Verwaltungsgeschichte: Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele. Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428439645, 9783428039647


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German Pages 278 [279] Year 1977

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Verwaltungsgeschichte: Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele. Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428439645, 9783428039647

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 66

Verwaltungsgeschichte Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Rudolf Morsey

Duncker & Humblot · Berlin

VERW ALTUNGSGESCHICHTE

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 66

Verwaltungsgeschichte Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele

Vorträge und Diskussionsbeiträge der verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung 1976 der Hochschule für VerwaltungswiBBenschaften Speyer

herausgegeben von

Prof. Dr. Rudolf Morsey

DUNCKER &HUMBLOT/ BERLIN

Alle Rechte vorbehalten 10 1977 Duncker & Hwnblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 08964 5

Inhalt Vorwort des Tagungsleiters ........................................... Aus der Einführung des Tagungsleiters, Professor Dr. Rudolf Morsey

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Begrüßungsansprache des Rektors, Professor Dr. Dr. Klaus König ...... 15 Begrüßungsansprache des Ministerialdirigenten Professor Dr. Waldemar Schreckenberger ............... • ..... • .................. • ........... 19 Verwaltungsreformen - Vorhaben und Ergebnisse seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts Von Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh, Kiel ................ 23 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr. Günter Püttner, Speyer 61 Triebkräfte und Ziele der Reichsreform nach der Weimarer Verfassung Von Professor Dr. G,erhard Schulz, Tübingen ........................ 71 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr. Rudolf Morsey, Speyer 100 Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt in der Endphase der Weimarer Republik Von Dozent Dr. Dieter Rebentisch, Frankfurt ........................ 107 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr. Rudolf Morsey, Speyer 158 Zielsetzungen und Arbeitsweise der Verwaltungsgeschichte im Rahmen der Verwaltungswissenschaften Von Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann, Berlin .............. 163 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr. Carl Böhret, Speyer .... 183 Personal- und Beamtenpolitik im Übergang von der Bizonen- zur Bun­ desverwaltung (1947 - 1950) Von Professor Dr. Rudolf Morsey, Speyer ............................ 191 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr.Helmut Quaritsch, Speyer 239

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Inhalt

Archivalische Quellen zur Verwaltungsgeschichte und deren Nutzung Von Archivdirektor Professor Dr. Friedrich P. Kahlenberg, Koblenz .. 245 Aussprache zum Referat. Leitung: Professor Dr.Helmut Quaritsch, Speyer 273 Schlußwort des Tagungsleiters ........................................ 277

Abkürzungen BA BGBl. BVerfG CDU CSU DBG DDP DGB DNVP DÖV DVBl. DVP FDP GG HZ KPD NSDAP OVG RGBl. SPD VfZ VVDStRL VWG

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Bundesarchiv Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgericht Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union Deutsches Beamtengesetz Deutsche Demokratische Partei Deutscher Gewerkschaftsbund Deutschnationale Volkspartei Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Volkspartei Freie Demokratische Partei Grundgesetz Historische Zeitschrift Kommunistische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberverwaltungsgericht Reichsgesetzblatt Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer Vereinigtes Wirtschaftsgebiet

Vorwort des Tagungsleiters Die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer veranstaltete vom 8. bis 10. September 1976 im Rahmen ihrer interdisziplinären Fort­ bildungsarbeit eine verwaltungsgeschichtlich ausgerichtete Arbeits­ tagung, die erste ihrer Art. An ihr beteiligten sich neben Fachhistorikern Mitglieder des Lehrkörpers der Hochschule und Praktiker der Ver­ waltung. Die Referate dieser forschungsbezogenen Veranstaltung wer­ den im vorliegenden Band - überarbeitet, teilweise erweitert und in allen Fällen mit Belegen versehen - veröffentlicht, ergänzt um das Ergebnis der jeweiligen Diskussion. Zum Rahmenprogramm dieser Tagung gehörte die Vorführung eines von Professor Dr. Friedrich Kahlenberg kommentierten, in doppelter Hinsicht „historischen" Filmstreifens von Information Services Division, Office of Public Affairs, HICOG, ,,Ein Vorschlag zur Güte. Mißstände in einer Behörde" (1950). Einen eigenen Programmpunkt bildeten ferner die Information und der Gedankenaustausch über die von der Freiherr vom Stein-Gesellschaft geplante Herausgabe eines „Handbuchs der deutschen Verwaltungsgeschichte", über dessen Zielsetzung, Aufbau und Vorbereitungsstand die beiden Herausgeber, Professor Dr. Georg­ Christoph von Unruh und Professor Dr. Hans Pohl, berichteten. Dieses auf fünf Bände konzipierte Projekt fand die einhellige Zustimmung der Anwesenden. Ein Empfang für die Teilnehmer der Tagung durch die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, vertreten durch Ministerial­ dirigent Professor Dr. Waldemar Schreckenberger von der Staatskanzlei in Mainz - inzwischen zum Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei ernannt - bezeugte das Interesse der Landesregierung an dieser Ver­ anstaltung; er wurde auch als Zeichen der Verbundenheit zwischen den Forschern und einem potentiellen „Objekt" ihrer Arbeit begrüßt. Für Hilfe bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung habe ich den Mitarbeitern des Tagungssekretariats der Hochschule für Ver­ waltungswissenschaften Speyer ebenso zu danken wie Fräulein Ursula Siebeneichner, die auch bei der Redaktion dieses Bandes mitwirkte.

Aus der Einführung des Tagungsleiters Professor Dr. Rudolf Morsey Mit dem Hinweis auf das im Programm vorgesehene Gespräch über Plan und Vorbereitungsstand eines „Handbuchs der deutschen Ver­ waltungsgeschichte", also über nichts weniger als eine kleine Jahr­ hundertaufgabe, ist bereits ein Ziel dieser Tagung angesprochen: Sie soll dazu beitragen, die in den letzten Jahren in erfreulichem Ausmaß verstärkten verwaltungsgeschichtlichen Aktivitäten zu koordinieren und gleichzeitig der einschlägigen Forschung durch Beispiele und Frage­ stellungen neue Impulse zu vermitteln. Ein zweites Ziel besteht darin, gemeinsam zu überlegen, auf welche Weise die Ergebnisse der Verwaltungsgeschichte für die - so darf ich es abgekürzt formulieren - ,,allgemeine" Geschichtsschreibung frucht­ bar gemacht werden können. Zweüelsohne steht auch für sie der hohe Stellenwert außer Frage, der dem Verwaltungshandeln im Verfassungs­ staat und vor allem in der rechtsstaatlichen Wohlfahrtsgesellschaft zu­ kommt. Diesen Sachverhalt hat, lange vor Max Weber, 1815 Barthold Georg Niebuhr als Erkenntnis der damals erst wenige Jahre zurück­ liegenden preußischen Reform auf die klassische Formel gebracht, ,,daß die Freiheit ungleich mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung beruhe" 1. Allerdings bleibt oft schwer durchschaubar, wie aus Ver­ waltung Geschichte geworden ist (und wird ). Umgekehrt ist Verwal­ tungspraktikern nicht immer genügend bewußt, daß - um hier meinen Speyerer Kollegen, den Verwaltungswissenschaftler Frido Wagener, zu zitieren - ,,das Verständnis weiter Teile der Verwaltung" Kenntnis der Geschichte voraussetzt2• Das gleiche gilt, was nicht weiter begründet werden muß, für das inzwischen erheblich gewandelte Verständnis von Verfassung. Da aber Verfassung und Verwaltung auch in der Vergangenheit nicht zu trennen sind, so ist es ein drittes Ziel dieser Tagung, seit geraumer Zeit laufende 1 In der Vorrede zu der von ihm herausgegebenen „Darstellung der in­ neren Verwaltung Großbritanniens" von Ludwig Freiherrn von Vincke. Berlin 1815, S. III. Dazu vgl. Fritz Hartung, Der französisch-burgundische Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Behördenverfassung, in: HZ 167, 1943, S. 11; ders., Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, 3. Teil. Berlin 1948, S.14. 2 Neubau der Verwaltung. Berlin 21973, S.13.

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Rudolf Morsey

Überlegungen zu konkretisieren, einen „Arbeitskreis Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte" ins Leben zu rufen. Thematik und Referate dieser Speyerer Arbeitstagung sind vornehm­ lich auf das 20. Jahrhundert und hier wiederum auf die deutsche Ent­ wicklung konzentriert. Dahinter steht keinerlei programmatische Ab­ sicht, sondern die begründete Hoffnung, daß es ein derart eingegrenztes Programm eher erlaubt, die Ergebnisse der Vorträge und Diskussionen inhaltlich miteinander zu verknüpfen. Selbstverständlich lassen sich auch aus der Sicht jeweils anderer Disziplinen, als sie die Referenten zunächst vertreten, Akzente entsprechend anders setzen, vergleichende Betrachtungen einbeziehen und methodologische Probleme anders an­ gehen oder lösen. Andererseits jedoch erscheint angesichts mancher immer höher geschraubter Vorstellungen von interdisziplinärer Inte­ gration und systematisierender Verallgemeinerung der Zeitpunkt ge­ kommen zu sein, eine Verschnaufpause einzulegen. Bedeutet es für den Erkenntniswert und Erkenntnisfortschritt wirklich einen qualita­ tiven Sprung, wenn für die Behandlung eines (jeden) Themas die methodologischen Voraussetzungen zu hoch gespannt werden? Gewiß kann eine Verknüpfung verschiedener historischer und sozialwissen­ schaftlicher Methoden und Ergebnisse sinnvoll (und wünschenswert) sein, wenn nicht gleichzeitig auch ihre theoriegesättigte - und damit unhistorische - Ableitung oder Begründung erwartet oder postuliert werden. Experimente in dieser Richtung haben zudem inzwischen die Barriere normalsprachlicher, auch interdisziplinärer Verständigung erreicht, wenn nicht gar überschritten. Es bedarf keiner Begründung, daß eine „moderne Verwaltungs­ geschichte" soviel wie möglich und nötig an Fragestellungen und, falls vorhanden, Ergebnissen anderer Disziplinen nutzt und einbezieht. Niemand will isolierte Behördengeschichte oder einseitige Ausrichtung auf die berühmten „Männer der Verwaltung", deren Persönlichkeit und Leistung andererseits aber auch nicht vollständig aus dem Blick­ feld verschwinden dürfen. In mancher Hinsicht bedarf es nur einer Wiederanknüpfung an die eigene Fachtradition. Die deutsche Ver­ fassungs- und Verwaltungsgeschichtsschreibung kennt berühmte Ahnen, zehrte allerdings auch geraume Zeit, zu lange, von deren Verdiensten. Ernst Rudolf Huber hat - um es nur an diesem Beispiel zu illustrie­ ren - mit seiner monumentalen „Deutschen Verfassungsgeschichte" Historiker nicht nur durch sein (Vor-)Verständnis von Verfassung erschreckt11, sondern auch noch auf andere Weise: zunächst durch den 3 Dazu zuletzt Hans Boldt, Verfassungskonflikt und Verfassungshistorie. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Rudolf Huber, in: Der Staat, Beiheft 1: Probleme des Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, hrsg. von Ernst­ Wolfgang Böckenförde. Berlin 1975, S. 75 ff.

Aus der Einführung des Tagungsleiters

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Aufweis einer beträchtlichen Forschungslücke, sodann aber durch eine gleichsam hermetisch abgeschlossene Interpretation, an der die Er­ fahrungen und Ergebnisse der letzten Forschergeneration spurlos vor­ übergegangen zu sein scheinen. Das gleiche gilt vice versa für ent­ sprechende Darstellungen und Wertungen von gegensätzlichen Stand­ orten aus. Wenn es zutreffen sollte, was Wilhelm Hennis 1965 einmal pointiert formuliert hat, daß nämlich die deutsche Verwaltungsgeschichtsschrei­ bung „schon lange hoffnungslos" darniederläge4 , dann hat sich (um im Bilde zu bleiben ) der Zustand dieses Patienten inzwischen ganz erheb­ lich und, wie ich meine, zum Besseren hin verändert. Auch außerhalb der engeren „Zunft" ist das Interesse für die Ergebnisse verfassungs­ und verwaltungsgeschichtlicher Forschungen gestiegen. Diese Arbeitstagung will und soll als Ganzes verstanden werden. Ihre Zielsetzungen und Fragestellungen lassen sich nicht an jedem Einzelthema gleichermaßen beispielhaft verdeutlichen. Zu den über­ greüenden Fragestellungen gehören die nach dem historischen Stellen­ wert von Verfassungs- und Verwaltungsreformen, eingeschlossen der Anteil der Bürokratie an ihrer Konzeption und Durchsetzung, sowie nach der institutionellen und personellen Kontinuität der Verwaltung über revolutionäre oder revolutionsähnliche Zäsuren hinweg. Wenn schließlich über Quellen zur verwaltungsgeschichtlichen For­ schung und deren Nutzung, illustriert vor allem am Beispiel des Bundesarchivs, referiert wird, so deswegen, weil diese Thematik an die Wurzeln unserer Arbeit erinnert und gleichzeitig verdeutlicht, wie notwendig und ergiebig die Zusammenarbeit zwischen Forschern und Archivaren ist. Der 1968 von Thomas Ellwein, wenn auch an abgele­ gener Stelle, erhobenen Forderung, die Verwaltungsgeschichte solle sich aus ihrem „Archivalismus" lösen5, muß - wie allen derart gene­ ralisierend-rigoristischen und auf modische Zustimmung bedachten Postulaten - deutlich widersprochen werden. (Das geschieht am ein­ fachsten überdies durch den Hinweis auf die besonders ergänzungs­ bedürftigen verwaltungsgeschichtlichen Passagen in Ellweins ein­ schlägigen Arbeiten.) 4 Aufgaben einer modernen Regierungslehre, in: Politische Vierteljahres­ schrift 6, 1965, S.433. Peter-Christian Witt, Reichsfinanzminister und Reichs­ finanzverwaltung 1918/19 - 1924 (in: VfZ 23, 1975, S.2 f.), verweist auf das „offensichtliche Dilemma, einleuchtende generelle Aussagen und theoretische Konzeptionen zur bestimmenden Rolle der Bürokratie im modernen Staat entwickeln zu können, ohne jedoch bisher zu einer gleichermaßen begrün­ deten Aussage über die konkrete Herrschaft der Bürokratie im Einzelfall ... gelangt zu sein". 5 Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsgeschichte, in: Recht und Politik 2, 1968, S. 64.

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Rudolf Morsey

Verzicht auf „Archivalismus" würde bedeuten, Fragestellung und Erkenntnisse des Verwaltungshistorikers unzulässig zu verkürzen. Wo, wie im Bereich der jüngsten Verwaltungsgeschichte, der Zugang zu einschlägigen Quellen noch nicht gegeben ist, muß der Historiker um so behutsamer urteilen; er sollte jedoch auch dieses Feld nicht nur Ver­ fechtern systematisierender oder theoretisierender Fragestellungen überlassen.

Begrü&ungsansprache des Rektors Professor Dr. Dr. Klaus König Als Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften möchte ich Sie sehr herzlich in Speyer willkommen heißen und der Freude darüber Ausdruck geben, daß Sie unserer Einladung zur Herbsttagung 1976 gefolgt sind. Unsere diesjährige verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagung unterscheidet sich von ihren Vorgängerinnen dadurch, daß sie der Verwaltungsgeschichte gewidmet ist. In den Tagungs­ programmen dieser Hochschule ist die Geschichte prinzipiell nicht als irrationale Handlungsgrenze begriffen worden, sondern als historische Ausgangslage, von der her die Lösung politisch-administrativer Pro­ bleme zu ermöglichen ist. So werden Sie in der Behandlung von Sach­ fragen wie der integrierten Planung, der Koordination der Regierungs­ politik, der Fortbildung des Verwaltungsdienstes, der Ministerial­ organisation, der Stadterneuerung, der Juristenausbildung, des öffent­ lichen Haushalts bei Speyerer Arbeitstagungen vielfältige geschichtliche Rückgriffe feststellen können. Jedoch ist unser jetziger Verhandlungs­ gegenstand so spezifisch, daß einige allgemeine Hinweise auf die Stellung der Geschichte an der Hochschule Speyer angemessen er­ scheinen. Die 1947 gegründete Staatliche Akademie für Verwaltungswissen­ schaften stand in ihrer ersten Phase trotz der Gründung nach franzö­ sischen Vorstellungen unter der deutschen Tradition der Staatswissen­ schaften. Zu den Fächern, von denen her es Staat und Verwaltung zu erfassen galt, gehörte demgemäß auch die Geschichte. Sowohl politische als auch Rechtsgeschichte waren Prüfungsgegenstand in der großen Staatsprüfung, mit der die Befähigung zum höheren Verwaltungs­ dienst verliehen wurde. Im Lehrprogramm nahm die Geschichte einen hervorragenden Platz ein, was Veranstaltungen über die Geschichte der europäischen Staatenordnung, die Geschichte der wirtschaftlichen Revolutionen, Staatswirklichkeit und Staatsdenken im Altertum, Natio­ nalismus des 19. Jahrhunderts als Beispiele belegen. Auch die Umstellung auf das einsemestrige verwaltungswissenschaft­ liche Ergänzungsstudium für Referendare im Rahmen des juristischen Vorbereitungsdienstes tat dem Stellenwert der historischen Lehrver­ anstaltungen keinen Abbruch. Die Dominanz der Rechtswissenschaft in den fünfziger und sechziger Jahren an der Hochschule Speyer be-

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Klaus König

deutete nicht die Einseitigkeit der nur juristischen Betrachtungsweise. Wie etwa Wirtschaftliche Staatswissenschaften oder Soziologie, so war auch damals die Neuere Geschichte repräsentiert. Entwicklungen des Staates und der Staatengesellschaft in der Neuzeit, Bismarcks Sozial­ gesetzgebung und Sozialpolitik, Zur innenpolitischen Geschichte der Weimarer Republik, Mitteleuropa als Problem der deutschen Politik, so lauteten einige Themen. Die Einrichtung einer Professur für Neuere Geschichte führte nach anderen Lösungen auch zur institutionellen Festigung. Es zeigte sich, daß es nicht nur darum ging, die gute Tradi­ tion der Rechtsgeschichte nach Art juristischer Fakultäten zu pflegen, sondern einen eigenen Weg zu gehen, der sich sowohl von den Bedin­ gungen des Universitätsstudiums wie von denen der zweiten juristi­ schen Staatsprüfung abhob. Historische Kenntnisse wurden von den Ausbildungsreformern in der deutschen Verwaltungsgeschichte immer wieder verlangt. In Speyer wurde versucht, diesen Anspruch ein­ zulösen. Dabei ist es bis auf den heutigen Tag geblieben, an dem die Hoch­ schule ihre Aufgaben in Ausbildung, Fortbildung und Forschung in sozialwissenschaftlicher Multidisziplinarität behandelt und neben den Professuren für öffentliches Recht, für Verwaltungswissenschaft, für Wirtschaftliche Staatswissenschaften, für Rechts- und Sozialphilosophie, Soziologie, für politische Wissenschaften, für Staatslehre und Politik, für Organisationssoziologie auch ein Lehrstuhl für Neuere Geschichte, insbesondere Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte besteht. Von hier aus sind Aktivitäten in den Teilaufgaben der Hochschule zu ent­ falten, und zwar im Rahmen der verwaltungswissenschaftlichen Aus­ bildung: im einsemestrigen verwaltungswissenschaftlichen Ergänzungs­ studium, im einjährigen verwaltungswissenschaftlichen Aufbaustudium und im Doktorandenstudium; im Rahmen der verwaltungswissenschaft­ lichen Fortbildung: in den staatswissenschaftlichen Fortbildungstagun­ gen, in den Eingangs- und Führungsseminaren für Angehörige des höheren Verwaltungsdienstes und in den Sonderseminaren über aktu­ elle verfassungs- und verwaltungspolitische Probleme; im Rahmen der verwaltungswissenschaftlichen Forschung: in der Lehrstuhlforschung, im Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule Speyer und in den verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagungen. Will man hier wiederum Veranstaltungen nennen, so gehören dazu Themen wie: Die Entstehung der deutschen Verfassungen, Grund­ fragen der deutschen Geschichte seit 1945, Geschichte der deutschen Parteien und politischen Bewegungen, Vorgeschichte und Entstehung der Bundesrepublik Deutschland und vieles mehr. Diese Themen machen deutlich, daß der gesetzliche Auftrag der Hochschule für Ver­ waltungswissenschaften nie auf eine Weise interpretiert worden ist,

Begrüßungsansprache des Rektors

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die die Wissenschaft auf enge administrative Amtszwecke festlegt. Es bleiben jene Spielräume der Lehre und Forschung erhalten, wie sie einer wissenschaftlichen Hochschule gemäß sind. Der Geschichtswissen­ schaftler zum Beispiel ist nicht von den Grundlagen seiner Disziplin abgeschnitten; er kann etwa Forschungsinteressen an der Parteien­ geschichte entwickeln.

Indessen wird sich der Historiker in Speyer auch dem Erfahrungs­ gegenstand der öffentlichen Verwaltung spezifisch zuwenden. Lehr­ veranstaltungen wie Funktions- und Strukturwandel der Verwaltung im 19. und 20. Jahrhundert, Politische Planung und Entscheidung in der Vergangenheit, Staatsdienst und Verfassungsfeinde, Beamten­ politik, Politik und Verwaltung im Hitler-Staat, Verwaltungsgeschichte in Biographien, Persönlichkeiten in der öffentlichen Verwaltung in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen belegen dies. Insbesondere aber gilt es, die historische Erforschung der öffentlichen Verwaltung zu fördern. Wir zählen die verwaltungswissenschaftlichen Arbeits­ tagungen zur Forschungsaufgabe der Hochschule. Die Herbsttagung 1976 über „Verwaltungsgeschichte: Zielsetzungen, Fragestellungen, Bei­ spiele" stellt ein solches Unternehmen dar. Wenn ich mich in unserer Runde umschaue, dann darf ich hoffen, daß wir unserem Ziel, der Geschichte der öffentlichen Verwaltung mehr Aufmerksamkeit zu ver­ schaffen, ein Stück nähergekommen sind.

Mein Gruß gilt so den Fachhistorikern, die von Universitäten, Insti­ tuten, Archiven nach Speyer gereist sind. Zu ihnen kommen Vertreter anderer Disziplinen wie der Rechtswissenschaft und der politischen Wissenschaft, die in ihren Interessen der Verwaltungsgeschichte ver­ bunden sind. Ich darf namhafte Vertreter der Verwaltungspraxis unter uns willkommen heißen. Sie haben sich in der einen oder anderen Weise der Geschichte der öffentlichen Verwaltung gewidmet und sind - das darf ich als Rektor nicht zuletzt hervorheben - meist lang­ jährige Freunde unserer Hochschule. Ich möchte besonders diejenigen begrüßen, die durch Referate und in anderer Form unmittelbar zum Gelingen der Tagung beitragen. Der für diese Herbsttagung wissen­ schaftlich Verantwortliche wird Ihre Verdienste besser zu würdigen wissen als ich. Herrn Kollegen Morsey darf ich auch im Namen des Senats dafür danken, daß er die Leitung der verwaltungswissenschaft­ lichen Arbeitstagung 1976 übernommen hat. In den für Sie vorberei­ teten Ausstellungen finden sich auch Speyerer Stadtansichten. Ich darf Ihnen einen persönlich angenehmen Aufenthalt in der an Geschichte reichen Stadt am Rhein und eine wissenschaftlich fruchtbare Zeit an unserer Hochschule wünschen.

Begrü&ungsansprache des Ministerialdirigenten Professor Dr. Waldemar Schreck.enberger Im Namen der Landesregierung heiße ich Sie in Rheinland-Pfalz herzlich willkommen. Nach meiner Kenntnis findet eine Tagung, die sich mit Verwaltungsgeschichte befaßt, zum ersten Mal an der Hoch­ schule für Verwaltungswissenschaften Speyer statt. Die Landesregie­ rung begrüßt dies um so mehr, als sie ihre besondere Aufmerksamkeit der Geschichte auch als Forschungs- und Lehrfach widmet. Ich glaube, daß dieser .Ort einen günstigen Rahmen für Ihre Ver­ anstaltung schafft. Von Anfang an verstand es die Hochschule, die Verbindung zwischen den verschiedenen Disziplinen zu pflegen und, was für das geistige Klima nicht weniger gewichtig ist, auch den föderativen Charakter der Hochschule zu behaupten. Es ist sicher nicht einfach, so viele Interessen und Charaktere zu vereinigen. Der einzelne muß sich immer wieder dem wissenschaftlichen Anspruch des anderen stellen. Der Rektor - und bei Tagungen der Veranstaltungsleiter müssen gar das bewunderungswürdige Werk vollbringen, die Vielfalt der Vorstellungen und Meinungen in eine funktionsfähige Institution umzusetzen. Sie werden sicher erfahren, daß dieses Werk auch bei Ihrer Tagung gelingt. Das Fach Geschichte - und dies gilt wohl auch für die Verwaltungs­ geschichte -, dem Ihre besonderen Anstrengungen dienen, hat heute, wenn man von der modischen Neigung zur Nostalgie einmal absieht, keinen leichten Stand. Das allgemeine Interesse wird von anderen Disziplinen, so scheint es, stärker angezogen. Nun sollte man nicht verschweigen, daß die Geschichtswissenschaft ein wenig verwöhnt ist. Ihr galt seit den Bewegungen des Humanismus im Verein mit Philo­ sophie, Philologie und Rechtswissenschaft die Gunst des gebildeten Publikums. Im letzten Jahrhundert wurde die Geschichtswissenschaft gleichsam zur herrschenden Disziplin der Geisteswissenschaften. Ihre Methoden fanden Eingang in zahlreiche andere Fachgebiete, so auch in die Staatswissenschaften. Über die Geschichtsphilosophie gelang es gar, Konstruktionen zu entwickeln, die weltweit das ideologische Fundament für politische Systeme bilden. Man könnte sich damit trösten, daß wissenschaftliche Disziplinen eben einen schwankenden sozialen Kurswert haben. Solche Bewegungen lassen sich auch bei ande­ ren Fachwissenschaften leicht nachweisen. In einer auf Effizienz be2•

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Waldemar Schreckenberger

dachten Zeit muß man sich allerdings fragen: ,,Können wir uns einen solchen Kursverlust der Geschichte leisten?"

Die Wissenschaften sind zu einer modernen Art der „Lebenshilfe" geworden. Man erwartet von ihnen Orientierungsleistungen. In be­ sonderem Maße fühlen sich heute die Sozialwissenschaften berufen, zu dieser Orientierung beizutragen. In den Verwaltungswissenschaften sind es vor allem die Planungstheorien und Planungstechnologien, die sich als eine zeitgerechte Form der Zukunftsbewältigung empfehlen. Trotz einiger Rückschläge sind an diese Technologien nach wie vor hohe Erwartungen gerichtet. Aber trüft es zu, daß wir uns in einem epochalen Prozeß der gesellschaftlichen Umorientierung von einer tendenziellen Vergangenheitshinwendung zu einer primär zukunfts­ gerichteten Orientierung befinden, wie oft behauptet wird?

Ich kann in solchen Prozessen nichts Schicksalhaftes sehen. Im Rahmen der Wissenschaften sollte jedenfalls die begründete Einsicht darüber entscheiden, welche Handlungsmuster in einer bestimmten Situation jeweils den Vorrang verdienen.

Der Orientierungswert der Verwaltungsgeschichte scheint mir unter den heutigen Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs vor allem in ihrer Korrektivfunktion zu liegen. Wir sind nämlich dabei, eine neue Art Scholastik der Zweck- und Zielorientierung zu schaffen. Die Ver­ suchung, alles staatliche und möglichst auch gesellschaftliche Handeln an urgeschichtlichen, abstrakten Konzepten zu messen, ist wieder groß. Unsere Handlungswissenschaften haben einerseits eine unübersehbare Neigung für technokratische Perfektion und andererseits eine Vorliebe für ein Denken in universellen Systemen. Hier könnte ein Blick in die Geschichte, so scheint mir, sehr heilsam sein. Die historische Dimension macht deutlich, daß unsere Situation nicht ganz so unvergleichlich ist, wie sie sich auf dem Hintergrund des wissenschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritts darstellt. Das Wort von der Beständigkeit der Verwaltung kann sich auf die Er­ fahrung stützen, daß es bei allen sozialen Wandlungen und historischen Zäsuren, die unserer nationalen Geschichte nicht fremd sind, einen Bestand an fortdauernden Problemen gibt, die durchaus vergleichbare Antworten verlangen. Der Aufweis analoger historischer Problemlagen und Problemlösungen hat aber auch nicht nur einen Informationswert. Er ist auch geeignet, der Versuchung, vorwiegend in abstrakten, uni­ versellen Modellen zu denken, besser zu widerstehen. Solche Analogien aufzuzeigen, wäre die Aufgabe einer Geschichtswissenschaft, der es nicht darum geht, traditionelle soziale Strukturen zu legitimieren, wie ihr, sobald sie nicht emanzipatorische Absichten verfolgt, häufig vor­ geworfen wird. Sie hätte vielmehr auch einen heuristischen Zweck, wie

Begrüßungsansprache

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immer geartete Totalitätsansprüche auf fruchtbare Weise zu relati­ vieren, indem sie übersteigerte Theorievorgaben in den historischen Zusammenhang ihrer Problemabfolge einbindet.

Neben diesen methodologischen Aspekten der Geschichtswissenschaft scheint mir auch ein anderes Merkmal besonders erwähnenswert. Die Historie bedient sich einer einzigartigen Fähigkeit des Menschen, näm­ lich abgelebte Zeiten wieder gegenwärtig zu machen, sie in die Lebens­ wirklichkeit und ihre Anschauungen einzubeziehen. Sie ist insoweit, verzeihen Sie, ein wenig der Bildkraft der Poesie verwandt. Sie er­ weitert nicht nur den Vorstellungshorizont, sondern stützt eine Er­ lebnisdimension, die für das soziale Zusammenleben von fundamen­ taler Bedeutung ist: Sie fördert das Gefühl der Verbundenheit der Generationen, der Identität der Nation und der Solidarität der Völker­ gemeinschaft. Sie macht anschaulich, was Kant die „Menschheit in unserer Person" nannte. Diese Erlebnisdimension hat ihren vornehm­ sten Ausdruck im Begriff der „Würde des Menschen" oder, wie die Älteren auch sagten, der „Würde der Menschheit" gefunden. Wie eng das so nüchtern erscheinende Geschäft der Verwaltung mit diesem universalen Aspekt verbunden ist, zeigt in der Geschichte des modernen Staates sehr eindrucksvoll die Idee des Rechtsstaats, welche die Struktur unserer Verwaltung maßgeblich prägt.

Die Landesregierung hofft sehr, daß Ihrer Tagung noch viele andere folgen werden und daß die „Verwaltungsgeschichte" nicht nur Ge­ schichte wird, sondern auch künftig dazu beiträgt, Geschichte zu machen. Ich wünsche Ihrer Tagung einen erfolgreichen Verlauf.

Verwaltungsreformen - Vorhaben und Ergebnisse seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts Von Georg-Christoph von Unruh

I.

Verwaltungsreformen oder jedenfalls die Bemühungen darum be� gleiten die Entwicklung der Verwaltung seit ihren Anfängen, wenn man auch erst seit dem 18. Jahrhundert ihre Umgestaltungen ganz all­ gemein als „Wiederherstellung" im Sinne einer Verbesserung des Bestehenden zu betrachten und zu bezeichnen pflegte1 • Die von Anfang an der Verwaltung inhärente Mutabilität trat und tritt jedoch nach außen so wenig in Erscheinung, daß man umgekehrt die Konstanz für ihr artspezifisches Element hält, obwohl sich doch bereits im „Walten" eine auf Wandlungen angelegte Tätigkeit kundtut, die zwangsläufig auch das Gefüge selbst ständig beeinflußt. In diesem perennierenden Prozeß gab und gibt es jedoch immer wieder Ansätze zu gründlicher Veränderung des Vorhandenen. Sie sind im allgemeinen, um mit Herbert Weichmann, einem der großen „Männer der Verwaltung", zu sprechen, ,,politischer Provenienz" und darum „grundverschieden" von Verwaltungsreformen „administrativer Herkunft". Wird hierbei un­ mittelbar zunächst nur das Innenverhältnis betroffen - nicht ohne mittelbare Folgen nach außen zu zeitigen -, so drängen politisch motivierte Kräfte auf eine „wesentliche Änderung der Struktur der Verwaltung und ihrer Aufgaben", mit der Folge, daß die „verfassungs­ politische, die legislative oder schlechthin die gesellschaftliche Ebene, auf der die Verwaltungsorganisation beruht", davon unmittelbar be­ troffen wird. Dabei suchte man ebenso ein „Höchstmaß an Wirksamkeit mit einem Mindestmaß an Aufwand" zu erreichen, wie umgekehrt das ,,administrativ management" nicht nur pragmatische Ziele verfolgte, wenn überhaupt das Politische davon zu trennen ist:?.

1 „Die Art und Weise der Realisierung der Bedingungen, von welchen das Bestehen und Wohlstand eines gegebenen Staatsvereins abhängt, d. i. die Staatsverwaltung, ist einer fortschreitenden Verbesserung fähig." K. H. L. Pölitz, Die Staatslehre, 1. Th. 1808, S. 193 f. 2 Herbert Weichmann, Zielsetzung der Verwaltungsreform in der Gegen­ wart, in : Verwaltungsarchiv 48, 1957, S. 111 ff. (Referat beim 23. Staatswis­ senschaftlichen Fortbildungskursus der Hochschule für Verwaltungswissen­ schaften Speyer am 27. Sept. 1956). - Bei allen Veränderungen müssen ihre

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Georg-Christoph von Unruh

In den meisten Fällen ging es dabei um „ Vereinfachung" als dem Leitbild für alle Vorstellungen und Vorhaben zu einer Reform des Bestehenden. Ob sie schließlich wirklich so genannt zu werden ver­ dient, läßt sich erst in der Rückschau feststellen, wobei es fehlsam wäre, Maßstäbe und Erfahrungen nach der Gegenwart, die immer zeitgebunden sind, der Beurteilung vergangener Ereignisse zugrunde zu legen. Vielmehr wird man erst dann, wenn man sich darum bemüht, feststellen, ob und wie die in der Vergangenheit wirkenden Persön­ lichkeiten „ihrer Zeit genüge" zu tun vermochten, Nutzen zur Beurtei­ lung von gegenwärtigen Ereignissen ziehen können - und sei es nur, um Einsicht in die alle Zeit begrenzten Möglichkeiten zu gewinnen, um bestehende Einrichtungen und Verfahren so umzugestalten, daß sie einen „Fortschritt" im Sinne einer Verbesserung darstellen. ,,Für die Art der pragmatischen Aussage" ist jedenfalls bedeutungsvoll, in „wel­ cher Weise die traditionalen Inhalte, vor allem unter dem Aspekt von Kontinuität und Diskontinuität", befragt werden'.

II.

Traditionale Züge trägt die öffentliche Verwaltung Deutschlands zunächst in sich selbst, d. h. in der Kontinuität ihres Bestehens seit dem Aufkommen der Staatlichkeit. Im Zusammenhang damit steht die nach wie vor „Dienst" genannte „Amts-Waltung", die, soweit hoheits-­ rechtliche Befugnisse geübt werden, unter Berücksichtigung von „her­ gebrachten Grundsätzen" gemäß Art. 33 V GG erfolgen soll. In dieser Kontinuitätskette wird eine rückblickende Betrachtung aber auch manche Wandlungen erkennen, die sich als Diskontinuitäten qualifi­ zieren lassen, jedoch ebensogut als jeder Tradition immanente Wand­ lungen charakterisiert werden können. Ähnliche Meinungsverschieden­ heiten hinsichtlich ihrer Folgewirkungen können vor allem bei den­ jenigen strukturellen oder funktionellen Veränderungen bestehen, die man wegen des dadurch ausgelösten „Umbruchs" gemeinhin „Reforauslösenden Ursachen sorgfältig analysiert werden; so hat für die Gegen­ wart „nicht das ,Machtstreben der Bürokratie' den modernen ,Verwaltungs­ staat' mit seinem ungeheuerlichen Apparat hervorgerufen, sondern der sich immer wiederholende Ruf nach staatlicher Vorsorge und Hilfe". Christian Friedrich Menger, Rechtssatz, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in : DÖV 8, 1955, S. 587 ff. : Klaus Stern, Verwaltungsreform - Bilanz . und Erfolgsbedingungen, in : DÖV 21, 1968, S. 853 ff. a Wolfgang Hofmann, Erkenntnisprobleme moderner Verwaltungsge..: schichte, in : Die Verwaltung 8, 1975, S. 61; dort auch die zutreffende Kritik an Heffters Analyse der deutschen Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Die „Administrative" sollte man allerdings nicht (ebd., S. 68) ,,die Gesell­ schaft strukturierende Institutionen" nennen, weil es sich dabei um staat­ liche Einrichtungen _ handelt.

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men" zu nennen pflegt. Bei ihnen handelt es sich regelmäßig um Er­ scheinungen „politischer Provenienz" (Weichmann), weil sie wie die Entstehung der öffentlichen Verwaltung überhaupt dazu bestimmt waren und sind, die „Effizienz" der Befugnisse von Hoheitsträgern zu verstärken4 • Verwaltung dient dazu, vorhandene Herrschaft rational einzurichten und zu festigen. Mochte die dienende Funktion der Administrative auch ursprünglich nur für den Inhaber von hoheit­ lichen Befugnissen gelten, so wurde sie doch bald zugleich als eine „Wohltat" für die Untertanen verstanden, denen der Frieden zugute kam, den allein „gute Polizei und liebe Justiz" zu schaffen und auf­ recht zu erhalten vermochten. Mit dem Grundsatz „alles für das Volk, aber nichts durch das Volk" fand diese Entwicklung im aufgeklärten Absolutismus ihren Abschluß, der zugleich einen neuen Abschnitt ein­ leitet, in dem ein sich veränderndes Verständnis vom Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen alle Einrichtungen des Staates beeinflußt. Damit beginnt das bürgerliche Zeitalter mit einer bis in die Gegenwart reichenden Kontinuitätskette. Zeitlich läßt sich der Beginn dieser Entwicklung zwar nicht genau fixieren, doch wird man ihn bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts ansetzen dürfen. Damals wurden Gedanken geäußert und verbreitet, die den genetischen Ursprung des Rechtsstaates markieren : Es ging urn die Bestimmung der richtigen Proportion zwischen der Ordnung von Gemeinschaften und der bürgerlichen Freiheit. Die Verbindung von Freiheit und Ordnung soll Willkür und Despotie ausschalten5• Nach Montesquieus Erkenntnis wird die Einhaltung des richtigen Maßes von hoheitlicher Gewalt durch eine organisatorische Aufgliederung ihrer Ausübung gewährleistet, wobei das Verhältnis zwischen Staat und Staatsangehörigen durch Gesetze bestimmt wird. Von diesem geistigen 4 Bereits die Anfänge der Verwaltungsorganisation in den größeren deutschen Territorien seit dem Ausgang des. 15. Jahrhunderts lassen die Bemühungen der Territorialherren erkennen, zur Festigung der eigenen Position und zur Erweiterung der Wirksamkeit ihrer Hoheitsbefugnisse, nicht zuletzt gegenüber den Ständen, für die Dauer bestimmte Behörden einzu­ richten und diese ständig zu verbessern. Andreas Walther, Die Ursprünge der deutschen Behördenorganisation im Zeitalter Maximilians I. Stuttgart 1913 ; OLga Joelson, Kaiser Maximilian I. und das Behördenwesen seiner Zeit, in : Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 24, 1931, s. 257 ff. s Zum Zusammenhang zwischen „Versachlichung und Verbürgerlichung" Hans Hausherr, Verwaltungseinheit und Ressort-Trennung vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Berlin 1953, passim. Dort S.203 f.: „Polizei war nicht mehr Verwaltung im Ganzen, sondern eine besondere Einrichtung, die nur noch dem Schutz des Bürgers vor Rechtsbruch durch andere Bürger und den Schutz des Staates gegen Aufruhr in jeder Form zum Inhalt hatte; die Verbürgerlichung, die, gemessen am Absolutismus, auf jeden Fall eine · Liberalisierung des Staates darstellte", entwickelte die Ressortteilung, die typisch für die „moderne" Verwaltung wurde; Alfred von Martin, Soziologie der Renaissance. 3. Aufl. München 1974, S. 115 f.

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Ansatz führt die pragmatisch-politische Entwicklung zum Konstitutio­ nalismus, nach dessen Grundsätzen die vollziehende Gewalt uneinge­ schränkt dem Staatsoberhaupt verbleibt, dem zunächst nur insoweit Grenzen gesetzt sind, als Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers gesetzlicher Grundlagen bedürfen, an deren Entstehung seine Repräsentanten beteiligt sein müssen.

Mit dem Hinweis auf den Konstitutionalismus ist jedoch die Ent­ wicklung des Verhältnisses zwischen Verwaltung und Bürger nicht erschöpfend erfaßt. Vielmehr sind bereits in der Mitte des 18. Jahr­ hunderts in einem der größten Territorien des Reiches die Befugnisse der Administrative einer Kontrolle unterworfen worden, die zu schaf­ fen Friedrich der Große seinem Großkanzler von Cocceji in einem Erlaß vom 23. Mai 1749 aufgab: Durch eine bessere Regelung der Zuständig­ keiten von Behörden und Gerichten sollten die „Untertanen vor den Ungerechtigkeiten der Kammern und vor der Tyrannei der Departe­ ments- und Steuerräte" bewahrt werden. Zum ersten Mal wurde hier der noch „Untertan" genannte Staatsangehörige zur unmittelbaren Bezugsperson der hoheitlichen Gewalt. Deshalb liegen in dieser Order des „Philosophen von Sanssouci" die pragmatischen Grundlagen des Rechtsstaates, den der Königsberger Philosoph Immanuel Kant ein halbes Jahrhundert später theoretisch begründete, wobei er, neben anderem, Erfahrungen rezipieren konnte, die man durch den „Ver­ waltungsrechtsschutz in Preußen"6 zu sammeln vermocht hatte.

Seitdem verlief der Prozeß der „Versachlichung und Verbürger­ lichung" der Verwaltung in komplexem Zusammenhang, wobei die ,,Verbürgerlichung" die Verwaltung unmittelbar erfaßte, in der nun­ mehr nicht allein der besoldete Fachmann, sondern auch der ehren­ amtlich wirkende Laie Dienst tun sollte. In diesem Konzept liegt die epochale Bedeutung der Stein'schen Reformen - und damit zugleich ein Unterschied zu den Vorhaben von Montgelas und Hardenberg -, wonach der Bürger durch Beteiligung an der Exekutive dem Gemein­ wohl zu dienen und damit zugleich pragmatisch die „Grenzen des Staates zu bestimmen" hat, was ihm, jedenfalls in den Städten - noch vor der Regelung seiner Mitwirkung an der Legislative - durch die Städteordnung von 1808 aufgetragen wurde. Ein „Mann der Ver­ waltung" mit bedeutendem historischem Gespür hat die Bedeutung dieses Konzepts der Stein'schen Reform als einer der Ersten erkannt und zu einer Zeit, da „Konstitution" wie der Inbegriff allen Fortschritts wirkte, eine ganz andere Auffassung ausgesprochen, daß nämlich die s So der Titel der Arbeit von Wolfgang Rilfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen von 1749 - 1842. Bonn 1962. Der Erlaß vom 23. Mai 1749 in : Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, Bd. 9, bearb. von Gustav Schmoller und Otto Hintze. Berlin 1906, S. 134.

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Verwaltung für die individuelle Freiheit von weit größerer Bedeutung sei als die Verfassung. Es war der am 27. August 1776 in Kopenhagen geborene Niedersachse Barthold Georg Niebuhr1, der, von Schleswig­ Holstein kommend, nicht nur ein bedeutender Mitarbeiter Steins und später preußischer Gesandter beim Heiligen Stuhl wurde, sondern sich vor allem mit der 1811 erschienenen „Römischen Geschichte" einen Namen unter den großen Geschichtsschreibern machte.

Die Bedeutung der von Stein 1808 vorgenommenen Behörden­ Reorganisation war zunächst durch das Bedürfnis nach Einsparung im Staatshaushalt bedingt. Zu diesem Zweck schlug der Minister dem König eine Vereinfachung der oberen Behörden vor. Auf diese Weise wurden nicht nur die Ausgaben verringert, sondern auch die Verwal­ tung nachhaltig verbessert. Wie unübersichtlich die preußische Ver­ waltung vorher gewesen war, beweist die Tatsache, daß damals allein in Königsberg 13 Oberbehörden nebeneinander bestanden : Das Kabi­ nett des Königs, Departement für Auswärtiges, Preußisches- und Justizdepartement, Immediatkommisson, Generalverpflegung-Inten­ dantur, Kassen-, Akzise- und Zoll- sowie Paß-Departement, Preußi­ sche Bank, Seehandlung, Oberkriegskollegium, Generalstaatskasse sowie die Kassen für andere Ausgaben. Diese Behörden verkehrten nur schriftlich miteinander. Verbunden waren sie nur durch die Person des Monarchen. Die Folge war jene Schwerfälligkeit des Verfahrens, die nicht zuletzt zur Niederlage von 1806 führte. Stein schuf deshalb nach Hauptverwaltungszweigen abgegrenzte Behörden unter Fach­ ministern. ,,Bei dieser neuen Verfassung" wurde bereits die Beteiligung der Bürger in Betracht gezogen, die sich mithin nicht auf kommunale Angelegenheiten beschränken sollte. In dem von Stein entworfenen, wenn auch wegen seiner Entlassung nicht mehr gegengezeichneten „Publikandum betreffend die veränderte Verfassung der obersten Staatsbehörden" vom 16. Dezember 1808 heißt es im dritten Absatz: ,,Die Nation erhält eine ihrem waren Besten und dem Zweck ange­ messene Teilnahme an der öffentlichen Verwaltung, und dem ausge­ zeichneten Talent in jedem Stand und Verhältnis wird Gelegenheit eröffnet, davon zum allgemeinen Besten Gebrauch zu machen8 . " Stein hat seine Vorstellungen über die Verwirklichung dieser bürger­ lichen Beteiligung an der Verwaltung seinem Freund Graf Reden am 22. Juli 1810 brieflich mitgeteilt, der offenbar nach dem „Standort" der Städteordnung in Steins Verfassungsplan gefragt hatte: Wie bei dieser

1 In der Vorrede der von ihm herausgegebenen Darstellung der innem Verwaltung Großbritanniens von Ludwig Freiherr von Vincke. Berlin 1815,

s Sammlung der für die preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 - 1810. Berlin 1822, S. 361 ff. S. III.

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sollte nach bereits konzipierten und entworfenen Kreis- und Gemeinde­ ordnungen die „Tätigkeit aller Staatsbürger bei der Staatsverwaltung in Anspruch" genommen werden. Aus anderen Quellen geht hervor, daß auch für die Provinzen kollegiale Verwaltungsorgane vorgesehen waren, die man teilweise ehrenamtlich besetzen wollte9 •

Steins Vorhaben gelangten zu seiner Zeit nicht zur Vollendung. Welche Gründe hierfür auch immer ausschlaggebend gewesen sein mögen, so trug nicht zuletzt das „Unzeitgemäße" in seinem Konzept dazu bei, daß seine Nachfolger das begonnene Werk nicht vollendeten. Dieses „Unzeitgemäße" lag im Abweichen vom Leitbild der Gewalten­ teilung - als tragende Grundlage einer Verfassung - durch die Beteiligung des Bürgers an Teilen der Exekutive, die Stein als geglie­ derte „Staatsverwaltung" verstand. Begann nun Stein die Konstitution mit einer Verwaltungsreform, so hegte sein Nachfolger Hardenb erg ganz anders geartete, dem „klassischen" konstitutionellen Prinzip ver­ haftete Vorstellungen. Symptomatisch hierfür ist sein sog. Gendar­ merie- oder Kreisedikt von 1812, wodurch zunächst die „Effizienz" der Administrative außerhalb der Städte verbessert werden sollte. In seinem Verwaltungs-Verständnis besaß Hardenb erg manche Ähnlich­ keit mit seinem bayerischen Kollegen Graf Montgelas, wiewohl diesen wiederum verfassungsrechtliche Ansichten mit Stein verbinden, jeden­ falls soweit es die Beteiligung des Eigentum besitzenden Bürgers an Staatsgeschäften, allerdings vornehmlich der Legislative, betraf.

Die Veränderungen der bayerischen Verwaltung am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts stehen vielfach im Schatten der Ereignisse in Preußen, was wohl im wesentlichen damit zusammen­ hängt, daß Freiherr v om Stein die größere staatsmännische Begabung als Graf Montgelas war, aber auch daß sich die Verhältnisse in Bayern verhältnismäßig problemlos einspielten und vollzogen. Jedenfalls war die innere Entwicklung dieses Staates von „einer Liberalität bestimmt, die den aus drei sehr unterschiedlich strukturierten Gebieten zwischen 1803 und 1815" zusammengefügten Staat zu einer Einheit integrierte10 •

9 Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften. Bearbeitet von Erich Botzenhart, neu hrsg. von Walther Hubatsch, 3. Band. Stuttgart 1961, S. 335 f. ; Georg-Christoph von Unruh, Die Kreisordnungsentwürfe des Freiherrn vom

Stein und seine Mitarbeiter 1808/1810/1820, in: Westfälische Forschungen 20, 1968, s. 5 ff. 1 0 Friedrich August Freiherr von der Heydte, Entwicklungshemmungen auf der Mittelstufe der bayerischen Verwaltung, in: Recht und Staat. Fest­ schrift für Günter Küchenhoff zum 65. Geburtstag. Berlin 1972, 2. Halbband, S. 475 ff. ; Eberhard Weis, Montgelas. München 1971, S. 190. - Die später wirksam · werdenden restaurativen Tendenzen des bayerischen Gemeinde­ edikts vom 17. Mai 1818 hebt ebenso wie die Einflüsse der Preußischen Städte-Ordnung von 1808 auf die gleichzeitigen Vorhaben in Bayern zu­ treffend hervor Ulrich Probst, Die Entwicklung der gemeindlichen Selbst­ verwaltung in Bayern. Jur. Diss. Würzburg 1975, S. 70 tt., 93 tt.

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Die Affinität der Vorstellungen von Stein und Montgelas über die Beteiligung der Bürger an öffentlichen Angelegenheiten bekundet ein Brief des Grafen vom 23. März 1790 an den Grafen Seinsheim, wo von der Regeneration Bayerns durch die Schaffung eines Landtages ge­ sprochen wird, der sich aus zwei Kammern zusammensetzen sollte, Vorschläge, die noch vor dem Inkrafttreten der ersten kontinentalen Verfassungen, der französischen und der polnischen aus 1791, gemacht wurden. Die Abgeordneten der Zweiten Kammer hatten danach „die Gesamtheit der Bürger der Gemeinden" zu wählen.

Allerdings waren die Gegebenheiten, unter denen Montgelas handeln mußte, insoweit schwieriger, als er, im Unterschied zu Stein, zunächst aus den kleinen und großen Territorien, die am Ende des Reiches dem Haus Wittelsbach zugefallen waren, einen Staat entwickeln mußte. Es gelang ihm, die für eine Integration notwendigen und geeigneten Ein­ richtungen der vollziehenden Gewalt zu schaffen11 • Das Ergebnis bietet ein Beispiel für die staatsbildende Fähigkeit der Administrative, ähn­ lich wie, in weit kleinerem Umfang, im Großherzogtum Oldenburg, wo durch eine geschickte Leitung der Staatsgeschäfte vielfältig heterogene Landesteile miteinander verbunden wurden, deren Bevölkerung sich schon nach einem Menschenalter als Einheit verstand, die bis in die Gegenwart fortwirkt. III.

Nach einer keineswegs immer „biedermännisch" verlaufenen Zeit des „Biedermeiers der Verwaltung" suchte man nach 1871 in den deut­ schen Bundesstaaten den Rechtsstaat durch eine Anpassung der Ver­ waltungstätigkeit an seine Grundsätze zu konsolidieren. Es begann in Baden mit Beteiligung von Bürgern an administrativen Geschäften, wenn auch zunächst vornehmlich zu Zwecken des individuellen Rechts­ schutzes. Weitere Aufgaben im öffentlichen Dienst lagen dem Konzept zugrunde, das 1872 in Preußen auf Betreiben Rudolf von Gneists mit der Kreisordnung konstituiert wurde. Nur wenige Zeitgenossen haben damals Ursachen und Zielsetzungen dieses legislatorischen Werkes erkannt: Die vor allem von Liberalen an eine Verfassung geknüpften Erwartungen hatten sich nur unvollkommen erfüllt. Die Gefahr miß-

11 Zu den umfassenden Veränderungen im staatlichen Gefüge vgl. Berthold Schulze, Die Reform der Verwaltungsbezirke in Brandenburg und Pommern 1809 - 1818. Berlin 1931, S. 4 ff., 98 ff. ; Franz Ludwig Knemeyer, Regierungs­ und Verwaltungsreform in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Köln 1970, S. 112 ff., 195 ff. ; zum Konzept Steins und den möglichen Ein­ flüssen der Physiokraten G. Chr. von Unruh, Die kommunale Selbstverwal­ tung im Grundgesetz und ihr genetisches Modell, in : Öffentliches Recht und Politik, Festschrift für Hans-Ulrich Scupin zum 70. Geburtstag 1973. Berlin 1973, s. 392 ff.

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bräuchlichen Handelns der vollziehenden Gewalt ließ sich durch Ge­ waltengliederung allein nicht ausschließen. Gneist führte darüber in seinem Referat auf dem 12. Deutschen Juristentag 1875 in Nürnberg beredt Klage: Selbst eine „so fortschrittliche Verfassung" wie in Preußen habe nicht verhindern können, daß man nach 1850 die „innere Verwaltung zu einem Parteiinstrument verwandelt" habe, weil „alles, was die Obrigkeit zu gewähren oder zu versagen hatte, systematisch zugunsten der ,Wohlgesinnten', zur Schädigung der ,Übelgesinnten', zur Erreichung ministerieller Zwecke gehandhabt" worden sei. ,,Nach den bis dahin herrschenden Theorien" hätte das gar nicht geschehen dürfen, doch habe der Landtag nichts unternommen; er hätte - wie man nachträglich feststellen muß - wohl auch wenig unternehmen können. Deshalb müßte die Verwaltung einer Rechtskontrolle unter­ worfen werden. Weil man es jedoch für „unendlich schwer" hielt, diese „mit den überkommenen Ideen von einer konstitutionellen Regierung in Einklang zu bringen", schlug Gneist ein neues Verfahren der „Ver­ waltungsjustiz" vor, womit man - Steins Gedanken aufnehmend und verwirklichend - den Bürger „für die Staatsverwaltung in Anspruch nahm", indem man vielerlei Verwaltungsmaßnahmen durch gewählte Kollegialbehörden auf der Lokal- wie der Mittelstufe erledigen ließ und zugleich den gewählten Bürgervertretern in Kreis-, Stadt- und Bezirksausschüssen den Rechtsschutz vor rechtswidrigen Eingriffsmaß­ nahmen übertrug. Mit der Einrichtung eines Oberverwaltungsgerichts in Berlin fand 1875 diese Verwaltungsreform ihren Abschluß, wenn auch die westlichen Provinzen an dieser Verwirklichung des Rechts­ staates erst in den folgenden Jahren teilnehmen konnten12•

Im selben Jahr, am 22. Oktober 1875, errichtete Österreich einen Verwaltungsgerichtshof und traf in § 2 des betreffenden Gesetzes eine dem Inhalt von Art. 19 IV GG bereits nahe kommende Regelung des individuellen Rechtsschutzes: In allen Fällen, ,,in denen jemand durch eine gesetzwidrige Entscheidung oder Verfügung in seinen Rechten verletzt zu sein ,behauptete' ", durfte das Gericht angerufen werden1 3 •

1% Georg Christoph von Unruh, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, in : DVBl. 90, 1975, S . 842 f. ; Gerd Schmidt-Eichstaedt, Staatsverwaltung und Selbstverwaltung bei R. v. Gneist, in: Die Verwaltung 8, 1975, S. 345 ff., 358 f. 1 3 Beispielhaft für die Bemühungen um ein rechtstaatliches Verfahren ist der im folgenden auszugsweise wiedergegebene Erlaß aus dem österreichi­ schen Ministerial-Verordnungsblatt 1876, S. 80 ff., der mir dank der liebens­ würdigen Vermittlung von Herrn Kollegen H.-Christoph Link, Wien, zu­ gänglich gemacht wurde: ,,Erlaß des Ministers für Cultus und Unterricht vom 14. Mai 1876, Z. 8040, mit welchem anläßlich des Gesetzes vom 22. October 1876, betreffend die Errichtung eines Verwaltungs-Gerichtshofes, Weisungen über die Behandlung der in das Cultus- und Unterrichts-Ressort gehörenden administrativen Streitsachen erlassen werden. 1. In den Administrativsachen ist hinfort genau zu beachten, welche der­ selben als administrative Rechtssachen dem Rechtszuge an den Verwal-

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Eine so weitgehende Regelung wagte man zunächst in keinem Bundesstaat des Deutschen Reiches zu treffen, sondern überließ den weiteren Ausbau des Rechtsschutzes den hier geschaffenen Gerichten14 • Vor allem das Preußische Oberverwaltungsgericht hat diesen in Polizeisachen soweit ausgedehnt, daß kaum noch Lücken im Rechts­ schutz bestanden. Am nächsten kam der österreichischen Regelung der württemb ergische Gesetzgeber, der zwar in der Einführung der Ver­ waltungsgerichtsbarkeit am 16. Dezember 1 876 zunächst in Art. 1 0 einen enumerativen Katalog der Streitigkeiten aufstellte, in Art. 13 aber eine tungsgerichtshof unterliegen. In Angelegenheiten dieser Art ist auf alles, wovon die Legalität des administrativen Vorgehens abhängt, insbesondere aber auf die Formen der Verhandlung und Entscheidung eine erhöhte Acht­ samkeit zu wenden, damit vorkommendenfalls der Sachverhalt dem Ver­ waltungsgerichtshofe klar und in jener Förmlichkeit vorliege, welche die unerläßliche Voraussetzung jeder gerichtlichen Cognition ist. 2. In Anwendung des voranstehenden Grundsatzes ist zunächst bei jeder administrativen Rechtssache zu erwägen, ob die damit befaßte Administra­ tivstelle zur Verhandlung und Entscheidung zuständig ist. Selbstverständlich versteht sich von selbst, dass der administrative Instanzenzug genau einzu­ halten ist, und dass daher die zweite Instanz niemals in einer Sache ver­ fahren darf, über welche die erste noch nicht abgesprochen hat. 3. Bei jeder Verhandlung ist die Legitimation der Parteien zur Sache genau zu prüfen. 4. Hinsichtlich des Gegenstandes der Verhandlung ist zu beachten, dass nur über concrete Ansprüche verhandelt und judicirt werden kann. 5. Bei Leitung des Verfahrens soll sich die Behörde gegenwärtig halten, dass sie zwar Niemanden ein Recht aufzudrängen hat, das er selbst nicht in Anspruch nimmt, dass sie aber von Amtswegen bestrebt sein muß, die ob­ waltenden thatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in's Klare zu setzen. Für das Verfahren selbst hat als oberste Regel zu gelten, dass alle Bethei­ Ugten gehört wurden und Gelegenheit zur Wahrung ihrer Rechte erlangten. Anspruch auf dieses Gehör haben alle Jene, welche am Ausgange der Sache interessiert sind. In welcher Weise die Einvernehmung der Parteien, Zeugen und Sachverständigen zu erfolgen hat, ist nach Lage der Sache zu beurthei­ len. Als Regel gilt, dass jene Form der Einvernehmung zu wählen ist, welche der Behörde und den Partheien den geringsten Zeitverlust und Kostenauf­ wand verursacht. Das Verfahren ist abzuschließen, sobald die Sache genü­ gend aufgeklärt erscheint und sind überhaupt die Proceduren mit aller Be­ schleunigung durchzuführen, die sich mit Gründlichkeit vereinigen läßt. 6. Das Verfahren ist von Amtswegen auf alle zur Sache gehörenden Puncte auszudehnen, damit durch das Erkenntniss die ganze Angelegenheit erledigt sei. 7. In den Erkenntnissen ist der Streitpunct stets genau anzuführen, damit künftig kein Zweifel über die Identität der entschiedenen Sache entstehen kann. Steht noch der Rechtszug an eine höhere administrative Instanz offen, so ist diess unter Angabe der Recursfrist ausdrücklich zu bemerken. 8. Rechtskräftig entschiedene Sachen sind bei wiederholtem Anbringen auf die rechtskräftige Entscheidung zu weisen. Eine Ausnahme gilt nur dort, wo nach Beschaffenheit des Anbringens die Wiederaufnahme der Verhandlung zufolge der bestehenden Vorschriften zulässig erscheint. 9. Es ist dafür zu sorgen, dass alle im Zuge des Verfahrens vorgenom­ menen Zustellungen vorkommenden Falls ausgewiesen werden können." 1 4 Ottmar Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung. Berlin 1914, S. 319 ff.

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sog. Rechtsbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof in allen Fällen zuließ, ,,in denen j emand behauptet, durch eine rechtlich nicht begrün­ dete Verfügung einer Verwaltungsbehörde in seinen Rechten verletzt zu sein" . Dieser Bestimmung und damit das Enumerationsprinzip über­ windend, folgten § 127 des preußischen Landesverwaltungsgesetzes von 1 883 und § 4 des badischen Gesetzes vom 14. Juni 1 884. Die ausdrück­ liche Befugnis zur Prüfung der richtigen Anwendung des „freien administrativen Ermessens" für die als Verwaltungsgerichte entschei­ denden Kreisregierungen enthielt in dieser Form zum ersten Mal Art. 31 des bayerischen Gesetzes vom 8. August 1878 in den dafür zu­ gelassenen Fällen15• Ähnlich regelte Art. 67 des hessischen Gesetzes vom 12. Juni 1 874 die Tätigkeit der Kreis- und Provinzialausschüsse. Nach fünf Gesetzen vom April 1 873 zur Reorganisation der Verwaltung, die sich inhaltlich an die preußischen Maßnahmen anlehnten, führte Sachsen - hier Württemberg folgend - im Verwaltungsrechtspflege­ gesetz vom 19. Juli 1 900 die gerichtliche Generalklausel ein, die zur angesehenen Rechtsprechung des Dresdener Oberverwaltungsgerichts eine breite Grundlage bot. Die Verwaltungsreformen beschränkten sich j edoch nicht auf die Einrichtungen gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern suchten den Grund­ satz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch organisatorisch und funktional im engeren administrativen Bereich zu verwirklichen. Ein­ flußreich hierfür waren in vielen Ländern des Reiches die in den preußischen Landesverwaltungs- und Zuständigkeitsgesetzen vom 30. Juli - 1. August 1883 getroffenen Regelungen, doch blieb die Ori­ ginalität im Behördenaufbau und im Verwaltungshandeln der einzel­ nen Länder erhalten - abgesehen von der meist vorhandenen Drei­ gliederung in Unter-, Mittel- und Ober- oder Zentralbehörden -, so daß man wegen dieser administrativen Vielgestaltigkeit die Einführung eines Reichs-Verwaltungsgerichts für unrealisierbar hielt. Der 30. Deutsche Juristentag zu Danzig nahm 1910 nach eingehender Debatte über ein von Max Schultzenstein vorgelegtes Gutachten auf Antrag von Vierhaus zur Kenntnis, daß die diesen Gegenstand be­ stimmte Abteilung keinen konkreten Vorschlag vorlegte. Lediglich eine von Gierke formulierte Vorlage fand Billigung : ,,Es besteht ein Be­ dürfnis nach Schaffung einer reichsrechtlich geordneten höchstrichter­ lichen Instanz für Verwaltungssachen, um die Einheitlichkeit in der Anwendung des Reichsverwaltungsrechts zu sichern" 16 • Dabei blieb 1s Auf die Einrichtung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit bezogen sich be­ reits Art. 161, 163 I und 196 V der Bayerischen Gemeindeordnung von 1869. 1e Max Schuitzenstein, Senatspräsident des Preußischen OVG, Gutachten über die Frage : Liegt ein Bedürfnis eines deutschen Reichs-Verwaltungs­ gerichts vor? in : Verhandlungen des 29. Deutschen Juristentages (Karlsruhe

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jedoch offen, was überhaupt unter „Verwaltungssachen" zu verstehen sei und ob die zitierte „höchstrichterliche Instanz" überhaupt ohne Änderung der Reichsverfassung eingerichtet werden konnte bzw. ob sie überhaupt zur Justiz gehören sollte.

Trotz dieser wissenschaftlich-politischen Kontroversen über verfas­ sungsrechtliche Grundfragen entfaltete sich der Rechtsstaat im konstitu­ tionellen Zeitalter im Zusammenhang mit der Entwicklung des Ver­ waltungsrechts. Durch „Unterscheidung der Verwaltungstätigkeit nach der Verschiedenheit ihrer Rechtsgrundlagen, ihrer Rechtsgrenzen und ihrer Rechtskontrollen" suchte man den „überreichen Rechtsstoff" systematisch zu erfassen, um damit Position und Funktionen der Be­ hörden untereinander, wie vor allem im Verhältnis zum gewaltunter­ worfenen Bürger zu ordnen. In der Praxis räumte man deshalb dem Juristen eine wichtige Stellung ein. Wenn er auch „in wirtschafts- und sozialpolitischen, in hygienischen, verkehrstechnischen, ja, selbst orga­ nisatorischen Absichten der Verwaltungsgesetzgebung nicht als sachver­ ständig angesehen" werden konnte, so würdigte man doch „seine Do­ mäne auf dem Gebiet der harmonischen Verfeinerung der Grenzziehung zwischen Staatsgewalt und Freiheit und der prozessualen Verbürgung des öffentlichen Rechts". Diese zuerst 1904 von Thoma ausgesprochene Feststellung sollte nach wie vor eine wichtige Grundlage für die Ord­ nung der Administrative bilden17 •

Manche nachhaltige Strukturwandlung der Verwaltung vollzog sich durch innerorganisatorische Maßnahmen der Administrative wie durch legislative Regelungen zur Leistungssteigerung: Ein Beispiel für eine solche Regelung, die vor allem auf Vereinfachung und Beschleunigung der Verwaltung gerichtet war und eine Entlastung der Zentralbehörden zugunsten der Mittelinstanzen bringen sollte, ist neben der Bayerischen

1908) 2. Bd., Gutachten Berlin 1908, S. 3 ff.; Beratungen über den Inhalt des Gutachtens in : Verhandlungen des 30. Deutschen Juristentages (Danzig 1910), 2. Bd. Berlin 1911, S. 309 ff. Es war das erste Mal, daß eine spezifisch verwaltungsrechtliche Frage von diesem Gremium behandelt wurde. Die Vorschläge für eine in Betracht gezogene Behörde entwickelte Schultzen­ stein, ebd., S. 26 ff. Er lehnte sich dabei an bestehende Beschlußbehörden des Reiches an, z. B. das Bundesamt für Heimatwesen. Schultzenstein schloß sein Gutachten damit, daß zwar ein Bedürfnis für ein oberstes Gericht be­ stünde, soweit Reichsverwaltungsrecht gelte, daß aber dieses Bedürfnis sich noch nicht befriedigen ließe, da noch zu viele materiellrechtliche Fragen offen stünden, wodurch es teilweise ausgeschlossen sei, die Kompetenz eines solchen Gerichtes zu bestimmen. Bei den Debatten des Juristentages war vor allem die Frage offen, ob auch „eine Popularklage gegenüber angeblich gesetzwidrigen bloß polizeilichen oder Verwaltungsverfügungen gestattet sein " sollte; ebd. , S. 564. 11 Thoma, ebd., S. 217, unter Bezugnahme auf Bernhard Windseheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, 1884, in : Gesammelte Reden und Abhand­ lungen, hrsg. von P. Oertmann. Leipzig 1904, S. 112 ff. ; ähnlich bereits Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Göttingen 1862, S. 192. 3 Speyer 66

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Gemeindeordnung vom 29. April 1869 das Württembergische Kommu­ nalgesetz vom 21. Mai 1891, obwohl auch hier im Wortlaut des Ge­

setzes folgend die bürgerschaftliche Beteiligung in hoheitlicher Tätig­ keit ausgedehnt und gestärkt werden sollte. Nichtsdestoweniger warn­ ten bereits Zeitgenossen davor, daß die württembergische Gemeinde­ selbstverwaltung Gefahr liefe, ,,eine Verwaltung für Organe des Schreibfachs zu werden". Ob allerdings nicht damals schon tatsächlich die Voraussetzungen entfallen waren, daß noch mancherlei Geschäfte von Bürgern selbst besorgt werden konnten, soll hier dahingestellt bleiben18 • Ein weiteres Beispiel der Bemühungen um „straffere und sachkun­ digere Führung der Geschäfte" löste in der Freien und Hansestadt Hamburg im Jahr 1892 den Entschluß aus, eine Deputation zur Er­ örterung der Frage einzusetzen, ,,in welchen Beziehungen eine Reform der Verwaltung erforderlich sei und ob und inwieweit im Zusammen­ hang mit derselben eine Änderung der Verfassung und Gesetzgebung geboten" wäre. Der daraufhin 1894 vorgelegte Bericht beschränkte sich allerdings auf Vorschläge, welche nur unwesentlich die Grundlagen des Gesetzes von 1863 veränderten. Allerdings wurde gleichzeitig vorge­ schlagen, den Kreis der Aktiv-Bürger auszudehnen. Im übrigen sind die Organisationsverbesserungsvorschläge nicht zuletzt darum über ihre Zeit hinaus von einiger Bedeutung, weil ausdrücklich die Not­ wendigkeit der fachmännischen Leitung der Ressorts und der selbstän­ digen Persönlichkeiten als Organisationsverbesserung vorgeschlagen wird: ,,Die Fähigkeit, im gegebenen Moment durchzugreifen, selbst mit Verletzung dessen, was im gewöhnlichen Leben Rücksicht genannt wird, die starke Gabe sich ganz und unter Umständen einseitig einem Unter­ nehmen hinzugeben, die Energie endlich einem bestimmten Ziele un­ verbrüchlich zuzustreben, sind die vorzüglichsten Erfordernisse für die Führung der Verwaltung in größeren Verhältnissen. Gerade deshalb 1s Alfred Zeller, Ober die Entwicklung württembergischer Verwaltungs­ einrichtungen im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die gesamte Staats­ wissenschaft 54, 1898, S.441 ff., worin auch eingehend das Kommunalgesetz vom 21. Mai 1891 behandelt wird: ,,Noch fehlt der württembergischen Ver­ waltungsorganisation der Schlußstein, die erweiterte Beteiligung des Laien­ elements bei der Verwaltung, insbesondere bei den Aufgaben der Bezirks­ verwaltung. Diese Einrichtung echt deutschen Gepräges verkörpert in den, den unteren Verwaltungsbehörden in Preußen, Sachsen, Baden etc. beige­ gebenen Laienausschüssen . . . Dies System dürfte für regierende und Re­ gierte gleichviel Vorzüge bieten" (S.463 f.). Zeller begründet im übrigen die Notwendigkeit, ,,den gebildeten Mittelstand durch vorzugsweise Heranziehung zu solcher Ehrenstellung von Verwaltungsbeiräten ein wahlberechtigte Ent­ schädigung für eine ungünstige Lage als Hauptbeteiligter bei der Steuer­ last" zu gewähren. Im übrigen sei „den Parlamenten bestens gedient, wenn Mitglieder derselben einiges von der Sachkunde des Beamtentums besitzen" ! - Für Bedeutung der Bayerischen Gemeindeordnung U. Probst, Die Entwick­ lung der gemeindlichen Selbstverwaltung, S. 96 ff.

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ist wohl zu unterscheiden zwischen den Leitern der Verwaltung und ihren noch so tüchtigen Hilfsarbeitern." Man schlug deshalb für die Ausbildung der höheren Verwaltungsbeamten eine ähnliche Einrich­ tung wie die Kriegsakademie bei den Offizieren vor. Der Verwaltungs­ beamte müßte sehr viel umfassender auch in der gewerblichen Wirt­ schaft vorgebildet sein. ,,Die vollständige Unkenntnis der großen ge­ werblichen und wirtschaftlichen Unternehmungen und des Verkehrs­ lebens ist die Ursache, weshalb gerade in diese Betriebe von den Re­ gierungsgewalten vielfach mit vollständig ungeübter Hand eingegrif­ fen wird." Wie auch immer konnte bei den Vorschlägen der Senats­ kommission „von einer grundlegenden Umgestaltung der Verwaltung geschweige denn der Verfassung nicht wohl die Rede sein" 1 9 •

Die ganz unterschiedliche Rechtsstellung der Einwohner des Deutschen Reiches in ihrem Verhältnis zur Staatsgewalt läßt sich am Beispiel der gesetzlichen Regelung von polizeilichen Befugnissen erkennen: Wäh­ rend die preußische Gesetzgebung zwischen 1872 und 1883, und ihr folgend die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, die Handlungsermächtigung der Behörden durch die normativ ge­ schützte Freiheit der Bürger zu begrenzen suchten, stand die Württem­ bergische Verwaltungsrechtsprechung auf dem Standpunkt, den Behör­ den sei alles erlaubt, was ihnen nicht ausdrücklich verboten wäre. Möglicherweise vertraute man darauf, es liege bereits hinreichender Rechtsschutz in dem Umstand, daß die Polizei gemäß Art. 8 und 196 VI der Gemeinde- und Bezirksordnung vom 28. Juli 1906 zum „eigenen Wirkungskreis" der kommunalen Körperschaften gehörte. Es fehlt bis­ her an Untersuchungen über die Auswirkung dieser Regelung sowohl auf die staatlichen Belange als auch auf die Stellung der Bürger. IV.

Durch die normativ vollzogenen Veränderungen im ersten Dezen­ nium des Kaiserreichs erhielt die Verwaltung in den meisten deutschen Bundesstaaten ihre „Gestalt", die sich bis in die Gegenwart hinein kaum verändert hat, wiewohl die öffentlichen Aufgaben ein seinerzeit nicht voraussehbares Ausmaß annahmen. Dieser Umstand löste auch vor allem die schon bald nach dem Abschluß der großen Organisations­ veränderungen einsetzende Diskussion aus, die auf weitere Verbesse­ rungen der Verwaltungsstruktur drängten. Diese Wünsche und An­ regungen kamen diesmal aus der Wissenschaft und von der Praxist0 •

10 Die Reform der hamburgischen Verwaltung, in: Jahrbuch für Gesetz­ gebung, Verwaltung und Wirtschaft, hrsg. von Gustav Schmoller, 18, 1894, 4. Folge, S. 1 ff., 16 f., 38 f.

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Die Gründe hierfür, die durch ein Unbehagen ausgelöst wurden, sind vielfältiger Art: Die Erwartung Gneists und seiner politischen Freunde, nicht zuletzt der Minister Graf Eulenburg und Friedenthal, durch eine Reorganisation der Selbstverwaltung den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft und zugleich damit die gesellschaftlichen Klassen­ gegensätze zu überwinden, konnten sich nicht erfüllen, weil man nicht die hierfür erforderliche weitere Konsequenz zog, das Wahlrecht für die kommunalen Körperschaften wie überhaupt zu den Parlamenten das gilt vor allem für das Preußische Abgeordnetenhaus - zu erwei­ tern. So hatte, nach einem Wort des Bremer Bürgermeisters Wilhelm Kaisen, der Arbeiter „keinen Zutritt zum Staat" 21 • Verhinderte in Preußen das plutokratische Wahlrecht vor allem die erhofften Wirkungen der Festigung des Rechtsstaates durch die Bür­ ger selbst, so verlief die Entwicklung in einigen süddeutschen Ländern in dieser Richtung günstiger: Abgesehen von Württemberg, in dem bereits seit 1822 die meisten Einwohner jedenfalls an der Kommunal­ verwaltung teilnehmen konnten, brachte die Bayerische Gemeinde­ ordnung von 1 869 eine beträchtliche Ausdehnung des Bürgerrechts, so daß auch hier die Zahl der sich aktiv mit der Selbstverwaltung be­ schäftigenden Einwohner anstieg. Allerdings kostete die Verleihung des Bürgerrechtes nach wie vor so viel, daß der Betrag für viele Arbeiter nicht erschwinglich war. So stand auch hier zumeist die Zahl der Bür­ ger in einem Mißverhältnis zur Einwohnerzahl mit ihren negativen Folgen für die Einstellung eines beträchtlichen Teiles der Bevölkerung zu ihrem staatlichen Gemeinwesen. Trotz dieser Unterlassungen besaßen die der Festigung des Rechts­ staates dienenden Verwaltungsverbesserungen der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche „Langzeitwirkung" bis in die Ge­ genwart hinein, weil sich in den folgenden Jahren die Erkenntnis vom verfassungsrechtlichen Wert der kommunalen Selbstverwaltung ver­ tiefte und zugleich die richterliche Kontrolle der administrativen Tätig­ keit zum Bestandteil des Staatsverständnisses wurde. So zielten denn auch die Vorschläge und Wünsche weniger auf um­ fassendere Organisationsveränderungen als auf Verbesserung der administrativen Tätigkeit, vor allem auf Vereinfachung hin, die man durch klarere Zuständigkeitsverteilung einzelner Maßnahmen zu er­ reichen hoffte. Überschneidungen der Aufgabenkreise und Hemmungen 20 Nachweisungen bei Fritz Stier-Somlo, Zur Reform der preußischen Staatsverwaltung. Berlin 1909, S. 7 ff. 21 Wilhelm Kaisen in : Die Zeit vom 9. Juli 1965 : ,,Was uns mit Preußen verbindet, sind Arbeitsamkeit, Regsamkeit, sich nach der Decke strecken, Sparsamkeit" (aus der Ansprache des Bremer Bürgermeisters als Bundes­ ratspräsident im Herbst 1959).

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im Geschäftsgang lösten immer wieder Kritik in der Öffentlichkeit aus, die von „Männern der Verwaltung" und der Wissenschaft aufgenom­ men und erörtert wurden, um dann mancherlei konkrete Entwürfe zur Behebung von Mißständen vorzulegen. Außer diesen publizistischen Bemühungen vollzog sich jedoch auch manche interne Verbesserung der Verwaltungstätigkeit, so, wenn der preußische Innenminister von Puttkamer 1885 den Behörden die Pflege der deutschen Sprache zur be­ sonderen Aufgabe machten .

Noch weiter reichten die auf größere Effektivität gerichteten Ver­ besserungswünsche im „Runderlaß betreffend die Vereinfachung des Geschäftsganges und die Verminderung des Schreibwerks" von 1897. Die darin enthaltenen Anordnungen des preußischen Staatsministeriums sollten von Staats- und Kommunalbehörden auch im Verkehr mit dem Publikum beachtet werden. Dazu heißt es im Runderlaß: ,,Die Schreib­ weise der Behörden soll knapp und klar sein, ihrer Stellung zueinander und zum Publikum auch in der Form entsprechen und sich der allge­ mein üblichen Sprache des Verkehrs anschließen. Entbehrliche Fremd­ wörter, veralterte Kanzleiausdrücke und überflüssige Kuralien sind zu vermeiden. Der, in engen Grenzen zu haltende, Gebrauch von Höf­ lichkeitswendungen muß wesentlich dem Taktgefühl überlassen bleiben. Sie können auf Ausdrücke ,gehorsamst, ergebenst' oder ,geneigtest, ge­ fälligst' beschränkt oder, sofern nur die erforderliche Höflichkeit der Ausdrucksweise im übrigen gewahrt bleibt, ganz weggelassen wer­ den . . . . Als Vorbild für die Spracheinheit kann das Bürgerliche Ge­ setzbuch dienen . . . . Die Grundzüge bezweckten, den Geschäftsgang zu vereinfachen und das Schreibwerk zu vermindern. Die Verfolgung die­ ses Zieles darf jedoch nicht dazu führen, daß die Ausdrucksweise in dem Verkehr der Behörden untereinander ungehörig oder gegenüber dem Publikum unhöflich wird." Bemerkenswert ist vor allem der letzte Hinweis: die Pflicht der Höflichkeit gegenüber dem „Publikum", d. h. gegenüber Ratsuchenden

n Die Maßnahmen erfolgten infolge des Erlasses vom 21. Januar 1880 über die Berichtigung der deutschen Rechtschreibung, die Robert von Puttkamer noch als preußischer Kultusminister eingeleitet hatte. Er war Innenminister von 1881 - 1888. Manche ministeriellen Erlasse aus dieser Zeit zur Verein­ fachung der Verwaltungsführung lassen erkennen, mit welcher Intensität man um Verbesserungen bemüht war. - Zu den Persönlichkeiten, die aus der Praxis bemerkenswerte Vorschläge machten, gehören Graf Hue de Grais, Graf Keyserlingk, Lotz, von Zedlitz und Neukirch, Preußische Jahrbücher 107, 1902, S. 24 ff. (von Puttkamer), Preußisches Verwaltungsblatt 29, 1907/ 08, S. 44 ; Landrat Curt von Massow, Reform oder Revolution? Berlin 1894 u. a. Eine wichtige Schrift veröffentlichte R. Graf Keyserlingk, Wege und

Ziele preußischer Verwaltungsreformen. Berlin 1912; hierzu ausführlich Joachim von Elbe, Die Entwicklungslinie der preußischen Verwaltungs,­ reform, in : Verwaltungsarchiv 33, 1928, S. 197 ff. ; G.-Chr. von Unruh, Ur­ sachen, Maßstäbe und Erfolg staatlicher Reformmaßnahmen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Westfälische Forschungen 23, 1971, S. 20 ff., 32 ff.

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und an Verfahren Beteiligten. Mag dieser Appell an die „Bediensteten" auch nicht immer den gewünschten Erfolg gehabt und immer noch nicht haben, so muß man doch die Vorstellung von einer selbstherr­ lichen Unverbindlichkeit oder gar Überheblichkeit der öffentlichen Verwaltung in der Vergangenheit korrigieren.

Die weiteren Anordnungen des Erlasses erstrecken sich dann auf Formen der Schriftstücke im allgemeinen, wobei hervorgehoben wird, daß „Wiederholungen des in der Inhaltsangabe bereits Gesagten, der Ergebenheits- und vor der Unterschrift die Wiederholung der auf der ersten Seite bereits angegebenen Bezeichnung der schreibenden Be­ hörde" zu vermeiden sind. Der Inhalt des Erlasses zielt auf eine mög­ lichst knappe Formgestaltung ab: ,,Der schriftliche Verkehr zwischen Abteilungen derselben Behörde und je nach Lage der Verhältnisse auch zwischen verschiedenen Behörden, namentlich an demselben Ort befind­ lichen, ist zu vermeiden, soweit seine Ersetzung durch mündliche Be­ sprechung thunlich erscheint. Nöthigenfalls ist ein kurzer Vermerk über die Unterredung zu den Akten zu bringen." Dem technischen Zeit­ alter gemäß sollte „von Telephon- und Telegraphenverbindungen, so­ fern zweckentsprechend, ausgiebiger Gebrauch" gemacht werden, wie auch vom „urschriftlichen" Verkehr, von der Verwendung von Postkar­ ten und, wenn zweckmäßig, auch von Formularen. Desgleichen sind mechanische Hilfsmittel soviel als möglich einzusetzen: ,,Schreibma­ schine, Stempel, Kopierpressen, Hektographen und dergleichen", d. h. Einrichtungen zur Rationalisierung des Geschäftsbetriebes.

Zum Schluß wird die Notwendigkeit von permanenten Bemühun­ gen um Vereinfachung noch einmal hervorgehoben: ,,Durch wiederholte Prüfungen und nöthigenfalls durch den Erlaß von Bureauordnungen, in denen über die Geschäftsverteilung, Anlegung der Akten, Geschäfts­ bücher, Verzeichnisse, Formulare usw. Bestimmungen getroffen werden, ist auf möglichste Vereinfachung des Geschäftsganges in den Bureaus hinzuwirken." Damit hängt unmittelbar die seinerzeit wichtigste ratio legis zusammen: ,,Bei dem gesamten Geschäftsverkehr ist auf die mög­ lichste Vermeidung von Kosten gebührend Bedacht zu nehmen23 ." Die ministerielle Weisung ist zwar nicht ohne Wirkungen geblieben, doch war und ist es offenbar ein sehr schwieriges Unterfangen, den „Stil" der Verwaltung aufzulockern, vor allem aber, die sprachlichen Barrieren zum Bürger abzubauen. Dabei handelt es sich wohl um eine permanente Aufgabe, andernfalls hätte der Oberbürgermeister

23 Ein Sonderdruck des Runderlasses von 1897 fand sich beim Aufräumen eines Büroschranks, doch ging das Exemplar später verloren. Erhalten blieb lediglich eine Abschrift des wichtigsten Inhalts. Es konnte bisher eine andere Fundstelle für den vom königlich-preußischen Staatsministerium publizier­ ten Erlaß noch nicht festgestellt werden. G.-Chr. von Unruh, Verwaltungs­ vereinfachung vor 70 Jahren, in : Der Landkreis 34, 1964, S. 420.

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von Nürnberg nicht unlängst seine „Sieben Regeln für den guten Ton im Brief" für seine Behörden aufzustellen brauchen: ,,Eine bürgernahe Verwaltung erfordert eine bürgernahe Sprache" - nach wie vor ein wichtiges Anliegen für Reformen24 ! Auf die Fülle der nach 1 883 von Wissenschaft und Praxis vorgelegten Vorschläge zur Reform ist hier nicht im einzelnen einzugehen. Nur einige besonders wichtige Sach­ bereiche und Betrachtungen zu ihrer Verbesserung verdienen Erwäh­ nung: Zunächst spielte vor allem aus städtischer Sicht die Kommunali­ sierung der Polizei eine bedeutende Rolle wegen der unterstellten un­ angebrachten Bindung der Selbst- an die Staatsverwaltung. Anlaß zur Kritik boten vor allem seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts §§ 165 ff. der Städteordnung von 1 808, worin „die Ausübung der Polizei dem Magistrate" übertragen war, ,, der sie sodann vermöge Auftrags" ausüben sollte, wobei auch eine andere Möglichkeit, ,,in den Städten eigene Polizeibehörden anzuordnen" , dem Staat vorbehalten blieb. ,,Die Magisträte" wurden gemäß § 166 StO in dieser Hinsicht „ als Be­ hörden des Staates betrachtet" , was zunehmend antagonistischer Be­ trachtung der Staats- und Selbstverwaltung Anlaß zu Beanstandungen gab. Sie richteten sich allerdings keineswegs gegen die Wahrnehmung von polizeilichen Aufgaben durch kommunale Organe, sondern lediglich gegen ihre Bindung an staatliche Weisungen.

Der spätere Finanzminister von Miquel formulierte nicht nur die zeitliche Kritik, sondern kleidete sie in eine allgemein gültige Aussage über den Zusammenhang von polizeilichen zu den übrigen Verwal­ tungsaufgaben: ,,Die polizeiliche Tätigkeit ist unteilbar. Ich kann keine Gesundheitspolizei handhaben mit Verboten, ich muß positiv die er­ forderlichen Einrichtungen schaffen können, dazu die Mittel haben, um wirklich heilsam zu wirken. Ich kann keine Armenpolizei lediglich zur Bestrafung der Bettler üben, ich muß vielmehr die Institutionen schaf­ fen können, die der Entstehung der Armut entgegentreten oder wenig­ stens eine richtige Behandlung der Armen ermöglichen. Die polizei­ liche Tätigkeit ist nur dann segensreich, wenn sie ungeteilt vorhanden ist und von einem Körper ungeteilt besessen und ausgeübt wird. " Deshalb sollte man sich davor hüten, ,,die eigentliche Kommunalgewalt jemals zu trennen von der sog. Polizeigewalt" 25 •

!4 Bericht „Wie man besseres Amtsdeutsch spricht" mit ausfOhrlicher Wiedergabe der „Sieben Regeln für den Umgang mit dem Bürger" des Nürnberger Oberbürgermeisters Andreas Urschlechter in : Die Welt vom 25. August 1976. Dort auch die Wiedergabe der Dienstanweisung eines Reinigungsunternehmens in New York: ,,Sämtliche Papierkörbe sind zu leeren, auch die vermeintlich ohne Inhalt. Die Entscheidung, ob ein Papier­ korb leer ist oder nicht, kann nur der Kolonnenleiter treffen." - Zum „Stil" der Verwaltung : F. L. Knemeyer, Verwaltungsreform, in: Festschrift für Küchenhoff, 2. Halbband, 1972, S. 557 ff. 2s Protokolle des Preußischen Abgeordnetenhauses 1869, S. 1268.

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Miquels Darlegungen zielten auf die Abänderung hin, daß die Polizei nicht mehr wie bisher „im Namen des Königs", d. h. aus dem Auftrag des Staates und mit Verantwortlichkeit gegenüber den vorgesetzten staatlichen Behörden, sondern als Organ der Gemeinde mit Verant­ wortlichkeit gegenüber der gewählten Vertretung geübt werden sollte. So wenig wie damals ging später Miquels Wunsch in Erfüllung, viel­ mehr wurde auch nach 1945 in keinem Land der Bundesrepublik eine ,,Kommunalisierung" der Polizei in dem beantragten Sinne vollzogen, mochte sie auch in Württemberg seit 1905 zum „eigenen Wirkungskreis" der Gemeinden gehören.

Auch die Kommunalaufsicht schuf manche Probleme, solange es eine kommunale Selbstverwaltung gibt. In Preußen suchte man den grö­ ßeren kreisangehörigen Städten dadurch entgegenzukommen, daß man die Aufsichtsbefugnisse der staatlichen Mittelbehörde, dem Regie­ rungspräsidenten, übertrug, während der Landrat sie als Vorsitzender des Kreisausschusses über die übrigen kreisangehörigen Gemeinden übte. Im Zuge der Reformüberlegungen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schlug Gerhard Anschütz vor, nach dem Vorbild der ba­ dischen und württembergischen Gesetzgebung keine Unterschiede mehr zu machen und auch die kreisangehörigen Städte der Kommunalauf­ sicht von Kreisorganen zu unterstellen. Anschütz war sich in Kenntnis der bereits geäußerten Widersprüche verschiedener Städteorganisa­ tionen bewußt, daß ein „gegenwärtig noch recht unpopulärer Gedanke, der namentlich bei den Städten, die jetzt alle, einschließlich der aller­ kleinsten, unmittelbar unter dem Regierungspräsidenten stehen", auf starken Widerspruch stoßen würde, um so mehr als er bereits damals schon die Einbeziehung größerer, bisher kreisfreier Städte „vielleicht bis zur Einwohnerzahl von 40 000 oder 50 000", in Betracht gezogen wissen wollte. Allerdings sollte dann eine „Abschwächung der Aufsicht und die dadurch bedingte größere Freiheit der kommunalen Selbst­ verwaltung" praktiziert werden, wobei Anschütz vor allem an eine Einschränkung des Genehmigungs- und Bestätigungsrechts dachte. In Erkenntnis der recht einschneidenden organisatorischen und funk­ tionalen Veränderungsvorschläge stellt Anschütz auch die Frage, ,,ob für die ausschließlich durch berufsmäßige Staatsbeamte geleitete, nach dem Muster der in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten bestehenden unteren Verwaltungsbehörden (Bezirks-, Oberämter, · Amtshauptmann­ schaften, Kreisdirektionen) eingerichtete Kreisbehörde den Namen Landrat und Landratsamt noch passend wäre". Nach seiner Meinung erinnert der Name „an die Zeit, als der Landrat noch gar nicht Beamter des Landesherrn, sondern des ,Landes', d. h. der Land- (bzw. Kreis-) Stände war". Anschütz erscheint als Bezeichnung der unteren Behörde der allgemeinen Verwaltung der Name „Kreisdirektion" oder „Kreis-

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amt" und ihres Vorstandes als „Kreisdirektor" sachentsprechender wie Landratsamt und Landrat. Allerdings schließt er den diese Überlegun­ gen enthaltenen Absatz mit den Worten: ,,In verbis simus facilis."

Zur Verbesserung der Erledigung von einzelnen Aufgaben hält An­ schütz zwar die Übertragung der Schulaufsicht auf den Kreisausschuß

für nicht empfehlenswert, stellt jedoch zur Erwägung, ob nicht beson­ dere kollegiale Kreisschulbehörden zu schaffen seien. Allerdings wird dieser Vorschlag nicht näher präzisiert. Anschütz denkt, unter Berück­ sichtigung der Rechtslage, wonach die Gemeinde Trägerin der Volks­ schullast und Subjekt der sog. äußeren Volksschulverwaltung ist, ihr auch „die Lokalfunktion der inneren Schulverwaltung - natürlich wie bei der äußeren, und der Städteaufsicht und Leitung der oberen Schul­ behörde - zu überweisen". Wie allerdings die Einrichtung dieser in Betracht gezogenen Ortsschulbehörden im einzelnen vorzustellen ist, bleibt offen.

Ein Anliegen von besonderer Wichtigkeit war damals wie heute die Frage nach der Vereinfachung des Behördenaufbaues. Die Aufhebung der zwischen Kreis und Gemeinde stehenden Amtsvorsteher und Be­ seitigung des Oberpräsidenten als Provinzialinstanz würde in mancher­ lei Hinsicht positive Wirkungen zeitigen, wobei es auffällt, daß An­ schütz manche Befugnisse der Provinzialinstanz „auf spezielle, auf be­ stehende oder neu zu errichtende Sonderbehörden" übertragen wissen will. Es gilt vor allem für Volksschul- und Finanzsachen. Die dazu ausgeführten Begründungen wirken jedoch nicht überzeugend. Trotz­ dem sind sie in der Folgezeit jedenfalls teilweise verwirklicht worden: Durch die monokratische Behörde des Schulrates (allerdings regelmäßig im dekonzentrierten Verhältnis unter der Schulabteilung der staat­ lichen Mittelbehörde) und der im Zuge der Erzbergerschen Reform eingerichteten Sonderbehörden für die Finanzverwaltung.

Am Schluß seiner Ausführungen wird das eigentliche Anliegen von

Anschütz deutlich: Er kritisiert, daß in den kollegialen Behörden (Kreis­

ausschuß, Bezirksausschuß und Provinzialausschuß) die Städte keinen hinreichenden Einfluß besäßen, was mit Rücksicht auf die zunehmende Urbanisierung des Staates einer Korrektur bedürfe. Diese Korrektur wieder in einer gesetzlichen Vorschrift, die sicherstellt, daß jedenfalls die Hälfte der gewählten Mitglieder dieser Organe städtische Bürger sein sollen. Die Vorlage eines damals völlig unrealisierbaren Planes ist er­ staunlich. Zutreffend moniert Verfasser allerdings, das vor allem für die Besetzung der Kreisorgane geltende Wahlsystem, in dem, vor allem im Osten Preußens, die maßgebende Macht „der herrschenden Klasse des flachen Landes reserviert" sei. Daß tatsächlich das Drei-Klassen­ Wahlrecht der Durchführung von notwendigen Reformen besonders hemmend im Wege stand, sah Anschütz richtig, wenn auch das von

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ihm vorgeschlagene Besetzungsverfahren die Spannungen in den Kol­ legien kaum beseitigt haben würde. Trotzdem hat wohl kaum ein an­ derer es so deutlich wie er ausgesprochen: ,,Die Ausgleichung dieses ungerechten Übergewichtes zu Gunsten anderer, spezifisch städtischer Bevölkerungsklassen, des erwerbstätigen Bürgertums und des Arbeiter­ standes bildet eines der schwersten Reformprobleme nicht sowohl der Verwaltungs-, als überhaupt der inneren Politik des preußischen Staa­ tes, - vielleicht das Wichtigste von allen. Es muß und wird auch einst, so oder so, gelöst werden" , weil die Entwicklung zum „Industrie- und Handelsstaat" damit das Ende des sog. Agrarstaates gründliche struk­ turelle Veränderungen gebot28 •

V. Ein Ergebnis der vielen, hier nicht näher behandelten publizistischen und internen administrativen Bemühungen um eine organisatorische Verbesserung der Administration war um die Jahrhundertwende in Preußen ein vom preußischen Ministerpräsidenten Fürst Bernhard von Bülow gezeichneter Erlaß vom 7. Juni 1909, wonach die „ als notwendig erkannte Reform der gesamten inneren Verwaltung gefördert und be­ schleunigt" werden sollte. Zu diesem Zweck wurde eine Immediatkom­ mission eingesetzt, welche gesetzgeberische Maßnahmen vorzubereiten hatte. Vereinfachung und Dezentralisation, Überprüfung der Geschäfts­ formen des Behördenaufbaus, der Verteilung der Geschäfte und eine Verbesserung der Rechtsmittel wurden als spezielle Arbeitsaufgaben bezeichnet. Allerdings schränkte der preußische Innenminister von Moltke die Erwartungen von vornherein ein, wenn er am 19. Januar 1909 im Preußischen Abgeordnetenhaus erklärte, man dürfe sich auf Verbesserungen im einzelnen beschränken, da sich die Organisation der Verwaltung im ganzen bewährt habe27. Auch wenn man von der Richtigkeit dieser Feststellung ausgehen wollte, waren es doch gerade die „Verbesserungen im einzelnen" , welche die Verwaltung in den Stand setzen mußten, die durch den industriell­ technischen Prozeß ausgelösten öffentlichen Aufgaben optimal zu be­ wältigen. Obwohl nun in der Immediatkommission neben Vertretern der Staats- und Selbstverwaltung auch Vertreter der gewerblichen Wirt­ schaft wie der Industrielle Alfred Krupp von Bohlen, der Bankier Del­ brück und ein so bedeutender Gelehrter wie Gustav SchmoHer Sitz und Stimme hatten, wurden die gestellten Aufgaben nicht gelöst. Eine 2'6 Gerhard Anschiitz, Richtlinien preußischer Verwaltungsreform, in: Fest­ schrift der Berliner juristischen Fakultät für Ferdinand von Martitz zum 50jährigen Doktorjubiläum 1911. Berlin 1911, S. 469 tt. 21 Preußisches Verwaltungsblatt 31, 1910, S. 846 tt.

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Chance, die man der Verwaltung gab, wurde von ihr nicht genutzt. So mußte denn auch der Minister im Herrenhaus im Januar 1914 feststel­ len, daß der aufgrund einer Kommissionsvorlage verfaßte Entwurf zu einem Landesverwaltungsgesetz „seltsam nüchtern und trocken an­ mute". Das Preußische Herrenhaus billigte zwar die Vorlage, doch nahm das Abgeordnetenhaus sie nur zögernd auf. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfiel die Novelle der Vergessenheit28 • VI.

Eine deutliche Zäsur im Entwicklungsgang der deutschen Verwaltung oder auch eine neue Epoche der deutschen Verwaltungsgeschichte be­ ginnt im Ersten Weltkrieg: Bisher völlig unbekannte Aufgaben wie die Lebens- und Futtermittelversorgung, eine umfassende Betreuung von Kriegsverletzten und -hinterbliebenen mußten als „Kriegswohlfahrts­ pflege" in einer Spannung zwischen fehlenden Arbeitskräften und zu­ nehmender Arbeitslast bewältigt werden. Mit den 1916 und 1917 er­ lassenen Vorschriften (Hilfsdienstgesetz vom 5. Dezember 1916, Erlaß des preußischen Innenministers vom 18. März 1916 betreffend Ausbau der Selbstverwaltung und vom 6. August 1917 betreffend Arbeitsbe­ schränkung bei den Staatsbehörden) suchte man sich zunächst den neuen Gegebenheiten anzupassen. Zugleich aber wurde die „große" Reform vorbereitet, indem man nach förmlicher Auflösung der Immediatkom­ mission den späteren Minister des Innern Bill Drews zum Staatskom­ missar für die Vorbereitung der Verwaltungsreform am 17. Januar 1917 bestellte. Bereits Ende Juli 1917 war die (allerdings erst 1919 publizierte) Denkschrift über „Grundzüge einer Verwaltungsreform" fertiggestellt. Sie gilt mit Recht nach wie vor als das Werk eines großen „Meisters der Verwaltung", handelt es sich doch um den ersten Versuch, das umfangreiche Gebiet der Verwaltung im modernen Staat unter ein­ heitlichen Gesichtspunkten zu betrachten. War auch der Auftrag hierzu von einem Bundesstaat, allerdings dem größten im Reich, ausgegangen, so waren die Vorschläge doch für ganz Deutschland von Bedeutung. Sie wirkten fort, auch wenn sie in der Folgezeit nur in beschränktem Um-

28 Protokolle des Preußischen Herrenhauses 1914, S. 27; Rede des Minister­ präsidenten Fürst Bülow im Abgeordnetenhaus am 19. Januar 1909 ; Elfte Kommission des preußischen Herrenhauses, Drucksache, 1914, Nr. 34, S. l ff. ; der Entwurf einer „Novelle zum Landesverwaltungsgesetz" in: Drucksache des Preußischen Herrenhauses 1914, Nr. 6 und 34. Der Oberpräsident sollte von Verwaltungsaufgaben entlastet werden, welche der Regierungspräsident übertragen erhielt, das Bürosystem und das Verfahren in Beschlußsachen sowie der Rechtsmittelweg vereinfacht werden. Die Verabschiedung der Vorlage hätte zwar nicht alle Probleme gelöst, aber doch mancher Verein­ fachung und damit Verbesserung des Verwaltungsverfahrens und damit auch des Verhältnisses von Staat und Bürger gebracht.

