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German Pages 256 Year 1999
Die Reform der Verwaltungs gerichtsbarkeit
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 129
Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1997 des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
herausgegeben von
Rainer Pitschas
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit : Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1997 des Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer / hrsg. von Rainer Pitschas. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 129) ISBN 3-428-09765-3
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-09765-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers .............................................................
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Begrüßung durch den Geschäftsführenden Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Univ.-Prof. Dr. Dr. Klaus König .............................................
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Erster Teil: Reformbedarfe der Verwaltungsgerichtsbarkeit Die Reform des Justizsystems der Bundesrepublik Deutschland als Beitrag zur Modernisierung des Rechtsstaates Von Peter Caesar; Mainz ............................................................
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Zur Dauer verwaltungs gerichtlicher Verfahren - zugleich Zwischenbericht über ein Forschungsprojekt Von Detle! Merten unter Mitarbeit von Michael Jung, Speyer . . . . . . . . ... . . .. . . . . . . . . .
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Diskussion zu den Referaten von Peter Caesar und Detle! Merten Bericht von Michael Jung, Speyer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit als "Ökonomisierung" des Rechtsstaates? Verfassungsrechtliche und verwaltungswissenschaftliche Eckwerte der Modemisierungsdiskussion Von Rainer Pitschas, Speyer
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Zweiter Teil: Modernisierung der Gerichtsstrukturen Rationalisierung der Aufbauorganisation und Geschäftsprozesse in der Verwaltungsgerichtsbarkeit am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg Von Wolfgang Hoffmann-Riem, Hamburg .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dezentrale Ressourcensteuerung in der Justiz und Reform der inneren Gerichtsorganisation unter Berücksichtigung der Verwaltungsgerichtsbarkeit am Beispiel der Freien Hansestadt Bremen Von Ulrich Mäurer; Bremen ......................................................... 117
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Inhaltsverzeichnis
Diskussion zu den Referaten von Wolfgang Hoffmann-Riem und Ulrich Mäurer Bericht von Christian Koch, Speyer ................................................. 137 Die Rationalisierung der Büroorganisation und Geschäftsprozesse in der Gerichtsbarkeit aus der Perspektive der Organisationsberatung Von Axel G. Koetz, Düsseldorf ...................................................... 145 Diskussion zum Referat von Axel G. Koetz Bericht von Klaus Grütjen, Speyer .................................................. 159
Dritter Teil: Prozeßrechtsreform im Entwicklungszusammenhang der Modernisierung
Vorstellungen und Erwartungen der Verwaltungsrichter / innen zum künftigen Verwaltungsprozeß und zur internen Rationalisierung der Gerichtsorganisation Von Gabriele Verstegen, Düsseldorf ................................................. 173 Wie geht es weiter mit der Erneuerung der Verwaitungsgerichtsordnung im "schlanken Staat"? - Ungelöste Probleme, politische Gesichtspunkte und verfassungsrechtliche Grenzen künftiger Reformen des Verwaltungsprozeßrechts Von Hans Peter Schmieszek, Bonn .................................................. 185 Diskussion zu den Referaten von Gabriele Verstegen und Hans Peter Schmieszek Bericht von Florine La Roche-Thome, Speyer ....................................... 203 Neuorganisation der Justiz und Verfahrensvereinfachungen im Verwaltungsprozeß Chancen für eine Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Krise öffentlicher Haushalte aus anwaltlicher Sicht Von Gerhard Hofe, Mainz ................. .. .................................... .. .. 211 Diskussion zum Referat von Gerhard Hofe Bericht von Klaus Grütjen, Speyer .... . .... . . . ........ . ........ . . . ........ . ...... . .. 229
Vierter Teil: Erneuerung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik
Anmerkungen über die Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik Von Dusan Hendrych, Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 237
Inhaltsverzeichnis
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Zur Errichtung eines obersten Verwaltungsgerichts: Die Judikatur des Verfassungsgerichts der Tschechischen Republik Von lid Grospie, Prag .............................................................. 245 Verzeichnis der Referenten ..... . . . ................................ . ...... . ............ 255
Vorwort des Herausgebers Die rechtsstaatliehe Verwaltung in Deutschland ist ohne die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht denkbar. Der soziale und demokratische Rechtsstaat bedarf seiner Sicherung durch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle. Art. 19 Abs. 4 GG bringt diesen Zusammenhang in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 GG zum Ausdruck. Die konkrete Ausgestaltung dieser Kontrollfunktion der Verwaltungsrechtsprechung obliegt freilich dem Gesetzgeber; sie ist innerhalb der verfassungsrechtlichen Rahmengebung flexibel. Wie die verwaltungsgerichtliche Prüfung des Verwaltungshandelns des näheren geregelt wird, hängt dabei auch - aber nicht nur von der Rolle des Staates am Ende des 20. Jahrhunderts ab: Die gegenwärtige Staats- und Verwaltungsmodernisierung läßt keinen Zweifel daran, daß sie funktionale Wandlungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Folge haben wird. Diese Veränderungen und die damit verbundenen Probleme waren Gegenstand einer Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, die vom 20. bis 22. Oktober 1997 unter Teilnahme zahlreicher Verwaltungsrichter in Speyer stattfand. Im Verlauf der Tagung wurden die allfälligen Reformbedarfe der Verwaltungsgerichtsbarkeit erörtert und die Vorstellungen und Erwartungen der Richterschaft diskutiert, die sich auf die Entwicklung des Verwaltungsprozeßrechts beziehen. Überdies bildeten die Erfordernisse und Voraussetzungen einer "inneren" Reform durch fortschreitende Rationalisierung der Aufbauorganisation und Geschäftsprozesse in der Verwaltungsgerichtsbarkeit einen weiteren Gegenstand der Verhandlungen. Der gleichzeitig ermöglichte Blick auf die Erneuerung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Tschechischen Republik verdeutlichte den Tagungsteilnehmern, daß die deutschen Reformbemühungen in einen Zusammenhang mit den Rechtsschutzstandards in den anderen Mitgliedstaaten der heutigen und künftigen Europäischen Union gerückt werden müssen. Die auf der Konferenz zu diesen Themenkreisen gehaltenen Referate werden nachfolgend abgedruckt. Bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung haben mir meine wissenschaftliche Mitarbeiterin, Frau Ass. jur. Plorine La Roche-Thome, sowie meine Sekretärin, Frau Gabi Gerhardt, intensiv zur Seite gestanden. Die erste hat darüber hinaus für die Fertigstellung des Gesamtmanuskripts dieses Tagungsbandes gesorgt. Für engagierte und aufschlußreiche Diskussionen, die ebenfalls dokumentiert sind, danke ich den Teilnehmern an der Konferenz herzlich. Überdies erschien ein ausführlicher Bericht aus der Feder meines Habilitanden, Herrn Dr. Christian Koch, in der NVwZ 1998, S. 478 f. Speyer, im Dezember 1998
Rainer Pitschas
Begrüßung durch den Geschäftsführenden Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Universitätsprofessor Dr. Dr. Klaus König Herr Minister, meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Herr Kollege Pitschas, als Geschäftsführender Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung darf ich Sie sehr herzlich in Speyer zu unserer verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1997 zum Thema "Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit" begrüßen. Wir freuen uns, daß dieses Thema ein so breites Interesse gefunden hat, und ich möchte ganz besonders die vielen Richterinnen und Richter in unserer Mitte begrüßen. Für die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und für das Forschungsinstitut, das nun seit über 20 Jahren verselbständigt ist, ist die Verwaltungsgerichtsbarkeit ein alter und bewährter Dialogpartner: in unseren Veranstaltungen, in unseren Forschungsvorhaben und dann in unseren Publikationen. Die rechtsstaatliehe Verwaltung in Deutschland ist eben ohne die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht denkbar. Bereits 1950 erschien als Band 5 der Schriftenreihe der Hochschule eine von Carl Hermann Ule, damals noch Senatspräsident am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, herausgegebene Schrift: "Das Bonner Grundgesetz und die Verwaltungsgerichtsbarkeit". In der Folge sind eine Fülle von Dissertationen, Projekten, Gutachten, Tagungen usw. zu Themen wie ehrenamtliche Richter, Massenverfahren, Verbandsklage, außer- und innergerichtliche Konfliktregelung, Bestandskraftlehre, Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren usw. entstanden. Es gibt aber nicht nur diese sachliche Gemeinsamkeit zwischen Wissenschaft und Praxis. Von Speyer aus bestehen und bestanden vielfältige persönliche Beziehungen zur Verwaltungsgerichtsbarkeit. Nicht nur in der Person von Carl Hermann Ule, der aus der Verwaltungsrichter-Laufbahn kam, sondern auch dadurch, daß eine Reihe Speyerer Professoren Richter im Nebenamt in Staats- und Verwaltungsgerichtshöfen waren und sind. Dazu kann ich aus unserer Runde Herrn Kollegen Merten begrüßen, und auch ich selbst kann darauf hinweisen, daß ich über zehn Jahre Richter im Nebenamt am OVG Koblenz war, eine mich prägende Lebenserfahrung. Und, Herr Minister, wir haben ja auch einen ehemaligen Justizminister in unseren Reihen.
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Begrüßung
Als einen Höhepunkt der Forschungsarbeiten unseres Instituts zur Verwaltungsgerichtsbarkeit darf ich - aber ich muß Sie darauf hinweisen, daß ich wegen eigener Mitarbeit in dieser Sache befangen bin - den Speyerer Entwurf eines Verwaltungsgerichtsgesetzes zur Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und der Sozialgerichtsordnung nennen. Wir waren damals ein Kreis von fünf jüngeren Forschern um Herrn Ule herum. Ich schaue auf dieses Projekt aus dem Ende der 60er Jahre deswegen etwas wehmütig zurück, weil ich jetzt ein Forschungsinstitut zu leiten habe, das schon den schlanken Staat repräsentiert und so rationalisiert ist, daß es eine solche Gruppe - wir waren damals fünf Personen - aus eigenen Mitteln kaum noch zusammenstellen könnte. Was wir durch die Verschlankung vermutlich verloren haben, deutet sich an, wenn ich darauf verweise, was aus den früheren Forschungsmitarbeitern geworden ist: ein Verwaltungsgerichtspräsident, zwei Universitätsprofessoren, ein Oberkreisdirektor und ein Vizepräsident einer internationalen Fernsehanstalt. Das intensive Studium des Prozeßrechts und der Prozeßpraxis hat uns davon überzeugt, daß es sinnvoll sei, ein solches Kodifikat zu entwerfen. Bei allem Respekt vor den Besonderheiten der einzelnen Gerichtszweige schien es uns für den Bürger, ja selbst für die Anwaltschaft, ein gutes Unterfangen, eine solche Rechtsvereinfachung vorzunehmen. Wir hatten dabei eine recht gute Resonanz, vielleicht sogar eine verhältnismäßig breite Unterstützung der Richterschaft. Aber in Bonn hatte sich schon das "Window of opportunity" für ein solches Unternehmen geschlossen, und so ist es bei der Entwurfsarbeit geblieben, ein Entwurf, den ich nach wie vor zur Lektüre empfehle. Wenn wir heute, in Zeiten der Verkleinerung von Parlamenten, der Abschaffung von Verwaltungsbehörden, der Schließung von Fakultäten und Forschungsinstituten, etwas vergleichbares unternehmen wollten, dann müßten wir wohl eine Fusion von Verwaltungsgerichtsbarkeit, Finanzgerichtsbarkeit und Sozialgerichtsbarkeit und die daraus entstehenden Synergieeffekte erforschen. Das Forschungsinstitut hat immer wieder Themen der Verwaltungsgerichtsbarkeit aufgegriffen, und zwar auch implizit, so etwa in den Montesquieu-Forschungen von Herrn Kollegen Merten. Nach unserem Selbstverständnis fand man uns dann auf dem Platz, als der reale Sozialismus in der DDR zusammenbrach und die Vereinigung Deutschlands auf die politische Tagesordnung rückte. Bereits vor Beitritt der neuen Länder zur Bundesrepublik Deutschland fand im Juli 1990 ein erstes deutsch-deutsches Verwaltungsrechtskolloquium über Fragen des Verwaltungsverfahrens- und des Verwaltungsprozeßrechts statt, dessen Ergebnisse als Speyerer Forschungsbericht von Herrn Kollegen Blümel und dem damaligen Jenaer Professor Bernet veröffentlicht worden sind. Man darf nicht vergessen, daß es in den Ländern Ostdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus den Versuch gab, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit im klassischen Sinne aufzubauen. Dies lief allerdings völlig quer zur Ideologie des demokratischen Zentralismus und galt als Bollwerk gegen gesellschaftliche Umwälzungen, wie man sie vorhatte. Nachdem 1952 diese Verwaltungs gerichte de facto liquidiert wurden, wurde spätestens mit der Babelsberger Konferenz 1958, die das Verwaltungsrecht als eigenständigen Rechts-
Begrüßung
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zweig auflöste, der vollständigen und unbeschränkten Herrschaft der marxistischleninistischen Partei Platz gemacht. Die Übernahme der Strukturen der westdeutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit in die neuen Länder war eine essentielle Voraussetzung für die Entwicklung rechtsstaatlicher Verhältnisse, und Speyer hat dazu einen kleinen Beitrag geleistet. Das Speyerer Forschungsinstitut vertritt die deutsche Verwaltungs gerichts barkeit nicht nur in unserer internationalen Kooperation mit dem westlichen Ausland. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist für uns ein wichtiger Gesprächsgegenstand in unserer Beziehung zu den früheren realsozialistischen Ländern geworden, auch über Osteuropa hinaus. Sie ist aber auch ein Thema des Dialogs mit Schwellenländern im Süden. Lassen Sie mich als Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Staatsrat von Thailand nennen. Wir sind in einschlägigen Dialogseminaren durch die Kollegen Siedentopf und Sommermann vertreten. Mitarbeiter des thailändisehen Staatsrates kommen zu Forschungsaufenthalten an unser Institut. Das Beispiel ist deswegen so interessant, weil der thailändische Staatsrat in der Tradition des französischen Conseil d'Etat steht, jetzt aber eine Verwaltungsgerichtsbarkeit nach deutschem Muster durchaus diskutiert wird. Die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit wird für die internationale Diskussion aber nur interessant gehalten werden, wenn sie Bestandteil jener Staatsmodernisierung ist, wie sie für Industrieländer von Neuseeland bis Großbritannien, von USA bis Skandinavien maßgeblich geworden ist. Mein Forschungsinteresse gilt insoweit in erster Linie Regierung und Verwaltung. Ich bin aber immer wieder auf Anstrengungen gestoßen, auch die Gerichtsbarkeit in die aktuellen Rationalisierungsbestrebungen einzubeziehen. Ich habe Materialien gesammelt zum Kostenvergleich, zur Leistungsbewertung, zur Effektuierung bei Gerichten usw., zum Beispiel aus den australischen Erfahrungen. Lassen Sie mich - näherliegend für uns - Erfahrungssätze aus der betriebswirtschaftlichen Rationalisierungspraxis der Schweiz zitieren. Sie lauten: 1. Die Justiz muß einbezogen werden. 2. Die Justiz ist ein schwieriger Sonderfall. 3. Der Sachverstand der Justiz muß berücksichtigt werden: keine Standardlösung. 4. Die Kultur ist sehr wichtig. Inzwischen hat der "Sachverständigenrat Schlanker Staat" seinen Abschlußbericht vorgelegt. Hier finden wir auch einen Teil: Effektive Rechtspflege als Beitrag zum Schlanken Staat. An den Speyerer Qualitätswettbewerben haben sich neben vielen Verwaltungen auch das OLG Karlsruhe und das Sozialgericht Dortmund beteiligt. Herr Kollege Merten führt zusammen mit Michael Jung auf Vorschlag des Bundesministers der Justiz Untersuchungen zur Dauer des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens durch. Er wird dazu heute berichten. Ich bin Herrn Kollegen Pitschas sehr dafür verbunden, daß er auf dieser verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung auch Themen wie die Rationalisierung der Aufbauorganisation, die
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Begrüßung
Restrukturierung des Geschäftsprozesses, die Rationalisierung der Büroorganisation, die dezentrale Ressourcensteuerung usw. erörtern läßt. Ich gehöre auch international zu den Kritikern des New Public Management, nämlich dann, wenn in einer unreflektierten Ökonomisierung nach Marktregeln und einer Managerialisierung nach Unternehmermotivationen das Heil für den Staat gesucht wird. So ist kein Zweifel daran zu lassen, daß die Rechtspflege primär dem Recht zu folgen hat. Aber auch Gerichte brauchen geldwerte Ressourcen, und sie werden entsprechend durch öffentliche Finanzen gesteuert. In der Zeit der Finanzierungskrise des Wohlfahrtsstaates werden auch sie nach Leistungen und Kosten befragt. Freilich geht es nur um das, was ich "sekundäre Effizienzen" nenne: Nämlich Infrastruktur, Arbeitsabläufe, Aufbauorganisation und auch die effiziente Nutzung menschlicher Ressourcen. So wenig wie die Wissenschaft läßt sich die Rechtspflege auf Mechanismen der Geldwirtschaft reduzieren. Aber genau wie über der Wissenschaft leuchtet auch über der Rechtspflege der kalte Stern der Knappheit. Auch der Richter muß - wenn auch an zweiter Stelle - rechnen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche der Tagung einen fruchtbaren Verlauf und Ihnen allen einen angenehmen Aufenthalt in Speyer.
