Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen: Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1991 des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428475919, 9783428075911


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German Pages 283 Year 1993

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Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen: Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1991 des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
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Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 109

Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1991 des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Detlef Merten und Rainer Pitschas

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Der europäische Sozialstaat und seine Institutionen : Vorträge und Diskussionsbeiträge der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1991 des Forschungsinstituts für Öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer I hrsg von Detlef Merten und Rainer Pitschas. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 109) ISBN 3-428-07591-9 NE: Merten, Detlef [Hrsg.]; Verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagung (18, 1991, Speyer); Forschungsinstitut für Öffentliche Verwaltung (Speyer); Hochschule für Verwaltungswissenschaften (Speyer): Schriftenreihe der Hochschule ...

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humb1ot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-07591-9

Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber

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Begrüßung durch den stellvertretenden Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Univo-Profo Dro Klaus Lüder

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Grußwort des Ministers für Bundesangelegenheiten und Europa des Landes Rheinland-Pfalz, Staatsminister Florian Gerster

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Erster Teil

Europäische Sozialpolitik im Wandel ihrer Institutionen Die Süderweiterung der EG betroffenen Länder

Auswirkungen auf die sozialen Institutionen der

Von Wassilios Skouris, Thessaloniki

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Die Entwicklung der sozialen Sicherheit in Portugal nach dem Beitritt zur EGo Verlauf und institutionelle Perspektiven Von Pierre Guibentif, Lissabon

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Diskussion zu den Referaten von Wassilios Skouris und Pierre Guibentif. Leitung: Rainer Pitschaso Bericht von Bernd Pfeifer oooo oo 0

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Entwicklungsperspektiven der sozialen Dimension in der EG: Funktionen sozialer Grundrechte Von Detlef Merten, Speyer

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Soziale Rechte und Europäische Menschenrechtskonvention Von Peter Leuprecht, Straßburg

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Diskussion zu den Referaten von Detlef Merten und Peter Leuprecht. Leitung: Rainer Pitschaso Bericht von Jürgen Wedler 00

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Inhaltsverzeichnis

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Zweiter Teil

Auf dem Weg zum Europäischen Sozialstaat Soziale Integration Europas durch lnstitutionenentwicklung: Die EG auf dem Weg zum Europäischen Sozialstaat Von Rainer Pitschas, Speyer

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"Sozialpartnerschaft" als europäische Institution? Von Kar/ Korinek, Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion zu den Referaten von Rainer Pitschas und Kar! Korinek. Leitung: Detlef Merten. Bericht von Christian Koch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Chancen für ein europäisches Arbeitsrecht in einem vereinheitlichten Europa Von Peter Karpenstein, Brüssel .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

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Rechtsstreitigkeiten des ,,Arbeitsbürgers". Gerichtsschutz im Sozialraum Europa Von Carl Otto Lenz, Luxemburg .... .. ...... .............. .... .. .... .. .. .. .. .. .. ..

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Diskussion zu den Referaten von Peter Karpenstein und Carl Otto Lenz. Leitung: Detlef Merten. Bericht von Heike Kuhn . .. ..... ... .. .. . . .. . ... .. . .. . ... .. . . .. .. .. .. . .

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Dritter Teil

Europäischer Sozialstaat und Dritte Welt Der Auftrag der EG zu einer "sozialen" Entwicklungspolitik Von Rainer Pitschas, Speyer .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

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Der Europäische Sozialraum und seine Institutionen aus der Sicht eines Staates der Dritten Welt: Indien Von Rhandir B. lain, Delhi

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0 atraso e a modemidade: alguns problemas da reforma do sistema de previdencia social no Brasil

Von Sonia Miriam Draibe, Campinas SP

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Inhaltsverzeichnis Rückständigkeit und Modernität: Einige Probleme der Reform des Sozialversicherungssystems in Brasilien Von Sonia Miriam Draibe, Campinas SP

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Diskussion zu den Referaten von Rhandir ßo Jain und Sönia Miriam Draibeo Leitung: Rainer Pitschaso Bericht von Armin lff ooooooo ooooooooooooo ooo ooo 265

Sachverzeichnis

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Verzeichnis der Referenten und Diskussionsleiter Prof.a Dr.a Sonia Miriam Draibe

Prof. Dr. Carl Otto Lenz

Staatsminister Florian Gerster

Dr. Peter Leuprecht

Prof. Dr. Pierre Guibentif

Prof. Dr. Klaus Lüder

Prof. Dr. Rhandir B. Jain

Prof. Dr. Dr. Detlef Merten

Prof. Dr. Peter Karpenstein

Prof. Dr. Rainer Pitschas

Prof. Dr. Karl Korinek

Prof. Dr. Wassilios Skouris

Vorwort der Herausgeber Nach der Verabschiedung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 und vor dem Abschluß des Vertrags über die Europäische Union von Maastricht am 7. Februar 1992 fand vom 25. bis 27. September 1991 in Speyer die alljährliche Verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagung des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften statt. Sie stand unter der wissenschaftlichen Leitung der Herausgeber und war dem europäischen und internationalen Sozialrecht gewidmet. Der Termin erwies sich als gut gewählt, denn die Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension des europäischen Integrationsprozesses war zwischenzeitlich zunehmend in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Der nunmehr abgeschlossene Maastrichter Vertrag setzttrotzdes (vorübergehenden) Rückzugs Großbritanniens diese Annäherung an einen Europäischen Sozialstaat fort. Allerdings bedingt der damit eingeschlagene Weg zu einem sozialpolitisch gedeihlichen Miteinander zugleich den weitflächigen Ausbau effizienter Institutionen des gemeinschaftlichen Arbeits- und Sozialrechts sowie wirkkräftige weitere Schritte der Rechtsetzung und des Rechtsvollzugs. Hieran mangelt es freilich derzeit noch. Der Europäische Sozialstaat muß erst das regionenbezogene institutionelle Gefüge schaffen, in dessen Arbeit sich die Berechtigung seiner Bezeichnung erweisen wird. Die hiermit verbundenen Probleme, die durch den Abschluß des Maastrichter Vertrags noch verschärft werden, standen denn auch im Mittelpunkt der Speyerer Tagung. In ihrem ersten Abschnitt wurde die Entwicklung einer gemeinsamen, aber auch regionalisierten europäischen Sozialpolitik erörtert. Hierzu stand im Vordergrund der Wandel der sozialpolitischen Institutionen, wie er sich aus dem Streit um die "Regionalisierung" der EG und dem Beitritt der südlichen Länder Europas zur Gemeinschaft ergibt. Eine wesentliche Rolle dabei spielt u. a. die Entwicklung einer "Sozialpartnerschaft" auf europäischer Ebene sowie der Ausbau des europäischen Arbeitsrechts in einem vereinheitlichten Europa. Welche institutionellen Veränderungen bei alledem zu gewärtigen sind, wurde unter den Teilnehmern der Tagung in einem zweiten Abschnitt diskutiert. Am Ende der Überlegungen öffnete sich der Weg zu einem "Europäischen Sozialstaat" deutlicher als bisher. Überlegungen zur europäischen Sozialpolitik wären indessen merkwürdig blaß geblieben, wenn man nicht angesichts weltweiter Wirtschaftsbeziehungen der