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fang realisiert wurden, weil immer wieder ein Blick in die Darlegun­ gen von Drews zur Besinnung auf die Maßstäbe verhilft, nach denen unter allen Umständen verwaltet werden muß29 •

Treffend erkannte Drews die Unrealisierbarkeit der Vorstellungen von Hugo Preuß, die dieser 1919 im „Selbstverwaltungsstaat" zu ver­ wirklichen trachtete. Eine „derartig umgestaltete Verwaltung" schien Drews kaum „sachlich besser oder auch nur ebenso gut arbeitend als die des bisherigen Obrigkeitsstaates". Wichtiger nahm Drews damals und später die Verbesserung des Rechtsschutzes, den er vor allem durch kriegsbedingte „Vereinfachungen" als gemindert gegenüber dem ur­ sprünglichen Zustand erkannte. Deshalb bezeichnete er eine „grund­ sätzliche Vereinheitlichung des ersten Rechtsmittelschrittes in allen Verwaltungsangelegenheiten" als vordringlichste und wichtigste Auf­ gabe für eine Verwaltungsreform, wobei er sich ausdrücklich auf die Gneistsche „Grundidee" bezog: ,,Wenige Dinge wirken auf den Staats­ bürger verbitternder gegen den Staat und gegen die Verwaltung, als wenn er mit einem Rechtsmittel lediglich um des Willen abgewiesen wird, weil er es nicht fristgemäß an der richtigen Stelle eingelegt hat." Zum ersten Mal wurde aus diesem Grund und aus anderen Gründen eine „selbständige Verwaltungsgerichtsordnung" gefordert30 •

Unmittelbare Wirkungen zeitigten nichtsdestoweniger Drews Be­ mühungen nicht. Noch zehn Jahre später 1929 mußte der Kommunal­ dezernent im preußischen Innenministerium Ministerialdirektor von Leyden zugeben, daß die „Geschichte der Verwaltungsreform in Preu­ ßen nicht gerade ermutigend" sei, weil viele Ansätze hierzu an par­ teipolitischen Gründen gescheitert seien. Immerhin traf man doch im Einführungsgesetz zum Gesetz über die Neugliederung des rheinisch­ westfälischen Industriegebietes vom 29. Juni 1929 für das ganze Staats­ gebiet wichtige Bestimmungen nach den Orientierungspunkten „De­ zentralisation und Dekonzentrierung", indem man neben anderem in §§ 43 - 49 die „Kompetenz-Kompetenz" der Kreise einführte31 •

" Bill Drews, Grundzüge einer Verwaltungsreform. Berlin 1919; zu den gleichzeitigen Bemühungen eine Verbesserung des Personalwesens Alfred Lotz, Die Reform der Verwaltung im allgemeinen, in : Die Reform des deutschen Beamtentums, hrsg. von Adolf Gra.bowsky. Gotha 1917 , S. 35 ff. 30 „Daß unsere Verwaltungsbürokratie sich an eine Verwaltung ohne Rechtskontrolle gewöhnt hat, sich wohl dabei fühlt und diesen Zustand der Selbstkontrolle ihrer Rechtmäßigkeit gern erhalten und weiter ausdehnen will, ist an sich verständlich." Das gilt nicht für die fehlende Initiative der Parlamente, für effektiven Rechtsschutz zu sorgen. Bill Dretos, Vom Ausbau der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 78, 1924, S. 592 f., 601 f., 608 f. ; ders., Verwaltungsreform, in: Deutsche Juristenzeitung 24, 1919, S. 362 ff. 3 1 Vikto, von Leyden, Preußische Verwaltungsreform. Berlin 1929, S. 7. Damals betrugen die Kosten der öffentlichen Verwaltung in Preußen pro

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Auch die mit den Sonderbehörden zusammenhängenden Fragen wurden im Zusammenhang mit Verwaltungsreformplänen in der re­ publikanisch-parlamentarischen Epoche Preußens erörtert. Dazu führte von Leyden 1929 aus, die Forderung, ,,daß die Angliederung der Son­ derverwaltungen an die allgemeine Landesverwaltung sehr viel enger sein muß, als es jetzt der Fall ist", würde zwar von allen Seiten aner­ kannt, doch gingen gerade „in diesem Punkte die Ansichten sehr weit auseinander, wo die Eingliederung geschehen soll". Die Schulverwal­ tung sollte damals beim Regierungspräsidenten vereinigt werden; ähn­ lich lagen die Dinge bei den Landwirtschaftsbehörden. Auf andere Sonderbehörden ging von Leyden nicht ein. Die im Anschluß an das Referat über „preußische Verwaltungsreform" geführte Diskussion des Vereins für Kommunalwirtschaft und Kommunalpolitik anläßlich der Tagung im Juni 1929 in Hamburg zeigte, daß über grundlegende Fra­ gen, die seinerzeit behandelt und teilweise normativ geregelt wurden, vor allem über Kompetenz-Kompetenz der Kreise oder sogar der Provinzialverbände, Umfang der Dekonzentration und Durchführung von Arbeitsgemeinschaften zwischen „Stadt und Land", erhebliche Mei­ nungsdifferenzen bestanden. Was in parlamentarischer Arbeit nicht gelungen war, wurde am Ende der Republik durch eine Verordnung vom 1. August 1932 über Verwal­ tungsuereinfachung und Stärkung der Verwaltungskraft angeordnet. Eine große Anzahl von kleineren Kreisen, vor allem in der Provinz Hannover, wurden zusammengelegt. Dieser Gebietsreform folgen in den kommenden Jahren weitere Regelungen, unter denen die Groß-Ham­ burg und Salzgitter-Gesetze besonders wichtig waren. Dagegen fand eine umfassendere Flurbereinigung der kommunalen Verhältnisse auf dem flachen Lande nicht statt. Trotzdem erfuhr in vielen Ländern des Reiches unter der Republik die Verwaltung bedeutende Verbesserungen, indem grundlegende Er­ kenntnisse der Verwaltungswissenschaft kodifiziert wurden, und zwar in Verfahrensvorschriften der Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919, der bedeutenden Landesverwaltungsordnung für Thüringen vom 10. Juni 192632 sowie dem inhaltlich in manchen Zügen daran an­ knüpfenden, von Bill Drews entworfenen preußischen Polizeiverwal­ tungsgesetz vom 1. Juni 1931, das die Grundlage für alle späteren Nor­ men zur Gefahrenabwehr der deutschen Länder mit Ausnahme von Bayern bildete. Außer Österreich und Thüringen gelang dagegen in Kopf der Bevölkerung 19 RM (nur Oldenburg war noch billiger!), während der Durchschnitt bei den anderen Ländern des Reiches bei 30 RM lag. R Reichsabgaben-Ordnung vom 13. Dez. 1918 (RGBl., S. 1993) i. d. F. 22. Mai 1931 (RGBl., S. 161) ; LVO für Thüringen vom 10. Juni 1926/22. Juli 1930 (§ S. 1930, S. 123) ; für Bayer. Gemeindeordnung U. Probst, Die Entwicklung der gemeindlichen Selbstverwaltung, S. 136 ff.

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keinem Land des deutschen Sprachraumes eine umfassende Regelung des Verwaltungsverfahrens. Ein 1931 in Württemberg unternommener Versuch für ein Verwaltungsverfahrensgesetz kam nicht zur Ausfüh­ rung. Unter den Kommunalgesetzen der Zeit verdienen vor allem das Groß-Berlin-Gesetz von 1920 und die bayerische Gemeindeordnung vom 27. Oktober 1927 Hervorhebung.

VII. Das Verhalten von Behörden gegenüber dem Bürger bestimmte zuerst im deutschen Sprachraum § 58 II des Österreichischen Allgemeinen Verwaltungsgesetzes von 1925, wonach die Bescheide zu begründen sind, .,wenn dem Standpunkt der Partei nicht voll inhaltlich Rechnung getragen oder über Einwendungen und Anträge von Beteiligten abge­ sprochen" wurde. Mit dieser Bestimmung sowie der vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung sollte gewährleistet werden, daß die Beteiligten die „sachlichen und logischen Voraussetzungen, die zur Erlassung des Spruches geführt" hatten, erfuhren, um in den Stand gesetzt zu wer­ den, diese gegebenenfalls im Streitverfahren zu entkräften. Indirekt enthielt der Begründungszwang die Verpflichtung der Behörden, bei der Ausübung ihres Ermessens alle in Betracht kommenden Überlegun­ gen anzustellen und die unterschiedlichen Belange gegeneinander sorg­ fältig abzuwägen33 • Bald nach Erlaß des österreichischen Verwaltungsgesetzes führte § 1 1 3 der Thüringischen Landesverwaltungsordnung die gerichtliche Generalklausel ein, wonach gegen jeden belastenden Verwaltungsakt nach einem Vorverfahren Klage im Verwaltungsstreitverfahren zuge­ lassen wurde. Im Zusammenhang damit stand der in § 67 LVO vorge­ schriebene Belehrungszwang über Rechtsmittel. Dagegen erhob der Reichskommissar Saemisch in seinem am 4. Oktober 1929 erstatteten Gutachten über die Landesverwaltung Thüringen Bedenken, weil „seit Einführung dieser Bestimmung die Zahl der Rechtsmitteleinlegungen stark gewachsen" sei, weil „ der Bürger in dem Hinweis auf Rechtsmittel leicht eine behördliche Aufforderung" erblicke, davon Gebrauch zu machen. Davon abgesehen seien nach den Erfahrungen die Rechtsmittel­ vorschriften „so schwer verständlich, daß es den verfügenden Behörden oft schwer" falle, eine richtige Rechtsmittelbelehrung zu geben. So könnten Behörden selbst Anlaß zu unrichtigen Verfahren geben. Diese einseitig aus der Sicht der Behörden, die sich noch nicht an eine rechtsstaatliche Pflicht gewöhnen konnten, geäußerte Meinung -

ss Rudolf Hermann von Herrnritt, Das Verwaltungsverfahren. Wien 1932, S. 105 ff. mit zahlreichen Zitaten höchstrichterlicher Rechtsprechung hierzu; das AVG wurde am 23. Mai 1950 neu verkündet (BGBl„ S. 711).

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Bill Drews hat diese Einstellung bereits nach dem Ausgang des Ersten Weltkrieges ironisch gerügt - fand allerdings keine Beachtung, was besonders im Hinblick auf die Entwicklung der folgenden Jahre von Bedeutung war.

Erst unter der sowjetischen Besatzung stellte, offenbar einem Wunsch der Besatzungsmacht folgend, die Fraktion der Sozialistischen Einheits­ partei Deutschlands (SED) im Thüringischen Landtag 1948 den Antrag (Landtagsdrucksache Nr. 351) für ein neues Gesetz über die Verwal­ tungsgerichtsbarkeit, worin ausdrücklich die Generalklausel aufgeho­ ben wurde. Dessen § 7 lautete: ,,Das Landesverwaltungsgericht ist zu­ ständig in Angelegenheiten, für die die Zuständigkeit durch Gesetz ausdrücklich bestimmt wird." In der Begründung zur Vorlage hieß es, daß „im Lande Sachsen, Brandenburg und Mecklenburg die Landtage neuerdings Gesetze über die Verwaltungsgerichtsbarkeit beschlossen" hätten, die von der Enumerativ-Methode ausgingen, der der Vorzug zu geben sei. Vergeblich hatte sich der Präsident des Thüringischen Ober­ verwaltungsgerichts Loening in einer Eingabe vom 17. März 1948 da­ gegen verwahrt und festgestellt, daß „Thüringen eine gute, praktisch bewährte und seit Erlaß der LVO im Jahre 1926 in ganz Deutschland allgemein anerkannte Regelung der Verwaltungsgerichtsbarkeit" bereits besitze, die einer Änderung nicht bedürfe. Loening hebt auch hervor, daß die auf dem Thüringischen Verwaltungsgerichtsbarkeitsgesetz vom 30. Mai 1923 (GS 393) beruhende Organisation der Verwaltungsgerichts­ barkeit „erst kürzlich seitens der deutschen Justizverwaltung der sowje­ tischen Besatzungszone als bahnbrechnd bezeichnet" worden sei und, „vor allem wegen ihrer das Kernstück des Rechtsstaates bildenden Generalklausel", Bedeutung besitze. Dabei meinte Loening damals noch, von einem „Zug der modernen gesamtdeutschen Rechtsentwicklung" sprechen zu dürfen. Die vorgesehene „Abschaffung der Generalklausel" stellte daher für das „thüringische Rechtsleben einen Rückschritt um 25 Jahre dar und bedeutet eine völlige Abkehr von der gesamtdeutschen Rechtsentwicklung, eine einschneidende Verminderung des verwaltungs­ gerichtlichen Rechtsschutzes der thüringischen Bevölkerung", was auch vom sozialen Standpunkt aus nicht gebilligt werden könnte34 • So wirkt 34 Helmut Loening, Kampf um den Rechtsstaat in Thüringen, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 75, 1949, S. 63 f., 73 ff. dort auch auf S. 61 Wiedergabe eines Schreibens der Wirtschaftskommission für die sowjetische Besatzungs­ zone vom 1. Juli 1948 an die thüringische Landesregierung, worin gerügt wird, daß sich das thüringische O:VG auch auf die Rechtsprechung in den westlichen Besatzungszonen (Urteil vom 6. Aug. 1947 - Bezug auf Better­ mann -) sowie andere Entscheidungen berufen hätten. Es sei auch bekannt, daß das thüringische OVG in seinen Urteilen zum Teil Entscheidungen des Bezirksverwaltungsgerichts für den britischen Sektor Berlin zitiert habe. Eine derartige Rechtsprechung dürfte sich auf die weitere Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der sowjetischen Besatzungszone und insbe­ sondere in Thüringen nicht günstig auswirken. ,,Es erscheint angebracht, daß

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es wie eine Ironie, daß der 1948 aus Gründen der Sicherung einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Herrschaft geäußerte und da­ nach durchgeführte Vorschlag, die Generalklausel für Rechtsmittel im Verwaltungsstreitverfahren aufzuheben - als Anfang einer fort­ gesetzten Beseitigung des Rechtsschutzes überhaupt -, bereits 1929 von einem bedeutenden Praktiker der Verwaltung, allerdings aus ganz anders gearteter Motivation gemacht worden war: Damals mochte Saemisch wohl davon überzeugt sein, daß im allgemeinen eine Behörde einem gewaltunterworfenen Bürger kein Unrecht täte und daß deshalb nur in ganz bestimmten Einzelfällen Fragen auftauchen könnten, welche der Entscheidung durch ein unabhängiges Gremium bedürften. Nicht zuletzt mochte diese Auffassung, die sich erheblich von der Drewschen Ansicht unterscheidet, von der theoretischen Unter­ scheidung der Gewalten bestimmt sein, wonach keine Gewalt einer anderen, hier die Justiz der Verwaltung, übergeordnet sein dürfte35 , ein Problem, das bereits die Entstehung der Verwaltungs­ rechtspflege im 19. Jahrhundert belastet hatte. VIII.

Saemischs Überlegungen und Vorlagen waren aber letzten Endes auf Einsparung von öffentlichen Ausgaben als wichtigste Voraussetzung für Verwaltungsreformen gerichtet. Sie hingen insofern mit den Absich­ ten zusammen, welche der 1928 vom ehemaligen Reichskanzler Luther als überparteiliche Verbindung gegründete „Bund zur Erneuerung des Reiches" verfocht und die er noch im April 1933 als Vorschläge zur ,,Reichsreform" veröffentlichte. Der Vorsitzende dieser Vereinigung, der den Demokraten nahestehende langjährige Reichswehrminister Otto Geßler, mochte damals noch das Vertrauen hegen, daß - zumal im Hinblick auf das bereits verabschiedete erste Reichsstatthaltergesetz die vom Bund geforderte, vor allem auf eine Überwindung der hegemo­ nialen Stellung Preußens abzielende Konsolidierung der politischen Verhältnisse im Reich eintreten würde. Jedenfalls schrieb Geßler in seinem Vorwort: ,,Die Übertragung des Prinzips von Autorität und Ver­ antwortung im Sinne der NSDAP auf die Staatsverwaltung wird zwar Einzelheiten modifizieren müssen, steht jedoch der Gesamttendenz dieser Denkschrift nicht entgegen, sondern bedeutet eine wirksame Steigerung der auch hier erhobenen Forderung nach Klärung und . . . das thüringische OVG künftighin bei seiner Rechtsprechung auf die Ent­ scheidung der Gerichte in der westlichen Besatzungszone verzichtet und • . . auf dem Wege zur Erstrebung einer wirklich demokratischen Rechtsprechung in der sowj etischen Besatzungszone keine Ausnahme macht." at1 ebd., S. 74 f.

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Verschärfung der Verantwortlichkeiten. Die Grundgedanken des Re­ formentwurfes haben durchaus noch Aktualität - ja, sie haben sie heute, wo die Verwirklichung der Rechtsreform bevorsteht, in ganz be­ sonderem Maße." Nur zu bald mußten die vom besten Wollen getra­ genen Persönlichkeiten, welche die Überzeugung ihres Vorsitzenden teilten, erkennen, daß die neuen Machthaber ganz andere Vorstellun­ gen als sie selbst von „Volk und Staat" hatten. Wurden mithin auch die vielen gründlichen Denkschriften und Entwürfe, die der „Bund zur Erneuerung des Reiches" teils unmittelbar vorgelegt, teils mittelbar gefördert hatte, zu jener Zeit Makulatur - ebenso wie der Bund alsbald seine Tätigkeit einstellen mußte -, so verdienen doch manche der damals geäußerten Erkenntnisse und Vorschläge zu Veränderungen nach wie vor Beachtung. Mehr als eine „politische Pflichtübung" war die Besinnung auf die leitenden Gesichtspunkte, welche den Freiherrn vom Stein bei seinen Reformen bewegt hatten. Man suchte sie in drei Grundsätzen zu for­ mulieren: Einheit der obersten Leitung, klarer und übersichtlicher Ver­ waltungsaufbau und kommunale Selbstverwaltung. Die Einheit der obersten Leitung wollte man nach einem „Aufgehen Preußens im Reich" durch große Kommunalverbände erreichen, die an­ stelle der Länder treten sollten. ,,Wie in der Zeit vor der Steinsehen Verwaltungsreform" hielt man ihre Organisation wiederum für zu „unzweckmäßig und kompliziert geworden" . Diesen Zustand trachtete man in wenig detaillierten Überlegungen durch die Schaffung von ein­ heitlichen Instanzenzügen vom Reich bis in die „mit Außenwirkung handelnden Behörden" zu erreichen. Bei den Überlegungen zur Selbst­ verwaltung ging man von der zutreffenden Feststellung aus, daß „ die Veränderung der akuten Probleme gegenüber der Zeit Steins besonders deutlich" geworden sei. Man erblickte sie vor allem in „parteipolitischer Hemmungslosigkeit und Einseitigkeit" und wollte deshalb die im ein­ zelnen nicht näher bezeichneten genossenschaftlichen Kräfte wecken36 • Es erübrigt sich, die auf Veränderung der Verfassung hinzielenden Vorschläge näher zu betrachten - wobei vor allem die gesetzgeberische Kompetenz des Reiches z. B. in Bildungssachen erweitert werden und ,,Reichslandprovinzen" neben den „Ländern alter Art" ohne die Quali­ fikation der „ Staatlichkeit" vorgesehen, jedoch auch die bisherigen 3& Am Anfang des Buches wird ein Brief des Freiherrn vom Stein an Niebuhr wiedergegeben : ,,Es tut große Not, daß bei uns eine andere Ordnung der Dinge eintrete, auf uns lastet Neuerungssucht mit ihren unverdauten Emanationen, eine kostbare in alles eingreifende Beamtenhierarchie . . . die passive Masse der Verwalteten liegt auf dem Amboß, wird gehämmert, bald mit dein Possekel des Grobschmiedes, bald mit dem Hämmerchen des Schuhflickers und ihr erscheint das Vaterland nur fordernd, . . . in Anspruch nehmend."

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Länder diesen Selbstverwaltungskörperschaften in ihrer Stellung an­ genähert werden sollten -, doch sind manche Gedanken zur Verbes­ serung der administrativen Verhältnisse nach wie vor beachtenswert: Vor allem die zuvor erschienenen Schriften von Köttgen und Forsthof! fanden aufmerksame Berücksichtigung, insbesondere Köttgens These von der „wesensgemäß neutralen Position" der Gemeinde gegenüber allen anderen „Gruppierungen" . In der darin liegenden Garantie einer „ umfassenden Friedensordnung" erblickte man die Legitimität der kommunalen Selbstverwaltung: ,,Nur das zuletzt im Heimatgefühl wurzelnde Bewußtsein genossenschaftlicher Solidarität aller Bürger eines Kommunalverbandes bietet eine sichere Grundlage für die kom­ munale Selbstverwaltung37 . " Zur Stärkung des „genossenschaftlichen Elementes" wird die Um­ wandlung der bestehenden „Einwohnergemeinde" in eine „Bürger­ gemeinde" durch Verleihung des Gemeindebürgerrechts anstelle des gemäß Art. 17 II AV 1919 erfolgenden automatischen Erwerbs in Er­ wägung gezogen, doch brauchte dabei „ die Demokratisierung des kom­ munalen Wahlrechts" im Prinzip nicht geändert zu werden. Lediglich einige Modifizierungen im Hinblick auf genügende Lebenserfahrung der Wahlberechtigten werden genannt. Als wesentliches Strukturelement der kommunalen Selbstverwaltung wird j edoch „das Zusammenwirken der gewählten Berufsbeamten und der ehrenamtlichen Kräfte" bei der kommunalen Willensbildung erkannt. Deshalb wird eine „überpartei­ liche" Gesinnung der gemeindlichen Wahlbeamten durch Rechtsnormen zu sichern gefordert. Im übrigen wird „das Wesen des gemeindlichen Aufgabenbereichs" gegenüber dem staatlichen darin gesehen, ,, daß er die unmittelbaren technisch-wirtschaftlichen und kulturellen Existenzvoraussetzungen des bürgerlichen Lebens zu gewährleisten hat, soweit der Familien- oder Haushaltungsverband sie zu gewährleisten nicht mehr im Stande ist". Dazu gehören Bau und Unterhaltung von Kommunikationsanlagen, Wasser- und Energieversorgung, Brandschutz und „erster und unmittel­ barer Polizeischutz" außer den Sport- und Körperertüchtigungsanstal­ ten, Krankenhäusern und Bildungsanstalten (Volks- und Mittelschulen). „Allen diesen Leistungen ist der unmittelbare Zusammenhang mit der Existenz eigentümlich. Sie stellen elementare Grundlagen des Daseins dar. Demgemäß gehören sie der Konsumsphäre an." Aus ihr müssen auch die kommunalen Aufgaben finanziert werden. Der „staatliche Aufgabenbereich" besteht in der Gewährleistung der Voraussetzungen, ,,unter denen sich nationale Wirtschaft und Kultur s 1 Bund zur Erneuerung des Reiches, Die Reichsreform, Bd. 1. Berlin 1933, S. 206, unter Bezugnahme auf Arnold Köttgen, Die Krise der kommunalen Selbstverwaltung. Tübingen 1931.

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entfalten können". Deshalb hat der Staat überörtliche Kommunika­ tionseinrichtungen und Verkehrsunternehmungen vorzuhalten, bedeu­ tendere Kultur- und Bildungsanstalten zu unterhalten, sowie für den Schutz nach außen (auswärtige Politik und Wehrmacht) zu sorgen. ,,Die staatlichen Einrichtungen schaffen die Grundlagen für die Entfaltung der produktiven Kräfte der Nation." Da sie „in die Produktionssphäre gehören", müssen sie auch aus dieser finanziert werden. Für den Finanzausgleich werden daraus Folgerungen gezogen, den Gemeinden und Gemeindeverbänden einen Komsumptionsfonds, den Ländern und dem Reich einen Produktionsfonds der Wirtschaft zur Besteuerung zu­ zuweisen. Durch einen Ausschluß des Staates von der Besteuerung des Konsumptionsfonds sollte die „starke Neigung, durch Erweiterung von Aufgaben und durch Ü bernahme zu weit gehender Verpflichtungen seinen Bedarf" zu übersteigern, gemindert werden. Außerdem wurde die Einführung einer kommunalen Personal- oder Bürgersteuer von dem für Konsumzwecke bestimmten Einkommen gefordert. Auf diese Weise sollten alle Einkommenssteuerpflichtigen einen Teil ihrer Ab­ gaben unmittelbar an die Gemeinde entrichten, die über die Hebesätze verfügen durfte88 • Bei Abfassung der Reformvorschläge konnte noch davon ausgegan­ gen werden, daß „ nur die Selbstverwaltung jedem Mehraufwand, jeder Mehrausgabe widerstrebt und sie erst dann bewilligt, wenn die Verwaltung den zwingenden Beweis ihrer Unvermeidlichkeit erbracht hat". Deshalb galt es als „unerläßliche" Voraussetzung für den Finanz­ ausgleich, daß den gemeindlichen Vertretungskörperschaften ermöglicht würde, über Fragen der örtlichen Verwaltung, die ihren Wählern an­ schaulich sind, deren Leben unmittelbar berühren, mit unmittelbarer steuerlicher Wirkung, entweder Erhöhung oder Minderung ihrer Steuer­ last, zu entscheiden. Diese Überlegung, die kommunale Selbstverwal­ tung dem einzelnen Einwohner wieder dadurch zu einer ihn selbst be­ rührenden, ihn betreffenden Angelegenheit zu machen, scheiterte letz­ ten Endes an der durch parteipolitische Propaganda geschürten Un­ popularität der sog. ,,Negersteuer" - die Bürgersteuer wurde un­ differenziert als „Kopfsteuer" disqualifiziert, wie sie lediglich noch Negerhäuptlinge zu erheben pflegten -, ohne die Berechtigung der Überlegung in Frage zu stellen, daß im kommunalen Bereich die Ent­ scheidung darüber, ob öffentliche Einrichtungen geschaffen und unter­ halten oder sparsamer gewirtschaftet werden solle, am besten der dadurch belasteten Bevölkerung selbst überlassen bleibt. Es hängt letzten Endes mit dem gesamten Steuersystem und dem erheblichen Bedarf des Staates an Einnahmen zusammen, daß dieser Gedanke von as ebd., S. 371 ff., 336 f.

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kommunaler Seite nicht weiter verfolgt wurde, obwohl Art. 106 V 3 GG die Voraussetzungen für eine derartige Maßnahme enthält.

Von einiger Aktualität sind auch die 1932 angestellten Erörterungen über ein „gleichberechtigtes Zusammenwirken von Staat und Selbst­ verwaltung", wie man „die verwaltende, pflegende und planende Hand der Selbstverwaltung mit der regierenden und finanzierenden Hand des Staates zu gemeinsamen Handeln" vereinigen könne. Bereits damals hielt man jedenfalls „eine geregelte Anhörung der Selbstverwaltung bei Staatsakten", so im Polizei- und Gewerbewesen und „auf manchen Gebieten, auf denen die Selbstverwaltung besondere Erfahrung besitzt oder bei denen sie besonders betroffen wird", für unabdingbar39 •

Die Organisation der Mittelbehörden war seit langem in Preußen Gegenstand von kontroversen Auseinandersetzungen: Der „Erneue­ rungsbund", dem es um „umfassende Dekonzentration und Dezentrali­ sation von Befugnissen" von der Mittelinstanz auf nachgeordnete Be­ hörden ging plädiert für die Erhaltung des Regierungspräsidenten als der eigentlichen Mittelinstanz40 • Insofern erfuhr auch die „Reform vom 3. September 1932", die Verordnung der preußischen Kommissariats­ regierung (GS, S. 283 ff.), eine günstige Beurteilung als ein wichtiger Beitrag „zum Neubau der Staatsverwaltung" 41 • Dieser wurde darin er­ blickt, daß der bisher bestehende Dualismus der Mittelinstanz auf­ gegeben war, weil die Fülle der Zuständigkeiten dem Regierungs­ präsidenten zugewiesen wurde, während der Oberpräsident wieder stärker die überwachenden Aufgaben über die Gesamtentwicklung einer Provinz für die Staatsregierung wahrzunehmen hatte. Vermißt wurde lediglich, daß der vollzogenen Dekonzentration keine Dezentralisation von Aufgaben, vor allem auf Kreise und Gemeinde, entsprach. Immer­ hin seien, so meinte man, die Möglichkeiten nicht verschlossen, das „Fern­ ziel" zu realisieren und die Dezentralisation im Laufe der Zeit so um­ fangreich zu gestalten, daß die „Staatsverwaltung lediglich auf die Wahrnehmung der wichtigsten Hoheitsbefugnisse (Polizei und Staats­ aufsicht) beschränkt" werden könnte. Sollte dieser Fall einmal ein­ treten, so würde allerdings in Preußen die Mittelinstanz des Regierungs­ präsidenten mangels genügender arbeitsmäßiger Auslastung entfallen und die verbleibenden „staatlichen" Aufgaben vom Oberpräsidenten wahr�enommen werden können. Obwohl es sich um umfassende Vorschläge zur Reichsreform handelte - wobei die Fortdauer der Reichsverfasung, wenn auch mit gewissen

ebd., S. 260 f. ebd., S. 228 unter positiver Bezu.�nahme auf die Beiträge im Preußischen Verwaltungsblatt, 46, 1924, sowie Drucksache Nr. 1744 des Preußischen Land­ tages II. Wahlperiode, 1. Tagung 1925. , 1 ebd., S. 221, 229 ff. 39 40

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Modifizierungen, als selbstverständlich vorausgesetzt wird -, be­ schäftigt sich die Denkschrift von 1932/1933 doch vor allem mit der Regelung der Verhältnisse in Preußen. Insoweit verfolgten die Initiato­ ren für eine Reichsreform konsequent ein von Anfang an für notwen­ dig gehaltenes Ziel: Die Aufgliederung des größten Landes im Reich - unter gleichzeitiger Beseitigung von vielen mittel- und norddeut­ schen Kleinstaaten -, weil man davon einen reibungsloseren und ent­ sprechend sparsameren Ablauf der öffentlichen Geschäfte erwartete, was wiederum zu einer Stärkung des Reichsbewußtseins der Bevölke­ rung führen würde. Die Verfasser der Denkschrift rechneten nicht da­ mit, daß bereits ihre demokratische Haltung die neuen Machthaber davon abhielt, sich mit ihrem Konzept näher zu beschäftigen, zumal es jeder parteipolitischen Suprematie abhold war. Genossenschafts- und Führerprinzip ließen sich nicht koordinieren! Andererseits kann nicht übersehen werden, daß die Vorschläge des Bundes in wenig geglieder­ ter Form vorgelegt wurden und inhaltlich nicht konkret genug waren. Manche Alternativlösungen wurden angeboten, statt eindeutige Vor­ schläge zu machen. Manche Ansatzpunkte für Organisations- und Funk­ tionsregelungen waren fragwürdig, jedenfalls zu wenig realitätsbezo­ gen begründet. Das gilt auch für die Vorschläge zum Finanzausgleich, der im wesentlichen der gründlichen Studie des späteren preußischen Finanzministers Popitz entspricht, die aber in mancherlei Hinsicht im Zeitpunkt ihres Erscheinens inhaltlich überholt, jedenfalls kaum in vollem Umfang vollziehbar war, wollte man nicht zuvor dem ganzen Gemeinwesen eine neue Form geben42 • Für ein derartiges Vorhaben mochte im Frühjahr oder Sommer 1932 einmal eine schwache Möglich­ keit gegeben sein - mit der sog. Machtübernahme der NSDAP war sie jedoch endgültig vertan. Preußen allerdings blieb bestehen, bis aus ganz anderer Motivation die Siegermächte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diesen aller­ dings kaum noch in seiner originären Substanz vorhandenen Staat auf­ hoben. Letzten Endes fehlten unter der sich immer stärker entwickeln­ den Rivalität zwischen Partei und Staat die erforderlichen Voraus­ setzungen für einen propagandistisch immer wieder behaupteten „Neu­ bau des Reiches". Es bedarf -· so wird man die Erfahrungen zusammenfassen dürfen vielerlei Faktoren, um noch so gut gemeinte, im einzelnen auch reali­ sierbare Vorschläge in einem Umfang zu verwirklichen, der den Namen Reform verdient. Nicht einmal im „Führerstaat" vermochte sich ein 42 Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden. Berlin 1932 ; ders., Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, Finanzausgleich und Verwaltungsreform, in : Zeitschrift für Selbstverwaltung 1932.

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Konzept zur Verbesserung des Behördenwesens allgemeine Anerken­ nung zu verschaffen! Allerdings stammen aus dieser Zeit wichtige verwaltungsändernde Gesetze, wenn sie auch vielfach noch unter der Republik vorbereitet wurden, so vor allem die Deutsche Gemeinde­ ordnung von 1935 und das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, dem jedoch keine weiteren umfassenden Gebietsänderungen folgten.

IX.

Brachten die Reformen im konstitutionellen Staat nur teilweise den erwarteten Erfolg, so lag es an sozialen und politischen Mißverständ­ nissen, weil man nicht konsequenterweise die bürgerlichen Mitwir­ kungsbefugnisse an der Verwaltung auf alle nach dem Reichswahlrecht befugten Persönlichkeiten ausdehnte. Am Ende der Republik suchte man die Ursachen für den geringen praktischen Erfolg der damaligen Reformbemühungen in „Amtseifersucht und politischen Gegensätzen" zu erblicken43•

Der seinerzeit innerhalb der Legislative wie der Exekutive fehlende Konsensus über Ansatz, Zielrichtungen, Inhalt und Umfang der Refor­ men scheint als Voraussetzung für eine Verbesserung der Verwaltung eines demokratischen Rechtsstaates auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vorhanden gewesen zu sein. Mit Ausnahme der Beseitigung von Kleinst- und Kleingemeinden sowie der Eingemeindung größerer Orte in benachbarte Großstädte - eine Maßnahme, die im übrigen bereits von Politikern und Wissenschaftlern erheblich gescholten wird - ge­ lang es nicht, das wiederholt theoretisch entworfene Konzept zu ver­ wirklichen, eine „bürgernahe" Verwaltung zu schaffen. Nach wie vor steht der Bürger der für ihn schwer durchschaubaren Administrative mit Unbehagen gegenüber. Der Grund hierfür liegt wohl darin, daß die reformwilligen Kräfte zu wenig in dem Ziel, was sie erstreben, übereinstimmen, selbst wenn sie dieselben Vokabeln gebrauchen. Es muß deshalb zunächst auf breiter Basis Übereinstimmung darüber erzielt werden, daß ohne eine Einschränkung der öffentlichen Aufgaben und ohne wirksame Kontrolle aller Behörden durch die hierfür ver­ antwortlichen Organwalter der Administrative gar keine Möglich­ keiten bestehen, um eine der freiheitlichen Grundordnung entspre­ chende Ordnung der Verwaltung zu schaffen. Letztlich hängt jedoch ein solches Gelingen vom Selbstverständnis der Angehörigen des öffentlichen Dienstes ab, die ihre Tätigkeit zugleich als eine Auszeich­ nung betrachten, die in der Vergangenheit als Ehre verstanden wurde. Seinem Mitmenschen um der Freiheit von allen willen zu dienen -

43 J. von Elbe, Die Entwicklungslinien .der preußischen Verwaltungsreform (s. Anm. 21), S. 280.

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sollte man hierfür nicht auch im technischen Zeitalter Bereitschaft wecken können?

Verwaltungsreformen im Sinne dieses Wortes erfolgten seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland fast ausschließlich durch Rechtsnormen, welche Befugnisse, Zuständigkeiten, Verfahren und Verhalten der Behörden regelten, weil sie regelmäßig politisch motiviert waren und auf Anpassung der Administrative an rechts­ staatliche Grundsätze gerichtet waren. Der Inhalt dieser Gesetze reicht von der Ausdehnung der bürgerlichen Mitwirkung an Maßnahmen der Exekutive bis zur Kodifizierung von Verhaltensregeln, von der Kreis­ ordnung 1872 über die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in fast allen Ländern und im Bundesstaat bis zum Schleswig-Holsteinischen Landesverwaltungsgesetz von 1967 mit den in § 73 enthaltenen vor­ bildlichen Richtlinien für die Ermessensübung und das leider insoweit ihm keineswegs vergleichbare Bundesverwaltungsv erfahrensgesetz von 1976. Wirkte sich, kodifikatorisch betrachtet, der Grundsatz der Gesetz­ mäßigkeit der Verwaltung positiv aus44 , so ist es weder der Legislative noch der Exekutive selbst gelungen, das Wachstum des Behördenappa­ rats, vor allem die Entstehung und Ausweitung der kaum mehr kon­ trollierbaren technischen Sonderbehörden, zu verhindern. Dieses Pro­ blem scheint man auch mit den umfassenden kommunalen Gebiets­ reformen der jüngsten Zeit nicht meistern zu können. Es bedarf hierfür auch zunächst einer gründlichen Überprüfung von gesetzlichen Vor­ schriften, da sich die Legislative, im Unterschied zur Vergangenheit, rechtsstaatliche Prinzipien mißverstehend, zunehmend in kasuistischen Regelungen gefällt. Es tut deshalb not, sich insoweit stärker auf den Sinn der Gewaltengliederung in Art. 20 III u. IV GG zu besinnen! Dazu gehört auch die Erkenntnis der rechtsstaatlichen Bedeutung einer möglichst umfassenden, vor allem auf das Verhältnis zwischen Behörde und Bürger gerichteten Kodifikation des VerwaltungshandeLns. Die Schwierigkeit, ein solches Unterfangen als Verwaltungsreform zu verstehen, zeigt die Debatte der Staatsrechtslehrervereinigung zum Thema „Verwaltungsverfahren", wozu Karl August Bettermann und Erwin Melichar 1958 referiert hatten. Dabei hatte dieser ausführlich über das „im Geiste der Verwaltungsreform" verfaßte Österreichische Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz von 1925 berichtet und her­ vorgehoben, daß bereits 1904 der Ministerpräsident von Körber den Auftrag zur Vorlage von „Studien über eine Reform der inneren Verwaltung" in Auftrag gegeben hatte, welche die Grundlage für die

44 Rupert Scholz und Eb erhard Schmidt-Assmann, Verwaltungsverant­ wortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Leitsätze, in : Döv 28, 1975, S. 74Uf. ; Werner Hoppe, in: DVBl. 90, 1975, S. 685 ff. und in: VVDStRL., H. 34, 1976, S. 216 ff. und 269 ff.

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Gesetzgebung von 1925 bildeten. Mit diesem Gesetz knüpft Österreich an die Reformen an, die 1876 mit der Einrichtung des Verwaltungs­ gerichtshofes begonnen hatten, dessen Zuständigkeitsbereich - zum ersten Mal im deutschen Sprachgebiet - durch die Generalklausel bestimmt wurde. Die Judikatur dieses Gerichtshofes schuf nicht nur die Grundlage für das 1896 erschienene Handbuch des österreichischen Administrativverfahrens von Friedrich Tezner, sondern für die nor­ mativen Funktionsverbesserungen. Die Bedenken, welche noch 1958 gegen eine solche Kodifikation er­ hoben wurden, zielten sowohl auf Zweifel an der „Berufung zur Gesetz­ gebung" als auf Bedenken, die Verwaltung könnte gelähmt und ge­ hemmt werden. Diese Einwände hatte Erwin Melichar, unterstützt von Ulrich Scheuner, mit der Feststellung entkräftet, es komme „doch wohl in erster Linie darauf an, daß die Verwaltung rechtsstaatlich" vor­ gehe45.

X.

War eingangs gesagt worden, Verwaltungsreform sei ein perma­ nenter, das Bestehen von Behörden begleitender und zugleich be­ einflussender Prozeß, in dem nur diejenigen Ereignisse besonders auf­ fallen, durch welche Organisation und Funktionen der Administration eine gründliche Veränderung erfahren, so muß am Schluß gefragt werden, welche Erkenntnisse sich aus der Betrachtung der Entwicklung in den letzen 150 Jahren gewinnen lassen. Kurz gesagt: Die Ziele waren häufig zu weit gesteckt, die „Kunst des Möglichen" nicht hinreichend geübt worden. Dafür sind wieder mancherlei Ursachen bestimmend, von der Unzulänglichkeit maßgebender Persönlichkeiten bis zur fal­ schen Einschätzung der vorhandenen Verhältnisse oder der politischen Lage. Hin und wieder waltete ein Fatum, so etwa bei der von Napoleon

" K. A. Bettermann und Erwin Melichar, Das Verwaltungsverfahren, in: VVDStRL., H. 17, 1959, S. 118 ff., 183 ff. (191 ff.), mit Diskussionsbeiträgen (S. 236 ff.). Dort auch die Ausführungen von Schima, der „aufgrund seiner langjährigen Wahrnehmungen" bekundet, ,,daß die erziehende Gewalt der Verwaltungsverfahrensgesetze gar nicht überschätzt werden könne" (S. 231). Dazu Ulrich Scheuner: Durch ein so maßvolles Gesetz wie das österreichische AVG könne man eine Reihe von Fragen einheitlich regeln, ,,ohne die Ver­ waltung damit zu beschränken" (ebd., S. 237). R. H. von Herrnritt, Das Ver­ waltungsverfahren, worin (S. 12 ff.) das AVG von 1925 kommentiert ist; Adolf Merkel, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 224: ,,Es ist ein Verdienst der neuen österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze aus 1925, zum ersten Mal der Erkenntnis der Verwaltungstheorie zum Durchbruche verholfen zu haben, daß auch die Verwaltungsbehörde nicht aus eigener Kraft einen Verwaltungsakt beseitigen oder abändern kann, sondern daß sie hierzu aus­ drücklicher gesetzlicher Ermächtigung bedarf." Mittelbar wird auch durch die allgemeine Begründungspflicht von Einzelakten die Ermessensausübung an normative Prinzipien gebunden (Herrnritt, ebd., S. 107 ff.).

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erzwungenen Entlassung Steins, dessen Dynamik ganz allein die Staats­ reformen vorbereitet und, soweit geschehen, veranlaßt hat - bereits wenige Wochen nach seiner Entlassung beklagt Vincke sein Fehlen als Ursache für die fehlende Bereitschaft, die bereits im Entwurf vor­ liegenden Reformmaßnahmen zu vollziehen. Ähnliches läßt sich auch über das Wirken von Montgelas sagen.

Wirklich gelungen sind in der zurückliegenden Epoche besonders die Reformen, die mit dem Namen Gneists verbunden sind, wobei glück­ liche Umstände eine Anzahl von bedeutenden Persönlichkeiten zu­ sammengeführt hatten, denen die Bedeutung der vollziehenden Gewalt für den Rechtsstaat bewußt war. Jedenfalls haben die Reformen in den größeren Bundesstaaten des Reiches zwischen 1870 und 1890 Ein­ richtungen und Verhalten der Verwaltung bis in die Gegenwart hinein bestimmt. Von da ab läßt sich zwar eine fast ununterbrochene Reihe von Bemühungen um Reformen feststellen, doch nur einige kamen zur Verwirklichung. In allen diesen Fällen scheint bei anerkennens­ wertem Bemühen doch die richtige Einschätzung der Lage gefehlt zu haben, mag man nun so bedeutende Namen wie Drews oder Popitz nennen. Das gilt sowohl für die politischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten wie für das menschliche Verhalten, das dazu neigt, am Gewohnten festzuhalten. Es darf aber auch nicht außer acht bleiben, daß sich Reformkonzepte oder -vollzüge rasch „überleben" können, wenn sich die Umstände verändern, die sie auslösten oder denen sich die Einrichtungen anpassen sollen: Rasch kann der „Kairos" für Verbesse­ rungen vorübergehen! Andererseits ist zu berücksichtigen, daß manch­ mal auch Hyperkritik am Werk war, um einzelne Mißstände zu ver­ allgemeinern und daraus die Forderung nach einer umfassenden Systemveränderung abzuleiten. Bedenkt man nämlich, unter welch schwierigen Umständen die deutschen Behörden der Lokal- und Mittel­ stufe im und nach dem Zweiten Weltkrieg dafür gesorgt haben, daß Millionen von Menschen jedenfalls mit dem Notwendigsten versorgt wurden, so versteht man Arnold Köttgens Aufforderung zum „pfleg­ lichen Umgang mit dem Gewordenen".

Diese Warnung richtet sich allerdings nur gegen allzu hektisches Betreiben von Menschen, die leicht in jeder Veränderung auch einen Fortschritt oder eine Verbesserung erblicken wollen, die - nach einem Wort von Theodor Heuss - bereits in einem „Wort, einem Schlagwort, Erfüllung spüren" . In der jüngsten Zeit heißt es „Planung" und „Effizienz". Dabei ist „Effizienz" nur eine moderne Bezeichnung für das Leitbild, dem seit eh und je die hoheitliche Verwaltung zu folgen suchte, wenn auch immer wieder mit schwankenden Ergebnissen. Ließen sie - aus welchen Gründen auch immer - offenkundig nach, so suchte man die vorhandenen Zustände zu „reformieren" . Auch

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„ Planung" ist zwar nicht dem Namen, aber dem Vorgang nach, seit langem eine Tätigkeit der Administrative, jedenfalls soweit sie sich nicht auf bloßes Thesaurieren beschränkte. Mag man sich auch in der Vergangenheit vor längerfristigen Prognosen gescheut haben, so arbei­ tete die gestaltende Verwaltung doch stets noch einem Programm, vor allem bei der Ausführung von Aufgaben, die man heute „Raum­ ordnung" nennt und der man möglicherweise bei den jüngsten Vor­ schlägen zu kommunalen Gebietsänderungen als Verwaltungsreform einen zu hohen Rang beimaß44• So stellt sich bei näherer Betrachtung der Dinge heraus, daß sich lediglich die Quantität, nicht das Wesen der öffentlichen Aufgaben erheblich gewandelt hat. Bemühte sich im 19. Jahrhundert der deut­ sche Bürger darum, die „Grenzen des Staates", d. h. vor allem das Wirken der vollziehenden Gewalt, möglichst eng zu halten, damit sich die gesellschaftlichen Kräfte um so freier entfalten konnten, wobei der Bürger selbst die Mitverantwortung für administrative Entscheidungen übernahm, so versagte die Gesellschaft vor den Aufgaben des indu­ striell-technischen Prozesses, der nun dem Staat soziale Pflichten auf­ erlegte. Zu deren Erfüllung mußte ein umfangreicher Apparat geschaf­ fen werden, der dann wiederum Anlaß zur Besorgnis von einer admini­ strativen Despotie in einem totalen Versorgungsstaat gibt. Die Ab­ wendung einer solchen Gefahr müßte neben den Bemühungen um die Stärkung der Leistungskraft ein weiteres Ziel von Verwaltungsrefor­ men sein, die von der Überlegung ausgehen sollte, ob denn alle „öffent­ lichen" Anliegen von Hoheitsträgern verwaltet werden müssen oder ob nicht auf manchen Gebieten dem Subsidiaritätsprinzip gefolgt wer­ den könne, um sie gesellschaftlichen Einrichtungen zu überlassen. Auf diese Weise kann der Bürger „vor einer freiheitswidrigen Bettler­ gesinnung geschützt werden"47• Ein Leitwort, welches viele Verwaltungsveränderungen im bürger­ lichen Zeitalter bestimmte, findet heute kaum noch Erwähnung: Spar­ samkeit, die einst für jede Tätigkeit der Verwaltung gelten sollte, damit sie nicht „ im Übermaß" in menschliche Lebensbereiche eingriff, im Zusammenhang damit aber auch das Haushaltswesen betraf, an dessen Behandlung man zeitweise den Wert der ganzen Verwaltung 4AI Friedrich August Freiherr von der Heydte, Entwicklungshemmungen auf der Mittelstufe der bayerischen Verwaltung, in : Festschrift für Küchen­ hoff, 2. Halbband, 1972, S. 482 : ,,Die weitgehende Identifizierung des Pro­ blems der Verwaltungsreform mit denen der Raumordnung ist nicht unge­ fährlich." A. Köttgen, Struktur und politische Funktion öffentlicher Verwal­ tung, in : Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz, 2. Bd. Tübingen 1966, s. 787, 797 ; K. Stern, Verwaltungsreform, S. 859. 41 Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre. Tübingen 1965, S. 142.

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maß. Die vorsichtige Verwendung von öffentlichen Mitteln im Interesse einer möglichst geringen finanziellen Belastung der Bürger führte zu einer Einfachheit in Einrichtungen und Verhalten der Behörden, die in manchem dem bürgerlichen Lebensstil entsprach. Mit den wachsenden Anforderungen an die Erfüllung von Aufgaben nahm die „Leistungs­ kraft"48 als Bewertungsmaßstab bald einen weit höheren Rang ein als ,,Sparsamkeit", die kaum noch Beachtung findet. So wird auch „Ver­ einfachung" - so schwierig sie auch zu realisieren ist - nur selten gefordert. ökonomische Zielsetzungen, früher haushaltsmäßig ange­ wandt, um die Ausgaben in Grenzen zu halten, richten sich heute auf Erfolg der Tätigkeit, auf Steigerung der Leistungen, ohne daß dabei die Gefahren in Betracht gezogen werden, die dem Menschen von jeder Abhängigkeit drohen und die, wie amerikanische Wissenschaftler er­ kannt haben, keineswegs ein unabwendbares Fatum der Industriegesell­ schaft sein müssen49 • Wie wichtig die Bestimmung und permanente Sorge um das richtige Maß der staatlichen Befugnisse und die ihnen angepaßten Einrichtun­ gen und Verhaltensformen der öffentlichen Verwaltung50 für Bürger in einer freiheitlichen Grundordnung sind, läßt sich im Rückblick auf die Entwicklung der Administrative in Deutschland erkennen. Insoweit könnte Geschichte eine wirkliche Lehrmeisterin sein51 !

Wurde am Anfang dieser Betrachtungen an Niebuhrs Feststellung vom höheren Wert der Verwaltung als der Verfassung für die Freiheit des Bürgers erinnert, so muß am Schluß gefragt werden, ob und inwie-

48 Zur Integration und Effektivität: Frido Wagener, Neubau der Verwal­ tung. 2. Aufl. Berlin 1972. 49 Zbigniew Brzezinski, Between two ages, 1971, worin der Autor den „un­ persönlichen Rationalitätskult der Modernisten" als Bedrohung für die ,,Würde der Menschen" erkennt, der deshalb nach einem „rationalen Huma­ nismus" als Voraussetzung für ein Leben in Freiheit mit der Technik stre­ ben muß. - Sorgen um den Schutz des Bürgers vor den Gefahren des technischen Fortschritts äußerte auch BVerfG-Vizepräsident W. Zeidler bei der Amtseinführung des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts am 18. Juli 1976, lt. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Juli 1976. 50 Grundlegend für die gegenwärtigen Aufgaben: Ulrich Becker, Zweck und Maß der Organisation (H. 3.1 des Handbuches der Verwaltung, hrsg. von U. Becker und Werner Thieme). Köln 1976, passim ; zur Aufgabenkritik s. 39 ff. 51 Der Wert einer richterlichen Kontrolle der Verwaltung für den Bürger läßt sich an einem Rechtssystem messen, in dem sie bis heute nur unvoll­ kommen ausgebildet ist, wie z. B. in Großbritannien. Dort hält man prinzi­ piell noch an der Fiktion fest, das Parlament kontrolliere die Administrative, macht den Zweifel daran jedoch mit der Einführung eines „Ombudsman" deutlich, während wissenschaftliche Anregungen für umfassende Wahrung der Rechtmäßigkeit aller administrativen Maßnahmen kaum Aussicht auf Verwirklichung besitzen. Eingehend hierzu : Eibe H. Riedel, Kontrolle der Verwaltung im englischen Rechtssystem. Berlin 1976.

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Georg-Christoph von Unruh

weit diese Maxime noch „zeitgemäß" ist. Sie ist es und wird es bleiben, solange es einen Staat gibt, da dieser dem Bürger unmittelbar meist durch seine Verwaltung begegnet. Von ihrem Verhalten hängt deshalb nach wie vor maßgeblich die Stellung des Bürgers in seinem Staat und seine Einstellung zu ihm ab. Magistratus sit magister libertatis civium!

Aussprache zum Referat von Georg-Christoph von Unruh Die Aussprache unter Leitung von Professor Dr. Günter Püttner (Speyer) eröffnete Professor Dr. Frido Wagener (Speyer) mit kritischen Überlegungen über die Frage, ob die Verwaltung wirklich seit fast einem Jahrhundert unverändert geblieben sei, oder ob nicht vielmehr die quantitative Ausweitung der Aufgaben seit dem Ersten Weltkrieg auch eine „Qualitätsveränderung" bedeutet habe. Allein vom Personal­ bestand eines Landratsamts, der 1913 sechs oder sieben Beamte be­ tragen habe und heute zwischen 600 und 1000 Bedienstete zähle, lasse sich - ähnlich wie bei den Bezirksregierungen, zu schweigen von neu geschaffenen Behörden - eine Entwicklung ablesen, die eine Abkehr vom Gebietsorganisationsprinzip zu einer Aufgabenorganisations­ struktur bedeute: ,,Jede Aufgabe bekommt heute eine neue Behörde mit wieder neuen Zuständigkeiten und neuen regionalen Abgren­ zungen." Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet bestehe kaum mehr eine Ähnlichkeit zwischen der heutigen Verwaltung und der etwa Preußens am Ende des 19. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite ver­ schwanden Institutionen wie Oberpräsidien, so daß ein Bruch der Kontinuität unübersehbar sei.

Dieser Vorgang ließe sich auch an der Finanzverteilung verdeut­ lichen. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben habe vor dem Ersten Weltkrieg nur etwa 10 v. H., bei den Bundesstaaten etwa 30 - 40 v. H. betragen, während es sich bei dem Rest um kommunale Ausgaben ge­ handelt habe. Auch in dieser Hinsicht sei eine Veränderung zu ver­ zeichnen, ein Wachstum „zur oberen Ebene hin" ; der Anteil der Brutto­ ausgaben bei den Gemeinden und Gemeindeverbänden bliebe heute in einer Größenordnung von etwa 25 v. H., ganz abgesehen von der un­ vergleichbaren absoluten Größenordnung.

Gegenüber einem vom Referenten beklagten Fehlen einer „Dienst­ gesinnung" verwies Professor Wagener darauf, daß heute von ungefähr 25,5 Millionen Erwerbstätigen etwa 3,6 Millionen im öffentlichen Dienst beschäftigt seien (noch nicht einbezogen eine weitere Million im „halb­ öffentlichen" Dienst wie Sozialversicherung, Verbände usw.). Ange­ sichts dieser Zahlen sei es nicht verwunderlich, daß es sich dabei um ,,ganz normale Arbeitnehmer" mit ihren Vor- und Nachteilen handle,

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also nicht mehr um eine wie immer zu bewertende (elitäre) Auswahl, woraus allerdings nicht gefolgert werden dürfe, daß nicht in bestimmten Bereichen des allgemeinen inneren Dienstes so etwas wie „Corpsgeist" wünschenswert (und etwa in Frankreich offenbar noch vorhanden) sei. Auch in den seit dem letzten Weltkrieg verflossenen 30 Jahren habe sich vor allem in den Bundesländern die Verwaltung fortlaufend ver­ ändert, wobei manche „Reformen" unter dem Stichwort „Verwaltungs­ vereinfachung" projektiert oder durchgeführt worden seien, immer mit dem Bestreben, durch Vereinfachung bestimmte Aufgaben weg­ zurationalisieren. Das sei aber angesichts des gestiegenen Anspruchs­ denkens nicht gelungen. Ein neuer Anlauf mit der Territorialreform sei mit allzu optimisti­ schen Erwartungen begonnen worden, allerdings in seinen bisherigen Ergebnissen nicht so negativ zu bewerten, wie das der Referent getan habe. Die Reduzierung von 24 000 Gemeinden auf etwa 3500 unterste kommunale Einheiten mit hauptamtlicher Verwaltung und von 425 auf demnächst 230 Landkreise auf dem Weg über Beschlüsse der einzelnen Landtage sei eine ungeheure Leistung innerhalb weniger Jahre. Sie habe eine relativ einheitliche und im Grunde bessere und leistungs­ fähigere öffentliche Grundstruktur der Verwaltung geschaffen. Das vom Referenten betont hervorgehobene Landesverwaltungsgesetz von Schleswig-Holstein verdiene in der Tat - wenn auch nicht vorbehalts­ los - hervorgehoben zu werden. Insgesamt habe jedoch die Frage, wie der Bürger gegenüber der Verwaltung durch die Verwaltungs­ gerichtsbarkeit geschützt werden könne, an Bedeutung verloren, gerade weil die Verwaltungsgerichtsbarkeit inzwischen gut funktioniere. Eine vollständig neue Situation ergebe sich zur Zeit bei den öffent­ lichen Aufgaben im Vergleich zum Personal. In den nächsten beiden Jahrzehnten würden „vielleicht eine halbe Million Akademiker, die wie selbstverständlich in den öffentlichen Dienst gehen wollten", vor der Türe stehen, da die Verwaltung sich nicht nur nicht weiter aus­ dehnen, sondern in ihren Personalzahlen vielleicht sogar sinken werde. Professor Wagener wagte abschließend die Prognose, daß ein Teil der künftigen Verwaltungsprobleme darin bestehen werde - und die Lösung dieser Frage wichtiger sei als etwa die der „Radikalen im öffentlichen Dienst" -, daß der öffentliche Dienst als Arbeitslosen­ fürsorge (etwa durch Teilzeitbeschäftigung) für zu viele Akademiker ,,mißbraucht" werde. Professor Dr. Gerhard Schulz (Tübingen) erinnerte daran, daß B. G. Niebuhr - der bereits zweimal zitiert worden sei - den kurz vor seinem Tode erschienenen zweiten Band seiner „Römischen Ge­ schichte" mit einer sehr skeptisch gestimmten Bemerkung eingeleitet

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habe. In dem posthum veröffentlichten dritten Bande kommt „Ver­ waltung" überhaupt nicht mehr vor.

Skepsis dränge sich auch auf, wenn man die Entwicklung der Ver­ waltung in dem großen vom Referenten behandelten Zeitraum über­ blicke, in dem es darum gegangen sei, einer überhand nehmenden Verwaltung Korrektive entgegenzustellen. Das sei im 19. Jahrhundert durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit geschehen, aber auch durch die (heute wieder wichtig gewordene) Forderung nach Bürgernähe. Diese Momente beträfen jedoch vor allem die allgemeine innere Verwaltung auf unterer Ebene. Damit stelle sich die Frage, ob und gegebenenfalls von wann an in der jüngsten Zeit innerhalb der Verwaltung eine Ent­ wicklung erfolgt sei, von der an man Verwaltungsreformen auch ganz anders interpretieren müsse, weil Verwaltungsentfaltungen eine andere Dimension erreicht hätten.

So gebe es z. B. neben der staatlichen und kommunalen Verwaltung seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts auch eine solche von Verbänden von beträchtlichem Umfang (,,Bund der Landwirte" schon Mitte der neunziger Jahre). Zudem habe die Einführung der Schreibmaschine in den Reichsämtern - ebenfalls seit Mitte der neunziger Jahre - nicht nur zu einer Vereinfachung, sondern auch zu einer Vervielfachung des Geschäftsverkehrs und damit des Aktenbestands beigetragen. Auch im Hinblick auf die Entwicklung von nichtöffentlichen Organisationen sei die staatliche Verwaltung immer größer geworden, was auch Reformen nur in neuen Perspektiven auffangen könnten. Hinzu komme schließ­ lich seit dem späten 19. Jahrhundert der Versuch, politische Probleme höchster Ordnung auch durch Verwaltung zu lösen. In diesem Zusam­ menhang erwähnte Professor Schulz den Vorschlag Lorenz v. Steins, sämtliche Eisenbahnen Europas einer zentralen Verwaltung zu unter­ stellen, um dadurch das Entstehen von Kriegen zu verhindern, oder d1e von St. Simon wie von Lorenz v. Stein herkommende Utopie Gerhart v. Schulze-Gaevernitz' (1914), durch zentrale Verwaltung die Gesamt­ heit der „sozialen Ökonomie" zu regulieren und die „ anarchische" Pro­ duktion durch wirkliche Vernunft (der Verwaltung) zu beseitigen. Es werde immer schwieriger, die „Grenzen der Wirksamkeit des Staates" (Humboldt) und damit seiner Verwaltung zu bestimmen und deren Bürgernähe zu wahren. Das Problem für die Zukunft bleibe, wer eigentlich die Entwicklung und die Zuteilung von Verwaltungs­ aufgaben „im höheren Bereich" noch kontrolliere? Erschreckend sei es, festzustellen, was heute alles zum Beispiel in Universitäten zum Ge­ genstand von Verwaltung geworden sei, aber auch die Überlegung, daß der Normalbürger erst im Nachhinein erfahre, ,, was nun wieder neu Gegenstand der Verwaltung geworden ist". Es bleibe zu bezwei-

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fein, ob Verwaltungsreformen in allen bisher bekannten Formen und Ideenbeständen ausreichen können, um als Korrektiv gegenüber diesen Entwicklungen noch in Betracht zu kommen.

Professor Dr. Dr. Klaus König (Speyer) verwies darauf, daß der Leitbegriff der Verwaltungsreform in den Sozialwissenschaften um­ stritten sei, die zum Teil andere Begrifflichkeiten (Innovation usw.) benutzten. Wenn man am Begriff der Verwaltungsreform festhalte, so müsse man aber schärfer differenzieren, damit sich dieser Begriff nicht in einer allgemeinen Sprachverwirrung auflöse. So gebe es im Bereich des öffentlichen Dienstes eine Anpassung der Verwaltung an ihre jeweilige Epoche, ein Phänomen, das viel gravierender sei als manche Reformen. Deswegen sei es erwünscht, stärker zu konkretisieren, was als Verwaltungsreform bezeichnet werden könne und müsse.

Im Anschluß an die Bemerkungen seiner Vorredner unterstrich Professor Dr. Friedrich Kahlenberg (Koblenz) die Zweifel an der Kon­ tinuität der Entwicklung des Verwaltungsreformdenkens seit Gründung des Reiches. Die nach 1871 realisierte verwaltungsbezogene Reform­ politik sei bereits in den voraufgegangenen Jahren - als Reaktion auf die Ereignisse von 1866 - konzipiert worden. Dabei gehe es nicht nur um Gedankengut, das verwaltungsintern „produziert" worden sei, sondern auch um das Hineinwirken von außerhalb der öffentlichen Verwaltung entwickelten Reformvorstellungen, die zu einer Ver­ knüpfung von politischen Prinzipien und administrativem Wollen ge­ führt hätten. Bei der Gneist-Eulenburgschen Verwaltungsreform sei nicht zuletzt der Anteil liberalen Gedankengutes zu beachten, das aus den von Preußen annektierten Gebieten in die Berliner Ministerial­ bürokratie hineinwirkte. Bei der Diskussion verwaltungsbezogener Reformmaßnahmen in der Weimarer Republik seien schließlich auch die in marginalen politischen Randgruppen wie in den Parlamenten unmittelbar erörterten Beiträge aus dem „revolutionären Winter" von 1918/19 zu beachten. Dabei habe es sich um Ansätze gehandelt, die die Beschäftigung mit Verwaltungs­ problemen innerhalb der Parteien und auch die Reaktion auf be­ stimmte Aspekte von Reichsreformmaßnahmen nachhaltig beeinflußt hätten. Andererseits seien Ansätze einer Regierungsreform im Reich, wie sie 1920 im Rahmen von Plänen zur Neugestaltung der Ressort­ gliederung erstmals diskutiert wurden, von eminenter Bedeutung geworden; zu erinnern sei nur an die Einführung einer Geschäfts­ ordnung für die Reichsministerien. Angesichts des allmählichen Ver­ sandens der Reichsreform-Diskussion in den späteren Jahren der Wei­ marer Republik sei an ein Bonmot von Arnold Brecht zu erinnern, wonach die Einführung des Stehordners in der öffentlichen Verwaltung

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identisch sei mit dem Endprodukt dessen, was „Reichsreform" groß­ zügig einmal politisch bewirken sollte. Zur Entwicklung nach 1945 hob Professor Kahlenberg zwei Aspekte hervor: Zunächst die Intentionen der alliierten Besatzungsmächte in bezug auf die Gestaltung der öffentlichen Verwaltung. Auch wenn deren Reformmaßnahmen in der Bizonenpolitik nicht zum Tragen gekommen seien, so hätten sie doch später Bedeutung gewonnen, ,,weil man sich einer bewußten Vermeidungsstrategie von Fehlern be­ fleißigte". Auf der anderen Seite habe die Verwaltungsreform-Diskussion der unmittelbaren Nachkriegszeit auf deutscher Seite zur Ausbildung von Konzepten zur staatsbürgerlichen und politisch-wissenschaftlichen berufsbegleitenden Fortbildung des öffentlichen Dienstes geführt, in deren Gefolge mit einer ganzen Reihe von Verwaltungsakademien in anderen Bundesländern auch die Hochschule für Verwaltungswissen­ schaften in Speyer gegründet worden sei. Derartige „Reformprodukte" hätten in der Folge wesentlich mit dazu beigetragen, das Bild des öffentlichen Dienstes und die Funktion des Verwaltungsbeamten als Repräsentanten des Staates in einer sich neu orientierenden freien Gesellschaft mit zu prägen. Eine künftige Aufgabe bestehe in der Reform des Verwaltungs­ verfahrensrechts, soweit es darum gehe, der Öffentlichkeit Einblick in Unterlagen der Verwaltung zu verschaffen. Schließlich registrierte Professor Kahlenberg ein „erstaunliches Defizit verwaltungsbezogenen praktischen Denkens" in den politischen Parteien, in deren Programmen kaum mehr enthalten sei als die Forderung nach Verwaltungsverein­ fachung und nach einer Verkleinerung des öffentlichen Dienstes. Es fehle eine verantwortungsbewußte, der Rolle der politischen Parteien in unserem Regierungssystem entsprechende Auseinandersetzung mit Phänomenen der öffentlichen Verwaltung, wie sie im 19. Jahrhundert geführt worden sei. Gegenüber kritischen Bemerkungen einzelner Diskussionsredner wollte Staatssekretär a. D. Klaus von der Groeben (Kiel) den Gedanken der Kontinuität der Verwaltungsreformen stärker hervorgehoben wissen. Er belegte das mit einem Vergleich aus den Erfahrungen seiner eigenen Verwaltungspraxis in Schleswig-Holstein Mitte der zwanziger und Mitte der fünfziger Jahre. Das gelte sowohl für die Aufgaben­ stellung als auch für die Instrumente ihrer Bewältigung: ,,Es gab so etwas ähnliches wie eine Verwaltungskunst, die sich irgendwie vererbt hat und auch eine Kontinuität in personeller Hinsicht." Überkommene Erfahrung und überkommene Instrumente seien weitergegeben wor­ den. Am BeisI,>iel des Regierungspräsidenten Robert von Puttkamer 5 Speyer 66

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im ostpreußischen Gumbinnen in den 1870er Jahren lasse sich zeigen, wie sehr dieser spätere Innenminister Wert darauf gelegt habe, die neue Kreisordnung mit der starken Beteiligung des Bürgers durch­ zusetzen, auch dort, wo diese Bürgerschaft in politischer Opposition zur preußischen Regierung gestanden habe. Solche Momente hätten sich „fortgeerbt" und zur Bürgernähe der Verwaltung beigetragen. Das ließe sich auch beispielsweise an der Entstehung des vom Referenten erwähnten Landesverwaltungsgesetzes Schleswig-Holstein zeigen. In einer ersten Antwort auf die verschiedenen Diskussionsbemer­ kungen ging Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh (Kiel) von seinen eigenen Erfahrungen in der Verwaltungspraxis aus und bezeich­ nete als eines der Ziele für Verbesserungen die „Bürgernähe" , um die Schranke beim Staat zu senken. Die Frage, was Reform vom permanen­ ten Fluß der sich immer wandelnden Struktur und Funktion der Ver­ waltung abgrenze, beantwortete er mit einem Hinweis auf eine Defini­ tion des früheren Hamburger Bürgermeisters Weichmann, wonach allein das Reform sei, ,, was politisch.er Provenienz ist". Insgesamt könnten in diesem Sinne nur wenige Ereignisse als Reformen bezeich­ net werden, und zwar nur jene, die wirklich einen Bruch mit dem bisherigen Zustand deutlich machten, durch den die Verwaltung immer wieder ihrer Aufgabe als Dienstleistung entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen und Verhältnissen angepaßt werde, d. h. gründliche und umfassend adaptive Struktur- und Verfahrenswandlungen. Eine jener Kontinuitätslinien, die sich aus dem Preußen des frühen 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein leiten ließen, sei die ver­ antwortliche Heranziehung des Bürgers, wie es Jahrzehnte später auch das Ziel der mit den Namen Gneist-Eulenburg verbundenen Reform­ maßnahmen gewesen sei. Abgesehen von einer „ Verfeinerung" dieser Konzepte seien wesentliche Änderungen im Sinne einer Reform, soweit sie die Sorge um das richtige Maß der Verantwortung des Bürgers be­ treffe, seitdem nicht mehr erfolgt. Gegenüber der von Frido Wagener aufgeworfenen Frage, ob nicht doch innerhalb der letzten hundert Jahre eine „Qualitätsveränderung" der Verwaltung erfolgt sei, verwies v. Unruh darauf, daß in der in­ zwischen eingetretenen Ausweitung von Verwaltungsaufgaben noch kein Kontinuitätsbruch liege. Es sei jedoch in der Tat eine Aufgabe, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was unter Verwaltungsreformen zu verstehen sei und worin diese sich von dem permanenten Anpas­ sungsprozeß der Verwaltung unterschieden. In jüngster Zeit sei inso­ fern ein Wandel in der Auffassung eingetreten, als das Bestreben sicht­ bar werde, den Umfang der Verwaltung wieder zu kontrollieren und nicht einfach vor einem uferlosen Anwachsen der öffentlichen Auf-

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gaben zu „kapitulieren". Es brauche sich nicht unbedingt das Ver­ sagen der „Gesellschaft" bei der Bewältigung der sozialen Aufgaben im 19. Jahrhundert in der Gegenwart zu wiederholen. Auch die „Herr­ schaft der Verbände" stelle in dieser Hinsicht noch kein unabweis­ bares Fatum dar.

Als Arbeitshypothese sollten unter dem Begriff Verwaltungsreform nur jene Umbrüche verstanden werden, die eine völlig veränderte Lage dadurch herbeiführten, als dadurch der Bürger zunehmend in die Verantwortung genommen worden wäre, was allerdings zunächst nur für den „besitzenden Bürger" Geltung besaß, jedoch seit 1919 für alle Staatsangehörigen zutraf, oder wenn Veränderungen auf eine Ver­ festigung von rechtsstaatlichen Grundsätzen angelegt wurden. Zu derartigen Grundsätzen gehörten auch die Maxime der Wirtschaftlich­ keit und der Zweckmäßigkeit, die häufigere Anpassungen von Ein­ richtungen und Verfahren an die wechselnden Gegebenheiten erfordert.

Staatsarchivrat Dr. Horst Romeyk (Düsseldorf) wies auf die Not­ wendigkeit hin, die verschiedenen Formen der Verwaltung stärker zu berücksichtigen: Neben der Staatsverwaltung und der Selbstverwaltung auch jene konkurrierenden Hoheitsverwaltungen, wie sie sich durch die besondere verfassungsrechtliche Situation des Reiches entwickelt hätten. Schon daraus ergaben sich Probleme der Kompetenzverlagerung und der Kompetenzkonflikte, auch durch das An-sich-Ziehen von Auf­ gaben. Bei den Reformen seien dementsprechend verschiedene Gesichts­ punkte zu berücksichtigen: Einmal rein fiskalische, wie die Reduzierung des sächlichen und persönlichen Verwaltungsaufwands mehr im Sinne einer Vereinfachung. Sodann die ideellen Gesichtspunkte, um zu einer Wiederherstellung der Einheit der Verwaltung zu gelangen. Staats­ politische Gesichtspunkte hätten sich im Bereich der Hoheitsverwaltung Geltung verschafft und in der Nachkriegszeit dort ausgewirkt, wo es darum gegangen sei, gegenüber dem totalen Anspruch des Staates stärker die öffentliche Verwaltung zu kommunalisieren: Eine Linie, die sich seit den Rechtsreformen der 1880er Jahre verfolgen lasse.

Eine andere Frage sei die mangelnde Vertretung der Arbeiter in der Verwaltung. Dabei müsse differenziert werden, da beispielsweise durch die Tätigkeit von Arbeitnehmervertretern bei den Ortskrankenkassen in der Zeit des Kaiserreichs ein Potential für Verwaltungsbeamte in den zwanziger Jahren entstanden sei. Die rheinisch-westfälische Neu­ gliederung von 1929 habe dem Buchstaben des Gesetzes nach einige interessante zwischengemeindliche Arbeitsgemeinschaften angekündigt. Diese seien jedoch niemals effektiv in Erscheinung getreten. Es sei also eine Warnung angebracht vor zu einseitiger Interpretation von Landesverwaltungsgesetzen, die „vielleicht idealistischer gemeint sind und sehr vieles intendieren, was dann niemals verwirklicht wird".

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Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) ging von der Spannung innerhalb des Reformbegriffs aus, den der Referent ent­ wickelt hatte, indem er auf der einen Seite nur die eigentlichen Um­ brüche als Reform bezeichnet, andererseits aber gerade diese „großen Eingriffe" als nur begrenzt erfolgreich gewertet habe. Am Beispiel der preußischen Reformen ließe sich zeigen, daß der kleinere, begrenzte Versuch einer Reform vor der Reform die Situation nicht so gewandelt habe, daß der preußische Staat erfolgreich die Konkurrenz mit anderen Staaten habe bestehen können. Erst die „unvollkommene große Re­ form" sei nachher weitgehend genug gewesen, um einen Durchbruch zu erreichen. Die auch im Verlauf der Diskussion wiederholt zum Ausdruck ge­ kommene Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität ließe sich nur dann als „ tauglicher Begriff" verwenden, wenn genauer gezeigt werde, was kontinuierlich gewesen sei und was nicht. So gebe es kom­ munale Selbstverwaltung zum Beispiel seit 1808 (mit der Unter­ brechung des „Dritten Reiches"). Ferner ließen sich gewisse Modalitäten und Grundsätze, wie die Bürgernähe, als Kontinuum verstehen. Aber die Bedingungen, unter denen solche Grundsätze verwirklicht worden seien oder nicht, hätten sich doch vielfach geändert. Eine der tief­ greifenden Zäsuren im Hinblick auf Bürgernähe liege in der Aufbau­ phase nach 1945, in der dieses Prinzip weitgehend praktiziert worden sei. Die dann ab Ende der sechziger Jahre neu auftauchenden Bürger­ initiativen hätten ein Indiz für mangelnde Bürgernähe dargestellt. Dabei sei aufschlußreich, daß sich solche Bürgerinitiativen sehr häufig gegen Eingriffe gerichtet hätten, die eben nicht von seiten kommunaler Verwaltungen (also bürgernaher Instanzen) gekommen seien, sondern vom Bund, von der Bahn, vom Land usw., also im Zusammenhang von überregionalen Großprojekten. Hier werde deutlich, daß unter einer Kontinuität der Normen der Selbstverwaltung strukturelle Verände­ rungen wie die Mediatisierung des individuellen Bürgerinteresses durch Parteien oder die Abwanderung von Kompetenzen in eine höhere Ebene vor sich gehe. Das gleiche gelte für Probleme der Finanzen oder der Eingemeindungspolitik. Insofern sei also das Begriffspaar Konti­ nuität und Diskontinuität schärfer zu bestimmen. Professor Dr. Hans Pohl (Bonn) präzisierte als Historiker den Begriff der Reform dahin, daß darunter normalerweise die Veränderung des überkommenen zu verstehen sei, soweit sie nicht in gewaltsamer Weise erfolge. Das sei bei der Reformatio Sigismundi angefangen genauso der Fall wie bei der Gebietsreform der Gegenwart. In der Verwaltung bestehe seit dem 16. Jahrhundert mit dem Beginn der modernen Behördenorganisation eine Kontinuität, die mit Modifika­ tionen bis heute andauere. Diese Modifikationen könne man als Re-

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formen bezeichnen oder als Veränderung, Ergänzungen bzw. Erweite­ rungen der Kompetenzen.

Wesentlicher aber als diese Differenzierung scheine ihm eine „ ge­ wisse Negativstimmung gegen die Verwaltung" zu sein, die - wie an dem ihm näherliegenden Beispiel der Wirtschaftsverwaltung des 19. Jahrhunderts gezeigt werden könne - keine Berechtigung habe: Die Leistungen der preußischen wie der Verwaltung des Reiches im Bereich der Wirtschaft seien so beträchtlich gewesen, daß eine Industria­ lisierung ohne sie und ohne die Initiative der preußischen Minister „wahrscheinlich in der Weise gar nicht vor sich gegangen wäre". Die damalige Verwaltung, die „wahrscheinlich initiativer" gewesen sei als die heutige, habe sich auch im Ersten Weltkrieg bewährt, ebenfalls noch einmal im „Dritten Reich" (wenn man die reine Leistung ins Auge fasse). Von daher liege es nahe, mehr den Gedanken der Leistung der Verwaltung seit dem 19. Jahrhundert und der Erweiterung ihrer Aufgaben in den Vordergrund zu stellen. Das bedeute (auch im Sinne der Ausführungen von Frido Wagener) die Wendung zu einer Auf­ gabenstruktur und weg von einer Gebietsstruktur; denn die gesamte Sozialversicherung seit Bismarck und die gesamte Wirtschaftsverwal­ tung sei eine Aufgaben- und keine Gebietsverwaltung.

Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) erweiterte die Diskussion um den Begriff der stillen Verwaltungsänderungen, die nicht spektakulär mit Namen einzelner Persönlichkeiten verbunden oder an einzelne Territorien geknüpft seien. Beispiele dafür lägen vor in der Verände­ rung der Personalkörperstruktur innerhalb einzelner Verwaltungen, in der Verschiebung innerhalb einzelner Gruppen des öffentlichen Dienstes, im Abbau des unteren Dienstes seit dem Kaiserreich, aber auch in wiederholten Versuchen des Personalabbaus innerhalb der Reichsverwaltung der zwanziger Jahre. In diesen Zusammenhang gehörten auch Veränderungen in der Besoldungsstruktur, deren Folgen nach außen hin jeweils erst später in Erscheinung träten. So fehle bisher jede Untersuchung über die Folgen der kontinuierlichen Nivellie­ rung zwischen dem höheren und dem mittleren bzw. unteren Dienst in den letzten Jahrzehnten.

In Ergänzung zu der von Friedrich Kahlenberg angeschnittenen Frage der Kontinuität oder Diskontinuität über die Zäsur von 1945 hinweg verwies Professor Morsey auf eine verdeckte Kontinuität: Die Westmächte hätten nicht nur eigene Vorstellungen über Verwaltungs­ aufbau und Personalkörperstruktur besessen und durchzusetzen ver­ sucht, sondern auch Vorstellungen deutscher Emigranten - wie des schon genannten Arnold Brecht und des Politikwissenschaftlers Carl Joachim Friedrich - übernommen. Von dieser Seite seien zahlreiche

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Denkschriften ausgearbeitet worden, auf deren Grundlage insbeson­ dere die Amerikaner ihre Reeducation-Politik im Bereich der Verwal­ tung durchzusetzen versuchten. Schließlich gäbe es auch so etwas wie unterbrochene und verzögerte Reformdiskussion. So sei beispielsweise 1948/49 der Versuch, ein einheitliches Dienstrecht zu schaffen (und ein zentrales Personalamt einzurichten), und damit eine quasi revolu­ tionäre Entwicklung innerhalb der deutschen Verwaltungsstruktur ein­ zuleiten, gescheitert, um dann jedoch 25 Jahre später plötzlich neue Aktualität zu erlangen . In seinem Schlußwort ging Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh (Kiel) davon aus, daß er keineswegs gegenüber der Verwaltung „nega­ tiv" eingestellt sei, da er selbst die Verwaltung als Leistungsträger erlebt und in ihr „nicht den schlechtesten Teil" seines Lebens zuge­ bracht habe. Andererseits räumte er ein, daß durch seine richterliche Tätigkeit in den letzten Jahren sein „kritisches Bewußtsein" geschärft worden sei, woraus seine Besorgnis vor negativen Folgen einer immer deutlicher in Erscheinung tretenden „Suprematie" von Spezialisten herrühre. Sorge bereite auch die Befürchtung, daß manche für Leitungs­ aufgaben bestellte Organwalter nicht mehr in genügendem Umfang bereit seien, auch einmal „unbeliebte" Vorgesetzte zu sein und anderer­ seits nach außen hin Verantwortung zu tragen. Auf keinen Fall sei von ihm beabsichtigt gewesen, die „wirklich bedeutenden Leistungen" der Verwaltung auszusparen; hingegen habe er sich vielmehr vorgenommen, die Akzente etwas mehr nach der anderen Seite, den niemals ganz auszuschließenden Unzulänglichkeiten, zu verlagern, um eine Diskussion in Gang zu bringen. Die Frage zu lösen, wem die Verwaltung zu dienen habe, bleibe eine zeitlose Auf­ gabe, ,,die uns heute noch viel mehr angeht als vor hundert Jahren". Bei allen administrativen Maßnahmen bleibe zu fragen, wer wirklich der Nutznießer sei, wem sie tatsächlich zugute kämen und ob bzw. in welcher Hinsicht das Leben für den Bürger dadurch erleichtert und verbessert werde gegenüber dem bisherigen Zustande.

Triebkräfte und Ziele der Reichsreform nach der Weimarer Verfassung Von Gerhard Schulz

Um über die materielle Einschätzung und historische Relevanz der Thematik Mißverständnisse gar nicht erst aufkommen zu lassen, sei gleich zu Eingang dieses Vortrags daran erinnert, daß der Begriff ,,Reichsreform" , in jeder seiner Bedeutungen in der deutschen Ge­ schichte, Absicht und Fragment gebliebene Bemühungen um Ver­ änderungen an Haupt und Gliedern im Reich des ausgehenden Mittel­ alters wie im 20. Jahrhundert umschließt. Der englische Verfassungs­ geschichtler Lindsay David Keir konnte das 18. Jahrhundert, vor der Revolution, ,,the classical age of constitution" der englischen Geschichte nennen1 und in diesem Kapitel historische Gründung und Genesis des ersten geschichtlichen Entwicklungstyps moderner Verfassungen be­ schreiben. Für einen derartig beeindruckenden Namen wird man in­ dessen in der deutschen Geschichte der Neuzeit vergebens nach dem geeigneten Ort suchen. Man findet ihn auch nicht in den Reichsreform­ bemühungen und nirgends in der Republik von Weimar.

Die der wahren Vollendung, sogar jeder Form praktischer Fertigkeit ferngebliebenen Reformen sind indessen nicht nur von bedeutenden Juristenwerken begleitet worden, sondern haben auch solche hervor­ gebracht, bahnbrechende allerdings nicht mehr in unserem Jahrhun­ dert. Doch „Reichsreform" und Verfassung des alten Reiches interes­ sierte auch noch die hochentwickelte Rechtsgeschichte vor hundert Jahren. Man braucht nur an die Reihe respektabler Abhandlungen über Pufendorf zu erinnern, die allein nach Harry Breßlaus Übersetzung der Monzambano-Schrift erschienen sind, um es hier bei einem Bei­ spiel zu belassen. Wenn das 19. Jahrhundert mit einem bedenkenswerten Wort ein „juristisches Jahrhundert" genannt worden ist2, so erscheint uns dies

1 Lindsay David Keir, The Constitutional History of Modem Britain since 1485. 7. Aufl. London 1964, S. 289 - 369 : Chapter VI. The classical age of constitution, 1714 - 1788. 2 Franz Schnabel, nach Ernst-Wolfgang Böckenfl5rde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in : Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt a. M. 1976, S. 93.

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Gerhard Schulz

insofern ein vollgültiger Ausdruck, als dieses Jahrhundert des raschen Aufschwungs von Technik und Wirtschaftskräften in einer zunehmend liberalisierten und am Ende weltweit gespannten Ordnung des Kapital­ verkehrs doch auf nicht minder große und folgenreiche Mühen bedeu­ tender Juristen zurückblicken konnte. Ihre Arbeiten haben schließlich den Boden geschaffen, auf dem auch wir heute stehen. In allen großen Nationen sind im 19. Jahrhundert große, tiefdringende staatsrechtliche und zivilrechtliche Werke und in einigen von Grund auf neue und kunst­ volle, vom Juristendenken ihrer Zeit durchdrungene Verfassungen entstanden. Das berühmte Wort, eine gute Verfassung sei ebenso klar wie dunkel, das als letztem Talleyrand zugeschrieben wird, wurde schließlich von den Verfassungsjuristen mit so souveräner Nichtach­ tung übergangen, daß es beinahe vollständig in Vergessenheit geriet oder allenfalls wie ein archaisches Überbleibsel nur noch mit Staunen oder Befremden eben gerade noch zur Kenntnis genommen wird. Das „ classical age of constitution", von dem Sir Lindsay Keir gespro­ chen hat, erscheint uns als universalhistorischer Prolog und Antezedenz des neuen Zeitalters der langen und großen Verfassungen und des umfänglichen systematisierten Staatsrechts. In diesem Prolog wirkten Familien und Cliquen der Gentry, die um die Regierung mit, unter oder auch im Widerspruch zum König rangen, mit vielen Mitteln, mit parlamentarischer Eloquenz, mit Intrigen, mit Korruption, immer häufiger auch unter Anrufung des lesenden Publikums und seiner Moralempfindungen. Doch die im Praktischen gewonnenen Regelungen wurden Tradition und fügten sich zu einer ebenso lebendigen wie be­ ständigen Verfassung zusammen, mit immer wieder den Historiker überraschenden Mängeln, die tiefe Abgründe sichtbar werden lassen, aber von einer die jüngere Neuzeit überragenden, in wiederholten Reformschüben dauerhaft gebliebenen Tragfähigkeit, bis dicht an die Schwelle unseres Zeitalters. All dies begründet die paradoxe Eigenart der englischen Verfassung als des historischen Entwicklungstyps, daß sie staatstheoretisch wegweisend und zugleich historisch beispiellos und unnachahmlich blieb. I. Die Widersprüche zwischen der Theorie von Staat und Parlament in der Geschichte einerseits und der Geschichte des englischen Ver­ fassungswesens anderseits haben bekanntlich auch in der deutschen Verfassungsgeschichte Spuren hinterlassen3 • Vor wie nach Rudolf v, a Auf die schmale Grundlage der lange Zeit in Deutschland vertretenen Theorie .des englischen Parlamentarismus verweist Gerhard A. Ritter, Das britische Parlament im 18. Jahrhundert, in : Ständische Vertretungen . : in

Triebkräfte und Ziele der Reichsreform

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Gneists Ansichten und Irrtümern über die Verbindung von Gentry und Selfgovernment, die im zweiten Reformimpuls der preußischen Ge­ schichte nach der Reichsgründung mitwirkten4 , rückten staatstheore­ tische und vor allem Reformdiskussionen immer wieder in den Schatten, den englische Einrichtungen, Parlament oder Lokalverwaltungen, warfen. Erst in der Generation nach Gneist wurde Hugo Preuß unter dem Eindruck der Lehre Otto v. Gierkes, aber auch der Gneist-Kritik des etwas jüngeren Österreichers Joseph Redlich5 , nach eigenen kom­ munalpolitischen Erfahrungen, zum „Hauptträger einer im demokra­ tischen Sinne verjüngten liberalen Selbstverwaltungsidee" 6 , die sich dem Gedanken des Selfgovernment verpflichtet hatte, der in der städtischen Selbstverwaltung als deutschem historischen Entwicklungstyp zur bleibenden Ausformung gelangt war. Die von Preuß zugespitzte Lehre von der Gleichartigkeit der Gebietskörperschaften und die von ihm vertretene Konvergenz von Selbstverwaltungsprinzip und Volksstaats­ idee - der „vollkommenen Identität des Staates und des politisch organisierten Volkes" 7 - führte dann zu der ebenso radikalen wie völlig mißlungenen, aber dennoch folgenreichen Wiederaufnahme des unitarischen Nationalstaatsgedankens aus der nationalen liberalen Tradition des 19. Jahrhunderts, nun unter der Losung des „Einheits­ staates" . Mit dem Namen von Hugo Preuß ist der erste und für die gesamte Geschichte der Republik entschiedenste Entwurf verbunden8 , der die

Europa im 17. und 18. Jahrhundert, hrsg. von Dietrich Gerhard. 2. Aufl. Göttingen 1974, S. 405. , Zur Schlüsselbedeutung des Ehrenamtsprinzips für den Begriff der Selbstverwaltung bei Gneist Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwal­ tung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1950, S. 375 ff., 409, 502 ff., 522 f. 11 Joseph Redlich, Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands, ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer gegen­ wärtigen Gestalt. Leipzig 1901, abschließendes Urteil dort S. 796. 6 Heffter, Selbstverwaltung, S. 751. Vor allem Hugo Preuß, Selbstverwal­ tung, Gemeinde, Staat, Souveränität, in : staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestag der Doktorpromotion, 2. Bd. Tübingen 1908, S. 197 - 264; auch ders., Die Entwicklung des deutschen Städtewesens, 1. Bd. : Die Entwicklungsgeschichte der deutschen Städtever­ fassung. Leipzig 1906. Vgl. Gerhard Schulz, Zwischen Demokratie und Dik­ tatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 1. Berlin 1963, S. 124 - 130 ; auch Siegfried Graßmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung. Lübeck 1965. 7 So in der Kriegsschrift von Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Poli­ tik. 2. Aufl. Jena 1916, S. 1 10, s Der nicht veröffentlichte sogenannte „Vorentwurf" zur Reichsverfassung, den Preuß · nach ·eingehenden Beratungen in einem von ihm geladenen Ge­ lehrtenkreis im Reichsamt des Innern erarbeitete, wobei seine eigenen Ideen den Ausschlag gaben. Abgedruckt in : Quellensammlung zum deutschen Reichsstaatsrecht, zusammengestellt von Heinrich Triepel. 3. Aufl. Tübingen 1922, S. 7 - 11. Hierzu Walter Jellinek, Revolution und Reichsverfassung, in : Jahrb. des öffentlichen Rechts der Gegenwart 9, 1920, S. 46 ff.; auch Wolf".'

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historische Länderagglomeration des preußischen Staates auflösen und das gesamte Reichsgebiet provisorisch in Regionaleinheiten gleicher Art und gleicher Stufe einteilen wollte ; ,,Kommunalverbände höherer Ordnung" hat man sie später genannt. Dies sollte die historische Be­ lastung der deutschen Geschichte, die Preuß wie auch andere liberale Köpfe seiner und der voraufgegangenen Zeit in dem territorialen Über­ gewicht und der politischen Hegemonie des preußischen Staates er­ blickten, ein für alle Mal beseitigen. Gleichartige und gleichwertige Ge­ bilde sollten die Landkarte des neuen Deutschlands füllen. Das Ensemble der beiden aufeinander bezogenen Ideen, der neuen Vertikal- wie Horizontalgliederung des Reiches und der Auflösung des preußischen Staates, überstand indessen nicht einmal die ersten Beratun­ gen, noch ehe in der Nationalversammlung in Weimar der zweite, der parlamentarische Teil der Verfassungsausarbeitung begann. Sein Ent­ wurf blieb ein unrealistischer, im weitesten Sinne des Wortes auch unpopulärer, lediglich ephemerer Plan. Der Name Hugo Preuß repräsentiert dann aber schließlich auch die historischen politischen Kompromisse, die die Weimarer Reichsver­ fassung besiegelte, diese zu einem der Kompromißtypen der modernen Verfassungsgeschichte prägte, insofern also sie heterogene Prinzipien unter bestimmten, aber keineswegs dauernden Bedingungen und als sie nicht eindeutig bestimmbare politische Kräfte einer neuen Rechts­ ordnung unterwarf. Dies charakterisiert sie sowohl innerhalb der deut­ schen Geschichte als auch in der vergleichenden Geschichte der euro­ päischen Verfassungen. Die Reichsverfassung von Weimar besiegelte die Überlegenheit der Reichsgewalt, die sich unter Führung Friedrich Eberts den Räten gegen­ über durchsetzte, aber auch die anfangs entschiedene Opposition Bayerns überwand. Die Reichsverfassung ließ jedoch - entgegen den ursprünglichen Absichten von Hugo Preuß und einiger Gleichgesinnter - Preußen weiterhin als das größte und wichtigste deutsche Land mit dem größten Teil der deutschen Wirtschaftskraft bestehen, allerdings in einer eingeschränkten hegemonialen Stellung innerhalb des neuen Deutschen Reiches. Sie ließ seine Verwaltungsorgane wie seine Regie­ rung unangetastet, löste aber endgültig die Reichsregierung vom preußischen Staat, was sich bald als überaus folgenreicher Schritt er­ wies. Schließlich wurde die Reichsverfassung zu einem Kompromiß zwischen dem parlamentarischen Prinzip, das, entgegen den anfänggang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890 - 1920. 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 353 ff. ; G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 133 ff. Schließlich ist auf die bislang einzige abgeschlossene Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Weimarer Reichsverfassung zu ver­ weisen : Willibalt Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1946 (Neudruck 1964).

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liehen Ansichten und Absichten von Hugo Preuß, auch i n den Ländern eingewurzelt war, und der häufig zitierten „überwölbenden Autorität" des Staatsoberhauptes, des Reichspräsidenten, der als Gegengewicht sowohl gegen die parlamentarisch aufgefrischten Länder als auch gegen das Reichsparlament selbst mit umfänglichen Rechten und Befugnissen ausgestattet wurde9 • Preuß und andere Väter der ersten Entwürfe, unter denen der an­ anfangs beteiligte Max Weber als hervorragende Ausnahme gelten darf, unterschätzten nicht nur Art und Stärke des Behauptungs- und Durch­ setzungswillens der neuen Machthaber an der Spitze des preußischen Staates, der sowohl in seinem Verwaltungsaufbau als auch in der weit überwiegenden Mehrheit seiner Beamtenschaft wie in seinem terri­ torialen Zusammenhalt mitsamt den historischen Exklaven und En­ klaven unversehrt die Umbruchsphase überstand, von den Gebietsver­ lusten nach dem Friedensvertrag abgesehen. Preuß unterschätzte auch die lebendige Staatsverbundenheit breiter Bevölkerungskreise einiger mittelgroßer deutscher Länder und auch gewisse Stärkungseffekte, die der Zusammenbruch der Hohenzollernmonarchie in den Staaten Süd­ deutschlands mit sich brachte. Vor allem wird man im Ablauf der Ver­ fassungsentwicklung innerhalb der Umbruchsphase immer wieder auf Existenz und Arbeitsweise einer juristisch geschulten und in tradi­ tionellen Bahnen erzogenen Beamtenschaft hingewiesen, die sich dem historischen Staatswesen verpflichtet fühlte. Es gab schon der Umbruchsphase mehrere „ rochers de bronce", die sich in der vorübergehenden Brandung der Räteströmung als wider­ standsfähig erwiesen und alle Kräfte der Beständigkeit auf ihrer Seite hatten, aber auch die Prinzipien von Hugo Preuß überwanden. Das gelang freilich deshalb so rasch und durchschlagend, weil sich Verwaltungen und Länderregierungen mit den jeweiligen Partei­ mehrheiten in einer Ideal- wie einer Realkoalition zusammenfanden. Wir haben uns bei den Intentionen von Hugo Preuß aufgehalten, um mit ihnen nun auch Zugang zu den Grundfragen der Ziele verschie­ denartig motivierter Bestrebungen einer Reichs- und Verfassungsre­ form in der Weimarer Republik zu finden, die fast alles, was in den Verfassungsberatungen kontrovers gewesen und in gewisser Hinsicht offen geblieben war, nacheinander oder miteinander einbezogen: die Stellung der Länder im Deutschen Reich der Republik, ihre Größen­ ordnung und Gebietsreformen, im besonderen Bestand und Stellung Preußens, auch die Verfassung seiner Provinzen, und stets, bald gravie­ rend die Beziehungen der obersten Zentralinstanzen des Reiches zu9 G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 210 ff., auch S. 130. Hierauf stützt sich, soweit nicht andere Arbeiten genannt werden, auch die folgende Darstellung.

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einander, Reichstag, Reichsregierung, Reichskanzler, Reichspräsident, Reichsrat, wie auch zu den Ländern. Die Gestaltung der Finanzverfas­ sung und ihres zentralen Problems des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern, die überhaupt erst nach der Annahme der Weimarer Verfassung mit der sogenannten Erzbergerschen Finanzreform begann, bewegte sich stets innerhalb dieses Beziehungssystems, einem System begrenzter, aber permanenter Konflikte, wie man, im historischen Rückblick auf die Geschichte der Republik von Weimar ohne übertrie­ bene Zurückhaltung sagen darf und es der Klarheit zuliebe auch aus­ drücken sollte. Die Finanzlage im allgemeinen, die längere Zeit auto­ nome Finanzwirtschaft der Städte und Kommunalverbände, die das er­ kennbare Defizit an Sozial- und Kulturleistungen des Staates in dem Jahrfünft der Stabilisierung durch eigene Intentionen und Investitionen rasch, mitunter auch in spektakulären Formen, auszugleichen versuch­ ten, zogen schließlich auch die kommunale Ebene des öffentlichen Le­ bens nach und nach in den Kreis der Reformentwürfe ein. Man darf ohne gravierende Einschränkung feststellen, daß die Probleme der Vor­ bereitung und Ausarbeitung der Weimarer Reichsverfassung auch die gesamte Periode der Weimarer Republik überschatteten. Allerdings wandelten sich Rangordnungen ebenso wie Motivations­ zusammenhänge unter dem Einfluß der raschen Veränderung der innen­ und außenpolitischen Tendenzen und Kräfteverhältnisse. Die geringen Ansätze zur Dauer und die hervordrängende Fluktuation von Bezie­ hungen und Gegebenheiten, die die ganze weltpolitische Epoche zwi­ schen den Weltkriegen und wahrscheinlich, diese Bemerkung erscheint kaum noch verfrüht, den größten Teil des 20. Jahrhunderts charakteri­ sieren, drückten ohne wesentliche Verzögerung in den kritischen Frak­ turen des fragilen Verfassungssystems durch. Reichs- und Verfassungs­ reform übernahmen die Funktion eines großen, aber doch keineswegs vorsorglich angelegten Röhrenwerks, das Druck und Vakuum in Ver­ fassungspolitik transformierte und hierbei vielfältig angelegte oder auch schon entwickelte Keime divergierender juristischer Theorien zum raschen Erblühen brachte. Wir verfolgen nicht die Absicht, hier in einem Exkurs hinter den Bestrebungen zur Reichs- und Verfassungsreform die treibenden Kräfte der Zeit zu erfassen oder die causa formalis sichtbar zu machen. Doch die Feststellung erscheint am Platze, daß Verfassungspraxis und Re­ formbestrebungen in einer indefiniten Situation gewissermaßen seis­ mographisch den Kräftewechsel aufzeichnen, der die innere Geschichte der Weimarer Republik bestimmte. Die durchschlagende Instabilität des politischen Systems äußerte sich auch in der unübersehbaren Tat­ sache, daß Zielsetzungen, Beweggründe, vor allem aber der Bezugs­ rahmen der Reform- oder Revisionsbestrebungen der zwanziger und

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ersten dreißiger Jahre in verhältnismäßig geringem zeitlichen Abstand wechselten. II.

Während der Umwälzungsphase 1918/19 schien es zunächst, als ob neue, zu größerem Einfluß gelangte Kräfte dominierten. Doch die von der Tradition der überlieferten Verwaltungs- und Staatspraxis ge­ prägten Kräfte behielten eine starke Position, so daß von vornherein die Wandlungsbreite des Verfassungsstaates gegenüber Staatszweck­ erklärungen und staatspolitischen Programmen - und weithin un­ abhängig von diesen - doch verhältnismäßig eng begrenzt blieb.

Die Elite des meist - und cum grano salis zu Recht - als konser­ vativ beurteilten Beamtentums bildete jedoch, bei allen Gemeinsam­ keiten der juristischen Schulung, der fachorientierten Sprache und Handlungspraxis, niemals im politischen oder verfassungspolitischen Rahmen eine einheitliche oder gar geschlossene Kraft. Der im weitesten Sinne soziologisch und sozialgeschichtlich homogene Kern des höheren deutschen Beamtentums verkörperte in der Weimarer Republik keine homogene Politik oder Tendenz. (Die Tragweite dieser Feststellung gilt es im Auge zu behalten, ehe Reflexionen zur Geschichte des Beamten­ tums sich zu politischen Urteilen verdichten.)