ERSTER TEIL
Reformbedarfe der Verwaltungsgerichtsbarkeit
Die Reform des Justizsystems der Bundesrepublik Deutschland als Beitrag zur Modernisierung des Rechtsstaates Von Peter Caesar
Vor rund 200 Jahren brachte ein Feldherr namens "Napoleon" auf seinem Siegeszug durch Europa die Gedanken der Französischen Revolution auch zu uns nach Deutschland. "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" - diese Worte verkörpern den Geist dieser in jeder Hinsicht bedeutende~ Zeit. Die Ideen der Französischen Revolution veränderten auch das Justizsystem in großen Teilen Deutschlands. Wesentliche rechts staatliche Garantien setzten sich damals durch. Heute sind sie im Grundgesetz geregelt. Etwa die Garantien des gesetzlichen Richters, des rechtlichen Gehörs und der Gleichheit vor dem Gesetz. Es war damals aber nicht nur die Zeit revolutionärer Gedanken. Es war auch die Zeit großer, neuer Kodifikationen. Für das Justizsystem von besonderer Bedeutung war das Gerichtsorganisationsgesetz von 1790. Es wurde bereits ein Jahr nach dem Beginn der Revolution verabschiedet. Das zeigt, daß der Boden für dieses Gesetz von den geistigen Vätern der Revolution gut vorbereitet war. Die Ideen mußten "nur" noch in Gesetzesform gegossen werden. Das Gerichtsorganisationsgesetz kann als "Magna Charta" des gerichtlichen Verfahrens bezeichnet werden. Es ist noch heute das Vorbild der in KontinentalEuropa geltenden Gerichtsverfassungen. Ein Gedanke, der gleich am Anfang des Gesetzes zum Ausdruck gebracht wurde, erscheint mir besonders wichtig: Man ging von einer Gesellschaft gleichberechtigter und freier Bürger aus. Daraus folgte, daß Streitigkeiten zwischen den Bürgern am besten, schnellsten und billigsten ohne staatliche Gerichte aus der Welt geschafft werden sollten. Man ging also davon aus, daß freie Bürger untereinander selbst am ehesten in der Lage wären, den Rechtsfrieden zu sichern. Das damals mit diesem Gedankengut aufgebaute Justizsystem funktionierte. Es bewährte sich so gut, daß es nach der Niederlage Napoleons durch das Königreich Bayern für die Pfalz übernommen wurde. Ein Reformbedarf wurde damals nicht gesehen. 2 Speyer 129
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Peter Caesar
In einem Organisationsgutachten jener Zeit hieß es dazu: "Die französische Justizverwaltung ist ihrer Wesenheit nach sehr gut. Dies beweist schon die allgemeine Achtung, welche alles Volk von ihr hegt. Die französischen Gesetze sind die gewohnten im Lande, sie entsprechen mit einigen wenigen Abänderungen dem Wunsche und den Bedürfnissen des Volkes vollkommen." Vom heutigen Rechtssystem der Bundesrepublik kann man das leider nur sehr eingeschränkt sagen. Die Zahl der Kritiker steigt täglich. Und die Kritik nimmt immer schärfere Züge an. Von "unerträglich langen Verfahren", von "Skandalurteilen" ist immer häufiger die Rede. ,,zu viele Prozesse, zu viele Gesetze, zu wenig Gerechtigkeit" - das sind die Beurteilungen, die man heute in der Öffentlichkeit fast täglich hören und lesen muß - meist noch in mehr oder weniger polemischer Form. Auch wenn diese "Justizschelte" oftmals übertrieben ist, zeigt sie doch einen erheblichen Reformbedarf. Wo die Gesellschaft in weiten Teilen mit ihrem Rechtswesen nicht mehr zufrieden ist, muß etwas geschehen. Eine "Reform des Justizsystems der Bundesrepublik Deutschland" - mein heutiges Thema - muß dazu beitragen, das Vertrauen in Justiz wieder zu festigen, wobei ich mich kaum mit dem Verwaltungsrecht speziell, sondern mit allen Rechtsbereichen befassen werde, speziell auch mit dem Zivilrecht, weil hier die größte Zahl von Verfahren anfällt und es die größte Gerichtsbarkeit betrifft. Der modeme Rechtsstaat stellt die Justiz vor völlig neue Herausforderungen. Das wird durch den Blick auf die Entwicklung in der Bundesrepublik deutlich. Im Gegensatz zu den Kemgedanken der Justizreform vor mehr als 200 Jahren hat sich die Gesellschaft in den letzten 50 Jahren stark verändert. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein enormes Rechts- und Anspruchsdenken. "Das ist mein gutes Recht" wurde zum Leitsatz der Republik. Die Justiz wurde als grenzenlose Ressource angesehen. Auch die Rechtsschutzversicherungen warben mit Sprüchen wie "Wir helfen Dir zu Deinem Recht". Und in einer solchen Atmosphäre wurde es immer schwieriger, Kompromisse zu finden, Streitigkeiten zu schlichten. Das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Streitigkeiten untereinander zu lösen, ging immer mehr verloren. Der Gedanke vom freien Bürger trat immer mehr in den Hintergrund. Die Gerichte mußten entscheiden. Und das nicht nur einmal, sondern zwei- und dreimal- in jeder Sache. Jeder fand das völlig in Ordnung. Auch die Politik gab und gibt hier kein sonderlich gutes Vorbild. Politische Kompromisse zu finden, wird immer schwieriger. Die Interessen werden immer unerbittlicher vertreten. Und immer häufiger war und ist zu hören, das müsse letztlich doch "KarIsruhe" entscheiden - mit der Rechtschreibreform wird es auch so sein -, wie beim Beamten-Dienstrecht oder beim EURO-Beitritt.
Die Refonn des Justizsystems der Bundesrepublik Deutschland
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Diesem Denken entsprechend entwickelten sich auch die Gesetze der Bundesrepublik. Die Einzelfallgerechtigkeit rückte immer mehr in den Vordergrund. Und damit stieg zwangsläufig die Zahl der Gesetze. 1951 bestand der Teil I des Bundesgesetzblattes noch aus 1.000 Seiten. In der Phase intensiver Reformpolitik, zwischen 1974 und 1977, waren es jährlich zwischen 3.200 und 3.900 Seiten. Dabei waren die meisten Gesetzesänderungen, die das Bundesgesetzblatt aufblähten, nichts anderes als Modifikationen, Variationen und Reparaturen eines in Jahrzehnten gewachsenen Rechtssystems. Eines Systems, das dadurch immer komplexer, immer komplizierter, immer unüberschaubarer wurde. Bei der Suche nach höchster Einzelfallgerechtigkeit wurde aus den Augen verloren, daß mehr Gesetze nicht unbedingt zu mehr Gerechtigkeit führen. Sondern daß ein Zuviel an Regelungen Ungerechtigkeiten nach sich zieht - daß Rechtssicherheit vor allem auch Rechtsklarheit heißen muß. Immer mehr Bereiche unseres Lebens wurden verrechtlicht. Neue, bis dahin unbekannte oder nicht wahrgenommene Bereiche kamen hinzu: Datenschutz, Umweltschutz, Gentechnik - neue Gebiete, die mit Hilfe neuer Gesetze erfaßt werden mußten. Und nicht nur der Bund und die Länder erzeugten eine wahre Gesetzesflut. Auch der europäische Gesetzgeber wurde zunehmend aktiv. Das Gemeinschaftsrecht drang und dringt immer tiefer in das deutsche Recht ein. Zu den Bundes- und Landesgesetzen gesellten sich europäische Vorschriften, die es zu beachten galt. Als Folge dieser gesellschaftlichen und gesetzgeberischen Entwicklungen stiegen die Anforderungen an die Justiz. Zahl und Komplexität der Verfahren nahm in allen Bereichen dramatisch zu. So stiegen etwa vom Ende der 50er Jahre bis 1980 die Neueingänge bei den erstinstanzlichen Zivilsachen um 30%. Schneller ging es weiter. Zwischen 1980 und 1986 stieg die Zahl dieser Verfahren nochmals um rund 33 %. Zwischen 1987 und 1991 entspannte sich die Lage kurzfristig. Die erstinstanzlichen Zivilsachen gingen um etwa 7 % zurück. Die Eingänge insgesamt stagnierten aber auf hohem Niveau. Das änderte sich zwischen 1992 und 1995. Es kam wieder zu einer drastischen Erhöhung der Eingänge bei erstinstanzlichen Zivilsachen - um etwa 30%. Bei den Verwaltungsgerichten waren ebenfalls enorme Zuwächse zu verzeichnen. 1986 gingen bei den rhein1and-pfälzischen Verwaltungsgerichten rund 5.500 neue Verfahren ein. 1996 waren es über 9.000 - eine Steigerung um fast zwei Drittel. Da ist das Stichwort "Asylverfahren". Sie belasteten die Verwaltungsgerichte. 1986 wurden in Rheinland-Pfalz noch etwa 800 dieser Verfahren gezählt. 1996 waren es über 7.000. 2*
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Aber - ich sagte es - nicht nur die dramatische Zunahme der Zahl der Verfahren belastete die Justiz. Auch die Anwendung der Gesetze wurde zunehmend schwieriger. Das fein ziselierte materielle Recht machte eine immer umfassendere Prüfung erforderlich. Dazu kam die Flut obergerichtlicher Entscheidungen. Auch bei den Gerichten entwickelte sich die Tendenz, durch ihre Entscheidungen immer mehr Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Damit machte und macht sich die Justiz ein Stück weit auch selbst das Leben schwer. Diesen gestiegenen und noch immer steigenden Anforderungen wurde bis Ende der 70er Jahre versucht, mit mehr Personal zu begegnen. So stieg etwa zwischen dem Ende der 50er Jahre und 1980 die Zahl der Richter an den Amtsgericht und Landgerichten um mehr als 35 %. Die Personalzuwächse hielten aber nicht annähernd mit dem Anstieg der Verfahren mit. Die Schere zwischen Neueingängen und Personal ging immer weiter auseinander. Zwischen 1987 und 1991 etwa hatte jeder Bedienstete der rheinlandpfalzischen Justiz rund 365 Neueingänge im Jahr zu bearbeiten. 1987 kamen auf fast 5000 Mitarbeiter etwa 1,8 Mio Eingänge. 1995 war die Zahl der Mitarbeiter noch fast gleich. Aber die Eingänge waren auf mehr als 2,1 Mio. gestiegen. Das bedeutete jetzt mehr als 400 Eingänge pro Mitarbeiter. Heute ist die Schaffung zusätzlicher Stellen durch die leeren Kassen der öffentlichen Haushalte praktisch ausgeschlossen. Im Gegenteil. Es muß Personal abgebaut werden. Eine Stellenvermehrung bei der Justiz wäre aber auch nicht die Lösung. Sie könnte allenfalls kurzfristig Erleichterung bringen. Denn an Richtern mangelt es uns in Deutschland nicht. Mit mehr als 22.100 Richtern - Stand: Januar 1995 liegt die Bundesrepublik bezogen auf die Einwohnerzahl europaweit an dritter Stelle. Hinter dem kleinen Luxemburg und Griechenland. Bei uns kommen auf einen Richter etwa 3.600 Einwohner. Im Vergleich: Frankreich - etwa 1: 9.200, Großbritannien - etwa 1: 101.000. Die Zahl der Richter ist nicht das Hauptproblern der deutschen Justiz: Im personellen Bereich gibt es mehr Probleme im gehobenen und mittleren Dienst als im richterlichen Bereich. Noch wichtiger sind da schon die veralteten Strukturen. Die Justiz veränderte sich über Jahrzehnte kaum. Ihre Organisation, die internen Arbeitsabläufe blieben überwiegend so, wie sie schon zu Zeiten der Französischen Revolution waren. Während sich die Gesellschaft draußen in hohem Tempo veränderte, blieb die Justiz davon weitgehend unberührt. Sie bildete eine gesellschaftliche Insel, auf der die Zeit stehengeblieben war - eine geschlossene Gesellschaft. Die Veränderungen in anderen Verwaltungen betrafen sie nicht.