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Vorwort der Herausgeber

EG und der durch die Gedanken der Aufklärung und Solidarität imprägnierten verfassungsstaatlichen Traditionen der Gemeinschaftsländer ihre sozialpolitische Verantwortung für die Dritte Welt in den Kreis der Diskussionen auf der Tagung einbezogen hätte. Sie befaßte sich deshalb in ihrem abschließenden Teil mit dem Verhältnis des Europäischen Sozialstaats zur Dritten Welt. Die Herausgeber hoffen, durch diesen sozialpolitischen Blick "über den Zaun" und speziell mit den Beiträgen aus Brasilien und Indien wechselseitige Lernprozesse initiieren zu können. Diese mögen dann Fragen der "neuen Armut" in Europa, eines basic income, aber auch nach der Reichweite regionalisierter und zielgruppenorientierter Programme unter den Bedingungen institutionell-organisatorisch aufgefacherter Sozialpolitik betreffen - oder Anlaß dazu geben, manche bisherige These zur Konvergenz oder Harmonisierung des europäischen Arbeits- und Sozialrechts zu überprüfen. Der vorliegende Band enthält die Referate und Kommentare, Diskussionsberichte und Übersetzungen der fremdsprachigen Vorträge. Ausführliche Berichte über die Tagung erschienen von Dr. Christian Koch in der Zeitschrift "Die öffentliche Verwaltung" 1992, S. 66-68, und von Ass. iur. Armin Iff in der Zeitschrift "Deutsches Verwaltungsblatt" 1991, S. 1295-1300. Beiden Herren danken wir auch für die Hilfe bei der Vorbereitung der Tagung. Besonderer Dank gebührt darüber hinaus Herrn Dr. Koch, der die Redaktion und Herstellung der Druckfassung dieses Tagungsbandes in seine Hände nahm, das Sachverzeichnis erstellte und aufopferungsvoll für die Druckreife sorgte. Detlef Merten

Rainer Pitschas

Begrüßung durch den stellvertretenden Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Universitätsprofessor Dr. Klaus Lüder Meine sehr verehrten Damen und Herren, die diesjährige Arbeitstagung des Forschungsinstituts für öffentliche Verwaltung bei der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer ist die dritte seit 1987, die der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Entwicklung gewidmet ist. Dies kennzeichnet die Bedeutung, die die verwaltungswissenschaftliche Forschung für und über das künftige Europa in Speyer besitzt. Im eigenen Namen, im Namen des Geschäftsführenden Direktors des Forschungsinstituts, Univ.-Prof. Dr. Willi Blümel, und im Namen des Rektors der Hochschule, Univ .-Prof. Dr. Carl Böhret, heiße ich Sie zur Tagung "Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen" sehr herzlich willkommen. Dem Teilneh~ merverzeichnis entnehme ich, daß diese Tagung auf ein breites Interesse gestoßen ist. Ich führe dies auf die Attraktivität des Tagungsthemas, auf die wissenschaftliche Kompetenz der Kollegen Merten und Pitschas auf den Gebieten des Sozialrechts, der Sozialverwaltung und der Sozialpolitik zurück, aber auch ein klein wenig auf die Reputation des Forschungsinstituts und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Obgleich vermutlich einige von Ihnen das Forschungsinstitut und die Hochschule als Tagungsteilnehmer, als Fortbildungsteilnehmer oder gar als Hörer des Ergänzungs- oder des Aufbaustudiums bereits kennengelernt haben, gestatten Sie mir einige wenige Worte zur Charakterisierung der hier betriebenen verwaltungswissenschaftlichen Forschung und ihrer institutionellen Rahmenbedingungen. Institutionell ist das Forschungsinstitut eine von der Hochschule rechtlich getrennte Forschungseinrichtung von überregionaler Bedeutung, deren Grundfinanzierung von Bund und Ländern gemäß Art. 91 b des Grundgesetzes gemeinsam getragen wird (Institut der "Blauen Liste"). Das Institut ist mit 14 Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter ausgestattet, die unter Anleitung und Mitwirkung der Professoren der Hochschule projektbezogene Forschung betreiben. Sämtliche Mitarbeiter werden - im Unterschied zur Praxis größerer Forschungsinstitute

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Begrüßung

- projektgebunden befristet beschäftigt, was sich nach unserer Auffassung grundsätzlich bewährt hat. Ein Problem besteht allerdings in der im Verhältnis zu den Forschungsvorhaben zu geringen MitarbeiterzahL Um dennoch die notwendige Breite unserer Forschungsaktivitäten gewährleisten zu können, muß die Bearbeitungsdauer für die einzelnen Forschungsprojekte und damit die Beschäftigungsdauer der Forschungsreferenten zum Teil so kurz angesetzt werden, daß dies der Sache nicht dienlich ist. Inhaltlich ist die Speyerer verwaltungswissenschaftliche Forschung gekennzeichnet -

durch Multidisziplinarität, d.h. sie ist nicht einseitig rechtswissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich ausgerichtet;