Dies war allerdings kaum schon die Folge der von den Regierungs­ parteien im Reich wie in den Ländern verfolgten Personalpolitik. Einige Untersuchungen haben sich um den Nachweis bemüht, daß etwa die von den Parteien der Weimarer Koalition beabsichtigten organischen Wech­ sel in den hohen und höchsten Positionen der disponiblen politischen Beamten nur begrenzte Erfolge zeitigten10• Allerdings verdienen die

10 Vor allem Wolfgang Runge, Politik und Beamtentum im Parteienstaat. Die Demokratisierung der politischen Beamten in Preußen zwischen 1918 und 1933. Stuttgart 1965 ; Hans Karl Behrend, Zur Personalpolitik des preußischen Ministeriums des Innern. Die Besetzung der Landratsstellen in den östlichen Provinzen 1919 - 1933, in : Jahrb. für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 6, 1957, S. 173 - 214 ; Eberhard Pikart, Preußische Beamten­ politik 1918 - 1933, in : VfZ 6, 1958, S. 119 - 137 ; Hans Fenske, Monarchisches Beamtentum und demokratischer Staat. Zum Problem der Bürokratie in der Weimarer Republik, in : Demokratie und Verwaltung. Berlin 1972, S. 117 bis 136. Hinweise bei Rudolf Morsey, Zur Beamtenpolitik des Reiches von Bismarck bis Brüning, im gleichen Bd. S. 108 ff. ; auf einige Staatssekretäre der Reichsämter und einen knappen Zeitabschnitt beschränkt, jedoch innerhalb einer weit gefaßten Kontinuitätstheorie Wolfgang Elben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919. Düsseldorf 1965. Wichtige Einblicke vermitteln einige Memoi­ renwerke, vor allem von Arnold Brecht, Hermann Pünder, Carl Severing, WiUibalt Apelt. Die neueren, interessanten Darlegungen von Hans Momm­ sen, Die Stellung der. Beamtenschaft in Reich, Ländern und Gemeinden in

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geläufigen, durch statistische Angaben reichlich unterlegten Behaup­ tungen eine gravierende Ergänzung. Zweifellos war der Einfluß einiger politischer Beamter der Staats­ sekretärsebene und auch darunter in den zentralen Ministerien des Reiches und Preußens erheblich; und für andere Länder läßt sich Ähnliches belegen. Das Beispiel des Aufstiegs und wachsenden Einflus­ ses des Generals v. Schleicher innerhalb des Reichswehrministeriums ist bisher meist ausschließlich im Aspekt einer spezifischen Reichswehr­ politik betrachtet worden, ohne daß näher geprüft wurde, ob oder welche vergleichbaren Entscheidungen mit politischen Folgen sich auch in anderen obersten Reichsbehörden anführen lassen, ob sich am Ende nicht doch die Mutmaßung als begründet erweist, daß wir innerhalb der Geschichte des Wehrministeriums eher einen typischen Fall vor Augen haben als ein exzentrisches Beispiel. Es läßt sich jedenfalls nicht bestreiten, daß ein beachtlicher Anteil dieser wichtigen Beamtenposi­ tionen - allein um diese freilich ist es hier zu tun, nicht in erster Linie um die Besetzung von Landratsämtern in den preußischen Ostprovin­ zen, so eindrücklich sich deren Zahl in jeder Statistik der politischen Beamten ausnimmt -, daß die hervorragendsten Positionen im ganzen doch zielbewußt und auch mit einem gewissen Erfolg von den herr­ schenden Parteien mit Männern ihres Vertrauens, wenn auch nicht immer ihrer couleur im engsten Sinne besetzt wurden, doch meistens auch dies, weitgehend jedenfalls in Preußen11 • Die überlieferten und der Ära Brüning, in: VfZ 21, 1973, S. 151 - 165 ; ders., Staat und Bürokratie in der Ära Brüning, in: Tradition und Reform in der deutschen Politik. Ge­ denkschrift für Waldemar Besson, hrsg. von Gotthard Jasper. Frankfurt a. M. 1976, S. 81 - 137, bedürfen teilweise der Oberprüfung und harren der Ent­ gegnung, die jedoch einem anderen Ort und einer anderen Gelegenheit vor­ behalten bleiben muß. Hier seien zwei Einwände prinzipieller Art gegen die in hohem Maße anregenden, aber teilweise verfehlten Thesen Mommsens nur angedeutet : Der erste richtet sich gegen die ausgesprochene oder still­ schweigend für selbstverständlich gehaltene Identifikation der Demokratie mit totaler parteipolitischer Durchdringung (und dann wohl auch katego­ rischer Einteilung) des öffentlichen Lebens wie des öffentlichen Dienstes. Demokratische Institutionen sind keineswegs nur solche, die ausschließ­ lich und vollständig von Parteien beherrscht werden; ob sie es dann über­ haupt sind, hängt von den Parteien ab. Jedenfalls muß nach unseren Er­ fahrungen die Einsetzung unparteiischer Gutachter, Ausschüsse, Beiräte, Wissenschaftler und Richter, die unmittelbaren Parteieinflüssen enthoben sind - auch wenn dies nur in allzumal unvollkommenem Maße gelten sollte -, bei weitem noch nicht zur Einschränkung oder Untergrabung der Demokratie führen. Der zweite Einwand ist terminologischer wie uni­ versalhistorischer Art. Es fördert die gründliche Untersuchung sicherlich nicht, wenn die verschiedenen Ebenen, Bezugspunkte und Vergleichsmöglich­ keiten von „Bürokratie" als dem historischen expansiven Formtypus der Verwaltung und „Demokratie" als Verfassung und Herrschaftsform und schließlich auch zwischen hohen und höchsten Beamten und den Massen der öffentlichen Bediensteten immer wieder außer Acht gelassen wird. 1 1 H . Fenske, Beamtentum, S. 129, entnimmt der Literatur verschiedene Angaben, die er zu folgendem Ergebnis zusammenfaßt, allerdings ohne einen

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kaum schon ganz erschlossenen Akten, die Eindrücke von parteiinternen Vorgängen vermitteln, gewähren Aufschluß über die als entscheidend bewertete Bedeutung, die der Personalpolitik in der Sicht der regieren­ den Parteien zukam12 • Der Betrachter könnte wohl den Eindruck ge­ winnen, daß Personalpolitik unter den politischen Traktanden an erster Stelle stand und zumindest in Preußen, die Konzeption einer Demokra­ tisierung mehr oder minder vollständig ausfüllte. Von personalpoliti­ schen „Kompensationen" 13 , die sich angesichts begrenzter Möglichkeiten Stichtag zu nennen : Von den 48 Staatssekretären und Ministerialdirektoren Preußens gehörten schließlich 6 der SPD, insgesamt 37 den drei Parteien der Weimarer Koalition (SPD, Zentrum, DDP) an, von den 12 Oberpräsi­ denten 5 der SPD (wir fügen hinzu : 3 dem Zentrum, 3 der DDP) und von den 44 Polizeipräsidenten allein 23. Kaum anders stand es bei den Regie­ rungspräsidenten und Vizepräsidenten. Fenske gibt an, daß auch von den 540 politischen Beamten außerhalb der Ministerien „Ende 1929" 107 zur SPD, 112 zum Zentrum und 72 zur DDP zählten, außerdem 95 der DVP an­ gehörten oder ihr nahestanden, die immerhin länger als drei Jahre (1921/25) zur Regierungskoalition unter Otto Braun gehörte und ebenfalls eine aktive Personalpolitik betrieben hatte. 50 waren Mitglieder der DNVP, die vor allem unter den Landräten in den östlichen Provinzen noch eine stärkere Position behauptete. Außerhalb dieser konservativen Domäne gelangte jedenfalls die Demokratisierung in dem Sinn einer parteipolitischen Zutei­ lung der wichtigsten Beamtenpositionen in Preußen zu einem durchschlagen­ den und für die deutsche Beamtengeschichte offenbar beispiellosen Ergebnis. Die Kritik blieb nicht aus und ist vor allem von Vertretern der akade­ mischen Jurisprudenz zugunsten einer politischen Neutralisierung der ge­ samten Staatsdienerschaft vorgebracht worden. In der Lehre wirkte jeden­ falls mehr Kontinuität als in der personal- und auch in der verwaltungs­ politischen Realität. Vgl. Arnold Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie. Berlin 1928 ; ders., Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staat der Gegenwart, in : Handbuch des deutschen Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Bd.2. Tübingen 1932, S. 1 - 19. 12 Für die SPD in Preußen unter den Innenministern Severing und Grzesinski (1920 - 1930) die vor allem den Nachlaß des Letztgenannten heran­ ziehende Darstellung von Hans-Peter Ehni, Bollwerk Preußen? Preußen­ Regierung, Reich-Länder-Problem und Sozialdemokratie 1928 - 1932. Bonn­ Bad Godesberg 1975, S.47 - 56. Hinweise bei Carl Severing, Mein Lebens­ weg, Bd. 2. Köln 1950, S.284 ff.; Albert C. Grzesinski, IIJ,side Germany. New York 1939, S. 110 ff.; und allgemein zur Personalpolitik Arnold Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884 - 1927. Stuttgart 1966. Beachtung verdient auch der beträchtliche Anteil der beamten- und besoldungspolitischen Traktanden an den Beratungen der Reichstagsfraktion des Zentrums ; vgl. Rudolf Morsey (Bearb.), Die Protokolle der Reichstagsfraktion und des Frak­ tionsvorstands der Deutschen Zentrumspartei 1926 - 1933. Mainz 1969; ferner die - allerdings teilweise unzuverlässigen - Hinweise in den Memoiren des vormaligen Reichsfinanzministers Heinrich Köhler, Lebenserinnerungen des Politikers und Staatsmannes 1878 - 1949, hrsg. von Josef Becker. Stutt­ gart 1964, S. 100 ff., 196 ff., 251 - 264. Systematische Untersuchungen dieses Komplexes gehören noch zu den Desiderata zeitgeschichtlicher Forschung. 1s So, pars pro toto, der Vorsitzende Falk in der Sitzung der preußischen Landtagsfraktion der Deutschen Demokratischen Partei am 18. Februar 1930 (irrtümlich datiert : ,,18.Jan.30" ); Protokolle im Bundesarchiv zu Kob­ lenz (BA), R 45 III/65, die eine bislang unbeachtete Fundgrube für Wahr­ nehmungen der hier bezeichneten Art darstellen.

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bei der Verteilung von Ministerämtern auf hohe Beamtenpositionen von Einfluß erstreckten, sprach man in Preußen auch bei Koalitionsver­ handlungen recht nachdrücklich. Wenn aber die Parteien der Weimarer Koalition in Preußen ent­ schlossen waren, ihre personalpolitischen Erfolge zu behaupten und zu verteidigen, hauptsächlich gegen die Deutschnationalen, deren per­ soneller Besitzstand nicht gering, aber in den Reichsbehörden eben größer als in Preußen war, so betrachteten sie doch die Personalpolitik untereinander überaus kritisch. Der gegen das Zentrum erhobene Vor­ wurf, daß es bloß konfessionelle Patronage betreibe, wurde in Partei­ gremien der Demokraten keineswegs selten vorgebracht, und die Mei­ nung, daß unter sozialdemokratischem Einfluß in Preußen die „Beam­ tenpolitik sozialistisch geführt" worden sei, womit man wohl in erster Linie die Bevorzugung von Außenseitern aus der Gewerkschaftsbewe­ gung meinte, wurde von einzelnen demokratischen Politikern schon mit einer Erbitterung vertreten, die sich kaum noch um Grade von der Polemik der Deutschnationalen unterschied14 • Die Berufung auf die republikanische oder demokratische Gemeinschaft schloß jedenfalls per­ sonalpolitische Friktionen auch unter langjährigen Koalitionspartnern nicht aus. Aber auch wenn man die Einwirkung personalpolitischer Weichen­ stellungen der Parteien aus dem Spiele ließe, wäre es doch verfehlt, in der führenden Gruppe des Staatsbeamtentums einen einheitlichen Typus zu erblicken. Allerdings erscheint es nachgerade schon verwun­ derlich, daß die Verwaltungswissenschaften bislang neben ihren In­ teressen für Systemtheorien offenbar noch nicht versucht haben von einigen in jüngerer Zeit etwas stärker beachteten Oberbürger­ meister-Viten abgesehen -, eine Typologie des historischen Beamten­ tums zu entwickeln15 und auch die Persönlichkeitsprägung als Faktor der Verwaltungs- und Verfassungswirklichkeit angemessen zu berückH Hierzu die genannten Protokolle der DDP-Landtagsfraktion. 15 Nur wenige biographische Arbeiten liegen für die Weimarer Ära vor. Genannt seien Hildemarie Dieckmann, Johannes Popitz. Entwicklung und Wirksamkeit in der Zeit der Weimarer Republik. Berlin 1960; Franz Men­ ges, Hans Schmelzle, Bayerischer Staatsrat im Ministerium des Äußeren und Finanzminister. München 1972 ; Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Stuttgart 1974 ; einzelne Darstellungen in dem Sammelband Männer der deutschen Verwaltung. 23 biographische Essays. Köln 1963 (Drews, Saemisch, Popitz, Goerdeler, Reuter). Daneben sind die wichtigen Beamtenmemoiren von großem Wert : Arnold Brecht, Aus nächster Nähe; ders., Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen - zweite Hälfte, 1927 - 1967. Stuttgart 1967 ; neuerdings auch Lutz Graf Schwerin v. Krosigk, Staatsbankrott. Die Ge­ schichte der Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1920 bis 1945. Göttin­ gen 1974. Natürlich reichen Biographien und Memoiren nicht aus, um die hier bezeichneten Probleme zu lösen. Nützliche methodische wie systema­ tische Anregungen vermittelt die kleine übersieht „Einige typische Bio­ graphien" bei W. Runge, Politik und Beamtentum, S. 157 - 169.

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sichtigen. Die Lebenserfahrung kennt genügend Beweise dafür, daß grenzenlos entpersonalisierte „Sachlichkeit" 1 8 auf die Dauer auch zum Schaden der Sache ausschlägt. Man sollte vermeiden, sich allzu beherzt auf die abschüssige Ebene von globalen Kontinuitätstheorien17 zu be­ geben, die zumindest im personellen, d. h. auch im persönlichen Erfah­ rungsbereich, aber nicht nur dort, erheblicher Modifikationen bedür­ fen. Im zeitgeschichtlichen Bilde des Staates von Weimar erscheinen je­ denfalls Personal- und Organisationsstrukturen der Verwaltung als Pfeiler der Republik, wenn es auch ganz und gar unangebracht wäre, das Beamtentum nun schon als Wahrer des Staates „über den Parteien" oder gar als korporativen „pouvoir neutre" oder als „freischwebende Intelligenz" zu betrachten, was immer das sein mag. Das Netz der Ver­ bindungen und Orientierungslinien war weitaus komplizierter, als daß solche Stereotypen noch verfingen.

Vber eine wohl vergleichsweise annähernd homogene Beamtenschaft verfügte das Land Bayern. Sogar in der kurzen Zeit der Regierung Eisner, im Schatten der revolutionär erneuerten bayerischen Eigen­ staatlichkeit, gebot das Staatsbeamtentum unter seinen führenden Vertretern über eine ungeschwächte Stellung, die schon in Anbetracht des Verschwindens oder Zurücktretens anderer Traditionsträger, des Monarchen, des Heeres, im besonderen des Offizierskorps, in der Phase der scheinbar noch offenen Verbindungen zur Zentralgewalt des Reiches, nach Auflösung des Reichstags, als eine schlechterdings her­ vorragende bezeichnet werden darf. Diese Stellung wurde schließlich, nach den Beratungen der Verfassungskommission aus hohen Beamten unter Leitung des Geheimrats v. Graßmann, im vorläufigen Staats­ grundgesetz vom 4. Januar 1919 verankert, das die erste institutionelle Garantie des überlieferten Beamtenrechts unter Einschluß des expressis verbis genannten „unbeschränkten Rechts" der „staatsbürgerlichen Be­ tätigung" der Beamten enthielt 18 • In den Händen der Regierung ver­ blieb vorläufig sowohl die gesetzgebende als auch die vollziehende Ge­ walt, während dem Landtag keine eindeutig bestimmten Rechte zuge­ standen wurden. Erst die Lösung der beteiligten Köpfe der Beamten16 Nur am Rande sei angemerkt, daß eine zwar konsequente, aber so ein­ seitige Argumentation zur Verteidigung des seit Jahrzehnten auch in Deutsch­ land umstrittenen Juristenmonopols (,,Will man das Juristenmonopol . . . ab­ schaffen, . . . so ist die Ausstellung des Totenscheins für die Bundesrepublik nur eine Frage der Zeit") wie die einmal von Ernst Ke-rn vorgebrachte (Die Institution des Berufsbeamtentums im kontinentaleuropäischen Staat. Dortmund 1952, S. 35 : ,,Die Gerechtigkeit des modernen Massenmenschen heißt Rationalität".), vor 1933 im deutschen Beamtentum kaum denkbar ge­ wesen wäre. Die geistigen Wandlungen danach haben offenbar beträchtliche Ausmaße erreicht, was übrigens manchen Kontinuitätsthesen widerspricht. 11 Vgl. Anm. 11. 1s Robe-rt Piloty, · Die bayerische Verfassung vom 14. August 1919, in : Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart 9 , 1920, S. 134 ff.

6 Speyer 66

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schaft von Eisner eröffnete die Möglichkeit der Parlamentarisierung, die fünf Monate später in der Verfassung Bayerns verankert, doch ebenso wie die Reichsverfassung nur unter oft und offen ausgesproche­ nen Reservationen von der politischen Mehrheit hingenommen wurde. Dem in Bayern in verhältnismäßig radikalen Formen verlaufenen Umsturz im November 1918 stand mithin von Anfang an die erklärte Stärkung des unverändert übernommenen Beamtenkörpers gegenüber, der dann auch die folgende Umwälzung im Frühjahr 1919 unbelastet überstand und nach wie vor die bayerische Eigenstaatlichkeit zu seiner Sache machte. Wenn überhaupt von einer anhaltenden Kontinuität der Beamtenschaft über die Novemberrevolution 1918 hinweg die Rede sein soll, dann doch wohl am ehesten im Hinblick auf Bayern, wo auch der einzige nichtsozialistische Minister der Revolutionsregierung Eisner, Ritter v. Frauendorfer, an der Spitze des gleichen Verkehrsministeriums stand, das er in der letzten Vorkriegsregierung und danach bis zu dessen Auflösung im Jahre 1920 leitete. Drei von fünf Nachkriegs­ ministerpräsidenten waren hohe königliche Beamte, Graf Lerchenfeld­ Köfering, Ritter v. Kahr und Ritter v. Knilling; der letzte hatte bereits als Minister in der Kriegs- und Vorkriegszeit gedient. Dieser enge Verbund zwischen hohem Beamtentum, Regierungs­ ämtern und Politik blieb auch in den späteren Jahren der Republik bestehen, in der parlamentarischen Periode dank der Verbindung der Beamtenschaft mit den Regierungsparteien, in erster Linie der Bayeri­ schen Volkspartei als der führenden politischen Kraft des Landes mit breiter Basis in der bürgerlichen und ländlichen Bevölkerung. In Fritz Schäffer erhielt sie schließlich einen rasch innerhalb der Partei wie im Beamtentum aufgestiegenen Führer, der wie kaum ein zweiter Partei­ führer der Republik die Einheit von Regierung, Beamtentum und Partei verkörperte. Dies war die Grundlage der „neuen Ära . . . der Staatsautorität", der neun Jahre amtierenden Regierung Held19 , die sich durch Berufung auf Geschichte und Tradition des bayerischen Staates legitimierte und ge­ wissermaßen wertfrei die Kluft zwischen dezidierten Republikanern und den zahlreichen Anhängern des immer noch populären Wittels­ bacherhauses zu überbrücken versuchte, was ihr weitgehend auch gelang. Ihr Staatserhaltungsprinzip vergegenwärtigte die politische Führung Bayerns von Anfang an in einer ununterbrochenen Kette von Auseinan­ dersetzungen verschiedenen Grades, die sie gegen die Regierungen des Reiches, gleich welcher Zusammensetzung, bis in das Jahr 1933 hinein 19 Klaus Schönhoven,

1972,

s. 106 f.

Die Bayerische Volkspartei 1924 - 1932. Düsseldorf

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führte. Wohl wechselten Tonart und Methoden, in der die Behauptung der bayerischen Eigenständigkeit vorgebracht wurde ; doch der Anspruch auf Anerkennung der historischen Prävalenz des bayerischen Staats­ rechts nach der Reichsgründung von 1871 behauptete sich noch Jahre. Die häufige Klage über die Unterhöhlung der bayerischen Staatlichkeit mündete daher stets in die Forderung entweder nach vollständiger oder nach partieller Rückkehr zum Föderalismus der alten Reichsverfas­ sung20.

Wir lassen hier die Frage aus dem Spiel, welche taktische und welche strategische Reichweite dem positiven Teil des bayerischen Postulaten­ katalogs zuerkannt werden soll. Im Vergleich zur zeitweilig geglückten inneren Konsolidierung des bayerischen Nachkriegsstaates unter dem Partei- und Beamtenregiment erscheint die theoretische Begründung der bayerischen Eigenstaatlichkeit nach außen hin eher problematisch, wenn nicht fragil. Doch sie sorgte jahrelang für eine kräftige Ein­ färbung der Reich-Länder-Beziehungen, sogar der gesamten Föderalis­ mus-Diskussion, in deren Verlauf dann Eigenart und Standort der an­ deren, weit reibungsloser und wie selbstverständlich parlamentarisier­ ten süddeutschen Staaten zusehends verblaßten. III.

Wenden wir unseren Blick ins nördliche Deutschland, so erscheinen die Friktionslinien schwächer. Sie fehlten aber auch dort nicht und be­ zeichneten Konflikte kleiner Länder nicht mit dem Reich, sondern mit dem preußischen Staat, den die regierenden Parteien der Weimarer Koalition zum eigentlichen Hort der Republik ausbauten. Innerhalb der schmalen Skala der politischen Entwicklungen in der Weimarer Republik kann man hierin gewissermaßen ein linkes Gegenstück zum bayerischen Staatsbewußtsein erblicken. Zwischen oder über beiden behauptete die Regierung des Reiches fast immer eine mittlere Position.

Unter der Weimarer Koalition und ihrer sozialdemokratischen Füh­ rung berief sich die preußische Politik auf die Idee eines künftigen preußisch-deutschen Einheitsstaates. Dies entsprach freilich, wenn man es knapp, aber bündig summarisch bezeichnen will, ebenfalls einem Rückgriff auf Geschichte und Tradition, nun aber auf die verfassungs­ geschichtliche preußische Hegemonie, die von der Monarchie abstrahiert und auf den Parteienstaat der Republik transponiert wurde. So blieb die Vereinheitlichung des Reiches, aber von Preußen aus, dauerhaftes 20 Auch nach der wiederholten Zuspitzung der Konflikte 1920/23 in den bayerischen Denkschriften von 1924 und 1926. G. Schulz, Zwischen Demo­ kratie und Diktatur, S. 457 ff. ; F. Menges, Hans Schmelzle, S. 231 - 260 (Denk­ schrift 1924: S. 78 - 87). 6*

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Programm und Grundlage einer die Koalitionsparteien mit großen Tei­ len des Beamtenkörpers einigenden Auffassung, die es den Koalitions­ politikern, vor allem aber der SPD erlaubte, den politischen Wert der preußischen Bastion in einer etwas idealisierten Perspektive höher als den der Reichsregierung einzuschätzen21 •

Das Verhältnis zwischen Preußen und dem Reich blieb bis zuletzt das zentrale, wenn nicht das eigentliche Problem aller Reichsreformbestre­ bungen. Nur unter der Bedingung einer Veränderung des durch die Reichsverfassung geschaffenen Status quo ließ sich an eine durch­ greifende Neugliederung des Reichsgebietes denken. Sie hätte eine Revision in der preußischen Mittelinstanz verlangt, die entweder den historisch entstandenen Regionen, den Provinzen, oder ihren nach jüngeren Gesichtspunkten geschaffenen departementähnlichen Unter­ gliederungen, den Regierungsbezirken, die größere Bedeutung inner­ halb des Verwaltungsbaus zuerkannte. Ein völliges Aufgehen Preußens im Reich, wie es verschiedentlich vorgeschlagen wurde, also die Beseiti­ gung der preußischen Staatsspitze, verlangte entweder eine Anglei­ chung der Provinzen an die Verfassungen anderer deutscher Länder oder deren Angleichung an eine neue preußische, künftig dann verselb­ ständigte deutsche Mittelinstanz, in der manche Autoren die Verwal­ tungseinheit wiederherstellen wollten. Dies warf dann aber als nächste Frage die nach der Behandlung der kleineren Länder auf. Schließlich wurden in noch weiter reichenden Perspektiven Entwürfe zu einer grundsätzlichen und um bisherige Landes- und Provinzialgrenzen wenig bekümmerten Neugliederung des gesamten Reichsgebietes nach opti­ malen Gesichtspunkten verwaltungstechnischer, wirtschaftlicher und verkehrspolitischer Zweckmäßigkeit entwickelt, die historische oder landsmannschaftliche Rücksichten mehr oder minder deutlich in den Hintergrund drängten. Diese Grundmuster lagen allen Erörterungen zu­ grunde22 . Die Bilanz der faktischen Ergebnisse nimmt sich jedoch be­ scheiden aus. Von der Übernahme Pyrmonts und später auch Rest-Waldecks durch Preußen abgesehen, ging lediglich aus dem Agglomerat der mittel­ deutschen Zwergstaaten der einstigen wittelsbachischen Lande ernestini­ scher Linie und den reußschen und schwarzburgischen Fürstentümern, ebenso erstaunlichen wie anschaulichen und beständigen Überresten mittelalterlicher Territorialgeschichte, im Jahre 1920 das Land Thü­ ringen hervor. (Zwei Menschenalter zuvor lagen hier Hochburgen der

Vgl. Ehni, Bollwerk Preußen? S. 289 f. Bekannt ist die umfängliche, wenn auch nicht vollständige Übersicht über die Programme einer Reichsreform in der letzten Veröffentlichung des Bundes zur Erneuerung des Reiches, Die Reichsreform, Bd. I (mehr nicht erschienen) : Allgemeine Grundlagen für die Abgrenzung der Zuständigkei­ ten zwischen Reich, Ländern und Gemeindeverbänden. Berlin 1933. 21

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deutschen Einigungsbewegung.) Doch von der völligen Wiederher­ stellung einer historischen Landschafts- und Stammeseinheit konnte ernsthaft auch hier nicht die Rede sein. Weder die · kleineren und größeren preußischen Enklaven Thüringens, wie Erfurt, Suhl und Schleusingen, noch die Exklaven im preußischen Staatsgebiet konnten ausgetauscht oder bereinigt werden.

Ebenso wie die Eingliederung des kaum noch existenzfähigen Schaumburg-Lippe scheiterte dann die Groß-Hamburg-Lösung des Großen Hamburger Arbeiter- und Soldatenrates von 1918 an dem ebenso erbitterten wie überlegenen Widerstand der preußischen Regie­ rung. Sie wurde erst 1937, fast in der ursprünglichen Form, unter Ein­ schluß Altonas, Harburgs und Wilhelmsburgs, durch Reichsgesetz ver­ wirklicht.

Die Regierung Oldenburgs schließlich lehnte den Übergang der land­ fernen Exklaven Birkenfeld und Lübeck-Eutin an Preußen ab ,md nahm zu großzügigen Zugeständnissen in der Steuerpolitik Zuflucht, was den Haushaltsausgleich des Landes schon vor Beginn der großen Krise zunehmend schwieriger gestaltete und die Staatsfinanzen notleidend werden ließ. Das führte verhältnismäßig früh in den zwanziger Jahren zum Rückzug der Mehrheitsparteien der Weimarer Koalition aus der Regierungsverantwortung und 1932 zur Bildung einer nationalsozia­ listischen Landesregierungm. Der Zusammenschluß Badens und Württembergs, die Schaffung Großhessens, die Vereinigung der beiden Mecklenburg, die Bildung einer Regionaleinheit Niedersachsen, ja selbst die Eingliederung des preußischen Regierungsbezirks Sigmaringen in Württemberg blieben einer späteren Periode vorbehalten, der lange und gründlich durch­ dachtes und aufbereitetes Material zugeliefert wurde, mit dem die Republik selbst jedoch niemals in die Nähe einer Lösung gelangte, von anderen Gedankenexperimenten ganz zu schweigen.

Die Ursache für den notorischen Mißerfolg der Regionalreform­ projekte lag in erster Linie im Wechsel der Intentionen der Regierun­ gen des Reiches wie der Länder, die unter die Dominanz finanzpoliti­ scher Gesichtspunkte gerieten, des Ringens um Finanzmittel, in dem bald nach der Erzbergerschen Finanzreform auch die stärkeren Länder eine graduelle Verbesserung ihrer finanziellen Situation zu erreichen trachteten, nachdem der Streit um die Steuerquellen im Prinzipiellen entschieden war. Dies ist die lange und bewegte Geschichte der nie zum Anschluß gebrachten Auseinandersetzungen über Ausgestaltung und Verbesserung des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern,

a Klaus Schaap, Die Endphase der Weimarer Republik im Freistaat Oldenburg 1928 - 1933. Phil. Diss. Bonn 1975.

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der wiederholt erneuerten und nie endgültig entschiedenen Streitig­ keiten über Abfindungen nach der Übernahme der Reservatsverwal­ tungen - Eisenbahnen, Post und Telegraphenwesen - durch das Reich. Später, während der großen Krise, folgten dann die Ausein­ andersetzungen um Reichsdotationen für die Wohlfahrtserwerbslosen­ fürsorge und die Stützung der Kommunen. Der Vorrang der finanzpolitischen Gesichtspunkte gegenüber Terri­ torial- und Gliederungsfragen erwies sich nach der Stabilisierung bereits so eindeutig, daß er sowohl die Groß-Hamburg-Lösung für den preußischen Staat unmöglich erscheinen ließ, die seit längerem schwe­ bende Eingliederung des kleinen Waldeck lange verzögerte und den von Schaumburg-Lippe unterband, die Groß-Hamburg-Lösung, weil Preußen auf das Steueraufkommen der Hamburger Randgemeinden und Nachbarstädte um keinen Preis verzichten wollte und durch eigene Lösungen seine Einnahmen aus dem Hamburger Wirtschaftsraum sogar zu vergrößern trachtete. IV.

Finanzfragen und Finanzausgleichsprobleme bildeten schon in den letzten Vorkriegsjahren die wunde Stelle im Verfassungskörper des Deutschen Reichs. Sie blieben auch nach der Finanzreform Erzbergers der neuralgische Punkt im System der Beziehungen zwischen der Zentralgewalt des Reiches und den Ländern, als Kriegsfolge- und Friedensvertragslasten nach dem Zusammenbruch der Währung einer unbekannten Größenordnung zustrebten. Das Reich kam den Ländern in den ersten Jahren der Republik zu­ nächst weit entgegen, um die Wirkung der Erzberger-Reform zu mildern. Das Finanzausgleichsgesetz von 1923 erhöhte dem Landes­ steuergesetz von 1920 gegenüber die Länderanteile an den Einnahmen aus den Steuerquellen des Reiches um insgesamt 20 Prozent, um die Wirkung der Inflation auf die Länder- und Gemeindehaushalte zu mildern. Außerdem räumte § 60 des Finanzausgleichsgesetzes den Län­ dern und Gemeinden Reichszuschüsse zu den Besoldungsausgaben in Höhe von 75 Prozent ein. Doch die rasch fortschreitende Geldentwer­ tung entwertete bald auch diese günstigeren Regelungen. Die erneute Änderung des Finanzausgleichs nach der Stabilisierung und nach der endgültigen Klärung des Umfanges der Belastungen des Reiches durch Reparationsleistungen auf Grund des Dawes-Planes erreichte dann wieder nur die Form eines vorläufigen Kompromisses, der j edes Jahr Ergänzungen und Revisionen erfuhr. Im Grunde brachte auch die Periode der Stabilisierung keinen Finanzausgleich hervor, der zu dauerhafter Stabilität beitragen konnte, ohne die es eine Ruhelage

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des föderativen Verfassungssystems nicht geben kann. Die Abhängig­ keit des Finanzausgleichssystems von der Konjunktur- und Krisen­ entwicklung hatte die Länder - im Gegensatz zur Vorkriegszeit vollends zu Kostgängern des Reiches werden lassen, das über den weitaus größten Etat verfügte. Das Nachziehen der finanzpolitischen Maßnahmen hinter der Veränderung der wirtschaftlichen Situation hatte diese Abhängigkeit im höchsten Maße fühlbar werden lassen.

Das einfachste und nächstliegende Präventivmittel gegen eine Über­ belastung der Anforderungsseite in den Haushaltsrechnungen der Länder wie des Reiches blieb auch stets das einzige wirkungsvolle : die kategorische Ausgabenminderung, die zeitweilig in diktatorischen Einsparungsmaßnahmen durchgesetzt wurde und zu scharfen Ein­ schränkungen des Personalbestandes der teilweise rasch gewachsenen öffentlichen Verwaltungen führte, zum ersten Male innerhalb der obersten Reichsbehörden, als Reichsfinanzminister Wirth 1920 in An­ betracht der schwierigen Finanzlage mit dem Versuch einer reichs­ einheitlichen Verwaltungsreform Ernst machte. Da sich seine Maß­ nahmen nicht nur auf Reichsverwaltungen erstrecken, sondern auch auf Länder und Gemeinden ausdehnen sollten, was sich nicht ohne weiteres aus der Reichsverfassung herleiten ließ, geriet Wirth bald in ähnlicher Weise wie sein Vorgänger Erzberger in den Geruch, durch eine „unitarische Aushöhlungspolitik" 24 die Staatssubstanz der Länder zu gefährden, so daß er sich einige Zurückhaltung auferlegte. Doch recht erfolgreich war bis zur Stabilisierung die Tätigkeit der Verwal­ tungsabbaukommission im Reich, mit deren Unterstützung der Reichs­ sparkommissar eine umfassende, auf Einsparung bedachte Verwaltungs­ reform in Angriff nehmen konnte. Das Beschlußrecht der Verwaltungs­ abbaukommission ermöglichte ihm eine Anzahl überaus drastischer Abbaumaßnahmen, die den Personalstand in den Reichsverwaltungen

2 4 Hierzu und zum folgenden G. Schulz, Zwischen Demokratie und Dikta­ tur, S. 519 ff. Die abwertende Beurteilung der Finanzreformen Erzbergers folgte übrigens aus einer falschen sachlichen Perspektive, die noch durch das föderative Muster der Finanzverfassung des Bismarck-Reiches vorgegeben war. Es scheint heute beinahe unglaubwürdig, daß die Weimarer Reichsver­ fassung dem Reichstag kein Steuerbewilligungsrecht zuerkannt hatte, wäh­ rend Verfassungen anderer deutscher Länder diesem Problem weit weniger blind entgegengetreten waren. Daß die Dinge so nicht bleiben konnten, lag auf der Hand. Popitz hatte dies in dem ihm eigenen, häufig provozierend wirkenden Rationalismus einmal drastisch formuliert : ,,Wir haben also in unserer Verfassung keinen ausdrücklichen Ausspruch über diese Kardinal­ frage des Parlamentarismus, und es ist erstaunlich, daß andere deutsche Verfassungen solche Grundsätze ausdrücklich aussprechen, während es die Reichsverfassung versäumt. So . . . z. B. in der Verfassung von Anhalt, . . . Baden, Braunschweig, Württemberg . . . " Johannes Popitz, Die staatsrecht­ lichen Grundlagen des öffentlichen Finanzwesens, unter besonderer Be­ rücksichtigung des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern, in: Recht und Staat im neuen Deutschland, hrsg. von Bernhard Harms, 1. Bd. Berlin 1929, s. 177 f.

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vom 1. Oktober 1923 bis zum 1. April 1924 von insgesamt 1 594 000 Be­ amten, Angestellten und Arbeitern um 372 000 Köpfe (rund 23 °/o) ver­ minderte25. Die hierdurch erzielten „Nettoersparnisse" wurden auf jährlich 295 Millionen Goldmark veranschlagt, eine Summe, die der Erhöhung der Länderüberweisungen aus dem Steueraufkommen des Reiches entsprach. Diese Institution der Not blieb dann auch nach der Wiederbefestigung der Währung bestehen und bemühte sich, die ein­ mal entwickelten Grundsätze einer allgemeinen Verwaltungsreform auch auf Länder und Kommunen zu übertragen.

V.

Die tiefe, für Wirtschaft wie Politik folgenreiche Zäsur der Ereignisse und Entscheidungen von 1923/24 hat Bresciani-Turroni kaum über­ trieben beurteilt, wenn er sie die wahre Revolution in der deutschen Geschichte nannte, von der weiter reichende und länger anhaltende Wirkungen ausgingen, als Kriegsende und Umsturz 1918/19 unmittel­ bar gezeitigt hatten26 • Allerdings ist der Hinweis auf die kausale Ver­ knüpfung von Krieg, Kriegsende und Kriegsfolgen mit den Krisen­ folgen der frühen Nachkriegszeit angebracht, und darauf, daß die einander verschärfenden Wirkungen natürlich auch erst in größerem zeitlichen Abstand zum Umbruch ihre größte Ausdehnung erreichten. Am Ende dieser Umbruchs- und Krisenperiode stand eine durch­ greifende rasche und radikale Rationalisierung der öffentlichen Haus­ halte wie der Wirtschaft ständig auf der Tagesordnung. Unter dem doppelten Gebot permanenter Auslandszahlungsverpflichtungen und Produktivitätssteigerungen der Exportindustrien griff sie tief in die politische Entwicklung der Republik ein.

Natürlich kam dem auch die permanente Verwaltungsreform als Korrektur oder gar Regulativ, entgegen. Die Folgen des Krieges hatten vor allem zur raschen Vergrößerung von Reichsverwaltungen geführt, die weithin beklagt und vor allem in der Wirtschaft als unnatürlich betrachtet wurde, so daß · eine Beschneidung geboten war. Weithin wurde im Beamtentum auch das hypertroph entwickelte Verwaltungs­ recht als unerträglich empfunden. Ein ausgezeichneter Sachkenner bemerkte, es gebe „in Deutschland keinen Mann . . . , der in der Lage wäre, zu sagen: Ich habe eine Übersicht über die gesamte deutsche

Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 529. The Economics of Inflation. A Study of Currency Depreciation in Post-War Germany. London 1937. 3. Aufl. 1968 (erweiterte englische Fassung von Le Vicende del marco tedesco. Milano 1931) ; ergänzend Peter Czada, Ursachen und Folgen der großen Inflation, in: Harald Winkel (Hrsg.), Finanz- und wirtschaftspolitische Fragen der Zwischenkriegszeit. Berlin 1973, S. 9 - 43. !II

G. Schulz,

H Costatino Bresciani-Turroni,

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Verwaltung"n. Die offenbar sich regelmäßig wiederholenden Aus­ uferungen des Verwaltungswesens ließen eine Rückführung auf das notwendige Maß erforderlich erscheinen. Die Reichsbeamtenschaft war meist geneigt, Reichszuständigkeiten als natürliche und legitime Be­ dürfnisse, föderalistische Entgegnungen jedoch als Störungen aufzu­ fassen. Allerdings wurden die Ministerialbeamten einiger Länder nicht ohne Grund als „eigentliche Träger des aktiven Föderalismus" an­ gesehen.

Die Periode des Dawes-Planes verschob die Gewichte weiter zu­ gunsten zentraler politischer Entscheidungen. Der Aufschwung der Exportindustrien, große Industriezusammenschlüsse, die durch das Umsatzsteuergesetz begünstigt wurden, Konzentrationsbewegungen in Verbindung mit großzügigen Sanierungen und Rationalisierungen nach Krieg und Nach.krieg bedurften starker Kapitalinvestitionen. Aber auch die Länder, das Reich selbst und vor allem die Kommunen bemühten sich um Zugang zum ausländischen und dem in seinem Schatten wieder aufgebauten inländischen Kapitalmarkt, um ihre Investitionsmittel aufzustocken. Sie bewegten sich mithin in einem prekären Konkurrenz­ verhältnis zur Wirtschaft, das die Reichsbank wie der Generalagent für die Reparationszahlungen überaus sorgenvoll beobachteten. Die von den Sprechern der Industrie mit dem außenhandels- wie repara­ tionspolitisch gewichtigen Argument der optimalen Produktivität ver­ langten Kosten- und Steuerminderungen und die stete Forderung nach Senkung der Staatsausgaben förderte schließlich eine Reihe weiterer Pläne zu Einsparungen und Vereinfachungen in der öffentlichen Ver­ waltung.

Der Konsum spielte noch eine nachgeordnete oder untergeordnete Rolle, während das Gebot der öffentlichen Sparsamkeit ebenso wie der Grundsatz des unbedingten Haushaltsausgleichs zu den Normen zweckvoller Staatstätigkeit gehörten, die auch die politischen Wert­ vorstellungen des Staatsbeamtentums geprägt hatten. Man sollte nicht übersehen, daß die Parole von der Sparsamkeit und Vereinfachung der Verwaltung überaus populär war und daß sogar Schlagworte wie das der Brüning-Zeit von der Anpassung an die „Armut der Nation" von der Bevölkerung weithin respektiert wurden und bei weitem nicht allein nur die Unterstützung führender Köpfe des Beamtentums und der Reichsregierung fanden. Schließlich erschien es nicht anders als vernünftig, daß angesichts der Last der Reparationsverpfl.ichtungen wie anderer Kriegsfolgen und angesichts der Verminderung bürger­ licher Vermögenssubstanzen die öffentliche Hand vor allem anderen sich selbst knapp hielt. 11 Arnold Brecht, Reichsreform. Wann und wie? Berlin 1931, S. 9.

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Freilich griffen einzelne Vorschläge unrealistisch in Gefüge und Substanz des gesamten Verfassungssystems ein; etwa wenn allein die Kostenseite der Parlamente des Reiches und seiner 17 Länder dargestellt, untersucht und kritisiert wurde. Auch die vergleichende Gegenüberstellung von Verwaltungsaufwendungen einiger westlicher Großstaaten und Deutschlands und die daraus entwickelte Konsequenz zur Vereinfachung der dreistufigen Gliederung von Reich, Ländern und Gemeinden förderte zwar quantitativen Problemstoff an die Ober­ fläche, wies jedoch kaum schon nutzbare Wege zu seiner Bewältigung. Es häuften sich schließlich Konfliktstoffe zwischen denjenigen Inter­ essenten und Instanzen, die auf rigorose Einsparungen drängten, und gerade den politischen Kräften, denen die Entscheidung über die Lösung der Staatsaufgaben vor aller Öffentlichkeit zufiel : den Massen­ parteien und ihren Führern, soweit sie sich an den Regierungskoali­ tionen beteiligten. Sie bewilligten Haushalte und Ausgaben und wur­ den von Sparkommissionen und Sparprogrammatikern als Gegen­ spieler betrachtet, sobald sie die Erhaltung bestehender Strukturen - etwa in den Ländern - vertraten oder größere Aufwendungen zum Nutzen starker Bevölkerungsgruppen im Reich befürworteten, in der Sozialpolitik, in Fragen der Erwerbslosenfürsorge, der Beamtenbesol­ dung, in der Kommunalpolitik und kurzum in allen Fragen, die die Steuerlastverteilung berührten. Es war nur natürlich, daß sich dieser Konflikt der großen sozialen Konfliktslinie des Jahrhunderts annäherte, was die Gegensätze zwangsläufig verschärftP. und Lösungen erschwerte. Angesichts dieser Konstellation konnten allerdings Programme zur Reform der Verwaltungs- und Staatsstruktur kaum die Hürden über­ winden, die sich einem Wandel, der auch eine Revision des Verfassungs­ systems eingeschlossen hätte, in den Weg legten. Auch für diesen Zusammenhang konnte dann die beziehungsreiche klassische Mittellage der Zentrumspartei unter den Parteien Bedeutung gewinnen. Nachdem sich die Kontroversen im Anschluß an die Erz­ bergersche Finanzreform gemäßigt und ihre brennende Aktualität ver­ loren hatten und nachdem die Auseinandersetzungen über verschiedene Spielarten einer Rheinlandlösung überstanden waren, schien das Zen­ trum wie keine andere Partei dazu geeignet, ausgleichende Lösungen anzubahnen. Da es auf Behauptungen des politischen und kulturellen Einflusses des katholischen Volksteiles bedacht und daher an einer Stärkung der überwiegend katholischen Provinzen interessiert, da es auch seinem Anhang in süddeutschen Ländern verpflichtet war, blieb es im Grunde doch eher föderalistisch als zentralistisch orientiert. Da es aber auch einen unverzichtbaren Bestandteil der Regierungskoalition in Preußen bildete, galt der Verzicht auf Ausbau der Provinzial­ autonomie innerhalb Preußens im Zentrum weithin als notwendiges,

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allerdings provisorisches Zugeständnis bis zu einer irgendwann fälligen durchgreifenden Korrektur der Länderrechte und -verfassungen. Diese mußte dann auch eine Revision des Status der Provinzen oder gar eine Angleichung von Provinzen und Ländern nach sich ziehen. Mehrere auf Ausgleich bedachte Lösungen des Problems, dem Schlagwort vom „Einheitsstaat" eine fundierte Konzeption gegenüber­ zustellen, gingen aus der Mitte des Zentrums hervor, blieben dort aber stets auch umstritten. Der rheinische Landesrat Kitz und Landeshaupt­ mann Horion verdichteten dann ältere Gedanken 1927 zu einem Pro­ gramm, das unter Umgehung einer Änderung der Reichsverfassung die Übernahme aller Funktionen der preußischen Zentralinstanzen durch die obersten Reichsbehörden empfahl, jedoch ohne Preußen als Land zu beseitigen28 • Reichsregierung und preußische Staatsregierung sollten identisch sein, die gewählten preußischen Abgeordneten bleiben, ihr Mandat jedoch in einen neuen Reichstag mitnehmen. Dieser mit grundsätzlichen verwaltungs- und verfassungsjuristischen Überlegungen angereicherte Entwurf wurde zum Angelpunkt weiterer Vorschläge, die das Muster variierten, allerdings die Länder zunächst offenbar wenig beeindruckten. Bis dahin hatte das Zentrum jedoch nicht ernsthaft daran gedacht und auch keine Veranlassung gehabt, das Einvernehmen mit der sozialdemokratischen Führung in der preußi­ schen Koalition aufs Spiel zu setzen, um den politisch-verfassungs­ rechtlichen status quo zu revidieren. Das änderte sich jedoch, als unter der letzen Regierung Marx, mit dem deutsch.nationalen Koalitions­ partner, die Beziehung zwischen Reich und Preußen in einer Reihe prekärer Fragen, wie Finanzausgleich, Biersteuerstreit und Beamten­ besoldungsreform, fortgesetzt stärker abkühlten. Einen neuen Anstoß gab ein ungewöhnlich kritisches Memorandum des amerikanischen Reparationsagenten Parker Gilbert vom 20. Oktober 192729 , das man in der deutschen Öffentlichkeit als eine Intervention auffaßte und das erneut eine heftige Diskussion über die Ausgabenwirtschaft und An­ leihepolitik der öffentlichen Hand in Verbindung mit den Reparations­ verpflichtungen entfesselte. Gleich „einem Schuß in der Stille der Nacht" wirkte es für alle Betroffenen wie ein alarmierendes Signal in einer labilen Situation. Gilberts Kritik an der deutschen Verwaltung und ihrer Finanzierung stimulierte neue starke Stimmen, die sich nun entschlossen für eine Gesamtlösung der Reichsreformproblematik einsetzten. Zur Vorberei2s Wilhelm Kitz, Reichsland Preußen. Ein Beitrag zur Verwaltungs- und Verfassungsreform. Düsseldorf 1926, 2. Aufl., mit einem Nachtrag, 1927. G. Schulz, Zwischen Demokratie und Diktatur, S. 511 ff., 589. 2 9 Gedruckt als Anlage zur Deutschen amtlichen Veröffentlichung des Berichts des Generalagenten für Reparationszahlungen, 10. Dezember 1927.

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tung wurde nach vielbeachteten Ankündigungen in Reden von Marx und Stresemann ein Verfassungsausschuß eingesetzt. Dies geschah auf einer Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder, die der Reichs­ kanzler Anfang Januar 1928 einberufen hatte. Die zweieinhalbjährigen Beratungen dieses Ausschusses bis zum Frühsommer 1930 führten dann jedoch ebensowenig zu praktikablen Lösungen wie eine lange Reihe privater Entwürfe, unter denen die des „Bundes zur Erneuerung des Reiches" zeitweilig von einer gewissen Breitenpropaganda begleitet wurden. Schon bald zeichnete sich das Ziel der Mediatisierung Preußens und der Aufhebung der finanzschwachen kleinen und mittleren Länder ab, eine Rationalisierung der Staatsstruktur des Deutschen Reiches beträchtlichen Ausmaßes also in Gestalt eines neuen Kompromisses, der zwei staatsrechtlich verschiedenartig aufgebaute Teile Deutschlands schaffen wollte: ein mehr zentralistisches Norddeutschland unter Reichsverwaltung und ein eher föderativ organisiertes Süddeutschland. Die sogenannte „differenzierte Gesamtlösung" 30 wollte die größeren Länder Bayern, Württemberg, Sachsen und Baden in ihrem Bestand und mit ihren eigenen Verwaltungen unberührt lassen, allerdings ihren Verwaltungsaufbau reichseinheitlichen Regelungen unterwerfen. Aber es lag auf der Hand, daß alle anderen, kaum abgegrenzten Ver­ änderungen der politischen Landkarte und deren Auswirkungen auf die Zusamensetzung des Reichsrats der Reichsgewalt faktisch in jeder Sache ein Übergewicht den süddeutschen Ländern gegenüber gesichert hätten, so daß es nicht schwer fiel, sich die fernere Zukunft dieser wahr­ scheinlich doch nur transitorischen Konstruktion vorzustellen.

Der Entwurf erhielt daher schon im Verfassungsausschuß keine un­ eingeschränkte, sondern lediglich eine mehrheitliche Zustimmung, was seinen ohnehin ungewissen Wert von vornherein entscheidend min­ derte, noch ehe offenkundig wurde, daß die peußische Regierung die maßgebliche Mitarbeit ihrer Sachverständigen Horion und Brecht an dem Entwurf desavouierte und jeden Gedanken an eine Auflösung Preußens zurückwies. Innenminister Grzesinski kündete dies schon Anfang Januar 1930 an3 1 ; der Fraktionsvorsitzende des Zentrums hatte sich bereits im November 1929 distanziert32. Die Gründe, die in der Öffentlichkeit genannt wurden, waren ebenso einfach wie klar: an erster und wichtigster Stelle die Erhaltung des „großstaatlichen Bello Verfassungsausschuß der Länderkonferenz, Niederschrift über die Ver­ handlungen vom 21. Juni 1930 und Beschlüsse des Verfassungsausschusses über 1. die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern, 2. Organisation der Länder und der Einfluß der Länder auf das Reich. Ber­ lin 1930, S. 58 ff. s1 Stenographische Berichte des Hauptausschusses des Preußischen Land­ tags, 3. Wahlperiode, S. 6. n R. Mo1'$ey, Protokolle, S. 343.

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amtentums" - in den Worten Grzesinskis - eben des preußischen, auf das man nicht mehr verzichten und das man nicht aus den Händen geben wollte, alsdann, offenbar gegen eine Stärkung der Provinzen gewendet, die Erhaltung der geschlossenen „Landmasse Preußens" und der Verbindung zwischen Ost und West. Die preußische Bastion galt als unaufgebbar; hieran hatte sich kein Deut geändert. Reichspolitik, Koalitionsfragen und Reichsreform behielten Funktionscharakter. Die Wege, die die Reichsreformbestrebungen einschlugen, hatten sich allerdings auch von den Intentionen entfernt, die dem Memoran­ dum des Reparationsagenten zugrunde lagen und die den letzten Anstoß gegeben hatten. Die außenpolitschen Revisionsbemühungen überdeckten und übertrafen längst die innerpolitischen. Die Periode der Zahlungsweise für Reparationsverpflichtungen nach dem Dawes­ Plan brachte ein kumulatives Defizit im Reichshaushalt von 1,3 Mil­ lial"den Reichsmark. Dies veranlaßte die Sozialdemokraten unter Her­ mann Müller zu der historisch folgenreichen außenpolitischen Entschei­ dung, mit Unterstützung Stresemanns sich der von Parker Gilbert im Einvernehmen mit der französischen Seite angestrebten Revision des Dawes-Planes anzunehmen, die dann am Ende in dem heftig um­ strittenen Young-Plan zur Tatsache wurde33. Dies bildete den Rahmen für das „Kabinett der Köpfe" und schließlich die letzte Große Koalition im Reich. Das Widerstreben des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun eben in dieser Phase, als die SPD sowohl im Reich als auch in Preußen führte, bezeichnete den Höhepunkt, aber auch den Anfang vom Ende des zugespitzten Dualismus Reich - Preußen, der Regie­ rungen zu beiden Seiten der Wilhelmstraße. VI.

Mit dem Auseinanderfallen der Großen Koalition Anfang 1930 ver­ schoben sich dann die Gewichte um ein weiteres entscheidendes Stück zugunsten der Zentralgewalt des Reiches, nunmehr der Reichsregie­ rung und des Reichspräsidenten. Mit dem Zerfall der Reichstagsmehr­ heit und angesichts der drängenden Aktualität der prekären finanz­ politischen Fragen trat die Präsidialgewalt als Regierungsinstrument in den Vordergrund. 33 Hierzu die aufschlußreiche, allerdings offiziöse, ursprünglich zur Ab­ wehr der Behauptungen des Reichsbankpräsidenten Schacht bestimmte Denk­ schrift aus dem Reichsarchiv, hrsg. von Martin Vogt, Die Entstehung des Young-Plans, dargestellt vom Reichsarchiv 1931 - 1933. Boppard a. Rh. 1970.

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Die Anwendung des Artikels 48 Absatz 2 der Reichsverfassung in Verbindung mit der Auflösung des Reichstags nach Annahme eines Mißtrauensvotums wurde bereits vier Tage nach der Regierungs­ betrauung Brünings in der Kabinettsrunde, schon vorher, vielleicht schon vor der Ernennung des Kanzlers, intern eingehend geprüft und beraten. Ein Gemeinschaftsgutachten der Staatssekretäre des Reichs­ innenministeriums und des Reichsjustizministeriums34 ließ der Staats­ sekretär in der Reichskanzlei durch eine in wenigen Punkten ab­ weichende Stellungnahme des Ministerialdirektors der Reparations­ abteilung im Reichsfinanzministerium ergänzen35• Von einer kurzen und nicht ganz eindeutigen Verständigung zwischen dem Büro des Reichspräsidenten und Generalmajor v. Schleicher abgesehen, gibt es jedoch zu diesem Zeitpunkt kein Anzeichen dafür, daß erwogen oder gar beabsichtigt wurde, etwa die gesamte Regierungstätigkeit vom Reichstag zu lösen, um sie völlig auf die Präsidialgewalt zu stützen. Dieser Gedanke erhielt auch später nur periphere oder lediglich interi­ mistische Bedeutung. Die zuständigen Reichsministerien prüften unter der Voraussetzung, daß sie sich auf dem Boden der Reichsverfassung bewegten, die Möglichkeit einer Umgehung, also eines Ausspielens des parlamentarischen Mißtrauensvotums gegen die Regierung, das man nach den Erfahrungen mit der Großen Koalition erwarten zu müssen glaubte. Man beabsichtigte, das nächste Finanzsanierungsprogramm nach langer Verschleppung, nun um eine Osthilfe erweitert, die der Reichspräsident verlangt hatte, gegen jeden Widerstand durchzusetzen, aber nicht die Beseitigung oder eine dauernde Beschneidung der Rechte des Reichstags. Die Gutachten fixierten die problematische Nahtstelle zwischen präsidialer und parlamentarischer Gewalt im System der Weimarer Reichsverfassung. Allerdings waren die Intentionen pragma­ tischer Natur; eine exegetische Lösung der Normenkollision zugunsten des parlamentarischen Prinzips war nicht beabsichtigt und stand nicht zur Debatte. Die Staatssekretäre Zweigert und Joel entschieden: ,,Vor erfolgter Entlassung der Reichsminister durch den Reichspräsidenten ist die Rechtsstellung des Reichskabinetts, im besonderen die des Reichs­ kanzlers, unverändert", auch nach Annahme eines Mißtrauensvotums im Reichstag. Dem Ministerentlassungsrecht des Reichspräsidenten wurde Vorrang vor dem parlamentarischen Regierungssturz, dem Not­ verordnungsrecht Vorrang vor parlamentarischen Entscheidungen ein­ geräumt und dies auch einer geschäftsführenden Reichsregierung zu­ gestanden, sofern sie eine unmittelbare erhebliche Gefahr, wie es in 34 BA, Nachlaß Pünder 131 ; Anlage zur Reichsministerbesprechung am 3. April 1930. 35 Ministerialdirektor Herbert Dorn, Gutachten am gleichen Ort.

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dem Gemeinschaftsgutachten hieß, ,,auf eine minder erhebliche zurück­ zuführen oder ganz zu beseitigen" vermag. Das erlaubte nach Meinung der Gutachter auch, die nächsten gesetzgeberischen Absichten in Not­ verordnungen zu transferieren und auf diesem Wege sogar Steuer­ erhöhungen vorzunehmen, um „das fehlende Gleichgewicht des Haus­ halts" wiederzugewinnen und „eine durch mögliche Nichtzahlung von Löhnen und Gehältern sowie durch Nichterfüllung anderer Verpflich­ tungen heraufbeschworene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ab­ zuwenden". Diese Auffassung haben sich das Kabinett Brüning und die nach­ folgenden Regierungen vorbehaltlos zu eigen gemacht, Brüning offen­ bar in der allmählich heranreifenden Absicht, den Kurs auf eine Restauration monarchischer Art einzuschlagen, wie er es später dar­ gestellt hat36. Daß die Motive des ersten Kanzlers der präsidialen Regierungsära im Hintergrund gehalten und bis zu ihrem Scheitern sorgsam verdeckt wurden, läßt Schlüsse auf ihre Problemtik und auf die Einschätzung ihres fragmentarischen und problematischen Cha­ rakters zu, der das Hervortreten an das Licht der politischen Wirklich­ keit schwerlich überstanden hätte. Dies bestätigt nur, daß auch in den dreißiger Jahren nicht jede denkbare autoritäre Lösung der evidenten deutschen Staatsproblematik auch schon praktikabel war, ehe unter dem Druck der umstürzenden Bewegung die Kräfte einer Restauration zu­ sehends an Boden verloren. Die Diskussion über die Reichsreform hatte ihren Höhepunkt im letzten der zwanziger Jahre erreicht und bald überschritten, während die Anzeichen der großen Krise immer deutlicher bemerkbar wurden. Das Ausmaß der Erörterungen, des literarischen und rhetorischen Auf­ wandes scheint, wollte man etwa mit dem Sommer 1930 ein Fazit ziehen, in keinem günstigen Verhältnis zum Ergebnis zu stehen. Sie wurden von Juristen, Professoren, höheren Beamten und Ministern geführt, aber auch von Parteien und weltanschaulichen Gruppen, so daß sie in beträchtlichem Umfang Popularität gewannen. Eine Ver­ waltungs- und Verfassungsreform konnte nach der verfassungsrecht­ lichen Lage wie nach den politischen Gegebenheiten auf sichere Weise nur durch den einmütigen Willen des Reiches und der Länder ins Werk gesetzt werden. Die anhaltende Diskussion in allen Räumen des öffent­ lichen Lebens erscheint daher, historisch gesehen, wie ein am Ende vergeblich gebliebener Versuch großen Ausmaßes, eine solche Über­ einkunft der Meinungen und Interessen zu erreichen. a& Rudolf Morsey, Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brü­ nings „Memoiren 1918 - 1934". Opladen 1975, S. 34 ; Friedrich Frh. Hitler v. Gaertringen, Zur Beurteilung des „Monarchismus" in der Weimarer Repu­ blik, in: Tradition und Reform in der deutschen Politik, S. 172 - 176.

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Da es j edoch an einem einheitlichen Ausgangspunkt dieser Erörte­ rungen ebenso fehlte wie an einer starken Willensrichtung, die sich ohne Schaden für Verfassung und politische Entwicklung durchzu­ setzen wußte, erwuchs aus den amorphen Verhältnissen weder ein gewisses Maß an Einmütigkeit noch ein übereinkommen. Die große, formlos und regellos, wenn auch von keiner Seite absichtslos geführte Diskussion erscheint auf ihrem Höhepunkt bereits von dem herauf­ ziehenden Gewölk der großen Wirtschaftkrise überschattet. Doch die Bestrebungen und zutage geförderten Ergebnisse wurden dadurch keineswegs von der Tagesordnung verdrängt. Mit der Abstützung der Regierung durch die Stellung des Reichs­ präsidenten wurden alle Ideen obsolet, denen die Auffassungen Hin­ denburgs und seiner Umgebung offenkundig zuwiderliefen. Dennoch erhielten auch die Pläne zur Reichsreform eine neue Einfärbung, ge­ langten sie nach dem Scheitern des Verfassungsausschusses auf Wege, die hart am Rande oder schon außerhalb der Reichsverfassung ver­ liefen. Daß Carl Severing als Erster schon Ende Mai 1930 eine Volksabstim­ mung über die Reichsreform forderte, obgleich Preußen ablehnend blieb, ergab sich nicht nur aus der Opposition gegen die Regierung Brüning, die scheinbar noch Zurückhaltung in der Reichsreform beobachtete. Der Vorschlag bezeugte auch die schwierige Suche nach neuen Wegen. Die Umsetzung der Beschlüsse des Verfassungsaus­ schusses in Gesetzesvorentwürfe, die schließlich die Ministerialdirek­ toren Poetzsch-Heffter und Brecht Ende 1930 bzw. 1931 veröffent­ lichten37, hätte sicher auch in ruhigeren Zeiten keine Chance gehabt, auf dem Wege über die ordentliche Gesetzgebung unter Beteiligung von Reichstag und Reichsrat die bekannten Vorhaben zu verwirk­ lichen und die Reichsreform einzuleiten. Der völlig unverblümte publi­ zistische Vorstoß des preußischen Finanzministers Höpker-Aschoff, der im September 1931 vorschlug, die gesamte Reichsreform durch Not­ verordnungen des Reichspräsidenten in Gang zu bringen38, lag längst in der Luft, wenn auch das offen bekundete Programm nirgends Zu­ stimmung fand und den Rücktritt seines Autors nach sich zog. Das Programm einer Reichsreform wurde sogar schon durch die großen Steuernotverordnungen in weitem Umfang tatsächlich verwirklicht, allerdings ohne den Namen einer Verfassungs- oder Reichsreform in Anspruch zu nehmen. Vor allem gilt dies von der (zweiten) großen Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 1. Dezember 1930 und der sogenannten Dietramszeller Reich und Länder 4, 1930/31, S. 135 - 140, 224 - 229. Hermann Höpker-Aschoff, Reichsreform, in : Der Deutsche Volkswirt 5, 1931, Nr. 47 vom 21. August 1931, S. 1579 ff. 37 38

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Notverordnung vom 24. August 193139 • In der rückblickenden Betrach­ tung erscheint es kaum noch allzu verwunderlich, daß nach dem Staats­ streich des Kabinetts Papen-Schleicher-Gayl zur Beseitigung der preußischen Regierung am 20. Juli 1932 auch hohe Beamte in dem fait accompli eine Möglichkeit zu erkennen glaubten, um sich auf ver­ änderter Grundlage, sobald das Geschehene jurisdiktionell fixiert war, der Reichsreform erneut zuzuwenden. Die Ergebnisse sind bekannt. Zum Schluß soll aber nun doch noch die Frage nach der Relevanz, die die verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Thematik der Reichsreform mit der politisch-historischen oder allgemeingeschicht­ lichen Problematik der Epoche verbindet, wenigstens angedeutet werden. Unter allen politischen Richtungen und Bewegungen in der Ge­ schichte der Weimarer Republik blieben die Bestrebungen zu einer Reichs- und Verfassungsreform diejenigen, die nach belangvollen Er­ fahrungen die umfänglichste Revision des Systems durch gründlich durchdachte und vorbereitete Umstellungen derjenigen Regelungen herbeizuführen versuchten, die das Verfassungsrecht der Umwälzungs­ periode kurzfristig und unter dem Druck äußerer und innerer Entwick­ lungen geschaffen hatte. Dabei sollten die allgemein anerkannten tragenden Elemente der Republik nicht in Frage gestellt werden : der Reichstag, das aus geheimen, gleichen Wahlen hervorgehende Reichs­ parlament, sowie der Reichspräsident mit seinen durch die Reichsver ­ verfassung geschaffenen Rechten und Befugnissen, die von Anfang an umfänglich gedacht waren, später aber noch höher eingeschätzt wurden. So eindeutig und durchgehend die Richtung auf Revision des Reich.­ Länder-Systems aber auch war; Motive und Erfahrungshorizonte blie­ ben nicht homogen und ihre Begründungen wurden nicht immer system­ immanent gegeben, zwar im steten Blick auf die positiv-rechtlichen Gegebenheiten erwogen, doch kaum je eindringlich mit Rücksicht auf das soziopolitische Gesamtsystem und die in ihm liegenden Möglich­ keiten oder Beschränkungen fundiert durchdacht. Das hatte freilich seine historischen Gründe. Anders ausgedrückt: der Umwandlung von Strukturfragen der Republik in staatsrechtlichen Problemstoff ent­ sprach niemals eine der Situation angemessene Rückverwandlung der 39 Hiernach wäre wohl auch die letzte umfassende Würdigung des Ver­ fassungsnotstandes nach der Weimarer Verfassung von Ulrich Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Präsidentschaften von Ebert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning, hrsg. von Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder. Berlin 1967, S. 249 - 286, noch zu ergänzen. Vgl. auch Gerhard Schulz, Aufstieg des Nationalsozialis­ mus. Krise und Revolution in Deutschland. Frankfurt a. M. 1975, S. 645 f.

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staatsrechtlich durchdachten Neuregelungsentwürfe in politische Lö­ sungen. Das wurde in der progressiven Krise der letzten beiden Jahre der Weimarer Republik allerdings immer schwieriger, vielleicht un­ möglich. Doch der Sachverhalt offenbart die Grenzen des Bewegungs­ raumes einer hohen Beamtenschaft, deren maßgebliche Rolle bekannt, deren reformistische Triebkraft außer Frage steht, die sich aber doch nur zur Anlehnung an überlegene Autoritäten entschließen konnte. Das „Jahrhundert der Juristen" war vorbei; vielleicht wird man einmal das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Bürokraten nennen. Ein „age of constitution" hat es in der Geschichte des Deutschen Reiches nicht gegeben. Die Diskrepanz zwischen ephemerer und kategorialer Lösung des deutschen Staatsproblems, die von den Staatsorganen weithin als notwendig empfunden wurde, blieb unbewältigt.

In den jahrelang geführten Diskussionen trat gelegentlich wohl auch der Gedanke einer Reform des föderativen Staatsaufbaus des Deutschen Reiches durch Schaffung teilweise neuer, aber durchgehend und gleich­ mäßig leistungsstarker Länder auf. Doch gravierend waren diese Ideen zu keiner Zeit. Auch von der einflußlos gebliebenen „Reichsarbeits­ gemeinschaft Deutscher Föderalisten" mit großdeutscher Ausrichtung und mit so verschiedenartigen Köpfen wie Albert Hensel und Benedikt Schmittmann oder dem Welfen Wilhelm Alpers wird man anderes nicht ohne entschiedene Vorbehalte sagen können. In den meisten Program­ men der die Reichsreform ansteuernden Parteien, Sozialdemokraten, Deutsche Demokraten und Deutsche Volkspartei, behauptete sich die Forderung nach dem Einheitsstaat an zentraler Stelle, wenn auch unter­ schiedlich nuanciert und verschiedenartig motiviert. In fast allen kon­ struktiven Formeln und Schlagworten gab mehr oder weniger deut­ lich die Vorstellung vom unitarischen Großstaat den Ausschlag, ganz gleich, ob man von einem dezentralisierten oder eher einem zentrali­ sierten Einheitsstaat sprach. Alles weitere ergab sich als Kompromiß oder Konzession an die Verhältnisse und blieb meist sekundär. Die erfolgreichen Verteidiger des Föderalismus in Süddeutschland hingegen traten weniger für ein föderatives Konstruktionsprinzip einer künftigen Reichsverfassung ein als für die Erhaltung der Landesstaaten in ihrer tradierten Gestalt, mit möglichst geringen und stets verzöger­ ten Zugeständnissen an all das, was neu war oder Neuerung brachte. Offenkundig ist jeder Föderalismus oder Regionalismus von welt­ geschichtlichem Betracht40 bislang primär konservativ und traditional orientiert, auf Separatheit und Autonomie bedacht gewesen, lediglich

40 Wertvolle Anregungen für künftige Arbeiten vermittelt das auf einer bewunderungswürdigen Materialsammlung beruhende Werk von Ernst Deuerlein, Föderalismus. Die historischen und philosophischen Grundla�en des föderativen Prinzips. München 1972.

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bedingt oder sekundär rationalisierenden Prinzipien zugänglich. Daraus ergibt sich, daß eben gerade dem sekundären Moment ausschlaggeben­ des Gewicht im Hinblick auf die Fortbildung eines jeden Föderalismus zukommt. Die Paradoxie, die Spannung, die hieraus folgt, ist offen­ kundig.

Aussprache zum Referat von Gerhard Schulz Die von Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) geleitete Aussprache wurde von Professor Dr. Walther Hubatsch (Bonn) mit Ergänzungen zum Thema Reichsreform unter verwaltungsgeschichtlichen Aspekten ein­ geleitet. Der Redner vermißte den Bezug zwischen Verwaltungsreform und Reichsreform für jene Reichsterritorien, die durch den Versailler Vertrag verlorengegangen waren. Reste einiger Grenzkreise im Norden und Osten des Reiches seien eine zeitlang künstlich am Leben gehalten worden, nicht aus verwaltungsrationalen Gründen, sondern auf Grund starker ideeller Komponenten. Eine der gravierendsten Veränderungen territorialer Verhältnisse sei in der Grenzmark Posen-Westpreußen erfolgt, wo eine in drei Teile zerrissene, nicht zusammenhängende Pro­ vinz entstanden sei. Mancherlei nationale Vorbehalte von verschiedenen Seiten seien nach 1933, nach Auflösung der Provinz, rasch abgebaut worden. Dieses Beispiel eines territorialen Umbaus von unten her verdiene für die Reichsreform einige Bedeutung. Innerhalb der Verflechtung von Staat, Parteien und Verwaltung nach 1918 sei die Staatsrepräsentation der Bevölkerung am deutlichsten auf der Kreisebene entgegengetreten, und zwar in mehreren Stufen. Bis zum Erlaß der Verfassung im August 1919 seien Parteiengesichts­ punkte zurückgetreten, weil auch die Übernahme der Verwaltung selbst durch profilierte Politiker diese in eine neue Verantwortung gebracht habe. So sei der preußische Innenminister Wolfgang Heine (vor allem in der Provinz Schlesien) für jene Beamte und insbesondere Landräte eingetreten, die als „reaktionär" angegriffen worden seien. In der zweiten Phase seien dann zahlreiche Beamte um ihre Entlassung ein­ gekommen, wobei die Wiederbesetzung der freigewordenen Stellen unter koalitionspolitischen Gesichtspunkten ebenso bemerkenswert sei wie das teilweise „sehr verständnisvolle" Eingehen seitens des preußi­ schen Innenministeriums auf die Reaktion der abgetretenen Beamten. Die neuen Landräte hätten mit den gleichen Vollmachten wie bisher und ohne Veränderung der Aufgabenstellung weitergearbeitet. Der Kapp-Putsch habe dann jedoch, wie Professor Hubatsch an eini­ gen Beispielen erläuterte, tief in die Personalstruktur der Kreisverwal­ tungen eingegrüfen, ja „geradezu umstürzende Verhältnisse" geschaffen

Aussprache

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und gewissermaßen das nachgeholt, was im ersten Anlauf 1919 nicht geschehen war, zum Teil unter formaler Inanspruchnahme entsprechen­ der beamtenrechtlicher Bestimmungen. Im übrigen sei das Verhalten der Kapp-Sympathisanten in gewisser Weise mit dem vergleichbar, ,, was in der Pfalz 1923 geschehen ist".

Schließlich regte Professor Hubatsch an, einmal die Bildung der Reichsministerien Anfang der zwanziger Jahre zu ergründen. Manche groß- und einheitsstaatlichen Gedanken im Zusammenhang der Reichs­ reform ließen sich aus Erfahrungen des Ersten Weltkriegs ableiten und fanden ihre Entsprechung in einer neuen Verwaltungsstruktur (Grün­ dung des Reichswehrministeriums, des Reichsministeriums für Ernäh­ rung und Landwirtschaft, Herauswachsen des Reichswirtschaftsministe­ riums aus ehemaligen Reichsämtern der Vorkriegszeit). Schließlich sei in der Frage der Reichsreform und Verwaltungsorganisation die partei­ politische Komponente zu berücksichtigen, aber auch deren Schattie­ rungen, etwa dann, wenn einzelne Politiker innerhalb oder außerhalb der Ressortverantwortung gestanden hätten.

Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) brachte ergän­ zende Betrachtungen zur Beamtenpolitik und Beamtenselektion in den Reichsministerien zur Sprache. Im Rahmen der insgesamt funktionie­ renden Kontrolle der Beamtenschaft sei der Fall Schleicher - mit seinem Ansatz zur Verselbständigung - eher eine Ausnahme. Hin­ gegen seien eine Reihe leitender Beamter nachher in Ministerämter aufgestiegen. Von daher lege sich die Frage nahe, ob sich durch den Wechsel von Beamten zum Politiker der Stil der Politik geändert habe und gegebenenfalls mit welchen Konsequenzen.

Zur Beantwortung dieser Frage bedürfe es einer Typologisierung von Beamten der verschiedenen Kategorien. Sie könne einerseits unter dem Kriterium der Aufgabenstellung der verschiedenen Arten von Beamten erfolgen und andererseits durch Herausarbeitung der persön­ lichen Merkmale (Ausbildung, Aufstieg, parteipolitische- Nähe oder Zugehörigkeit, Denkstil, Wertvorstellungen usw.). Der von Max Weber herausgearbeitete, instrumental konstruierte Typ des „exekutiven Beamten" erfaßt nicht jenen Beamtentyp in führenden Positionen, der auch politisch entscheiden müsse, um eine erfolgreiche Lösung der in seinem Ressort anstehenden Probleme zu erreichen.

Wolfgang Hofmann verwies schließlich darauf, daß der von Gerhard Schulz erwähnte Beamtenabbau im Zuge der Inflation auf das „natür­ liche Maß der Verwaltung" insofern problematisch sei, als es keinen absolut „unpolitischen" Beamtenabbau gegeben habe, sondern daß in bestimmten Verwaltungen durchaus nach politischen Gesichtspunkten selektiert worden sei. Außerdem stelle sich die Frage nach den sozial-

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politischen Konsequenzen des rigorosen Beamtenabbaus und nach seinen Maßstäben, da die einschneidenden Maßnahmen sowohl auf der kommunalen als auch auf der Länderebene zu heftigen Auseinander­ setzungen geführt hätten.

Staatsarchivrat Dr. Horst Romeyk (Düsseldorf) fragte anschließend zunächst, warum das vom Referenten erwähnte Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 in jener Form verwirklicht worden sei, in der es 1920 ge­ scheitert ist. (Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh: ,,Weil die Gauleiter sich einig waren.") Dr. Romeyk bezog sich dann auf die weit­ gehende Übereinstimmung innerhalb der Parteien „in Richtung auf einen Einheitsstaat" und schloß daran die Frage, ob nicht aus diesem Grunde auch eine Bereitschaft erfolgt sei, ,,im ,Dritten Reich' mit­ zumachen". Viele Verwaltungsbeamte seien Verfechter unitarischer Tendenzen gewesen, so daß aus diesem Grund eine gewisse Identifika­ tion mit dem Einheitsstaat erfolgt sei.

Schließlich bleibe des Problem der „Außenseiter" in der Verwaltung zu untersuchen, vor allem im Bereich der leitenden Verwaltungs­ stellen, wie Oberpräsidenten und Regierungspräsidenten. Solchen parteipolitischen „Außenseitern" habe das Gros der weiterhin fachlich vorgebildeten Verwaltungsbeamten zum Teil sehr reserviert gegen­ übergestanden. In der Rheinprovinz seien zahlreiche Landratsposten ab 1936 mit ausgebildeten Verwaltungsbeamten besetzt worden, die zum Teil vor 1933 in die NSDAP eingetreten seien. Andererseits bleibe unverkennbar, daß viele Außenseiter in ihrer Verwaltungstätigkeit ein ausgesprochenes Staatsdenken gewonnen und außerordentlich stark die Tendenzen jenes Staates, den sie nunmehr vertraten, angenommen hätten. Vermutlich seien aus diesem Grunde auch von dieser Seite gerade in Preußen Vorbehalte gegen die Reichsreform entstanden. Andererseits seien die vom Referenten genannten und in der Reichs­ reformdiskussion hervorgetretenen rheinischen Autoren Horion und Kitz nicht aus der Staatsverwaltung gekommen, sondern aus dem Bereich des Landschaftsverbandes „mit ganz anderen Denkweisen".

Professor Dr. Georg-Christoph v on Unruh (Kiel) verwies darauf, daß sich der Beamte bis weit hinein in die Zeit des „Dritten Reiches" seiner Verpflichtung zur Objektivität bei der Erfüllung seiner Aufgaben be­ wußt gewesen sei, ein Phänomen, das oft kritisiert oder in Frage gestellt werde. Die Tatsache, daß sich der Staat durch seine Verwaltung um das Gemeinwohl bemüht hätte, werde nicht selten fälschlich als „die große Lüge" des konstitutionellen Staates hingestellt. Daß den Beamten - auch wenn sie zwangsläufig den Bevölkerungs­ schichten, den sie entstammten, in ihrer Lebenshaltung näher standen als anderen - das Bemühen um Objektivität eigen geblieben sei, habe

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sich auch in den Reichsreformdebatten gezeigt. Der „Bund zur Erneue­ rung des Reiches" habe immer wieder darauf verwiesen, daß es sein Ziel sei, über Parteigrenzen hinweg der für objektiv gehaltenen Vollziehenden Gewalt größere Kompetenzen einzuräumen. Darin habe zugleich eine heftige Kritik an der Reichsverfassung gelegen - nicht an der Staatsform als solcher -, die Sorge, daß deren „Instrumenta­ rium" trotz entgegenstehender Absichten als wenig geeignet erkannt worden sei, zu Nutzen des Ganzen „Macht durch Macht zu begrenzen". Aus solchen Überlegungen heraus sei - insbesondere bei Popitz - der Einsatz zugunsten einer stärkeren Staatsgewalt und kontinuierlicheren Regierung zu verstehen, der sich als Leitbild für eine Reform nieder­ geschlagen habe. Professor Dr. Helmut Quaritsch (Speyer) nahm zu der von Horst Romeyk aufgeworfenen Frage Stellung, warum der Groß-Hamburg­ Plan von 1918/19 erst 1937/38 verwirklicht worden sei. Ebenso könne gefragt werden, weshalb Preußen nicht schon 1919, sondern erst 1945 aufgelöst worden sei. Die Groß-Hamburg-Lösung sei zwar im Ergebnis ein Resultat der großen Möglichkeiten der zentralistischen Staats­ gewalt des „Dritten Reiches" gewesen, es sei aber doch sehr zweifelhaft, ob die auch damals vorhandenen Widerstände ohne „private Zufälle" überhaupt oder zu jenem Zeitpunkt hätten überwunden werden können. Die Nationalsozialisten in Hamburg hätten nach 1933 wiederum ver­ sucht, die Groß-Hamburg-Lösung - ,,sie entsprach immer mehr der praktischen Vernunft" - durchzuziehen, seien daran aber (trotz grund­ sätzlicher Aufgeschlossenheit Hitlers und Görings) vorerst gescheitert. Schwierigkeiten hätten nicht nur die staatlichen Instanzen Preußens bereitet, sondern auch die Gauleiter der Nachbargaue (Telschow in Harburg, Lohse in Schleswig-Holstein), mit denen es Hamburgs Gau­ leiter Kaufmann aus alter Kameradschaft nicht verderben wollte. Göring sei zwar als preußischer Ministerpräsident „beteiligt" gewesen, aber als solcher wie in seiner Stellung als „Beauftragter für den Vier­ jahresplan" und kraft seines politischen Gewichts den Betroffenen ein übergeordneter Dritter - und er habe 1935 eine „geborene" Hambur­ gerin geheiratet (nämlich Emmy Sonnemann). Sondierungen Kauf­ manns bei Göring hätten unter Zeit- und Terminnot gelitten. Dann sei ein Zufall, genau genommen: ein doppelter Zufall, zur Hilfe gekom­ men. Im November 1936 sei Vater Sonnemann verstorben, und seine Beerdigung habe sich um einen Tag verzögert, nachdem Schwiegersohn Göring bereits in Hamburg eingetroffen gewesen sei. Die hamburgische Landesregierung habe den so gewonnenen freien Tag Görings genutzt, um ihm die unsinnigen Grenzziehungen im einzelnen darzulegen und ihre Vorstellungen zur Neuordnung zu unterbreiten. Göring habe sich

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daraufhin energisch für die Groß-Hamburg-Lösung eingesetzt und dafür gesorgt, daß der Widerstand einiger Berliner Ministerien gegen die sehr schnell aus Hamburg vorgelegten Entwürfe endete.

Während des „Dritten Reiches" sei keine andere territoriale Neu­ gliederung von Belang geschehen, selbst Schaumburg-Lippe erhalten geblieben: Übrigens wiederum aufgrund einer personalen Verbindung, da ein Prinz zu Schaumburg-Lippe, Adjutant von Goebbels, Hitler das Versprechen der territorialen Unversehrtheit von Schaumburg-Lippe abgerungen habe.

Von daher stelle sich die Kernfrage, wie es zu erklären sei, daß große territoriale Neugliederungen dann nicht zum Zuge gekommen seien, als man die „ehemaligen Rebellen der Ordnung zu den Hütern dieser Ordnung" gemacht habe? 1919 seien es die Sozialdemokraten als die nunmehrigen Herren Preußens gewesen, die sich „ihr eigenes Haus" nicht zerschlagen ließen. In den Diskussionen um die Reichsreform sei offenbar der sehr ursprüngliche territoriale Instinkt der Menschen immer wieder durchgeschlagen und hätte alle großen rationalen Pläne letztlich zum Scheitern gebracht.

Professor Dr. Hanns Hubert Hofmann (Würzburg) verwies darauf, daß die Gebietsreform dadurch vorbereitet worden sei, daß 1929 das große Sterben der Finanzämter begonnen habe, eine Reichsangelegen­ heit, die aber auch in die Länder hineingewirkt und im gleichen Jahre zur Zusammenlegung von Amtsgerichten geführt habe. Im übrigen müsse stärker beachtet werden, daß seit 1929 Gebietsreformen in den Ländern unter dem Kontext von Einsparungen erfolgt seien - zum Beispiel in Bayern bei den Regierungsbezirken -, die dann im Zweiten Weltkrieg in großem Stil fortgesetzt worden seien, zum Beispiel bei der Justiz. Im übrigen dürfe bei allen Tendenzen in Richtung Reichs­ reform nicht vergessen werden, daß das Reich als Leistungsgemein­ schaft für die Reparationszahlungen in Anspruch genommen worden sei und schon aus diesem Grunde Veränderungen nicht ohne Schwierig­ keiten hätten vorgenommen werden können.

Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) verwies auf den Wandel in der Argumentation der bayerischen Landesregierung in der Frage einer Reichsreform von 1924 : Bis dahin sei man gegen die Reichsver­ fassung Sturm gelaufen, um die alten Reservatrechte wieder zu erhal­ ten. Von dem Augenblick an, in dem sich dann herausgestellt hätte, daß sich die unitarisierenden Bestrebungen schon als Folge der Finanz­ reform Erzbergers her immer stärker durchsetzten, sei die bayerische Regierung zum Verfechter der Weimarer Verfassung geworden. Diese Linie habe die Regierung Held in den bekannten Denkschriften bis 1928 durchgehalten und damit auch einen gewissen Erfolg erzielt.

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Im übrigen seien Grundentscheidungen zum Reich-Länder-Problem bereits vor Schaffung der Reichsverfassung dadurch gefallen, daß es der Staatenausschuß in Berlin auf Grund gerade sozialistischer Inter­ ventionen geschafft habe, daß das von Hugo Preuß vorgelegte Konzept einer Unitarisierung zugunsten einer föderalistischen Lösung auf­ gegeben worden sei. Wenn in Preußen überhaupt eine Sternstunde für die Reichsreform bestanden habe, so 1928, als sie dadurch verpaßt worden sei, daß bei der Bildung der neuen Reichsregierung nicht der preußische Ministerpräsident Otto Braun (wie er gehofft hatte) das Kanzleramt erhielt, sondern daß aus parteiinternen Gründen dazu Hermann Müller-Franken ausersehen worden sei. Reichskanzler Brüning wiederum habe Reichsreformpläne bei Hindenburg nicht durchsetzen können, der sein Preußen unversehrt erhalten wollte. Ob schließlich die Papen-Aktion vom 20. Juli 1932 so einfach als „Staats­ streich" beurteilt werden könne, wie das in dem Referat geschehen sei, sei fraglich. Zumindest äußerlich sei diese Aktion vom Reichs­ präsidenten legal gedeckt und unter Berufung auf ihn durchgeführt worden, wenn auch mit dubiosen Absichten.

In seinem Schlußwort ging Professor Dr. Gerhard Schulz (Tübingen) zunächst auf die Frage des „Staatsstreichs" vom 20. Juli 1932 in Preußen ein, den er nicht als „Preußenschlag" verstehen könne, da dieser Aus­ druck weder in der Sprache der Juristen noch der Historiker existiere. Wenn man die Einzelheiten der Vorbereitung dieser Aktion und nicht nur das herangezogene materielle Recht betrachte, so gebe es gute Gründe für den Ausdruck „Staatsstreich". Zur Weichenstellung von 1919 : Hugo Preuß habe zunächst nicht realisiert, daß sich inzwischen Länderregierungen gebildet hatten und die neuen Machthaber in das „leerstehende Gehäuse der Staatsräson'' (Friedrich Meinecke) eingezogen waren. Als letztes der Länder hat sich eines der beiden Fürstentümer Reuß - in dem die Revolution aus Versehen ausgeblieben war - durch Übergabe der „Macht" an den örtlichen Vorsitzenden der SPD der neuen Entwicklung angeschlossen. Was die territoriale Unversehrtheit Preußens angehe, so hätten sich dafür von vornherein bereits einige Mitglieder des Rats der Volks­ beauftragten ausgesprochen. Bereits in diesem Gremium sei auch die Frage einer Volksabstimmung über die Rolle der preußischen Provin­ zen erörtert worden, wobei einige Mitglieder dieses Rats davon aus­ gingen, daß über diese Frage nur das preußische Volk insgesamt ab­ stimmen könne. Auch 1928 hätte schwerlich eine Möglichkeit bestanden - selbst bei Übernahme der Reichsregierung durch den preußischen Minister­ präsidenten Otto Braun -, eine institutionelle Verbindung zwischen Preußen und dem Reich in die Wege zu leiten. Die Stimmung in großen

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Teilen der Bevölkerung der östlichen Provinzen sei eindeutig für die Erhaltung des preußischen Staats gewesen, für den sich auch das Beamtentum ganz entschieden eingesetzt habe. Professor Schulz er­ innerte an die frühere geheime Tätigkeit einer Beamtenkommission unter Leitung des demokratischen Ministers Öser, deren Aufgabe darin bestanden habe, Konflikte mit dem Reich und gleichzeitig alle Versuche einer Einflußnahme des Reiches in Preußen zu registrieren und die Reichsreform zu Fall zu bringen.

Ein merkwürdiges Phänomen der Beamtenpolitik im Reich sei, daß die 1922 (mit dem Republikschutzgesetz) ausgeweitete Kategorie der politischen Beamten nicht voll ausgeschöpft wurde. Ein Grund dafür liege in dem raschen Wechsel unterschiedlich zusammengesetzter Koalitionsregierungen, ein anderer aber auch in der sparsamen Per­ sonalwirtschaft. Als Reichsinnenminister von Keudell 1927 zum ersten Mal von der rechtlichen Möglichkeit Gebrauch machte, politische Spitzenbeamte abzulösen (Arnold Brecht und Heinrich Schulz), löste diese Maßnahme berechtigtes Mißbehagen aus. Sie gab aber ein Signal, dem nachgeeifert wurde. Abschließend ging Professor Schulz noch einmal auf die Persönlich­ keitsprägung und den Beamtentypus als Aufgabe der Verwaltungs­ wissenschaft ein, um den Wert der Persönlichkeit und politischen Vorstellungskraft für die Verwaltung zu unterstreichen; die einseitige Juristenausbildung sei schwerlich für alle Zwecke einer ausgedehnten Verwaltungstätigkeit als optimal zu bezeichnen. Eine in jüngerer Zeit erschienene Dissertation über die militärische Vorstellungswelt der Generäle des Ersten Weltkrieges habe ergeben, daß bei ihnen ein „falsches Kriegsbild" vorgeherrscht habe. Die Konsequenzen für den Ausbildungs- und Bildungsgang des Beamten lägen auf der Hand und unterstrichen den Wert der Persönlichkeitsprägung über alle typologi­ sierenden Vorstellungen hinweg. Professor Schulz schloß mit einem Hinweis auf die Groß-Hamburg­ Lösung, die nicht direkt, wie von Professor Quaritsch herausgestellt, mit der Familie Sonnemann in Verbindung zu bringen sei. Die Tat­ sache, daß diejenige Lösung verwirklicht worden sei, die der Arbeiter­ und Soldatenrat ursprünglich beabsichtigt habe, beruhe unter anderem darauf, daß es dem Hamburger Gauleiter Kaufmann gelungen sei, den Bürgermeister Krogmann auszuspielen. Auch einige Gauleiter, ,,die sich allesamt unwohl fühlten", hätten Anstöße gegeben, daß die in Gang befindliche, allerdings mehr im Hintergrund betriebene Reichsreform­ diskussion ständig fortgeführt worden sei. Aber außerhalb Hamburgs habe sie nirgends zu dauerhaften praktikablen Lösungen gefunden und sei an den inneren Widersprüchen des nationalsozialistischen Staa­ tes vollkommen gescheitert.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt in der Endphase der Weimarer Republik Von Dieter Rebentisch

I. Gemeinden und Reich in der Weimarer Republik

Das Verhältnis der Gemeinden und Städte zum Reicht , die Wechsel­ beziehungen zwischen Kommunalverwaltung und Reichsspitze waren in den Jahren der Weimarer Republik durchweg gestört. Der erste Grund hierfür lag in der Erzbergerschen Finanzreform2 von 1920, die angesichts der Reparationslasten und der Übernahme zahlreicher neuer Aufgaben auf das Reich finanzpolitisch geboten war und zugleich dem wachsenden Unitarismus entsprach, aber den Ländern und Gemeinden ihre bisherige finanzielle Beweglichkeit und ihre Steuerhoheit beschnitt. Die auf Grund reichseinheitlicher Bemessungsgrundlagen ohne Rück­ sicht auf lokale Bedürfnisse festgesetzten Steueranteile flossen nun durch ein zeitraubendes und kompliziertes Dotationssystem meist zu knapp bemessen, oft zu spät und teilweise durch den absorbierenden Filter der Länderkassen in die Gemeinden zurück. Zwar gab das Reich unter Reichskanzler Luther das zentralistische Dotationssystem zu­ gunsten eines modifizierten dreistufigen Finanzföderalismus auf3, doch verwies die Priorität des Reichsetats vor den Länderhaushalten, der Vorrang der Länderhaushalte vor den kommunalen Etats die Gemein-

1 Hierzu im Überblick Hans Herzfeld, Demokratie und Selbstverwaltung in der Weimarer Epoche. Stuttgart 1957 ; Gerhard Schulz, Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland vor 1933, in: Franz-Lieber-Hefte 2, 1959, S. 14 ff. z Eine knappe Skizze der kommunalen Finanzlage bei Otto Ziebill, Ge­ schichte des Deutschen Städtetages. 2. Aufl. Stuttgart 1956, S. 236 ff. ; aus­ führlicher Josef Wysocki, Die Kommunalfinanzen in Erzbergers . Reformkon­ zept: Finanzzuweisungen statt eigener Steuern, in : Karl-Heinrich Hans­ meyer (Hrsg.), Kommunale Finanzpolitik in der Weimarer Republik. Stuttgart 1972, S. 35 ff. ; aus Ländersicht : Franz Menges, Reichsreform und Finanz­ politik. Berlin 1971, S. 184 ff. ; aus Reichssicht: Peter-Christian Witt, Reichs­ finanzminister und Reichsfinanzverwaltung 1918/19 - 1924, in: VfZ 23, 1975, S. 1 ff. 3 F. Menges� Reichsreform und Finanzpolitik, S. 306 ff. ; Gisela Upmeier, Die Versuche einer „endgültigen" Regelung des Finanzausgleichs, in: K.-H. Hansmeyer, Kommunale Finanzpolitik, S. 101 ff.

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den bei der Verteilung der ohnehin knappen Finanzmasse an die letzte und schwächste Stelle.

Insbesondere der Verlust des Zuschlagsrechts zur Einkommensteuer, der ehemals ertragreichsten Finanzquelle, traf die Gemeinden schwer. Der Anteil des Reiches an der Einkommensteuer, der nach der kommu­ nalfreundlichen sogenannten Dritten Steuernotverordnung von 1924 noch 10 0/o betragen hatte, stieg schon 1925 auf 25 0/o und drohte im darauffolgenden Jahr auf 33 1/s 0/o zu wachsen4 • Ähnlich reduzierte sich die Anteilsquote der Gemeinden am örtlichen Aufkommen der Haus­ zinssteuer, die in immer stärkerem Umfang zur Deckung des allgemei­ nen Finanzbedarfs herangezogen wurde, in manchen Städten6 von anfangs drei Achtel auf drei Zehntel und schließlich auf drei Zwölftel. Die stets nur provisorische Neuregelung des Finanzausgleichs, die zu­ dem noch mit einer fortwährenden Minderung der kommunalen Ein­ nahmen verbunden war und eine permanente Unsicherheit für die kommunale Etatgestaltung bedeutete, zog die einhellige, manchmal scharf formulierte Kritik sämtlicher Kommunalpolitiker der Weimarer Republik auf sich.

Ein weiterer Ansatzpunkt kritischer Distanz gegenüber dem Reich ergab sich aus der dichter werdenden Einzelgesetzgebung im Personal­ wesen6, im Wohnungsbau7 und vor allem im Bereich der in den Ge­ meinden umzusetzenden Sozialpolitik. Detaillierte Ausführungsbestim­ mungen und rigide Kontrollmechanism.en, die eine dauernde Präsenz der Zentralinstanzen im kommunalen Verwaltungsalltag mit sich brachten, wurden als einengende Übergrüfe auf tradierte Selbstver­ waltungsrechte empfunden. Die Kommunen sahen sich zunehmend in die Rolle von Exekutivbehörden des Reiches gedrängt, ohne daß ihre

4 0. ZiebiU, Geschichte des Deutschen Städtetages, S. 237 - 239 ; ferner Karl Bernhard Netzband und Hans Peter Widmaier, Währungs- und Finanzpoli­

tik der Ara Luther 1923 - 1925. Basel 1964, S. 168 ff. 11 So z. B. in Frankfurt. Vgl. dazu Dieter Rebentisch, Ludwig Landmann. Frankfurter Oberbürgermeister der Weimarer Republik. Wiesbaden 1975, S. 192. s Die Städte wandten sich vor allem gegen unangemessen einschneidende Vorschriften des Besoldungssperrgesetzes (RGBl. 1920, S. 2117 ff.) und der Personalabbauverordnung (RGBl. 1923 I S. 999). In den Krisenjahren traten Fragen der Besoldungsreform in den Vordergrund Hierzu Hans Mommsen, Die Stellung der Beamtenschaft in Reich, Ländern und Ge­ meinden in der Ara Brüning, in : VfZ 21, 1973, S. 151 ff. Dort auch die ältere Literatur. 7 Das Reichsmietengesetz vom 24. März 1922 (RGBI. 1922, S. 273) und die verschiedenen Schritte zum Abbau der Wohnungszwangswirtschaft wareri herausragende Beispiele · sowohl für schematische Eingriffe in das lokale Sozial- und Wirtschaftsgefüge wie für die Zuweisung neuer Aufgaben ohne entsprechende · Deckung. Vgl. zur . Wohnungspolitik . Dan P. Silverman , A Pledge Unredeemed: .· The Housing Crisis in Weimar . Germany, in: Central European History 3, 1970, S. 112 ff.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

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praktische Erfahrung und Sachkenntnis vor Ort in die Legislative ein­ ging. Als 1926/27 bei der Vorbereitung der Arbeitslosenversicherung die Forderungen des Deutschen Städtetages kaum Berücksichtigung fanden, stellten die Kommunalpolitiker einhellig die Prognose, daß nun ein weiteres Stück Selbstverwaltung „zum Teufel ging" 8 • In Ermange­ lung institutioneller Verbindungen zwischen Kommunen und Reich suchten sich die kommunalen Spitzenverbände mit wachsender Inten­ sität, aber wechselndem Erfolg, in die kommunalpolitisch relevanten Entscheidungsprozesse der Reichsgesetzgebung einzuschalten. Der Prä­ sident des Deutschen Städtetages, Oskar Mulert, entwickelte eine Kon­ zeption, die kurzfristig auf die Einrichtung eines kommunalpolitischen Ausschusses im Reichstag und einer besonderen Kommunalabteilung im Reichsinnenministerium sowie auf eine staatsrechtlich gesicherte Vertretung der Städte im Reichsrat zielte, langfristig aber eine Gesamt­ lösung der verfassungspolitischen Probleme in einer Variante des dezentralisierten Einheitsstaates erstrebte9 • Den dritten herausragenden Streitpunkt stellten die kommunalen Auslandsanleihen dar. Gleich nach der Währungsstabilisierung drängten die Gemeinden mit ihrem durch Kriegs- und Inflationszeit angestauten Investitionsbedarf wegen der Unergiebigkeit des inländischen Kredit­ marktes zur Aufnahme von Auslandsanleihen. Nach den Kategorien der klassischen Nationalökonomie mußten kreditfinanzierte Investi"' tionen der Gemeinden, die angeblich keine Steigerung der Produktions­ kapazität herbeiführten, unvermeidbar inflationierend wirken, weil die Geldmengenvermehrung durch Auslandskredite nicht durch eine ent­ sprechende Vergrößerung der Inlandsproduktion kompensiert wurde10 • Schon Reichsfinanzminister Luther11 band daher 1924 teilweise unter dem Druck der Reichsbank die kommunale Kreditaufnahme im Aus­ land an die Zustimmung des Reichsfinanzministeriums, bei dem eine

s Oberbürgermeister Landmann-Frankfurt am 7. Juli 1926 an den Städte­ tagspräsidenten Oskar Mulert. D. Rebentisch, Landmann, S. 277. 9 Wolfgang Hofmann, Städtetag und Verfassungsordnung. Position und Politik der Hauptgeschäftsführer eines kommunalen Spitzenverbandes. Stutt­ gart 1966, S. 84 ff. 10 Das Problem der Auslandsanleihen hat eine abschließende komparatisti­ sche und quantifizierende Untersuchung noch nicht erfahren. Vgl. den 174. Band der Schriften des Vereins für Sozialpolitik: Die Auslandsanleihen in ihrer finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Bedeutu�. München 1928; ferner Rudolf Stucken, Deutsche Geld- und Kreditpolitik 1914 - 1963. 3. Aufl. Tübingen 1964, S. 69 ff. ; Hermann Dietrich-Troeltsch, Kommunalkredit, Re­ parationen und föderalistisches Prinzip. Rer; pol. Diss. Mainz 1970; sowie die unten in Anm. 12 genannte Literatur. 1 1 Über Luthers Haltung jetzt Wolfgang Hofmann, Zwischen Rathaus und Reichskanzlei. Die Oberbürgermeister in der Kommunal- und Staatspolitik des Deutschen Reiches 1890 - 1933. Stuttgart 1974, S. 263 ff. ; Hermann Diet­ Tich-Troeltsch, Die Errichtung der Beratungsstelle für Auslandskredite und ihre Funktionsweise, in: K.-H. Hansmeyer, Kommunale Finanzpolitik, S. 174.

110

Dieter Rebentisch

,,Beratungsstelle für kommunale Angelegenheiten" eingerichtet wurde. Im Jahre 1927 gab Reichsbankpräsident Schacht, unterstützt von dem Reparationsagenten Parker Gilbert, in einer Aufsehen erregenden Rede am 18. November in Bochum12 das Signal zu einer förmlichen Kam­ pagne gegen kommunale Auslandskredite, die aus monetären und reparationspolitischen Rücksichten zu beschränken seien. Dies führte tatsächlich dazu, daß die „Beratungsstelle" ihre Tätigkeit vorüber­ gehend einstellte und später nur unter verschärften Bedingungen fort­ setzte. Da im März 1 928 das gesamte Volumen der - übrigens zu 94,5 0/o langfristig aufgenommenen - kommunalen Auslandsanleihen in Höhe von 541,5 Millionen RM nur 25 0/o der sich auf 2,159 Milliarden RM belaufenden Auslandsschuld aller Gebietskörperschaften betrug13 und zugleich weder die privatwirtschaftlichen Unternehmungen in Handel und Industrie noch die Landwirtschaft in ihren extensiven Kredit­ aufnahmen irgendwelchen Beschränkungen unterworfen waren, blie­ ben Zweifel an der Stichhaltigkeit der fiskalischen, monetären und reparationspolitischen Argumentation bestehen. Die politische Problematik der Debatte um die Auslandsanleihen bestand darin, daß die Kritik an ihrem angeblich unproduktiven Ver­ wendungszweck für lokale Infrastrukturmaßnahmen, für Kanalisa­ tionen, Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, für Krankenhäuser, Schu­ len, Sportplätze, Messe- und Markthallen, in eine weitverbreitete Polemik gegen Luxusbauten und eine verschwenderische Ausgaben­ wirtschaft der Gemeinden umschlug. Carl Böhret hat schon vor länge­ rem den Nachweis geführt14 , daß Schachts Angriffe auf die Gemeinden zwar nicht in direkter Absprache, aber doch in einer sich wechselseitig ergänzenden Zusammenarbeit mit den Spitzenverbänden der Privat­ wirtschaft erfolgten und ihnen eine Stoßrichtung gegen die Expansion der Kommunalwirtschaft als einer Form der „Kalten Sozialisierung" innewohnte. Dieser generelle Befund konnte inzwischen durch lokale Einzelstudien nicht nur bestätigt, sondern auch dahin ergänzt werden, 12 Hjalmar Schacht, Eigene oder geborgte Währung. Leipzig 1927 ; zur Politik Schachts vgl. Helmut Müller, Die Zentralbank - Eine Nebenregie­ rung. Opladen 1973, S. 62 ff. und besonders Gerd Hardach, Reichsbankpolitik und wirtschaftliche Entwicklung 1924 - 1931, in : Schmollers Jahrbuch 90, 1970, S. 563 ff., sowie zur Vorgeschichte der Bochumer Rede detailliert Gisela Upmeier, Schachts Kampf gegen die Auslandsanleihen, in K.-H. Hansmeyer, Kommunale Finanzpolitik, S. 160 ff. 13 In Ermangelung einer befriedigenden Statistik für den Gesamtzeitraum muß auf einzelne Daten des Statistischen Reichsamts zurückgegriffen werden. Vgl. Wirtschaft und Statistik 9, 1929, S. 186 ff. ; Der Städtetag 23, 1929, S. 1142 ff. ; Statistisches Handbuch von Deutschland. München 1949, S. 554. Ober kurzfristige und langfristige Auslandskredite vgl. auch Vierteljahrs­ hefte für Konjunkturforschung 4, 1929, S. 36 ff. u Aktionen gegen die „kalte Sozialisierung" 1926 - 1930. Berlin 1966, s. 172 ff.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

111

daß die Polemik gegen Auslandsanleihen und Mißwirtschaft in den örtlichen Parlamenten durch das Ausscheiden der DVP aus den Etat­ mehrheiten eine systemzerstörende Fortsetzung fand15•

Namentlich die Großstädte waren Hochburgen der Weimarer Koali­ tion und ihrer lokalspezifischen Varianten und boten im Zuge der fort­ schreitenden Politisierung und Parlamentarisierung der Stadtvertre­ tungen den republikanischen Parteien vermehrte Ansätze zu einer demokratisierenden Einwirkung auf die Gesellschaftsstruktur, die als quasi-sozialistische Veränderung verstanden werden konnte. Kein ge­ ringerer als Konrad Adenauer, ein in diesem Zusammenhang gewiß unverdächtiger Zeuge, hat 1931 bemerkt, daß die Hauptangriffe gegen die Selbstverwaltung vor allem von „rechts" kamen, ,,daß der Kampf gegen die Selbstverwaltung oft identisch ist mit dem Kampf gegen die sozialistische Bewegung" 16 • Dem wäre indessen noch hinzuzufügen, daß die politische Durchschlagskraft der Städtefeindlichkeit sich auch als kulturpessimistischer Reflex auf die Epoche der Verstädterung und industriellen Wirtschaftsentwicklung verstehen läßt und einem weit verbreiteten Trend zu einer generellen Reagrarisierung entsprach, der sich in den Siedlungsideen und Arbeitsbeschaffungsplänen in der Endphase der Weimarer Republik Ausdruck verschaffte17 •

Nicht allein eine von der Aufgabenstellung her verständliche Kom­ munalfremdheit der Reichsverwaltung, sondern die eben skizzierte ausgesprochene Städtefeindlichkeit und ihre zumindestens psycho­ logische Wirkung zählt zu den wesentlichen Bestimmungsfaktoren der Beziehungen zwischen dem Reich und den Gemeinden, die mit dem Beginn der Wirtschaftskrise stärker als es im dreistufigen Verfassungs­ gebäude zum Ausdruck kam, aufeinander angewiesen waren. Die Kritik an der unverantwortlichen - und das hieß wohl : die Reichsinteressen nicht berücksichtigenden - Finanzwirtschaft der Gemeinden war, wie sich durch zahlreiche Belege zeigen läßt, in fast allen Reichsressorts communis opinio18 • Ins Gewicht fiel vor allem, daß auch Heinrich

15 D. Rebentisch, Landmann, S. 194 ff., 244 ff., 255 ff. Angesichts der ge­ ringen Beachtung von Programmatik und Taktik der politischen Parteien in den Kommunen ist die Kursschwenkung der DVP in der stadtgeschichtlichen Literatur oft nur implizit zu beobachten. Vgl. Holger Christian Asmussen, Die wirtschaftliche und politische Entwicklung in den Stadtkreisen Kiel und Neumünster 1929 - 1933. Phil. Diss. Kiel 1973 (MS), S. 113 ff. 1e Zentralismus und Selbstverwaltung, in : Kölnische Zeitung vom 9. Nov. 1931, zitiert bei : Wolfgang Hofmann, Konrad Adenauer und die Krise der kommunalen Selbstverwaltung, in : Hugo Stehkämper (Hrsg.), Konrad Ade­ nauer. Oberbürgermeister von Köln. Köln 1976, S. 351. 11 Ober Verbreitung, Herkunft und Gehalt der Großstadtfeindschaft steht eine Untersuchung noch aus. Als Element völkischer Ideologie deutet sie Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft. Meisenheim am Glan 1970, S. 277 ff. Vgl. dazu die Rezension von Thomas Nipperdey, in : HZ 217, 1973, S. 717 f.

