtenden Einschreibungsvorgang der schwarzen Farbe in Keramatis Gesicht gegenübergestellt werden. Die metaphorische „Häutung“ zielt auf die Freilegung eines „anderen“ Gesichtes ab, während dieses bei Keramati einem Übermalungsvorgang ausgesetzt ist, der an dessen Stelle lediglich einen „blinden“ Fleck übriglässt. Ebenso gibt es deutliche Parallelen zwischen den zusammengenähten Lippen und dem mit dem durch schwarze Farbe verdeckten Mund. In der Art und Weise, wie Tarkhani das man in ihren Unterarm einnäht, schreibt sich „faceless“ über Keramatis schwarz eingefärbtes Antlitz. Im Vergleich zu den vorher besprochenen Werken ist die Videoarbeit „Dialogue with Open Eyes“ (2010) der 1969 geborenen und in Teheran lebenden Künstlerin Neda Razavipour wesentlich stiller. In „Dialogue with Open Eyes“ (2010) sieht man das Kopfbild der Künstlerin vor einem rötlichen Hintergrund (vgl. Abb. 7). Neben der klassischen Porträtfunktion dieser Einstellung ist hier ihr vor allem ihr starrer Blick

188 | Visuelle Identitäten zentral, der den/die Betrachter/in vereinnahmt und den sie, kaum ohne Blinzeln, standzuhalten versucht. Nur in kurzen Momenten sieht sie sporadisch nach unten und oben. Auch ihre Mimik verändert sich nicht merklich, nur gelegentlich bewegt sie unauffällig die Lippen. Von spezifischem Interesse sind die insgesamt vier Unterbrechungen in Form von Einblendungen eines rein schwarzen Videobildes, mit denen bewusst auf die Schnittstellen der unterschiedlichen Aufnahmesequenzen hingewiesen wird. Diese Einschnitte lassen Razavipours Antlitz aus dem Videobild verschwinden und wiedererscheinen; zugleich verweisen sie auf ein bewusst angelegtes Changieren zwischen Präsenz und Absenz. Razavipour hat ihre Arbeit in einem Portfolio wie folgt kommentiert: „This film is about dialogue, or the impossibility of dialogue. However, if I always wanted to believe in dialogue, these days the silence is becoming unbearable.“9 Die Unmöglichkeit eines ohnehin gebrochenen Dialogs manifestiert sich in den stummen Blicken, mit denen die Künstlerin auf nonverbaler Ebene kommuniziert. Ettehad bezieht die Arbeit außerdem auf zeitgenössische politische Umstände: Der Beginn des Jahres 2010 markierte den Beginn einer weiteren „postrevolutionären“ Periode nach der gescheiterten „Grünen Bewegung“ (2009). Diese Protestwellen waren gegen den erneuten Präsidentschaftsantritt Mahmud Ahmadinejads gerichtet und wurden in der Folge niedergeschlagen. In dieser Zeit, so Ettehad, herrschte in der Hauptstadt Teheran eine bedrückte und niedergeschlagene Stimmung.10 Die Unterbrechung von Razavi­pours Close-up-Aufnahmen durch die schwarzen Einblendungssequenzen als offengelegte Videoschnittstellen lassen sich mit dem Einsatz der schwarzen Substanz in Keramatis Arbeit vergleichen: Während es zum einen um kurzfristige Ausblendungen und Wiedereinblendungen des Bildnisses der Künstlerin geht, findet zum anderen ein sukzessives Auslöschungsverfahren desselben statt. Beide Positionen operieren mit de/ konstruktiven Visualisierungsstrategien von Körper und Identität. Zahlreiche Künstlerinnen der globalen iranischen Diaspora befassen sich kritisch mit visuellen Repräsentationssystemen und Identitätszuschreibungen. Im Zuge von weiteren Werkanalysen und Vergleichen mit Simin Keramati erfolgt eine Konzentration auf Kunstschaffende, die in Iran geboren wurden und seit geraumer Zeit in europäischen Ländern leben und arbeiten. Parastou Forouhar (geb. 1962 in Teheran/Iran), Raha Rastifard (geb. 1974 in Teheran/Iran) und Celia Eslamieh Shomal (geb. 1981 in Teheran/Iran) sind Künstlerinnen, die sich u. a. mit Alteritäts- und Differenzkonstruktionen der nicht-westlichen, orientalischen Frau, ethnischen und geschlechtlichen Stereotypisierungen und sozio-politischen Machtverhältnissen in ihrem Geburtsund Aufenthaltsland auseinandersetzen. Häufig geht es um visuelle Inszenierungen der iranischen Frau als „Gegenpart“ zur europäischen Kultur, für deren Identität und Selbstdefinition die Alterität der „anderen Frauen“ wiederum konstitutiv ist. Der traditionelle iranische chādor fungiert in dieser Hinsicht als markanter, Aufsehen erre9 Razavipour, Neda, Dialogue with Open Eyes, http://www.nedarazavipour.com/2010--dialoguewith­-open-eyes.html [Stand: 12.08.2017]. 10 Vgl. Ettehad, Self-Portrait, 41.

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Abb. 63

gender Signifikant, der in künstlerischen Selbstdarstellungen die Andersheit und Differenz der Protagonistinnen markiert und zugleich auf ironisierende und spielerische Weise inszeniert wird. Ein Beispiel dafür ist der Fotozyklus „Swan Rider II“ (2004) von Parastou­Forouhar, die seit 1991 in Deutschland lebt. Die Künstlerin, die einen schwarzen, gemusterten chādor trägt, sitzt auf einem Tretboot in Form eines weißen Schwans, das im deutschen Fluss Lahn schwimmt (Abb. 63). Der Schwarz-Weiß-Kontrast ist, wie Alexandra Karentzos anführt, mit der Strukur von Märchen und ihrer sauberen Trennung zwischen Gut und Böse vergleichbar. Darüber hinaus lassen sich Bezüge zu Hans Christian Andersens „Das häßliche Entlein“ oder dem Leda-Mythos herstellen. Jedoch werden diese durch die verschleierte Frau konterkariert, die als die orientalische „Andere“ markiert ist.11 Aufgrund der mehrfachen Anspielungen auf griechische und germanische Mythen liegt die Vermutung nahe, dass die Fotoserie an ein deutsches bzw. westliches Publikum adressiert ist. Das Werk rekurriert auf ein Sinnarsenal, „[…] mit dem die westliche Gesellschaft ihr Eigenes konstruiert und definiert, das heißt abgrenzt. Dieses Terrain des ›Eigenen‹ wird von Forouhar ironisch 11 Vgl. Karentzos, Alexandra, Swanrider, http://www.parastou-forouhar.de/portfolio/swanrider/ [Stand: 27.07.2017]. Vgl. außerdem folgende Texte, in denen der Fotozyklus „Swanrider“ thematisiert wird: Karentzos, Alexandra, The Location of Art. Parastou Forouhar’s Displacements, in: Intersections – Reading the Space (Ausst.kat. Jewish Museum of Australia, Melbourne), Melbourne 2005, 54–67, auch abrufbar unter: http://www.parastou-forouhar.de/texts/verortungen_ der_kunst_-_ale.html [Stand: 12.08.2013]; Dies., Unterscheiden des Unterscheidens. Ironische Techniken in der Kunst Parastou Forouhars, in: Göckede, Regina/Karentzos, Alexandra (Hg.), Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld 2006, 127–138, abrufbar unter: http://wordpress.parastou-forouhar.de/unterscheiden-des-unterscheidens/ [Stand: 27.07.2017]. Vgl. ebenso den bereits zitierten Artikel: Allerstorfer, Performing Visual Strategies, 184–186.

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Abb. 64

besetzt.“12 Karentzos bezeichnet diese künstlerische Strategie als ein ironisches Spiel mit Differenzen.13 Reflexionen über den Orient/Okzident, die Konstruktion von Fremdbildern und Identitätsfragen stehen im Zentrum mehrerer Arbeiten der in Stockholm lebenden Künstlerin Raha Rastifard. In einer Fotografie aus der Serie „Devotion to the Orient“ (2010) wird ihr Körper in Schwarz-Weiß-Aufnahme von den roten Streifen der US-amerikanischen Flagge überzeichnet, während sie selbst eine Pistole gegen ihre Schläfe richtet (Abb. 64). Mit dieser Selbstinszenierung als „Repräsentantin“ ihres Heimatlandes spielt sie ganz offensichtlich auf die lange Konfliktgeschichte zwischen Iran und den USA an. Es ist nicht eindeutig, ob Rastifard vor, hinter oder zwischen der Flagge positioniert ist, wodurch der Eindruck entsteht, dass sie Teil derselben ist. Das ambivalente Spiel mit den Farben und Symboliken der Nationalflagge im Kontext einer Selbstdarstellung erinnert an Keramatis malerischen Zyklus „I live between the colors of my flag“. Die Überschreibung der Haut durch die Streifen der Flagge kann hier auch als Andeutung auf die fortwährenden, neokolonialistischen Tendenzen Nordamerikas gelesen werden. Würde Rastifard die Pistole nicht gegen sich selbst richten, würde diese auf Widerstandsfähigkeit, Selbstschutz und Verteidigung hindeuten. Das Spannungsfeld im Zuge des Selbstverortungsversuchs zwischen Geburts- und Aufenthaltsland und die damit verbundene Identitätssuche manifestiert sich in einer Fotografie ohne Titel, in der Rastifard in einer Nahaufnahme mit einer Fotokamera zu sehen ist (Abb. 65). Wesentlich ist hier der Riss, der sich knapp unterhalb ihrer Lippenpartie horizontal durch das Foto zieht und auf einen Akt des Zerreißens und wieder Zusammenfü-

12 Karentzos, Unterscheiden des Unterscheidens. Ironische Techniken in der Kunst Parastou Forouhars, http://wordpress.parastou-forouhar.de/unterscheiden-des-unterscheidens/ [Stand: 27.07.2017]. 13 Vgl. ebd.

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Abb. 65

gens verweist. Diese Art der Selbstdarstellung lässt sich wiederum mit dem Begriff der „Bastelidentität“14 in Zusammenhang bringen. Eine weitere Künstlerin, die sich mit körperlichen Selbstinszenierungen und der De/ Konstruktion von weiblicher „iranischer“ Identität auseinandersetzt, ist Celia Eslamieh Shomal, die in den Niederlanden lebt und arbeitet. In dem Video „Grace“ (2010) ist Shomal in zwei Einblendungen vor einer Ziegelsteinmauer zu sehen, wie sie unter Anstrengung und Schmerzen eine abstoßende Maske von ihrem Gesicht zu lösen versucht (Abb. 66). Ihr linkes, schwarz umrandetes Auge lässt auf eine gewalttätige Misshandlung schließen. Nachdem sie den maskenhaften Gesichtsaufsatz entfernt hat, wischt sie mit



Abb. 66

14 Die sogenannte „Bastelidentität“ setzt sich aus mehrfachen Kategorien auseinander, die immer wieder neu zusammengefügt werden: „Das Selbst wird in der zersprungenen Sozialwelt zum reflexiven Projekt. Es zeichnet sich durch ein bislang unbekanntes Maß an Selbstreflexivität und Kreativität aus und muss sich in einem kontinuierlichen Prozess der Selbstbefragung und Selbststilisierung stets von neuem erschaffen.“ Eickelpasch/Rademacher, Identität, 22.

192 | Visuelle Identitäten Spucke die schwarze Umrandung um ihr Auge weg. Im Zentrum der performativen Aktion steht die Häutung von Shomals Gesicht, die ihr anderes oder auch wahres Gesicht zum Vorschein bringt: Dieser Aspekt verweist wiederum auf visuelle De/Konstruktionen von Identität. Die körperlichen Eingriffe sind au- Abb. 67 ßerdem mit Nikoo Tarkhanis Videoperformance „Metamorphoses“ vergleichbar. Ein anderes Video mit dem Titel „To Mano Mikhai“ (Do you want me?, 2012) zeigt Shomal in einer Zweifacheinblendung: Links posiert sie in schwarzem chādor und rechts mit blond gefärbtem Haar, übertriebener Schminke, operierter Nase und Kopftuch (Abb. 67–68). In ihrer Aufmachung und Erscheinung rekurrieren beide auf zwei spezifische Frauenbilder im Kontext iranischer Gesellschaften und spiegeln nach Aussage der Künstlerin zugleich auch bestimmte Klischees einer iranischen und westlichen Frau wider: Die Frau in chādor repräsentiert quasi den normkonformen Typus, der die gesetzlichen Bekleidungsvorschriften befolgt und entspricht darüber hinaus jenen stereotypen Vorstellungen einer unterdrückten, verschleierten iranischen Frau, die in westlichen Ländern verbreitet sind. Im Kontrast dazu orientiert sich die zweite Frau an westlichen Modetrends und hat ihr Kopftuch nur lose über den Kopf gelegt, sodass die blond gefärbten Haare sichtbar sind (bad hijab). Sie verweist wiederum auf Klischees von westlichen Frauen, wie sie in Iran kursieren. Im Video stellen beide Shomals kontinuierlich ein und dieselbe Frage: „To Mano Mikhai? (Do you want me?)“ In beiden Repräsentationen geht es um Vorstellungen und Projektionen von Weiblichkeit und Frauenbilder, die auch aufgrund der direkten Gegenüberstellung im Video ironisiert werden. Shomal kritisiert damit außerdem die klischeehaften und stereotypen Sichtbarkeitsregime und Schönheitsideale, durch die iranische Frauen als „Andere“ markiert werden oder sich selbst als solche markieren. Die Selbstinszenierungsformen im Feld der zeitgenössischen iranischen Kunst zeugen von einer generellen Skepsis gegenüber Identität, Identitätszuschreibungen und weiblichen Rollenbildern. Zusammenfassend lassen sich mehrere visuelle Strategien benennen, die für eine Konstruktion und Dekonstruktion von Identität Einsatz finden und sich in den Kunstwerken auch überschneiden. Die Vervielfachung der eigenen Person oder das Mehrfachselbstbildnis (1) kann als Hinweis für die multiplen Identitäten oder mehreren Persönlichkeiten fungieren, die eine Person in sich trägt und die in den Bildern visualisiert werden. Die damit assoziierbaren, dissoziativen Störungen, mit denen abwechselnde und unterschiedliche Vorstellungen von sich selbst einhergehen, sind im Kontext der Selbstdarstellungen freilich nicht pathologisch, sondern als intendierte Adaptionen im Kontext künstlerischer Selbstdarstellungen zu interpre-

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tieren. Als Beispiele dafür wurden die Videos „Messages“ von Jinoos Taghizadeh sowie „Grace“ und „To Mano Mikhai“ von Celia Eslamieh Shomal besprochen. Eingriffe in den Künstlerinnen-Körper (2), die entweder von den Protagonistinnen selbst vorgenommen werden oder auf Abb. 68 externe Einwirkungen zurückzuführen sind, umfassen u.  a. Selbstverletzungen und körperliche Ein- oder Überschreibungen. Diese können als Zeichen für die Destruktion von Identität oder auch als Formen der Selbstvergewisserung gelesen werden. Exemplarisch dafür sind etwa Videoarbeiten Nikoo Tarkhanis, in denen sie – ebenso wie Celia Esamlieh Shomal – eine maskenartige Haut vom Gesicht löst, sich den Mund zunäht oder man („ich“) in ihren Arm näht. Letztere Performance ist als ein Akt der Selbstvergewisserung zu betrachten. Übermalungen des Gesichts durch verschiedene Sub­stanzen finden sich in mehreren Werken Keramatis. Mit dem Rekurs auf klassische Porträtformen der Kunstgeschichte (3) wie etwa das Brust- oder Schulterstück wird der Fokus auf den Blick bzw. auch Blickregime gelegt: Thematisiert werden hier das Sehen oder das aktive Schauen und das Gesehenwerden, das wiederum voyeuristisch konnotiert ist. Es geht um Blickkonfrontationen mit Betrachter/innen und zugleich um die Kommuniaktion mit denselben, die über den Augen- bzw. Blickkontakt stattfindet. Identität(/en) konstituiert/en sich hier wechselseitig im Blick des Gegenübers und im Blickaustausch mit dem Gegenüber. Dieser Kategorie sind natürlich mehrere der besprochenen Arbeiten zuzuordnen: mehrere Videos, Malereien und Mischtechniken Simin Keramatis, Neda Razavipours Video „Dialogue with Open Eyes“, Jinoos Taghizadehs Video „Messages“ und die Videoperformances von Nikoo Tarkhani und Celia Eslamieh Shomal. Performative körperliche Inszenierungen im öffentlichen Raum (4) verweisen auf Aspekte des Verbergens und Enthüllens im Feld der Sichtbarkeits- und Unsichtbarkeitsregime und können unter dem Begriff performing alterity subsumiert werden. Zentral ist hier das Spiel mit Wahrnehmungsformen und Zuschreibungsmechanismen ethnisch-kultureller „Andersheit“, die bewusst – mitunter auch provokativ, überspitzt und ironisierend – zur Schau gestellt wird. Im Zusammenhang damit geht es auch um die Wechselwirkungen zwischen kollektiver und personaler Identität sowie zwischen Fremd- und Selbstbild: Wie werde ich gesehen und wahrgenommen und was bedeutet das für meinen Blick auf mich selbst? Häufig ist es so, dass Künstlerinnen in ihren Selbstdarstellungen jene stereotypen Fremdbilder aufgreifen, die von „außen“, also vom gesellschaftlichen Kollektiv, auf sie projiziert werden, um diese wiederum zurückzuwerfen und hegemoniale Zuschreibungsmuster zu entlarven. Mit einer Strategie wie

194 | Visuelle Identitäten dieser arbeiten Parastou Forouhar in „Swanrider“, aber auch Celia Eslamieh Shomal, wenn sie den persischen chādor für ihre Selbstdarstellungen instrumentalisieren. Im Zusammenhang mit performativen Inszenierungen im öffentlichen Raum und den Selbst- und Fremdwahrnehmungen stehen Rollenspiel und Maskerade (5), mit denen Künstlerinnen eine Art von identity switch vollziehen, und mittles Kostümierung meist überzeichnete Figuren verkörpern und nachahmen, die entweder fiktiv oder aus ihrer eigenen Realität, von Medien, Film- und Kunstgeschichte inspiriert sind. Damit einher gehen Begriffe wie Selbst-Stereotypisierung, Kippfiguren oder Bhabhas Konzept der Mimikry, das den Vorgang der Kopie eines „Originals“ beschreibt, der jedoch stets Abweichungen vom „Original“ beinhaltet und daher auch Irritationen evoziert. Dies ist der Fall bei den Videos von Celia Eslamieh Shomal und – wie in Kapitel 5 herausgearbeitet wird – vor allem auch bei Shahram Entekhabi. Eine nächste visuelle Strategie, die mit den bisher skizzierten beinahe immer Hand in Hand geht, operiert mit der Fragmentarisierung, dem Verschwinden und dem Entzug von Körperlichkeit (6). Im Zuge des Spiels mit der Präsenz und Absenz der Künstlerin in ihrer Selbstdarstellung werden immer auch bestimmte Aussagen über Identitäts- und Subjektkonstitutionen sowie ihre gesellschaftlichen und machtpolitischen Kontexte getroffen. Wie bereits anhand mehrerer Werkbesprechungen gezeigt wurde, ist es vor allem Simin Keramati, die auf diese Mittel zurückgreift. Der Rekurs auf die Nationalflagge (7), die im Bild zur eigenen Person in Beziehung gesetzt wird, ist eine letzte, spezifischere Strategie, die jedoch in der globalen Gegenwartskunst und vor allem in Positionen, die sich mit Postkolonialismus und Migration auseinandersetzen, keine Seltenheit ist. Indem Künstlerinnen ihren Körper oder ihr Selbstporträt mit der Flagge inszenieren, eröffnen sie Diskurse über den Begriff der nationalen Identität, demgegenüber sie sich sehr kritisch positionieren. Der Symbolcharakter der Flagge – und in der Folge auch die Idee der Nation – wird durch ihre Neuinszenierung in bzw. mit einer künstlerischen Selbstdarstellung modifiziert. Das kollektiv-nationale Moment wird subjektiviert, in Verhältnis zur eigenen Person gesetzt und dabei häufig in Frage gestellt. Als Beispiele dafür wurden Keramatis malerischer Zyklus „I live between the colors of my flag“ oder auch Raha Rastifards Fotografie „Devotion to the Orient“ besprochen. Die aufgelisteten visuellen Strategien sind weder vollständig, noch sind sie auf Selbstinszenierungen der iranischen Gegenwartskunst beschränkt. In der Folge ist es daher interessant, diese – und vor allem jene in den Werken Simin Keramatis – im globalen Kunstfeld und insbesondere in feministischen Kunstkontexten zu verorten, um transkulturelle und transnationale Aspekte in künstlerischen Praxen der zeitgenössischen iranischen Kunst aufzeigen zu können. 4.2.2 Keramati im internationalen Umfeld Der Versuch, visuelle Artikulationsformen von Identität im Feld der iranischen Gegenwartskunst in den Kontext der euro-amerikanischen feministischen Kunst zu stellen,

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bedarf ein gewisses Maß an Vorsicht. Der Künstler und Kunsthistoriker Foad Torshizi weist auf die grundlegende Problematik hin, dass iranische Künstler/innen häufig mit prominenten westlichen „Prototypen“ verglichen werden und ihr kreatives Potenzial damit in den Schatten einer ohnehin dominanten Kunstgeschichtsschreibung gestellt wird, die künstlerische Produktionen aus Regionen des Globalen Südens seit jeher marginalisiert und aus dem Kanon exkludiert hat. In dieser Hinsicht werden iranische Künstler/innen wie etwa Shirin Neshat (geb. 1957 in Qazvin/Iran, lebt in New York) und Vahid Sharifian (geb. 1982 in Isfahan/Iran, lebt in Teheran) an US-amerikanischen Kunstschaffenden wie Cindy Sherman und Jeff Koons gemessen.15 Leila Pazooki (geb. 1977 in Teheran/Iran, lebt in London) hat diese Zuschreibungsmechanismen ironisierend in einer Installation mit Neonröhren, die den Titel „Moments of Glory“ trägt, auf den Punkt gebracht (Abb. 69). Nicht-westliche Künstler/innen werden – vor allem im Kontext des globalen Kunstmarktes – häufig mit prominenten westlichen Größen verglichen und diesen gegenübergestellt. Dieser Problematik begegnet die Künstlerin, indem sie bekannte Namen des euro-amerikanischen Kunstkanons in Ländern oder Regionen des Nahen und Mittleren Ostens, Asiens, Afrikas oder Südamerikas verortet: Zu lesen ist daher etwa „Indian Damien Hirst“, „Dali of Bali“, „Middle Eastern Louise Bourgeois“ oder „Renoir of South Africa“. Im Ausstellungskatalog „The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989“ wird angeführt, dass Kategorienbildungen wie diese als Signifikanten für eine hegemoniale Eingliederung in bestimmte Normsysteme und für das kulturelle Primat des Westens zu betrachten sind: „Es ist schließlich auch viel leichter, Kunst lediglich an jenen Standards zu messen, die sich in der westlichen Kunstgeschichtsschreibung durchgesetzt haben, als sie im Licht der spezifischen kulturellen Bedingungen zu betrachten, unter denen sie entstanden ist, was womöglich

15 Vgl. Torshizi, The Unveiled Apple, 550–551.

196 | Visuelle Identitäten ganz andere Sichtweisen ermöglichen würde.“16 Der nachfolgende Vergleich mit europäischen oder US-amerikanischen Kunstschaffenden soll die künstlerische Kreativität und Leistung iranischer Künstlerinnen weder diskreditieren noch in den Schatten stellen. Vielmehr geht es darum, den Fokus auf transkulturelle und transnationale Aspekte künstlerischer Praktiken zu legen. Für Monica Juneja liegen die Potenziale einer transkulturellen Kunstgeschichte darin, nach „reziproken Zuordnungen und nach Konfigurationen von Verwobenheit“17 zu fragen und die kulturellen Beziehungsgeflechte in den unterschiedlichen raumzeitlichen Kontexten zu untersuchen: „Eine transkulturell ausgerichtete Kunstgeschichte hat das Ziel, die vielfältigen Prozesse der Aneignung, Abgrenzung, Rekonfigurierung und Übersetzung in neuen Zusammenhängen herauszuarbeiten, um nach der konstitutiven Rückwirkung dieser Prozesse auf alle daran beteiligten Agenten und visuellen Systeme zu befragen.“18 Zentral ist daher die Frage, wie visuelle Ausdrucksformen und Kunstsprachen aufgegriffen, modifiziert und in andere Kontexte transferiert bzw. übersetzt werden, um neue und alternative Artikulationsmodi und Visualisierungsformen von Körper und Identität zu entwickeln. Im Kontext einer „globalen“ Kunstgeschichte gilt es darüber hinaus, iranische Künstlerinnen in den eurozentristisch-patriarchal konnotierten Kanon der westlichen Kunstgeschichtsschreibung aufzunehmen, um dort ihren Platz – gleichberechtigt und Seite an Seite mit ihren euro-amerikanischen Kolleg/innen – zu etablieren. Wie bereits gezeigt wurde, beschränkt sich feministisch informierte Kunst, die ab den 1960er- und 1970er-Jahren in den USA und Europa greifbar ist und sich mit der weiblichen (Geschlechts-)Identität und den damit verknüpften Erfahrungswerten befasst, keineswegs auf westliche Staaten. In der Folge werden körperliche Selbstinszenierungen von Künstler/innen aus dem euro-amerikanischen Raum vorgestellt, deren visuelle Strategien sich mit mit jenen in den Werken Simin Keramatis vergleichen lassen. Als Vertreterin der Body Art ist die deutsche Künstlerin Annegret Soltau (geb. 1946 in Lüneburg/Niedersachsen) u. a. für ihre Fotoübernähungen und die dazugehörige Technik der Fotovernähung bekannt, die sie in den 1970ern entwickelt hat. Neben einer Fotoübernähung mit dem Titel „Selbst, 12“ aus den Jahren 1975–76 skizziert sie ihren künstlerischen Zugang auf der Startseite ihrer Homepage: „Mein zentrales Anliegen ist, körperliche Prozesse in meine Arbeit einzubeziehen und mich selbst zum Modell zu nehmen, weil ich mit mir am weitesten gehen kann.“19 Ihre körperlichen Inszenierun16 Bellmann, Karin, Leila Pazooki, in: Belting, Hans/Buddensieg, Andrea/Weibel, Peter (Hg.), The Global Contemporary. Kunstwelten nach 1989/The global contemporary and the rise of new art worlds (Ausst.kat. Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe), Cambridge/Mass. et al. 2013, 41, abrufbar unter: http://www.global-contemporary.de/de/dokumentation [Stand: 31.07.2017]. 17 Juneja, Monica, Kunstgeschichte und kulturelle Differenz. Eine Einleitung, in: Bruhn, Matthias/ Juneja, Monica/Werner, Elke (Hg.), Universalität in der Kunstgeschichte?, Theme Issue kritische berichte 40 (2012), 6–12, hier 6. 18 Ebd., 7. 19 http://www.annegret-soltau.de/ [Stand: 31.07.2017].

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gen und die damit verknüpften Identitätsfragen beschreibt Fritz Franz Vogel als eine spezifische, visuelle Strategie der Dekonstruktion: „Durch die dekonstruktive Bildpraxis wird die Einheit des Subjekts aufgebrochen, um den Realitäts- und Kontextbezug zu hinterfragen. Dabei lösen sich auch die Grenzen der biologisch festgelegten und sozial zugeschriebenen Rollen auf.“20 Anhand dieser dekonstruktiven Bildpraxis in einigen von Annegret Soltaus Werken lässt sich eine interessante Analogie zu Keramatis „Self Portrait“ herstellen. Ihr Zyklus „Selbst 1975–76“ umfasst zwölf Fotoübernähungen. Die Künstlerin übernähte hier fotografische Selbstporträts mit einem grauen Seidenfaden und überzog, wie sie es selbst beschreibt, ihr Antlitz mit filigranen Verspannungen (Abb. 70–71). Die Rückseiten dieser Arbeiten zeigen die unbewusst mitgestalteten Arbeitsspuren der Vorderseiten, die Soltau „freie haptische Zeichnungen“ nennt.21 Diese abstrakten Fadenkompositionen verweisen nur weitläufig auf Gesichter; das Selbstporträt an sich ist nicht mehr erkennbar. Die Fotoübernähungen stehen in engem Zusammenhang mit ihren Performances und öffentlichen Aktionen wie „Permanente Demonstration“ (1975) der Werkgruppe „Verbindungen 1975–76“, im Zuge derer sie zunächst im Selbstexperiment ihr Gesicht mit schwarzem Garn umwickelte. Die fotografierten Fäden dienten als Vorlage für die Übernähungen in der Serie „Selbst 1975–76“. In ihre Aktionen integrierte Soltau später auch andere Personen, deren Gesichter und Körper sie mit schwarzem Fa20 Vogel, Fritz Franz, The Cindy Shermans. Inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005, Köln 2006, 389. 21 Vgl. http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/selbst-1975–76 [Stand: 31.07.2017].