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durch Theorie- und Praxisorientierung, d. h. wir betreiben weder Verwaltungsforschung ohne Rücksicht auf Erfordernisse und Bedingungen der Verwaltungspraxis noch Verwaltungsforschung im Sinne der Erstellung theoretisch nicht fundierter Rezepte zur Lösung von Problemen der Verwaltungspraxis - unser Ziel ist vielmehr die theoriegeleitete angewandte Forschung;

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schließlich besitzen internationale Verwaltungsprobleme einen besonderen Stellenwert im Rahmen der Speyerer Forschungsaktivitäten. Auch die diesjährige verwaltungswissenschaftliche Arbeitstagung bietet einen Beleg dafür. Erlauben Sie mir abschließend ein Wort des Dankes:

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an die Herren Kollegen Merten und Pitschas, die in hervorragender und bewährterWeise die Tagung ausrichten;

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an die Referenten, die auch weite Anreisewege nicht gescheut haben und die mit ihrer Sachkompetenz entscheidend zum Tagungserfolg beitragen;

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an all diejenigen, deren Mitwirkung "im Hintergrund" für die Durchführung einer solchen Veranstaltung unentbehrlich ist.

Ich wünsche der diesjährigen Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung einen guten Verlauf und Ihnen allen angenehme und fruchtbringende Tage in Speyer.

Grußwort des Ministers für Bundesangelegenheiten und Europa des Landes Rheinland-Pfalz, Staatsminister Florian Gerster Die Verwirklichung der Europäischen Politischen Union steht unmittelbar bevor. Mit ihr sind vielerlei Umstellungen, aber auch Hoffnungen des einzelnen verbunden. Diese politische Union wird für die Bürger, insbesondere für die Arbeitnehmer, aber nur dann akzeptabel sein, wenn die wirtschaftliche Integration eine erlebbare soziale Dimension erfährt und die wirtschaftliche Integration auf verschiedenen, für sie überschaubaren Ebenen nach den Grundsätzen der Subsidiarität durch die Arbeitnehmer mitgestaltet wird. Diese Mitgestaltungsmöglichkeit am europäischen Aufbau ist die wichtigste Bedingung für den sozialen Frieden in Europa. Ohne ihn wird es weder den angestrebten wirtschaftlichen Erfolg der Gemeinschaft geben, noch wird die Gemeinschaft in der Lage sein, schwachen Regionen, sei es in Osteuropa oder der Dritten Welt, zu helfen. Das zeigt, daß die soziale Dimension und auch das Prinzip der Subsidiarität Kernpunkte des europäischen Prozesses sind. Sie sind deshalb auch Gegenstand der laufenden Regierungskonferenzen und müssen als weitere Ecksteine im europäischen Vertragswerk verankert werden. Beide Begriffe hängen eng zusammen. Die inhaltliche Aufgabenerweiterung der sozialen Dimension verlangt nämlich nach der Verankerung eines Strukturprinzips. Dieses Strukturprinzip muß aber heißen: Subsidiarität. Trotz ihrer Bedeutung sind beide Begriffe in gewissem Sinne unscharf. Nicht nur, daß in den Mitgliedstaaten selbst die Bandbreite der Definitionen überaus groß ist, auch die verschiedenen Traditionen in der Gesellschaftsstruktur jedes einzelnen Mitgliedstaates erweitern die Bandbreite dessen, was als kleinster gemeinsamer Nenner in Frage kommt. Um so wichtiger ist es, daß diese Begriffe nicht nur eine Bereicherung der politischen Anspruchspalette bleiben, sondern für die Bürger ein konkretes Stück erfahrbares Europa werden. Daß dies möglich ist, macht ein Hinweis auf die deutsche Situation deutlich: Beim Sozialstaatsprinzip, das der sozialen Dimension nahekommt, unterscheidet der Verfassungsrechtier Prof. Dr. Herzog zwischen dem politischen und verfassungsrechtlichen Begriff des Sozialstaates. Diese verhalten sich wie zwei Kreise zueinander. Der verfassungsrechtliche Begriff ist dabei nicht nur allgemein der

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Grußwort

engere, sein Abstand zum äußeren politischen Kreis ist um ein Vielfaches größer als dessen eigener Radius. Die Verankerung des Prinzips in der Verfassung hat sich nicht als Bremse erwiesen, sondern vielmehr der sozialpolitischen Dynamik ein rechtliches Fundament gegeben. Nun zu einem weiteren Beispiel: Die Subsidiarität im Föderalismus, also die problemnahe Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, in den sozialen Sicherungssystemen oder der ebenfalls verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie, hat geholfen, das System der sozialen Wohlfahrt zu schaffen. Auf verschiedenen Ebenen konnten nämlich umfassend, bürgernah und von den Bürgern selbst mitgestaltet Lebens- und Arbeitsbedingungen ständig verbessert werden. Diese politische Situation ist auf Europa übertragbar. Der Gipfel in Hannover hat den sozialen Aspekten der Integration eine wesentliche Rolle zugemessen. Der Gipfel in Madrid im Juni 1989 hat die Gleichwertigkeit zwischen den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten herausgestellt. Die Verabschiedung der Sozialcharta, Ende 1989, stellt einen gewissen Höhepunkt in dieser Reihe dar. Die für den Arbeitnehmer günstige innere Entwicklung der Gemeinschaft ist unurnkehrbar. In Europa hat man Abschied genommen von Vorstellungen, daß lediglich eine europäische Freihandelszone geschaffen werden soll. Der nahezu stürmische integrative Fortschritt der Gemeinschaft forderte Antworten auf die Fragen nach der inneren Ordnung und nach bürgernahen Mitwirkungsrechten. Auch die Frage nach der Sozialunion wurde bedeutsamer und dringlicher. Der ursprünglich völkerrechtliche Ansatz des Gemeinschaftsrechts, der die Gestaltung der sozialen und inneren Ordnung völlig den Mitgliedstaaten überließ, ist faktisch überholt. Das gilt sowohl für den staatlichen als auch für den gesellschaftlichen Bereich. Lebens- und Arbeitsverhältnisse werden immer mehr europäisiert. Die Bürger vermissen jedoch, daß sie für die europäische Ebene keine unmittelbaren demokratischen Mitwirkungsrechte haben. Für den sozialen Frieden in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ist aber ihre Überschaubarkeit, ihre mitmenschliche Dimension in Form der Solidarität und ihr Angebot zur aktiven Mitarbeit des einzelnen wesentliche Voraussetzung. Hierin liegt der fundamentale Gegensatz zu einem zentralistischen Versorgungsstaat, wie ihn der "real existierende Sozialismus" in den Ländern des Ostens praktizieren wollte. Freiheit und soziale Dimension sind in einer Demokratie, und dazu zählt heute schon die Gemeinschaft, sich gegenseitig bedingende Voraussetzung. Für die Lösung der damit zusammenhängenden Strukturfragen der immer stärker integrierten Gemeinschaft bietet sich das Prinzip der Subsidiarität an. Nach unseren Erfahrungen ist die Subsidiarität am ehesten geeignet, um die