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Die Justiz funktionierte einfach. Und sie blieb traditionell bescheiden. Klagen über gestiegene Eingangszahlen gab es zwar schon immer. Sie blieben aber überwiegend ungehört. Man vertraute darauf, daß größere Belastungen durch größeren Einsatz ausgeglichen wurden. Über das Problem der Unabhängigkeit - auch bei der Gestaltung der Arbeitszeiten - will ich hier nicht reden. Und allzu lange galt, die Mühlen der Justiz mahlten möglicherweise etwas langsam, doch zuverlässig. Die Justiz wurde gebraucht, aber nicht gepflegt; erst recht nicht vom Haushalts-Gesetzgeber: Wirtschaft, Forschung, Schulen, Kultur, Umwelt, Polizei - all das schien / scheint viel wichtiger als die Justiz. Die funktioniert halt. Wie und warum sie funktionierte, bereitete niemandem - mit Ausnahme der Justizminister und Justizministerinnen - schlaflose Nächte. Zur Entlastung der Justiz gab es zwar immer wieder Refonnen. Beispiele bilden das Gesetz zur Entlastung der Landgerichte und zur Vereinfachung des gerichtlichen Protokolls vom Dezember 1974; das Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom Dezember 1976 oder das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom Dezember 1990. Mit dem Rechtspflegeentlastungsgesetz von 1993 wurde für die Verwaltungsund Finanzgerichtsbarkeit erstmals die Möglichkeit von Einzelrichterentscheidungen eingeführt. In Asylverfahren, die die Verwaltungsgerichte ganz erheblich belasten, entschied fortan der Regeleinzelrichter. Alle diese Gesetze brachten überwiegend Verbesserungen für die Justiz. Aber der große Wurf bei der Entlastung gelang damit nicht. Das ist auch kaum verwunderlich, denn anders als zur Zeit der Französischen Revolution ist jetzt nicht die Zeit großer Kodifikationen - ich sagte es. Zwar entstehen täglich neue Refonnvorschläge. Alle politisch Verantwortlichen sind sich darüber einig, daß mit der Justiz etwas geschehen muß. Teilweise werden schwer nachvollziehbare Forderungen erhoben, so zum Beispiel, daß ein Gericht die Berufung gegen sein eigenes Urteil selbst zulassen soll, wenn es dieses Urteil für fehlerhaft hält. Solche und ähnliche Forderungen machen den mittlerweile entstandenen Refonndruck deutlich. Die Justiz steht vor dem Kollaps. Sie ist an die Grenze ihrer Belastbarkeit gestoßen. Schon heute ist die Dauer der Verfahren in einigen Bereichen für die Bürgerinnen und Bürger unzumutbar. Und der Zenit ist noch lange nicht erreicht. Im Gegenteil: Die Belastung der Justiz steigt weiter an. Es kommen immer neue Aufgaben hinzu. Das hängt auch damit zusammen, daß die Mehrzahl der Gesetze, die die Justiz belasten, in Bonn und Brüssel gemacht werden. Dort sieht man zwar die statistischen Zahlen. Von den örtlichen Verhältnissen bei den einzelnen Gerichten ist man aber weit entfernt. So lassen sich leicht Gesetze machen, die die Justiz anzuwenden hat. Etwa das Betreuungsgesetz oder das Kindschaftsrefonngesetz. Oder
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nehmen Sie die neue Insolvenzordnung. Sie tritt im Januar 1999 in Kraft. Und sie bedeutet, neben den erforderlichen Sachmitteln, alleine für Rheinland-Pfalz einen Mehrbedarf von rund 100 Stellen. Stellen, die - wie gesagt - derzeit nicht finanziert werden können. Die Anforderungen an die Justiz werden also weiter wachsen. Und sie wird damit immer mehr an den Rand dessen gedrängt, was sie verkraften kann. Das widerspricht der Rolle einer funktionsfähigen Justiz im Rechtsstaat. Die Zivilrechtspflege sichert die privaten Rechte des einzelnen. Der Zivilprozeß entscheidet zwischen Parteien über streitige Rechtspositionen. Mit der freiwilligen Gerichtsbarkeit werden die schutzwürdigen Belange von Hilfebedürftigen gewährleistet. Und die gerichtlich geführten Register - wie etwa das Grundbuch oder das Handelsregister - leisten einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz und Sicherheit im Rechtsverkehr. Gerade die Bedeutung der Zivilrechtspflege reicht aber über die Sphäre des einzelnen Bürgers, der einzelnen Bürgerin hinaus. Ihre Qualität ist ein wesentlicher Faktor im nationalen Wirtschaftsleben - einschließlich der wirtschaftlichen Betätigung des Staates selbst. Sie ist ferner eine wichtige Rahmenbedingung für die Entwicklung internationaler Vertragsbeziehungen und eine wesentliche Grundlage für das Zusammenwachsen in der Europäischen Union. Eine Zivilrechtspflege, auf die man sich verlassen kann, leistet schon mit ihrer Existenz einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung des Rechtsfriedens. Für die Verwaltungsgerichte gilt nichts anc;leres. Sie sichern das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Verwaltungshandeln des Staates. Und sie gewährleisten, daß die Verwaltung die Freiheit des einzelnen nicht weiter einschränkt, als die Gesetze es zulassen. Der Geist der Französischen Revolution - Sie erinnern sich. Nicht zuletzt leisten die Verwaltungsgerichte einen wichtigen Beitrag für den Standort Deutschland. Gerade im Bereich der Planungs- und Genehmigungsverfahren gewinnt die zeitliche Komponente der gerichtlichen Klärung zunehmend an Bedeutung. Wie lange solche Verfahren aber heute dauern können, zeigt das Beispiel der Nachtfluggenehmigung für den Flughafen Hahn. Sie wurde 1992 beantragt, 1994 erlassen und in letzter Instanz durch das Oberverwaltungsgericht 1997 bestätigt. Fünf Jahre also hat es gedauert, dieses Projekt durchzusetzen. Kein Wunder, wenn da mancher die Geduld verliert. Das liegt aber keineswegs nur an den Gerichten, sondern auch an den Prozeßparteien. Dabei wurde dieses Verfahren im Vergleich zu anderen nach Einschätzung von Fachleuten noch besonders zügig abgeschlossen. Das gilt auch für die Bundesautobahn A 60. Schon weniger für Mühlheim-Kärlich. Als ich 1987 mein Amt antrat, war der Streit schon 12 Jahre im Gang. Seit 1975 lief das Klageverfahren. Insgesamt war das Werk zwischen 1986 und 1988 rund 13
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Monate gelaufen, bevor 1988 das endgültige "Aus" kam. Und der Streit ist immer noch nicht am Ende. Wahrscheinlich werde ich das Ende als aktiver Justizminister auch nicht mehr erleben. Aber Unternehmer, die monate- oder gar jahrelang auf gerichtliche Entscheidungen warten müssen, werden in Deutschland kaum noch investieren. Dann gehen sie kurzerhand dorthin, wo es schneller geht, also ins Ausland; nicht nur aus Kostengründen nach Tschechien oder Ungarn, sondern auch nach Frankreich oder England. Und wer seine Rechte nicht mehr vor Gericht durchsetzen kann, wird einen anderen Weg suchen. Wer an den Schutz vor staatlicher Willkür durch das Rechtschutzsystem nicht mehr glaubt, wird nach anderen Mitteln suchen - legalen und illegalen. Private Wachmannschaften - schwarze Sheriffs und Steuerschlupflöcher - das hängt alles eng zusammen. Eine funktionsfähige Justiz ist Voraussetzung für den Erhalt des Rechtsstaats. Und der Rechtsstaat ist einer der wesentlichen Grundpfeiler der Demokratie, die es zu schützen und wahren gilt. Es führt deshalb kein Weg an vernünftigen, rechtsstaatlich vertretbaren Reformen des Justizsystems vorbei. Und die Zeit drängt. Das Ziel ist klar: Die Verwirklichung eines schnellen und damit effektiven Rechtsschutzes. Dieser Grundsatz ergibt sich ja schon aus Art. 19 Abs. 4 unseres Grundgesetzes und er ist auch in der Internationalen Menschenrechtskonvention verankert. Justizentlastung, einfachere und kürzere Verfahren sind also keineswegs etwas Unanständiges. Im Gegenteil: Nur schnelles Recht ist gutes Recht. So klar das Ziel, so umstritten der Weg. Wie soll es aussehen, das Justizsystem für das nächste Jahrtausend? Welche Reformen brauchen wir? Ich würde Ihnen heute gerne ein Konzept für eine große, umfassende Reform des Justizsystems vorlegen. Mit dem alle Probleme der Justiz gelöst werden können. Aber ein Politiker ist nicht nur zum Optimismus verpflichtet. Er muß vor allem auch Realist sein, und er muß sich in erster Linie fragen, welche Forderungen tatsächlich durchgesetzt werden können. Und alle Vorschläge waren schon mal da - Neues kann ich Ihnen nicht bieten. Aber - salopp gesagt - das macht nichts: Denn eine große Justizreform ist eh nicht zu erwarten. Große Gedanken - wenn es sie denn gibt - lassen sich politisch derzeit nicht umsetzen. Das hat das Scheitern der großen Steuerreform vor zwei Wochen leider sehr deutlich gezeigt. Es wurde deutlich, daß selbst dringend notwendige grundlegende Reformen in Deutschland zur Zeit nicht die erforderlichen politischen Mehrheiten finden. Die
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herrschenden Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat, die Konfliktlinie zwischen Bund und Ländern, der schon begonnene Wahlkampf für die Bundestagswahl im nächsten Jahr - all' das macht Reformen so gut wie unmöglich. Hinzu kommt, daß große Reformen meist mit großen finanziellen Anstrengungen verbunden sind. Beispiel: Die Einführung eines dreigliedrigen Gerichtsaufbaus in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Die Umwandlung in ein solches System würde bundesweit zwischen 2 und 4 Milliarden D-Mark kosten. Damit ist dieses Vorhaben zur Zeit unfinanzierbar - aber man sollte es meines Erachtens mittel- oder langfristig anvisieren. Meine Damen und Herren, wir müssen uns deshalb auf eine Politik der kleinen Schritte beschränken. Wir müssen mit einer Vielzahl kleiner Reformen und Veränderungen an vielen Stellen ansetzen. Wir müssen überkommene Denkweisen, veraltete Verhaltensmuster ablegen - auch viele alte Zöpfe abschneiden. Und zu allem "Nein" zu sagen, hilft nicht. Das beginnt mit einem geänderten Rechtsbewußtsein. Wir alle müssen uns wieder mehr auf die freiheitlichen Ideen der Französischen Revolution besinnen. Vor allem darauf, daß freie Bürgerinnen und Bürger kleinere Streitigkeiten vorrangig unter sich regeln können. Wo das nicht gelingt, muß nicht sofort ein Gericht eingeschaltet werden. Oft hilft schon ein neutraler Dritter. Auch wenn er nicht mit Entscheidungsmacht ausgestattet ist. Der Gedanke vom "Schlichten statt Richten" muß wieder in den Vordergrund treten. Seit Jahren werben wir in Rheinland-Pfalz durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit für die außergerichtliche Streitschlichtung. In Broschüren und Presseerklärungen weisen wir immer wieder darauf hin, daß die Beilegung von Konflikten ohne gerichtliche Hilfe für die Beteiligten einfacher, schneller, weniger belastend und vor allem kostengünstiger ist. Leider ist der Erfolg bisher minimal. Im vergangenen Jahr wurden die rheinland-pfälzischen Schiedspersonen in ganzen 163 Zivilstreitigkeiten in Anspruch genommen. Zwar stieg die Zahl der Fälle seit 1990 - damals waren es gerade 72 - kontinuierlich an. Es ist wahrlich nur der berühmte "Tropfen auf den heißen Stein". Und der Gang zu einer der 331 Schiedspersonen unseres Landes ist damit immer noch die absolute Ausnahme. In den anderen Bundesländern sieht es nicht besser aus. Das hängt sicher auch ein Stück mit der deutschen Mentalität zusammen. Wir haben es gerne schriftlich, mit Brief und Siegel und von einer offiziellen Stelle. Dem muß Rechnung getragen werden. Deshalb brauchen wir ein gesetzlich geregeltes vorgerichtliches Schlichtungsverfahren. So wie das in dem Entwurf des Gesetzes zur Vereinfachung des zivilgerichtlichen Verfahrens und des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit vorgesehen ist. Das wird ja vermutlich noch vor der Bundestagswahl kommen.
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In Verfahren mit einem Streitwert bis zu 1.000 DM und in Nachbarstreitigkeiten können dann die Länder eine Klage von der vorherigen Durchführung eines Schlichtungsversuchs abhängig machen. Wir wollen das in Rheinland-Pfalz einführen, die meisten anderen Bundesländer wohl auch. Selbst wenn es nur in einem Bruchteil dieser Fälle zu einer außergerichtlichen Einigung zwischen den Parteien kommt, könnte eine erheblicher Entlastungseffekt eintreten. Bei den 78.872 im vergangenen Jahr vor den rheinland-pfälzischen Amtsgerichten geführten Zivilverfahren ging es in über 25.000 Fällen - das ist fast ein Drittel - um Streitwerte bis 1.000 DM. Dabei sind noch nicht alle Nachbarstreitigkeiten erfaßt. Rund ein Drittel aller Zivilverfahren vor den Amtsgerichten müßten also zuvor das Schlichtungsverfahren durchlaufen. Jeweils mit der Möglichkeit außergerichtlicher Erledigung. Bei den Verwaltungsgerichten gibt es einen ähnlichen Mechanismus bereits seit langem: das Widerspruchsverfahren. Mit diesem Verfahren wird nicht nur die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns überprüft. Es wird auch die Verwaltung veranlaßt, sich noch einmal mit der Zweckmäßigkeit ihres Tuns zu beschäftigen. Das Widerspruchsverfahren geht so über das hinaus, was ein Gerichtsverfahren regelmäßig zu leisten vennag. Mit den unabhängigen Rechts- und Widerspruchsausschüssen haben wir in Rheinland-Pfalz gute Erfahrungen gemacht. Diesen Ausschüssen gelingt es sehr oft, einen sachgerechten Interessenausgleich zwischen Behörden und Bürgern herbeizuführen. In vielen Fällen, in denen der Verwaltung ein Ermessen zusteht, führt die gemeinsame Erörterung zur Versachlichung der Auseinandersetzung und zu einer gütlichen Regelung. So gelangten im Jahr 1982 - neuere Zahlen gibt es nicht - durchschnittlich nur rund 11 % der Widerspruchs sachen in das Klageverfahren. Fast 90 % der Streitigkeiten konnten also im Vorverfahren erledigt werden. Und dieser Trend hält, auch wenn es keine Statistik mehr darüber gibt, noch heute an. Im Bereich der Streitverhinderung und vorgerichtlichen Streitschlichtung kann uns das Verwaltungsverfahren also Vorbild sein. Wenn in der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch nur annähernd solche Quoten erzielt würden, wäre das ein wichtiger erster Schritt zur Entlastung der Justiz. Aber eben nur ein erster Schritt. Parallel dazu müssen die gerichtlichen Verfahren noch weiter gestrafft werden. Bisher nur zaghaft aufgegriffene Vereinfachungsmöglichkeiten müssen energisch umgesetzt werden. Besonders wichtig sind mir in diesem Zusammenhang vier Bereiche: Stärkung des Einzelrichterprinzips, eine Tatsacheninstanz als Regelfall, eine Umgestaltung der Rechtsmittelinstanzen und veränderte Organisationsstrukturen. Das sind vier tragende Pfeiler für die Zukunft. Veränderungen im materiellen Recht lasse ich hier einmal außen vor.