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den bezeichnete und miteinander verband.22 Es ging ihr darum, „[…] Abhängigkeiten, Fremdbestimmungen und Kommunikationsbezüge sichtbar zu machen“23 und auf die durch Bindungen hervorgerufenen, schwer zu beseitigenden Spuren hinzuweisen, die „[…] zu Umformung, zu Deformation, zu Verletzung“24 führen (können). Bei „Selbst II, 1–12, 12.11.1975“ (Abb. 72) handelt es sich um eine Zusammenstellung mehrerer Selbstporträts, die den Prozess des Umwickelns und die letztendliche Befreiung aus der kokonartigen Ummantelung des schwarzen Garns dokumentiert. Auch in jüngeren Werken steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Mittelpunkt. In der Work in progress-Serie „Personal Identity“ (2003–16) thematisiert sie die im Kontext von Informationstechnologien und Digitalisierung zunhemend verworrene Identitätssuche. Zu sehen sind fotografische Selbstporträts der Künstlerin, über deren Gesicht Teile von Originaldokumenten wie etwa der Reisepass eingenäht sind (Abb. 73). In dieser Übernähung ist ein dreifacher Identitätsverweis erkennbar: Die übernähte Farbfotografie, die Soltau in Frontalansicht zeigen sollte, das Fragment des Reisepasses mit ihrer Unterschrift sowie ein an zwei Ecken beschnittenes Passfoto, auf dem die Künstlerin in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme sichtbar ist. De/Konstruktionsarbeiten wie diese, die Annegret Soltau mitunter am eigenen Gesicht vornimmt, lassen sich mit visuellen Strategi22 Vgl. http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/verbindungen-1975–1976/artworks/permanente-demonstration-ae433dca-6217-45fe-838e-f2661350e780 [Stand: 31.07.2017]. 23 http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/verbindungen-1975–1976 [Stand: 31.07.2017]. 24 Vgl. http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/verbindungen-1975-1976/artworks/permanente-demonstration-5c6632d2-0631-44ff-baba-fe5f8a0c1a15 [Stand: 31.07.2017].

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en in Simin Keramatis Werken vergleichen: Während Soltau die Übernähungen oder Einbindungen ihres Antlitzes mit schwarzem Garn selbst vornimmt, interveniert die schwarze Farbe im Video „Self Portrait“ als scheinbar autonome Substanz der Ein- und Überschreibung. In beiden Fällen wird das „Selbstporträt“ der Künstlerin unkenntlich gemacht, verdeckt und der Funktion als Identitätsnachweis beraubt. Schwarzer Garn oder schwarze Farbe können darüber hinaus als Signifikanten für machtvolle und nicht immer gewaltfreie gesellschaftliche, kommunikative und politische Kontexte gelesen werden, in die das Selbst eingebettet und von denen es (mit)bestimmt wird. Zugleich sind jedoch auch Widerstandsformen sichtbar: Soltau bezeichnet die Befreiung von den Umwickelungen als „Los-Lösung zur notwendigen Ent-Bindung“25. Bei Keramati sind es die handschriftlichen Sequenzen, die trotz „ausgelöschtem“ Antlitz fortlaufen, die auf eine „Handlungs-Macht für das notwendige Fort-Bestehen“ hindeuten. Körperliche Interventionen wie jene von Annegret Soltau sind in der feministischen Kunst der 1970er-Jahre in unterschiedlichsten Formen weit verbreitet. Die US-amerikanische Performance-Künstlerin Linda Montano (geb. 1942 in Saugerties/ New York) verarbeitet in ihrem Video „Mitchell’s death“ (1978) den Tod ihres Exmannes in Form einer persönlichen Katharsis: Während sie in elegisch-litaneiartiger Form von den Ereignissen und Gefühlszuständen nach dem Ableben von Mitchell zu erzählen beginnt, wird ihr Kopfbild in Frontalansicht eingeblendet; dieses ist zunächst nur unscharf erkennbar. Ihre Konturen werden in der Folge deutlicher und man sieht mehrere Nadeln, die in ihrem blassen und maskenartigen Gesicht mit geschlossenen Augen stecken (Abb. 74). Gegen Ende der Videoarbeit verschwimmt das Selbstporträt wieder, sodass nur mehr Umrisse sichtbar sind, die an einen Totenschädel erinnern.26 Der performativ-rituelle Akt des Sprechens und die in die Haut eingedrungenen Nadeln sind als ein Versuch zu verstehen, die Erinnerungen an einen verstorbenen Menschen zu vergegenwärtigen und fungieren zugleich als ein „[…] Mittel, das Geschehene wieder 25 http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/verbindungen-1975–1976 [Stand: 31.07.2017]. 26 Vgl. Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 82–84.

200 | Visuelle Identitäten und wieder zu durchleben, um es schliesslich bewältigen zu können.“27 Die Akupunkturnadeln verweisen auf den von außen eingedrungenen Schmerz, der für die Heilung und das Verstehen notwendig sind.28 Auch die US-amerikanische Künstlerin Hannah Wilke (New York 1940–1993 Texas) setzte in zahlreichen Arbeiten ihren eigenen Körper als Medium für performative Interventionen ein: In der Videoperformance „Intercourse with …“ (1977) legt sie ihre Kleider ab und zeigt ihren nackten Oberkörper, der mit silbernen Buchstaben beklebt ist. Diese verweisen vorwiegend auf männliche Vornamen von u. a. ehemaligen Liebhabern (Abb. 75). Deren Stimmen waren zuvor als Sprachnachrichten auf einem Anrufbeantworter zu hören. Die körperlichen Einschreibungen der Anrufer werden in der Folge abgekratzt, damit keine Buchstaben mehr sichtbar sind.29 Wie auch der Titel des Videos andeutet, werden sexuelle Beziehungen thematisiert, die auf ihrem Körper Spuren in Form von Schriftzeichen bzw. Namen hinterlassen haben. Darüber hinaus geht es dabei um eine Verschmelzung des Privaten und Öffentlichen sowie um ein explizit autobiografisches Moment: „In this haunting performance, Wilke conflates the private and the public as autobiographical theater.“30 Mit einem Fokus auf ihren eigenen Körper setzt sich Sanja Iveković (geb. 1949 in Zagreb/Jugoslawien), die zu zu den ersten femistischen Künstlerinnen Kroatiens zählt31, kritisch mit Repräsentations- und Bildpolitiken sowie mit Weiblichkeit im Kontext patriarchaler Systeme auseinander. Ab den 1980er-Jahren sind ihre Arbeiten stärker politisch ausgerichtet „[…] im Sinne einer Konfrontation von öffentlich politischer Inszenierung, realisiert vor allem durch die Medien, und dem sogenannten Privaten.“32 In der Videoarbeit „Personal Cuts / Osobni rezovi“ (1982) ist das Haupt der Künstlerin unter einer transparenten, schwarzen Strumpfmaske versteckt, in die sie mit einer großen Schere Löcher schneidet (Abb. 76). Nach jedem Schnitt folgt die Einblendung kurzer Sequenzen aus Dokumentarfilmmaterialien der staatlichen Fernsehreihe „Die Geschichte Jugoslawiens“. Iveković wiederholt diesen Vorgang solange, bis ihr Gesicht vom schwarzen Strumpf befreit ist.33 Die offiziellen und stilisierten Geschichtsbilder des Nationalfernsehens werden durch die Aktion der Künstlerin quasi beschnitten und in ihrer Konstruiertheit entlarvt. Der Schnitt, der zugleich auch auf die filmische Montage verweist, wird zum Leitmotiv ihrer Videoperformance: „Iveković infiltrates media space and disrupts the official narrative, reshuffling it, using the cut

27 Ebd., 84. 28 Vgl. http://www.vdb.org/titles/mitchells-death [Stand: 31.07.2017]. 29 Vgl. Adorf, Sigrid, Operation Video. Eine Technik des Nahsehens und ihr spezifisches Subjekt: die Videokünstlerin der 1970er Jahre, Bielefeld 2008, 286–291. 30 https://www.eai.org/titles/intercourse-with [Stand: 31.07.2017]. 31 Vgl. http://foundation.generali.at/sammlung/artist/ivekovic-sanja.html [Stand: 31.07.2017]. 32 https://www.galerieimtaxispalais.at/fileadmin/archiv_1999-2008/ausstellungen/ivekovic/ivekovic_progindex.htm [Stand: 31.07.2017]. 33 Vgl. http://foundation.generali.at/sammlung/artist/ivekovic-sanja.html#work=3434&artist=264 [Stand: 31.07.2017].

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as a leitmotif and a reference to the editing and montage strategies that have informed her photocollages and video works.“34 Mit dem Einstechen von Nadeln in das Gesicht (Montano), dem Abkratzen von körperlichen Einschreibungen (Wilke) und dem Aufschneiden der Kopfmaskierung (Iveković) werden unterschiedliche Interventionsformen am eigenen Körper visualisiert. Diese lassen sich vereinfacht mit Begriffen wie Ritual und Sühne, körperliche Einschreibungen sowie Maskerade und Entindividualisierung umschreiben. In allen drei Positionen ist das Subjekt ein sprechendes und/oder handelndes und daher nicht als passiv zu bezeichnen. Die Art der Inszenierung der eigenen Stimme, Sprechakte und konkreten Handlungen deutet auf Selbstbestimmung sowie auf Widerstandsformen gegenüber äußerlichen Einflussfaktoren auf Körper und Identität hin. Die körperlichen Ein- oder Überschreibungsvorgänge und die Reaktionen des Künstlerinnen-Subjekts lassen sich mit Keramatis visuellen Strategien im Video „Self Portrait“ vergleichen. Hier sind es die eingeblendeten, handschriftlichen Sequenzen, die als performative Schreibakte, Handlungsmacht und subjektive Gegenposition zur schwarzen Substanz deutbar sind. Zu den zentralen Arbeitsthemen der erst posthum zur feministischen Avantgarde gerechneten Künstlerin Birgit Jürgenssen (Wien, 1949–2003) zählte die Dekonstruktion von weiblicher Identität in Form von Metamorphosen sowie die damit implizierte Kritik an patriarchalen Repräsentationspolitiken wie auch geschlechtlichen Rollenbildern und Zuschreibungen. In der 1974/1977 datierten Farbfotografie „Ohne Titel (Selbst mit Fellchen)“ adressiert die Künstlerin die geschlechtsspezifischen Konnotationen und die Fetisch-Rolle von Pelz sowie die Interaktion zwischen Frau und Tier (Abb. 77). Das auf ihrem Kopf drapierte Fuchsfell verdeckt sowohl Stirn, Augen als 34 Marcoci, Roxana, Sanja Iveković, Personal Cuts, MoMA, INSIDE/OUT, A MoMA/MoMA PS1 Blog, https://www.moma.org/explore/inside_out/2011/12/23/sanja-ivekovic-personal-cuts/ [Stand: 31.07.2017].

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auch Nase, lediglich der mit rotem Lippenstift geschminkte Mund ist sichtbar.35 Die Lippen zu einem Kussmund gespitzt, scheint es, als ob sie ein Tiergesicht imitieren würde. Andrea Winklbauer bezeichnet diese fotografische Inszenierung als „[…] eine kritische Verbildlichung der alten, misogynen Gleichung ‚Frau ist gleich Körper (im Gegensatz zu ‚Mann ist gleich Verstand‘) ist gleich Tier‘.“36 Jürgenssen selbst meinte in einem Interview: „Die Identität der Frau ist zum Verschwinden gebracht, bis auf den fetischisierten Gegenstand, dem Fokus männlichen Wunschdenkens.“37 In der Fotografie verschwindet mit ihrem Gesicht zugleich eine der zentralen Referenzquellen für Identität; an dessen Stelle tritt ein fetischiertes Objekt in Form eines Fuchspelzes, das wiederum animalische und sexuelle Konnotationen birgt. Eine weitere Arbeit von Jürgenssen ist die Schwarz-Weiß-Fotografie (1976), in der die bieder bekleidete Künstlerin Hände und Gesicht gegen eine Glasfläche drückt, auf der „Ich möchte hier raus!“ geschrieben steht (Abb. 78). Die gläserne Wand ist hier als Schwelle zwischen Privatem und Öffentlichem zu betrachten, die Edith Futscher als „transparente Grenze“38 bezeichnet und mit „gläsernen Decken, die Frauen ein Handlungsfeld zuweisen“39 ver35 Vgl. Zapperi, Giovanna, Formen von Weiblichkeit. Birgit Jürgenssens Metamorphosen, in: Schor, Gabriele/Eipeladauer, Heike (Hg.), Birgit Jürgenssen (Ausst.kat. Bank Austria Kunstforum Wien in Koop. m. SAMMLUNG VERBUND), München et al. 2011, 79–91, hier 86–88. 36 Winklbauer, Andrea, Der Ort der Wunde, in: Neue Zürcher Zeitung, 5.2.2011, abrufbar unter: http://birgitjuergenssen.com/texte/ausstellungskritiken/winklbauer2011 [Stand: 31.07.2017]. 37 Birgit Jürgenssen im Gespräch mit Rainer Metzger: „Wie erfährt man sich im Anderen, das Andere in sich?“ [Wiederabdruck, Kunstforum International 164 (2003) 234–237], in: Schor, Gabriele/ Eipeladauer, Heike (Hg.), Birgit Jürgenssen (Ausst.kat. Bank Austria Kunstforum Wien in Koop. m. SAMMLUNG VERBUND), München et al. 2011, 273–279, hier 275. 38 Futscher, Edith, Clownerie statt Maskerade. Birgit Jürgenssens fotografische Arbeiten der 70er Jahre, in: Gabriele Schor (Hg.), Held together with water. Kunst aus der Sammlung Verbund (Ausst. kat. MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst, Wien), Ostfildern 2007, 106–113, abrufbar unter: http://birgitjuergenssen.com/texte/texte-essays-interviews/futscher2007b [Stand: 31.07.2017]. 39 Ebd.

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bindet. Ob Jürgenssen hier die Schwelle überschreitet, bleibt ungewiss. Eine Variation dieser Pose und Geste wiederholt sich interessanterweise in einer mindestens zwanzig Jahre später datierten Farbfotografie aus der Serie „Ohne Titel“ (Engel, 1996/97). Wiederum ist eine weibliche Person, bei der es sich vermutlich um die Künstlerin selbst handelt, hinter einer „Barriere“ in Form eines transparenten, rötlichen Vorhangs platziert (Abb. 79). Die Konturen der Protagonistin sind nur schemenhaft-verschwommen erkennbar, während ihr Gesicht aufgrund des Schatteneinfalls stark verdunkelt, nahezu schwarz und daher nicht sichtbar ist. Das Spiel mit Licht und Schatten und die daraus resultierenden Kontraste erzeugen eine unheimliche Atmosphäre, die durch den Vorhang als Symbol für Verschleierung zusätzlich intensiviert wird. Futscher spricht hier von einer „surreal anmutenden Ästhetik von Weiblichkeit“40, „[…] die sowohl mit Verschleierung und Verschattung als auch mit der nachträglichen Manipulation der fotografischen Oberfläche im Dienste einer sublimen Hysterisierung arbeitet; mit einer Ästhetik, die im Sinne der Erotisierung von Rätselhaftigkeit lieber Schwindendes zu erhaschen versucht, denn enthüllt.“41 Mit Aspekten wie der Verschleierung, der Verschattung und dem Versuch, etwas Flüchtiges oder Schwindendes einzufangen, sind wichtige Strategien genannt, die sich auch in Werken iranischer Künstlerinnen finden. Zunächst ist eine Gegenüberstellung mit einer formal sehr ähnlich konzipierten Fotografie der iranischen Fotokünstlerin Shadi Ghadirian (geb. 1974 in Teheran/ Iran) von Interesse. Ein C-Print aus dem Zyklus „Be Colorful“, der nur fünf oder sechs Jahre nach „Ohne Titel (Engel)“ entstanden ist, zeigt eine Frau mit halb ver40 Ebd. 41 Ebd.

204 | Visuelle Identitäten schleiertem Antlitz, bei der es sich allerdings nicht um Ghadirian selbst handelt (Abb. 80). In einer ähnlichen Pose wie Jürgenssen drückt sie eine Hand mit ausgestreckten Fingern gegen eine bemalte Glaswand, die lediglich an der Stelle der unverschleierten Gesichtshälfte durchbrochen ist und den Blick auf das linke Auge der Dargestellten freigibt. Es ist davon auszugehen, dass Ghadirian die fotografische Serie von Birgit Jürgenssen nicht gesehen hat. Beide Werkzyklen sind in verschiedenen kulturellen Kontexten entstanden und beide Künstlerinnen verfolgten wohl auch unterschiedliche Motive. Die frappante Analogie der Pose und des Settings sowie das vergleichbare Konzept des Verbergens und/oder Enthüllens Abb. 80 zeugen jedoch von einer ähnlichen Kunstsprache und feministischen Ästhetik, die wiederum auf transkulturelle und transnationale Aspekte in künstlerischen Praxen verweisen. Die metaphorische Verschmelzung von Frau mit Tier („O.T./Selbst mit Fellchen“), der selbstironische Ausbruchsversuch aus tradierten Rollenzuweisungen („Ich möchte hier raus!“) und die Auflösungstendenzen zwischen Vorhang, Licht und Schatten („O.T./Engel“) stellen visuelle Strategien dar, mit denen Jürgenssen eine Dekonstruktion von Geschlechtsidentität intendiert und Kritik an patriarchalen Strukturen übt. Wiederum sind es die formalen Überlegungen zur Bildkonzeption und Re-Präsentation des Künstlerinnen-Körpers, durch die sich ein Vergleich mit Keramati – und in diesem Fall auch mit Ghadirian – herstellen lässt: Die Maskierung des Gesichtes durch das Fell, die Positionierung hinter einer Glaswand oder einem Vorhang weisen auf eine Animalisierung, Sexualisierung oder Gefangenschaft des Frauenkörpers hin. Vor allem die letztgenannte Konnotation, die jedoch mit den anderen beiden einhergeht, wird in Keramatis „Self Portrait“ manifest. Die Präsenz der Künstlerin wird durch den zensierenden Akt der schwarzen Farbe negiert, ihr wird ein Ort jenseits des Feldes der Sichtbarkeit, „hinter“ dem opaken Kolorit, zugewiesen. Die US-amerikanische Künstlerin Francesca Woodman (Denver/Colorado 1958–1981 New York City) setzte sich in ihrem, trotz der kurzen Schaffensperiode umfangreichen fotografischen Werk kontinuierlich mit körperlichen Selbstinszenierungen, Weiblichkeit, männlichen Blickstrukturen sowie Repräsentations- und Visualisierungsformen des Selbst im fotografischen Abbild auseinander. Die Nutzung und gleichzeitige Infragestellung der medialen Beschaffenheit und Möglichkeiten der Fotografie sind weitere Faktoren, die ihre künstlerische Praxis kennzeichnen. In ihren surralen, melancholisch-düsteren und mitunter makabren Schwarz-Weiß-Fotografien inszenierte sie ihre eigene Person in verfallenen Interieurs oder an anderen unheim-

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lichen Schauplätzen. Unschärfe, Lichtkontrast oder Langzeitbelichtung lassen ihre Selbstdarstellungen mitunter als geisterhafte Erscheinungen wirken. Das Changieren zwischen körperlicher Präsenz und Absenz gilt hier als eine zentrale visuelle Strategie, die für Identitätsdiskurse im Bereich künstlerischer Selbstinszenierungen und eine Gegenüberstellung mit Simin Keramati von Interesse ist. Die Fotografie „space2“ (1975–1978) zeigt eine fragmentarische Ansicht von Woodmans nacktem Körper vor einer brüchigen Mauer zwischen zwei Fenstern. Ihren Leib verdeckt sie mit zerissenen, floral gemusterten Tapeten, sodass lediglich ihre Füße, ein Teil ihres Oberkörpers und ein Arm sichtbar sind (Abb. 81). Es scheint so, als ob sie sich auf diese Weise in die Wand hinter ihr einschreibt und Teil derselben wird. In „Untitled“ (1979–80) steht Woodman nackt, mit erhobenen Armen und abgewandten, verschwommenen Gesicht in einer Ecke zwischen einer verschlossenen Tür und Wand (Abb. 82). Vor ihr ist eine Wäscheleine mit zwei tiefschwarzen Fuchspelz-Stolen gespannt, wobei die linke wie ein Strich oder Balken zäsurartig ihre Scham und Teile der Brust verdeckt. Formen der Selbstinszenierung wie in „space2“ und „Untitled“ sind im Zusammenhang mit körperlichen Ein- und Überschreibungen, Vergänglichkeit und Verschwinden zu betrachten. Elisabeth Bronfen vergleicht Woodmans Werk mit fotografischen Tableaux vivants und weist auf die zentrale Rolle des flüchtigen Selbstbildes für ihre künstlerische Praxis hin: „Woodman setzt den eigenen Körper als materielles Medium und Bildobjekt ein und entfaltet stattdessen Bilderzählungen, in denen tragische Selbstbezogenheit vielleicht weniger entscheidend ist als der spielerische Umgang mit dem ebenso wandelbaren wie flüchtigen Selbstbild.“42 Ein Vergleichsmoment zwischen Woodman and Keramati ist die augenscheinliche Flüchtigkeit des „Selbstporträts“, die eine spezifische Vorstel42 Bronfen, Elisabeth, Francesca Woodman. Fotografische Tableaux Vivants, in: Schor, Gabriele (Hg.), Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er Jahre, SAMMLUNG VERBUND, Wien, München et al. 2016, 406–453, hier 407.

206 | Visuelle Identitäten lung von Identität signalisiert: Ebenso wie auch das in der Fotografie oder im Video verbildlichte Selbst wird diese als inkonstant, schwankend und ephemer empfunden. Hinsichtlich der körperlichen Auflösungstendenzen und Entzugsstrategien lassen sich insbesondere die Einschreibung des Körpers/Gesichts in den Bildgrund (und vice versa) sowie die Zäsur/Zensur durch die schwarze Farbe nennen, die beide Künstlerinnen miteinander verbinden. Die Kontextualisierung von Keramatis Werk in ein globales Feld künstlerischer – und hier insbesondere feministisch orientierter – Praxen hat gezeigt, dass visuelle Ausdrucksformen und Kunstsprachen trotz lokaler und regionaler Differenzen und Spezifika miteinander vergleichbar sind. Die allgemein feststellbare Skepsis gegenüber dem Repräsentationsbegriff äußert sich in einem kritisch-subversiven Repertoire an visuellen Strategien, die den eigenen Körper fragmentarisieren, verhüllen/enthüllen und zwischen Präsenz und Absenz inszenieren. Den viualisierten/visuellen Identitäten wird damit ein instabiler Zustand zwischen ihrer Konstruktion und Dekonstruktion zugewiesen, der ihre eindeutige Bestimmbarkeit untersagt.

4.3 Körperliche Selbst-De/Konstruktionen im gesellschaftlich-politischen Kontext Irans Im letzten Kapitel ging es darum, de/konstruktive Bildsprachen für die Visualisierung von Körper, Geschlecht und Identität trotz der verschiedenen geografisch-zeitlichen und gesellschaftlich-politischen Kontexte in transnationalen und transkulturellen Zusammenhängen zu betrachten. In dieser Hinsicht wurde das Werk Simin Keramatis mit feministisch orientierten Künstlerinnen im euro-amerikanischen Umfeld verglichen. Doch kann nun auch die künstlerische Praxis Keramatis und jene der in Abschnitt 4.2.1 vorgestellten, iranischen Künstlerinnen als eine „feministische“ bezeichnet werden? Im Rahmen der vorliegenden Studie ist es leider nicht möglich, den zahlreichen feministischen Diskursen sowie den Interaktionen zwischen iranischen Frauenrechtlerinnen und iranischen Künstlerinnen nachzugehen, die häufig auch als politische Aktivistinnen agieren. Es ist jedoch wichtig, auf den Begriff „Feminismus“ zumindest kurz einzugehen, da dieser in Iran anders als in westlichen Staaten konnotiert ist und daher pauschalisierende Aussagen und wenig reflektierte Subsumtionen vermieden werden sollten. In Iran vertreten „islamische“ und „säkulare“ Frauenrechtlerinnen trotz ähnlichen Zielen und Kooperationen mitunter sehr konträre Ansichten über die Definition von Feminismus. Erstere, die den Begriff eher negativ und im Zusammenhang mit radikalen, für ihre lebensweltliche Situation weniger adäquate Forderungen betrachten, versuchen den Status der Frau durch eine für vorteilhaftere, dynamische Interpretation des islamischen Rechtswesens zu verbessern. Auch die zweite, stärker international ausgerichtete Gruppe, die sich u. a. auf die UN-Frauenrechtskonvention beruft, steht dem Begriff „Feminismus“ kritisch gegenüber, da iranische Fauenrechtlerinnen aufgrund der durch die Religion proklamierten Ungleichheit von Frau und Mann genau genom-

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men nicht als „Feministinnen“ bezeichnet werden können.43 Dieser knappe Exkurs macht deutlich, dass die Verwendung des Begriffs ein hohes Maß an Kontextsensibilität erfordert, da er gerade wegen seiner eurozentristisch-eindimensionalen Implikationen nicht in dieser Form auf andere kulturelle Kontexte übertragbar ist. Ebensowenig, wie iranische Frauenrechtlerinnen daher einfach als „Feministinnen“ bezeichnet werden können, lassen sich iranische Künstlerinnen einer Bewegung wie der feministischen Kunst zuordnen, die ihren Ursprung in Ländern Europas und Nordamerikas der späten 1960er-Jahre hat.44 Im Sinne einer transkulturellen Kunstgeschichte oder Kunstwissenschaft geht es vielmehr darum, Vergleichsmomente und/oder Differenzen in weiblichen künstlerischen Praxen in globalen Zusammenhängen ausfindig zu machen und zu analysieren. Dabei gilt es, lokale bzw. regionale Besonderheiten und Traditionen sowie gesellschaftliche, politische und religöse Umstände mitzureflektieren. Dies gilt freilich auch für Begriffe wie „Feminsimus“ und „feministische Kunst“. Wie bereits ausführlich dargestellt wurde, greifen iranische Künstlerinnen häufig geschlechtsspezifische Themen auf, die sowohl auf die eigene Biografie als auch auf ihr soziales Umfeld Bezug nehmen. Dabei rekurrieren sie auf eine Bandbreite an Bildstrategien, die mit jenen von weiblichen Kunstschaffenden in westlichen, euro-amerikanischen Kontexten durchaus vergleichbar sind. Ihre künstlerischen Arbeiten verweisen auf eine profunde Kenntnis der frühen sowie zeitgenössischen feministischen Kunst und einen reflektierten Umgang mit historisch-global gewachsenen Bildsprachen. Diese werden selektiv adaptiert, modifiziert und mitunter mit iranischen Spezifika kombiniert, um Werke zu schaffen, die von einem enorm kreativen Potenzial und einer eigenständigen Ästhetik zeugen.

43 Vgl. Rostami-Povey, Elaheh, Contestation of institutional domains in Iran in the Realm of the possible. Middle Eastern Women in Political and Social Spaces, in: Feminist Review 69 (2001), 44–72. 44 Es gibt selbstverständlich auch differenzierte Zugänge, die sich mit der Frage beschäftigen, wie eine Ausstellung über transnationalen Feminismus in der Kunst zu konzipieren sei. Ein prominentes Beispiel ist die Schau „Global Feminisms. New Directions in Contemporary Art“, die im Jahr 2007 im Brooklyn Museum in New York von Linda Nochlin und Maura Reilly kuratiert wurde und in der eine breite Auswahl an Künstlerinnen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen rund um den Globus gezeigt wurde. Im Gegensatz zum Erste Welt-Feminismus und der proklamierten Idee von der „Gleichheit“ aller Frauen ging es den Kuratorinnen darum, Differenzen anzuerkennen und transnational inklusiv zu sein. Differenzen müssen dabei, so Maura Reilly, nicht immer dem Dialog oder Kooperationen im Wege stehen: „Nur durch ein Verstehen unserer ‚gemeinsamen Differenzen‘ kann, wie wir durch die sorgsame Platzierung diverserer transkultureller Arbeiten in der Ausstellung visuell hervorgehoben haben, Solidarität erreicht werden. Dazu mit Global Feminisms produktiv beigetragen zu haben – und auch zu anderen Dialogen über Rassismus, Sexismus und Euro-Amerika-Zentrismus in der Gegenwartskunst – ist schließlich zu hoffen.“ Reilly, Maura, Transnationalen Feminismus kuratieren, in: Bildpunkt, Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST, Heft Sommer 2015: Etwas Besseres als die Nation (Transnationalismus), http://www.igbildendekunst.at/bildpunkt/bildpunkt-2015/etwas-besseres-als-die-nation/reilly.htm [Stand: 04.08.2017]. Vgl. auch die Ersterscheinung: Reilly, Maura, Curating Transnational Feminisms, in: Feminist Studies 36:1 (Spring 2010), 156–173.