112

Dieter Rebentisch

Brüning selbst seit seinen Anfängen als Abgeordneter19 und unver­ ändert als Reichskanzler!O zu den Kritikern der Anleihepolitik der Städte zählte, wobei er aber offenbar zu differenzieren wußte und sich vornehmlich von sachlich verstandenen Gesichtspunkten der Repa­ rationspolitik und der Zahlungsbilanz leiten ließ. Bevor jedoch das Verhältnis von Reich und Gemeinden in der Brüning-Ära im einzelnen und vor allem im Wandel der politischen Konstellationen untersucht werden kann, bedarf es eines Überblicks über die materiellen Belastun­ gen der Kommunen, über das sprunghafte Anwachsen der Arbeits­ losenkosten und die gleichzeitige nicht allein konjunkturbedingte Minderung der kommunalen Einnahmen. U. Arbeitslosigkeit und Gemeindefinanzen in der Wirtschaftskrise

Die Wirtschaftskrise belastete die kommunalen Haushalte durch fort­ schreitende Erhöhung der Ausgaben für die Erwerbslosenfürsorge. Das Reichsgesetz21 über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversiche­ rung vom 16. Juli 1927 wollte die Gemeinden von ihren bisherigen Aufwendungen für die Arbeitslosen entlasten, schuf aber in der Praxis ein dreiteiliges Unterstützungssystem, das auf der dritten Stufe, auf der Ebene der Gemeinden, offen blieb und die Gemeinden zum Auf­ fangbecken für die von der gesetzlichen Unterstützung nicht oder nicht mehr erfaßten Arbeitslosen machte. Die Reichsanstalt für Arbeits­ losenversicherung gewährte Arbeitnehmern, die wenigstens 26 Wochen vor Eintritt der Arbeitslosigkeit eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt hatten, für die Dauer von 26 Wochen eine nach Lohnklassen gestaffelte Unterstützung. Danach konnte eine Unterstützung aus Mitteln der Reichsanstalt erst wieder gezahlt werden, wenn die An18

Besonders eindrucksvolle Beispiele finden sich in den Memoiren von

Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Staatsbankrott. Göttingen 1974, S.87 ff. Vgl. auch Adelheid von Saldern, Hermann Dietrich. Ein Staatsmann der Weimarer Republik. Boppard am Rhein 1966, S.150; Hermann Pünder,

Politik in der Reichskanzlei Aufzeichnungen aus den Jahren 1929 - 1932, hrsg. von Thilo Vogelsang. Stuttgart 1961, S.156; weitere Belege unten Anm.52 ff. 11 Darauf wurde schon hingewiesen von Rudolf Morsey, Brüning und Ade­ nauer, 2.Aufl. Düsseldorf 1972, S.23; vgl. im einzelnen Rudolf Morsey, Brü­ nings Kritik an der Reichsfinanzpolitik 1919 - 1929, in: Geschichte, Wirtschaft, Gesellschaft. Festschrift für Clemens Bauer, hrsg. von Erich Hassinger u.a. Berlin 1974, S.369. 20 Heinrich Brüning, Memoiren 1918 - 1934. Stuttgart 1970, S. 119. Zur Quellenkritik vgl. Rudolf Morsey, Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings „Memoiren 1918 - 1934". Opladen 1975. 21 RGBl. 1927/I, S. 187 ff.; Ludwig Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Stuttgart 1949, S.373 ff.; Gerhard Erdmann, Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung. 2.Aufl. Göttingen 1957, S. 18 ff., 386 ff.; Albin Gladen, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Wiesbaden 1974. S.98 ff.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

118

wartschaft von neuem erfüllt war. Eine Novelle des Jahres 1929!! ver­ schärfte die Bestimmungen dahin, daß die Anwartschaft erst erreicht war, wenn der Arbeitslose in den letzten zwei Jahren mindestens 52 Wochen in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden hatte. Zusätzlich zu dieser Regelung ließ das Arbeitslosenversicherungs­ gesetz die schon im November 1926 eingeführte Krisenunterstützung für Arbeiter bestehen, die kein Anrecht auf Arbeitslosenunterstützung hatten, aber im letzten Jahr wenigstens 13 Wochen beschäftigt gewesen waren.

Diese Krisenunterstützung konnte auf bestimmte Berufe und Re­ gionen und vor allem in der Dauer ihrer Gewährung beschränkt werden und stellte somit das eigentliche staatliche Instrument zum Ausgleich länger anhaltender, branchen- oder regionalbedingter Konjunktur­ abschwünge dar. Auch hier erlosch der Anspruch nach insgesamt einem halben Jahr. Vor allem aber wurden die Gemeinden erst mit einem Viertel, seit Oktober 1927 mit einem Fünftel an den Kosten beteiligt. Alle übrigen Arbeitslosen fielen als sogenannte „Wohlfahrtserwerbs­ lose" der kommunalen Fürsorge zur Last. Schon im Frühjahr 1930 stellten, wie Erhebungen des Deutschen Städtetages ergaben23 , die Aus­ gesteuerten aus der Arbeitslosenversicherung und der Krisenfürsorge das Hauptkontingent der Wohlfahrtserwerbslosen der Gemeinden, aus­ nahmslos voll arbeitsfähige und arbeitswillige Personen, die lediglich aus Konjunkturgründen am Arbeitsmarkt nicht unterzubringen waren. Der Fehler dieser Konstruktion lag offensichtlich darin, daß die Ge­ meinden für große Massen von Arbeitslosen dauernd oder doch für unbestimmte Zeit zu sorgen hatten, was nach Ziel und Technik der kommunalen Wohlfahrtspflege nicht ihre Aufgabe sein konnte.

Der Deutsche Städtetag und die übrigen kommunalen Spitzenver­ bände hatten schon vor Verabschiedung des Gesetzes mit geringem Erfolg auf die zu erwartenden Folgen hingewiesent4, die tatsächlich sehr bald und lange vor Beginn der eigentlichen Wirtschaftkrise ein­ traten. Trotz des Anziehens der Konjunktur im Jahre 1927 war ein beträchtlicher Teil der Arbeitskräfte, insbesondere ältere Erwerbs­ tätige ganzer Berufsgruppen und ungelernte Arbeiter, infolge der Rationalisierung der Wirtschaft nicht mehr vom Arbeitsmarkt auf12 RGBl. 1929/I, S. 153 ff. ; Bernhard Lehfeld, Die Reform der Arbeitslosen­ unterstützung durch das Gesetz vom 12. Oktober 1929, in: Reichsarbeitsblatt 1929/II, S. 950 ff. Ober die politischen Zusammenhänge Helga Timm, Die deutsche Sozialpolitik und der Bruch der Großen Koalition im März 1930. Düsseldorf 1952, S. 127 ff. 2a Fritz Elsas, Wohlfahrtserwerbslose und Gemeindefinanzen, in: Der Städtetag 24, 1930, S. 55 ff. !4 Ober Einwände und Gesetzentwürfe des Deutschen Städtetages vgl. 0. Ziebm, Geschichte des Deutschen Städtetages, S. 164 U.

B Speyer 66

Dieter Rebentisch

114

Tabelle l Arbeitslosigkeit In Deutsdlland 1929 - 1933 (in Tausend)

Arbeitslose 1929

D 2 851

N 2 036 J

3 218 F 3 366 M 3 041 A 2 787 M 2 635 1930 J 2 641 J 2 765 A 2 883 3 004 0 3 252 N 3 699

s

D 4 384 J

4 887

F 4 972

M 4 743 A 4 358 M 4 053 1931 J 3 954 J 3 990 A 4 215 4 355 0 4 623 N 5 060 D 5 668

s

J

6 042

F 6 128 M 6 034

A 5 739 M 5 583 1932 J 5 476 J 5 392 A 5 224 5 103 0 5 109 D 5 355 D 5 773

s

J

6 014

M

5 599

F 6 001

1933

A 5 331

M 5 039 J 4 857 J 4 464

1

1

Arbeitslosen- 1 Krisenunterstützte unterstützte

1

Wohlfahrt'>erwerbslose

1 200 1 775

187 210

2 233 2 379 2 053 1 763 1 551 1 469 1 498 1 507 1 413 1 562 1 788 2 166

250 277 294 318 338 366 403 441 473 511 566 667

2 554 2 589 2 317 1 887 1 578 1 412 1 205 1 282 1 345 1 185 1 366 1 642

811 908 924 902 929 941 1 027 1 095 1 140 1 350 1 406 1 506

901 940 988 1 004 1 017 1 063 1 131 1 208 1 303 1 421 1 565

1 885 1 852 1 579 1 232 1 076 940 757 697 618 582 638 792

1 596 1 674 1 744 1 675 1 582 1 544 1 354 1 295 1 231 1 139 1 131 1 281

1 713 1 833 1 944 2 019 2 091 2 164 2 229 2 030 2 047 2 204 2 311 2 407

953 942 686 530 466 416 394

1 419 1 513 1 479 1 409 1 336 1 310 1 253

2 459 2 476 2 401 2 288 2 161 2 063 1 932

453

541 618 693 761

846

Quelle : Erhebungen der Arbeitsämter, nach : Statistische Beilage zum Reichsarbeits­ blatt Nr. l und 10 (1931), Nr. 4 und 34 (1932), Nr. l (1934).

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

115

genommen worden, so daß sogleich die Auswirkungen der strukturellen Arbeitslosigkeit in den Gemeinden spürbar wurden25 • Nach Beobachtun­ gen des Instituts für Konjunkturforschung bewegte sich der Anteil der Versicherung an der Betreuung Erwerbsloser vom Sommer 1928 mit 67 0/o über Mitte 1929 mit 58 0/o bis Mitte 1930 mit 55 0/o in ununter­ brochener Folge rückläufig26 • Die Gemeinden erhoben daher Klage, daß die Arbeitslosenversicherung in der Hauptsache nur die Auswirkungen des saisonmäßigen und kurzwelligen Konjunkturverlaufs trug, während ihnen die langfristige Arbeitslosigkeit aus strukturellen Verschiebungen und tiefergreifenden Depressionsphasen zur Last fiel27 • Das Arbeits­ losenversicherungsgesetz löste also einen Mechanismus aus, der stetig und unabweisbar die Reichsanstalt zuungunsten der Gemeinden ent­ lastete.

Dieser Vorgang wird durch die amtliche Statistik der Arbeitslosen­ ziffern in der Wirtschaftskrise eindrucksvoll bestätigt. Betrachtet man die Tabellen der Arbeitslosenversicherung, der Krisenunterstützung und der Wohlfahrtserwerbslosen nebeneinander und setzt die monat­ lichen Zählungen in eine Graphik des Kurvenverlaufs um, so wird deutlich, daß die Höchstziffern in der Arbeitslosenversicherung jeweils in den saisonschwachen Wintermonaten liegen und die Sommermonate Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen. (Vgl. Tabelle 1 und Abbildung 1 .)

Der absolute Höchststand der Unterstützungsempfänger aus der Ar­ beitslosenversicherung während der gesamten Weimarer Republik ist bereits im Februar 1931 mit 2,589 Millionen erreicht. Danach fallen die Ziffern in einer Wellenlinie beständig ab und erreichen in den ange­ spannten Wintermonaten 1933 nur noch eine Höhe (Januar 1933: 0,942 Millionen), die deutlich unter den Werten der einigermaßen ent­ spannten Sommermonate 1930 (Juni 1930 : 1,468 Millionen) bleibt. Die Zahlen der Wohlfahrtserwerbslosen, die erst ab Ende 1930 einiger­ maßen zuverlässig erfaßt sind28 , und demnach auch der Kurvenverlauf

!II Herbert Meyer, Die Gemeindefinanzen in der Statistik, in: Der Städte­ tag 23, 1929, S. 131 ff. ze Vierteljahreshefte für Konjunkturforschung 5, 1930, Heft 2 Teil A, S. 44; Der Städtetag 24, 1930, S. 500 ff. 21 Gemeindefinanzen und Reichsfinanzreform, in : Der Städtetag 24, 1930, S. 44 ff. ; Fritz Elsas, Das Problem der Wohlfahrtserwerbslosen - das Schick­ sal der Gemeinden, ebd., S. 525 ff. ; vgl. außerdem den Protest des 34. Schleswig-Holsteinischen Städtetages bei H. Chr. Asmussen, Kiel und Neu­ münster, S. 19. Der Oberbürgermeister von Halle, Richard Robert Rive, brachte diesen Tatbestand auf die Formel, die Maßnahmen führten dazu, ,,daß sich das Reich saniert, der Staat salviert und die Gemeinde ruiniert". Lebenserinnerungen eines deutschen Oberbürgermeisters. Stuttgart 1960, S. 382. 2s Gemäß einer Entschließung des Reichsrats wurde ab August 1930 die bis dahin amtlich nicht durchgeführte monatliche Statistik der Wohlfahrts-

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116

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in der Graphik, steigen hingegen kontinuierlich an. So tritt im Okto­ ber/November 1931 erstmals eine Situation ein, in der mehr Wohl­ fahrtserwerbslose als Arbeitslosenversicherte erscheinen, eine Lasten­ verschiebung, die ab März 1932 bis zum Ende des Untersuchungszeit­ raums bestehen bleibt. Auch die Krisenunterstützung erreicht schon im März 1932 ihren Höhepunkt, der trotz weiterwachsender Arbeits­ losigkeit nicht mehr überschritten wurde. Seit der Reform vom 11. Okto­ ber 1930 wurde die Krisenfürsorge zwar auf alle Berufsgruppen aus­ gedehnt, aber nur noch solchen Arbeitslosen gewährt, die ihren Ver­ sicherungsanspruch erschöpft hattent9 , Die Krisenfürsorge verlor ihren Charakter als gesonderter Unterstützungsfond und wurde zur reinen Durchgangsstation für Arbeitslosenversicherte, da ihre Zahlungen auf in der Regel 32 Wochen begrenzt waren. Durch permanente Übertritte aus der Krisenunterstützung in die kommunale Wohlfahrtsfürsorge im Laufe des Jahres 1932 sammelte sich dort der größte Teil des Arbeits­ losenheeres. Die Umverteilung der Lasten vom Reich auf die Schultern der Gemeinden läßt ein Vergleich des Versorgungssystems im Januar 1931 und Januar 1933 erkennen: Waren zu Beginn des Jahres 1931 noch 2,554 Mill. Arbeitslose in der Versicherung und 0,846 Mill. bei der ge­ meindlichen Wohlfahrt, so gestaltete sich das Verhältnis Anfang 1933 gerade umgekehrt (0,913 : 2,459 Mill.).

Die amtliche Statistik vermittelt indessen nur ein annäherndes Bild der wirklichen Lage. Die Ermittlung der Zahlen der Wohlfahrts­ erwerblosen beruhte auf gemeinsamen Erhebungen der Arbeitsämter und der Bezirksfürsorgeämter und setzte folglich eine Übereinkunft beider Instanzen über die Art der Anerkennung und der Kontrolle voraus. Für die Arbeitsämter waren sehr enggefaßte Richtlinien der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung maßgebend, während die Bezirksfürsorgeverbände weiter griffen und mit ihren Angaben häufig erheblich von denen der Arbeitsämter abwichen. Differenzen bis zu 100 000 Personen pro Monat erklären sich vor allem daraus, daß nicht selten Wohlfahrtserwerbslose am Stichtag der Kontrolle den Arbeits­ ämtern fernblieben, wo sie ja keine Auszahlung erhielten, von den Fürsorgestellen hingegen mitgezählt wurden. Der Unterschied zwischen der Zahl der amtlich anerkannten und der tatsächlich von den Gemein­ den unterstützten Wohlfahrtserwerbslosen war vermutlich immer be­ trächtlich, da wegen der „künstlich statistisch-methodischen Einengung" begrüfsmäßig nur ein Teil der Wohlfahrtserwerbslosen erfaßt wurde3°.

erwerbslosen angeordnet. Vgl. Wirtschaft und Statistik 11, 1931 , S. 214. Für die Zeit vor November 1930 liegen nur Vergleichszahlen des Städtetages auf der Basis der Städte über 25 000 Einwohner vor. Elsaa, Wohlfahrtser­ werbslose, S. 55. 2111 RGBI. 1930/I, S. 463 ff. Vgl . auch L. Prelle,-, Sozialpolitik. S. 435.

Abbildung 1: ArbeitslosenunteTstii.tzte in Tsd.

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118

Dieter Rebentisch

Durch Auswertung der Statistik der Krankenkassen, der Gewerk­ schaften und der Industrieberichterstattung kam das Institut für Kon­ junkturforschung für den Monat Juli 1932 gegenüber den amtlich gezählten 5,39 Mill. Arbeitslosen auf eine Gesamtzahl von 7,1 Mill.31 Auch wenn die Zahl von 1, 7 Mill. sogenannter unsichtbarer Arbeits­ losen, die wegen der offensichtlichen Aussichtslosigkeit einer Stellen­ vermittlung die Meldung beim Arbeitsamt unterließen, zu hoch ge­ griffen sein sollte, so legt der Nachweis dieser Personengruppe nahe, die Ziffern der effektiven Wohlfahrtsunterstützung nach oben zu korrigieren.

Aber selbst eine bereinigte Statistik sagt noch nichts über die tat­ sächliche Belastung der Gemeinden durch die Wohlfahrtsausgaben aus, da sie sich nicht allein auf die Zahlung der Unterstützungssätze an die Wohlfahrtserwerbslosen beschränken konnten. Infolge der Senkung der Unterstützungssätze in der Krisenfürsorge mußten die Wohl­ fahrtsämter schon im Winter 1931/32 vielfach Zusatzunterstützungen leisten3l!. Da überdies die Wohlfahrtssätze nur die Lebenshaltungs­ kosten hart an der Grenze des Existenzminimums abdeckten und wohl auch unterschritten, so daß sie nach Abzug der Miete, der Licht- und Heizungskosten noch für die allereinfachsten Grundnahrungsmittel ausreichten, mußten zahlreiche Gemeinden die Geldunterstützungen durch Sachleistungen ergänzen. Insbesondere in den Großstädten spielten die kommunalen Suppenküchen und Nähstuben eine große Rolle33• Mit Zuweisungen von Heizmaterial, Kleidung und Schuhen sowie mit laufenden Mietzuschüssen und sogenannten Winterbeihilfen suchten die Städte die ärgste Not zu lindern. Rechnet man zu den Unterstützungsempfängern noch die Familienangehörigen hinzu, dann ergibt sich, daß im Laufe des Jahres 1932 in den meisten Großstädten ein Viertel bis ein Drittel der gesamten Einwohnerschaft von öffent­ lichen Mitteln lebte34•

so Zur Quellenkritik der amtlichen Statistik vgl. Wirtschaft und Statistik 11, 1931, S. 214 und den Bericht über „Arbeitslosigkeit im September", in: Der Städtetag 26, 1932, S. 546 ff. a1 Wochenbericht des Instituts für Konjunkturforschung 5, 1932/33, Nr. 26 vom 28. Sept. 1932, S. 103 f. Vgl. ferner leicht modifiziert Vierteljahreshefte für Konjunkturforschung 7, 1932, Heft 2 Teil A, S. 101 ff. L. Preller, Sozial­ politik, S. 448 f. nimmt für September 1932 eine Zahl von 1,5 Mill. unsicht­ barer Arbeitsloser an. 32 Schreiben des Präsidenten des Deutschen Städtetages an den Reichs­ kanzler vom 14. Febr. 1932. BA R 43 I/2039. 33 Bericht des Direktors des Königsberger Wohlfahrtsamtes Rudolf Lawin, Notwendigkeiten und Grenzen der Notstandsaktion für Erwerbslose, in: Der Städtetag 26, 1932, S. 585 ff. Für München : Peter Steinborn, Grundlagen und Grundzüge Münchener Kommunalpolitik in den Jahren der Weimarer Re­ publik, München 1968, S. 504. Ober den Umfang der Volksspeisung in Kiel (1,5 Mill. Mahlzeiten 1930/31) vgl. H. Chr. Asmussen, Kiel und Neumünster, s. 33, 43 ff.

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Angesichts der außerordentlichen Steigerung der Wohlfahrtsaus­ gaben sahen sich die Gemeinden und Gemeindeverbände permanent vor die Aufgabe gestellt, die Mittel zur Linderung der sozialen Not aufzutreiben und danach ihre Haushalte auszugleichen. Im Rechnungs­ jahr 1931 gelang dies durch Nachtragshaushalte und Zwangsetatisie­ rungen im allgemeinen wenigstens noch der Form nach, während dies 1932 trotz intensivster Bemühungen in der Regel nicht möglich war, so daß in diesem Jahr fast durchgängig ohne ordentliche Haushalts­ pläne gewirtschaftet werden mußte. Die Analyse der Finanzlage der Gemeinden unter dem Druck der Wirtschaftskrise läßt drei Bewegun­ gen erkennen: das immense Anwachsen der Soziallasten, die gleich­ zeitige Minderung der Einnahmen, vor allem der Reichsüberweisungs­ steuern, und drittens eine Ausgabensenkung in den übrigen Verwal­ tungszweigen „infolge sparsamster Wirtschaft und Aufgabenabbaus", wie das Statistische Reichsamt anerkannte, das im übrigen bei seinen Erhebungen schon vereinzelt seit 1929 und dann immer weitergreifend eine sparsame Haushaltsführung und ein straffes Organisieren der Gemeindeverwaltungen registriertelffi. Mit anderen Worten: der kon­ junkturabhängige Teil der kommunalen Ausgaben stieg an, je länger die Wirtschaftsdepression andauerte, die übrigen Ausgaben zeigten durch eine starke Drosselung eine fallende Tendenz.

Was unter kommunaler Finanznot, die nicht nur ein Schlagwort der Zeit war, konkret zu verstehen ist, soll im folgenden durch eine Kon­ frontation der Steuereinnahmen mit den Ausgaben für Wohlfahrts­ pflege dokumentiert werden. Dies wird durch die Mängel der Kommu­ nalstatistik nicht unerheblich erschwert. Zwar liegt für die Städte reichliches, aber nicht immer verbindliches Material voz-36, eine alle Gemeinden und Gemeindeverbände erfassende Statistik wurde jedoch erst in der Folge der Wirtschaftskrise entwickelt. Die aus verschiedenen Quellen angebotenen Angaben bleiben meist fragmentarisch, sind selten in Übereinstimmung zu bringen und vermitteln nur ein mit Vorsicht zu betrachtendes Gesamtbild. Daher wurde, wo immer es

s, In Berlin waren es 1,1 Mill. oder 25,8 0/o der Bevölkerung: Heinrich Sprenger, Heinrich Sahm. Kommunalpolitiker und Staatsmann. Köln 1969, S. 230. In Kiel empfing im Sept. 1931 jede vierte Familie städtische Unter­ stützung: H. Chr. Asmussen, Kiel und Neumünster, S. 40. In Köln wurden im Juli 1932 sogar 40 0/o der Bevölkerung in irgendeiner Weise unterstützt: Friedrich-Wilhelm Henning, Finanzpolitische Vorstellungen und Maßnah­ men Konrad Adenauers während seiner Kölner Zeit 1906 - 1933, in: H. Steh­ kämper, Adenauer, S. 149. aa Die Finanzlage der Gemeinden und Gemeindeverbände, bearbeitet im Statistischen Reichsamt, Sonderheft 9 zu „Wirtschaft und Statistik". Berlin 1932, S. 4; übereinstimmend damit : Die finanzielle Lage der Gemeinden, in: Der Städtetag 25, 1931, S. 201. 36 Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 24, 1929, bis 28, 1933; danach Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden 29, 1934 ff.

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ging, auf Erhebungen des Statistischen Reichsamtes zurückgegriffen, wo diese widersprüchlich waren, die Zahlen der Rechnung denen der Haushaltsentwürfe vorgezogen. Zunächst die Statistik der Wohlfahrts­ ausgaben: Tabelle 2 Zusdlußbedarl des Wohlfahrtswesens der Gemeinden und Gemeindeverbände (ln Mlll.) 1. Wohlfahrtsdavon wesen insgesamt 3. Krisen2. Wohlfahrtsfünftel erwerbslose

1928/29 1929/30 1930/31 1931/32

1 472,6 1 593,6 1 922,2 2 255,0

986,6 1 097,5 1 413,9 1 675,0

33,2 34,9 72,2 175,0

4. Anteil am Gesamtzuschußbedarf (Spalte 2 + 3) 19,6 °/o 20,9 °/o 26,8 °/o 37,8 0/o

Queue: Die Finanzlage der Gemeinden und Gemeindeverbände, bearbeitet im Stati­ stischen Reichsamt. Berlin 1832, s. 8.

Das gemeindliche Wohlfahrtswesen insgesamt (Tabelle 2) umfaßt im Sinne dieser Statistik außer den Wohlfahrtserwerbslosen und dem Krisenfünftel das eigentliche Armenwesen, die Sonderfürsorge, Ge­ sundheitswesen, Jugendwohlfahrt und Leibesübungen. Die Aufschlüsse­ lung nach Gemeindegrößen ergab - was in Tabelle 2 nicht ausgewiesen ist -, daß die Großstädte mit Wohlfahrtslasten verhältnismäßig stärker belastet waren als mittlere und kleine Gemeinden. Die Aufstellung des Zuschußbedarfs muß noch insoweit korrigiert werden, als im Rech­ nungsjahr 1931/32 gemäß den Notverordnungen vom 5. und 6. Okto­ ber 193137 an die von hohen Wohlfahrtsausgaben besonders betroffenen Gemeinden eine Reichshilfe in Höhe von 222 Millionen RM gezahlt wurde. Auch für das Rechnungsjahr 1932/33 stellte das Reich einen Ausgleichsbetrag in Höhe von 672 Millionen RM bereit38. Hinsichtlich der ordentlichen Reichsüberweisungen waren bereits 1930 erhebliche Ausfälle eingetreten. Insbesondere die Erträge aus der Einkommen- und Körperschaftsteuer, an denen die Gemeinden Anteil hatten, waren durch die Depression und die Schrumpfung der Einkom­ men gemindert, so daß die tatsächlichen Zahlungen die gemeindlichen Haushalte in größte Schwierigkeiten brachten. Außerdem ergab sich aus verschiedenen Einbehaltungen zum Zwecke des Ausgleichs des 37 RGBl. 1931/I, S. 279 ff.; S. 537 ff. ll8 Die Finanzlage der Gemeinden und Gemeindeverbände (Anm. 35), S. 6.

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Reichshaushaltes eine Minderung der kommunalen Anteile. Die Er­ höhung der Umsatzsteuer im Jahre 1930 und die Beteiligung an der Bier- und Mineralwassersteuer des Reiches konnten diese Defizite nicht abdecken39 • Insgesamt entwickelten sich die Steuereinnahmen in den Krisenj ahren in steil abfallender Linie.

Tabelle 3 Kassenmlßlge Steuereinnahmen der Gemeinden und Gemeindeverbände (ln MIU. RM) Rechnungsjahr

Reichssteuerüberweisungen

in v. H. von 1928/29

Gemeindesteuern einschl. Landessteuern

in v. H.

1928/29 1929/30 1930/31 1931/32 1932/33

1 440,4 1 493,9 1 418,4 856,1 649,5

100,0 103,7 98,5 59,4 45,1

2 641,4 2 729,6 2 792,9 2 556,0 2 199,9

100,0 103,3 105,7 96,8 83,3

zuin v. H. sammen von 1928/29

4 081,8 4 223,6 4 211,3 3 435,2 2 867,2

100,0 103,5 103,2 84,2 70,2

Quelle: Die Steuereinnahmen der Gemeinden mit mehr als 10 ooo Einwohnern Im Rechnungsjahr 1933/34, bearbeitet vom Statistischen Reichsamt, in : Gemeinden und Statistik, Beilage zu: Der Gemeindetag, Nr. 22, 1934, S. 75. Die Vergleichszahlen des Rechnungsjahres 1930/31 aus Tabelle 2 und 3 verdeutlichen das Dilemma der Kommunalfinanzen. Die Summe der Reichsüberweisungen (1418,4 Mill. RM) deckt nicht mehr die Kosten für die krisenbedingten Wohlfahrtsleistungen ab. Aus Tabelle 3 wird außerdem ersichtlich, daß bei den Gemeinde- und Realsteuern ver­ gleichsweise geringere Einbrüche erfolgten. Dies erklärt sich durch die Erhöhung der Realsteuern im Jahre 1930 und weitere vereinzelte Erhöhungen, die im Dezember 1931 für diejenigen Gemeinden zu­ gelassen werden mußten, deren Steuersätze unter den Landesdurch­ schnitten lagen. Ferner wurden in mehreren Ländern die Gewerbe­ steuern ausgedehnt und schließlich reichseinheitlich den Gemeinden mit der Bürgersteuer und der erhöhten Bier- und Getränkesteuer neue Ein­ nahmequellen erschlossen'°. Insgesamt verschlechterte sich die Notlage der Gemeinden so sehr, daß im Jahre 1932 keine ordentliche Verwaltungsführung mehr mög­ lich war. Zahlreiche Gemeinden mußten die bei ihnen eingehenden Steuern, also auch die Ablieferungen an den Staat, für eigene Kassen­ zwecke zurückhalten. Sie konnten weder ihre Verpflichtungen aus dem Zinsendienst erfüllen, noch die Beiträge etwa für die Polizeikosten oder ae Ebd., S. 5. 40 RGBl. 1930 I, S. 518.

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die Umlagen für den Provinziallandtag abführen41 • Selbst das soge­ nannte Krisenfünftel war, wie sogar der Reichsfinanzminister zugab, nicht mehr eintreibbarff. Um wenigstens die Barmittel am Zahltag der Wohlfahrtsunterstützungen herbeizubringen, mußten Oberbürgermei­ ster in manchen Städten die Münzen aus den Haushalts-Gaszählern halbwöchentlich einsammeln lassen43 • III. Brünings „Deftations"-Politik und die Gemeinden

Die Finanz- und Wirtschaftspolitik des Reichskanzlers Brüning ließ für die Behebung der kommunalen Nöte wenig Raum. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob Brüning vom Beginn seiner Kanzlerschaft an eine in sich geschlossene politische Konzeption zielbewußt verfolgte, oder ob er, wie man aus Aufzeichnungen des Staatssekretärs Pünder lesen kann, vom März 1931 an aus Ratlosigkeit einen Durchbruchs­ versuch zu einer Gesamtlösung der deutschen Problematik unternahm". An der Spitze seiner Ziele stand bekanntlich die Revision des Versailler Vertrages und die Befreiung Deutschlands von den Reparationsver­ pflichtungen. Diesem Ziel dienten der absolute Vorrang des Haushalts­ ausgleichs, die - kaufkraftmindernde - Senkung der Löhne und Gehälter und der aus Gründen der Stabilhaltung der Währung bedin­ gungslose Verzicht auf Kreditausweitung. Dadurch sollte das deutsche Preisniveau den stark gesunkenen Weltmarktpreisen angepaßt werden, um die Zahlungsbilanz aktiv zu gestalten und die Reparationslasten durch Exportüberschüsse erfüllen zu können. Mit dem Nachweis der

41 0. Ziebilt, Geschichte des Deutschen Städtetages, S. 249 ; exemplarisch für Düsseldorf Walter Först, Robert Lehr als Oberbürgermeister. Düsseldorf 1962, S. 218 ; für die schleswig-holsteinischen Städte H. Chr. Asmussen, Kiel und Neumünster, S. 84 ff. Das preußische Innenministerium reagierte darauf mit einem Erlaß, nach welchem nicht abgelieferte Staatssteuerbeträge durch Einbehaltungen von den Reichssteuerüberweisungen auszugleichen waren. 42 In einer Besprechung mit der preußischen Staatsregierung am 2. März 1931. BA R 43 I/2321. 43 Schreiben des Präsidenten des Deutschen Städtetages an den Reichs­ kanzler vom 1. Nov. 1932. BA R 43 I/2323 ; gedruckt unter dem Titel: Ge­ ordnete Gemeindefinanzen - eine Grundlage des Wirtschaftsaufbaus, in: Der Städtetag 26, S. 521 ff.• bes. S. 523. 44 Zur Datierung des Junktims zwischen Sparpolitik und Reparationsre­ form H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 93. Brilning behauptete später, er sei zu Beginn seiner Kanzlerschaft ohne sachliche Pläne an die Arbeit gegangen; vgl. Memoiren, S. 164. Zu Brünings politischen Zielsetzun­ gen zuletzt in prägnanter Kürze Rudolf MOTsey, Brüning und Adenauer, S. 13 - 18 ; ders., Zur Entstehung, Authentizität und Kritik von Brünings ,,Memoiren 1918 - 1934", S. 33 - 37 ; ferner Ferdinand A. Hermens, Das Kabi­ nett Brüning und die Depression, in : Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, hrsg. von Ferdinand A. Hermens und Theodor Schieder. Berlin 1967, S. 287 ff. ; Werner Conze, Brüning als Reichskanzler, in: HZ 214, 1972, s. 310 ff.

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deutschen Erfüllungsbereitschaft selbst auf Kosten eines verschärften Massenelends sollte dem Ausland die Zahlungsunfähigkeit und die Notwendigkeit einer endgültigen Streichung der Reparationsforderun­ gen demonstriert werden. Der erstrebte politische Erfolg wiederum sollte die politische Krise im Innern bereinigen, was Brüning als Vor­ aussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung (Vertrauen der Wirt­ schaft) ansah. Aus der Sicht der modernen Wachstumstheorie hat in­ dessen die Deflationspolitik (Haushaltsausgleich durch Steuererhöhung und Ausgabendrosselung trotz sinkender Einnahmen) den Konjunktur­ abschwung ebenso verschärft, wie die Inflationsfurcht eine Arbeits­ beschaffung durch deficit spending mittels Geldschöpfung verhinderte45• Zur historisch angemessenen Einschätzung dieser sogenannten Brüningschen Deflationspolitik gehört die Beachtung zweier Probleme, die für den Fortgang der kommunalpolitischen Argumentation zwar nur teilweise erheblich sind, die aber für das Gesamturteil ins Gewicht fallen. Erstens: Brüning, selbst ausgebildeter Nationalökonom, ehemals Steuer- und Finanzexperte der Zentrumsfraktion und offensichtlich in sachkundige volkswirtschaftliche Erörterungen verliebt46, bewegte sich in seinen wirtschaftspolitischen Entscheidungen auf der Linie der zeit­ genössischen nationalökonomischen Lehrmeinungen und auf dem Er­ fahrungshorizont der wirtschaftlichen Sachverständigen und Prak­ tiker47. Indem man eine der Hauptursachen der Krise, daß nämlich nach Beendigung der Investitionen in der Rationalisierungsphase der deutschen Wirtschaft durch Übergang in eine Produktionsphase der Konjunkturverlauf schlagartig in eine „automatische Deflation" 48 um­ schlug, nicht erkannte, fehlten auch die Mittel zur Bekämpfung der Krise und mußte die Deflationspolitik krisenverschärfend wirken. Zweitens - und dies ist der wichtigere Punkt - war die Deflations­ politik angesichts der Herrschaft des Young-Planes über die Währungs­ und Kreditpolitik des Reiches in gewissem Umfang zwangsläufig. So war namentlich im Sommer 1931 nach der Aufgabe des Goldstandards 45 Vgl. Gerhard Kroll, Von der Weltwirtschaftskrise zur Staatskonjunktur. Berlin 1958, S. 361 ff. 46 „Seine Hauptstärke sind offensichtlich wirtschaftspolitische Dinge . . . " H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 51 und generell R. Morsey, Brü"­ nings Kritik an der Reichsfinanzpolitik, S. 359. 47 Ein besonders eindrucksvolles von zahlreichen Beispielen für Brünings Argumentation mit „den Erfahrungen früherer Krisen" in einer Besprechung mit den Gewerkschaften am 13. Mai 1932, BA R 43 1/2045. Vgl. auch G. Kroll, Weltwirtschaftskrise, S. 366. Daß Brüning sich „mit seinen finanzpolitischen Anschauungen wie mit den daraus resultierenden Maßnahmen auf der Höhe der Kenntnisse und Erkenntnisse seiner Zeit" befand, betont besonders Horst Sanmann, Daten und Alternativen der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Ära Brüning, in : Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts­ und Gesellschaftspolitik 10, 1965, S. 119. 48 Hierzu G. Kroll, Weltwirtschaftskrise, S. 302, 316.

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in England eine Abwertung und ein Anhängen der Reichsmark an das Pfund Sterling untersagt49 • Selbst dem klassischen Mittel der Noten­ bank, durch Diskontsatzsenkung einen Beitrag zur Behebung der Krise zu leisten, waren enge Grenzen gesetzt, so lange die deutsche Kredit­ politik der Kontrolle der Bank für internationalen Zahlungsausgleich unterlag60.

Solche Überlegungen der internationalen Wirtschaftsverflechtung und außenpolitischer Art, die bei Brüning Prioriät genossen, lagen den Kommunalpolitikern naturgemäß fern. Für sie war das Reich unter Brüning noch kommunalfremder geworden. Wenn sie mit ihren Sorgen wegen der (in ihren Augen vom Reich verursachten) kommunalen Finanznot an das Reich herantraten, meinten sie auf eine notorische Großstadtfeindschaft zu stoßen111 • Tatsächlich standen die Städte bei den Reichsressorts in keinem guten Ruf. ,,Die allgemeine Einstellung des Herrn Reichskanzlers zur bisherigen deutschen Kommunalpolitik kennen Sie", schrieb Pünder, der selbst eine der wenigen Ausnahmen darstellte, im Herbst 1931 an den Staatssekretär im Reichsfinanz­ ministerium Schäffer, sie sei kaum anders als die des Finanzministers und Schäffers eigene Meinungm. Als im Oktober 1 930 zum wieder­ holten Male eine Delegation des Städtetages, bestehend aus den Ober­ bürgermeistern Adenauer (Köln), Jarres (Duisburg), Landmann (Frank­ furt), Beims (Magdeburg) und Goerdeler (Leipzig), unter Führung Mulerts beim Reichskanzler erschien, wurde sie, wie noch der nüchterne Stil des amtlichen Protokolls erkennen läßt, von Brüning förmlich abgekanzeltall. An eine Zuweisung neuer Mittel oder eine Erhöhung der Umsatzsteuer sei nicht zu denken. Den Gemeinden müsse es über­ lassen bleiben, sich nach dem Vorbild des Reiches durch äußerste Kürzung der Sach- und Personalausgaben in erster Linie selbst zu helfen. Die Oberbürgermeister sollten lieber, ,,statt zu klagen", brei­ teste Schichten über den Ernst der Lage aufklären. Bei anderer Gelegen­ heit ließ der Reichskanzler keinen Zweifel daran, ,,daß die Reichs­ regierung vor rigorosen Maßnahmen zur Verhütung einer ungesunden

,e Vgl. Hans Luther, Vor dem Abgrund 1930 - 1933. Reichsbankpräsident in Krisenzeiten. Berlin 1964, S. 153 ff. Dieser Tatbestand wird in der rein wirt­ schaftspolitischen Betrachtung häufig übersehen, so etwa bei .R. Stucken, Geld- und Kreditpolitik, S. 90. llO H. Luther, Vor dem Abgrund, S. 219 ff., 278. 111 Exemplarisch dafür der Berliner Stadtkämmerer Bruno Asch, vgl. H. Sprenger, Sahm, S. 225 ; ähnlich auch Oberbürgermeister Sahm-Berlin in: Der Städtetag 26, 1932, S. l. Entsprechende Kritik findet sich vor allem auch bei Kommunalpolitikern national-konservativer Prägung, vgl. W. Först, Lehr, S. 210 ; ebenso R. R. Rive, Lebenserinnerungen, S. 383 und passim. H Piinder an Schäffer 7. Okt. 1931, BA R 43 I/2321. Das Schreiben diente dem Zweck, Verständnis für die politischen Folgen von Zahlungseinstellun­ gen deutscher Städte zu wecken. n Aktenvermerk vom l. Okt. 1930, BA R 43 I/2319.

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Ausgabenwirtschaft der Gemeinden nicht zurückschrecken werde. Mit Rücksicht auf die notwendigen Kreditverhandlungen mit dem Ausland sei es unerläßlich, mit derartigen nach außen hin erkennbaren Maß­ nahmen hervorzutreten"54• In Brünings Memoiren findet sich durchgängig, wenn auch meist ver­ halten, Kritik an der kommunalen Finanzpolitik, und es fehlt jedes Wort der Anerkennung für die Leistungen der Gemeinden hinsichtlich der bei der Massenarbeitslosigkeit keineswegs selbstverständlichen Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung. Hingegen empfand er die Erhöhung der Realsteuern in Köln im Dezember 1930, kurz vor Eintritt der Sperrfrist gemäß der Notverordnung vom 1. Dezember 1930, als „offene Verhöhnung der Staatsautorität" 65• Der kommunalpolitische Aspekt blieb dabei außer Betracht. Auch das Lob für den preußischen Innenminister, daß er den Staatskommissaren in den Gemeinden die Instruktion gab, ,,rücksichtslos mit jeder Verschwendung und Korrup­ tion in der Kommunalverwaltung aufzuräumen", enthüllt mehr die Grundhaltung des Kanzlers, als daß es der ephemeren Tätigkeit der Staatskommissare, der meist nur einmaligen Zwangsetatisierung nach Vorschlägen der kommunalen Bürokratie, gerecht würdeli6. Als im Zuge der großen Bankenkrise eine Sanierung der Rheinischen Landesbank, einer Kreditgeberin rheinischer Großstädte, erforderlich war, wurden gleichzeitig Sicherungen eingeschaltet, die „die bisherige Mißwirtschaft" bei einigen Großstädten abstellen sollten67 • Konrad Adenauer konnte nur nachträglich in einer Presseerklärung richtigstellen, daß die Illiquidität der Landesbank keineswegs durch Kredite an Städte, ins­ besondere Köln, eingetreten war68. Die kritische Haltung gegenüber den Städten blieb keineswegs auf den Reichskanzler beschränkt, was um so merkwürdiger ist, da doch mit Reichsfinanzminister Dietrich und Reichsbankpräsident Luther zwei ehemalige Kommunalpolitiker in Spitzenstellungen des Reiches M Aktenvermerk vom 10. Aug. 1931, BA R 43 I/2325. 15 H. Brüning, Memoiren, S. 214. Nach der Notverordnung sollten ab 1. April 1931 keine Erhöhung gegenüber den bis 31. Dez. 1930 rechtswirksam gewor­ denen Steuersätzen mehr zugelassen sein. RGBI. 1930/I, S. 582. H H. Brüning, Memoiren, S. 208. Ober das Problem der Staatskommissare vgl. Wolfgang Haus, Staatskommissare und Selbstverwaltung 1930 - 1933, in : Der Städtetag N. F. 9, 1956, S. 96 ff. Am Beispiel Frankfurts : D. Rebentisch, Landmann, S. 265 f. Ferner W. Först, Lehr, S. 211 ff und H. Chr. Asmussen, Kiel und Neumünster, S. 38, 95 ; es kam auch vor, daß eine Gemeinde ange­ sichts der ausweglosen Finanzlage selbst um einen Staatskommissar bat. Wolfgang Zorn, Augsburg. Augsburg 1955, S. 261. 111 H. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 156. as Rudolf Morsey, Vom Kommunalpolitiker zum Kanzler, in: Konrad Adenauer. Ziele und Wege, hrsg. von der Konrad Adenauer-Stiftung. Mainz 1972, s. 70 f.

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gelangt waren. Luther meinte, die Städte hätten sich allzu lange an einem falschen Weltbild orientiert, man solle ruhig einige von ihnen in Konkurs gehen lassen; das werde sehr heilsam wirken und das Gefühl stärken, daß man sich nicht auf Reichshilfe verlassen dürfe59 • Dietrich übte durch selektive Gewährung von Reichshilfe eine strenge Kontrolle der kommunalen Wirtschaftsführung aus und errichtete damit in praxi neben der Kommunalaufsicht der Länder eine Art zweite Instanz. Wie ein Teil der Großstädte glaube, ,,Politik machen zu müssen", schrieb er an den Städtetag, könne selbst ihm als Anhänger der Selbstverwaltung wegen der permanenten Forderungen nach Reichshilfe für die selbstverschuldeten finanziellen Schwierigkeiten keine Achtung abnötigen60 •

Nachdem Dietrich einen Kontakt mit den kommunalen Spitzenver­ bänden für unerwünscht erklärte und sie stattdessen an die Länder verwies, mußte ihn Pünder im April 1932 förmlich drängen, einige führende Kommunalpolitiker persönlich zu empfangen61 • Mulert kam später zu dem Urteil, Dietrich habe „mit vollem Bewußtsein die Inter­ essen der Gemeinden gegenüber allen anderen Interessen zurück­ gestellt"62. Diese für einen ehemaligen Kommunalpolitiker erstaunliche Haltung ist wohl nicht allein aus fiskalisch engem Ressortdenken zu erklären, sondern als Ausdruck der in der Weimarer Republik sehr häufigen plebiszitär-demokratischen Verwechslung von zentralstaat­ licher und gesamtstaatlicher Politik63 • Man übersah leicht, daß auch die kommunalen Etats in ihrer Summe einen Teil des Reichsganzen dar­ stellten und hinter dem Vorrang beanspruchenden Reichshaushalt nicht ohne Schaden für den ganzen öffentlichen Organismus zurücktreten durften.

In bezug auf den Regierungsstil des Kabinetts Brüning war es zweifellos von Nachteil, daß die Vertretung der kommunalen Belange in der Form der Verbandspolitik erfolgte. Die kommunalen Spitzen­ verbände schlossen sich zwar angesichts gemeinsamer Anliegen in der Wirtschaftskrise zu einer kommunalen Arbeitsgemeinschaft, anfangs unter Führung des Städtetages, zusammen; indem sie aber in Kon­ kurrenz zu den anderen Interessengruppen traten, verloren sie allein schon durch die gegenläufigen Tendenzen der Privatwirtschaft mit der

119 In einer Besprechung über Gemeindefinanzen am 15. Dez. 1930, BA R 2/4057. 60 A. v. Saldern, Dietrich, S. 153 ff. 61 Aufzeichnung Pünders und Schreiben an Dietrich vom 4. April 1932, BA R 43 I/2323. 62 W. Hofmann, Städtetag und Verfassungsordnung, S. 120. 63 Mit diesem Problem hat sich eingehend Wolfgang Hofmann ausein­ andergesetzt : Plebiszitäre Demokratie und kommunale Selbstverwaltung, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 4, 1965, S. 264 ff.

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wiederholt energisch vorgetragenen Forderung nach straffer Reichs­ aufsicht über die Gemeinden64 viel von ihrer Wirkung. Insgesamt hat Brüning Delegationen des Deutschen Städtetages kaum weniger häufig empfangen65 als die Interessenverbände der Privatwirtschaft und die Gewerkschaften, wobei er, nach dem Eindruck: Pünders66, 1930 noch davon ausging, daß der Städtetag ein sachlich eingestelltes Gremium sei, das den Nöten der Wirtschaft besonders nahestehe und in seiner politischen Zusammensetzung die Kraft verkörpere, auf die sich „jede Reichsregierung in der nächsten Zeit stützen" müsse. Das dringende Begehren der Gemeinden, möglichst früh, und das hieß gleichzeitig mit den Ländern, in die Reichsgesetzgebung einbezogen zu werden, beschied Brüning unter Hinweis auf die verfassungsmäßigen Rechte des Reichs­ rats (Art. 67) und Geheimhaltungsvorschriften hingegen abschlägi�. Erörterungen mit den Interessenverbänden behielten den Charakter fast informeller Gespräche. Das Kabinett liebte es, um seine Unab­ hängigkeit zu dokumentieren, im Anschluß an derartige Kontakte unpopuläre Entscheidungen zu fällen, wie überhaupt der „Mut zur Unpopularität" an der Reichsspitze als Tugend empfunden wurde68 • Interessenpolitischer Einfluß auf das Kabinett ist allein im Falle des Agrarprotektionismus zu erkennen, obgleich auch hier das Verhältnis zu den Bauernverbänden frostig war39. Mit dem ehemaligen Präsiden­ ten des Reichslandbundes Schiele hatten die Großagrarier einen ener­ gischen Lobbyisten im ersten Kabinett Brüning, und die Agrarpolitik genoß gemäß der von Brüning beim Antritt seines Amtes eingegange­ nen Verpflichtung sowie auf Grund seiner von Hindenburg abhängigen verfassungspolitischen Stellung einen gewissen Vorrang.

84 Die Länder hätten nämlich als Aufsichtsbehörden vollkommen versagt, da sie selbst wie die Gemeinden weitgehend „der Politisierung und Prole­ tarisierung" verfallen seien. So J. Schilling, Direktor der Vereinigten Stahl­ werke, am 2. Okt. 1930 an Brüning, BA R 43 I/2319. Ähnlich eine Erklärung des Reichsverbandes der deutschen Industrie vom 4. Mai 1931, R 43 I/1138, und eine Äußerung Paul Silverbergs in einer Besprechung mit dem Kabinett am 3. Aug. 1931, R 43 I/1451. 65 Bislang können Unterredungen am 1. Okt. 1930, 3. Juli, 14. Juli, 10. Aug., 10. Sept. und 11. Sept. 1931 nachgewiesen werden. BA R 43 I/2019, 2321, 2325. 88 Vermerk Piinders vom 18. Sept. 1930, BA R 43 I/2324. 87 Am 30. Jan. 1931 und am 10. Aug. 1931, BA R 43 I/2325. In der Reichs­ kanzlei legte man viel mehr Wert „auf gute Stimmung der Länder", Auf­ zeichnung Piinders vom 18. Nov. 1930, bei H. Piinder, Politik in der Reichs­ kanzlei, S. 71. 88 Charakteristisch H. Luther, Vor dem Abgrund, S. 116; hinsichtlich Stegerwalds „Mut zur Unpopularität" und zur Kritik am Stil der Kabinetts­ politik Helmut J. Schorr, Adam Stegerwald. Recklinghausen 1966, S. 165, 235. 611 Vgl. Tilman P. Koops, Zielkonflikte der Agrar- und Wirtschaftspolitik in der Ära Brüning, in : Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik, hrsg. von Hans Mommsen u. a. Düsseldorf 1974, S. 852 ff. Siehe auch H. Piinder, Politik in der Reichskanzlei, S. 73.

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Im Verhältnis der Städte zur Regierung Brüning, soweit es den Städtetag betrüft, lassen sich deutlich drei Etappen unterscheiden. Der mit dem Regierungswechsel sichtbar gewordene verfassungs­ politische Wandel stieß auf kritische Distanz. Als im Laufe des Jahres die wachsenden Zahlen der Erwerbslosen immer stärker auf die kom­ munalen Finanzen drückten und das Reich den akuten Notstand nur „durch Behelfsmaßnahmen" zu überbrücken suchte, ohne an eine „organische Belebung des Arbeitsmarktes" zu denken, verschlechterten sich die Beziehungen zusehends. Die kommunale Kritik entzündete sich insbesondere daran, daß die drei großen Notverordnungen des Jahres den Gemeinden keine zureichende Entlastung gewährten, sondern ihnen stattdessen die in ihrer Ergiebigkeit angezweüelte Bürgersteuer aufnötigte, die zudem noch aus allgemeinpolitischen Gründen wie wegen ihres konjunkturdämpfenden Effekts in Kreisen des Städte­ tages abgelehnt wurde. Gravamina waren weiterhin die fehlende Kon­ sultation der Städte bei der Gesetzgebung und ihre ausschließliche Behandlung als bloße „Objekte der Gesetzgebung" 70 • Um einen eigen­ ständigen Beitrag zur Bewältigung der Fürsorgekosten zu leisten, legte der Städtetag im Februar 1931 einen Gesetzentwurf über eine Neu­ regelung der Arbeitslosenversicherung vor, nach welchem Arbeits­ losenversicherung und Krisenfürsorge zusammengelegt, das unzweck­ mäßige, zu Doppelbearbeitung führende Nebeneinander von staatlichen Arbeits- und kommunalen Wohlfahrtsämtern aufgehoben und eine Bedürftigkeitsprüfung eingeführt werden sollte71 • Der Deckungsvor­ schlag sah eine Beteiligung des Reiches zu 50 °/o und der Länder und Gemeinden zu je 25 0/o vor. Trotz der vorsichtig geschätzten Aussicht, etwa 450 Mill. RM Defizite auf das am 1. April 1931 beginnende neue Rechnungsjahr übernehmen zu müssen, besserte sich vom Frühjahr 1931 an das Verhältnis zwischen den Kommunen und der Regierung Brüning sichtlich, vor allem weil die Städte auf den Boden des Brüningschen Sparprogramms traten. Die schon im Vorjahr eingeleiteten „drakonischen Sparmaßnahmen" und Rationalisierungen der Gemeindeverwaltungen begannen sich auszu­ wirken, die Ausgabensenkungen ebenso wie die Kürzungen der Per­ sonalkosten. Das Finanz- und Wirtschaftsprogramm des Städtetages erklärte den „Abbau auf allen Gebieten" zur Parole und empfahl Aus­ gabendrosselung und Haushaltsausgleich als im Augenblick einzig wirksame Krisentherapie72 • Das Sanierungsprogramm des Städtetages 10 Oskar Mulert, Die Sorgen der Städte, in: Der Städtetag 24, 1930, S. 269 ff. (5. Juli 1930) ; ders., Reichsnot - Gemeindenot, ebd., S. 377 ff. (6. Aug. 1930). Ganz ähnlich die Kritik Lehrs im Verwaltungsbericht für 1930, W. Först, Lehr, S. 210. 11 Schreiben Mulerts an Brüning vom 14. Febr. 1931, BA R 43 V2039.

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stand ohne Frage unter dem Eindruck der Bankenzusammenbrüche und der großen Schwierigkeiten des Reiches im Sommer 1931. Brüning nahm diese Wendung, die Selbsthilfe der Gemeinden „aus eigener Kraft" verhieß, sichtlich mit Befriedigung zur Kenntnis71• Den Höhe­ punkt dieser relativen Besserung des Verhältnisses stellte es dar, daß der Engere Vorstand des Städtetages, als Mitte des Jahres die Regie­ rung einmal gefährdet schien, bei den Reichstagsfraktionen von SPD und DVP zugunsten des Kabinetts intervenierte74 • Die Stimmung schlug rasch wieder um. Die Notverordnung vom 5. August 1931 untersagte den Sparkassen und kommunalen Kredit­ instituten jeglichen Kreditverkehr mit den Gemeinden75• Daß es die Regierung in dieser existentiellen Frage der Selbstverwaltung wieder nicht für nötig befunden hatte, sich wegen Umfang und Folgen der Maßnahmen mit den Städten in Verbindung zu setzen, erregte beson­ ders den Unmut. Die Reichsbank hatte ihre Unterstützungsaktion für die Deutsche Girozentrale davon abhängig gemacht, daß den Gemein­ den von diesen Mitteln keine Kredite gewährt wurden. Dazu bedurfte es jedoch, wie es in einem Protestschreiben Mulerts an Brüning hieß, „nicht einer als Fanfare gegen die Gemeinden wirkenden besonderen Notverordnung". Das Verbot ordnungsmäßiger Kassenkredite durch diejenigen Institute, die, von den Gemeinden gegründet, bestimmungs­ mäßig ihre Kassen- und Bankeinrichtungen waren, schien Mulert „völlig sinnwidrig" und als Herbeiführung einer Desorganisation „völlig unfaßlich" 76• Angesichts der dürftig fließenden Steuereinnahmen war damit den Gemeinden kurzfristig die letzte Möglichkeit genommen, sich aus akuter Bedrängnis zu retten, zumal zur Monatsmitte laufende Zahlungen fällig wurden. Unter langfristiger Perspektive war damit zugleich einer kommunalen Umschuldungsaktion, wie sie, angeregt von der Deutschen Bank, Konrad Adenauer schon im Herbst 1929 in die Wege geleitet hatte, ein Riegel vorgeschoben77• Jetzt mehrte sich massive Kritik in kommunalpolitischen Kreisen. „Der Mangel der Notverordnung an großen Reformideen" sei es, schrieb 72

Das Finanz- und Wirtschaftsprogramm, in: Der Städtetag 25, 1931,

s. 401 ff.

73 In der Besprechung mit Mulert, Sahm-Berlin, Heimerich-Mannhelm und Scharnagl-München am 10. Aug. 1931, BA R 43 I/2325. 74 W. Hofmann, Städtetag und Verfassungsordnung, S. 119. 75 In § 3, RGBl. 1931/I, S. 429 ; vgl. auch Karl Erich Bom, Die deutsche Bankenkrise 1931. München 1967, S. 133 f. 76 Mulert an Brüning am 6. Aug. 1931, BA R 43 I/2321. Vgl. ferner die Kritik von national-konservativer Seite bei H. Sprenger, Sahm, S. 226. 11 Der Plan sah vor, den jährlichen Kapitalzuwachs der deutschen Spar­ kassen in Höhe von 2,5 Mrd. RM zur Konsolidierung der 1,8 Mrd. RM Schul­ den der Städte zu verwenden. Aufzeichnung Pünders vom 1. Nov. 1929, BA R 43 I/2319. 9 Speyer 66

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Mulert im „Städtetag", der das Vertrauen in den endgültigen Erfolg der Maßnahmen und damit die innere Zustimmung der Bevölkerung, diese schweren Opfer auf sich zu nehmen, am meisten erschwere. Ein „bloßes Durchhalten" genüge in der gegenwärtigen Situation nicht mehr, da die „Politik der Abstriche" überall die Grenze erreicht habe, deren Überschreiten das öffentliche Wohl und die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung gefährde78 • Wenig später veröffentlichte der „Städtetag", als eindeutig generelle Absage an die Politik der Not­ verordnungen, ein Gutachten über die Anwendung des Art. 48 und die verfassungswidrigen Einschränkungen der kommunalen Selbstver­ waltung79.

Im Frühjahr 1932 kam Mulert energisch auf die Neuregelung der Arbeitslosenversicherung zurück und führte durch detaillierte Berech­ nungen den Nach weis, wie sich bei der Befolgung der kommunalen Vorschläge 700 Mill. RM einsparen ließen. Das verbleibende Gesamt­ defizit in Höhe von 1,84 Mrd. RM sollte durch Erhöhung der beitrags­ pflichtigen Einkommensgrenze und durch ein allgemeines Notopfer gedeckt werden80 • Das unveränderte Zuwarten des Kabinetts auf das Erreichen des Tiefpunktes der Krise stieß jetzt bei den Kommunal­ politikern nur noch auf Unverständnis. Daß die Umschuldung um keinen Schritt vorankam und die Zahl der Erwerbslosen „von Tag zu Tag, von Woche zu Woche" anschwoll, ,,ohne daß irgend etwas Ent­ scheidendes geschieht", rückte nach Mulerts Auffassung „die Gefahr einer Auflösung jeder staatlichen Ordnung in der untersten Instanz in unmittelbare Nähe" 81 • Konkret beliefen sich die Forderungen der Städte jetzt auf sieben Punkte: 1. Einführung einer einheitlichen Reichsarbeitslosenfürsorge, 2. Fortgewährung der bisherigen Reichs­ beihilfe zu den Wohlfahrtslasten der Gemeinden, 3. Abstoppen der Neuzugänge zur Wohlfahrtserwerbslosenfürsorge aus der Krisenfür­ sorge, 4. Umschuldung der kurzfristigen Kommunalschulden, 5. Ein­ führung eines reichsgesetzlichen Klage-, Vollstreckungs- und Konkurs­ schutzes für die Gemeinden, 6. Moratorium für die mittel- und lang­ fristigen Schulden und 7. Unterstützung der Gemeinden durch das Reich beim Finanzausgleich der Länder. Ohne eine derartige Sanierung der Kommunalfinanzen, mahnte der ehemalige Reichsinnenminister Oberbürgermeister Jarres (Duisburg) den Kanzler, bleibe die Ordnung der Reichs- und Staatsfinanzen bedeu-

Notverordnung und Städte, in : Der Städtetag 25, 1931, S. 227 ff. v. Bremen, Die Anwendung des Artikels 48, ebd. , S. 476 ff. Vgl. außer­ dem W. Hofmann, Städtetag und Verfassungsordnung, S. 121. so Mulert an Brüning am 30. April 1932, BA R 43 I/2043. s1 Mulert an Dietrich am 18. April 1932, BA R 43 I/2323 ; das Schreiben ist unter dem Titel : ,,Läßt das Reich die Gemeinden im Stich?" gedruckt in: Der Städtetag 26, 1932, S. 221 ff. 1s 79

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tungslos8'!. Angesichts der drohenden Zahlungseinstellungen einer Reihe von Städten, die aber nur Ausdruck genereller Gemeindefinanznot waren, entschloß sich das Kabinett nur im Sinne der Behebung vorüber­ gehender „finanzieller Stockungen" 83 zu einer selektiven Reichshilfe. Dabei wurden einerseits Städte wie das hart an der polnischen Grenze gelegene, vom Volkstumskampf besonders betroffene Schneidemühl bevorzugt bedacht, andererseits solche Städte, wie Duisburg und Essen, die durch Betriebsstillegungen großer Konzerne in Mitleidenschaft geraten waren und bei der Inangriffnahme neuer Aufgaben „ein hohes Maß an staatspolitischem Verantwortungsbewußtsein" gezeigt hatten84 •

Erstmals erhielten die Gemeinden nun auch von Länderseite her geschlossene und massive Unterstützung. Die bayerische Staatsregie­ rung übte scharfe Kritik an dem System der Erwerbslosenversicherung und an der unhaltbaren Lastenverschiebung zuungunsten der Gemein­ den und forderte die Rückkehr zu den Grundsätzen eines geordneten Finanzausgleichs und die sofortige Durchführung eines Arbeitsbeschaf­ fungsprogramms86. Weitere Länder, voran Baden, Braunschweig, Mecklenburg und Lippe, schlossen sich diesem Antrag in rascher Folge an. Preußen, das schon im Vorjahr wiederholt vor der Gefahr von Hungerrevolten gewarnt und unablässig zu einer grundlegenden Sanierung der Gemeindefinanzen gedrängt hatte88, trat den Vor­ schlägen des Städtetages zur Neuregelung der Arbeitslosenfürsorge bei und forderte, die bisher in der Arbeitslosenfürsorge völlig un­ produktiv aufgewandten Beträge in einer von der öffentlichen Hand finanzierten Arbeitsbeschaffung einzusetzen87• Die Regierung Brüning geriet im April und Mai 1932 von der Kom­ munalpolitik her und über das vielleicht bisher zu gering geachtete Problem der Gemeindefinanzen unter starken Druck, der zwar nicht von ausschlaggebender Bedeutung für den Sturz des Kanzlers war,

sz Jarres an Brüning 22. April 1932, BA R 43 I/2323. Für Karl Jarres liegt bisher nur eine Teilbiographie vor : Paul Dünnebacke, Karl Jarres im Kaiser­ reich und in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Phil. Diss. Münster 1974 (MS). 83 So schon eine Formulierung Brünings in einer Ministerbesprechung vom 17. Aug. 1931, BA R 43 I/2321. 84 Alle Vorgänge zwischen 15. März und Ende April 1932 in BA R 43 I/2323. 86 Schreiben des bayerischen Ministerpräsidenten Held an den Reichskanz­ ler vom 31. März 1932, BA R 43 I/2323. 86 Gemeinsame Sitzungen von preußischem Staatsministerium und Reichs­ kabinett am 27. Febr., 2. März, 17. März, 17. Aug. und 11. Sept. 1931, BA R 43 I/2321. 87 Braun an Brüning am 30. April 1932, BA R 43 I/2043 ; vorausgegangen war eine Sitzung des preußischen Staatsministeriums am 29. April 1932, in der das Kabinett betonte, daß es in der Arbeitslosenfrage „das Zentral­ problem unserer gesamten inneren Politik" erblickte. Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep 20A/40.

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dessen psychologische Wirkung aber nicht übersehen werden sollte. Pünder registrierte, ,,daß sich die deutsche Presse gerade auch in den publizistischen Organen, die bisher für die Kommunen wenig Interesse und Verständnis aufbrachten, weit mehr als früher mit den Notrufen der Städte befaßte". Der Reichsregierung werde der Vorwurf gemacht, ,,daß sie nicht nur kein Verständnis für die kommunalen Dinge habe, sondern darüber hinaus bewußt auf den Ruin der deutschen kommu­ nalen Selbstverwaltung hinsteure". Dieser Unmut finde sich nicht allein in oppositionellen Kreisen, sondern auch bei Oberbürgermeistern ,,einer ruhigen, verständigen mittleren Linie". Ein solches außerordent­ liches Maß von Bitterkeit habe sich ihrer bemächtigt, daß man selbst von Oberbürgermeistern aus den Reihen der Staatspartei hören könne, ,,daß ein baldiger Sturz der Reichsregierung in keiner Weise unzweck­ mäßig sei" 88• IV. Kommunalpolitik und Krise des Arbeitsmarktes

Die überwiegend kritische Haltung der Städte und Gemeinden zur Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ära Brüning legt es nahe zu unter­ suchen, ob die Kommunalpolitik vor Ort bedingungslos den Richtlinien des Reiches folgte oder eigenständige und abweichende Vorstellungen entwickelte und wenigstens in Ansätzen realisierte. Dies lenkt den Blick auf die konkreten konjunkturellen Maßnahmen, mit denen die Gemeinden den Arbeitsmarkt zu beleben suchten und auf den wirt­ schaftspolitischen Spielraum, der ihnen unterhalb der Reichs- und Staatsdirektiven verblieb. Solche Fragen hat schon vor längerem Fritz Blaich einmal gestellt und am Beispiel der Stadt Ludwigshafen beant­ wortet89. Inzwischen sind die Ergebnisse stadtgeschichtlicher Forschung ein wenig dichter, wenn auch noch längst nicht dicht genug geworden, so daß das Risiko einer generalisierenden Zwischenbilanz gewagt wer­ den kann.

Die zwischen schrumpfenden Einnahmen und wachsenden Wohl­ fahrtslasten immer weiter klaffende Schere zwang die Kommunen frühzeitig, ihre Aufgaben zu beschneiden. Der wirtschaftstheoretisch kaum hinterfragte haus-väterliche Grundsatz, Notzeiten durch Ein­ schränkungen zu beantworten, erleichterte anfangs in den Stadtver­ tretungen die Rezeption der Brüningschen Sparpolitik. Sparmaßnah­ men der Kommunen hatten indes schon früher eingesetzt, längst vor Vermerk Pünders vom 4. April 1932, BA R 43 I/2323. se Möglichkeiten und Grenzen kommunaler Wirtschaftspolitik während der Weltwirtschaftskrise 1929 - 1932, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 9, 1970, s. 92 ff. 88

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Beginn der eigentlichen Krise. In München hatte sich im Sommer 1929 die Auffassung durchgesetzt, daß infolge der beschränkten Einnahme­ quellen zur Vermeidung übergroßer Verschuldung Einsparungen auf dem kulturellen Sektor, der in der Fremdenverkehrsstadt konjunktu­ relle Bedeutung besaß, und im Bereich der Sozialpflege von Nöten seien00• Die Äußerung des Düsseldorfer Oberbürgermeisters Robert Lehr auf der Hauptversammlung des Preußischen Städtetages im September 1930, daß „jetzt äußerste Sparsamkeit schonungslos gefor­ dert" werden müsse, war keine bloß politisch-taktische Wendung ; sie hatte in den Gemeinden ihre - allerdings von der zeitgenössischen Polemik gegen die kommunale Ausgabenpolitik überlagerte - volle Entsprechung. Das Düsseldorfer Stadtparlament bildete im Herbst 1930 ebenso wie die Münchener Stadtväter im folgenden Jahr einen gesonderten Sparausschuß91 •

Andere Städte wie Frankfurt oder Ludwigshafen beauftragten zur Ausweitung ihrer Sparmaßnahmen einen Wirtschaftsprüfer zwecks Erstellung eines Gutachtens über die Neuorganisation der gesamten Stadtverwaltung und über Vorschläge von Ersparnismaßnahmen92• Wieder andere, voran Stuttgart, Mannheim und Halle, schlossen mit dem Reichssparkommissar einen Vertrag über die Prüfung der Ver­ waltung mit dem Ziel, verstärkte Spar- und Rationalisierungsmaß­ nahmen durchzuführen. Diese Gutachten kamen übrigens zu dem Er­ gebnis, daß die städtische Verwaltung „im ganzen als vorbildlich" bezeichnet werden mußte und daß „nirgends erhebliche Unzweck­ mäßigkeiten oder gar Aufblähungen" zu erkennen waren93•

Bezeichnenderweise gründete auch der Städtetag schon 1930 eine „Wirtschaftsberatung Deutscher Städte AG", eine Koordinierungsstelle des kommunalen Prüfungswesens, um die öffentlichen Einrichtungen und Betriebe auf ihre Wirtschaftlichkeit hin durchzuforsten94 • Von Köln, das besonders im Kreuzfeuer städtefeindlicher Angriffe stand, verdient hervorgehoben zu werden, daß zahlreiche Anweisungen Adenauers die Ausgaben drastisch reduzierten und alle „Vergebungen und Verdingungen städtischer Aufträge jedweder Art" ausdrücklich an die vorherige Zustimmung des Finanzdezernenten gebunden wur­ den. Der Kölner Regierungspräsident bestätigte schon im Mai 1930,

to P. Steinborn, Grundlagen und Grundzüge, S. 464 ff. W. Först, Lehr, S. 217; P. Steinborn, Grundlagen und Grundzüge, S. 522. &1 F. Blaich, Möglichkeiten und Grenzen, S. 95. 93 Die Zitate nach : Gutachten des Reichskommissars über die Verwaltung der Stadt Halle. Halle 1934, Vorwort S. IV; über Mannheim, das das Gutachten im Oktober 1930 in Auftrag gegeben hatte, vgl. Hermann Heime,ich, Der Reichssparkommissar über die Stadtverwaltung Mannheim - Entstehung und Bedeutung des Gutachtens, ln: Der Städtetag 27, 1933, S. 55 ff. H 0. ZiebiU, Geschichte des Deutschen Städtetages, S. 297 ff. 91

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daß nach erneuter Prüfung der Finanzlage der Stadt Köln kein Anlaß zum Einschreiten bestünde96•

Der Umfang der Einsparungen war beträchtlich. In Düsseldorf gelang es, die Ausgaben von 1930 - 1932 generell um 17 0/o zu senken. Auf einzelnen Verwaltungsgebieten traten noch radikalere Kürzungen ein96 : im Ressort „Allgemeine und Polizeiverwaltung" um 32 0/o, bei den Kulturausgaben ebenfalls um 32 0/o, bei den Volksschulen allein um 46 0/o. Dieser Befund läßt sich verallgemeinern. Gerade auf dem Schul­ sektor konnten die Ausgaben durch Abbau von Junglehrern und Studienassessoren, durch Erhöhung der Pflichtstundenzahl und der Klassenfrequenzen sowie durch Sperrung aller Sachmittel erheblich zusammengestrichen werden. Frankfurt erwirtschaftete auf dem Schul­ sektor 1931 ganze 2,6 Millionen RM gegenüber dem Etatansatz des Vorjahres97 • Als lineare Kürzung des gesamten Haushaltes setzte man hier im Jahre 1932 volle 20 0/o an98 • Da ein hoher Anteil der städtischen Etats zwangsläufige Ausgaben auf Grund gesetzlicher Verpflichtungen darstellte, schrumpfte die kommunale Haushaltsautonomie weiter. Die Sparpolitik reduzierte die Selbstverwaltung auf eine bloße Exekutive des Staatswillens, ohne daß es zusätzlicher Eingriffe in das kommunale Verfassungsgebäude bedurfte. Hier hat der zeitgenössische Begriff der ,,Spardiktatur" Brünings seinen eigentlichen realen Gehalt.

Hart betroffen von Sparaktionen war vor allem der Personalbereich. Zu den durch die Brüningschen Notverordnungen reichsgesetzlich vor­ geschriebenen Senkungen der Beamtengehälter und Löhne kamen freiwillige Reduzierungen der Gemeinden hinzu: insbesondere Ein­ stellungs- und Beförderungssperren sowie die Aufhebung aller zusätz­ lichen sozialen Leistungen der Kommunen. In Duisburg schrumpfte der Besoldungshaushalt von 1930 bis 1932 um 23,5 0/o, die Lohnaus­ gaben der städtischen Werke um 12,4 0/o. Die Zahl aller Beamtenstellen verminderte sich um 7,5 O/o99 • Die kommunalen Arbeitgeber sahen sich vor allem bei den Verkehrsbetrieben durch den Rückgang der Aus­ lastung genötigt, größere Entlassungen auszusprechen. Die Belegschaft der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) wurde von 1929 bis 1932 um rund ein Viertel vermindert100 • Anderswo beschlossen die städtischen es Vgl. dazu die Belege bei F.-W. Henning, Finanzpolitische Vorstellungen, S. 138, 147. 98 W. Först, Lehr, S. 217 ff. 97 Bericht über die Verhandlungen der Stadtverordnetenversammlung zu Frankfurt am Main 1931, S. 176; zu Sparaktionen auf dem Schulsektor in Hannover : Uwe Dempwotff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover 1923 - 1933. Hannover-Linden 1970, S. 261, und in Berlin: H. Sprenger, Sahm, S. 225. 98 D. Rebentisch, Landmann, S. 281. 99 Errechnet' nach Angaben von Oberbürgermeister Jarres in einem Schrei­ ben an Brüning . vom 22. April 1932, BA R 43 I/2323.

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Gremien, die tägliche Arbeitszeit des Straßenbahnpersonals zu kürzen. Vielfach behalf man sich mit dem „Krümpersystem", wobei jeweils ein Teil der Belegschaft für gewisse Zeit, aber nicht für Dauer, ausscheiden mußte. Eine Variante dieses Systems wurde in Hagen schon 1930 praktiziert: Die Hagener Straßenbahn tauschte ihre Hilfsarbeiter in Schichten von fünf Wochen gegen Wohlfahrtserwerbslose aus101 . Insgesamt führte die Drosselung auf dem Personalsektor zu einer fühlbaren Minderung der unteren Einkommen und mithin zu einer Schrumpfung der Massenkaufkraft, die ihrerseits krisenverschärfend wirkte. Eine progressive Staffelung der Gehaltskürzungen, im speziel­ len die Beschneidung der Spitzengehälter, die im politischen Tages­ kampf der Zeit populär war, fällt demgegenüber nicht ins Gewicht. Am Beispiel Kölns ist ausgerechnet worden, daß sich die Bezüge der Ober­ bürgermeister und Beigeordneten auf 0,16 °/o des Haushalts beliefen, während der Anteil der Besoldungskosten insgesamt etwa 15 °/o be­ trug102. Daß die Gemeinden in der Regel dauernde Entlassungen von Arbeitskräften aus ihren Diensten und aufs ganze gesehen auch aus den öffentlichen Betrieben vermeiden konnten, verhinderte mindestens eine weitere Belastung des Arbeitsmarktes, wenn es nicht schon „die erste, sozusagen die normale Form der öffentlichen Arbeitsbeschaffung" war1oa .

Auf steuerpolitischem Gebiet war den Gemeinden der zu beschrei­ tende Weg durch die Reichs- und Landesgesetzgebung, insbesondere durch die Notverordnungen vom 26. Juli 1930 und vom 1 . Dezember 1930 von Anbeginn fast vollständig vorgezeichnet. Die im Juli 1930 zunächst zur freiwilligen Entschließung der Gemeinden eingeführte Bürgersteuer war vom Deutschen Städtetag wegen ihrer sozialen Unge­ rechtigkeit schon in einem frühen Stadium der Diskussion abgelehnt worden104. In den Gemeindevertretungen stieß sie auf den entschiede­ nen Widerspruch der SPD und im allgemeinen auch des Zentrums und der DDP, während DVP und Wirtschaftspartei unter dem Druck der

100 Otto Bilsch, Geschichte der Berliner Kommunalwirtschaft in der Wei­ marer Epoche. Berlin 1960, S. 160. 1 01 Rede des Oberbürgermeisters Raabe am 19. Sept. 1930 in der Stadtver­ ordnetenversammlung; hier zitiert nach einem Abdruck aus den Akten der Reichskanzlei, BA R 43 I/1138. 102 Gegen F. Blaich, Möglichkeiten und Grenzen, S. 100 ist auf F.-W. Hen­ ning, Finanzpolitische Vorstellungen, S. 146 zu verweisen. Ober die Ober­ bürgermeistergehälter vgl. Rudolf Morsey, Vergleichende übersieht über die Gehälter der Oberbürgermeister 1914 - 1930, in: Die Verwaltung 6, 1973, s. 90 ff. 1 0a Karl Maria Hettlage, Der Einfluß öffentlicher Arbeitsbeschaffungs­ maßnahmen auf den Gemeindehaushalt, in: Jahrbuch für Kommunalwissen­ schaft 2, 1935, S. 116. 104 Oskar Mulert, Verantwortung, in: .Der Städtetag 24, 1930, S. 4.

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gewerblichen Interessenverbände sie als Ersatz für die sonst erforder­ liche weitere, die Gewerbetreibenden belastende Steuererhöhung akzeptierten. In manchen Orten spielte namentlich bei der DVP auch die ideologisch motivierte Vorstellung eine Rolle, daß die Bürger­ steuer von grundsätzlicher Bedeutung für das Verantwortungsgefühl der Bürger und als wünschenswerte Notbelastung der Gesamtbevölke.­ rung anzusehen sei1°6• Bei den Debatten in den Kommunalparlamenten stießen die politischen Gegensätze so hart aufeinander, daß schließlich wegen der Abneigung gegen diese unpopuläre Maßnahme fast durch­ gängig die Einführung der Bürgersteuer von den Mehrheiten entweder abgelehnt oder bis zu einer sozial gerechteren, das heißt mit deutlicher Einkommensprogression versehenen Fassung zurückgestellt wurde. Dabei fanden sich die Gremien insoweit in einem Dilemma, als zu befürchten war, daß die Zuweisungen des Reiches und der Länder ver­ siegen würden, wenn die Gemeinden die lange geforderten neuen Ein­ nahmequellen nicht ausschöpften108•

Da der Ausgleich der kommunalen Haushalte in aller Regel ohne Rückgriff auf die Bürgersteuer nicht möglich war, die Stadtvertre­ tungen hinsichtlich der selbstverantwortlichen Entschließung sich aber überfordert fühlten, wurde die Bürgersteuer in der Praxis überwiegend im Zuge der Zwangsetatisierung durch einen Staatskommissar ein­ geführt. In Frankfurt, wo zum Etatausgleich ebenfalls ein Beamter der Staatsaufsicht tätig wurde, konnte als einziger unter den 50 großen deutschen Städten107 die Bürgersteuer vermieden werden, indem der Oberbürgermeister dem Staatskommissar einen anderweitigen, auf Erhöhung von Realsteuern und Tarifen der Versorgungsbetriebe basierenden Deckungsvorschlag anbot. Die Bürgersteurer verminderte prozentual zur Höhe der Einkommen gerade die niedrigen Einkommen und wurde aus diesem Grund als unsoziale „Kopfsteuer" bekämpft; daß sie mithin auch zur Einschränkung des Massenkonsums und der kaufkräftigen Nachfrage beitrug, war ein den Stadtvertretungen an­ fangs fernliegender Gedanke. Vom Rechnungsjahr 1931 an entwickelte sich die Bürgersteuer durch fortwährende Erhöhung der Hebesätze hingegen zu einer immer wichtigeren Einnahmequelle. In München erbrachte sie 1931 etwa 2,4 Mill. RM und 1932 etwa 4,5 Mill. RM. In Hannover lieferte sie zusammen mit der Getränke- und der Biersteuer So die DVP in Frankfurt, vgl. D. Rebentisch, Landmann, S. 264; auch Die Bielefelder Stadtverordnetenversammlung 1929 bis 1933, in: 68. Jahresbericht des · Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensburg 1972, S. 167 f. 1 0& F. Blaich, Möglichkeiten und Grenzen, S. 102; ganz ähnlich P. Steinborn, Grundlagen und Grundzüge, S. 508 und H. Chr. Asmussen, Kiel und Neu­ münster, S. 97. 1 01 Statistisches Jahrbuch deutscher Städte 27, 1932, S. 135. 1011

Reinhard Vogelsang,

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über 5 Mill. RM, einen Betrag, der die Summe der Reichsüberweisun­ gen übertraf108•

Im Hinblick auf konjunkturelle Auswirkungen sind noch zwei Aspekte der kommunalen Haushaltspolitik zu prüfen, die Erhöhung der Realsteuern, soweit sie 1 930 noch möglich war, und die Frage einer defizitären Haushaltsführung. Die Begründung, die Adenauer für die 1930 zum Ärger Brünings noch kurz vor Eintritt des generellen Verbots gemäß der Notverordnung vom 1. Dezember erfolgte Erhöhung der Realsteuern gab109, zeigt deutlich, daß hierbei die drohende Zahlungs­ einstellung der Stadt gegen die im übrigen mäßige Belastung des Gewerbes abzuwägen war. Daß der Bankrott einer Großstadt vom Range Kölns nicht nur für die lokale Wirtschaftsstruktur, sondern auch im nationalen Rahmen verheerendere Folgen hatte als eine gewiß kon­ junkturdämpfende Wirkung von angespannten Realsteuern, dürfte außer Zweifel stehen. Zudem konnte die von Brüning gewünschte Reduzierung der Realsteuern kaum konjunkturbelebend wirken, allen­ falls die Liquidität der Gewerbetreibenden stärken und die Gefahr privatwirtschaftlicher Konkurse lindern110 •

Eine defizitäre Haushaltspolitik verbot sich aus mehreren Gründen. Die Abdrängung der Gemeinden vom langfristigen Auslandskapital hin zu den kurzfristigen inländischen Schatzanweisungen legte äußerste Zurückhaltung in der Kreditpolitik nahe, ganz zu schweigen von den psychologischen Sperren, die hier im Wege standen. Der Ausgleich eines Etatdefizits durch einen Überbrückungskredit, also eine Defizit­ anleihe, kennzeichnete hingegen schon in normalen Zeiten eine unge­ sunde Finanzpolitik und kam daher erst recht nicht in Frage. Kommu­ nale Anleihen hatten ihre Berechtigung nur für wertschaffende Pro­ jekte der städtischen Infrastrukturpolitik, deren Nutzen für spätere Generationen eine Verteilung der Kosten auf viele Haushaltsjahre rechtfertigte. Defizitanleihen schadeten außerdem dem Ruf der Kom­ mune und gefährdeten ihre Kreditwürdigkeit, auf die sie wegen Aufnahme von Kassenüberbrückungskrediten - diese drei Formen kommunaler Anleihen sind sorgfältig auseinanderzuhalten - immer wieder angewiesen war111 • Schließlich war der Haushaltsausgleich zwingend vorgeschrieben, und zwar seit der Notverordnung vom 24; August 1931 auch reichsrechtlich111l,

tos P; Steinborn, Grundlagen und Grundzüge, S. 508; U. Dempwolff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover; S. 283. 1 09 Vgl. Adenauers Rechtfertigungsschreiben an Brüning am 22. Dez. 1930, . in: R. Morsey, Vom Kommunalpolitiker zum Kanzler, S. 65 ff. 1 1 0 . Darauf hat F.-W. Henning, Finanzpolitische Vorstellungen, S. 151 hin­ gewiesen. 1 11 D. Rebentisch, Landmann, S. 284; 1 12 RGBI. 1931/I, S. 453.

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Direkte Maßnahmen zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit ergriffen die Gemeinden durch das Angebot von Notstandsarbeiten auf dem Arbeitsmarkt. Das war eine Methode, mit der die Kommunen schon vor dem Ersten Weltkrieg Erfahrungen gesammelt hatten, und die sie in der Mitte der 20er Jahre als Ersatz für in der Privatwirtschaft wegrationalisierte Arbeitsplätze verfeinert hatten. Es handelte sich dabei in der Regel um reguläre Bauvorhaben der Stadt, vor allem Straßenbauarbeiten und Flußkanalisierungen, die von der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als sogenannte wertschaffende Arbeitslosenfürsorge anerkannt und finanziell gefördert wurden und ohne diese Unterstützung zurückgestellt worden wären. Allerdings bewegte sich das Gesamtvolumen dieser Notstandsarbeiten vom Sommer 1928 an bis in das erste Krisenjahr parallel zum Kon­ junkturabschwung rückläufig. Daher forderten die Städte - wiederum vergeblich - die sehr enggefaßten Anerkennungsmaßstäbe der Reichs­ anstalt zu ändern, den Wohnungsbau zuzulassen, die Grundförderung als verlorenen Zuschuß und die Kredite zu niedrigen Zinssätzen und langen Laufzeiten zu gewähren113•

Auch die zweite Art der Notstandsarbeiten zur Minderung der Erwerbslosenziffern, eine produktive Beschäftigung in kommunal­ eigener Regie bei Erdarbeiten, auf Friedhöfen, bei der Anlage von Schwimmbädern und Grünanlagen, der Errichtung von Dauerklein­ gärten, der Durcharbeitung von Müllkippen zur Altmetallsammlung und Aufbereitung von Baumaterial, minderte sich gemäß der Beschrän­ kung kommunaler Finanzmittel und nahm offenbar mit starken ört­ lichen Abweichungen ab Mitte 1932 wieder zu114 • Allein schon durch den insgesamt relativ geringen Umfang konnte eine solche Politik der künstlichen Arbeitsbeschaffung die Massenarbeitslosigkeit nicht wirk­ sam bekämpfen. Es ist durchaus fraglich, ob die Einschätzung Fritz Blaichs generell und für die ganze Zeit der Wirtschaftskrise zutrifft, daß nämlich derartige Notstandsmaßnahmen die schlimmsten Folgen der Arbeitslosigkeit minderten und sich daher „als notwendige Ergän­ zung für regionale und nationale Arbeitsbeschaffungsprogramme" empfohlen hätten1111• Schon die für Ludwigshafen mitgeteilte Zahl der 904 Notstandsarbeiter im Jahre 1931 macht nur 9,4 °/o der im Dezember 1931 unterstützen Arbeitslosen aus. In der Mehrzahl der anderen Städte

113 Über den Rückgang der Notstandsarbeiten und die Bestimmungen für wertschaffende Arbeitslosenfürsorge vgl. Der Städtetag 23, 1929, S. 288 ff. m Für Ludwigshafen vgl. die Tabelle bei F. Blatch, Möglichkeiten und Grenzen, S. 97 ; ferner U. Dempwolff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover, S. 263. Besonders einfallsreich und umfänglich scheinen die Notstandsarbei­ ten in Gelsenkirchen gewesen zu sein : Friedrich Wendenburg, Aus der Praxis der Arbeitsbeschaffung, in: Der Städtetag 26, 1932, S. 583 ff. 1111 F. Blaich, Möglichkeiten und Grenzen, S. 98.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

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lag dieser Prozentsatz, wenn sich auch aus dem vorliegenden statisti­ schen Material keine exakten Vergleiche anstellen lassen, offenbar deutlich niedriger. In Hannover wurden im März 1931 nur 509 Not­ standsarbeiter oder 3,9 °/o von ca. 13 000 Wohlfahrtserwerbslosen, also nur einem Teil der Arbeitslosen, beschäftigt. Frankfurt konnte von seinen rund 65 000 Arbeitssuchenden im August 1932 nur 2798, also ca. 4,3 °/o, durch außerordentliche Arbeitsbeschaffung wieder ein­ setzen11&. Für effektive Entlastung des Arbeitsmarktes waren Notstandsarbei­ ten ein unzulängliches Instrument. Ausgesprochene Großprojekte waren nicht vorgesehen; wenn größere Vorhaben erörtert wurden, kamen sie selten zur Ausführung. Ein umfangreicheres Vorhaben, das sich in Frankfurt im April 1932 im Anschluß an die 1929/30 gemeinsam mit dem preußischen Staat beschlossene Umkanalisierung des Untermains ergab, ist wegen der Finanzierung nach der Art des deficit spending interessant. Für Abwässerkanalum- und -neubauten in Höhe von 1,3 Mill. RM waren vorgesehen: ein Zuschuß des Landesarbeitsamtes, ein Darlehen der Deutschen Gesellschaft für öffentliche Arbeiten und des preußischen Staates, eine teilweise Stundung der an bauausfüh­ rende Firmen zu zahlenden Beträge und die Verwendung eines aus Kanalgebühren gebildeten Sonderfonds117 • Dieses Tiefbauprojekt lag natürlich auf der Grenze zwischen ordentlicher Auftragserteilung an das Baugewerbe und städtischen Notstandsmaßnahmen. Es kennzeich­ net ein Dilemma, das auch anderswo sichtbar wurde. Waren Notstands­ arbeiten zusätzliche oder wirtschaftlich produktive Arbeitsbeschaffung? Wenn eine Arbeit zusätzlich war, dann sollte sie möglichst arbeits­ intensiv aber nicht unternehmerisch einträglich sein, war sie aber wirtschaftlich notwendig und zweckmäßig, dann diente sie besser der Belebung der freien Wirtschaft118. Mit der Deklaration als Notstandsarbeiten verfolgten die Städte das für die Wirkung auf den Arbeitsmarkt an. sich irrelevante Ziel, Wohlus Zu Hannover vgl. U. Dempwotff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover, S. 196 ; zu Frankfurt D. Rebentisch, Landmann, S. 286. In Kiel mußten An­ fang 1932 die bescheidenen Notstandsarbeiten der Stadt in Ermangelung von Staatszuschüssen eingestellt werden, H. Chr. Asmussen, Kiel und Neumünster, S. 42. Fulda dagegen beschäftigte 1932 etwa 6,5 0/o seiner Wohlfahrtserwerbs­ losen mit langfristigen Notstandsarbeiten, Hans Mauersberg, Die Wirtschaft und Gesellschaft Fuldas in neuerer Zeit. Göttingen 1969, S. 209 ff. 11 1 Bericht über die Verhandlungen der Stadtverordnetenversammlung zu Frankfurt am Main 1932, S. 281. us F. Wendenburg, Aus der Praxis der Arbeitsbeschaffung, S. 583 ; dieser Widerspruch war Kommunalpolitikern durchaus bewußt, zumal die Auf­ wendungen für Notstandsarbeiten in keinem Verhältnis zu dem wirtschaft­ lichen Nutzen zu stehen schienen. Typisch dafür die Äußerung des Esslinger Oberbürgermeisters Lang von Langen in : Otto Borst, Esslingen am Neckar. Esslingen 1967, S. 122.

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fahrtserwerbslose so lange zu beschäftigen, bis sie wieder ein Anrecht auf Versicherungsleistungen erworben hatten. Ludwigshafen z. B. be­ schäftigte 1931 insgesamt 342 Wohlfahrtserwerbslose, von denen 335 die Anwartschaft auf Unterstützung aus der Versicherung wieder erlangten. In Frankfurt überstellte die Arbeitszentrale für Erwerbs­ beschränkte, die Werkstätten für Kriegsversehrte unterhielt, ihre Arbeiter dem Wohlfahrtsamt und übernahm von dort vollerwerbs­ fähige, aber ausgesteuerte Arbeitskräfte, um sie nach einem Jahr wieder an das Arbeitsamt abzuschieben119 • Damit war die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu einer Funktion der Entlastung des städtischen Haushalts durch Minderung der Wohlfahrtserwerbslosen geworden120 • In diesem Sinne waren Notstandsarbeiten die Antwort, die die Städte der verfehlten Konstruktion der Reichsarbeitslosenversicherung er­ teilten.

Es waren also weniger die Notstandsarbeiten als vielmehr die ordent­ liche Auftragserteilung an das Privatgewerbe, die zu regionaler und lokaler Unterstützung allgemeiner Arbeitsbeschaffung geeignet war. Gerade aber die Bauvorhaben fielen als erste der Haushaltsdrosselung zum Opfer. Schon im Mai 1930 war in der Zeitschrift des Städtetages zu lesen: ,, Vielen, die sich bis vor kurzem in abfälliger Beurteilung kommunaler Ausgabefreudigkeit nicht genug tun konnten, ist vor den tatsächlichen Auswirkungen der Sparaktion der Städte Angst und Bange geworden. Für hunderte Millionen RM ist die Ausführung bereits beschlossen gewesener Bauten und auch die Weiterführung bereits in Angriff genommener Unternehmungen unterblieben121 . " Vor allem am Wohnungsbau wollten daher die Gemeinden - erklärtermaßen aus konjunkturpolitischen Zielsetzungen - festhalten. In den Gemeinde­ parlamenten forderten vor allem die Fraktionen der sogenannten Weimarer Koalition die Fortführung des Wohnungsbaus, um das Bau­ gewerbe anzukurbeln, dem nach aller bisherigen Krisenerfahrung eine Schlüsselfunktion bei der Belebung der Wirtschaft zukam. In den Reihen der DVP hingegen sind Bedenken gegen Neubauten faßbar, weil sie die Gewinne aus den Altbauten minderten und mithin angeb­ lich „Kapital vernichtend" wirkten122• Soweit sich nach den bisher vorliegenden Ergebnissen sagen läßt, bestanden in der Praxis der kommunalen Wohnungspolitik in der Krise

110 D. Rebentisch, Landmann , S. 284; ähnlich Gilnter von Roden, Geschichte der Stadt Duisburg. Duisburg 1974, Bd. 2, S. 458 f; i20 K. M. Hettlage, Der . Einfluß öffentlicher Arbeltsbeschaffungsmaßnah­ men, S. 125. m Neue Wege kommunaler Kreditwirtschaft, in: Der Städtetag 24, 1930, S. 223. 1u D. Rebenttsch, Landmann, S. 104.

Kommunalpolitik, Konj unktur und Arbeitsmarkt

141

erhebliche Unterschiede. In Frankfurt konnten städtische Gesell­ schaften und Wohnungsbaugenossenschaften im Rechnungsjahr 1930 immerhin noch 3300 Wohnungen erstellen und mit weiteren 1000 im Vorgriff auf das nächstjährige Bauprogramm beginnen. Der private Wohnungsbau und die Bautätigkeit an gewerblichen Bauten schliefen hingegen fast ein. Der Hochbau im Stadtgebiet schrumpfte von 1928 bis 1932 um 92 8/o, der Tiefbau um 55 °/o1'l3. In Ludwigshafen blieb hin­ gegen eine gewisse private Bautätigkeit bestehen, allerdings mit deut­ licher Bevorzugung des Einzelhauses, während der Wohnsiedlungsbau der Gemeinde erlahmtem . Das Beispiel Hannovers zeigt überdies, wie Gemeinden wider Willen unter dem Zwang der Verhältnisse von anfangs aktiver Konjunkturpolitik abgehen mußten. Oberbürger­ meister Menge legte im März 1930 „zur Bekämpfung der Arbeitslosig­ keit" ein Neubauprogramm von 2500 Wohnungen vor. Zwei Jahre später, auf dem Höhepunkt der Sparpolitik, mußte er daran erinnern, daß Hannover „bereits Ende 1930 . . . die Stillegung der städtischen Bauten angeordnet" hatte: ,, Wir haben erheblich schärfer und vor allem frühzeitiger durchgegriffen als es im Reich, Staat und anderen Kommunen geschah115.'' Dies ist übrigens ein weiterer Beleg für die oben aus der Untersuchung des Verhältnisses der Kommunen zur Regie­ rung Brüning gewonnenen These, daß die Gemeinden zunächst einer antizyklischen Konjunkturpolitik zuneigten und erst ab Winter 1 930/31 in den Sparkurs des Kanzlers einschwenkten. Der konjunkturellen Belebung des Baumarktes durch die Gemeinden standen indes drei Gründe entgegen: 1. Da im Reichsdurchschnitt 79,4 °/o und in den Großstädten 90,8 °/o aller Wohnungen mit Unter­ stützung öffentlicher Gelder errichtet wurden, schrumpften die Bau­ aufträge, je mehr sich die kommunalen Einnahmen verringerten und je mehr das Aufkommen der Hauszinssteuer zur Deckung des all­ gemeinen Finanzbedarfs herangezogen wurde. 2. Ersatzfinanzierungen wurden dadurch erschwert, daß der Wohnungsbau nach den Richtlinien der Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung nicht als wertschaffende Arbeitslosenfürsorge anerkannt wurde. 3. Der bisher bekannte kon­ junkturelle Mechanismus des Baumarktes, nach welchem in Hoch­ konjunkturzeiten durch Zinsverteuerungen sich eine Wohnungsnach­ frage anstaute, die bei Konjunkturabschwung durch gleichbleibende tn Ebd., S. 280, 283. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Flensburg. vgl.

Wilhelm Rust, Das Flensburger Bauhandwerk 1388 - 1966. Flensburg 1967, S. 333 ff. In Fulda lassen sich die gleichen Tendenzen feststellen. H. Mauers­ berg, Die Wirtschaft und Gesellschaft Fuldas, S. 211. 1H F. Blaich, Möglichkeiten und Grenzen, S. 105 ; auch in Stuttgart fielen die kommunalen Bauprogramme praktisch aus , Otto Borst, Stuttgart. Stutt­

gart 1973, S. 371. 1211 U. Dempwolff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover, S. 197, 267.

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Mieten aber Zinsverbilligungen den Baumarkt belebte, funktionierte diesmal nicht. Hinderlich wirkten sowohl die Hochzinspolitik in der Wirtschaftskrise als auch die Bedarfsdeckung am Wohnungsmarkt durch die aktive Wohnungspolitik bis 1930, die damals nur noch im Kleinwohnungsbau eine gesteigerte Nachfrage verzeichnete1l!6. Der Rückgang des Wohnungsbaus findet seinen statistischen Ausdruck in folgender Tabelle: Tabelle 4 Reinzugang an Wohnungen im Deutschen Reich 1925 - 1934 1925: 1926: 1927: 1928: 1929:

178 930 205 793 288 635 309 762 317 682

1930: 1931: 1932: 1933: 1934:

310 971 233 648 141 265 178 038 283 995

Quell e: Konjunkturstatistisches Handbuch 1933, S. 38, und Statistisches Handbuch von Deutschland, München 1949, S. 340.

Ab Frühjahr 1932 läßt sich wieder eine steigende Aktivität der Kommunen zur Ankurbelung des Baumarktes feststellen. Die Woh­ nungsbaupolitik wurde jetzt in der Form der Stadtrand-Siedlung fortgesetzt, allerdings mit geringem quantitativen Erfolg. In Hannover wurde im März 1932 der Bau von insgesamt 202 Siedlerstellen in Angriff genommen, bei einer Zahl von rund 60 000 Erwerbslosen eine verschwindende Zahl127• Fast wichtiger als Gesichtspunkte akuter Depressionsbekämpfung durch Belebung des Baumarktes waren dabei Reagrarisierungstendenzen und Motive der gesellschaftlichen Um­ schichtung. Den deutschen Arbeiter durch landwirtschaftlichen Neben­ erwerb „krisenfest" zu machen, lautete die Devise auch bei Kommunal­ politikern. Sogar die „Deutsche Metallarbeiterzeitung" versprach sich von der Siedlung „das Verschwinden der den Erfolg jeder Gewerk­ schaftspolitik hemmenden industriellen Reservearmee" 1:s. Des weiteren ist eine Verschiebung der kommunalen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf dem Baumarkt zugunsten des Tiefbaus zu erkennen. Die in den Vorjahren zurückgestellten Bauaufgaben, Straßenunterhaltung, Kanal­ und Leitungsarbeiten sowie Brückenbauten traten wieder stärker ins Blickfeld und signalisierten den Willen zur Rückkehr zu einer nor­ malen Auftragsvergebung. 12& ,,Konj unkturprognose und Bauwirtschaft", in: Der Städtetag 24, 1930, S. 345, und „Bau- und Wohnungswirtschaft in der Krise", ebd., 25, 1931, S. 364 ff. 121 U. Dempwolff, Die Wirtschaft der Stadt Hannover, S. 264 - 266. 128 Nr. 38, 1931, zitiert nach H. J. Schorr, Stegerwald, S. 232.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

V. Konj unkturpolitische Vorstellungen im Bereich der Kommunalpolitik

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Der geringe Spielraum, der den Gemeinden unter dem Primat der Sparpolitik verblieb, ließ die in der praktischen Kommunalpolitik durchaus erkennbaren Ansätze zu einer antizyklischen Konjunktur­ politik nicht in einer gesamtwirtschaftlich spürbaren Weise zum Tragen kommen. In Anbetracht der Tatsache, daß selbst die Volkswirtschafts­ lehre der Zeit unter großen Schwierigkeiten um eine zutreffende Krisendiagnose und Krisentherapie rang129 und die verantwortlichen Politiker im Reich sich lange einer anscheinend ausweglosen Lage gegenübersahen, stellt sich die Frage, ob und welche konjunktur­ politischen Vorstellungen aus der Sicht der Kommunalpolitik ent­ wickelt wurden. Anhand der Äußerungen einer ausgewählten Gruppe sogenannter großer Oberbürgermeister und der Initiativen des Deut­ schen Städtetages ist zu untersuchen, ob bei den Gemeinden eine Bereitschaft zur aktiven Krisenbekämpfung vorlag, die über das Maß dessen hinausging, was in der kommunalpolitischen Praxis möglich war. Auf Programme der lokalen Fraktionen der politischen Parteien kann dabei nicht eingegangen werden, da die Erforschung der Kom­ munalpolitik der politischen Parteien der Weimarer Republik im Grunde noch nicht einmal begonnen hat und die fragmentarisch vor­ liegenden Einzelergebnisse kein geschlossenes Gesamtbild erlauben. Das hat wissenschaftsgeschichtliche Gründe. Die Erforschung der kommunalen Selbtverwaltung der Weimarer Republik hat die ent­ scheidenden Impulse von der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bekommen und nicht von der allgemeinen Parteiengeschichte. Die Beschränkung auf die kommunalen Berufsbeamten ist indes nicht allein vom Material her geboten, sie ist auch sachlich gerechtfertigt, da trotz der Politisierung der Selbstverwaltung in der Weimarer Republik noch immer die kommunale Bürokratie, also die Verwaltung im enge­ ren Sinne, die politischen Initiativen bewirkte, in jedem Fall aber am Ende eines mehrteiligen Entscheidungsprozesses letztlich den Willen der Gemeinden formulierte.