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Im einzelnen: Das personalaufwendige Kollegialgericht darf nur noch dort eingesetzt werden, wo es aus Sachgründen zwingend erforderlich ist. Bei schweren Strafsachen, bestimmten schwierigen Zivilsachen mit höheren Streitwerten. Im übrigen muß künftig der Einzelrichter entscheiden. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet nicht, daß etwa in erstinstanzlichen Zivilsachen beim Landgericht grundsätzlich drei Berufsrichter entscheiden müssen. Es gebietet auch nicht, daß eine Kammer darüber entscheiden muß, ob sie die Sache einem Einzelrichter übertragen will oder nicht. Unser derzeitiges System ist in diesem Bereich nicht stimmig. Wenn sich beispielsweise ein Arbeitnehmer gegen die Kündigung seines Arbeitsplatzes wehren muß, hat er es nur mit einem Berufsrichter zu tun. Obwohl es für die meisten dabei um ihre Existenz geht. Wenn aber beim Kauf eines gebrauchten PKW für 10.001,- DM jemand übers Ohr gehauen wurde, sind grundsätzlich drei Berufsrichter zuständig. Dieses Mißverhältnis ist ganz sicher so nicht rechts staatlich geboten. Deshalb sollte im Zivilverfahren auf zwei Wegen versucht werden, das Einzelrichterprinzip zu stärken. Zum einen muß die Zuständigkeit der Amtsgerichte bis zu 20.000,- DM ausgedehnt werden. Das hört sich harmlos an, ist aber ein tiefgreifender Eingriff - mit einem enormen Entlastungseffekt. Dadurch würden jährlich fast 200.000 Verfahren von den Landgerichten auf die Amtsgerichte übergehen. Also von grundsätzlich drei auf einen Richter. Für die Berufung in diesen Verfahren wäre dann nicht mehr das Oberlandesgericht, sondern das Landgericht zuständig. Also wieder ein Entlastungseffekt. Zum anderen muß beim Landgericht in Zivilsachen der Einzelrichter originär zuständig werden. Nur in den Fällen, in denen die Sache von grundsätzlicher Bedeutung oder besonders schwierig ist, soll eine Kammer entscheiden. Wir müssen weg von dem Irrglauben, die Kammer sei dem Einzelrichter grundsätzlich überlegen. Das Bundesjustizministerium hat hierzu eine rechtstatsächliche Untersuchung durchführen lassen. Mit dem Ergebnis: Die Berufungsquote und der Berufungserfolg weisen zwischen Kammer und Einzelrichter keine nennenswerten Unterschiede auf. Die Vergleichsquote ist beim Einzelrichter sogar höher. Auch der Mehrzahl der Anwälte kommt es nicht darauf an, ob eine Kammer oder der Einzelrichter entscheidet. Durch einen verstärkten Einze1richtereinsatz bricht also keineswegs der Rechtsstaat zusammen. Im Gegenteil: Er wird gestärkt, weil die Justiz wieder ein Stück handlungsfähiger wird. Und damit auch schneller. Diesem Ziel dient auch mein zweiter Ansatz. Es darf künftig nur noch eine Tatsacheninstanz geben. Derzeit haben wir in Zivilsachen durchgängig zwei. Gleiches gilt für kleine und mittlere Strafsachen. Auch in diesem Punkt gebietet das
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Rechtsstaatsprinzip nicht, daß ein und dieselbe Sache mehrmals verhandelt wird, die Tatsachen mehrmals festgestellt werden. Die Bonner Politik fängt an, darüber nachzudenken. Der Sachverständigenrat "Schlanker Staat" empfiehlt es. Wie unstimmig auch hier das System ist, zeigt im strafrechtlichen Bereich das Verhältnis zwischen Schöffengericht und Kleiner Strafkammer. Gegen ein Urteil des Schöffengerichts - besetzt mit einem Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern - ist das Rechtsmittel der Berufung eröffnet. Über dieses Rechtsmittel entscheidet die Kleine Strafkammer - besetzt mit einem Berufs- und zwei ehrenamtlichen Richtern. Dort werden die Beweise noch einmal erhoben, also Zeugen gehört, Urkunden verlesen und Sachverständige vernommen. Warum das Berufungsgericht hier besser entscheiden soll als die erste Instanz, ist nicht nachvollziehbar. Das gilt auch für den dritten Punkt: das Rechtsmittelsystem. Auch dazu das Beispiel Strafrecht. Gegen das Urteil eines Schwurgerichts, das etwa auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt hat, ist nur die Revision zum Bundesgerichtshof zulässig. Wer aber wegen Diebstahls zu 15 Tagessätzen verurteilt wurde, kann dagegen zunächst Berufung und dann noch Revision einlegen. Wir müssen Rechtsmittel zukünftig auf das unumgänglich notwendige Maß beschränken. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt einen Rechtsstaat und keinen Rechtsmittelstaat. Da zeigt sich ein weiterer Irrglaube: daß nämlich mehr Instanzen auch mehr Gerechtigkeit bedeuten. Die Umgestaltung der Rechtsmittelinstanzen könnte wie folgt aussehen: Die erste Instanz als - einzige - Tatsacheninstanz, die Berufung als Rechtskontrolle zur Herstellung der Gerechtigkeit im Einzelfall. Die ist nötig, denn natürlich gibt es Fehlurteile, zweifelhafte Beurteilungen. Schließlich die Revision für Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, damit die Einheitlichkeit der Rechtsordnung gewahrt bleibt. Bei einer Umwandlung der Berufung in eine Rechtskontrollinstanz würde die zweite Tatsacheninstanz vollständig abgeschafft. Das Berufungsgericht könnte die Erstentscheidung nur auf die Verletzung materiellen Rechts und des Verfahrensrechts überprüfen. Es wäre jedoch an die rechtsfehlerfrei getroffenen Tatsachenfeststellungen gebunden. Neues Vorbringen könnte nicht mehr berücksichtigt werden. War eine Partei zu einem früheren Vortrag ohne Verschulden nicht imstande, könnte entweder eine Zurückverweisung an die Vorinstanz erfolgen. Oder es könnte das Berufungsgericht eine ergänzende Tatsachenfeststellung durchführen. Gleiches könnte für den Fall vorgesehen werden, daß das Erstgericht fehlerhaft Tatsachen nicht ermittelt hat. In jedem Fall würde eine erneute Tatsachenfeststellung unterbleiben. Damit wäre den Parteien die Möglichkeit genommen, die erste Instanz nur als Durchlaufstation zur Berufung zu benutzen. Der Sachverhalt müßte so in einer Instanz voll-
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ständig vorgetragen und festgestellt werden. Das bedeutet mehr Vortrag der Parteien, aber ein schnelleres Ende des Prozesses. Für besonders wichtig halte ich im Rechtsmittelbereich die umfassende Einführung von Annahmeberufungen. Ersichtlich unbegründete Berufungen müssen zukünftig ohne mündliche Verhandlung durch einstimmigen Beschluß abgelehnt werden können. Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurde das - bekanntlich schon umgesetzt. Dort muß das Oberverwaltungsgericht seit Januar diesen Jahres die Berufung zulassen, wenn etwa die Rechtssache besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufweist oder ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen. Die Zulassungsberufung hat sich im Asylverfahrensrecht bereits bestens bewährt. Sie wird jetzt auch zu einer erheblichen Entlastung der Oberverwaltungsgerichte beitragen. Schließlich zu meinem vierten und letzten Punkt. Er betrifft die Organisationsstrukturen innerhalb der Justiz selbst. Hier sind in erster Linie die Länder gefordert. Aber eine interne Neuorganisation der Gerichte kostet Geld. Auch das geht deshalb leider nur schrittweise. Daß die Organisation unserer Justiz veraltet ist, habe ich bereits gesagt. Eine Modernisierung kann hier erhebliche Kapazitäten freisetzen. Die Aufteilung in viele verschiedene, kleinere Arbeitsgänge muß beseitigt werden. Wir müssen die Arbeit an einem Verfahren auf wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konzentrieren. Und: Die Möglichkeiten der modemen EDV-Technik müssen genutzt werden. Die Verwaltungsgerichte des Landes und auch die übrigen Fachgerichtsbarkeiten sind bereits mit EDV ausgestattet. Wenn die Arbeiten so weiterlaufen wie bisher, wird das bei den Justizbehörden bis zum Ende des Jahres 1999 flächendeckend der Fall sein. Damit entfällt ein großer Teil personal- und zeitaufwendiger Aktentransporte. Es entstehen wesentlich interessantere - weil abwechslungsreichere - Arbeitsplätze. Und das wiederum erhöht die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wer am Ende seiner Arbeit auch das konkrete Ergebnis sieht, geht wesentlich engagierter an's Werk. Deshalb haben wir für Rheinland-Pfalz - als eines der ersten Bundesländer beschlossen, Serviceeinheiten flächendeckend einzuführen. Nach und nach sind wir jetzt dabei, die Gerichte und Staatsanwaltschaften neu zu organisieren. Trotz einiger Schwierigkeiten kommen wir gut voran. Und eines fällt dabei besonders auf: Die Reform wird teilweise zum Selbstläufer. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begnügen sich nicht mit den vorgegebenen neuen Arbeitsabläufen. Sie entwickeln eigene Ideen und weitere Vorschläge. Und genau das ist einer der Vorteile der Serviceeinheiten. Jede Organisation läßt sich bekanntlich weiter verbessern. Und dabei sind Vorschläge derer, die die
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Theorie in die Praxis umsetzen, sehr wichtig. Neue Gedanken, neue Ideen - kurz: Innovation ist immer wieder gefragt. Nur wenn wir die Organisation ständig optimieren, werden wir den wachsenden Aufgaben gerecht. Und zwar ohne Abstriche für den Rechtsschutz der Bürger. Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten der Reform des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im Januar diesen Jahres wurden schon einige der von mir angesprochenen Möglichkeiten umgesetzt. Auch die Neuorganisation ist landesweit bereits abgeschlossen. Die Verwaltungsgerichte müssen jetzt erst einmal Erfahrungen mit den neuen Organisationsformen und mit den neuen Vorschriften sammeln. Damit ist aber auch hier die Suche nach Verbesserungen, vor allem nach Verfahrensvereinfachungen, nicht abgeschlossen. Welche Reformschritte sich aber auch immer durchsetzen lassen. Sie sind immer nur dann erfolgreich, wenn sie angenommen und umgesetzt werden. Das vorgerichtliche Schlichtungsverfahren etwa wird nur zu einer Entlastung der Justiz führen, wenn sich das Rechtsbewußtsein ändert. Andernfalls verkommt es zu einer reinen Durchlaufstation. Die Parteien müssen bereit sein, sich zu einigen, auch ohne daß ein staatliches Machtwort gesprochen wird. Die Justiz muß die ihr zur Verfügung gestellten Möglichkeiten nutzen. Das gilt für den organisatorischen Bereich genauso wie für das Verfahrensrecht. Das ist nicht immer unproblematisch. Ich denke etwa an das schon lange bestehende strafrechtliche Adhäsionsverfahren. Die Möglichkeit, über Schadensersatzansprüche schon im Strafprozeß mitzuentscheiden, wird in der Praxis kaum genutzt. Modellvorhaben ändern aber nichts. Eine Reform auf dem Papier nützt also wenig, wenn sie sich in der Praxis nicht durchsetzt. Was wir insgesamt brauchen, ist ein verändertes Justizverständnis. Sowohl bei den rechtsuchenden Bürgerinnen und Bürgern als auch bei den das Recht anwendenden Richterinnen und Richtern. Die Justiz kann nicht für umfassende Gerechtigkeit in jedem Einzelfall sorgen. Sie kann nicht menschliche Probleme lösen. Und ein Mehr an Justiz führt nicht zu einem Mehr an Gerechtigkeit. Der größte Fehler wäre, den Rechtsstaat mit einem Rechtswegestaat gleichzusetzen. Wir müssen vielmehr darauf achten, daß wir den Rechtsstaat nicht so hoch hängen, daß keiner mehr herankommt. Mit einem derart geänderten Verständnis von den Aufgaben der Justiz können wir auch zukünftig die Anforderungen des modemen Rechtsstaats meistem. Das Justizsystem kann dann auch seinen Beitrag zur Modernisierung des Rechtsstaates leisten.
Zur Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren - zugleich Zwischenbericht über ein Forschungsprojekt Von Detlef Merten unter Mitarbeit von Michael Jung
I. Einleitung
Das Unbehagen über die lange Dauer der Prozesse ist althergebracht. Bereits der Große Kurfürst ennahnte seinen "Sohn und zukunftigen Successor" im Politischen Testament von 1667', "das die processen beschleuniget, vndt nicht aufgehalten werden mogen, den das befestiget die Stülle der Regentten." "Prompte Justiz" als Reaktion auf Prozeßdauer und Prozeßverzögerung war ein Hauptanliegen brandenburg-preußischer Bemühungen um eine Justizrefonn im 18. Jahrhundert. 2 Insbesondere Friedrich der Große wandte sich mit Nachdruck und Härte gegen "lange Fonnalitäten und Verschleppungen", damit "den Menschen kein Unrecht geschieht".3 Die Zustände am Reichskammergericht in Wetzlar sind einer breiteren Öffentlichkeit durch Goethes Schilderung4 vertraut, die insoweit "Wahrheit" und nicht "Dichtung" ist: "Ein ungeheurer Wust von Akten lag aufgeschwollen und wuchs jährlich, da die 17 Assessoren nicht einmal imstande waren, das Laufende wegzuarbeiten. 20.000 Prozesse hatten sich aufgehäuft, jährlich konnten 60 abgetan werden, und das Doppelte kam hinzu." Nur außergewöhnliche Umstände führen offenbar zur Verfahrensbeschleunigung. So konnte im Ersten Weltkrieg infolge kriegsbedingter Maßnahmen am Preußischen Oberverwaltungsgericht eine "erhebliche Zahl von Verwaltungsstreitsachen '" schnell und gut" beendet werden. 5 Da das Heil aber schwerlich in äußeren oder inneren Notsituationen zu suchen ist, bedarf es anderer Remeduren, um zu einer angemessenen Dauer verwaltungs gerichtlicher Verfahren zu gelangen. 1 Abgedruckt in Richard Dietrich (Hg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern, 1986, S. 179 (185); hierzu auch Merten, Die Justiz in den Politischen Testamenten brandenburg-preußischer Souveräne, in: Staat und Parteien, Festschrift für Rudolf Morsey, 1992, S. 13 ff. 2 Hierzu Merten (FN 1), S. 29 ff. 3 Acta Borussica, Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, Behördenorganisation, Bd. XVI, I, 1970, Entscheidung vom 11. 9.1774, Nr. 120, S. 132. 4 Dichtung und Wahrheit, III, 12 in: Werke (Hamburger Ausgabe) Bd. 9, S. 530. 5 So Schultzenstein, Der Krieg und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, DJZ 1915, Sp. 481 (482).