208 | Visuelle Identitäten In der Folge ist es interessant, wie sich Simin Keramati selbst positioniert. Im Zuge eines via E-Mail geführten Interviews45 hat sie die Frage, ob sie sich als Künstlerin mit „feministischen“ Anliegen beschreiben würde, wie folgt beantwortet: „Yes, I do. Although it does not mean that all of my works cover the same problem, I mean feminism is a subtitle for some of my works, in other words, as a feminist artist, I do care about the women’s rights, but it does not mean that I close my eyes to other problems in my society. For example, in works such as ,School Diary‘ I care about the lives of all kinds of school kids (boys and girls) living their lives in horror and fear. Or in serial works entitled ,The four elements‘ I was influenced by the serial killings of the Iranian writers at the end of the 1990s decade (most of them were men), but I’ve worked on them through my feminist eyes.“46

Frauenrechte, Feminismus sowie gesellschaftliche und politische Missstände sind bedeutende Themen, die in Keramatis künstlerische Praxis einfließen. Darüber hinaus bezeichnet sie sich selbst als feministische Künstlerin, die genuin aus dieser Perspektive auf systemische Problemstellungen blickt und diese in Form von subjektiven – und häufig auf ihren eigenen Körper projizierten – Analysen in ihren Kunstwerken zum Ausdruck bringt. In Bezug auf ihre Selbstdarstellungen heißt das, dass sie ihr „Selbst“ und damit auch ihre personale Identität in Relation zu kollektiven Identitäten setzt und sozial- und gesellschaftspolitisch kontextualisiert. Persönliche Aspekte, wie die eigene Biografie, Erfahrungswerte und Emotionen, werden dabei nicht ausgeklammert. Über die Bewegung der feministischen Kunst und die Idee eines westlichen und östlichen Feminismus äußert sich Keramati folgenderweise: „It is a movement that no one can ignore, I do not agree with the ,western‘ or ,eastern‘ idea of feminism, I mean the concept is that you are a human being, you have to fight for your rights, whether you live in a western society or an eastern one, this idea of making things as ,western‘ or ,eastern‘ works in some ways but not in all aspects of life. To give you an answer, I think the western feminist artists are struggling with the problems based in their own society. And I do admire them as well as the eastern feminist artists. They both are working on the same subject from their own point of views.“47

Keramati steht simplifizierenden geografischen Angaben und einer Differenzierung zwischen Ost und West kritisch gegenüber und geht davon aus, dass der Mensch bzw. die Frau sowohl in Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens als auch des Globalen Nordens für seine/ihre Rechte zu kämpfen hat. Feministische Künstlerinnen setzen sich häufig mit sozialen und politischen Problemstellungen ihres eigenen gesellschaftlichen Umfeldes auseinander und haben aufgrund ihrer Standorte unterschiedliche Möglichkeiten, Kunst zu produzieren und zu präsentieren. Dies ist mitunter ein Grund, warum sich ihre künstlerischen Praktiken auch unterscheiden können. Zugleich räumt Keramati ein, dass feministische Künstlerinnen, egal ob in Iran oder andernorts, aus 45 Die folgenden Zitate stammen aus einem ersten Interview, das von der Autorin mit der Künstlerin geführt wurde. Vgl.: Interview mit Simin Keramati, geführt von Julia Allerstorfer via E-Mail, 04.11.2011. 46 Ebd. 47 Ebd.

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verschiedenen Perspektiven an denselben Themen arbeiten würden. Wenn jedoch besonders brisante Inhalte thematisiert werden und in einer weniger verhaltenen Form Kritik geübt wird, sei dies im Kontext von konservativen Gesellschaftsstrukturen komplizierter und vor allem auch gefährlicher: „If, for instance, you are searching on the simplicities or the difficulties of their works, well then it is obvious that working on such themes ,can be‘ more dangerous in a ,conservative society‘, don’t you think so?“48

In der Folge geht es um die Frage nach dem Einfluss von staatlich-religiös bedingten Einschränkungen auf künstlerische Praktiken und insbesondere darum, mit welchen (visuellen) Strategien iranische Künstlerinnen wie Simin Keramati auf diese reagieren und diese herausfordern. 4.3.1 Zur Metaphorik des Entschwindens: Die Zensur der schwarzen Farbe Keramatis Hinweis auf die Schwierigkeiten oder Gefahren, denen Künstlerinnen (und selbstverständlich auch Künstler) ausgesetzt sind, die in ihren Arbeiten „unerwünschte“ oder gar systemkritische Themen aufgreifen, muss in den Kontext der weitgehend patriarchalisch strukturierten und theokratisch organisierten Islamischen Republik Iran und ihren Zensurmaßnahmen gestellt werden. Von der staatlich sanktionierten Informations- und Kommunikationskontrolle, für die das Ministerium für Kultur und islamische Führung verantwortlich ist, sind Bücher, Massenmedien, Internet und natürlich auch die bildende Kunst betroffen. Die Zensur operiert mit unterschiedlichen Methoden, bisweilen auch mit „klassischen“ Mitteln wie schwarzen Zensurbalken über Textstellen oder partiellen Übermalungen von Abbildungen. In dieser Hinsicht ist der vielseitige Einsatz der schwarzen Farbe als zensurierendes Bildelement ein wiederholtes Stilmittel innerhalb der iranischen Gegenwartskunst. Folglich wird daher vorgeschlagen, die strategische Verwendung der Farbe Schwarz als metaphorisches Sinnbild für Prozesse der Ein- und Überschreibung oder gar Auslöschung von Körper und Identität zu betrachten. Dieser Vorgang beschreibt Formen der Aneignung von offiziellen Zensurpraktiken, die durch den Transfer in das Feld der Kunst modifiziert werden. Die eigentliche Funktion und die autoritäre Intention der kontrollierenden Instanz werden damit auf paradoxe Weise umgekehrt. Künstlerische Interventionen wie diese lassen sich mit dem ambivalenten Vorgang der von Bhabha beschriebenen Mimikry, der Wiederholung und Kopie des „Originals“ mit sichtlichen Abweichungen, verknüpfen. Das „Original“ ist hier auf die Konvention der staatlichen Zensurmaßnahmen zu beziehen, die sich unter anderem in den schwarzen Übermalungen von nackten Körperpartien und dem weiblichen Haar in Kunstbänden oder Modemagazinen finden. In dem Iterationsvorgang einer gängigen Praxis der staatlich-religiösen Autorität werden 48 Ebd.

210 | Visuelle Identitäten

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subversive Abwandlungen und damit Störfaktoren manifest, die im Bereich der Kunst produktiv als widerständige Bildstrategien genutzt werden. In Simin Keramatis Video „Self Portrait“ ist es die bereits skizzierte Signifikantenkette, die der schwarzen Farbe entgegentritt und auf Handlungsmacht verweist (s. Kap. 4.3.2). Performative Strategien der Ironie und Parodie werden von Künstlerinnen und Künstlern innerhalb einer „Matrix der Macht“49 (Iran) eingesetzt, um subversive und streitbare Bildsprachen zu generieren, die geschlechtsspezifische, soziale und politische Normen in Frage stellen. Der Rekurs auf die schwarze Farbe ist dabei sowohl als ein Akt der Wiederholung einer Zensurmaßnahme als auch eine Form der Selbstzensur zu betrachten.50 Eine Künstlerin, die dieses parodische Vorgehen in zwei fotografischen Zyklen vor Augen führt, ist Shadi Ghadirian. Zwei Fotografien aus den Serien „Real Ones“ und „West by East“ (beide 2004) illustrieren sehr deutlich, wie staatliche Zensurpraxen vor allem den weiblichen Körper fokussieren (Abb. 83–84). Stein des Anstoßes sind hier nackte Körperstellen, unverschleiertes Haar oder auch nonkonformer Kleidungsstil. Bei dem Bild aus der Serie „Real Ones“ handelt es sich um die Reproduktion eines Gemäldes aus einem Kunstgeschichte-Band, das dem Künstler Jean Fouquet (um 1420–1481) zugeschrieben wird. Ghadirian scannte die Abbildung während ihres Studiums an der Azad Universität in Teheran ein und verwendete eine Fotografie des Scans als Basis für ihr Werk. Im „originalen“ Gemälde ist die linke Brust der dargestellten Agnes Sorel sichtbar, die auf ihren Status als Mätresse von König Karl VII. sowie 49 Diese Bezeichnung wurde von Bublitz adaptiert und steht mit Butlers „binärer Matrix der Heterosexualität“ in Beziehung. Vgl. Bublitz, Judith Butler zur Einführung, 74. 50 Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf dem bereits zitierten Aufsatz: Allerstorfer, Performing Visual Strategies, 181–184.

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das ikonografische Motiv einer Madonna lactans verweist. Die mit einem schwarzen Filzstift „korrigierten“ bzw. übermalten nackten Partien in Ghadirians „Version“ sind Resultate von spezifischen Zensurmaßnahmen, die in iranischen Kunstuniversitätsbibliotheken verfolgt werden. Die Künstlerin hat diese bereits zensurierte Abbildung in einem appropriativen Akt aus ihrem ursprünglichen, „kunstpädagogischen“ Kontext gelöst und für die eigene künstlerische Praxis fruchtbar gemacht. Durch die Aufnahme der Kopie des übermalten Bildes in die Serie „Real Ones“ wird dieser – und damit auch dem Akt der Zensur – der paradoxe Status eines Kunstwerks zugeschrieben. Der Kopiervorgang einer Bildzensur ist auch als eine Anspielung auf die offiziellen Bekleidungsvorschriften (Hijab bzw. Schleier, ein das Haupthaar verdeckendes Kopftuch sowie körperbedeckende Kleidung wie etwa ein langer Mantel) im öffentlichen Raum sowie die weiblichen Darstellungskonventionen in Magazinen oder Büchern zu verstehen. Indem Ghadirian die Zensurpraxis in Form einer Kopie eines zensurierten Bildes wiederholt und dem abfotografierten Scan einen „Kunststatus“ zuweist, irritiert sie die Wahrnehmung der Rezipient/innen und führt zugleich die Absurdität der Zensur vor Augen. Mit der ironischen Betitelung „Real Ones“ scheint sie sowohl das Narrativ und den Kanon der westlichen Kunstgeschichtsschreibung als auch die zensurierten, „iranisierten“ Versionen weiblicher Bildnisse zu kritisieren. Auch in der Fotografie aus der Serie „West by East“ thematisiert Ghadirian die Zensur durch die schwarze Farbe: Hier inszenierte sie unverschleierte weibliche Modelle in modischen Outfits, wie kurzen Röcken und schulterfreien Oberteilen, in ihrem Atelier. Bevor sie fotografierte, platzierte sie eine Glasplatte vor die Protagonistinnen und „übermalte“ die Stellen mit den nackten Körperpartien und dem Haar. Der wiederum ironisch konnotierte Werktitel deutet auf Stereotypenbildungen und die kulturell bedingte Divergenz von Repräsentationssystemen und Wahrnehmungsformen hin: Das unverschleierte Haar und die Kleidung, die iranische Frauen in der Öffentlichkeit nicht tragen können, repräsentieren quasi Mode und Lebensstil des Westens. Dieser kann durch den Osten nur in einem reduzierten Modus repräsentiert werden, da bestimmte Normen und Konventionen hinsichtlich des weiblichen Erscheinungsbildes zu erfüllen sind. Interessant erscheint diesbezüglich eine Äußerung Ghadirians, in der ihre ambivalente Meinung über Zensurmaßnahmen zum Ausdruck kommt: „You know, first, we censor ourselves. It is very hard for us, we should tell a story in a way we can and in a way it is possible, and that’s because we work much stronger I think… I prefer to show reality and work for myself, so I have my freedom.“51

Die situationsbedingte und notwendige Selbstzensur bedeutet für iranische Künstlerinnen, immer wieder einen bestimmten Balanceakt zu bewältigen, der eine Herausforderung darstellt und zugleich kreatives Potenzial in sich birgt. Dieser bewegt sich zwischen 51 Interview mit Shadi Ghadirian, 25.01.2004, Silkroad Gallery, Teheran. Vgl. dazu: Allerstorfer, Julia, Im Spannungsfeld zwischen Tradition und Modernismus. Auszüge eines Interviews mit Shadi Ghadirian, in: kunst und kirche, Kunst und Islam 4 (2004), 251–252.

212 | Visuelle Identitäten eigenen künstlerischen Absichten und gesetzlichen Vorschriften bzw. sozialen Normen. Ebenso wie Shadi Ghadirian arbeitet auch Simin Keramati in diesem Spannungsfeld, das für die künstlerische Praxis trotz aller Einschränkungen produktiv genutzt wird. Der künstlerische Umgang mit Zensur lässt sich mit dem Konzept triple bind verknüpfen, das Trinh T. Min-ha in ihrem Aufsatz „Commitment from the Mirror-Writing Box“ (1989) vorgestellt hat.52 Triple bind verweist auf die schwierige Situation von Schriftstellerinnen des Globalen Südens und ihr Dilemma, zwischen drei konfligierenden Identitäten zu wählen: „Writer of color? Woman writer? Or woman of color?“53 In ihrer Einführung zur deutschen Übersetzung von Min-has Buch „Women, Native, Other“ betont Anna Babka die politische Perspektive von triple bind im Sinne einer triple discrimination, die auf den Kategorien Rasse, Klasse und Geschlecht basiert.54 Mit Keramatis und Ghadirians Verweis auf Zensurmaßnahmen, die in ihren Werken durch den Einsatz der metaphorischen, schwarzen Farbe manifest werden, greifen die Künstlerinnen zugleich auch Themen wie Geschlechterrollen (Frau), Ethnizität (Iranerin) und berufliche Profession (Künstlerin) auf, die Minh-has Konzeption des triple bind widerspiegeln. Indem die Künstlerinnen durch die Integration der englischen Sprache (Keramati) oder den Rekurs auf die europäische Kunstgeschichte (Ghadirian) transnationale Rezeptionsprozesse anregen, werden die hegemonial-patriarchal strukturierten Repräsentationspolitiken der iranischen Frau und ihres Körpers zu Themen globaler Auseinandersetzung. Die künstlerische Adaption der schwarzen Farbe der Zensur und ihre Nutzung für körperliche Übermalungen ist zudem als eine Form der Selbstzensur zu betrachten, auf die Ghadirian im zitierten Interviewauszug hingewiesen hat: „You know, first, we censor ourselves.“ Während sie in ihrer Fotoserie „West by East“ über körperliche Repräsentationsformen reflektiert und dabei weibliche Modelle inszeniert und zensuriert, fokussiert Keramati in ihrem Video „Self Portrait“ eine zentrale Körperstelle, die in Iran für gewöhnlich nicht verschleiert wird: Hier ist es ihr eigenes Gesicht, das gewissermaßen einer Zensur unterworfen wird. Die schwarze Überschreibung in den Kunstwerken fungiert als ein Verweis auf sowohl staatliche Zensurmaßnahmen als auch auf eine (Bild-)Zensur, die durch die Künstlerinnen selbst vorgenommen wurde. Mit der Wiederholung der Zensurpraxis und der Selbstzensur bewegen sich die Künstlerinnen aber nur scheinbar innerhalb des gesetzlichen Systems und seiner Richtlinien, da ihre Werke zugleich für bestimmte gesellschaftspolitische Restriktionen sensibilisieren, die speziell iranische Frauen betreffen. Die strategische Verwendung der schwarzen Farbe ist eine künstlerische Interventionsform, im Zuge derer eine offizielle staatliche Praxis aufgegriffen, in den Kunstkontext transferiert, auf (eigene) Körperbilder bezogen und dadurch modifiziert wird. Da der Zensurakt nicht 52 Vgl. Minh-ha, Trinh T., Commitment from the Mirror-Writing Box, in: Dies., Woman, Native, Other. Writing Postcoloniality and Feminism, Bloomington 1989, 5–44. 53 Ebd., 6. 54 Vgl. Babka, Anna, Einleitung, in: Trinh T. Minh-ha. Woman, Native, Other. Postkolonialität und Feminismus schreiben, hg. von Anna Babka, übers. v. K. Menke, Wien 2010, 9–24, hier 12.

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mehr fremddiktiert, sondern selbstbestimmt ist, wird dieser subversiv unterlaufen und in seiner ursprünglichen Funktion dekonstruiert: Die Kontrolle über den eigenen Körper wird damit reklamiert. Mit der visuellen Strategie der Selbstzensur, der Einverleibung einer Herrschafts- und Überwachungsmethode, situieren sich Künstlerinnen wie Simin Keramati scheinbar innerhalb des Systems und können daher latente Kritik an seinen soziokulturellen Restriktionen üben. Über die schwarze, zensurierende Flüssigkeit in ihrem Video „Self Portrait“ äußert sich Keramati wie folgt: „It is black because it is dark, women living in Tehran are being forced to wear black in most occasions (although we try not to do so in many cases), and the city of Tehran is dark and air-polluted most of the year. Black could be the first common item between us in this case.“55

Neben dem Hinweis auf die verschmutzte Stadt Teheran bezieht die Künstlerin die Farbe Schwarz explizit auf iranische Bekleidungskonventionen. Die schwarze Kleidung beschreibt sie zudem als ein verbindendes Moment zwischen iranischen Frauen. Keramatis Videoarbeit „Self Portrait“ beschränkt sich jedoch nicht ausschließlich auf eine „Selbstzensur“ in Form eines Übermalungsprozesses ihres Antlitzes, die auf eine Metaphorik des Entschwindens verweisen. Ihr Selbstporträt erscheint und verschwindet inmitten einer Signifikantenkette, die sich aus divergierenden und konfligierenden videobildlichen und tonalen Elementen zusammensetzt. Diese wiederum ist ausschlaggebend für die Visualisierungsformen des Selbst und die Konstitution von Identität. 4.3.2 Divergierende Signifikanten im Video „Self Portrait“ In Kapitel 4.1.1 wurde bereits auf das komplexe Zusammenspiel von bildlichen Zeichen und ihren Differenzen im Video „Self Portrait“ hingewiesen. Es handelt sich hierbei um eine spezifische Komposition aus visuellen und auditiven Signifikanten, die zugleich aufeinander verweisen und miteinander konfligieren: Keramatis Gesicht, ihre Handschrift und ihr Atmen/Seufzen fungieren als indexikalische Zeichen, die in einer direkten physischen Beziehung zum Selbstporträt stehen und für die Konstruktion von Identität konstitutiv sind. Wegen des Ähnlichkeitsverhältnisses zum Signifikat ist das Antlitz auch als ein ikonisches Zeichen bestimmbar, während die Handschrift wie das Sprachsystem allgemein aufgrund ihrer Konventionalität als symbolische Zeichen definiert sind. Im Kontrast zu diesen identitätskonstitutiven Zeichen ist die schwarze, sich über dem Gesicht ausbreitende Substanz sehr deutlich als destruktives Bildelement erkennbar, die das Gesicht als eine der primären Referenzquellen für Identität übermalt und auslöscht. Zugleich ist die schwarze Flüssigkeit als ein symbolisches Zeichen deutbar, das in der Regel mit Tod oder Trauer assoziiert wird und, wie bereits ausgeführt wurde, mit der in Iran üblichen Zensurpraxis oder Kleidung in Verbindung gebracht werden kann. Von Interesse ist, dass die identitätsfeindliche Komponente auf 55 Interview mit der Künstlerin Simin Keramati, geführt von Julia Allerstorfer via E-Mail, 13.08.2013.

214 | Visuelle Identitäten nichts anderes als Keramatis Antlitz fokussiert ist und die schriftbildlichen und tonalen Elemente nicht von dem Überschreibungsprozess betroffen sind: Trotz des entschwindenden Gesichts ist Keramatis Atmen/Seufzen etc. weiterhin zu hören und die Einblendungen der handschriftlichen Sequenzen setzen sich fort. So bleiben im Video jene indexikalischen und symbolischen Zeichen bestehen, durch die Identität, wenngleich auch in einer anderen Form als durch das Gesicht, konstituiert wird. Aus den divergierenden Signifikanten im Video resultiert eine paradoxe Mehrdeutigkeit des Signifikats bzw. von dem, was das Werk eigentlich zu bezeichnen und zu visualisieren intendiert: das Selbstporträt der Künstlerin. Dieses ist zwischen den binären Oppositionen Präsenz/Absenz, Aktivität/Passivität, Artikulation, Handlungsmacht/ Repression, Zensur und letztendlich Identität/Nicht-Identität zu verorten, wodurch es entgleitet und trotzdem fortbesteht. Die performativ-prozessual organisierten visuellen und tonalen Signifikanten generieren vielschichtig codierte und metaphorisch aufgeladene Bedeutungsstränge eines Selbstbildnisses, dessen zentrale Komponente, die Physiognomie, zuletzt nicht mehr sichtbar vorhanden ist. Das divergierende und konvergierende Verhältnis zwischen den Ausdrucksträgern bzw. den bezeichnenden Videobildelementen mündet folglich in semantischen Paradoxa, die dem klassischen Genre und der repräsentativen Funktion des Selbstporträts entgegentreten. Die skizzierte Signifikantenkette nutzt Simin Keramati als subversive Visualisierungsstrategie des Selbst, das weder vollständig affirmiert noch negiert wird und damit eine „Ent/ Fixierung“ und De/Konstruktion von Identität ermöglicht. Das Auslöschungsverfahren durch die schwarze Farbe hinterlässt an Stelle des Gesichts einen „blinden Fleck“, der als Indikator für die „verschwundene“ Identität der Künstlerin fungiert. Das Kopftuch als symbolträchtiges visuelles Zeichen, das von der schwarzen Substanz nicht überzeichnet wird, bleibt im Video als Sinnbild für Uniformität und Gesichtslosigkeit erhalten. Keramati selbst beschreibt dies wie folgt: „The clothes are the shape of me, I may not be able to give you a direct image of myself but you can see my appearance, in other words, what you see is just the appearance and not the inside. For either of myself or the city Tehran.“56

Die Künstlerin differenziert hier zwischen dem Feld der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Sie gibt lediglich das äußere Erscheinungsbild, die durch Kleidung und Schleier vorgegebene, körperliche Kontur und damit die quasi ausgehöhlte Form ihres Körpers zu sehen. Ihre Innenseite bleibt ebenso wie auch die Stadt Teheran verborgen und entzieht sich dem Auge des/der Betrachter/in. Keramatis Hinweise wie „I may not be able to give you a direct image of my self “ und „what you see is just the appearance and not the inside“ verweisen außerdem auf zentrale Problemstellungen hinsichtlich der Visualisierungsmöglichkeiten von Identität. Ihre künstlerische Selbstinszenierung innerhalb eines Netzwerkes konfligierender Signifikanten entlarvt Identität als ein pa56 Ebd.

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radoxes, instabiles und brüchiges Konstrukt. Damit in Verbindung zu setzen ist die von Kerstin Brandes im Kontext der Fotografie vorgeschlagene Produktivität des Indexikalischen für neue Denkansätze von Identität. Technische Apparatur, Videoaufzeichnung und digitale Nachbearbeitung am Computer (Self-editing) werden im Medium Video strategisch mit dem Modus des „Ent/Fixierens“ von Identität verknüpft. Die direkte physische Beziehung zwischen Keramati als (Ab-)Bild im Video und realer Person wird durch spezifische visuelle Strategien gestört und annähernd gelöst, wodurch sich auch die ihr zugeschriebene Identität in den transitorischen Zwischenräumen von Präsenz und Absenz zu bewegen scheint. Keramatis übermaltes Gesicht spiegelt das Indexikalische als ausgehöltes Zeichen ohne Inhalt wider, das im Video für De/Um/Neucodierungen des Subjektstatus nutzbar gemacht wird. 4.3.3 Subalterne (?) Schriftzüge im „Dritten Raum“: Performativität, Handlungsmacht und Widerstand Innerhalb der konfliegierenden Signifikantenkette im Video „Self Portrait“ sind vor allem die Schriftzüge als widerständige Elemente bestimmbar, die von der schwarzen Substanz unberührt bleiben und auch nach dem Verschwinden von Keramatis Gesicht weiter eingeblendet werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es sich bei dem persischen Text und der englischen Übersetzung um die Handschrift der Künstlerin handelt. Aufgrund der Platzierung der Schriftbilder ringsum Keramatis von Selbstporträt, erinnern diese an das Lettering in Denkblasen in Comics und lassen sich daher als ihre verschriftlichten Gedanken interpretieren. Die Abfolge der Ein- und Ausblendungen der handschriftlichen Sequenzen verläuft synchron zum Übermalungsvorgang von Keramatis Antlitz und beschleunigt sich, je mehr dieses zu verschwinden droht. Dieser Prozess kann als ein „Schreiben gegen die Zeit“ oder als ein renitentes Verfahren gegen die schwarze Substanz bezeichnet werden. In Analogie zu einem performativen Sprechakt deutet dieser unmittelbare „Schreibakt“ auf eine konkrete und unmittelbare Aktion hin, die durch eine Person vollzogen wird, die sich paradoxerweise annähernd statisch im Zentrum des Videobildes befindet. Handschrift und Porträt verweisen aufeinander und konstituieren zugleich die Identität der Dargestellten. In Anbetracht der Passivität des Körpers und der starren Mimik ist die performative Handlungsmacht/agency in der tonalen Ebene vor allem in den Schriftzügen zu verorten. Die Gesichtsfläche fungiert im Gegensatz dazu als statisches und scheinbar wehrloses Einschreibungsmedium für die zensurierende, schwarze Substanz. Die Frage, ob in ihrem Video die Schrift als widerständiges Element zu beschreiben sei, hat Keramati wie folgt beantwortet: „I do agree with you. Yes, it is a resistance. It means, my city Tehran and I, we both exist; however, you may not see the portrait of us, because I am not able to give you a clear image of the portrait of either of us.“57 57 Ebd.