Grußwort

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Einheit in der Vielfalt zu gewährleisten, die verschiedenen Handlungsebenen partnerschaftlieh zu verbinden, den Bürgern ihren Gestaltungsraum zu sichern und das Gemeinwohl im Buropaformat zu schaffen. Beim Aktionsprogramm beruft sich die Kommission auf das Subsidiaritätsprinzip bei der Anwendung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte. Dieses Aktionsprogramm wurde am 29. November 1989 dem Rat übermittelt. Nach diesem Aktionsprogramm wird die Kommission tätig, wenn sich die Ziele der Gemeinschaft besser durch die Kommission als durch die Mitgliedstaaten erreichen lassen. Die Kommission stellt weiter klar, daß sie bei der Wahl ihrer Instrumente berücksichtigen will, daß ihre Vorschläge durch Gesetze oder Tarifverträge umgesetzt werden müßten. Dies bedeutet, daß eine Anpassung situationsbedingt und mit aktiver Beteiligung der Sozialpartner möglich sein soll. Weiterhin formuliert die Kommission, sie habe "ihre Vorschläge auf die Fälle beschränkt, in denen eine Gesetzgebung auf Gemeinschaftsebene notwendig erscheint, damit die soziale Dimension verwirklicht werden kann". Diese Zitate erlauben die Folgerung, die Kommission berufe sich hier auf eine "Subsidiarität von oben", eine Art Dezentralisierung, die eine gewisse zentralistische Tendenz als Vorbedingung hätte. Die Stärke Europas liegt unbestritten in seiner Vielfalt. Dies gilt nicht nur für den strukturellen, sondern besonders auch für den sozialen Bereich. Dezentralisierung, Individualisierung, Flexibilisierung, Mitbestimmung, Partizipation und nicht zuletzt die Subsidiarität sind Merkmale dieser Vielfalt, die es zu stärken und auszubauen gilt. Die Vielfalt ist das Qualitätsmerkmal einer freien Gesellschaft. Dies zeigt sich etwa auch bei der Unterschiedlichkeit des Angebotes als Voraussetzung wirtschaftlichen Wettbewerbs. Aus Uniformität kann Europa keinen ökonomischen Nutzen und keine politische Stärke gewinnen. Die Anwendung des Grundsatzes der Subsidiarität muß somit zwingend sein. Nach diesem Grundsatz ist die größere Einheit zur Regelung nur dann berufen, wenn die kleinere oder dem Problem nähere Einheit außer Stande ist, eine gerechte Lösung zu finden. Die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips ist demnach nicht gegen notwendige Harmonisierung gerichtet, sondern soll nur unbeschränkte Novellierungen von oben verhindern. Ein auf diese Weise aufgebautes soziales Europa wird auch in der Praxis sozial und dem Einzelnen verbunden sein. Europa muß bei allen Notwendigkeiten zur einheitlichen Regelung menschlich bleiben und für den Bürger erfahrbar bleiben. Dies gilt gerade und besonders für den sozialen Bereich.

ERSTER TEIL

Europäische Sozialpolitk im Wandel ihrer Institutionen

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Die Süderweiterung der EG- Auswirkungen auf die sozialen Institutionen der betroffenen Länder· Von W assilios Skouris

I. Einleitung 1. Die Kollegen Merten und Pitschas haben mich aufgefordert, über die Auswirkungen zu sprechen, welche die Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft auf die sozialen Institutionen der betroffenen und neuen Mitgliedstaaten gebracht hat. Die Fragestellung ist ohne Zweifel ebenso originell wie interessant, insofern dieser Aspekt bei der Diskussion um die Süderweiterung der Gemeinschaftjedenfalls nicht im Vordergrund gestanden hat. Der Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals und die dadurch eingetretenen Implikationen einerseits auf die nationalen und andererseits auf die europäischen Institutionen wurden sorgfaltig registriert und aufmerksam studiert. Man darf vor allem nicht übersehen, daß die Vorbereitungs- und Verhandlungsphasen für die zwei Etappen der Süderweiterung lange gedauert haben, um die negativen Folgen für beide Seiten möglichst genau zu erkunden und möglichst gering zu halten. Das nationale und das europäische institutionelle Gefüge sollten durch die Erweiterung keinen Schaden nehmen; die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts spielt in solchen Fällen logischerweise eine große Rolle.