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11. Verfassungsrechtliche Ausgangssituation
Das Stichwort "Rechtsstaatsadäquanz" skizziert die verfassungsrechtliche Ausgangssituation. Grundgesetzliche Rechtsstaatlichkeit schließt rechtsstaatliehe Wirksamkeit ein. So ist für den in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Gerichtsschutz "Effektivität" zur Standardformel des Bundesverfassungsgerichts geworden. 6 Effektivität hat nun auch eine zeitliche Dimension, weshalb wirksamer oder effektiver Rechtsschutz zugleich Rechtsschutz innerhalb angemessener oder "rechter" Zeit bedeutet. 7 Daher betonen die jüngeren Verfassungen Brandenburgs (Art. 52 Abs. 4) und Sachsens (Art. 78 Abs. 3) das Recht auf ein "zügiges" gerichtliches Verfahren, wie auch die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 in Art. 6 Abs. 1 statuiert, jedermann könne beanspruchen, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb angemessener Frist ("within a reasonable time") gehört werde. Die Forderungen nach einem zügigen Verfahren beruhen auf der Erkenntnis, daß der auch im Rechtsstaat erforderliche "Kampf ums Recht" vergeblich ist, wenn ein Sieg vor Gericht wegen Zeitablaufs oder veränderter Verhältnisse zum Pyrrhussieg wird. Da Art. 19 Abs. 4 GG irreparable Entscheidungen der Exekutive möglichst ausschließen soll, 8 muß er auch davor schützen, daß eine Situation durch Zeitablauf faktisch unumkehrbar wird. Wenn das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz durch eine überlange Verfahrensdauer behindert wird, so ist diese Rechtsschutzbehinderung eine Form der Rechtsschutzverweigerung und damit der Rechtsschutzbeschränkung. 9 Da Art. 19 Abs. 4 GG über keinen Schrankenvorbehalt verfügt, stellen beschränkungsgleiche Grundrechtsbeeinträchtigungen ver6 Vgl. BVerfCE 35, 263 (274); 39, 382 (401); 40, 272 (275 unten); 41, 23 (26); 51, 268 (284); 60, 253 (269); 67, 43 (58); 77, 275 (284); 80, 103 (107); 84, 34 (49); 84, 59 (78); 85, 337 (345); 88, 118 (123 f.); 93, 99 (107); 96, 27 (39); siehe auch E 37, 150 (153); 54, 277 (291); 57, 9 (22); 61, 82 (111); 97, 298 (315); Hans-Jürgen Papier; Rechtsschutzgarantie gegen die öffentliche Gewalt, in: Isenseel Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 154 RN 12; Dieter Larenz, Der grundrechtliche Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, AöR 105, 1980, S. 623 ff.; Edzard Schmidt-Jortzig, Effektiver Rechtsschutz als Kernstück des Rechtsstaatsprinzips nach dem Grundgesetz, NJW 1994, S. 2569ff.; zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes im Rahmen des Europäischen Gemeinschaftsrechts EuCH, Vrt. vorn 15.5.1986, Rs 222/84 (Johnston), Slg. 1986, 1651; Vrt. vorn 15. 10. 1987, Rs 222/86 (Heylens), Slg. 1987,4097; Gil Carlos Rodrfguez Iglesias, Zu den Grenzen der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedsstaaten bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 1997, S. 289 (290 sub 3). 7 BVerfCE 40, 237 (257); 55, 349 (369), 60, 259 (269); auch 63, 45 (68 f.); ferner Paul Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Dauer von Verfahren und Rechtserkenntnissen, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, 1995, S. 109 (121 f.) mit weiteren Nachweisen. 8 BVerfCE 35, 263 (274); 39, 382 (401 f.); 51, 268 (284); 53, 30 (68); 69, 220 (227); BVerfC (Kammer) NVwZ 1996, S. 58 (59). 9 Hierzu auch Jan Ziekow, Vrteilsanmerkung, JZ 1998, S. 947ff.; ders., Die Beschleunigungsbeschwerde im Verwaltungsprozeß, DÖV 1998, S. 941 ff.
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fassungswidrige Grundrechtsverletzungen dar. Zugleich gebietet der rechtsstaatliche Grundsatz der Rechtssicherheit eine Klärung strittiger Rechtsverhältnisse in einem adäquaten Zeitraum. 10 Wann eine lange Verfahrensdauer zu einer überlangen und der hierin liegende Grundrechtseingriff zu einem Grundrechtsübergriff wird, läßt sich zeitlich nicht exakt bestimmen. Allerdings kann es nicht darauf ankommen, ob ein Spruchkörper stark überlastet und insofern eine Verfahrensdauer nicht "ungewöhnlich" ist. II Im Lichte der grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantie ist nicht die übliche oder gewöhnliche Verfahrensdauer, sondern allein der rechtsstaatlich angemessene Zeitraum entscheidend. 12 Dabei sind die Umstände der Sache, insbesondere Umfang, Bedeutung und Schwierigkeit, sowie das Verhalten der betroffenen Parteien und Behörden zu berücksichtigen. 13 Letztlich sind Aussagen über eine unangemessene und unzumutbare Dauer leichter zu treffen als über das zeitlich Angemessene und Zumutbare, wie auch im Rahmen des Übermaß verbots eine Einigung eher über die Unverhältnismäßigkeit als über die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme zu erzielen ist. Sicherlich ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen, daß es mit dem verfassungsrechtlich garantierten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz nicht mehr vereinbar ist, wenn in einem Streit um das Sorge- und Umgangsrecht nach "mehr als sechseinhalb Jahren noch nicht einmal die Grundlagen für eine erstinstanzliche Entscheidung geschaffen wurden.,,14 Dabei ist es allerdings nicht ohne forensische Pikanterie, daß das Bundesverfassungsgericht seinerseits vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte l5 wegen überlanger, nämlich mehr als siebenjähriger Dauer eines Verfassungsprozesses gerügt wurde. Daß es sich um keine einmalige Ausnahme in der deutschen Gerichtsbarkeit handelt, verdeutlicht Sendlers Hinweis, das Bundesverwaltungsgericht habe 1988 über eine dreizehn Jahre alte abfallrechtliche Verfügung verhandelt und in einem anderen Fall ein Urteil über eine ebenfalls dreizehn Jahre zurückliegende Genehmigung eines Hubschrauberlandeplatzes erlassen und dabei auch noch in die Vorinstanz zurückverwiesen. 16 BVerfGE 88, 118 (124). So jedoch BVerfGE 55, 349 (369). 12 Vgl. BVerfGE 60, 253 (269); 88, 118 (124); BVerfG (Kammer) NJW 1997, S. 281I (2812); zur überlangen Dauer eines Strafverfahrens BVerfG (Kammer) NJW 1995, S. 1277 Nr. 2 mit weiteren Nachweisen. 13 Vgl. EGMR, Vrt. vorn 16.9. 1996 (Süßmann .1. Deutschland), EuGRZ 1996, S. 514 (519). 14 BVerfG (Kammer) v. 6. 5.1997, NJW 1997, S. 2811 (2812). 15 Vrt. vorn I. 7.1997, Nr. 125/1996/744/943 (Probstmeier ./. Deutschland), EuGRZ 1997, S. 405 = NJW 1997, S. 2809; ebenso Vrt. vorn I. 7. 1997, Nr. 48/1996/667/853 (Pammel .I. Deutschland), EuGRZ 1997, S. 310. 16 Horst SendZer; 125 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit: Woher - wohin?, VBlBW 1989, S. 41 (49 FN 76); vgl. dens. (FN 20), S. 180; dens., DVBI. 1982, S. 157; earl Herrnann UZe, 10
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Die vielfach zu pauschal und an falscher Stelle diskutierte Leistungs- oder "Teilhabe"-Funktion der Grundrechte ist für Art. 19 Abs. 4 GG zu bejahen. Der Anspruch auf gerichtlichen Rechtsschutz ist nicht nur ein Recht des status negativus, sondern auch des status positivus. Der Rechtsweg muß in den Worten des Grundgesetzes nicht nur "offen stehen", sondern es muß auch ein Ende dieses Rechtswegs - und zwar in zeitlicher Hinsicht - absehbar sein, weshalb Grundrechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG auch Grundrechtsvoraussetzungsschutz ist. 17 Demzufolge hat der Staat für eine funktionsfähige Rechtspflege zu sorgen und Gerichte zur Verfügung zu stellen, die die ihnen zugewiesenen Aufgaben in angemessener Zeit und mit gebotener Sorgfalt bewältigen können. 18 Zu Recht betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 19 die Pflicht der Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention, ihr Justizwesen so zu organisieren, daß die Gerichte innerhalb angemessener Frist entscheiden können; für eine zeitweilige Überlastung seiner Gerichtsbarkeit sei der Vertragsstaat nur dann nicht verantwortlich, wenn er mit gebotener Zügigkeit geeignete Abhilfemaßnahmen treffe; deshalb könne die chronische Arbeitsüberlastung, wie sie seit Ende der 70er Jahre beim Bundesverfassungsgericht bestehe, keine überlange Verfahrensdauer rechtfertigen. Nach allem zeigt sich, daß die Reklamierung einer angemessenen Prozeßdauer unter dem Grundgesetz keine bloße justizpolitische, sondern auch eine verfassungsrechtliche Forderung ist. Allerdings ist in der Rechtsschutzgarantie ein Spannungsverhältnis zwischen Richtigkeit und Rechtzeitigkeit der Entscheidung angelegt. 20 Die rechtsstaatliche Gesetzmäßigkeit der Judikative zielt auf die richtige Einzelfallentscheidung, die eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes durch den Richter21 und die Achtung der Prozeßgarantien der Beteiligten, insbesondere des Anspruchs auf rechtliches, d. h. gerichtliches Gehör bedingt. Damit gibt die Verfassung für die Prozeßdauer ein Untermaßverbot vor Verwaltungsreform als Verfassungsvollzug, in: Recht im Wandel, Festschrift Heymanns Verlag, 1965, S. 53 (80ff.); Klaus Finkeinburg, Das Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes ... , in: Verwaltungsrecht zwischen Freiheit, Teilhabe und Bindung, Festgabe Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 169 (175 ff.). 17 Hierzu Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 ff.; Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof(Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 115, RN 7 ff. 18 Zutreffend BayVerfGHE 38, 96 (100 sub B I); ähnlich auch BVerfGE 36, 264 (275); zu den Justizhaushalten siehe die Angaben bei Ulrich Vultejus, ZRP 1997, S. 433 ff. 19 Siehe FN 15, Probstmeier . / . Deutschland, Nr. 63 ff. des Urteils (EuGRZ 1997, S. 409); Pammel . /. Deutschland, Nr. 68 ff. des Urteils (EuGRZ 1997, S. 315). 20 Zur Gegensätzlichkeit auch P. Kirchhof (FN 7), S. 109; Sendler, Zu wenig durch zu viel Rechtsschutz im Verwaltungsprozeß? Oder: Wäre weniger mehr?, in: Justiz und Recht, Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Deutschen Richterakademie, 1983, S. 175 (176 ff.). 21 BVerfGE 54, 277 (291); 67, 43 (58); 84, 59 (77); 84, 366 (369); 85, 337 (345); BVerfG (Kammer) NJW 1997, S. 2811 (2812); vgl. auch E 37,93 (96).
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und hindert "kurze Prozesse", wie sie immer wieder für den Strafprozeß gefordert werden. 22 Schon Montesquieu hatte in den Gesetzen einen Verzögerungsfaktor gesehen, damit monarchische Schnelligkeit nicht in Übereifer ausartet; nach seiner Auffassung erfüllen die Gesetzeshüter ihre Aufgabe nie besser als durch langsames Vorgehen ("a pas tardifs,,)23. Andererseits gebietet rechtsstaatlicher Rechtsschutz, den Betroffenen Rechtsgewißheit innerhalb angemessener Frist und damit rechtzeitige wie zeitgerechte Entscheidungen zu verschaffen. Damit hindert die Verfassung zugleich (allzu) "lange Prozesse", zumallängere Verfahren nicht zu richtigeren Ergebnissen führen. 24 Bei Überschreitung einer Toleranzgrenze wird die Forderung nach Verfahrensbeschleunigung zum Verfassungsgebot. Demzufolge hat der Gesetzgeber, insbesondere auch der Haushaltsgesetzgeber hinsichtlich der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege nur eine begrenzte Gestaltungsfreiheit, weil er von Verfassungs wegen die Effektivität gerichtlichen Rechtsschutzes sicherzustellen hat. Zutreffend betont der Bayerische Verfassungsgerichtshof25 die Pflicht des Haushaltsgesetzgebers, den Gerichten die Planstellen für die vorgeschriebene Besetzung zu bewilligen, weil sein Gestaltungsspie1raum "bei Stellenbewilligungen, Stellenstreichungen und Wiederbesetzungssperren im richterlichen Dienst" stärker als in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes eingeschränkt sei. Bereits im Jahre 1955 schrieb eine Nürnberger Anwaltskanzlei an den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Ansbach 26 : "Wir haben zwar Verständnis dafür, daß das Verwaltungs gericht Ansbach vermutlich stärkstens überlastet ist ... Der Staat müßte dann aber auch dafür sorgen, daß die Verwaltungs gerichte so funktionieren, wie es in einem Rechtsstaat notwendig ist, daß nicht die Rechtspflege durch die ungeheure Belastung der Verwaltungsgerichte über Gebühr leidet" - eine in ihrem Kern verfassungsrechtlich begründete Beschwerde!
III. Verfahrensdauer im Rückblick Beschwerden über die allzulange Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren stellen somit kein neuartiges Phänomen dar. Bereits anfangs dieses Jahrhunderts wurde am Preußischen Oberverwaltungsgericht über die unzureichende Schnelligkeit verwaltungsrichterlicher Arbeit geklagt. Doch sind diese Beschwerden bei näherer 22 Vgl. in diesem Zusammenhang Uwe Scheffler, Kurzer Prozeß mit rechtsstaatlichen Grundsätzen? in: NJW 1994, S. 2191 ff.; Karl Heinz Gössel, Empfehlen sich Änderungen des Strafverfahrensrechts mit dem Ziel, ohne Preisgabe rechtsstaatlicher Grundsätze den Strafprozeß, insbesondere die Hauptverhandlung, zu beschleunigen?, in: Verhandlungen des 60. Deutschen Juristentags, 1994, Gutachten C, S. C 7 ff. 23 De I'Esprit des Lois, V, 10. 24 Ähnlich Sendler (FN 16), S. 48 sub III. 3. 25 E 38, 96 L. 5 (100); ähnlich BVerfGE 36, 264 (275). 26 50 Jahre Bayerisches Verwaltungsgericht Ansbach 1946 - 1996, Ansbach 1996, S. 215.