216 | Visuelle Identitäten Die Schriftzeichen deuten auf die Existenz der „gesichtslosen“ Person Keramatis hin und nehmen neben der tonalen Ebene eine Stellvertreterfunktion ein. Keramati spricht hier ein weiteres Mal von der Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit, sich selbst (und die iranische Hauptstadt Teheran) in Form eines Porträts abzubilden. Diese Bemerkung ist wiederum für die zentrale Frage nach den Visualisierungsmöglichkeiten von Identität bedeutend, die demnach stark eingeschränkt oder nicht vorhanden sind. Der Werktitel rekurriert zugleich auf ein klassisches kunsthistorisches Genre, dass die Künstler/innenperson im Bild repräsentieren und Evidenz vermitteln soll. Indem Keramati die Grenzen der Visualisierbarkeit des Selbstbildnisses und damit auch der eigenen Identität explizit macht, scheint sie auch den repräsentativen Charakter des Genres zu dekonstruieren. Durch den gezielten Einsatz von visuellen Strategien wird die Porträtfunktion der mimetischen Abbildung ebenso wie die Darstellbarkeit von Identität hinterfragt. Wie in der Kapitelüberschrift angedeutet, wird versucht, Spivaks Begriff der Subalternen mit Keramatis Videoarbeit zu verknüpfen. Auf den ersten Blick scheint es relativ simpel, die apathisch-wirkende, verschleierte Frau, deren Gesicht von einer schwarzen Flüssigkeit regelrecht verschlungen wird, als „subalternes“ nicht-westliches, weibliches Subjekt ohne Artikulationsmöglichkeit zu identifizieren. Im Zusammenhang damit kann auch das auf einer Dreifachunterdrückung basierende Konzept des triple bind von Minh-ha verwiesen werden. Die bisherigen Analysen haben jedoch gezeigt, dass dieser erste Eindruck trügt. Aufgrund der performativen und identitätskonstituiven Signifikanten (Gesicht/Blick, Handschrift und Atmen/Seufzen) treffen bestimmte Charakteristika des Subalternitätskonzeptes wie das „Nicht-Sprechen-Können“ oder die verwehrte Selbstrepräsentation auf das Video nicht zu. Was durch den Einsatz der schwarzen Farbe jedoch thematisiert wird, sind körperliche Eingriffe in Form von Übermalungen, die wiederum auf Unsichtbarkeit, Kontrolle, Zensur und Repressionen verweisen. In diesem Sinne und im Kontext der patriarchalen Gesellschaftsordnung Irans zählen auch iranische Frauen zu einer minoritären, mit weniger Rechten ausgestatteten Gruppe, die deswegen aber nicht als passiv oder wehrlos bezeichnet werden kann. Daher wäre es auch nicht richtig, die Spivaksche Begriffsprägung der Subalternen eins zu eins auf sie zu übertragen. Dies gilt freilich auch für Keramatis Selbstinszenierung im Video, weswegen „subaltern“ hier im Kapiteltitel in Anführungsstriche zu setzen und mit einem Fragezeichen zu versehen ist: Damit soll angedeutet werden, dass zunächst bestimmte, kontextspezifisch zu betrachtende Aspekte von Subalternität erkennbar sind, denen jedoch mit Handlungsmacht und Widerstandsformen entgegengetreten wird. Die auf einer konfligierenden Signifikantenverknüpfung basierenden Visualisierungsstrategien von Körper und Identität lassen sich mit dem Butlerschen Performativitätskonzept verbinden. Im Werk „Self Portrait“ sind es in erster Linie die handschriftlichen Sequenzen sowie die sich ausbreitende schwarze Flüssigkeit, denen performative Qualitäten zukommen. Der in der Sprechakttheorie beschriebene Zusammenhang zwi-

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schen Sprechen und Handeln ist performativ, wenn die Sprachhandlung ausgeführt und konkretisiert wird. In der Videoarbeit werden Schreibakte oder „Schreibhandlungen“ vollzogen, die simultan zum prozessualen Auslöschungsverfahren und zur metaphorischen Überschreibung durch die schwarze Substanz verlaufen. Beide Elemente sind mitunter auf eine paradoxe Weise miteinander verknüpft: Gegen Ende des Videos erscheint beispielsweise „faceless“ (Ts. 40) über dem nicht mehr sichtbaren, eingeschwärzten Gesicht. Demnach hat sich der Schreibakt, mit dem Gesichtslosigkeit ausgedrückt wird, zum Zeitpunkt seiner Einschreibung in das Schwarz über dem Antlitz durch das „Handeln“ der Farbe vollzogen. Es finden sich weitere Stellen im Video, in denen Schreibakte auch durch die tonale Ebene konkretisiert werden: Während die Handschrift „put my mind under my feet“ (Ts. 3) eingeblendet wird, ist das Geräusch von Schritten zu hören. In den Schreibakten finden sich Andeutungen von Geschlechterkonstruktionen und -differenzen, wenn etwa die Sequenz „shits of men, cats and rats“ (Ts. 8) erscheint. Mit den Fäkalien, die von Männern, Katzen und Ratten produziert werden, setzt sie das Männliche mit dem Tierischen gleich und konstituiert in Abgrenzung dazu ihre weibliche „Rolle“. Zugleich sind auch Aspekte der Parodie erkennbar, die effektiv auf das performative Modell von Geschlecht verweisen und sich Butler zufolge insbesondere in der drag performance manifestieren: Die Aneignung der schwarzen Farbe und ihre Nutzung für körperliche Überschreibungen deutet auf Zensurpraktiken und die Verhüllung durch den traditionellen chādor hin, die im Video am eigenen Körper performativ inszeniert und zur Schau gestellt werden. Die Iterationen von gesetzlichen Bestimmungen und die damit verbundenen Identitäts- und Geschlechterpolitiken sind als subversive Widerstandsform zu betrachten, die den Konstruktcharakter geschlechtlicher Rollenbilder offenlegt und dekonstruiert. Die Wiederholung und die satirische Nachahmung von bestimmten Normen fungieren daher zugleich als Indizien für Selbstbestimmung und Handlungsmacht, die im Video durch die identitätskonstitutiven Signifikanten wie Schrift und Geräusch/Ton zum Ausdruck gebracht werden. Als widerständige Strategien für das Video fruchtbar gemacht werden neben der Mimikry auch die von Bhabha entwickelten Denkfiguren der Hybridität und des „Dritten Raumes“. Hybridität als Mischform und wechselseitige Durchdringung der „eigenen“ und „fremden“ Identität bezieht sich auf die persisch- und englischsprachigen Schriftzüge, die auf Intertextualität, Translation und (Selbst-)Positionierung in transkulturellen Kontexten verweisen. In Verbindung damit steht das Konzept des „Dritten Raumes“, das im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz entsteht und von Karen Struve wie folgt charakterisiert wird: „Es ist der ästhetische, ephemere Ausdruck kultureller Differenz, es ist die Grenzerfahrung des Subjekts, es ist postkoloniale Dekonstruktion und überdies ein theoretischer Begriff, der sich jeglicher Definition und Konkretion auf der theoretischen Ebene entzieht.“58 Die zweisprachigen 58 Struve, Karen, Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler/innen, hg. v. Stephan Moebius), Wiesbaden 2013, 128.

218 | Visuelle Identitäten Artikulationen im Video drücken Differenzen aus, die in einem nicht-hierarchischen, hybriden Zwischenraum bzw. einem „alternativen Kunst-Raum“ ausgetragen werden. Als „Zone“ oder Ausdrucksform einer feministisch orientierten, postkolonialen Kunstpraxis kann hier mit de/konstruktiven Strategien eine Neuverhandlung von Identität stattfinden. Hinsichtlich der von Bhabha genannten, ambivalenten Repräsentationsformen der „Anderen“ suggerieren auf der symbolischen Ebene der Metapher das Selbstporträt, die Handschrift und die tonale Ebene bzw. die der Dargestellten zugeschriebenen Geräusche nur eine scheinbare Einheit von Geschlecht, Körper und Identität. Die Metonymie wird quasi durch die schwarze Farbe verkörpert, die mit Bedeutungsverschiebungen und -störungen von Identitätsmerkmalen operiert: Das, was schriftlich und visuell zu bezeichnen versucht wird (Selbstporträt), das im übertragenen Sinn Gemeinte (Gesicht, Schrift und Ton als Identitätsnachweise) und das letztendlich Visualisierte (schwarze Übermalung des Gesichtes und fortlaufende Handschrift) verbindet dann nur mehr das Verhältnis einer entrückten und defekten Kontiguität. Dies ist das ambivalente Resultat der konfligierenden Signifikantenkette bzw. des Widerstreits zwischen identitätsstörenden und identitätsstiftenden Elementen. Die de/konstruktiven Verfahrensweisen am eigenen Körper, die Simin Keramati in mehreren künstlerischen Arbeiten strategisch einsetzt, weisen Identität als ein Konstrukt aus, dessen Visualisierungsmöglichkeiten eingeschränkt bleiben. Abschließend ist wiederum von Interesse, wie Simin Keramati selbst über den Begriff der Identität denkt. Aus ihren Ausführungen geht hervor, dass sie der „iranischen“ Identität eine zentrale Bedeutung für iranische Künstler/innen zuschreibt. Dahingegen könne der breiter und offener zu fassende Begriff der ethnischen Identität nicht ausschließlich in eine bestimmte geografische Region verortet werden. Lebensumfeld, soziales Umfeld und Interaktion mit der Gesellschaft formieren einen wesentlichen Bestandteil der personalen Identität. Ihre Skepsis gegenüber dem Identitätsbegriff, die auch in vielen ihrer Werke manifest wird, äußert sich in der von ihr zuletzt gestellten Frage, was unter Identität – bzw. auch iranischer Identität – überhaupt zu verstehen sei und wie diese definierbar ist: „Identity is important. In fact, I used to believe that Iranian identity (e.g.) is important for an Iranian artist, I still do, but my vision on the ethnic identity has been changed, I mean ethnicity is a wide open criteria that one cannot limit to the regional borders, BUT the identity as I believe is directly affected by the life style and the environment one has been grown up in, and it may grow during time or stay limited in a whole life. The city and the community you’ve been born in makes the foundation of your identity but not all of it. What I am trying to explain is that in order to answer this question you should know what is the explanation for the word identity?“59

59 Ebd.

5. Shahram Entekhabi: Performative Inszenierungen von Identität/Alterität

Shahram Entekhabi, der 1963 in Borujerd/Iran geboren wurde und seit 1983 in Berlin lebt und arbeitet, ist Konzeptkünstler, Kurator und Architekt. In mehreren Videos und Performances, die häufig im öffentlichen Raum und urbanen Kontext stattfinden, fokussiert er körperliche Selbstinszenierungen und setzt sich kritisch mit hegemonialen Repräsentationssystemen ethnischer Alterität auseinander. In dieser Hinsicht ist es interessant, die künstlerischen Praxen und vor allem die Visualisierungsstrategien von Identität(en) der iranischen Diaspora in Deutschland mit jenen in Iran zu vergleichen, um transkulturelle und transnationale Vergleichsmomente und/oder Differenzen herauszuarbeiten. Entekhabis Biografie, die von mehrfachen Ortswechseln gekennzeichnet ist, hat die thematischen Schwerpunkte seines künstlerischen Schaffens nachhaltig beeinflusst. Hier fügen sich das Autobiografische, das Migrantisch-Transitorische und die ihm zugeschriebene Rolle des muslimischen/orientalischen/iranischen „Anderen“ in einer komplexen und mitunter irritierenden Weise zusammen. Über die Bedeutung seiner Migrationserfahrung(en) äußerte sich der Künstler im Rahmen eines Interviews wie folgt: „It seems to me that my personal experience with migration functions as some kind of precondition for my work.“1

In einem bis 2009 auf seiner Homepage abrufbaren Statement meinte er außerdem: „I would say I have always observed the West with my Eastern eyes.“2

Entekhabi, der 1976 eine Ausbildung für Grafik Design in Teheran begann, verließ Iran drei Jahre später, um Italienisch und Architektur in Perugia und Reggio Calabria in Italien zu studieren. Ab 1983 arbeitete er als freier Architekt in Berlin, bevor er sich im Jahr 2001 dazu entschloss, ausschließlich als bildender Künstler tätig zu sein. 1 In Between Identities: Tilting the Hourglass. Sophia A. Schultz in conversation with Shahram Entekhabi and Behrang Samadzadegan, in: Entekhabi, Shahram/Atelierhaus Salzamt Linz (Hg.), We are Standing Outside Time. An Ongoing Artistic Collaboration between Shahram Entekhabi and Behrang Samadzadegan, Linz 2012, 42–47, hier 44. 2 Künstlerstatement: „About me and my work“ (2009); bis 2011 abrufbar unter: http://www.entekhabi. org.

220 | Visuelle Identitäten Die mehrfache Neukonfrontation mit unterschiedlichen kulturellen Kontexten und die damit einhergehenden Identitätssuchen und veränderten Selbstdefinitionen formieren daher wesentliche Grundpfeiler in Entekhabis künstlerischer Praxis. Entekhabi ist ein Künstler, der in verschiedenen Medien wie Video, Performance, Installation, Fotografie, Malerei und Zeichnung arbeitet und in vielen Bereichen aktiv ist: Neben seinen theoretischen Engagements3 in Form von Vorträgen im Zuge von Videoscreenings sowie differenzierten Interviews, Statements und Künstlergesprächen4 ist er Initator von diversen Kunstprojekten5 im Grenzbereich von Kunst und Wissenschaft. Seine Einzel­ ausstellungen und zahlreichen Beteiligungen an Gruppenausstellungen sind ab dem Jahr 2002 auf seiner Homepage dokumentiert.6 In gleicher Weise wie Entekhabis Migrationserfahrungen sind auch seine Ausbildung und berufliche Tätigkeit als Architekt als Grundlagen für seinen künstlerischen Zugang zu berücksichtigen. In dieser Hinsicht rekurriert der Künstler kritisch-subversiv auf das hierarchisierte Regelwerk und Setting des urbanen Raums, den er mit Charles Baudelaires Konzept des Flaneurs verknüpft und als einen Ort betrachtet, der für den weißen, heterosexuellen Mittelklasse-Mann bestimmt ist und durch dessen Aktivitäten dominiert wird. Der Intention folgend, alternative Praxen und Systeme der Sichtbarkeit zu entwickeln, rückt er marginalisierte Randgruppen mit häufig muslimischen Migrationshintergrund in den Mittelpunkt, die aufgrund der erzwungenen, räumlich-kulturellen Separation und (Selbst-)Ghettoisierung quasi zur Unsichtbarkeit verdammt sind.7 In vielen seiner Performances geht es Entekhabi darum, subalternen Bevölkerungsteilen eine neue Präsenz im städtischen Umfeld zu verleihen und damit Probleme fehlender Anerkennung und Partizipationsmöglichkeiten zu thematisieren. Politisch und sozialkritisch motivierte Aktionen im öffentlichen Raum formieren einen wichtigen Teil von Entekhabis postkolonialer Kunstpraxis. Aspekte der Migration, kulturellen Diversität sowie der Inklusion und Exklusion sind auch in seinen Arbeiten 3 Vgl. beispielsweise den bereits zitierten Katalog im Zuge der Ausstellung „The State of In Beween in Iranian Contemporary Art“ im Atelierhaus Salzamt Linz, bei dem er Mitherausgeber war: Entekhabi, Shahram/Atelierhaus Salzamt Linz (Hg.), We are Standing Outside Time. An Ongoing Artistic Collaboration between Shahram Entekhabi and Behrang Samadzadegan, Linz 2012. 4 Diese sind teilweise unter „Artist Statement“ und „Texts and Interviews“ auf Entekhabis Homepage publiziert: http://www.entekhabi.org [Stand: 10.08.2017]. 5 Vgl. dazu beispielsweise: 2009: Children on The Run, An Art Project to support children caught in crisis areas; Initiator of I RAN Home project, http://www.i-ran-home.org [Stand: 10.08.2017]; 2008: Founder and Artistic Director of Without Limits. Interdisciplinary Researchers + Artists Network, Berlin; 2007: Abwehr. Performance Festival nearby the former border watchtower in Berlin-Kreuzberg/Schlesischer Busch/Berlin; 2004: 13 Satellites of Lahore, Performance Festival, Annemarie Schimmel-Haus, Lahore/Pakistan; 2003–2005: Kollaboration mit der niederländischen Literaturwissenschaftlerin, Kultur- und Kunsthistorikerin Mieke Bal zum Thema: Fragen der Post-Migration und Migration als Ausdruck einer Ästhetik des Alltäglichen. Vgl. http://www.entekhabi.org [Stand: 10.08.2017]. 6 Vgl. hier ebenso: http://www.entekhabi.org [Stand: 10.08.2017]. 7 Vgl. Entekhabi, Shahram, Artist Statement. The Question of Visibility and Invisibility, in: Entekhabi, Shahram (Hg.), One Person’s Trash Is Another Person’s Treasure, The Half-Yearly Magazine 1, Humour and the Modern Clown, Zug 2008, 17–27, hier 17.

S hahram Entekhabi: Performative Inszenierungen

von I dentität /A lterität

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Abb. 85 (links) Abb. 86 (rechts)

mit Absperrbändern explizit, die er unter dem Begriff Parasite Architecture zusammenfasst (Abb. 85–86). Hier setzt sich der Künstler mit nomadisch-psychogeografischen Theorien, Konzepten der sozialen Kommunikation (Gordon Matta-Clark) und der feministischen Raumdekonstruktion (Rita McKeough) auseinander und verbindet diese mit der Idee des „Informellen“. Mit diesem Begriff bezieht sich Entekhabi auf formlose, temporäre, unvollendete und schwache Strukturenbildungen.8 Die Absperrbänder fungieren als „parasitäre“ Elemente an gebauten Strukturen und in definierten Räumen, die Blockaden, Ab- und Einsperrungen markieren und damit auch Einfluss auf das Befinden und Verhalten der darin befindlichen Personen nehmen. Neben Aktions- und Videokunst, Performance, Live Art und Installation betätigt sich der Künstler gleichermaßen in der Fotografie, Malerei, Collage und Zeichnung. Entekhabis umfangreiches und komplexes künstlerisches Werk weist eine starke Tendenz zum Performativen auf, das strategisch für eine subversive Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Diskursen genutzt wird. In dieser Hinsicht interessiert sich Entekhabi nicht nur für Themen wie Migration, Diaspora, Alteritätskonstruktionen und Hierarchien im urbanen Umfeld seines Aufenthaltslandes, sondern beschäftigt sich in gleicher Weise auch mit spezifischen Sujets seines Geburtslandes Iran. Ein Beispiel dafür ist etwa seine Auseinandersetzung mit islamischen Bekleidungsvorschriften und Zensurmaßnahmen in Form von schwarzen Übermalungen, die ihn mit Shadi Ghadirian und Simin Keramati verbindet. Seit 2001 übermalt der Künstler weibliche Figuren in Modezeitschriften, Werbeplakaten oder auf Reproduktionen persischer Miniaturen mit schwarzer Farbe. Dazu zählen etwa Ausgaben der Vogue („Islamic Vogue“, 2001–2005, Abb. 87), H&M-Prospekte („Das Kleine Schwarze“, 2003–2005, 8 Vgl. Entekhabi, Shahram, Artist Statement, http://www.entekhabi.org [Stand: 15.08.2017]

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Abb. 87

Abb. 88–89), Poster von Pinups („Heroines“, 2006, Abb. 90) oder auch Rückseiten von Playboyspielkarten („Playboy Cards“, 2006). In der Serie „Golden Edition“ verwendet Entekhabi Acryl und Metall, um die Körper der Frauen in den Fotografien zu verhüllen (Abb. 91). Arbeiten wie diese beschreibt Dolores Denaro treffend als eine – freilich ironisierende – Islamisierung der westlichen Ästhetik der Modewelt.9 Indem Entekhabi diverse Verschleierungsformen von Musliminnen wie etwa den iranischen chādor ins Zentrum rückt und diese auf die Körper von Nicht-Musliminnen transferiert, thematisiert er neben Aspekten der Un/Sichtbarkeit jene der Assimilation, Diskriminierung

Abb. 88

Abb. 89

Abb. 90

9 Vgl. Denaro, Dolores, Him & Her, http://www.entekhabi.org [Stand: 28.08.2017].

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und der Schleierdebatte im Kontext europäischer Gesellschaften. Im Text zur Serie „Islamic­ Vogue“ auf seiner Homepage heißt es dazu: „Above all, these clothes indicate the difficult meeting of the assimilated culture into the assimilating culture of the Europeans, who view this garb as a symbol of the subjugation of women in the name of religion. Religious zeal is linked in Western minds to fear of terrorism, and so hiding a woman’s face becomes a genuine threat.“10

Für den thematischen Fokus des Buches sind in erster Linie Entekhabis performative Selbstdarstellungen zentral, in denen er seinen Körper als Medium einsetzt, über das Konstruktionen und Zuschreibungen von Identität, Alterität sowie kulturelle Differenz kommuniziert werden. Der Abb. 91 Künstler verfolgt hier ein komplexes Rollenspiel und inszeniert stereotype Figuren des migrantischen „Anderen“, die im urbanen Umfeld Berlins – und häufig mit versteckter Kamera – gefilmt werden, um unterschiedliche Reaktionen der Stadtbevölkerung zu evozieren. Das kontinuierliche, chamäleonartige Changieren zwischen personifizierten Klischeebildern trägt mitunter dazu bei, simplifizierende Subjektentwürfe und Identitätszuweisungen zu dekonstruieren. Darüber hinaus konfrontiert Entkehabi westliche Betrachter/innen mit historisch gewachsenen und medial konstruierten Fremd- und/ oder Feindbildern, die insbesondere auf muslimische Migrant/innen projiziert werden.

5.1 Zur komplexen Konstruktion des Selbst als „Anderer“: Migration, Transit und das „In-Between“ 5.1.1 Entekhabis Video „i?“: Die Genese der Figur des migrantischen „Anderen“ Den Prototyp des Migranten entwickelte Entekhabi in seiner Videoarbeit „i?“ (4:17 min) im Jahr 2004. Mit dem abgetragenen Anzug und Reisekoffer rekurriert das äußere Erscheinungsbild dieser Figur, die vom Künstler selbst verkörpert wird, auf klischeebehaftete Vorstellungen vom „Gastarbeiter“ oder „Arbeitsmigranten“: „The migrant figure is a somewhat minimalist version of what Western Europeans imagine as the migrant (the so-called „guest worker“): a cheap suit, old-fashioned shoes, and a suitcase.“11 In seinen nachfolgenden Werken wurde dieser migrantische Prototyp vom Künstler in unterschiedlichen Medien modifiziert, variiert und weiterentfaltet. Das mit einem Fragezeichen ausgewiesene „ich“ im Titel des Videos „i?“ verweist auf eine grundlegende 10 Entekhabi, Shahram, Islamic Vogue, http://www.entekhabi.org [Stand: 28.08.2017]. 11 Entekhabi, Shahram, Artist Statement, http://www.entekhabi.org [Stand: 29.08.2017].

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Abb. 92

Skepsis gegenüber der Identität des Hauptprotagonisten, der in der Arbeit durch die paradoxen und mitunter irritierenden Wiederholungen und Verdoppelungen der Person Entekhabis Ausdruck verliehen wird. Das „Ich“ des Künstlers erfährt gewissermaßen eine Spaltung in zwei Figuren mit identischem Aussehen, die zeitlich versetzt denselben Aktionen und Betätigungen nachgehen. Beide Entekhabis sind durch abstruse, zunächst wenig plausible Interaktionen miteinander verknüpft und treffen in mehreren Szenen aufeinander. Ihre gegenseitige Beziehung ist durch Blickwechsel, Beobachtung und gegen Ende des Videos sogar durch eine Verfolgungsjagd charakterisiert. Die fragmentarischen Ansichten des Künstlers (und seines Doppelgängers), die kurzen Sequenzen und raschen Schnittfolgen bewirken ein kontinuierliches Verwirrspiel, das Identifikationen erschwert und letztendlich den Identitätsbegriff selbst radikal in Frage stellt. Die zweifache Inszenierung der eigenen Person wirft mehrere Fragestellungen auf: Wer ist wer? Welches der „Ichs“ lässt sich klar als Entekhabi ausweisen, wer ist das Double oder existiert er etwa zweimal? Findet hier eine sinnbildliche Konfrontation einer gespaltenen Persönlichkeit statt? Anhand einer detaillierten Analyse der Videoarbeit „i?“ wird versucht, die ambivalente, von Entekhabi verkörperte Figur des migrantischen „Ichs“ und „Anderen“ zu beschreiben. In dem Video sind insgesamt 58 Kameraeinstellungen (in der Folge mit KE bezeichnet) und 57 Schnittstellen feststellbar. Zu Beginn steht eine männliche Person mit einem weißen, ärmellosen Unterhemd in Rückenansicht vor einem beschlagenen Badezimmerspiegel, der das Antlitz des Protagonisten nur verschwommen reflektiert (KE 1, Abb. 92). Das Geräusch von fließendem Wasser ist zu hören. Bei dem Mann in dieser ersten Szene, der zunächst schwer identifizierbar ist, handelt es sich um Shahram Entekhabi selbst. In einem dunklen Raum öffnet sich mit einem Knarren langsam eine Tür, in deren hellen Spalt eine verschattete Figur erscheint. Wiederum als Entekhabi erkennbar, verweilt diese in ihrer Position im Türspalt und scheint in das Zimmer zu blicken (KE 2, 00:05). Die

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dritte Kameraeinstellung (00:11) zeigt den Künstler wiederum statisch in einer Nahaufnahme unter der Dusche. Den Kopf mit den geschlossenen Augen nach unten gesenkt, hat er den linken Arm emporgestreckt, sodass der Blick auf die linke Achsel fällt. Das Wasser fließt in Strömen vom Haar über sein Gesicht. Als Fortsetzung von KE 2 ist ein trapezförmiger Lichteinfall auf einem Parkettboden in dem dunklen Zimmer zu sehen, in dem sich der Schattenwurf eines Kopfes abzeichnet (KE 4, 00:17). In der Badezimmerszene folgt eine Detailaufnahme von Entekhabis rechter Wange, die mit Rasierschaum versehen ist (KE 5, 00:20). Langsam führt er die Klinge des Barbiermessers von oben nach unten, die ein lautes und unangenehmes Kratzgeräusch erzeugt. In der nächsten Einstellung ist Entekhabi aufgrund des weißen Unterhemdes aus der ersten Szene erkennbar. Ein lautes Ticken einer Wanduhr ist zu vernehmen. Dem/der Betrachter/in den Rücken zugewandt, liegt er auf einem Bett und blickt auf die Person im Türspalt vor ihm, die ebenfalls als Ente­ khabi identifizierbar ist (KE 6, 00:30; Abb. 93). Bei dieser Situation handelt es sich um eine erste, unmittelbare Konfrontation der Doppelgänger, die durch einen Blickwechsel ausgetragen wird. In der Folge sitzt der Künstler unbewegt in Dreiviertelansicht an einem kleinen runden Tisch vor einem Fenster (KE 7, 00:34). Den Blick gesenkt, hat er den rechten Ellbogen abgestützt; die Hand liegt über seinem Mund. Neben dem Ticken einer Uhr hört man eine weibliche Stimme in einer fremden Sprache am Telefon oder Anrufbeantworter. Es folgt ein Close-up von zwei Sekunden, in dem die Schnürsenkel eines

Abb. 93–96

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226 | Visuelle Identitäten schwarzen Herrenschuhs zugebunden werden (KE 8, 00:46). Ebenso in Nahaufnahme, greift eine Hand nach einem Schlüsselbund und einem Hochzeitsfoto, das umgedreht wird (KE 9, 00:48). Die Kamera ist in erhöhter Position im Treppenhaus platziert und filmt Entekhabi durch das Geländer, wie er mit lauten Schritten die Wohnung verlässt (KE 10, 00:54). In der nächsten Einstellung ist eine grüne Haustür zu sehen, die geöffnet wird und den Künstler zeigt, dessen Kopf und Schultern abgeschnitten sind (KE 11, 00:59). In dem Moment, als er das Tor aufmacht, kommt ein weißes Auto von rechts ins Bild und verdeckt ihn. Diese Szene geht in Form einer Über- oder Wischblende fließend in die zwölfte Kameraeinstellung über. Im verblassenden Weiß ist Entekhabis Schulterstück im Profil vor einer U-Bahn erkennbar (KE 12, 1:01). Von Interesse ist hier, wie die Bewegung des vorbeifahrenden Autos von zwei, sich unter lautem Geräusch in die entgegengesetzte Richtung bewegenden Zügen fortgesetzt wird. Den Blick von einem/ einer Betrachter/in abgewandt, blickt er starr auf das Treiben vor ihm. Es folgt die Nahaufnahme eines schmuddeligen Teppichbodens, einer Fußmatte und eines Hundes vor einer Tür, die sich öffnet (KE 13, 1:11). Das Tier springt auf, wedelt mit dem Schwanz und beschnuppert die schwarzen Herrenschuhe und Hosenbeine, durch die wiederum auf die Person Entekhabis verwiesen ist. In einer Close-up-Einstellung wirft seine Hand einige Euro-Münzen auf die arabischsprachige, palästinensische Tageszeitung „al-Quds al-Arabi“ (zu Deutsch: „das arabische Jerusalem“). Sein männliches Gegenüber sagt etwas in einer fremden Sprache, legt ein rotes Päckchen Cigarillos auf das Tagesblatt und nimmt die insgesamt € 3,50 an sich (KE 14, 1:19). Arabische Schriftzüge und Sprache fungieren hier als visuelle und tonale Zeichen, die explizit auf Migration verweisen. In der Folge sind wiederum ausschnitthaft Tür, Fußmatte und Füße sichtbar, die das Geschäft in Richtung Straße verlassen (KE 15, 1:24). Der mit einem weißen Hemd und Nadelstreifensakko bekleidete Entekhabi lehnt mit dem Rücken an einer gefliesten Wand und hat den Blick von der Kamera abgewandt (KE 16, 1:27; Abb. 94). Er befindet sich in einem unterirdischen, zunächst menschenleeren Durchgang, der durch rechteckige Neonlichter an der Decke beleuchtet wird. Mit einem lauten Geräusch erscheint plötzlich ein Skateboardfahrer mit Kapuzenpullover und Rucksack, der an ihm vorbeirollt. Weitere, sich unterhaltende Personen sind erkennbar und bewegen sich, ebenso wie der noch einmal im Bild auftauchende Skateboardfahrer, an ihm vorbei. Entekhabi scheint etwas zu kauen, ansonsten verharrt er statisch in seiner Position. Bei dem nächsten Schauplatz handelt es sich um ein Café. Eine Nahaufnahme zeigt einen Tisch mit einer hellblau-weiß karierten Decke, auf dem ein Glas mit traditionell türkischem Tee (Çay) auf einer Untertasse steht, den Entekhabi mit einem Löffel umrührt (KE 17, 1:53). Klirrend wird der Teesatz aufgewühlt, im Hintergrund sind Stimmen, Schritte und das Geräusch einer zufallenden Tür zu hören. In der Folge sind seine Lippen in einer extreme Close-up-Einstellung sichtbar (KE 18, 2:03). Dreimal führt er geröstete Sonnenblumenkerne in Richtung Mund, löst die Schale mit den Zähnen und ißt den inneren Teil. Die Kamera ist wiederum auf den Tisch mit dem mittlerweile leeren Teeglas, der arabischsprachigen Zei-