2. Ich darf es bei dieser allgemeinen Feststellung belassen und die Bemerkung hinzufügen, daß soziale Fragen bei der Erweiterung einer Wirtschaftsgemeinschaft nicht ausgeklammert werden konnten und nicht ausgeklammert worden sind. Man könnte sogar meinen, daß der sozialen Komponente bei der Süderweiterung ein besonderer Stellenwert zukommen mußte, wenn bedacht wird, daß der wirtschaftlich nicht so entwickelte Süden Europas um Aufnahme in eine wirtschaftlich mehr oder weniger homogene Gemeinschaft drängte. Allerdings waren die beitrittswilligen Länder dabei an anderen Problemen interessiert als an den Auswirkungen des Beitritts auf die eigenen sozialen Institutionen. Meistens lassen sich auch derartige Auswirkungen nur schwer und kaum exakt prognostizieren, sondern werden erst nach einiger Zeit sichtbar. Unter diesen Umständen ist es nunmehr gerechtfertigt und liegt wohl auch in der Absicht der Veranstalter dieser • Es handelt sich um eine geringfügig geänderte und um Fußnoten ergänzte Fassung des am 25.9.1991 gehaltenen Vortrags im Rahmen der Verwaltungswissenschaftlichen Arbeitstagung 1991 in Speyer. Der Vortragsstil wurde beibehalten. 2*

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Wassilios Skouris

Tagung, zu ermitteln, ob und inwieweit die sozialen Institutionen Griechenlands, Spaniens und Portugals durch die Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft reformiert oder deformiert worden sind, ob sie sich fortentwickelt und angepaßt haben, ob und um welchen Preis sie den großen Schritt in Richtung Europa überdauert haben. 3. Die Süderweiterung erfaßt, wie erwähnt, Griechenland und die Länder der iberischen Halbinsel. Eine sachgemäße Behandlung des von mir übernommenen Themas würde daher voraussetzen, alle drei Länder gleichmäßig und gleichgewichtig in die Untersuchung einzubeziehen und alle ihre sozialen Institutionen unter die europäische Lupe zu nehmen. Freilich würde die wissenschaftlich gebotene Vollständigkeit meine Kräfte stark überfordern. Zum anderen kann man Aussagen über institutionelle Entwicklungen gerade im sozialen Bereich nur auf der Grundlage profunden Hintergrundwissens machen, wenn nämlich solide Kenntnisse über Entstehung, Bedeutung und Tragweite der einzelnen Einrichtungen vorliegen und regelmäßig ergänzt werden. Es ist nicht ratsam, den statistischen Angaben zu vertrauen und lediglich mit ihnen zu operieren. Darüber hinaus treten soziale Wandlungen für den Außenstehenden oft überraschend ein, weil sie das Ergebnis schwer durchschaubarer Entwicklungen sind. Aus diesem Grund ist es verständlich, daß ich für meine Ausführungen mein Heimatland vor Augen hatte und auf die Besonderheiten in Spanien und Portugal eingegangen bin, wo mir die Informationen verhältnismäßig sicher erschienen, weil beispielsweise parallele Entwicklungen zu verzeichnen waren. Zudem werden Griechenland-Kenner wahrscheinlich bestätigen können, daß es schwer genug ist, die soziale Lage im neuen Hellas darzustellen. Es wäre wohl möglich, das Referat allein mit dem undurchsichtigen Geflecht der sozialen Beziehungen und Einrichtungen in Griechenland zu bestreiten. 4. In meinen weiteren Ausführungen will ich drei größere Problembereiche unterscheiden und nacheinander auf sie eingehen. Der erste und einführende Teil bezieht sich auf die Entwicklung der sozialen Beziehungen im europäischen Raum im vergangeneo Jahrzehnt. Die Süderweiterung wurde in den achtziger Jahren vollzogen, und es ist wichtig zu wissen, welche Wandlungen in der Europäischen Gemeinschaft eingetreten sind, weil die neuen Mitglieder logischerweise auch die Wandlungen im sozialen Bereich innerhalb kurzer Frist bewältigen mußten. Soziale Entwicklungen zeichnen sich nämlich durch die Besonderheit aus, Anpassungs- und Übergangsfristen nur schwer zu vertragen, vor allem, wenn sie institutionell abgesichert worden sind. Die deutschen Freunde erfahren ja in den letzten Monaten besonders deutlich, wie schmerzlich es ist, soziale Standards und Errungenschaften nicht schnell und global, sondern langsam und stufenweise auf schutzbedürftige Menschen im eigenen Land zu übertragen. Dies stößt weitgehend auf Unverständnis, und ich darf vorwegschicken, daß diese Problematik im Rahmen der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft im Kern wiederkehrt. In einem zweiten Teil komme ich sodann auf die drei südeuropäischen

Die Süderweiterung der EG

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Länder zu sprechen, um insbesondere die Frage zu stellen, ob und gegebenenfalls auf welche Weise sie sich auf den Beitritt in die Europäische Gemeinschaft speziell im sozialen Bereich vorbereitet haben. Es ist zu erwarten, daß derjenige, der die Aufnahme in eine länger funktionierende Gemeinschaft wünscht und einen entsprechenden Antrag stellt, Anstrengungen unternimmt, um diese Aufnahme für beide Seiten zu erleichtern. Solche Anstrengungen lassen sich an den Beispielen Griechenlands, Spaniens und Portugals feststellen und werden zusätzlich durch den Umstand begünstigt, daß alle drei Länder nach bitteren Erfahrungen mit Diktaturen die sozialen Institutionen festigen und ausbauen wollen. Der dritte Teil ist schließlich dem Kern des Themas gewidmet: Gesucht werden die konkreten Folgen des europäischen Schrittes für die sozialen Einrichtungen der drei Länder unter besonderer Berücksichtigung Griechenlands.