Im allgemeinen wurden die Kommunalpolitiker vom Ausmaß und der Wucht der Krise überrascht. Oberbürgermeister Lehr (Düsseldorf) bemerkte im April 1930 bei der Vorlage des vorjährigen Verwaltungs­ berichtes, es habe „niemand geahnt, daß das Jahr 1929 nach einem nur langsam absteigenden Konjunkturverlauf . . . zu einer ausgesproche­ nen Wirtschaftskrise führen würde" 1 30 • Konrad Adenauer meinte noch

129 G. KroU Weltwirtschaftskrise, S. 131 f. ; H. Sanmann, Daten und Alter­ , nativen, S. 129. 1so W. Först, Lehr, S. 206.

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im November 1929, als er eine kommunale Umschuldung und das damit zwangsläufige Abziehen von Spargeldern aus der Bauwirtschaft an­ regte, daß „ein langsames Abstoppen der augenblicklich überaus regen Bautätigkeit zum mindesten kein Schaden sei" 131 . Als die Arbeitslosig­ keit dann im Laufe des Jahres 1930 in bisher unbekannten Dimen­ sionen anschwoll, schien sie, nach einem Wort des Oberbürgermeisters Jarres (Duisburg), ,,wie eine gewaltige Naturkatastrophe hereinge­ brochen" 132. Frühzeitig wurde von den führenden Kommunalbeamten erkannt, welche nachteiligen Folgen sich aus der von den Gemeinden geforder­ ten und erzwungenen Sparpolitik, aus dem Ausfall von Aufträgen für die gesamte Wirtschaft, das örtliche Handwerk und die Industrie er­ gaben. Für Oberbürgermeister Landmann (Frankfurt) waren die Not­ sparmaßnahmen auf dem Bausektor nichts anderes als Eingrüfe „in die Substanz", die im Augenblick krisenverschärfende Verschiebung not­ wendiger Ausgaben auf die Zukunft. Gehaltskürzungen und Lohn­ senkungen sowie Einschränkungen im Personalbereich verurteilte er, weil sie zu einer Minderung der Kaufkraft führten. ,,Sparmaßnahmen" , s o lautete die Summe seiner Erkenntnisse, ,,verschärfen die allgemeine wirtschaftliche Depression" 133 . Insbesondere der Kaufkraftschwund wurde von den Kommunalpolitikern durchaus im Einklang mit den unorthodoxen Konjunkturtheoretikern wie Wilhelm Lautenbach oder Wladimir Woytinski richtig gesehen. In seiner Etatrede 1932 resümierte Bürgermeister Küfner (München) : ,,Diese erzwungenen Einsparungen haben hier wie anderwärts zur Mehrung der Arbeitslosigkeit und Minderung der Kaufkraft mit weiterer Mehrung der Arbeitslosigkeit in großem Maße beigetragen 134." Die eigentliche wirtschaftliche Ursache der Krise wurde, neben den Kriegsfolgen, Inflation und Reparationen, im Mangel an Kapital ge­ sehen, wobei in volkstümlicher Weise nicht zwischen Geld- und Sach­ kapital unterschieden wurde. Demnach erschien etwa Landmann135 wegen des Effektes der Binnengeldschöpfung die Aufnahme von Aus­ landsanleihen, die ganz abgesehen von der Reichsbankpolitik angesichts der weltweiten Krise aber kaum noch zu erlangen waren, als erfolg­ versprechender Ausweg aus der Depression. Andere, wie Oberbürger­ meister Luppe (Nürnberg), drängten Brüning, auf dem Wege der zwangsweisen Zinssenkung fortzuschreiten, um auf diese Weise eine 131 1n 133 1 34 136

Vgl. oben Anm. 77. Karl Jarres, In letzter Stunde,

in: Der Städtetag 25, 1931, S. 101 ff. D. Rebentisch, Landmann, S. 282. P. Steinborn, Münchener Kommunalpolitik, S. 521. D. Rebentisch, Landmann, S. 283.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

145

Liquidität des Geldmarktes zu erreichen1st • Selbst Kreditausweitung über die Diskontpolitik der Reichsbank wurde von kommunalpoli­ tischen Kreisen gefordert. ,,Wenn die Reichsbank", bemerkte der Vor­ stand der Straßenbahn in Hannover, ,,heute bereits einen Stellungs­ wechsel vorgenommen hat und in der liberalsten Weise Wechsel redis­ kontiert, sogar die Russenwechsel auf längere Frist, mit einem wieviel größeren Recht kann sie dies bei der Reichsbahn oder anderen öffent­ lichen oder privaten deutschen Unternehmen tun137 !" Wenn auch die Kommunalpolitiker ihre Kritik an der Sparpolitik im allgemeinen nicht in eine volkswirtschaftliche Krisentheorie um­ setzten und keine eigenen Entwürfe für nationale Arbeitsbeschaffungs­ programme vorlegten, so war doch für viele die Lösung der Probleme, Kreditausweitung und öffentliche Aufträge, vorgezeichnet. Dabei kon­ zentrierten sie sich insbesondere auf den Baumarkt. Schon zu Beginn der Krise forderten Gemeindevertreter vom Reich im Hinblick auf den Investitionsanreiz auf die Zulieferungsindustrien öffentliche Aufträge an den Straßen- und Wohnungsbau 138• Wiederholt drängte, im Herbst 1930, Konrad Adenauer den Reichskanzler, größere Mittel aus dem Hauszinssteueraufkommen für ein öffentliches Arbeitsbeschaffungs­ programm bereitzustellen und dabei auf Zinsverbilligung hinzuwirken, damit die Gemeinden diese Darlehen auch wirklich aufnehmen könn­ ten. Leerstehende größere Wohnungen dürften kein Hinderungsgrund sein, da „gerade für die untersten Schichten, die am meisten unter der Wohnungsnot gelitten haben, noch sehr wenig geschehen ist. Diesen Schichten aus der Wohnungsnot herauszuhelfen, ist meines Erachtens eine unserer vornehmsten sozialen und ethischen Pflichten. Es muß uns das geradezu eine Gewissensangelegenheit sein 139 . " Ohne die Bereit­ stellung öffentlicher Gelder in Höhe des Etatjahres 1929 komme der Wohnungsbau fast ganz zum Erliegen, und ohne die Zinsverbilligung werde der Baumarkt, der maßgebende Wirtschaftszweig für die An­ kurbelung der gesamten Wirtschaft, so geschädigt, daß der Zweck der ganzen Aktion überhaupt vereitelt sei. Im wesentlichen für die Bauwirtschaft gedacht war auch ein Arbeits­ beschaffungsplan, den Oberbürgermeister Scharnagl (München) im Luppe an Brüning am 26. Nov. 1931, BA R 43 I/2352. Alfred Schmude, Vorstand der 'Oberlandwerke und Straßenbahnen Hannover AG, der ehemalige Frankfurter Wirtschaftsdezernent, an Ober­ regierungsrat Pukass in der Reichskanzlei am 7. Sept. 1931, BA R 43 1/1140. Zu den Russenwechseln vgl. Manfred Pohl, Die Finanzierung der Russen­ geschäfte zwischen den beiden Weltkriegen. Frankfurt 1975. 1ss So Oberbürgermeister Raabe-Hagen, vgl. Anm. 101. 1 su Adenauer an Brüning am 10. Nov. 1930, BA R 43 I/2367. Weitere Briefe Adenauers an Brüning vom 9. Juli 1930 und 18. Nov. 1930 sind gedruckt bei R. Morsey, Vom Kommunalpolitiker zum Kanzler, S. 63 - 65. 136 1s1

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August 1932 entwickelte. Der Grundgedanke dieses Plans war die Verbilligung des Kleinwohnungsbaus, da solche Wohnungen noch immer gut absetzbar waren, wenn nur der Mietpreis in erträglicher Höhe gehalten werden konnte. Die Senkung der Produktionskosten wollte er dadurch erreichen, daß nur ein Drittel der benötigten Arbeits­ kräfte, vor allem ältere Arbeitnehmer und Familienväter, zu vollem Tariflohn beschäftigt wurden, die übrigen zwei Drittel jedoch von Erwerbslosen gestellt wurden, die als Gegenleistung für die empfangene Unterstützung ihre Arbeitskraft herzugeben hatten. Ohne Arbeits­ leistung sollte also keine Unterstützung mehr gezahlt werden. Da zwei Drittel der „Lohnkosten" auf die Unterstützungslasten entfielen, brauchte nur ein Drittel durch Kreditausweitung beschafft zu werden, was wegen der geringen Höhe des Betrages ohne Beeinträchtigung der Währung möglich schien, zumal durch den sicheren Absatz der Woh­ nungen Verzinsung und Tilgung des Betrages gewährleistet war. Wenn dieses System nicht erst am Bauplatz, sondern schon beim Zulieferer­ gewerbe, bei Ziegeleien und Zementfabriken angewandt wurde, konnte sich der Verbilligungseffekt sozusagen verdoppeln. Mit dem Wegfall der Fürsorgeleistungen und der Vereinfachung des Verwaltungsappa­ rates hoffte Scharnagl die öffentliche Hand in starkem Maße zu ent­ lasten. Sie würde dadurch in der Lage sein, einen Teil der Kürzungen an den Beamtengehältern rückgängig zu machen, dadurch die Kauf­ kraft heben und mit den übrigen ersparten Mitteln wieder als Auftrag­ geberin in Erscheinung treten140 • Der problematische Punkt dieses Konzepts war der Eingriff in das Tarifrecht. Seine Realisierbarkeit mag daher bezweifelt werden. Immerhin enthielt es, da es Kredit­ ausweitung, Kaufkraftstärkung und öffentliche Aufträge vorsah, rich­ tige Gesichtspunkte zur Krisenbekämpfung, die in den Gemeinden zunehmend in Erscheinung traten. Insofern ist Scharnagls Konzept ein Beispiel für die gesteigerte Aufmerksamkeit, die die Gemeinden im Jahre 1932 dem Problem der Arbeitsbeschaffung widmeten141 • Den Scharnaglschen Vorstellungen in manchem verwandt waren die - viel umfassender angelegten - Vorschläge einer Denkschrift, die Oberbürgermeister Goerdeler im April 1932 dem Reichspräsidenten unterbreitete1 42 • ,,Man stelle sich nur vor", hieß es darin, ,,daß alle 140 Manuskript Scharnagls „Arbeitslosigkeit, ihre Auswirkungen und die Möglichkeit ihrer Beseitigung" mit Anschreiben vom 18. Aug. 1932, BA R 43 I/2043. 1 4 1 Bezeichnenderweise wandte sich der Bayerische Städtebund, als im März 1932 bekannt wurde, daß die Reichsregierung ein Arbeitsbeschaffungs­ programm vorbereitete, an den Reichskanzler, die verfügbaren Mittel den Städten für Hoch- und Tiefbauten, Straßenbau und Wohnungsbau zugäng­ lich zu machen. Schreiben vom 1. April 1932, BA R 43 I/2042. 1 42 Diese 23-seitige Denkschrift wurde Brüning erst unter dem 21. April 1932 übersandt, BA R 43 I/2045. Sie lag bereits der Goerdeler-Biographie

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heute wirklich Arbeitslosen dazu übergehen würden . . . , die erste Arbeit zu ergreifen, die sich ihnen bietet, und dafür ihre bisherige Unterstützung weiter zu beziehen, und die ganze moralische Gefahr der Arbeitslosigkeit wäre beseitigt. " Auf dem Baumarkt bestehe „der wahnsinnige Zustand", daß 10 0/o der Bauarbeiter zu Tariflohn von 1,10 RM beschäftigt würden, der Rest aber von einer Unterstützung von 35 Pfg. lebe. Der Lohn, zu dem der größte Teil der Bauarbeiter wieder Arbeit finde, müsse also irgendwo dazwischen liegen. Im übrigen be­ zweifelte er, daß man „mit der Ankurbelung eines künstlich gesteiger­ ten Verbrauchs" die Kaufkraft im Innern mehren könne. Kaufkraft sei nichts weiter als in Geld umgesetzte Arbeit und könne nur durch Arbeit entstehen. Auf eine Formel gebracht lautete die Konsequenz seiner Gedanken: Produktionsverbilligung durch Arbeitszeitverlänge­ rung bei gleichbleibendem Lohn. Aus dem Unterschied zwischen Her­ stellungspreis und Verkaufspreis fülle sich die Kaufkraftreserve wieder auf. Die Summe seiner Vorstellungen - freiwilliger Arbeitsdienst, Straßenbau nur in Handarbeit ohne Maschinen, Kleinsiedlungen für Nebenerwerb der Kurzarbeiter, Eliminierung der Frauen aus dem Berufsleben, Bekämpfung der Landflucht durch Einschränkung der Freizügigkeit - erwies sich nicht nur, wie schon Gerhard Ritter be­ merkt hat, als kaum realisierbare Utopie, sondern auch für eine wir­ kungsvolle Krisentherapie als letztlich unzweckmäßig. Indes, Carl Goerdeler war ein Sonderfall unter den deutschen Kom­ munalpolitikern. Von Brüning im Dezember 1931 als Reichspreis­ kommissar mit der Durchführung der zwangsweisen Preissenkung beauftragt und als Nachfolger im Kanzleramt ins Auge gefaßt, früh­ zeitig ein Kritiker der kommunalen Finanzpolitik wie dieser, im Früh­ jahr 1932 in fast täglicher engster Fühlungsnahme mit dem Kanzler, sah er die Probleme schon fast mehr aus der Optik des Staates als aus der Sicht der Gemeinden. überdies war er ein Anhänger der Deflations­ politik aus Überzeugung - ,,Sparsamkeit" laute dafür der „preußisch­ deutsche Begriff" -, radikaler als Brüning selbst, der der Deflations­ politik nur funktionale Bedeutung im Rahmen seines politischen Gesamtkonzepts einräumte. Staatlicher Arbeitsbeschaffung mißtraute er wegen der Gefahr der Fehlinvestitionen und des Abgleitens in Zwangs- und Planwirtschaft, Kreditausweitung bekämpfte er, öffent­ lichen Aufträgen maß er nur unterstützenden Wert bei. Erst die Erfolge des Papenprogramms machten ihn schwankend. Beim Deutschen Städtetag waren die Voraussetzungen für die Ent­ wicklung eines Arbeitsbeschaffungsprogramms an sich günstig. Bereits im April 1929 hatte die Zeitschrift des Städtetages den Aufsatz eines

Gerhard Ritters zugrunde, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstands­ bewegung. Stuttgart 1954, S. 43 ff., 51 ff., 448 f.

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Rechtsrats aus Kaiserslautern veröffentlicht, der eine dauernde Stö­ rung des Arbeitsmarktes prognostizierte und den fortwährenden Kreis­ lauf: Arbeitslosenversicherung, Krisenfürsorge, Armenpflege, kurzes Arbeitsverhältnis oder Notstands- und Fürsorgearbeit, Arbeitslosenver­ sicherung, Krisenfürsorge, Armenpflege usw. als wirtschaftlich unpro­ duktiv verwarf. Die Lösung der Probleme könne nur darin liegen, daß den Arbeitslosen und damit der Wirtschaft durch besondere öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen geholfen werde, deren Finanzierung Reich, Länder und Gemeinden gemeinsam zu erarbeiten hätten143• Solange der Deutsche Städtetag im Jahre 1930 der verordneten Spar­ politik entgegensteuerte, forderte er die „organische Belebung des Arbeitsmarktes" durch Auftragserteilung der deutschen Gemeinden an die gesamte Volkswirtschaft, was er durch Konsolidierung der Kom­ munalkredite, vor allem durch die Wiederzulassung von Auslands­ anleihen, zu erreichen hoffte144•

Diese Forderung nach Arbeitsbeschaffung wurde j edoch mit Nach­ druck erst relativ spät im Herbst 1932 wieder aufgegriffen, ohne daß man ein eigenes Programm mit selbständigen Finanzierungsvorschlä­ gen entwickelte. Von der Regierung Papen, bei der die Gemeinden zwar mehr Gehör, aber im Grunde weniger Hilfe als beim Kabinett Brüning fanden146, verlangte man die Eingliederung der Gemeinden „in die Kampffront gegen die Arbeitslosigkeit" und die Ergänzung der Maß­ nahmen, die für die Ankurbelung der privaten Wirtschaft getroffen wurden, durch ein kommunales Arbeitsbeschaffungsprogramm, das durch normale kommunale Aufträge rund 400 000 langfristig Erwerbs­ lose wieder beschäftigen sollte146 • Da zwischen Reichsbank und Reichs­ finanzministerium keine Einigung über die Finanzierung erfolgte, kamen die Verhandlungen bis zum Rücktritt Papens nicht zum Ab­ schluß, wurden aber von Schleicher sogleich wieder aufgegriffen. Nachdem zu diesem Zeitpunkt die bereitgestellten Steuergutscheine von der Privatwirtschaft nicht voll in Anspruch genommen waren, schien es „notwendig und ungefährlich", den bisher ungenutzten Rest durch kommunale Aufträge nutzbar zu machen, eine Überlegung, bei der die Gemeinden nunmehr auf die Unterstützung der Gewerkschaften 143 Rechtsrat Reeber-Kaiserslautern, Fürsorge für Arbeitslose, in: Der Städtetag 23, 1929, S. 428 ff. 1 4 4 Neue Wege kommunaler Kreditwirtschaft, in : Der Städtetag 24, 1930, S. 221 ff. ; Oskar Mulert, Die Sorgen der Städte, ebd., S. 270 ff. 1 4.'5 O. Ziebill, Geschichte des Deutschen Städtetages, S. 167. 146 Schreiben Mulerts an Papen vom 1. Nov. 1932 und Niederschrift über die Besprechung Papens mit Vertretern des Städtetages am 9. Nov. 1932 in BA R 43 I/2323 ; vgl. generell Helmut Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik der Regierungen Papen und Schleicher. Bern 1974; die Arbeitsbeschaffung aus der Sicht der Gemeinden wird. nur am Rande erörtert, S. 262.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

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und der vorrangig interessierten Wirtschaftskreise rechnen konnten147• Eine weitergehende Kreditausweitung schien indes bei Mulert auf Be­ denken gestoßen zu sein148 •

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Bereitschaft der Gemeinden zu einer aktiven Konjunkturpolitik sowohl im ersten Krisenjahr wie verstärkt wieder seit Anfang 1932 größer war, als sie sich in der praktischen Verwaltung verwirklichen ließ. Daran knüpft sich die Frage, welche Rolle den Gemeinden als Auftraggeber der Wirt­ schaft in den verschiedenen Arbeitsbeschaffungsplänen der Endphase der Weimarer Republik zugemessen wurde. VI. Die Gemeinden als Auftraggeber in der Arbeitsbeschaffung

In den Arbeitsbeschaffungsplänen, die in der Endphase der Weimarer Republik in großer Zahl entwickelt wurden, spielten die Gemeinden in der Regel keine zentrale Rolle. Das war insoweit verständlich, als die Hauptursachen der Wirtschaftskrise nicht im kommunalen Bereich lagen und nicht allein oder vorrangig von hier aus bekämpft werden konn­ ten. Die meisten der ernst zu nehmenden Reformvorschläge beschäftig­ ten sich mit monetären Bekämpfungsmaßnahmen, mit dem Nachfrage­ defizit, der Kaufkrafttheorie, der Spar-Investitions-Lücke und dem Problem der Kreditschöpfung. Erst in einem zweiten Schritt schlugen sie, da sie sich von einer kreditären Hilfestellung für die Wirtschaft allein keine Belebung erhofften, sozusagen als Initialzündung die Ver­ gabe öffentlicher Aufträge vor. Das vorrangige Problem blieb die Kreditschöpfung, die Schaffung neuer Kaufkraft für Investitionsgüter, während der Verwendungszweck der Kredite im großen und ganzen und mit Recht als sekundär angesehen wurde. Dennoch fällt auf, wie wenig die Kommunen, die im Rahmen öffentlicher Aufträge immerhin als eine Gruppe ausführender Träger der Arbeitsbeschaffung in Frage kamen, in den Projekten Berücksichtigung fanden. Ihnen fiel allenfalls eine subsidiäre Exekutivfunktion zu, ohne daß ihre speziellen Erfah­ rungen in volkswirtschaftlicher Bedarfsplanung und ihre Kenntnisse in lokaler und regionaler Strukturpolitik recht genutzt wurden. Dieser

m Schreiben Mulerts an Schleicher vom 3. Dez. 1932, BA R 43 I/2323 ; vgl. auch „Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des Städtetages", in: Der Städte­ tag 26, 1932, S. 577 ff. ; Steuergutscheine durften jedoch nur an Gemeinden, nicht an kommunale Versorgungsbetriebe abgegeben werden, H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik, S. 262. us „Darüber hinaus erscheint es mir jedoch grundsätzlich bedenklich, son­ stige Arbeiten, die zwar volkswirtschaftlich wertvoll und äußerst dringlich sind, aber nach den Grundsätzen einer soliden öffentlichen Finanzwirtschaft als laufende Aufgaben durch ordentliche laufende Einnahmen gedeckt wer­ den müssen, . . . lediglich auf dem Kreditwege zu finanzieren." Mulert an Schleicher am 5. Jan. 1933, BA R 43 I/2046.

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Befund ist um so erstaunlicher, als die wichtigsten Vorschläge konkrete Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ins Auge faßten, die eine Mitwirkung der Gemeindeverwaltungen mehr oder minder zwangsläufig implizier­ ten, jedenfalls aber nicht ausschlossen149•

Die Kommission zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit unter dem Vorsitz des früheren Reichsarbeitsministers Brauns erwog öffentliche Aufträge auf dem Gebiet der Energiewirtschaft, des Verkehrswesens, des Wohnungsbaus und der Landwirtschaft - hier vor allem Meliora­ tionen und Besiedlung nicht mehr entschuldungsfähiger Großgüter und sie stellte vor allem den großen Nachholbedarf an öffentlichen Investitionen heraus150 • Im Plan des vorläufigen Reichswirtschaftsrats spielten neben Investitionen der Bahn und Post, Straßenreparaturen - keine „Luxusarbeiten" wie Umgehungsstraßen und Autobahnen -, sowie Stadtrandsiedlungen und Altbauunterhaltungen eine Rolle1 51 • Der Reichswirtschaftsrat machte die zutreffende Feststellung, daß die Gemeinden „auf Jahre hinaus" dringliche und weniger dringliche Bauaufgaben zusammenstellten und die Mittel dafür disponierten. Da­ her sei zu prüfen, ,,ob und in welchem Ausmaß die Städte trotz ihrer Finanznöte imstande seien, ein normales Bauprogramm durchzuführen oder Vorgriffe auf zukünftige Bauvorhaben vorzunehmen" 1 52 • Wilhelm Lautenbach, Referent im Reichswirtschaftsministerium, der mit der Be­ fürwortung einer defizitären Haushaltspolitik und der Propagierung des diskontierbaren Wechsel am frühesten die zutreffende Krisenthera­ pie fand, kritisierte unter anderem die mangelnde staatliche Hilfe für den Wohnungsbau und sah außerdem im öffentlichen Energiebereich und im Ausbau des Nahverkehrs geeignete Projekte für öffentliche Aufträge163•

Heinrich Dräger, Lübecker Unternehmer und Mitbegründer der Stu­ diengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft, schlug in seinem Sechs­ Jahres-Plan Straßenumbauten und Stadtsanierungen, vor allem die

149 Beim Reichsarbeitsministerium sollen bis Ende 1932 ca. 30 000 Arbeits­ beschaffungsvorschläge eingegangen sein, vgl. H. Marcon, Arbeitsbeschaf­ fungspolitik, S. 37; dort S. 39 - 72 ein überblick über die wichtigsten ernst­ zunehmenden Programme. Zu den als „Reformer" bezeichneten Theoretikern einer antizyklischen Konjunkturpolitik Wilhelm Grotkopp, Die große Krise. Lehren aus der Überwindung der Weltwirtschaftskrise 1929/32. Düsseldorf 1954. Eine systematische Analyse dieser Reformvorschläge bei G. Kroll, Weltwirtschaftskrise, S. 375 - 406. 100 Gutachten zur Arbeitslosenfrage. Sonderveröffentlichung im Reichs­ arbeitsblatt 1931, vgl. G. Kroll, Weltwirtschaftskrise, S. 378. m H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik, S. 41 ff. 1s2 Sitzung des Arbeitsausschusses des vorläufigen Reichswirtschaftsrates zur Prüfung der Fragen der Baufinanzierung am 16. Jan. 1930 , BA R 43 1/2349. 1 ss Wilhelm Lautenbach, Zins, Kredit und Produktion, hrsg. von Wolfgang Stiitzel. Tübingen 1952.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

151

Auflockerung industrieller Ballungsräume, sowie Flußkanalisierungen und Erweiterungen in der Energieversorgung vor. In seinem auch finanziell außerordentlich weitgreifenden „Hindenburg-Programm der Arbeit", das auf den Plänen des vorläufigen Reichswirtschaftsrates aufbaute und sie ins utopische steigerte, wollte er allein für die Stadt­ sanierung jährlich 1,5 Mrd. RM bereitstellen1M . Im sogenannten WTB­ Plan der Gewerkschaften155 waren als Träger der Arbeitsbeschaffung Reichsbahn, Reichspost und kommunale Verbände vorgesehen, die die Elektrifizierung vorantreiben und Wohnungen, Straßen, Brücken, Tal­ sperren usw. bauen sollten. Der noch immer wenig beachtete Kohle­ unternehmer Robert Friedländer-Prechtl, dessen Vorstellungen über das Strasser-Programm in der nationalsozialistischen Arbeitsbeschaf­ fung weiterwirkten, trat für „volkswirtschaftliche Großarbeiten" ein, von denen die Regulierung von Flüssen, die Anlage von Automobil­ straßen, die Errichtung von Wasserkraftwerken und Kanälen, die Her­ stellung von Ferngasleitungen eine kommunale Beteiligung nahelegten. Insbesondere empfahl er den Bau eines Autobahnnetzes von 20 000 km Länge, allerdings unter Regie der Reichsbahn166 • Die Liste ließe sich lange fortsetzen und lieferte doch nur Varianten eines Katalogs von Arbeitsvorhaben, die auf den Erfahrungen der Notstandsarbeiten, auf Grundlagen der Braunskommission und des Reichswirtschaftsrates auf­ bauten und in Rechnung stellten, daß es an Produktionsstätten nicht fehlte und daher Investitionen in neue Industrieanlagen unterbleiben konnten. Wichtiger als jene Arbeitsbeschaffungsvorschläge von privater und institutioneller Seite, denen weitgehend der Charakter von Planspielen anhaftete, waren die Überlegungen, die die verantwortlichen Reichs­ ressorts hinsichtlich der Arbeitsbeschaffung und einer Beteiligung der Kommunen anstellten. Vom Januar 1932 an hat das Kabinett Brüning unter dem Druck eines sich deutlich abzeichnenden Defizits in der Arbeitslosenfürsorge wiederholt eine Reihe von Projekten erörtert, die ihre i nneren Motive fast weniger aus einer regulären Arbeitsbeschaf­ fung zur Ankurbelung der Wirtschaft, als vielmehr einer Beschäftigung von Arbeitslosen bezogen und sich auf weite Strecken hin parallel zu den Gedanken an freiwilligen Arbeitsdienst und Notstandsarbeiten bewegten157 • Man huldigte der weitverbreiteten Wunschvorstellung, daß 15 4 Heinrich Dräger, Arbeitsbeschaffung durch produktive Kreditschöpfung. München 1932. Neudruck Düsseldorf 1956. 1u Michael Schneider, Das Arbeitsbeschaffungsprogramm des ADGB. Bonn-Bad Godesberg 1975. 1 68 Robert Friedlaender-Prechtl, Die Wirtschaftswende. Ursachen der Ar­ beitslosenkrise und deren Bekämpfung. Leipzig 1931, bes. S. 146 ff. ; den Einfluß auf das Strasserprogramm hat G. Kron, Weltwirtschaftskrise, S. 435 ff. nachgewiesen.

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die Unterstützung produktiv gestaltet werden könne, wenn man von den Erwerbslosen für die Unterstützung eine Arbeitsleistung verlange. Bei der Durchführung der Maßnahmen sollte möglichst umfangreich Handarbeit, nicht Maschinenarbeit zum Einsatz kommen. Auch die Unterschreitung des Tariflohns wurde zur Erzielung von Ersparnissen und Erhöhung der Beschäftigtenziffern erwogen.

Die Reichsregierung wählte zur Arbeitsbeschaffung vorrangig solche Projekte aus, die scheinbar sofort verwirklicht werden konnten. Stra­ ßenbau, Wasserbauvorhaben, landwirtschaftliche Meliorationen, länd­ liche und vorstädtische Kleinsiedlungen kehrten in den unterschied­ lichsten Kombinationen wieder. Die Wiedereingliederung der Erwerbs­ losen in den Arbeitsmarkt durch Rückkehr zu der normalen Auftrags­ gebarung der öffentlichen Hände, die sich nach dem Eindruck des Finanzministers schon bei Reichsbahn und Post nicht erreichen ließ 1 68 , stieß hingegen auch bei Brüning selbst auf Vorbehalte159 , da ihre Reali­ sierung „Wirtschaftsexperimente" auf dem Wege der Kreditfinanzierung voraussetzte. Das Ergebnis der Beratungen war schließlich das bekannte bescheidene Programm in Höhe von 135 Mill. RM (60 Mill. für Straßen-, 50 Mill. für Wasserbaumaßnahmen und 25 Mill. für Meliorationen).

In diesem Programm dominierte eine agrarpolitische Komponente. Es treffe Maßnahmen, hieß es in einer wenige Tage später veröffent­ lichten Erklärung, ,,um bis zu 600 000 Menschen in Notstandsarbeit und freiwilligem Arbeitsdienst Brot und Arbeit zu verschaffen und in einem umfassenden Siedlungsprogramm weiten Volkskreisen Hoffnung auf Lebensrückhalt auf eigener Scholle zu eröffnen" 1 68 • Darin ver­ schaffte sich nicht nur eine „hemmungslose Agrarromantik" Ausdruck, sondern auch eine pessimistische Einschätzung der Weltwirtschaftskrise als Beginn einer grundlegenden Umorientierung der Wirtschaft, die es nahelegte, die angesichts einer langfristigen Schrumpfung der indu­ striellen Produktion überschüssigen Arbeitskräfte auf dem Lande unterzubringen. Im Kabinett wollte daher Stegerwald die Arbeitsbe­ schaffungsmaßnahmen im Straßenbau möglichst „in organische Verm Vgl. hierzu die an den Kabinettsprotokollen orientierte Untersuchung von Henning Köhler, Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen in der Schlußphase der Regierung Brüning, in : VfZ 17, 1969, S. 276 ff. Zum Arbeitsdienst ders., Arbeitsdienst in Deutschland. Berlin 1967. 15s Chefbesprechung vom 25. Jan. 1932, BA R 43 I/2042. m In einer Besprechung mit den Gewerkschaften am 18. Mai 1932 erwi­ derte Brilning auf die Forderung nach Expansion des öffentlichen Auftrags­ volumens, ,,daß die größte Schwierigkeit, der schwierigen Wirtschaftslage Herr zu werden, darin bestehe, die Resignation zu überwinden, die sich in der Produktion allenthalben bemerkbar mache. Darum müsse jede Beun­ ruhigung der Wirtschaft vermieden werden . . . Alle Wirtschaftsexperimente halte er für gefährlich". BA R 43 I/2045. 1eo Zitiert bei H. Köhler, Arbeitsbeschaffung, S. 287.

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

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bindung mit der landwirtschaftlichen Siedlung" gebracht wissen, und Dietrich propagierte die vorstädtische Kleinsiedlung als das „typische Arbeitsbeschaffungsprogramm" mit dauernder Wirkung181 • Ein Blick auf die kommunale Praxis in der Kleinsiedlung hätte gezeigt, daß Stadtrandsiedlungen für die Entlastung des städtischen Arbeitsmarktes ohne Belang waren und bäuerliche Siedlungen höchstens die Landflucht, den Zuzug ländlicher Arbeitsloser in die Städte bremsen konnten. Die Regierung Papen, die zunächst das Brüningsche Programm „sau­ ber abgeschrieben" 1 62 hat, brachte in ihrem Wirtschaftsprogramm, das sich in den Verordnungen vom 4. und 5. September 1932 niederschlug, mit der Entwicklung der Steuergutscheine zwar einen Fortschritt in der Finanzierung der Arbeitsbeschaffung, aber keine klare Entscheidung zwischen öffentlicher Auftragsvergabe und Hilfe zur Selbsthilfe der Wirtschaft. Den besonderen Interessen der Kommunen, davon war schon die Rede, wurde mithin wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Wandel trat erst mit Schleicher und der Bestellung des Präsidenten des Landgemeindetages Gereke zum Reichskommissar für Arbeitsbe­ schaffung ein. Gereke hatte schon im Sommer 1932 einen großen, aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzten Plan zur Krisenbe­ kämpfung vorgelegt, der nicht eigentlich ein kommunales Arbeitsbe­ schaffungsmodell war, aber den Kommunen eine wichtige Funktion zur Vergabe öffentlicher Aufträge einräumte163 • Gereke schaltete in dem sogenannten Sofortprogramm ganz auf direkte öffentliche Arbeitsbe­ schaffung um. Als Träger des Programms in Höhe von 600 Mill. RM hatte er Reich, Länder und Gemeinden, sonstige Körperschaften des öffentlichen Rechts und auch gemischtwirtschaftliche Versorgungs­ betriebe ins Auge gefaßt. In der entscheidenden Sitzung des Kabinettsausschusses für Arbeits­ beschaffung am 19. Dezember 1932 führte Gereke aus, ,,daß die Reichs­ regierung das größte Interesse daran haben müsse, daß sich gerade solche Gemeinden, die sich in finanzieller Bedrängnis befinden, an dem Arbeitsbeschaffungsprogramm beteiligen, damit auf diese Weise das Programm in erster Linie in den Notstandsbezirken wirke. Wenn dieses Ziel gelingen solle, müsse man den besonders verschuldeten Gemeinden einen möglichst starken Anreiz geben, sich neu zu verschulden" 1 64 • Ge­ rekes Wunsch, bei der Kreditvergabe von einer Zinsforderung gegen101 Ebd., S. 291. ter So H: Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 137. 1&s Ober Gerekes Berufung zum Reichskommissar und sein Arbeitsbeschaf­ fungsprogramm H. Marcon, Arbeitsbeschaffungspolitik, S. 237 ff., 255 ff.; Die­ ter Petzina, Hauptprobleme der deutschen Wirtschaftspolitik 1932/33, in : VfZ 15, 1967, S. 23 - 30. . 1 64 In der konstituierenden Sitzung des Ministerausschusses für Arbeitsbe­ schaffung am 19. Dez. 1932, BA R 43 11/540.

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Dieter Rebentisch

über den Gemeinden abzusehen, scheiterte zwar am Einspruch des Finanzministeriums, aber in seinem Votum drückte sich eine grund­ sätzliche Änderung der Einstellung gegenüber den Gemeinden aus.

Die relativ späte Besinnung auf die Rolle der Gemeinden als öffent­ liche Auftraggeber erklärt sich auch daraus, daß man keine klaren Vorstellungen vom Umfang und der volkswirtschaftlichen Bedeutung des kommunalen Auftragsvolumens hatte. Dabei gehörte die gezielte Auftragserteilung der öffentlichen Hand zum selbstverständlichen konjunkturpolitischen Instrumentarium, das in saisonalen Konjunk­ turtiefs und selbst bei länger anhaltenden Abschwüngen in der Regel erfolgreich eingesetzt wurde. Der Reichsarbeitsminister forderte daher von den Gemeinden und Gemeindeverbänden im November 1929, ihre Aufträge so zu verteilen und die Lieferfristen so zu stellen, daß be­ sonders in den Wintermonaten Dezember bis März ein Ausgleich für fehlende privatwirtschaftliche Aufträge geschaffen würde185 • Die Städte befolgten indessen schon längst diesen Grundsatz, wobei sie sogar Zins­ verluste in Kauf nahmen und auf die besonderen Preisvorteile ge­ schäftsstiller Zeiten verzichteten188 • Eine umfassende laufende Übersicht über die Auftragsverteilung der öffentlichen Hände, die Anhaltspunkte für eine positive Konjunkturpolitik liefern konnte, existierte jedoch nicht. Erst durch eine verfeinerte Statistik, die Umfang, branchenmäßige Gliederung und zeitliche sowie örtliche Verteilung der Aufträge erfaßte, konnte ermittelt werden, welche Auftragsgruppen überhaupt beweglich im Sinne eines konjunkturellen Ausgleichs anzusehen waren und in welchem Umfang die Zurückstellung einer Auftragsreserve in Zeiten guter Konjunktur als Ausgleichsfaktor für Abschwünge in Frage kam. Im Reichswirtschaftsministerium empfand man diesen Mangel so sehr, daß man auch ohne zureichende statistische Grundlagen wenigstens ein provisorisches Bild gewinnen wollte. Die Zahlen für das Rechnungsjahr 1930, in dem erstmals „eine größere Zahl kommunaler Auftraggeber" erfaßt wurde, ließen jedoch keine zuverlässigen Rückschlüsse auf die Vergebungspraxis der öffentlichen Hände zu187 • Beide Tabellen weisen erhebliche Mängel auf. Da das Auftragssoll nach den Haushaltsansätzen für das Reich und die Länder im Jahre 1930 zusammen etwa 2,5 Mrd. RM betrug, sind von der Statistik des

165 Schriftwechsel zwischen · Reichsarbeitsminister und Städtetag vom 29. Nov. 1929, in: Der Städtetag 24, 1930, S. 9 ff. 188 D . Rebentisch, Landmann, S. 283. 1 67 Vgl. die streng vertrauliche „Statistik über die im Rechnungsjahr 1930 vergebenen Reichs-, Länder- und Kommunalaufträge", die am 24. Febr. 1932 den Reichsressorts für den internen ·. Gebrauch übergeben wurde. BA R 43 I/2322.

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TabeUe S

Offentlidle Aufträge im Rechnungsjahr 1930 (in Mill. RM)

Reich Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Provinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Städte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

899,7 36,9 1 1,7 13,4 143,9

Reichswirtschaftsministers überhaupt nur 37 ,5 0/o des Auftragsvolumens erfaßt. Hinsichtlich der Stä dte dürfte dieser Prozentsatz noch wesent­ lich niedriger liegen. Es war nur eine sehr beschränkte Zahl von Städten in die Erhebung einbezogen und nur Aufträge von einem Mindestbetrag von 20 000 RM erfaßt worden. Obendrein blieben die gemischtwirtschaftlichen Betriebe der Städte außer Betracht. Wie weit die vorliegenden Angaben von den tatsächlichen Werten entfernt waren, läßt sich auch daran zeigen, daß der Reichsfinanzminister im Herbst 1932 davon ausging168 , daß die Gesamtaufträge der Gemeinden und Gemeindeverbände auf weniger als 2,5 Mrd. RM geschrumpft seien, während sie in früheren Jahren etwa 4,5 Mrd. RM betragen haben dürften. Tabelle 6

Aufträge der Stldte im Rechnungsjahr 1930

Branche

Bergbau Industrie der Steine und Erden Eisen und Stahl Metallwaren Maschinen Elektromaschinen Kabel und Leitungen Chemie Textil Holz Baugewerbe Sonstiges

Gesamt

Mill. RM 32,5

7,4 10,1 1,9

10,3 4,1 2,6 0,6 2,6 58,1 1,7

1 1,9

143,9

0/o

22,6

5,1 7,0 1,3 8,3 7,2 2,9 1,8 0,4 1,8 40,4 1,2

100,0

168 In BA R 43 I/2323 ; vgl. ferner Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Die Abhängigkeit der öffentlichen Finanzen von der Wirtschaftslage und das Wirtschaftsprogramm der Reichsregierung, in : Deutsche Juristenzeitung 37, . 1932, Sp. 1439 ff.

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Dieter Rebentisch

Die Statistik hat indes gleichwohl ihren Wert. Zum einen erweisen sich die Städte als größere Auftraggeber als die Länder. Zum zweiten zeigt die branchenmäßige Aufschlüsselung, daß zwar die Bauindustrie und die Kohlewirtschaft (,,Bergbau") von städtischen Aufträgen am meisten profitierten, daß aber auch die Maschinenindustrie mit einem Anteil von immerhin noch 15,5 0/o (,,Maschinen und Elektromaschinen") zu den Nutznießern städtischer Aufträge zählte. Dies und die breite Streuung der Auftragsverteilung belegt die gesamtwirtschaftlich in­ vestitionsfördernde Wirkung der Städte, ein Ergebnis, das sie zweifel­ los zur Mitwirkung an der Ankurbelung der Wirtschaft disponierte und zwar in einem größeren Maß, als es den Zeitgenossen bewußt war. VII. Zusammenfassung Das Verhältnis von Reich und Gemeinden war in den Jahren der Weimarer Republik durchweg gespannt. Zwar waren die Gemeindean­ gelegenheiten dem Buchstaben des Verfassungsrechts nach Sache der Länder, doch zog ein fortschreitender Zentralismus in der Gesetzgebung des Reiches die Gemeinden in der Praxis immer stärker in den Sog der Reichspolitik. Da ein endgültiger und die Gemeinden befriedigender Finanzausgleich ausblieb und obendrein eine ins Polemische abglei­ tende Kritik an der Finanz- und Ausgabenwirtschaft der Gemeinden um sich griff, wurde die Integration der kommunalen Selbstverwal­ tung in den Gesamtstaat zusätzlich erschwert. In der Wirtschaftskrise entlastete sich das Reich infolge der verfehlten Konstruktion der Arbeitslosenversicherung zuungunsten der Gemeinden von den Kosten der Arbeitslosenfürsorge. Unter dem doppelten Druck schrumpfender Steuereinnahmen und unkontrollierbar wachsender Mehrausgaben für die Wohlfahrtsunterstützung konnten die Gemeinden ihre Haushalte nicht mehr ausgleichen und gerieten an den Rand der Funktionsun­ fähigkeit. Die als Kommunalfeindlichkeit empfundene Haltung des Kabinetts Brüning engte den kommunalen Handlungsspielraum auch gesetzlich weiter ein. Die Gemeinden, die anfangs einer unüberlegten Sparpolitik zumindest mißtrauten, mußten ab Winter 1930/31 auf den Kurs Brünings einschwenken und auf eigene Maßnahmen zur Kon­ junkturbelebung verzichten. Erst ab Mitte 1932 wird auch in den Kommunen der Wille zur Rück­ kehr zu einer normalen Ausgabepolitik wieder erkennbar. Die Not� standsarbeiten, die die Gemeinden zur Entlastung des Arbeitsmarktes organisierten, waren wegen ihres geringen Umfangs und des fehlenden Anreizes . für .den Investitionsgütersektor ein unzulängliches Mittel der Krisentheräpie: Allenfalls zur Ergänzung regionaler und n_ationaleI_'

Kommunalpolitik, Konjunktur und Arbeitsmarkt

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Arbeitsbeschaffungsprogramme im Übergang von der Depression zur Hochkonjunktur hatten sie ihren Wert. Eine selbständige Konjunktur­ ankurbelung durch Vergabe öffentlicher Aufträge, finanziert durch eine defizitäre Haushaltspolitik, war den Gemeinden untersagt. Die Einsicht in die Fehlerhaftigkeit der Sparpolitik war zwar bei den Gemeinden größer, als es in der Kommunalpolitik vor Ort zum Ausdruck kam, doch wurden auch in den Reihen der Kommunalpolitiker spezifische Arbeitsbeschaffungsprogramme, die praktikabel und mit Aussicht auf Realisierung eine Alternative zur Deflationspolitik boten, nicht entwik­ kelt. Schließlich wurden die Gemeinden aus Unkenntnis der volkswirt­ schaftlichen Bedeutung des normalen Auftragsvolumens der Gemeinden zu spät und nur unzulänglich in die Krisenbekämpfung eingeschaltet. Die Freigabe des um 2 Milliarden gedrosselten kommunalen Auftrags­ volumens hätte dagegen schon früher einen Beitrag zur Linderung der Krise und ihrer politischen Folgen leisten können.

Aussprache zum Referat von Dieter Rebentisch Die von Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) geleitete Diskussion eröffnete Professor Dr. Hans Pohl (Bonn) mit der überspitzten Formu� lierung, der Tenor des Referats habe gelautet: Brüning sei an allem schuld, oder konkreter: Die Reichswirtschaftsverwaltung habe versagt, weil sie die Bedeutung der Aufgabenvergabe an die Kommunen nicht rechtzeitig erkannt und die Kreditbedürfnisse der Gemeinden nicht (im zusammengehen mit der Reichsfinanzverwaltung) unterstützt habe. Andernfalls hätte das Arbeitslosenproblem gelöst werden können. Ge­ wiß seien die Gemeinden nicht für die Arbeitsvergabe herangezogen worden; andererseits sei das Arbeitsprogramm Hitlers im Grunde das von Brüning gewesen, so daß die Reichswirtschaftsverwaltung 1930/32 nicht ganz so schlecht gewesen sein könne, als sie dieses Programm aufgestellt habe, das später funktionierte. Zweifellos sei das Arbeits­ beschaffungsprogramm zu spät eingesetzt worden. Auf der anderen Seite erhebe sich die Frage, ob es nicht auch Auf­ gabe der kommunalen Wirtschaftsverwaltung gewesen wäre, auf die Be­ deutung kommunaler Auftragsvergabe hinzuweisen und das Reichs­ wirtschaftsministerium entsprechend zu informieren. Das scheine offen­ sichtlich nicht geschehen zu sein. Das Problem bestehe darin, daß eine Kooperation nicht zustandegekommen sei. Das aber wiederum müsse zu einer differenzierteren Beurteilung führen, die nicht alle Verant­ wortung auf die Reichsspitze allein abschieben dürfe. Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) wollte das ge­ samtgesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Spektrum in die Be­ trachtung mit einbezogen wissen, da sich die Zeitgenossen ja nicht nur auf eine Konjunkturkrise, sondern auf eine Strukturkrise der Weltwirt­ schaft eingestellt hätten. Angesichts des hohen Stellenwerts der Ost­ hilfe, der Landwirtschaftspolitik sowie des Siedlungsprogramms bei der Reichsregierung erhebe sich die Frage nach den „ steuernden Wertvor­ stellungen", die dahinter gestanden hätten. War es mehr eine beiläufig auftretende negative Haltung gegenüber den städtisch-kommunalen Problemen oder nicht vielmehr eine grundsätzlich andersartige Beur­ teilung von städtisch-industrieller Gesellschaft und zukünftiger Ent­ wicklung? Haben nicht Vorstellungen einer Realisierung dahinter ge­ standen? Auf diese Weise wäre die fehlende Auseinandersetzung mit

Aussprache

159

den kommunalen Finanzproblemen in den Wertvorstellungen und Er­ wartungen vorstrukturiert gewesen.

Professor Dr. Gerhard Schulz (Tübingen) wandte sich gegen die These, die bereits frühzeitig von den Parteigängern Brünings ent­ wickelt worden und auch von Hoepker-Aschoff später wieder aufge­ griffen worden sei, wonach sich die Politik Brünings auf der Höhe der nationalökonomischen Einsichten seiner Zeit bewegt habe und damit gewissermaßen einer zeitgemäßen Kritik enthoben sei. Es gelte zu be­ rücksichtigen, daß eine Reihe von Vorannahmen für die Politik Brü­ nings entscheidend gewesen seien. Das Reichswirtschaftsministerium habe an den wesentlichen Entscheidungen über die Wirtschaftspolitik eher peripher als zentral mitgewirkt; entsprechende Anregungen von seiten der Kommunen wären hier wahrscheinlich unbeachtet geblieben.

Die in Brünings Memoiren geschilderte Zielsetzung, wonach die Weltwirtschaftskrise ausgenutzt werden müsse, um die Reparations­ lasten abschütteln zu können, finde sich erstaunlicherweise bereits in einem Brief des deutschen Botschafters in Moskau, von Dirksen, an das Auswärtige Amt aus dem Jahre 1931. Auch darin werde deutlich, daß der Entscheidungsprozeß in erster Linie zwischen Reichskanzler und Auswärtigem Amt und dann in späterer Zeit unter Beteiligung des Reichsfinanzministers Dietrich und des Reichsarbeitsministers Stegerwald erfolgt sei. Vorschläge von einzelnen Industriezweigen, die Beschäftigungslage zu verbessern - so durch Unterwanderung des Achtstundentags - seien von der Regierung wegen der Opposition von anderer Seite nicht berücksichtigt worden. Auch von daher bedürften die Voraussetzungen von Brünings Politik noch sorgfältiger Überprü­ fung. Noch offen sei die Frage, wann die Regierung das Ausmaß der Krise im Weltmaßstab wirklich einigermaßen angemessen beurteilt habe.

Zum Thema des Referats im engeren Sinne verwies Professor Schulz darauf, daß die negative Beurteilung der Kommunalpolitik und füh­ render Kommunalpolitiker von seiten mancher Parteiführer (z. B. von Stegerwald) unbegründet gewesen sei. Diese Parteiführer, aber auch die Mitglieder der Brüning-Regierungen, hätten nicht erkannt, daß die Städte durch Schaffung von Verkehrswegen, Bildungseinrichtungen, Wohnbauten in großem Umfang und sozialen Einrichtungen einen wesentlichen Teil der Modernisierung in der Weimarer Zeit, soweit sie sozialstaatlich zu Buche schlug, übernommen hätten. Statt dessen sei immer nur der Anleihebedarf der Städte, der das soziale Defizit der Weimarer Republik auszugleichen suchte, ins Visier genommen und gegenüber dem Anleihebedarf der Länder und der Wirtschaft als überhöht kritisiert worden. Daraus habe Popitz in seiner Denkschrift

160

Aussprache

über den Finanzausgleich die Folgerung gezogen, den Finanzbedarf der Kommunen gegenüber den Ländern erheblich zu stützen. Dieser Vorschlag, der als eine Sonderform der Tätigkeit des Bundes zur Er­ neuerung des Reiches betrachtet werden könne, sei jedoch 1932 zu spät gekommen, um zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit beitragen zu können. Professor Dr. Günter Püttner (Speyer) warnte ähnlich wie Professor Schulz davor, die Kritik gegenüber dem nationalökonomischen Er­ kenntnisstand der Brüning-Ära zu sehr zu verschärfen: ,,Denn in vielen Dingen ist es gar nicht so viel besser geworden." Auch heute wisse man über die branchenmäßigen Auswirkungen von staatlichen Förderungs­ programmen noch nicht genug; es sei die Frage, ob nicht beispielsweise statt einer wirtschaftlichen Globalsteuerung eine branchenwirksame Förderung gesetzt werden müsse. Eine ganz andere Überlegung aber sei, ob nicht die Städte seit der Erzbergerschen Finanzreform immer nur gestöhnt und geklagt hätten und dann als lästige Bittsteller in der kritischen Zeit in Berlin nicht mehr gehört worden seien. Im übrigen lasse sich der Erfolg von Ar­ beitsbeschaffungsprogrammen immer erst hinterher feststellen und auch moderne „Sachverständigenräte" pflegten keineswegs immer rich­ tig zu prophezeien. Wenn heute das Haushaltsgebaren in vielen Ge­ meinden prozyklisch verlaufe, so einfach deshalb, weil die „Not der Dinge vor Ort" eben doch oft ein anderes Verhalten erzwinge als es nationalökonomischen Theorien entspreche. Staatssekretär a. D. Klaus von der Groeben (Kiel) bezeichnete es als ein erstaunliches Phänomen, daß man in der Krisenzeit der Weimarer Republik so wenig und gerade auf der Verwaltungsseite an Arbeitsbe­ schaffung durch öffentliche Aufträge gedacht habe; denn sie sei ja aus der Erfahrung und Tradition der preußischen Verwaltung heraus das wichtigste Mittel gewesen, um in Notständen zu helfen. Aus näherer Kenntnis beispielsweise der Provinz Ostpreußen wage er die These, daß eine Reihe von Eisenbahnen, Straßen usw. sehr viel später oder viel­ leicht überhaupt nicht gebaut wären, wenn man nicht in den sehr häufigen Notständen zu dem Mittel der Arbeitsbeschaffung gegriffen hätte. In dieser Hinsicht scheint also ein gewisser Kontinuitätsbruch vorzuliegen, dessen Ursachen nachzugehen sich lohnen dürfte. Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh (Kiel) ergänzte an dieser Stelle, daß offensichtlich die antagonistische Vorstellung zwischen Staat und Selbstverwaltung auf beiden Seiten zu Vorbehalten geführt habe. Er glaube sich zu erinnern, daß Brüning einmal im Reichstag zum Aus­ druck gebracht habe, daß sein Verhältnis zu den Kommunen keineswegs gespannt sei, daß er aber als Reichskanzler die Belange des ganzen

Aussprache

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Reiches - womit offensichtlich gemeint war: die des Staates in erster Linie - im Auge zu halten habe. Neben parteipolitischen Spannungen sei offensichtlich ein gewisses Mißtrauen vorhanden gewesen, dessen Gründe ihn interessieren würden. Profesosr Dr. Michael Stolleis (Frankfurt) regte an, den Blick auch einmal auf die Sozialversicherung zu lenken, deren Vermögensver­ hältnisse sich ganz ähnlich entwickelt hätten wie die vom Referenten geschilderten Kommunalfinanzen. Auch hier bestehe eine Verknüpfung mit der Arbeitslosenversicherung, so daß es sich lohnen dürfte, den parallelen Entwicklungsstrang einmal zu verfolgen. In seinem Schlußwort ließ Dr. Dieter Rebentisch (Frankfurt) erken­ nen, daß er durchaus einige Urteile zugespitzt habe, da gerade die Geschichtswissenschaft die Gemeinden recht stiefmütterlich zu behan­ deln pflege. Auf keinen Fall habe er den Eindruck erwecken wollen, daß etwa im Bereich der Kommunalpolitik die antizyklische Krisen­ lösung sozusagen gedanklich überall vorhanden gewesen sei. Im übri­ gen sei Brünings Kriseneinschätzung im Kabinett geteilt worden. Auch der Reichsfinanz- und der Reichsarbeitsminister (Dietrich und Steger­ wald) hätten auf Grund ihrer Einschätzung der Depression als einer langfristigen Strukturwandlung der Volkswirtschaft die Reagrarisie­ rung und vorstädtische Siedlung sowie die Kleinsiedlung auf dem Lande gewollt, weil darin das typische Arbeitsbeschaffungsprogramm von Dauer gesehen worden sei. Man könne durchaus in der Weltwirtschafts­ krise von einem Mißtrauen - als Reflex auf die Epoche der Industriali­ sierung - in industrielle Produktion und städtische Massengesellschaft sprechen. Mit den daraus abgeleiteten Konsequenzen hätten die Pro­ bleme jedoch nicht bewältigt werden können. Er zweifle jedoch nicht daran, daß sich Brüning volkswirtschaftlich ,,auf der Höhe seiner Zeit" befunden habe, da er ja nicht nur ausgebil­ deter Nationalökonom gewesen sei, sondern entsprechende Debatten als seine besondere Spezialität betrachtet habe. Bei Beratungen mit Vertretern der Interessenverbände, eingeschlossen den Städtetag, habe der Reichskanzler nationalökonomische Vorstellungen vorgetragen, auch diskutiert, und anschließend unpopuläre Entscheidungen getroffen. (Der Mut zur Unpopularität sei wenigstens bei diesem Kabinett offen­ bar als Tugend empfunden worden.) Die Bedeutung des kommunalen Modernisierungseffekts könne er nur unterstreichen. Andererseits sei sicher richtig, daß die Städte mit ihrem ständigen Klagelied bei den Reichsinstanzen schließlich nicht das genügende Gehör mehr gefunden hätten. Offensichtlich sei aber auch hier eine (noch zu untersuchende) Zäsur eingetreten, da in den Jahren der Hochkonjunktur die Regierung mit einer Reihe von Fällen kom11 Speyer 66

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munale Großprojekte unterstützt habe. Auch Brüning habe als Ab­ geordneter großes Verständnis für kommunale Investitionen an den Tag gelegt. Manchen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hätten aber auch rechtliche Hindernisse entgegengestanden. So etwa dem Bau der Auto­ bahn, da nach § 13 des Finanzausgleichsgesetzes eine privatwirtschaft­ lich konstruierte Gesellschaft, wie es die „Hafraba" gewesen sei, nicht hätte unterstützt werden können. Aus diesem Grunde habe Reichs­ kanzler Brüning 1932 zu denjenigen gehört, die diesen Paragraphen hätten ändern wollen. Dr. Rebentisch schloß mit dem Hinweis, daß in seinem Referat zwei Probleme ausgeklammert geblieben seien, die noch einer Klärung be­ dürften: Zum einen müsse regional schärfer differenziert werden, um die unterschiedliche Beanspruchung von Stadt und Land durch die Krise herauszuarbeiten. Seine Ausführungen seien wesentlich aus der Optik der Großstädte heraus zu verstehen. Zum andern müsse die kommunale Parteipolitik stärker beachtet werden, was jedoch der der­ zeitige Forschungsstand noch nicht zulasse. Die Erforschung der Kom­ munalgeschichte in der Zeit der Weimarer Republik habe ihre wesent­ lichen Impulse aus der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte be­ kommen, deren Ergebnisse mit denen der Partei- und Sozialgeschichte verbunden werden müßten.

Zielsetzungen und Arbeitsweise der Verwaltungsgeschichte im Rahmen der Verwaltungswissenschaften Von Wolfgang Hofmann I.

Ich möchte die Behandlung des Themas mit einigen Vorbemerkungen in bezug auf die Herkunft der Probleme und die dabei angewandte Methode einleiten. Der Anstoß, die Funktion von Geschichte im Rah­ men der Verwaltungswissenschaften zu bestimmen, resultiert weniger aus der allgemeinen Theoriediskussion der Verwaltungswissenschaften als vielmehr aus konkreten Situationen, innerhalb derer sich die Auf­ gabe der interdisziplinären Arbeit stellte: bei Curricula-Diskussionen in Universität und Verwaltungsakademie sowie in einem inter­ disziplinären Forschungsinstitut. Hier wird die Frage nach den Er­ kenntniszielen der Verwaltungsgeschichte unvermeidlich.

Die Methode ist induktiv, indem ich versuche, die von verschiedenen Autoren dieses Gebietes verfolgten Erkenntnisziele in einen systema­ tischen Rahmen zu stellen. In dem Verfahren selbst und der Breite des Rahmens liegt u. a. die Gefahr, bestimmte Gebiete nicht intensiv genug zu behandeln. Aber es schien mir im gegenwärtigen Moment der Methodendiskussion angemessen, weniger einen speziellen Aspekt zu untersuchen als eine Übersicht zu erstellen1 • Im Verlauf der Unter­ suchung bemerkte ich, daß gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ansatz von Klaus König vorhanden sind2 • Ich habe es aber dann unterlassen, nach­ träglich seine Kategorien von Realität, Potentialität, Idealität und Normalität einzubauen. Ich meinte, daß so eine bessere Möglichkeit besteht, die Ergebnisse dieser Untersuchung mit den von König auf viel breiterer Basis entwickelten Kategorien kritisch zu messen.

Beginnen wir zunächst mit einer allgemeinen Standortbestimmung der Verwaltungsgeschichte, die ich hier in einem sehr weiten Sinne

1 Da der Text sich an einen früheren Aufsatz anschließt, werden dort bereits behandelte Aspekte hier stärker zusammengefaßt : Vgl. Wolfgang Hofmann, Erkenntnisprobleme moderner Verwaltungsgeschichte. Geschichts­ schreibung mit pragmatischer Absicht, in : Die Verwaltung 8, 1975, S. 47 - 68. 2 Klaus König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft. Berlin 1970.

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als alle wissenschaftliche Beschäftigung mit vor allem öffentlicher Ver­ waltungstätigkeit der Vergangenheit verstehe.

Eine besondere Schwierigkeit der Verwaltungsgeschichte innerhalb des Kreises der Verwaltungswissenschaften soll von vornherein aus­ geklammert werden. In der Kontrastierung der einen Verwaltungs­ geschichte mit der Vielzahl der mit der Verwaltung beschäftigten Wissenschaften wie Rechtswissenschaft, Verwaltungslehre, Finanz­ wissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie, die ja ihren eigenen historischen Aspekt in bezug auf ihren je besonderen Gegenstands­ bereich und ihre Wissenschaftsgeschichte haben, wird eine Tendenz zur Auflösung der Verwaltungsgeschichte deutlich3 • Dieser Problem­ bereich soll jetzt nicht erörtert werden. Es handelt sich hier weniger um Wissenschaftsorganisation als um Erkenntnisziele und -methoden. Ich gehe vielmehr von einer, durch einen differenzierten Gegenstand bestimmten Verwaltungsgeschichte aus, die sich vielfältiger Methoden bedienen muß, dabei jedoch an die allgemeinen methodischen Regeln der Sozialwissenschaften im weiteren Sinne gebunden ist.

Auf der anderen Seite erscheint Verwaltungsgeschichte als ein kaum aus der allgemeinen Geschichtswissenschaft emanzipiertes Fach. Die Stellung der Verwaltungsgeschichte als einer solchen historischen Teil­ disziplin im Rahmen der Geschichtswissenschaft ist keineswegs beson­ ders bedeutsam. Das ist gerade den Verwaltungshistorikern selbst be­ wußt, wie aus zwei methodischen Aufsätzen des Dresdener Historikers und Archivars Karlheinz Blaschke4 und des britischen Historikers G. E. Aylmer6 hervorgeht. Aylmer nennt die, allerdings herkömmliche, Verwaltungsgeschichte „eher zahm und ein wenig langweilig"6, Blaschke empfindet das geringe Angebot an verwaltungsgeschichtlichen Veranstaltungen im modernen Universitätsbetrieb - der DDR - kei-

a Diese Problematik der Verwaltungsgeschichte ist in bezug auf Methoden der Organisation in begrenztem Maße der Situation anderer Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft vergleichbar wie zum Beispiel der Technik­ geschichte, deren Ausprägung sich zwischen Technikern, Naturwissenschaft­ lern, Wirtschaftswissenschaftlern und Historikern der verschiedenen Teil­ bereiche vollzieht. Vgl. dazu Karin Hausen und Reinhard Rürup, Moderne Technikgeschichte. Köln 1975, insbesondere S. 20 ff. Ein Unterschied dürfte darin bestehen, daß die Distanz zwischen Verwaltungsgeschichte und anderen Verwaltungswissenschaften geringer ist als zwischen technischen Wissen­ schaften und den an ihrer Geschichte interessierten Sozialwissenschaften, die Emanzipation der Verwaltungsgeschichte also schwieriger ist. 4 Die Verwaltungsgeschichte als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, in : Annali della fondazione italiana per la storia amministrativa 2, 1965, s. 9 ff. 5 Problems of method in the study of administrative history, ebd. 1, 1964, s. 20 ff. a Ebd., S. 20 : "The history of administration, especially if taken in its narrower, more oldfashioned sense, may well seem rather tarne, perhaps even a trifte dull compared with the dramas of high politics . . . "

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neswegs als Mangel. Diese weitverbreitete Meinung ist verwunderlich, wenn man die große gesellschaftliche Bedeutung in Rechnung stellt, die die Verwaltung in einigen Staaten schon seit langem und im Zuge der modernen Industriegesellschaft überall einnimmt: die funktionale Bedeutung der Verwaltung für die Aufrechterhaltung der Lebens­ bedingungen in modernen Gesellschaften, die soziale Bedeutung der Büroangestellten in der Struktur der modernen Gesellschaft und die raumgestaltende Bedeutung des tertiären, dabei insbesondere des staat­ lichen Sektors in der neueren Stadtentwicklung, sei es in bezug auf die Zentralität eines Ortes oder das räumliche Binnengefüge einer Stadt, um nur drei Gebiete zu nennen.

Seit diesen Äußerungen Aylmers und Blaschkes in der Mitte der sechziger Jahre hat sich das Bild durch neuere Forschungen etwas gewandelt. Die starke Aufmerksamkeit, die der Wirtschaftsgeschichte in den letzten Jahren gewidmet wurde, verwies die Verwaltung aber doch häufig in den Bereich von abgeleiteten „Überbauphänomenen" und billigte ihr damit nur einen geringeren Rang zu.

Allerdings sind sowohl die Aussagen von Aylmer wie von Blaschke an bestimmte methodische Bedingungen geknüpft, an eine gewisse methodische Rückständigkeit einer isolierten Behördengeschichte. Der Anspruch beider Autoren auf wissenschaftliche Relevanz der Verwal­ tungsgeschichte ist aber höher angesetzt, weil er sich auf die metho­ dischen Anforderungen einer modernen Verwaltungsgeschichte stützt. Aylmer vertritt mit seinen Untersuchungen über die „Diener" von König und Parlament im 17. Jahrhundert7 eine Sozialgeschichte der Verwaltung, in der die Institutionen und ihre einzelnen Mitglieder im Zusammenhang des sozialen Umfeldes betrachtet werden. Blaschke hebt ebenfalls den Zusammenhang von Verwaltung und Gesellschaft hervor, insbesondere im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel, der sich sowohl auf die Verwaltungsinstitutionen auswirkt, wie von ihnen gefördert wird. Er demonstriert das an zwei Veränderungen der sächsischen Behördenstruktur aus dem 16. und 19. Jahrhundert, die eine Anpassung einmal an die Geldwirtschaft und dann an die Bedingungen und Normen einer liberalen, bürgerlichen Erwerbsgesell­ schaft darstellen. Die Ursache der geringen Geltung der älteren Ver­ waltungsgeschichte im Kanon der historischen Wissenschaften sieht Blaschke nun in ihrer pragmatischen Zielsetzung, ihrer Verengung auf die Ausbildungsbedürfnisse von Archivaren, unter der Geltung des Provenienzprinzips über die Behördenorganisation informiert zu werden.

1 The king's servants. The civil service of Charles r.; 1625 - 1642. London 1961 ; ders., The state's servants. The civil service of the English Republic, 1649 - 1660. London 1973.

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Aber auch innerhalb der Verwaltungswissenschaften ist die Position der Verwaltungsgeschichte als Disziplin und methodischer Aspekt nicht ohne Probleme und unübersichtlich. Aussagen, die sich auf eine frühere Praxis oder Theorie der Verwaltung oder ihres sozialen Umfeldes beziehen, erscheinen in sehr vielen Publikationen von nicht-historischen Verwaltungswissenschaftlern oder Curricula der Verwaltungslehre. Ver­ waltungsgeschichte als geschlossene Darstellung wie als methodischer Aspekt findet sich sowohl in Spezialuntersuchungen wie auch in Grund­ rissen und Lehrbüchern; hier denke ich etwa an die bekannten Lehr­ bücher des Verwaltungsrechts von Forsthoff8 und Wolff9. Diese ver­ waltungsgeschichtlichen Anteile können sowohl als geschlossene Dar­ stellungsblöcke wie als nicht speziell ausgewiesener Argumentations­ horizont in einzelnen Kapiteln auftreten.

Unterschiede in den einzelnen Disziplinen der Verwaltungswissen­ schaften sind auf den ersten Blick nicht zu erkennen, und die Vertreter verschiedener Methoden innerhalb einer Spezialdisziplin wie z. B. der politologischen Verwaltungsforschung verwenden den historischen Aspekt gleichermaßen: sei es in der Institutionengeschichte oder in der politökonomischen Richtung, sei es, daß sie sich mit den Problemen der Entwicklung von Entscheidungsstrukturen innerhalb des öffent­ lichen Sektors, insbesondere im Hinblick auf die Verwaltung beschäfti­ gen, wie z. B. Ellwein10 , oder mit der Bestimmung von Funktionen oder Disfunktionen der Verwaltung im Rahmen des historischen Prozesses der Gesellschaft: So sucht z. B. Offe die Verlagerung der Meinungs­ bildung von den repräsentativen Körperschaften der Gemeinde und den Parteien auf Bürgerinitiativen nicht aus der Entwicklung des Apparates selbst, sondern aus der Analyse des Spätkapitalismus zu erklären11 • II.

Um diese Vielfalt der Erkenntnisziele und -methoden quer durch die Disziplinen etwas zu systematisieren, möchte ich von einer groben Unterscheidung ausgehen und diese dann in sich differenzieren. Ich will zwischen einer orientierenden und einer pragmatischen Funktion der Verwaltungsgeschichte unterscheiden. s Ernst Forsthof!, Lehrbuch des Verwaltungsrechts. 10. Aufl. München 1973. e Hans J. Wolff, Verwaltungsrecht, 3 Bde. 3. - 9. Aufl. München 1970 ff. 10 Vgl. die verschiedenen Arbeiten von Thomas EUwein, wie : Einführung in die Regierungs- und Verwaltungslehre. Stuttgart 1966 ; ders. und Axel Görlitz, Parlament und Verwaltung, Teil 1 : Gesetzgebung und politische Kontrolle. Stuttgart 1967 usw. Dazu Rolf-Richard Grauhan, Politikwissen­ schaftliche Forschung zur Verwaltung, in : DÖV 23, 1970, S. 587 ff. 11 Claus Offe, Zum politischen Stellenwert von Bürgerinitiativen, in : Großstadt-Politik, hrsg. von R. R. Grauhan. Gütersloh 1972, S. 237 - 248.

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Die orientierende Funktion der Verwaltungsgeschichte korrespon­ diert weitgehend mit dem Typus von Erkenntniszielen, wie sie die all­ gemeine Geschichtswissenschaft verfolgt: im Rahmen einer Entwick­ lungsgeschichte eine zumindest indirekte Standortbestimmung der gegenwärtigen Situation zu geben. Damit können sich verschiedene didaktische Ziele wie das der Legitimation, durch Aufzeigen der Fort­ schritte eines Verwaltungssystems und seiner Leistungen, oder der Emanzipation, durch Aufzeigen des Wandels der Verwaltung, ver­ binden. Im Rahmen der Verwaltungsgeschichte bezieht sich diese Funktion entweder auf eine Organisations- und Aufgabengeschichte einer bestimmten Institution bzw. der öffentlichen Verwaltung all­ gemein, z. B. der kommunalen Selbstverwaltung und der Staatsverwal­ tung, oder es soll über die Entwicklungsgeschichte besonderer Bereiche der Verwaltung wie des Personals, der Finanzen, der Entscheidungs­ strukturen und der Planung usw. informiert werden. Diese orientierende Funktion wird vor allem durch die besonderen, als verwaltungsgeschichtlich ausgewiesenen Abschnitte in den allge­ meinen Lehrbüchern oder in den Curricula der Grundausbildung in Verwaltungsfragen repräsentiert bzw. durch all die historischen Einzel­ forschungen, die zur Erstellung eines solchen verwaltungsgeschicht­ lichen Überblicks dienen. Diese stellen rein quantitativ die Mehrzahl der verwaltungshistorischen Forschungen dar und sind im Rahmen einer relativ selbständigen Wissenschaftsorganisation immer in Gefahr, die Bindung an allgemeine Erkenntnisziele zu verlieren.

Wenden wir uns nun den pragmatischen Zielsetzungen der Ver­ waltungsgeschichte zu. Ich verstehe darunter eine Anwendung der historischen Perspektive, die Erkenntnisse von unmittelbarem prak­ tischen Nutzen für das gegenwärtige Handeln erbringen soll. Hier treffen wir nun auf einen methodischen Widerspruch. Einerseits haben wir eine teils unbefangene, teils sehr methodenbewußte Verwendung dieser historischen Perspektive im Bereich der anwendungsorientierten Verwaltungswissenschaften zu registrieren. Als Beispiel für einen solchen, geradezu selbstverständlichen Rückgriff auf den Erfahrungs­ schatz der Geschichte sei eine Formulierung von Ulrich Battis zitiert: „Schon ein Blick in die Geschichte der Verwaltungslehre schützt jedoch vor überzogenen Hoffnungen11.'' Auf der anderen Seite haben wir die ausgesprochene Skepsis führen­ der Vertreter von Geschichtswissenschaft und historisch arbeitender Soziologie wie Theodor Schieder13 und Ralf Dahrendorf14 zu registrie-

Juristische Verwaltungslehre, in: Die Verwaltung 8, 1975, S.428. 1s Unterschiede zwischen historischer und sozialwissenschaftlicher Methode, in: Geschichte und Soziologie, hrsg. von Hans-Ulrich Wehler. Köln 1972, s. 299. 12

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ren, die vom Historiker und der ihm zugeordneten Methode des histo­ rischen Verstehens keine Aussagen über künftiges Handeln erwarten. Sie können sich dabei auf bekannte Äußerungen von Friedrich Nietzsche15 und Jacob Burckhardt16 aus dem 19. Jahrhundert über den begrenzten Nutzen historischer Erkenntnisse stützen. Die Sonder­ stellung der an die politische Geschichte gebundenen, traditionalen Verwaltungsgeschichte gegenüber anderen praxisbezogenen Wissen­ schaften gerade in der Sicht dieser Wissenschaftstradition des 19. Jahr­ hunderts wird noch einmal in der Einschätzung Max Webers deutlich: Er leitet seinen bekannten Aufsatz über die Objektivität sozialwissen­ schaftlicher Erkenntnis mit dem Satz ein17 : ,,Wir alle wissen, daß unsere Wissenschaft, wie mit Ausnahme vielleicht der politischen Geschichte jede Wissenschaft, deren Objekt menschliche Kulturinstitutionen und Kulturvorgänge sind, geschichtlich zuerst von praktischen Gesichts­ punkten ausging." Demgegenüber gehörte in historisch gar nicht so weit zurückliegenden Zeiten, in Epochen, in denen die moderne Wissenschaft und die bürger­ liche Gesellschaft sich entwickelten, der pragmatische Rückgriff auf die geschichtliche Erfahrung zu den methodischen Selbstverständlich­ keiten der Autoren, die über Verwaltungs- und Verfassungsprobleme handelten. Dieses Verfahren stand unter der bekannten Devise „historia magistra vitae", zu deren Beleg ich hier nur auf Jean Bodin und seinen „Methodus ad facilem historiarum cognitionem" verweise18• Dort erläutert Bodin das von Plato und Aristoteles entwickelte Ver­ fahren, durch vergleichendes Studium aller, auch der vergangenen Verfassungen und Gesetze die beste Art eines Staates zu erkennen19 • Gerhard Oestreich hat in verschiedenen Aufsätzen darauf hingewie­ sen, wie in der Niederländischen Reformbewegung des 16. und 17. Jahr­ hunderts, insbesondere durch Justus Lipsius, sowohl Begriffe des römischen Stoizismus als auch organisatorische Prinzipien des römi­ schen Staates übernommen wurden. ,,Die römische Verwaltung, der 1 4 Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. München 1965, S. 33 ff. u Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart 1951. 1 0 Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Werner Kaegi. Bern 1947, S. 51: Burckhardts Skeptizismus äußert sich in seinem bekannten Satz, .,daß Geschichte nicht sowohl klug (für ein andermal) als weise (für immer)" machen solle. 1 7 Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in : Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, hrsg. von Johannes Winckel­ mann. 3. Aufl. Stuttgart 1964, S. 186. 1s Jean Bodin (Johannes Bodinus), Methodus ad facilem historiarum cognitionem. Amsterdam 1650 (Aalen 1967), S; 1 : .,Cum historia laudatores habeat complures, qui veris eam ac propriis laudibus exornarunt, ex omnibus tarnen nemo verius ac melius, quam qui vitae magistram appellavit . . . " 11 Ebd., S. 154 ff.

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Aufbau ihres Finanz- und Steuerapparates, aber auch die geistig ethischen Voraussetzungen des römischen Staatswesens wurden inten­ siv studiert und bildeten einen besonderen Ausgangspunkt für die Gestaltung des frühmodernen Staates. Die politisch moralischen Werte Roms, an der Spitze auctoritas und disciplina entwickelten sich zu historisch politischen Grundbegriffen der Zeitoo."

Mit dieser Praxis brach der Historismus des frühen 19. Jahrhunderts, indem er die Individualität von Personen und Situationen heraus­ arbeitete. Dadurch wurde der detaillierten Übernahme von Ver­ fahrensweisen und Regeln von früheren Zeiten ein methodischer Riegel vorgeschoben. Mit dem von Koselleck herausgearbeiteten Nie­ dergang der zitierten Devise „historia magistra vitae" sank auch der Kurswert der Pragmatiker und der pragmatischen Methode. Dies läßt sich recht gut an Wertungen und Definitionen der führenden Lexika des 19. Jahrhunderts ablesen. Während noch der Brockhaus von 1824 den politischen Pragmatismus, verknüpft mit der Frage nach Ursachen und Folgen einer historischen Begebenheit als Methode, wenn auc-h schon mit historistischen Modifikationen, zum Maßstab nahm21 , waren für den Meyer in der zweiten Auflage von 1864 die Pragmatiker wissenschaftliche Naivlinge22• Der Nutzen der Geschichte, an dem hier emphatisch festgehalten wird, konnte sich nur noch auf allgemeine

20 Gerhard Oestreich, Die antike Literatur als Vorbild der praktischen Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, in : R. R. Bolgar (Hrsg.), Classical influences on European culture, A. D. 1500 - 1700. Cambridge 1976, S. 322 ; ders., Der Geist des Machtstaates und die Antike, in : G. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin 1969, S. 1 1 ff. 2 1 Allgemeine Deutsche Real-Encyclopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon). 6. Aufl. Leipzig 1824, S. 174 (,,Geschichtsschreiber" - Anwendung des Begriffs Pragmatismus auf Schlözer) und S. 798 : ,,Prag­ matisch heißt überhaupt, was auf unser Verfahren angewendet werden kann ; daher auch gemeinnützig, lehrreich. Eine Geschichte wird pragmatisch vorgetragen, wenn darin über die Ursachen und Folgen der erzählten Be­ gebenheiten lehrreiche Aufschlüsse und Winke zu einer gehörigen Benutzung des Erzählten gegeben werden. Vgl. den Artikel Polybius." 22 Meyers Konversationslexikon, 2. Aufl. Leipzig 1874, Bd. 7, S. 714: ,,So bietet sich die Geschichte auch beim Handeln, beim Eingreifen in die An­ gelegenheiten der Gegenwart als eine sichere Führerin dar. Wiewohl die Rücksicht auf die praktische Brauchbarkeit, wie bei keinem wissenschaft­ lichen Studium so auch bei dem der Geschichte keineswegs vorwalten darf, weil dadurch leicht dem unbefangenem, gründlichem und tiefem Forschen Eintrag geschehen könnte, und demnach jene bei älteren und neueren Pragmatikern so beliebten Definitionen, wonach die Geschichte Moral, Politik oder Philosophie in Beispielen sein soll, zurückzuweisen sind, so sind es doch namentlich zwei Lehren, welche die Geschichte auf jedem ihrer Blätter bestätigt, einmal : daß die geistige Kraft stets größer ist als die physische Gewalt, und dann : daß alles Unglück, welches die Herrscher, die Nation und die Individuen getroffen hat, wenn es nicht unmittelbare Folge von Natur­ revolutionen gewesen, immer zunächst aus eigener Verschuldung der davon Heimgesuchten hervorgegangen ist."

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Einsichten beschränken, im Sinne von Burckhardts „ weise für immer" und nicht „klug für ein andermal".

Was daneben noch mit dieser Wendung der Geschichtswissenschaft von der Aufklärung zum Historismus aufgegeben wurde, hat Ernst Pitz 1974 vor dem Deutschen Archivartag in einer umfassenden Über­ sicht dargelegt23 • Zugunsten der am handelnden und sich äußernden Subjekt orientierten historisch-philologischen Methode wurde die ver­ gleichende, sozialgeschichtliche und universalgeschichtliche Blickrich­ tung wenn nicht vollkommen aufgegeben, so doch auf Nebengebiete abgedrängt; zu denen gehörte allerdings die neuere Verwaltungs­ geschichte in einigen führenden Vertretern, die wie Otto Hintze24 oder Hans Haushen-25 vergleichend arbeiteten.

Die methodischen Fortschritte, die der deutsche Historismus gebracht hat, sollen hier gar nicht geleugnet werden. Pitz hebt die historisch­ philologische Methode im Hinblick auf die gerade für die Verwaltungs­ geschichte besonders wichtige Quellenkritik hervor. Mir scheint für unsere spezielle Fragestellung die Kritik des Historismus am Pragma­ tismus der Aufklärung auf der Grundlage eines geschärften Bewußt­ seins für Epochen und Chronologie besonders wichtig zu sein: die Er­ kenntnis der doch weitgehenden Unterschiedlichkeit aller historischen Situationen voneinander, z. B. der der Niederlande des 16. Jahrhunderts oder des Frankreichs der großen Revolution von ihrem jeweiligen Vorbild, dem römischen Staat. Bei Anwendung dieses historischen Prinzips der Periodisierung kommt man allerdings auf die interessante Frage, in welcher Weise dann eine zumindest partiell ganz erfolgreiche Rezeption römischer Staatseinrichtungen erfolgen konnte. Aber dies ist hier nicht unser Thema26• Die Folge dieser Hinwendung zum handelnden Individuum, allen­ falls noch Kollektivindividuen wie Verbände aller Stufungen, von der

2a Geschichtsschreibung im Wandel der Interessen und Methoden. Plä­ doyer für mehr vergleichende Geschichtsbetrachtung, in: Der Archivar 28, 1975, s. 237 ff. 24 Gesammelte Abhandlungen, 3 Bde., hrsg. von Gerhard Oestreich. 2. Auf­ lage. Göttingen 1962 ff. 25 Verwaltungseinheit und Ressorttrennung vom Ende des 17. bis Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin (Ost) 1953. 2e Die vergleichende Methode bot hier gewisse Flexibilität insofern, als sie erlaubte, unter den betrachteten Institutionen die jeweils für die eigenen Zwecke passendste auszuwählen. So weist Oestreich in dem zitierten Aufsatz über die antike Literatur darauf hin, daß im Laufe des 16.Jahrhunderts Athen in den Hintergrund trat ; das Interesse richtete sich auf die Institutio­ nen Roms. - Ein von Oestreich an anderer Stelle zitierter Vorwurf Meineckes gegenüber Macchiavell ist allerdings ebenfalls bedenkenswert : Dieser habe praktisch die antiken Autoren nur als bestärkende Autoritäten zitiert, sich aber unmittelbar nur in Sachen der Kriegskunst an sie gehalten. (Vgl. G. Oestreich, Der Geist des Machtstaates, ebd.).

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Gemeinde bis zum Staatsverband, und deren subjektiven, überlieferten Aussagen war das Desinteresse an nicht vorgegebenen historischen Erscheinungen, also z. B. im sozialen Bereich der Verwaltungsgeschichte eine Vorliebe für die historische Biographie statt historischer Sozio­ logie der Verwaltung27 • Damit ging ein Verzicht auf systematische Fragestellungen und eine Theoriefeindlichkeit einher, die nach Pitz „zum Abbruch der Beziehun­ gen zur Volkswirtschaftslehre, zur Rechtswissenschaft und zur Gesell­ schaftswissenschaft geführt und damit deren heute oft beklagte Ge­ schichtsferne zumindesten nicht entgegengewirkt" 118 hat, was der Ver­ waltungsgeschichte das Angebot einer Entwicklungshilfe in Sachen Systematik von seiten der Verwaltungswissenschaft durch Roman Schnur eintrug29 • Ein notwendiges und zu begrüßendes Angebot der Kooperation, das aber auf Fehlentwicklungen innerhalb der Verwal­ tungsgeschichte hinweist. III. In der Gegenwart haben wir nun - ungeachtet dieses Bruches mit den Traditionen der pragmatischen Geschichtsschreibung - eine häufige Verwendung der historischen Perspektive in praktischer Absicht, die über eine allgemeine Nationalpädagogik, wie sie gerade der Historismus kannte, hinausgeht. Nach der Sichtung einiger Beispiele lassen sich hauptsächlich vier Zielsetzungen auf dem Gebiet der Verwaltungs­ wissenschaften erkennen : 1 . Die Überprüfung von traditionalen und gesetzlichen Normen, deren funktionaler Sinn auf früheren Verhältnissen beruhte. Als Beispiel sei 2 1 Vgl. dazu etwa die Vielzahl historischer Biographien in der Verwaltungs­ geschichte, als deren Leitlinie man die Darstellungen des Freiherrn vom Stein ansehen kann, angefangen von G. H. Pertz (1849 ff.) bis Franz Herre (1973). Damit ist nichts gegen die Berechtigung von Biographien gesagt, dort wo sie nach der relativen Bedeutung der darzustellenden Personen und den metho­ dischen Möglichkeiten angebracht sind ; allerdings etwas gegen die sich in der langen Vorherrschaft der Biographie äußernde überbetonung des in­ dividuellen Einflusses in einer auf Gleichförmigkeit, Arbeitsteilung und kollektives Handeln abgestellten Organisation wie der Bürokratie. Das ist gerade in der deutschen Verwaltungsgeschichte zu beachten, wo selbst die Spitzen der Verwaltung (Minister, Reichsstaatssekretäre, berufsmäßige Ober­ bürgermeister) aus der Verwaltung selbst hervorgegangen und von ihr ge­ prägt worden sind. Durch die Veröffentlichungen der letzten Jahre über die Rekrutierung und sozialen Merkmale der Beamten vom brandenburgischen Landesstaat über Bismarcks Reichsverwaltung bis zur Bundesrepublik ist man allerdings auf dem Wege zu einem Gleichgewicht. 2s E. Pitz, Geschichtsschreibung, S. 251. 20 Die Institutionalisierung der Verwaltungswissenschaft, in : Über die Notwendigkeit einer neuen Verwaltungswissenschaft (Reihe Politik und Verwaltung, Heft 1). Baden-Baden 1966, S. 59 ff.

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hier der zugleich traditionale und grundgesetzlich garantierte Kompe­ tenzbereich der kommunalen Selbstverwaltung genannt30• Seine Gel­ tung ist durch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an eine Über­ prüfung der historischen Entwicklung gebunden.

2. Die Überprüfung von verbreiteten Meinungen, die das Handeln der Verwaltung oder die Einwirkungen auf sie bestimmen, wenn für diese Auffassungen eine historische Begründung in Anspruch genom­ men wird. Hier sei als Beispiel das in der öffentlichen Meinung nach wie vor einflußreiche „Parkinsonsche Gesetz"31 über die Eigendynamik des Wachstums des öffentlichen Dienstes genannt, mit dem sich die ver­ waltungswissenschaftliche Literatur seit dessen Formulierung im Jahre 1957 immer wieder auseinandersetzt.

Erst kürzlich hat sich der ehemalige Vizepräsident des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes Rasch32 im Anschluß an frühere Unter­ suchungen von Ule33 und Sturm34 erneut damit beschäftigt. Im Unter­ schied zu den Untersuchungen der beiden genannten Autoren, die eine historisch langfristige, über rund 80 Jahre dauernde Entwicklung des öffentlichen Dienstes zur Überprüfung der Parkinsonschen These heranziehen, nimmt Rasch eine mittelfristige Perspektive (1950 - 70) an und setzt damit Ules und Sturms Untersuchungen regional, d. h. für Hessen, fort. Interessant scheint mir dabei in Raschs Untersuchung vor allem der Umstand, daß in dieser Periode die Steigerungsquote beson­ ders im Kultussektor sehr hoch war, wo die hierarchischen Verwal­ tungsstrukturen schon früher nur teilweise - besonders in den Hoch­ schulen - ausgeprägt waren und zudem noch parallel zum Anstieg des Personals eine Enthierarchisierung vor sich ging. Damit wird eine der wesentlichen Voraussetzungen von Parkinsons These, die j a gerade auf dem Selbstausbau der Hierarchie beruht, eingeschränkt. Eine weitere Variante der Überprüfung geltender Normen und herrschen­ der Meinungen bildet die Untersuchung von zentralen Verwaltungsprin­ zipien, wie sie etwa Heinrich Heffter mit seiner Geschichte der Selbst30 Klaus Stern und Günter Püttner, Die Gemeindewirtschaft - Recht und Realität. Zum staats- und kommunalverfassungsrechtlichen Standort der kommunalen Wirtschaft. Stuttgart 1965. Vgl. dazu W. Hofmann, Erkenntnis­ probleme, passim. 31 C. Northcote Parkinson, Parkinsons Gesetz. Düsseldorf 1957, S. 13 ff. Vgl. dazu W. Hofmann, Erkenntnisprobleme, passim. s2 Probleme der Bürokratie der öffentlichen Hand - Kritische Bemerkun­ gen zur Kritik an der Bürokratie, in : Verwaltungsarchiv 67, 1976, S. 235 ff. as Carl Hermann Ule, Parkinsons Gesetz und die deutsche Verwaltung. Berlin 1960 ; ders. (Hrsg.), Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes. Köln 1961. u Eckart Sturm, Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in Deutschland, in : Die Entwicklung des öffentlichen Dienstes, S. 1 - 285. - Vgl. W. Hofmann, Erkenntnisprobleme, passim.

Zielsetzungen und Arbeitsweise der Verwaltungsgeschichte

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verwaltung geleistet hat35• In einer Situation unmittelbar nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, als die tragenden Prinzipien der staatlichen Reorganisation noch weitgehend umstritten waren, wie z. B. die Untersuchung von Wolfgang Rudzio38 über die Kommunalreform in der britischen Zone gezeigt hat, sollte diese breite Darstellung, die in ihrer Anlage zugleich Orientierungsfunktion hatte, die „Anknüpfung an lebendige Kräfte der geschichtlichen Tradition" als demokratische Möglichkeit aufweisen37•

Methodisch wird in der Ausformung dieser ersten beiden Typen der pragmatischen Ziele der Verwaltungsgeschichte das besonders vom Historismus geprägte Paradigma von Rekonstruktion und Traditions­ kritik, von Überprüfung geschichtlich begründeter Urteile durch die wissenschaftlich kontrollierte Herstellung des historischen Urteils­ grundes geübt38 • Das hindert aber nicht eine der modernen Struktur­ geschichte vergleichbare Distanz zum klassischen Idealismus des deut­ schen Historismus, die sich durch Verwendung quantifizierender Ver­ fahren (Ule / Sturm) und Typisierung (Stern / Püttner) ausweist. Das Ergebnis dieser kritischen Überprüfung kann sowohl die Legitimierung und Bestätigung wie die Revision der kritisierten Urteile sein. Aus beiden lassen sich dann Folgerungen für die Praxis ziehen, sei es in bezug auf den Kompetenzbereich der Selbstverwaltung oder auf Leit­ linien für die Personalpolitik der öffentlichen Verwaltung. 3. Der dritte Typus der Verwendung der verwaltungsgeschichtlichen Methode in pragmatischer Absicht ist die Erstellung einer handlungs­ bezogenen Theorie.

Unter einer handlungsbezogenen Theorie verstehe ich hier ein Ensemble von Aussagen, das in systematischer Weise und auf begriff­ lich und empirisch abgesicherter Grundlage ein Verhältnis herstellen soll zwischen zahlreichen Elementen der Realität, um zunächst einen Erklärungszusammenhang für funktionale Beziehungen zu finden, aus dem dann Handlungsalternativen gefolgert werden können, deren Wirkung und Konsequenz mit einer gewissen Sicherheit absehbar sind.

36 Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen. Stuttgart 1950. - Vgl. dazu W. Hofmann, Erkenntnis­ probleme, passim. 36 Die Neuordnung des Kommunalwesens in der britischen Zone. Stuttgart 1968. Vgl. dazu die Rezension von K. Jürgensen in : HZ Bd. 213, 1971, S. 228 ff. 37 H. Heffter, Selbstverwaltung, S. 10. 38 Zum Begriffspaar von Rekonstruktion und Traditionskritik vgl. Ernst Schulin, Zeitgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, in : Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Bd. 1. Göttingen 1971, S. 103 ff. ; ders., Rückblicke auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, in : Die Funktion der Geschichte in unserer Zeit, hrsg. von Eberhard Jäckel und Ernst Weymar. Stuttgart 1975.

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Im Unterschied zu den ersten Typen pragmatischer Verwaltungs­ geschichte handelt es sich meist um komplexe Zusammenhänge, so daß Fragestellungen und Methoden der ersten Typen hier eingehen können. Beispiele für solche handlungsbezogenen Theorien sind etwa die Ver­ suche der Finanzwissenschaftler, eine Theorie der öffentlichen Finan­ zen aufzustellen, in die sowohl die differenzierte Struktur eines föde­ ralen Staatssystems, eines differenzierten Steuersystems und die unter­ schiedlichen Reaktionen der jeweils davon betroffenen gesellschaft­ lichen Gruppen und Individuen eingehen. Solche Theorien werden dann mit empirisch-historisch ermittelten sozialen Gesetzen wie der zum Gesetz erhobenen These von Johannes Popitz von der „Anziehungs­ kraft des jeweils größeren Etats" im Bundesstaat aufgefüllt39. Ein weiteres Gebiet solcher handlungsbezogenen Theorien sind die Diskussionen um die Verwaltungsreform, wenn auch nur in seltenen und dann um so mehr beachteten Beispielen die Höhen eines umfassen­ den Erklärungszusammenhanges erreicht werden, wie die normative Theorie von Frido Wagener über den „Neubau der Verwaltung"40 • Sie eignen sich insofern besonders gut für die Anwendung historischer Fragestellungen, weil Verwaltungsreformen - so verbreitet sie in der engeren Gegenwart auch sind - nicht zu den Alltagserfahrungen von Verwaltungsroutine gehören. Es liegt deshalb nahe, auf die historische Perspektive zurückzugreifen, zumal man dabei innerhalb der Struktur­ prinzipien der zu reformierenden Verwaltung bleiben kann. Den so hoch geschätzten Vorzug der größeren Gegenwartsnähe haben dem­ gegenüber die Rezeptionen von Verwaltungsreformen anderer zeit­ genössischer Gesellschaften. Die immer, wenn auch in verschiedenen Graden, vorhandenen sozio-kulturellen Unterschiede von politischen Systemen und Gesellschaft setzen aber auch hier gewisse Grenzen41 • Welche Funktionen hat nun Geschichtswissenschaft innerhalb dieser handlungsbezogenen Theorien? a) Die Geschichte einer Verwaltungsinstitution kann die ursprüng­ lichen und jeweils späteren Funktionsbestimmungen aufdecken und dadurch die heutige - sinnvolle oder überholte - Funktionszuordnung verstehen lassen, in die man eingreifen will. Dies ist eine der am meisten verwandten Begründungen. Auf sie weisen sowohl Franz­ Ludwig Knemeyer42 wie Frido Wagener43 und auch Wilhelm Bleek44 so Vgl. dazu Hendrik Gröttrup, Die kommunale Leistungsverwaltung. Stutt­ gart 1973, S. 53 f. 4 0 Berlin 1969, 2. Aufl. 1973. 4 1 Vgl. für eine solche Rezeption Roman Schnur, Widerstände und Schwie­ rigkeiten bei Verwaltungsreformen, in : Deutsches Verwaltungsblatt 85, 1970, 753 ff. 42 Regierungs- und Verwaltungsreformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Köln 1 970, S. 7, 16.

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in der methodisch besonders klaren und aufschlußreichen Kommen­ tierung des pragmatischen Aspektes seiner Untersuchung über die Qualifikation des Verwaltungspersonals in der preußischen Reformzeit hin: ,,Man kann die Gegenwart nicht ändern, ohne um die Bedingungen ihrer historischen Entstehung zu wissen und diese in die Reformpläne einzubeziehen."

b) Man kann das theoretische Niveau erhöhen durch Einbeziehung der Argumente früherer Reformen in das Kalkül der heutigen Dis­ kussion. Dieses Verfahren wendet z. B. Frido Wagener an. Dabei liegt das methodische Problem in der Überprüfung der Gültigkeit solcher Argumente, wenn nicht für die frühere, so doch für die heutige Situation.

c) Die Verwaltungsgeschichte wird als ein Laboratorium gesehen, innerhalb dessen Prozesse systematisch studiert werden können, welche heutigen Vorgängen ähneln, um grundlegende Kategorien zu gewinnen und wesentliche Faktoren ausmachen zu können. Ich zitiere hier Bleek : „Zum anderen bieten historische Reformen ein nützliches Beispiel für den Ablauf von Reformprozessen, für die Aufstellung von Plänen und die Grenzen ihrer Verwirklichung, für die Träger und die Opponenten von grundsätzlichen Änderungen, für das gesellschaftliche Bedürfnis nach Reformen und die gleichzeitige Beschränkung der Reformfähig­ keit durch die Gesellschaftsstrukturen44. "

Bleeks Untersuchung selbst ist hier ein instruktives Beispiel. Er arbeitet keine durchgehende Entwicklung der heutigen Ausbildung zum höheren Verwaltungsdienst heraus; das wäre ja die Erklärung nach Entstehungsgründen. Vielmehr sucht er einen zur heutigen Re­ formdiskussion, wie er sagt, ,,parallelen Ablauf" heraus, die Aus­ bildungsreform zur Zeit der preußischen Reformen und dem Vormärz. Damit gerät er in die Gefahr der Analogieschlüsse, vor denen ihn die Beachtung zweier methodischer Prinzipien wenigstens weitgehend bewahrt. Er bleibt innerhalb der Strukturen der modernen Verwaltung, indem er auf die Entstehung der „auch heute noch grundlegenden Reform der deutschen Juristenausbildung" zurückgeht46•

Innerhalb dieser Strukturen ist der Erfahrungstransfer aber wesent­ lich leichter zu vollziehen als zwischen unterschiedlichen Strukturen. Zum anderen beschränkt er sich bei dem expliziten Versuch, ,,Lehren" aus dem Gang der preußischen Reformen, speziell auf dem Gebiet der 43 Neubau der Verwaltung, S. 13 : ,,Das Verständnis weiter Teile der Ver­ waltung setzt also die Kenntnis ihrer Geschichte voraus." 44 Die preußische Reform : Verwaltungsqualifikation und Juristenbildung (1806 - 1817), in : Die Verwaltung 7, 1974, S. 179. 45 Ebd., S. 179 f. 48 Ebd., S. 180.

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personellen Qualifikation für heutige Reformbedürfnisse zu ziehen, auf thesenhafte Andeutungen; denn er geht von der Voraussetzung aus, daß „sich doch historische Abläufe nicht mechanisch auf die Gegenwart übertragen, sondern höchstens mit ihr parallelisieren (lassen), und setzen dabei eine Analyse nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart voraus" 47 • Diese Thesen lauten zusammengefaßt: a) Eine vom gesellschaftlichen Prozeß isolierte „Rationalisierung und Effektivierung des Staatsapparates" mag kurzfristig erfolgreich sein, langfristig aber mehr Folgelasten hervorbringen als Nutzen. b) Bei jeder Verwaltungsreform ist eine „sozialwissenschaftliche Analyse des Zusammenhangs von Staatsfunktion und Sozialstruktur" nötig. c) Die Reform der Ausbildung zum öffentlichen Dienst sollte weniger durch Ersetzung der reinen Verwaltungsjuristen durch Volkswirte, Soziologen, Politologen usw. geleistet werden, als vielmehr in der sozial­ wissenschaftlichen Grundlegung der Juristenausbildung, denn sonst werde „nur ein (begrenzter) Ausbildungsgang durch einen anderen er­ setzt". Sieht man sich diese aus dem Studium eines „parallelen Ablaufs" ge­ zogenen Lehren genauer an, dann fällt ein unterschiedlicher Grad der Spezialität der Aussagen auf: Während die ersten beiden Erkenntnisse noch im Rahmen einer allgemeinen, handlungsorientierten Theorie bleiben, innerhalb derer die Beachtung bestimmter Zusammenhänge empfohlen wird, ist der dritte Satz speziellerer Natur. Obwohl die Empfehlung einer sozialwissenschaftlich fundierten Juristenausbil­ dung noch manche Details offenläßt, folgt sie in ihrer Bestimmtheit doch nicht notwendig aus den als Prämissen zu verstehenden, allge­ meinen Regeln, vor allem nicht in dieser thesenhaften Form. Sie bezieht ihre Überzeugungskraft wesentlich aus der Analogie zu den von Alten­ stein und Wilhelm von Humboldt vorgeschlagenen staatswirtschaft­ lichen und staatswissenschaftlichen Ergänzungen des Studiums der Ver­ waltungsjuristen. Denkbar wäre also z. B. auch die Folgerung, die Aus­ bildung von Politologen und Soziologen für den Verwaltungsdienst durch juristische Bestandteile zu ergänzen. Bleek trifft hier also eine Auswahl unter den drei oder vier Möglichkeiten, die sich in die Form des Analogieschlusses kleidet, aber de facto eine Selektion noch eigener Wertungen ist. Er überschreitet hier, wenn man Max Webers methodo­ logische Überlegungen zur „Objektivität sozialwissenschaftlicher Er47 Ebd., S. 195.

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kenntnis" als richtig anerkennt, die Kompetenz des Wissenschaftlers und nimmt die Rolle des „wollenden Menschen", des Handelnden, an48 •

In diesen Bereich der theoriebildenden Geschichtsschreibung gehört auch ein Aufsatz von Franz Pfeffer über den Katalog des Städtebau­ förderungsgesetzes für Sanierungen. Pfeffer weist mit erheblichem Nachdruck darauf hin, ,,daß die Geschichte der Verwaltung und ihrer Wissenschaft in empirischer, systematischer und normativer Hinsicht von Nutzen für die Verwaltungslehre sei" 49 •

Er versucht, diese These durch eine Kritik am Katalog des Städte­ bauförderungsgesetzes zu belegen, wobei er eine historisch ver­ gleichende Darstellung von Städtebautheorien und Sanierungszielen in verschiedenen Ländern zugrundelegt. Der methodische Rahmen für die Untersuchung ist allerdings so knapp gehalten, daß man sich bei der Einschätzung dieses Versuchs mehr auf die Interpretation des von Pfeffer vorgenommenen Testes selbst als auf seine Folgerungen stüt­ zen sollte. Das Verfahren, das er anwendet, ist die Erstellung einer Typologie von Sanierungszielen und Sanierungsmethoden in histo­ rischer und vergleichender Perspektive. Mit Hilfe dieses weiten Be­ zugsrahmens weist er nach, daß mit Berücksichtigung dieses Katalogs der § 3 des Städtebauförderungsgesetzes hätte genauer gefaßt werden können, um z. B. die für Altstädte besonders wichtige konservierende und indirekte Sanierung für diese Gebiete vorzusehen, während die weite Fassung des § 3 der Flächensanierung Vorschub leistet. Erst eine negative Praxis und politische Auseinandersetzungen haben hier das Bewußtsein für differenzierende Behandlungen gefördert, die - so Pfeffers These - aus einer besseren Auswertung von historischen Erfahrungen hätten gewonnen werden können50 • 48 Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher Erkenntnis, in : Max Web.er, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, hrsg. von Johannes Winckel­ mann. Stuttgart 1964, S. 188. 4 9 Verwaltungsgeschichte als Verwaltungswissenschaft. Eine kritische Be­ trachtung des Zielkatalogs im Städtebauförderungsgesetz, in : Archiv für Kommunalwissenschaften 12, 1973, S. 195. 5 0 Pfeffer definiert die drei Kategorien zwar noch näher : ,,Empirisch insofern, als der Rückblick auf frühere administrative Tätigkeiten Anhalts­ punkte für ihre Weiterentwicklung geben kann, systematisch wegen der Möglichkeit fruchtbarer Vergleiche, normativ durch die Aufdeckung zu­ fälliger oder fehlerhafter Entwicklungsketten und durch die Offenbarung fruchtbarer Korrekturansätze." Ihr Sinn wird aber weder dadurch noch durch die am Schluß vollzogene Wideraufnahme erhellt. ,,Empirisch" könnte nach dieser knappen Definition gleich „prognostisch" sein. Wie der spätere Gebrauch zeigt (S. 227), stimmt es aber weitgehend mit dem Maßstab „nor­ mativ" im Sinne der Aufdeckung von Fehlentwicklungen überein, z. B. einem zu hohen Stellenwert des Verkehrs. Normativ scheint hier im Sinne von kritischer Maßstab gebraucht zu sein. Das Ganze läuft auf eine systematisch vergleichende Erfassung von Beispielen hinaus, die ein breiteres und dif­ ferenzierteres Bild der Gegenstände, Ziele und Methoden von Sanierungen ergeben. Darin liegt allerdings ein positives Ergebnis.