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tung, den Cigarillos aus dem Geschäft und den Sonnenblumenkernschalen gerichtet (KE 19, 2:22). Entekhabi nimmt die Zeitung und klopft eine Cigarillo zurecht. Es folgt eine kurze Detailaufnahme mit seinen Händen, die ein Streichholz entzünden (KE 20, 2:26). Der Rauch der Cigarillo verbreitet sich und das Zündholz wird weggeworfen (KE 21, 2:27). Über den Rand der aufgeschlagenen Zeitung, die er nun in den Händen hält, fällt der Blick auf zwei junge Männer, die an einem Tisch mit einem Brettspiel sitzen (KE 22, 2:29, Abb. 95). Die Kamera wechselt mit dem Umblättern der Zeitung in eine Position hinter Entekhabi und ein Ausschnitt seines Profils wird sichtbar. Im Raum sieht man zwei weitere Tische mit einem Lesenden und vier weiteren Männern, die ebenso mit einem Brettspiel beschäftigt sind (KE 23, 2:31). Die nächsten beiden kurzen Einstellungen zeigen eine männliche Person in Rückenansicht, die dasselbe Sakko wie Entekhabi trägt (KE 24, 2:35) sowie das Brett eines Backgammonspiels und eine Hand, die würfelt (KE 25, 2:36). In Frontalansicht ist nun der am Tisch sitzende Entekhabi sichtbar, der von der aufgeschlagenen Zeitung verdeckt wird (KE 26, 2:38). Vorsichtig und kaum merklich blickt er vom Zeitungsrand hervor. In der folgenden kurzen Szene stellt sich heraus, dass es sich um die zweite Doppelgängersituation handelt. Ein Zeigefinger deutet auf das Spielbrett, die Kamera schwenkt nach oben und zeigt eine Figur, die aufgrund der Kleidung als Entekhabi erkennbar ist (KE 27, 2:41). Dieselbe Einstellung wie 26 zeigt wiederum Entekhabis heimliche Beobachterposition hinter der Zeitung (KE 28, 2:43). Der Sachverhalt wird in der Folge noch komplexer und verworrener: Ein junger Mann, der den Kopf mit der Hand abstützt, sitzt gegenüber von Entekhabi, der in Rückenansicht zu sehen ist (KE 29, 2:44). Die Hände einer weiteren Person greifen auf die Spielsteine am Tisch. Stimmen in einer fremden Sprache sind zu hören. Die Kamera, die zurück zum zeitungslesenden Entekhabi schwenkt, scheint dessen Blick zu dokumentieren. In der nächsten Sequenz schwenkt sie zum Doppelgänger, der seine Hand vom geschlossenen Spielkasten nimmt, und wandert zu seinen Füßen, die sich durch das Lokal in Richtung Tür nach draußen bewegen (KE 30, 2:53). Aufgrund der verwirrenden Verdoppelung des Protagonisten ist es in der Folge schwierig, beide Figuren und ihre Aktivitäten klar voneinander zu unterscheiden. Eine Nahaufnahme zeigt mehrere Tauben, die unter lautem Gurren Körner vom Boden picken (KE 31, 2:57). Bei dem neuen Setting handelt es sich um einen Freiluftmarkt, Menschenmassen bewegen sich langsam an diversen Ständen vorbei, Stimmengewirr und eine Autosirene bilden die Geräuschkulisse (KE 32, 3:02). Entekhabi, der in Rückenansicht im Gemenge erkennbar ist, bahnt sich den Weg hindurch und verschwindet aus dem rechten Bildrand. Sinnbildlich für die Personenanhäufung am Markt und die Konsumfreude erscheinen wiederum die gierig fressenden Tauben (KE 33, 3:10). Es folgt eine Frontalansicht von Entekhabi, der an einem Marktstand steht und isst, sein Gesicht wird durch einen Mast verdeckt (KE 34, 3:16), vorbeigehende Menschen verstellen darüber hinaus den Blick auf ihn. In den nächsten drei kurzen Sequenzen wird wiederum eine Beobachtungssituation im Zuge eines Aufeinandertreffens beider Figuren Entekhabis eingeleitet. Der (andere?) Entekhabi steht in Rücken-

228 | Visuelle Identitäten ansicht vor einem Marktstand und hat den Kopf nach rechts gewandt und isst ebenfalls (KE 35, 3:21). Eine Sekunde lang wird dieselbe Einstellung wie in KE 34 eingeblendet (KE 36, 3:23). Dieser Entekhabi verlässt den Stand und drängt sich durch die Massen (KE 37, 3:24). Der andere ist in derselben Einstellung von 35 zu sehen (KE 38, 3:27), sein Blick fällt auf den sich wegbewegenden Entekhabi, der aus dem Bild verschwindet (KE 39, 3:28). Nun setzt auch er sich in Bewegung und schiebt einen weißhaarigen Mann zur Seite, während er versucht, den anderen Entekhabi nicht aus dem Blickfeld zu verlieren (KE 40, 3:30). In der nächsten Sequenz geht der quasi „Verfolgte“ an einem Auto vorbei und verschwindet dahinter (KE 41, 3:38). Etwa eine Sekunde später sieht man den verfolgenden Entekhabi in Nahansicht vor dem demselben Auto (KE 42, 3:39). Szenenwechsel: Mittlerweile ist es dunkel, auf einem Gehsteig neben einer Straße läuft eine Person, die wiederum als (der vorhin flüchtende?) Entekhabi identifizierbar ist (KE 43, 3:41). Das Geräusch von einem Flugzeugmotor betont das Bedrohliche an dieser Situation. Es folgt eine Nahaufnahme seiner Füße (KE 44, 3:42). Im Detail sind ein Gehsteig und ein Straßenstück mit einer Regenlache zu sehen, die das Schild der Hanse Merkur Versicherungsgruppe in grüner Neonschrift reflektiert (KE 45, 3:43). Entekhabi tritt hinein und das Wasser spritzt hoch. In der Pfütze ist das Spiegelbild des zweiten Entekhabi erkennbar, der geräuschvoll davor bremst, darüber springt und weiterläuft. Die Verfolgungsjagd setzt sich fort: Die nächste Kameraeinstellung zeigt hell beleuchtete Schaufenster und eine Ganzkörperaufnahme des sich schnell von rechts nach links im Bild fortbewegenden Entekhabi (KE 46, 3:51). Unmittelbar darauf folgt wieder eine Nahaufnahme von Füßen (KE 47, 3:53). Es bleibt schwierig zu bestimmen, wer den Verfolger und wer den Verfolgten darstellt. In der Folgesequenz sind beide Entekhabis in Rückenansicht zu beobachten, wie sie den Gehsteig einer befahrenen Straße entlanglaufen (KE 48, 3:54; Abb. 96). Der Vordere erreicht zuerst eine Haustür, stößt diese ruckartig auf und flüchtet in das Haus hinein (KE 49, 3:54). Kopf und Schultern abgeschnitten, läuft er durch das Vorhaus und die Treppen hinauf (KE 50, 3:56), die Tür fällt langsam ins Schloss (KE 51, 3:57). Der nachfolgende Entekhabi, der durch die verglaste, obere Fläche schemenhaft erkennbar ist, drückt beide Handflächen gegen die Scheibe (KE 52, 3:58). Derselbe ist in der nächsten Sequenz in das Stiegenhaus eingedrungen und erklimmt die Treppen (KE 53, 3:59). Die Kamera, die seinem Blick folgt, schwenkt nach oben, wo eine Etage über ihm der andere Entekhabi steht und zu ihm hinabblickt (KE 54, 4:00). Nach einem kurzen Innehalten stürmt derjenige im unteren Stockwerk die Stufen hinauf (KE 55, 4:01). Auch der andere hat sein Tempo beschleunigt und eilt in Richtung Wohnungstür (KE 56, 4:03). Die Dramatik der Situation wird durch die dämmrige Lichtsituation und das laute Geräusch der Schritte akzentuiert. Just in jenem Moment, in dem er durch die Tür gleitet, erscheint im unteren Videobildbereich der „Verfolger“, der letztendlich vor verschlossenem Eingang steht und diesen mit einem Schlüssel aufsperrt. Auch die letzten beiden Sequenzen der Videoarbeit bleiben rätselhaft. Die Wohnungstür wird aufgesperrt und ein heller Lichtstrahl fällt entgegen (KE 57, 4:17). In der letzten Nahaufnahme sind

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schwarze Herrenschuhe zu sehen, die über den Parkettboden gehen (KE 58, 4:19). Man vernimmt außerdem das Geräusch von Fließwasser, das wiederum an die erste Video­ szene im Badezimmer erinnert. An dieser Stelle endet das Video. Hand in Hand mit dem geschickt inszenierten Verwirrspiel im Video „i?“ geht eine Dezentrierung oder Spaltung von personaler Identität, die auf die eigentümliche Verdoppelung des Protagonisten zurückzuführen ist. Die dekonstruktiven Visualisierungsstrategien von Körper und Identität beschränken sich jedoch nicht nur auf die Duplikation Entekhabis. In dieser Hinsicht spielen in gleicher Weise medial bedingte, videotechnische Gastaltungsmittel eine wesentliche Rolle. Die Einstellungsgrößen der Kamera umfassen zahlreiche Halbnah-, Nah-, Groß- und Detailaufnahmen und fokussieren daher häufig nur Ausschnitte der Figur des Hauptdarstellers. Identifikationsprozesse bzw. die grundlegende Frage, wie beide Entekhabis voneinander zu unterscheiden sind, gestalten sich auch aufgrund der raschen Abfolgen von Kameraeinstellungen und Montagen als schwierig. In mehreren Sequenzen wird Entekhabi außerdem durch diverse Gegenstände oder andere Personen verdeckt, er ist häufig in Rückenansicht dargestellt oder wendet seinen Blick ab. Zudem lässt ihn die Lichtführung in mehreren Szenen im Dunkeln oder Schatten erscheinen, sodass sein Gesicht in keiner einzigen Aufnahme vollständig zu sehen ist. Die Wiedererkennungsmerkmale beschränken sich somit auf wenige Details, wie etwa Gesichtsausschnitte, Bekleidung, Schuhwerk und Haar. Aus diesen körperlichen Entzugsstrategien resultieren fragmentarische Selbstdarstellungen und eine Problematisierung des personalen Identitätsbegriffs. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist die Inszenierung der stereotypen Figur des Migranten im öffentlichen Raum und urbanen Kontext: Entekhabis Physiognomie, Kleidung, Habitus, Verhalten, Mimik und Gestik rekurrieren auf klischeehafte, vorgefertigte und häufig abwertend konnotierte Fremdbilder. Sein abgetragener, aus der Mode gekommene Anzug, das weiße Hemd und die aufpolierten schwarzen Herrenschuhe erinnern an die Kleidung von türkischen „Gastarbeitern“, die ab den 1950er-Jahren nach Deutschland kamen. Auch Kathrin Becker spricht in dieser Hinsicht von einer bewussten Adaption spezifischer Attribute, welche die Figur als Repräsentanten der sogenannten „Gastarbeitergruppe“ ausweise. Die slapstickhafte Überzeichnung durch Make-up, eingefrorenen Gesichtsausdruck, ungelenkigen Gang erinnert an Filmfiguren der-1920er Jahre wie etwa Buster Keaton. Durch den Rekurs auf die Vergangenheit (Filmgeschichte, „Gastarbeiterbewegung“) und die gleichzeitige Kontextualisierung in der Gegenwart wird implizit auf die extreme Statik des Bildes vom Arbeitsmigranten in westlichen Gesellschaften hingewiesen. Als ein seit geraumer Zeit in Deutschland lebender iranischer Staatsbürger thematisiert Entekhabi hier das dichotome Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie Sehen und Gesehenwerden.12 Das Paradoxe im Video „i?“ ist jedoch, dass diese Perzeptionsprozesse ausschließlich zwi12 Vgl. Becker, Kathrin, Words about M, in: Entekhabi, Shahram (Hg.), One Person’s Trash Is Another Person’s Treasure, The Half-Yearly Magazine 1, Humour and the Modern Clown, Zug 2008, 30–39, hier 30.

230 | Visuelle Identitäten schen den beiden, von Entekhabi selbst verkörperten Figuren des Migranten stattfinden. Die Interaktionen mit anderen Personen beschränken sich auf wenige Momente. Indexikalische Zeichen, die in der Videoarbeit visuell und tonal auf Migration verweisen, sind die fremden Sprachen, die arabische Zeitung, der traditionelle türkische Tee, die Sonnenblumenkerne als typisch orientalischer Imbiss sowie das durch Männerrunden dominierte Lokal. Entekhabi selbst hat seine Videoarbeit „i?“ kommentiert und in einem Statement einen klaren Bezug zu Samuel Becketts Schwarz-Weiß-Film mit dem Titel „Film“13 aus dem Jahr 1965 hergestellt.14 Die Handlung des dialoglosen Kurzfilms basiert auf dem paranoiden Verhalten des Protagonisten und dessen Angst vor fremden Blicken. Beckett bezeichnet die zentrale Filmfigur, die von dem gealterten Schauspieler Buster Keaton interpretiert wird, als O (object) und die ihn verfolgende Kamera als E (eye). Die Flucht vor der als Auge hervortretenden Kamera, die als beobachtender Akteur in den Film miteinbezogen ist, beschreibt Rolf Breuer als „ununterdrückbare Angst vor dem Angeschautwerden“15. Zudem verweist das E (eye = I) der Kamera auf europäische Identitätstheorien und Selbstreflexion.16 Gemeinsam mit der Perspektive von O werden in diesem Zusammenhang die Unausweichbarkeit der Selbstwahrnehmung und die Unmöglichkeit des Entkommens vor der eigenen Existenz thematisiert. Der zum Scheitern verurteilte Versuch des Protagonisten, vor fremden Blicken auf seine Person und letztendlich vor dem Blick auf sich selbst zu fliehen, endet in „Weltverlust, Einsamkeit und Angst“17. In der Folge soll der Frage nachgegangen werden, welche Aspekte aus Becketts Werk Entekhabi nun für seine Videoarbeit „i?“ inspiriert haben und auf welche Weise er diese adaptiert, transformiert und damit neu kontextualisiert und interpretiert hat. Die erste und letzte Einstellung in Becketts „Film“ zeigt ein sich öffnendes menschliches Auge. Auch im Video „i?“ formieren Anfangs- und Schlusssequenz mit dem Geräusch von Fließwasser und der sich zuletzt (vermutlich) wiederholenden Spiegelszene eine zirkuläre Struktur. Entekhabi verknüpft den Moment, in dem er in den Spiegel und somit auf sich selbst oder sein Spiegelbild blickt mit dem Prozess einer veränderten Selbstwahrnehmung: „Looking into the mirror is completely different after having been a mirror to others all day long.“18 Dieser Hinweis, der sehr deutlich auf die Thematik von Selbst- und Fremdbilder anspielt, ist nicht nur für sein Video „i?“, sondern auch für mehrere nachfolgende Videoarbeiten von zentraler Bedeutung. Der Blick in den Spiegel und das sich darin abzeichnende Selbstbild können ebensowenig wie die Selbstperzeptionen konstant bleiben. Dies ist mitunter darauf zurückzufüh13 Vgl. Schneider, Alan (Regie), Beckett, Samuel (Drehbuch), Keaton, Buster (Darst.), Karen, James (Darst.), Harrison, Nell (Darst.), Reed, Susan (Darst.), Film, USA, 1965, Kurzfilm S/W 22 min. 14 Vgl. Entekhabi, Artist Statement, 17–22. 15 Breuer, Rolf, Samuel Becketts Film, in: Seibert, Peter (Hg.), Samuel Beckett und die Medien. Neue Perspektiven auf einen Medienkünstler des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, 87–91, hier 87. 16 Vgl. ebd., 89. 17 Ebd. 18 Entekhabi, Artist Statement, 17.

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ren, wie Entekhabi es im obigen Zitat auf den Punkt bringt, dass das Selbst anderen und fremden Blicken ausgesetzt ist und diesen als Spiegel oder Projektionsfläche dient. Aufgrund dieser Erfahrungen kann das Selbst auch nicht konstant dasselbe bleiben, es verändert seine Blickweisen auf sich selbst und die anderen. Sowohl Selbst- und Fremdwahrnehmung als auch die daraus resultierenden Selbst- und Fremdbilder sind jedoch nicht unabhängig voneinander zu betrachten, da sie in einer wechselseitigen Beziehung stehen, die für die Identitäts- und Subjektkonstitution grundlegend sind. Indem Entekhabi auf die Spiegelmetapher und einer „Präsenz ohne Substanz“19 des Spiegelbildes rekurriert, wird Identität und Abbild noch einmal auf symbolischer Ebene problematisiert. In Becketts „Film“ hastet der mit schäbigem Mantel und Hut bekleidete O durch eine unwirtliche städtische Gegend an zwei Passanten vorbei, deren Blick er sich zu entziehen versucht. In einem Treppenhaus stürzt eine ihm entgegenkommende alte Dame entsetzt nieder, als sie O und demnach auch E (eye = Kamera) anblickt. Im Kontrast dazu kann in Entekhabis Video keine tatsächliche Interaktion und (drohende) Blickkonfrontation mit anderen Personen festgestellt werden. Die Blickwechsel sowie das Beobachten und Beobachtetwerden finden ausschließlich zwischen zwei identischen Figuren bzw. Doppelgängern statt, die vom Künstler verkörpert werden. Becketts­ „Film“ setzt mit einer Szene in einer Wohnung fort, in der Protagonist O alles Mögliche entfernt, verdeckt oder zerstört, das ihn anblicken oder beobachten könnte. Dazu zählt auch eine eventuelle Selbstbeobachtung über die Reflexion seines eigenen Gesichtes in einem Fenster oder Spiegel, die daher mit Stoff verhängt werden. In einem Schaukelstuhl sitzend, zerreißt er sämtliche Fotografien aus verschiedenen Lebensphasen. Diese Sequenz erinnert an jene Szene im Video „i?“, in der Entekhabi ein Hochzeitsfoto umdreht, sodass die darauf abgebildeten Personen nicht mehr sichtbar sind. Während O schläft, nähert sich die Kamera (E) und erfasst sein Antlitz mit Augenbinde erstmals in Frontalansicht. Er erwacht und schlägt entsetzt die Hände vor sein Gesicht. Mit der nun veränderten Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bzw. E und O sieht sich O selbst gegenüber an der Wand stehen. Der Verfolger alias E ist quasi O selbst. Die seltsame Verdopplung von O und die damit einhergehende „Auflösung“ der unklaren Situation findet in „Film“ erst in der Schlussszene statt. In Entekhabis Video ist diese bereits in den Anfangssequenzen wie beispielsweise der Schlafzimmerszene (vgl. KE 6, 00:30) greifbar und entwickelt sich im Verlauf zu einem abstrusen Verwirrspiel zwischen Entekhabi 1 und 2. Die komplexen Bezugsmomente und Interaktionen, die Beobachten, Beobachtet-Werden sowie Verfolgen und Verfolgt-Werden umfassen, visualisiert auch Entekhabi mit dem oder durch das „Auge“ der Kamera (E). Im Gegensatz zu Becketts „Film“ sind jedoch in manchen Szenen beide Protagonisten in einem Videobild sichtbar. Die permanent changierende Rollenverteilung oder Statuszuwei19 Vgl. dazu etwa folgenden Band: Michel, Paul (Hg.), Präsenz ohne Substanz. Beiträge zur Symbolik des Spiegels (Schriften zur Symbolforschung 14), Zürich 2003.

232 | Visuelle Identitäten sung zwischen Subjekt(en) und Objekt(en) sowie deren Beobachterperspektiven findet hier quasi zwischen Entekhabi 1, Entekhabi 2 und der Kamera (E bzw. eye) statt. Im bereits angeführten Künstlerstatement weist Entekhabi auf die Differenzen zwischen „Film“ und „i?“ hin. Während die Figur O mit ihrer Identitätskrise alleine und isoliert zu sein scheint, exploriert das Video Identität im Kontext einer multikulturellen städtischen Gesellschaftsstruktur, von der das migrantische Individuum jedoch genauso separiert oder ausgegrenzt sein kann. Eines der wesentlichen Konzepte Entekhabis ist die Visualisierung von „unsichtbaren“ bzw. marginalisierten Personen, die in „i?“ durch die im öffentlichen Raum befindliche Figur des Migranten repräsentiert werden, die aber ihr Gesicht versteckt: „[…] most importantly, the logic of combination of going out in a public space whilst hiding one’s face.“20 Das stereotype Fremdbild des „Ausländers“ oder „Gastarbeiters“ tritt an die Stelle des Hauptdarstellers O. In dieser Hinsicht handelt es sich nicht um Remake von Becketts „Film“, sondern um einen kritischen postkolonialen Kommentar, der die Identitätssuche und Selbstfindung des Migranten in einer westlichen Metropole thematisiert. Entekhabi spricht von einer vertikal-historischen und horizontal-zeitgenössischen Kreuzung von zwei systemischen Verhältnissen und greift zum einen auf ein zentrales Werk aus der Filmgeschichte und zum anderen auf eine Kombination aus Kunst und Populärkultur im städtischen Umfeld zurück: „,vertical‘ to other artworks from the past (in this case to Beckett’s and Keaton’­s Film), and a ,horizontal‘ one, in the present, between art and the popular culture that inhabits the urban space and that none of us can ignore.“21 Die Videoarbeit „i?“ verweist auf die komplexen Verstrickungen zwischen Konzeptkunst, Subjektkonstitution und Identitätssuche im Kontext der postkolonialen Migration: „In this sense, ,i?‘ reclaims the complex meanings of, and intricate relationships among, post-structuralism (the concept), postmodernism (the philosophy of the subject) and postcolonialism (the reclaimed, literally re-incorporated search for identity in a culturally hybrid world).“22

Mit Entekhabis Rekurs auf poststrukturalistische, postmoderne und postkoloniale Theorienbildungen sind in „i?“ konzeptuelle Überlegungen, Theoreme der Subjektphilosophie sowie die zurückgeforderte, im buchstäblichen Sinn wieder einverleibte und damit selbstbestimmte Suche nach Identität im Zeitalter kultureller Hybridisierung zentral. Der Subjektstatus wird hier durch personale Verdoppelung, Blickregime und changierende Selbst- und Fremdbilder problematisiert. Damit sind einige der visuellen Strategien des „Ent/Fixierens“ und der De/Konstruktion von Identität genannt, die vom Künstler in nachfolgenden Videoarbeiten wieder aufgegriffen und variiert werden.

20 Entekhabi, Artist Statement, 20. 21 Ebd. 22 Entekhabi, Shahram, i?, http://www.entekhabi.org [Stand: 19.08.2017].

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5.1.2 Die Videoarbeiten „Miguel“, „Mehmet“ „Mladen“ und „Islamic Star“ In diesem Kapitel soll der Frage nachgegangen werden, wie Entekhabi die in „i?“ entwickelte Figur des Migranten in später datierten Videoarbeiten weiterentwickelte. In Werken wie etwa „3 Seconds“, „Rockefeller Boulevard“ und „Road Movie“ (alle 2004) führte der Künstler das stereotype Bild des Migranten als „Alter Ego“ ein, das in der Folge zum fixen bildlichen Vokabular in seinem Œuvre zählte.23 Die performativen Inszenierungsstrategien von migrantischer Alterität lassen sich anhand von Analysen von vier Videoarbeiten aus dem Jahr 2005 beschreiben. Kathrin Becker führt an, dass das Basiskonzept dieser Werke im Vergleich zu früheren eine Radikalisierung erfahren hat und die Person des Migranten in mehrere, wiederum stereotype Charaktere aufgesplittet wurde. Im Zentrum stehen abwertende und klischeebehaftete Zuschreibungen an den „Fremden“ wie etwa Chauvinismus, Fanatismus, Terrorismus und Kriminalität. Derartige Attribuierungen, die vorwiegend männliche Migranten betreffen, erfuhren vor allem nach 9/11 in westlichen Gesellschaften eine Intensivierung.24 Entekhabi greift diese Stereotypen und negativ konnotierten Fremdbilder auf, transferiert diese in den visuellen (Kunst-)Kontext und entwickelt dabei neue, mitunter stark überzeichnete Typen, die er selbst re-präsentiert und performt. Alle Kunstfiguren verbindet der Anfangsbuchstabe „M“ ihrer Vornamen; in „Islamic Star“ ist das „M“ auf einem aufgenähten Stern im Brustbereich der Oberbekleidung sichtbar. Der Fokus auf performative Qualitäten und Interaktionen mit einem Publikum ist in allen Videos explizit, da diese – bis auf „Miguel“ – im öffentlichen Raum und urbanen Kontext Berlins stattfinden. Die erste Sequenz der kurzen Videoarbeit „Miguel“ (1:21 min) zeigt eine Nahaufnahme von zwei Händen, die mit zunächst schwer erkennbaren, kleinen, vergoldeten Gegenständen spielen. In der Folge stellt sich heraus, dass es sich hierbei um Patronen für eine Schusswaffe handelt. Dann ist ein Mann mittleren Alters mit schwarzem Vollbart sichtbar, der ein olivfarbenes Hemd und eine Kappe auf dem Kopf trägt. Die nächste Kameraeinstellung zeigt eine Ganzkörperaufnahme, die erkennen lässt, dass die von Shahram Entekhabi verkörperte Person von Kopf bis Fuß mit einer olivgrünen Militäruniform bekleidet ist (Abb. 97). In einer seiner Hosentaschen ist eine Lampe erkennbar, um die Taille ist eine große Bauchtasche angebracht. In seinen schwarzen Kampfschuhen steht er breitbeinig in einem leeren Innenraum. Seine bedrohliche Aufmachung erinnert an jene des Paramilitärs und der Guerillakämpfer. Nach nur wenigen Sekunden nimmt er einen Revolver aus einer Tasche, den er mit Munition lädt. Das Geräusch der Waffe ist ebenso bedrohlich wie das einsetzende Lachen des Protagonisten. Er richtet die Pistole auf den/die Betrachter/in, nimmt eine Zigarre aus einer Aluminiumröhre und wirft die Verpackung achtlos weg. Mit den Zähnen löst er 23 Vgl. Berger, Doris, Semiotics of a Migrant Man located in Germany, in: Entekhabi, Shahram (Hg.), One Person’s Trash Is Another Person’s Treasure, The Half-Yearly Magazine 2, Muscles and Masculinities, Zug 2008, 10–15, hier 12. 24 Vgl. Becker, Words about M, 30–31.

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Abb. 97

den vorderen Part der Zigarre, den er geräuschvoll ausspuckt und laut auflacht. Aus einer Tasche fischt er ganz plötzlich eine Handgranate und löst den Sicherungsring. Sein furchterregendes, scheinbar verrücktes Gelächter intensiviert sich, während er die Granate nach vorne auf den Boden wirft. Diese explodiert jedoch nicht. Entekhabi zündet seine Zigarre mit einem Streichholz an, nimmt einen Zug und bläst den Rauch in Richtung Kamera, wodurch sein Gesicht und in der Folge auch sein Körper hinter den Schwaden verschwinden. An dieser Stelle endet das Video. Kathrin Becker hat die Komplexität der Figur Miguels hervorgehoben: Während der spanisch-portugiesische Name und die Zigarre auf Kuba sowie Fidel Castro und Che Guevara verweisen, erinnert seine Aufmachung gleicherweise an bewaffnete Guerillatruppen des Nahen Ostens wie beispielsweise die iranisch-fundamentalistische Gruppierung der Fada‘iyan-e Islam (zu Deutsch: Anhänger des Islam), die gemeinsam mit radikalen Islamisten während der 1970er-Jahre gegen den Schah in Iran kämpften. Die unmittelbare Kommunikation mit dem/der Betrachter/in wird im Video durch den fixierenden Blick Miguels und das Lachen hergestellt. Das Verhalten des Protagonisten ist zwischen Aggression und Autoaggression anzusiedeln, jedoch ist weder die Pistole geladen, noch verursacht die Handgranate eine Explosion. Da Gewalt „nur“ suggeriert und nicht wirklich vollzogen wird, ist auch das auf sozialen Stigmatisierungen basierende Fremdbild des „Ausländers“ in Frage zu stellen.25 Entekhabi inszeniert hier wieder eine stark überzeichnete Figur des migrantischen „Anderen“, die im Vergleich zu jener im Video „i?“ stark radikalisiert wird und fundamentalistische Züge annimmt. Miguel bleibt aber ambivalent: „The character reminds of a Guerilla-combatant, his clothes correspond to those of a paramilitary, his full beard characterises him as anti-western.“26 Der Vollbart sowie 25 Vgl. ebd., 38–39. 26 Entekhabi, Shahram, Miguel, http://www.entekhabi.org [Stand: 12.10.2017].