II. Soziale Wandlungen im europäischen Raum (1980-1990) 1. Die Einrichtung des großen europäischen Marktes soll nicht einseitig die Absatzchanehen für die Unternehmer vergrößern, sondern daneben eine wesentliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer sowie der Lebensbedingungen für die Marktbürger herbeiführen. Dieses Ziel ist nicht neu und steht bereits in der Präambel des EWG-Vertrags: Dort ist zu lesen, daß die Vertragsstaaten durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder sichern wollen und die stetige Besserung der Lebensund Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anstreben 1• Darüber hinaus legt Art. 2 des Vertrags als Aufgabe der Gemeinschaft u.a. fest, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung zu fordern. Man darf ferner nicht übersehen, daß der EWG-Vertrag für die Ausübung der Sozialpolitik ein eigenes normatives Gerüst bereithält (Art. 117 ff.), das durch die Einheitliche Europäische Akte ergänzt und ausgebaut wurde. Von besonderem Interesse speziell für die ärmeren Mitgliedsländer sind die neuen Bestimmungen über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft (Art. 130 a-130 e). Man könnte noch die Gewährleistungen der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Selbständigen sowie die Bestimmungen über die berufliche Bildung nennen, die einen Teil europäischer Sozialpolitik bilden 2• Auf diese beiden Aspekte möchte ich jedoch verzichten, weil die Freizügigkeitsproblematik sehr gut bekannt ist und die Fragen um die berufliche Bildung mich an anderer Stelle beschäftigt haben 3• Trotz dieser 1 " •• • IN DEM VORSATZ, die stetige Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben, . .. ". 2 Auf dereinen Seite siehe Art.48 ff. und auf der anderen Seite Art. 128 EWG-Vertrag. 3 W. Skouris, La forrnation professionneUe dans lajurisprudence de Ia Cour de Justice des Communautes europeennes, in: J. Schwarze I H.G. Scherrners (Eds.), Structure and Dimensions of European Community Policy, 1988, S. 205 ff., sowie La liberte d 'etablissement et de prestation de services en matiere d' enseignement, in: B. De Witte (ed.), European Community Law of Education, 1989, S. 21 ff.

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frühen und feierlichen Anerkennung sozialer Zwecke hat sich die EWG eben mehr als eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verstanden und dementsprechend entwickelt. Selbst wenn der soziale Bereich nicht vernachlässigt wurde, so stand er doch weniger als selbständige Domäne im Mittelpunkt der Gemeinschaftsprioritäten. Soziale Initiativen bildeten eher die notwendigen Begleitmaßnahrnen zur Erreichung der Marktziele und zur Verwirklichung der Grundfreiheiten des EWG-Vertrags. Über Einzelheiten der Sozialpolitik bestimmten in erster Linie die einzelnen Mitgliedstaaten, was zur Folge hatte, daß die Entwicklung im Gemeinschaftsraum nicht geradlinig verliefund daß bereits vorhandene Unterschiede nicht selten noch weiter vertieft wurden. 2. Diese Unterschiede treten an drei Stellen besonders hervor. Es handelt sich, der Reihe nach, um den sog. sozialen Dialog, um die Beteiligung an den Entscheidungen im Unternehmen sowie um die Gewerkschaften und deren Organisation. Der soziale Dialog ist ein anderer und ungenauer Begriff für die Schließung von Tarifverträgen 4 • Hinsichtlich der Verbindlichkeit der Tarifverträge, der Koordination der Sozialpartner und der Staatsfreiheit der Tarifverhandlungen bestehen auffallige Differenzen, die am Beispiel der Tarifautonomie zwischen Deutschland und Griechenland ihren Höhepunkt erreichen. Die staatlichen Stellen verhalten sich in Deutschland neutral und halten sich fern 5, während unsere Regierungen auf intensive und manchmal peinliche Weise die Tarifverhandlungen zu beeinflussen suchen. Bei der Frage der Mitbestimmung im Unternehmen liegen mehrere Modelle vor. In einem Punkt, und zwar im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung, scheint sich eine Angleichung anzubahnen, während die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unternehmensorganen lediglich in Frankreich, Deutschland und Dänemark gesetzlich verankert ist und in Deutschland die Züge einer echten Parität der zwei Seiten jedenfalls in den größeren Unternehmen angenommen hat 6• Was schließlich die Gewerkschaften betrifft, so gibt es sie als Institutionen in allen EG-Staaten. Damit hören aber fast die Gemeinsamkeiten auf. Zahl, Organisation und Repräsentationscharakter sind ganz unterschiedlich, die Anhindung an politische Parteien bzw. an gesellschaftlich relevante Gruppen ist in den meisten Fällen vorhanden und nimmt manchmal ganz starke Ausmaße bis an die Grenze der Abhängigkeit an 7 • Auch die Zusammenarbeit der Gewerkschaften 4 Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft, Luxemburg 1990, S. 11 ff., sowie K. Schmitz und R. Thusing, Der soziale Dialog als Element eines einheitlichen Sozialraumes Europa- die Sicht der Gewerkschaften und der Arbeitgeber, in: R. Birk (Hrsg.), Die soziale Dimension des Europäischen Binnenmarktes, 1990, S. 103 ff. und 107 ff. ' 5 Dazu R. Scholz in: Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, Grundgesetz, 1978 ff., Rdnrn. 238 ff. zu Art. 9 m.w.N. 6 Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft (Fn. 4), S. 12 ff., und W Kolvenbach, Gesellschaftsrecht und Mitbestimmung: Die Vorschläge der EG-Kommission, in: R. Birk (Fn. 4), S. 87 ff. 7 Vgl. zu dieser Frage J_ Goetschy I D. Linhart, La crise des syndicats en Europe occidentale, Problemes politiques et sociaux, No 632, 1990, La Documentation franvaise.