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Detlef Merten und Michael Jung
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Betrachtung, insbesondere aus heutiger Sicht unbegründet. Beim Preußischen Oberverwaltungsgericht verging zwischen der Verwaltungsentscheidung und dem Revisionsurteil im allgemeinen nicht mehr als ein Jahr, wobei diese Angabe nur auf Stichproben beruht. Hatte der Berliner Polizeipräsident am 4. Januar 1893 die Aufführung von Hauptmanns "Die Weber" verboten, so erging das aufhebende Urteil des Oberverwaltungsgerichts bereits am 2. Oktober 1893?7 Die Entscheidung zum Borkum-Lied28 wurde etwas mehr als acht Monate nach Erlaß des Bescheids des Oberpräsidenten getroffen. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. 29 Auch in den ersten Jahren der Bundesrepublik war die Verfahrensdauer ungeachtet aller Beschwerden noch nicht unzumutbar lang. Bei den bayerischen Verwaltungsgerichten wurden 1949 von 100 Fällen 84 in weniger als einem Jahr erledigt (Tabelle 1),25 v.H. in drei Monaten und 54 v.H. in sechs Monaten (Tabelle 2). Demgegenüber sind 1996 von 100 Fällen nur noch knapp 56 innerhalb eines Jahres bearbeitet worden (Tabellen 1 und 2). Trotz zumutbarer Verfahrensdauer sind schon für 1949 relativ hohe Restantenzahlen zu verzeichnen. Als Gründe hierfür wurden personelle Unterbesetzungen der Verwaltungsgerichte 30 , ungleichmäßige Verteilung des Geschäftsanfalls mit daraus resultierender Änderung der Geschäftsverteilung, Diskontinuitäten und Vakanzen in den Kammerbesetzungen, unzureichende Vorarbeit der Behörden insbesondere im Widerspruchsverfahren, zu lange und tiefschürfende Urteile, aber auch ungenügende sachliche Ausstattung der Gerichte angeführt. So mußte beispielsweise das Verwaltungsgericht Ansbach in seiner Anfangszeit mit nur einer Schreibmaschine auskommen, die wegen Papiermangels nicht dauernd im Einsatz sein konnte. Zur Bewältigung des Arbeitsanfalls heißt es in den Jahresberichten bayerischer Verwaltungsgerichte für 1949: "Trotz eifrigster Arbeit vermehren sich die Rückstände, die durchschnittliche Prozeßdauer ist viel zu lange; obsiegende Urteile nutzen dem Kläger vielfach nichts mehr, wenn sie erst nach Monaten oder Jahren den beschwerenden Verwaltungsakt aufschieben ... Sie werden verbittert und machen dem Gericht Vorwürfe über den langen Verfahrensgang.,,31 Auch wenn die Überlastung der Verwaltungs gerichte kein neues, sondern ein altbekanntes Dilemma ist, so hat sich dieses doch in den letzten Jahren verschlimmert, und diese Entwicklung wird mit progressiver Tendenz anhalten.
Martin Pagenkopf, Das Preußische OVG und Hauptmanns "Weber", 1988, S. 56ff. PrOVGE 80, 176 (177, 180f.). 29 Vgl. Sendler (FN 16), S. 48 in und zu FN 73. 30 V gl. earl Hermann Ule, Das Bonner Grundgesetz und die Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1950, S. 37f. 31 (FN 26), S. 210. 27
28
31.987
1996
55,6%
1996
26.989
8.373
Neuzugänge
Geschäftsanfall
28.574
7.853
Erledigungen
30.402
5.954
Restanten arn 31.12.
Tabelle 2
17,9%
25%
bis 3 Monate
16,1 %
29%
3-6 Monate
21,6%
30%
6-12 Monate
Verfahrensdauer der erledigten Fälle
Quelle: Eigene Berechnungen, Bay. Landesamt f. Statistik, FS VG Ansbach.
Quelle: Eigene Berechnungen, Bay. Landesamt f. Statistik, FS VG Ansbach.
5.434
1949
anhängige Verfahren arn 1.1.
16%
84%
1949 44,4%
über ein Jahr
bis zu einem Jahr
Verfahrensdauer der erledigten Fälle
Tabelle 1
44,4%
16%
12 u. mehr Monate
~
w
-.J
::l
ro
~
[
g:
ro ::l. n
~ CI> ~
2 ::l
""
~
100 = mehr Restanten als Erledigungen und< 100 = mehr Erledigungen als unerledigte Fälle.
I
J
,
Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen. Die Prozentwerte geben die Relation von Restantenzahlen zu erledigten Fällen an:
18.181/111,0%
1988
Bayern
Tabelle 5 (Entwicklung der Restantenzahlen)
OQ
[ C' ::l
(')
::r
~
8.
::l
!
~
Cl
N
.j:>.
Zur Dauer verwaltungsgerichtlicher Vetfahren
43
2. Asylveifahren
Bei der Untersuchung der Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren muß ein besonderes Augenmerk auf die Asylverfahren gerichtet werden. Tabelle 8
Neuzugänge
Erledigte Vetfahren
Restanten (Quote in%)
Durchschnittliche Vetfahrensdauer
1984
9.875
19.681
14.480
73,6
18,8 Monate
1987
31.960
21.900
28.088
128,3
8,5 Monate
1989
41.187
33.460
45.376
135,6
11,2 Monate
1991
61.577
48.215
65.436
135,7
11,3 Monate
1993
140.324
87.196
127.763
146,5
9,9 Monate
1995
102.914
108.909
161.080
147,9
12,4 Monate
1996
110.771
104.319
167.532
160,6
15,1 Monate
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden und eigene Berechnungen.
In diesen Verfahren geht die Zahl der Neuzugänge seit 1993 beträchtlich zurück, auch wenn sie auf niedrigerem Niveau 1996 noch einmal anwächst. Erwähnenswert ist weiter, daß sich die durchschnittliche Verfahrensdauer wegen des Anstiegs der Fälle im Jahre 1993 in der Folgezeit wieder erhöht. Vor allem aber ist die Restantenzahl alarmierend, weil sie stärker wächst als die Zahl der Neuzugänge. Die Entwicklung wird anhand der Abbildung 1 deutlich. Hohe Restantenzahlen sind grundsätzlich ein verläßlicher Indikator für die Unterbesetzung der Gerichte und die Überlastung der Richter. Ob angesichts der sinkenden Asylbewerberzahlen jetzt schon mit einer Personalumschichtung oder Änderung der Geschäftsverteilung begonnen werden kann, ist daher sorgfältig zu prüfen. 33 Die unterschiedliche Belastung der Länder mit Asylverfahren zeigt ein vergleichender Überblick. Hierfür werden die Jahre 1993 und 1996 gewählt, weil 1993 die Belastung der Gerichte außerordentlich hoch war und sich 1996 die Auswirkungen der Asylrechtsänderung bemerkbar machen sollten.
33
Hierzu auch Everhardt Franßen, Stabile Lage, DVBI. 1998, S. 311 (312).
44
Detlef Metten und Michael Jung Abbildung I
180.000 160.000
~ Neuzugänge
140.000 120.000 100.000
-iJ- Erledigte
Verfahren
~Restanten
80.000 60.000 40.000 20.000 0 1984
1987
1991
1989
1993
1995
1996
Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen.
Tabelle 9
Neuzugänge
Bayern
Erledigte Verfahren
Restanten
Durchschnittsdauer
1993
1996
1993
1996
1993
1996
1993
1996
26.064
16.415
15.521
17.847
20.544
18.760
6,8
12,9
5.430
2.924
4.608
3.514
4.172
4.300
9,4
14,1
20.687
10.705
8.774
11.422
23.414
24.721
15,2
20,4
Rheinl.-Pf.
8.684
5.601
4.806
7.184
8.024
5.566
11,9
12,8
Sachsen
3.562
6.792
1.014
2.469
3.194
7.816
4,4
12,6
Hamburg Hessen
Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen. Angabe der Durchschnittsdauer in Monaten.
Mit Ausnahme der untypischen Entwicklung in Sachsen sind die Neuzugänge 1996 überall, teilweise um knapp die Hälfte zurückgegangen, und ist daher die Zahl der erledigten Verfahren mit Ausnahme von Hamburg gestiegen. Die Restantenzahlen haben sich jedoch nicht in gleicher Weise verringert. Auch wenn man Sachsen außer Betracht läßt, sind sie nicht nur in Hessen, sondern auch in Hamburg gestiegen. Ebenso hat sich wegen der Bearbeitung der Altfälle die Durchschnittsdauer der erledigten Verfahren in allen Ländern erhöht. Die folgende Graphik macht die Entwicklung der Asylverfahren für Rheinland-Pfalz deutlich.
Zur Dauer verwaltungs gerichtlicher Verfahren
45
Abbildung 2 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000
-{r- Neuzugänge
3.000
-D-Erled. Verfahren
2.000
~Restanten
1.000
o+-------~--------~------~-------+--------+_------~ 1987
1990
1992
1993
1994
1996
1995
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden, Angaben des Ministeriums der Justiz Rheinland-Pfalz und eigene Erhebungen.
3. Personalentwicklung und Erledigungszahlen
Wenn man von Sachsen absieht, hat Rheinland-Pfalz mit ca. 50 v.H. von allen untersuchten Ländern den höchsten Anstieg an Erledigungszahlen. Die Gründe hierfür liegen in der Personalentwicklung und Personalverwendung, wie die folgende Tabelle deutlich macht. Tabelle 10
Neuzugänge
Erledigte Verfahren
Restanten
Durchschnittsdauer
Richter in Verw.
1987
1.707
1.312
1.760
7,7 Monate
8,14
1990
3.006
2.500
4.141
9,6 Monate
15,19
1992
3.236
3.266
4.146
14,4 Monate
19,41
1993
8.684
4.806
8.024
11,9 Monate
19,60
1994
7.534
7.555
8.003
10,6 Monate
33,06
1995
6.247
7.101
7.149
12,2 Monate
37,34
1996
5.601
7.184
5.566
12,8 Monate
37,00
Quelle: Ministerium der Justiz Rheinland-Pfalz und eigene Erhebungen.
46
Detlef Merten und Michael Jung
Hier zeigt sich, daß das richterliche Personal in der Zeit von 1993 bis 1995 um mehr als 90 v.H. vermehrt wurde. Zu der letzten Spalte ist die methodische Anmerkung zu machen, daß es sich bei den Richterverwendungszahlen (Richter i.v.) um vom lustizministerium gewichtete und aufbereitete Zahlen handelt, die den tatsächlichen Personaleinsatz darstellen sollen. Es sind gleichsam bereinigte Zahlen oder Netto-Zahlen, die nicht auf die Stellenpläne, sondern auf den effektiven Einsatz abstellen und daher z. B. Zeiten der Vakanz oder der Abordnung nicht berücksichtigen. Die Tabelle macht zugleich deutlich, daß einem explosionsartigen Anstieg der Neuzugänge, die sich von 1992 auf 1993 fast verdreifacht hatten, nur mit einer Personalvermehrung begegnet werden kann, wenn nicht Restantenzahlen und Verfahrensdauer in gleicher Weise an schnellen sollen. Da die Personalvermehrung in Rheinland-Pfalz nicht gleichzeitig, sondern mit einjähriger Verzögerung, nämlich 1994 erfolgte, mußten auch die Restantenzahlen 1994 entsprechend hoch sein. Die Abhängigkeit der Faktoren voneinander wird in der folgenden Graphik noch anschaulicher: Abbildung 3 90 80 70
_
Durchschnittsdauer
60
~Richteri.V.
50
-Ir- Neuzugänge
40
30 20 10.~~~----
__--
O+---------+---------+---------+---------+---------+-------~
1987
1990
1992
1993
1994
1995
1996
Quelle: Ministerium der Justiz und eigene Erhebungen. Die Angaben für die Zahl der Neuzugänge ist der Übersichtlichkeit wegen um den Faktor 100 verringert dargestellt.
Die Abbildung 3 zeigt, daß eine Verfahrensdauer nur konstant zu halten ist, wenn bei steigenden Neuzugängen die Richterstellen vermehrt werden. Bleiben diese dagegen gleich, so verlängert sich die durchschnittliche Verfahrensdauer entsprechend den Neuzugängen.
Zur Dauer verwaltungs gerichtlicher Verfahren
47
4. Die Bedeutung des vorläufigen Rechtsschutzes
Von besonderem Interesse ist die Verfahrensdauer im vorläufigen Rechtsschutz. Schon bisher wurde für die neuen Länder durch das Gesetz zur Beschränkung von Rechtsmitteln in der Verwaltungsgerichtsbarkeit 34 für eine Übergangszeit bis Ende 2002 in einer Reihe von Fällen die aufschiebende Wirkung von Dritt-Widersprüchen und Dritt-Anfechtungsklagen ausgeschlossen. Durch Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung 35 ist nun allgemein in § 80 Nr. 3 VwGO vorgesehen, durch Bundesgesetz, gegebenenfalls auch durch Landesgesetz, die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, auszuschließen. Für das Jahr 1995 sind in Angelegenheiten des vorläufigen Rechtsschutzes folgende Daten ermittelt worden: Tabelle 11 Durchschnittsdauer
bis 3 Monate
3-6 Monate
6-12 Monate
12 u. mehr Monate
2,6 Monate
77,5%
11,9%
6,6%
4,0%
Bayern
2,4 Monate
80,3%
10,3%
4,9%
4,4%
Hamburg
3,0 Monate
73,6%
13,0%
8,6%
4,8%
Hessen
4,5 Monate
66,0%
14,1 %
9,5%
10,4%
Bundesd.
Rhein\.-Pfalz
1,3 Monate
91,9%
5,3%
2,6%
0,2%
Sachsen
3,8 Monate
64,0%
18,5%
11,2%
6,3%
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden und eigene Berechnungen
Tabelle 11 macht deutlich, daß die durchschnittliche Verfahrensdauer im Bund von 2,6 Monaten relativ günstig liegt. In den ersten drei Monaten werden zwischen 64 v.H. und 92 v.H. aller Verfahren abgeschlossen. Überdurchschnittlich lang ist die Verfahrensdauer, wenn man von Sachsen absieht, in Hamburg und vor allem in Hessen, das um knapp 75 v.H. höhere Werte als die anderen untersuchten Länder aufweist. Signifikant sind vor allem die Daten für die mehr als einjährige Verfahrensdauer. Hierfür verzeichnet Hessen im Vergleich mit fast allen anderen untersuchten Ländern mehr als doppelt so viel Fälle. Besonders drastisch fallt ein Vergleich zwi34 Art. 13 Nr. 3 des Gesetzes zur Erleichterung von Investitionen und der Ausweisung und Bereitstellung von Wohnbauland vom 22. 4. 1993 (BGB\. I S. 466) Ld.F. des Art. 2 des Sechsten Gesetzes zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom I. 11. 1996 (BGBl.I S. 1626). 35 Art. 1 Nr. 12lit. ades 6. VwGOÄndG (FN 34).
48
Detlef Merten und Michael Jung
sehen Hessen und Rheinland-Pfalz aus. Bei 1000 erledigten Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz wird in Hessen in 104 Fällen die Jahresfrist überschritten, in Rheinland-Pfalz nur in zwei Fällen. Hier beträgt die Relation mehr als 50 : 1. Für rechtspolitische Folgerungen ist das Verhältnis der Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz zu den Hauptsacheverfahren besonders aufschlußreich. Tabelle 12
1991
1993
1994
1995
1996
Erledigte Verfahren insgesamt
187.326
289.032
331.756
301.352
307.529
Erledigte Verfahren Hauptverfahren
125.758
179.754
216.610
214.107
222.664
61.568
109.278
115.146
87.245
84.865
Restantenzahlen insgesamt
177.490
288.542
337.951
346.790
356.935
Restantenzahlen Hauptverfahren
156.415
257.781
316.140
328.390
334.276
21.075
30.761
21.811
18.400
22.659
Erledigte Verfahren vorläufiger Rechtsschutz
Restantenzahlen vorläufiger Rechtsschutz
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden und eigene Berechnungen. Die Daten für 1991 beziehen sich auf das alte Bundesgebiet, die Angaben 1994 enthalten nicht die Daten für Sachsen-Anhalt.