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die Gewaltbereitschaft gegen andere und wahrscheinlich auch gegen sich selbst lässt zudem an islamistisch motivierten Terror im Zeitalter von Post-9/11 denken. Neben diesen vielschichtigen Bezügen ist es das unberechenbare Verhalten des Protagonisten, das zum einen verunsichert und zum anderen erleichtert: Die Drohgebärden haben keine Konsequenzen und erweisen sich letztendlich als harmlos. Ins Zentrum rückt Entekhabi die Wahrnehmungsformen und Zuschreibungsmechanismen aufgrund von Physiognomie, Kleidung und Gebaren sowie die damit verbundenen Erwartungshaltungen an die Figur des Miguels, die aber nicht eingelöst werden. Eine vergleichsweise ähnliche Tendenz zu Gewalt und Autoaggression weist „Mehmet“ (1:12 min) auf, bei dem es sich, wie Entekhabi selbst konstatiert, um einen kurdischen Aktivisten handelt.27 Der Handlungsverlauf des etwa einminütigen Videos, in dem es explizit um Suizid durch Selbstverbrennung geht, wurde bereits in der Einleitung skizziert. Eine nachlässig bekleidete männliche Person, die wiederum von Entekhabi verkörpert wird, geht mit einem schwarzen Kanister eine befahrene Straße entlang. An einer Bushaltestelle schüttet er nach einem Moment des Zögerns schließlich die mit Benzin assoziierte Flüssigkeit über sein Haupt und entzündet ein Streichholz (vgl. Abb. 3–4). Das Erschreckende an dieser Situation ist nicht nur der bewusst vollzogene Akt des Selbstmordes, sondern gleicherweise die Tatsache, dass weder Passant/innen noch vorbeifahrende Rad- und Autofahrer/innen Notiz von seiner Aktion nehmen. Mit dem Aufflackern der Flamme des entzundenen Streichholzes, das sich langsam in Richtung des benzinüberschütteten Körpers bewegt, endet die Videoarbeit und die Betrachter/innen scheinen dazu gezwungen, die Bilder der grauenvollen Konsequenzen dieser Tat im Kopf weiterzuspinnen. Ebenso wie in „Miguel“ wird auch in „Mehmet“ Gewalt aber nur angedeutet und suggeriert. Dieses psychologische Spiel mit Erwartungshaltung und tatsächlichem Ereignis kann als strategische künstlerische Intervention Entekhabis betrachtet werden. Das Publikum, das sich im Video durch eine alarmierende Passivität auszeichnet, wird auf diese Weise dazu herausgefordert, Klischeebilder und letztendlich das „eigene“, aggressive Potenzial westlicher Gesellschaften gegenüber muslimischen Migrant/innen zu reflektieren. Zugleich operiert Entekhabi bewusst mit einer pointierten und äußerst zynischen Situationskomik: Da die Figuren in ihrer Physiognomie und ihrem Habitus stark überzeichnet sind und an Protagonisten in einer Tragikkomödie erinnern, ist man dazu geneigt, ihre ohnehin nur angedeuteten Aktionen nicht gänzlich ernst zu nehmen. Die Figur des „Mladen“, dessen Vorname südslawischen Ursprungs und in Bulgarien, Kroatien und Serbien verbreitet ist, verkörpert im gleichnamigen Video (5:29 min) einen unbekannten Kriminellen aus der Balkanregion.28 Inmitten einer belebten Straße steht ein Mann – wiederum Entekhabi – der mit einer dunklen Hose, einem weißem T-Shirt und einer schwarzen Lederjacke bekleidet ist (Abb. 98–99). Das Haar 27 Vgl. Entekhabi, Artist Statement, 22. 28 Vgl. ebd., 22.

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Abb. 98

mit Gel nach hinten frisiert, reicht sein moustacheartiger Schnauzer bis zum Kinn. In seinen Händen hat er ein Klappmesser, mit dem er herumspielt und den Schmutz aus den Fingernägeln herauskratzt. Schauplatz ist die Oranienburger Straße in Berlin-Mitte, die der Künstler aufgrund ihrer widersprüchlichen Kombination von Kriminalität, Tourismus, Migration und Prostitution als geeigneten Schauplatz für das Video wählte. Als musikalische Untermalung dieser Szenerie ist „Gipsy-Musik“ zu hören, die von Entekhabi selbst in einer Mixtur von unterschiedlichen Liedern zusammengestellt wurde. Die tonale Ebene fungiert neben den visuellen Stereotypen als ein bewusst eingesetztes Mittel zur Verstärkung des klischeehaften Bildes des „Balkanmannes“.29 Mladen alias Entekhabi ist in den ersten zwei Minuten in einer Ganzkörperansicht sichtbar, sein beobachtender Blick wechselt von links nach rechts, um sich dann wiederum auf das Messer und seine Fingernägel zu konzentrieren. Ohne ihn zu registrieren, ziehen Passant/innen an ihm vorbei. In der nächsten Einstellung steht Mladen vor einer Wand mit zerrissenen Plakaten und setzt hier seine Spielerei mit der Klinge fort. Wiederum lässt er seinen Blick durch die Gegend schweifen. Durch eine Nahaufnahme sind im Hintergrund Plakate zu erkennen, auf denen der deutsche Musiker Till Brönner und der britische Sänger Robbie Williams abgebildet sind. Aufgrund der Gegenüberstellung von zwei sehr unterschiedlichen Bildern von Männlichkeit entsteht ein eigentümlicher Kontrast, der Mladens migrantisch bedingte Alterität noch intensiver markiert und ihn klar von westlichen, maskulinen Idolen abgrenzt. In der nachfolgenden Szene lehnt der Protagonist in einer machoartigen Position an der Motorhaube eines Autos. Es folgen Close-ups seines Gesichtes mit der in Falten gelegten Stirn und Detailaufnahmen seiner nach wie vor mit dem Messer beschäftigten Hände. 29 Vgl. „Wenn Blicke töten könnten…“. Künstlerische Inszenierungen migrantischer Männlichkeit. Shahram Entekhabi im Gespräch mit Kea Wienand, in: Kampmann, Sabine/Karentzos, Alexandra (Hg.), kritische berichte 35:4 (2007), 61–64, hier 63–64.

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Abb. 99

Zuletzt befindet sich Mladen wieder inmitten der Oranienburger Straße. Er steckt das Messer weg, streift mit der Rechten über seinen Schnauzer, bewegt sich direkt auf die Kamera zu und verschwindet in der rechten Bildhälfte. In einem Gespräch mit Kea Wienand erwähnt Entekhabi sämtliche Aspekte, die für die Videoarbeiten „Mladen“ aufschlussreich sind. Zum einen, so der Künstler, sei es nicht von Bedeutung zu wissen, dass er der Performer der Figur Mladens sei. Andererseits basiert die Inszenierung von migrantischer Männlichkeit auf seinen persönlichen Erfahrungswerten im Kontext der patriarchalen Gesellschaftsstruktur Irans, in der er aufgewachsen ist. In Westeuropa wurde das von ihm internalisierte Bild des stolzen, kräftigen und selbstbewussten Mannes mit anderen Männlichkeitskonzepten konfrontiert. In dieser Hinsicht spricht er von gebrochenen, „feminisierten“ Varianten, wie sie etwa von dem Dandy, dem Intellektuellen und dem alternativ-spirituellen Mann verkörpert werden.30 Die Figur des „Mladen“, in der mehrere Formationen der tradierten Maskulinität kollidieren, generiert zum klischeehaften Stereotyp: „Ganz klar: Mladen ist keiner von ‚uns‘. Und Mladen gibt es natürlich als solchen nicht oder nicht mehr, er ist ein Klischee. Wenn ich diese Stereotype wie Mladen inszeniere, durchlaufe ich immer eine Art Metamorphoseprozess. […] Ich erwecke das Klischee zum Leben, das eine Bedrohung ist, ein ‚Krimineller‘, wie du sagst, der mit dem Messer rumfuchtelt. Aber: In meinem Video tut er nichts. Er sagt nichts, er geht gegen niemanden aggressiv vor, er ist ein Beobachter.“31

Interessant ist das offensichtliche Spannungsfeld zwischen angenommener Kriminalität und irritativer Passivität, das in der migrantisch konnotierten Person Mladens zum Tragen kommt. Wie auch in anderen Videoarbeiten Entekhabis ist wiederum 30 Vgl. ebd., 61–62. 31 Ebd., 62.

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Abb. 100

das chan­gierende Rollenspiel zwischen Beobachter und Beobachteten im öffentlichen Raum zentral, das zwischen Mladen, den Passant/innen und der Kamera ausgetragen wird. Entekhabi spricht von einer Aufrechterhaltung der Stereotype, da „[…] das, was als ‚das Andere‘, die Abweichung empfunden wird, häufig von den Menschen in der Wahrnehmung vermieden wird.“32 In der Videoarbeit „Mladen“ unternimmt der Künstler den Versuch, Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auch durch die Vermeidung einer narrativen Ebene zu schärfen, um den Blick ausschließlich auf den migrantischen „Anderen“ zu richten. „Es geht nicht um eindeutige Wahrheiten, nicht um den edlen Wilden und die bösen Weißen“33, meint er selbst und spricht sich in dieser Hinsicht gegen Polarisierungen und für Ambiguitäten aus. Wie bereits von Wienand im Interview mit Entekhabi erwähnt, wird durch strategische Interventionen, wie etwa der Narrativität ohne einer wirklichen Narration oder der Dar- und Offenlegung von Blickverhältnissen, das Stereotyp migrantischer Männlichkeit zugleich konstruiert und dekonstruiert.34 Ente­khabi hat diese Dekontruktionsverfahren von klischeehaften Fremdbildern wie folgt beschrieben: „Ein Klischee muss zunächst bedient werden, bevor es unterlaufen werden kann.“35 Zweifelsohne verkörpert Mladen ein derartiges Klischee. Äußere Merkmale wie Gelfrisur, Schnauzer, Lederjacke, Messer sowie Körpersprache und Gestik markieren die Figur als einen sogenannten „Balkanmacho“. Diese Inzenierung ist gekennzeichnet von einer Überzeichnung mit ironisch-zynischen Zügen, die Mladen eine ambivalente, tragisch-komische Wirkung verleiht: Seine demonstrativ „performte­“ Männlichkeit und sein protziges Gebaren weichen immer wieder dem Eindruck seiner eigentlichen Unsicherheit und Verlorenheit im urbanen Kontext.

32 Ebd. 33 Ebd., 63. 34 Vgl. ebd., 64. 35 Ebd., 63.

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Abb. 101

Eine weitere Videoarbeit ist „Islamic Star“ (5:30 min), in der ein vergleichbares, dekonstruktives strategisches Repertoire zur „Ent/Fixierung“ von männlicher – in diesem Fall explizit muslimischer – Identität zum Einsatz kommt. Eine männliche Person mit grauer Bundfaltenhose, weitem weißen Hemd, Kopfbedeckung und schwarzem Vollbart bewegt sich inmitten einer Straße mit zahlreichen Menschen aus dem Hintergrund in Richtung Kamera nach vor (Abb. 100). Seine Bekleidung rekurriert auf jene eines orthodoxen Muslimen. Als er näherkommt, erkennt man eine traditionelle Gebetskette und den in den Brustbereich seines Oberteils angehefteten grünen Stern. Grün gilt als Farbe des Islam, auf den Stern ist der Buchstabe „M“ für „Muslim“ gestickt. Kathrin Becker hat hier auf die starke Symbolik des sichtbaren Sterns verwiesen, der das visuelle Identifikationsmerkmal und die „rassische“ Kennzeichnung von Juden und Jüdinnen zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus in Erinnerung ruft.36 Die musikalische Kulisse besteht aus einer Verschränkung von arabischer und iranischer Musik. Während er darauf wartet, eine Straße zu überqueren, steht neben ihm eine Frau, die ihn zunächst ignoriert und dann doch von der Seite mustert. Nachdem er den Fahrweg passiert hat, verharrt er neben mehreren anderen Passant/innen vor der nächsten Straße. Alle setzen sich in Bewegung und keine Person scheint ihn wahrzunehmen. Eine Totale zeigt ihn, wie er inmitten einer Menschengruppe steht und seine Gebetskette benutzt (Abb. 101). Wiederum nehmen die Menschen keine Notiz von ihm. Die nächsten Einstellungen geben ihn in Rückenansicht wieder, wie er isoliert und wie eingefroren auf einem breiten Gehsteig neben Geschäftslokalen verweilt und die Perlen der Kette mit seinen Fingern abtastet. Lediglich ein Passant blickt ihn im Vorbeigehen an. Es folgt eine Profilansicht des „orthodoxen Muslims“, der seine Augen geschlossen hat und diese langsam, fast zögerlich, wieder öffnet und dann wieder schließt. Die nachfolgenden Nahansichten seines Gesichtes und seiner Hand mit der Gebetskette deuten darauf hin, dass er mit voller Konzentration in sein Gebet versun36 Vgl. Becker, Words about M, 31.

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Abb. 102

ken ist und sein Umfeld weitgehend ausblendet. Auch in späteren Sequenzen wird er von den an ihm vorbeigehenden Personen kaum wahrgenommen. Nach einer gewissen Zeit setzt sich wieder in Bewegung und überquert erneut zwei Straßen. Ein Pärchen mittleren Alters dreht sich nach ihm um und der Mann greift sich mit der Hand auf den Kopf. Es bleibt jedoch unklar, ob sich diese Geste auf den Protagonisten bezieht, der bereits aus dem Bild verschwunden ist. Dieser sitzt in der Folge neben anderen Personen auf einer Parkbank und ist nach wie vor mit seiner Gebetskette beschäftigt (Abb. 102). Die letzte Einstellung im Video zeigt eine Detailaufnahme seiner Brust mit dem angehefteten grünen Stern. Im Hintergrund sind verschwommen eine stark befahrene Straße und die zum Teil bereits eingeschaltenen Abblendlichter der Autos erkennbar. Anhand der von ihm verkörperten (Video-)Figur des orthodoxen Muslims visualisiert Entekhabi wiederum Differenzen, die ihn deutlich von anderen Personen im öffentlichen Raum abgrenzen. Die ethnisch-religiös bedingte Alterität des „Anderen“ wird nicht nur durch das äußere Erscheinungsbild des Protagonisten akzentuiert, sondern gleichermaßen auch durch dessen Verhalten, wenn er beispielsweise die Gebetskette benutzt. Das indexikalische Zeichenrepertoire für die Konstruktion eines Fremdbildes beschränkt sich also nicht nur auf Kleidung, den aufgenähten Stern und den Vollbart: Ähnlich wie in den bereits vorgestellten Videoarbeiten werden Differenzartikulationen vor allem auch in den Blickverhältnissen und den damit verbundenen Wahrnehmungsformen sowie den nonverbalen Interaktionen zwischen Beobachter/ innen und Beobachteten manifest. Neben dieser subtilen Ebene sind es jedoch auch bestimmte Komponenten wie etwa der Stern, der aufgrund seines starken und ambivalenten Symbolgehaltes hervorsticht. Durch die grüne Farbe und das eingestickte „M“ wurde dieser vom Künstler mehr oder weniger „islamisiert“. Zudem trägt Ente­ khabi­dieses Identifikationszeichen sichtbar auf seiner Brust und gibt sich somit bewusst als „Fremder“ bzw. „Muslim“ zu erkennen. Der Stern, mit dem die jüdische Bevölkerung im Deutschen Reich und in besetzten Gebieten während der NS-Zeit gezwungen wurde, sich zu markieren, gilt als sichtbare und aggressive Maßnahme für

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Abb. 103

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Abb. 104

rassistische Diskriminierung, Deportationen und den Holocaust. Entekhabi rekurriert auf den Symbolgehalt des Sterns als Marker für ethnische Alterität, modifiziert diesen durch Farbänderung und den Buchstaben „M“ und transferiert ihn in einen anderen raumzeitlichen und kulturellen Kontext. Ausschlaggebend dabei ist vor allem die Tatsache, dass er mit diesem Zeichen die von ihm verkörperte Figur des „orthoxen Muslims“ als Außenseiter markiert. In diesem Zusammenhang ist es interessant, auf Shahram Entekhabis performative Videoarbeit „Rahro“37 (5:44 min) hinzuweisen, die während seines Residency-Aufenthalts in Linz/Oberösterreich, im Jahr 2012 entstand. Wie auch in „Islamic Star“ steht wiederum eine religiöse Person im Mittelpunkt. Mit seiner Inszenierung eines kirchlichen Amtsträgers rekurriert der Künstler auf die römisch-katholische Glaubensrichtung, die mitgliederstärkste Konfession des Christentums in Österreich. Seine Robe besteht aus einem Hemd, einer Weste, einem mantelartigen Übergewand sowie einer überdimensionierten schwarzen Kopfbedeckung, die an einen Prälaten- oder Kardinalshut erinnert (Abb. 103–104). Mit ernster Miene und erhabenen Schrittes bewegt sich Entekhabi zunächst durch den Arkadengang des Landhauses in Richtung Kamera; 37 Der persische Terminus rahro lässt sich mit „enger Halle“, „Durchgang“ oder „Korridor“ übersetzen. Als rah-bar wird auch der oberste Rechtsgelehrte, die Führungsautorität bzw. der schiitische, geistliche Revolutionsführer bezeichnet. Über die Übersetzungsmöglichkeiten des persischen Begriffs informierte mich Entekhabi im Zuge der Ausstellungskonzeption „The State of In Between in Contemporary Iranian Art“, Linz, 2012.

242 | Visuelle Identitäten als tonale Kulisse ist Vogelgezwitscher hörbar, das später von musikalischen Klängen abgelöst wird. Der Schattenwurf seiner großen Kopfbedeckung akzentuiert die Dramaturgie seines Auftrittes. Langsam und andächtig zieht er durch das Linzer Altstadtviertel, den ersten Personen begegnet er erst nach etwa drei Minuten. Die Interaktionen beschränken sich auf verwunderte Blicke von Passantinnen und Passanten. Nur in der letzten Szene, in der Entekhabi vor der Pestsäule am Hauptplatz verweilt, tritt eine junge Frau vor ihn und verschwindet wieder. Die Figur des „Rahro“ ist vielschichtig: Während die Bezeichnung auf den geistlichen Revolutionsführer des Schiitentums verweist, rekurriert Entekhabi mit der Kostümierung auf das Ornat der katholischen Kirche. Ähnlich wie in „Islamic Star“ evoziert der Künstler Irritationen und thematisiert durch die Sichtbarmachung von visuellen Differenzen Mechanismen der Abgrenzung und Exklusion. Die Bandbreite an unterschiedlichen Charakteren in Entekhabis Figurenrepertoire umfasst ethnische und religiöse Identitäten, deren Alteritätsaspekt akzentuiert und häufig auch überzeichnet wird. In den vorgestellten Videoarbeiten werden sie performativ inszeniert und in den Kontext von sozialen Beziehungen und Diskursen im öffentlichen Raum gesetzt. Sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdzuschreibungen konstituieren sie sich immer wieder neu und bleiben daher ambivalent. 5.1.3 Zur Performanz des Selbst in weiteren Medien Die Figur des migrantischen, ethnisch-religiösen „Anderen“ findet sich nicht nur in Entekhabis Videoperformances, sondern auch in weiteren Medien, mit denen der Künstler arbeitet. In der Folge werden exemplarisch einige Zeichnungen und Fotografien besprochen, die wiederum in enger Verbindung mit seinen Videoarbeiten zu betrachten sind. Die Vorzüge von grafischen Ausdrucksmitteln beschreibt Entekhabi wie folgt: „Compared to the video performances, the drawings allow me a more complex depiction of the inner processes and the outer factors as a base for my protagonists’ actions.“38 Infolge der genannten Qualitäten der Zeichnung ist es wenig verwunderlich, dass der Künstler auch in diesem Medium als Protagonist fungiert. Entekhabi schreibt der Zeichnung komplexere Möglichkeiten zu, innere Prozesse und äußere Faktoren als Handlungsgrundlage für seine Figuren darzustellen. Von Interesse ist also die Frage, wie die grafischen Artikulationsmodi formal für die Visualisierung von Identitätskonstruktionen genutzt werden. In der Serie „Fresh Me“ (2003–10) arbeitet Entekhabi mit Vorlagen aus der orientalistischen Malerei und Fotografie, die er im Zuge des zeichnerischen Prozesses nicht nur kopiert, sondern auch transformiert. Indem er dem Antlitz des Orientalen im „Original“ sukzessive seine eigenen Gesichtszüge einschreibt, scheint er Aspekte seiner iranischen Identität in den Mittelpunkt zu rücken und zu erkunden. In einer 38 Entekhabi, Shahram, Selected Drawings & Works on Paper, http://www.entekhabi.org [Stand: 21.08.2017].

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Abb. 105

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Abb. 106

Zeichnung im Hochformat sitzt eine männliche Figur in Dreiviertelprofilansicht auf einer polsterartigen Unterlage vor einem in Weiß gehaltenen Hintergrund (Abb. 105). Turban, Vollbart und das weite Übergewand weisen ihn klar als Muslim aus. Die blaue, geschwungene Linie in Form eines verkehrten „S“ verbindet ihn mit der kleinteiligen, figurativen und tierischen Formation im Hintergrund. Die Gesichtspartie einer Gestalt ist dort rot eingefärbt und scheint in die Richtung des Orientalen zu sehen, der jedoch seinen Blick gegen linken Bildrand schweifen lässt. Die männliche Figur ist Resultat des Kopievorgangs einer Vorlage. Die einzige und dennoch ausschlaggebende Abweichung findet sich in der Physiognomie, die Entekhabi mit seiner eigenen überschreibt. Die komplexe, ineinander verstrickte Figurenkomposition ist eine eigenständige Kreation des Künstlers. Hinsichtlich der Konstruktion von Identität ist hier der Einschreibungsprozess der eigenen Person in eine orientalische Bildvorlage zentral. Im Zusammenhang damit stehen wiederum Begriffe wie Selbst-Orientalisierung und Selbst-Exotisierung, die von Hamid Keshmirshekan, Combiz Moussavi-Aghdam und Azar Mahmoudian kritisch im Kontext der iranischen Gegenwartskunst betrachtet wurden. Die Zeichnung „Detention“ (2012) führt auf drastische Weise exakt jene Situation vor Augen, die der Titel ankündigt: Arrest, Haft, Internierung (Abb. 106). Die räumliche Atmosphäre einer Gefängniszelle wird durch die schwarzen, vertikalen Striche in schmaler und langer Rechteckform angedeutet, die im Format zentralperspektivisch organisiert sind und eine entblößte, männliche Figur eingittern. Diese Struktur ist mit

244 | Visuelle Identitäten dem Korridor in der Videoperformance „Limbo“ vergleichbar, die Entekhabi gemeinsam mit dem in Teheran lebenden und arbeitenden Künstler Behrang Samadzadegan im gleichen Jahr realisiert hat (Abb. 107). Während im Video beide in unterschiedlichem Tempo nebeneinander, jedoch voneinander abgewandt, auf und ab gehen, liegt Entekhabi in der Zeichnung zusammengekrümmt und lediglich mit einer Unterhose bekleidet am Boden inmitten der Gitterformation. Ins Auge sticht vor allem der große Granatapfel in knalligem Rot, der bedrohlich über dem Künstler zu schweben scheint. In seiner vielfältigen Symbolik in Mythologien und Religionen steht dieser metaphorisch für Fruchtbarkeit und Paradies Abb. 107 und verweist auch auf die persische Kultur und Dichtung. Diametral entgegengesetzt zu dieser Bedeutungsebene wirken in der Zeichnung die zur Schau gestellte Nacktheit und die Isolation des inhaftierten Protagonisten, dessen Schicksal ungewiss ist. Während in „Fresh Me“ und „Deten­tion“ subtile Bezugnahmen auf die orientalische und persische Kultur feststellbar sind, stellt Entekhabi in der Serie „Carrying Man“ (2012) wiederum die von ihm verkörperte Figur des Migranten in den Mittelpunkt.39 In Rekurs auf den in früheren Videoperformances entwickelten „migrantischen Prototyp“ reflektiert er in den insgesamt vierzehn Zeichnungen Aspekte seiner Biografie, die von mehrfachen Ortswechseln und damit verknüpften Identitätssuchen geprägt ist. Die Blätter zeigen den Künstler, der entweder nackt oder mit einem Anzug bekleidet ist, mit einem Reisekoffer, dem je nach Bildthema eine unterschiedliche Rolle und Funktion zukommt. Während er selbst in einem zarten Rotton dargestellt ist, sind das Gepäckstück und die anderen Bildgegenstände in Blau gehalten. Aus dem Kalt-Warm-Kontrast resultiert eine klare Differenz zwischen der Person des Migranten und den anderen Bildmotiven. Der scheinbaren Raumlosigkeit und dem Schwebezustand entgegen wirken die perspektivischen Verkürzungen und Bewegungsabläufe des Protagonisten, die ein räumliches, wenn auch nicht sichtbares Setting evozieren. Die Künstlerfigur befindet sich somit in einem eigentümlichen Spannungsfeld, das auf ihre Platzierung in einem 39 Vgl. dazu auch: Allerstorfer, Julia, Transmigration, „Traveling Cultures“ und kulturelle Hybridisierung. Zum Bildmotiv des Reisekoffers in künstlerischen Praxen „in-between“, in: Sauer, Hanjo/Allerstorfer, Julia (Hg.), Migration in Theologie und Kunst. Transdisziplinäre Annäherungen (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 31), Frankfurt/Main et al. 2017, 101–120.

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illusorisch-imaginativen und auf ihre Deplatziertheit in einem de facto nicht sichtbar vorhandenen Raum zurückzuführen ist. Die Serie umfasst Blätter, die ironisch-humorvoll anmuten: So vollzieht Entekhabi einen Kopfsprung in den Koffer und scheint in einer anderen Szene wiederum aus ihm aufzutauchen (Abb. 108). Der Koffer dient dem Protagonisten auch als Transportmittel, wenn er von Luftballons getragen (Abb. 109) wird oder als Ruderboot verwendet wird, auf dem er nackt sitzt und ein Paddel in den Händen hält (Abb. 110). In anderen Blättern wird die ambivalente Beziehung zwischen dem Migranten und seinem Reisekoffer thematisiert: Während Entekhabi das Gepäckstück einerseits umarmt und somit seine Zuneigung bekundet, illustrieren weitere Zeichnungen Situationen der Aussichtslosigkeit, Verzweiflung und Selbstaufgabe. In unmittelbarer Anspielung auf den Titel wird der Koffer einmal als Symbol für Last und Bürde unter großer Kraftanstrengung mit einem Seil nachgezogen oder aber das Gepäckstück wird von Entekhabi überhaupt zurückgelassen und er geht davon. Die wohl makaberste Szene der ganzen Serie ist jenes Blatt, in welcher der Koffer als wegziehbarer Untersatz im Zuge eines Suizidversuchs durch Erhängen fungiert (Abb. 111). Migrantische Identität wird in „Carrying Man“ durch die komplexe Beziehung zum und das mitunter frustrierende Abhängigkeitsverhältnis vom Reisekoffer artikuliert, der Entekhabi als fixes Bild-Accessoire kontinuierlich „begleitet“. Als Indikator für Migration, Transit

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und Heimatlosigkeit kann dieser als Metapher für das Leben zwischen zwei oder mehreren Kulturen und eine hybride Konstitution von Identität interpretiert werden.40 Performative Strategien für die Repräsentation von ethnischer und geschlechtlicher Identität/Alterität finden sich auch in Entekhabis Fotografien, die häufig im Zusammenhang mit seinen Videoarbeiten entstehen. Die Serie „My Super Heroes“ (2005–10) umfasst zwölf Fotos, in denen Entekhabi in frontaler Ganzkörperansicht verschiedene Männlichkeitsbilder inszeniert (Abb. 112). Die dargestellten Figuren verweisen meist auf Repräsentanten minorisierter und diskriminierter gesellschaftlicher Randgruppen oder Außenseiter, weswegen ihre Bezeichnung als „Superhelden“ ironisch zu verstehen ist. Ihre Positionierung in einem nicht näher definierten, monochromen räumlichen Kontext verleiht ihnen zudem eine ikonische und zeitlose Aura, die dazu beiträgt, sie als statische Klischeebilder festzuschreiben. Zu den Protagonisten zählen beispielsweise Miguel, Mehmet und Islamic Star (alle 2005) aus den bereits besprochenen Videoarbeiten. Auch die stereotype Figur des Migranten mit schwarzem Anzug und Reisekoffer (2005) ist Teil der Gruppe. In einer Fotografie aus der Serie „Per un pugno di euro“ (2007) schlüpft Entekhabi offensichtlich in die Rolle eines Chauvinisten: Während er seinen Arm besitzergreifend um seine weibliche Begleiterin mit Ziehharmonika legt, platziert er seinen rechten Fuß auf dem Knie einer vor ihm hockenden, jungen Frau mit Schelle (obere Reihe, Bild 6). Mit ihrer Aufmachung, der bunt gemusterten Bekleidung und den Accessoires verweisen die Figuren ganz klar auf eine weitere soziale Randgruppe, die unter der stigmatisierenden und rassistischen Fremdbezeichnung „Zigeuner/in“ oder dem weniger diskriminierenden Begriff „Sinti und Roma“ subsumiert wird. In „Who’s afraid…“ (2007) sieht man Entekhabi in einer machohaften Pose mit Rasierschaum im Gesicht und eine Dame in elegantem Abendkleid, die im Begriff ist, ihn mit einer Klinge zu rasieren (untere Reihe, Bild 5). Bei „Bajazzo“ und 40 Vgl. ebd., 103f.