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variiert von Land zu Land, erfaßt einen breiten Bogen von Organisationsformen und erreicht den höchsten Grad institutionalisierten Zusammenschlusses beim deutschen System der Einheitsgewerkschaft 3. Fragt manjetzt nach den Inhalten und den Perspektiven europäischer Sozialpolitik, so hat die Europäische Gemeinschaft im Laufe der Zeit auf mehreren Gebieten Initiativen ergriffen - allerdings mit wechselndem Erfolg. Um nicht bereits Bekanntes zu wiederholen, werde ich die in meinen Augen wichtigsten Bereiche aufzählen und nur ganz kurz kommentieren. Als erstes und wichtigstes Ziel wird in diesem Zusammenhang die Vollbeschäftigung angegeben. Es ist nur natürlich, daß die Gemeinschaft sich dem Problem der Arbeitslosigkeit widmet und Abhilfe schaffen will 8 • Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit werden durch besondere Aktionsprogramme abgerundet, welche die Aufnahme behinderter Personen in die Gesellschaft erleichtern und die Armut im europäischen Raum lindern wollen. In einem weiteren Sinne gehört hierher auch die Mobilität der Arbeitnehmer und der Selbständigen, so daß viele Aktionen der Gemeinschaftsorgane, die diese Mobilität zu erleichtern bestimmt sind und in letzter Zeit primär die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, Prüfungszeugnissen und sonstigen Befähigungsnachweisen zum Inhalt haben, auch als Maßnahmen der Sozialpolitik aufgefaßt werden können 9• Ein anderes Tätigkeitsfeld der Europäischen Gemeinschaft betrifft den Schutz von Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer auf dem Arbeitsplatz 10• Die herkömmlichen und die neuen Ziele europäischer Sozialpolitik benötigen Mittel zu ihrer Finanzierung, und die EG stellt zu diesem Zweck zwei Quellen zur Verfügung: den Europäischen Sozialfonds gemäß Art. 123 ff. EWG-Vertrag und den später hinzugekommenen Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Was schließlich die Bemühungen um die Durchführung eines Dialogs zwischen den Sozialpartnern anbelangt, so sind die Erfolge auf europäischer Ebene wohl als mäßig zu bezeichnen: Die Tätigkeit des Wirtschafts- und Sozialausschusses nach Art. 193 ff. EWG-Vertrag bildet hier nach wie vor den Schwerpunkt. 4. Ein kurzes Wort sollte noch zu der sog. Sozialcharta gesagt werden. Nach einiger Vorarbeit wurde bekanntlich im Dezember 1989 auf dem Europäischen Gipfel in Straßburg die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer beschlossen und später durch ein besonderes Aktionprogramm ergänzt 11 • Die Charta enthält Bestimmungen über Freizügigkeit, Beschäftigung und Arbeitsentgelt, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sozialen Schutz, s Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft (Fn. 4), S. 23 ff., und F. Franzmeyer, Die Auswirkungen des Binnenmarktes auf Arbeitsmarkt und Beschäftigung, in: R. Birk (Fn. 4), S. 29 ff. 9 Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft (Fn. 4), S. 32 ff. 10 Die soziale Dimension der Europäischen Gemeinschaft (Fn. 4), S. 41 ff. 11 Hierzu B. von M aydell, Die europäische Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte, in: ders., Soziale Rechte in der EG, 1990, S. 122 ff.

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Koalitionsfreiheit und Tarifverhandlungen, Berufsausbildung, Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer, Gesundheitsschutzund Sicherheit in der Arbeitsumwelt, sowie den Schutz von Jugendlichen, älteren Menschen und Behinderten. Der Katalog deckt sicherlich die Felder möglicher Gemeinschaftsaktionen ab und besitzt insofern Vollständigkeit. Fraglich istjedoch sein exakter Stellen- und Aussagewert, wenn man an die Schwierigkeiten bei seiner Verabschiedung denkt und zusätzlich bedenkt, daß der Text nicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft veröffentlicht wurde. Die fehlende normative Verbindlichkeit der Sozialcharta ist ein sicheres Zeichen für die Hindernisse auf dem Weg zum Europäischen Sozialstaat. Das Bewußtsein für die Regelungsbedürftigkeit der Materie mag vorhanden sein. Was aber noch zu fehlen scheint, ist der Wille für die verbindliche Festschreibung sozialer Errungenschaften 12. 5. Wie im gesamten Bereich des Europäischen Gemeinschaftsrechts ist auch auf dem Gebiet des Sozialrechts der Beitrag des Europäischen Gerichtshofes nicht zu übersehen und nicht zu unterschätzen. Es ist nicht Aufgabe dieses Referats, auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH einzugehen: Das werden sicherlich andere Kollegen im Laufe dieser Tage besorgen. Ich möchte lediglich auf zwei jüngste Entscheidungen des Gerichtshofes hinweisen, die eindrucksvoll beweisen, daß es nicht nötig ist, soziale Prinzipien aufzugeben, um die Freiheit des Warenverkehrs um jeden Preis zu gewährleisten. In zwei Vorlageverfahren ging es um die Vereinbarkeil nationaler Verbote von Sonntagsarbeit in Frankreich und Belgien mit Art. 30 EWG-Vertrag, der Einfuhrbeschränkungen und alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verbietet 13 • Der EuGH schließt nicht aus, daß Vorschriften, die es verbieten, Arbeitnehmer sonntags in Einzelhandelsgeschäften zu beschäftigen, negative Folgen für das Einfuhrvolumen haben können. Sie verstoßen allerdings nicht gegen den EWG-Vertrag, weil sie erstens den Vertrieb von eingeführten Erzeugnissen nicht stärker erschweren als den einheimischer Waren und weil sie zweitens im Hinblick auf den verfolgten Zweck nicht als unverhältnismäßig erscheinen. Das Verbot von Sonntagsarbeit hat nach dieser Rechstsprechung auch vor dem EWG-Vertrag Bestand, soweit es nicht das Diskriminierungsverbot verletzt und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einhält.