Tabelle 12 zeigt, in welchem Maße die verwaltungs gerichtlichen Verfahren in der Zeit von 1991 bis 1996, wesentlich auch durch die Wiedervereinigung bedingt, angestiegen sind: Von knapp 190.000 im Jahre 1991 (im alten Bundesgebiet) auf knapp 310.000 erledigte Fälle im wiedervereinigten Deutschland 1996. Vergleicht man das Jahr 1991 mit 1994, so zeigen sich Abweichungen in der Zahl der Erledigungen bei den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes einerseits und den Hauptsacheverfahren andererseits. Zum einen verdoppeln sich nahezu die Erledigungen im vorläufigen Rechtsschutz (61.568 : 115.146). Zum anderen vermehrt sich die Zahl der Erledigungen bei den Hauptsacheverfahren jedoch nur um 70 v.H. (125.758 : 216.610). Wie nicht anders zu vermuten, müssen die Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz vorgezogen und vordringlich bearbeitet werden. Das Ergebnis wird noch offenkundiger, wenn die Restantenzahlen beim vorläufigen Rechtsschutz und im Hauptsacheverfahren miteinander verglichen werden. Die untere Tabellenreihe zeigt, daß die Restantenzahlen nach einem kräftigen Zuwachs im Jahre 1993 danach etwa auf die alte Höhe zurückgefallen sind. Dabei darf ungeachtet des absoluten Anstiegs (von 21.075 auf 22.659) nicht außer acht gelassen werden, daß der erste Wert sich nur auf das alte Bundesgebiet bezieht, während der letzte Wert die neuen Länder einschließt, so daß die Restantenzahlen
Zur Dauer verwaltungs gerichtlicher Verfahren
49
relativ abgenommen haben. Anders ist die Situation im Hauptsacheverfahren. Hier haben sich die Restantenzahlen von 1991 bis 1996 mehr als verdoppelt (156.415 : 334.276). Die Entwicklung verdeutlicht die folgende Graphik:
Abbildung 4 400.000
350.000
300.000
---Erledigte Verfahren insgesamt ~ ErJedigte
250.000
Verfahren Hauptverfahren
.. 0 . . Erledigte Verfahren yorl. Rechtsschutz 200.000
150.000
.
0------.0-_
100.000
--
~ Restantenzahlen
insgesamI
~ Restantenzahlen
Hauptverfahren
•• • •Restantenzahlen vor1. Rechtsschutz ·0----·-0
50.000
• - - • - - -- ••• - - - ~ - .•• _• ••• - .• 0() 1991
1993
1994
1995
1996
Quelle: Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen.
Während die untere Kurve mit den Restantenzahlen im vorläufigen Rechtsschutz nach einem Anstieg 1993 etwa auf das frühere Niveau abgesunken ist und gleichmäßig verläuft, steigen die Kurven der Restantenzahlen im Hauptsacheverfahren und der Restantenzahlen insgesamt weiter, wenn auch nicht mehr so steil wie im Zeitraum von 1991 bis 1994. Insgesamt offenbart die Statistik ein Ergebnis, zu dem man - wie so oft - auch ohne Statistik gelangt wäre. Da der vorläufige Rechtsschutz Vorrang genießt, muß sich die richterliche Tätigkeit zunächst auf diese Verfahren konzentrieren. Häufen sich die Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz, verbleibt weniger Kapazität für die Hauptsacheverfahren und muß die Verfahrensdauer demzufolge ansteigen. Das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes macht das Hauptsacheverfahren vielfach nicht überflüssig. Da sich Antrags- und Klagebegehren unterscheiden, kommt es zu keiner Arbeitsentlastung, sondern allenfalls zu einer Arbeitsumschichtung. Provoziert der Gesetzgeber Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, 4 Speyer 129
50
Detlef Merten und Michael Jung
indem er den Suspensiveffekt ausschließt, so führt dies zu einer Arbeitsvermehrung, die zwangsläufig die Verfahrensdauer verlängert. 36 Allein unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensdauer ist daher von einem Ausschluß des Suspensiveffekts abzuraten. Ähnliches gilt für Rechtsmittelbeschränkungen, jedenfalls wenn sie mit einem gesonderten Zulassungsverfahren37 verknüpft sind. Hier besteht in gleicher Weise die Gefahr einer Arbeitsvermehrung, weil Zulassungs verfahren und Hauptsacheverfahren unter unterschiedlichen rechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen sind, infolgedessen parallel verlaufen und das eine Verfahren nicht zur Entlastung im anderen führt?8 Zwar hat Sendler39 die Mehrstufigkeit des Rechtszuges und die "Überfülle der Instanzen" ("Instanzenseligkeit,,4o) für die überlange Verfahrensdauer verantwortlich gemacht. Realistische Abhilfe ist aber nur mit einer effektiven und nicht nur formalen Kürzung des Instanzenzuges oder der Verschlankung der Instanzen zu schaffen. Insgesamt ist die Geschäftsbelastung der Verwaltungsgerichte außerordentlich hoch, und dauern die verwaltungsgerichtlichen Verfahren allzulange, was aus einer Fülle von Ursachen resultiert. Da diese Lage seit Jahren anhält, ist aus der außerordentlichen Situation schon eine normale, jedoch keine ordentliche geworden. Pauschale Verbesserungsvorschläge laufen leicht ins Leere, und gesetzgeberische Aktivität kann zu einem Aktionismus ausarten, der mitunter kontraproduktiv wirkt. In der Zivilgerichtsbarkeit haben, wie eine Studie zeigt41 , die Beschleunigungsund Entlastungsbemühungen mehr als ein Jahrhundert gedauert und zu fünfzig Änderungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Zivilprozeßordnung geführt, ohne daß ein wesentlicher Erfolg erzielt wurde.
VI. Reformvorschläge Der Bericht wäre unvollkommen, wenn er nicht kurz und thesenartig zu Reformvorschlägen Stellung nähme, auch wenn vielfach empirisch Belege fehlen. 36 Vgl. Sendler, DVBI. 1982, S. 812 (819); dens., VBIBW 1989, S. 41 (49); ebenso WolfRüdiger Schenke, NJW 1997, S. 81 (86); siehe auch Dietmar Hampel, Vorläufiger Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte mit Doppelwirkung nach dem 6. VwGOÄndG, DVBI. 1997, S. 1155 ff. 37 Vgl. § 124 a VwGO. 38 Hierzu auch Konrad Redeker, Wenn der Rechtsweg "verschlankt" werden soll, NJW 1998, S. 2790 (2791). 39 Zum Instanzenzug in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, DVBI. 1982, S. 157 (164); vgl. dens. (FN 20), S. 181; auch Ule, DVBI. 1982, S. 821 (827). 40 (FN 20), S. 183. 41 Annette Köster, Die Beschleunigung der Zivilprozesse und die Entlastung der Zivilgerichte in der Gesetzgebung von 1878 bis 1993, 1996.
Zur Dauer verwaltungsgerichtlicher Verlahren
51
Die in letzter Zeit viel diskutierte obligatorische Streitschlichtung42 birgt für sich genommen die Gefahr einer Verlängerung der Prozeßdauer, da der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz verfassungsrechtlich garantiert ist. Die Befürchtung besteht jedenfalls unter der Prämisse, daß das Prozeßkostenrisiko so relativ gering ist wie bisher und vielfach durch Rechtsschutzversicherungen aufgefangen wird. In diesem Zusammenhang ist auf das aus dem Sozialrecht bekannte Problem des moralischen Risikos 43 (moral hazard) hinzuweisen. Hängt der Schadenseintritt nicht nur von objektiven Umständen, sondern auch vom Verhalten des Versicherungsnehmers ab, so besteht die Gefahr, daß dieser für seine Prämien Gegenleistungen zu erlangen versucht und sich daher leichtfertiger auf Prozesse einläßt, als wenn er die Kosten selbst bezahlen müßte. Im Krankenversicherungsrecht spricht man von einem "Doctor-Hopping-Syndrom". Niedrige Gerichtskosten haben Anreizwirkung. 44 Unverständlich ist daher die Gerichtskostenfreiheit in sozialgerichtlichen, aber auch asylrechtlichen Verfahren. 45 Hier wie in anderen Gerichtszweigen sollte eine Kostendeckung nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten erstrebt werden. 46 Sie widerspricht Art. 19 Abs. 4 GG in keiner Weise47 , solange die Gebühren nicht außer Verhältnis zum wirtschaftlichen Wert stehen. 48 Unbemittelten muß wie bisher im Wege der Prozeßkostenhilfe ein verglichen mit Selbstzahlern weitgehend gleicher, wenn auch kein identischer Zugang zum Gericht offenstehen. Insbesondere ist die Erfolgsaussicht der Rechtsstreitigkeiten Unbemittelter zu prüfen, damit der Allgemeinheit keine unnötigen Kosten entstehen. 49 Während also von einer vorgelagerten obligatorischen Streitschlichtung, wie sie für das zivilgerichtliche Verfahren diskutiert wird, im Verwaltungsprozeß auch im Hinblick auf eine ganz andere Ausgangssituation abzuraten ist, bleibt zu prüfen, ob gerichtliche Streitschlichtungen im Wege des Vergleichs oder des Anratens einer Klagerücknahme verstärkt werden sollten. Die Tabelle 13 macht die Arten der Erledigungen deutlich.
42 Vgl. auch Karl Eicheie, Obligatorische vorgerichtliche Streitschlichtung?, ZRP 1997, S.393ff. 43 Vgl. hierzu Martin Hellwig, in: Dieter Farny u. a. (Hg.), Handwörterbuch der Versicherung, 1988, S. 1072 ff. 44 Ebenso BVeifGE 10, 264 (268). 45 § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Durch Ausweisung entsprechender Mittel für Prozeßkosten würden die Kosten für Asylanten an Transparenz gewinnen. 46 Siehe in diesem Zusammenhang Steffen Heitmann, Möglichkeiten der Justizentlastung, DRiZ 1998, S. 124 (127) sowie die Stellungnahme von Harald Geiger; Nochmals: Der Kampf um Art. 19 Abs. 4 GG, ZRP 1998, S. 252 (253). 47 BVeifGE 10, 264 (268). 48 BVeifGE 85,337 (346f.). 49 Vgl. BVerfG (Kammer) NJW 1997, S. 2102 (2103); ferner E 2,336 (341); 9,124 (131); 10, 264 (268); 81, 347 (357 f.).
4*
52
Detlef Merten und Michael Jung
Der Vergleich spielt eine verhältnismäßig geringe Rolle. Er ist zudem von 5,1 v.H. im Jahre 1989 um mehr als die Hälfte auf 2,5 v.H. zurückgegangen. 50 Ules Untersuchung, die seinerzeit rund zweitausend Akten der ersten Instanz und eintausend Akten der zweiten Instanz erfaßte, weist noch eine höhere Zahl von Vergleichen (7,8 v.H.) aus. 51 Die hier angegebenen Vergleichszahlen enthalten allerdings keine Erledigungen, die in Form einer Klagerücknahme ergehen, in der Sache jedoch einen Vergleich in der Regel auf Anraten des Gerichts darstellen. Um diesen Anteil zu ermitteln, bedürfte es einer genauen Aktenanalyse. Höher als die Vergleichsquote ist die Zahl der Klagerücknahmen. Diese stellen mit steigender Tendenz von 1989 bis 1996 einen erheblichen Teil, nämlich 73,3 v.H., der Erledigungen durch Beschluß dar und machen etwa 34 v.H. aller Erledigungen aus. Die Verfahrensdauer ließe sich möglicherweise weiter kürzen, wenn in einem verhältnismäßig frühen Stadium Vergleichsvorschläge ergingen, die für die Parteien stärker als bisher hinsichtlich der Kosten attraktiv sein müßten. Weiterhin stellt sich das Problem der optimalen Geschäftsverteilung, die immer schwierig sein wird, weil die jeweiligen Materien einen unterschiedlichen Arbeitsaufwand erfordern. Ein Projekt in Berlin hat nun einen anderen Weg eingeschlagen. Die Vorsitzenden Richter des Berliner Verwaltungsgerichts wurden um eine Selbsteinschätzung ihrer Arbeitskapazität gebeten. Diese Zahlen wurden dann mittels eines Berechnungsverfahrens gewichtet, um objektivierte Grundlagen für die Geschäftsverteilung zu erhalten. Unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensdauer ist interessant, inwieweit die Selbsteinschätzung der Richter von den tatsächlichen Erledigungszahlen abweicht und welche Differenzen hinsichtlich der einzelnen Sachgebiete feststellbar sind (s. Tabelle 14). Setzt man die Selbsteinschätzung zu den tatsächlichen Eingängen in Relation, zeigen sich erhebliche Abweichungen. So variiert nicht nur die Einschätzung der Belastbarkeit, z. B. in Straßenverkehrssachen zwischen 450 und 1.200 Fällen im Jahr. Auch die tatsächlichen Eingänge bleiben im Hochschulrecht und in Straßenverkehrssachen um ein Fünftel bzw. ein Sechstel hinter der geschätzten Erledigungskapazität zurück, während sie in Ausländersachen um mehr als 40 v.H. darüber liegen. Auf den ersten Blick scheint hier ungenutzte Kapazität brachzuliegen. Bei näherer Betrachtung ist jetzt zu berücksichtigen, daß die Kammern regelmäßig für mehrere Sachgebiete zuständig sind. Daher wäre sorgfältig zu ermitteln, ob eine Unterlast in einigen Bereichen durch eine Überlast in anderen ausgeglichen wird. 50 Der Rückgang der Vergleichsquote ist fast umgekehrt proportional zum Anstieg der erledigten Asylverfahren (und den damit zusammenhängenden Verfahren des Ausländerrechts), in denen der Natur der Sache nach kaum ein Vergleich möglich ist. Zwischen 1989 und 1995 ging die Vergleichsquote von 5,1 v.H. auf 2,7 v.H. zurück, die Zahl der erledigten Verfahren insgesamt stieg von 115.319 auf 214.107 (Anstieg um 185,7 v.H.), die Zahl der erledigten Asylverfahren erhöhte sich von 33.460 auf 108.909 (Anstieg um 325,5 v.H.). 51 (FN 32), S. 10, 163.
83.528 (37,5 %)
1996
105.305 (47,3 %)
250 450
425
745
590
261
300
400
Hochschulrecht
Straßenverkehr
Ausländersachen
Vermögensgesetz
Investitionsvorrang
Sozialhilfe
400
400
2,5%
2,7%
3,1 %
4,5%
5,1 %
1.600
1.200
2.110
5.310
5.220
850
Summe der Schätzungen
Vergleich
16,6% 141,5 % 33,1 % 32,8% 93,4%
7.511 697 393 1.494
19,4%
. -
Auslastungskoeffizient
222.664 (100%)
214.107 (100%)
179.754 (100%)
125.758 (100%)
115.319 (100%)
Erledigte Verlahren
869
165
Tatsächliche Eingänge
3.515 (1,6%)
2.712 (1,3 %)
3.176(1,8%)
2.191 (1,7 %)
2.114 (1,8 %)
Ruhende Verlahren
Quelle: Alexander Wichmann/Matthias Schubert: Effektive Geschäftsverteilung an den Verwaltungsgerichten mit Hilfe von Gewichtungsfaktoren? in: NVwZ 1996, S. 971 - 975.