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„Haji Firouz“ (beide 2007) handelt es sich um Clownfiguren, wie sie in Italien und Iran üblich sind (obere Reihe, Bild 2 und 3). Mit der Inszenierung von „Cassandra Bellalorquen“, „Young Lady Petula“, „Trisha“ und „Dominatrix Elastica“ (alle 2007) greift der Künstler Queer- und Transgender Themen auf (untere Reihe, Bild 1–4). Alle weiblichen Charaktere haben ihre eigene Geschichte und spezifische Persönlichkeitsmerkmale, die Martina Schoene-Radunski in vier Kurztexten unter dem Titel „One Person’s Trash is Another Person’s Treasure“ beschrieben hat.41 Einige der Fotografien aus der Serie „My Super Heroes“ sind im Zuge von Entekhabis gleichnamigen Videoperformances entstanden, andere gehen auf eigenständige künstlerische Projekte zurück. Der Zyklus fungiert als eine Werkzusammenstellung von performativen Rollenspielen des Künstlers, die sein chamäleonartiges Wechseln zwischen Identitäten, Selbst- und Fremdbildern dokumentiert. Wiederum handelt es sich um stark überzeichnete Figuren, mit denen Ente­khabi auf ironisierende und mitunter humorvolle Weise sowohl Geschlechterstereotype als auch Bilder ethnischer Alterität zu dekonstruieren versucht. In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass der Fokus auf den eigenen Körper und die Performanz des Selbst nicht nur auf Entekhabis Videoarbeiten beschränkt bleiben. Diese Aspekte finden auch in anderen Medien – wie etwa in der Zeichnung und Fotografie – ihre kontinuierliche Thematisierung. Selbstinszenierungen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk des Künstlers und formieren daher ein zentrales Charakteristikum in seinem Schaffen.

5.2 Entekhabis Selbstinszenierungen im Vergleich Shahram Entekhabis performative künstlerische Praxis soll in der Folge in einen breiteren Kunstkontext gestellt werden. Von primärem Interesse ist die Frage, ob und inwiefern sich die visuellen Strategien der De/Konstruktion von Identität(en) in seinen Selbstinszenierungen mit jenen in Werken anderer Künstler/innen vergleichen lassen. Wie auch bei Simin Keramati werden Entekhabis Videoarbeiten daher zunächst Arbeiten von Künstlern gegenübergestellt, die in Iran leben und arbeiten. Da Entekhabi ein enges Verhältnis zu seinem Geburtsland und intensive Kontakte zu iranischen Kunstschaffenden pflegt, ist es relevant, die wechselseitigen Austauschprozesse und ihre Rückwirkungen auf seine künstlerische Praxis zu untersuchen. Interessant ist hier vor allem die Frage nach feststellbaren Parallelen oder Differenzen in den visuellen Artikulationsformen einer spezifisch maskulinen „iranischen“ Identität. In einem nächsten Schritt wird versucht, Entekhabis künstlerische Arbeiten im Feld der transnationalen postmodernen und zeitgenössischen Kunst zu verorten. Kontextsensibilität und ein 41 Vgl. Schoene-Radunski, Martina, „One Person’s Trash is Another Person’s Treasure, http://www. entekhabi.org [Stand: 29.10.2017]. Für jeden weiblichen Charakter wurde von Entekhabi ein monologartiger kurzer Text verfasst, in dem sich die weiblichen Figuren vorstellen. Vgl. auch: Entekhabi, Shahram (Hg.), One Person’s Trash Is Another Person’s Treasure, The Half-Yearly Magazine 2, Muscles and Masculinities, Zug 2008, 25–51.

248 | Visuelle Identitäten Bewusstsein für die verschiedenen historischen, kulturellen und sozio-politischen Verhältnisse gelten als Voraussetzung für die vergleichenden Analysen. Aufgezeigt werden soll, wie Entekhabi Aspekte transkultureller Beziehungsgeflechte und transnationaler Verbindungen produktiv für Identitätsfragen nutzt. 5.2.1 Entekhabi im Vergleich mit in Iran lebenden Künstlern Im Zuge der Werkbesprechungen im letzten Kapitel wurde herausgearbeitet, dass Entekhabi immer wieder Bezüge zu kulturellen Spezifika und bestimmten Sujets herstellt, die auf sein Geburtsland Iran verweisen. Der Künstler, der mittlerweile seit über dreißig Jahren in Berlin lebt und arbeitet, wird von der Aaran Gallery in Teheran vertreten42 und in Einzel- und Gruppenausstellungen in diversen Galerien der iranischen Hauptstadt präsentiert.43 Dass Entekhabis Beziehungen zur Kunstszene in Iran aktiver und dialogischer Natur sind, spiegeln auch seine Vernetzungen zu und künstlerischen Kollaborationen mit mehreren Kunstschaffenden wider. In dieser Hinsicht wurden in den Jahren 2011 und 2012 zwei Videoperformances realisiert, die in der Folge vorgestellt werden. Eine dieser Arbeiten ist in Zusammenarbeit mit neun weiteren Künstlerinnen und Künstlern in der Aaran Gallery in Teheran entstanden. Die andere Performance wurde gemeinsam mit dem iranischen Künstler Behrang Samadzadegan während eines Residency-Aufenthaltes im Atelierhaus Salzamt in Linz/Oberösterreich produziert. Wie auch die Verarbeitung und Transformation von heterogenen Bildmotiven und die Herstellung von multidimensionalen Bedeutungsebenen zeugen auch diese gemeinsamen Projekte von Entekhabis transkultureller künstlerischer Praxis. Diese wird an späterer Stelle theoretisch kontextualisiert und mit der Bhabhaschen Begriffsbildung der Hybridität und den sogenannten in between spaces betrachtet. Das Thema der Videoperformance „Carousels“ (4:02 min, 2011), an der neun iranische Künstler/innen als Protagonist/innen mitwirkten, ist Entekhabi zufolge das Konkurrenz- und Wettbewerbsverhalten unter Kunstschaffenden: „The participants of the performance are all Iranian artists and the video is also meant to be a commentary to the competition in the art system.“44 Es ist anzunehmen, dass der institutionskritische Grundtenor hier insbesondere auf das iranische Kunstsystem und aller Wahrscheinlichkeit nach auf die vitale, jedoch konkurrierende Galerienszene in Teheran bezogen 42 Vgl. http://www.aarangallery.com/artists/shahram-entekhabi/ [Stand: 21.08.2013]. 43 Vgl. dazu exemplarisch folgende Einzel- und Gruppenausstellungen von 2011–14: „Animal Era“, Aaran Gallery, Tehran 2014; „You Are What You See“, exhibition of video works by Shahram Ente­ khabi and Celia Eslamieh Shomal, Raf Art Gallery, Tehran 2013; „Limited Access Festival“, in collaboration with Aaran Gallery, Tehran 2013; „Postpop“, Mahe Mehr Gallery, Tehran 2012; „They Go Bang Bang in my Head“, Aaran Gallery, Teheran 2011; „My Super Hero“, Aaran Gallery, Tehran 2011. 44 Diesen Leitgedanken teilt Entekhabi in einem Kommentar zum Video auf der Plattform Vimeo mit: https://vimeo.com/61334863 [Stand: 21.08.2013]. Bei den teilnehmenden Künstler/innen handelt es sich um Haleh Anvari, Mona Agha Babaee, Jinoos Taghizadeh, Afrooz Nasser Sharif, Majid Biglari, Behrang Samadzadegan, Siyamak Filizadeh, Amir Mousavi und Hadi Nassiri.

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ist. Zu Beginn des Videos führt die Kamera in einen großen Ausstellungsraum der Aaran Gallery im Untergeschoß, in dem sich mehrere Personen befinden. Sie folgt einem Mann mit schwarzem T-Shirt und einem Teeglas in der Hand, der sich einem anderen, der sitzt und raucht, nähert und diesem völlig unerwartet eine Ohrfeige erteilt. Sichtlich geschockt steht dieser auf, während der andere seinen Platz einnimmt. Die irritierende Aktion setzt sich fort: Der Geohrfeigte bewegt sich durch den Raum und schlägt eine lesende Frau, die sich erhebt, ihre Wange reibt und sich wiederum auf die Suche nach einem neuen Opfer macht (Abb. 113–114). Niemand der Anwesenden erhebt die Stimme, es sind lediglich Schritte zu vernehmen. Entekhabi, der scheinbar ahnungslos an einem Fenster lehnt, ist die fünfte Person, die eine Ohrfeige erhält. Daraufhin verlässt er den Raum in Richtung Toilette und schlägt die Person, die gerade herauskommt. Das „Spiel“ nimmt seinen weiteren Verlauf, bis derjenige wieder an der Reihe ist, der mit dieser Aktivität begonnen hat. Dieser stürmt aus dem Galerieraum nach draußen. Entekhabi, der das Konzept dieser Videoperformance entwickelt hat, positioniert sich hier bewusst im Kreise anderer iranischer Kunstschaffender und gliedert sich in einen scheinbar regulierten, jedoch unhinterfragten Handlungsverlauf ein. Auch er verteilt eine Ohrfeige, die hier sinnbildlich für das Konkurrenzverhalten und einen „natürlichen“ Wettbewerb steht, im Zuge dessen bestimmte Ziele wie etwa die Wahrnehmung im nationalen und internationalen Kunstbetrieb und Kunstmarkt verfolgt werden. Wirtschaftswissenschaftlich betrachtet, bedingt dabei ein höherer Zielerreichungsgrad des/der einen für gewöhnlich einen geringeren Zielerreichungsgrad des/der anderen.45 In der Videoperformance gibt es aber weder Gewinner/innen noch Verlierer/innen; die einkassierten Ohrfeigen werden sofort weiterverteilt, bis die Handlungsabfolge von jemandem durchbrochen wird. Die drastische Zurschaustellung der offensiven und schonungslosen „Ellbogentechnik“, die den Kunstmarkt beherrscht, ist daher als institutionskritischer Kommentar zum Betriebssystem Kunst in iranischen und globalen Kontexten zu betrachten. Mit einer grundlegenden Skepsis beleuchtet Entekhabi sowohl die vieldebattierten Anpassungsversuche iranischer Künstler/innen 45 Vgl. Springer Gabler Verlag (Hg.), Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Wettbewerb, http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/9242/wettbewerb-v10.html [Stand: 30.10.2017].

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an die neoorientalistisch konnotierten Erwartungshaltungen internationaler Kunstbetriebe, als auch die hegemonial-exklusiven Mechanismen der Kulturpolitiken des euro-amerikanischen Raumes. Die nicht immer konfliktfreie Beziehung und das Kommunikationsverhalten zwischen iranischen Künstlerinnen und Künstlern inner- und außerhalb Irans zählten zu den thematischen Schwerpunkten des Artist-in-Residence-Programmes und der Ausstellung „The State of In Between in Iranian Conteporary Art“ im Atelierhaus Salzamt in Linz/Oberösterreich 2012.46 Im Zuge ihres Aufenthaltes realisierten Shahram Entekhabi und Behrang Samadzadegan mehrere künstlerische Arbeiten, in denen sie der genannten Problemstellung des fehlenden Austausches nachgehen. In einem Fotozyklus und einer Videoperformance wird das ambivalente Verhältnis zwischen einem „deutsch-iranischen“ Künstler aus Berlin und einem „iranischen“ Künstler aus Teheran charak­terisiert, die im Zuge eines Gruppenausstellungsprojektes zusammentreffen. Eine Fotografie aus der Serie „Betwixt“ (2012) zeigt Entekhabi und Samadzadegan in zwei nebeneinanderliegenden Telefonzellen mit einem Hörer in den Händen (Abb. 115). Durch die einander zugewandten Rücken ist neben der räumlichen Separation auch eine massive psychologische Distanz spürbar. Staci Scheiwiller hat vorgeschlagen, dass die angedeuteten Einzelgespräche in der Telefonzelle nicht als solche zu betrachten sind, da beide Künstler eigentlich miteinander sprechen. Diese Inszenierungsform ist wiederum als ein Verweis auf die fehlende Kommunikation zwischen Künstlerinnen und Künstlern inner- und außerhalb Irans zu verstehen. Die Frustrationen aufgrund der Unmöglichkeit, den anderen zu hören oder zu verstehen, spiegelt sich in den Körpersprachen der Protagonisten wider: Während Entekhabi eine Hand vor sein Ohr hält, hat Samadzadegan den Rücken leicht gekrümmt und stützt sich an der Ablage der Telefonzelle ab.47 Die Schwierigkeiten in und mit der Verständigung lassen 46 Vgl. dazu den Blog des Atelierhauses Salzamt: http://blog.salzamt-linz.at/2012/06/29/in-between/ und http://blog.salzamt-linz.at/2012/07/09/in-between-ausstellungsfotos/ [Stand: 30.10.2017]. 47 Vgl. Scheiwiller, Staci, Miyan-e Mahdoudiat-ha ya Marz-ha? Contested Agency in Contemporary Iranian Art, in: Entekhabi, Shahram/Atelierhaus Salzamt Linz (Hg.), We are Standing Outside

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sich mit spezifischen Aspekten in iranischen Kunstdiskursen in Verbindung setzen, die Scheiwiller mit Blick auf die Fotografie aus der Serie „Betwixt“ wie folgt beschreibt: „In Contemporary Iranian Art discourses, a tension is growing that involves the agency of speaking – who can speak for whom? Who is an Iranian artist? And most of all, what is Contemporary Iranian Art?“48 Fragen wie diese sind wiederum im Zusammenhang mit unterschiedlichen Auffassungen vom Identitätsbegriff in Iran und der iranischen Diaspora zu betrachten, die in diversen theoretischen Abschnitten des Buches bereits diskutiert wurden und in Kapitel 5.3. in Bezug auf Shahram Entekhabi wieder aufgegriffen werden. Ein weiteres künstlerisches Projekt von Entekhabi und Samadzadegan, das während ihres Linz-Aufenthaltes entstand, ist die Videoperformance „Limbo“ (57:30 min, 2012), die im Kontext von Entekhabis Zeichnungen bereits kurz Erwähnung gefunden hat. Beide Künstler bewegen sich hier in einem unterschiedlichen Rhythmus und den Blick voneinander abgewandt in einem schmalen Korridor auf und ab (vgl. Abb. 107). In sich selbst versunken, nehmen sie einander nicht wahr und verlieren sich in ihrem monotonen Bewegungsablauf. Die nicht vorhandene Interaktion und Kommunikation wird auch durch den Begriff „Limbo“ angedeutet, der sich mit Schwebezustand, Gefangenschaft oder auch Vorhölle übersetzen lässt. In einem Kurztext zur Videoperformance auf Entekhabis Homepage wird die unsichtbare Grenze zwischen beiden Protagonisten auf psychische Spannungen zurückgeführt, die davon abhalten, den Raum des anderen zu betreten: „What separates the two artists from each other is nothing but air, yet the boundary between them is fraught with psychological tension that bars one from entering the space of the other. In this monotonous pacing, nothing is really accomplished but isolation, ignorance, and misunderstanding. Yet, since only air separates them in this self-imposed limbo, there is still much fluidity and movement between the two – the barrier between them is only a malleable limitation, not an inviolable border.“49

Die scheinbar räumliche, jedoch nicht sichtbare Barriere zwischen den Künstlern ist vielmehr eine psychologischer Natur, die beide in ihrer selbstkonstruierten Isolation gefangen hält. Wie im Text oben angeführt, ist in dem sie trennenden Zwischenraum Luftzirkulation spürbar, die diesen durchlässig macht. Bei der selbstgesetzten Limitation handelt es sich daher nicht um eine unüberwindbare Grenze, sondern um eine durchaus form- und veränderbare Art von Begrenzung. Themen wie Aggression und Autoaggression, die im Kontext von Entekhabis Videoarbeiten „Miguel“ und „Mehmet“ besprochen wurden, finden sich auch in mehreren Performances des iranischen Bildhauers und Installationskünstlers Amir Mobed (geb. 1974 in Teheran/Iran). Ein Beispiel ist das knapp 26-minütige Video „Come Ca-

Time. An Ongoing Artistic Collaboration between Shahram Entekhabi and Behrang Samadzadegan, Linz 2012, 12–15, hier 12–13. 48 Ebd., 13. 49 Entekhabi/Samadzadegan, Limbo, http://www.entekhabi.org [Stand: 30.10.2017].

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ress Me“50 aus dem Jahr 2010, das eine Performance in der Tarahan-e Azad Gallery in Teheran dokumentiert und von Chris Burdens Arbeit „Shoot“ (1971) inspiriert ist. Zu Beginn erscheint ein Text, in dem Mobed über die Verbindung zwischen dem Ausgesetztsein und der Anwendung von Gewalt, über Formen der Machtausübung und Manipulation, über physische und psychische Verletzungen sowie über die Rolle des Künstlers reflektiert. Allerdings stellt er mehr Fragen, als dass er Antworten gibt: „What forces the artist to put their body into injury and sufferance? How does the physical pain relief the psychological hurt? Violence is stripped bare by the shot into the body, but the harm we impose on each other, even though deeper and vaster, is invisible. While we have frequently used violence to different degrees to contempt, intimidate or manipulate the others, shall we actually take the gun and live the life of the criminal? Violence is not limited to what war and injustice enforces to numerous people we regard as ,others‘ in our everyday life, but it is integrated into our daily attitude to our very close ones.“51 

Der Künstler steht in einer gepolsterten weißen Kleidung vor einer Zielscheibe in einem Galerieraum, in den unter Beaufsichtigung von Security-Männern sukzessive junge Frauen und Männer hineingeführt werden. Über seinem Kopf trägt Mobed einen kastenartigen Aufsatz aus Blech (Abb. 116). Die Besucher/innen haben die Möglichkeit, sich auf drei Linien am Boden zu positionieren, über denen in unterschiedlichen Farben „Love you“, „Like you“ und „Hate you“ zu lesen ist. Die Sicherheitsmänner reichen ein Luftdruckgewehr weiter, instruieren kurz über die Funktion und lassen das Publikum auf den Künstler schießen (Abb. 117). Nur wenige entscheiden sich gegen die Gewaltanwendung. Amir Mobed, der immer wieder von einer Kugel getroffen wird, verändert aufgrund der Schmerzen des öfteren seine Position. Zwischendurch werden Sequenzen vor der Galerie eingeblendet, in denen sich jene Personen, die auf den Künstler geschossen 50 Das Video wurde freundlicherweise von der Künstlerin und Kuratorin Sini Coreth zu Verfügung gestellt. Ausschnitte sind auch auf Amir Mobeds Homepage, Youtube und Vimeo abrufbar. 51 Mobed, Amir, Come Caress Me!, http://amirmobed.com/works.php?p=184 [Stand: 30.10.2017].

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haben, untereinander austauschen. Gegen Ende der Performance wirft ein junger Mann das Gewehr plötzliche zu Boden, zerstört es und wird von den Securities hinausgeführt. Auch die noch Anwesenden verlassen den Raum, das zerbrochene Gewehr bleibt hinter der Linie „Love you“ liegen. Das Bild verschwindet und in einer Art Abspann sind Stimmen zu vernehmen, die sich auf Persisch über die Durchführung der Aktion und die Gewaltbereitschaft der Teilnehmer/innen unterhalten. Die englischen Übersetzungen werden in weißen Schriftzügen auf einem schwarzen Grund eingeblendet: „Many believed that nobody will shoot, but I believe if it was continued until 8 o’clock, I would have been shot all over the body.“ Zuletzt ist der verwundete Oberkörper des Künstlers Amir Mobed zu sehen: „[…] You shot a Human!“ In der experimentellen Videoperformance setzt sich Mobed dem Aggressionspotenzial anderer aus, die über ihre Position auf den Linien am Boden und über eine Schussabgabe mit dem Gewehr frei entscheiden können. Insofern fließen auch autoaggressive Aspekte mit ein. In Entekhabis Videoarbeiten „Miguel“ und „Mehmet“ werden vergleichsweise Fremd- oder Selbstverletzungen nur angedeutet und nie tatsächlich vollzogen. Während bei Mobed das Publikum einen aktiven Part einnimmt und zur Partizipation regelrecht aufgefordert wird, bleibt es bei Entekhabi eher passiv. Der Fokus wird hier mehr auf subtile Interaktionen in Form von Blickverhältnissen bzw. Beobachten und Beobachtetwerden gelegt. Beiden Künstlern gemein ist jedoch die bewusst vorgenommene und auffällige Markierung der eigenen Person als Zielscheibe für Gewalt und Diskriminierung, die in Mobeds Arbeit direkter und unmissverständlicher artikuliert wird. Entekhabi performt sowohl Täter-, als auch Opferrollen, wobei die ohnehin nur angedeutete Gewaltanwendung meist gegen ihn selbst gerichtet ist. Mit der im öffentlichen Raum zur Schau gestellten und überzeichneten ethnischen Alterität des kulturell „Anderen“ ist er zwar keinen tödlichen Schüssen, aber zuweilen abschätzigen Blicken ausgesetzt, die ebenso verletzen können.

254 | Visuelle Identitäten Von Interesse ist zuletzt ein Vergleich von Entekhabis performativen Inszenierungen mit den Visualisierungsstrategien von iranischer maskuliner Identität des iranischen Künstlers Sadegh Tirafkan (1965–2013). Die Fotografien der Serie „Iranian Man“ (2000) zeigen eine männliche Figur in halbfigürlicher Frontalansicht, deren Antlitz und vermutlich nackter Oberkörper von einem roten Tuch verdeckt werden. In manchen Fotos hält der Protagonist, bei dem es sich um Tirafkan selbst handelt, ein Schwert (Abb. 118). Die augenscheinliche Ambivalenz besteht in der versuchten Zurschaustellung von männlicher Stärke und Macht sowie des gleichzeitig verweigerten Preisgebens des Gesichtes. Andrea Fitzpatrick beschreibt diese scheinbare Widersprüchlichkeit als ein Spezifikum der fotografischen Praxis des Künstlers, in der er performative männliche Identitäten inszeniert, die sich deutlich von stereotypen Zuschreibungen an Männer aus dem Nahen und Mittleren Osten durch westliche Medien unterscheiden.52 Im Gegensatz dazu akzentuiert Tirafkan Aspekte wie „vulnerability, poeticism, fraternity, and self-effacement.“53 Dass der Künstler in seiner Fotoserie eine spezifisch iranische maskuline Identität zu visualisieren versucht, die von ihm selbst verkörpert wird, geht auch aus einem Statement hervor, in dem er das Konzept und die kulturellen Kontexte der Selbstinszenierungen erläutert: „My initial inspiration for this series came from looking at ancient drawings, existing in places such as Takht Jamshid and Perspolis. In this series of pictures, a man is hiding his face behind a red cloth/towel, which should usually cover the lower body; maybe he is ashamed of his past. We can’t see his face, but he has a sword in his hands. But in some images, you may notice that his hand is up and seems like he is about to give up, maybe after all, he is tired of putting up the veneer of toughness… maybe he is ready to quit.“54

Tirafkans verschleierte Männlichkeitsbilder, mit denen er auf altpersische Bildquellen rekurriert, widersprechen konventionellen Geschlechterrollen und patriarchalen Gesellschaftsordnungen im zeitgenössischen Iran. Es scheint, als ob maskuline iranische Identität weniger zu Schau als in Frage gestellt wird. In vielen Arbeiten von Shahram Entekhabi lässt sich ein ähnlicher Ansatz feststellen. Der Künstler, der während seiner Jugendzeit in Iran mit bestimmten Idealen von Virilität konfrontiert war, hat das Bild des iranischen Mannes nicht nur aufgrund seiner mehrfachen Ortswechsel und Migrationserfahrungen modifiziert. Das Idealbild des heroischen und selbstbewussten Mannes, das freilich auch im deutschsprachigen Raum kursiert, replatziert Entekhabi durch stark überzeichnete Figuren, die häufig Vertreter gesellschaftlicher Randgruppen, Außenseiter oder Antihelden repräsentieren. Mitunter lässt er sich dabei von medial vermittelten Klischeebildern ethnischer Alterität inspirieren, die er transformiert, 52 Vgl. Fitzpatrick, Andrea, Veiled Iranian Identities in the Photographic Art of Sadegh Tirafkan, in: Söll, Änne/Schröder, Gerald (Hg.), Der Mann in der Krise? (Literatur, Kultur, Geschlecht 68), Wien et al. 2015, 182–198, hier 184. 53 Ebd. 54 Tirafkan, Sadegh, zit. nach Seed, John, In Memoriam: Sadegh Tirafkan (1965–2013), in: Huffpost, The Blog, Mai 2013, https://www.huffingtonpost.com/john-seed/in-memoriam-sadegh-tirafk_b_3334525.html [Stand: 30.10.2017].