12 Speyer 66

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4. Ein vierter Bereich, für den Verwaltungsgeschichte eine Rolle spielen kann, ist der der Prognose; d. h. Aussagen über den zukünftigen Stand der Verwaltung und ihrer Aufgaben in zehn, zwanzig oder vier­ zig Jahren. Der Zusammenhang von Verwaltung und Prognose ist methodisch ungemein interessant, wie ja das ganze Gebiet der Zu­ kunftsforschung. Für die allgemeinen Probleme der historischen Wis­ senschaft verweise ich hier auf Ernst Schulins Aufsatz „Die Frage nach der Zukunft" 51 • Daß dieses Element der Prognose von Vorgängen innerhalb der Ver­ waltung oder solcher, die auf die Verwaltung Auswirkung haben, schon deshalb einer wissenschaftlichen und damit auch verwaltungsgeschicht­ lichen Kontrolle bedarf, mag durch den Hinweis erhärtet werden, daß es auch unabhängig von wissenschaftlicher Beschäftigung als Problem innerhalb der Verwaltung selbst besteht, wenn es um Eingemeindungen oder Investitionen geht. Dabei werden jeweils Erwartungen einer zu­ künftigen Entwicklung aus Erfahrungen, d. h. früheren Entwicklungen, gefolgert. Sowohl die Prämissen solcher Erwartungen wie die Folge­ rungen bedürfen aber der genaueren Analyse. Die wohl bekannteste Prognose über die zukünftige Entwicklung der Verwaltung, Max Webers52 konditionierte Vorhersage von der universalen Herrschaft der Bürokratie, wollen wir hier außer Acht lassen, da sie zwar einen historischen Begründungsgehalt hat, aber in ihrer Allgemeinheit eine mehr orientierende als pragmatische Funktion erfüllt. Von größerer Detailliertheit und Bestimmtheit der Aussage sind demgegenüber die schon erwähnten sozialwissenschaftlichen Gesetze von Parkinson und Popitz. Ihre Interpretation der vergangenen und gegenwärtigen Entwicklung des öffentlichen Dienstes bzw. der Struk­ tur der öffentlichen Finanzen enthält j a auch die Funktion der Prognose. Auf seriöserer Basis als Parkinson liegen jedenfalls die prognostischen Schätzungen von Ellwein über die Entwicklung des öffentlichen Dien­ stes. Die zum großen Teil historische Basis dieser Prognosen legt Tho­ mas Ellwein in der Schrift „Verwaltungspolitik in den 70er Jahren" daz-53. s 1 In : Geschichte heute. Positionen. Tendenzen. Probleme, hrsg. von Ger­

hard Schulz. Göttingen 1973, S. 109 ff.

52 Gesammelte politische Schriften. 2. Aufl., Stuttgart 1971, S. 332: ,,Im Verein mit der toten Maschine ist sie [die lebende Maschine der bürokratischen Organi­ sation] an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im alt­ ägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und d. h. eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll." s3 Bad Godesberg 1968.

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Es ist ein Fortschreiben von statistisch ermittelten Trends der Ent­ wicklung des deutschen öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung von globalen Trends - die also ebenfalls historisch zu belegen sind wie die Verkürzung der Arbeitszeit, die durch Steigerung der Personal­ zahlen ausgeglichen wird. Im Bereich der historischen Statistik liegen auch gewisse Schwächen einer solchen Prognose, da einmal, wie Ellwein bemerkt, der hohe Standard der deutschen Statistik nicht für den öffentlichen Dienst gilt54 • Vor 1914 ist man ohnehin weitgehend auf Schätzungen angewiesen; außerdem fehlt die kausale und differenzie­ rende Analyse dieser weithin noch zu erstellenden Statistiken über den gesellschaftlichen Prozeß der Bürokratisierung. Ich nenne hier als Bei­ spiel nur den ausgezeichneten Aufsatz von James Sheehan von 1971, „Liberalism and the city in 19th century Germany". Er stellt dort in einem größeren Abschnitt den Übergang von der Honoratiorenverwal­ tung zur Beamtenverwaltung in summarischer Weise dar. Gerade da­ durch wird die Vielzahl von Fragen in bezug auf die unterschiedlichen quantitativen Maßstäbe und die genaue Periodisierung dieses Prozesses, unterschieden nach Stadttypen und Verwaltungssparten, erst recht zum Problem55 • Hier liegt eine Aufgabe für Geschichte als historische Sozial­ wissenschaft vor, in der sich orientierende und pragmatische Funktion weitgehend berühren.

Im Bereich der öffentlichen Finanzwirtschaft sind von den damit befaßten Wissenschaftlern schon seit längeren Zeiten gewisse Trends festgestellt worden, deren Andauern eine Prognose ermöglichen sollte, die dann zum Ausgangspunkt für öffentliches Handeln werden kann. Hier wären sowohl das „Wagnersche Gesetz von den wachsenden Staats­ ausgaben, sowie das „Popitzsche Gesetz von der Anziehungskraft des jeweils größeren Etats" zu nennen. Sie unterscheiden sich von den durch Karl R. Popper kritisierten „unerbittlichen Gesetzen eines welt­ geschichtlichen Ablaufes" nationalistischer und kommunistischer Her­ kunft durch den sektoralen Charakter und den höheren Grad von wis­ senschaftlicher Begründung56 • Im Prinzip trifft auf sie Poppers Kritik, bedingte Trends als Quasi-Gesetze auszugeben, aber ebenso zu. Hendrik Gröttrup hat im Zusammenhang seiner Darstellung der kommunalen Leistungsverwaltung eine übersichtliche Zusammenfassung der wissen­ schaftlichen Diskusison zu Wagner und Popitz gegeben57 • Der progno­ stische Gehalt dieser sozialwissenschaftlichen Gesetze ist umstritten, wie die seit ihren ersten Formulierungen vor hundert bzw. 45 Jahren an­ dauernde Diskussion zeigt. Das Problem liegt sowohl in der sehr komEbd., S. 49 f.

James Sheehan, Liberalism and the city in 19th century Germany, in: Past and Present 1971, S. 249 ff. 5 6 Das Elend des Historizismus. Tübingen 1965, S. VII, 34. 57 Die kommunale Leistungsverwaltung, S. 49 ff. 54

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plizierten kausalen Analyse der Gründe für die in diesen Gesetzen enthaltenen Entwicklungstrends wie in der Bewertung der Manipulier­ barkeit solcher Trends durch politisches Handeln. Gröttrup weist z. B. darauf hin, daß der lange Zeit stetige, relative Rückgang der gemeind­ lichen Ausgaben im Rahmen des öffentlichen Gesamthaushaltes von 40 °/o im Jahre 1913 auf 24 °/o im Jahre 1 958, im Jahre 1968 auf 28 °/o korrigiert wurde. Für die pragmatische Verwaltungsgeschichte bleibt in beiden Interpretationen sowohl bei den an bestimmte Bedingungen geknüpften prognosefähigen Gesetzen wie in ihrer Auffassung als manipulierbare Entwicklungstrends die Aufgabe der genauen Analyse von Rahmenbedingungen und unmittelbaren Ursachen, sei es innerhalb des Bereichs der Verwaltung oder gesamtgesellschaftlicher Entwicklun­ gen. Neben einfachen Trendextrapolationen und komplexeren, historisch begründeten Gesetzen können als weitere Instrumente der verwaltungs­ wissenschaftlichen Prognose die Simulation von Vorgängen in der Ver­ waltung und Entwicklungen im Umkreis von Verwaltungen innerhalb von Planspielen und Computersimulationen genannt werden. Für sie gilt Ähnliches wie für die sozialwissenschaftlichen Gesetze und Theo­ rien der Verwaltung. Sie brauchen zu ihrer Konstruktion ein nicht un­ beträchtliches Maß historischer Forschung und können dabei zunächst in erklärender Absicht eingesetzt werden, dann aber auch zur Simulation künftiger Entwicklungen unter der Annahme unterschiedlicher Bedin­ gungen. Die Arbeit von Helmut Klages zur Computersimulation des so­ zialen Wandels kann hier methodologisches Vorbild sein58 • Bei Klages wird noch einmal in exemplarischer Weise eine der Grundbedingungen moderner pragmatischer Geschichte formuliert, die durch den Lernprozeß des Historismus hindurchgegangen ist: ,,Natür­ lich gilt diese nur unter der Voraussetzung, daß in demjenigen Wirk­ lichkeitsbereich, der durch Simulation hypothetisch erschlossen wird, die ,Grundstruktur' desjenigen anderen Bereichs, für den das verwen­ dete Modell ursprünglich entwickelt worden war, erhalten bleibt, daß also zwischen den beiden Bereichen keine qualitativen Umbrüche be­ stehen, welche die in das Modell aufgenommenen Variablen und im Hinblick auf die zwischen ihnen bestehenden zusammenhänge gewähl­ ten Beziehungsformeln außer Kraft setzt59 ." Klages setzt sich hier deutlich von den Analogievorstellungen der älteren Soziologie, und wie man ergänzen muß, auch der älteren Ge­ schichtswissenschaft, ab. Die Prognosefähigkeit des von ihm entwor­ fenen Modells der Computersimulation für den gesellschaftlichen Wanss In : Zur soziologischen Theorie und Analyse des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Walter Rüegg und Otto Neuloh. Göttingen 1971, S. 54 - 64. 5 9 Ebd., S. 64.

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del bezieht sich auf die Bedingungen einer Gesellschaft, die von der in­ dustriellen Revolution geprägt worden ist60 • IV.

Ich fasse die Ergebnisse in einigen Thesen zusammen:

1. Die auf die Lösung praktischer Gegenwartsprobleme orientierten Verwaltungswissenschaften können die historische Perspektive schon deshalb nicht vernachlässigen, weil diese im Verwaltungshandeln selbst enthalten ist: in Form von Erwartungen, die sich auf frühere Entwick­ lungen stützen, oder in Form von Urteilen, die sich auf historische Grundlagen stützen.

2. Dieser Sachverhalt wird in den Verwaltungswissenschaften in der Weise reflektiert, daß es neben einer allgemeinen orientierenden Ver­ waltungsgeschichte, die zum Verständnis gegenwärtiger Verwaltung durch Darstellung ihrer Entwicklung beitragen will, eine pragmatische Zielsetzung gibt. 3. Diese pragmatische Zielsetzung tritt in folgenden vier Formen auf61 :

a) Überprüfung tradierter Normen auf ihre Funktionalität in der Ge­ genwart hin, b) Überprüfung von Erfahrungssätzen auf die Richtigkeit ihrer histo­ rischen Begründung hin, c) Prognose künftiger Entwicklung auf der Grundlage von Entwick­ lungen, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichen und dabei eine bestimmte Tendenz zeigen, d) Bildung von handlungsbezogenen Theorien aus dem Studium histo­ rischer Erscheinungen, die mit der Gegenwart strukturgleich sind.

4. Die Möglichkeit solcher pragmatischer Aussagen beruht auf der Anwendung systematischer Fragestellungen, kausaler Erklärungen und so Ebd., S. 58. et In dieser knappen Zusammenfassung wird die Parallelität zu Klaus Königs eingangs zitierten Kategorien (s. Anm. 2) besonders deutlich. Von den aufgezeigten Erkenntniszielen des pragmatischen Typus korrespondiert 3 a mit der „Normalität", 3 b mit der „Realität", 3 c mit der „Potentialität" und 3 d mit der „Idealität". Ein weitergehender Vergleich kann allerdings im Rahmen dieses Vortrages nicht geleistet werden ; so kann insbesondere hier nicht geklärt werden, in welchem Verhältnis die weite Bereiche der Ver­ waltungsgeschichte abdeckende „orientierende Funktion" zu den Kategorien von König steht. Die Übereinstimmung des auf induktivem Wege gewonnenen Schemas kann aber als eine Bestätigung des umfassenden Charakters des Königsehen Systems angesehen werden. Der Teilbereich der Verwaltungs­ geschichte erweist sich als ein weitgehend in das System der Verwaltungs­ wissenschaften integrierbares Gebiet.

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strukturell-funktionaler Betrachtungsweise ; die Methode entfernt sich damit von den Prinzipien des Historismus, des Verstehens und Be­ schreibens vorgegebener Individualitäten. Sie bezieht aber andererseits mit dem Instrumentarium von Traditionskritik und Rekonstruktion Methoden ein, die aus dem Historismus entwickelt wurden. 5. Die pragmatische Geschichtsschreibung ist auf die Ausformung der orientierenden Verwaltungsgeschichte im Rahmen des allgemein historischen Prozesses insofern angewiesen, als von daher die Rahmen­ bedingungen der spezifischen Fragen des pragmatischen Interesses er­ schlossen werden. 6. Die unabhängig von den Anforderungen der pragmatischen Ziel­ setzung für den Bereich der orientierenden Verwaltungsgeschichte er­ hobenen methodologischen Forderungen nach Überwindung einer iso­ lierten Behördengeschichte und einer Besinnung auf systematische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen korrespondiert weitgehend mit den Bedingungen der pragmatischen Zielsetzung. 7. Die beiden wesentlichen Probleme einer pragmatischen Geschichts­ schreibung, die vor allem bei der Mischung von orientierender und pragmatischer Zielsetzung auftreten, sind: a) Die durch die Erfahrung des Historismus markierte Gefahr des Analogieschlusses von einer historischen Situation in eine andere. Deshalb kann eine historische Methode vor allem dann angewandt werden, wenn Historisches in irgendeiner Form in die Gegenwart hineinwirkt (3 a - 3 c) oder mit Hilfe einer entsprechenden Theorie in die Strukturen der Gegenwart eingepaßt wird (3 d). b) Die andere Gefahr pragmatischer Geschichtsschreibung liegt in der Überschreitung der wissenschaftlichen Kompetenz durch wertbe­ zogenen Dezisionismus, mit dessen Hilfe ein durch wissenschaft­ liche Argumentation nicht hinreichend abgesicherter Schluß als detaillierte Empfehlung abgegeben wird. In diesem Punkte ist die Situation der Verwaltungsgeschichte nicht prinzipiell verschieden von der anderer Verwaltungswissenschaften, wie die anhaltende Diskussion über die wissenschaftliche Beratung von Politikern zeigt62 •

&2 Vgl. dazu die Literaturübersicht bei Eberhard Laux, Beratung der Politik, in : Die Verwaltung 6, 1973, S. 217 ff.

Aussprache zum Referat von Wolfgang Hofmann Die von Professor Dr. Carl Böhret (Speyer) geleitete Aussprache eröffnete Professor Dr. Dr. Klaus König (Speyer) als Verwaltungs­ wissenschaftler mit dem Hinweis auf einen Verlust an Geschichte in manchem Bereich sozialwissenschaftlicher Lehre und Forschung und verwies darauf, daß die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zu den wenigen vergleichbaren Einrichtungen in der Welt gehöre, die ihren Bezug zur Geschichte schon durch die Existenz eines entsprechenden Lehrstuhls - wie im übrigen auch einen für Philo­ sophie - bekundeten. Klassische Fächer wie die Rechtswissenschaft oder die Wirtschaftswissenschaft stünden in einem Spannungsverhält­ nis zur Geschichtswissenschaft. Angesichts des Umstandes, daß in der Hochschule Speyer eigene Lehrstühle für Verwaltungswissenschaft im engeren Sinne vorhanden seien, tauchten zusätzliche wissenschafts­ theoretische Fragen auf. Gerade in der Verwaltungswissenschaft, die nach deutscher Tradition oft auch Verwaltungslehre genannt werde, seien eine Fülle von historischen Aussagen zu finden. Unter diesem Gesichtspunkt sei das Referat außerordentlich instruk­ tiv gewesen, weil es sich mit den Funktionen derartiger Aussagen beschäftigt habe. Zu ergänzen sei es um einen Hinweis auf den dialek­ tischen Ansatz in der Verwaltungswissenschaft. Hier habe Geschicht­ lichkeit eine ganz spezifische Funktion. Was in der dialektisch-histori­ schen Theorie allgemein zu finden sei, nämlich in der Geschichtlichkeit die Ursache der Bewegung zu finden, die durch die bestehenden Wider­ sprüche ermöglicht wird, werde in bestimmten Schulen auch auf die öffentliche Verwaltung angewandt, um hier die Bewegungsgesetze geschichtlicher Totalität zu begreifen, die immanenten Widersprüche aufzudecken, die Prozeßrichtung zu bestimmen usw. Aber auch wenn man einem solchen Ansatz nicht folge, habe die Geschichte für die verwaltungswissenschaftliche Arbeit Funktionen. Genausowenig wie für den Verwaltungspraktiker gebe es für den Verwaltungswissen­ schaftler einen Nullpunkt. Versuche von Theoretikern, mit dem Mo­ dell eines Zero-Budgets zu operieren, seien unergiebig geblieben. Die Verwaltungswissenschaft müsse sich auf die historische Ausgangslage beziehen. An den Historikern sei es, durch ihren Beitrag von der Ver­ waltungsgeschichte her den Verwaltungswissenschaftlern wie den

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Verwaltungspraktikern dadurch zu helfen, daß Geschichte als ein Handlungsgefüge gebundener Rationalität begriffen und daß von die­ ser Grundlage her Verwaltungshandeln überhaupt erst ermöglicht werde. Professor Dr. Hans Pohl (Bonn) unterstrich sehr pointiert, daß die Geschichtswissenschaft nicht beim Historismus stehengeblieben sei und der Positivismus wieder „modern" sei. In der Geschichtswissenschaft gebe es eine starke Strömung, die Geschichte als historische Sozial­ wissenschaft verstehe. Eine orientierende Geschichtsschreibung lasse sich aber nur theoretisch von einer pragmatischen trennen. Auch sei die Simulation von Vorgängen der Vergangenheit, insbesondere in den USA, längst bekannt und beispielsweise an der Fragestellung: Was wäre geschehen, wenn der Eisenbahnbau nicht stattgefunden hätte? durchgespielt worden. Auf einem ganz anderen Blatt stehe die Frage, ob eine solche Simulation der Vergangenheit oder auch eine futuristi­ sche Geschichtsschreibung sinnvoll sei. Professor Pohl bejahte aus­ drücklich die anschließend von ihm gestellte Frage, ob man „Nutzen" aus historischer Erfahrung und historischer Bildung ziehen könne. Eine künstliche Trennung zwischen orientierender und pragmatischer Geschichtsschreibung entfalle, wenn man den Standort der Verwal­ tungsgeschichte etwas anders einordne, nämlich - bildlich gespro­ chen - die Verwaltungsgeschichte als Zentrum, umlagert von der Verfassungsgeschichte, der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die all­ gemeine politische Geschichte werde im Bereich der Verwaltung durch die Verfassungsgeschichte abgedeckt. Eine Verwaltungsgeschichte ohne Verfassungsgeschichte sei ebensowenig möglich wie ohne Sozial­ geschichte, da sie sonst zur alten Behördengeschichte zurückkehre, und auch nicht möglich ohne Wirtschaftsgeschichte, da sie die Ökonomie der Verwaltung nicht außer Betracht lassen könne. Damit komme es auf das Verhältnis dieser Wissenschaften zu ihren jeweiligen theoretischen Bezügen an: Also auf das Verhältnis von Ver­ fassungsgeschichte zur Verfassungswissenschaft (Verfassungslehre), auf das Verhältnis der Sozialgeschichte zur Sozialwissenschaft usw. Das bedeute, die gleichen Forschungsobjekte mit unterschiedlichen For­ schungsmethoden anzugehen, wobei die eine Wissenschaft die jeweils andere als „Hilfswissenschaft" benutze. Wenn man das Verhältnis der theoretischen Wissenschaften zur „praktischen Geschichte" so sehe, dann brauche keine „künstliche" Trennung zwischen orientierender und pragmatischer Geschichtsschreibung mehr ztt erfolgen, weil sich ja beide ergänzten und sozusagen gegenseitig als „Hilfswissenschaften" dienen würden. Nicht zu übersehen sei in den genannten drei Bereichen der Aspekt des Individuellen, da nicht nur die soziale Herkunft, Schich­ tung usw. der Beamtenschaft eine Rolle spiele, vielmehr geb_e es auch

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in de:r Beamtenschaft herausragende Individuen, die bisher zweifellos zu sehr in den Blickpunkt der Forschung getreten seien, andererseits aber nicht derart ausgeschaltet werden könnten, wie das Referat er­ kennen lasse. Professor Dr. Michael Stolleis (Frankfurt) sprach sich ebenfalls gegen eine Unterscheidung zwischen orientierender und pragmatischer Ge­ schichtsbetrachtung aus, da es sich offensichtlich nur um ergänzende Konzeptionen von unterschiedlicher Intensität handle, zumal beide Varianten einem Konzept vom Nutzen der Geschichte verhaftet seien. Von daher tauche die Frage auf, ob es auch außerhalb des Rahmens der Verwaltungswissenschaften Verwaltungsgeschichte gebe, die nicht den vom Referenten skizzierten „gegenwärtigen Zielen" zugewandt sei.

Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) stellte in einer Zwischenbemerkung klar, daß es nicht in seiner Absicht gelegen habe, sozusagen eine Disziplin orientierender und eine solche pragmatischer Geschichtsschreibung aufzurichten, sondern daß es ihm um bestimmte Erkenntnisziele und Erkenntnisinteressen gegangen sei. So bestehe ein Unterschied darin, ob man beispielsweise die Steinsehen Reformen daraufhin untersuche, wie sie abgelaufen seien und in welchem Ver­ hältnis die einzelnen Maßnahmen zueinander ständen, welches die gesellschaftlichen Bedürfnisse gewesen seien, auf die sie antworteten und einer Fragestellung, die lautet : Was läßt sich aus dem Ablauf der Steinsehen Reformen für Verwaltungsreformen heute lernen? Das aber seien grundsätzlich verschiedene Erkenntnisinteressen, um deren Un­ terscheidung es ihm gehe. Das Verhältnis der Verwaltungsgeschichte als Disziplin zu anderen Wissenschaften habe er aus seinem Referat ausgeklammert, da es ihm nicht um eine Systematik von Verwaltungs­ wissenschaften gegangen sei, sondern - wie erwähnt - um verschie­ dene Erkenntnisziele innerhalb einer historischen Betrachtungsweise, deren Gegenstand die Verwaltung sei.

Verwaltungsgeschichte ließe sich selbstverständlich auch innerhalb der allgemeinen Geschichtswissenschaft betreiben, müsse aber auch dort eine „gesellschaftliche Funktion, einen Erkenntniswert" haben, also einen „Nutzen". Ein wesentlicher Teil dessen, was als „orien­ tierende Geschichtsschreibung" die Verwaltungsgeschichte betreffe, sei traditionell eine Sache der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Diese Problematik sei in gegenwärtigen Curricula-Diskussionen der Verwaltungswissenschaften von Bedeutung, in denen den Historikern der Verwaltungsgeschichte keine eigenständige Rolle zugesprochen werde. Auch die Curricula für Verwaltungslehre aus den letzten Jahren .hätten die Verwaltungsgeschichte häufig anderen Disziplinen zugewiesen, nicht aber den Historikern. Das sei aber nicht das Problem des Referats. Die für ihn entscheidende Frage laute : Mit welchen Er...

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kenntnisinteressen könne man eigentlich an Verwaltungsgeschichte - in welcher Disziplin auch immer - herangehen?

Staatssekretär a. D. Werner Schmidt (Kiel) erweiterte den pragma­ tischen Ansatz des Referenten nach zwei Seiten hin, um dadurch neue Perspektiven zu eröffnen. Der „strategische Sinn" der Beschäftigung mit der Verwaltungsgeschichte lasse sich nicht im Blick auf die gegen­ wärtige Verwaltung erschöpfen. Zum einen sei derzeit eine außer­ ordentlich erstaunliche Renaissance der Lokal- und Landschafts­ geschichte zu verzeichnen; das Interesse auch bei der jüngeren Gene­ ration an der Frage „Wie war es denn eigentlich?" sei außerordentlich gewachsen. Dazu gehöre auch die Fragestellung, wie es im administra­ tiven Bereich gewesen sei. Dieses Interesse trage wesentlich dazu bei, das Selbstverständnis lokaler Bereiche zu erweitern (beispielsweise in Schleswig-Holstein über die Frage einer Urwahl des Bürgermeisters). Zum andern sei von Bedeutung, wie weit man den Begriff der Ver­ waltungsreform fasse, wenn so weit, wie Professor von Unruh in seinem Referat, dann sei die Übernahme der schleswig-holsteinischen Verwal­ tung durch Preußen und die Rezeption der preußischen Verwaltung eine tiefgreifende Reform gewesen, durch die ein „völlig rückständiges System" an die Erfordernisse eines modernen Staates angepaßt wor­ den sei. Von daher aber würde die Ansicht vieler Schleswig-Holsteiner, daß sie „eigentlich Mußpreußen" seien, revidiert werden müssen und die Integration der nach 1945 nach Schleswig-Holstein gekommenen „Altpreußen" erleichtert werden. An diesem Beispiel zeige sich die Bedeutung des „Nutzens" der Verwaltungsgeschichte im pragmatischen Feld.

Nach Ansicht von Staatssekretär a. D. Schmidt komme der Verwal­ tungsgeschichte aber noch eine weitere Funktion zu: Sie könne die Menschen über die Lokal- und Landschaftsgeschichte wieder an die Geschichte überhaupt heranführen. Darüber hinaus besitze die deutsche Verwaltungsgeschichte pragmatische Bedeutung in einer ganz anderen Hinsicht: Sie könne Entwicklungslinien aus den einst deutschen Ent­ wicklungsländern auf gegenwärtige Diskussionen übertragen, und zwar nicht dadurch, daß man Modelle übernehme, sondern Leitlinien auf­ zeige, wie Entwicklungsländer wie Preußen oder Österreich in früheren Jahrhunderten entsprechende Probleme gemeistert hätten: Wie sei es ihnen gelungen, aus einem Lande ohne natürliche Grenzen, mit vielen Sprachen und großen Diskrepanzen in der wirtschaftlichen Entwicklung einen stabilen Staat zu formen? Genau das sei das Problem der Development Administration. Darauf aber könnten wir aus unserer Geschichte „eine ganze Reihe von Antworten" geben, genauso wie Österreich, das eine große auch administrative Leistung repräsentiere, indem es über Jahrhunderte hin verschiedene Stämme und Völker und

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Sprachen zu einer Einheit gebracht habe. Darüber hinaus sei es möglich und sinnvoll, aus der Verwaltungsgeschichte „handlungsbezogene Theorien" zu entwickeln, die uns wieder in die internationale Dis­ kussion hineinführen könnten; der Reichtum der historischen Ent­ wicklung auf dem Kontinent sei breiter gefächert als etwa der in den angelsächsischen Ländern. Schließlich kam Staatssekretär a. D. Schmidt als Praktiker auf die Juristenausbildung zu sprechen, als deren Basis Lorenz von Stein Philosophie und Geschichte bezeichnet habe, mit denen man beginnen müsse, wenn man sich mit dem Recht beschäftigen wolle. Junge Leute, die heute in die Verwaltung einträten, besäßen zwar umfassende Kenntnisse in der Jurisprudenz, nicht aber über die Geschichte und Entwicklung der eigenen Administration. Erwünscht sei ein stärker ,,perspektivisches Denken", wie es die Verwaltungsgeschichte ver­ mitteln könne. Professor Dr. Gerhard Schulz (Tübingen) verwies auf das Phänomen, das man heute etwas theoretisch begründen müsse, ehe man sich mit der Sache selbst befasse, eine Situation, die sich gegenüber 1929 voll­ ständig umgekehrt habe, als Eduard Spranger formulierte : ,,Wenn eine Wissenschaft kritisch wird, dann wird sie theoretisch. " Er persönlich halte es mit Spranger. Der bisherige Verlauf der Diskussion habe ergeben, daß von verschiedenen Arten von Geschichte gesprochen wor­ den sei, mit wechselweisen Bezügen und mal theoretischen, mal prag­ matischen Begründungen. Es sei von Verwaltungsgeschichte, von Ge­ schichte und schließlich von verwalteter Geschichte gesprochen worden sowie von einem Mangel an Perspektive und historischer Vorbildung (die im übrigen nicht nur die Juristen treffe). Die Tatsache, daß der Geschichtsstudent so wenig von der Geschichte wisse, sei das Ergebnis der „ irgendwie verwalteten Geschichte in unserer Situation". Geschichte und Verwaltungsgeschichte seien nicht dasselbe, Ver­ fassungsgeschichte (untrennbar mit der Verwaltungsgeschichte ver­ bunden) sei schon in einer Zeit betrieben worden, in der es noch keine geschriebenen Verfassungen gegeben habe. Behördengeschichte, wie sie auch der Mediävist kenne, behandle immer nur einen bestimmten schmalen Ausschnitt, während Geschichte (trotz mancher Überschnei­ dungen und Berührungen) eigene Probleme und Sorgen habe, zu denen die Verwaltungsgeschichte „ unter Umständen" auch gehöre ; das aber hänge von übergeordneten Gesichtspunkten ab, von der Frage der Relevanz. Nach Ansicht von Professor Schutz müsse der Historiker auch die Verwaltung kennen und sich mit Verwaltungsgeschichte immer dann befassen, ,,wenn es wichtig ist", genauso aber auch Geistesgeschichte, Wirtschaftsgeschichte usw. betreiben. Erst daraus erhalte er Einsicht

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in die Zeit und ihre Entwicklung. Der Historismus sei noch nicht über­ wunden, sondern entwickle sich auf einer anderen Ebene weiter, so daß das Relevanzproblem entscheidende Bedeutung erhalte : Die Frage, was letztlich in der Vergangenheit ausschlaggebend gewesen sei. Von daher stelle sich auch die Frage des Kontinuitätsproblems anders, zu dessen Beurteilung kein ahistorischer Begriff zugrunde gelegt werden dürfe, da sich der Historiker zunächst für das interessiere, ,, was sich verändert hat". Die vom Referenten aufgeworfene Frage nach dem Nutzen der Kenntnis der Steinsehen Reformen für die heutige Verwaltungsreform oder Verwaltungswissenschaft sei insofern negativ zu beantworten, als diese Reform mit ihren Einzelheiten kaum einen Vergleich mit heutigen Entwicklungen zulasse. Andererseits sei die Kenntnis der konkreten Steinsehen Maßnahmen für den Historiker deswegen wichtig, weil er nur daraus inzwischen verfestigte Ansichten und Vorurteile über diese Reform korrigieren kann, auch gegenüber Verwaltungspraktikern. So sehr von j edem Historiker die Kenntnis verwaltungsgeschicht­ licher Entwicklungen zu verlangen sei, so sehr müßten andererseits die Verwaltungswissenschaftler davor gewarnt werden, ihre ungelösten Probleme mit Hilfe der Verwaltungsgeschichte lösen zu können. So wenig wie die Geschichtswissenschaft in der Lage sei, Prognosen zu stellen, genauso wenig könnten das andere Wissenschaften, auch wenn sie das für sich in Anspruch nähmen. Der Versuch, mit Computer­ technik die Situation vom Juli 1914 zu simulieren, habe, mit großem Aufwand durchgeführt, das Ergebnis erbracht: ,,keine Kriegsgefahr" . Dieses Beispiel schrecke. Die Historiker wußten e s zumindest nachher - aber nicht allein nur nachher - besser als die mit allem methodi­ schen und materiellen Rüstzeug ausgestatteten Simulatoren. Professor Dr. Georg-Christoph v on Unruh (Kiel) schränkte die Aus­ führungen seines Vorredners über die Skepsis, aus der Vergangenheit lernen zu können, insofern ein, als es „wirkliche Umbrüche" gegeben habe, ,,die uns nach wie vor etwas sagen können" . So lasse sich fest­ stellen, wie die Menschen j eweils auf solche Umbrüche reagieren und wie sich einzelne Persönlichkeiten darum bemühten, bei der Admini­ stration Verbesserungen vorzunehmen, ohne daß jeweils entschieden werden könne, welchen „Nutzen" man daraus im einzelnen habe ziehen können. In der Geschichte der Verwaltungsreformen sei gleichwohl immer wieder das Bemühen spürbar, durch administrative Änderungen die Aufgaben der jeweiligen Gegenwart besser zu erfüllen: Zum Nutzen der Menschen. Professor von Unruh ging dann auf eine These Wolfgang Hofmanns ein, der von der Gefahr des wertbezogei:leJi DezioJiismus gesprochen habe. Solche Gefahren häuften sich in Publikationen der letzten Jahre, was er am Beispiel der Publikation von G. Rudzio über Die Neuord­ nung des Kommunalwesens in der britschen Zone, 1968, aufzeigte.

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Seiner Ansicht nach habe der Verfasser aus den Akten lediglich die Bestätigung einer bereits vorher bestandenen Auffassung zu unter­ mauern gesucht, wonach „rückschrittlich eingestellte Persönlichkeiten" die „aufgeschlossenen" und angeblich allein auf „Demokratisierung" zielenden Absichten von Vertretern der britischen Besatzungsmacht verhindert hätten. Es sei historisch falsch, die Selbstverwaltung seit dem 19. Jahrhundert nur auf den Nutzen und Vorteil einer einzelnen Klasse beziehen zu wollen. Auch das Werk von Heinrich Heffter - dessen zweite Auflage die Forschungsergebnisse von immerhin 20 Jahren unbeachtet gelassen habe - werde jenen Persönlichkeiten nicht immer gerecht, die anderer Auffassung von Aufgaben und Ein­ richtungen der Verwaltung gefolgt seien als der Autor. Die konser­ vativen Kräfte in der Geschichte dürften nicht schlechthin als die beharrenden im Sinne rückschrittlicher Tendenzen dargestellt werden; es sei ein demokratisches Fehlverständnis, die „obrigkeitliche" Admini­ stration des Staates vorwiegend gegensätzlich zur oft irrtümlich gesell­ schaftlich verstandenen Selbstverwaltung zu behandeln, zumal in den letzten 100 Jahren wiederholt gerade „Männer der Verwaltung" darum bemüht waren, im Ansatz vorhandene Gegensätze im Interesse einer rechtsstaatlichen Zentralisation zu beschränken.

Professor Dr. Hans Pohl (Bonn) plädierte angesichts der „vielen Prag­ matiker und Theoretiker" für eine höhere Einschätzung des „Nutzens" geschichtlicher Kenntnisse und Erfahrungen, als sie von Professor Schulz zum Ausdruck gebracht worden sei. Gewiß gäbe es keine Wiederholung einer bestimmten Situation, aber doch gewisse Umstände oder Erscheinungen, die auch für die Erklärung der Gegenwart ihre Bedeutung besäßen. Als Beispiel aus der Sozialgeschichte verwies er auf die Diskussion über die Ursachen von Revolutionen, von denen man lange geglaubt habe, daß sie von den unteren Sozialschichten getragen worden seien. Genau das aber stimme nicht, sondern es seien immer die politisch unzufriedenen, ökonomisch aber wohlgestellten Schichten oder die Gedanken der Intellektuellen gewesen, die Revolu­ tionen vorbereitet und getragen hätten. Insofern könne man für die Erklärung des Revolutionsphänomens sehr wohl einen Nutzen aus der Vergangenheit ziehen.

Das gleiche gelte für die Frage der Arbeitsbeschaffung im Verkehrs­ sektor: im 19. Jahrhundert durch Eisenbahnbau, im 20. Jahrhundert durch Autobahnbau. Es sei zu vermuten, daß sich doch einige Ver­ waltungsbeamte in unserem Jahrhundert an die entsprechende Ver­ waltungspraxis ihrer Vorgänger erinnert hätten. Schließlich sei auch die Erfahrung über die gelungene Lösung von Verwaltungsaufgaben im Ersten Weltkrieg für Hitler ein Vorbild gewesen, die Vorbereitung des Zweiten Weltkrieges geschickt über die Verwaltung zu planen.

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In seinem Schlußwort konzentrierte sich Universitätsdozent Dr. Wolf­ gang Hofmann (Berlin) mit dem Hinweis darauf, daß sich die Dis­

kussion weitgehend verselbständigt habe, auf ein paar allgemeinere Komplexe. Zunächst auf Bemerkungen über die in jüngster Zeit zu­ nehmend verwaltete Wissenschaft, ein Vorgang, der aus der gegen­ wärtigen Reformdiskussion der jetzigen Hochschulsituation entstanden sei. Auch wenn sich der einzelne Historiker nicht in einer (Legitima­ tions-)Krise befinde, so werde die Geschichtswissenschaft als solche doch von der Gesellschaft auf ihre Funktion hin befragt und müsse durch einzelne Historiker Antwort geben. Das sei der Sinn seiner entsprechenden Bemerkungen gewesen, mit denen er versucht habe, die möglichen Funktionen der Verwaltungsgeschichte im Rahmen eines bestimmten Kreises von Wissenschaften zu bestimmen.

Damit aber hänge das Problem der Relevanz zusammen, wobei aller­ dings zu bedenken sei, daß keineswegs in allen Fällen Konsens über diejenigen Ereignisse bestehe, die jeweils relevant gewesen seien. Bis­ weilen komme langfristigen Veränderungen in der Verwaltung größere Bedeutung zu als einzelnen Ereignissen. Vorab müsse also jeweils geklärt werden, was wichtig und damit vordringlich untersuchens­ wert bleibe.

Zu der in der Diskussion wiederholt behandelten Frage, was Ge­ schichte in unserer Gesellschaft und für unser Selbstverständnis leisten könne, verwies der Referent auf die von Staatssekretär a. D. Schmidt gehörten Beispiele, die sich in den Rahmen seines systema­ tischen Versuchs sehr wohl einordnen ließen. Hingegen betrachte er die Diskussion des Historismusproblems als eine Spezialkontroverse, in der er seine Ansicht dahin präzisierte, daß er den Historismus nicht für vollkommen überwunden halte. Einzelne seiner Erkenntnisse - wie die Frage der Besonderheit einer Situation und die bestimmter histo­ rischer Methodik, aber auch die Rolle des Individuums in der Ge­ schichte - behielten weiterhin Bedeutung.

Gegenüber dem Einwand, daß die Beamtenschaft nicht nur gruppen­ spezifisch untersucht, sondern auch die Rolle einzelner Persönlichkeiten beachtet werden müsse, verwies Wolfgang Hofmann darauf, daß solche Persönlichkeiten erst dann eine Relevanz gewännen, wenn sie „irgend­ eine historische Wirkung" ausgeübt hätten. Im übrigen habe sein Referat keineswegs den Eindruck erwecken wollen, ,,etwas theoretisch vollkommen Neues" zu vermitteln, sondern er habe auf dem Wege induktiven Vorgehens darzustellen versucht, wie verschiedene Autoren die Verwaltungsgeschichte auffaßten und wie sich dazu die „ vorhandene Theorie" verhalte. Ob dieser Versuch gelungen sei, wäre zu überprüfen.

Personal- und Beamtenpolitik im Übergang von der Bizonen- zur Bundesverwaltung (1947 - 1950) Kontinuität oder Neubeginn? Von Rudolf Morsey

I. Zur Quellenlage und Fragestellung Die Erforschung der Personal- und Beamtenpolitik in Deutschland seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts zählt zu den reizvollsten und ergiebigsten Themen der Verwaltungsgeschichte, kann jedoch bisher alles andere als stolze Ergebnisse aufweisen. Zudem sind einschlägige Interessen und Fragestellungen gleichsam gebündelt und mehrfach konzentriert worden: Sachlich auf die höhere Ministerialbürokratie, zeitlich vor allem auf die Ära Bismarck sowie auf die Epoche der Weimarer Republik, regional vornehmlich auf Preußen. Damit aber fehlen die erforderlichen Voraussetzungen für differenzierte Urteile, an deren Stelle nicht selten Vermutungen oder Spekulationen ge­ treten sind1 • Zu den mannigfachen Ursachen und Gründen dieser „Minusbilanz" gehören Schwierigkeiten des Zugangs wie der Auswertung massen­ haften einschlägigen Aktenmaterials. Solche Schwierigkeiten addieren, ja multiplizieren sich, wenn der zu untersuchende Zeitraum - wie bei meinem Thema - so nahe an die Gegenwart heranrückt, daß für dessen Darstellung amtliche Akten erst zu einem Bruchteil heran­ gezogen werden können. Abgesehen davon findet gerade die Steuerung personalpolitischer Entscheidungen oftmals keinen oder nur spärlichen Niederschlag in „amtlichen" Akten. Um so ergiebiger hat sich in meinem Falle insbesondere der Nachlaß Hermann Pünder erwiesen2• t Dazu vgl. Peter-Christian Witt: Für das Kaiserreich wie für die Weimarer Zeit sei „teils ganz unreflektiert, teils mit einer diffusen" Fragestellung mit dem Schlagwort von der „regierenden Bürokratie bzw. der Herrschaft der Bürokratie und der ungebrochenen Kontinuität dieses Zustandes vom Kaiser­ reich zur Weimarer Republik gearbeitet worden". Reichsfinanzminister und Reichsfinanzverwaltung 1918 - 1924, in : VfZ 23, 1975, S. 2. 2 Im Bundesarchiv in Koblenz, dem ich erneut für mannigfache Hilfe­ stellung danke, auch bei der Beschaffung der Genehmigung zur Einsicht in einschlägige amtliche Aktenbestände. Mein Dank gilt ferner der Stiftung

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Angesichts der derzeit zugänglichen Quellen kann mein Referat nur vorläufige Ergebnisse vermitteln. In der Literatur finden sich bisher nur vereinzelte Hinweise zur Personal- und Beamtenpolitik nach 1947, am ehesten noch in einigen Memoiren oder memoirenähnlichen Dar­ stellungen. Zu dieser Kategorie zählt auch ein posthum erschienener Aufsatz von Walter Strauß3 • Er verdient zusammen mit zwei ein­ schlägigen Titeln von Theodor Eschenburg4 und den voraufgegangenen verdienstvollen überblicken von Walter Vogel und Tilman Pünder über den Aufbau der zonalen und bizonalen Behörden5 eigens genannt zu werden. Nur ein einziges Ministerium hat bisher eine monogra­ phische Darstellung, allerdings unter politikwissenschaftlicher Frage­ stellung, erfahren6• Meine Ausführungen konzentrieren sich auf die höhere Beamten­ schaft. Nur über diese Gruppe lassen sich vorerst mehr als rein statistische Aussagen machen. Den zeitlichen Abschluß bildet der vom Bundesminister des Innern beantragte Beschluß der Bundesregierung vom 19. September 1950, gleichsam als Lehre der Geschichte7, Ver­ fassungsfeinden den Zutritt zum öffentlichen Dienst zu verwehren bzw. sie daraus zu entfernen. II. Personalpolitik in der Zweizonenverwaltung Die regierungsähnlich organisierte Verwaltungsspitze des Vereinigten Wirtschaftsgebiets war auf Befehl der amerikanischen und britischen Militärregierungen errichtet worden. Sie wurde mehrfach, zuletzt im Bundeskanzler Adenauer-Haus in Rhöndorf für freundliche Auskünfte aus dem Nachlaß Konrad Adenauer, dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt. II, in München (BHStAM II) und den Stadtarchiven Bonn und Düsseldorf sowie für mündliche Auskünfte den Herren Staatssekretär a. D. Dr. Karl Gumbel und Franz Thedieck. s Die Personalpolitik in den Bundesministerien zu Beginn der Bundes­ republik Deutschland, in : Konrad Adenauer und seine Zeit, hrsg. von Dieter Blumenwitz u. a. Stuttgart 1976, S. 275 ff. 4 Der bürokratische Rückhalt, in: Die zweite Republik, hrsg. von Richard Löwenthal und Hans-Peter Schwarz. Stuttgart 1974, S. 64 ff., bes. S. 80 ff. ; ders., Regierung, Bürokratie und Parteien 1945 - 1949, in : VfZ 24, 1976, s. 69 f., 75. 5 Walter Vogel, Westdeutschland 1945 - 1950. Der Aufbau von Verfassungs­ und Verwaltungseinrichtungen über den Ländern der drei westlichen Be­ satzungszonen. 2 Bde. Koblenz 1956, Boppard 1964 ; Tilman Pünder, Das Bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 1946 - 1949. Waiblingen 1966. 6 Gis'ela Rüss, Anatomie einer politischen Verwaltung. Das Bundes­ ministerium für gesamtdeutsche Fragen - Innerdeutsche Beziehungen 1949 bis 1970. München 1973. 1 Dazu vgl. Hans Fenske, Radikale im öffentlichen Dienst, in : Civitas 14, 1976, bes. S. 111 ff. ; Rudolf Morsey, Staatsfeinde im öffentlichen Dienst (1929 bis 1932), in : Öffentlicher Dienst. Festschrift für Carl-Hermann Ule, hrsg. von Klaus König, Hans-Werner Laubinger und Frido Wagener. Köln 1977, S. 1 1 1 ff.

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Frühjahr 1948, um- und neu gegliedert. Die Chefs der zunächst fünf (seit 1948 : sechs) Ressorts trugen den beiden Besatzungsmächten - in­ direkt aber auch den acht Länderregierungen und dem Wirtschaftsrat gegenüber - ein hohes Maß an Verantwortung, besaßen aber nicht entsprechende Kompetenzen.

Darin lag der erste Grund für die Tatsache, daß der Verwaltungsrat keine eigenständige, geschweige denn zielgerichtete Personal- und Beamtenpolitik intendieren und praktizieren konnte, wie das innerhalb der Länderregierungen geschah. Der zweite Grund lag darin, daß bis zum März 1948 die insgesamt fünf „Verwaltungen" (für Ernährung und Landwirtschaft, Finanzen, Post, Verkehr, Wirtschaft) unter der Leitung jeweils eines Direktors unabhängig voneinander hatten arbeiten müssen. Erst dann, nach der Wahl eines Vorsitzenden des Verwaltungs­ rats in der Person von Hermann Pünder, erhielt�n sie einen institutio­ nellen Koordinator. Dieser Oberdirektor besaß jedoch weder Richt­ linienkompetenz noch Vorgesetztenfunktion.

Auch künftig verstand sich dieser Verwaltungsrat, an dessen Sitzun­ gen regelmäßig auch die Chefs einiger sogenannter „Zentral-" bzw. „Hauptämter" teilnahmen, nicht als politische Instanz, sondern - nach einem späteren Urteil von Pünder8 - als ein Gremium von „Fach­ leuten". Das überrascht vor allem deswegen, weil alle fünf Direktoren (Edmund Frohne, Alfred Hartmann, Hans Schlange-Schöningen, Hans Schuberth, Johannes Semler) genau wie der „Vorsitzer" des Verwal­ tungsrats, Pünder, der CDU bzw. CSU angehörten oder - wie Frohne (Verkehr) - nahestanden. Sie waren im Juli bzw. August 1947 vom Wirtschaftsrat bei Stimmenthaltung der SPD gewählt und im März 1948 wiedergewählt worden, ergänzt um Oberdirektor Pünder und den parteilosen Ludwig Erhard (Wirtschaft) als Nachfolger Semlers. Einige Monate später kam noch als Ressortchef der neu errichteten Verwal­ tung für Arbeit Anton Storch hinzu (ebenfalls CDU).

Die sozialdemokratische Fraktion des Wirtschaftsrats hatte sich von vornherein mit der Oppositionsrolle begnügt, nachdem am 23. Juli 1947 ihre Forderung abgelehnt worden war, das Amt des Direktors der Ver­ waltung für Wirtschaft mit einem SPD-Vertreter zu besetzen (genauso wie die Wirtschaftsministerien aller acht Länder der Bizone) 9 • Das eben zitierte Selbstverständnis des Verwaltungsrats (,,Fach­ leute") deckte sich mit dem Urteil des CDU-Vorsitzenden in der briti-

s Von Preußen nach Europa. Lebenserinnerungen. Stuttgart 1968, S. 337. e In der 2. Vollversammlung des Wirtschaftsrats. In dieser Debatte hatte der Vorsitzende der Unionsfraktion, Friedrich Holzapfel, darauf verwiesen, daß die SPD, die alle acht Wirtschaftsminister stelle, den Vorschlag abgelehnt habe, mit der Leitung des Amtes für Wirtschaft einen „unparteilichen Mann" zu beauftragen. Wörtlicher Bericht über die Versammlungen des Wirtschafts­ rats (Wiesbaden), S. 26. (Künftig zitiert: Wörtlicher Bericht). 13 Speyer 66

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sehen Zone: Am 16. August 1947 bezeichnete Adenauer gegenüber dem Vorsitzenden der Unionsfraktion im Wirtschaftsrat, Friedrich Holz­ apfel, die (damals fünf) Ressortchefs als „mehr oder weniger unpoli­ tische Herren", die einer „starken Führung" bedürften10 • Was der prominente CDU-Politiker darunter verstand, in welcher Form und mit welchen Ergebnissen er selbst und mit Hilfe anderer Parteifreunde diese Führung in der Folge zu praktizieren versuchte, kann im Zu­ sammenhang dieses Themas nur angedeutet werden. Eine Studie ,,Adenauer und die Zweizonenverwaltung" ist ein Desiderat.

Die Tatsache, daß der bizonale Verwaltungsrat trotz seiner partei­ politischen Homogenität keine gezielte Personalpolitik betrieb, hatte noch andere Gründe. So erfolgte die Personalrekrutierung und -ver­ waltung durch ein unabhängiges, zentrales Personalamt, das weit­ gehende Befugnisse besaß. Schließlich sind die einzelnen Ressorts nicht erst in Frankfurt aufgebaut worden, sondern mehr oder weniger geschlossen dorthin transferiert worden, die meisten von ihnen aus der britischen Zone. Nun wissen wir zwar einiges über Aufgaben und Arbeitsweise der zonalen Zentralämter11 , aber noch kaum etwas über deren personelle Zusammensetzung. Offensichtlich konnten die von den Militärregierungen ernannten Amtschefs ihr Personal weitgehend selbständig rekrutieren. Daraus erklärt sich der angesichts der zu be­ wältigenden Aufgaben verständliche Rückgriff auf „Fachleute" aus dem Kreis der ehemaligen Angehörigen der Berliner Reichsministerial­ bürokratie.

Das gilt vor allem für die Zentralämter in der britischen Zone, die den Kern der entsprechenden Frankfurter Ressorts bildeten. So fand der Leiter des Zentralamts für Ernährung und Landwirtschaft, der CDU-Politiker und ehemalige Reichsminister (1931/32) Hans Schlange­ Schöningen, bei der Übernahme seines Amtes im Frühjahr 1946 bereits eine Anzahl von Angehörigen des früheren Reichsernährungsministe­ riums vor, insbesondere „einen Stamm älterer erfahrener Amtsräte aus der früheren Reichsverwaltung" 12 • Ein Teil dieses Fachpersonals hatte die britische Militärregierung aus dem Internierungslager in Hessisch­ Lichtenau bei Kassel rekrutiert, wo Hunderte der bei Kriegsende fest­ gesetzten leitenden Beamten der Reichsministerien und des früheren Reichsnährstands zusammengezogen worden waren13 und sich auf diese Weise gegenseitig nicht aus den Augen verloren.

10 Nachlaß Adenauer. 11 Neben W. Vogel, Westdeutschland, vgl. vor allem Ilse Girndt, Zen­ tralismus in der britischen Zone. Phil. Diss. Bonn 1971. 12 (Karl Passarge) ZEL. Zentralamt für Ernährung und Landwirtschaft in der britischen Zone 1945 - 1948. Hamburg 1948 (hektogr. Ms.), S. 3. 1s Vgl. W. Vogel, Westdeutschland 2, S. 1 1 ; Julius Rohrbach, Im Schatten des Hungers, hrsg. von Hans Schlange-Schöningen. Hamburg 1955, S. 36.

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Beim Aufbau sowohl des Zentralamts für Ernährung14 wie des zuletzt von Viktor Agartz (SPD) geleiteten Zentralamts für Wirtschaft (in Minden) 15 hatten parteipolitische Gesichtspunkte eine Rolle gespielt. Schlange-Schöningen baute sein Amt in enger Fühlungnahme mit Kurt Schumacher aus16 • Er hielt eine Reihe von SPD-Mitgliedern, allen Angriffen zum Trotz, auch nach der Übersiedlung seiner Behörde von Hamburg nach Stuttgart und dann Frankfurt im Amt17• Dazu gehörte vor allem der stellvertretende Ressortchef Hans Podeyn, der vorherige Hamburger Senatssyndikus und frühere (bis 1933) Vorsitzende der SPD-Fraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Schlange verstand die von ihm als unparteilich interpretierte Personalpolitik als „Aufbau auf breiter Basis", der seiner Ansicht nach „auch in Zukunft" - wie er am 3. Dezember 1948 im Wirtschaftsrat erklärte - ,,eines der Modelle" in Deutschland sein müsse18 •

Von anderen Ressortchefs des Frankfurter Verwaltungsrats fehlen entsprechend dezidierte Aussagen über ihre personalpolitischen Vor­ stellungen. Der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, der CSU­ Politiker Johannes Semler, erklärte am 18. Dezember 1947 im Wirt­ schaftsrat, daß er von seinen Mitarbeitern neben charakterlicher und fachlicher Eignung eine wirtschaftspolitische Einstellung verlange, wie er selbst sie zu vertreten habe, unbeschadet von parteipolitischer Zugehörigkeit1 9 • Für diese Prinzipien erhielt Semler ein ausdrückliches Lob des SPD-Sprechers Kreyssiti0 , aber den Tadel des Genfer National­ ökonomen Wilhelm Röpke, der am 12. Dezember im „Rheinischen Merkur" rügte, daß ausgerechnet der maßgebende Planer in der Ver­ waltung für Wirtschaft sozialdemokratische Konzeptionen vertrete. Diese Kritik Röpkes wurde auch von Adenauer geteilt.

Erst nach der dritten und letzten Veränderung in der Organisations­ struktur und Zusammensetzung des Verwaltungsrats im März 1948, von der schon die Rede war, scheint außer dem Wechsel in der Spitze - mit der Wahl von Pünder und Ludwig Erhard (anstelle Semlers, der von den Militärregierungen entlassen worden war) - auch eine

1 4 (K. Passarge) ZEL, S. 10 enthält eine Übersicht über die Entwicklung des Personalbestands von 1945 - 1948, die eine selbst für damalige Verhältnisse erstaunliche Fluktuation des Personalbestands belegt. 1s Dazu W. Vogel, Westdeutschland 2, S. 98. 16 Vgl. I. Girndt, Zentralismus, S. 98 f. 11 Vgl. J. Rohrbach, Im Schatten des Hungers, S. 50, 161. Mit Schlange­ Schöningen traten „sämtliche Abteilungsleiter und die meisten der Sach­ bearbeiter nach und nach" in die Zweizonenverwaltung über. (K. Passarge), ZEL, S. 22. 1 s Wörtlicher Bericht, S. 1224 ; ferner H. Schlange-Schöningen im Vorwort des von ihm herausgegebenen Buches „Im Schatten des Hungers" (s. Anm. 13). 1 9 Wörtlicher Bericht, S. 262. 2 0 Ebd., S. 263.

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eindeutige Personalpolitik im Sinne der Mehrheitsparteien des Wirt­ schaftsrats, die die Verantwortung für die unpopuläre Wirtschafts­ politik tragen mußten, eingeleitet worden zu sein. Sie wurde sichtbar in der Wahl des bayerischen Staatsrats Wilhelm Niklas zum Stell­ vertreter Schlange-Schöningens {anstelle von Podeyn).

Am 28. April 1948 verband der sozialdemokratische Fraktionsvor­ sitzende im Wirtschaftsrat, Erwin Schoettle, seine Kritik an der fort­ schreitenden „Bürokratisierung unseres gesamten Apparats" mit einer Kritik an „gewissen Erscheinungen" in der Personalpolitik : So sei es in einzelnen bizonalen Ressorts „nahezu unmöglich, Sozialdemokrat zu sein, ohne herauszufliegen" ; außerdem gebe es in einzelnen Verwal­ tungen die Tendenz nach einer „ausgesprochen katholischen Personal­ politik" 21 . Schoettle ließ sich jedoch auf entsprechende Fragen von Unionsabgeordneten hin nicht dazu bewegen, auch nur andeutungs­ weise einen konkreten Fall oder ein bestimmtes Ressort zu nennen, so daß die Berechtigung derartig pauschaler Vorwürfe bisher nicht nachprüfbar ist. Manche Indizien sprechen dafür, daß ein anderer Sachverhalt eher zutraf, den einige Monate später, am 27. September 1948, der Frank­ furter CDU-Abgeordnete Horn im Wirtschaftsrat mit der Wendung umschrieb, daß bei einer „kritischen Überprüfung" der Personalpolitik in den einzelnen Verwaltungen das Konto der Sozialdemokratie „wirk­ lich gut wegkäme" 22 . Aber auch Horn beließ es bei dieser vagen Formu­ lierung - mit der er keinen Widerspruch fand -, versicherte aller­ dings, daß die Unionsfraktion mit einem „wachsamen, kritischen Auge" die Arbeit des Personalamts verfolgen werde.

Hingegen wurde Adenauer in seiner internen Korrespondenz mit einzelnen Ressortchefs der bizonalen Verwaltungen, insbesondere mit Pünder, sowie im Kreise führender Unionspolitiker wesentlich deut­ licher. Immer erneut kritisierte er das Mißverhältnis, das darin bestehe, daß die Union die politische Verantwortung für die höchst unpopulären Maßnahmen von Verwaltungs- und Wirtschaftsrat tragen müsse, ohne jedoch einen dieser Verantwortung entsprechenden poli­ tischen und personalpolitischen Einfluß auszuüben23• Das Gros des „Verwaltungspersonals" in den Frankfurter Ressorts dürfte der Kategorie des politisch neutralen Fachbeamtentums zuzu­ rechnen sein. Ein solches Verhalten entsprach im übrigen nicht nur den Intentionen der Militärregierungen, sondern auch einer weitverbreite21 Ebd., S. 543. Ebd., S. 910. 2s Belege dafür im BA, Nachlaß Pünder und in der Stiftung Bundes­ kanzler-Adenauer-Haus, Nachlaß Adenauer. 22

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ten Mentalität als Reaktion auf die Entnazifizierung. Die politischen Auseinandersetzungen, auch diejenigen innerhalb der Mehrheits­ parteien im Wirtschaftsrat, entzündeten sich an der Auswahl der leitenden Beamten in den einzelnen Verwaltungen24 •

m. Kontinuität oder Neubeginn in der Zweizonenverwaltung? Nach dem Urteil von Ilse Girndt ist im Zusammenhang mit der Hin­ wendung zu „sachgebundenen Entscheidungen" das „Beamtenkorps [!] weitgehend aus dem Dritten Reich in die provisorischen Ämter (der britischen und dann der Bizone) und schließlich auch in die Ministerien der neuen Republik übernommen" worden, weil man „allgemein auf Sachkenntnisse größeren Wert" gelegt habe als auf „politische Her­ kunft"25. Dabei ist unter „politischer Herkunft" nicht parteipolitische Zugehörigkeit zu verstehen, sondern die Einstufung in die Kategorien der Entnazifizierungsgesetzgebung. Ein derart pauschales und undifferenziertes Urteil kann naturgemäß nicht vollständig falsch sein. Andererseits wird es weder durch eine Zahl noch auch durch eine einzige Bezugs- bzw. Vergleichsgröße ab­ gestützt. Dabei gibt es genügend Fakten, die Girndts These in Frage stellen. So war der Neuzugang in den Ressorts der Zweizonenverwal­ tung relativ groß, weil sich diese Ressorts auch noch 1949 erheblich vergrößerten (Personalbestand am 31. Januar 1949 : 4391 ; 1 . Juli 1949 : 4678, davon höherer Dienst: 1071, jeweils ohne nachgeordnete Dienst­ stellen)H. Dem hohen Anteil von Vertriebenen und Flüchtlingen in der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets (1. Juli 1949 : 27,3 v. H.) entsprach ein außergewöhnlich hoher hessischer Anteil von Beamten und Angestellten zu Beginn der Arbeit der Bundesministerien in Bonn. Die Einstellung einer relativ großen Zahl von Vertriebenen und Flüchtlingen wurde dadurch erleichtert, daß die Zweizonenverwaltung zunächst keinen Beamtenstatus kannte - trotz der im Haushalt aus­ gewiesenen Beamtenstellen - und nur Angestellte aufnehmen konnte27• 2, In einer Stellungnahme der FDP vom 15. Sept. 1948 zur Wahl Storchs als Direktor der Verwaltung für Arbeit hieß es, die FDP-Fraktion habe dieser Kandidatur nicht zustimmen können, weil Storch in Vorgesprächen „keinerlei Geneigheit" gezeigt habe, die „entscheidenden Posten" in seiner Verwaltung mit „erstklassigen Verwaltungsleuten und Fachmännern" zu besetzen ; er habe „wesentliche Teile" des Zentralamts für Arbeit in Lemgo mit dessen Präsidenten Julius Scheuble übernehmen wollen (was inzwischen geschehen sei). Aus diesem Grunde habe die FDP einen eigenen Kandidaten (Ministerial­ direktor Sauerborn) benannt. BA, Nachlaß Blücher 244. 2s Zentralismus, S. 96. 2e Nach der „Personalstatistik" im Personalblatt des Frankfurter Per­ sonalamts Nr. 13, Okt. 1949, S. 177.

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Den mit Abstand höchsten Anteil der Vertriebenen und Flüchtlinge (35,7 v. H.) verzeichnete die Postverwaltung, gefolgt von der Verwal­ tung für Wirtschaft (30,2 v. H.). Den mit Abstand niedrigsten Prozent­ satz von Vertriebenen hingegen beschäftigte die Verwaltung für Finan­ zen (14,3 v. H.), gefolgt von der Verwaltung für Arbeit (mit 21 v. H.)28 •

Der Leiter des Rechtsamts, Walter Strauß, erklärte am 28. April 1948 im Wirtschaftsrat, daß nicht die erforderlichen „qualitativ befähigten Kräfte" zur Verfügung ständen, ja, daß man bei „eingearbeiteten Bamten" etwa von dem Typ, der noch vor 1933 zur Verfügung gestan­ den hätte, ein volles Drittel weniger benötigen würde29 • Als Beispiel für ein erheblich überbesetztes Ressort nannte Strauß die Mindener Verwaltung für Wirtschaft, von deren 10 Ministerialdirektor-Stellen beim Übergang dieser Behörde nach Frankfurt fünf gestrichen worden seien, von 14 Ministerialdirigenten-Stellen acht30 • Die Folgerung des Leiters des Rechtsamts, daß die Zweizonenverwaltung gezwungen sei, Qualität durch Quantität des Personals zu ersetzen, spricht gegen eine vorschnell konstruierte Kontinuitätslinie.

Im Dezember 1948 kritisierte der Ministerialdirigent in der Abwick­ lungsstelle des Rechnungshofs der britischen Zone in Hamburg, Keßler, auf Grund seiner Erfahrungen bei der Aufstellung des Haushalts der Zweizonenverwaltung für 1949 in Frankfurt die „mangelnde Leistungs­ fähigkeit, die schlechte Organisation sowie vor allem auch die perso­ nelle Aufwendigkeit mindestens einzelner Verwaltungen". Keßler führte die erneut notwendig gewordene personelle Vergrößerung vor allem darauf zurück, daß in einzelnen Ressorts Spezialisten (,,frühere Angehörige freier Berufe") tätig seien anstelle „erfahrener und allseitig tätiger Fachbeamten" 31 •

21 Als Folge dieses „sehr großen Nachteils", so erklärte der Direktor der Verwaltung für Finanzen, Hartmann, am 4. Sept. 1947 im Wirtschaftsrat, sei es schwierig, Beamte aus den Länderministerien nach Frankfurt zu bekom­ men (weil sie entweder abgeordnet oder beurlaubt werden müßten) : ,,Wir können daher im allgemeinen nur Herren aus den Ostgebieten erhalten . . . und auch diese ziehen vor, in die Länderverwaltungen zu gehen, wo sie sogleich Beamte unter Anrechnung der erworbenen Dienstzeit" werden könnten. Wörtliche Berichte, S. 70. Dazu vgl. J. Rohrbach, Im Schatten des Hungers, S. 160. 2s Vgl. Personalblatt Nr. 13, Okt. 1949, S. 177. Die Gründe für eine derart unterschiedliche Einstellung von Vertriebenen und Flüchtlingen innerhalb der einzelnen Ressorts sind nicht ersichtlich. 2e Wörtlicher Bericht, S. 526 f. 30 Über die Folgen der Einstellung verwaltungsfremden Personals in der Verwaltung für Wirtschaft vgl. W. Vogel, Westdeutschland 2, S. 26. 3 1 In einem Schreiben an Blankenhorn. BA, B 106 Zg. I 74/64. Am 9. März 1949 präzisierte Keßler seinen Eindruck (an den gleichen Adressaten) fol­ gendermaßen : Die Überprüfung der Verwaltung für Wirtschaft habe seiner­ zeit gezeigt, ,,daß in diesem Hause keineswegs der Geist eines Ministeriums, sondern vorwiegend der eines großen Geschäftsunternehmens herrscht". Ebd.

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Schließlich ergibt sich aus einer verwaltungsinternen Statistik vom November 194932, daß über Frankfurt nach Bonn insgesamt (nur) 336 höhere Beamte aus den ehemaligen Reichsministerien gelangt sind, während im Sommer 1949 annähernd 2000 Beamtenstellen im bizonalen Haushalt ausgewiesen waren33• Diese 336 „Ehemaligen" kamen aus insgesamt 13 Berliner Reichsministerien, die meisten von ihnen übri­ gens aus dem Reichsverkehrsministerium (79), gefolgt vom Reichswirt­ schaftsministerium (71). (Weitere 60 Beamte, die aus dem Reichswirt­ schaftsministerium übernommen worden waren, gehörten dem geho­ benen, mittleren und unteren Dienst an34 .) Die Ressort-Herkunft der ehemaligen Reichsbeamten deutet auf einen besonders hohen Anteil fachlich-technischen Personals hin. Aus dem Rahmen fällt dabei die Übernahme von vier Beamten des früheren Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda.

Die zuletzt erwähnten Zahlen und Fakten rechtfertigen es bereits, die allzu pauschale These ungebrochener personeller Kontinuität über 1945 hinweg erheblich zu modifizieren. Zu berücksichtigen ist ferner, daß die in den Frankfurter Zentralverwaltungen wieder- bzw. weiter­ verwendeten Beamten nicht etwa geschlossen nach 1933 in den öffent­ lichen Dienst eingetreten sind; schon gar nicht etwa stellten sie das Ergebnis einer entsprechenden NS-Auslese dar. IV. Entnazifizierungspraxis und alliierte Beamtenpolitik

Die Angehörigen der Zweizonenverwaltung mußten sich einer schar­ fen Überprüfung ihrer politischen Vergangenheit unterwerfen. Für die meisten früheren Beamten war es bereits die zweite oder dritte Ent­ nazifizierungs-Prozedur. Das Bipartite Control Office hatte am 3. Sep.;. tember 1947 angekündigt, daß niemand vom „Zweimächte-Arbeits­ gremium" bestätigt werden würde, der durch eine „zuständige deutsche Spruchkammer als mehr als nur nominelles Mitglied" der NSDAP eingestuft worden sei!l>. Zwei Tage später hatte der Wirtschaftsrat be­ schlossen, nur solche Personen zu „berufen", die eine „Gewähr für den Aufbau einer demokratischen Verwaltung" böten36•

Für die Einzelfallprüfung durch einen Ausschuß des Wirtschaftsrats und das Personalamt stellten die Westmächte Informationen „aus

BA, Z 11/1239. Nach dem Obergangsgesetz über die Rechtsstellung der Verwaltungs­ angehörigen der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes vom 23. Juni 1948 (Personalblatt Nr. 1 vom 28. Dez. 1948, S. 11) konnten „Verwaltungs­ angehörige" auch als Beamte in Planstellen eingewiesen werden. 34 Vgl. W. Vogel, Westdeutschland 2, S. 25. 35 BA, Z 1 1/1221. 36 Wörtlicher Bericht, S. 88. 32

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Quellen der Militärregierung" zur Verfügung, vor allem die Personal­ akten der NSDAP. Ende 1948 waren von den 87 leitenden Beamten (bis einschließlich der stellvertretenden Abteilungsleiter) der Zwei­ zonenverwaltung - deren Direktoren eingeschlossen - 85 im Sinne des alliierten „Befreiungsgesetzes" nicht betroffen37, also auch nicht formal Mitglieder der NSDAP gewesen. Hingegen ist eine ganze Reihe von ihnen, von Pünder angefangen, 1933 oder später aus dem Ver­ waltungsdienst zwangsweise entlassen und verfolgt worden. Dieses außerordentlich günstige Ergebnis für den Kreis der Frankfurter Spitzenbeamten spricht ebenfalls gegen ungebrochene Kontinuität über die Zäsur von 1945 hinaus. Ein vergleichbar günstiges Ergebnis (,,Nichtbetroffen") wie bei den leitenden Beamten bestand allerdings für den übrigen Personalkörper nicht. Von den insgesamt knapp 4133 Verwaltungsangehörigen (ein­ geschlossen Beamte, Angestellte und 711 Arbeiter) waren 65 v. H. vom Befreiungsgesetz der amerikanischen Zone nicht betroffen, 35 v. H. zwar formal betroffen, aber inzwischen von Spruchkammern entlastet. Im Frühjahr 1948 wies die Frankfurter Verwaltung für Wirtschaft (bei 1453 Angehörigen) den prozentual höchsten Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder, nämlich 10,7 v. H., auf38 ; deren Kern hatte das Zentralamt für Wirtschaft in der britischen Zone gebildet. Die „politische Zusammensetzung" des Personals der Zweizonen­ verwaltung39 ergibt sich aus Tabelle 1. Diese Aufstellung belegt die bekannte Tatsache, daß die Entnazi­ fizierungspraxis in der britischen Zone weitaus weniger rigoros gehand­ habt worden ist als in der amerikanischen Zone. Das erhebliche Ent­ nazifizierungsgefälle bestätigen auch entsprechende detaillierte Auf­ schlüsselungen (für die einzelnen Ressorts) in den monatlichen und vierteljährlichen Statistiken des Frankfurter Personalamts, die dem Alliierten Kontrollamt eingereicht werden mußten. Nun verfolgte insbesondere die amerikanische Militärregierung mit der Entnazifizierung über die Einzelfall-Säuberung hinaus eine weit­ gehende politische Zielsetzung. Sie wollte damit gleichzeitig die Wei­ chen stellen, um den öffentlichen Dienst in Deutschland von Grund auf 37 Nach Mitteilungen des Pressechefs Karl-Heinrich Knappstein (als Ant­ wort auf gröbliche Entstellungen des Berliner „Telegraph" vom 19. Jan. 1949) in einer Pressekonferenz am 21. Jan. 1949. BA, Z 5/145. as So Staatssekretär Walter Strauß am 28. April 1948 im Wirtschaftsrat. Wörtlicher Bericht, S. 527. Der KPD-Abgeordnete Ludwig Becker hatte am 4. Sept. 1947 im Wirtschaftsrat behauptet, daß in den Verwaltungen für Wirtschaft, für Verkehr · und für Ernährung (dort auch der stellvertretende Leiter Podeyn) zahlreiche ehemalige NSDAP-Mitglieder tätig seien. Ebd.,

s. 67 f.

ao B A, Z 11/1043.

T11belle 1: "PoiUisehe Zusammensetzung" der Verwalillllgsangeh3rigen des VWG

(Stand: Ende April1949) Leitende Beamte

I v.H.I

I

79

91

Nichtbetroffene

gehobener Dienst

sonstiger höherer Dienst

I v.H.I

I v.H.I 52,2

414

mittlerer Dienst

I v.H.I 1138

38

394

einfacher Dienst

68,6

Gesamtübersieht

I

I v.H.I 2152

66,5

115

v.H. 57

([ ll:! Cl)

J

Entlastete (Kat. V) und Jugendamnestierte amerikanische Zone britische Zone

4

3,5

43

5,4

36

3,5

128

19

16,5

243

30,6

406

39,1

264

7,7

16

9

5,2

220

5,8

28

16,2

960

25,4

.....

� � :e _, ..... CO

Sonstige Amnestierte und Mitläufer oder Kat. IV

g:

1

I

115

93

0,9

I

100

I

793

I

100

19,4

201

11,7

I

1037

I

100

130

I

1660

I

100

I

173

446

12,1

21

7,8

I

100

I

3778

11,8

I

100

....

f::5

202

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zu reformieren, zu „demokratisieren". Durch Veränderung von Insti­ tutionen sollte der Charakter des deutschen Volkes beeinflußt und auf diese Weise ein Gesinnungswandel herbeigeführt werden. Da das Berufsbeamtentum als Träger des (autoritären) politischen Herrschafts­ gefüges galt und für den Aufstieg des Nationalsozialismus mit verant­ wortlich gemacht wurde40 , zielte die Reform auf dessen Zerschlagung. Das sollte geschehen durch Schaffung eines einheitlichen Dienstrechts, durch ein Verbot politischer Betätigung für Angehörige des öffent­ lichen Dienstes, durch zentrale Auslese, Prüfung und Zuweisung des Nachwuchses, durch konsequente Anwendung des Leistungsprinzips und durch weitere Veränderungen deutscher Rechte und Gewohn­ heiten41.

Eine entsprechende gesetzliche Grundlage für das Personal der Zwei­ zonenverwaltung vorzubereiten, wurde von den Militärregierungen dem 1947 errichteten zentralen Personalamt übertragen42• Dessen Leiter, Ministerialdirektor Kurt Oppler (SPD) - der als rassisch ver­ folgter Staatsbürger in der Emigration gelebt hatte -, und ein Teil seiner Mitarbeiter unterstützten die beamtenpolitischen Zielsetzungen der Militärregierung, die sich weitgehend mit denen der Sozialdemo­ kratie nach einer Reform des öffentlichen Dienstes deckten. Diese Ziel­ :retzungen enthielten im übrigen z. T. Forderungen, die bereits in der liberalen Bürokratiekritik des 19. Jahrhunderts eine Rolle gespielt hatten.

Ein Versuch Pünders, den aus dem hessischen Landesdienst über­ nommenen und von der bayerischen Staatsregierung bereits 1947 als Leiter des Personalamts abgelehnten Oppler durch den früheren schle­ sischen Oberpräsidenten und Vizepräsidenten des Obergerichts der Bizone, Hans Lukaschek (CDU), abzulösen, scheiterte am Veto der Alliierten43• Im Winter 1948/49 verschärfte sich der Dauerkonflikt zwischen den Fachressorts und dem mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteten Personalamt. Es gelang Pünder nicht, den ihm formal 4 0 Vgl. Dieter Johannes Blum, Das passive Wahlrecht der Angehörigen des öffentlichen Dienstes in Deutschland nach 1945 im Widerstreit britisch­ amerikanischer und deutscher Vorstellungen und Interessen. Mit einem Vorwort von Kurt Oppler. Göppingen 1972, S. 12 f. (unter Hinweis auf den Anteil linksstehender deutscher, oft jüdischer Emigranten für die alliierte Sicht des deutschen Beamtenwesens vor 1945). 41 Ebd., S. 121. 42 Über Entwicklung und Tätigkeit des Personalamts bis zum 1. Okt. 1948 vgl. Personalblatt Nr. 1 vom 28. Dez. 1948, S. 2 ff. 43 Das ergibt sich aus verschiedenen Hinweisen Pünders, der es am 22. Febr. 1949 (an Adenauer) als „durchaus unrichtig" bezeichnete, daß er die Möglichkeit besessen hätte oder besitze, Oppler zu versetzen. BA, Nachlaß Pünder 481. Material über die Ablehnung Opplers durch die bayerische Staatsregierung in : BHStAM II, MA 130656.

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unterstellten Personalchef der Zweizonenverwaltung - trotz Zuwei­ sung eines fachlich qualifizierten Stellvertreters (Lentz), der zur CDU zählte, sich aber nicht durchsetzen konnte" - unter Kontrolle zu bekommen@.

Deswegen wurde der Oberdirektor von führenden Unionspolitikern wiederholt kritisiert. Adenauer warf Pünder am 12. Februar 1949 Füh­ rungsschwäche vor und erinnerte daran, daß „gerade die Sozialdemo­ kratie durch die zu ihr sich rechnenden Beamten rücksichtslos ihre parteipolitischen Interessen verfolgt" 46• Aus der Antwort Pünders vom 22. Februar, in der er konkrete Vorwürfe über die Besetzung einzelner Posten als unzutreffend zurückwies47, soll später noch ein Satz zitiert werden, mit dem sich der Oberdirektor (wenn man so will) für eine künftige Verwendung in einer Regierung Adenauer gleichsam selbst ausgeschaltet hat48.

Dem Verwaltungsrat und der Mehrheit des Wirtschaftsrats (CDU/ CSU, FDP, DP) gelang es, die Anweisung der Militärregierungen, den Entwurf für ein neues, einheitliches (Beamten-)Dienstrecht rasch vor­ zulegen und nach Abstimmung mit den Alliierten vom Wirtschaftsrat verabschieden zu lassen, hinauszuzögern49 • Diese Taktik wurde von

44 Am 5. April 1949 fragte Pünder bei Erhard an, ob er keine Verwendung für Lentz habe - ,,einen ganz hervorragenden Beamten" aus dem früheren preußischen Justizministerium, der politisch „völlig unbelastet" sei -, da ,,in einigen Kreisen der Wunsch" bestehe, dessen Stelle neu zu besetzen. BA, Nachlaß Pünder 481. Am 20. Aug. 1949 kritisierte Ministerialdirigent Keßler (vom früheren Rechnungshof der britischen Zone in Hamburg ) - der wesent­ lichen Einfluß auf die Erstbesetzung im Bundesministerium des Innern gewinnen sollte - in einem Schreiben an Ministerialrat v.Perbandt (Bonn), daß Lentz „keinerlei Schlagkraft in unserem Sinne" entwickelt habe. BA, B 106, Zg. I 74/64. 45 Aus einem Schreiben Pünders vom 27. Juli 1949 an Adenauer geht hervor, daß Pünder im Frühjahr 1949 Personalfragen, insbesondere die Personalpolitik Opplers, mit dem in Frankfurt residierenden Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU, Bruno Dörpinghaus, als „besonderen Vertrauensmann" Adenauers besprochen hatte. BA, Nachlaß Pünder 481. 4 6 Ebd. In einer Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone am 25. Febr. 1949 - in der Adenauer von der „ganz großen Aufgabe" der kommenden ersten Bundesregierung sprach, die Ministerien zu organisieren und die „geeigneten Beamten" auszuwählen -, erklärte der CDU-Vor­ sitzende : ,,Denken Sie daran, mit welch äußerster Konsequenz und Rück­ sichtslosigkeit die Sozialdemokratie in Personalien an die Arbeit geht ganz im Gegenteil zu uns." Adenauer und die CDU der britischen Be­ satzungszone 1946 - 1949, bearbeitet von Helmuth Pütz. Bonn 1975, S.801. 47 BA, Nachlaß Pünder 481. 48 s.Anm.90. 49 Material dazu im BHStAM II, MA 130770. Am 3. Dez. 1948 wandte sich der hessische Finanzminister Hilpert (CDU) in einem Schreiben an Pünder gegen die von gewissen „Beamtenrechtlern der Vereinigten Staaten" unter-­ nommenen Versuche, möglichst rasch ein neues Personalgesetz durchzu­ setzen. Da Oppler dem alliierten Drängen zu sehr nachgebe, schlug Hilpert vor, Vertreter der Länder zu den einschlägigen Beratungen hinzuzuziehen.

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den Führungsgremien der Union unterstützt, da es das Ziel der alliier­ ten Gesetzgebung sei - wie Adenauer bei einer Tagung der führenden CDU- und CSU-Politiker am 9. Januar 1949 in Königswinter erklärte -, das „ganze Beamtentum im Sinne der Sozialdemokratie" abzuschaffen. Der CDU-Vorsitzende empfahl, unnachgiebig zu bleiben und es ge­ gebenenfalls eher auf einen Oktroy ankommen zu lassen als in dieser für die Union zentralen Frage nachzugeben. Der Direktor der Ver­ waltung für Post und Fernmeldewesen in Frankfurt, Schuberth, er­ gänzte bei dieser Gelegenheit, er habe „seit mehr als Jahresfrist" einen ,,aufreibenden Kampf" um die Erhaltung des Berufsbeamtentums ge­ führt, weil das Personalamt nicht nur das Berufsbeamtentum abschaf­ fen, sondern auch eine „Nivellierung der Gebildeten schlechthin" durchsetzen wolle6°.

Kritik seitens der Alliierten wie der Linksparteien an der vorläufigen Weitergeltung des Reichsbeamtengesetzes von 1937 nach dessen „Ent­ bräunung" (Gustav Heinemann)151 war insofern nicht berechtigt, als der Kern dieses Gesetzes einem Entwurf aus dem Jahre 1927 entsprach, der von Arnold Brecht stammte. 1946 hatte Walter Jellinek den Ge­ setzestext durch Streichung von NS-Zusätzen „gereinigt" 112• In dieser Form bildete er, mit Zustimmung der Westmächte, in den meisten Ländern der Bizone die Grundlage des Beamtenrechts, auch für die ,, Verwaltungsangehörigen" der Zweizonenverwaltung63•

Als sich Mitte Januar 1949 in den Ausschuß-Beratungen des Parla­ mentarischen Rates die Gefahr abzeichnete, daß „wohlerworbene" Beamtenrechte durch den künftigen Bundesgesetzgeber eingeschränkt

Ferner sei es notwendig, dafür zu sorgen, daß das Personalamt zwar die Aufgabe eines „guten Werkzeugs" erfülle, ,,aber nicht, wie es jetzt den Anschein hat, in der Lage bleibt, ausschließlich die gesamten einseitig [im Interesse] der SPD liegenden Intentionen zum Niederschlag zu bringen". Daraufhin erhielt Oppler von Pünder die Weisung, bei der vorgesehenen Neuregelung des deutschen Beamtenrechts die Länder rechtzeitig ein­ zuschalten, um ein einheitliches Ergebnis zu erreichen. BA, Nachlaß Pünder 593a. &o Nach dem Protokoll dieser Tagung (aus Privatbesitz), S. 109, 130. Holz­ apfel ergänzte (S. 130), das „Dumme bei der ganzen Situation" sei, ,,daß uns bei den Besprechungen mit den Militärgouverneuren regelmäßig die SPD in den Rücken fällt". u So als Bundesminister des Innern am 24. Nov. 1950 im Bundestag. Stenographische Berichte, S. 450. 5 2 Vgl. Lutz Niethammer, Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion in der US-Zone am Beispiel der Neuordnung des öffentlichen Dienstes, in : VfZ 21, 1973, S. 183 ; Arnold Brecht, in : Neues Beamtentum, hrsg. vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten. Frankfurt 1951, S. 5. 53 Im „Übergangsgesetz" vom 23. Juni 1948 (s. Anm. 33) war eine „sinn­ gemäße" Anwendung, auch des DBG von 1937, verankert (§ 14). In dessen Abs. 2 hieß es, nicht anzuwenden seien (12 eigens aufgeführte) Gesetze bzw. Verordnungen aus der NS-Zeit, soweit deren Vorschriften auf „national­ sozialistischen oder militaristischen Anschauungen" beruhten.

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werden könnten·54, drängte Pünder am 21. Januar den Präsidenten des Rates, Adenauer, zu einer raschen Änderung dieses Kurses (die in­ zwischen bereits erfolgt war). Dabei verwies der Oberdirektor darauf, daß in den großen Frankfurter Verwaltungen bereits eine „Abwande­ rung" der „guten Leute" zu nachgeordneten Dienststellen, zu Länder­ regierungen und zum Teil auch in die „freie Wirtschaft" eingesetzt habe; es bestände die Gefahr, daß die Zweizonenverwaltung „in wesent­ lichen Teilen" ihre Funktionsfähigkeit verlieren werde, ,,bevor der Bund überhaupt zu leben begonnen hat"55•

In puncto Beamtengesetz wartete indes die amerikanische Militär­ regierung die Fertigstellung des Grundgesetzes nicht ab, sondern setzte ihre Vorstellungen in dem berühmt gewordenen Gesetz Nr. 15 durch. Es trat Mitte März 1949 durch Besatzungsrecht in Kraft und entsprach weitgehend den auch vom Frankfurter Personalamt geteilten Vor­ stellungen der SPD66. Da dieses Gesetz jedoch in einem Augenblick oktroyiert wurde, in dem der auch für die Regelung dieser Frage zu­ ständige Parlamentarische Rat bereits die Weichen zugunsten des beamtenrechtlichen status quo bzw. für eine spätere einheitliche Rege­ lung durch das Bundesparlament gestellt hatte, stieß es praktisch ins Leere57• Es riß allerdings, um im Bilde zu bleiben, auch den Leiter des Personalamts, Oppler, mit sich, der noch vor Beginn des Aufbaus der Bundesverwaltung - und ganz im Sinne der allüerten Vorstellungen ,,möglichst viel" an Änderungen hatte durchsetzen wollen68 • Demgegen-

64 Vgl. Jahrbuch des öffentlichen Rechts, NF 1, 1951 (Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes), bearbeitet von K.-B. Doemming u. a. Tübin­ gen 1951, S. 858. 6 5 BA, Z 5/145. Pünder fuhr fort : ,,Wir alle entsinnen uns ja noch des berüchtigten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums [vom 7. April 1933] , welches nunmehr in verschärfter Form eine Neuauflage er­ fahren soll." Bereits vor Abgang dieses Schreibens hatte die Unionsfraktion im Parlamentarischen Rat beschlossen, zu der früheren Fassung des ent­ sprechenden Artikels zurückzukehren. 66 Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Wirtschaftsrat, Holzapfel, be­ richtete am 25. Febr. 1949 in einem CDU-Führungskreis, daß die SPD­ Fraktion in Frankfurt wiederholt zunächst versucht habe, in Gesetzentwürfen möglichst viel an eigenen Vorstellungen durchzusetzen, um dann in der dritten Lesung doch diese Gesetze abzulehnen (die andernfalls „ganz anders ausgesehen" hätten). So sei es auch beim Beamtengesetz geschehen : Als die SPD-Abgeordneten „merkten, daß es so durchkam, wie wir es haben wollten, haben sie sich hinten herum an die Militärregierung gewandt", die dann dieses Gesetz als ihr eigenes herausgestellt habe. Vgl. H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone, S. 816. 57 Der CDU-Abgeordnete Heinrich v. Brentano sprach von einem „Bären­ dienst", den die Militärregierungen mit ihrem Verlangen nach beschleunigter Schaffung eines neuen Beamtenrechts der „demokratischen Entwicklung" Deutschlands erwiesen habe. In: Die Wandlung 4, 1949, S. 141. 58 Vgl. D. J. Blum, Das passive Wahlrecht, S. 303. Dort heißt es ferner - wobei sich der Verf. auf Auskünfte von Oppler stützen konnte -, daß die „Progressiven" im Personalamt schließlich „ziemlich vereinsamt" gestanden hätten. s. ferner Anm. 77.

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über hatte der Verwaltungsrat am 13. Juli 1949 beschlossen, die Durch­ führung des Gesetzes im Hinblick auf die Bundesverwaltung „in Gren­ zen zu halten" 59• V. Oberlegungen zur Stellenbesetzung in der künftigen Bundesverwaltung

Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes hat der Frankfurter Verwaltungsrat alles getan, um eine reibungslose institutionelle wie personelle Überleitung auf die künftige Bundesregierung und Bundes­ verwaltung zu erleichtern. Das geschah sowohl durch Vorlage eigener Vorschläge für die Organisation der Bundesregierung als auch durch Mitarbeit in den dafür zuständigen Ausschüssen der Ministerpräsi­ denten-Konferenz. Mit dieser Zäsur vom Frühsommer 1949 tritt ein Mann stärker in den Blickpunkt, als bisher bekannt: Konrad Adenauer. Er hatte die Frankfurter Entwicklung von Anfang ebenso aufmerksam wie kri­ tisch verfolgt, sich bereits sehr früh Gedanken über den künftigen Aufbau der Bundesregierung gemacht und immer wieder auf die ent­ scheidende Bedeutung der kommenden ersten Bundestagswahl hin­ gewiesen. Um sie zu bestehen, drängte er die Direktoren des Zwei­ zonen-Verwaltungsrats, ihre Erfolge, insbesondere die der Wirtschafts­ politik Erhards, durch bessere Koordination und entschlosseneres Auftreten gegenüber der Opposition nicht zu gefährden60• Tiefgreifende Differenzen zwischen Erhard und Schlange-Schönin­ gen81 , zwischen Pünder und Holzapfel�, aber auch zwischen Pünder und Köhler63 konnten zwar in erster Linie nicht dem stets auf Aus6 9 Der entsprechende Protokoll-Auszug findet sich in den (hektographierten) Empfehlungen des Organisationsausschusses der Ministerpräsidenten-Kon­ ferenz über den Ausbau der Bundesorgane. Wiesbaden 1949 (o. Seitenzählung). 80 Am 18. Okt. 1948 nahm Adenauer an einer CDU/CSU-Fraktionssitzung des Wirtschaftsrats teil und war entsetzt über das „große Durcheinander" zwischen Verwaltungsrat und Wirtschaftsrat. Vgl. seinen Bericht vom 28. Okt. 1948 bei H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungs­ zone, S. 737. 81 Im Nov. 1948 gelang es nur mit Mühe, die CSU-Abgeordneten von einem förmlichen Mißtrauensantrag gegen Schlange-Schöningen abzuhalten. Vgl. die Ausführungen des CSU-Vorsitzenden Josef Müller in einer Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone am 29. Okt. 1948 ; ebd., S. 738 f. Ferner J. Rohrbach, Im Schatten des Hungers, S. 179, 238 ff. ; Edmund Rehwinkei, Gegen den Strom. Dorheim o. J., S. 39. Wichtige Materialien (mit zahlreichen Presseausschnitten) dazu im BA, Nachlaß Passarge 10. 82 Dazu vgl. H. Pünder, Von Preußen nach Europa, S. 348. es Der Präsident des Wirtschaftsrats, Erich Köhier, hatte gehofft, die Leitung der Wiederaufbaubank zu erhalten. Dagegen hatte sich jedoch der Verwaltungsrat „einstimmig" ausgesprochen. Schreiben Pünders an Köhler vom 9. Dez. 1948. BA, Nachlaß Pünder 593a (mit weiteren Belegen).

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gleich bedachten Oberdirektor angelastet werden, sprachen aber (und nicht nur in der Sicht des CDU-Vorsitzenden) nicht gerade für Pünders Führungsqualitäten64 • Als der Oberdirektor die Leitung des 1948 neu geschaffenen Amtes für Fragen der Heimatvertriebenen nicht dem CDU-Flüchtlingsvertreter Linus Kather anvertraute - wie Adenauer dringend gewünscht hatte -, sondern dem parteipolitisch ungebun­ denen früheren Landespräsidenten in Memel, Ottomar Schreiber, kam eine heftige Reaktion aus Rhöndorf&II. Adenauer ging spätestens seit dem Herbst 1948 davon aus, daß die Frankfurter Ressorts nicht einfach den Kern entsprechender künftiger Bundesministerien abgeben könnten. Am 29. Oktober 1948 ließ er in einer Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone durchblicken, daß auch nach Bildung einer Bundesregierung - deren künftiger Sitz damals noch nicht bestimmt war - die Zweizonen­ verwaltung „noch lange Zeit" bestehen bleiben und „ruhig weiter­ laufen" solle, allerdings organisatorisch verändert und verkleinert;ß&. Durch eine räumliche Trennung zwischen Regierungsspitze und Mini­ sterialverwaltung, die Adenauer im Winter 1948/49 wiederholt vor­ schlug, hoffte er, leichter die Wahl Bonns als Sitz der Bundesregierung durchsetzen zu können67• 64 In der Sitzung am 29. Okt. 1948 (s. Anm. 61) erklärte der niedersächsische CDU-Abgeordnete Fratzscher: ,,Wir haben den Eindruck, daß Dr. Pünder wirklich ein schwacher Mann ist." Daraufhin schwächte Holzapfel die Kritik mit der Bemerkung ab: ,,Richtig ist, daß es [in Frankfurt] an einer gewissen Zusammenarbeit fehlt." H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone, S. 739. In einem Schreiben vom 6. Nov. 1948 an Adenauer erläuterte Pünder verschiedene von ihm entwickelte Vorschläge, um die Zusammenarbeit zwischen Verwaltungsrat und Unionsfraktion bzw. deren Vorstand im Wirtschaftsrat zu verbessern. Dabei verwies er darauf - und zielte damit indirekt gegen Adenauer in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der CDU-Fraktion des Landtags von Nordrhein-Westfalen -, daß die Zusammenarbeit in Frankfurt „weit besser" sei als die in Düsseldorf. BA, Nachlaß Pünder 481. 65 Abgeschwächt wiedergegeben bei H. Pünder, Von Preußen nach Europa, s. 372. 66 H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone, S. 737. So auch in einer Sitzung des gleichen Gremiums am 25. Febr. 1949 (ebd., S. 801 ) und am 4. Nov. 1948 in einer Pressekonferenz. Vgl. Rudolf Morsey, Adenauers politischer Aufstieg 1945 - 1949, in: Konrad Adenauer. Seine Deutschland- und Ostpolitik, mit Beiträgen von Klaus Gotto, Rudolf Morsey, Hans Maier, Hans-Peter Schwarz. München (dtv-Taschenbuch ) 1975, S. 84. Dieser Vorschlag wurde Anfang März 1949 auch in demjenigen Ausschuß des Parlamentarischen Rates diskutiert, dessen Aufgabe es war, die Wahl der Bundeshauptstadt vorzubereiten. Bericht des Leiters des Büros der Minister­ präsidenten in Bonn, Leisewitz, vom 4. März 1949. BA, Z 12/123. 67 Demgegenüber schrieb der Düsseldorfer Ministerialdirektor und Leiter des „Büro Bundeshauptstadt" in Bonn, Wandersleb, am 11. August 1949 an den FDP-Politiker Franz Blücher, der sich gegen Bonn als Bundeshauptstadt ausgesprochen hatte, daß „ganz selbstverständlich" die Ministerien am Sitz des Parlaments untergebracht werden müßten: ,,Bei der bisweilen miß-

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Bereits im Herbst 1948 fand der Präsident des Parlamentarischen Rates im Führungsgremium der CDU mit seiner weiteren Ansicht keinen Widerspruch, daß auch im Falle einer Unionsmehrheit im ersten Bundestag die Direktoren der Verwaltungsämter - die „politisches Fingerspitzengefühl" vermissen ließen - nicht „ohne weiteres" Bundes­ minister werden sollten. Einige Monate später, am 25. Februar 1949, hieß es etwas vorsichtiger, die bizonalen „Einrichtungen" dürften jedenfalls nicht den „größten Teil der zukünftigen Bundesregierung" darstellen (,,von Personen sehe ich mal ab") 88•

Waren schon diese - wenig später realisierten - Erwägungen bisher nicht bekannt, so noch weniger andere, ebenso konkrete Vorstellungen über die künftige Beamtenpolitik. Bereits seit dem Jahresende 1948 stellte auf Veranlassung Adenauers als Präsident des Parlamenta­ rischen Rates ein kleines, den Unionsparteien nahestehendes Gremium Überlegungen an über Persönlichkeiten, die für eine „Verwendung in den kommenden Bundesministerien" in Frage kämen. So formulierte es deren Koordinator, Ministerialdirigent Herbert Blankenhorn (Gene­ ralsekretär der CDU der britischen Zone und persönlicher Referent Adenauers als Präsident des Parlamentarischen Rates), in einem Schrei­ ben vom 5. Januar 1949 an Ministerialrat Keßler von der Abwicklungs­ stelle des Rechnungshofs der britischen Zone in Hamburg69. Zu diesem Gremium gehörte ferner der Aachener Stadtkämmerer Hans Globke. Ihr Kontaktmann in München war Ministerialdirektor Ritter von Lex (Bayerisches Innenministerium).

Als erstes Ergebnis von Gesprächen Keßlers, Globkes und des Mini­ sterialdirigenten a. D. Jacobi (Leiter der Stiftungskanzlei in Bethel) vom 15. und 1 6. Januar 1949 in München stellte sich heraus70, daß der Bestand an „allseitig geeigneten Fachkräften für die Bundesverwaltung ziemlich gering" sei, andererseits die politisch nicht belasteten Beamten inzwischen meist „feste und befriedigende Stellungen" besäßen und „zunächst wenig Neigung bezeugen, sich der Bundesverwaltung zur Verfügung zu stellen". Dafür verblieben im wesentlichen solche Kräfte, die „wenigstens formale Bindungen zur NSDAP eingegangen" wären. Eine beigefügte Liste mit den Namen von 26 potentiellen Kandidaten für die Arbeit in einem künftigen Bundesministerium des Innern (geverständlich erwähnten Trennung von Regierung und Verwaltung ist einzig und allein daran gedacht, daß gewisse, auch früher schon außerhalb der Ministerien bestehende zentrale Verwaltungsstellen an einem anderen Ort als dem Regierungssitz verbleiben können." Stadtarchiv Bonn, Sammlung Wandersleb 50. 68 Vgl. H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone, s. 737, 801. 69 BA, B 106 Zg. I 74/64. 7 0 So in einem Schreiben Keßlers vom 25. Jan. 1949 an Blankenhorn. Ebd.

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gliedert nach der letzten Dienststellung 1945, der „jetzigen Tätigkeit" , dem Alter, der Konfession und der Entnazifizierungs-Eingruppierung) enthielt nur einen Namen ohne jede NS-Belastung : Franz-Josef Wuer­ meling (Staatssekretär im Innenministerium des Landes Rheinland­ Pfalz)71 . Aus einer Anlage zu Keßlers Bericht geht hervor, daß fünf „grund­ sätzliche Fragen" als klärungsbedürftig galten. Dabei ging es vor allem um die Möglichkeit, in der künftigen Bundesverwaltung auch Beamte mit formaler NS-Belastung einstellen zu können72 und um die Gewähr­ leistung der tradierten Beamtenrechte. Eine hinreichende „Klärung" dieser Fragen scheint in einem Gespräch Keßlers mit Adenauer um den 20. Februar 1949 in Bonn73 nicht erfolgt zu sein. Jedenfalls drängte der Hamburger Ministerialrat am 9. März 1949 bei Blankenhorn erneut auf baldige Klarheit, um „baldmöglichst" ein „personelles Grundgerüst" für die einzelnen Ressorts aufstellen zu können. Er übermittelte weitere Listen mit Personalvorschlägen für einzelne Ressorts. Dabei wies Keßler für die Vorbereitung der Organisation und der Personal­ besetzung des künftigen Innenressorts erneut auf Globke hin, mit dem in Verbindung zu treten Adenauer zugesagt habe. Unter Keßlers Federführung wurden in der Folge Organisations­ und Stellenpläne für fast alle Ressorts der künftigen Bundesverwaltung vorbereitet bzw. begutachtet und durch Personalvorschläge ergänzt. Einer ähnlichen, aber vornehmlich auf die Personalauswahl konzen­ trierten Aufgabe widmete sich auch ein vierköpfiges Gremium aus dem Kreis der „Vereinigten Beamtenausschüsse der CDU/CSU" (Vorsitzen­ der: Staatsminister Günter Gereke, Hannover), das im August 1949 tätig wurde74 • Ergebnisse der Arbeit dieses Ausschusses sind bisher nicht bekannt75• 7 1 Von den 26 Kandidaten, darunter Globke, hatten 15 dem früheren Reichsministerium des Innern angehört, 8 dem früheren preußischen Innen­ ministerium. Der Älteste von ihnen war 62 Jahre, der jüngste 40 Jahre alt. Das Verhältnis von Protestanten zu Katholiken betrug 16 : 10 ; 3 waren in Gruppe IV der Entnazifizierungs-Bestimmungen und 20 (darunter Globke) in Gruppe V eingestuft worden. In einem Falle war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. 72 Punkt 2 lautete : ,,Die jetzige, in mehreren Ländern angewandte per­ sonalpolitische Praxis. daß der Beitritt zur SPD praktisch als wirksame Amnestie für die NSDAP-Mitglieder gilt, dürfte nicht einseitig aufrecht­ erhalten werden." 7s Das geht aus einem Hinweis in einem Schreiben Keßlers vom 9. März 1949 an Blankenhorn hervor. Ebd. 14 Das ergibt sich aus einem Rundschreiben des stellvertretenden Vor­ sitzenden und Geschäftsführers dieser Ausschüsse, Oberregierungsrat Hesse, vom 17. Aug. 1949. Darin wurden geeignete Personalvorschläge für die Bundesverwaltung erbeten ; es gehe darum, ,,durchgreifende Gegenmaßnah­ men" gegen die „Mißwirtschaft" der SPD in der Personalpolitik zu beraten. Kopie im Besitz des Verf.