400
350
660
1.200
600
Maximale Angabe
150
200
500
Minimale Angabe
Selbsteinschätzung im Durchschnitt
Tabelle 14
5.539
5.800
5.489
99.008 (46,2%)
5.641
92.302 (51,3 %)
5.882
64.234 (51,1 %)
58.429 (50,7 %)
Beschluß
Quelle: Statistisches Bundesamt Wiesbaden und eigene Berechnungen.
17.497 (7,9%)
17.883 (8,4 %)
81.545 (38,1 %)
1995
8.255 (6,6 %)
14.766(8,2%)
39.326 (31,3 %)
56.593 (31,4 %)
1993
6.668 (5,8 %)
38.382 (33,3 %)
1989
1991
Gerichtsbescheid
Urteil
Tabelle 13
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u.
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124
Ulrich Mäurer
Dort haben wir sehr hohe Einnahmen, die wir erzielen aus dem Handelsregister, dem Grundbuch usw. Der Zuschuß in diesem Bereich ist also relativ niedrig. Auf der anderen Seite sehen Sie die Verwaltungs gerichtsbarkeit. Dort haben wir - und das dürfte in den anderen Ländern auch so sein - relativ geringe eigene Einnahmen und einen hohen Anteil, der finanziert werden muß aus dem Gesamthaushalt. Wir haben nun gesagt: Für alle unsere Gerichte führen wir die Budgetierung der Einnahmen ein. Konkret sieht dies so aus, daß ein Soll-Wert mittels einer Hochrechnung gebildet wird. Andere Möglichkeiten haben wir ja nicht. Wir können addieren, wir können uns anschauen, wie die Entwicklung in den letzten Jahren gewesen ist, und aus diesen Erfahrungswerten haben wir dann ein Budget gebildet. Entsprechend sind wir mit der Verwaltungs gerichtsbarkeit verfahren. Das Problem dabei ist natürlich, daß man immer nur von Erfahrungswerten ausgehen kann, die vor dem Hintergrund einer negativen wirtschaftlichen Entwicklung, hoher Arbeitslosenzahlen etc. nicht linear verlaufen. Und welche Haushaltsanschläge letztlich gebildet werden, das ist natürlich immer auch eine politische Frage. Bei der Prognose der Einnahmen können Sie vorsichtig herangehen und sagen: unsere Einnahmen werden stagnieren, bestenfalls um einen Prozentpunkt steigen. Wenn Sie das machen, sind Sie im Zweifel auf der sicheren Seite. In der Diskussion mit dem Finanzminister werden Sie hingegen eher gefordert sein, die zukünftige Entwicklung der Einnahmen doch deutlicher zu steigern. Ähnlich ist die Situation im Bereich der Ausgaben, wo wir auch die Budgetierung eingeführt haben. Denn der Streit darüber, was saniert werden muß, ob im Bereich des Gerichts I die Technik eingeführt wird oder im Bereich des Gerichts II - das kann man nicht mathematisch darstellen, sondern nur nach Abwägung entscheiden. Dies gilt auch für den Bereich der Sachausgaben. Auch hier kann man wie im traditionellen Haushalt - seine Wünsche anmelden. Ob sie letztlich erfüllt werden, ist immer eine Frage der Mittel, die zur Verteilung anstehen. In der Praxis sieht das weitestgehend so aus, daß lediglich die alten Haushaltsanschläge teilweise mit entsprechenden Kürzungen fortgeschrieben werden. Es wäre illusionär, zu glauben, daß mittels der Budgetierung mehr Mittel zur Finanzierung der Aufgaben der Gerichte zur Verfügung stünden. Teilweise kaschiert diese neue Begrifflichkeit lediglich Altbekanntes. Qualitativ anders ist hingegen die Situation im Bereich der Budgetierung der Personalausgaben. Hier hat sich wirklich die Praxis grundlegend verändert. Ausgehend von den in der Justiz tatsächlich Beschäftigten haben wir versucht, die zukünftigen Personalkosten exakt zu ermitteln. Dies setzt voraus, daß Sie alle Ihre Beschäftigten vollständig erfassen. Sie müssen konkret wissen, wieviel bekommt der Kollege X und wieviel die Kollegin Y. Sie brauchen eine komplette Übersicht über die Bruttobezüge, um so die Gesamtausgaben der jeweiligen Dienststelle zu ermitteln. Diese exakte Berechnung ist von ganz entscheidender Bedeutung. Methodisch sind wir dabei so vorangegangen, daß wir zunächst das Budget definiert haben als die Summe aus
Dezentrale Ressourcensteuerung am Beispiel der Justizorganisation Bremen
125
- Personalkostenhochrechnung - plus / minus Vortrag - minus Einsparquote - minus Zuschläge. Die Personalkostenhochrechnung setzt auf der Anzahl einer zu einem bestimmten Stichtag Beschäftigten an. Sie umfaßt im einzelnen laufende Personalausgaben für jeden Beschäftigten incl. Sozialversicherung, - Urlaubs- und Weihnachtsgeld, - Lebensaltersstufensteigerung, - Zeit- / Bewährungsaufstieg, - vorhersehbare Tarif- und Besoldungsveränderungen. Zur Vereinfachung haben wir die Versorgung als auch die Beihilfe nicht budgetiert. Ein zentrales Problem bei der Budgetbildung ist die Unveränderbarkeit der durch Senatsbeschluß vorgegebenen Einsparquoten. Da pro Jahr das Personal um jeweils 2,5 Prozent zu reduzieren ist, wird dementsprechend das Budget bei jeder Dienststelle - so auch für die Verwaltungsgerichtsbarkeit - entsprechend abgesetzt. Im Haushaltsplan wird dann der entsprechend gekürzte Wert als Anschlag ausgewiesen. Die Ergebnisse der Personalkostenbudgetierung sind meines Erachtens beeindruckend. Die Übersicht 6 (siehe Seite 126) zeigt, daß erstmals seit 1993 die Entwicklung der Personalausgaben stagniert. Diese Entwicklung wird natürlich begünstigt durch die niedrigen Abschlüsse im öffentlichen Dienst. Hinzukommt, daß im Rahmen der Budgetierung nicht besetzte Planstellen entgegen der Praxis früherer Jahre auch nicht mehr zur Erbringung von Einsparquoten herangezogen werden können. Die Transparenz des neuen Systems garantiert, daß Personalausgaben real auch reduziert werden. Welche Vorteile hat nun das neue System auf der Ebene der Gerichte? Ich sehe den großen Vorteil darin, daß anstelle eines schlichten Personalabbaus durch das Streichen von Stellen nunmehr ein stringentes Steuerungssystem zur Verfügung steht. Es ist nun Sache des jeweiligen Präsidenten, über das "Wie" selbst zu entscheiden. Über die Pflicht einzusparen, können wir natürlich nicht diskutieren. Dieses Problem trifft alle gleichermaßen, aber man kann jetzt auf der Ebene des Gerichts darüber diskutieren, wie man die Einsparungen erbringt. Erbringt man sie im richterlichen Dienst oder gegebenenfalls im mittleren Dienst? Man kann sich überlegen, wie man Engpässe reguliert. Wenn in einer Geschäftsstelle "Land unter" herrscht, sind diese Probleme vor Ort gegebenenfalls durch die Anweisung bezahlter Überstunden zu lösen. Die Planstellen haben in diesem System weitestgehend an Bedeutung verloren. Man braucht sie natürlich weiterhin für Beför-
1988
r=J.
96,8
99,7
1989
r--
1990
r----1
103,6
1991
110,1
r--
Hinweis: bis 1996 = IST-Entwicklung 1997 = einsehl. Naehtragshaushalt 1998/1999 = Senatseekwerte 2000 = Finanzplanwert
95
100
105
110
115
120
125
1992
116,9
r---
1993
r---
122,3
1994
r----l
122,1
1995
r-----1
124,4
Eckwertrelevant - Stand: 05. 05. 1997
1996
122,4
r---
1997
r-----1
121,2
Übersicht 6: Entwicklung der Personalausgaben (in Mio. DM)
120,6
1998
r--
1999
117,8
r---
2000
115,0 ,-----,
~
~:
a::
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N 0"1
.-
Dezentrale Ressourcensteuerung am Beispiel der Justizorganisation Bremen
127
derungszwecke. Entscheidend ist, daß der Präsident des Gerichts mit seinen Personalmitteln auskommt. Wie er das macht, ist seine Sache und muß durch ihn intern organisiert werden. Was kann man weiter mit dem neuen System anfangen? Ich stelle mir einmal vor, es sei jetzt alles budgetiert worden und am Ende des Jahres verfügen Sie bei den Einnahmen über ein Plus von 100 TDM. Sie haben also 100 TDM mehr eingenommen als ursprünglich geplant war. Bei den Sachausgaben haben Sie in diesem Beispiel um 80 TDM überzogen. Bei den Personalausgaben haben Sie 50 TDM eingespart und bei den Investitionen haben Sie 200 TDM nicht ausgegeben - weil zum Beispiel das Hochbauamt nicht nachgekommen ist mit seinen Arbeiten. Alles zusammengenommen sollen Sie in unserem Beispiel einen Überschuß von 270 TDM haben. Die Frage ist: Was machen Sie damit? Ich vermute einmal, der Kollege aus Baden-Württemberg würde sagen: Das Geld legen wir zurück. Mit unserem neuen Modell des Haushaltsrechts haben Sie in der Tat die Möglichkeit der Rücklagenbildung. Sie sind also nicht gezwungen, diese 270 TDM auszugeben. Das Dezemberfieber grassiert nicht mehr. Sie legen das Geld auf einem Guthabenkonto an und können es im nächsten Jahr ausgeben, ohne befürchten zu müssen, daß man Ihnen dieses Geld wegnimmt. Das ist das eine. Denkbar ist aber auch, daß Sie 50 Prozent der Rücklage zuführen und die anderen 50 Prozent ausgeben. Hierzu bedarf es einiger haushaltsrechtlicher Vorgaben, die unter dem Begriff der "Deckungsfähigkeit" zusammengefaßt werden. Das klingt auf den ersten Blick kompliziert, ist es aber nicht. Wir kennen drei verschiedene Arten der Deckungsfähigkeit: - Personal-, Sach- und Investitionsausgaben sind je für sich gegenseitig deckungsfähig; - Personal- und Sachausgaben sind gegenseitig deckungsfähig; - Personal- und Sachausgaben sind einseitig zugunsten der Investitionsausgaben deckungsfähig. Anhand der Übersicht 7 (siehe Seite 128) möchte ich dies verdeutlichen. Im Rahmen der gegenseitigen Deckungsfahigkeit besteht (je für sich) danach zum Beispiel im Bereich der Ausgaben die Möglichkeit, daß Sie nicht benötigte Mittel bei den Postgebühren zur Verstärkung der Ausgaben im Bereich des Geschäftsbedarfs nutzen. Von einer gegenseitigen Deckungsfahigkeit spricht man zum Beispiel, wenn aus dem Bereich der Personalausgaben Mittel zur Beschaffung von Büchern und Zeitschriften im Rahmen der Sachausgaben eingesetzt werden. Umgekehrt können Sie, wenn Sie bei den Postgebühren etwas übrig haben, diese Gelder zur Finanzierung z. B. von Kräften zum Abbau von Rückständen im Schreibdienst einsetzen. Die dritte Variante ist die einseitige Deckungsfahigkeit. Sie bedeutet, daß Sie Personalmittel zur Verstärkung Ihrer Investitionsmaßnahmen einsetzen können.
128
Ulrich Mäurer
Übersicht 7: Deckungsfähigkeit der Ausgaben Personal ausgaben
Sachausgaben
Investitionsausgaben
Beamtenbezüge
Geschäftsbedarf
Baumaßnahmen
~
t
Angestelltenvergütung
~
t
Postgebühren
~
t
ADV-Beschaffungen
LJ
Sie können - um in unserem Beispiel zu bleiben - aus den eingesparten Personalausgaben von 25 TDM PC's erwerben. Sie können aber nicht mit den vom Hochbauamt nicht verausgabten Mitteln für die Renovierung eines Sitzungssaales zusätzliches Personal einstellen. Damit ist der Charme des neuen Systems im Grunde umschrieben. Diejenigen von Thnen, die mit den Haushalten Erfahrungen haben, wissen, wie schwierig es ist, wenn in der einen Haushaltsstelle noch Geld vorhanden ist und in einer anderen nicht mehr. Die ganze Unbeweglichkeit der alten Kameralistik wird in dem neuen System durchbrochen. Sie haben nicht mehr einzelne Haushaltsstellen, sondern im Grunde genommen einen großen Globalhaushalt, den es zu steuern gilt. Im Industriebereich nennt man so etwas "Cash-Management". Allerdings muß man aufpassen. Der durch sein Cash-Management berühmt gewordene Vulkanverbund endete im Konkurs. Um genau dies zu vermeiden, brauchen Sie ein effektives Finanzcontrolling. Ohne ein solches läuft nichts. Dies gilt insbesondere dann, wenn Sie die Systematik der Deckungsfahigkeit innerhalb der einzelnen Dienststelle zu einem System einer dienststellenübergreifenden Deckungsfahigkeit entwickeln. Die Übersicht 8 (siehe Seite 129) zeigt Thnen die Möglichkeiten dieses übergreifenden Finanztransfers. Ich komme zurück auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Sie wissen: es gibt arme und reiche Gerichte. Die Verwaltungs gerichtsbarkeit verfügt kaum über nennenswerte Einnahmen, so daß eine Beteiligung an dem oben angeführten System einer dienststellenübergreifenden Mittelumsetzung sehr interessant sein dürfte. Ich bilde ein Beispiel aus der Praxis: Wenn ich sehe, daß beim Landgericht die Sanierung der Elektroanlagen nicht voranschreitet und daß im Jahr 1997 ungefähr 500 TDM nicht benötigt werden, so kann ich dieses Geld dem Verwaltungsgericht anbieten, um die längst überfällige Beschaffung von PC's für Asylkammern zu realisieren.
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I
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(Landge'oht) Postgebühren
Geschäftsbedart (Staatsanwaltschaft)
[Sachausgaben
I
· r
I(Staalsanwa_aft)
~ ADV-Beschaffungen
Baurnaßnahmen (landgericht)
Iinvestitionsausgaben
I
Deckungsfähigkeiten
fähigkeit je für sich (Personal-, Sach- und Investitionsausgaben)
Deckungsfähigkeit der Personal- und Sachausgaben
fähigkeit zugunsten der Investitionsausgaben aus Personal- und Sachmitteln
.,.;rt·der····..·)·····.. ··Geg·änseitige·DäCkUngS~···················G·egensei·iige··· ..·························..·........................................................·····Ei·nseitiiiä··Dec·kü·ngs:····················..····......
1
Angestelltenvergütung
(-_al
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Beamtenbezüge
1
I Personalausgaben
Übersicht 8: Dienststellenübergreifende Mittelumsetzungen durch den Senator für Justiz und Verfassung Stand: Haushaltsjahr 1995
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