111. Sozialstaatliche Standards in Griechenland, Spanien und Portugal 1. Ich darf damit den etwas länger geratenen ersten Teil meiner Ausführungen beenden und mich nun auf die sozialstaatliehen Standards in den drei südlichen B. von Maydell, a.a.O., m.w.N. Urteile vom 28.2.1991 in den Rechtssachen C-132/89 (Union departementaledes syndicats CGT de l'Aisne ...) und C-332/89 (Andre Marchandise et autres), Recueil Dalloz-Sirey 1991, Jurisprudence S. 343 ff. 12 13

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Ländern der Europäischen Gemeinschaft konzentrieren. Dabei empfiehlt es sich, vorwiegend die gemeinsamen Merkmale und Entwicklungen darzustellen, weil auf diese Weise auch etwaige Unterschiede hervortreten. Wer jetzt nach Gemeinsamkeiten sucht, wird im politischen Bereich zuallererst auf die Tatsache aufmerksam, daß Portugal, Griechenland und Spanien zwischen 1974 und 1976 nacheinander den Weg zur Demokratie wiedergefunden und daß sie mit der Wiederherstellung demokratischer Zustände auch die europäische Option verbunden haben. Die erwünschte Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft vor Augen, waren die drei Länder in der Lage, den Beitritt und die damit verbundenen Einschränkungen der nationalen Souveranität rechtzeitig zu erkennen und schon auf der Ebene der Verfassung zu bewältigen 14• Die Öffnung in Richtung Europa war auf die Zukunft gerichtet und hat sich als richtig und erfolgreich erwiesen. Die gemeinsame Vergangenheit der drei Staaten mit diktatorischen Regimes hat zu einer weiteren Entwicklung geführt, die für unser Thema ganz wichtig ist. Die Erfahrung mit der Unfreiheit erzeugt naturgemäß einen besonderen Drang zur Freiheit, und institutionell heißt dies, daß man bemüht ist, die Grundrechte und -freiheiten stark zu erweitern und mit wirksamen Mitteln zu garantieren. Eine ganz besondere Rolle ist dabei den sog. sozialen Rechten zugedacht, die in den Rang von Verfassungsnormen aufsteigen und als vollwertige Grundrechte verankert werden oder zumindest einen grundrechtsähnlichen Charakter erhalten. 2. Diese allgemeine Beobachtung wird in den Fällen Griechenlands, Spaniens und Portugals bestätigt. Mehr als üblich und vor allem in stärkerem Maß als die älteren EG-Mitglieder haben diese drei Länder die soziale Komponente in ihren Verfassungen betont. Die Spitzenstellung nimmt dabei immer noch Portugal ein. Trotz der vor zwei Jahren vollzogenen zweiten Revision, die aus dem Verfassungstext die deutlichen sozialistischen Merkmale entfernt hat, enthält die portugiesische Verfassung einen sehr breiten Katalog von Grundrechten und Grundpflichten (Art. 12-79) und darunter mehrere Artikel, die für unser Thema einschlägig sind 15 • Es geht einmal um die Art. 53 ff. unter dem Titel "Freiheit und Garantien der Arbeiter" und weiter um ein ganzes Kapitel mit drei Abschnitten und detaillierten Vorschriften über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten. Will man mit wenigen Sätzen den Inhalt dieser Normen wiedergeben, so geht es um ausführliche Gewährleistungen sozialer Rechte und Positionen. Das Recht auf Arbeit und die Sicherung des Arbeitsplatzes werden ebenso garantiert wie die Gewerkschaftsfreiheit und das Streikrecht-bei gleichzeitiger Verpönung der Aussperrung - , sowie die Rechte auf soziale Sicherheit, auf gleichen Lohn 14 Art. 28 der Verfassung Griechenlands, Art. 8 der Verfassung Portugals und Art. 93 der Verfassung Spaniens. 15 Zur besonderen Frage der Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmers. H.E. Hörster, Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers in Portugal, in: Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht 75 I 1, 1980,

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bei gleicher Arbeit, auf Erholungsurlaub u.s.w. Eine Reihe von Informationsund Mitwirkungsrechten werden sowohl den Arbeiterausschüssen in den Betrieben als auch den gewerkschaftlichen Vereinigungen zugesprochen. 3. Bestimmungen mit sozialstaatlichem Einschlag nehmen auch in der spanischen Verfassung breiten Raum ein 16• Auffällig ist jedoch, daß die einschlägigen Vorschriften mehr dem Staat soziale Pflichten auferlegen und weniger den Bürgern soziale Rechte zuerkennen. Bereits nach Art. 1 konstituiert sich Spanien als demokratischer und sozialer Rechtsstaat nach Maßgabe von Bestimmungen, die der öffentlichen Gewalt auf den Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik konkrete Pflichten auferlegen (Art. 39 ff.). Der Staat soll insbesondere den sozialen Fortschritt fördern und für Vollbeschäftigung sorgen, er soll ein öffentliches System der sozialen Sicherheit für alle Bürger unterhalten, ein gerechtes Rentensystem einrichten, die Rückkehr der spanischen Arbeitnehmer aus dem Ausland erleichtern, die Sicherheit am Arbeitsplatz überwachen und einen regelmäßigen Urlaub der Arbeitnehmer gewährleisten. An unmittelbar bindenden Grundrechten sind die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht hervorzuheben (Art. 28). Die Gewerkschaften werden zusammen mit den Unternehmerverbänden an einer frühen Stelle der Verfassung erwähnt (Art. 7) und aufgerufen, die ihnen eigenen wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu verteidigen und zu fördern. 4. Auch in der griechischen Verfassung von 1975 fehlen die Vorschriften sozialstaatliehen Ursprungs nicht 17 • Der Zweite Hauptteil der Verfassung (Art. 4- 25) garantiert individuelle und soziale Rechte, und diese sozialen Rechte sind insbesondere in den Art. 21-23 enthalten. Zunächst werden die Familie, die Ehe, die Mutterschaft und das Kindesalter unter den Schutz des Staates gestellt. Der Staat soll sich ferner um besonders schutzbedürftige Gruppen und um die Gesundheit seiner Bürger kümmern. Relativ ausführlich sind dann die Artikel, die sich mit der Arbeit und der Koalitionsfreiheit beschäftigen 18 • Die Arbeit wird als Recht bezeichnet und obliegt dem Schutz des Staates, der für Vollbeschäftigung sorgern soll. Der Grundsatz "gleichen Lohns für gleiche Arbeit" wird festgeschrieben und jede Form von Zwangsarbeit verboten. Den Tarifverträgen kommt eine Ergänzungsfunktion bei der Festsetzung der allgemeinen Arbeitsbedingungen zu: Diese Bedingungen ergeben sich zunächst aus dem Gesetz, in zweiter Linie aus den in freien Verhan