14 Speyer 66

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Angesichts derartig konkreter Aktivitäten wird verständlich, daß Adenauer im Verlaufe des Sommers 1949 darauf bedacht blieb, perso­ nalpolitische Vorentscheidungen des Frankfurter Verwaltungsrats zu verhindern16 • Das gleiche galt übrigens auch für die Konferenz der Ministerpräsidenten. Deren Vorsitzender drängte am 18. Juli 1949 Pünder, künftig nicht mehr Angestellte der Zweizonenverwaltung in das Beamtenverhältnis zu überführen, da die Frankfurter Verwaltung „lediglich (noch) eine abwickelnde Tätigkeit auszuführen habe". Dieser Auffassung pflichtete Pünder bei, wies Stock am 22. Juli 1949 aber darauf hin, daß die personellen :Oberleitungen als Folge des Gesetzes Nr. 15 von der Militärregierung verlangt würden77• Hinter dieser Pression - die Pünder durch Vorlage seines Schriftwechsels mit der alliierten Seite belegte - stand der Versuch, vor Toresschluß noch möglichst viel vom Inhalt der okroyierten Beamtengesetzgebung zu realisieren. Ein Beschluß des Frankfurter Verwaltungsrats vom 8. August 1949, acht Tage vor der ersten Bundestagswahl, keine Ernennungen oder Beförderungen mehr vorzunehmen, ,,um den Bundesorganen nicht vor­ zugreüen"78, markierte den Endpunkt der bizonalen Personalpolitik. Ihr Neubeginn in Bonn, fünf Wochen später, verknüpfte sich mit Namen und Zielsetzung des ersten Bundeskanzlers.

VI. Kontinuität von Frankfurt nach Bonn

Adenauer behielt bis zum Schluß Distanz gegenüber der Zweizonen­ verwaltung79, ja demonstrierte sie sogar ausdrücklich. Von Pünders wiederholten Angeboten, sich für die organisatorischen Fragen der 75 Dem Ausschuß gehörten neben Hesse (Bad Harzburg) an : Oberpost­ direktionspräsident Josef Baumhoff (Köln), Ministerialrat Hubert Hermans (Staatskanzlei des Landes Rheinland-Pfalz) und Globke. 7 6 In einem Vermerk Pünders vom 31. Mai 1949 über ein Gespräch mit Adenauer (wegen Überleitung der Geschäfte des Verwaltungsrats auf die künftige Bundesregierung) heißt es, daß Adenauer davor gewarnt habe, im „Schluß-Stadium" in Frankfurt noch „wichtige Personalentscheidungen" zu erledigen : ,,Die beiden großen Parteien, CDU und SPD, würden solche Entscheidungen . . . als unfair" ansehen. Pünder wurde gebeten, diese Auf­ fassung „unseren Freunden" in Frankfurt zur Kenntnis zu geben. BA, Nach­ laß Pünder 481. 77 Abgedruckt in der hektographierten Denkschrift des Organisationsaus­ schusses der Ministerpräsidentenkonferenz über die Organisation der Bun­ desregierung (s. Anm. 59). 78 66. Sitzung der Direktoren. Kopie des Protokolls im Besitz des Verfassers. 79 Vgl. W. Strauß, Die Personalpolitik der Bundesministerien, S. 276 : Adenauer habe eine „schwer erklärliche reservierte Haltung" gegenüber den bizonalen Behörden eingenommen. Hermann Wandersleb, Erinnerungen an Konrad Adenauer, in : Bonner Geschichtsblätter 27, 1975 (Sonderdruck), S. 15 : der Bundeskanzler habe die Arbeiten der bizonalen Verwaltungsstellen ,,nicht sehr hoch" bewertet.

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künftigen Bundesverwaltung seiner Mitarbeit oder des im Verwal­ tungsrat konzentrierten Sachverstands zu bedienen80, machte der CDU­ Vorsitzende keinen Gebrauch. Dennoch darf diese Distanzierung nicht die Tatsache verdecken, daß die Ressorts der Zweizonenverwaltung fast ausnahmslos ohne Schwierigkeiten - wenn auch nicht immer schmerzlos für alle Betroffenen - nach Bonn überführt werden konnten. Infolge der komplizierten Koalitionsverhältnisse und des nicht minder schwierigen unionsinternen Proporz- und Interessenausgleichs wurden insgesamt 1 3 Bundesministerien (gegenüber acht, wie vom Organisations-Ausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz und vom Rechnungshof vorgesehen) geschaffen80a. Dabei setzte sich Adenauer über Pünders mehrfach wiederholten Vorschlag hinweg, ein eigenes Ressort für zwischenstaatliche Beziehungen zu errichten und übernahm stattdessen die Anregung des Organisationsausschusses der Minister­ präsidenten-Konferenz, eine entsprechende Dienststelle im Bundes­ kanzleramt einzurichten81 • Umgekehrt ließ der Kanzler Bedenken Ludwig Erhards unberücksichtigt und konzedierte ein eigenes Ressort für Angelegenheiten des Marshall-Plans. Sechs Bundesministerien entstanden durch geschlossene Übernahme der entsprechenden Frankfurter Verwaltungen, drei weitere durch Übernahme bizonaler Zentral- und Hauptämter. (Dabei ist es für unsere Fragestellung unerheblich, daß die bizonalen Ressorts formell auf­ gelöst worden sind und deren Personal auf die neugegründeten Bun­ desministerien übergeleitet wurde.) Nur vier Ressorts wurden im 80 BA, Nachlaß Pünder 265 ; H. Pünder, Von Preußen nach Europa, S. 397. Am 25. Mai 1949 erhielt der Leiter der Direktorialkanzlei, Krautwig, vom Frankfurter Verwaltungsrat den Auftrag, mit Ministerialdirektor Wandersleb alle Fragen zu besprechen, die sich aus der Wahl Bonns zur vorläufigen Bundeshauptstadt ergäben, ,,sowie die Möglichkeiten der Einschaltung der Verwaltung des VWG in die Überleitungsarbeiten". BA, Nachlaß Pünder 268. 80a Dazu vgl. Adenauers Begründung in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949. Stenogr. Berichte, S. 22. 81 In einem Schreiben vom 26. Juli 1949 an Adenauer hatte Pünder seinen Vorschlag erneut begründet und gleichzeitig einen Organisationsplan für das entsprechende Ministerium beigefügt, für dessen Errichtung sich der Ver­ waltungsrat einstimmig ausgesprochen habe. BA, Nachlaß Pünder 265. Dazu weitere Schreiben aus dem August und September 1949 an Adenauer. Offen­ sichtlich rechnete Pünder damit, ein entsprechendes Amt selbst übernehmen zu können. So war auch in einer Besprechung Adenauers mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard und einigen anderen bayerischen Politikern am 20. Aug. 1948 in Frankfurt - in deren Verlauf sich Adenauer gegen die Errichtung eines entsprechenden Ministeriums und stattdessen für ein eigenes Staatssekretariat „unter dem Bundeskanzler" ausgesprochen hatte - Pünder vorgeschlagen worden, ohne daß Adenauer widersprochen hatte. Nach dem Bericht über dieses Gespräch, der Pünder am 24. Aug. 1949 vorgelegen hat. Ebd. Ich beabsichtige, dieses Schlüsseldokument zur Vorgeschichte der Re­ gierungsbildung an anderer Stelle zu veröffentlichen.

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September 1949 neu errichtet, darunter das Innenministerium. Ein Bundeskanzleramt war bereits von der Ministerpräsidenten-Konferenz vorgeschlagen worden. Das Urteil von Rudolf Wildenmann, Adenauer und sein erstes Kabi­ nett hätten die Bundesverwaltung „ im wesentlichen neu geschaffen" , und zwar „ ausstrahlend von Kabinett und Kanzleramt", trifft nicht zu, auch nicht Wildenmanns weitere Feststellung vom funktionalen Aufbau der Bundesverwaltung als „immer größere Ausfächerung von einem sehr harten Kern " , dem Bundeskanzleramtll2. So war es 1867 bzw. 187 1 geschehen83. Entsprach nun der institutionellen Kontinuität von 1949 auch eine vergleichbare personelle? Die Antwort lautet: Sowohl als auch. Nimmt man die Erstbesetzung der Minister- und Staatssekretärsposten ein­ schließlich derj enigen der höheren Ministerialbürokratie, ist eine per­ sonelle Kontinuität von Frankfurt nach Bonn eindeutig. Stellt man j edoch die Persönlichkeiten des ersten Bundeskanzlers und der Leiter wichtiger neugeschaffener Ministerien (Heinemann, Kaiser, Wilder­ muth) entsprechend in Rechnung, tritt das Moment des politischen Neubeginns stärker in den Vordergrund. Die personelle Kontinuität wird aus Tabelle 2 deutlich. Vier Chefs derj enigen Frankfurter Ämter, die in Bundesministerien aufgingen, verblieben als Bundesminister an der Spitze ihrer bisherigen Ressorts : Ludwig Erhard, Hans Lukaschek, Hans Schuberth und Anton Storch. Zu ihnen trat als Fünfter Wilhelm Niklas, der bisherige stell­ vertretende Direktor der Ernährungsverwaltung. Nimmt man noch Vizekanzler Franz Blücher hinzu, der die FDP-Fraktion im Wirtschafts­ rat geführt hatte, so besaßen von den 13 Bundesministern der ersten Regierung Adenauer sieben Frankfurter Erfahrungen. (Neu hinzu kamen Dehler, Heinemann, Hellwege, Kaiser, Schäffer und Wilder­ muth.) Von den übrigen fünf Frankfurter Ressortchefs wurden vier als Staatssekretäre in ihre zu Bundesministerien umgewandelten bis­ herigen Ressorts übernommen : Edmund Frohne, Alfred Hartmann, Ottomar Schreiber und Walter Strauß. Bundeswirtschaftsminister Erhard behielt seinen bisherigen Stellvertreter, Eduard Schalfej ew, als Staatssekretär, nachdem der in Schweden lebende frühere Staats­ sekretär im Reichsfinanzministerium (1929 - 1932) Hans Schäffer ein Angebot Adenauers abgelehnt hatte, dieses Amt zu übernehmen84 • Drei 82

Macht und Konsens als Problem der Innen- und Außenpolitik. Köln 1967,

s. 156 f.

83 Vgl. Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867 - 1890. Münster 1957. 84 Vgl. Eckhard Wandel, Hans Schäffer. Stuttgart 1974, S. 281.

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Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950 Tabelle 2

Personelle Kontinuität 1949 Vereinigtes Wirtschaftsgebi e t

Bundesrepublik Deutschland

-

0 b e r d i r e k t o r (Pünder) Direktoren der Verwaltung für Arbeit (Storch) Ernährung (Schlange-Schöningen) Finanzen (Hartmann) Post (Schuberth) Verkehr (Frohne) Wirtschaft (Erhard) L ei ter d es (Haupt-)Amtes für Heimatvertriebene (Schreiber) Marshall-Plan (Schniewind) Personal (Oppler) Recht (Strauß) Soforthilfe (Lukaschek)

Min.-Dir. / Gesandter Staatssekretär B u n d e s m i n i s t e r (und MdB)

S t e 1 1 v. D i r e k t o r e n der Verwaltung für Arbeit (Scheuble) Ernährung (Niklas) Finanzen (Kriege) Post (Zaubitzer) Verkehr (Schiller) Wirtschaft (Schalfejew)

Abteilungsleiter Bundesminister Abteilungsleiter Abteilungsleiter Abteilungsleiter Staatssekretär

L e i t er d e r Direktorialkanzlei (Krautwig) Presseabteilung (Knappstein)

(BMW) Abteilungsleiter Min.-Dir. / Generalkonsul

(MdB)

B u n d e s m i n i s t e r (und MdB) (MdB) Staatssekretär Bundesminis ter Staatssekretär B u n d e s m i n i s t e r (und MdB) Staatssekretär

-

(BMA) (BMI) (BMP) (BMV)

der stellvertretenden Direktoren aus der Frankfurter Zentralverwal­ tung verblieben in Bonn als Abteilungsleiter in ihren bisherigen Ressorts : Friedrich Schiller (Verkehr), Ferdinand Zaubitzer (Post) und Julius Scheuble (Arbeit) ; der stellvertretende Direktor der Verwaltung für Finanzen, Walter Kriege, wurde als Abteilungsleiter in das Bundes­ ministerium des Innern übernommen, der Leiter der Direktorial­ kanzlei, Carl Krautwig, als Abteilungsleiter in das Bundeswirtschafts­ ministeriumSö. Keine neue Aufgabe in der Bonner Exekutive erhielten Hermann Pünder und Hans Schlange-Schöningen. Außerdem blieb der bisherige ss Die Annahme von L. Niethammer, daß die „Führungskräfte" der Bundes­ regierung „nur im Ausnahmefall" aus der bizonalen Verwaltung übernommen worden seien (Zum Verhältnis von Reform und Rekonstruktion, S. 187 Anm.28), trifft also nicht zu.

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„Berater für den Marshall-Plan", Otto Schniewind, ausgeschaltet. Er erhielt nicht einmal Gelegenheit, die :Oberleitung seines bisherigen Arbeitsgebiets in das neugeschaffene Bundesministerium für Fragen des Marshall-Plans vorzunehmen86• Das Personalamt unter Oppler wurde gar nicht erst nach Bonn überführt, sondern verblieb in Frank­ furt und wurde nur noch mit Abwicklungsaufgaben beschäftigt. Davon wird noch die Rede sein. VII. Adenauers Distanzierung von der Zweizonenverwaltung

Daß Schlange-Schöningen nicht zum Bundesminister avancierte, ver­ dankte er in erster Linie der entschiedenen Ablehnung durch die CSU und die Vertreter der Bauernverbände in der eigenen Fraktion; Adenauer hatte dem in den Bundestag gewählten CDU-Abgeordneten, dem einzigen politisch noch aktiven Reichsminister aus der Weimarer Republik, zunächst die Übernahme des Ministeriums für Ernährung und Landwirtschaft angeboten87• Schlange schied am 24. September 1948 aus seinem Frankfurter Amt und verließ einige Monate später mit der Annahme seiner Ernennung zum Generalkonsul in London die poli­ tische Szenerie in der Bundesrepublik.

Größere Aufmerksamkeit fand die politische Ausschaltung des eben­ falls für die CDU in den Bundestag gewählten Oberdirektors Pünder. Auch bildete die Direktorialkanzlei nicht den Grundstock für die Bundeskanzlei, sondern wurde in das Innenministerium eingegliedert und dessen Leiter, Ministerialdirektor Krautwig, in das Bundeswirt­ schaftsministerium übernommen.

Adenauer hatte, wie schon erwähnt, wiederholt die Frankfurter Amtsführung des ihm seit Jahrzehnten bekannten rheinischen Lands­ manns und früheren Chefs der Reichskanzlei in Berlin (1926 - 1932), Pünder, als zu wenig straff kritisiert und bei ihm „politisches Finger­ spitzengefühl" vermißt. Dabei spielte eine persönliche Entfremdung

86 Darüber beschwerte sich Schniewind am 6. Okt. 1949 beim Bundeskanzler und kritisierte die Art und Weise, in der über sein Arbeitsgebiet verfügt worden sei. Durchschlag im BA, Nachlaß Pünder 274. Am 2. Nov. 1949 in­ formierte Schniewind seinen Duzfreund Pünder davon, daß sich der DGB­ Vorsitzende Hans Böckler - den er kürzlich getroffen habe - höchst lobend über Pünders Tätigkeit geäußert habe. Schniewind fuhr fort: ,,Meine Be­ merkung, daß die Behandlung, die Du durch Deinen Nachfolger [Adenauer] erfahren habest, unerhört und eines christlichen Politikers unwürdig sei, griff er begierig auf . . . . Herr Böckler war gleich mir der Meinung, daß eine Regierungspolitik, die ausschließlich mit der Eiseskälte des Verstandes ohne jede Regung des Herzens oder des Gemüts geführt werde, kaum zum Erfolg führen werde." Ebd. Pünder übermittelte Abschriften dieses Briefes (ohne Nennung des Absenders) an verschiedene Bekannte. 87 Vgl. J. Rohrbach, Im Schatten des Hungers, S. 288 ff.

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mit, deren Wurzeln in der Zeit von Pünders Tätigkeit als Oberbürger­ meister von Köln (Nov. 1945 bis Mai 1948) lagen88 • Auch ein Diktum Pünders aus einer Pressekonferenz im Juli 1949, wonach das Zentral­ gebäude des Verwaltungsrats in Frankfurt für die zukünftige Bundes­ kanzlei „ ausgezeichnet" wäre89, diente nicht gerade dazu, einer späteren Verwendung des Oberdirektors in Bonn Vorschub zu leisten.

Außerdem hatte sich Pünder, wie bereits angedeutet, noch auf andere Weise den Eintritt in ein künftiges Kabinett Adenauer erschwert, wenn nicht verbaut. Zum Schluß eines Briefes vom 22. Februar 1949, als Ant­ wort auf massive Monita seines Parteivorsitzenden00 , hieß es: Er, Pünder, habe sich zu der schweren und „äußerst undankbaren" Tätig­ keit in Frankfurt - was Adenauer ja wisse - keineswegs gedrängt und schon gar nicht von persönlichen Interessen leiten lassen91 • Im Gegenteil: Es sei sein Wunsch, im Zuge der „Neuorganisation im neuen Bund nicht mehr in dieser vorderen Drecklinie" zu stehen und nicht mehr, ,, trotz aller Erfolge, Tag und Nacht auf der Anklagebank zu sitzen"92•

Dieser verständlichen verärgerten Reaktion des Oberdirektors hat der Bundeskanzler in einem sehr wörtlichen Sinne Rechnung getragen und dadurch die Distanz zwischen Frankfurt und Bonn betont. Auf diese Weise wurde gleichzeitig und demonstrativ ein Trennungsstrich zur Ära der Besatzungsherrschaft und des bizonalen Interregnums gezogen. Welche Gründe dabei eine Rolle spielten, machte Adenauer wenige Tage nach seiner Wahl zum Bundeskanzler deutlich, als er vor der CDU-Landtagsfraktion in Düsseldorf, in Anwesenheit Pünders, die „leidige Frankfurter Gewohnheit" kritisierte, immer „zunächst bei den Alliierten zu fragen" . Auf einen nachträglichen schriftlichen Protest des Oberdirektors vom 26. September hin, der Adenauers Vorwurf als es s. Anm. 97. Abwegig ist die Vermutung, daß Adenauer mit der Aus­ schaltung Pünders wohl auch eine „alte Rechnung aus alten Zentrumszeiten" beglichen habe. So Alfred Rapp, Erhard und Adenauer, in : Ludwig Erhard. Beiträge zu seiner politischen Biographie. Frankfurt 1972, S. 586. 89 Frankfurter Rundschau vom 28. Juli 1949. 90 s. Anm. 47. 01 Adenauer hatte Pünder gedrängt, sich für die Frankfurter Aufgabe zur Verfügung zu stellen. Vgl. H. Pünder, Von Preußen nach Europa, S. 321 f. 02 Daß Auszüge ausgerechnet aus diesem Briefwechsel am 13. Juli 1949 vom Berliner Telegraph veröffentlicht wurden, führte zu einer weiteren Ent­ fremdung zwischen den beiden CDU-Politikern. Bereits am 16. Jan. 1949 hatte Pünder dem Vorsitzenden der Unionsfraktion im Wirtschaftsrat, Holzapfel, anläßlich von Differenzen zwischen Verwaltungsrat und Fraktion geschrie­ ben, es sei für die Mitglieder des Verwaltungsrats „und nicht zuletzt auch für mich, die wir uns in des Wortes wahrster Bedeutung Tag und Nacht an unseren schweren Aufgaben verzehren, auf die Dauer ganz unerträglich, gegenüber dem einen oder anderen hiesigen Parteifreund sich fortgesetzt auf der Anklagebank zu wissen". BA, Nachlaß Pünder 481.

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„durchaus unberechtigt" zurückwies93, gab der Bundeskanzler seinem Urteil dann eine etwas andere Richtung, indem er es „in erster Linie" auf „nachgeordnete Stellen" bezog, die mit den alliierten Instanzen Kontakt unterhalten hätten, ,,oft" zum „Nachteil der deutschen Inter­ essen " ; in diesem Zusammenhang nannte Adenauer den Leiter des Personalamts, Oppler94 • In seiner Regierungserklärung vom 20. September 1 949 dankte der Bundeskanzler den Angehörigen der bizonalen Wirtschaftsverwaltung für die „geleistete Arbeit"95• Diesen Satz hatte er seinem maschinen­ schriftlichen Manuskript - offensichtlich in letzter Minute - hand­ schriftlich eingefügt96 • Erst auf einen Zwischenruf des kommunistischen Abgeordneten Renner hin fand der Bundeskanzler daran anschließend ein knappes Wort des Dankes für die „leitenden Persönlichkeiten" der Frankfurter Verwaltung, ,,die zur Zeit bei dem Aufbau der Bundes­ regierung nicht haben eingegliedert werden können"97• Die ihm nicht nur politisch opportun erscheinende Distanzierung von der bizonalen Ära98 kam auch darin zum Ausdruck, daß Adenauer Vorschläge Pünders - der seit dem Herbst 1949 mit seiner „Direktorial­ kanzlei in Abwicklung" in Bonn residierte - über die Überleitung einzelner Ämter der Zweizonenverwaltung auf die neugeschaffenen Bundesorgane nicht beachtete. Infolgedessen drängte der Oberdirektor am 3. Dezember 1 949 und am 7. Februar 1950 den Bundeskanzler, die 93 Ebd. 274. Dazu vgl. Hermann Pünder im Vorwort zu T. Pünder, Das Bizonale Interregnum, S. 13 : ,,Das später . . . in die Welt gesetzte Schlagwort vom ,Befehlsempfang in Frankfurt' ist eine historische Unwahrheit." 94 27. Sept. 1949. BA, Nachlaß Pünder 274. 95 Vgl. Stenogr. Berichte, S. 24. 0e Nach Auskunft der Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus in Rhöndorf. 07 Mit Erstaunen registrierte Pünder (Schreiben vom 15. Okt. an Robert Pferdmenges ; BA Nachlaß Pünder 274 ; H. Pünder, Von Preußen nach Europa, S. 419), daß dieser eingeschobene Dank in der Wiedergabe der Regierungs­ erklärung in der ersten Ausgabe des neuen Bundesanzeigers fehlte und auch trotz einer Intervention Holzapfels beim Bundeskanzler nicht nachträglich richtiggestellt worden sei. In diesem Zusammenhang klagte Pünder über die „hart bis an die Grenze der Grausamkeit" gehende Behandlung durch Adenauer und datierte deren Grund in die Zeit seiner eigenen Oberbürger­ meistertätigkeit in Köln als Nachfolger Adenauers. Weiter bezeugte Pünder sein „vollstes Verständnis" für Adenauers Entscheidung, ihn nicht in das Kabinett zu berufen, bezeichnete es aber als „unverdiente Kränkung", daß er vom Bundeskanzler in den letzten Wochen „geradezu wie Luft" behandelt worden sei. 98 Am 26. Sept. 1949 teilte der Bundeskanzler in einem Schreiben an Pünder mit, daß er (entsprechend Art. 130 GG) die zuständigen Bundesminister beauftragt habe, die in ihren Bereich fallenden bizonalen Verwaltungen zu übernehmen. In diesem internen Schreiben war auch der Dank der Bundes­ regierung enthalten. Pünder übermittelte dieses Schreiben am 28. Sept. 1949 den bisherigen bizonalen Ressortchefs. Er selbst erhielt ein persönliches Dankschreiben Adenauers. BA, Nachlaß Pünder 272.

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Direktorialkanzlei auch formell aufzulösen99 • Das geschah am 4. Mai 1950. An diesem Tage empfing Adenauer sowohl den CDU-Abgeordne­ ten Pünder als auch den zum Generalkonsul in London ernannten Fraktionskollegen Schlange-Schöningen zur Verabschiedung. Bei die­ ser Gelegenheit regte der Bundeskanzler an, daß beide Politiker ihre Frankfurter Erfahrungen niederschreiben sollten, und übermittelte ihnen „Worte besonderen Dankes" für diese Arbeit100• Gleichzeitig stellte er Pünder eine „maßgebliche Einschaltung in die künftige Ver­ waltung des wirtschaftlichen Bundesvermögens" in Aussicht, die j edoch nicht realisiert wurde101 • Bei der koalitionspolitischen Quotierung der Staatssekretäre mußte vor allem die CDU berücksichtigt werden, deren Vertreter unter den Bundesministern unterrepräsentiert waren. Während drei Staatssekre­ täre keiner Partei angehörten (Frohne, Schalfej ew, Wandersleb), be­ saßen in einigen anderen Ressorts die Staatssekretäre eine andere Parteizugehörigkeit als die j eweiligen Minister102• Die Ernennung der Staatssekretäre erfolgte durchweg auf Vorschlag der Ressortchefs. Allerdings hat Adenauer in zwei Fällen Schwierigkeiten gemacht1 03

99 Ebd. Sehr zurückhaltend formulierte Hermann Pünder später, daß durch die „behutsame Überleitung" der Direktorialkanzlei der „verhältnismäßig glatte Start der neuen Bundesinstanzen" in Bonn „offensichtlich" erleichtert worden sei. Das Schaltwerk von Politik und Verwaltung im Reich, in der Bizone und im Bund, in : DÖV 16, 1963, S. 5. 1 00 Nach einer Aufzeichnung Pünders vom 4. Mai 1950. BA, Nachlaß Pünder 274. 10 1 Am 17. Okt. 1949 hatte Vizekanzler Blücher dem Bundeskanzler nahe­ gelegt, Pünder als Präsident des Roten Kreuzes in Aussicht zu nehmen. BA, Nachlaß Blücher 78. 1 02 Die entsprechenden Detailangaben bei Franz Alt, Der Prozeß der ersten Regierungsbildung unter Konrad Adenauer. Bonn 1970, S. 145, sind großen­ teils korrekturbedürftig. Der Autor rechnet auch Walter Hallstein (der erst im August 1950 zum Staatssekretär ernannt worden ist) der CDU zu, während Adenauer am 30. Okt. 1950 dem FDP-Abgeordneten H. Schäfer (Hamburg) mitgeteilt hatte, daß Hallstein nicht CDU-Mitglied sei : ,,Ob er der FDP angehört oder ihr nahesteht, weiß ich nicht." Durchschlag im BA, Nachlaß Blücher 78. - Die später unter Globkes Vorsitz tagende „Gewerkschaft der Staatssekretäre" traf sich erstmals am 6. Febr. 1950 auf Einladung des Staatssekretärs im Bundesvertriebenenministerium. BA, Nachlaß Thedieck 59. 1 03 Das betraf vor allem den von Jakob Kaiser (Ministerium für gesamt­ deutsche Fragen) als Staatssekretär angeforderten Oberregierungsrat bei der Kölner Bezirksregierung, Franz Thedieck, der aus der inneren preu­ ßischen Verwaltung stammte und den Adenauer aus den zwanziger Jahren kannte. Der Bundeskanzler befürchtete offensichtlich, daß sein innerpartei­ licher Kontrahent Kaiser durch Thedieck zusätzliches Gewicht im Sinne des linken Flügels der CDU erhalten würde. Erst als Bundesminister Kaiser nach monatelangem Tauziehen mit seinem Rücktritt drohte, gab Adenauer nach. Vgl. Erich Kosthorst, Jakob Kaiser. Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen 1949 - 1957. Stuttgart 1972, S. 97 ff., 366 ; G. Rüss, Anatomie einer politischen Verwaltung, S. 22 ; Franz Th,edieck, Gespräche und Begegnungen mit Konrad Adenauer, in : Konrad Adenauer und seine Zeit (s. Anm. 3), S. 332. Im Falle des Ministeriums für Fragen des Marshall-Plans konnte der

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Rudolf Morsey Tabelle 3

Gesamtpersonalbedarf (ohne Arbeiter) für das Bundesparlament und die Bundesregierung nach den Vorschlägen des Organisationsausschusses der Ministerpräsidentenkonferenz (Zahlen in Klammern : Beamte und Angestellte des höheren Dienstes - von der Besoldungsgruppe 2a c2 bzw. TOA III an aufwärts - in den Gesamt­ zahlen enthalten.) 60 1.Bundestag . . . ..... .... . .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.Bundesrat .. . .. ... . . . .. . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . 25 3. Bundespräsidialamt .. .. ... . . . . .. .. .. .. . . . . . . . . .. . 4.Bundeskanzler : a) Bundeskanzlei . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . 120 b) Bundesamt für Auswärtige Angelegenheiten . . . . . . .. . . . . . . . . . . 180 5. Bundesministerium des Innern . .... . . .. . . .. .. . . . . 150 6. Bundesministerium der Finanzen . . . . . . . . . .. .... . 280 7. Bundesministerium der Justiz . . . . . . . . . . . ..... ... . 100 8. Bundesministerium für Wirtschaft . ... . . .. . ... . . . 650 9. Bundesministerium für Arbeit (evtl.: für Arbeit und soziale Aufgaben) . . . . . . . . . . 520 10. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft ... . .. . ... . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1 1. Bundesverkehrsministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 12. Bundespostministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 zusammen : 3.255 Rechnungshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

( 20) ( 12)a) ( 10) ( 30) ( 46)e) 280 ( 74) ( 27)b) 290 ( 67)C ( 55) ( 30) (180) (140)c) 380 (100)b (125) (l00)d) ( 44) (819) ( 30)

a) Ohne Ländervertretungen. - b) Ausschließ!. Fürsorge-, Wohnungs- (und Sied­ lungs-), Flüchtlings- und Gesundheitswesen. - c) Einschließl. Fürsorge-, Wohnungs­ (und Siedlungs-) , Flüchtlings- und Gesundheitswesen. - d) Ohne Hauptverwaltung Eisenbahn. - e) In der Anlaufzeit.

und im Falle des Wirtschaftsministeriums versucht, die Ernennung von Schalfejew von einer Umorganisation dieses Ressorts abhängig zu machen104 • Den Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei, Hermann Wan­ dersleb, dem entscheidender Anteil an der Wahl Bonns zur Bundes­ hauptstadt zukam, als Staatssekretär für das Wohnungsbauministerium zu gewinnen, hat sich Adenauer besonders bemüht10o. Ressortchef, Vizekanzler Blücher, seinen Kandidaten (Karl Werkmeister, Gesandtschaftsrat a. D., Ministerialdirektor im Zentralamt für Wirtschaft der britischen Zone) gegen Adenauer - aus bisher unbekannten Gründen nicht durchsetzen ; Blücher entschied sich dann für den Ministerialdirektor im hessischen Finanzministerium Gase (CDU). BA, Nachlaß Blücher 78. Zwischen dem Ressortchef und dem Staatssekretär kam es bereits im Herbst 1951 zu einer Kontroverse über die Amtsführung von Gase, der 1952 aus dem Ministerium ausschied. 104 Schreiben vom 30. Nov. 1949 an Bundeswirtschaftsminister Erhard. Kopie im Besitz des Verf.

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Alle Beamtenstellen konnten erst nach Annahme des ersten Bundes­ haushalts formell besetzt werden. Bis dahin wurden die Stelleninhaber von ihren Länderverwaltungen beurlaubt, wobei sichergestellt wurde, daß sie innerhalb von sechs Monaten in das frühere oder ein gleich­ wertiges Amt zurückkehren konnten. Bundesfinanzminister Schäffer hatte vergeblich gehofft, für die „zeitbedingten Ministerien" wegen deren „geringen Umfangs" ganz ohne Staatssekretäre auskommen zu können106• Auch der Organisationsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz war von einem außerordentlich niedrigen Personalbedarf ausgegangen, wie die Übersicht in Tabelle 3 ausweist107 • Diese illusionären Planziffern waren bereits wenige Monate später überschritten. Der ab 1. April 1950 geltende erste Haushaltsplan des Bundes wies allein für die Ministerien „infolge Zunahme der Dienst­ geschäfte" insgesamt 4852 Stellen aus (davon 1542 des höheren Dien­ stes), das heißt Steigerungen gegenüber dem Vorjahr von knapp 30 v. H. beim höheren und etwa 35 v. H. beim mittleren und unteren Dienst108• VIII. Ämterpatronage

Mehrere ehemalige Staatssekretäre haben übereinstimmend ver­ sichert, daß beim personellen Aufbau der Bundesministerien partei­ politische Gesichtspunkte keine Rolle gespielt hätten109 • Adenauer hat 1959 einmal rückblickend erklärt: ,,Wir haben niemanden gezwungen unserer Partei beizutreten, wenn er Beamter werden wollte oder auch, wenn er Beamter war. Wir haben uns immer zurückgehalten110. " Nun belegen jedoch genügend Zeugnisse, daß Adenauer bereits seit dem Oktober 1948 wiederholt auf die Bedeutung der personellen Erstbesetzung aufmerksam gemacht hatte. Das geschah stets unter Verweis auf die gezielte oder, wie er sie auch nannte, ,,intolerante" 105

Vgl. H. Wandersleb, Erinnerungen an Konrad Adenauer, S. 14, 16. So in einer Besprechung zwischen Heinemann, Schäffer, Globke und Keßler am 26. Sept. 1949 (BA, B 106 Zg. I 74/64) sowie nach einer Mitteilung Th.ediecks vom 5. Okt. 1949 an einen Kölner Regierungsdirektor. BA, Nach­ laß Thedieck 59. 101 Aus den Empfehlungen des Organisationsausschusses, o. S. 10s Am 29. März 1950 erhob der SPD-Abgeordnete Schoettle im Bundestag Bedenken gegen die „persönliche Besetzung" von Beamtenstellen, erklärte aber gleichzeitig, daß beim „quantitativen Aufbau" der Bundesverwaltung nicht „sehr stark übers Ziel" geschossen worden sei. Stenogr. Berichte, S. 1981. 109 Vgl. W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 280. Ferner Auskünfte der Staatssekretäre a. D. Karl Gumbel und Franz Thedieck. 110 Vor dem Wahlmännergremium der CDU/CSU am 7. April 1959, zitiert nach : Karl Otto Skibowski, Adenauer - Maximen für die Gegenwart. Stutt­ gart 1974, S. 48. 10 6

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oder „rücksichtslose" Personalpolitik der Sozialdemokratie111 • Bereits am 29. Oktober 1948 hatte der CDU-Vorsitzende vor dem Zonenaus­ schuß der CDU der britischen Zone seine Vorstellungen folgender­ maßen erläutert: ,,Wir [ !] neigen zu der Auffassung: kleine Bundes­ ministerien, politisch gut besetzt, gute Beamte dabei, die Zentralver­ waltung soll nicht zu politisiert werden 112. " In seiner Regierungs­ erklärung vom 20. September 1949 beschränkte sich der Bundeskanzler auf den Hinweis, die Regierung stehe „grundsätzlich und entschlossen auf dem Boden des Berufsbeamtentums" und werde das Beamtenrecht neu regeln113• (Darin lag eine klare Absage an die Prinzipien des Militärregierungsgesetzes Nr. 15.)

Daraufhin meldete der SPD-Vorsitzende Schumacher in der Debatte sofort den Anspruch aller „ verfassungstreuen politischen Richtungen in der Besetzung der Beamtenpositionen" an; das Prinzip des Berufs­ beamtentums habe nur dann einen Sinn, wenn die „Beamtung ein vertrauenswürdiges Instrument für jede demokratische verfassungs­ mäßige Regierung" sei114 •

1949 gehörten sehr wenige Beamte einer Partei an. Die Bundesregie­ rung besaß keine Richtlinien für die Einstellung von Beamten. Auch gab es keine Beurteilungsvorschriftenrn'l_ Man habe sich, so Walter Strauß, an den personalpolitischen Grundsätzen der Reichsministerien der Zeit von 1933 orientiert: neben „hohen fachlichen und charakter­ lichen Eigenschaften" sei „einwandfreie Staatstreue" maßgebend ge111 So in einer Sitzung des Zonenausschusses der CDU der britischen Zone am 25. Febr. 1 949 (H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Be­ satzungszone, S. 801) sowie in einer Sitzung führender Unionspolitiker am 3 1 . Aug. 1949 in Bonn (Protokoll im Besitz des Verf.). 112 H. Pütz, Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone, S. 737. Bereits im Jan. 1 949 soll es bei den Parteien Listen derjenigen Persönlich­ keiten gegeben haben, ,,die mit zukünftigen Posten beliehen werden könnten " . So jedenfalls Jan Molitor, Bonn - Parlamentarier in guter Stimmung, in : Die Zeit vom 27. Jan. 1949. 113 Stenogr. Berichte, S. 27. Der Bundeskanzler war - ausgenommen die Gruppe der „politischen Beamten" - Verfechter eines politisch neutralen, fachlich qualifizierten und republikanisch zuverlässigen Berufsbeamtentums. Er stellte hohe Anforderungen an die Ministerialbürokratie (vgl. Rudolf Morsey, Brüning und Adenauer. Düsseldorf 1972, S. 37 f.) und besaß bzw. nutzte vielfache Möglichkeiten, um zu belohnen oder zu tadeln, anzuspornen oder abzuwehren. Seine Personalpolitik und sein Führungsstil in der Zeit seiner Wirksamkeit als Kölner Oberbürgermeister sind kürzlich dargestellt worden : Klaus Pabst, Konrad Adenauers Personalpolitik und Führungsstil, in : Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln, hrsg. von Hugo Steh­ kämper. Köln 1976, S. 249 ff. ; Rudolf Morsey, Der Staatsmann im Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, in : Rheinische Vierteljahresblätter 40,

Stenogr. Berichte, S. 33. 115 Vgl. Theodor Sonnemann, Gestalten und Gedanken. Stuttgart 1 975, S. 250 f. ; W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 277 f. 1976, 114

s. 208.

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

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wesen1116• Nun erinnerte sich Strauß, als er diese Feststellung formu­ lierte, schwerlich daran, daß in der Zeit der Weimarer Republik die Forderung nach „einwandfreier Staatstreue" der Beamten etwas ganz anderes beinhaltet hatte: nämlich den ausdrücklichen Verzicht auf das Postulat nach Verfassungs- oder gar Republiktreue. Es scheint sicher zu sein (und nur der Nachweis des Gegenteils könnte überraschen), daß sich der Bundeskanzler beim personellen Auf- bzw. Ausbau der Bundesministerien - von Einzelfällen abge­ sehen117 - nur bei der Auswahl der Staatssekretäre eingeschaltet hat. Parteipolitische Ämterpatronage betrieben alle vier in der Regierung vertretenen Parteien1 18 • Adenauers damaliger engster Mitarbeiter, Herbert Blankenhorn, besaß Listen mit Personalvorschlägen, ,,nach Ressorts geordnet", die unter Mitwirkung „sachverständiger Ver­ trauensleute" aus Kreisen der CDU/CSU aufgestellt worden waren119 . Auch von der SPD lagen Namenslisten vor, aus denen manche Staats­ sekretäre bzw. Personalchefs geeignete Kandidaten übernommen haben1:ro. Bereits am 26. September 1949 erzielte ein im Auftrage des Kabi­ netts tätiges Gremium - Bundesfinanzminister Schäffer, Bundesinnen­ minister Heinemann sowie Globke (Bundeskanzleramt) und Keßler 1 1& Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 278 f. Dazu vgl. Th. Eschenburg: ,,Die Mehrheit der Regierungschefs und -mitglieder [vor 1949]

lebten und wirkten in der Orientierung an Modellen der Reichsrepublik." Regierung, Bürokratie und Parteien, S. 69. 117 Ein solcher Fall ist bei Linus Kather überliefert (Die Entmachtung der Vertriebenen. München 1964, S. 76) : Danach hat der Bundeskanzler dem schlesischen Landwirt Seewald, der 1949 über die Landesliste von Nordrhein­ Westfalen als CDU-Abgeordneter in den Bundestag gewählt worden war, die Stelle eines Ministerialrats im Landwirtschaftsministerium anbieten lassen. Auf diese Weise sollte das Mandat dem nächstplazierten Kandidaten der betreffenden Landesliste zufallen : Robert Pferdmenges. Dem Flücht­ lingsbauern mit fünf unversorgten Kindern Seewald sei die Entscheidung über das für ihn verlockende berufliche Angebot jedoch abgenommen worden, weil er Ende November 1949 überraschend gestorben sei, so daß sich auf diese Weise Adenauers Wunsch „kostenlos erfüllt" habe. - Vgl. W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 279 : Adenauer habe sich um die Personalpolitik der Ministerien „im einzelnen nicht gekümmert". 11 s Theodor Eschenburg spricht davon, daß die „reine Parteipatronage auf Bundesebene" bei der „Erstausrüstung" in Bonn eine „beachtliche Rolle" gespielt habe, verzichtet aber auf jeden Beleg. Ämterpatronage. Stuttgart 1961, s. 62. 119 Das geht aus einem Schreiben Keßlers vom 20. Aug. 1949 an Ministerial­ rat v. Perbandt hervor. BA, B 106 Zg. I 74/64. 12 0 Vgl. G. Rüss, Anatomie einer politischen Verwaltung, S. 17. Der Ge­ schäftsführer der vereinigten Beamtenausschüsse der CDU/CSU, Hesse, hatte wenige Tage nach der Bundestagswahl durch Rundschreiben Vor­ schläge für die Besetzung besonders wichtiger Stellungen in Bonn „mit unbedingt zuverlässigen und fähigen Beamten" erbeten, die nicht aus der NS-Zeit belastet seien. Kopie im Besitz des Verf.

222

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(Rechnungshof Frankfurt, früher Hamburg) in einer ersten Be­ sprechung über organisations- und beamtenrechtliche Fragen Einigkeit darüber, bei den Stellenbesetzungen von den Bestimmungen des Grundgesetzes auszugehen. Das bedeutete: Abkehr vom „älteren" Dienstrecht des Frankfurter Wirtschaftsrats (und vom Personalamt) sowie von den „unklaren Regelungen" im erlassenen Beamtengesetz Nr. 15 der Militärregierungen. An dessen Stelle sollte ein Bundesgesetz zur Überleitung des Beamtenrechts treten121 •

Von den Vorschlägen zur Besetzung leitender Stellen in den Bundes­ ministerien, die bei dieser Besprechung behandelt worden waren, wurden einige kurz darauf verwirklicht: so übernahm der CDU-Abge­ ordnete Wuermeling die neugeschaffene „politische Staatssekretärs­ stelle" in der Bundeskanzlei (allerdings nur für einige Wochen), Hart­ mann (Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in Frankfurt) das Amt des Staatssekretärs im Bundesfinanzministerium und Ritter von Lex (Innenministerium München) das des Staatssekretärs im Bundesinnen­ ministerium.

Globke wurde als Leiter der Abteilung I des Innenministeriums vor­ gesehen, ,,falls er nicht im Bundeskanzleramt verwendet wird", sonst an seiner Stelle der Vizepräsident des niedersächsischen Rechnungshofs Egidi. Für das Amt des Staatssekretärs im Wirtschaftsministerium sollte ein „Fachmann" gewonnen werden; er müsse in der Lage sein, dieses Ressort „nach den Gesichtspunkten einer einfachen und spar­ samen Verwaltung zu organisieren" und dafür zu sorgen, daß nur „Kräfte mit Ministerialqualifikation zur Lösung der überregionalen Grundsatzfragen der Wirtschaft" beschäftigt würden. (Diese verdeckte Kritik gegenüber dem Ressortchef Ludwig Erhard machte sich der Bundeskanzler kurz darauf zu eigen.) Erwähnenswert aus dieser Besprechung bleibt schließlich noch der Vorschlag, den Abteilungsleiter im Ernährungsministerium, Podeyn (SPD), abzulösen. An dessen Stelle sollte ,es sich ein neuer Staats­ sekretär zur Aufgabe machen, den „ rechtsstaatlichen Rahmen für eine nach Möglichkeit freie Landwirtschaft mit den Mitteln der Gesetz­ gebung und Verwaltung zu schaffen".

Eine zweite Besprechung des gleichen Personenkreises (Heinemann, Schäffer, Globke und Keßler), erweitert um Ritter von Lex, am 3. Okto­ ber 1949 ergab Einmütigkeit darüber, dem Kabinett den sofortigen Erlaß eines Gesetzes zur „vorläufigen Regelung der Rechtsverhältnisse der Bundesbeamten" vorzuschlagen. Auf diese Weise sollte einer Forde­ rung der drei Hohen Kommissare vom 28. September Rechnung getra121

Vermerk Keßlers. BA, B 106 Zg. I 74/64.

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

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gen werden, die bis zu einer entsprechenden Beschlußfassung auf der Weitergeltung des Militärregierungsgesetzes Nr. 15 bestanden hatten1m. Das Fünfergremium - das bezüglich des Stellenplans den von der Konferenz der Ministerpräsidenten vorgeschlagenen „Schlangenbader Empfehlungen" folgte - schlug weiter vor, falls sich die Verwendung Wuermelings als parlamentarischer Staatssekretär nicht „ermöglichen lassen sollte", Globke als Ministerialdirektor mit der Wahrnehmung der Geschäfte des „Staatssekretärs des Innern" im Bundeskanzleramt zu beauftragen. Für die Besetzung anderer Stellen in verschiedenen Ressorts wurde eine Reihe von Namen diskutiert. Den Aufbau des Bundeskanzleramts überließ Adenauer in der Folge Hans Globke, dem früheren Stadtkämmerer von Aachen und seit Anfang August 1949 Vizepräsident des Rechnungshofs von Nordrhein­ Westfalen. Auf Globke war Adenauer durch Blankenhorn aufmerksam geworden, dem seinerseits Keßler123 den bisherigen Aachener Stadt­ kämmerer empfohlen hatte1114 • Künftig blieb die Personalpolitik eine Domäne Globkes, der 1953 zum Staatssekretär ernannt wurde121>. Un­ bekannt ist bisher, ob das wiederholte Drängen des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Heinrich von Brentano, beim Bundeskanzler Erfolg gehabt hat, vor der Besetzung der „maßgeblichen politischen Posten der Bundesverwaltung" den eigenen Fraktionsvorstand anzuhören126• Ebd. Ferner D. J. Blum, Das passive Wahlrecht, S. 348. Am 16. Aug. 1949 hatte Keßler erneut Blankenhorn auf Globke auf­ merksam gemacht, der soeben zum Vizepräsidenten des Rechnungshofs von Nordrhein-Westfalen ernannt worden sei, und diese Ernennung als „Schul­ fall" für falsche Personalpolitik bezeichnet; dem Rechnungshof fielen nur die „profanen Aufgaben der Rechnungsprüfung" zu, während Globke nach ,,Leistung, Erfahrung, Charakter und politischer Haltung" für eine Ver­ wendung im künftigen Bundesministerium des Innern „wie geschaffen" sei: „Er ist hochbegabt, sehr kenntnisreich (Spezialist des zwischenstaatlichen Staatsangehörigkeitsrechts) und beherrscht vollkommen die Spielregeln echter Ministerialarbeit sowie vor allem auch der interministeriellen Ver­ handlungen." Keßler ergänzte, Globke habe nicht der NSDAP angehört und sei jetzt Mitglied der CDU : ,,Man sollte sich diesen hervorragenden Mann doch nicht entgehen lassen." BA, B 106 Zg. I 74/64. 12, Falsch ist der Hinweis von Klaus' Dreher (Der Weg zum Kanzler. Düsseldorf 1972, S. 15), Globke sei bei Adenauer vom Düsseldorfer Finanz­ minister Flecken eingeführt worden. (Ganz abgesehen davon, daß 1949 Weitz nordrhein-westfälischer Finanzminister war und Flecken der Re­ gierung Arnold gar nicht angehörte). 12 s Dazu Franz Josef Bach: ,,Von seinem damaligen Amtszimmer im Museum Koenig aus überwachte und steuerte Globke die organisatorische und personelle Ausstattung jener Behörden, die später das Führungsinstru­ ment Adenauerscher Politik wurden." Konrad Adenauer und Hans Globke, in Konrad Adenauer und seine Zeit, S. 178. 12e Vgl. Arnulf Baring, ,,Sehr verehrter Herr Bundeskanzler !" Heinrich von Brentano im Briefwechsel mit Konrad Adenauer 1949 - 1964. Hamburg 1974, s. 36 f. 122

123

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Einen delikaten Beleg beamtenpolitischer Koalitionspatronage prä­ sentierte die Opposition am 24. November 1949 im Bundestag. Der SPD-Abgeordnete Menzel war in der Lage, den Brief einer nicht genannten Koalitionsfraktion an den Bundeskanzler vom 19. Oktober zu verlesen, in dem die „Erwartung" der betreffenden Fraktion aus­ gesprochen worden war, bei der Besetzung von Beamtenstellen „ent­ sprechend berücksichtigt" zu werden, und zwar „im zahlenmäßigen Umfange wie vereinbart" 127• Neben parteipolitischen Kriterien dürften (in größerem Umfang) standesbedingte Zugehörigkeiten, verbandsmäßige Bindungen (Stu­ dentenverbände, Korporationen) und frühere berufsbestimmte oder kriegsbedingte Solidaritätsbeziehungen eine Rolle gespielt haben 128 • Zusammengenommen wirkten sie sich zugunsten der in der Regierungs­ koalition vertretenen Parteien aus. Im übrigen darf nicht vergessen werden, daß angesichts des Massenandrangs von Bewerbern für den Bundesdienst optimale Auswahlmöglichkeiten im Hinblick auf gute Examina und Zeugnisse bestanden, andererseits aber auch die Ressort­ chefs und ihre Personaldezernenten unter starkem Druck stellenloser oder außerhalb ihrer früheren Tätigkeit beschäftigter Beamter standen. Den Extremfall für parteipolitische Patronage dürfte das neuge­ schaffene, allerdings sehr kleine Bundesratsministerium unter Hein­ rich Hellwege (DP) gebildet haben. Es entwickelte sich zu einer ver­ kappten Zentrale der niedersächsischen Deutschen Partei. Hellwege wollte zunächst auch nicht einsehen, warum ein von ihm eingestellter ehemaliger Landesgruppenleiter der NSDAP in Italien wieder aus dem Amt entfernt werden mußte129 • 121 Stenogr. Berichte, S. 460. 12s Unmittelbar nach der Bundestagswahl hatte der Altherrenverband des KV der katholischen Studentenvereine Deutschlands versucht, den „lieben Kartellbruder" Oberdirektor Pünder für die Einstellung von Verbandsmit­ gliedern in den künftigen auswärtigen Dienst des Bundes zu interessieren (und gleichzeitig eine Liste aller katholischen Minister in den einzelnen Bundesländern zu erhalten). Dieser Versuch war gründlich fehlgeschlagen. Pünder hatte nicht nur auf seine sachliche Unzuständigkeit als Adressat entsprechender Wünsche verwiesen, sondern auch durch seinen persönlichen Referenten antworten lassen, daß „gerade wegen der entscheidenden Be­ deutung der Personalpolitik für den Aufbau eines neuen Deutschlands die charaktervolle Persönlichkeit entscheidend ist, dagegen Fragen der Re­ ligions- und Verbandszugehörigkeit keine ungemäße Bedeutung zu finden haben". Schreiben des Bochumer Amtsgerichtsrats Ewald vom Rath vom 18. Aug. 1949 und Antwort v. Schoenebecks vom 26. Aug. 1949. BA, Nachlaß Pünder 272. 129 Der „Fall Ehrich" führte zu wiederholten Debatten im Bundestag. Am 30. März 1950 erklärte Adenau.er, daß er einen „früheren Landesgruppen­ leiter für nicht geeignet" halte, in einem Bundesministerium tätig zu sein. Stenogr. Berichte, S. 2055.

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

225

Über den Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der personellen Erstausstattung fehlen bisher Angaben130• Im Bundestag kamen immer wieder Einzelfälle - von Globke angefangen131 - zur Sprache. Der SPD-Abgeordnete Arndt erklärte am 12. Juli 1950, im Bundesarbeits­ ministerium sei es sogar für Angehörige der CDU oder der FDP kaum möglich, Fuß zu fassen, weil dort eine Gruppe ehemaliger Pg's ent­ sprechend vorsorge132• Eine besondere Spielart verbandspolitischer Patronage praktizierte das Bundesministerium für Flüchtlinge und Vertriebene. Es zählte Mitte 1950 nicht weniger als 91 v. H. Beamte und 81 v. H. Angestellte, die Ostvertriebene bzw. Flüchtlinge waren133 • Dabei sorgte ein weiterer komplizierter Proporz für die interne Auf­ teilung nach mittel- und ostdeutschen Landsmannschaften.

Andererseits arbeiteten auch eine „Reihe von Sozialdemokraten" in Bundesministerien1M , zum Teil als Folge entsprechender Bemühungen aus der Zeit des Frankfurter Personalamts. Den relativ größten Anteil von ihnen wies das Ernährungsministerium auf, ohne daß sich daraus, wie dessen langjähriger Staatssekretär Sonnemann in seinen Memoiren unterstrichen hat, Schwierigkeiten innerhalb des Ressorts oder etwa gegenüber dem Bundeskanzleramt ergeben hätten1SB. 1 30 Demgegenüber gibt es detaillierte Übersichten über „Beschäftigungs­ verhältnisse im öffentlichen Dienst" in Württemberg-Baden (mit Zahl und Anteil der „Nichtbetroffenen und Betroffenen" in den einzelnen Ressorts und Laufbahngruppen, ergänzt durch eine „Vergleichsaufstellung der freien Wirtschaft") nach dem Stande vom 31. März 1948 - im Vergleich zum 30. Sept. 1947 - (Verhandlungen des Württembergisch-Badischen Landtags, 1. Wahlperiode 1946/50, Beil. 597 vom 11. Juni 1948) sowie über die in der bayerischen Staatsverwaltung „beschäftigten bzw. wieder entlassenen ehe­ maligen Mitglieder der NSDAP und deren Gliederungen, der politisch und rassisch Verfolgten und der Flüchtlinge" nach dem Stande vom 31. Dez. 1948. Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Bayerischen Landtags, 1. Le­ gislaturperiode, 3. Tagung, Bd. 3, Beilage 2403 vom 1. April 1949. 1 31 Bereits am 24. Nov. 1949 hatte der SPD-Abgeordnete Menzel den Fall Globke im Bundestag zur Sprache gebracht, woraufhin sofort die Bundes­ minister Heinemann und Kaiser für Globke eintraten, der - wie Heinemann erklärte - zudem von Menzel (als nordrhein-westfälischer Innenminister) in den Landesdienst übernommen worden sei. Jakob Kaiser bezeugte, daß es sich bei Globke „um einen der ausgezeichnetsten, um einen auch in der Zeit des Dritten Reiches in unserem Sinne bewährtesten Beamten" handle. Stenogr. Berichte, S. 459, 472 (Menzel), 468 (Heinemann), 471 (Kaiser). 132 Stenogr. Berichte, S. 2631. Dazu die Antwort des zuständigen Ressort­ chefs, Bundesarbeitsminister Storch: ebd., S. 2634. -1 33 s. unten Anm. 154. 1 34 So Th. Eschenburg, Der bürokratische Rückhalt, S. 23 ; W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 280. 1 3 5 Gestalten und Gedanken, S. 248 f. Demgegenüber verwies Gustav Heinemann später darauf, daß Adenauer „nur ausnahmsweise" Sozialdemo­ kraten in „Positionen des höheren Dienstes" habe zum Zuge kommen lassen. Vgl. Diether Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage. München 1974, S. 102.

15 Speyer 66

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Den Bundesministern des Innern (Heinemann) und der Justiz (Dehler) bescheinigte am 12. Juli 1950 der SPD-Abgeordnete Arndt im Bundes­ tag, daß sie sich „im wesentlichen" um eine „loyale und unparteiliche" Personalpolitik bemühten, also auch Sozialdemokraten berücksichtig­ ten136. Das gleiche galt für das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen. Dessen Ressortchef, Jakob Kaiser, war ein Verfechter des Gedankens der großen Koalition und legte Wert darauf, Mitarbeiter zu gewinnen, die zur Sozialdemokratie gehörten. Daß er diese Absicht nur in beschei­ denem Umfang realisieren konnte, lag am Veto Kurt Schumachers, der gegen die Gründung dieses Ministeriums (vergeblich) opponiert hatte137. Insofern ist eine Diskussionsbemerkung von Carl Hermann Ule aus dem Jahre 1967 entsprechend zu modifizieren, wonach Kaisers Ressort „sozusagen die Patronagestätte" einer bestimmten politischen Partei gewesen sei138.

Erfolg oder Mißerfolg der unter verschiedenartigsten Formen er­ folgten beamtenpolitischen Patronage lassen sich heute noch nicht übersehen, geschweige denn beurteilen. IX. Kritik an der Beamtenpolitik

überraschend schnell geriet die Beamtenpolitik der Bundesregierung in die Schußlinie der Opposition. Bereits Anfang 1950 wurde moniert, daß Angehörige von Altherren-Verbänden bestimmter Korporationen einige Bundesministerien erobert hätten. In Beantwortung einer ent­ sprechenden Interpellation der SPD erklärte Bundesinnenminister Heinemann am 12. Juli 1950 im Bundestag lakonisch: ,,Über eine Ämter­ patronage durch die Altherrenverbände von Studentenkorporationen besitzt die Bundesregierung keine Unterlagen139 .'' In der gleichen Par­ lamentsdebatte kritisierte der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt, daß der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder „ungebührlich" hoch liege (wobei er auch Globke erwähnte, aber weder Zahlen noch Vergleichswerte nannte) 140.

1ao Stenogr. Berichte, S. 2631. 1a1 Vgl. G. Rüss, Anatomie einer politischen Verwaltung, S. 13. 1 38 Öffentlicher Dienst und politischer Bereich. Berlin 1968, S. 76. 139 Stenogr. Berichte, S. 2634. In der gleichen Debatte bezeichnete der CDU-Abgeordnete August Dresbach diese Erklärung Heinemanns als „etwas kurz", da zur Kenntnis der „Soziologie des höheren Verwaltungsdienstes" in der Vergangenheit die Kenntnis der Korporationen und Verbände „durchaus erwünscht, ja sogar notwendig" sei. Dresbach stellte „mit allem Gleichmut" fest, daß es nicht nur zwischen Korporationsstudenten „Beziehungen", Kameradschaften und Freundschaften gäbe, die zur gegenseitigen Hilfe­ leistung führten. Er verwies gegenüber Vorwürfen der SPD darauf, daß in manchen Länderregierungen das Mitgliedsbuch der SPD „wertvoller" sei als die Zugehörigkeit zum Kösener SC oder zu anderen studentischen Ver­ bindungen. Ebd., S. 2636.

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In bezug auf die Rekrutierung des Personals des neuen auswärtigen Dienstes141 verdichteten sich entsprechende Vorwürfe 1951 in einer Artikelserie der oppositionellen „Frankfurter Rundschau" unter der Überschrift „Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten . . . " (wobei eine Massierung von Ex-Pg's und Mitgliedern des Kösener SC gemeint war). Diese Angriffe bildeten den Auftakt für eine jahrelange „Diplo­ matenjagd". Deren Ablauf und Ergebnisse sollen hier nicht behandelt werden, da sie den zeitlichen Rahmen des Themas sprengen.

Bereits um die Jahreswende 1949/50 war die Personalpolitik der Bundesregierung nach einer ganz anderen Richtung hin kritisiert wor­ den. Sie sei, so zunächst die „Frankfurter Rundschau", einseitig katho­ lisch-konfessionell ausgerichtet142• Daraufhin hatte Innenminister Heinemann „lediglich aus statistischen Zwecken" sofort entsprechende Recherchen (,,nach Möglichkeit aus den Personalakten"} 143 anstellen - was von der Opposition als verfassungswidrig kritisiert wurde und das Ergebnis Mitte Januar 1950 veröffentlichen lassen144•

Es verschlug nicht nur den Kritikern die Sprache : Bei einem Anteil von 45 v. H. Katholiken an der Gesamtbevölkerung waren von insge­ samt 997 Beamten des höheren Dienstes in den 13 Bundesministerien sowie im Bundeskanzleramt nur 25,8 v. H. katholischer, hingegen 68,4 v. H. evangelischer Konfession14l>. Unter den Beamten des gehobe­ nen Dienstes und den Angestellten in vergleichbaren Positionen befan­ den sich prozentual noch weniger Katholiken, nämlich 24,6 v. H. 146• Die 140

Ebd., S. 2631. Über Adenauers' Direktiven dazu vgl. Wilhelm Haas, Beitrag zur Ge­ schichte der Entstehung des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland. Bremen 1969, S.31. 142 Am 5. Jan. 1950 ergänzte die Frankfurter Rundschau, der katholische CV sei „wieder erstanden" und habe seine Mitglieder „in alle [ !) wichtigen Stellungen" hineinlanciert. - Demgegenüber hatte Bundesjustizminister Dehler bereits am 19. Nov. 1949 in einer Sitzung der FDP-Vorstandsgremien darauf hingewiesen, daß die Regierung „kein katholisches Kabinett" sei. BA, Nachlaß Blücher 231. 1 43 BA B 106/7238. 144 Vgl. auch Heinemanns Ausführungen in Abwehr sozialdemokratischer Vorwürfe am 12. Juli 1950 im Bundestag. Stenogr. Berichte, S. 2634. 145 Bereits acht Tage nach der Bundestagswahl hatte der neugewählte CDU-Abgeordnete Robert Lehr (Düsseldorf) dem CDU-Vorsitzenden Adenau­ er eine „Liste evangelischer Juristen und Beamten" übermittelt, die ihm vom Präses der evangelischen Kirche im Rheinland übergeben worden war. Die in dieser Liste aufgeführten Namen - so Lehr - würden von „dieser Seite aus" für eine Berufung in die neuen Bundesministerien „besonders empfohlen". Stadtarchiv Düsseldorf, Nachlaß Lehr. 14 6 Dazu vgl. Wolfgang Zapf, Die Verwalter der Macht, in : Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, hrsg. von Wolfgang Zapf, 2. Aufl. Mün­ chen 1965, S. 84 : Man könne vermuten, daß im Vertriebenenministerium und im Ministerium für gesamtdeutsche Fragen Flüchtlinge aus katholischen Ostgebieten überproportional vertreten gewesen seien, ,,während im Arbeits141

1 5•

228

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entsprechenden Aufstellungen für die einzelnen Ressorts ergeben sich aus Tabelle 4. Tabelle 4

Aufstellung des Bundesministeriums des Innern über die konfessionelle Zusammensetzung der Bundesministerien (Januar 1950) von A 2 c 2 bzw. TOA III aufwärts Ministerium Bundeskanzleramt Bundesministerium für Angelegenheiten des Marshall-Planes Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Bundesministerium für die Angelegenheiten der Vertriebenen Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen Bundesministerium für die Angelegenheiten des Bundesrates Bundesministerium für Wohnungsbau Bundesministerium für Finanzen Bundesministerium für Wirtschaft Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium für Arbeit Bundesministerium für Verkehr Bundesministerium für Postund Fernmeldewesen

kath.

ev.

von A 4 c 2 - A 2 d bzw. TOA VI - IV

o. K. kath. , ev.

16

35

1

5 8

-

11

11

18 27 23

16

11

1

4

5

2

6

5 19

1

1

o. K.

3

24

46

6

4

18 25 23

1 1 3

7

4

1

5

5

-

-

57

2 3

57

183

37 16

9

-

4 13

8 66

1 5

27

43

144

24

8

31 23

92

-

41

107 23 138

20

39

257

682

10

997

1

71

53 155

5

35

113

58

277

9

1

1

761 1128

15

27

9 1

90

Als Konsequenz aus diesen - wenn auch noch so unvollkommenen und anfechtbaren - Erhebungen sahen sich die Ressort- bzw. Personal­ chefs veranlaßt, künftig auf eine ausgewogenere konfessionelle Rekruministerium einige katholische Gewerkschaftler den allgemeinen Durchschnitt verschieben dürften".

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

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tierung zu achten147• Adenauer verlangte beim Neuaufbau des auswärti­ gen Dienstes eine „angemessene", allerdings ausdrücklich nicht: propor­ tional entsprechende, Berücksichtigung auch katholischer Bewerber148 • X. Landsmannschaftliche Herkunft und Zusammensetzung

Eine andere personalpolitische Quotierung spielte eine größere Rolle: Die nach Artikel 36 des Grundgesetzes vorgeschriebene anteilmäßige Verwendung von Beamten aus allen Ländern bei den obersten Bundes­ behörden. Die bayerische Staatsregierung hatte bereits im Juni 1949 die notwendigen beamtenrechtlichen Regelungen - mit entsprechenden Anreizen - erlassen, um die künftige Bundesverwaltung „möglichst zahlreich mit qualifizierten bayerischen Kräften zu besetzen". Der ein­ schlägige Münchner Ministerialerlaß 1 411 war von Oberdirektor Pünder am 28. Juni 1949 an Adenauer mit dem bissigen Kommentar über­ mittelt worden: ,,Immerhin allerhand, nachdem die Herren das Grund­ gesetz abgelehnt hatten160. "

Im Herbst 1949 lagen der Bundesregierung Vorschlagslisten der (aller?) Länder vor, aus denen sie Beamte für die Ministerien auswählen konnte. Wie weit sich die Bonner Ressorts dabei um eine „angemessene" Berücksichtigung von Länderanteilen bemüht oder aber mit solchem Bemühen Erfolg gehabt haben, ist aus der ersten Statistik über die landsmannschaftliche Zusammensetzung des Personals der obersten Bundesbehörden vom April 1950 151 noch nicht abzulesen. Darin waren die Beamten (insgesamt 1343, davon 365 = 27 v. H. Heimatvertriebene) und Angestellten (2290, davon 670 = 29 v. H. Heimatvertriebene) ge­ trennt aufgeführt und beide Gruppen jeweils nach dem Wohnsitz-

Vgl. W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 281. Vgl. W. Haas, Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Auswärtigen Dienstes, S. 42. Uber das Ergebnis einer Mitte der fünfziger Jahre vom damaligen Landwirtschaftsminister Heinrich Lübke verlangten Konfessions­ statistik der höheren Beamten seines Ressorts vgl. Th. Sonnemann, Ge­ stalten und Gedanken, S. 250. 1 49 Vom 21. Mai 1949. Abschrift im BA, Nachlaß Pünder 265. 1 ° 0 Ebd. Einige Tage vorher, am 24. Juni 1949, hatte der Bevollmächtigte Nordrhein-Westfalens in Frankfurt, Schmidt, eine Abschrift des bayerischen Erlasses nach Düsseldorf übermittelt und kommentiert : Die bayerische Staatsregierung gewähre darin „weitgehende dienstliche Vorteile". Stadt­ archiv Bonn, Sammlung Wandersleb 17/1. Einige Wochen später, am 29. Juli 1949, fragte die Bonner Dienststelle der Bayerischen Staatskanzlei bei Mi­ nisterialdirektor Wandersleb (,,Büro Bundeshauptstadt Bonn") an, ,,wie hoch die bayerische Quote" in der Bundesverwaltung sei, da in München bereits 600 Bewerbungen vorlägen. Ebd. 1 s 1 Drucksache Nr. 938 : Antwort der Bundesregierung auf eine parla­ mentarische Anfrage (Drucksache Nr. 389) vom 28. April 1950. Die Fraktion der Bayernpartei im Bundestag kritisierte den bayerischen Beamtenanteil als viel zu gering. Drucksache Nr. 1098 vom 28. Juni 1950. 147

1 48

Rudolf Morsey

230

prinzip (letzter Wohnsitz vor Einstellung in zonalen, bizonalen oder Bundesdienst) und nach dem Geburtsortsprinzip (Heimatzugehörigkeit) aufgegliedert, weil strittig blieb, was unter „Ländern" im Sinne von Artikel 36 zu verstehen sei. Für unsere Fragestellung sind die getrennten Übersichten über Beamte und Angestellte zusammengefaßt und deren Ergebnis in eine übersichtlichere Form gebracht worden (Tabelle 5). Tabelle 5

Prozentuale Verteilung auf die einzelnen Länder (Beamte und Angestellte bei den obersten Bundesbehörden: April 1950) A. Wohnsitzprinzip v.H. 22 20 18 16

.---�--20 , 5 Hes - Nord­ s en rh ein wes t ­ falen

14

14 ,5 Ber� lin

12 10

8 ,5 Bay ern

6 4

8

Nie- Harnder- b urg sachs en

4 ,5

. O , 4 Rheinland - J e ' 5, · Pfalz Baden Bremen , \jl1 1 , 5 Wilrt t . Hohen­ zollern

0 -'-----''-----'---l----'---1---..l...--L--..l...--L...-_.,C=.,i,=:..:.::..:___ 2

B. Geburtsortsprinzip v:H, 12 10 6 4 2 0

12 Berlin

10 Rhein provinz

7

s ien

Wes t- O falen stpreu- s en ßen

5,5

4 Bran - Pom­ den- mern urg

Pose We s t ­ pmiße

Unter 4 v. H. : OberschlfaJfjien (3,5) , Hfmburg (3), Hannover (3) , Schleswig-Holstein (2,5), Sudetenland (2) , Thüringen (2), Baden (1,5), Mecldenburg-Schwerin (1,5) , Würt­ temberg (1,5), Anhalt (1) , Bremen (1) .

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

231

Die aus dieser Tabelle ersichtliche hessische Spitzenposition (Beamte: 18 v.H., Angestellte: 23 v.H.) spricht für die Rekrutierungspolitik in der Zeit der Zweizonenverwaltung, der gleichhohe Anteil aus Nordrhein­ Westfalen für massierte Neueinstellungen nach dem Start in Bonn. Schließlich fällt die hohe Berliner Quote ins Auge152 • Es hat noch lange gedauert, bis Beamte vor allem aus süddeutschen Ländern - die be­ reits in Frankfurt unzureichend vertreten gewesen waren - in größerer Anzahl nach Bonn gingen153 • XI. Der Anteil der Heimatvertriebenen

Ähnlich hoch wie in der Frankfurter Zweizonenverwaltung lag auch in den Bundesministerien der Anteil der aus den Ostgebieten vertrie­ benen oder aus der sowjetisch besetzten Zone geflüchteten Beamten und Angestellten. Bei einem Bevölkerungsanteil der Heimatvertrie­ benen von 15,5 v. H. zählten nach einer Aufstellung der Bundesregie­ rung vom Februar 1950 154 zu dieser Gruppe 26 v. H. der Beamten und 32 v. H. der Angestellten (Tabelle 6). Dabei lag, wie schon erwähnt, das Bundesministerium für Angelegenheiten der Vertriebenen mit einem Anteil von 91 v. H. der Beamten bzw. 81 v. H. der Angestellten einsam an der Spitze. Im übrigen verteilten sich die Heimatvertriebenen in höchst unterschiedlichem Maße auf die einzelnen Ressorts, ohne daß die Gründe dafür bisher ersichtlich sind.

Derartige Relationen boten naturgemäß Stoff zu mancherlei Kom­ mentaren. So machte der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Alt­ meier am 13. Juli 1950 den Bundesinnenminister darauf aufmerksam, daß eine „Übersetzung" mit „gewissen Beamtenkreisen" geeignet sei, in West- und Süddeutschland „unliebsame Erinnerungen an die frühere preußische Personalpolitik zu wecken" 155 • Entsprechende Befürchtungen erwiesen sich jedoch in der Folge als grundlos.

1 5 2 Dem Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrats, Hellwege, fiel ein Widerspruch zwischen dem Geburtsorts- und dem Wohnortsprinzip in denjenigen Ländern auf, die einen besonders hohen Anteil von Ver­ triebenen und Flüchtlingen aufwiesen. Nach Hellweges Berechnungen lag der Anteil der „außerhalb des jetzigen Bundesgebietes geborenen Beamten" bei 44 v. H. BA, B 106/7238. 1 53 So W. Strauß, Die Personalpolitik in den Bundesministerien, S. 280. 1 54 Bundestags-Drucksache Nr. 593 vom 16. Febr. 1950. Antwort auf eine parlamentarische Anfrage (Drucksache Nr. 414). In dieser Tabelle sind die Beamten und Angestellten (wie in der Vorlage) gesondert aufgeführt, um die höchst unterschiedlichen Anteile zu verdeutlichen. 1 55 Altmeier sah überdies in einer „übermäßigen Bevorzugung" der heimat­ vertriebenen Beamten und Angestellten nicht jene Bestimmung des Ar­ tikels 36 GG erfüllt, die eine „angemessene" Beteiligung der einzelnen Länder am Personal der Bundesverwaltung verlangte. BA, B 106/7169.

232

Rudolf Morsey Tabelle 6

Anteil der Heimatvertriebenen in den Bundesministerien (Januar 1950) A. Nach prozentualen Anteilen

Anteil der Vertriebenen

Bundesministerium

Beamte

BM für Angelegenheiten der Vertriebenen BM für Angelegenheiten des Bundesrats Bundeskanzleramt BM für gesamtdeutsche Fragen BM für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten BM für Post- und Fernmeldewesen BM des Innern BM der Finanzen BM für Angelegenheiten des Marshall-Plans BM für Wohnungsbau BM der Justiz BM für Arbeit BM für Wirtschaft BM für Verkehr

91 0/o 63 0/o 52 0/o 46 0/o 37 0/o 34 0/o 27 0/o 24 0/o 22 0/o 21 0/o 15 0/o 14 0/o 14 0/o 9 0/o

1

Angestellte 81 0/o 33 0/o 27 0/o 17 0/o 33 0/o 27 0/o 34 0/o 27 0/o 29 0/o 29 0/o

33 0/o 31 0/o 34 0/o 23 0/o

B. Nach Laufbahngruppen bei den Beamten und Angestellten

1. Beamte Ist-Stärke (15. 1 1950)

Anzahl der Heimatvertrieb.

Verb. zur Ist-Stärke in 0/o

höherer Dienst

565

109

19 0/o

gehobener Dienst

560

160

29 %

mittlerer Dienst

185

65

35 0/o

einfacher Dienst

61

25

41 0/o

1371

359

26 0/o

Laufbahn

zusammen

233

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950 2. Angestellte Verg.-Gr. I-III IV-V VI-VIII IX-X

zusammen

Ist-Stärke (15. 1. 1950)

Anzahl der Heimatvertrieb.

Verh. zur Ist-Stärke in 0/o

410

126

31 0/o

359

124

1255

404

35 0/o 32 0/o

53

12

23 0/o

2077

666

32 0/o

XII. Die Auflösung des Personalamts Damit bleibt noch ein letzter Blick auf das Personalamt, das weiter­ hin in Frankfurt residierte. Es unterstand seit Oktober 1949 dem Bun­ desinnenministerium und hatte sofort einen Teil seines Personals für dessen Beamtenabteilung abgeben müssen 156 • Damit wurde der erklärten Absicht des Personalamts entgegengewirkt, unter Bezugnahme auf das umstrittene Personalgesetz der Militärregierungen als neues „Bundes­ personalamt" weiterexistieren zu können. Diesen Anspruch hatte Oppler bereits am 19. September 1949 gegenüber dem Bundeskanzler und einige Tage später sogar dem Bundespräsidenten angemeldet 157 , damit aber nur die Auflösung seiner Dienststelle beschleunigt158 • Am 26. Oktober beklagte sich Oppler in der „Direktorialkanzlei in Ab­ wicklung" (in Abwesenheit Pünders) in Bonn darüber, daß das Per­ sonalamt „völlig ignoriert" werde 159 • 1s o Das teilte Staatssekretär Ritter v. Lex am 10. Dez. 1949 Pünder mit. BA, Nachlaß Pünder 272. 151 Abschriften im BA, Nachlaß Pünder 272. Unmittelbar vorher, am 14. Sept. 1949, hatte der geschäftsführende Vorsitzende der Vereinigten Beamtenausschüsse der CDU/CSU, Hesse, den CDU-Vorsitzenden vor Über­ nahme des Gesetzes Nr. 15 gewarnt, weil damit auch das Personalamt er­ halten bliebe. Nach Auskunft der Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus. Oppler setzte sich auch noch später für ein unabhängiges Personalamt ein. Vgl. Kurt Oppler und Erich Rosenthal-Pelldram (Hrsg.), Die Neugestaltung des öffentlichen Dienstes. Frankfurt 1950 ; Kurt Oppler, Leistungsprinzip in der deutschen Beamtengesetzgebung, in : Der deutsche Beamte (Zs. des DGB) 2, 1952, s. 79 f. 1ss Am 17. Okt. 1949 kritisierte Pünder das Vorgehen Opplers, der nicht berechtigt sei, unmittelbar mit den obersten Bundesorganen in Verbindung zu treten und teilte ihm mit, daß er auch in der Sache Opplers Standpunkt nicht teile, wonach das Personalamt seine Tätigkeit in Bonn fortzusetzen habe. Am 16. September 1949 hatte Pünder in einem Schreiben an Adenauer vorgeschlagen, das Personalamt in das Bundesministerium des Innern ein­ zugliedern. BA, Nachlaß Pünder 272. 1se Ebd.

234:

Rudolf Morsey

Um durch die in der Regierungserklärung vom 20. September 1949 angekündigte Neuordnung des Beamtenrechts 1 66 das allüerte Beamten­ gesetz so rasch wie möglich abzulösen, brachte die Bundesregierung bereits am 1 1 . November 1949 den Entwurf eines Gesetzes zur vorläu­ figen Regelung der Rechtsverhältnisse der im Dienst des Bundes stehen­ den Personen im Bundestag ein161 . Bei dessen Begründung im Parla­ ment machte Innenminister Heinemann am 24. November kein Hehl daraus, daß mit dieser Vorlage nicht nur die umstrittene, wenn auch für den Bund nicht bindende beamtenrechtliche Gesetzgebung der Mili­ tärregierung so rasch wie möglich ersetzt werden, sondern auch das Personalamt verschwinden solle1 62 . Dieses Amt werde nicht nur ab­ gelehnt wegen seiner „autokratischen Spitze, wegen seiner diktato­ rischen Vollmachten, wegen seiner Unzulänglichkeit für parlamenta­ rische Kontrollen" , sondern auch noch - wie es in einer verhüllenden Wendung des Innenministers hieß - ,,aus manchem anderen Grun­ de" 163. Das Amt galt als SPD-Domäne, dessen Angehörige mit den beamtenrechtlichen Reformbestrebungen der Sozialdemokratie, denen sich inzwischen der Deutsche Gewerkschaftsbund angeschlossen hatte1 64, übereinstimmten165.

Das mit Abwicklungsarbeiten betraute Personalamt formal aufzu­ lösen war jedoch leichter, als dessen Angehörige, immerhin noch 49 Beamte und 24 Angestellte, ihren Rängen entsprechend in der Bundes­ verwaltung unterzubringen. Dazu bedurfte es monatelanger Verhand­ lungen des Innenministeriums mit anderen Ressorts und Dienststellen.

1&0 Stenogr. Berichte, S. 27. 1 61 Drucksache Nr. 175. In der Begründung dazu hieß es (S. 5), eine rasche vorläufige Regelung sei auch deswegen nötig, damit vor allem diejenigen Bundesministerien, ,,die nicht auf Personal der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets zurückgreifen können", arbeitsfähig würden. Der Entwurf wurde von der CDU und vom Deutschen Beamtenbund begrüßt. Vgl. D. J. Blum, Das passive Wahlrecht, S. 349. 1 62 Stenogr. Berichte, S. 451. Gegen den Fortbestand des Personalamts hatte sich bereits der Organisationsausschuß der Ministerpräsidenten-Konferenz ausgesprochen. 1 63 Der CSU-Abgeordnete Strauß ergänzte in der Debatte diese Kritik mit dem Hinweis, daß die Entwicklung des Frankfurter Personalamts ein Bei­ spiel dafür sei, ,,daß der Versuch einer Demokratisierung einer bestimmten Aufgabe auch zu der Diktaturisierung derselben" führen könne, da die Entscheidungen des Personalamts weder durch richterliche Instanz (Dienst­ strafkammern) überprüfbar seien noch unter die politische Verantwortung des Ministers fielen. Stenogr. Berichte, S. 454. 1 64 Der Gründungskongreß des DGB vom 12. - 14. Okt. 1949 hatte sich für ein „demokratisches fortschrittliches Berufsbeamtentum" und für Beibehal­ tung des Personalamts ausgesprochen. 165 Der SPD-Abg. Walter Menzel begründete am 24. Nov. 1949 im Bundes­ tag die Ablehnung des Regierungsentwurfs durch die SPD, weil sie nicht der von seiner Partei intendierten „Demokratisierung" des Beamtenrechts dienlich sei. Stenogr. Berichte, S. 460.

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

235

Am 19. September 1950 machte Oppler den Staatssekretär im Bundes­ ministerium des Innern, Ritter von Lex, darauf aufmerksam, daß von den noch unterzubringenden Angehörigen des Personalamts neun der SPD angehörten; er, Oppler, habe eine deswegen geplante Aktion der parlamentarischen Opposition bisher verhindern können166 • Das Innenministerium verwahrte sich gegen die Unterstellung, daß die Unterbringung der Angehörigen des Personalamts etwa nach ,,Glaubensbekenntnis oder parteipolitischer Überzeugung" erfolgt sei ; Schwierigkeiten ergäben sich aus deren „ persönlicher oder fachlicher Eignung" 1fl7 • Das Ministerium suchte einen Kabinettsbeschluß zu er­ wirken, um mit dessen Hilfe eine anteilmäßige Verteilung der rest­ lichen Beamten des Personalamts auf die Bundesbehörden zu erreichen. Ein Hauptproblem bestand im übrigen darin, für Oppler, der zum Kreis der „rassisch Verfolgten" gehörte, eine seinem Rang als Ministerial­ direktor entsprechende Stellung zu finden. Das gelang nach vielfältigen Bemühungen - so scheiterte eine Verwendung als Richter beim Bun­ desgerichtshof - schließlich Mitte 1952 dadurch, daß er zum Gesandten in Island ernannt wurde. Damit war der Weg frei, um das Personalamt auch formal auflösen zu können168•

XIII. Politische Treuepflicht Vorhin war schon einmal, mit den Worten von Walter Strauß, von der Forderung nach unbedingter „Staatstreue" der Beamtenschaft die Rede. Dieser vage Begriff wurde Anfang 1950 im vorläufigen Bundes­ personalgesetz dahin präzisiert, daß die im Bundesdienst stehenden Personen sich durch ihr „gesamtes Verhalten zur demokratischen Staatsordnung" zu bekennen hatten169 • (Im Ü bergangsgesetz über die 166 Nach einer Aufzeichnung von Ritter von Lex. BA, B 106/7249/1. Nach einem Vermerk des zuständigen Referenten im Innenministerium vom 10. Okt. 1950 waren von den insgesamt 49 Beamten und 24 Angestellten des Personalamts noch 15 Beamte (darunter 10 des höheren Dienstes) und 3 An­ gestellte unterzubringen. Ebd. 167 Aufzeichnung des Ministerialdirigenten Behnke vom 19. Sept. 1950. Ebd. 1 88 Wie wenig diese Behörde beliebt war - u. a. auch deswegen, weil sie nach amerikanischem Vorbild mit psychologischen Eignungsprüfungen und Tests gearbeitet hatte -, zeigte sich an folgendem Vorgang : Im Okt. 1952 regte der Vorstand des Deutschen Beamtenbunds (Gewerkschaft der Berufs­ beamten) beim Bundesinnenminister (übrigens vergeblich) an, die e11t­ sprechenden Personalunterlagen aus der Frankfurter Zeit zu vernichten ; in diesen Tests sei, u. a. durch Auswertung der Niederschrift von Träumen, versucht worden, ,,tiefere Schichten des Seelenlebens bloßzulegen und fest­ zuhalten". Auf diese Weise ständen für einen Teil der Bundesbeamten Unterlagen mit „weitgehenden Angaben" zur Verfügung, die im Interesse der Gleichbehandlung nicht aufbewahrt werden dürften. BA, B 106/7108/1. 169 BGBl. 1950, S. 207. Zur Entstehung dieser Formulierung vgl. Drucksache Nr. 497 (mündlicher Bericht des Ausschusses für Beamtenrecht) vom 31. Jan.

236

Rudolf Morsey

Rechtsstellung der Verwaltungsangehörigen der Verwaltung des Ver­ einigten Wirtschaftsgebiets vom 23. Juli 1948 hatte es geheißen, der Verwaltungsangehörige sei verpflichtet, ,,in und außer Dienst für die Festigung der demokratischen Grundsätze und Einrichtungen einzu­ treten" 170 .)

Angesichts gesteigerter politischer Aktivität insbesondere linksradi­ kaler Parteien und Organisationen nach Beginn des Korea-Krieges drängte die Bundestagsmehrheit auf Konkretisierung der Forderung nach politischer Treuepflicht der Beamten bzw. ihrer Instrumentalisie­ rung1 7 1 . Daraufhin beschloß die Bundesregierung am 19 . September 1950, gegen Beamte, Angestellte und Arbeiter, die ihre „Treuepflicht gegen­ über der Bundesrepublik" verletzten, die „erforderlichen Maßnahmen" zu ergreifen172. Als Verletzung der Treuepflicht galt die Unterstützung von insgesamt 13 namentlich aufgeführten links- und rechtsextremen Parteien und Organisationen.

Dieser Beschluß, dessen Rechtswirksamkeit hier außer Betracht bleiben kann, wurde von den Ländern übernommen. Ihm lag ein Vor­ schlag von Bundesinnenminister Heinemann zugrunde, der in einem Schnellbrief am 14. September an alle Bundesminister - für die Ka­ binettssitzung am folgenden Tage - auf die ständig wachsende Aktivi­ tät „radikaler Strömungen" , insbesondere von kommunistischer Seite, hingewiesen hatte, deren Ziel es sei, die Staatsordnung zu beseitigen1 73. Während auf Grund der Rechtslage „auch bisher schon" eine „kommu­ nistische Betätigung" mit den Treuepflichten von Beamten und Ange­ stellten im öffentlichen Dienst unvereinbar sei, erscheine es nunmehr angezeigt, auch eine Betätigung in kommunistischen Tarnorganisationen ausdrücklich für „pflichtwidrig" zu erklären. Dieser Argumentation schloß sich das Bundeskabinett an, allerdings mit einer bezeichnenden Erweiterung des Kreises der betroffenen Per­ sonen. Während Heinemann neun namentlich genannte Organisationen und die Ausführungen des Berichterstatters Abg. Kleindinst am 15. Febr. im Bundestag. Stenogr. Berichte, S. 1267. 1 10 Personalblatt Nr. 1 vom 28. Dez. 1948, S. 12. Anders im Gesetz Nr. 15 der Militärregierungen (in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 20. Mai 1949) für Angehörige der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets : Ihre Verwendung setze voraus, daß sich der Verwaltungsangehörige „zur demokratischen Staatsauffassung durch sein gesamtes Verhalten" bekenne. Ebd. 1 11 Beim Aufbau des auswärtigen Dienstes waren bereits vorher kom­ munistische Bewerber ausgeschlossen geblieben. Vgl. W. Haas, Beitrag zur Geschichte der Entstehung des Auswärtigen Dienstes, S. 47. 112 Gemeinsames Ministerialblatt 1950, S. 93. Oft abgedruckt, zuletzt in : Edmund Brandt (Hrsg.), Die politische Treuepflicht. Karlsruhe 1976, S. 138 ff. 1 73 BA, B 106/6551. Über die Aktivität des Bundesinnenministers in der Bekämpfung des politischen Radikalismus im Sommer und Herbst 1950 vgl. Diether Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage. München 1972, S. 131 ff. 1950 1950

Personal- und Beamtenpolitik 1947 - 1950

237

und Tarnorganisationen aufgeführt hatte (darunter sieben kommu­ nistische), ergänzte das Bundeskabinett diesen Katalog noch um vier weitere Gruppierungen, darunter auch die Sozialistische Reichspartei. Damals bestand noch Konsens, die „nötigen Lehren gegenüber allen denjenigen zu ziehen, die an der Existenz unseres Staates" rüttelten - wie es in der Regierungserklärung Adenauers vom 20. September 1949 geheißen hatte174 •

XIV. Kontinuität - auch von der ersten in die zweite Republik

Eine abschließende Antwort auf die Fragestellung unseres Themas „Kontinuität oder Neubeginn?" muß davon ausgehen, daß weder 1947 in Frankfurt noch 1949 in Bonn die Möglichkeit bestanden hat, eine Zentralverwaltung in den drei Westzonen gleichsam von einer Tabula rasa aus neu aufzubauen.

Bei den in die Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebiets auf­ gegangenen zonalen Ämtern wie bei den später in den Bund übergelei­ teten bizonalen Ressorts handelte es sich bereits um weitgehend ge­ schlossene Behörden- und Personalkörper. An ihnen ließen sich ein­ schneidende strukturelle und damit auch personelle Veränderungen nicht vornehmen, wenn man die Minimalia des tradierten Beamten­ und Dienstrechts respektierte. Als das die Besatzungsmächte im Früh­ jahr 1949 mit dem Gesetz Nr. 15 nicht taten, scheiterten sie damit nicht nur an der Mehrheit der Betroffenen, sondern auch an derjenigen in den Parlamenten von Frankfurt und Bonn176•

Der Parlamentarische Rat wie die Koalitionsmehrheit von 1949 im Bundestag knüpften an rechtsstaatliche Institutionen und Traditionen der Weimarer Zeit an, die für das Berufsbeamtentum vorteilhaft ge­ wesen waren176• Bundesinnenminister Heinemann hatte bei der Be­ gründung des Gesetzentwurfs zur „vorläufigen Regelung der Rechts­ verhältnisse der im Dienst des Bundes stehenden Personen" am 24. No­ vember 1949 im Bundestag unter Bezugnahme auf Art. 33/5 GG darauf verwiesen, daß mit dieser Vorlage die „hergebrachten Grundsätze" des Beamtenrechts „zur Anwendung" kommen sollten177• Mit dieser verStenogr. Berichte, S. 27. bezeichnet es als „immerhin fraglich", ob das alliierte Reformprojekt, wäre es durchgesetzt worden, ,,mehr zur Konservierung des Berufsbeamtentums unter den besonderen deutschen Verhältnissen bei­ getragen hätte als die Unterlassung". Regierung, Bürokratie und Parteien, s. 73. 176 Dazu vgl. den Abschnitt „Beamte" bei Walter Sörgel, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes für die Bundes­ republik Deutschland. Stuttgart 1969, S. 120 ff. m Stenogr. Berichte, S. 450. 114

1 16

Th. Eschenburg

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Rudolf Morsey

fassungsrechtlichen Restitution war die Möglichkeit künftiger struk­ tureller Veränderungen und personalpolitischer Experimente begrenzt. Begrenzt war gleichzeitig aber auch eine außengesteuerte Beamten­ politik. Infolgedessen ist die Kontinuität der Verwaltung nicht allein am Kriterium des (relativ geringen) zahlenmäßigen Anteils früherer Reichsbeamter in den neuen Bundesressorts zu messen. Auf der anderen Seite verbürgten nämlich Persönlichkeit und Zielsetzung des ersten Bundeskanzlers und die der Bundesminister sowie die Auswahl der ersten Generation der Staatssekretäre, von denen keiner aus der Zeit des „Dritten Reiches" belastet war, einen Neubeginn im Sinne des Grundgesetzes. Die nach 1949 erfolgte Restitution oder Restauration des Berufs­ beamtentums war, wie es Gerhard Schulz 1971 einmal formuliert hat1 78 , ,,sicherlich kaum zu vermeiden". Eine solche Feststellung - von anderen Autoren als Vorwurf im Sinne der Tradierung reaktionärer Inhalte interpretiert - reicht jedoch nicht aus, wenn und soweit die darin enthaltene Kontinuitätslinie als Einbahnstraße vornehmlich von den Berliner Reichsministerien in der Zeit nach 1933 über Frankfurt nach Bonn verstanden wird. Daneben gab es in der Beamtenpolitik auch - aber nicht nur dort - eine andere und durchaus tragfähige Brücke, nämlich jene, die unmittelbar von der ersten in die zweite Republik hineinführte.

1 1s Entwicklungstendenzen in der Nachkriegsdemokratie, in : Demokra­ tisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, hrsg. von G. Lehm­ bruch u. a. München 1971, S. 33.

Aussprache zum Referat von Rudolf Morsey In der von Professor Dr. Helmut Quaritsch (Speyer) geleiteten Aus­ sprache fragte Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) nach den Gründen für das überraschende Anwachsen der Beamten­ schaft nach Errichtung der Bundesregierung gegenüber den Richtzah­ len. Es müsse erstaunen, daß präzise Richtzahlen so schnell überschrit­ ten worden seien. Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) nannte verschiedene Gründe für das rasche :Obersehreiten der Richtzahlen: Zunächst die Tatsache, daß der Organisationsausschuß der Ministerpräsidentenkonferenz ge­ nauso wie die Frankfurter Zweizonenverwaltung Minimalzahlen an­ gegeben hatten, mit denen damals im politischen Wettstreit der Städte um den künftigen Bundessitz argumentiert worden sei. Insofern müß­ ten diese Richtzahlen von vornherein als illusionär bezeichnet wer­ den, zumal sie - was in dem Referat nicht ausdrücklich erwähnt wor­ den sei - sogar absolut unter der Zahl der Bediensteten der Frank­ furter Zweizonenverwaltung gelegen hätten. Anhand der Personalent­ wicklung in den einzelnen Ressorts lasse sich zudem genau zeigen, wo die größten und wo die geringsten Ausweitungen vorgenommen wor­ den seien. Ein weiterer Grund für das Überschreiten der Richtzahlen liege in der Tatsache, daß bei der Regierungsbildung neue, zunächst nicht vorgesehene Ministerien hinzugekommen seien. Daneben hätten sich auch die Verwaltungen des Bundestages und des Bundesrats rasch vergrößert. Die Haushaltspläne der ersten Jahre enthielten ausführliche Mitteilungen und Auskünfte über das Anwachsen von Aufgaben für praktisch alle Ressorts. Eine Frage von Universitätsdozent Dr. Bernd Wunder (Konstanz) nach dem Umfang von „Außenseitern", die auf dem Wege über Län­ der oder Kommunen in die Bundesbeamtenschaft gelangt seien, er­ gänzte Professor Dr. Friedrich Kahlenberg (Koblenz) mit dem Hinweis, daß nicht zuletzt unter dem Einfluß des Personalamts des Vereinigten Wirtschaftsgebiets eine Reihe von Auswahlprinzipien entwickelt wor­ den seien, die ein Novum in der Rekrutierungspraxis der deutschen Verwaltung dargestellt hätten. Daraus leite sich die Frage nach den Gründen ab, weshalb solche Praktiken, unter denen auch psychologi­ sche Tests eine Rolle gespielt hätten, in der Bundesverwaltung nicht weitergeführt worden seien.

240

Aussprache

Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) konnte die Frage nach dem Anteil der Außenseiter nicht mit Zahlen belegen, weil entsprechende Statistiken nicht vorlägen. In den zahlenmäßigen Aufstellungen werde in der Regel nach traditionellen Gesichtspunkten zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern unterschieden, eine Gliederung, die das erste Bundespersonalgesetz wieder eingeführt habe. Eine Reihe von Außenseitern seien bereits vor Gründung der Bizone in die Zentral­ behörden der britischen Verwaltung gelangt. Es gäbe eine Reihe von Informationen, auf welche Weise im Spätjahr 1949 einzelne Bundes­ minister versucht hätten, Personal zu rekrutieren. In vielen Fällen lasse sich die Absicht der Ressortchefs erkennen, sich durch Beamte ihres Ver­ trauens zunächst eine zuverlässige Erstausstattung zu schaffen. Das gelte naturgemäß in erster Linie für die Auswahl der Staatssekre­ täre.

Die psychologischen Tests des Personalamts der Bizonenverwaltung seien sehr unbeliebt gewesen. Der Vorstand des Deutschen Beamten­ bundes habe im Oktober 1952 den Bundesminister des Innern aufgefor­ dert, die entsprechenden Vermerke aus den Personalakten der Zwei­ zonenverwaltung zu vernichten, weil die damaligen psychologischen Eig­ nungsprüfungen mit außerordentlich weitgehenden Erhebungen über psychische Gegebenheiten der Betroffenen verbunden gewesen seien: So hätten die Kandidaten unter anderem schriftlich über ihre Träume Auskunft geben und graphologische Untersuchungen ihrer Hand­ schriften dulden müssen, da durch Anwendung verschiedener, aus den USA stammender experimenteller Methoden versucht worden sei, ,,tiefere Schichten des Seelenlebens bloßzulegen und festzuhalten".

Professor Dr. Helmut Quaritsch (Speyer) ergänzte aus seiner Kennt­ nis einer obersten Bundesbehörde, daß insbesondere die erste Garni­ tur aus Frankfurt übernommen worden sei. Ein Juristenmonopol habe nicht bestanden, die nichtjuristischen Anwärter hätten nach einem verwaltungsrechtlichen Schnellkursus eine (offensichtlich nicht allzu schwierige) Prüfung ablegen müssen. Innerhalb dieser Gruppe habe es große Qualitätsunterschiede gegeben, größere jedenfalls als man sie bei den höheren Verwaltungsbeamten mit normaler juristi­ scher Vorbildung anzutreffen gewohnt sei. Die insbesondere amerika­ nischen Testmethoden seien offenbar nicht sehr geeignet gewesen, solche Niveauunterschiede zu verhindern. Wissenschaftlicher Assistent Dr. Erhard Lange (Bielefeld) ging da­ von aus, daß der Vorstoß auf nahezu wissenschaftliches Neuland, den der Referent unternommen habe, es schwierig mache, Ergänzungen vorzubringen. Gleichwohl sei auf zwei Aspekte zu verweisen, die wei­ terführen könnten: Zunächst sei zu beachten, daß die CDU/CSU damals

Aussprache

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noch über keine Parteiorganisation verfügt habe und so etwas wie eine koordinierte Beamtenpolitik schon aus diesem Grunde noch nicht habe realisiert werden können. Diese Politik sei offensichtlich sehr von einzelnen Personen und nicht so sehr von den Interessen der Gesamt­ partei her bestimmt worden - im Unterschied zur Sozialdemokratie, die einen ganz anderen Stil der Beamtenpolitik praktiziert habe. Zum anderen habe in der Diskussion um den künftigen Sitz der Bundes­ regierung stets die Frage im, Vordergrund gestanden, in welchem Bundesland er angesiedelt werden sollte. Dabei habe gegen die Wahl Frankfurts das Argument eine Rolle gespielt, daß es gelte, sich von den dortigen alliierten Behörden zu distanzieren. Die Folge für die Beam­ tenpolitik sei gewesen, daß man auch in dieser Hinsicht nicht an den Frankfurter Zustand habe anknüpfen wollen. Professor Dr. Gerhard Schulz (Tübingen) begann mit der Feststel­ lung, daß man manches Urteil gelegentlich auch durch Statistiken zu­ rechtrücken könne, eine Tatsache, die bereits für die Beamtenpolitik der Weimarer Republik (,, soweit wir Unterlagen haben") gelte. Der Grund dafür liege offensichtlich darin, daß sich die Kritik an der Be­ amtenpolitik an einzelnen Fällen zu entzünden pflege und daß daraus unzulässig verallgemeinerte Urteile gefällt würden. So habe - um diese Beobachtung aus der Zeit der Weimarer Republik als Vergleich an­ zufügen - ein großer Teil der Kritik an der preußischen Beamten­ politik erst Anfang 1930 eingesetzt, wobei das auslösende Moment die von der Sozialdemokratie eingeleitete Ablösung des preußischen Kul­ tusministers Carl Heinrich Becker gewesen sei, der als Fachminister gegolten habe und sein Ressort zugunsten einer koalitionspolitischen Erwägung habe räumen müssen. Daraufhin sei eine allgemeine Kri­ tik an der preußischen Personalpolitik erfolgt, die über die SPD hin­ aus auch das Zentrum getroffen habe. Vergleichbare Einzelfälle schie­ nen auch im Anfang der Bundesrepublik eine Rolle gespielt zu haben. Möglicherweise ergäben sich neue Gesichtspunkte zur Beurteilung dieser Vorgänge auch durch Vergleiche. Es sei erstaunlich, wie schnell sich in der Bundesverwaltung das Juristenmonopol wieder durchgesetzt habe - bereits 1951 als Tatsache von Arnold Brecht registriert -, das in der nationalsozialistischen Zeit von verschiedenen Seiten, etwa für die technischen Dienste, bereits in Frage gestellt worden sei. Bei einer Untersuchung über die Gründe, aus denen sich das Juristenmonopol so rasch wieder durchgesetzt habe, würde sich ein vergleichender Blick auf den Aufbau des Beamten­ tums in Frankreich oder den „ Civil Service" in England nach dem Zweiten Weltkrieg lohnen, wo die personelle Entwicklung, auch bei nüchterner Kritik der dortigen Schattenseiten, die nicht übersehen werden sollen, anders als in der Bundesrepublik Deutschland ver16 Speyer 68

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laufen sei, und zwar im ganzen doch wohl ganz und „gar nicht un­ günstig". Seine zweite Stellungnahme zu verschiedenen Ergänzungen und Fragen begann Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) mit Hinweisen zum Thema Juristenmonopol. Es sei bereits seit 1950 durch die sozial­ demokratische Opposition immer wieder angegriffen, allerdings damals schon vom Bundesminister des Innern, Gustav Heinemann, als ein sach­ lich erledigtes Thema bezeichnet worden. Diese dezidierte Feststellung habe allerdings den kritisierten Sachverhalt nicht geändert, da das Juristenmonopol in der Aufbauphase der Bundesverwaltung eine wichtige Rolle gespielt habe. Es sei vollauf zutreffend, daß die fehlende Organisation der CDU/ CSU einzelnen Persönlichkeiten starke Einflußmöglichkeiten in der Beamtenpolitik gelassen habe. Einzelne namentlich durchaus be­ kannte Beamte (etwa Staatssekretär Walter Strauß) hätten je in ihrem Bereich dafür gesorgt, daß gewisse Steuerungsmechanismen funktio­ nierten. Der Stil sozialdemokratischer Beamtenpolitik lasse sich am Bei­ spiel einzelner Länderverwaltungen zeigen, deren einschlägige Praxis Adenauer von 1946/47 an kritisiert habe. Auch bei der Regierungsbil­ dung habe die SPD stets darauf bestanden, bestimmte Ressorts - dar­ unter das Wirtschafts- und Innenministerium - mit Politikern ihrer Couleur zu besetzen und in dieser Hinsicht eine bereits in der Wei­ marer Republik in Preußen praktizierte Linie weitergeführt. Für die Wahl Bonns als Bundeshauptstadt habe eine Rolle gespielt, auf diese Weise neben der räumlichen auch eine politische Zäsur zur Besatzungsära zu markieren. Bei dieser Entscheidung hätten allerdings auch ganz praktische wohnungsbauliche und technische Unterbrin­ gungsprobleme zentrale Bedeutung erlangt, eingeschlossen eine Aver­ sion vieler Politiker und Parlamentarier gegenüber Frankfurt a. M., wo sowohl der Wirtschaftsrat als auch ein Teil der Verwaltung außeror­ dentlich primitiv untergebracht gewesen seien. Das sei in der Klage des Präsidenten des Wirtschaftsrats, Erich Köhler, in einer Sitzung dieses parlamentarischen Gremiums vom 19. Oktober 1948 ebenso zum Ausdruck gekommen wie etwa in den Memoiren von Hermann Pünder. Die unzureichende Unterbringung in Frankfurt führte zu manchen Friktionen und Animositäten, zumal die entsprechende Un­ terbringung und Behandlung der Abgeordneten des Parlamentari­ schen Rats in Bonn unvergleichlich besser gewesen sei. In diesem Zu­ sammenhang sei die Bedeutung des Düsseldorfer Ministerialdirektors Hermann Wandersleb nicht hoch genug zu veranschlagen, der- wie sich belegen lasse - vom ersten Tag der Arbeit des Parlamentarischen Rats an in engem Kontakt mit Adenauer jene äußeren Rahmenbedingun­ gen geschaffen habe, die schließlich die Wahl Bonns ermöglichten. Der

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Präsident des Parlamentarischen Rats habe seinerseits seine Düssel­ dorfer CDU-Kollegen in der Regierung, vom Ministerpräsidenten Ar­ nold angefangen, ununterbrochen unter Dampf gehalten, um die vom Lande Nordrhein-Westfalen getragenen Arbeiten zur Schaffung ent­ sprechender Parlaments- und Verwaltungsgebäude sowie zur Unter­ bringung der in ihnen tätigen Abgeordneten und Beamten zu be­ schleunigen.