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reinszeniert und in einem Kunstkontext wiederum vor Augen führt. Ähnlich wie Sa­ degh Tirafkan geht es ihm um Formen der Visualisierung der Krise und Dezentrierung von maskuliner Identität, wobei das spezifisch Iranische nicht unmittelbar im Vordergrund zu stehen scheint. Die Gemeinschaftsprojekte mit iranischen Kunstschaffenden und die vergleichbaren Aspekte in Selbstinszenierungen iranischer Künstler belegen, dass Entekhabi ein dialogisches Verhältnis zu Kolleginnen und Kollegen seines Geburtslandes pflegt und über Diskurse und Positionen im Kunstfeld bestens informiert ist. Bei den Kollaborationen mit Behrang Samadzadegan wie „Betwixt“ oder „Limbo“ stehen Themen wie Kontakt und Kommunikation zwischen Künstler/innen, die in Iran und der iranischen Diaspora leben, im Vordergrund. Auf visueller Ebene wird diese mitunter schwierige Beziehung durch die räumliche Separation, die Isolation und die fehlenden Interaktionsformen der Protagonist/innen angedeutet. Ein weniger positiver Teil von transnationalen Identitätskonstitutionen ist daher auch das Gefühl von fehlender Zugehörigkeit oder Heimatlosigkeit. Im Zuge des in Teheran realisierten Videos „Carousels“ positioniert sich Entekhabi im Kreis seiner iranischen Kolleg/innenschaft, die wie auch andere Kunstszenen von Konkurrenz und Wettbewerb geprägt ist. Von Interesse ist seine Inszenierung als Teil der Gruppe und des iranischen Kunstsystems, wodurch trotz der verteilten Ohrfeigen eine bestimmte Solidarität zum Ausdruck kommt. Mit Amir Mobed und Sadegh Tirafkan verbindet Entekhabi der gewaltvolle Aspekt der körperlichen Selbstaussetzung an ein bestimmtes Publikum oder eine breite Öffentlichkeit sowie die Infragestellung und Dekonstruktion von konventionellen Männlichkeitsbildern. 5.2.2 Kontextualisierung im internationalen Umfeld Nach einem Vergleich mit iranischen Künstlern soll ein Kontextualisierungsversuch der künstlerischen Arbeiten Shahram Entekhabis im transnationalen Umfeld vorgenommen werden. Der Künstler verlegte seinen Lebensmittelpunkt mit Anfang der 1980er-Jahre nach Berlin, realisierte zahlreiche Kunstprojekte rund um den Globus und ist darüber hinaus theoretisch interessiert, kuratorisch aktiv und international gut vernetzt. Es ist also davon auszugehen, dass er über die Kunstgeschichten in euro-amerikanischen und globalen Zusammenhängen gut informiert ist. Wie auch bei Simin Keramati geht es bei den folgenden Gegenüberstellungen um eine konstruktive Analyse von künstlerischen Strategien, die bei den unterschiedlichen Visualisierungsformen von Identität zum Einsatz kommen. Das Zwei- oder Mehrfachselbstbildnis, auf das Entekhabi in seiner Videoarbeit „i?“ rekurriert, ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts ein weitverbreitetes Thema im Genre der Selbstdarstellung. Paradigmatisch hierfür ist eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit einem fünffachen Porträt von Marcel Duchamp (1887–1968) aus dem Jahr 1917, in dem er vor einer Spiegelvorichtung in einem Fotostudio am Broadway sitzt und von

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einer Bildpostkartenmaschine in fünf verschiedenen Blickwinkeln aufgezeichnet wurde (Abb. 119).55 Die Fotomontage, die Duchamp fünffach und jeweils mit einer Pfeife im Mund kreisförmig um einen Tisch angeordnet zeigt, markiert einen Anfang seiner kontinuierlichen Beschäftigung mit der Autorschaftsproblematik und den Repräsentations(un)möglichkeiten von Identität. In einem Blog der National Portrait Gallery der Smithsonian Institution anlässlich der Ausstellung „Inventing Marcel Duchamp. The Dynamics of Portraiture“ heißt es: „By integrating the multiple portrait into his larger body of work, Duchamp transformed a mechanical picture, made by an anonymous camera operator, into a self-portrait that embodied his view of identity as fractured and unstable. It prefigures his creation of various alter egos, such as Rrose Sélavy.“56

Der merkwürdige Effekt der personellen Verfünffachung wird in der Fotomontage durch eine scheinbare Interaktion der „Protagonisten“ verstärkt, die sich in den Blickverhältnissen manifestiert: Zirkular positioniert, scheinen sich alle fünf Duchamps gegenseitig zu betrachten. Die zentral in der Fotomontage platzierte Rückenfigur bietet dem/der Betrachter/in eine Identifikationsmöglichkeit mit der ins Bild blickenden Person und ermöglicht eine unmittelbare Partizipation an der Tischrunde. Ein verbindendes Moment zwischen der Inszenierung Duchamps und Entekhabis ist die Visualisierung von Blickrichtungen und Situationen der Beobachtung durch ein und dieselbe Person, die in den Bildern scheinbar in doppelter oder mehrfacher Form präsent ist: Das vermeintliche Unikat des Künstlers ist mit einem oder mehreren „eigenen“, auf sich selbst gerichteten Blick oder Blicken konfrontiert. Ein weiterer Beobachter, der 55 Für eine detaillierte Studie zu dieser Fotografie vgl.: McManus, James W., Mirrors, TRANS/Formation and Slippage in the Five-way Portrait of Marcel Duchamp, in: The Space Between, Literature and Culture 1914–1915, 4:1 (2008), 125–148. 56 Smithsonian Institution, National Portrait Gallery, http://www.npg.si.edu/exhibit/duchamp/popups/01-02a.html [Stand: 30.10.2017].

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zugleich aufzeichnet und dokumentiert, ist das Auge des Apparates der Foto- bzw. Videokamera. Eine Konsequenz des Spiels mit den multiplen Perzeptionen und Rezeptionen des Selbst durch das Selbst aufgrund von Spiegelvorrichtungen und Montage (Duchamp) sowie von Schnitttechnik und Editing (Entekhabi) sind ein verunklärter Subjektstatus und fragmentierte Identitätskonstitutionen. In der Folge generierte Duchamp ein Alter Ego, dem er mit dem Pseudonym „Rrose Sélavy“ (ausgesprochen: Eros c’est la vie) einen populären Namen gab. Die von Man Ray im Jahr 1920/21 aufgenomme Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt einen geschminkten Duchamp in Dreiviertelprofil mit Pelzkragen und Hut, der sich deutlich als Frau zu erkennen gibt (Abb. 120). Die Inszenierung einer femininen Doppel- oder Parallelidentität, die eines von Duchamps „anderen Ichs“ visualisieren soll, kann Entekhabis Konstruktion eines Alter Egos gegenübergestellt werden, für das er die stereotype Figur des Migranten konzipierte. In Fotografien wie „Cassandra Bellalorquen“, „Trisha“, „Young Lady Petula“ und „Dominatrix Elastica“ (alle 2007) schlüpft er in die Rolle von unterschiedlichen Frauentypen und experimentiert ähnlich wie Duchamp mit Geschlechtsidentitäten. Mit der Strategie der Maskierung widersetzen sich beide Künstler der tradierten Heteronormativität und den damit verbundenen Rollenverteilungen. Die „Kategorie“ Geschlecht wird ebenso wie Autorschaft und Mythenbildung dekonstruiert, Identität erweist sich als ein form- und wandelbares Konstrukt. Zu den dekonstruktiven Strategien im Kontext künstlerischer Selbstbildnisse zählen nicht nur Mehrfachselbstbildnisse, Figureninszenierungen und Rollenspiele. Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Selbstdarstellungspraxen operiert Peter Weibel (geb. 1944 in Odessa/Ukrainische SSR) in seinem Video „Theorem der Identität: Tritität“ (8:35 min, 1975) mit Überblendungseffekten und videotechnischen Bildunterlegungen. Nacheinander eingeblendet werden die Gesichter von Jesus Christus nach einem Gemälde von Piero della Francesca, von Nikolaus Lenau, einem spätromantischen österreischichen Schriftsteller und von Peter Weibel

258 | Visuelle Identitäten selbst (Abb. 121). Parallel dazu werden Zitate der drei Persönlichkeiten vorgelesen: Piero­della Francesca: „Form und Inhalt sind Bruder und Schwester in der ehrwürdigen Halle des Raumes.“ Nikolaus Lenau: „Die Poesie bin ich selber. Mein selbstestes Selbst ist die Poesie.“ Peter Weibel: „Meine Botschaft wirft jeden auf sich selbst zurück.“ In der Folge werden die Gesichter von Christus und Lenau von Weibels Antlitz überblendet, der zugleich Grimassen schneidet: „Die toten Gesichter werden gleichsam zum Leben erweckt und zum Sprechen gebracht […] es entstehen dabei verblüffende Ähnlichkeiten und Wirkungen“ 57, so Weibel. Schubiger hat hier auf die Verbindung zwischen Christuskopf und männlicher Selbstporträttradition hingewiesen, „[…] deren Nähe zu Christusdarstellungen seit Entstehen der Gattung eine Rolle spielte.“58 Die tradierten Darstellungskonventionen eines gottähnlichen Künstlers werden im Video konterkariert, da die Gesichtszüge von Jesus Christus von Weibel überzeichnet werden und nicht umgekehrt. Hand in Hand mit der Überlagerung der Porträts und der tonalen Zitate gehen Transformationsprozesse, die das Theorem einer einzigen Identität radikal in Frage stellen. Auch Weibel scheint einer bildlichen Fixierbarkeit von Identität aufgrund ihrer transitorischen Konstitution skeptisch gegenüberzustehen. In diesem Kontext ist auch das von ihm eingeführte Schachtelwort „Tritität“59 zu betrachten, das sowohl auf die Wesenseinheit Gottes in drei Personen im Kontext der christlichen Theologie, als auch auf den Identitätsbegriff verweist. Versteht man Weibels Überblendungseffekt als einen Vorgang, infolge dessen andere Gesichter durch das eigene überzeichnet werden, jedoch noch vage erkennbar sind, lässt sich eine Verbindung zu Entekhabis visuellen Strategien herstellen. Wie auch in Weibels Video kann bei vielen seiner selbstinszenierten Figuren eine Überlagerung von Bildern beobachtet werden, bei denen es sich um Stereotypenbildungen des ethnisch-kulturell „Anderen“ handelt und die Entekhabis Antlitz und Körper überschreiben. In dieser Melange aus Selbst- und Fremdbildern bleibt die Person Entekhabi jedoch identifizierbar. Während Weibels Videoporträt andere, statische Gesichter überblendet und diese dadurch quasi reanimiert, überzeichnet Entekhabi seine eigene Person mit spezifischen Chargen, die aufgrund ihrer übertriebenen und effekthascherischen Aufmachung ähnlich wie Masken Verfremdungseffekte auslösen. Beiden Videoarbeiten gemein ist der Visualisierungsversuch des hybriden Status von Identität. Einschreibungen in bestimmte Rollenbilder und (Re-)Inszenierungen von geschlechtlichen Stereotypen finden sich bei zahlreichen Künstler/innen des 20. Jahrhunderts. Ein Beispiel dafür ist ein Ausstellungsplakat von Castelli-Sonnabend aus dem Jahr 1974, das den amerikanischen Künstler Robert Morris (geb. 1931 in Kansas 57 Weibel, Peter, Zum Theorem der Identität: Tritität, 1975, http://foundation.generali.at/sammlung/ artist/weibel-peter.html#work=2740&artist=135 [Stand: 30.10.2017]. 58 Schubiger, Selbstdarstellung in der Videokunst, 97. 59 Vgl. Orphal, Stefanie, Poesiefilm. Lyrik im audiovisuellen Medium (WeltLiteraturen 5), Berlin 2014, 109.

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City/Missouri) nackt, in halbfigürlicher Ansicht mit Sonnenbrille, deutschem Militärhelm, Halsband und Stahlkette zeigt: „His powerful muscular build and aggressive stance would seem to confirm a portrayal of ,hyper‘ masculinity, which the military costume both reinforces and cuts.“60 Seine Körperhaltung mit den angewinkelten, muskulösen Armen demonstriert Stärke, Macht und Überlegenheit (Abb. 122). Im Gegensatz dazu symbolisiert das Halsband Lust und Bereitschaft zur Unterwerfung und verweist damit auf BDSM und Fetisch. Durch die plakative Zurschaustellung von homosexuell-sadomasochistischen Vorlieben sowie einer heroisch-dominanten Seite werden tradierte Codierungen heterosexueller Männlichkeit zugleich stabilisiert und parodiert. Die Ambiguität der Signifikanten in dieser provokativen Inszenierung trägt dazu bei, rasche Zuschreibungen und letztendlich auch das Bild einer Hyper-Maskulinität zu dekonstruieren. Auch Entekhabi nimmt in vielen seiner Arbeiten auf Männlichkeitsbilder Bezug, wobei es ihm primär um die Visualisierungsformen von ehtnisch-kultureller Differenz geht. „Miguel“ (Abb. 123), der wie Robert Morris mit militärischen Attributen ausgestattet ist, kann aufgrund der Vielfalt an Referenzen als eine ambivalente Figur bezeichnet werden: Es lassen sich Verbindungen zum kubanischen Kommunismus oder der islamistischen Geheimorganisation Fada‘iyan-e Islam herstellen, geichermaßen verunsichernd ist der ständige Wechsel zwischen den Drohgebärden und dem Lachen. Beiden künstlerischen Positionen gemein ist die ironisierende und überzogene Repräsentation von maskuliner Geschlechtsidentität, die konventionelle Rollenbilder von Männlichkeit subversiv unterlaufen und in Frage stellen. 60 Warr, Tracey (Hg.)/Jones, Amelia (Survey), The Artist’s Body, London 2000, 143.

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In ihren „Untitled Film Stills“ kombiniert Cindy Sherman (geb. 1954 in Glen Ridge/ New Jersey) in formaler Hinsicht das Rollenspiel mit der Gattung der „Film Stills“, die in plakatartiger Form in Schaufenstern für Neuerscheinungen werben. In Rekurs auf eine alltagsästhetische Bildgattung, die zumeist auf amerikanische Filme der 1950er-Jahre bezogen und daher im kollektiven Gedächtnis verankert ist, inszeniert Sherman ihren eigenen Körper in zunächst vertraut anmutenden Rollenbildern. Zwei Schwarz-Weiß-Fotografien der „Untitled Film Stills“ aus dem Jahr 1978 zeigen eine bieder gekleidete Frauenfigur im Außenraum (Abb. 124–125). Aufgrund der fehlenden Erzählstruktur bleibt unklar, „[…] wohin sie gehen oder woher sie kommen“61, sie befinden sich „in einem Dazwischen“62. Die von Sherman entworfenen und zugleich verkörperten weiblichen Charaktere fügen sich daher auch nur scheinbar in das Regelwerk jeglicher Identifikationsmuster. In den nostalgischen Schwarz-Weiß-Fotografien werden traditionelle Weiblichkeitsrollen subtil ihrer vermeintlichen Authentizität beraubt und erfahren eine merkwürdige Entrückung und Verzerrung: Sie scheinen wortwörtlich „aus ‚ihrer‘ Rolle zu fallen“.63 Gabriele Schor beschreibt Shermans Strategie als Akt des Sich-Entziehens, der als „subversiver Widerstand gegen eindimensionale Identitätszuschreibungen“64 betrachtet werden kann. Auch wenn die Kontexte unterschiedlich sind, lassen sich in dieser Hinsicht einige interessante Pa­rallelen zu Entekhabis performative Videoarbeiten im öffentlichen Raum ausmachen. Vergleichbar sind mitunter die körperliche (Selbst-)Inszenierung als „Kunstfigur“ und das strategische Changieren zwischen Evidenz und Artifizialität. Die von Sherman nachgestellten Frau61 Schor, Gabriele, Cindy Sherman. Verwandlung als Widerstandspotenzial, in: Schor, Gabriele (Hg.), Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er Jahre, SAMMLUNG VERBUND, Wien/München et al. 2016, 454–487, hier 456. 62 Ebd. 63 Vgl. Ingelmann, Inka Graeve, Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen, in: Dies. (Hg.), Female Trouble. Die Kamera als Spiegel und Bühne weiblicher Inszenierungen (Ausst.kat. Pinakothek der Moderne, München), München 2006, 29–37, hier 32. 64 Schor, Cindy Sherman, 456.

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entypen basieren auf modifizierten, filmischen Ikonen aus der Populärkultur. Ente­khabis vorgetragene Männlichkeitstypen rekurrieren häufig auf klischeebehaftete und stereotype Bilder der Presse und Medien oder sind Figuren der Kunstund Filmgeschichte entlehnt, die modifiziert werden. Mit Blick auf sein Video „i?“ ist ein weiteres verbindendes Moment zwischen Entekhabi mit Sherman feststellbar: Dabei handelt es sich um die fehlende oder nicht vorrangige narrative Ebene, die häufig der Erwartungshaltung der Betrachter/innen entgegenläuft. Die überzeichneten Inszenierungen von femininen und maskulinen Figuren scheinen Teil einer bestimmten Abb. 126 Geschichte zu sein, die jedoch nur aus ein paar wenigen oder keinen konkreten Handlungsabläufen besteht. Vergleichbar ist auch die ikonische Wirkung der Protagonistin in den vermeintlichen Momentaufnahmen der „Untitled Film Stills“ und des Protagonisten in der fotografischen Serie „My Super Heroes“. „Aneignungen“ von Werken Duchamps, Shermans und anderen „Klassikern“ der Kunstgeschichte zählen zur ästhetischen Praxis des japanischen Künstlers Yasumasa Morimura (geb. 1951 in Tennōji-ku, Ōsaka), der zumeist der Appropriation Art zugeordnet wird. Da er in seinen digitalen Kompositionsfotografien mit gescannten Bildern Reinszenierungen von bereits vorhandenen Werken durch körperliche Selbstinzenierungen vornimmt, geht der Künstler über das bloße Reproduzieren hinaus. Ein zentrales Charakteristikum seiner Arbeiten ist die Auseinandersetzung mit dem Originalitätsbegriff, Fragen der Autor/innenschaft und Themen wie Geschlecht, Identität und Differenz. Ein prominentes Beispiel dafür ist die 1988 entstandene Farbfotografie „Doublonnage (Marcel)“ (Abb. 126), in der ein weiß geschminkter Morimura Marcel Duchamp bzw. sein weibliches Alter Ego „Rose Sélavy“ nachstellt. Neben der körperlichen Replatzierung manifestieren sich die Abweichungen zum „Original“ in den verdoppelten Requisiten (Hut und Stola) und den zwei Paar Händen, von denen sich jene in heller Hautfarbe in Richtung Stola bewegen und von jenen in dunklem Inkarnat umklammert und scheinbar weggezogen werden. Ohne nun detaillierter auf die verschiedenen Interpretationsstränge der Fotografie einzugehen, kann festgehalten werden, dass hier ein physischer Rollenwechsel und ein körperliches Einschreibungsverfahren feststellbar sind. Diese Strategien bezeichnet Mira Fliescher, die Morimuras künstlerische Praxis unter dem Aspekt der medialen Reflexivität untersucht hat, als Signaturen der Alterität.65 Auch Entekhabi verarbeitet Vorbilder aus der Film- und 65 Vgl. Fliescher, Mira, Signaturen der Alterität. Zur medialen Reflexivität der Kunst Yasumasa Morimuras, Bielefeld 2013.

262 | Visuelle Identitäten Kunstgeschichte oder er konstruiert spezifische Charaktere, die von Stereotypenbildungen inspiriert sind. Ähnlich wie bei Morimura zählt die Sichtbarmachung von ethnischer Differenz zu den Hauptmerkmalen in vielen seiner Werke. Während der japanische Künstler Körper und Physiognomie in kanonische, kunsthistorische Werke einschreibt und diese damit transformiert, inszeniert Entekhabi in seinen Videoperformances Fremdbilder des ethnisch-migrantischen „Anderen“ in urbanen Kontexten. Beiden Künstlern gemein ist die Visualisierung von „fremden“ Subjekten durch die strategische „Inbesitznahme“ von Kunst und Raum. In Bezug auf Formen künstlerischer Raumbesetzung ist ein Vergleich der performativen Interventionen Shahram Entekhabis mit jenen des deutschen Künstlers Jürgen Klauke (geb. 1943 in Kliding bei Cochem an der Mosel/Deutschland) interessant. Die erstmals im Jahr 1978 in einem Kulturzentrum in Belgrad aufgeführte, etwa dreißigminütige Performance „The Harder They Come I (Architecture of a City)“ bestand aus einer Installation in Form eines kreisförmigen Labyrinths aus Ziegelsteinen und Schnüren sowie einer Endlosschleife von Jimmy Cliffs gleichnamigem Song. Klauke, der zunächst um den Kreis herumlief, übersprang in der Folge die Barrikaden und blieb dabei an den Schnüren zwischen den Steinen hängen, schleifte die Ziegel nach und kam letztendlich durch deren Gewicht zu Fall.66 Die mehrfach aufgeführte Performance wurde 1979 im Innenhof des Museum of Sydney in variierter Form wiederholt. Klauke errichtete fünf parallele Ziegelsteinmauern mit unterschiedlichen Höhen und begann nach einer Tanzeinlage zur Musik von Cliff, die Hindernisse zu übersteigen, wodurch Steine zu Boden fielen, über die er stolperte. Auch aufgrund des Dagegenprallens mit Armen oder ganzem Körper waren die Strukturen rasch beschädigt. In einem Zerstörungsakt stieß er auch die letzte Mauer um und verließ den Platz mit körperlichen Verletzungen über die Trümmer hinweg (Abb. 127).67 Protest und Selbstfindung durch Aggression und Selbstverletzung waren Kennzeichen von Klaukes frühen performativen Arbeiten, die unter dem Zeichen einer, wie es der Künstler selbst formulierte, „Aufräumarbeit“ standen.68 Trotz der unterschiedlichen Konzepte in der performativen Praxis lässt sich Klaukes Video-Live-Act in gewisser Hinsicht auch mit Entekhabis Videoperformances aus dem Jahr 2005 vergleichen. Während Klaukes Arbeit eine inszenierte und terminisierte Live-Aktion vor einem geladenen Publikum ist, werden Entekhabis Performances von einer meist nicht sichtbaren Kamera gefilmt. Zudem nutzt er die vorgegebenen Strukturen des städtischen Umfeldes, während Klauke seine Räumlichkeiten erst durch Installationen vorbereitet. Zentral ist hier der Fokus auf die Aktion des Performers, der sich durch eine spezifische und aufsehenerregende 66 Vgl. Klauke, Jürgen, The Harder They Come I, II (Architecture of a City), http://www.juergenklauke.de/main/performance.html# [Stand: 22.08.2013]. 67 Vgl. Klauke, Jürgen, The Harder They Come III (Architecture of a City), http://www.juergenklauke. de/main/performance.html#, http://vimeo.com/6165318 [Stand: 22.08.2013]. 68 Vgl. Herzog, Hans-Michael, Den Tod bewegen und das Leben gefrieren. Prosecuritas. Das Innenleben der Dinge, http://www.juergen-klauke.com/texte/1994_03-herzog.html [22.08.2013].

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Tätigkeit in Szene setzt. Im Gegensatz dazu nimmt Entekhabi die Rolle eines Flaneurs ein, der sich treiben lässt und keiner bestimmten Aktivität nachzugehen scheint. Von Interesse ist eine Gegenüberstellung der körperlichen Selbstinzenierungen im Kontext einer architektonischen Installation (Klauke) und des urbanen Umfeldes (Entekhabi). In beiden Fällen wird auf Barrieren aufmerksam gemacht und gewissermaßen eine räumliche Besetzung und Rückeroberung vollzogen: Klauke überwindet selbstkonstruierte und konkrete Hindernisse in Form von Ziegelmauern, indem er sie übersteigt, später zerstört und dabei verletzt wird. Entekhabi konfrontiert das Publikum mit sichtbarer ethnischer Alterität und sensibilisiert auf diese Weise für Fragen der Differenz, Ab- und Ausgrenzung: Wie wird der Fremde, der migrantische „Andere“ wahrgenommen? Wer sind „wir“, wer die „anderen“? Welche „Feindbilder“ werden auf den Migranten übertragen? Welche Räume kann er im städtischen Kontext „beanspruchen“? Welchen Platz nimmt er in der gesellschaftlichen Hierarchie ein? Die Raumbeanspruchung vollzieht sich bei Entekhabi anhand der bloßen Präsenz der Protagonisten. Die Barrieren und Hindernisse, die seiner Sichtbarkeit im Weg stehen, werden durch die zuschreibenden Blicke seines Umfeldes generiert. Die Gegenüberstellung von Entekhabis Selbstinszenierungen mit ausgewählten Positionen im globalen Kontext hat gezeigt, dass bestimmte Aspekte der Visualisierungsstrategien vergleichbar sind. Ein zentrales Moment ist hier die Akzentuierung der Konstruiertheit von Identität, die als prozessual und verhandelbar aufgefasst wird. Die kritische Auseinandersetzung mit Autorschaft und künstlerischer Mythenbildung vollzieht sich bei Marcel Duchamp sowohl durch das Mehrfachselbstbildnis als auch durch die Ausbildung eines Alter Egos und den Wechsel der Geschlechtsidentität. In seinem Video „i“ verdoppelt Entekhabi seine Person und generiert zugleich einen Prototyp des Migranten, während er in Fotografien der Serie „My Super Heroes“ in weibliche Rollenbilder schlüpft. Mit seinen Überblendungseffekten parodiert Peter Weibel Selbstdarstellungspraktiken in

264 | Visuelle Identitäten der Kunstgeschichte und stellt Identität wie auch Entekhabi in Frage, der in seinen Videoperformances mit Überlagerungen von Fremd- und Selbstbildern am eigenen Körper operiert. Die Verarbeitung von unterschiedlichen Referenzen und die ironisierende Repräsentation von männlicher Dominanz im Selbstbildnis von Robert Morris findet sich in Entekhabis Inszenierung der Figur „Miguel“ wieder. Seine Protagonisten lassen sich zudem mit den ikonischen Kunstfiguren in Cindy Shermans „Untitled Film Stills“ vergleichen, die in narrationslose Zusammenhänge eingebettet sind und zwischen Evidenz und Artifizialität changieren. Während Yasuma Morimura sich durch Appropriationen und modifizierte Reinszenierungen in den kunsthistorischen Kanon im euro-amerikanischen Kontext einschreibt, sind Entekhabis hybride Selbstinszenierungen von der Alltakskultur, Film- und Kunstgeschichte inspiriert. Beiden gemein ist dabei die Sichtbarmachung von ethnischer Differenz. Strategien der Überwindung von physischen und psychischen Barrieren sowie der Rückgewinnung von Raum verbinden Entekhabi mit Jürgen Klauke.

5.3 De/Konstruktionen migrantischer Männlichkeit in transkulturellen Kontexten Wie in den Werkanalysen ausgewählter Selbstinszenierungen in den Medien Video, Fotografie und Zeichnung herausgearbeitet wurde, operiert Shahram Entekhabi mit visuellen Strategien der De/Konstruktion von Identität. Seine künstlerische Praxis mit den vielfältigen Bezügen ist in die Zwischenräume verschiedener kultureller Sphären und demnach transkulturell geprägt. Aufgrund der globalen Migration und der unterschiedlichen Motive für kurz- oder längerfristige Ortswechsel scheinen nationale Zuordnungen und ethnische Kategorisierungen an Relevanz zu verlieren. Somit ist es auch hinfällig, Künstler in migratorisch-diasporischen Lebenssituationen auf die eine Staatszugehörigkeit und kulturelle Identität der jeweiligen Geburtsländer zu reduzieren. Entekhabi wurde 1963 in Borujerd/Iran geboren, studierte zunächst in Teheran und ab 1980 in Perugia und Reggio Calabria, um 1983 schließlich nach Berlin zu wechseln, wo er bis heute lebt und arbeitet. Kann er nach über drei Jahrzehnten in Deutschland noch als „iranischer“ Künstler bezeichnet werden? Ist er demnach ein „deutscher“ Künstler? Oder müsste man ihn strenggenommen einen iranisch-deutschen Künstler mit einem mehrjährigen Studienaufenthalt in Italien nennen? Entekhabi selbst verweigert diverse Zuschreibungen und spricht sich für eine transitorische Identität aus, die durch seine Biografie geprägt ist.69 In dieser Hinsicht ist der Begriff der „Transmigration“ von Interesse. Neben der Emigration/Immigration, der Rückkehr-Migration und der Diaspora-Migration bezeichnet Ludger Pries die Transmigration als einen neuen (Wander-)Typus der internationalen Migration.70 Dieser verweist darauf, dass „[…] der Wechsel zwischen ver69 Vgl. Allerstorfer, Transmigration, „Traveling Cultures“ und kulturelle Hybridisierung, 105f. 70 Vgl. Pries, Ludger, Transnationalismus, Migration und Inkorporation. Herausforderungen an Raum- und Sozialwissenschaften, in: geographische revue 2 (2003), 22–39.

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schiedenen Lebensorten in unterschiedlichen Ländern kein singulärer Vorgang ist, sondern zu einem Normalzustand wird, indem sich der alltagsweltliche Sozialraum der Transmigranten pluri-lokal über Ländergrenzen hinweg zwischen verschiedenen Orten aufspannt.“71 Die sich dadurch herausbildenden, transnationalen Sozialräume verweisen auf neue Formen der Grenzziehungen, die „quer“ zur Herkunfts- und Ankunftsregion liegen. Identitätsstrukturen von Transmigrant/innen sind demnach als multipel zu bezeichnen, da sie sich Elementen mehrerer kultureller Referenzsysteme bedienen und diese zu etwas Eigenem und Neuen transformieren.72 In Bezug auf den Transnationalismus und die Auflösung von geografischen Kategorien ist neben der Transmigration auch das Konzept der Transkulturalität zentral. Nach Wolfgang Welsch beschreibt diese eine veränderte und hybride Verfasstheit von Kulturen, die infolge der Globalisierung zunehmend vernetzt und vermischt wurden/werden. Die sich dabei entfaltende Globalkultur verdrängt ältere Vorstellungen einer homogenen und klar abgrenzbaren Einzelkultur. Diese Globalkultur, die nicht mit einer uniformen Weltkultur gleichzusetzen ist, wird durch Individuen und Gesellschaften getragen, die transkulturelle Elemente in sich vereinen und durch diese geprägt werden.73 Transkulturalität umschreibt die Verflochtenheit, Durchdringung und Hybridisierung von Kulturen in gegenwärtigen Gesellschaften. Auf die Potenziale der Transkulturalität als zeitgemäße Forschungsperspektive in der Kunstgeschichte weisen Monica Juneja und Michael Falser hin: „Das Präfix trans ermöglicht eine Befreiung von jener gängigen Definition von >Kulturen