Professor Dr. Helmut Quaritsch (Speyer) erinnerte an die starken persönlichen Bindungen, die bei der ersten Generation der Ver­ waltungsbeamten bestanden hätten und die doch vermutlich jenseits aller Statistiken auch auf starke gruppenspezifische Bindungen zu­ rückgeführt werden müßten. So habe man damals schon von „Seil­ schaften" gesprochen, auch von Cliquen, wobei allerdings zu berück­ sichtigen sei, daß unter den ungewöhnlichen Verhältnissen jener Zeit eine solche Entwicklung eigentlich ganz selbstverständlsich ge­ wesen sei. Dieser Vorgang ließe sich genauso bei der Bildung von Fakultäten nach 1946 verfolgen, wo ebenfalls „natürliche Bindungen" eine große Rolle gespielt hätten. Eine derart „ganz normale" Verhal­ tensweise sei im modernen Verwaltungsstaat überdeckt oder abge­ löst worden durch formale Verfahren, Ausschreibungen, Anonymität usw. In der Übergangszeit der ersten Nachkriegsjahre seien die na­ türlichen Ordnungen wieder zu ihrem Recht gekommen. Das sei symp­ tomatisch für das Verhalten des Menschen in großen Bürokratien in ungewöhnlicher Zeit.

In einem Schlußwort ging Professor Morsey zunächst auf die Frage von Staatsarchivrat Dr. Horst Romeyk (Düsseldorf) ein, ob sich die Akteure 1949 ihrerseits als „Neubeginner" empfunden hätten oder nicht. Zumindest für die Spitze der Bürokratie sei diese Frage zu be­ jahen. Das gelte in erster Linie für die Staatssekretäre, die sich für den personellen Aufbau ihrer jeweiligen Ressorts verantwortlich fühlten.

Die zuletzt angesprochenen „Seilschaften" und „ Cliquen" seien in der Tat ein durchaus natürlicher Vorgang in dieser Zeit, im übrigen aber noch keineswegs zureichend untersucht. Dafür ständen auch noch nicht alle einschlägigen Unterlagen zur Verfügung. Vergleichende Studien sollten nicht nur in bezug auf die Entwicklung in der sowje­ tisch besetzten Zone angesetzt werden, sondern auch in bezug auf die Beamten- und Personalpolitik der Länderregierungen in den drei West­ zonen. Professor Morsey schloß mit dem Hinweis, daß es ihm darum gegangen sei, ein bisher noch kaum behandeltes Thema der jüngsten Verwaltungsgeschichte in den Blick der Forschung zu rücken. 1e•

Archivalische Quellen zur Verwaltungsgeschichte und deren Nutzung Von Friedrich P. Kahlenberg 1.

In der täglichen Arbeit der öffentlichen Verwaltung der Gegen­ wart spielen historische Kenntnisse über die Bedingungen gewachse­ ner Formen gesellschaftlichen Lebens wenn überhaupt eine höchst untergeordnete Rolle. Die Häufung von Veränderungen in der Auf­ gabenstellung der einzelnen Verwaltungszweige, die wachsende Kom­ plexität des modernen Lebens, die Vielfalt der ökonomischen und so­ zialen Probleme lenken unsere Aufmerksamkeit vom systematischen Studium der geschichtlichen Erfahrungen kontinuierlich ab zugunsten der Beschäftigung mit bloßen Techniken des Verwaltungshandelns. Daraus entspringt Skepsis. Zu Beginn der siebziger Jahre vermutete Max Horkheimer, ,,daß der Gang der Gesellschaft . . . nicht etwa zum Reich der Freiheit führt, sondern zur ,verwalteten Welt', in der alles so gut geregelt ist, daß der einzelne Mensch sehr viel weniger Phanta­ sie und Geist entfalten muß, um sich durchzusetzen, als es im Libe­ ralismus [d. h. im 19. Jahrhundert] bei den Bürgern noch der Fall war1 " .

Die Erfahrung mit den Verwaltungsreformen in den Ländern der Bundesrepublik während des zurückliegenden Jahrzehnts, vor allem die in erstaunlicher Übereinstimmung sämtlicher am politischen Leben teilnehmender Organisationen immer wieder betonte Notwendigkeit zur Schaffung verwaltungsgemäßer Einheiten im Zuge von Territorial­ und Gemeindereformen rechtfertigt in vollem Umfange die kritische Aufmerksamkeit gegenüber den Bürokratisierungstendenzen des öf­ fentlichen Lebens im allgemeinen, gegenüber einem Legitimationsmono­ pol der öffentlichen Verwaltung für den Nachweis gesamtgesellschaft­ licher Entwicklungserfordernisse im besonderen2 • Bei der Bildung von

1 Max Horkheimer, Verwaltete Welt. Zürich 1970, S. 19 f. Der Veröffent­ lichung lag ein Gespräch im Rundfunk, Studio Bern, mit Otmar Hersehe zugrunde. 2 Zum neuesten Stand der Diskussion der Legitimitätsprobleme der öffent­ lichen Verwaltung wie der Staatsorgane im Industriezeitalter vgl. Rolf Ebbighausen, Legitimationsproblematik, jüngere staatstheoretische Diskus-

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Verbandsgemeinden werden in unseren Tagen nicht eben selten in einem Jahrtausend gewachsene dörfliche und städtische Lebensfor­ men mit dem bloßen Hinweis auf den Zwang zur Rationalisierung der Verwaltung und der öffentlichen Einrichtungen eingeebnet. Geschicht­ liche Erfahrung ist von keiner Seite des politischen Spektrums ernst­ haft in die Diskussion über die Reformentscheidungen eingebracht worden. Der Verdacht läßt sich kaum zerstreuen, daß Theodor Adornos Prognose zutrifft : ,,Eine rational durchsichtige, wahrhaft freie Gesell­ schaft könnte so wenig der Verwaltung entraten wie der Arbeitsteilung überhaupt. Wohl aber tendieren auf der ganzen Erde die Verwaltun­ gen unter Zwang dazu, sich gegen die Verwalteten zu verselbständi­ gen und sie zu Objekten abstrakt normierter Verfahren herabzuwür­ digen3". Seitdem verwaltungsbezogene wissenschaftliche Forschung in gro­ ßem Umfang von Regierung und Verwaltung zur Beratungstätigkeit bei Reformvorhaben der Verwaltung selbst herangezogen wurde, haben zwar die verwaltungswissenschaftlichen Disziplinen insgesamt eine Aufwertung erfahren. Die vor allem in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre vorangetriebene Institutionalisierung der Verwal­ tungswissenschaft als wissenschaftliches Fach hat aber die Verwal­ tungsgeschichte im Grunde nicht berücksichtigt. Verwaltungsrechtliche Fragestellungen gehören noch immer zum Interessenspektrum ein­ zelner verwaltungsbezogen forschender Wissenschaftler, doch finden deren Forschungsergebnisse kaum den Widerhall in der öffentlichen Diskussion, den sie angesichts des Erkenntnisdefizits bei politisch verantwortlichen Parlamentariern wie Regierungsvertretern und Funktionären der Verwaltung selbst über die geschichtliche Erfah­ rung bei der Entwicklung der Institutionen der öffentlichen Verwal­ tung verdienten. Dabei ist nicht zu verkennen, daß die Verwaltungsgeschichte zu die­ sem Zeitpunkt einer befriedigenden, in der Korrespondenz zur verwal­ tungswissenschaftlichen Diskussion insgesamt gewonnenen neueren theoretischen Grundlegung noch entbehrt. Für das Fach Verwaltungs­ geschichte gilt die Einschätzung der Lage der Verwaltungswissen­ schaft von Heinrich Siedentopf in besonderem Maße: ,,Als Mangel muß es allerdings empfunden werden, daß die Grundlagen, die Erkenntnis­ interessen, die Methoden und die Theoriebildung der Verwaltungs­ wissenschaft nicht stärker thematisiert werden4 . " In der umfangreision und der Stand der historisch-empirischen Forschung, in : Bürgerlicher Staat und politische Legitimation, hrsg. von Rolf Ebbighausen. Frankfurt/M. 1976, s. 2 ff. a Theodor Adorno, Gesellschaft, in: Soziologische Schriften I. Frankfurt/M. 1972, S. 17. Der Essay Adornos datiert aus dem Jahre 1965.

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chen Diskussion der „Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissen­ schaft", die Klaus König im Jahre 1970 vorlegte, werden verwaltungs­ geschichtliche Fragestellungen im Grunde nicht diskutiert, die Sinn­ haftigkeit der Verwaltungsgeschichte sogar am Rande in Frage ge­ stelltl>. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, daß Verwaltungsgeschichte solange unbestritten eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin sein konnte, als sie eindeutig staatsbezogen angelegt war. Nachdem die öffentliche Verwaltung im 18. und 19. Jahrhundert nahezu unbe­ stritten die Aufgabe der gesellschaftlichen Integration erfüllte, konnte die Verwaltungsgeschichte die Entwicklung der Instrumentarien des Staates für die Gewährleistung dieser seiner Hauptaufgabe themati­ sieren und wurde folgerichtig als Teilgebiet der allgemeinen Staats­ lehre fortentwickelt.

Lorenz von Stein erkannte zu Beginn des Industriezeitalters in Deutschland, daß die öffentliche Verwaltung nur einen Teil des so­ zialen Geschehens darstellt, und daß sie in ihrer Funktionalität wie in ihrer historischen Entwicklung nur im Gesamtrahmen der sozialen Realität betrachtet werden kann. Die Verwaltungsgeschichte als ge­ schlossene Disziplin wurde in der Folgezeit systematisch abgelöst von einer Vielzahl wissenschaftlicher Einzelbemühungen um die Klä­ rung der geschichtlichen Bedingungen der Entwicklung all jener Insti­ tutionen, die gemeinsam und jede für sich in bestimmten Teilgebieten gesellschaftsintegrierende Funktionen wahrnehmen. Es sei hier nur verwiesen auf die Vielzahl von der historischen Methodik verpflichte­ ten Arbeiten zur Entwicklung der politischen Parteien, der Gewerk­ schaften, der wirtschaftlichen Interessenverbände, aber auch von Kon­ zernen und Großfirmen und schließlich auf historisch gewandte Ar­ beiten zur Entwicklung des politischen Systems im zeitgeschichtlichen Kontext insgesamt.

Historische Arbeiten zur Organisation, Aufgabenentwicklung, zur Aufgabenplanung und -wahrnehmung, zur Ausbildung von Funktio­ nären, zur Technik des Entscheidungshandelns usw. sind insofern sämtlich „ verwaltungsgeschichtliche" Forschungen im Sinne des 19. Jahrhunderts, als sie sich mit bürokratischen Organisationsformen im Kontex der sozialen Gegebenheiten und der politischen Entwick­ lung beschäftigen. Dennoch darf nicht die Aufgabe vernachlässigt wer4 Heinrich Siedentopf, Ressortzuschnitt als Gegenstand der Verwaltungs­ wissenschaft, in : Die Verwaltung 9, 1976, S. 7. - Die Lage der Verwaltungs­ geschichte in Deutschland findet auch ihre Entsprechung in der amerikani­ schen Forschungssituation. Dazu vgl. Richard G. Hewlett, Government history writing from the inside, in : Frank B. Evans und Harold T. Pinkett, Research in the administration of public policy. Washington 1975, S. 7 ff. 5 Klaus König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft. Berlin

1970,

s. 70.

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den, eine zeitgemäße theoretische Grundlegung der Verwaltungsge­ schichte im Rahmen der verwaltungsbezogenen Forschung zu versu­ chen, die Erkenntnisinteressen zu präzisieren und die spezifische Lei­ stungsfähigkeit der verwaltungsgeschichtlichen Forschung für das Ver­ ständnis der Voraussetzungen wie der Rahmenbedingungen der öf­ fentlichen Verwaltung in der Gegenwart sichtbar zu machen. Denn die Kontinuitätswahrung gewachsener Institutionen und der von ihnen praktizierten Formen setzt die Kenntnis ihres geschichtlichen Werdens voraus. Wo diese aber gegeben ist, die Wahrung der ge­ wachsenen Verwaltungsformen bei notwendiger Anpassung an die Erfordernisse des modernen Lebens eine Alternative zur am Reiß­ brett geplanten Reformstrategie darstellt, kann eine allein auf Zweck­ rationalität ausgerichtete und mit dem Anspruch eines Legitima­ tionsmonopols gegenüber der politischen Führungselite in Regierung und Parlamenten sich gleichsam verselbständigende Verwaltungstätig­ keit sich kaum noch ungehemmt entfalten. Wo jetzt noch historische Daten und Argumente in das Entschei­ dungshandeln öffentlicher Institutionen vordergründig dann einbe­ zogen werden, wenn es gilt, rechtzeitig mögliche Widerstände gegen geplante Reform- oder Reorganisationsmaßnahmen zu erkennen und damit frühzeitig auszuschalten, könnte künftig das Wissen um die ge­ schichtlichen Voraussetzungen zu einem höheren Maß an Qualität der Verwaltungsleistung beitragen. Denn mit der Beachtung historisch gewachsener Formen und mit der Erinnerung der geschichtlichen Er­ fahrungen könnte zugleich eine einseitig auf Effizienzsteigerung zie­ lende Verwaltungspolitik mit Wertvorstellungen konfrontiert werden, die weniger dem Funktionieren der Organisation als der Wahrung der Gemeinschaftsinteressen der Bürger verpflichtet sind. Mit anderen Worten, verwaltungsgeschichtliche Erkenntnis bereichert das kritische Potential der verwalteten Bürger wie der Funktionäre der Verwal­ tung selbst gegenüber einer uneingeschränkten Tendenz zur Bürokra­ tisierung. II.

Über archivalische Quellen der verwaltungsgeschichtlichen For­ schung und deren Nutzung im Kreis der Teilnehmer einer Tagung ,, Verwaltungsgeschichte, Zielsetzungen, Fragestellungen, Beispiele" zu sprechen, muß von vornherein als der untaugliche Versuch entlarvt werden, Eulen nach Athen zu tragen. Deshalb unterbleibt an dieser Stelle der Versuch, einen systematischen Entwurf der Gliederung einer verwaltungsbezogenen Quellensammlung vorzutragen, ein Thema, das dem Bereich der Quellenkunde zugeordnet bleibt. Zugleich wird auf

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den großen Bereich der in Bibliotheken verfügbaren Materialien verzichtet, auf die Katalogisierung der für den Verwaltungshistoriker zur Auswertung anstehender Zeitschrifen ebenso wie auf die Publi­ zistik der politischen Parteien, der Gewerkschaften und Verbände. Ausgeklammert bleiben die für eine Behandlung verwaltungsgeschicht­ licher Fragestellungen im zeitgeschichtlichen Rahmen unentbehrlichen Entscheidungssammlungen der Verwaltungsrechtsprechung, schließ­ lich der weite Bereich der amtlichen Veröffentlichungen, der „Amtli­ chen Drucksachen", von den Parlamentsdrucksachen über die Verkün­ dungsorgane bis hin zu den primär als publizistische Produkte im Rah­ men der Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Verwaltung ent­ standenen Tätigkeitsberichten. Diese gedruckten Materialien stehen in den Bibliotheken zur Verfügung, wenn auch der Zugrüf nicht im­ mer problemlos ist6. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich vielmehr auf archivalische Quellenüberlieferungen im engeren Sinne, wollen auf deren Vielfalt hinweisen, auf ihren Informations­ reichtum und auf deren Nutzung. Daß dabei die überregionale Über­ lieferungsebene unverhältnismäßig stark in den Vordergrund rückt, erklärt sich aus der beruflichen Tätigkeit des Verfassers am Bundes­ archiv in Koblenz7• e Die wichtigsten bibliographischen Hilfsmittel für Amtsdrucksachen sind für die Zeit vor 1945 : Monatliches Verzeichnis der reichsdeutschen amtlichen Druckschriften 1, 1928 - 16/17, 1943/1944. - Otto Neuburger, Official publica­ tions of presentday Germany. Government, corporate organizations and National Socialist Party . . . Washington 1944, 130 S. - Deutsche Parlamen­ taria. Ein Bestandsverzeichnis der bis 1945 erschienenen Druckschriften. Hg. Staatsbibliothek. Preußischer Kulturbesitz. Berlin 1970, 140 S. Für die Zeit der alliierten Besetzung, die Zonenzeit vgl. Amtliches periodisches Schrifttum in der Bizone. In : Tilman Pünder, Das bizonale Interregnum. Die Geschichte des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1946 - 1949, o. 0. 1966, S. 349 ff. - Die Zonenzeit ist zudem in die beiden in Verbindung mit der Library of Congress in den USA erarbeiteten Bibliographien der Amtsdrucksachen in der Bundes­ republik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik ein­ bezogen : James B. Childs (Hrsg.), German Federal Republic official publi­ cations 1949 - 1957. With inclusion of preceding official publications, Bd. 1 - 2. Washington 1958, und ders. (Hrsg.), German Democratic Republic official publications. With those of the preceding zonal period 1945 - 1958. Bd. 1 - 4. Washington 1960 - 1961. Unmittelbar an die Bibliographie von Childs schließt die von der Deutschen Bibliothek in Frankfurt/Main seit 1957 herausgegebene ,,amtliche" Bibliographie der in der Bundesrepublik Deutschland heraus­ gegebenen Amtsdrucksachen an : Deutsche Bibliographie. Verzeichnis amt­ licher Druckschriften. Veröffentlichungen der Behörden, Körperschaften, An­ stalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie der wichtigsten halbamtlichen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin. 1957 - 1958. Frankfurt/M. 1963 usw. Die Zweijahresberichterstattung erscheint jeweils in Einzellieferungen. 7 Die folgenden Ausführungen greifen zum Teil auf die Mitteilungen zurück, die der Vf. unter dem Titel „Das Bundesarchiv und die verwaltungs­ geschichtliche Forschung" im Almanach 1974 des Carl Heymanns Verlags vorlegte (red. von Klaus W. Frohn. Köln 1973, S. 53 ff).

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Archive gehören zu den ältesten der uns aus der Geschichte bekann­ ten Institutionen der Verwaltung überhaupt. Wo immer die Herr­ schaftsausübung in einem größeren Gemeinwesen die Unterhaltung administrativer Einrichtungen erforderte, wurden auch Archive be­ gründet. Denn sie dienten bereits im Altertum gleichsam als „kollek­ tives Gedächtnis" der Verwaltung und waren um so unentbehrlichere Bestandteile eines jeden Herrschaftssystems, als sie die Kontinuität der Verwaltungspraxis ebenso garantierten wie jene der Wahrung des Rechtes und seiner Auslegung8. Erst die in Archiven gespeicherten und aufbereiteten, das heißt leicht zugänglich gemachten Informationen ermöglichten langfristig in den Kulturen Altmesopotamiens, im Ägyp­ ten der Pharaonen wie in den Verwaltungszentren des griechischen Altertums und des römischen Weltreiches bürokratisches Entschei­ dungshandeln und Planen in einem System von Zuständigkeit und Regelmäßigkeit. Die Kontinuität bürokratischer Verwaltungstechniken und archivischer institutioneller Tätigkeit wurde keineswegs nur am Heiligen Stuhl in Rom, im frühmittelalterlichen Italien bzw. in der mittelalterlichen Klosterkultur bewahrt. Ernst Posner, in den dreißiger Jahren nach den USA emigrierter Archivar des preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin und dort zum Vater des modernen armerikanischen Archivwesens überhaupt geworden, zeichnete vor wenigen Jahren in der Fortsetzung seines Alterswerkes über „Archive in der Antike"9 unter Auswertung einer weitgestreuten arabistischen und orientalistischen Fachliteratur ein eindringliches Bild von der Kontinuität persischer und griechischer Verwaltungstechniken im Iran und in Ägypten10 • Zur hochentwickelten Bürokratie der Fatimiden in Ägypten, Nordafrika und Sizilien (909 1 171) gehörten selbstverständlich institutionalisierte leistungsfähige Archive. Während in Spanien die arabische Verwaltungskunst in der Zeit der Reconquista unterging, ist die Ubernahme arabischer Ein­ richtungen durch Normannen und Staufer in Sizilien und Unteritalien bekannt. Die Feder gehörte wie das Schwert zum unverzichtbaren Mittel der Herrschaftswahrung! Hingegen ist die Verengung der archivischen Funktionen im Sinne einer überwiegend auf die Ordnung, Erschließung und auf die wissen­ schaftlich Auswertung historischer Quellen konzentrierten Tätigkeit eine junge, keine zwei Jahrhunderte alte Entwicklung. Denn noch in der territorialstaatlichen Verwaltungsorganisation im Deutschland des 18. Jahrhunderts gehören die Archive zum Kernbestand der zentralen s S. N. Eisenstadt, The political systems of Empires. New York 1963, S. 17. 9 Ernst Posner, Archives in the ancient world. Cambridge/Mass. 1972. 10 Ders., Archives in Medieval Islam, in : The American Archivist, published quarterly by the society of American archivists 35, 1972, S. 291 ff.

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Behördenorganisation. Erst dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Zeit der Romantik aufkeimenden neuen wissenschaftlichen Interesse an der kritischen Auswertung historischer Quellen blieb es vorbehal­ ten, die Archive primär als kulturelle Einrichtungen zu verstehen, die aktuellen Informationsaufgaben zugunsten der Verwaltungspraxis j e­ doch nicht mehr als einen vorrangigen Auftrag zu erachten. In jene Zeit reichen die gängig verbreiteten Vorurteile in der Öffentlichkeit über die Tätigkeit des Archivars zurück, die von Aktenstaub, Ärmel­ schoner und einer weltentrückten kontemplativen Wissenschaftshal­ tung geprägt sind11 • Erst in der Gegenwart zeichnet sich ein freilich nur allmählich vollzogener Wandel ab. Mit der Einrichtung von Zwi­ schenarchiven haben die staatlichen Archive zumindest begonnen, die fachliche Verantwortung für Verwaltungsschrift- und sonstiges Doku­ mentationsgut zu einem erheblich früheren Zeitpunkt praktisch aus­ zuübenu. Zudem betreffen die neu aufgebrochenen Probleme der Informationsverarbeitung in der Verwaltung die Archive unmittelbar: Denn die traditionellen Schriftgutverwaltungen und Registraturen werden inzwischen als Teile interner Informationssysteme begriffen, die daneben auch Fachdokumentationsstellen, Literatur- und Presse­ auswertung und die früheren Altablagen umfassen 13 • 11 Als ein frühes literarisches Zeugnis dieser Einschätzung der archivari­ schen Tätigkeit und zugleich einer Distanzierung von dem gängigen Vorurteil sei nur an das Gedicht „Der Isegrimm" von Joseph von Eichendorff aus dem Jahre 1837 erinnert : ,,Aktenstöße nachts verschlingen, Schwatzen nach der Welt Gebrauch, Und das große Tretrad schwingen Wie ein Ochs, das kann ich auch. / Aber glauben, daß der Plunder Eben nicht der Plunder wär, Sondern ein hochwichtig Wunder, Das gelang mir nimmermehr./ Aber andre überwitzen, Daß ich mit dem Federkiel Könnt den morschen Weltbau stützen, Schien mir immer Narrenspiel./ Und so, weil ich in dem Drehen Da steh oft wie ein Pasquill, Läßt die Welt mich eben stehen Mag sies halten, wie sie will." 12 Richard Blaas, Das Zwischenarchiv. Funktion und Bedeutung, in : Scrinium 1971, Heft 4, S. 13 ff. ; Carlos Wyffels, Archives contemporaines et depots intermediaires. Brüssel 1972 ; Friedrich P. Kahlenb,erg, Deutsche Archive in West und Ost. Zur Entwicklung des staatlichen Archivwesens seit 1945. Düsseldorf 1972 ; Eckhart G. Franz, Einführung in die Archivkunde. Darmstadt 1974. 1s Friedrich P. Kahlenberg, Informationsbankensysteme ohne Archive? Be­ merkungen zum Funktionswandel öffentlicher Archive, in : Archivalische Zeitschrift 68, 1972, S. 125 ff ; Eckhart G. Franz, Archiv und Archivfunktion innerhalb des Gesamtbereichs Information und Dokumentation, in : Der Archivar 29, 1976, Sp. 31 ff.

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Die fachliche Mitverantwortung für die internen Informationspro­ bleme der Verwaltung aller Ebenen ist eine qualitativ neue Aufgabe der öffentlichen Archive, die an deren ursprüngliche, historisch ge­ wachsene Funktion erinnert und damit an die Stellung der Archive in der Behördenorganisation vor dem Zeitalter des Historismus erinnert. Damit ist die Aufgabe eingeschlossen, praktische Lösungsvorschläge für die Schriftgutverwaltungen in einzelnen Ministerien wie in nach­ geordneten Verwaltungsbereichen zu erarbeiten. Zugleich erhalten die Archive zu einem erheblich früheren Zeitpunkt als in der Vergangen­ heit üblich, die Gelegenheit zur aktiven Quellensicherung. Vor dem Hintergrund dieser knappen Bemerkungen über die Funktion öffent­ licher Archive in der Geschichte wird die oft wiederholte Aussage verständlich, daß sich in den Archiven gleichsam automatisch die Ge­ schichte der Gesetzgebung, der öffentlichen Rechtsprechung und schließlich der Verwaltungspraxis niederschlägt. Es hieße eine Binsen­ weisheit auszusprechen, sollte besonders betont werden, daß sich die archivischen Quellen, die Aktenbestände der staatlichen Archive in hervorragendem Maße für das Studium der Verwaltungsgeschichte eignen. Dies gilt im Bereich der Bundesrepublik Deutschland a priori für alle öffentlichen Archive auf allen Ebenen der Verwaltung, für die Gemeinde-, Stadt- und Kreisarchive, für die Staatsarchive in den Ländern wie auch für die zentralen Archive des Bundes. Jedoch - in der Geschichte der zentralen Archive und ihrer Be­ stände spiegelt sich das wechselvolle Schicksal der Nationen selbst: Für die Überlieferungen der Organe des ehemaligen Deutschen Rei­ ches bedeutet dies, daß sie zwischen seinen Nachfolgestaaten aufge­ teilt sind. Die archivalischen Quellen zur Geschichte des Alten Reichs befinden sich heute zum weitaus größten Teil im Österreichischen Staatsarchiv zu Wien. Im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verblieb nach der Aufteilung der Überlieferungen im 19. Jahrhundert praktisch nur das Schriftgut des ehemaligen Reichskammergerichts, das in der früheren Außenstelle des Reichsarchivs und in der heutigen Außenstelle des Bundesarchivs in Frankfurt/Main verwaltet wird. Dort verblieb auch die zentrale Quellenüberlieferung zur Geschichte des Deutschen Bundes und der Provisorischen Reichsgewalt der Jahre 1848/1849. Beträchtliche Verluste erlitten die Archivbestände aus der Zeit des Zweiten Reiches während des Zweiten Weltkrieges bzw. während der Nachkriegswirren. Über die genaue Aufteilung der Be­ stände auf die beiden Nachfolgeinstitute des Reichsarchivs von 1919 unterrichten im einzelnen die vom Staatsarchiv der DDR und vom Bundesarchiv veröffentlichten Beständeübersichten14 • Hier sei nur ge1 4 Übersicht über die Bestände des Deutschen Zentralarchivs in Potsdam, Berlin 1957 ; Das Bundesarchiv und seine Bestände. Übersicht, 2. Auflage von

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nerell bemerkt, daß die archivalischen Quellen aus der Zeit des Nord­ deutschen Bundes und des zweiten Kaiserreichs mit wenigen Ausnah­ men heute im Zentralarchiv zu Potsdam aufbewahrt werden. Ledig­ lich die Akten des Auswärtigen Amtes, vor allem der politischen Ab­ teilung, gelangten nach 1945 in die Hand der Westalliierten und sind damit heute im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn der Forschung zugänglich119• In das Bundesarchiv gelangte das Schriftgut des Reichsmarineamtes und der Zollabteilung des Reichsschatzamtes, während die Akten der übrigen Reichsämter sämtlich in Potsdam zu benutzen sind.

Nur wenig günstiger ist die Überlieferungslage zur Zeit der Weima­ rer Republik. Während aus dieser Periode fast das gesamte Schrütgut des Auswärtigen Amtes wiederum in Bonn verwahrt wird, verfügt das Bundesarchiv über die nahezu vollständige Aktenüberlieferung der Reichskanzlei ab 1918/1919 16• Von dem Schriftgut der anderen Reichsministerien bleiben von Splitterüberlieferungen abgesehen im Bundesarchiv wiederum nur die Akten des Reichsfinanzministeriums zu nennen. Dabei fehlen jedoch die Akten der Etat- und der Steuer­ abteilung aus der Zeit vor 1930; Erst für die Zeit der NS-Herrschaft verschieben sich die Relationen: Während das Schriftgut des Auswär­ tigen Amtes vom Politischen Archiv verwaltet wird, gelangten in das Bundesarchiv neben den Akten der Reichskanzlei jene des Reichs­ finanzministeriums, des Justizministeriums, des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete, des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion und des Propagandaministeriums. Der überwie­ gende Teil der Überlieferungen aus den übrigen Reichsministerien wird hingegen vom Staatsarchiv der DDR verwahrt, das im übrigen auch aus dem gesamten Zeitraum, soweit erhalten, wesentliche Teile der Überlieferungen der übrigen Verfassungsorgane des Reichs über­ nahm, vor allem das Schriftgut des Bundes- und Reichsrats, des Reichstags, des Reichsgerichts und des Rechnungshofes des Deutschen Reichs. Dieses für den Uneingeweihten zunächst ohne Zweüel höchst ver­ wirrende Bild muß sich noch weiter verschleiern, wird daran erinnert, daß einzelne Überlieferungssplitter noch immer in amerikanischen

und Heinz Bob erach. Boppard 1968, mit Ergänzungslieferung 1970. Eine völlig neubearbeitete, mit verwaltungsgeschichtlichen Annotationen versehene 3. Auflage wird aus Anlaß des bevorstehenden 25jährigen Ju­ biläums des Bundesarchivs im Sommer 1977 erscheinen. 1 6 Hans Philippi, Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes, in: Der Archivar 11, 1958, Sp. 139 ff. ; ders., Rückführung und Übersicht über die Bestände, in : Der Archivar 13, 1960, Sp. 199 ff. 18 Dazu vergleiche das von Walter Vogel und Gregor Verlande bearbeitete Findbuch in der Reihe „Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs" Bd. 13, Bestand R 43 Reichskanzlei, Teil 1 - 3. Koblenz 1975. Hans Booms

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Universitätsbibliotheken wie zum Beispiel der Hoover-Institution oder in anderen Forschungseinrichtungen der UdSSR, des Vereinigten Kö­ nigreichs, Frankreichs oder Israels liegen. Diese Überlieferungen wer­ den indessen systematisch durch Mikroverfilmung und Rückvergröße­ rung in den jeweiligen Provenienzbeständen in Koblenz nachgewiesen und können damit wieder im ursprünglichen Überlieferungszusam­ menhang benutzt werden. Schließlich sind die Akten der nachgeord­ neten oberen Reichsbehörden in ähnlicher Weise wie die der Ministe­ rien zwischen dem Bundesarchiv und dem Staatsarchiv der DDR in Potsdam: aufgeteilt. Einen gewissen einheitlichen Schwerpunkt bilden im Bundesarchiv lediglich die Bestände aus dem Bereich der Wirt­ schaftsbehörden. Das Schriftgut der ehemaligen Wehrmacht und ihrer Vorläufer, soweit nicht 1945 bei der Zerstörung des Heeresarchivs in Potsdam vernichtet, wird heute fast vollständig in der in Freiburg im Breisgau tätigen Abteilung IV des Bundesarchivs, dem Militärarchiv, verwaltet17•

Von einer intakten, vollständigen Überlieferung kann danach im Bundesarchiv erst für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gespro­ chen werden, das heißt für die oberhalb der Länderebene bestehenden deutschen Verwaltungsbehörden und Institutionen der Jahre 1946 bis 1949 in den westlichen Besatzungszonen und selbstverständlich für die Bundesrepublik Deutschland. Wegen der Information über die bereits archivierten Bestände und ihren jeweiligen Ordnungszustand kann auch hier wieder auf die Übersicht über die Bestände des Bun­ desarchivs verwiesen werden, deren 2. Auflage bereits die vorhande­ nen Bestände aus der Zonenzeit nennt.

Während die Quellenüberlieferungen aus der Tätigkeit der zentra­ len Organe durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und deren Folgen in der unmittelbaren Nachkriegszeit als hoffnungslos zerstreut gelten müssen, ist auf der Ebene der regionalen staatlichen wie der kommunalen Archive die Überlieferungslage unvergleichlich günsti­ ger. Trotz aller Verluste der Kriegszeit im Einzelfall, im wesentlichen durch Bombenschäden der Archive selbst oder an den Auslagerungs­ orten für wertvollere Bestände entstanden, konnten zumindest die Archive in relativer Kontinuität ihre Arbeit fortsetzen. Bei allen nicht zu unterschätzenden materiellen und personellen Schwierigkeiten der ersten Nachkriegsjahre vollzog sich die Reorganisation der staatlichen Archivverwaltungen und der kommunalen Archiveinrichtungen doch stetig, so daß spätestens seit dem Jahre 1947 die Voraussetzungen für die Fortsetzung der fachlichen Arbeit wieder gegeben waren18• Drei 17 Die militärischen Quellenüberlieferungen sind in der in Anm. 14 ge­ nannten Beständeübersicht des Bundesarchivs gleichfalls beschrieben.

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Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darf zudem davon ausgegangen werden, daß die schriftlichen Quellen aus der Zeit des Wiederaufbaus der deutschen Verwaltung auf allen Ebenen inzwi­ schen bereits archivisch gesichert sind und nach der fachlichen Bewer­ tung durch die üblichen Findmittel erschlossen werden. Jede verwal­ tungsbezogene historisch gewandte Forschung findet danach primäres Quellenmaterial, d. h. das Schrift- und Dokumentationsgut aus der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung für die Zeit bis 1945 und für die unmittelbare Nachkriegszeit in den kommunalen Archiven, in den Parlamentsarchiven und den staatlichen Archiven der Landesarchiv­ verwaltungen wie in den Archiven des Bundes vor.

III.

Eine uneingeschränkte wissenschaftliche Auswertung jüngerer und jüngster aus der Tätigkeit von Organen, Behörden und sonstigen Ein­ richtungen der Städte, der Länder und des· Bundes entstandener Quellenüberlieferungen ist indessen noch nicht möglich. Die deutsche Verwaltungstradition kennt kein generelles Gebot der Offenlegung von Verwaltungsschriftgut wie einige andere Länder. Erinnert sei an dieser Stelle nur an den „General Freedom of Information Act" vom 4. Juli 1967 der USA, der von der generellen Öffentlichkeit des Ver­ waltungsschriftgutes der amerikanischen Bundesbehörden ausgeht, gleichzeitig aber eine Reihe wesentlicher Ausnahmen formulierte, die insgesamt keineswegs der wissenschaftlichen Forschung von vornher­ ein entscheidend bessere Voraussetzungen für die Benutzung von jüngsten Akten bieten19• Dazu trägt nicht zuletzt die weitreichende Ausnahmepraxis bei, zu der sich die amerikanische Verwaltung im Gefolge der Diskussion um die Datenschutzproblematik veranlaßt sehen mußte20. Die Euphorie, die das amerikanische Gesetz des Jahres 1967 vieler­ orten in westlichen Ländern zunächst weckte, wich in den siebziger

1 8 F. Kahlenberg (wie Anm. 12), S. 25 ff. mit Anm. 34, in der bibliographische Hinweise auf die im Zweiten Weltkrieg entstandenen Verluste der öffent­ lichen Archive gegeben sind. 10 Der Text des General Freedom of Information Act ist abgedruckt bei Manfred Rehbinder, Die Informationspflicht im Recht der Vereinigten Staaten, 1970, S. 58 ff. - Kritisch setzte sich aus deutscher Sicht Meinhard Schröder mit dem generellen Öffentlichkeitsgebot für staatliches Schriftgut ausein­ ander. Vgl. seinen Aufsatz, Staatstheoretische Aspekte einer Aktenöffentlich­ keit im Verwaltungsbereich, in : Die Verwaltung 4, 1971, S. 301 ff. 2 0 Kritisch zum generellen Gebot der Aktenöffentlichkeit aus amerika­ nischer Sicht mit zahlreichen Beispielen aus der Rechtsprechung nach dem Inkrafttreten des General Freedom of Information Act Arthur F. Miller, Der Einbruch in die Privatsphäre. Datenbanken und Dossiers. Neuwied 1973.

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Jahren einer Ernüchterung. Denn bei aller Stärkung der publizisti­ schen Kontrollmöglichkeiten, die der generellen Offenlegung des Ver­ waltungsschriftguts in einem demokratischen politischen System ent­ springen kann, ist doch auch die mögliche Gefährdung des Persönlich­ keitsschutzes und die Wahrung der Privatsphäre des einzelnen Bürgers zu würdigen. In vollem Umfange wurde die Antinomie zwischen dem In­ formationsinteresse der Öffentlichkeit einerseits und der notwendigen Garantie der Persönlichkeitsrechte andererseits im Zuge der Diskus­ sion gesetzlicher Regelungen des Datenschutzes angesichts der wach­ senden Bedeutung von Datenbanken in der öffentlichen Verwaltung deutlich. Danach bleibt eine bemerkenswerte Akzentverschiebung der öffentlichen Meinung in der Beurteilung der erwähnten Antinomie seit dem Anfang der siebziger Jahre zu registrieren. Die ursprünglich stärker betonten Chancen verbesserter Informationstätigkeiten der Publizistik zugunsten von deren Wächterfunktion in der Demokratie wichen späte­ stens seit 1973 warnenden Äußerungen gegenüber den Gefahren einer Aufweichung des „Schutzes der Privatsphäre". Dazu mögen auch die weitreichenden Planungen zur gegenseitigen Verfügung bestehender und noch zu begründender Datenbanken im Rahmen von Informa­ tionsbankensystemen beigetragen haben21 • Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das noch am Ende der 7. Legis­ laturperiode verabschiedete Gesetz über das Verwaltungsverfahren den Zugang zu Informationen der öffentlichen Verwaltung keines­ wegs erleichtert hat,e2. In der breiten Resonanz, die vor allem das Da­ tenschutzgesetz des Bundes in der Publizistik fand, war auch nur ge­ legentlich am Rande von den Informationsbedürfnissen der wissen­ schaftlichen Forschung die Rede, während die noch schärfere Schutzbe­ stimmungen zugunsten des Bürgers verlangenden Stimmen letztlich überwogen23 • Bedenklich bleibt letztlich, daß die Löschung von Daten in Datenbanken ohne Beteiligung der zuständigen Archive möglich sein kann. Es bleibt zu hoffen, daß in der Praxis der Durchführung denkbare nachteilige Folgen für die wissenschaftliche Forschung über­ wunden werden. Nachdem es eine generelle Aktenöffentlichkeit der öffentlichen Ver­ waltung in der Bundesrepublik Deutschland nicht gibt, ist auf die be­ stehenden Regelungen von Benutzungsgrenzjahren in den öffentlichen 21 Das Informationsbankensystem. Vorschläge für die Planung und den Aufbau eines allgemeinen arbeitsteiligen Informationsbankensystems für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1 - 3. Köln 1971 - 1972. 22 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes vom 25. Mai 1976, s. BGBl. I, S. 1253. 2s Das „Gesetz zum Schutz vor Mißbrauch personenbezogener Daten bei der Datenverarbeitung (Bundesdatenschutzgesetz)" wurde vom Parlament erst im Dezember 1976 verabschiedet (BGBl. I, 1977, S. 201).

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Archiven zu verweisen. Im Unterschied zu den meisten europäischen Staaten hat die Bundesregierung bei der Neufassung der früheren Ge­ schäftsordnung für die Reichsministerien für den Gebrauch nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahre 1954 eine Vorschrift eingefügt, die grundsätzlich die Freigabe der Akten für wissenschaftliche Zwecke 30 Jahre nach deren Entstehen vorsieht24 • Die Einschränkung auf an­ derslautende Bestimmungen setzt, soweit es sich nicht um Verschluß­ sachen handelt, die ohnehin der VS-Anweisung unterliegen oder um Akten, die sich auf natürliche Personen beziehen, jeweils eine aus­ drückliche Ausnahmebestimmung voraus25• Darin liegt ein im Ver­ gleich zu entsprechenden Regelungen anderer Länder nicht zu unter­ schätzender Vorteil, der in der Automatik der Freigabe nach 30 Jahren zu sehen ist, nicht aber für das Schriftgut einer jeden Provenienz­ stelle oder für jeden Abgabekomplex eine neue, positive und aus­ drückliche Freigabeentscheidung verlangt. Darüberhinaus eröffnete die nämliche Vorschrift die Möglichkeit einer Ausnahmeregelung: In besonders zu begründenden Fällen ist danach die Benutzung von Ak­ ten aus jüngerer Zeit dann möglich, wenn dies die Zustimmung des Ministers oder Staatssekretärs in dem jeweiligen Ministerium oder für den entsprechenden Geschäftsbereich findet.

Während von dieser Regelung in den sechziger Jahren relativ häu­ fig Gebrauch gemacht werden konnte, zeichnet sich seit dem Anfang dieses Jahrzehnts in der Praxis die Tendenz einer sorgfältigeren Prüfung von Anträgen ab, sicher auch eine Folge der erwähnten Akzentverschiebung der öffentlichen Meinung im Gefolge der Erör­ terung der Datenschutz-Problematik. Daneben ergeben sich bei sol­ chen Akten Schwierigkeiten, in denen sich zwischenstaatliche Bezie­ hungen niedergeschlagen haben, d. h. aber vor allem für die Behand­ lung von Themen, in denen auswärtige Beziehungen mit angesprochen sind. Soweit diese Länder betreffen, deren amtliches Schriftgut für die wissenschaftliche Forschung noch nicht freigegeben ist, die also längere Benutzungssperrfristen haben oder die Möglichkeit der Ertei­ lung einer Benutzungsgenehmigung im Ausnahmefall nicht kennen, werden die entsprechenden deutschen Überlieferungen vor Ablauf der 30-Jahresfrist fürs erste auch im Ausnahmefall nicht zugänglich sein. Indessen haben mehrere Ressorts, gestützt auf die Vorschrift des Pa­ ragraphen 80 in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundes24 Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. Allgemeiner Teil (GGOI). Hrsg. vom Bundesministerium des Innern 1958, Neudruck 1973 ; s. bes. § 80. 26 Zu verweisen ist auf die vom Bundesminister des Innern erlassene Benutzungsordnung für das Bundesarchiv vom 11. September 1969, ver­ öffentlicht in : Der Archivar 23, 1970, Sp. 69 ff. Dazu vgl. Heinz Boberach, Die neue Benutzungsordnung für das Bundesarchiv, ebd. Sp. 63 ff. 17 Speyer 66

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ministerien, die aus der Geschäftstätigkeit der Organe der Zonenver­ waltungen bzw. des Vereinigten Wirtschaftsgebietes - der unmittel­ baren Vorläufer der Verwaltungseinrichtungen des Bundes - ent­ standen Überlieferungen aus praktischen Gründen generell für die Benutzung im Rahmen der Benutzungsordnung des Bundes­ archivs freigegeben. Der eigentlichen Bewährungsprobe werden die gel­ tenden Vorschriften jedoch am Ende dieses Jahrzehnts unterworfen werden, wenn es gilt, die 30-J ahresfrist für die Freigabe des Schrift­ und sonstigen Dokumentationsgutes erstmals auf die Akten der Or­ gane, Behörden und Dienststellen des Bundes selbst anzuwenden. Unter dem letztgenannten Aspekt verdienen Erwägungen Beachtung, die in jüngerer Zeit über die Möglichkeiten einer archivgesetzlichen Regelung für den Bereich des Bundes angestellt werden und geeignet erscheinen, die Voraussetzungen der archivfachlichen Arbeit im In­ teresse der wissenschaftlichen Forschung wie der öffentlichen Nutzung von Überlieferungen des Staates zu präzisieren. Im internationalen Vergleich dürfen die Zugriffsmöglichkeiten der wissenschaftlichen Forschung auf die amtlichen Unterlagen in der Bundesrepublik Deutschland aber bereits in der Gegenwart trotz der erwähnten Pro­ bleme als in der Praxis liberal bezeichnet werden. Dies trifft nicht zuletzt auch auf die Überlieferungen der Verwaltungseinrichtungen der Länder zu, für die die 30-Jahresregel mutatis mutandis ebenfalls angewandt wird26• Dabei besteht freilich eine ständige Wechselbe­ ziehung zwischen den Anforderungen der wissenschaftlichen For­ schung auf der einen und der Bereitschaft des Staates auf der anderen Seite, jenen Anforderungen entgegen zu kommen. Mit anderen Wor­ ten : Die öffentlichen Archive bedürfen in ihrem Bemühen um die Verbesserung der Nutzungsmöglichkeiten der archivierten Informa­ tionen der kritischen und zugleich mitverantwortlichen Unterstützung durch die wissenschaftliche Forschung27• Welchen Gebrauch macht die wissenschaftliche Forschung im gemeinen, die verwaltungsgeschichtliche Forschung im besonderen den in den öffentlichen Archiven archivierten Überlieferungen? seiten der Forschung wird zunächst stets auf die Massenhaftigkeit

all­ von Von mo-

20 Gerhard Granier, Benutzungsgrenzjahre in öffentlichen Archiven, in : Der Archivar 29, 1976, Sp. 195 ff. 21 Einen detaillierten Überblick über die gegenwärtigen Probleme des archivischen Benutzungswesens gab zuletzt Heinz Boberach auf dem 49. Deut­ schen Archivtag in Braunschweig im Jahre 1974, mit dem er u. a. auch zugleich auf „Erwartungen des Forschers von der Erschließung der Archive" antwortete, die Rudolf Morsey auf dem 46. Deutschen Archivtag 1970 in Ulm formuliert hatte : R. Morsey, Wert und Masse des schriftlichen Quellenguts als Problem der historischen Forschung, in : Der Archivar 24, 1971, Sp. 17 ff. H. Bob erach, Archivbenutzung und archivarische Arbeit im Wandel von Interessen und Methoden, in : Der Archivar 28, 1975, Sp. 19 ff.

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dernen Verwaltungsschriftgutes zu einzelnen Themen oder Problemen hingewiesen, die durch den einzelnen Forscher vollständig au�uwer­ ten fast unmöglich erscheint28• Die Massenhaftigkeit des schriftlichen Niederschlags der Geschäfts­ tätigkeit der modernen Verwaltung ist selbstverständlich nur zu einem geringeren Teil das Produkt der neuen Schreib- und Vervielfältigungs­ methoden, der Bürotechnik insgesamt, wenngleich deren Relevanz für den Stil der Verwaltungsarbeit im 20. Jahrhundert nicht unter­ schätzt werden soll. Die wichtigste Ursache ist j edoch die Aufgabenex­ plosion der öffentlichen Verwaltung und in deren Zusammenhang die Vermehrung der Zahl der öffentlich Bediensteten. Daß sich im übrigen der einzelne Aktenband aus dem Bundeskanzleramt der fünfziger Jahre im Vergleich zu einer Bandeinheit der Reichskanzlei aus der Zeit Bismarcks „inhaltlich entleert" habe, wie Wilhelm Rohr in den fünfziger Jahren anmerkte29 , ist ein in dieser Konsequenz zu entlar­ vender Fehlschluß. Verändert haben sich im Sinne der Spezialisierung die Betreffseinheiten, zu denen Akten gebildet werden, eine Ent­ wicklung, die am deutlichsten bei der Betrachtung von modernen Ak­ tenplänen im Vergleich zu jenen der Weimarer Zeit ins Auge fällt. Von Seiten der Forschung wird an dieser Stelle von den Archivaren die „Verdichtung" der Überlieferung gefordert: ,,Unabdingbar er­ scheint mir eine stärkere Verdichtung von Archivgut durch gezielte Kassation", so lautete die von Rudolf Morsey vorgetragene gezielte Forderung im Jahre 1970 an die Adresse der Archivare, wobei er jedoch zugleich einschränkte, daß damit keinesfalls an die gezielte Kassation ganzer Bestände gedacht sei30• Die Bewertung ist in der Tat zentraler Auftrag j eder archivarischen Tätigkeit: aus der unüberseh­ baren Vielfalt der aus der Verwaltungstätigkeit entstandenen Einzel­ überlieferungen ist die an der Kenntnis des Verwaltungsaufbaus und der j eweiligen Zuständigkeit einzelner Institutionen für bestimmte Aufgaben kontrollierte Auswahl des für eine dauernde Aufbewahrung in Betracht kommenden Schrift- und sonstigen Dokumentationsgutes zu treffen31 • Die Quellenüberlieferung ist in der Gegenwart vom Ar2a R. Morsey (s. vorige Anm.). Auf der Tagung in Speyer erwähnte Gerhard Schulz in einer Intervention das Beispiel, daß der Umfang aller bis zum Jahre 1914 im Public Record Office angefallener Archivalien zentraler eng­ lischer Verwaltungen vom Umfang des Archivbestandes eines einzigen Mi­ nisteriums aus der Zeit des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges übertroffen werde. 29 Wilhelm Rohr, Zur Problematik des modernen Aktenwesens, in : Ar­ chivalische Zeitschrift 54, 1958, S. 74 ff. Ähnlich Georg Wilhelm Sante, Be­ hörden-Akten-Archive. Alte Taktik und neue Strategie, in : ebd. S. 90 ff. so R . Morsey (wie Anm. 26), Sp. 18 und 22 ff. s1 Zur Diskussion um die archivische Bewertung vgl. F. Kahlenberg (Anm. 12), S. 98 ff. Zuletzt : Carl Haase, Kassation - eine Überlebensfrage

1 7•

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chivar für eine wissenschaftliche Auswertung in der Zukunft zu formieren. Im Ausland wurden zu Beginn der sechziger Jahre für die archivische Bewertung bestimmte Sollzahlen veröffentlicht, d. h. Pro­ zentsätze, auf die das insgesamt produzierte Verwaltungsschriftgut reduziert werden sollte. In den angelsächsischen Ländern wurde dabei von 4 bis 5 Prozent und im Extremfall von 1,5 Prozent des Verwal­ tungsschriftgutes gesprochen, das endgültig archiviert werden sollte.

Diese Werte stifteten bei der ersten Rezeption in der Bundesrepu­ blik Deutschland zunächst einige Verwirrung, doch wich diese einer nüchternen Betrachtung, als die offenkundigen Unterschiede in der Verwaltungsgliederung und der archivischen Zuständigkeit zwischen England bzw. den USA in Betracht gezogen wurden. Für den Be­ reich der obersten Bundesbehörden in der Zuständigkeit des Bundes­ archivs pendelte sich während eines Jahrzehnts der Bewertungstätig­ keit im Gesamtergebnis eine Verdichtung des insgesamt produzierten Schriftgutes auf weniger als ein Drittel der ursprünglichen Produk­ tion ein. Wesentlich niedrigere Prozentsätze dürften jedoch für die Schriftgutproduktion der nachgeordneten Behörden und Dienststellen erreicht werden, ohne daß hier zu diesem Zeitpunkt ein zuverlässiges Gesamtergebnis genannt werden könnte. Ohnehin erscheint die Prä­ zisierung positiver Wertkriterien für die Auswahl der als Archivgut zu behandelnden Überlieferungen letztlich wichtiger als die Diskus­ sion potentieller Kassationsraten, ein Vorhaben, das freilich die Zu­ sammenarbeit der Archive unterschiedlicher Verwaltungs- und Do­ kumentationsebenen voraussetzt32 •

Doch bleibt die wissenschaftliche Forschung nach wie vor aufge­ rufen, den Dialog mit den Archivaren fortzusetzen und zu vertiefen. Dieser darf sich nicht auf die Wiederholung der Forderung nach der vermehrten Veröffentlichung von Bestandsverzeichnissen und Find­ mitteln der öffentlichen Archive beschränken, sondern muß gerade auch die Verdeutlichung der Erwartungen und Anforderungen an die archivarische Bewertungspraxis einschließen. Nur auf diesem Wege erscheint letztlich die Hoffnung realistisch, daß es möglich wird, im Laufe des kommenden Jahrzehnts ein arbeitsfähiges und leistungs­ starkes Fachinformationssystems für archivalische Quellenüberliefe-

für die Archive, in : Der Archivar 26, 1973, Sp. 395 ff, und d.ers., Studien zum Kassationsproblem, ebd. 28, 1975, Sp. 405 ff. ; 29, 1976, Sp. 65 ff. und 183 ff. ; Gerhard Granier, Die archivarische Bewertung von Dokumentationsgut eine ungelöste Aufgabe, ebd., 27, 1974, Sp. 231 ff. 32 Verwiesen sei an dieser Stelle auf den programmatischen Aufsatz von Hans Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Pro­ blematik archivischer Quellenbewertung, in: Archivalische Zeitschrift 68, 1972, S. 3 ff., der für die fachliche Diskussion in den letzten Jahren grund­ legende Fragen formulierte.

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rungen zum Nutzen aller der historischen Methode verpflichteter Forschungszweige zu schaffen33• Welchen Nutzen ziehen die wissenschaftlichen Benutzer indessen aus dem veröffentlichten Informationsangebot der Archive? Offenbar ist der Anteil jener Benutzer, die vor einer ersten Kontaktaufnahme mit einem staatlichen Archiv sich in den publizierten Findmitteln und Be­ ständeübersichten über die für ihre jeweilige Themenstellung in Betracht kommenden Quellen unterrichtet haben, noch immer erstaunlich nied­ rig. Die Vermutung liegt nahe, daß den Studenten die entsprechenden Hilfsmittel in den Lehrveranstaltungen philosophischer, sozialwissen­ schaftlicher, aber auch juristischer und volkswirtschaftlicher Fakul­ täten nur im Ausnahmefall vorgestellt werden. Hinzu kommen die fehlenden Vorkenntnisse der Doktoranden für die kritische Auswer­ tung historischen Quellenmaterials, die auf eine zumeist fehlende Grundausbildung in Quellenkunde während des Grundstudiums schlie­ ßen lassen. In zu vielen Fällen kann heute die Kenntnis des behörd­ lichen Geschäftsgangs bei Doktoranden der neuesten Geschichte und Zeitgeschichte, der Politikwissenschaft oder auch der Jurisprudenz nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Das führt zu Fehleinschätzungen bei der Bewertung einzelner Aktenstücke und Dokumente, und aus Unkenntnis über die Geschäftsgangpraxis in den Behörden verschiedener Verwaltungsbereiche entstehen Mißverständ­ nisse, die vom Archivar im Ausnahmefall nur dann behoben werden können, wenn sich der Benutzer um eine Beratung aktiv bemüht. Doch dafür fehlen nur allzuhäufig die personellen Kapazitäten in den öffentlichen Archiven. IV. Um die trotz aller ungünstigen Voraussetzungen nach wie vor ge­ gebene Vielfalt des Forschungsinteresses an verwaltungsgeschicht­ lichen Fragestellungen einschätzen und beschreiben zu können, ver­ öffentlichte der Verfasser vor zwei Jahren einige statistische Anga­ ben aus der Benutzungspraxis des Bundesarchivs34 • Nach einer inter­ nen Statistik der in der Hauptdienststelle in Koblenz, in der Abtei­ lung IV Militärarchiv in Freiburg und in der Außenstelle Frankfurt von Wissenschaftlern aller Disziplinen in den Jahren 1965 bis 1970 persönlich durchgeführten Benutzungen galten 106 von insgesamt 1570 Einzelthemen Fragestellen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und 33

H. Boberach (Anm. 27, in: Der Archivar 28, 1975), hier bes. Sp. 19 ff. und

34

F. Kahlenberg (Anm. 7).

Sp. 33 f.

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Rechtsgeschichte, das sind 6,7 Prozent35 • In der erwähnten Statistik überwogen freilich in der Relation die in der Zeit des Alten Reiches und des Deutschen Bundes angesiedelten Themen stark. Dort machten sie sogar mehr als 28 Prozent aller Benutzungsthemen aus, während die Verhältniszahlen für die Periode von 1867/1871 bis 1918 7,7 Pro­ zent, für die Zeit der Weimarer Republik 6,3 Prozent, für die Jahre der NS-Herrschaft jedoch noch 2,8 Prozent lauteten. Wenn auch diese statistischen Daten für sich allein genommen noch wenig wirkliche Anschauung zu vermitteln vermögen, sie zeigen deutlich, daß verwal­ tungsgeschichtliche Forschungen im Rahmen der etablierten Zeitge­ schichte bislang keine besondere Beachtung zu genießen scheinen, vielmehr nach wie vor in erster Linie eine Domäne der eigentlichen Fachhistorie geblieben sind, daneben bis zu einem gewissen Grad noch von Rechtshistorikern betrieben werden, die daneben speziellere Aspekte der Rechtsprechung selbst, des Verfahrens- und Verwaltungs­ rechts ebenso wie des Verfassungsrechts studieren. Inzwischen wurden in der Vorbereitung dieses Beitrages Vergleichs­ zahlen für die in den Jahren 1971 bis 1975 im Bundesarchiv durchge­ führten persönlichen Benutzungen ermittelt, bei denen Themen aus der Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte nunmehr einen Prozentanteil von 8,1 von allen angegebenen Forschungsprojekten ausmachten. Im Vergleich zu den vorstehend genannten Zahlen für die zweite Hälfte der sechziger Jahre ergeben sich indessen einige be­ merkenswerte Veränderungen. Denn der Anteil von Studien zur Ver­ fassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte des Alten Reiches und des Deutschen Bundes sank im Vergleich zu den insgesamt durchge­ führten Studien dieser Fachrichtung um mehr als die Hälfte, d. h. von 28 auf jetzt 12,2 Prozent. Der Schwerpunkt des Interesses galt indes­ sen Fragestellungen aus der Zeit der Weimarer Republik mit 25,4 Pro­ zent und der NS-Zeit mit 31,1 Prozent der Themen, während in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in der Frühgeschichte der Bundes­ republik Deutschland angesiedelte Untersuchungen immerhin bereits einen Anteil von knapp 10 Prozent erreichten. Die angegebenen Prozentwerte haben selbstverständlich nur einen sehr begrenzten Aussagewert, denn die Kriterien für die Zuweisung des einen oder anderen Themas zur Gruppe verwaltungsgeschichtlicher Studien unter Einschluß rechts- und verfassungsgeschichtlicher Fra35 Die wissenschaftliche Benutzung des Bundesarchivs in den Jahren 1965 bis 1970, Bundesarchiv 1971 (nicht veröffentlicht). Die Klassifikation der Themen mußte selbstverständlich zahlreiche Überschneidungen in Kauf nehmen. Daher fehlen in den nachfolgend genannten Verhältniszahlen solche Arbeiten, die zwar verwaltungs- und verfassungsgeschichtliche Fragen zu einem erheblichen Teil einbezogen, aber zum Zeitpunkt der Benutzung unter allgemeineren Themen charakterisiert worden waren.

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gestellungen bleiben notwendigerweise unscharf. Zuverlässige Daten wären nur dann zu gewinnen, wenn das bei den einzelnen Benutzern jeweils überwiegende methodische Erkenntnisinteresse erfaßbar wäre. Doch die systematische Benutzungsthemenstatistik im Bundesarchiv erlaubt im Grund noch keine Benutzerforschung im informationswis­ senschaftlichen Sinne36• Die nähere Betrachtung der Einzelthemen aus den Jahren 1971 bis 1975 bestätigt die bereits für die zweite Hälfte der sechziger Jahre geltende Beobachtung, daß institutionsbezogene Untersuchungen, Studien zur Geschichte einzelner Verwaltungszweige und Behörden, kaum noch als repräsentativ für verwaltungsgeschicht­ liche Erkenntnisinteressen bezeichnet werden können. Entsprechende Studien finden sich nur im Ausnahmefall in der Statistik erwähnt, etwa mit Arbeiten über das „Deutsche Büro für Friedensfragen" in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, über die „Mainzer Zentral­ untersuchungskommission" zur Durchführung der Karlsbader Be­ schlüsse in den Jahren 1819 bis 1827, über die „Neu-Guinea-Kompag­ nie" um die Jahrhundertwende oder über die „Reichszentrale für Heimatdienst" in der Weimarer Republik. Aber bereits diese wenigen Beispiele signalisieren zugleich eine all­ gemeine Tendenz der Verwaltungsgeschichte; denn ein Vergleich der angegebenen Benutzungsthemen mit den Titeln, unter denen die ent­ sprechenden Arbeiten später publiziert werden, unterstreicht die Ein­ schätzung und Wertung der paradigmatischen Funktion der Tätigkeit einer Behörde für das ,Zeitalter des Imperialismus', für die ,verfas­ sungspolitische Legitimitätspolitik der Reichsregierung' oder für die ,außenpolitische Neuorientierung Deutschlands nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges'. Einen deutlichen Schwerpunkt stellen daneben Forschungsprojekte zur Geschichte des öffentlichen Dienstes dar, für die als Beispiel aus den angegebenen Themen hier Arbeiten zur „Per­ sonalgeschichte des Reichskammergerichts", über „Soziale und ideelle Wertvorstellungen der höheren Beamten des Auswärtigen Amtes 1871 bis 1914", zur „Beamtenpolitik der Weimarer Republik" und zur „Stel­ lung der Bürokratie im Dritten Reich", aber auch zur „Diskriminie­ rung der Juristen in der NS-Zeit" oder zum Thema „Pragmatismus und Irrationalismus in der Entscheidungsbildung der Reichsregie­ rung 1938 bis 1942" genannt seien. Für alle der hier betrachteten Zeitabschnitte der jüngeren geschicht­ lichen Entwicklung ist in den zurückliegenden fünf Jahren eine er­ freuliche Zunahme von auf archivalischen Quellenüberlieferungen gestützten rechtsgeschichtlichen Forschungsvorhaben zu verzeichnen. 36 Auf die in der Regel noch ungünstigen organisatorischen Voraussetzun­ gen der Archive für eine systematische Benutzerforschung, die gleichwohl ein wichtiges Desiderat bleibt, wies zuletzt H. Boberach (Anm. 27), Sp. 31, hin.

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Die Vielfalt der Themen, die gerade auch von ausländischen Forschern genannt wurden, deutet möglicherweise auf die Entwicklung eines bemerkenswerten neuen Interesses an der Rechtsgeschichte hin. Als Beispiele seien hier nur Quellenstudien zur „Kammergerichtsord­ nung von 1555", zur „Entwicklung des Arzneimittelrechts im Kaiser­ reich", zum „Bergrecht in Elsaß-Lothringen", zur Entstehung der ,,Impfgesetzgebung", zur „Militärgerichtsordnung im Kaiserreich", zum „Ehe- und Familienrecht im Nationalsozialismus" bis hin zur „Rechtstheorie und Rechtsphilosophie im Nationalsozialismus" und über „Entscheidungen und Gesetzgebung zum internationalen Privat­ recht im Dritten Reich" erwähnt. Daß dem Archivar bei der Benutzer­ betreuung gegenüber Forschern zu rechtsgeschichtlichen Fragestellun­ gen eine besondere Verantwortung zuwächst, ergibt sich aus dem erwähnten Mangel an quellenkritischer Schulung, die nicht zuletzt bei Fachjuristen auffällt.

Die erwähnten Beispiele von Themen zu verwaltungs- und rechts­ geschichtlichen Forschungsvorhaben, wie sie bei wissenschaftlichen Benutzungen der Jahre 1971 bis 1975 im Bundesarchiv angegeben wur­ den, lassen insgesamt eine positive Einschätzung der Entwicklung des verwaltungsgeschichtlichen Forschungsinteresses zu. Zu unterstrei­ chen bleiben dabei nicht zuletzt die Versuche, Aufgaben und Instru­ mentarien ganzer Verwaltungszweige auf archivalischer Quellenbasis darzustellen, wobei diese Darstellungen bereits in der Vorbereitung der Auswertung einschlägiger archivalischer Quellen in der Regel auch die jeweiligen ökonomischen und politischen Rahmenbedingun­ gen einzubeziehen suchen. Während die Beachtung der allgemeinen geschichtlichen Voraussetzungen den spezialisierten Erkenntnisinter­ essen etwa der Rechts- und Verfassungsgeschichte eine qualitätsstif­ tende methodische Differenzierung bei gleichzeitiger Konzentration der Forschungsergebnisse eröffnen kann, ist zugleich auch auf die elementare Funktion verfassungs- und verwaltungsgeschichtlicher Einzelstudien bei der Formung des Geschichtsbildes einer j eden Epo­ che hinzuweisen. Unter diesem Aspekt dürfen daher auch politik- und sozialwissenschaftliche, auf archivalische Quellenüberlieferungen ge­ stützte Forschungsvorhaben im Bereich der Verwaltungs-, Rechts- und Verfassungsgeschichte, wie sie während des letzten Jahrzehnts im ste­ tig wachsenden Umfang erkennbar werden, einige Aufmerksamkeit beanspruchen.

Seit eh und je genießt die Verwaltungsgeschichte im engeren Sinne in den öffentlichen Archiven selbst eine unverrückbare Wertschätzung. Dies ist leicht verständlich, denn die Kenntnis der Entwicklung der öffentlichen Aufgaben und ihrer institutionellen Wahrnehmung in der Verwaltungsorganisation ist erste und unabdingbare Voraussetzung

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für j ede archivarische Arbeit. Ohne ein exaktes Studium der Quellen zur Geschichte der Verwaltung in einem Territorium ist weder die Bestandsbildung, Ordnung und Verzeichnung der archivischen Pro­ venienzbestände vorzunehmen noch eine fachliche Betreuung der Ar­ chivbenutzer vorstellbar. Daher gehören verwaltungsgeschichtliche Studien schon immer zum Forschungs- und zum Veröffentlichungs­ programm der Archive, wie auch Archivare an den großen Quellen­ und Aktenpublikationen der Akademien und Historischen Kommis­ sionen in hervorragendem Maße mitwirkten37• Erinnert sei hier nur an die Reihe der „Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven", 1878 unter Heinrich von Sybel begründet, und an die von Gustav Schmoller in der Berliner Akademie der Wissenschaften initüerte Se­ rie der „Acta Borussica. Denkmäler der preußischen Staatsverwal­ tung im 1 8 . Jahrhundert" , an der Otto Hintze von den Anfängen sei­ ner wissenschaftlichen Laufbahn an einen wesentlichen Anteil hatteSII. An dieser Stelle sei dem Verfasser nicht verwehrt, im Anschluß an Rudolf Morseys Bemerkungen zu Beginn dieser Speyerer Tagung noch einmal ausdrücklich den von Thomas Ellwein als „Archivalismus" gescholtenen Stil mancher von Archivaren verfaßter verwaltungsge­ schichtlicher Monographien zurückzuweisen39 • Ellwein sprach das Ver­ dikt aus: ,,Wer sie [verwaltungsgeschichtliche Darstellungen von Archi­ varen] liest, muß freilich viel Interesse mitbringen, weil der bei Ar­ chivaren meist hochentwickelte Sinn für Einzelheiten stets zu ufer­ loser Breite und mangelnder Durchdringung des Stoffes führt46." Ein solcher Stil der wissenschaftlichen Darstellung ist sicher nicht das alleinige Privileg von Archivaren! Auch die so wenig beliebte und in der Tat nicht immer zur faszinierenden Lektüre einladende Behör­ densgeschichte ist eine unerläßliche Voraussetzung einer sinnvoll betrie­ benen Verwaltungsgeschichte. Dies wird gerade auch Georg-Christoph von Unruh trotz seiner bei Gelegenheit der Mitteilungen über das großzü gig geplante Projekt eines „Handbuchs zur deutschen Verwal­ tungsgeschichte" im Rahmen dieser Tagung geäußerten Distanz zur Behördengeschichte allein schon im Blick auf den hohen Informations­ wert der von Walther Hubatsch betreuten Reihe „ Grundriß zur deut­ schen Verwaltungsgeschichte" anerkennen4 1 • Denn ohne das Fakten37 Hermann Heimpel, Über Organisationsformen der historischen Forschung in Deutschland, in : Historische Zeitschrift 189, 1959, S. 213 ff. 38 Reinhold Koser, Über den gegenwärtigen Stand der archivalischen Forschung in Preußen. Leipzig 1900, S. 8 ff. und 13 f. ; Gerhard Oestreich, Otto Hintze und die Verwaltungsgeschichte, in : Gesammelte Abhandlungen Bd. 3, Regierung und Verwaltung, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 7 ff. se Thomas Ellwein, Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsgeschichte, in : Recht und Politik 2, 1968, S. 61 ff. 4 0 Ebenda, S. 64.

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gerüst der genauen Kenntnis von der Entwicklung der öffentlichen Aufgaben und der auf den verschiedenen Ebenen der Verwaltung ge­ gebenen Zuständigkeiten ebenso wie der organisatorischen Gliede­ rung der Behörden und der Herkunft, Ausbildung und gesellschaft­ lichen Stellung ihrer Funktionäre läßt sich eine Geschichte der öffent­ lichen Verwaltung nicht schreiben. Ausdrücklich sei in diesem Zusammenhang an ein zu Beginn der sechziger Jahre von den archivarischen Berufskollegen Friedrich Fa­ cius und Heinz Boberach im Bundesarchiv erörtertes Proj ekt der sy ­ stematischen Erfassung von Organisationsdaten zur Geschichte der Reichsbehörden vom 15. bzw. 16. Jahrhundert bis zum Jahre 1 945 er­ innert. Das Konzept zielte letztlich auf die Begründung einer „ Ger­ mania administrativa" und hätte ein vorzügliches Gerüst für die insti­ tutionelle und organisatorische Entwicklung zentraler Verwaltungs­ einrichtungen abgegeben. Es bleibt im Grunde nur erstaunlich, daß ein entsprechendes Proj ekt nicht bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts gedacht und konkretisiert worden ist, als die heute tief wurzelnde Skepsis gegen die Begründung große Zeitspannen der geschichtlichen Entwicklung übergreifender Handbuch-Proj ekte noch leichter über­ windbar gewesen wäre. Ungeachtet dieser Schwelle bleibt das Pro­ j ekt aktuell und wird mit Sicherheit, wenn auch mit einer Konzentra­ tion auf die Entwicklung der zentralen Institutionen des Deutschen Bundes und des Deutschen Reichs im 19. und 20. Jahrhundert, in der Phase einer ruhigeren Entwicklung der archivischen Aufgaben wie­ der aufgegriffen werden 42• Alle öffentlichen Archive verfügen indessen über systematische in­ terne Hilfsmittel zur organisatorischen Entwicklung der in ihrem je­ weiligen Zuständigkeitsbereich, im „Archivsprengel" , angesiedelten und tätigen Verwaltungsorganisationen, der lebenden Behörden wie ihrer Vorläufer. Diese archivischen Hilfsmittel fassen z. B. die einschlä­ gigen Daten der veröffentlichten amtlichen Organisationshandbücher, Staatskalender u. ä. systematisch zusammen, verweisen auf einschlä41 Grundriß zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815 - 1945, Reihe A : Preußen hrsg. von Walther Hubatsch, Bd. 5 , Brandenburg, bearbeitet von Walter Vogel. Marburg 1975, und Bd.4, Schlesien, bearbeitet von Dieter Stüttgen, Helmut Neubach und Walther Hubatsch. Marburg 1976. 42 Als ein im Rahmen der damaligen Konzeption angesiedelte Vorstudie kann die Arbeit von Friedrich Facius, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945, angesehen werden (Boppard 1959). Als internes Hilfsmittel steht im Bundesarchiv aus jenen Jahren noch eine später leider nur gelegentlich ergänzte „Behördenkartei" zur Verfügung, die Fundstellen für Organisations­ daten ebenso wie Änderungen in den Bezeichnungen von Behörden und Dienststellen und ihren jeweiligen Sitz, ggf. mit Außenstellen nachweist. Ihr wesentlicher Mangel muß in der fehlenden Notation der jeweiligen Auf­ gaben gesehen werden.

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gige gedruckte Hilfsmittel oder Organisationsunterlagen in Akten. Dazu seien aus der Arbeitspraxis des Bundesarchivs einige Beispiele erwähnt : Als Nebenprodukt der Dokumentationsbemühungen über den Verbleib des Schriftgutes von Dienststellen des Reichs während der fünfziger Jahre entstand eine Kartei sämtlicher Behörden und Dienst­ stellen der Reichsverwaltung mit Nachrichten über deren organisato­ rische Gliederung, Dienstsitz und Quellennachweis zu Nachschlage­ werken usw. Für die obersten und oberen Reichsbehörden in der Zeit der NS-Herrschaft besteht daneben eine Sammlung von Organisations­ plänen, Stellenplänen und Übersichten zur Aufgabengliederung, die systematisch um entsprechende Originalunterlagen aus der Zeit der Weimarer Republik ergänzt wurde. Darüber hinaus wurden Quellen zur Organisationsgeschichte aller in der Zuständigkeit des Bundesarchivs bestehenden Behörden und Einrichtungen in den Archivbeständen erfaßt und zentral nachgewie­ sen. Für die Bundesverwaltung werden Organisations- und Geschäfts­ verteilungspläne fortlaufend systematisch erfaßt und in eine eige­ nen Sammlung aufbewahrt. Das Pendant zur Koblenzer :Überliefe­ rung im Bundesarchiv-Zwischenarchiv in Hangelar bei Bonn wird zu­ dem noch systematisch um interne Organisationsverfügungen aus den Bundesministerien ergänzt. Gleichfalls im Zwischenarchiv wurden zu­ dem die seit 1 949 in den verschiedenen Bundesministerien wahrgenom­ menen Einzelaufgaben in Karteien erfaßt und organisationunabhän­ gig systematisch klassifiziert, so daß es unter anderem auch unter verwaltungsgeschichtlichen Fragestellungen festzustellen möglich wird, an welchen verschiedenen Stellen in der Ministerialbürokratie eine Einzelaufgabe zu einem bestimmten Zeitpunkt federführend oder mitwirkend wahrgenommen wurde. Angesichts der häufigen Reor­ ganisationen kommt dem Nachweis der für bestimmte Aufgaben in der Bundesverwaltung zuständigen Funktionäre erhöhte Bedeutung zu. Die entsprechenden internen Hilfsaufzeichnungen erfüllen freilich noch nicht die denkbare Funktion eines zuverlässigen Nachweissystems der personellen Aufgabenwahrnehmung. Ohne Zweifel sind die hier erwähnten Hilfsmittel im einzelnen noch vielfach ergänzungsbedürf­ tig und erweiterungsfähig. Sie geben j edoch auch im derzeitigen Aus­ baustadium Gelegenheit, binnen kürzester Frist eine Zusammenstel­ lung der wichtigsten Daten zur organisatorischen Entwicklung einer bestimmten Verwaltungsinstitution oder auch weiterführende Quel­ lenhinweise zu erhalten. Dennoch kann aus Kapazitätsgründen im Bundesarchiv auf absehbare Zeit kaum an die Veröffentlichung des einen oder anderen der erwähnten Hilfsmittel gedacht werden, so hilfreich dies auch für die Fortentwicklung der Verwaltungsgeschichte wäre.

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Ein Bericht über archivalische Quellenüberlieferungen zur Verwal­ tungsgeschichte darf sich schließlich nicht auf die Quellen der Verwal­ tung selbst, von denen bislang die Rede war, beschränken. Der Son­ derfall der Parlamentsdrucksachen wie der Parlamentsarchive steht jedem Verwaltungshistoriker, der über das 19. und 20. Jahrhundert arbeitet, deutlich vor Augen43 • Wichtigstes Desiderat der Forschung ist in diesem Bereich die Zugriffsmöglichkeit auf die Geschäftsunter­ lagen und Protokolle der Parlamentsausschüsse wie der Ausschuß­ sekretariate, die nicht immer im erwünschten Umfang gewährleistet ist. Parlamentsinterne Dokumentationsstellen können unter bestimm­ ten Voraussetzungen dazu neigen, Einzelüberlieferungen aus ihrem Entstehungszusammenhang zu nehmen und in besonderen Dokumen­ tationsprojekten zu verarbeiten«. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zeichnete sich indessen in wachsendem Umfange eine archivfachliche Mitverantwortung der Lan­ desarchivverwaltungen für die Arbeit der einzelnen Parlamentsar­ chive ab, so daß insgesamt davon ausgegangen werden darf, daß wis­ senschaftliche Benutzungsanliegen in diesem Bereich ebenso gewissen­ haft und umfassend befriedigt werden wie in den auf eine längere wissenschaftliche Tradition zurückblickenden staatlichen Archiven selbst. Doch sei an dieser Stelle auch an die Bedeutung der primären Geschäftsunterlagen der Parlamentsfraktionen der einzelnen politi­ schen Parteien erinnert, die aus naheliegenden Gründen einer syste­ matischen archivischen Erfassung nur im Ausnahmefall zugänglich werden. Es steht zu hoffen, daß auf diesem Felde den quellensichern­ den Bemühungen der von den einzelnen politischen Parteien unter­ stützten Stiftungen und der von ihnen unterhaltenen Parteiarchive ein dauerhafter Erfolg beschert sein wird.

Spätestens an dieser Stelle ist aber auch die Bedeutung anderer, ge­ genüber dem staatlichen Aktengut als nichtklassisch zu bezeichnender Überlieferungen in den Archiven hervorzuheben. Vor allem seien die privaten Nachlässe als Quellenmaterial für verwaltungsgeschichtliche Studien genannt. Vielfach können verwaltungsgeschichtliche For­ schungen zu bestimmten Themen nicht ohne Rückgriff auf Korrespon­ denzen und tagebuchartige Aufzeichnungen von Persönlichkeiten an­ gestellt werden, die über ihre eigene Tätigkeit in der Verwaltung, in Regierungsämtern oder in den politischen Parteien, in Verbänden und

43 Einen guten Überblick über die Entwicklung und Arbeit der Parlaments­ archive in Deutschland bietet Max Miller, Über Aufgaben und Ausbau der Parlamentsarchive, in : Der Archivar 20 1967, Sp. 149 ff. 44 Vgl. Kurt Schumann, Parlamentsarchive, in : Der Archivar 15, 1962, Sp. 115 ff. mit Hinweisen auf die Dokumentation der Bundesgesetzgebung, daneben Gerhard Eyckers, Erschließung zeitgeschichtlicher Quellen in Par­ lamentsarchiven, ebd. 24, 1971, Sp. 34 f.

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im Parlament unmittelbar berichten. Gerade diese Quellen ermöglichen nicht zuletzt wichtige Einblicke in die Motivation des Verwaltungshan­ delns, die für die Bewertung der aus den im behördlichen Geschäfts­ gang erwachsenen Unterlagen unentbehrlich sind. Im Bundesarchiv haben sich zum Beispiel gerade in den Nachlässen höherer Verwal­ tungsbeamter, zumal aus den Reichsämtern und -ministerien, oftmals detaillierte Materialsammlungen zu Einzelfragen ihrer behördlichen Tätigkeit erhalten, die als solche sich einer dauernden Aufbewahrung in den Ministerialregistraturen entzogen, aber dennoch an anderer Stel­ le nicht mehr greifbares Material zur Motivation von Einzelentschei­ dungen enthalten, die für j eden historisch arbeitenden Wissenschaftler von großem Gewicht sein können. Als Beispiel sei etwa auf Materialien zu den Haager Konferenzen im Nachlaß von Philipp Zorn oder zur Arbeit der Strafrechtskommission im Nachlaß von Arnold Brecht verwiesen. Nachlässe von Hochschulleh­ rern der Rechtswissenschaften enthalten darüberhinaus häufiger Ma­ terialsammlungen zur Vorbereitung von Gutachten in Verfassungs­ fragen oder zu Verwaltungsrechts-Fällen, die in ihrem Informations­ gehalt parallele Aktenüberlieferungen aus beteiligten staatlichen Be­ hörden übertreffen. Zu denken wäre an die gleichfalls im Bundesar­ chiv verwahrten Nachlässe des Heidelberger Universitätslehrers Wal­ ter Jellinek oder an die privaten Papiere der Staatsrechtler Richard Thoma und Friedrich Giese. Die Nennung dieser wenigen Beispiele birgt für den interessierten Leser die Gefahr der Fehleinschätzung in sich; deshalb sei noch einmal ausdrücklich auf die für Mitte des J ah­ res 1977 zu erwartende Veröffentlichung der 3. Auflage der Über­ sicht über die Bestände des Bundesarchivs hingewiesen, die weit über 500 Nachlässe nennen wird, darunter vor allem auch die zum Teil sehr umfangreichen Papiere aus der Tätigkeit früherer Parlamentarier, Reichskanzler, von Mitgliedern der Reichsregierung und Parteüüh­ rungen. Sie enthalten mehr oder minder wichtige Einzelinformationen über die Einschätzung von Funktionären der Verwaltung, von insti­ tutionellen Entwicklungen und sonstigen Verwaltungsproblemen, die dem Archivbenutzer als zusätzliche Quellen oder zuweilen als erste weiterführende Hinweise dienen können. Nachlässe von Verwaltungsbeamten aller Ebenen und sämtlicher Zweige der öffentlichen Verwaltung einschließlich der Sonderverwal­ tungen finden sich selbstverständlich in allen öffentlichen Archiven. Diese unterhalten z. T. seit dem 19. Jahrhundert eigene Nachlaßsamm­ lungen, die den traditionellen Handschrütenabteilungen der öffent­ lichen Bibliotheken entsprechen. Doch haben nicht zuletzt die staat­ lichen Archive den Erwerb von persönlichen Papieren und privaten Aufzeichnungen von Funktionären der öffentlichen Verwaltung wäh-

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rend des letzten Jahrzehnts systematisiert, so daß die Gefahr der Zer­ streuung und Vernichtung solcher Überlieferungen heute erheblich vermindert ist. Zudem entstand den öffentlichen Archiven und Biblio­ theken beim Nachlaßerwerb während des letzten Jahrzehnts eine nicht zu unterschätzende Konkurrenz in den erwähnten Stütungen der po­ litischen Parteien. Deren Parteiarchive betreiben z. T. unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel den gezielten Erwerb von schriftlichen Nachlässen der Parteüunktionäre und von Parlamentariern, aber auch von Inhabern von staatlichen und Regierungsämtern. Die Idealkonkur­ renz mehrerer an der archivischen Sicherung persönlicher Unterlagen interessierter Institutionen ist keineswegs negativ einzuschätzen, sie trägt dazu bei, die Gefahr einer Zerstreuung dieser wichtigen Quel­ len weiter zu mindern. Es wird jedoch wesentlich von der Genehmi­ gungspraxis der angesprochenen Einrichtungen für wissenschaftliche Benutzungsanliegen in der Zukunft abhängen, ob gelegentliche Zwei­ fel an der freien Zugänglichkeit nachhaltig entkräftet werden können. Im übrigen befinden sich die entsprechenden Standortkataloge sämt­ lich in Neubearbeitung und dürften noch vor Ende dieses Jahrzehnts in erheblich erweiterten Neuauflagen verfügbar werden46. Der Verfasser muß sich bei dieser Gelegenheit versagen, systema­ tisch auf die Bedeutung anderer Quellengattungen wie z. B. auf zeit­ geschichtliche Sammlungen und audiovisuelle Quellenüberlieferungen, vor allem aber auch auf die Bedeutung der archivalischen Bestände in privaten Archiven als potentielle verwaltungsgeschichtliche Quellen hinzuweisen. Allgemein sei an Familien- und Firmenarchive, an Ver­ bandsarchive wie jene der kommunalen Spitzenverbände z. B., aber auch an Pressearchive und an archivische Einrichtungen der öffentlich.­ rechtlichen Rundfunkanstalten erinnert46• Gerade der Beitrag von Ru­ dolf Morsey im Rahmen dieser Forschungstagung ließ die Fruchtbar­ keit des Ansatzes erkennen, kritische Reaktionen der Öffentlichkeit auf einzelne Verwaltungsmaßnahmen in verwaltungsgeschichtliche For­ schungsprojekte einzubeziehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf da­ mit gerechnet werden, daß sich dieser Zweig des verwaltungsgeschicht45 Ludwig Denecke, Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Boppard 1969. Die Neubearbeitung durch Tilo Brandis in der Staatsbibliothek der Stiftung preußischer Kulturbesitz ist weit fortgeschritten. Wolfgang Mommsen, Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Archiven. Boppard 1971. Die von W. Mommsen betreute Vorbereitung der Neuauflage schließt einen Gesamtindex ein. 46 Einen zuverlässigen und vollständigen Überblick über die bestehenden archivischen Einrichtungen bietet das regelmäßig vom Verein deutscher Archivare herausgegebene „Verzeichnis der Archivare an Archiven in der Bundesrepublik Deutschland mit dem Land Berlin, in der Deutschen Demo­ kratischen Republik, der Republik Österreich und der Schweizerischen Eid­ genossenschaft", das z. Z. in der 12. Auflage, Wiesbaden 1975, vorliegt.

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liehen Erkenntnisinteresses in Zukunft noch erweitern wird. Denn auch die bürokratisches Entscheidungshandeln zuständiger Verwaltungsbe­ hörden in der jüngsten Vergangenheit in Frage stellenden Bürgerinitia­ tiven und ähnliche Interessengemeinschaften gehören zu den denkbaren Gegenständen verwaltungsgeschichtlicher Forschungen. Politische Ver­ antwortungsfähigkeit und die Qualität des Selbstverständnisses der öffentlichen Verwaltungen wie ihrer Funktionäre gerät nicht zuletzt im Zeichen solcher Krisensituationen in das Blickfeld verwaltungsbe­ zogener wissenschaftlicher Forschungsvorhaben, wie sie von den Akti­ vitäten der Atomkriegsgegner und der Ostermarschbewegung bis hin zu den Studentenunruhen und j enen der Atomkraftwerksgegner im Ein­ zelfall erzeugt worden sind. Damit gewinnt aber die Frage der Quellen­ sicherung im Bereich von Hörfunk und Fernsehen auch für verwaltungs­ wissenschaftliche Forschungen eine unvermutete Aktualität. Daß sich dabei erhebliche Schwierigkeiten einem freien Zugriff im Rahmen wissenschaftlicher Benutzungen entgegenstellen, sei nur am Rande erwähnt47• Zum Abschluß sei noch einmal ausdrücklich und gleichsam zusam­ menfassend hervorgehoben : alle öffentlichen Archive bieten für ihren j eweiligen Zuständigkeitsbereich, den Archivsprengel, für die Verfas­ sungsorgane, vor allem aber für Regierung und Verwaltung eine na­ hezu ideale Quellenlage und damit theoretisch unbegrenzte For­ schungsmöglichkeiten zur Verwaltungsgeschichte. Dabei ist nicht zu­ letzt in der parallelen, gleichzeitigen Benutzbarkeit von primären schriftlichen Quellen, dem Behördenschriftgut, über die zahlreichen Sondersammlungen zur Verwaltungsorganisation und deren Geschich­ te bis hin zu den Überlieferungen der publizierten amtlichen und nicht­ amtlichen Materialien sowie den privaten Papieren von Politikern und hohen Verwaltungsfunktionären ein nicht leicht zu überschätzender Vorteil zu sehen. Bislang kann trotz eines unverkennbar gestiegenen Interesses noch kaum davon gesprochen werden, daß von diesen Mög­ lichkeiten in vorstellbarem Umfang Gebrauch gemacht werde. Insofern bleibt den Archiven auch weiterhin die Aufgabe, auf die konkreten Forschungsmöglichkeiten in ihrer eigenen Öffentlichkeitsarbeit im­ mer wieder hinzuweisen. Ideal wäre freilich das regelmäßigere Zu­ sammenwirken von auf dem Felde der Verwaltungswissenschaften mit historisch gewandten Fragestellungen und Forschungsprojekten be47 Peter Hillig, Urheberrechtliche Probleme bei der Abgabe und Ver­ wendung von Hörfunk- und Fernsehproduktionen der Rundfunkanstalten für Lehre und Bildungszwecke, in : Der Archivar 24, 1971, Sp. 169 ff. Daneben vgl. die seit 1974 viermal j ährlich erscheinenden Mitteilungen des Studien­ kreises Rundfunk und Geschichte e.V., z. B. 1. Jg. 1974/1975, Heft 4, S. 9 ff. mit einem Bericht über die Forschungstagung „Rundfunkarchive und Wissen­ schaft" am 23. Mai 1975 in Bad Homburg.

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faßten Instituten und den öffentlichen Archiven in der Zukunft, wo­ für diese Tagung in Speyer ein erstes Beispiel liefert. Auch für den Verfasser sind eine Reihe von Quellenbeispielen neu, die das Landesar­ chiv Speyer unter Beachtung der 30-Jahres-Sperrfrist im Rahmen sei­ ner Ausstellung „Verwaltung und Aktenüberlieferung. Beispiele aus der Zeit von 1900 bis 1947" in dieser Hochschule den Tagungsteilneh­ mern zugänglich macht. Eine künftig noch engere Zusammenarbeit könnte mit Sicherheit nicht nur die Quellenbereitstellung und -aufbereitung befruchten, sie böte letztlich auch die Möglichkeit, verwaltungsgeschichtliche For­ schungsaufgaben neu zu formulieren und damit vielleicht auch zu einer denkbaren neuen Zielorientierung in dieser wissenschaftlichen Disziplin beizutragen. Denn wenn auch in den allgemeinen Verwal­ tungswissenschaften sowohl auf der traditionellen Seite der juristisch geschulten Betrachtung als auch vor allem im Rahmen der Sozialwis­ senschaften und hier in besonderem Maße der Politischen Wissen­ schaft während des letzten Jahrzehnts ein deutlicher Aufschwung zu verzeichnen ist, das Studium der historischen Bedingungen der öffent­ lichen Verwaltung und ihrer vielfältigen Einzelprobleme nahm daran bislang nicht immer einen überzeugenden Anteil. Dies aber erscheint gerade im Zeichen einer breiten Diskussion um die noch immer wach­ senden qualitativen Anforderungen an die Leistungsfähigkeit öffent� licher Einrichtungen und nicht zuletzt um die Ziele und Methoden der Reform der öffentlichen Verwaltung wie des öffentlichen Rechts in der Gegenwart unerläßlich.

Aussprache zum Referat von Friedrich P. Kahlenberg In der von Professor Dr. Helmut Quaritsch (Speyer) geleiteten Aus­ sprache stellte Professor Dr. Georg-Christoph von Unruh (Kiel) zu­ nächst ein Mißverständnis richtig: Er habe sich keineswegs gegen eine Erforschung des Behördenaufbaus und seiner Entwicklung gewandt, da man ohne deren Kenntnis Verwaltungsgeschichte gar nicht betreiben könne. Auch in der geplanten „Deutschen Verwaltungsgeschichte" werde die Entwicklung der Behördenorganisation ihrer Bedeutung ent­ sprechend berücksichtigt werden. Schwierigkeiten ganz anderer Art ergäben sich für jüngere Mitarbeiter dadurch, daß sie nicht mehr in der Lage seien, die deutsche Schrift lesen zu können und dadurch Schwierigkeiten für die Archivbenutzung beständen. Professor Dr. Rudolf Morsey (Speyer) wies auf Schwierigkeiten anderer Art hin, die sich bei der Erforschung verwaltungsbezogener Zeitgeschichte ergäben. So stelle sich das Problem der Aktenmassen, aber auch das von Sperrfristen, zumal wenn diese unterschiedlich ge­ handhabt würden. Noch lasse sich nicht absehen, ob bzw. inwieweit die Benutzung des Telefons eine qualitative „Entleerung" der Akten, zu­ mindest in bestimmten Bereichen, zur Folge gehabt habe. Eine unter­ schiedliche Art der Regierungs- und Verwaltungsführung lasse sich etwa an den Beispielen Bismarck, Hitler und Adenauer verdeutlichen. Bismarck wie Adenauer hätten überdies durch Publikation von zahl­ reichen amtlichen Akten in ihren Memoiren die offiziellen Sperrfristen unterlaufen und damit der Forschung frühzeitig wichtige Quellen zur Verfügung gestellt. Daß es auch für personalpolitische Weichenstellungen auf der ober­ sten politischen Ebene Quellenmaterial gäbe, lasse sich an einem neuen Aktenfund verdeutlichen, wonach die koalitionsarithmetische Absprache für die Bildung der ersten Regierung Adenauer nicht erst - wie bis­ her in der Forschung allgemein angenommen - am 21. August 1949 in Rhöndorf erfolgt ist, sondern bereits am Vortage in einem Gespräch zwischen Adenauer und dem bayerischen Ministerpräsidenten Hans Ehard in Frankfurt. Darüber habe ein aus Bayern stammender Beam­ ter der Zweizonenverwaltung in Frankfurt einen Bericht an die baye­ rische Staatskanzlei nach München gegeben und dadurch dem Minister18 Speyer 66

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präsidenten gleichsam die Information seiner eigenen Lenkungsbehörde abgenommen. In Anknüpfung an einleitende Bemerkungen des Referenten griff Universitätsdozent Dr. Wolfgang Hofmann (Berlin) noch einmal die Frage auf: Womit befaßt sich denn eigentlich Verwaltungsgeschichte? Sie habe im 19. Jahrhundert mit der Bindung an Staatsinstitutionen eine klare Aufgabenstellung besessen, sich dann aber durch gewandelte soziale Prozesse verändert. Die Einbeziehung der Verwaltung von Verbänden, Parteien, Konzernen usw. sei unter einem sozialwissen­ schaftlichen Bürokratiebegriff möglich, erfordere aber eine Klärung der Frage nach dem „legitimen und eigentlichen Gegenstand" der Ver­ waltungsgeschichte. In Beantwortung dieser zuletzt gestellten Frage verwies Professor Dr. Friedrich Kahlenberg (Koblenz) darauf, daß zwischen dem „großen Bereich" der öffentlichen Verwaltung und dem der „Verwaltung schlechthin" unterschieden werden müsse. Dieser letztere Bereich werde durch viele andere Träger mit vollzogen, so daß es notwendig sei, das Studium bürokratischer Formen und Organisationen (im Sinne der Organisationssoziologie) ebenso mit einzubeziehen wie Planungs- und Entscheidungshandeln aus betriebswirtschaftlichen Disziplinen. Um von der Verwaltung als einem „Grundphänomen" zu einem „wissenschaft­ lichen Gegenstand" zu kommen, gelte es, alle Entwicklungen mit im Auge zu behalten, sie aber im historischen Blickwinkel vor allen Dingen dort zu erforschen, wo sie bei der Gestaltung und Bewältigung bestimm­ ter Probleme im historischen Verlauf bedeutsam geworden seien. Im Anschluß an die von Professor Morsey erwähnten Aktenfunde (,,Schlüsseldokumente") ergänzte Professor Kahlenberg, daß solche Funde in der Regel das Ergebnis einer möglichst intensiven Archiv­ benutzung darstellten, wie sie nicht nur für die verwaltungsbezogene Zeitgeschichtsforschung wünschenswert sei. Gegenüber Befürchtungen, daß heute durch telefonische Kontakte eine gewisse inhaltliche Verdün­ nung der Aktenüberlieferung eintrete, machte der Referent darauf auf­ merksam, daß ja auch für die frühere oberste Reichsverwaltung durch dauernde unmittelbare gesellschaftliche Kontakte in Berlin die Gele­ genheit des Gesprächs gegeben gewesen sei, deren Debatten kaum in die Akten eindringen, eine ganz ähnliche Situation eingetreten sei. Zum Abschluß kam Professor Dr. Georg-Christoph v on Unruh (Kiel) noch einmal auf die in der Diskussion seines eigenen Referats von Professor König gestellte Frage zurück „Was ist denn nun eigentlich Reform?". Im Anschluß an Gedanken von Herbert Weichmann defi­ nierte er Reform als wesentliche Änderungen in der Struktur des administrativen Gefüges und der administrativen Funktionen, die in

Aussprache

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einem ambivalenten Verhältnis zu staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen ständen, die aus diesem Bereich ausgelöst würden und in diesem Bereich wiederum sichtbare Folgewirkungen zeitigten. Mit einer Reform werde ungeachtet des Weitergehens einer Kontinuitäts­ linie dennoch gleichzeitig eine neue Kontinuitätskette eröffnet. Infolge dessen könnten nur verhältnismäßig wenige Ereignisse als echte Ver­ waltungsreformen bezeichnet werden. Dadurch dürfe aber auf keinen Fall der permanente Prozeß stiller Veränderungen und sich ständig voll­ ziehender Wandlungen übersehen oder gar diskreditiert werden. Zur Reform gehöre aber mehr : Nicht nur die Formulierung und Erfüllung bestimmter neuer Aufgaben, sondern auch deren Durchsetzung, und zwar in einer Weise, daß diejenigen „ die es angeht" , d. h. im weitesten Sinne das Staatsvolk, deren Ergebnisse spürten.

Schlu.&wort des Tagungsleiters Noch unter dem Eindruck der letzten Referate und der gerade abge­ schlossenen Diskussion kann das Schlußwort keine abgewogene Bilanz dieser verwaltungsgeschichtlichen Arbeitstagung bieten. Dazu be­ darf es größeren zeitlichen Abstands und einer Zusammenschau zahl­ loser Einzelergebnisse und Anregungen. Gleichwohl läßt sich schon j etzt feststellen, daß die Zielsetzung dieser Tagung in erfreulichem Maße erreicht worden ist, nämlich - Brückenschläge von der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zur „ allgemeinen" Geschichte vorzunehmen, - den Stellenwert der Verwaltungsgeschichte im Rahmen der Ver­ waltungswissenschaften näher zu bestimmen und - verwaltungsgeschichtliche Aktivitäten zu koordinieren. Es ging nicht darum, Thesen über Aufgaben, Fragestellungen und Nutzen der Verwaltungsgeschichte zu erarbeiten oder gar zu verab­ schieden, sondern deren Möglichkeiten und Grenzen an Beispielen zu demonstrieren. Daß ein derart intensiv geführtes interdisziplinäres Gespräch nicht ohne methodische „ Sprachschwierigkeiten" verlaufen konnte, bedarf keiner Erklärung; dieses Bemühen hat sich j edoch ge­ lohnt. Dafür danke ich nicht zuletzt meinen Speyerer Kollegen - Juristen, Politik- und Verwaltungswissenschaftlern -, die unsere Diskussion mitgetragen und bereichert haben. Diese Arbeitstagung war ein deut­ liches Zeichen für ein spürbar verstärktes Interesse an „moderner Ver­ waltungsgeschichte" - stets einbezogen ihre wirtschafts- und sozial­ geschichtlichen Verflechtungen. Auf dem allgemein begrüßten Wege zu einer „Germania administrativa " , wie sie Friedrich Kahlenberg postu­ liert hat, könnte der Plan eines „Handbuchs der deutschen Verwal­ tungsgeschichte" , über dessen Konzeptionen und Realisierungsmöglich­ keiten wir gesondert diskutiert haben, einen Meilenstein darstellen. Erwähnenswert bleibt, daß in den beiden Tagen von der „Herrschaft der Bürokratie" wenig die Rede gewesen ist und statt dessen um so mehr von deren Verantwortung und Leistung, eingeschlossen Mitver­ antwortung für die Sicherung eines immer stärker eingeengten Frei­ heitsraums für den einzelnen. Das Interesse der Teilnehmer galt weniger dem quantitativen Anwachsen der Verwaltung als vielmehr

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dessen Gründen : die Übertragung immer neuer Aufgaben in einer Ge­ sellschaft, die sich zunehmend an immer neue Formen staatlicher ,,Bedienung" und Lebenshilfen gewöhnt hat. Vielleicht habe ich in meiner Einführung den Akzent zu sehr auf eine übergreifende Fragestellung der Referate, nämlich Kontinuität und Reform, gelegt. Immerhin ist dadurch in den Diskussionen deutlich ge­ worden, daß beide Begriffe schärfer definiert werden müssen und ihr jeweiliger Stellenwert genauer auszumachen ist. Das gleiche gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die in den Sozialwissenschaften üblichen typologisierenden Aussagen, die die jeweilige Relevanz einer Epoche nicht treffen können. Die Frage nach dem „ Nutzen" der Verwaltungsgeschichte wurde gerade auch von Verwaltungspraktikern unter den Teilnehmern positiv beantwortet. So wäre schon viel gewonnen, wenn es gelänge, historische Klischees und Legenden über bestimmte Vorgänge - für die Beispiele genannt worden sind - abzubauen und z. B. Erfolg oder Scheitern von Verwaltungsreformen stärker in ihren jeweiligen zeitgenössischen Be­ dingungen zu beurteilen. Andrerseits hat die Gebietsreform der letzten Jahre offensichtlich entscheidend dazu beigetragen, neues Interesse an der Regional- und Lokalgeschichte zu wecken und in deren Verfolg Be­ dingtheit und Grenzen allzu technokratischer Planung aufzuweisen. Zu verfolgen, wie aus Verwaltung Politik und daraus Geschichte wurde und wird, ist und bleibt ein faszinierender Vorgang. Dessen Klärung weiter zu erforschen, wird durch manche Kontakte und Bekanntschaften dieser Tagung über den eigenen Zunftzaun hinweg erleichtert werden. Damit bleibt mir zum Schluß ein Wort herzlichen Dankes: Zunächst an alle Teilnehmer, vorab an die Referenten ; sodann an die Diskus­ sionsleiter, meine Kollegen aus dem Hause, die sich wie immer bei sol­ chen Anlässen bereitwillig zur Verfügung gestellt und damit eine Tradition unserer Hochschule weitergeführt haben. Schließlich möchte ich dem Rektor für sein Interesse an dieser Tagung und seine Unter­ stützung zu ihrem Zustandekommen danken, ferner denjenigen Mit­ arbeitern, die so selbstverständlich wie unauffällig dazu beigetragen haben, die vielfältigen organisatorischen Voraussetzungen und Bedin­ gungen für das Gelingen einer solchen Tagung zu schaffen. Die Tat­ sache, daß die Regierung des Landes Rheinland-Pfalz, vertreten durch Ministerialdirigent Professor Dr. Waldemar Schreckenberger von der Staatskanzlei in Mainz, für die Teilnehmer einen abendlichen Empfang veranstaltete, sei deswegen mit besonderem Dank vermerkt, weil darin die Würdigung einer Wissenschaftsdisziplin zum Ausdruck kam, die von der Staatsregierung nicht nur nach ihrem unmittelbaren praxis­ bezogenen „Nutzen" beurteilt wird.